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German Pages 141 Year 1986
FRIEDRICH MÜLLER
, Richterrecht 4
Schriften
zur
Rechtsth e οrie
H e f t 119
^Richterrecht' E l e m e n t e einer Verfassungstheorie
IV
Von Friedrich M ü l l e r
cm DUNCKER & HUMBLOT / BERLIN
CIP-Kiirztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek
Müller, Friedrich: Elemente einer Verfassungstheorie / von Friedrich Müller. — Berlin: Duncker u n d Humblot (Schriften zur Rechtstheorie; ...) 4. Müller, Friedrich: Richterrecht. — 1986
Müller, Friedrich: Richterrecht / v o n Friedrich Müller. — Berlin: Duncker u n d Humblot, 1986. (Elemente einer Verfassungstheorie / von Friedrich Müller; 4) (Schriften zur Rechtstheorie; H. 119) I S B N 3-428-06019-9 NE: 2. GT
Alle Rechte vorbehalten © 1986 Duncker & Humblot GmbH, Berlin 41 Satz: Klaus-Dieter Voigt, Berlin 61 Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin 61 Printed in Germany ISBN 3-428-06019-9
Vorwort Die in Einzelstudien ansetzende Strukturierende Verfassungstheorie arbeitet analytisch. Ihr Anspruch geht nicht auf Vollständigkeit, sondern auf Beispielhaftigkeit der untersuchten Gegenstände. Die Frage nach dem Richterrecht als einem Grundphänomen oder einem Scheinproblem der Verfassungsordnung vom Typ des Grundgesetzes findet hier ihren Platz. Das Thema wird herkömmlich unangemessen formuliert. Es geht nicht darum, daß die Gerichte hier und nur hier, außerhalb ihrer angestammten Aufgaben, allgemeine Normen setzen würden; denn das tun sie immer, das kennzeichnet die normale Arbeit der Rechtsprechung. Nichts anderes besagt die Unterscheidung zwischen Rechtsnorm und Entscheidungsnorm. Die zusätzliche Differenzierung zwischen Rechtsnorm und Normtext macht es möglich, nicht nur die hier behandelte Frage nunmehr korrekt zu stellen. Auch die demokratisch-rechtsstaatliche Funktionenverteilung zwischen gesetzgebender und rechtsprechender sowie vollziehender Gewalt läßt sich, provoziert durch das Problem „Richterrecht", neu auf den Begriff bringen. Dasselbe gilt für weitere Themen, wie etwa das Konzept der Konkretisierung, das als Rechtsnormkonstruktion genauer gefaßt werden kann, wie für den systematischen Unterschied zwischen Normativität und Geltung und für die Behandlung von Generalklauseln und Gewohnheitsrecht: Vorschläge der Theorie, die sich klärend auf die Arbeit von Methodik und Dogmatik auswirken können.
Inhaltsverzeichnis 1 Erste Formulierung der Frage 2 Z u m Ertrag der bisherigen Debatte
9 11
2.1 Rechtstheoretisch formulierbare Begründungsmuster
11
2.2 Probleme der Diskussion um Richterrecht
24
2.3 Nachpositivistische Grundsatzkritik
31
3 Was sollte als „Richterrecht" bezeichnet werden?
3.1 Rechtstheoretisches Instrumentarium
41
41
3.11 Grundlagen
41
3.12 Näheres zum Begriff „Konkretisierung"
46
3.13 Näheres zum Subsumtionsmodell
53
3.2 Analyse der Rechtsprechung
58
3.3 Das Phänomen „Richterrecht"
77
3.31 Unbrauchbare Ansätze
77
3.32 Umschreibung des Phänomens
80
3.33 Ausschluß der „falschen Entscheidung"
83
3.34 Ausschluß des Problems der Generalklauseln
84
3.35 „Richterrecht" vor dem Hintergrund der Verfassungslehre
88
4 Z u r Zulässigkeit von Richterrecht
4.1 Die herrschende Doktrin vor dem Forum von Verfassungstheorie und Verfassungsrecht
96
96
4.2 Richter „recht" und Gewohnheitsrecht
111
4.3 Abschließende Überlegungen
119
Namenverzeichnis
127
Sachverzeichnis
129
1. Erste Formulierung der Frage Unter dem Setzen von „Richterrecht" w i r d in Wissenschaft und Rechtsprechung „richterliche Rechtsfortbildung" oder „schöpferische Rechtsfindung" 1 verstanden, weniger beschönigend auch „gesetzesfreie richterliche Tätigkeit" genannt 2 . Im Geltungsbereich des Grundgesetzes ist Richterrecht eine Wirklichkeit. Wichtige Institute des Privatrechts sind richterrechtlich entstanden, so die Haftung aus culpa in contrahendo und positiver Forderungsverletzung, Geldersatz wegen Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts auch für immaterielle Schäden. Erhebliche Teile dessen, was im heutigen Arbeitsrecht als normativ angesehen wird, wurde zuerst von der Judikatur formuliert. Im Verwaltungsrecht waren nach verbreiteter Auffassung zahlreiche Rechtssätze, die sogenannten allgemeinen Grundsätze des Verwaltungsrechts, richterrechtlichen Ursprungs. Das Bundesverfassungsgericht schätzt Richterrecht als „ i m modernen Staat geradezu unentbehrlich" ein 3 . Schöpferisches Richtertum solcher Art ist, einschließlich seiner Ergebnisse, eine gefeierte Erscheinung. Sie gilt als Verwirklichung „des Rechts, das dem Staat vorausliegt", als „ihrem Wesen nach nur dem Richter (zugängliche) Mitte der Gerechtigkeit" 4 . Der Richter habe „eine originäre rechtsschöpferische Gewalt" 5 . Es erregt offenbar nicht grundsätzlich Anstoß, daß durch „Richterrecht", „Rechtsfortbildung durch den Richter", daß dank sogenannter Lückenfüllung die herrschende Lehre und Praxis „den Richter der Funktion nach neben den Gesetzgeber" stellen 6 . Im Gegensatz dazu fällt es auf, „wie ungelöst dieses Problem theoretisch im Grunde ist" 7 . Die rechtstheoretische Reflexion richterrechtlicher Vorgänge ist unentwickelt. Was geht real vor sich, wenn Richterrecht gebildet 1 Vgl. BVerfGE 34, 269ff. (Soraya), 287 f. („schöpferische Rechtsfindung"); 65, 182 ff. (Sozialplan im Konkurs), 182 („Richterrecht"), 190f. („richterliche Rechtsfortbildung"), 194 („schöpferische Rechtsfindung"). 2 Meier-Hayoz, Der Richter als Gesetzgeber, 1951, 38. 3 BVerfGE 65, 182 ff. (Sozialplan im Konkurs), 190. 4 Marcie, Vom Gesetzesstaat zum Richterstaat, 1957, 89, 179. 5 Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, 1967, 311. Der Autor hat diesen Satz in der 2. Aufl. 1976 weggelassen. 6 Krawietz, Recht als Regelsystem, 1984, 6. K r i t i k w i r d ebendort nur in Richtung eines angeblich „noch zu engen dogmatischen Denkens", nicht aber an der Grundsatzfrage geübt. 7 Bydlinski, Hauptpositionen zum Richterrecht, JZ 1985,149 - ohne daß sich durch diesen Beitrag am Befund etwas geändert hätte.
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1. Erste Formulierung der Frage
wird? Was sind die zulänglichen Begriffe, mit denen diese Erscheinung wie auch ihre Problematik erfaßt werden könnten? Die Frage, die vorrangig interessieren sollte, geht dahin, ob dieser hochgeschätzte Bestandteil unserer Rechtsordnung gerechtfertigt werden kann. Die bisherige Debatte hat sich gegenüber diesem „Mehr an Recht", gegenüber dem Richtertum als dem Mund nicht (nur) des Gesetzes, sondern globaler „Wertvorstellungen" und eines der Rechtsordnung innewohnenden „Sinnganzen" 8 , auf dogmatisches Ein- und Ausgrenzen, auf einzelne Gesichtspunkte aus der Methodenlehre, viel zu oft aber auf rechtspolitische Glaubenbekenntnisse beschränkt. Hundert Jahre nach dem Beginn der Diskussion durch Oskar Bülow 9 ist zu erwarten, daß alle wesentlichen inhaltlichen Argumente ins Spiel gebracht wurden. Ihnen entsprechen ungefähr ebensoviele Haltungen gegenüber dem Phänomen: Richterrecht wurde als illegal verworfen, aber auch dem positiven Recht als Naturrecht übergeordnet 10 . Es wird als Rechtsquellenproblem behandelt oder von der Rechtsquellenlehre bewußt abgetrennt. Es findet sich entweder als generell gültig ausgeweitet oder in seiner Geltung auf den jeweiligen Entscheidungsfall eingeengt 11 . Gesetzesfreies richterliches Handeln wird zur Frage juristischer Methodik gestempelt oder als von deren Überlegungen unabhängig behauptet. Angesichts solcher Verworrenheit gilt es zunächst, den Vorgang richterlicher Rechts(fort)bildung zutreffend zu beschreiben und für eine korrekte Benutzung der dafür angemessenen Begriffe zu werben. Das kann dazu führen, nur noch den lohnenden Teil der Debatte um das Richterrecht weiterzuverfolgen. Ebendies, das Stellen der sinnvollen Fragen, ist der Weg zur vertretbaren Antwort. Notwendig ist nicht, die im Blick auf Theorie chaotische Diskussion durch anderes Gewichten der bekannten Argumente zu verlängern; was not tut, ist, sie zu strukturieren. Das ist eine Aufgabe der Rechtstheorie und, angesichts der Bedeutung des positiven Verfassungsrechts für diese Frage, auch eine der Verfassungslehre. Ohne rechts- und verfassungstheoretische Verarbeitung hängen methodologische, dogmatische und nicht zuletzt rechtspolitische Argumente, wie seit einem Jahrhundert, weiterhin in der Luft; leicht beweglich, wenig widerständig gegen undurchdachte Einfälle, politische Wunschvorstellungen, pragmatischen Zweckoptimismus. 8
BVerfGE 34, 269ff. (Soraya), 287. M i t seiner Schrift: Gesetz und Richteramt, 1885. 10 So Kantorowicz (Gnaeus Flavius), Der Kampf um die Rechtswissenschaft, 1906,
9
10.
11 Die zuletzt genannte Position z.B. bei Isay, Rechtsnorm und Entscheidung, 1929, 244; Esser, Unmerklicher und merklicher Wandel der Judikatur, in: Harenburg / Podlech / Schlink (Hrsg.), Rechtlicher Wandel durch richterliche Entscheidung, 1980, 217ff., 218, 220 („mikroskopische" Rechtsneubildung, „Mikro-Innovation als iterativer Prozeß"); J. Ipsen, Verfassungsrechtliche Schranken des Richterrechts, DVB1. 1984, 1102 ff., 1103.
2. Z u m Ertrag der bisherigen Debatte 2.1 Rechtstheoretisch formulierbare Begründungsmuster Aus der Diskussion um Richterrecht im deutschen Bereich 12 sollen die Aspekte hervorgehoben werden, die der rechtstheoretischen Grundsatzfrage näherkommen. Das schließt sowohl eine um ihrer selbst willen gemachte historische Darstellung als auch ein Eingehen auf Einzelfragen aus, die zu eng auf ihr dogmatisches Fachgebiet bezogen sind 1 3 . Es gibt Vorschläge, nach welchen Methoden richterliche Rechtsfortbildung, sogenannte freie Rechtsfindung, vor sich zu gehen habe. Ob sie imstande sind, das Grundproblem auf annehmbare Art gleichsam zu umgehen, hängt von ihrer methodologischen Überzeugungskraft und theoretischen Begründetheit ab. Nach dem einen Konzept erfolgt - in den Lücken des positiven Rechts - zunächst eine „Eruierung der Interessenlage"; im Anschluß daran müsse der Richter die unterschiedlichen Interessen wertend abwägen. Weitere Anhaltspunkte gäben das Analogieverfahren, der „Geist der positiven Rechtsordnung", Präjudizien sowie Dogmatik, Rechtsvergleichung, Überlieferung und die Gesetzesmaterialien 14. Soweit aber diese Aspekte rational sind, gehören sie bereits zu den Konkretisierungselementen, die im fraglichen Rechtsfall versagt haben, nämlich zu einer Lücke führten; und andernfalls sind sie nicht geeignet, durch Irrationalität zu rechtfertigen. Ähnliches ist gegen den Ansatz zu sagen, wegen eines unabweisbaren praktischen Bedürfnisses im Namen einer unbestimmten „Natur der Sache" 15 zwar nicht gegen das Recht schlechthin (nicht „contra ius"), wohl aber gegen gültige Normtexte („contra legem") zu entscheiden; also eine sogenannte teleologische Reduktion durchzuführen, die geschriebenes Recht (Normtexte) verletzt, indem sie über den möglichen Wortsinn hinausgeht, die aber dennoch, an „Geist und Wertungen" der „Gesamtrechtsordnung" gemessen, „zweckgetreu" sein soll 16 . Von hier aus ist es nicht mehr 12 Vgl. für die USA: F. V. Cahill, Jr., Judicial Legislation, New York 1952; für Ungarn: Eörsi, Richterrecht und Gesetzesrecht in Ungarn, RabelsZ 30 (1966), 117 ff. 13 Das gilt vor allem für Fragen des Richterrechts im Steuerrecht; dazu etwa Kruse, Das Richterrecht als Rechtsquelle des innerstaatlichen Rechts, 1971; Knittel, Zum Problem der Rückwirkung bei einer Änderung der Rechtsprechung im Steuerrecht, Diss. jur. München, 1974; Rüberg, Vertrauensschutz gegenüber rückwirkender Rechtsprechungsänderung, 1977. 14 Meier-Hayoz, Der Richter als Gesetzgeber, 1951, 76ff., 163ff., 254ff., 264ff. 15 Zur Unbrauchbarkeit dieses Gesichtspunkts F. Müller, Strukturierende Rechtslehre, 1984, 94ff., 175ff., 333f. u.ö.
12
2. Zum Ertrag der bisherigen Debatte
weit zu der Rechtsordnung „immanenten Prinzipien", an denen die Historische Rechtsschule ihre Freude haben könnte: Sie werden nicht gesetzt, sondern gefunden und treten im Rechtsbewußtsein genau dann hervor, „wenn es an der Zeit ist". Sowohl die Geschichtszeit als solche wie auch Gesamtrechtsordnung und Geist des Rechts schlechthin haben es an sich, als holistische Gespenster jedem zu Diensten zu sein, der sich auf sie berufen möchte. Entscheidungen gegen geltendes positives Recht werden auf solchem Weg nicht legitim. Gleichwohl, oder vielleicht deshalb, werden in anderen Stellungnahmen normative Gründe für Richterrecht erst gar nicht gesucht, wird das Problem als nicht vorhanden unterstellt. Gegen den „verfassungsdogmatischen Standpunkt", nämlich Gewaltenteilung und Rechtsbindung des Richters, wird einer „realistischen Betrachtungsweise" zugestimmt, „die von dem Faktum ausgeht, daß sich das geltende Recht niemals nur aus dem Gesetz erschließen läßt, sondern stets die Rechtsprechung hinzugenommen werden muß". Jede Position, die Richterrecht als „eine breite und die Rechtsordnung beherrschende Wirklichkeit" nicht verarbeiten könne, sei wertlos und unglaubwürdig 17 . Es mag den Beifall zum Verfassungsbruch in milderem Licht erscheinen lassen, daß es dabei an Einsicht mangelt: Rechtsnorm und Normtext, Rechtsnorm und Entscheidungsnorm sind nicht systematisch unterschieden, die Judikatur als Arsenal diskussionswürdiger Argumente wird verwechselt mit Rechtsprechung als verbindlicher Rechtsquelle. Andere Autoren lassen mehr Vorsicht erkennen und die Verfassungsprobleme ganz auf sich beruhen. Richterrecht wird dann nur noch beschrieben. So soll unter veränderten Bedingungen ein Gesetz nur einen logischen Rahmen für mehrere mögliche Entscheidungen bieten, die Entscheidung dann aber kraft richterlicher Rechtsfortbildung „nach metalogischen Kriterien" fallen 18 . Eine als vorbildlich geltende Sicht von Richterrecht geht gleichfalls von dessen unbefragter Gegebenheit aus. Sie w i l l darunter solche Grundsätze oder Rechtsprinzipien verstanden wissen, die „institutionell" verkörpert worden sind: sei es durch rechtsbildende Akte der Legislative, der Rechts16 Larenz, Richterliche Rechtsfortbildung als methodisches Froblem, NJW 1965, Iff., 6f.; ebd. die folgenden Zitate. 17 Ossenbühl, in: Allgemeines Verwaltungsrecht, hrsg. v. Erichsen / Martens, 6. Aufl. 1983, 109f. 18 Säcker, in: Münchener Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, Bd. 1, 1978, S. 41 f. Mit nicht weiter reflektierter Beschreibung gibt sich auch Krawietz, Recht als Regelsystem, 1984, z.B. 6, 38f., zufrieden: Der Lücken füllende und damit das Recht fortbildende Richter stehe funktionell neben dem Gesetzgeber; auch bei normaler richterlicher Rechtsfindung setze der Richter seine Entscheidungen „unter Berücksichtigung weiterer Faktoren" neben den gesetzlichen; bei der Fallentscheidung werde, worin für die Theorie eine Neuerung liegen soll, „nach den Interessen gefragt, die die Norm verursachen und erklären".
2.1 Rechtstheoretisch formulierbare Begründungsmuster
13
Wissenschaft oder des - die Rechtsprechung einschließenden - „Rechtslebens". Demnach wachsen auch hier, nicht nur in der Lehre der Historischen Rechtsschule, die Grundsätze aus und mit der Praxis; die dogmatische Doktrin könne ihnen nicht Leben geben, sondern nur Form 1 9 . Das Recht und seine Entwicklung werden einem fließenden kontinuierlichen Vorgang, einem Reifungsprozeß von Präjudizien zum Grundsatz, einer formlosen Wechselwirkung von Judikatur und schulmäßiger Dogmatik überantwortet. Da die Sicht des Gesetzespositivismus, Entscheidungen seien syllogistische Schlußvorgänge, nicht mehr haltbar sei, werden - in grundsätzlicher Verwechslung von Rechtsnorm und Normtext - Normen allgemein nicht mehr als Rechtsquellen, nur noch als Erkenntnisquellen für Recht aufgefaßt 20 . Der demokratisch verbindliche und rechtsstaatlich geformte Geltungsvorsprung formalisierter Faktoren der Rechtskonkretisierung, also von Normtexten 21 , wird dabei ebenso übergangen wie die einschlägigen methodenrelevanten Verfassungsnormen, von der Gewaltenteilung über die Kompetenzordnung bis zur Bindung von rechtsprechender und vollziehender Gewalt. Auf der einen Seite soll Richterrecht nicht „entstehen", sondern „erdacht und entschieden" werden, auf der anderen soll es nicht, wie Gewohnheitsrecht, normativ bestehen bleiben; vielmehr ist es „immer noch und jeweils mit jeder Entscheidung im Werden". Damit ist etwas Richtiges gefühlt, nämlich die Nichtidentität zum einen von Rechtsnorm und Normtext, zum anderen von Rechtsnorm und Entscheidungsnorm. Es ist aber ebensowenig begriffen wie die Tatsache, daß dies auch für Gesetzesrecht gilt; daß genau deshalb der Bestand an Gesetzesrecht keinesfalls „statisch festgelegt" ist; daß richterliche Rechtsfortbildung als „sekundäre" Rechtsbildung weder von Kodifikationsgläubigkeit abhängt noch etwas dem Gesetz Fremdes ist. Die systematische Unterscheidung von Normen und ihrem sprachlichen Ausdruck auf der einen Seite, die verfassungsrechtlichen Grundlagen richterlichen Handelns auf der anderen führen, in der korrekten Proportion der Staatsgewalten, zu derselben Einsicht. Die auf einem unklaren Begriff der „Institutionen" des Gesetzesrechts aufbauende richterrechtliche Doktrin ist tendenziell auf dem Weg der Selbstkorrektur, schränkt aber mit der Unterscheidung „mikroskopischer" und „makroskopischer Rechtsneubildungen" ihre zu weit gehenden Postulate nur deskriptiv ein. Immerhin wird jetzt der Geltungsvorsprung demokratisch gesetzter Normtexte beschreibend anerkannt, wenn es heißt, programmierend im 19 Esser, Grundsatz und Norm in der richterlichen Fortbildung des Privatrechts, 1956, 3. Aufl. 1974, z.B. 132ff., 248, 279. Die im Text folgenden Zitate bei dems., Richterrecht, Gerichtsgebrauch und Gewohnheitsrecht, in: Festschrift für Fritz v. Hippel, 1967, 95ff., 115, 129f. 20 Esser, Grundsatz und Norm in der richterlichen Fortbildung des Privatrechts, 3. Aufl. 1974, 134. Die im Text folgenden Zitate bei dems., Gerichtsgebrauch und Gewohnheitsrecht, in: Festschrift für Fritz v. Hippel, 1967, 95ff., 115ff. 21 Dazu F. Müller, Juristische Methodik und Politisches System, 1976,15f., u.ö.
14
2. Zum Ertrag der bisherigen Debatte
Sinn makroskopischer Rechtsneubildung könne nur der Gesetzgeber wirken 2 2 . Die Schwierigkeiten, in die Vertreter richterrechtlichen Denkens rasch geraten, werden durch zwei ganz unterschiedliche Strategien beantwortet: entweder durch philosophisch überhöhte oder durch inhaltslose, nur formal bestimmte Begründungspflichten. In einem Beispielsfall für die zweite Variante sollen richterrechtliche Präjudizien zwar keine im echten Sinn normative Bindungswirkung erzeugen, weder für den Bürger noch für Exekutive oder Judikative. Es entstehe durch sie aber eine „präsumtive Verbindlichkeit" 2 3 , eine zusätzliche Argumentationslast für künftige Rechtsprechung, die „nicht ohne weiteres an den Vorentscheidungen vorbei judizieren" könne 24 . Präjudizien solle nur insofern Bindungswirkung zukommen, als zum einen die Ehrfurcht vor der Autorität des agierenden Gerichts dies nahelegt, und als zum anderen „sie mit rechtlichen Erwägungen zutreffend begründet sind" 2 5 . Die Frage, wie das im einzelnen und inwiefern dies überhaupt möglich sein soll, wenn doch das positive Recht voraussetzungsgemäß im fraglichen Fall bereits versagt hat, bleibt offen. Ähnliches gilt für die Versicherung, „richterrechtliche Innovation" bestehe im wesentlichen aus dem (partiellen) Füllen semantischer Spielräume, der Auswahl zwischen den logisch möglichen extensionalen oder intensionalen Alternativen durch optimierendes Bewerten von Folgezuständen, durch „konsequentialistische Entscheidungsbegründung" - und zwar vor dem Hintergrund der guten alten Auffassung richterlicher Tätigkeit als Justizsyllogismus im Sinn eines Deduktionsschemas 26 . Für die juristische Argumentationstheorie stellt sich Richterrecht nur als Problem zusätzlicher Begründung dar. Sogar Rechtsfortbildung im „Gegensatz zum gesetzlich Angeordneten", unter Verstoß gegen die verfassungsrechtlich angeordnete Rechtsbindung der Judikative 2 7 , soll den, der sie vorschlägt, bloß „mit einem zusätzlichen Begrün22 Zu Esser, Unmerklicher und merklicher Wandel der Judikatur, in: Harenburg / Podlech / Schlink (Hrsg.), Rechtlicher Wandel durch richterliche Entscheidung, 1980, 217 ff., 220: Auch dort, wo es so aussehe, als würden durch die Judikatur Rechtsnormen gesetzt, „handelte es sich in Wirklichkeit um eine Mikro-Innovation als iterativen Prozeß, in dem einzelne Rechtsnormen schrittweise neue Funktionen übernommen haben". 23 Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, 2. Aufl. 1976, 243ff. 24 Ossenbühl, in: Allgemeines Verwaltungsrecht, hrsg. v. Erichsen / Martens, 6. Aufl. 1983,110f., demzufolge das Aufstellen und Befolgen derartiger Postulate „zur Bewahrung einer gewissen Kontinuität der Rechtsordnung" erforderlich ist. Dasselbe läßt sich auch durch ein Ernstnehmen der Rechts- und Verfassungsbindung sowie durch Selbstverpflichtung auf rationale Methodik erreichen. 25 Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 5. Aufl. 1983, 387. 26 Koch / Trapp, Richterliche Innovation - Begriff und Begründbarkeit, in: Harenburg / Podlech / Schlink (Hrsg.), Rechtlicher Wandel durch richterliche Entscheidung, 1980, 83ff., 87ff., 107f. Das im Text Folgende nach: Koch / Rüßmann, Juristische Begründungslehre, 1982, 287, 258ff., 262. 27 Für Koch / Rüßmann, Juristische Begründungslehre, 1982, 247, scheint es dagegen nur ein „staatstheoretisch begründete(s) Bindungspostulat" zu geben.
2.1 Rechtstheoretisch formulierbare Begründungsmuster
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dungserfordernis" belasten. Diese Last drückt nicht schwer: Die das Recht „anwendende" Stelle muß das von ihr - über die gesetzliche Lage hinaus angestrebte Ziel ausweisen und sein Anstreben als gerechtfertigt darstellen; sie muß dessen Zusammenhang mit der geplanten richterrechtlichen Norm darlegen und schließlich, falls Ziele sich widersprechen, optimierende Vorrangregeln dekretieren. Wenn es den an das geltende Recht gebundenen Stellen der rechtsprechenden und vollziehenden Gewalt an etwas noch nie gemangelt hat, dann an Wertungen und „Zielen", an Vorverständnissen und Vorurteilen. Das ist keine moralisierende, sondern eine empirische Aussage. Aus theoretischer Semantik wird im Handumdrehen praktische Rhetorik. Richterrecht wird für solche Fälle zutreffend als Beeinträchtigung der Richtigkeit des positiven Rechts beschrieben, als „gesellschaftlich bedingte Rechts Verzerrung" durch Einführen von den Normtexten abweichender Richtigkeitskonzepte, die an diesen methodisch nicht ausgewiesen werden können 28 . Die andere erwähnte Variante der Problemvermeidung möchte wenn schon nicht die Begründung, so doch die Gründe für Richterrecht so hochrangig ansiedeln, daß platt positivrechtliche Gesichtspunkte und nüchtern rechtstheoretische Kategorien angesichts ihrer vor Ehrfurcht erstarren. Gesetzesübersteigende Rechtsfortbildung liegt zwar außerhalb des positiven Rechts, beruft sich aber auf etwas diesem gegenüber offenbar Höheres, auf „leitende Prinzipien der Gesamtrechtsordnung" 29 . Unter Berufung auf Bedürfnisse des Rechtsverkehrs, auf die sogenannte Natur der Sache oder auf rechtsethische Grundsätze sollen Normen zwar extra legem, aber - was immer das heißen möge - intra ius gesetzt werden. Dem Gesetzgeber wird in diesem Bereich nur noch dort der Vorrang zugestanden, „wo es vorwiegend um Fragen der Zweckmäßigkeit geht oder eine detaillierte Regelung erforderlich wäre" 3 0 . Das Problem ist damit nur in einem ganz bestimmten Sinn »erledigt'. Gemeinhin wird, jedenfalls im verfaßten Rechtsstaat, der Legislative das Festlegen der Rechtmäßigkeit zugebilligt, in deren Rahmen die Aspekte der Zweckmäßigkeit gebührend zur Geltung kommen. Weiter ist zu fragen, was eigentlich detaillierter ist als eine Entscheidungsnorm. Diese zu setzen, ist Aufgabe der rechtsprechenden (und der vollziehenden) Gewalt. Was der Legislative zukommt, sind allgemeine verbindliche Vorgaben in Gestalt von Normtexten. Diese figurieren in richterrechtlichen Doktrinen eher als störende Begleiterscheinungen denn als Ausgangspunkt und Kontrollinstanz 28
Dazu allgemein Ryffel, Rechtssoziologie, 1974, 343. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 5. Aufl. 1983, 351, 397 ff., 401 ff., 404 ff. so Ebd., 410. 29
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2. Zum Ertrag der bisherigen Debatte
juristischen Handelns. Im Fall des Richterrechts setzt der Richter bewußt eine „Norm" jenseits der gesetzlichen und ihrer Konkretisierung. Er hat „das Recht zu verwirklichen", und zwar „nach Maßgabe der Gesetze, soweit diese aber nicht ausreichen, auch über sie hinaus" 3 1 . Das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland drückt sich nicht so aus (Art. 20 Abs. 3, 97 Abs. 1 GG), und auch die allgemeine Tradition rechtsstaatlicher Gewaltenteilung und Funktionenzuweisung sieht dies anders. Die Verwirklichung „des" Rechts, auch extra oder contra legem, zur Vermeidung eines Zustands, „durch den der Rechtsgedanke Schaden leiden muß", bietet aber offenbar eine höherrangige, über die beschränkte „gesetzespositivistische Auffassung" siegende Norm an. Sie besteht im Anschluß an einen speziellen, nämlich durch Binder vermittelten Hegel in der Erkenntnis des Rechts als der „Einheit von subjektivem und objektivem Geist". Dazu gehören auch die von der Rechtsprechung „gefundenen" Grundsätze und Institute. Die Judikatur bewerkstelligt dabei eine Vermittlung des im Gesetz objektivierten Geistes mit dem allgemeinen Rechtsbewußtsein, in dem sich der objektive Geist in seiner geschichtlichen Bewegung geltend macht. Daß sich dieser vielleicht auch in Demokratie- und Rechtsstaatsnormen, in Kompetenz-, Verfahrens- und Funktionsregeln des positiven (Verfassungs)Rechts aussprechen könnte, scheint nicht zu beunruhigen. Kleinlichen Einwänden auf vergleichbare Weise entrückt ist die Aufforderung, den außerhalb der seltenen Fälle logischer Subsumtion entstehenden „leeren Raum" durch geeignetes „Material", durch „außergesetzliche Richtlinien" aufzufüllen, und zwar nicht durch kognitive Akte, sondern durch ethisches Handeln; gehe es doch jenseits des Gesetzes um „eine Entscheidung zum Rechten" 32 . Richterlich gesetzte Vorschriften legitimieren sich demnach durch Maximen des Sittengesetzes, durch die sogenannte Richterkunst, durch die „Grundanschauungen des westeuropäischen Kulturkreises" und das auch hier in den Zeugenstand gerufene „Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden". Neben anerkanntem Gerichtsgebrauch, bewährter Rechtslehre und der vertrauten Natur der Sache sollen Grundsätze richterlicher Billigkeit leitend und legitimierend sein, die sich aus dem gemeinsamen Verständnis der „Sachkundigen aller Zeiten und Völker" angeben lassen. Diese dem Anschein nach extrem antipositivistische Haltung verrät ungewollt, wie stark die Doktrinen des Richterrechts noch in den Irrtümern des Gesetzespositivismus gefangen sind. Was nicht logisch-deduktive Subsumtion darstellt, konfrontiert mit einem leeren Raum; außerhalb der fertig anwendbaren Befehle der Legislative ist nur das Vakuum vorstellbar. Der im Kern positivistische horror vacui verlangt zwanghaft nach rascher Auf31 Larenz, Richterliche Rechtsfortbildung als methodisches Problem, NJW 1965, Iff.; dort auch die folgenden Zitate. 32 Wieacker, Gesetz und Richterkunst, 1958, 5ff., 8f., 9ff., 12ff.; ebd. die folgenden Zitate.
2.1 Rechtstheoretisch formulierbare Begründungsmuster
17
füllung durch richterrechtliche Normen. Die beiden zuletzt referierten Positionen 33 verstricken sich, nach einer programmatischen Absage an „den" Positivismus, sogleich in die Widersprüche von dessen Norm- und Methodendenken. Zunächst w i r d das Richterrecht jenseits ,des Gesetzes', des ,positiven Rechts' (also jenseits der Normtexte) verlegt, um stattdessen sogleich einem »höheren', einem vagen und nicht-normativen Subsumtionsdenken unterworfen zu werden. Das positivistische Erbe drückt sich in der herrschenden Begründung von Richterrecht wider Willen aus. Sie geht dahin, die Richter dürften Lücken des Gesetzes selbständig füllen. Daß damit das diskreditierte Dogma von der Lückenlosigkeit der Rechtsordnung nicht aufgegeben, nur in anderer Gestalt bestätigt ist, wirçl übersehen. Das gilt bereits für eine Gründerfigur der Freirechtsbewegung. Nach Kantorowicz 34 richtet sich die Freirechtsschule „gegen das Dogma von der Lückenlosigkeit des Gesetzes". Doch zieht er daraus nicht den Schluß, mit der Lückenhaftigkeit des positiven Rechts leben zu müssen und sie in Respekt vor der Gesetzesbindung überall dort zu benennen, wo sie besteht. Er zieht die paradoxe Folgerung: „Aus freiem Recht endlich muß das Gesetz in sich geschlossen werden (!), müssen seine Lücken ausgefüllt (!) werden" 3 5 . Empirisch ist dagegen zu sagen, daß auch ein durch Richterrecht,geschlossenes' und »ausgefülltes' Gesetzeswerk nach wie vor lückenhaft bleiben wird; normativ, daß für solches sein Ziel ohnehin verfehlendes Tun die Begründung fehlt. Kantorowicz war unbefangen genug, im Richterrecht eine „Auferstehung des Naturrechtes in veränderter Gestalt" zu annoncieren, wie umgekehrt das Naturrecht „als eine besondere Art freien Rechtes" der neuen Schule einverleibt wurde. Der Unterschied zum Gesetzespositivismus ist nur rechtspolitischer Art. Die veraltete Illusion soll jetzt erst recht aufrechterhalten werden. Sie erscheint als etwas zu Realisierendes, als ein Realisierbares: Ohne eine lückenlose Rechtsordnung bräche das Chaos aus; die durch Fehler der positivistischen Subsumtionslehre zunächst unentdeckten gesetzesleeren Räume müssen schleunigst aufgefüllt werden. Den eigentlichen Fehlansatz des Positivismus, die unrichtige Normauffassung, teilen die Freirechtsschule und spätere antipositivistische Strömungen mit ihrem Gegner. Der Verstrickung in die Aporien des Positivismus ist auch die soziologisch orientierte Richtung innerhalb der Freirechtsschule nicht entkommen. Für Ehrlich 36 bestehen zwischen der Entscheidung ,nach Rechtssatz' und ,ohne 33
Einerseits Wieacker, ebd.; andererseits Larenz, NJW 1965, I f f . Gnaeus Flavius (Kantorowicz), Der Kampf um die Rechtswissenschaft, 1906, 13f.; zur Naturrechtsfrage ebd., 10. 35 Ebd., 14; Hervorhebungen nicht im Original. 36 Zum folgenden: Ehrlich, Freie Rechtsfindung und Freie Rechtswissenschaft, 1903, 14ff., 25f.; zur Persönlichkeit und Persönlichkeitsauswahl der Richterschaft ebd., 21, 29f.; ders., Grundlegung der Soziologie des Rechts, 1913, 3. Aufl. 1967, 106, 138f.,u.ö. 34
2 F. Müller
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2. Zum Ertrag der bisherigen Debatte
Rechtssatz4 nur graduelle Unterschiede. Dem Richter bleibe, wenn für den Fall ein Rechtssatz (also ein Normtext) nicht vorhanden ist, nichts anderes übrig, als selbständig zu entscheiden. Der Richter setze dann den Rechtssatz voraus, den er „ i m Zusammenhang mit aller übrigen Rechtsordnung als Gesetzgeber für das Richtige halten würde" 3 7 . Zwar spreche er sein Urteil „aufgrund nicht der Lückenlosigkeit des Gesetzes" aus, „wohl aber der Lückenlosigkeit der Rechtsordnung". Vernunftrechtlich substantielles Systemdenken, durch Pandektenwissenschaft, Gesetzespositivismus und Begriffsjurisprudenz später technisiert, erlebt in den - ihrem Selbstverständnis nach - scharf antipositivistischen Schulen seit Beginn des Jahrhunderts eine seltsame und beständige Auferstehimg. Vom positiven Recht her ist solche Metaphysik überflüssig. Solange das Prozeßrecht im Zusammenspiel mit dem im Einzelfall,lückenhaften materiellen Recht dem Richter eine hinreichend deutliche Handlungsanweisung gibt, ist die Behauptung falsch, diesem bleibe keine andere Wahl, als eine inhaltliche Norm selbst zu setzen. Daß die sogenannte freie Rechtsfindung keine Frage des materiellen Rechts ist, hat Ehrlich klargestellt; er setzt auf „die Persönlichkeit des Richters" i m Sinn einer „großen Individualität", auf den vielsagenden Appell an eine „Gerichtsorganisation, die starke Persönlichkeiten zur Geltung kommen läßt" 3 8 . Die Dürftigkeit der Stellungnahme zu einer so schwerwiegenden Grundsatzfrage hat sich bis heute gehalten. Auch unter dem Grundgesetz löst sich das Problem scheinbar ohne weitere Umstände: Es ist „Aufgabe des Richters", festgestellte Lücken „durch Aufstellung einer Norm, welche den neuen Problemen gerecht wird, zu schließen " 3 9 . Eine Lücke soll dann vorliegen, wenn eine bestimmte Fallgestaltung vom Gesetzgeber nicht oder nicht vollständig gesehen wurde, wenn das Gesetz also „keine sachgemäße Lösung" auf dem Weg über Auslegung bereithält. Die richterrechtlichen Normen werden durch Entwickeln der im Spiel befindlichen Interessen und durch das Betreiben von Rechtsvergleichung aufgestellt. Letztlich sind es die Grundsätze „der" Gerechtigkeit, nämlich die Prinzipien der Vernunft, Moral und sozialen Nützlichkeit, die als Quelle nicht nur des englischen, sondern allgemein „des" Rechts die richterrechtlichen Normen legitimieren 40 . 37
Ehrlich, Freie Rechtsfindung und Freie Rechtswissenschaft, 1903, 25 f. Ebd., 21, 29f. 39 Coing, Grundzüge der Rechtsphilosophie, 2. Aufl. 1969, 340 und f.; ebd. zum folgenden. 40 Dagegen bewegt sich auf (jedenfalls einfachgesetzlich) abgesichertem Boden: Meier-Hayoz, Der Richter als Gesetzgeber, 1951, für den sich freie Rechtsfindung ebenfalls auf „Lückenfüllung" beschränkt, der sich aber im Gegensatz zu seinen deutschen Kollegen auf positives Recht, nämlich auf Art. 1 ZGB, berufen kann. Er w i l l seine Untersuchung denn auch ausschließlich auf dessen Anwendung beschränkt sehen, vgl. ebd., z.B. 7. - Zur Manipulierbarkeit der Behauptung, es liege eine durch 38
2.1 Rechtstheoretisch formulierbare Begründungsmuster
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Eingeschränkt wird die Lückendoktrin wenigstens dogmatisch dort, wo Gesetzesfortbildung contra legem als unzulässig und als zulässig nur die Fortbildung praeter legem bezeichnet wird. Sie soll sich innerhalb einer planwidrigen Unvollständigkeit des Gesetzes, einer Lücke des in den Grenzen des möglichen Wortsinns ausgelegten geschriebenen Rechts und Gewohnheitsrechts abspielen dürfen. Der mögliche Wortsinn lasse die Grenze zwischen dieser Art von Rechtsfortbildung und bloßer Auslegung ziehen. Gelingt der Nachweis einer Planwidrigkeit nicht, so soll keine Lücke vorliegen. Der Richter sei Diener des Gesetzes; daraus folge die Notwendigkeit, jede Ergänzung des Rechts über das positive Gesetz hinaus „besonders zu rechtfertigen" 41 . Diese abstufende Einschränkung ist im Vergleich zur unbegrenzten Lükken- und Richterrechtsdoktrin anzuerkennen. Es fragt sich aber, worin sie ihre Notwendigkeit sieht. Da die Grenze zu Recht aus Gewaltenteilung und Funktionszuweisung hergeleitet wird, bleibt die Frage, wie weit sich Richterrecht dann überhaupt noch rechtfertigen läßt. Hierauf bleibt auch das einschränkende Konzept eine Antwort schuldig. Es nimmt nicht dazu Stellung, weshalb der mögliche Wortsinn allein Auslegung und zulässige Rechtsfortbildung und nicht stattdessen zulässiges von unzulässigem richterlichen Handeln scheiden soll. Es geht nicht um ein Definieren und Hinund Herbewegen des Lückenbegriffs; nicht um Fixierung auf „das" Gesetz (nämlich den vorhandenen Normtext). Es geht darum, ob ein nicht vorhandenes „Gesetz" (also ein Normtext) richterlich ersetzt werden darf oder nicht, um Funktionenzuweisung und Gewaltenteilung. Es geht nicht um einen besonderen Rechtfertigungsbedarf einer freihändigen ,Ergänzung des Rechts', sondern um das demokratisch und rechtsstaatlich angeordnete sowie rechtstheoretisch geklärte Verhältnis von Entscheidungsnormen zu Rechtsnormen und von diesen zu Normtexten., Praeter legem' ist keine normativ abgestützte, keine für Dogmatik, Methodik und Theorie des Rechts konstitutive Unterscheidung zu,contra legem'. Wenn der Richter Diener des Gesetzes ist, kann er nicht sine lege entscheiden, also nicht Rechts- und Entstehungsnormen ohne methodische Rückführbarkeit auf Normtexte setzen. Die Fragwürdigkeit externer Rechtfertigung von Richterrecht hat noch im Umkreis der Freirechtsbewegung zu Versuchen geführt, wenigstens eine interne Begrenzung zu finden. Sie erbrachten aber zusätzliche Widersprüche. So w i r d 4 2 zwar der Richter in schöpferischer Funktion als „normsetzende Stelle" bezeichnet, deren Tun über den Prozeß und die Verfahrensbeteiligten hinaus „gesetzgeberisch" wirkt. Zwischen gesetzlichen und richRichterrecht auszufüllende „Lücke" vor, vgl. F. Müller, Juristische Methodik, 2. Aufl. 1976, 207ff. 41 Canaris, Die Feststellung von Lücken im Gesetz, 2. Aufl. 1983, 51; zum Grundsätzlichen ebd., z.B. 16f., 30, 33, 40ff., 44ff., 48ff. 42 Bei Isay, Rechtsnorm und Entscheidung, 1929, 186, 244, 246, u.ö. 2'
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2. Zum Ertrag der bisherigen Debatte
terlichen Normen soll kein wesentlicher Unterschied bestehen, wenn auch das Richterrecht dynamisch, dagegen die vorgegebene Rechtsnorm (richtig: der Normtext) „etwas Fertiges, Vergangenes, Unbewegliches, Statisches" sei. Auf der anderen Seite soll das Bedenkliche der richterlichen Funktionsüberschreitung dadurch begrenzt werden, daß der Richter nicht befugt sein soll, eine „allgemeinere Norm" zu formulieren, also eine solche, „die für die Begründung des entschiedenen Falles nicht erforderlich ist und welche Fälle umfassen würde, deren Entscheidung noch gar nicht in Frage stand" 4 3 . Diese Aussage ist - da sie nicht zwischen Entscheidungsnorm, Rechtsnorm und Normtext systematisch unterscheidet - auslegungsbedürftig. Sie ist wohl so zu verstehen, daß der Richter keine Normtexte formulieren, sich nicht an die Stelle des Normtextgebers, der Legislative setzen darf. Damit wäre aber das zunächst anerkannte eigentliche Richterrecht aufgegeben. Auch heute noch ist ein Hin und Her festzustellen zwischen Fallentscheidung und „vom Richter aufgestelltem Rechtsgrundsatz, der sich über den Einzelfall erhebt und als Entscheidungsmaßstab für künftige Streitfälle sowohl die Judikatur als auch die übrige Praxis formt und bestimmt" 4 4 . Die Qualität dieser Richternormen wird dabei - sei es aus wissenschaftspolitischen Gründen, sei es mangels präziser Begrifflichkeit - im Zwielicht belassen: künftige Richter könnten zwar „nicht ohne weiteres an den Vorentscheidungen vorbei]udizieren", eine „ i m echten Sinne normative und deshalb prinzipiell unüberwindliche Bindung" an Richterrecht bestehe jedoch nicht. Es macht nicht nur hier, sondern oft in dem auf Verteidiger des Richterrechts zurückgehenden Schrifttum den Eindruck, daß die prekäre Frage einer mit dogmatischen, methodologischen und theoretischen Mitteln geleisteten normativen Begründung nicht ungern offen gelassen wird, damit hinter einem Schutzwall von Autoritätsargumenten, Suggestivformeln und eindrucksvoll holistischen Wortschöpfungen (Werteordnung, Wertsystem, Sinnganzes, Gesamtrechtsordnung, Rechtsidee) das im Rechtsalltag auftretende Richterrecht faktisch um so ungestörter wirken kann. Das bestätigt sich dort, wo Normqualität und Bindungswirkung unverblümt „der Autorität des Gerichts" und ferner der schwer überprüfbaren Pauschalformel überantwortet werden, richterrechtliche Normen müßten „mit rechtlichen Erwägungen zutreffend begründet" 45 sein. Wie die Debatte zeigt, macht gerade die „rechtliche" Begründung Schwierigkeiten - das Versagen des materiellen Rechts im Sinn des von einer Prozeßpartei, vom 43
Ebd., 244. Ossenbühl, in: Allgemeines Verwaltungsrecht, hrsg. v. Erichsen / Martens, 6. Aufl. 1983, llOf.; ebd. das im Text folgende Zitat. 45 Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 5. Aufl. 1983, 387, zur „gesetzesimmanenten Rechtsfortbildung", also zur Lückenfüllung; nach dem Zusammenhang zu schließen, ist dies aber auch für die „gesetzesübersteigende Rechtsfortbildung" zu dieser v.a. 397 ff. - gesagt. - Das im Text folgende Zitat ebd., 387. 44
2.1 Rechtstheoretisch formulierbare Begründungsmuster
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Richter oder vom wissenschaftlichen Interpreten Gewünschten, seine „ L ü k ken"haftigkeit trotz Ausschöpfung des Arsenals rationaler Konkretisierungselemente, ist ja der Startschuß für Richterrecht. Auf der anderen Seite sollen richterrechtliche Normen zwar „eine schöpferische Leistung", aber „noch kein Rechtsetzungsakt" sein. Die herrschende Lehre scheut aus guten Gründen davor zurück, ihnen im Rahmen des positiven Rechts ,normale' Normqualität zuzusprechen; dafür vertraut sie auf ihre faktisch normgleiche Wirkung. Einige Autoren versuchen dem Dilemma zu entgehen, indem sie Richterrecht verfassungsrechtlich absichern wollen. So sollen bei der Suche nach richterrechtlichen Kriterien „jenseits des Gesetzes" ausdrückliche Wertungen des Verfassunggebers, wie die Gleichberechtigung oder das Sozialstaatsgebot, „orientierende Kraft" haben, soweit sie „positivierbar" sind 46 . Nun handelt es sich in solchen Fällen aber sogar um positives Verfassungsrecht, und die „orientierende Kraft" der geltenden Verfassung ist unbestritten. Allerdings liegt dann die Entscheidung eben nicht jenseits des positiven Rechts, zumal zu den „ausdrücklichen Wertungen" des Verfassunggebers auch die Demokratie- und Rechtsstaatsnormen über die Unterscheidung und Zuweisung der Funktionen öffentlicher Gewalt gehören. Die Rechtslage wird auch dort nicht erfaßt, wo vom „staatstheoretisch begründete(n) Bindungspostulat" statt von den staatsrechtlich geltenden Bindungsnormen (vor allem Art. 1 Abs. 3, 20 Abs. 3, 97 Abs. 1 GG) gesprochen und statt der Frage, die das positive Staatsrecht hier stellt, nur ein „verfassungstheoretisches Problem der Abgrenzung von Kompetenzbereichen" erkannt wird 4 7 . Wo sonst in der Diskussion ein verfassungsrechtlicher Ansatz erkennbar ist, werden die dabei genannten „Grundsätze" einerseits als „geeignete normative Grundlagen" ausgegeben, andererseits als „der ,Rechtsidee' selbst zugehörig" zugleich wieder vielsagend überhöht 48 . Die solcherart namhaft gemachten Grundsätze sollen die Rechtssicherheit und die proportionale Gleichheit sein. Im Fall des non liquet, also in Zweifelsfällen, „bei ungefährem Gleichstand der sonstigen rechtlichen Argumente", müsse richterrecht46 Wieacker, Gesetz und Richterkunst, 1958, 11 f. 47 Koch / Rüßmann, Juristische Begründungslehre, 1982, 247, 253. - Im Ansatz verfassungsrechtlich wird dagegen ebd., 255, 256 argumentiert: Entscheidungen der Rechtsprechung contra legem seien wegen des Gewaltenteilungsgrundsatzes unzulässig. Allerdings soll dies nur dann gelten, wenn staatliche Eingriffsbefugnisse gegenüber den Bürgern richterrechtlich erweitert würden (Eingriffsverwaltung, Strafrecht, im Bürgerlichen Recht z.B. Möglichkeiten der Entmündigung). Diese Eingrenzung zeigt, daß hier dogmatisch auf falschem Feld operiert wird. Gemeint ist der rechtsstaatliche Vorbehalt des Gesetzes, der zudem von der seit geraumer Zeit herrschenden Lehre und Praxis teils direkt, teils indirekt auf Bereiche der Leistungsverwaltung ausgedehnt worden ist. Der Gewaltenteilungsgrundsatz dagegen macht nicht nur Entscheidungen contra legem, sondern ebenso solche praeter legem fragwürdig. 48 Bydlinski, Hauptpositionen zum Richterrecht, JZ 1985,149ff., 152.
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2. Zum Ertrag der bisherigen Debatte
lieh für die Wahrung beider Grundsätze gesorgt werden. Deren differenziertere und konkretere Normierung im geltenden Verfassungsrecht bleibt ebenso außer Betracht wie die Gewaltenteilungsnormen, da deren Zwecke nicht beeinträchtigt würden, wenn sich Richterrecht nur hie und da außerhalb der verfassungsrechtlichen Legalität installiert 4 9 . Als tragfähigste Begründung von Richterrecht durch die Verfassung gilt unter dessen Verfechtern offenbar Art. 20 Abs. 3 GG, der die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung „an Gesetz und Recht" bindet und damit angeblich eine Absage an den Positivismus 50 , die Ablehnung eines „engen Gesetzespositivismus" einschließlich der Befugnis zu „schöpferischer Rechtsfindung" gemäß der Rechtsordnung als einem „Sinnganzen" ausspricht 51 . Das Bundesverfassungsgericht legt dabei alles Gewicht auf das unmittelbare Wortlautargument, ohne dieses in irgendeinen systematischen Zusammenhang zu stellen: Die „traditionelle Bindung des Richters an das Gesetz" als „tragender Bestandteil des Gewaltentrennungsgrundsatzes und damit der Rechtsstaatlichkeit" sei im Bonner Grundgesetz „jedenfalls der Formulierung nach" durch den Normtext des Art. 20 Abs. 3 „abgewandelt". Das Gericht hält es nicht der Erwähnung, geschweige denn einer dogmatischen Erörterung für wert, daß die für die Rechtsprechung spezielle Bindungsnorm, Art. 97 Abs. 1 GG, allein von den Richtern spricht, die „nur dem Gesetze unterworfen" sind. Von allem rhetorischen Irrationalismus abgesehen, den der Soraya-Beschluß seiner Mitwelt zumutet 52 , entzieht sich diese Argumentation dogmatisch selbst die Grundlage. Sowohl nach dem herrschend gewordenen Auslegungsergebnis des Art. 20 Abs. 3 als auch im Zusammenhang mit weiteren Bindungsnormen (wie Art. 1 Abs. 3, 93, 97 Abs. 1 GG) läßt sich die nicht nur für die Rechtsprechung, sondern gleichermaßen für die vollziehende Gewalt ausgesprochene 53 Bindung an „Gesetz und Recht" als Bindung an das gesamte positive Recht, an geschriebenes wie an Gewohnheitsrecht, verstehen. Damit ist das für die Richterrechtslehre schmerzliche Dauerproblem der Rechtsquellen angeschnitten: Richterrecht soll, so in den Anfängen der Frei49 Ebd.: „. . . da die Zwecke des Gewaltenteilungsprinzips durch die Geltung von Richterrecht bloß im Bereich des non liquet nicht beeinträchtigt werden". 50 Larenz, Richterliche Rechtsfortbildung als methodisches Problem, NJW 1965, 1 ff. Der Autor w i l l auf dieser dogmatisch nicht diskutierten Basis selbst noch eine Judikatur contra legem („gesetzesändernde Rechtsfortbildung") für den Fall eines vagen „Rechtsnotstands", eines Notstands für „den" Rechtsgedanken, rechtfertigen. 51 So der Soraya-Beschluß, BVerfGE 34, 269ff., 287. Ebd. das im Text folgende Zitat. 52 Dazu F. Müller, Die Einheit der Verfassung, 1979, 43ff., u.ö. 53 Die Befürworter von Richterrecht reklamieren jedoch nicht auch zugleich für Regierungs- und Verwaltungsinstanzen Kompetenz und Aufgabe, „regierungs"- bzw.
2.1 Rechtstheoretisch formulierbare Begründungsmuster
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rechtsbewegung, naturrechtlichen Rang haben; oder es soll als das positive Recht ergänzende oder ändernde Norm Gesetzesrang auf weisen; es soll als gleichrangige Rechtsquelle, andererseits nur als „Erkenntnisgrund für etwas als geltendes Recht" 5 4 auftreten; es soll über die materielle und formelle Rechtskraft der Entscheidung hinaus überhaupt keine „unmittelbare Geltung" haben, sondern lediglich „persuasive authority" 5 5 ; es wird als „uneigentliche Rechtsquelle" in einer Reihe mit Allgemeinen Geschäftsbedingungen, Verkehrssitte, der Natur der Sache, dem Bedürfnis des Rechtslebens und „dem Rechtsgefühl" aufgezählt 56 ; es soll als Rechtsquelle eigener Art aufgefaßt werden oder sich nur als Gewohnheitsrecht rechtfertigen können oder gar nur als Spielart der Gesetzesauslegung zu verstehen sein, als eine mit Gesetzesrecht nicht identische, diesem aber „ebenbürtige" Quelle von „Fallnormen" 5 7 , beziehungsweise als eine mit „beschränkter Befolgungspflicht" ausgestattete entweder untergesetzliche oder gegenüber dem Gesetz schwächere, gleichwohl aber normative Rechtsquelle 58 . Bei dieser Diskussionslage unter den Befürwortern richterlicher Rechtsetzung mag es eleganter erscheinen, den Rechtsquellenaspekt als „nachrangiges Problem" der Verbindlichkeit zu bezeichnen und die Frage des Richterrechts zu diskutieren, ohne sich mit dessen (etwaiger) Rechtsqualität befassen zu wollen 5 9 . Dieses Vorgehen soll sich deswegen anbieten, weil Richterrecht auf jeden Fall „faktische Wirksamkeit" habe, weil es zur Entscheidungsbegründung von anderen Gerichten herangezogen werde. Überhaupt sei es so, „daß die Rechtsprechung aufgrund ihrer Kompetenzen ihre eigenen Entscheidungsgrundlagen bilden kann und damit die aktuelle Rechtslage bestimmt" 6 0 . Diese Strategie, das Problem durch Abtötung zu lösen, ist bereits mit Art. 20 Abs. 3 GG, ferner speziell mit Art. 97 Abs. 1 GG und auch mit anderen verfassungsrechtlichen Bindungsnormen nicht vereinbar. Faktische „verwaltungsrechtliche" Normen selbständig zu setzen, und zwar außerhalb des Verordnungs- und Satzungsbereichs. 54 In diesem Sinn: Ossenbühl, in: Allgemeines Verwaltungsrecht, hrsg. von Erichsen / Martens, 6. Aufl. 1983,112. 55 Coing, Zur Ermittlung von Sätzen des Richterrechts, JuS 1975, 277 ff., 279f. 56 Staudinger / Brandl, Kommentar zum BGB, Bd. 1 1957, Rdnr. 34ff., 51, wo ihm „Gesetzeskraft" außerhalb der positivrechtlichen Ausnahmen für die Verfassungsgerichtsbarkeit abgesprochen und nur ein „weitgehende(r) Einfluß auf die Rechtspraxis" zugeschrieben wird. 57 Fikentscher, Methoden des Rechts IV (1977), z.B. 235, 271, 310, 660. 58 Meier-Hayoz, Der Richter als Gesetzgeber, 1951, z.B. 259. - Zusammenstellung verschiedener Versionen z.B. bei Olzen, Die Rechts Wirkungen geänderter höchstrichterlicher Rechtsprechung in Zivilsachen, JZ 1985, 155ff., 158f.; Bydlinski, Hauptpositionen zum Richterrecht, JZ 1985, 149. 59 J. Ipsen, Richterrecht und Verfassung, 1975, 60f.: „Das Problem des Richterrechts läßt sich also diskutieren, ohne daß geklärt ist, ob wir es überhaupt mit,Recht' zu tun haben." 80 Ebd.
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2. Zum Ertrag der bisherigen Debatte
Wirksamkeit von richterlichem Tun bleibt dessen normativem Bezug auf das geltende positive Recht unterstellt. Die Rechtsprechung darf sich aufgrund ihrer Kompetenzen, welche die Verfassung gibt und begrenzt, ihre eigenen Entscheidungsgrundlagen gerade nicht frei, nicht rechtsungebunden bilden. Damit ist das Problem der Verbindlichkeit von Richterrecht nicht nur wieder im Spiel, sondern als eine Crux und ein Hauptproblem dieser Debatte ungewollt bestätigt. Nur die Frage nach seiner Stellung unter den Rechtsquellen macht das Phänomen Richterrecht dogmatisch, methodisch und rechtstheoretisch so frag-würdig. Das geltende Recht „gilt" immer hier und jetzt, das heißt jeweils im zu entscheidenden Fall. Für den anstehenden Rechtsfall stellt sich konkret die Frage nach Gewaltenteilung, Funktionszuweisung, normativer Bindung und etwaiger schöpferischer Freiheit der Justiz. Die Frage der Verbindlichkeit oder Unverbindlichkeit eines richterrechtlichen Judikats für die Zukunft ist ohne Antwort auf die Frage nach seiner normativen Qualität (außerhalb des positiven Rechts oder gegen dieses) im Fall nicht beantwortbar. Beide Fragen gehören gemeinsam in eben den größeren Zusammenhang, dessen Vermeidung die referierten Lehren zum Richterrecht überraschend stark prägt.
2.2 Probleme der Diskussion um Richterrecht Die ältere Richterrechtsdebatte griff rechtspolitisch weiter aus, als es wissenschaftlich vertretbar ist; dogmatisch, methodisch und theoretisch blieb sie auf halbem Weg stecken. Die neuere Diskussion, vor allem die im Verfassungsrecht, verlegt sich - entsprechend der Spannweite zwischen angeblich originärer rechtsschöpferischer Gewalt der Gerichte bei bloßer Prärogative der Normsetzung für den Verfassungsgeber (Kriele) und der Reduktion der Verfassungsjustiz auf formallogische Verfassungsanwendung mittels syllogistischer Schlüsse (Forsthoff) 61 - zunehmend auf Postulate. So soll Richterrecht zum Grundgesetz schon dann legitim sein, wenn es den Geboten der „Legitimität", der „Objektivität" und „Rationalität", der „Stabilität, Kontinuität und Publizität" gerecht w i r d 6 2 - so als würde diese unvollständige Aufzählung von Eigenschaften, die das Gesetzesrecht haben kann, die mit der These vom Richterrecht gestellte Frage beantworten. Die Debatte läßt vielfach noch unklar, was unter ,Richterrecht' verstanden werden soll. So wird damit etwa die Einsicht bezeichnet, richterliches 61 Forsthoff, Die Umbildung des Verfassungsgesetzes, in: Festschrift für C. Schmitt, hrsg. v. Barion / Forsthoff / W. Weber, 1959, 35ff.; ders., Zur Problematik der Verfassungsauslegung, 1961. 62 H.-P. Schneider, Richterrecht, Gesetzesrecht und Verfassungsrecht, 1969. - Zum Zivilrecht vgl. die Ansammlung von Ansichten bei Bydlinski, Hauptpositionen zum Richterrecht, JZ 1985, 149ff.
2.2 Probleme der Diskussion um Richterrecht
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Tun sei auch schöpferisch, sei nicht nur als unselbständig ,das positive Recht4 exekutierend zu verstehen. Dies sollte aber besser so formuliert werden, daß zwischen der Phase von Normtext und Entscheidungsfall am Anfang und jener von Entscheidungsnorm und entschiedenem Rechtsfall am Ende der Rechtsarbeit ein komplexer und alles andere als nur syllogistisch schließender Vorgang der Konkretisierung erforderlich ist, und zwar nicht nur in Grenzfällen, sondern im Normalfall 6 3 . Anderwärts w i r d unter »Richterrecht' eine Fallentscheidung gegen oder ohne bestehende Normen verstanden; genauer gesagt: der Grenzfall der Entscheidungstätigkeit ohne oder gegen in ,Geltung' befindliche Normtexte. Sinnvoll erscheint nur diese zweite Gebrauchsweise des Begriffs. Hierzu hat die Bestandsaufnahme gezeigt, daß die Begründung der Zulässigkeit solchen Handelns in ihren zahlreichen Varianten so vielgestaltig wie wirr zu nennen ist. Nie w i r d genau beschrieben, was beim Vorgang des Bildens von Richterrecht real geschieht. Damit bleibt auch die Erklärung dessen, was unter dem „schöpferischen", dem „fortbildenden" Charakter richterrechtlichen Tuns eigentlich verstanden sein soll, unbefriedigend. Es genügt nicht, auf Rechtsprechungsgrundsätze zu verweisen, die unter dem Namen „Richterrecht" faktisch beachtet werden und die über „bloße Subsumtion" hinaus das Schöpferische richterlichen Handelns bezeugen sollen. Es genügt nicht die Feststellung, „daß eine gesetzliche Regelung fehlt, oder daß die vorhandene gesetzliche Regelung lückenhaft, unbestimmt, mehrdeutig oder sogar widersprüchlich ist, oder daß eine scheinbar einschlägige gesetzliche Regelung dem vorliegenden Fall nicht gerecht w i r d " 6 4 , um Richterrecht auch nur leidlich genau von anderen Problemen der Rechtsverwirklichung zu unterscheiden. Die Chimäre syllogistischer Subsumtion taugt weder dazu, Richterrecht zu beschreiben, noch auch zu seiner Rechtfertigung. Alles Recht beruht auf Entscheidungsvorgängen. Der Richter braucht seinen Entscheidungsbeitrag nicht als nur kognitiven Prozeß, als logischen Schluß auszugeben. Um rechtsstaatlicher Kontrollierbarkeit und demokratischer Bindung willen muß aber die normbildende Entscheidungsarbeit der rechtsprechenden wie der vollziehenden Gewalt rechtstheoretisch geklärt, methodologisch und dogmatisch differenziert und dargestellt werden. Wird Rechtswissenschaft 63 Zum Konzept der Konkretisierung F. Müller, Juristische Methodik, 2. Aufl. 1976, 104ff., 146ff., 198ff., 264ff.; ders., Strukturierende Rechtslehre, 1984, z.B. 184ff., 195 ff., 199 ff. 64 Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 3. Aufl. 1983, 53 und f. - Die Fälle, in denen „eine gesetzliche Regelung fehlt" oder „eine scheinbar einschlägige gesetzliche Regelung dem vorliegenden Fall nicht gerecht wird", können allerdings Vorgänge nach sich ziehen, die sinnvoll mit dem Begriff ,Richterrecht' bedacht werden - nur ist das Problem damit allenfalls in Umrissen bezeichnet. Gleichwohl soll (gesetzesergänzendes) Richterrecht „nicht nur legitim, sondern auch unverzichtbar" sein, so Maurer, ebd., 54.
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2. Zum Ertrag der bisherigen Debatte
dagegen noch nicht als Rechtserzeugungstheorie 65 verstanden, sondern immer noch als Rechts,anwendungs'lehre, so erscheint richterliches Tun nur deshalb und insoweit als schöpferisch, als es sich nicht in Subsumtion erschöpft; so besteht Rechts,,fort"bildung trivial nur in alldem, was über den Normtext hinausführt; so wird als „Richterrecht" unzutreffend jeglicher Überschuß zum Syllogismusmodell bezeichnet. In der Diskussion wird zum ,Richterrecht' teilweise neben der sogenannten Rechtsfindung praeter legem, also dem Feststellen und Auffüllen angeblicher Lücken, auch noch die Anwendung von Generalklauseln und unbestimmten Rechtsbegriffen gezählt 66 ; oder es soll selbst noch die Auslegung mehrdeutiger Tatbestandsbegriffe dem Richterrecht einverleibt, also die an einem vagen oder mehrdeutigen Sprachgebrauch ansetzende Interpretation als ,Lücken'problem behandelt werden. Richterrecht stellt nach dieser Ansicht das Bilden all derjenigen Entscheidungsnormen dar, die nicht direkt „dem Gesetz" entnommen werden; die, anders gesagt, nicht von dem unmittelbaren, uninterpretierten Normtext vorgegeben sind, sondern erst einer Konkretisierung bedürfen 67 . Gegenüber diesem uferlosen Gebrauch sollte das Problem auf die Fälle eingegrenzt werden, in denen sich ein Richter oder eine Stelle der vollziehenden Gewalt „über das Gesetz hinwegsetzt", sei es mangels einer Vorschrift (praeter legem), sei es gegen eine solche (contra legem) 68 . Die methodologische Unterscheidung, wann das der Fall ist, muß dann noch geleistet werden. Die bisherige Debatte hat dazu, mit dem Kriterium des möglichen Wortsinns, die Unterscheidungen nach ,secundum' und ,praeter' beziehungsweise ,contra legem' beigetragen. Dogmatisch muß in jedem Einzelfall geprüft werden, auf welche Rechtsquelle sich konkret ein Entscheiden, das richterrechtliche Faktoren einbezieht, für sein Ergebnis beruft. Diese Frage ist untrennbar von der verfassungsrechtlichen nach der Zulässigkeit oder Unzulässigkeit richterlichen Entscheidungshandelns ohne Rückführung auf Normtexte. Diese drei Ebenen der Fragestellung sind zu interpretieren durch die rechtstheoretische: Worauf stützt sich, strukturell gesehen und methodologisch kontrolliert, im fraglichen Fall die vom Richter (oder von der Instanz der vollziehenden Gewalt) gesetzte Entscheidungsnorm? Wird sie überhaupt je vom Normtext »abgeleitet' oder muß eine andere Größe, die 65
hend.
F. Müller, Juristische Methodik und Politisches System, 1976, 5, und durchge-
66 Z.B. Germann, Probleme und Methoden der Rechtsfindung, 1965, 111 ff., 227ff., 367ff.; Meier-Hayoz, Der Richter als Gesetzgeber, 1951, 54ff., 75ff.; Wieacker, Gesetz und Richterkunst, 1958, 7 ff. 67 Z.B. Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. Aufl. 1960, 350f.; Ross, Theorie der Rechtsquellen, 1929, 331 ff., 333; Zippelius, NJW 1964, 1981, 1983. 68 Das wirft zugleich Zulässigkeitsfragen auf; vgl. H. J. Hirsch, JR 1966, 334ff., 341: „Richterrecht ist für eine Rechtsordnung, die wie unsere strukturiert ist, eine contradictio in adiecto, ja mehr noch: Es bedeutet Rechtsbruch".
2.2 Probleme der Diskussion um Richterrecht
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Rechtsnorm, vom Juristen erst im Fall gebildet werden, damit ein Ableiten der Entscheidungsnorm möglich wird? Unbeeindruckt von der Komplexität der Sache, hat es die Diskussion für ausreichend gehalten, das Thema ohne strukturiertes Begriffsgefüge anzugehen. Den besprochenen Quellen können beispielhaft noch weitere hinzugefügt werden. So wird die Wirklichkeit heutigen Richterrechts als Lockerung klassischer Gesetzesbindung im Rahmen von Art. 20 Abs. 3 („Gesetz und Recht") global beschrieben und seine Problematik in der Bundesrepublik, einem „Justizstaät im prägnanten Sinne", nur in der Kompetenz-Kompetenz der rechtsprechenden Gewalt bezüglich des Umfangs ihrer Rechtsbindung gesehen69. Hier wie bei anderen herkömmlich argumentierenden Autoren beschränkt sich aber das so oft hervorgehobene Schöpferische auf die „Neudeutung des Norminhaltes", auf eine „Abgrenzung des konkreten Bedeutungsbereichs des Begriffsinhaltes"; also auf die Tatsache, daß „die Subsumtion eines Falles unter eine Norm nie eine einfache, logische Operation ist" 7 0 . Diese durch optische Täuschung, nämlich durch das Verwechseln von Rechtsnorm und Normtext und von Konkretisierung mit syllogistischer Subsumtion, dem Richterrecht zugeschlagene Gruppe von Fällen sollte aus de,m Zusammenhang mit diesem ausgeschaltet werden. Aber auch für die eigentlichen Fälle, für „freie Rechtsfindung", für Richterrecht als dritte Rechtsquelle neben Gesetz und Gewohnheitsrecht dort, „wo Gesetz, Gewohnheit und Analogie dem Richter . .. nicht mehr als Mittel der Rechtsschöpfung zur Verfügung" stehen, wird unklar argumentiert. Auch bei dieser „Rechtsquelle jenseits der Analogie", bei welcher der Richter „vollständig in der Rolle eines Gesetzgebers" steht, bleibt es beim pauschalen Bekennen, beim holistischen Autoritätsargument. Differenzierte Regeln für freie Rechtsfindung seien nicht auffindbar; der Richter sei nur noch an „die letzten Richtigkeitsgedanken" gebunden, die „hinter der norm-mäßigen rechtspolitischen Zwecksetzung stehen" 71 . Hier soll es nur dann ein „Willkürakt" sein, wenn freie richterliche Rechtsbildung „ohne eine generelle Norm" (recte: einen Normtext) vor sich geht. Bei Fehlen einer Gesetzesnorm oder einer gewohnheitsrechtlichen Vorschrift müsse sich der Richter viel69 Forsthoff, Die Bindung an Gesetz und Recht (Art. 20 Abs. 3 GG), in: ders., Rechtsstaat im Wandel, 1964, 176ff., 184. Folgerichtig erwähnt ders., Lehrbuch des Verwaltungsrechts, 10. Aufl. 1973, 125ff., das Richterrecht nicht unter den Rechtsquellen. - Dagegen hatte Forsthoff, in: Recht und Sprache, 1940, 28 ff., die Richter „zu einer schöpferischen, d.h. das Recht fortführenden Rechtsprechung" nicht nur für „befähigt", sondern auch für „befugt" gehalten; hatte er den Richter „nicht lediglich (als) Vollstrecker des Gesetzes im Sinne der bloßen Realisierung" sehen wollen. Es sollte der Justiz lediglich versagt bleiben, „an Ordnungsleistungen allgemeinen Charakters und an Planungen, an Umgestaltungen des Volkskörpers und Förderungsbestrebungen irgendwelcher Art aktiv teilzunehmen", ebd., 32. 70 Theodor Geiger, Vorstudien zu einer Soziologie des Rechts, 1964,174f.; vgl. auch ebd., 196, u.ö. 71 Bartholomeyczik, Die Kunst der Gesetzesauslegung, 2. Aufl. 1960, 119f.
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2. Zum Ertrag der bisherigen Debatte
mehr „eine Norm (»Richterrecht 4) erarbeiten", der dann ebenso wie dem Gewohnheitsrecht und dem Gesetz eine „formelle Positivität" zukomme 72 . Diese unentfaltete Beschreibung läßt die durch Richterrecht aufgeworfenen theoretischen und normativen Probleme ebenso außer acht, wie es eine andere Position mit ihrer Ablehnung des Kriteriums der Gesetzmäßigkeit richterlichen Handelns tut, mit ihrer Unterscheidung zwischen der Richtigkeit der Interpretation eines Gesetzestextes und der Richtigkeit der Entscheidung selbst 73 . Auf der Ebene der Deskription des Entstehens von Richterrecht wird dann aus dem Postulat der Rechtsbestimmtheit, das bedeutsamer sein soll als Inhalt und Zweck einer gesetzlichen Regel, mit dem Anspruch eines formellen Gerechtigkeitsprinzips und normativen Leitbilds die für die Rechtspraxis angeblich selbstgesetzliche Richtigkeitsformel abgeleitet: eine richterliche Entscheidung sei „dann richtig, wenn anzunehmen ist, daß ein anderer Richter ebenso entschieden hätte". Unter einem „anderen Richter" soll dabei der „empirische(n) Typus des modernen rechtsgelehrten Juristen44 7 4 verstanden sein; diese wieder nur beschreibende Formel wird unversehens als normativ behandelt, in den Rang eines kategorischen Imperativs erhoben. Extrem richterrechtsfreundliche Positionen unterlaufen die Schwierigkeiten gleichsam, können sich selbst in dem Maß nicht mehr begreifen, in dem sie nur noch problembezogen denken und fallübergreifende richterrechtliche Normen nicht akzeptieren. Wenn „die Norm 44 weder Ausgangspunkt noch Maßstab im Vorgang der Realisierung von Recht sein soll, wenn sie zu einem Topos unter anderen wird, ist die Kontroverse , Gesetzesrecht Richterrecht 4 umgangen 75 . Ebenso widerstandslos wie im Bereich rhetorischer Rechtswissenschaft wird auch mit rechtsvergleichenden Argumenten das sogenannte rechtsfortbildende Richterrecht der Gesetzgebung zur Seite und ihr schlicht gleichgestellt. Daß der Gesetzgeber imstande ist, Richterrecht durch Gesetze abzulösen oder zu ändern, erscheint gerade noch als erwähnenswert. Für gesetzliche Normen in ihrem Verhältnis untereinander gilt das übrigens in gleicher Weise 76 . Nur einige technische Daten wie Fristen, Höchstgrenzen für Scha72
Arthur Kaufmann, Analogie und „Natur der Sache", 2. Aufl. 1982, 10, 43. So C. Schmitt, Gesetz und Urteil, 2. Aufl. 1969, Iff., 22ff., 29, 42; ebd., 62: Die Richtigkeit der Interpretation ist notwendige, nicht aber hinreichende Bedingung der Richtigkeit der Entscheidung. - Zum folgenden ebd., 46ff., 55, 71, 78. 74 C. Schmitt, ebd., 71; zum kategorischen Imperativ: ebd., 78. 75 Zu Viehweg, Topik und Jurisprudenz, 5. Aufl. 1974, z.B. 16, 30, 81 ff., u.ö. Zur topischen Rhetorik: F. Müller, Strukturierende Rechtslehre, 1984, z.B. 56ff., 65ff.; ders., Juristische Methodik, 2. Aufl. 1976, z.B. 77ff. 76 Zu Zweigert, Die rechtsstaatliche Dimension von Gesetzgebung und Judikatur, in: Verhandlungen des 51. DJT (1976), Teil K, v.a. 11 ff., 14. 73
2.2 Probleme der Diskussion um Richterrecht
29
densersatz, also numerische Normtextfaktoren, sollen dem Gesetzgeber vorbehalten bleiben. Im übrigen komme es allgemein nur darauf an, in welchen Sachmaterien das Gesetzesrecht die „effizientere Rechtsquelle" sei und wo dagegen die Rechtsprechung das Recht effektiver zu gestalten vermöge als die Legislative. Gerichtliche Akte sollen als „formelle Quellen des Richterrechts" 7 7 gelten, soweit sie in Auslegung und Fortbildung des Gesetzes selbständig Rechtssätze entwickeln und zur Grundlage der Entscheidung machen oder soweit sie aus Anlaß einzelner Fälle allgemeine Rechtssätze formulieren. Vor dem Verständnishintergrund angelsächsischer Präjudizienpraxis und ihrer Entscheidungsketten werden faktische Grenzen des Richterrechts in Begriffen wie „richterlichem Takt", dem Ethos des Richters sowie der „richterlichen Kunst und Ethik" gesucht; daneben im Geltungsbereich des Grundgesetzes vor allem in der Bindung an Gesetz und Recht, die - außerhalb der gesetzlich besonders angeordneten Fälle - eine Verpflichtung anderer Gerichte durch Präjudizien ausschließt. Es herrscht dabei ein von ungenauem Pragmatismus bestimmter Geltungsbegriff: die durch Vernünftigkeit und persönliche oder institutionelle Autorität geprägte persuasive authority, angesichts deren sich „die Geltung der Sätze des Richterrechts mit formellen Kriterien wohl überhaupt nicht erfassen" läßt 78 . Entsprechend ist auch das Bekenntnis zur Gesetzesbindung in demselben Maß unsicher, in dem der Geltungsbegriff schillert. Denn trotz Fehlens einer formellen Bindung anderer Gerichte soll gleichwohl eine „Pflicht dieser Gerichte" zur Beachtung von Präjudizien bestehen; das heißt dazu, „sie zu prüfen und von ihnen nicht ohne zwingende sachliche Gründe abzuweichen". Damit ist auch Richterrecht dem Wechselspiel rechtspolitischer Erwägungen ausgeliefert, wird den Präjudizien eine faktisch durchschlagende, normativ dagegen unbegründbare „präsumptive" Verbindlichkeit 7 9 zugeschrieben. Es geht aber nicht um freischwebende Sachargumente im Sinn eines Streits um das, was als vernünftig anzusehen sei und was nicht. Interessenberechnung und Interessenabwägung, rechtspolitisches Dafürhalten, die Berufung auf Vernünftigkeit (des eigenen Standpunkts) sind durch die von den Normtexten angeregten und als rechtsstaatliche Grenze beschränkten Konkretisierungselemente strukturiert. Die Vernünftigkeit präjudizieller Gesichtspunkte ist auch dann der Sache nach in die Konkretisierung eingebracht, wenn richterliche Entscheidungsnormen und Begründungen nur als Materialsammlung, als Arsenal für Argumentationen eingestuft werden, ohne als Quasi-Gesetze, das heißt in der Funktion offizieller Normtexte, eine apokryphe Rangerhöhung zugeschoben zu bekommen. 77
Coing, in: Staudinger / Coing, Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, 12. Aufl. 1980, Einleitung Rdnr.n 214ff.; ebd., Rdnr.n 220ff., 224f., 228f., 230ff., zum folgenden. 78 Coing, ebd., Rdnr.n 220ff.; ebd., Rdnr. 224, zum folgenden. 79 Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, 2. Aufl. 1976, 195.
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2. Zum Ertrag der bisherigen Debatte
Komparativ ansetzende Autoren (Esser, Zweigert, Coing, Kriele u. a.) verwischen diese normativ-systematischen Vorgaben durch eine einebnende Typologie, die ihre Rechtfertigung weder aus erneuertem Naturrecht noch aus einer methodisch vertretbaren Sozialwissenschaft bezieht, wohl aber aus einer von guten Gefühlen beschwingten Rechtsvergleichung, die funktionell den Platz beider einzunehmen beansprucht. Jedenfalls in sich schlüssig ist dagegen die Aussage der Reinen Rechtslehre. Sie sieht das Setzen der individuellen Norm durch das Gericht, den Ausspruch der Entscheidung, im Rahmen eines Kontinuums, das von Verfassungs- und Gesetzgebung bis zur Sanktion und ihrer Vollstreckung führt. Der Unterschied zwischen Rechtsanwendung und richterlicher Normsetzung sei fließend, weil auch im ersten Fall „die Funktion des Gerichtes Rechtserzeugung, nämlich die Erzeugung einer individuellen Norm" sei 80 . Nicht gesehen w i r d das Problem des Verhältnisses der Entscheidungsnorm (individuellen Norm) zur allgemeinen Rechtsnorm sowie deren Zurechenbarkeit zu einem Normtext, der außerdem nicht von der Rechtsnorm unterschieden wird. Nach Kelsen soll nämlich Rechtsfindung (nur) „ i n der Feststellung der auf den konkreten Fall anzuwendenden generellen N o r m " 8 1 liegen; gemeint ist aber: in dem vom Fall angeregten anfänglichen Bilden einer Normtexthypothese, das heißt im Einführen von solchen Normtexten, die als einschlägig erscheinen, in die Ausarbeitung einer Fallösung 82 . In den echt richterrechtlichen Fällen hat das Gericht weiten Spielraum, vergleichbar dem „Ermessen, das die Verfassung normalerweise dem Gesetzgeber in der Erzeugung genereller Rechtsnormen (recte: im Setzen von Normtexten) 83 einräumt". Dabei sind offenbar nur die materiellen Vorgaben des Verfassungsrechts gegenüber dem Gesetzesrecht gemeint, nicht dagegen Organisationsnormen wie Gewaltenteilung, Funktions- und Kompetenzvorschriften. Denn Kelsen problematisiert das allein materiell verfassungsgebundene, im übrigen angeblich freie Setzen richterrechtlicher Normen nur im Hinblick auf den engen rechtsstaatlichen Aspekt der Rückwirkung, den er zudem nur an dem besonders deutlichen Beispiel des Strafrechts ausweist 8 4 . Die normativ-systematischen Grundfragen werden auch von der Reinen Rechtslehre nicht aufgegriffen. Vielmehr gibt sie nur die rechtspolitische Linie einer mittleren Position zu erkennen, eines Ausgleichs zwischen Flexibilität und Rechtssicherheit, der zwischen der klassischen europäisch8° Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. Aufl. 1960, 242f., 247f., 250, 255ff.; ebd., 256ff. die rechtspolitische Stellungnahme. - Allgemein zu Kelsen in diesem Zusammenhang: Pardon, Reine Rechtslehre und Richterrecht, in: Rechtstheorie Beiheft 5 (1984), 369ff. 81 Kelsen, ebd., 243. 82 Dazu F. Müller, Strukturierende Rechtslehre, 1984, z.B. 263ff., 433f. 83 Kelsen, ebd., 236ff., 270ff. 84 Ebd., 250f.; zu dem im Text folgenden: ebd., 256ff.
2.3 Nachpositivistische Grundsatzkritik
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kontinentalen Programmierung der Rechtsprechung durch die Legislative und der Rechtserzeugung durch die Gerichte im Sinn des anglo-amerikanischen common law gefunden werden müsse. 2.3 Nachpositivistische Grundsatzkritik Das Reklamieren schöpferischer Tätigkeit für die Gerichte verirrt sich seit Beginn der Diskussion um Richterrecht, nach oberflächlicher Polemik gegen den Gesetzespositivismus, sogleich wieder in denselben Widersprüchen der Normauffassung, die bereits den Positivismus zum Scheitern verurteilten. Dieser hat das Methodenideal einer sich noch nicht fragwürdig gewordenen Naturwissenschaft um die Mitte des 19. Jahrhunderts unkritisch auf das Recht übertragen. Dieses wurde als in sich ruhendes Sein, die Rechtsnorm als hypothetisches Urteil, als befehlender Wille und formallogisch formalisierter Obersatz mißverstanden. Recht und Wirklichkeit, Norm und normierter Realitätsausschnitt sollen „an sich" beziehungslos nebeneinander stehen. Sie werden mit dem Rigorismus neukantischer Trennung von „Sein" und „Sollen" einander entgegengesetzt. Angeblich treffen sie sich nur auf dem Weg einer Subsumtion des Tatbestands unter einem normativen Obersatz. Dem liegt die systematische Verwechslung der Rechtsnormen mit ihren Texten zugrunde, die nicht nur den Gesetzespositivismus, sondern auch die späteren antipositivistischen Ansätze unbewußt prägt. Demzufolge gibt es Methodik für den Positivismus nur als Methodik der Auslegung von Sprachformeln. Was außerhalb des Normtextes zu erarbeiten ist, gilt als metajuristisch. Über Subsumtion kommen aber auch die antipositivistischen Versuche nicht hinweg, nur subsumieren sie noch unter andere Sprachtexte als unter die Begriffe des gesetzlichen Tatbestands. Wenn Richter selbständig Normen setzen, sollen sie, auf nur quantitativ erweiterter und nach wie vor rein sprachlicher Grundlage, entweder unter Formeln subsumieren, die über die des vorhandenen Normtextes hinausgehen; oder unter solche, die frei herangezogen werden, weil ein Normtext nicht vorhanden ist: etwa die „Normen des Sittengesetzes", die „Grundanschauungen des westeuropäischen Kulturkreises", unter „Billigkeit", „Gerechtigkeit", „Natur der Sache", „bewährte Rechtslehre", unter „der Rechtsordnung immanente Prinzipien" 8 5 und ähnliche Sprachgebilde, die für in einem unklaren Sinn höhere, für quasi-normative Instanzen stehen sollen. Solche Quasi-Normen sollen nicht „gesetzt" werden, vielmehr „gefunden". Es handle sich nicht um Dezision, sondern um Rechts„erkenntnis". Daß es beim Rechtfertigen der Setzung von Richterrecht um einen Rückf all in die Subsumtionsvorstel85 Diese Beispiele bei Wieacker, Gesetz und Richterkunst, 1958, 10ff.; Larenz, Richterliche Rechtsfortbildung als methodisches Problem, NJW 1965, Iff.; ebd. auch die Zitate der folgenden Postulate, z.B. 7.
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2. Zum Ertrag der bisherigen Debatte
lung geht, genauer: um ein Verbleiben in dieser, um antipositivistischen Positivismus, wird von den Verfechtern des Richterrechts durch die Art ihrer Argumente klargestellt. Da Subsumtion unter gesetzliche „Obersätze" hier voraussetzungsgemäß (extra legem oder contra legem) nicht mehr stattfinden kann, wird sie unter das Dach „der" Rechtsordnung schlechthin, „der" Rechtsidee, des „Gesamtsinns" der Rechtsordnung gestellt: zwar extra oder contra legem, aber „immer noch intra ius". Das beim Richterrecht wirklich Produktive, nämlich das Setzen statt des Findens, wird einmal mehr verleugnet. Das Verschieben der Verantwortung für das eigene Entscheidungshandeln auf abstraktere Instanzen, normalerweise auf den Gesetzgeber, ist von Anfang an eines der Kennzeichen des Gesetzespositivismus gewesen. Ohne theoretische Schlüssigkeit w i r d selbst das Setzen von Richterrecht gewaltsam in ein Begründungsdenken zurückgebogen8 6 , werden Syllogismusmodell und Subsumtionspostulat auf quantitativ verbreiterter Grundlage wiederholt. Das Recht (ius) nimmt funktionell die Stelle des positiven Gesetzes (lex) ein. Eine von Einsicht in ihr reales Tun gereinigte Jurisprudenz soll „das" Recht außerhalb seiner Positivierung kognitiv „finden" können. Jenseits des positiven Rechts, also jenseits der Normtexte liegende Legitimationsinstanzen solcher Art entstehen aus der Zwangsvorstellung, jede Rechtsentscheidung auf dem Weg der Subsumtion ableiten zu müssen. Dagegen kommt es zunächst darauf an, die nicht gefundenen, sondern erfundenen Elemente richterrechtlicher Entscheidung zu beschreiben, zu klassifizieren und sie einem rechtstheoretisch diskutablen Begriffsfeld einzuordnen. Solange dies nicht geschehen ist, kann der Richterrechtslehre ihr Krypto-Positivismus nicht bewußt werden. Bis dahin w i r d das Schöpferische richterrechtlichen Tuns schon darin erblickt, über die bloßen Normtexte hinauszugehen, kann Normtextfortbildung als „Rechts"fortbildung mißdeutet werden. Ein ähnliches Mißverständnis hat sich bezüglich der Einheit der Rechtsordnung im Sinn ihrer Lückenlosigkeit herausgestellt. Mit dem Positivismus, gegen den sie anzugehen meinen, teilen die Vertreter des Richterrechts letztlich dieses illusionäre Ideal. Das Recht gilt als lückenloses System von Rechtssätzen. Jede auftauchende Rechtsfrage ist von ihm notwendig vorweggenommen. Alles menschliche Gemeinschaftshandeln ist als „Anwendung" oder „Ausführung" abstrakter Rechtssätze beziehungsweise als „Verstoß" gegen solche zu deuten. Lücken sind nicht vorgesehen. Wo sie dennoch auftauchen, muß juristische Konstruktion aus leitenden Grundsätzen des positiven Rechts dieses im doppelten Sinn „schließen": aus dem 86 Zur Gegenüberstellung von Begründungs- und Überprüfungsdenken vgl. H. Albert, Erkenntnis und Recht. Die Jurisprudenz im Lichte des &itizismus, in: Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie 2 (1972), 80ff. - Zur Herkunft der Richterrechtsdoktrin aus dem Rechtspositivismus jetzt auch eingehend Christensen, Das Problem des Richterrechts aus der Sicht der Strukturierenden Rechtslehre, ARSP 1986 (im Erscheinen).
2.3 Nachpositivistische Grundsatzkritik
33
Prinzip deduktiv auf den Fall, sowie die im Fall hervorgetretene Leerstelle durch eine neuformulierte Norm. Darin besteht die von der Doktrin des Richterrechts überraschend geteilte Haltung des Gesetzespositivismus. Für diesen sind die höheren allgemeinen Rechtsbegriffe etwas Vorgegebenes, das „an sich" existiert, das alle neuen Rechtsinstitute und Rechtsprobleme mit Gewißheit antizipiert hat. Es handelt sich nicht etwa nur um das Eingestehen der Erforderlichkeit von Behelfskonstruktionen, sondern um die Behauptung eines substantiellen Vorentschiedenseins der denkbaren Fälle der Praxis. Jeder Rechtsbildung der Zukunft ist „nur die tatsächliche Verwendung und Verbindung der allgemeinen Rechtsbegriffe" eigentümlich. Jedes mögliche künftige Rechtsinstitut kann mit Notwendigkeit „einem höheren und allgemeineren Rechtsbegriff" untergeordnet werden 87 . Auch Richterrecht siedelt sich in der „Lücke" an, rechtfertigt sich durch eine angebliche Notwendigkeit, diese schließen zu müssen 88 . Der bei den Verfechtern des Richterrechts unbewußt vorhandene strenge Systembegriff, verknüpft mit dem Denken in Kodifikationen, ist ein spätes Erbe von Vernunftrecht, Pandektenwissenschaft, Positivismus und Begriffsjurisprudenz. Nach dem Ende der Illusion, das systematisierte und formalisierte, das monopolisierte und bürokratisierte Recht des modernen kontinentalen Anstaltsstaats sei substantiell geschlossen, sollte wenigstens Jurisprudenz als begrifflich geschlossene Doktrin betrieben werden. Dem entspricht es, Entscheidungen logisch aus System, Begriff und Lehrsatz ableiten und Rechtsfälle durch syllogistische Subsumtion lösen zu wollen. Die Rechtsbegriffe scheinen einen numerus clausus von Axiomen anzubieten. Einheit im Sinn von inhaltlicher Harmonie und Freiheit von Lücken werden scheinbar erreicht, indem die soziale Wirklichkeit aus dem Einzugsgebiet juristischer Arbeit verdrängt wird. Auf verdeckte Art teilt noch die Lehre vom Richterrecht, die aus „der" Rechtsidee, aus dem vorgeblichen Gesamtsinn der Rechtsordnung, aus „leitenden Prinzipien" und Ähnlichem ihre Dezisionen ableitet, das Ziel des klassischen Gesetzespositivismus, „rein juristisch" vorzugehen. Freirechtsschule, Interessenjurisprudenz und jüngere antipositivistische Schulen haben trotz ihrer Rede von sogenannten offenen, fragmentarischen, nicht-axiomatischen oder beweglichen Systemen des Rechts am positivistischen Ansatz insoweit nichts geändert. Auch Topik, geisteswissenschaftliche Hermeneutik, Dezisionismus und Integrationslehre haben sich - innerhalb oder außerhalb der Richterrechtsdebatte - auf Detailkritik am Positivismus beschränkt, statt bei Norm und Normbegriff anzusetzen. 87
Labandy Das Staatsrecht des Deutschen Reiches, 5. Aufl. 1911 - 1914, Bd. 1, Vff. Vgl. zur Analyse des positivistischen Ansatzes: F. Müller, Juristische Methodik, 2. Aufl. 1976, 56ff., 125ff. 88 Zur K r i t i k hieran das Beispiel ebd., 207 ff. - Unter dogmatischen, methodologischen und verfassungstheoretischen Gesichtspunkten zur Idee der Lückenlosigkeit der Rechtsordnung: F. Müller, die Einheit der Verfassung, 1979, z.B. 44f., 98ff., 110 ff.; ders., Artikel „Einheit der Rechtsordnung", in: Lexikon des Rechts. 3 F. Müller
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2. Zum Ertrag der bisherigen Debatte
Mit ihrem Gegner verwechselten sie weiterhin „Einheit", „Ganzheit" und „Geschlossenheit" der Rechtsordnung mit der Positivität und Gleichrangigkeit der Normen einer Kodifikation sowie mit der trivialen Identität des Normenbestands mit sich selbst. Nicht mehr programmatisch, wohl aber in der Sache teilten sie die nicht einlösbare Wunschvorstellung des Positivismus, das Recht als Einheit, die einzelne Entscheidimg als logische Subsumtion (wenn auch beim Richterrecht als eine solche unter nicht-gesetzliche Sprachformeln) zu fassen; die Illusion, alle nicht im Normtext (beim Richterrecht: nicht in den »höheren' Legitimationsformeln) dogmatisierten Elemente der sozialen Ordnung aus dem wissenschaftspraktischen Handeln der Juristen ausschalten zu können. Denn das vorgeblich geschlossene, lückenlose, harmonische, das abstrakt verdinglichte Rechtssystem läßt sich nur unter Vernachlässigen seiner historischen und politischen Voraussetzungen, seiner sachlichen sozialen Gehalte selbstgenügsam formalistisch in Begriffe pressen und deduzierend handhaben. Die Lehre vom Richterrecht teilt dabei den weiteren Irrtum des Positivismus, die Texte in den Gesetzessammlungen schon für das positive Recht zu halten. Diese Texte sind nur die Gesamtheit der sprachlichen Formulierungen der im Fall einzusetzenden »geltenden' Eingangsdaten, also die Normtextmenge, nicht aber schon die Menge der Rechtsnormen als komplexer, strukturierter Gebilde. Nur so konnte auch die optische Täuschimg von der „Rechts"fortbildung als der „Fortbildung" der bloßen Normtexte entstehen, die einen erheblichen Teil der Richterrechtsdiskussion mit unpassenden Beispielen angefüllt hat. Die Grundfrage nach der Rolle der Wirklichkeit im Recht ist nicht dadurch gelöst worden, daß man sie systematisch umging. Für ein realistisches Konzept stellt sich die Rechtsnorm als strukturiert dar; zusammengesetzt aus dem Ergebnis der Interpretation von Sprachdaten, dem Normprogramm, und der Menge der mit dem Normprogramm konformen Realdaten, dem Normbereich. Das Ordnende und das zu Ordnende gehören sachlich zusammen und sind methodisch rational zu vermitteln. Der Normtext ist kein begrifflicher Bestandteil der Rechtsnorm; er bildet vielmehr, zusammen mit dem rechtlich zu entscheidenden Fall, das wichtigste Eingangsdatum des einzelnen KonkretisierungsVorgangs. Es ist also sowohl die Rechts- / norm von ihrem Normtext als auch die Rechtsnorm von der Entscheidungsnorm zu unterscheiden. Die Methodik der Normbehandlung hat im Rahmen aller Konkretisierungselemente 89 Sprachdaten und Realdaten systematisch auseinanderzuhalten. Sprachdaten sind primär sprachliche Mittel der Konkretisierung, als Texte beispielsweise von den Instanzen der Legislative geformt. Ihre Inter89 Vgl. F. Müller, Juristische Methodik, 2. Aufl. 1976, v.a. 146ff., 198ff.; dens., Strukturierende Rechtslehre, 1984, z.B. 147ff., 168ff., 184ff., 225ff., 250ff., 323ff. Zum dynamischen Ablaufmodell des Konkretisierungsvorgangs ebd., z.B. 340ff., 433 f.
2.3 Nachpositivistische Grundsatzkritik
35
pretation führt zum Normprogramm. Realdaten sind als Fakten, als Partikel oder Strukturen natürlicher, geschichtlicher, sozialer Realität entstanden. Sie sind unabhängig von sprachlicher Formulierung vorhanden. Sie müssen aber sprachlich gefaßt sein, um als Argumente verwendbar zu werden. Sprachdaten sind also primär sprachliche, Realdaten sind erst sekundär sprachliche Konkretisierungselemente. Die am Normprogramm ausgerichtete und begrenzte Ermittlung der Realdaten ergibt den Normbereich der Rechtsnorm. Das bedeutet arbeitsmethodisch: Sachgehalte dürfen nicht wahllos in den Konkretisierungsvorgang eingehen, sondern nur in normorientierter und verallgemeinerungsfähiger Form. Auch hierüber hat eine nachpositivistische jurististische Methodik Regeln zu entwickeln: Der Jurist, dem eine Entscheidung anhand des geltenden Rechts abverlangt wird, geht vom Sachverhalt aus. Er wählt mit Hilfe von dessen Merkmalen aus der Normtextmenge des sogenannten geltenden Rechts diejenigen Normtexthypothesen, die er nach seinem Vorwissen für einschlägig hält. Er kommt von diesen zu den Sachbereichen der durch die Auswahl der Normtexthypothesen als einschlägig unterstellten Rechtsnormen. Aus Gründen der Arbeitsökonomie verengt er diese Sachbereiche in der Regel zu Fallbereichen und erarbeitet in der Folge aus der Interpretation sämtlicher Sprachdaten das Normprogramm. Mit dessen Hilfe wählt er aus dem Sachbeziehungsweise Fallbereich die Teilmenge der normativ wirkenden Tatsachen, den Normbereich, aus. Die so erstellte, aus Normprogramm und Normbereich aufgebaute allgemeine Rechtsnorm individualisiert er im letzten Abschnitt des Arbeitsprozesses zur Entscheidungsnorm, das heißt zum verbindlichen Ausspruch der staatlichen Reaktion auf den vorgelegten Fall 9 0 . Die Richterrechtslehre setzt ein Begründungsdenken voraus, das die Entscheidung nur als aus dem Gesetz ,abgeleitet' verstehen kann, und setzt ferner dieses voreilig mit dem Normtext gleich. Alles, was aus diesem nicht deduziert werden kann, erscheint als subjektive Zutat. Damit diese nicht den Stempel der Willkür trage, ist sie nicht als gesetzt, sondern als gefunden zu postulieren; soll sie zwar nicht dem geltenden Recht, wohl aber höheren Prinzipien entnommen, das heißt unter diese subsumiert erscheinen. So entsteht das Bild eines Richterrechts außerhalb der positiven Gesetze. Der Überschuß über den Normtext, das über syllogistische Subsumtion Hinausgehende, wird in ein Jenseits verlagert, das angeblich vom positiven Recht aus verortet wird, in Wahrheit aber nur jenseits der Normtextmenge liegt. Damit wird in einem verfehlten Ansatz Richterrecht von Anfang an den normalen Maßstäben demokratischer Bindung und rechtsstaatlicher Kontrolle unzulässig entrückt. 90 Graphische Darstellung der Elemente und Hauptstadien des Vorgangs einer Normkonkretisierung bei F. Müller, Strukturierende Rechtslehre, 1984, 434.
3*
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2. Zum Ertrag der bisherigen Debatte
Das im Kern immer noch positivistische Normverständnis soll gegenüber der alltäglichen Erfahrung einer doch kreativen Entscheidungsarbeit durch das Lückentheorem gerettet werden. Dieses hängt wiederum von der Idee einer lückenlosen Rechtsordnung ab, einer der Grundvorstellungen von kodifikatorischem Vernunftrecht und späterem Gesetzespositivismus. Für die antipositivistischen Strömungen seit der Freirechtslehre wäre es allein folgerichtig gewesen, gesetzloses Entscheiden nicht zu legitimieren, wäre nur die Einsicht in die Lückenhaftigkeit der Rechtsordnungen als empirischer Befund ernstgenommen worden. Dann hätte es keine Doktrin vom Richterrecht gegeben. Statt dessen scheut diese nicht vor der Behauptung zurück, selbst das jenseits der positiven Gesetze liegende Richterrecht werde nicht geschaffen, sondern nur gefunden 91 . Das statische Normverständnis des Positivismus, das nur den Normtext erfaßt, verführte die Richterrechtslehre dazu, alles über diesen Hinausgehende schon als Rechtsfortbildung anzusetzen und so einen Teil der Auseinandersetzung auf falschem Feld zu führen. Dagegen verdient eine klärende Debatte der andere Teil des Richterrechts, der Entscheidungen jenseits der rechtsstaatlichen Wortlautgrenze 92 betrifft. Beiden Konzepten ist die Unterscheidung von Gesetzesrecht und Richterrecht gemeinsam. Die normalen Entscheidungsnormen sollen aus dem Gesetz abgeleitet, aus ihm nachvollzogen oder ihm entnommen werden. Richterrechtliche Normen seien dagegen solche Entscheidungsnormen, die jenseits des Gesetzes liegen. Für den Positivismus wird die Rechtsnorm auf den Fall angewendet, ohne dabei verändert zu werden. Sie dient nur als logischer Obersatz für den syllogistischen Schlußvorgang. Was dagegen durch den Konkretisierungsakt in der Tat nicht verändert wird, ist der Normtext. Die Norm, im Gegensatz zu ihrem bloßen Text, muß vom Richter oder der sonstigen konkretisierenden Stelle erst im Fall erarbeitet, erst konstituiert werden, bevor aus ihr das rechtliche Ergebnis abgeleitet werden kann. Die Strukturierende Rechtslehre kann mit ihrer systematischen Distinktion zwischen Rechtsnorm und Normtext das im Konkretisierungsvorgang Unveränderte von dem nicht nur ,Veränderten', sondern während der Rechtsarbeit erst Erzeugten realistisch unterscheiden. Deshalb ist Rechtsprechung (ebenso wie Normkonkretisierung durch die vollziehende Gewalt) grundsätzlich schöpferisch 93 . Das jenseits des Normtextes (positivistisch: ,des Gesetzes') operierende und insoweit kreative ,Richterrecht' ist dann nichts besonderes mehr; nur ein Beleg dafür, daß jede ,Anwendung' 91 So z.B. der Soraya-Beschluß, BVerfGE 34, 269ff., 287; zur Kritik: F.Müller, Juristische Methodik, 2. Aufl. 1976, z.B. 62. 92 Zu dieser F. Müller, ebd., z.B. 205ff., 267f.; ders., Strukturierende Rechtslehre, 1984,155ff., 168ff.; ders., Rechtsstaatliche Methodik und Politische Rechtstheorie, in: Rechtsstaatliche Form - Demokratische Politik, 1977, 271ff., 274f. 93 F. Müller, Normstruktur und Normativität, 1966, 46; ebd., 192, zum folgenden.
2.3 Nachpositivistische Grundsatzkritik
37
des Rechts dieses inhaltlich anreichert, nämlich durch das Erarbeiten neuer, demselben Normtext methodisch zuzurechnender Rechtsnormen. In diesem Umfang ist der herkömmlichen Richterrechtslehre der Boden entzogen. Faktisch gesehen, gemessen am gesellschaftlichen Regelungsbedürfnis, ist jede Rechtsordnimg unvollständig. Sie ist aber zugleich insoweit vollständig, als nur der rechtlich formalisierte, der positivierte Regelungsbedarf relevant ist. Antworten auf ein gesellschaftliches Bedürfnis nach rechtlicher Behandlung müssen im Rechtsstaat im Rahmen der positivierten Ordnung gegeben werden. Diese Antworten sind, in Gestalt von Entscheidungsnormen, schon im Normalfall mehr als nur »Anwendung des Gesetzes' (Normtextes); ihr schöpferischer Anteil ist an den methodengerecht verarbeiteten Konkretisierungselementen zu überprüfen 94 . Rechtsarbeit ist nie ein rein kognitiver Prozeß. Sie umfaßt notwendig einen produktiven Faktor. Dieser liegt aber - ganz abgesehen von Entscheidungen praeter und contra legem - für eine dynamische Rechtsnormtheorie und ihr Konkretisierungsmodell nicht außerhalb, sondern innerhalb der Normativität des positiven Rechts. Richterrecht ist - wieder abgesehen von Judikaten praeter und contra legem - keine eigenständige Erscheinung jenseits der Rechtsbindung von gesetzgebender und vollziehender Gewalt. Richterrechtliche Normsetzung ist an der Wortlautgrenze zu überprüfen, bleibt dem Vorrang und dem Vorbehalt des Gesetzes sowie dem Vorrang der Verfassung unterworfen 95 . Den rechtsstaatlichen Maßstäben, der Gesetzes- und vor allem der Verfassungsbindung entgeht die herrschende Lehre zum Richterrecht auch nicht durch ihren Begriff der „planwidrigen Lücke", der die Voraussetzung für zulässige Rechtsfortbildungen angeben soll. Von einer solchen Lücke kann nur dann gesprochen werden, wenn der Jurist entgegen dem Gesetz einen Fall als regelungsbedürftig ansieht. Nicht nur die Frage, ob überhaupt eine Lücke vorliegt, sondern auch deren angebliche Planmäßigkeit oder Planwidrigkeit sind nicht etwa vom Gesetz beantwortet. Die Notwendigkeit einer Regelung versucht der Richter aus einem gesetzestranszendenten Gerechtigkeitsmaßstab zu begründen. Der Begriff der planwidrigen Lücke verweist nicht auf normative positivrechtliche, sondern auf quasi-normative überpositive Prinzipien, die den Demokratie- und Rechtsstaatsbindungen damit unausgesprochen entzogen werden. 94 Zum Unterschied von faktischer und normativer Beurteilung der Lückenfrage F. Müller, Die Einheit der Verfassung, 1979, 111, 158, 227, u.ö. 95 F. Müller, Fallanalysen zur Juristischen Methodik, 1974, 10; ders., Juristische Methodik, 2. Aufl. 1976, 252, 255; ders., Juristische Methodik und Politisches System, 1976, 15, 27. - Die Aussagen, das Richterrecht operiere in „unbesetzten Bereichen" ders., Fallanalysen zur Juristischen Methodik, 1974, 10 - bzw. in „Lücken", ders., Juristische Methodik und Politisches System, 1976, 15, wurden im Rahmen der herkömmlichen Debatte, noch nicht aus kritischer Distanz zu ihr formuliert.
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2. Zum Ertrag der bisherigen Debatte
Der Ertrag eines Jahrhunderts an Nachdenken über Eigenschaften und Legitimität von Richterrecht ist eher karg. Für dieses Phänomen, das sich durch seine Kluft zum positiven Recht extra legem oder contra legem definieren muß, fehlt es an tragfähiger Abstützung. Die verfassungsorientierten Versuche blieben in widersprüchlichen Ansätzen stecken, vermochten die Barrieren im positiven Verfassungsrecht nicht aus dem Weg zu räumen. Schlüssige dogmatische, methodologische oder rechtstheoretische Konzepte wurden bisher nicht entwickelt. Die Reine Rechtslehre begnügt sich damit, Richterrecht zu beschreiben; problematisiert wird nur ein begrenzter rechtsstaatlicher Aspekt, und auch dies nur deskriptiv (Rückwirkungsverbot). Die einzige systematisch schlüssige, die naturrechtliche Begründung für Richterrecht, wird unter dem Grundgesetz aus nachvollziehbaren Gründen nicht mehr vorgetragen. Wie bezüglich der Rechtsnormtheorie allgemein 96 , haben die antipositivistischen Schulen auch zum Thema „gesetzliche Norm - richterrechtliche Norm" das Erkenntnisobjekt dogmatisch global hin- und hergeschoben, es rechtspolitisch großzügig auf- und abgewertet. Was sie nicht taten, war: sich in seine reale Beschaffenheit zu vertiefen, auf deren Grundlage eine rechtstheoretisch haltbare begriffliche Struktur zu entwerfen. Das hätte erlaubt, mit den verfassungsrechtlichen Vorgaben der Gewaltenteilung und Funktionenordnung sowie den sonstigen Bindungs- und Kontrollregeln weniger gewaltsam umzugehen, als es die Diskussion bis heute tut. Während Entscheidungen contra legem und extra legem zum Thema gehören, wird ein Teil der Richterrechtsdebatte mit dem hierher nicht passenden Vorhaben belastet, den Überschuß über formallogische Anwendung, syllogistische Subsumtion, jedes Hinausgehen über „das positive Recht" (also die Normtexte) gleichfalls dem Richterrecht einzuverleiben. Die zum Teil hymnischen Aussagen zu dieser Spielart sogenannter Rechtsfortbildung verraten Erstaunen über die Differenz von Normtext und Rechtsnorm, auch über das Wegbrechen positivistischer Gewißheiten. Sie verarbeiten noch nicht, daß das fälschlich dem Richterrecht zugeschriebene schöpferische Element bei jeder Normkonkretisierung wirkt. Der Richter, die Behörde erzeugt erst die Rechtsnorm, die dann zur Entscheidimgsnorm zu individualisieren ist; vorgegeben ist nicht eine Rechtsnorm, sondern nur ein Normtext, außerdem der zu entscheidende Fall. Im Umfang dieses Mißverständnisses begleitet die Diskussion um das Richterrecht den expliziten klassischen wie den späteren und heutigen unausdrücklichen Gesetzespositivismus als sein schlechtes Gewissen; allerdings ohne ihn ausreichend aufzuklären, da sie sich selber nicht klar begriff.
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Dazu F. Müller, Strukturierende Rechtslehre, 1984, z.B. 226, 274.
2.3 Nachpositivistische Grundsatzkritik
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Die Befürworter richterlicher Normsetzung nehmen die wissenschaftliche Schlüssigkeit ihrer Gründe, wie es scheint, ein wenig auf die leichte Schulter. Eine rechtstheoretische Stütze ist, außer durch nicht näher ausgewiesenes Naturrecht, nicht erkennbar. Die rechtsphilosophischen Aspekte überraschen durch ihre unverhüllte Zweckhaltung, bleiben auf moralisierende Beschwörungen beschränkt und arbeiten die Tradition nicht kritisch ein. Methodologisch wurde das Richterrecht nur gestreift. Bei den Ansätzen zu normativ-dogmatischer Begründung bleiben die betreffenden Autoren unter ihrem gewohnten Niveau; riskieren sie bei dem Versuch, Richterrecht um jeden Preis zu verteidigen, deutliche Unvollständigkeiten oder Verzerrungen der positiven (Verfassungs-)Rechtslage. Dafür muß es Gründe geben, die das Subjektive überschreiten. Soweit praktizierende Gerichte und publizierende Richter die Doktrin mitprägen, liegt der Grund vielleicht wirklich darin, daß „die Situation des an die bloße Interpretation von Paragraphen und Kontrakten gebundenen Rechtsautomaten, in welchen man oben den Tatbestand nebst den Kosten einwirft, auf daß er unten das Urteil nebst den Gründen ausspeie", gerade „den modernen Rechtspraktikern subaltern" erscheint und von ihnen als „immer peinlicher empfunden" wird. Deswegen werde schöpferische Rechtstätigkeit für die Gerichte zum mindesten da reklamiert, wo die Gesetze (also die Normtexte), nach Ansicht der Richter, versagen 97 . Max Webers boshaft klingende Diagnose ist möglicherweise nur realistisch. Neben (rechts-)politisches Auftrumpfen der Richterschaft gegenüber den die Normtexte formulierenden parlamentarischen Mehrheiten tritt offenbar, vor allem für die Aussagen der Wissenschaft, ein zweiter Hauptgrund. Die Existenz, Wichtigkeit und Unentbehrlichkeit von Richterrecht werden seit dem Beginn der Debatte durch Bülow im Jahr 1885 als evident, mit Händen zu greifen, als von selbst einleuchtend empfunden. Etwas Offensichtliches auch noch begründen zu müssen, ist lästig; die Ungehaltenheit darüber klingt häufig an. Evidenzargumente sind allerdings besonders schwach, benachbart den Suggestiv- und Autoritätsargumenten, von denen es in der Richterrechtslehre wimmelt. Der Grund für dieses Evidenzgefühl dürfte in der allen Juristen gemeinsamen Erfahrung liegen, law in action sei etwas anderes und mehr als law in the books, angewandtes Recht etwas anderes und mehr als das bloße Gesetz, also der Normtext. Ohne die kahle Metapher vom Richter als Subsumtionsautomaten, ohne die frostige Vorstellung von Rechtsprechung als bloß logischem Syllogismus gäbe es die Diskussion um Richterrecht nicht. Die Polemik gegen einen Irrtum ist aber nicht notwendig wahr; sie kann in einem zweiten Irrtum bestehen. Der Fehlansatz des Gesetzespositivismus liegt, was nicht erkannt wird, i n seiner Normauffassung; und nicht, wie allgemein 97
So zur Freirechtsschule: Max Weber, Rechtssoziologie, 2. Aufl. 1967, 336 und f.
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2. Zum Ertrag der bisherigen Debatte
angenommen, im Ideal von Syllogismus und Subsumtion. Dieses Ideal stellt nur ein Symptom dar, eines der Folgesymptome aus der Identifikation von Normtext und Rechtsnorm. Gemessen an dem jeder Erfahrung spottenden Subsumtionspostulat des Positivismus ist Rechtsprechung in der Tat schöpferisch; aber nicht, weil es Richterrecht gibt, sondern aus anderen Gründen.
3. Was sollte als „Richterrecht" bezeichnet werden? 3.1 Rechtstheoretisches Instrumentarium 3.11 Grundlagen
In der Richterrechtslehre deutet sich neuerdings häufiger das Bedürfnis an, über ihren unbefriedigenden Stand hinauszukommen. So werden die handwerklichen Eigenschaften der Methodenlehre beschworen, welche die Vollständigkeit der Gesichtspunkte, eine Beschränkung auf verrechtlichte Faktoren, eine rational geformte und damit diskutierbare, kontrollierbare Argumentation gewährleisten solle 98 . Dieser korrekte Appell wird wieder entwertet, wenn die weitere Empfehlung dahin geht, bei der Auslegung den herkömmlichen canones zu folgen, obwohl doch die Fälle richterrechtlichen Handelns durch das Fehlen von Normtexten ausgezeichnet sind. Auch die Beschwörung „sachgerechter" Richterrechtsbildung durch „common sense und plausibles Argumentieren" sowie durch „die Ergebnisse der Erfahrungswissenschaften" entbehrt jeder theoretischen und methodologischen Genauigkeit wie auch der normativen Grundlage. Dasselbe gilt für eine angeblich verfassungsrechtliche Legitimation richterrechtlich begründeter Urteile dadurch, daß im fraglichen Fall das Gericht „für die Regelbildung ebensogut oder besser als der Gesetzgeber geeignet sein" müsse. Eine rechtspolitisch begrüßenswerte, technisch aber ähnlich unverarbeitete Haltung steht hinter der Aussage, richterliche Bindung an das Gesetz nicht als Illusion aufzufassen, sondern sie durch Einhalten der Grundsätze juristischer Methodik um der Rechtssicherheit willen ernst zu nehmen 99 . Die Rechtswissenschaft hat demnach einen eigenen Rationalitätsmaßstab, der gegenüber dem kausalwissenschaftlichen Schema selbständig ist und nicht durch den Einwand entkräftet werden kann, dogmatische Aussagen über das geltende Recht seien nicht verifizierbar. Doch genügen die vorgeschlagenen Mittel, nämlich orientierende „Leitgedanken" für die Rechtsfortbildung und ein vager „Kontext", in welchem die Norm stehe, nicht den an juristische Methodik zu richtenden Erwartungen an Rationalität. Mit dem 98 Dazu Wank, Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung, 1978, 76ff., 78f.; zu dem im Text folgenden ebd., 35ff., 38ff., 44ff., 257. 99 Larenz, Die Bindung des Richters an das Gesetz als hermeneutisches Problem, in: Forsthoff / W. Weber / Wieacker (Hrsg.), Festschrift für E. R. Huber, 1973, 291 ff., 293f.; zu dem im Text folgenden ebd., 301 ff.; vgl. ferner dens., Kennzeichen geglückter richterlicher Rechtsfortbildung, 1965.
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3. Was sollte als „Richterrecht" bezeichnet werden?
Begriff des Kontexts w i r d bloß auf die diffuse Gesamtheit sozialer Realität verwiesen. Die positivistische Rechtsnormtheorie ist auch hier ungewollt übernommen und mit ihrer Verwechslung von Normtext und Rechtsnorm einem ungenauen Plädoyer für Richterrecht zugrundegelegt. Als solideres Instrument für die Distinktion von Richterrecht wird die Wortlautgrenze angegeben 100 , wobei allerdings nicht zwischen positiver Konkretisierungswirkung und negativer Grenzfunktion des (ausgelegten) Wortlauts unterschieden ist. Dadurch werden die Anforderungen an den „klaren" Wortlaut und die „eindeutige" Bestimmung der Entscheidung durch ihn überspannt 101 . In diesem Zusammenhang hat Carl Schmitt aber schon 1912 zu Recht festgehalten, daß die Alternative zur Subsumtion nicht notwendig „eine gesetzgeberische Stellung des Richters" ist. Es fragt sich, ob man den Tücken der positivistischen Normauffassung dadurch entkommen kann, daß man sie mit neuen wissenschaftlichen Ansätzen verknüpft, die außerhalb der Jurisprudenz entwickelt wurden. So sind Fragen der Gesetzgebung und Gesetzesanwendung kommunikationswissenschaftlich formuliert worden 1 0 2 . Demnach soll alles, was vom Rechtsanwender nicht „mitkommuniziert" wurde, auch „nicht vom Normsetzer autoritativ festgelegt" worden sein. Zwischen Gesetzesanwendung und Rechtsfortbildung könne sinnvoll nur die Grenze gezogen werden, die sich an der Urheberschaft der kommunizierten Nachrichten orientiert. „Verstehen" sei nur das Handeln des Empfängers, das „sich auf ein Ermitteln des vom Sender Kommunizierten beschränkt". Alles andere sei nicht mehr bloßes Verstehen, gleichgültig ob es als „Auslegung", „Interpretation" oder „Rechtsfortbildung" bezeichnet werde. Damit sind die Probleme allenfalls neu formuliert, nicht aber gelöst. Richterrecht und Interpretation werden zudem in dieselbe Kategorie verwiesen; alle Auslegung, die über die bloß grammatische hinausgeht, soll schon Rechtsfortbildung jenseits des Textverstehens sein. Das ist krasser als der vergleichsweise pragmatische Gesetzespositivismus; und es teilt mit der Richterrechtslehre die triviale Einsicht, daß Konkretisierung mehr ist als nur grammatische Auslegung und - insoweit unre100 Carl Schmitt, Gesetz und Urteil, 2. Aufl. 1969, 104; zum folgenden ebd., 103f. Die Grenzfunktion eines „eindeutigen Wortlauts" w i r d erfaßt bei H.-P. Schneider, Die Gesetzmäßigkeit der Rechtsprechung, DÖV 1975, 443ff.; unklar ebd. zur „Rechtserzeugungsprärogative" des Gesetzgebers (recte: Normtextsetzungsmonopol). 101 Zu diesen Fragen F. Müller, Juristische Methodik, 2. Aufl. 1976, z.B. 128,148ff., 217ff., 224ff., 250ff., 267f. 102 Baden, Gesetzgebung und Gesetzesanwendung im Kommunikationsprozeß, 1977; zum folgenden ebd., 155f., 185f., 218f., 223f. - Zu Gesichtspunkten aus der Kommunikationstheorie in der Rechtsarbeit auch F. Müller, Juristische Methodik, 2. Aufl. 1976, 114ff., 278f., und bereits Horn, Rechtssprache und Kommunikation, 1966; ders., Rechtswissenschaft und Kommunikationstheorie, ARSP 1967, 573ff.; Heinz, Rechtsregeln als Gegenstand sprachlicher Kommunikation, ARSP 1972, 29ff.
3.1 Rechtstheoretisches Instrumentarium
flektiert - Rechtsnorm und Entscheidungsnorm etwas jeweils anderes als der vorgegebene Normtext. Das vom Gesetzgeber Mitkommunizierte soll auch die entstehungszeitliche „Anschauungswelt" und die damalige „vorgegebene Dogmatik" umfassen; schon das Nichtberücksichtigen veralteter dogmatischer Lehren oder widerlegter alltagsweltlicher Hypothesen erscheint damit als „Rechtsfortbildung". Das fällt noch hinter den Stand der herkömmlichen Debatte zurück. Mit dieser wird das Konzept vertreten, „die Setzung allgemeingültiger Normen" (recte: nur der Normtexte) obliege dem Gesetzgeber. Vor dem Hintergrund der genannten Begriffe soll Rechtsfortbildung aber schon überall dort „grundsätzlich legitim" sein, wo die Regelung durch die Legislative „zwischenzeitlich überprüfungs- und anpassungsbedürftig geworden i s t " 1 0 3 . Gewöhnlich werden unter »Richterrecht' sowohl der Überschuß zum Syllogismusmodell als auch die Fälle eines Überschusses an,Auslegung' jenseits der Wortlautgrenze angesehen. Bei diesem zweiten Typus wirkt die richterlich gesetzte Norm als dritte Rechtsquelle neben Gesetzesrecht und Gewohnheitsrecht; im ersten Fall wird methodische Konkretisierungsarbeit als Rechts,,fort"bildimg, als eigenwertiges Tun über das von der Legislative Gesetzte hinaus festgehalten. Den Rahmen beider Verständnisvarianten bildet die noch immer vom Positivismus geprägte herrschende Jurisprudenz als Rechtsaniüendungslehre, die zwischen Normtext und Rechtsnorm nicht systematisch unterscheidet. Für die Strukturierende Rechtslehre entfällt der Typus des Überschusses zum Syllogismus als Problem des Richterrechts; die Konkretisierungsbedürftigkeit der Normtexte ist für die große Mehrzahl der Fälle trivial. Statt dessen ist zu fragen, ob sich die Entscheidungsnorm und die dieser zugrundegelegte Rechtsnorm methodisch vertretbar auf einen offiziell vorgegebenen Normtext berufen können oder nicht. Alles juristische Handeln in den verschiedenen Funktionsbereichen der Rechtspraxis ist normorientiertes Entscheiden. Strukturell war zunächst zu untersuchen, wie weit die in solchen Entscheidungsvorgängen wirksamen Elemente den gewöhnlich mit den Ausdrücken „Recht" und „Wirklichkeit" bezeichneten Bereichen zuzurechnen sind. Dem damit aufgeklärten Verhältnis von Wirklichkeit und Norm war als zweites Thema der Analyse die Relation zwischen Norm und Fall hinzuzufügen. Rechts (norm) theorie und juristische Methodik stehen also schon abgesehen von ihrer normativen Grundlegung in der Verfassung und ihrer theoretischen in der Verfassungslehre und noch vor dem Untersuchen ihrer Auswirkungen auf die Rechts103 Baden, ebd., 219. Ebd., 223f., wird auf einen im Lauf der Zeit zu erzielenden Konsens, d.h. auf die Bildung von Gewohnheitsrecht, ausgewichen.
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3. Was sollte als „Richterrecht" bezeichnet werden?
dogmatik in sachlich engem Zusammenhang. Konkretisierung wird von hier aus als strukturierter Vorgang begriffen und aufgeschlüsselt. Statt nach ,Norm' und »Tatsachen' als zwei außerhalb der Entscheidungsprozesse stehenden Größen fragt dieser Ansatz nach der Struktur rechtlicher Normativität, wie sie sich im tatsächlichen Handeln beispielsweise der Richter darstellt. Dagegen hatten weder positivistische und neopositivistische noch die gegen sie gerichteten Versuche der Rechtslehre den sachlichen Bezug der Norm zu dem von ihr geregelten Wirklichkeitsausschnitt im Rahmen des realen Vorgangs der Entscheidung zu klären versucht. „Die" Rechtsnorm als etwas Fertiges und Vorgegebenes verbaute als irrige begriffliche Grundlage rechtlicher Theorie und Methodik den Blick auf das, was tatsächlich bei juristischem Tun vor sich geht. Es hat sich gezeigt, daß dieser auf Dauer unfruchtbare Ansatz von Positivismus und Antipositivismus, so auch von der Diskussion um Richterrecht, geteilt w i r d 1 0 4 . Dasselbe gilt für die zweite Aufgabe, neben dem Verhältnis von Norm und Wirklichkeit auch das von Rechtsnorm und Fall angemessen zu begreifen. Die strukturierende Rechts(norm)theorie und die aus ihr entwickelte Methodik bemühen sich, Rechtsnormen auf diesen beiden Problemachsen in einem sachbestimmten, rational gegliederten Vorgang zu konkretisieren. Das richtet sich nicht nur gegen den Positivismus; ebenso gegen antipositivistische Schulen, die ungewollt noch dem Gegensatz „Sein - Sollen" oder „Norm - Wirklichkeit" verhaftet sind und ihn nur nachträglich, sekundär zu vermitteln versuchen. Im Grund machen Positivismus und Antipositivismus damit denselben Fehler. Die Mängel im Erfassen der Relation von Rechtsnorm und Wirklichkeit sind strukturell den anderen beim Vermitteln von Fallentscheidung und Norm vergleichbar; das haben Untersuchungen nicht nur für die Extreme von Soziologismus und Dezisionismus, sondern auch für die zwischen beiden angesetzten Lösungsvorschläge erwiesen 105 . Auf der einen Seite war der Disput um ein Öffnen „der" Rechtsnorm auf soziale Realität hin im schlechten Sinn nur theoretisch, bezog die methodenpraktischen Vorgänge nicht ein. Auf der anderen verkannte die Methodendebatte, daß juristische Methodik sich auf eine Rechts(norm)theorie stützen muß, ohne die ihren technischen Details der Zusammenhang fehlt. Die Strukturierende Rechtslehre kennt keinen positivistischen Gegensatz Norm - Wirklichkeit, der nur nachträglich gleichsam abzumildern wäre. Rechtsarbeit ist auf normierte Sachgehalte angewiesen, die unter normativen Gesichtspunkten dechiffriert und methodisch verarbeitet werden müssen, wenn sowohl das Verhältnis von Norm und Wirklichkeit als auch das von Norm und Fall realistisch erfaßt werden sollen. Was mit dem Aus104 vgl. f. Müller, Strukturierende Rechtslehre, 1984, z.B. 194f., 225ff., 233, 248, 331f., 383f., 437f.; dens., Artikel „Positivismus", in: Lexikon des Rechts. 105 F. Müller, Strukturierende Rechtslehre, 1984, 24ff., 47ff., 77ff., u.ö.
3.1 Rechtstheoretisches Instrumentarium
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druck „Rechtsnorm" bezeichnet wird, erweist sich im Vorgang tatsächlicher Verwirklichung von Recht als ein verbindliches Modell sachlich bestimmter, in dieser Bestimmtheit aber nicht aufgehender Ordnung, als sachgeprägtes Ordnungsmodell. Dieses ist durch Begriffe wie „Normprogramm", „Sachbereich", „Normbereich" weiter aufzuschlüsseln 106 . Arbeitstechnisch werden in den Vorgängen von Normkonkretisierung die Eigenschaften verschiedener Typen von Rechtsnormen und die ihnen gemeinsame Struktur von Normativität zwar mit entwerfendem theoretischen Vorgriff, im einzelnen aber induktiv untersucht. Das Normkonzept ist von Anfang an praxis- und methodenorientiert. Das Konzept ist als allgemeines Strukturmodell von Rechtsnormen, ferner als Modell für die Strukturiertheit juristischer Ent~ Scheidungsprozesse und auch als Arbeitsanforderung an Juristen formulierbar. Die scheinbar banale, der Sache nach aber systembildende Unterscheidung von Rechtsnorm und Normtext drückt sich im Ablauf der Konkretisierungsvorgänge klar aus. Die Rechtsnorm nicht länger mit ihrem Text gleichzusetzen, heißt zugleich auch, den Normbereich nicht als Gegenpol oder Grenze der Rechtsnorm zu behandeln, sondern als ihren Bestandteil. Die normative Anweisung ist nicht schon im Normtext substantiell enthalten, vorhanden oder gegeben, was der Gesetzespositivismus allerdings glaubte. Juristische Begriffe können so wenig wie andere ihre Aussagen verdinglichen. Sie haben verweisenden Zeichenwert und können auf ihre jeweilige Gebrauchsweise hin untersucht werden. Sie sind nicht zugleich die von ihnen gemeinte Sache, sondern nur deren (sprachliche) Form. Eine Rechtsnorm ist mehr als ihre Sprachfassung. In bezug auf das Verhältnis Norm - Fall kann nicht schon der Normtext, sondern kann erst das Ergebnis der Interpretation aller Sprachdaten als Rechtsnorm' bezeichnet werden. Im Blick auf das Verhältnis Norm - Wirklichkeit genügt auch das noch nicht. Hier setzt sich die Rechtsnorm erst aus dem Normprogramm als dem Ergebnis der Interpretation aller primär sprachlichen Konkretisierungselemente und dem Normbereich, dem Ergebnis der Verarbeitung der empirisch ermittelten Sachelemente, zusammen. Interpretation' oder »Auslegung' ist nur die Normtextbehandlung. Die vollständige Bearbeitung der Norm im Vorgang juristischer Fallösung wird durch den Oberbegriff Konkretisierung' abgedeckt. Der legitimierende Bezugspunkt juristischen Entscheidens, die Rechtsnorm, ist also weder mit ihrem Normtext noch auch allein mit dem Ergebnis sprachlicher Auslegung identisch 107 . Beide Bestandteile der Rechtsnorm, Normprogramm und Normbereich, müssen zusammenwirken, Dazu F. Müller, Strukturierende Rechtslehre, 1984, z.B. 168ff., 184ff., 230ff., 250ff., 263ff. 7 ! Dazu F. Müller, Juristische Methodik, 2. Aufl. 1976, z.B. 107ff., 116ff., 125ff., 264ff., 267ff.; ders., Strukturierende Rechtslehre, 1984, z.B. 147ff., 230ff., 234ff., 263 ff.
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3. Was sollte als „Richterrecht" bezeichnet werden?
um Normativität zu erzeugen. Der Ausdruck »Normativität' wird dabei nicht etwa für eine statische Eigenschaft von Rechtsnormen oder gar von Normtexten gebraucht. Vielmehr bezeichnet er einen sachlich mehrschichtigen, wissenschaftlich strukturierbaren Vorgang des Erarbeitens und fallentscheidenden Umsetzens von Rechtsnormen. Erst der Gesamtwirkung des sprachvermittelten Ordnungsmaßstabs namens Normprogramm und der aus Realdaten erarbeiteten Modellgrundlage namens Normbereich wird Normativität zugeschrieben. Ohne Verlust an Normativität könnte die Rechtsnorm nicht von dem Ausschnitt sozialer Wirklichkeit isoliert werden, den sie betrifft. Normativ ist sie nur unter Einschluß ihres Normbereichs. Dieser umfaßt die vom konkretisierenden Juristen am Maßstab des Normprogramms ausgewählte Menge empirisch gesammelter und überprüfter Tatsachen. Die Lehre vom Richterrecht hat die Grundannahmen des Positivismus nicht in Frage gestellt. Auch ihr gilt die Norm als hypothetisches Urteil, als formalisierter Obersatz. Die Norm steht dem normierten Realitätssegment primär beziehungslos gegenüber, soll als Sollen diesem Sein kategorial entgegengesetzt bleiben. Auch die Diskussion über Richterrecht verwechselt systematisch die Normtexte mit den Rechtsnormen. Auch sie subsumiert wenn auch unter außerpositive Texte, die nicht Normtexte sind. Die Strukturierende Rechtslehre hat daher nicht nur die Reduktion der Rechtsordnung auf eine (geschlossene, lückenfreie, widerspruchsfreie) Fiktion und die der Norm auf ihren Text, sondern auch die der Fallösung auf einen durch Syllogismus logisch schließbaren Vorgang aufzugeben vorgeschlagen. Erst die im Fall konstitutiv produzierte Rechtsnorm ist auf die Entscheidung hin zu individualisieren, zur Entscheidungsnorm fortzuentwickeln 108 . 3.12 Näheres z u m Begriff „Konkretisierung"
Der Ausdruck „Konkretisierung" hat eine diffuse, aber erfolgreiche Begriffskarriere vor einem Hintergrund gemacht, der nach wie vor in positivistischer Manier die Rechtsnorm nicht vom Normtext unterscheidet 109 . In der Strukturierenden Rechtslehre ist dagegen das Konzept von Konkretisierung nicht ein modernisiertes oder angereichertes herkömmliches Schema 110 108
F. Müller, Strukturierende Rechtslehre, 1984, z.B. 433f., 263ff. Z.B. Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. Aufl. 1960, 242: „ein Prozeß stetig zunehmender Individualisierung oder Konkretisierung" i.S. des Wegs vom Generellen oder Abstrakten zum Individuellen oder Konkreten; Engisch, Die Idee der Konkretisierung in Recht und Rechtswissenschaft unserer Zeit, 2. Aufl. 1968. 110 Diesem grundsätzlichen Mißverständnis unterliegt Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, 2. Aufl. 1976, z.B. 316 („Verfeinerung des Methodenkanons"), 317 („Technik des algorithmischen Rechnens mit methodischen Regeln"), 324 („die Savignyschen Interpretationselemente . . . verdienstvoll ergänzt und verfeinert"). - Dage109
3.1 Rechtstheoretisches Instrumentarium
von Rechtsverwirklichung, sondern ein Modell, das auf einer neuartigen Gesamtvorstellung aufbaut. Rechtswissenschaft im Sinn der Strukturierenden Rechtslehre ist Rechtserzeugungsreîlexion , nicht Rechtfertigungskunde im Sinn des Legitimierens von Text „aus "legung. „Konkretisieren der Rechtsnorm" heißt hier nicht, die Norm sei schon vor dem Auftauchen des Falles und vor dem von diesem veranlaßten Vorgang der Fallösung vorhanden, vorgegeben. Das meinen der Positivismus, der Neopositivismus und die verschiedenen Antipositivismen. Nach der aus diesen Strömungen zusammengesetzten allgemein herrschenden Meinung muß die als solche bereits vorhandene Rechtsnorm noch auf den Fall hin konkreter, das heißt enger und genauer gemacht, muß sie vom Allgemeinen auf das Besondere, vom Abstrakten auf das Konkrete, vom Generellen auf das Individuelle hin „konkretisiert" werden. Der Jurist stutzt nach diesem herrschenden Konzept „die" Rechtsnorm sozusagen auf ihre passende, den Fall entscheidende Miniaturversion zusammen. Durch ihre Einsicht in die Notwendigkeit aktiven Tuns des Juristen unterscheiden sich die antipositivistischen Schulen vom klassischen Gesetzespositivismus, demzufolge die Rechtsnorm als hypothetischer Imperativ, als syllogistisch traktierbarer Obersatz nicht einmal konstitutives Handeln voraussetzte; vielmehr wurde sie als eine logische Falle angesehen, die zuschnappt, sobald ein (als Untersatz) „passender" Rechtsfall des Weges kam. Der Grundirrtum, „die" Rechtsnorm als vor dem Rechtsfall „vorhanden" anzusehen, die Illusion einer lex ante casum, ist dagegen positivistischen und antipositivistischen Ansätzen bis heute gemeinsam. Nachdem für den Positivismus von Anfang an das Modell von Syllogismus und Subsumtion kennzeichnend war und obwohl der Ausdruck „Konkretisierung" nur als unklare Variante dieser Vorstellungen im Umlauf ist, gibt es dennoch Gründe, ihn auf eine neue Basis zu stellen, ihn zum Begriff zu machen. Das sprachlich-emotionale Mißverständnis, hier werde verdeckt der Positivismus fortgeführt, ist durch die folgende Erläuterung auszuräumen. Juristische Methodik ist Entscheidungstechnik und Zurechnungstechnik unter dem rechtfertigenden Anspruch der Bindung an das positive Recht. Sie hat die rechtsstaatlich rationale Beherrschbarkeit der Divergenz von Normtext, Rechtsnorm und Entscheidungsnorm zu gewährleisten. Die einzelnen Arbeitsvorgänge auf diesem Feld werden hier zusammenfassend „Konkretisierung" genannt. Dieser Begriff bezeichnet dabei nicht das Verengen einer gegebenen allgemeinen Rechtsnorm auf den Fall hin, sondern das Erzeugen einer allgemeinen Rechtsnorm im Rahmen der Lösung eines gen Bonavides, in: Revista de Direito Constitucional e Ciência Politica 1984, 249ff., 251: Diese „Methodologie überwindet das klassische, auf privatrechtlichen Grundlagen aufbauende Modell Savignys".
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3. Was sollte als „Richterrecht" bezeichnet werden?
bestimmten Falls. Eine bereits vorhandene Rechtsnorm, die in die Einzelfälle hinein verteilbare Wirkungsfaktoren, Befehlsinhalte, substantielle Aussagen welcher Art auch immer „enthalten" könnte, ist nicht nachweisbar. Der Ausgangspunkt der Fallösung kann nicht die Rechtsnorm sein, sondern nur der Normtext. Er hat Signalwirkung und Begrenzungsfunktion in Rechtserzeugungs- und Begründungsvorgängen, das heißt in Vorgängen juristischen Entscheidens und Darstellens. Juristische Begriffe im Normtext können nur in seltenen Grenzfällen (bei rein rechtserzeugtem Normbereich, so bei Fristen, Terminen, numerisch bestimmten Vorschriften sonstiger Art) das Gemeinte dinglich beschreiben. In aller Regel evozieren sie nur als Signal- oder Anknüpfungsbegriffe das, woran als Entsprechung in der sozialen Realität gedacht ist. Der Normtext kann Normativität nicht enthalten. Er steuert und begrenzt legale und insoweit legitime Möglichkeiten rechtsgebundener Fallösung innerhalb seines sprachlichen Rahmens. Juristischen Begriffen in Normtexten eignet nicht „Bedeutung", sie setzen nicht „Sinn" nach der Konzeption eines abgeschlossen Vorgegebenen. Vielmehr steht die aktive Leistung des Empfängers, also des fallentscheidenden Juristen im Vordergrund, der aufgrund normierter Aufgaben- und Rollenverteilung eine bestimmte Zuständigkeit zugewiesen erhält. Er subsumiert nicht nur, „wendet" nicht einen vorgegebenen Befehl „an", interpretiert nicht einfach im Sinn der Text „aus "legung. Vielmehr erzeugt er im Ausgang von Normtext und Sachverhalt zunächst eine allgemeine, den Fall typologisch betreffende Rechtsnorm, die er anschließend gezielt auf den zu entscheidenden Fall hin zuspitzt, zur Entscheidungsnorm individualisiert. Juristische Konkretisierung der Rechtsnorm ist also nicht das Verengen einer schon vorhandenen, sondern zunächst das Erschaffen einer noch nicht vorhandenen allgemeinen Rechtsnorm; ist nicht bloß „Nachvollzug" legislatorischer Wertungen oder „objektiv vorgegebener geistiger Gebilde" 1 1 1 . Die vom Grundgesetz an Gesetzgebung, Exekutive und Rechtsprechung verteilten Kompetenzen sind nicht allein solche zur „Auslegung", zur „Interpretation", zum „Nachvollzug" von Normtexten der Verfassung oder des Unterverfassungsrechts. Sie sind solche zu Rechtskonkretisierung und verbindlicher Fallentscheidung, in deren Rahmen Interpretation als Textauslegung ein wichtiges Element, aber nur eines unter anderen darstellt. Nur dort, wo das Verfahren der Konkretisierung manchmal in die Nähe eines wertungsfreien Umsetzungsaktes, eines rechtslogischen Schlußverfahrens gerät, könnte man von Rechtsanwendung, von Nachvollzug sprechen: also bei quantifizierenden, numerisch festgelegten Normtexten etwa von formalen Verfahrens-, Termin-, Fristvorschriften 111 Kennzeichnend für die allgemein herrschende Meinung in diesem Sinn Canaris , Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 1969,145 ff., 148. - Grundsätzlich zu Konkretisierung statt „Nachvollzug": F. Müller, Juristische Methodik, 2. Aufl. 1976, z.B. 138ff.
3.1 Rechtstheoretisches Instrumentarium
oder von Normen über die Besetzung gerichtlicher Spruchkörper. Die Praxis weiß jedoch zur Genüge, daß auch in solchen Grenzfällen Schwierigkeiten und Unklarheiten unvermeidbar sind. Auch hier, wie immer, sollten die Nichtidentität von Norm und Normtext sowie die relative Selbständigkeit auch eines rechtserzeugten, selbst eines numerisch eingegrenzten Normbereichs bewußt bleiben. Alles, was nicht diese Sonderfälle betrifft, also die Hauptmasse juristischer Problematik, hat unumgänglich den Charakter normtextorientierter Rechtsnormschöpfung und, im Anschluß daran, rechtsnormgebundener Erzeugung der Entscheidungsnorm. Dasjenige, dem Normativität zugesprochen wird, ist im Vorgang der Fallösung erst zu erarbeiten. In einem weiteren Teilvorgang, dem Schlußstück der Konkretisierung, ist dann durch individualisierenden Zurechnungsakt die Entscheidungsnorm auszusprechen. Abkürzend wird hier Normativität als tatsächlich strukturierter und wissenschaftlich entsprechend strukturierbarer Vorgang begriffen und w i r d die arbeitstechnische Seite dieses Vorgangs normtextorientierter und rechtsnormgebundener Lösimg von Rechtsfällen als „Normkonkretisierung" bezeichnet. „Normkonkretisierung" heißt i n bezug auf „konkret" das folgende: Erstens ist der Normtext mit der Rechtsnorm nicht identisch. Zweitens ist der Normtext von der Seite des geltenden Rechts' her das Eingangsdatum des KonkretisierungsVorgangs, provoziert durch den zu lösenden Sachverhalt von der faktischen Seite. Drittens ist der Text der im Lösungsvorgang geschaffenen Rechtsnorm konkreter als der Normtext, weil enger, typologisch stärker auf den vorliegenden Fall bezogen. Viertens ist der Text der Rechtsnorm allgemeiner als derjenige der Entscheidungsnorm. Beurteilt nach der sprachlichen Fassung, ist die Entscheidungsnorm konkreter als die Rechtsnorm, diese konkreter als der Normtext. Eben deshalb, nicht dagegen wegen der pseudo-ontologischen Sicht der herkömmlich herrschenden Lehre zur Vorgegebenheit von Rechtsnormen, ist der Ausdruck „Normkonkretisierung" als Name für den Gesamtvorgang sinnvoll: In der zeitlichempirischen wie auch in der systematisch-begrifflichen Abfolge des Entscheidungsprozesses werden die textlich geformten Arbeitselemente in der Sequenz vom Normtext über die Rechtsnorm zur Entscheidungsnorm, vom Fall her und für den Fall beurteilt, zunehmend konkreter. In bezug auf „Norm (Rechtsnorm)" heißt zweitens „iVorrakonkretisierung" demnach nicht, diese sei schon vorhanden, sei also (neben dem Sachverhalt) das normative Eingangsdatum des Entscheidungsvorgangs und müsse ,nur noch konkreter gemacht werden'. Die Rechtsnorm muß vielmehr überhaupt erst gemacht werden; dabei ist ihr Text dann jeweils konkreter als das Eingangsdatum Normtext. Ist dies geschehen, so wird die Rechtsnorm, die ein Arbeitsergebnis, eine Zwischenphase der Entscheidung dar4 F. Müller
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3. Was sollte als „Richterrecht" bezeichnet werden?
stellt, zu der noch konkreteren, für den vorliegenden Fall erstmals unmittelbar dirigierenden Entscheidungsnorm verengt. Es ist eine in den herkömmlichen Lehren verbreitete »optische4, in Wahrheit sachlich-systematische Täuschung, die Fragestellungen „normativ?" und „konkret?" nicht auseinanderzuhalten. Realistisch gesehen, ist dagegen eine am geltenden Recht legitimierbare Fallösung ein Vorgang fortschreitenden Konkretermachens der Arbeitselemente durch kreatives Tun des entscheidenden Juristen, also Konkretisierung: Die Eingangsdaten sind vom Faktischen her der Sachverhalt, vom geltenden Recht' aus die von ihm her hypothetisch ausgewählten Normtexte 1 1 2 . Der Jurist beginnt beim Sachverhalt und wählt mit dessen Merkmalen aus der Normtextmenge des sogenannten geltenden Rechts diejenigen Normtexthypothesen aus, die er für einschlägig hält. Er kommt von diesen aus zu den Sachbereichen der durch die Auswahl der Normtexthypothesen als einschlägig angenommenen Rechtsnormen und verengt die Sachbereiche in der Regel zu Fallbereichen. A l l diese Elemente sind nicht-normativ. Juristische Konkretisierungsvorgänge müssen ohne normative Eingangsdaten auskommen - entgegen den herrschenden positivistischen oder antipositivistischen Konzepten, die mit „der" Rechtsnorm sogar die umfassende normative Instanz an den Anfang stellen zu können vorgeben. Der Vorgang der Normkonkretisierung ist trotzdem nicht ,frei', willkürlich, unrechtlich, denn all seine Eingangsgrößen, abgesehen vom Sachverhalt, sind auf das Erzeugen normativer Daten im Fall und für den Fall ausgerichtet: Der Normtext in bezug auf die Sprachdaten führt zur Erarbeitung des Normprogramms. Der Normtext in bezug auf die Realdaten führt zur Auswahl des Sachbereichs, zu dessen Verengung zum Fallbereich und zu dessen am Normprogramm maßstäblich orientierter Konstituierung als Normbereich. Normprogramm und Normbereich ergeben zusammen die (normative) Rechtsnorm, deren Zuspitzen auf den individuellen Fall hin die (normative) Entscheidungsnorm. Während also der durch die Entscheidung in Rechtsform zu bringende Sachverhalt normativen Instanzen zu unterwerfen ist, sind die genannten nicht-normativen Eingangsfaktoren ausnahmslos auf das methodisch regulierte, rational darstellbare und nachvollziehbare Produzieren dieser normativen Instanzen hin angelegt. Die normativen Elemente der Rechtsarbeit sind also jeweils erst deren Ergebnisse: die Rechtsnorm als Zwischenergebnis, die Entscheidungsnorm als Endresultat. Der Jurist, der als Eingangsgrößen - neben dem Fall - zum Beispiel statt einschlägiger Normtexte ihm als einschlägig erscheinende (nicht gesetzlich bindende) Gerichtsurteile oder nur ein ihm individuell gefallendes Ent112 Zu den Begriffen „Sachverhalt", „Sachbereich" und „Fallbereich" vgl. F. Müller, Strukturierende Rechtslehre, 1984, 250ff.
3.1 Rechtstheoretisches Instrumentarium
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scheidungsziel wählt, handelt subjektiv pflichtwidrig und objektiv rechtswidrig; es sei denn er schiebe die Normtexte des geltenden Rechts später noch nach und arbeite ab dann korrekt. Die Beurteilung „objektiv rechtswidrig" kann auch dann entfallen, wenn das korrekt erarbeitete Ergebnis sozusagen zufällig ebenso lauten würde; wenn also die Entscheidung zwar nicht ihrem realen Entstehen nach gerechtfertigt, wohl aber im Resultat am geltenden Recht rechtfertigungs/ä/ug ist. Daß unter den Eingangsdaten der Entscheidungsarbeit der Sachverhalt nicht normativ ist, erstaunt nicht. Dieselbe Aussage überrascht aber zunächst für die Normtexte. Da diese nicht mit der (Rechts- und Entscheidungs-)Norm identisch sind, kommt ihnen Normativität jedoch nicht zu 1 1 3 . Diese kann nachpositivistisch als strukturierter Vorgang begriffen werden, der aus dem Zusammenwirken von Normprogramm und Normbereich der Rechtsnorm hervorgeht und sich in die Entscheidungsnorm hinein fortsetzt. „Normativität" bezeichnet die dynamische Eigenschaft einer Norm, also eines sachgeprägten und strukturierten rechtlichen Ordnungsmodells, sowohl die diesem zugrundeliegende Wirklichkeit zu ordnen als auch selbst durch diese Realität bedingt zu werden. Dagegen ist Geltung etwas, das dem »geltenden Recht', das heißt: der Normtextmenge (der Gesamtheit aller Normwortlaute in den Gesetzbüchern) zugeschrieben wird. Die Geltungsanordnung besteht darin, Rechtspflichten zu erzeugen: gegenüber den Normadressaten im allgemeinen dahin, sich in ihrem Verhalten, soweit die Normtexte für dieses einschlägig erscheinen, an diesen verbindlich zu orientieren; und gegenüber den zur Entscheidung berufenen Juristen im Sinn einer Dienstpflicht, diese Normtexte, soweit für den Entscheidungsfall passend, zu Eingangsdaten ihrer Konkretisierungsarbeit zu machen, sie also für das Erarbeiten einer Rechts- und einer Entscheidungsnorm tatsächlich heranzuziehen und methodisch korrekt zu berücksichtigen. Diese Verpflichtung ist mehrfach normativ begründet, und zwar - in Verbindung mit den auf den Fall zutreffenden Normtexten - auch noch durch andere Vorschriften (Art. 20 Abs. 3, 97 Abs. 1 GG, Prozeßgesetze, Beamtengesetze und ergänzende Direktiven). Entlang der Frage „Wer löst eigentlich den Rechtsfall?" lassen sich verschiedene historische Grundhaltungen der neueren Rechtswissenschaft abschichten. Zum ursprünglichen Gesetzespositivismus gehört die Vorstellung, der Fall werde letztlich von der (mit ihrem Text verwechselten) Vor113 Zu diesem Begriff F. Müller, Strukturierende Rechtslehre, 1984, z.B. 17, 256ff. - Zu den im Text folgenden Gesichtspunkten: ebd., 41 f., 147f. u.ö. zur positivistischen Syllogismus- und Subsumtionsvorstellung; ebd., 24ff. zur Position der Reinen Rechtslehre. - Zum Unterschied von „Normativität" einer Norm und der „Geltung" eines Normtextes vgl. ebd., z.B. 17. Zur Frage nach dem Subjekt des Konkretisierungsvorgangs ebd., 261 f., 341, 375.
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3. Was sollte als „Richterrecht" bezeicnet werden?
schrift selbst gelöst. Denn der Jurist tut nichts hinzu, handelt nicht eigenverantwortlich, läßt nur objektive Logik walten. Syllogismus, Subsumtion, begriffliche Konstruktion folgen, rein kognitiv, logischen Kriterien, ohne eine inhaltlich begründende Wertung des entscheidenden Juristen zu erfordern, ohne seine Richtigkeits- und Folgenverantwortung auslösen zu können. Taucht ein nach Beschaffenheit und Umfang passender Rechtsfall auf, so schließt sich „die" Norm als logische Falle, so unterwirft sich der Obersatz „Norm" den Sachverhalt als seinen Untersatz. In der Sicht der spätpositivistischen Reinen Rechtslehre ist es der Jurist, der den Fall mit Hilfe der (weiterhin mit ihrem Text vertauschten) Norm löst. Denn verantwortliches Handeln ist dann erforderlich, wenn Logik versagt, soweit also logisch nicht beherrschbare, nicht eindeutig festlegbare restliche Spielräume verbleiben. Sofern die Norm den Fall nicht vollständig und präzise beherrscht, muß rechtspolitisches Entscheiden für Logik in die Lücke springen. Pragmatisch gesehen, erkennt Kelsen, daß dies der typische Fall ist; systematisch stellt das Einräumen rechtspolitischer Verantwortung gleichwohl ein Zugeständnis dar, eine unumgängliche Notlösung angesichts des Versagens der Syllogismuskonzeption. Der künstlichen Entgegensetzung von Sollen und Sein in der Rechtstheorie entspricht für das Tun der Juristen jene von Logik und rechtspolitischer Setzung im verbleibenden Spielraum. „Die" Norm wird nach wie vor als vorgegeben betrachtet, sie wird lediglich für die Entscheidung verengt. Für die Strukturierende Rechtslehre sind es nicht Normen oder ihre Wortlaute oder methodische Anweisungen, die eine Rechtsfrage lösen. Es sind die handelnden Juristen, die am Leitfaden und in den rechtsstaatlichen Grenzen der Normtexte mit Hilfe methodischer Regeln entscheiden, begründen, mitteilen und gegebenenfalls das tatsächliche Durchsetzen der Entscheidungsnorm einleiten. Subjekt des Konkretisierungsvorgangs ist nie die Rechtsnorm. Da sie nicht vorgegeben ist - denn dies kann nur von ihrem Normtext gesagt werden - , sondern vom Juristen im Fall erst erzeugt und anschließend zur Entscheidungsnorm individualisiert werden muß, ist er das Subjekt und der Verantwortliche der Realisierung von Recht; und zwar nicht nur im Restbereich des logisch nicht beherrschbaren Spielraums, sondern für den Entscheidimgsvorgang im ganzen. Der normerzeugende, methodenverpflichtete Rechtsarbeiter löst den Fall durch eine Entscheidungsnorm, die aus der (im Ausgang von Sachverhalt, Normtexthypothese und Sachbereich konstitutiv erarbeiteten) Rechtsnorm folgen muß. Diese selbst muß, methodisch rational nachvollziehbar, bestimmten Normtexten des geltenden Rechts zugerechnet werden können. Konkretisierung ist also nicht Re-konstruktion. ,Normkonkretisierung' bedeutet: Konstruktion einer Rechtsnorm, aus der abschließend noch die Entscheidungsnorm abzuleiten bleibt.
3.1 Rechtstheoretisches Instrumentarium
Das Erarbeiten der Rechtsnorm ausgehend von Normtext und Sachverhalt ist nicht rechtsfrei. An die von ihm im Fall erarbeitete Rechtsnorm ist der Jurist gebunden; die Entscheidungsnorm muß aus ihr folgen. Seine Bindung an eine von ihm soeben erst konstitutierte normative Instanz ist kein Paradox, sondern eine von den herkömmlichen Illusionen und den aus ihnen folgenden Begriffsverzerrungen befreite realistische Beschreibung dessen, was beim rechtsgebundenen Entscheiden eines Sachverhalts vor sich geht. 3.13 Näheres zum Subsumtionsmodell
Die Lehre vom Richterrecht gruppiert sich um zwei Schwerpunkte. Die erste Version lautet: „Richterrecht - weil richterliches Handeln mehr ist als Subsumtion." In diesem Fall ist ein „anwendbarer", ein im Grundsatz „subsumtionsfähiger" Normtext vorhanden. Der zweite Hauptfall kann wie folgt beschrieben werden: „Richterrecht - weil eine anwendbare, subsumtionsfähige Norm (recte: ein Normtext) nicht vorhanden ist, aus anderen als nur positivrechtlichen Gründen aber vom Richter gesetzt werden muß". Das Vorgehen in diesem Fall wird durch Ableitung aus „höheren" Nicht-Rechtsnormen, genauer: aus Texten, die nicht Normtexte sind, gerechtfertigt. Beide Varianten sind an das Subsumtionsmodell des Gesetzespositivismus, weil an dessen Normverständnis gekettet. Von ihm wird das Trugbild einer lückenlosen und anwendungsbereiten Rechtsordnung indirekt übernommen, indem der Zusammenbruch dieser Vorstellung zum Begründen eines neuen irrationalen Konzepts, diesmal dem des Richterrechts, scheinbar folgerichtig verwendet wird: Wenn richterliches Entscheiden weithin nicht mehr Subsumtion ist, entsteht ein „leerer Raum"; es muß folglich „Material" gesucht werden, um diesen Leerraum mit „außergesetzlichen Richtlinien" zu füllen 1 1 4 . Alle handwerklich korrekte, methodisch rationale, nachprüfbar normorientierte Rechtsarbeit, die über den Grenzfall von Subsumtion hinausgeht, würde dabei unterschlagen. Den angeblichen Leerraum füllt in Wahrheit eine nachpositivistische, endlich realistisch gewordene Methodik aus, nicht aber eine Flucht in außergesetzliche, außerhalb der positiven Rechtsordnung gelegene Legitimitätsbehauptungen. Was sich empfiehlt, ist nicht die Alternative „Subsumtion oder Richterrecht", sondern der Schritt von einer nicht einlösbaren Subsumtion zum praktischen Verfahren der Konkretisierung. Dabei kann auch eine klare Antwort auf die Frage nach dem Richterrecht gefunden werden. Bewußt schöpferisches Tun paßt rechtssoziologisch nicht zum Typus des rechtsgebildeten Fachjuristen, sondern zu dem des charismatischen Rechtspropheten. Die, objektiv betrachtet, kreativsten Rechts114 So im Namen des herrschenden Konzepts Wieacker, 1958, 3f., 5ff., 8f.
Gesetz und Richterkunst,
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3. Was sollte als „Richterrecht" bezeichnet werden?
praktiker haben sich subjektiv „nur als Mundstück schon . . . geltender Normen, als deren Interpreten und Anwender, nicht aber als deren ,Schöpfer'" gefühlt 1 1 5 . Das Verfahren der Konkretisierung bezeichnet den realen Vorgang, sei er nun reflektiert oder durch ein fiktives Modell von Subsumtion verdunkelt. Der zweite Typus betrifft dagegen ein selbständiges Setzen außerhalb des nachweisbaren Bestands an positivem Recht. Bei dieser Form von Richterrecht wissen die Entscheidenden sehr genau, was sie tun. Hier ist dann die Frage, ob nicht nur historisch und typologisch, sondern vor allem verfassungsrechtlich noch heute das zulässig sein kann, was als empirische Rechtsschöpfung und Rechtsfindung durch Rechtshonoratioren, was als Kautelar- und Präjudizienrechtsschöpfung im Römischen Imperium aufgrund von dessen dualer Legitimität zwischen Amtsrecht und Volksrecht systemkonform gewesen sein mag. Das nachpositivistische Konzept kann mit seiner durchgängigen Unterscheidung von Normtext und Norm erklären, warum richterliches Tun stets schöpferisch, notwendig fortbildend ist. Für den Positivismus und die seinen Aporien noch nicht entkommene Lehre des Richterrechts wird Gesetzesrecht ,angewendet', das heißt im Vorgang des Anwendens nicht verändert. Das, was real nicht verändert wird, ist dagegen der Normtext. Die Rechtsnorm ihrerseits ist nicht nur eine textliche Änderung des Normtextes, also des amtlichen Wortlauts der Vorschrift. Sie muß im Vorgang des Konkretisierens überhaupt erst aus Normprogramm und Normbereich erstellt werden. Der auf die Normativität seines Handelns und auf das geltende Recht als bestimmenden Faktor so sehr pochende Gesetzespositivismus hat die Rechtsnorm ganz übersehen. Er starrte nur auf Normtext und Fall, wollte beide Größen durch logischen Justizsyllogismus, durch wertungsfreie Subsumtion des Untersatzes unter den Obersatz problemlos zusammenbringen. Dagegen hat für die Strukturierende Rechtslehre seit jeher 1 1 6 das Richterrecht, soweit es schöpferisch' über bloße Subsumtion hinausgehen soll, ein normatives und nicht ein normjenseitiges Phänomen dargestellt. Die Verschiebung in ein Jenseits des geltenden Rechts ergab sich für Gesetzespositivismus und Richterrechtslehre denn auch nur auf der Grundlage einer verkürzten Normtheorie und einer Gleichsetzung von Normtext und Norm. Jede »Anwendung' des Rechts ist vor allem deswegen eine inhaltliche Anreicherung, weil eine Rechtsnorm nicht nur etwas anderes, sondern auch mehr ist als ein Normtext, und weil die Rechtsnorm im Ausgang von Normtext und Fall je erst erarbeitet werden muß. us Max Weber, Rechtssoziologie, 2. Aufl. 1967, 218ff., 250, 329ff., 345. - Zur Kautelar- und Präjudizienrechtsschöpfung ebd., 228ff. 116 Seit F. Müller, Normstruktur und Normativität, 1966, z.B. 192; ebd. zum folgenden.
3.1 Rechtstheoretisches Instrumentarium
Empirisch gibt es auch Vorgänge von Subsumtion, aber als Grenzfälle, nicht als vorherrschenden Typus. Ein Norm- und Methodenkonzept, das sich nur auf Grenzfälle stützen will, stürzt in den „leeren", den „rechtsfreien Raum" ab. Der Positivismus gibt dafür - wie auch mit seinem Lükkenlosigkeitscredo, seiner die soziale Realität verdrängenden Gleichsetzung von Normtext und Norm - ein nachdrückliches Beispiel. Als seltene Ausnahmen taugen die Fälle von ,Subsumtion des Sachverhalts unter den Rechtssatz' nicht als Basis von Normtheorie, Methodik und Rechtslehre. Sie vermögen aber den Regeltypus, gleichsam von der Seite her, besser zu beleuchten. Sie zeichnen sich, in der Sprache der Strukturierenden Rechtslehre, durch folgende Eigenschaften aus: Die Normbereichsfaktoren spielen neben den sprachlichen Konkretisierungselementen, den Sprachdaten, und dem aus diesen erarbeiteten Normprogramm keine nennenswerte Rolle. Das ist der Fall bei im wesentlichen quantitativ, vor allem numerisch bestimmten Normtexten über Fristen, Termine, bei formalen Organisationsnormen. Trotzdem stößt auch bei diesen die Praxis auf Schwierigkeiten, die einer bloß logischen Subsumtion widersprechen. Auch Vorschriften wie Art. 22 GG („Die Bundesflagge ist schwarz-rot-gold"), die als besonders unproblematisch gelten, können noch Fragen aufwerfen 117 . Selbst in diesen seltenen Grenzfällen ist es nicht angemessen, mit der überkommenen Doktrin zu sagen, Rechtsnorm und Sachverhalt seien hier so verengt und so spezifisch aufeinander abgestimmt, daß weitere Interpretationen als die grammatische nicht nötig seien, um den Fall korrekt zu lösen. In der Sprache der Strukturierenden Rechtslehre hieße das, Sachverhalt und Normtext (nicht: Rechtsnorm) entsprächen einander so genau, daß sich das Normprogramm schon als Ergebnis einer bloß grammatischen Auslegung dem Normtext ohne weitere Umstände entnehmen lasse. Diese Aussage muß aber gegenüber der herrschenden Konzeption noch entscheidend eingeschränkt werden: Nicht „der" Fall, nicht der gesamte zu beurteilende soziale Sachverhalt, sondern nur ein einzelner seiner Faktoren ist so verengt, so spezifisch bestimmt, daß er vorliegend von einem nur grammatisch ausgelegten Normtext her sogleich erfaßt und rechtmäßig bewältigt werden kann, ohne daß mit den sonstigen Mitteln der Auslegung ein umfassendes Normprogramm und ohne daß ferner die Normbereichselemente erarbeitet werden müßten. Dieser Faktor, nicht der Sachverhalt im ganzen, ist dann jeweils aus bestimmten Gründen der einzige, mit dem sich der Rechtsarbeiter im fraglichen Zeitpunkt zu beschäftigen hat. Die Gründe dafür können rechtliche sein, beispielsweise Abweisung einer Klage oder eines Antrags als unzulässig wegen Fristüberschreitung oder wegen mangelnden Vorliegens 117 Zu einer Typologie von Normstrukturen: F. Müller, Juristische Methodik, 2. Aufl. 1976, 122ff. mit Beispielen, 223, u.ö. Zu Besonderheiten einzelner Normbereichstypen: ders., Strukturierende Rechtslehre, 1984, 342 ff. - Hinweis auf Probleme mit Art. 22 GG bei Bryde, Verfassungsentwicklung, 1982, 81.
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3. Was sollte als „Richterrecht" bezeichnet werden?
von Sachentscheidungsvoraussetzungen; oder es kann der Grund in rein lösungstechnischen Elementen 118 liegen, so im Abstellen auf Urteilsstil anstelle des Gutachtenstils. Systematisch gesehen, muß auch in solchen Grenzfällen zwischen der Ebene Normtext/Sachverhalt und der Ebene der Entscheidungsnorm zunächst die Rechtsnorm konkretisiert, also konstruktiv erarbeitet werden. Nur ist dies hier für das Zwischenergebnis ,Rechtsnorm' aus zwei Gründen nicht weiter augenfällig: einmal, weil der Normbereich fehlt, weil also nür Sprachdaten sichtbar werden, die zum Normprogramm führen; und ferner deshalb, weil dieses Normprogramm in solchen Lagen voraussetzungsgemäß nicht über den Normtext hinausgeht, also nur das Ergebnis von dessen grammatischer Interpretation darstellt. In den Fällen des Subsumierens weicht also, normtheoretisch gesagt, die Rechtsnorm nicht von ihrem Bestandteil Normprogramm und dieser nicht vom bloß grammatisch ausgelegten Normtext ab. Hier ist also die Identifizierung von Normtext und Rechtsnorm zwar nicht systematisch begründet, wohl aber dem Anschein nach durchführbar. Anders ist das allerdings dort, wo auch in diesen Grenzlagen praktische Schwierigkeiten mit dem Subsumieren auftreten, wo Abweichungen vom ,reinen' Syllogismus feststellbar sind. Die Schwierigkeiten erklären sich aus zwei Hauptgründen: Einmal ist das grammatische Konkretisierungselement schon im Ansatz mit anderen eng verflochten: mit dem Wortlaut sonstiger, mit der umzusetzenden Vorschrift in Zusammenhang zu bringender Normen (systematische Auslegung), mit dem Wortlaut von Vorläufern der zu konkretisierenden Norm (historische Auslegung) sowie mit den Texten nicht-normativer Quellen wie Gesetzgebungsmaterialien und Dogmatiktexten (genetische Auslegung, dogmatisches Element) 119 . Bereits bei der ersten Suche nach möglichen sprachlichen Sinnvarianten, die der Normtext in bezug auf den Sachverhalt anzeigt, w i r d auf andere Elemente übergegriffen. Der Blick des Juristen richtet sich schon am Anfang des Entscheidungsvorgangs nicht nur auf Sachverhalt und Normtext, sondern zugleich auch auf erläuternde Nicht-Normtexte, vor allem auf einschlägige Rechtsprechung, Kommentar-, Lehrbuch- und monographische Literatur. Auf der Basis der noch vorherrschenden Grundposition der Methodik müßte diese Tatsache den Praktiker eigentlich befremden. Vor dem Hintergrund einer nachpositivistischen Normtheorie und Methodik erscheint sie unumgänglich und legitim. Die zweite Ursache neben der Verflechtung des grammatischen Konkretisierungselements mit anderen liegt 118
Zu den lösungstechnischen Elementen F. Müller, Juristische Methodik, 2. Aufl. 1976, z.B. 146ff., 187f., 255f., 266. 119 Dazu im einzelnen F. Müller, Juristische Methodik, 2. Aufl. 1976, z.B. 148ff., 149f., 267f. - Zum Verhältnis des strukturierenden Konzepts zu modernen Konzepten der Linguistik vgl. F. Müller, Strukturierende Rechtslehre, 1984, 372ff.; ferner Christensen, Das Problem des Richterrechts aus der Sicht der Strukturierenden Rechtslehre, ARSP 1986 (im Erscheinen).
3.1 Rechtstheoretisches Instrumentarium
in der Verwobenheit des ausnahmsweise subsumierbaren Sachverhaltsfaktors mit den anderen Aspekten desselben Rechtsfalls. Diese sind zum Beispiel aus prozessualen Gründen nicht zu berücksichtigen, gleichwohl aber vorhanden und dem Juristen dank seiner Beschäftigung mit dem ganzen Sachverhalt bekannt. Dadurch erklären sich zusätzlich die Schwierigkeiten mit ungestört formallogischer Subsumtion im Sinn eines Justizsyllogismus. In den Fällen, in denen sich ein solcher anzubieten scheint, w i r d er sich in der Folge meist als nicht durchführbar erweisen. Oft fügen die historischen, genetischen, systematischen und dogmatischen Daten Probleme hinzu, die nur grammatisch auslegend nicht zu bewältigen sind; oder es mischen sich, etwa von den zunächst ausgeblendeten Faktoren des Sachverhalts her, Sachbereichselemente ein, die den Rahmen grammatischer Auslegung des Normtexts überschreiten. Ab diesem Zeitpunkt kann nicht mehr unter den Wortlaut subsumiert, sondern muß, wie sonst immer, ausgehend von Sachverhalt und Normtext eine den Fall typologisch betreffende Rechtsnorm erzeugt werden; und zwar mit ihrem Normprogramm als dem Ergebnis der Interpretation von Sprachdaten und ihrem Normbereich als dem mit Hilfe des Normprogramms aus dem Sach- (beziehungsweise Fall-)bereich ausgewählten Teil der den Fall konstituierenden Tatsachen. Es gibt allerdings an einer systematisch anderen Stelle Subsumtionsvorgänge, und zwar sogar im Regelfall juristischen Entscheidens. Die vom Rechtsarbeiter zu erstellende Rechtsnorm ist fallbezogen. Zugleich muß sie aber eine allgemeine Regel formulieren, muß rechtsstaatlich verallgemeinerungsfähig sein. Als die unter Bindung an das geltende Recht erarbeitete inhaltliche Lösung des Sachverhalts sagt die Rechtsnorm aus, in einem Fall wie dem vorliegenden sei so und nicht anders zu entscheiden. Daraus ist dann noch die konkrete Entscheidung des Falls abzuleiten. Dieser letzte Schritt, aber erst er, ist in der Tat Subsumtion, ist ein Schluß, der die Rechtsnorm zur Entscheidungsnorm individualisiert 1 2 0 . Diese spricht die Entscheidungsformel bezüglich der vom Fall aufgeworfenen Rechtsfragen aus. Sie ist gegenüber der im Arbeitsvorgang zuvor hergestellten Rechtsnorm nicht selbstgesetzlich, sondern muß ihr methodisch nachvollziehbar und korrekt zugerechnet werden können. Dasselbe gilt für die Rechtsnorm in bezug auf die Eingangsdaten des EntscheidungsVorgangs, auf Sachverhalt und Normtext. Auf der Grundlage der Rechtsnormtheorie und im Dienst praktischer Dogmatik hat eine nachpositivistische juristische Methodik hinreichend differenzierte Regeln über diese Zurechnungsvorgänge anzubieten. Der abschließende Zurechnungsakt, die Individualisierung der allgemeinen Rechtsnorm auf die Fallfrage hin, ist dagegen einfach 120 Dazu F. Müller, Strukturierende Rechtslehre, 1984, z.B. 263ff., 265f. (am Beispiel des Neuwahl-Urteils des BVerfG v. 16. 2. 1983); weiter zur Entscheidungsnorm ebd., 116f., 196ff., 264ff.,u.ö.
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3. Was sollte als „Richterrecht" bezeichnet werden?
strukturiert, nämlich als Subsumtion. Es handelt sich aber um Subsumtion unter eine - vom Normtext her beurteilt - schöpferisch erzeugte und nicht unter eine vorgegebene Rechtsnorm; unter eine vom Richter (oder vom konkretisierenden Exekutivjuristen), nicht dagegen vom „Gesetzgeber geschaffene Größe 121 . 3.2 Analyse der Rechtsprechung In einem normalen Fall von Konkretisierung geht der Richter vom Sachverhalt und von Normtexten aus, erstellt über mehrere Zwischenstufen die Rechtsnorm für einen Fall wie den vorliegenden und individualisiert sie schließlich durch Subsumtion zur Entscheidungsformel für diesen vorliegenden Fall. Die Richter haben somit den alle Vorstellung von bloßem Justizsyllogismus hinter sich lassenden weitgehenden Auftrag, nicht nur die jeweilige Entscheidungsnorm, sondern auch jeweils die für diese maßgebende Rechtsnorm zu setzen. Mit ihrer Verpflichtung, sich als „nur dem Gesetze unterworfen" (Art. 97 Abs. 1 GG) zu verhalten, sind sie also in der Realität Normtexten unterworfen; das heißt der Verpflichtung, die Rechtsnorm methodisch rational nachvollziehbar an den einschlägigen Normtexten rechtfertigen zu können. Auf die Setzung von Normtexten haben die Richter keinen spezifischen Einfluß. Die Rechtsnormen, die sie selbst als allgemeine, nämlich für Fälle wie den vorliegenden einschlägige, zu setzen haben, sind an Rechtsstaats- und Demokratievorschriften, arbeitstechnisch gesehen an eine den demokratischen und rechtsstaatlichen Anforderungen genügende Methodik gebunden. Dagegen sind jedenfalls die spektakulären Fälle von Richterrecht dadurch geprägt, daß passende Normtexte von Anfang an nicht vorhanden sind. Schon aus diesem Grund kann es sich dabei nicht mehr um die (in Bindung an das geltende Recht erfolgende) der rechtsprechenden Gewalt zugewiesene Konkretisierung handeln, die den Richtern weit über Syllogismus und Subsumtion hinaus so reichhaltige Kompetenzen zuweist. Die Domäne von Richterrecht ist seit Beginn des Jahrhunderts das Zivilrecht gewesen, in neuerer Zeit durch arbeitsrechtliche Judikatur noch beträchtlich erweitert. Geringerer Pioniergeist in Richtung auf eine Souveränität des Richters gegenüber dem Gesetz' findet sich in der Dogmatik des Verfassungsrechts. Allerdings hat sich die Verfassungsjustiz, soweit sie mit der Richterrechtspraxis und den entsprechenden Doktrinen im Zivilrecht sekundär, nämlich unter Aspekten der Maßstäblichkeit des Grundgesetzes, befaßt war, weitgehend den dortigen Konzepten angeschlossen. Das Strafrecht schließlich ist das einzige Rechtsgebiet, in dem es nach allgemei121
Dazu F. Müller, Strukturierende Rechtslehre, 1984, 263ff., 270ff., u.ö.
3.2 Analyse der Rechtsprechung
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ner Einsicht - wegen des besonderen Analogieverbots vor dem Hintergrund von Art. 103 Abs. 2 G G 1 2 2 - jedenfalls kein strafbegründendes oder strafverschärfendes Richterrecht geben darf, sei es durch ,analoge', sei es durch ,freie' Normschöpfung erzeugt. Die an deren Stelle gelegentlich geübte »extensive Auslegung' strafrechtlicher Tatbestandsbegriffe (so neuerdings vor allem der „Gewalt"begriff) unterliegt denselben normativen Maßstäben wie Richterrecht: Ist die Entscheidungsnorm nicht ihrer Rechtsnorm oder ist diese nicht einem Normtext methodisch nachvollziehbar zuzurechnen, so ist die Entscheidungsnorm rechtswidrig gebildet worden. Die Fallentscheidung ist dann nicht mehr eine solche nach geltendem Recht. Die beiden Hauptformen hiervon liegen im Strafrecht vor, wenn entweder die Rechtsnorm mit dem Normtext jedenfalls nicht mehr vereinbar ist (,extensive Auslegung', ,Analogie'), oder wenn ein Normtext überhaupt fehlt (,Richterrecht'). Fälle typischen Richterrechts sind dennoch zuweilen auch auf diesem Gebiet festzustellen. Dafür bietet der Beschluß des Großen Senats für Strafsachen des Bundesgerichtshofs vom 19. Mai 1981 ein auffallendes Beispiel 1 2 3 . Es ging dort um die Verurteilung eines Angeklagten durch das Schwurgericht zu lebenslanger Freiheitsstrafe wegen Mordes; dabei wurde „heimtückische" Tötung im Sinn von § 211 StGB angenommen. Der Vierte Strafsenat des Bundesgerichtshofs hatte rechtliche Bedenken, dieses Tatbestandsmerkmal zu bejahen. Er hielt im Rahmen des Verfahrens nach § 137 GVG „zur Fortbildung des Rechts" eine Entscheidung des Großen Senats für Strafsachen darüber für erforderlich, ob das Mordmerkmal der Heimtücke entgegen der bisherigen Rechtsprechung in minderschweren Fällen 1 2 4 verneint werden könne. Der Große Senat hatte bis dahin die Auffassung vertreten, § 211 Abs. 2 StGB umschreibe die vom Gesetz als besonders verwerflich beurteilten geschlossenen Tatbestände der Tötungsverbrechen abschließend; deshalb komme eine zusätzliche Verwerflichkeitsprüfung nicht in Betracht. Dagegen entschied der Große Senat im Beschluß vom 19. 122 Art. 103 Abs. 2 GG kann mit guten Gründen strenger verstanden werden. Schon wegen der Gesetzesbindung des Richters nach Art. 97 Abs. 1 GG ist auch eine »unbeschränkte 4 Analogie zugunsten des Täters nicht haltbar. Ferner spricht Art. 103 Abs. 2 GG in seinem Normtext nicht vom Begründen oder Ausweiten der Strafe, sondern ohne Unterschied vom „Bestimmen" der Strafbarkeit. Unter den Gesichtspunkten von Rechtssicherheit und Rechtsgleichheit kann Art. 103 Abs. 2 GG deshalb „als Kompetenznorm für die ausschließliche Strafrechtssatzbildung durch den Gesetzgeber" verstanden werden; dazu Köhler, Zur Strafbarkeit des Mordes bei „außergewöhnlichen Umständen", JuS 1984, 762ff., 768. 12 3 BGHSt 30, 105ff., besonders 118ff. 124 Und zwar dann, „wenn der Täter zur Tat dadurch veranlaßt worden ist, daß das Opfer ihn oder einen nahen Angehörigen schwer beleidigt, mißhandelt und mit dem Tode bedroht hat, und die Tatausführung über die bewußte Ausnutzung der Arg- und Wehrlosigkeit des Opfers hinaus nicht besonders verwerflich (tückisch oder hinterhältig) ist"; BGHSt 30, 106; ebd., 111 über die frühere Rechtsprechung des Großen Senats.
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3. Was sollte als „Richterrecht" bezeichnet werden?
Mai 1981, auch bei außergewöhnlichen Umständen, welche die Verhängung lebenslanger Freiheitsstrafe als unverhältnismäßig erscheinen ließen, sei auf der Tatbestandsseite wegen Mordes zu verurteilen. Auf der Rechtsfolgeseite sei jedoch in derartigen in milderem Licht erscheinenden Grenzfällen die vom Gesetz absolut angedrohte lebenslange Freiheitsstrafe durch eine analog herangezogene neue Rechtsfolge, nämlich durch den „offenen" Strafrahmen des § 49 Abs. 1 Nr. 1 StGB zu „ersetzen", die lebenslange Freiheitsstrafe also auf drei bis fünfzehn Jahre zu vermindern. In dieser im Leitsatz enthaltenen Anordnung liegt die vom Großen Senat formulierte Rechtsnorm mit einem entsprechenden Normtext; die Entscheidungsnorm besteht in der an den Vierten Strafsenat im Verfahren nach § 137 GVG ergangenen Weisung, in diesem Sinn zu entscheiden 125 . Der Sache nach hat der Bundesgerichtshof mit dieser sogenannten Rechtsfolgenlösung einen neuen Tatbestand, den des „Mordes im minderschweren Fall", gesetzt, ohne dafür im positiven Recht eine Grundlage zu haben 126 . Die im Einführen „außergewöhnlicher Umstände" als Basis für eine Manipulation des durch § 211 StGB abschließend bestimmten Strafrahmens liegende Gesetzesänderung wird vom Bundesgerichtshof zwar als Ausfüllen einer sogenannten Regelungslücke deklariert. Eine solche lag hier aber nicht vor. Der Fall belegt anschaulich die Beliebigkeit der richterlichen Behauptung, eine planwidrige Unvollständigkeit des positiven Rechts, „gemessen am Maßstab der gesamten geltenden Rechtsordnung", sei festzustellen 127 . Für den vorliegenden Sachverhalt hatte jedenfalls die vom Normtext her zwingende Verknüpfung von Mordtatbestand und Rechtsfolge in § 211 StGB keine „Lücke" offengelassen. Vielmehr hat der Große Senat die gesetzliche Norm, genauer: den Normtext, auch nach eigenem Selbstverständnis durchbrochen 128 . Der Normtext, der für den Sachverhalt heranzuziehen war, ist die Strafdrohung für Mord in § 211 Abs. 1 StGB. Er schließt Zumessungserwägungen aus den Umständen des Einzelfalls aus. Entlastungsmomente führen nach dem Normtext - in der Sprache des Bundesgerichtshofs: „nach ausdrücklicher gesetzlicher Regelung" 129 - nicht zu einer milderen Strafdrohung. Das 125
BGHSt 30, 105 (Ls.), 121 f. Dieses Ergebnis bei Köhler, JuS 1984, 762ff., 770. Ebd., 768, zu der Frage, daß das Lückenargument hier nicht zutraf und dazu, daß der Große Senat die Frage nach Art. 100 Abs. 1 GG dem BVerfG hätte vorlegen müssen; ebenso z.B. Bruns, Richterliche Rechtsfortbildung oder unzulässige Gesetzesänderung der Strafdrohung für Mord?, JR 1981, 358ff., 361f.; Spendel, „Heimtücke" und gesetzliche Strafe bei Mord, JR 1983, 269ff., 271. Nachweise zu weiterer K r i t i k an der Entscheidung bei Köhler, aaO., 768. 127 An einem anderen Beispiel grundsätzliche Einwände bereits bei F. Müller, Juristische Methodik, 2. Aufl. 1976, 207ff.; Bedenken auch bei Koch / Rüßmann, Juristische Begründungslehre, 1982, 246ff.; weitere Nachweise bei Köhler, aaO., 768. 128 v g l angestrengt eine durch „Wandel der Rechtsordnung" eingetretene spätere „Unvollständigkeit" suggerierenden Ausführungen in BGHSt 30, 105ff., 121. 126
3.2 Analyse der Rechtsprechung
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Gericht redet jedoch der „Ersetzung" dieses Normtexts „durch einen für solche Erwägungen offenen Strafrahmen" das Wort, um „dem verfassungsrechtlichen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit" Rechnung zu tragen. Der Große Senat tut dies somit nicht nur im Fall gegen den geltenden Normtext, sondern allgemein auf dem Weg von dessen Austausch: durch Begründen eines neuen, vom offiziellen abweichenden Normtexts. Dieser wird als „eine Ergänzung der Rechtsfolgenseite des Mordparagraphen" vorgestellt. Seine Rechtsfolgenseite besteht in dem Satz: „Es ist jedoch der Strafrahmen des § 49 Abs. 1 Nr. 1 StGB anzuwenden" 130 . Die Tatbestandsseite dieses vom Großen Senat richterrechtlich gesetzten Normtexts wird in der Voraussetzung formuliert: „wenn in Fällen heimtükkischer Tötung außergewöhnliche Umstände vorliegen, auf Grund welcher die Verhängung lebenslanger Freiheitsstrafe als unverhältnismäßig erscheint." Diese Aussage muß aber doppelt eingeschränkt werden: Zum einen können Normtexte nur in Legislatiwerfahren (ausnahmsweise auch durch die Exekutive sowie, bei gesetzlich vorgeschriebener Bindungswirkung, insoweit auch durch die Rechtsprechung) gesetzt werden; was der Große Senat hier tut, kann daher nur als das Setzen eines Quasi-Normtexts bezeichnet werden. Zweitens ist nach der Einsicht des Gerichts „eine abschließende Definition oder Aufzählung der in Fällen heimtückischer Tötung zur Verdrängung (!) der absoluten Strafdrohung des § 211 Abs. 1 StGB führenden außergewöhnlichen Umstände . . . nicht möglich" 1 3 1 . Das Gericht hat somit den Pseudo-Normtext einer Generalklausel gesetzt und ihn anstelle des vorhandenen geltenden Normwortlauts, in der Sprache des Senats der „ausdrücklichen gesetzlichen Regelung", zur quasi-normativen Grundlage seines weiteren Entscheidungshandelns gemacht. Damit wird über die Möglichkeiten des Verfahrens nach § 137 GVG hinausgegangen; im übrigen kann diese Vorschrift als eine einfach-gesetzliche von Verfassungspflichten, hier von Art. 20 Abs. 3 und der speziellen richterlichen Bindungsnorm des Art. 97 Abs. 1 GG, nicht dispensieren. Auch die abschließende Rechtfertigungsstrategie des Bundesgerichtshofs, der sich auf „verfassungskonforme Rechtsanwendung" berufen möchte, geht fehl. Dieses Konkretisierungselement steht, wie die andern, unter verfassungsrechtlichen Anforderungen, hier vor allem der Gewaltenteilung. In ständiger Rechtsprechung hat der Urheber dieses Gedankens, das Bundesverfassungsgericht, festgehalten, verfassungskonforme Auslegung gegen den klar erkennbaren Willen des Gesetzgebers, das heißt gegen einen hinreichend deutlichen Normtext, 129
Hierzu und zum folgenden der Große Senat, BGHSt 30, 105 ff., 118 und f. BGHSt 30, 105, Ls. Ebd. das folgende Zitat. 131 Ebd., 119; Ausrufzeichen nicht im Original. - Zum generalklauselartigen Stil des hier vom Bundesgerichtshof gesetzten Pseudo-Normtexts auch Bruns, Richterliche Rechtsfortbildung oder unzulässige Gesetzesänderung der Strafdrohung für Mord?, JR 1981, 358ff., 359. 130
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3. Was sollte als „Richterrecht" bezeichnet werden?
sei unzulässig 132 . Auch diese Grenzen sind hier überschritten. Die Ausflucht des Großen Senats, er habe „zwingend" so handeln müssen, „weil das verfassungsrechtliche Übermaßverbot keine Ausnahmen kennt" 1 3 3 , läuft auf Irreführimg hinaus. Das Übermaßverbot richtet sich auch an den Gesetzgeber. Die Rechtsprechung ist allgemein durch Art. 20 Abs. 3, speziell durch Art. 97 Abs. 1 GG an das Gesetz gebunden. Das offenkundige Überspielen eines Normtextes und, wie hier, richterrechtlich freies Setzen eines von der Legislative gerade nicht geschaffenen Normtextes, haben mit der Geltung des Übermaßverbots nichts zu tun. Der Bundesgerichtshof hätte stattdessen vortragen können, der § 211 StGB, den er in früherer Rechtsprechung sogar selbst als abschließend behandelt hatte 1 3 4 , sei wegen Verstoßes gegen das Übermaßverbot verfassungswidrig. In diesem Fall wäre die Frage nach Art. 100 Abs. 1 GG dem Bundesverfassungsgericht vorzulegen gewesen. Der Fall bietet ein klares Beispiel für Richterrecht. Dieselben Gründe, die diese Aussage stützen, machen das Vorgehen des Bundesgerichtshofs auch nach der entsprechenden Ansicht in der Strafrechtsdogmatik 135 unzulässig. Das Vorgehen, das der Große Senat gewählt hat, war ihm positivrechtlich verschlossen - mag er es nun als „Behebung" einer nicht einmal mit der herrschenden Lückendoktrin übereinstimmenden „Lücke" deklarieren oder nicht 1 3 6 . Bei alldem ist sogar noch die angebliche Sonderstellung des Strafrechts ein fragwürdiges Axiom. Art. 103 Abs. 2 GG bietet ein (aus historischen Gründen auf das Strafrecht zugeschnittenes) einzelnes Bestimmtheitsgebot für dieses eingreifende Rechtsgebiet. Unbestritten gilt daneben aber für die anderen Rechtsmaterien sowie für alle Funktionen öffentlicher Gewalt die allgemeine Bestimmtheitsregel als ungeschriebene Verfassungsnorm zum Rechtsstaatsprinzip. Ebensowenig lassen sich die Rechts- und Verfassungsbindung der Staatsgewalt aus Art. 20 Abs. 3 und 1 Abs. 3 GG, hier zusätzlich die besondere der Rechtsprechung durch Art. 97 Abs. 1 GG, auf ein ein132 Dazu mit Nachweisen aus der Rechtsprechung: F. Müller, Juristische Methodik, 2. Aufl. 1976, z.B. 72ff., 74f. 133 BGHSt 30, 105ff., 120. 134 E b d , 111 m.Nwn. 135 Z.B. Bruns, Richterliche Rechtsfortbildung oder unzulässige Gesetzesänderung der Strafdrohung für Mord?, JR 1981, 358ff. („Normsetzung, die den Gerichten nicht zukommt"; „ i n freier Rechtsschöpfung", „unzulässige Gesetzesänderung"); Spendel, „Heimtücke" und gesetzliche Strafe bei Mord, JR 1983, 269ff. (der Bundesgerichtshof erfülle hier „objektiv den Tatbestand der Rechtsbeugung"); Köhler, Zur Strafbarkeit des Mordes bei „außergewöhnlichen Umständen", JuS 1984, 762ff. (der Bundesgerichtshof vollziehe „einen eigenständigen, zusätzlichen Akt richterlicher Setzung praeter legem"; „ i n Wahrheit die Setzung eines neuen Tatbestandes"). 136 BGHSt 30,105ff., 121 m.Nwn. Zwar soll hier keine ursprüngliche „planwidrige Unvollständigkeit des Gesetzes" vorliegen, wohl aber eine „Regelungslücke", die „einer solchen Unvollständigkeit auf Grund eines Wandels der Rechtsordnung gleichzuachten ist".
3.2 Analyse der Rechtsprechung
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zelnes Rechtsgebiet wie etwa das Strafrecht beschränken. Wie in diesem unterliegt ihr die Judikative auch im Zivilrecht und im Öffentlichen Recht. Das Zivilrecht hatte bereits vor Inkrafttreten des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland eine wichtige Tradition richterrechtlicher Anspruchserfindungen aufzuweisen. In einem Urteil aus dem Jahr 1902 hatte der Zweite Zivilsenat des Reichsgerichts dem Verkäufer bei schuldhafter Verletzung seiner Vertragspflicht neben der Wandelung „aufgrund des Vertragsverhältnisses" auch einen Schadensersatzanspruch zugesprochen und damit neben den einschlägigen Vorschriften des BGB einen zusätzlichen Quasi-Normtext gesetzt. Nach dem Reichsgericht „folgt dieses aus § 276 B G B " 1 3 7 . Der Senat argumentiert außerhalb des geltenden Rechts, versucht sich aber rechtspolitisch zu legitimieren und dabei den § 276 BGB zu einem vagen „Grundsatz" zu verdünnen: „Wollte man diesen Schluß nicht zulassen, so würde der einen allgemeinen Grundsatz aussprechende § 276 erheblich an Bedeutung verlieren, was nicht als von dem Gesetze gewollt angenommen werden kann. " Bereits in der nächsten Entscheidung dieser Reihe von Judikaten, im Urteil vom Ende des gleichen Jahres 19 0 2 1 3 8 , gibt derselbe Zweite Zivilsenat zu, daß ein allgemeiner Rechtssatz dahin, durch schuldhafte Verletzung einer bestehenden Verbindlichkeit werde die Verpflichtung zum Schadensersatz begründet, „ i m Bürgerlichen Gesetzbuch und insbesondere in § 276 ausdrücklich nicht aufgestellt ist". Dieser im Gesetzestext fehlende „allgemeine Rechtssatz", so das Reichsgericht, „ergibt sich aber aus der Vorschrift des § 276", wofür der erkennende Senat den im geltenden Recht fehlenden Wortlaut durch einen von ihm richterrechtlich eingeführten Pseudo-Normtext ersetzt. Im folgenden wird die weitere dogmatische Begründung des Urteils als Auslegung des § 276 BGB ausgegeben; in Wahrheit handelt es sich um Interpretation des richterrechtlich gesetzten Quasi-Normtexts. Auch in seiner späteren Judikatur hat das Reichsgericht daran festgehalten, dieser von ihm erfundene Anspruch gründe sich „ i m wesentlichen auf den im § 276 BGB ausgesprochenen Grundsatz, daß der Schuldner mangels anderweitiger Bestimmung Vorsatz und Fahrlässigkeit zu vertreten habe" 1 3 9 . Was 1902 noch als „allgemeiner Grundsatz" relativ vage benannt worden war, kann 1922 vom Fünften Zivilsenat des Reichsgerichts 140 bereits als „ein allgemeiner Rechtssatz" bezeichnet werden, der „ i n der gesamten Rechtslehre und Rechtsprechung anerkannt" sei. Es bestehe nur darüber eine Mei137 138 139 140
RGZ 52, 18ff., 19; ebd. zum folgenden. RGZ 53, 200ff.; zu dem im Text folgenden ebd., 201 und f. Urteil des Zweiten Zivilsenats von 1907, RGZ 66, 289ff., 291. RGZ 106, 22 ff.,25 und f.
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3. Was sollte als „Richterrecht" bezeichnet werden?
nungsverschiedenheit, welchen gesetzlichen Vorschriften dieser Rechtssatz zu entnehmen sei. Das Reichsgericht vertrete hierbei in ständiger Rechtsprechung die Ansicht, „daß er sich unmittelbar aus § 276 ergebe". In dieser Vorschrift sei „nicht die Aufstellung einer Regel bloß darüber (zu erblicken), welche Umstände dem Schuldner, sofern ihm durch anderweite gesetzliche Vorschriften eine Haftung irgendwelcher Art auferlegt ist, zuzurechnen sind", sondern der „Ausspruch einer Verpflichtung des Schuldners zum Schadensersatze für vorsätzlich oder fahrlässig begangene Verletzung von Vertragspflichten". Der richterrechtliche Pseudo-Normtext soll also ursprünglich zwar nicht in § 276 BGB stehen, wohl aber aus diesem indirekt „folgen" - normativ durch einen behaupteten „allgemeinen Grundsatz" mühsam legitimiert 1 4 1 . Ist diese durchsichtige Begründung für das Setzen eines Quasi-Wortlauts häufig genug wiederholt worden, so kann offenbar ohne weiteres Federlesen der Akzent dahin verschoben werden, die vom Reichsgericht gewünschten Rechts- und Entscheidungsnormen ergäben sich nicht aus dem richterrechtlichen Quasi-Normtext, sondern „unmittelbar aus § 276" 1 4 2 . Hand in Hand mit diesem Fallenlassen taktischer Legitimationsversuche geht in derselben Entscheidung das obiter dictum, „übrigens" biete der Grundsatz von Treu und Glauben „auf alle Fälle eine hinreichende positiv-gesetzliche Grundlage", welche den Rechtssatz, ein Schuldner sei dem Gläubiger für schuldhafte Vertragspflichtverletzungen zum Schadensersatz verpflichtet, „auch ohne ausdrücklichen Ausspruch als Gesetzesinhalt erkennen läßt" 1 4 3 . Nach dem Inkrafttreten des Grundgesetzes hat der Bundesgerichtshof diese richterrechtliche Tradition zur sogenannten positiven Vertrags- oder Forderungsverletzung mit der vom Reichsgericht ererbten Zweideutigkeit fortgeführt. Die von diesem in ständiger Rechtsprechung behauptete unmittelbare Herleitung aus § 276 wird dabei als unhaltbar abgetan, da „diese Vorschrift nach richtiger Auffassung nur einen Haftungsmaßstab enthält, aber keine Rechtsfolge ausspricht" 144 . Der Bundesgerichtshof beruft sich dagegen einmal auf die allgemeine Anerkennung dieses „Rechtssatzes", der „auch ohne ausdrücklichen Ausspruch als Gesetzesinhalt anzusehen" sei; wahlweise wird ferner „zumindest" eine Analogie zu den Bestimmungen über die Folgen der verschuldeten Unmöglichkeit und des Verzugs (§§ 280, 286, 325, 326 BGB) angeboten. Die Leichthändigkeit, mit der Akzente verschoben oder Begründungsansätze ausgetauscht werden, deutet auf die Selbstsicherheit höchstinstanzlicher Judikatur hin, richterrechtliche Sätze nicht unbedingt wie »normale4 Rechtsprechungsakte am geltenden Recht 141 142 143 144
RGZ 52, 18ff., 19; 53, 200ff., 201; 66, 289ff., 291. RGZ 106, 22 ff., 25. RGZ 106, 22ff., 26. Urteil des Ersten Zivilsenats von 1953, BGHZ 11, 80ff., 83; ebd. zum folgenden.
3.2 Analyse der Rechtsprechung
65
ausweisen zu müssen. Ein vergleichbares Autonomiegefühl zeigte sich auch schon am Anfang der Spruchpraxis zum richterrechtlichen Institut der culpa in contrahendo 145 , wo Sorgfaltspflichten, „rechtsgeschäftliche Verbindlichkeiten" ohne weitere Versuche der Ableitung, ohne auch nur den Schein einer Auslegung gegebener Normtexte durch das Einschieben eines „den Kauf vorbereitenden Rechtsverhältnisses zwischen den Parteien" von „vertragsähnlichem Charakter", also durch das Setzen eines Quasi-Normtexts, kurzerhand begründet wurden. Auch in anderen Fällen richterrechtlicher Tradition im Zivilrecht wird nach ähnlichen Strategien verfahren. So verflüchtigt der Bundesgerichtshof beispielsweise den § 836 BGB zu einem „Niederschlag des allgemeinen Grundsatzes der Verkehrssicherungspflicht" und im selben Atemzug zu dem „allgemeinen Rechtsgedanken", demzufolge „jeder für den durch seine Sachen verursachten Schaden aufzukommen hat, soweit er ihn bei billiger Rücksichtnahme auf die Interessen anderer hätte verhüten müssen" 146 . Der Senat stellt nicht einmal klar, ob diese nicht mehr an die Wortlaute des geltenden Rechts geketteten, durch ihre „Allgemeinheit" und „Anerkanntheit" dieses offenbar überhöhenden, übersteigenden „Grundsätze" gewohnheitsrechtlicher oder richterrechtlicher Natur sein sollen. Jedenfalls. ist der entsprechende Normtext, das heißt ein im formellen Gesetzgebungsverfahren autoritativ festgelegter Wortlaut als Ausgangspunkt für demokratisch und rechtsstaatlich gebundene Entscheidung, nicht vorhanden. Der gerade erst frei eingeführte Pseudo-Normtext wird vom Senat sogleich wieder umformuliert und in dieser noch biegsameren Form, ohne Widerstand bieten zu können, durch Unterstellen weiterer (Quasi-)Sub-Normtexte über „billige Rücksichtnahme", „Abwägung der Interessen" im Einzelfall und über die Unterscheidung von Sachschaden oder „Verletzung von Leib oder Leben" angereichert. Da selbst nach den Darlegungen des Senats hier vom Tatbestand her § 836 BGB einschlägig ist und da er ferner das spezielle Gesetz darstellt, sind diese Operationen rechtswidrig. Wie immer man die aus richterlichem Füllhorn hervorgeholten „Grundsätze" oder „Rechtsgedanken" beurteilen mag - sie kommen eben im BGB in der Form des §836 „zum Ausdruck", finden gerade in diesem für den vorliegenden Fall einschlägigen Normtext des Bürgerlichen Gesetzbuchs ihren „Niederschlag". Eine Regelungslücke welcher Art auch immer ist nicht gegeben. Das richterliche Herbeizaubern zusätzlicher Normtexte hat offenbar den Sinn, den Umgang mit den verbindlichen Eingangsdaten der Entscheidung zu erleichtern. Selbstgeschaffene Normtexte sind aus verständlichen Gründen Wachs in den Händen der Richter. 145
Seit dem Urteil des Sechsten Zivilsenats von 1911, RGZ 78, 239ff. Urteil des 6. Zivilsenats von 1972 (Marinedamm-Fall), Β GHZ 58, 149 ff. - Analyse dieses Judikats bei F. Müller, Juristische Methodik, 2. Aufl. 1976, 249ff., 251ff. 146
5 F. Müller
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3. Was sollte als „Richterrecht" bezeichnet werden?
Im Verwaltungsrecht sind nach verbreiteter Auffassung zahlreiche Rechtssätze, die sogenannten allgemeinen Grundsätze des Verwaltungsrechts, richterrechtlichen Ursprungs; so zum Beispiel vor dem Inkrafttreten des Verwaltungsverfahrensgesetzes die differenzierte Judikatur zur Rücknahme begünstigender Verwaltungsakte, ferner etwa die Grundsätze zur Ermessensausübung, zu den Voraussetzungen des subjektiv-öffentlichen Rechts, zum Folgenbeseitigungsanspruch 147 , zum Verhalten nach Treu und Glauben oder zum Verbot des Rechtsmißbrauchs 148 . Wieweit die allgemeinen Grundsätze des Verwaltungsrechts jedoch aus Richterrecht als einer eigenen Rechtsquelle legitimiert werden können, blieb zweifelhaft. Deshalb ist die zunehmende Tendenz, sie möglichst als Ableitungen aus dem Grundgesetz oder sonst als Konkretisierung bundes(verfassungs-)rechtlicher Normen auszugeben, rechtspolitisch verständlich. Im Verfassungsrecht hatte sich die Rechtsprechung vor allem aus Gründen des Richterrechts im Zivilrecht mit der Frage zu befassen. Das betrifft in erster Linie die Praxis, bei schweren Verletzungen des sogenannten allgemeinen Persönlichkeitsrechts auch für immaterielle Schäden Geldersatz zuzubilligen. Seit 19 54 1 4 9 hatte der Bundesgerichtshof das Bestehen eines allgemeinen Persönlichkeitsrechts unter Hinweis auf Art. 1 und 2 GG behauptet. Auf dem Weg über Entscheidungen wie den Herrenreiter-Fall und den Ginseng-Wurzeln-Fall 150 verfestigte sich eine Judikatur, die nicht etwa die genannten Verfassungsartikel so, wie sie im Grundgesetz normiert sind, anzuwenden bemüht war. Vielmehr deutete sie diese Grundrechte zu etwas um, was sie mit Sicherheit nicht bieten: zivilrechtliche Anspruchsnormen für bezifferbare Geldansprüche. Demgegenüber hatte sich „die Rechtsprechung des Reichsgerichts zum Persönlichkeitsschutz . . . bis zuletzt an die durch das geschriebene Recht des Bürgerlichen Gesetzbuchs gezogenen Grenzen gehalten" 1 5 1 . Denn der Grundsatz der Naturalrestitution im Schadensersatzrecht des BGB gilt nach § 249 auch für nicht-vermögensrechtliche, für immaterielle Schäden. Nur dann, wenn solche aus tatsächlichen Gründen durch Wiederherstellung des früheren Zustands nicht oder nur ungenügend ausgeglichen werden können, kann der Geschädigte nach § 251 Abs. 1 BGB Ersatz in Geld verlangen. Für die immateriellen Schäden schränkt § 253 BGB als Spezialvorschrift diese Möglichkeit jedoch entscheidend ein: Eine Geldentschädigung kann demnach „nur in den durch das 147 Dazu beispielsweise BVerwG, Urteil von 1971, DÖV 1971, 857ff.; mit Anm. v. Bachof ebd., 859ff. 148 Dazu etwa BVerwGE 55, 337 ff., 339. 149 Β GHZ 13, 334ff., 337f. «o BGHZ 26, 349ff.; BGHZ 35, 363ff. 151 So die Formulierung des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts im Soraya-Beschluß von 1973, BVerfGE 34, 269ff., 271. - Zur reichsgerichtlichen Judikatur vgl. etwa RGZ 113, 413.
3.2 Analyse der Rechtsprechung
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Gesetz bestimmten Fällen gefordert werden". Solche durch legislatorisch erzeugte Normtexte ausdrücklich formulierte Sondertatbestände bieten das Schmerzensgeld nach § 847 BGB, ferner § 1300 BGB und außerhalb des Bürgerlichen Gesetzbuchs § 53 Abs. 3 S. 1 Luftverkehrsgesetz, §§27, 35 Abs. 1 S. 2 des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen und § 97 Abs. 2 Urheberrechtsgesetz. Art. 1 und 2 GG, die ohnehin nicht zivilrechtliche Anspruchsgrundlagen darstellen, sind keine „gesetzliche Bestimmung" im Sinn des Bürgerlichen Gesetzbuchs. Weder durch Auslegung noch durch begründete Analogie kann § 847 BGB als Anspruchsbasis herangezogen werden; § 253 BGB ist als abschließende Regelung zu verstehen. Selbst für Anhänger der Richterrechtsdoktrin 152 fehlen damit die Voraussetzungen für eine sogenannte richterliche Rechtsfortbildung. Das Argument, der zivilrechtliche Persönlichkeitsschutz bleibe ohne eine solche lückenhaft, entstammt nicht dem positiven Recht; es ist rechtspolitisch und muß durch den Gesetzgeber, nicht dagegen durch die gesetzesgebundene Judikative befriedigt werden. Zu dieser zivilrechtlichen K r i t i k gesellt sich die verfassungsrechtliche. Die Berufung auf Art. 1 und 2 GG ist, ganz abgesehen von deren vom zivilrechtlichen Anspruchsdenken abweichender Grundrechtsfunktion, irreführend, weil sie einem offenkundigen Verstoß gegen das Gesetzesrecht den Schein höherrangiger, nämlich verfassungsrechtlicher Legitimität verschaffen möchte. Diese Legitimität wird jedoch nicht nur durch einzelne Grundrechtsartikel, sondern ebenso durch die Gewaltenteilungs-, die Kompetenzund Bindungsnormen begründet. Die Rechtsprechung ist an das Grundgesetz tel quel gebunden - und nicht an eine nach Bedarf fragmentierte Verfassung, aus der unter Verstoß gegen andere ihrer Normen einzelne Vorschriften zielstrebig isoliert und herausgegriffen werden könnten. Hätte der Bundesgerichtshof § 253 BGB wegen Verstoßes gegen Art. 1 und 2 GG für insoweit verfassungswidrig gehalten, als die Vorschrift einen Ersatz immaterieller Schäden für Verletzungen des Persönlichkeitsrechts verbietet, hätte er keine eigene Verwerfungskompetenz gehabt, sondern die Frage nach Art. 100 Abs. 1 GG dem Bundesverfassungsgericht vorlegen müssen. So aber konnte seine richterrechtliche Setzung, soweit sie mit einer Analogie zu § 847 BGB begründet wurde, nur geeignet sein, „den Spott der Fachwelt hervorzurufen" 153 . Ähnlich wie der richterrechtliche Quasi-Normtext zur positiven Forderungsverletzung, hat auch der Pseudo-Normtext der Judikatur zum allge152 Die referierte zutreffende K r i t i k findet sich bei Larenz, Verhandlungen des 42. DJT. Bd. I I (1959), Teil D, 34, 36; und bei dems., Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 2. Aufl. 1969, 402. 153 J. Ipsen, Verfassungsrechtliche Schranken des Richterrechts, DVB1. 1984, 1102 ff., 1104. Eingehende Erörterung der Probleme dieser Rechtsprechung bei Göldner, Verfassungsprinzip und Privatrechtsnorm in der verfassungskonformen Auslegung und Rechtsfortbildung, 1969.
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3. Was sollte als „Richterrecht" bezeichnet werden?
meinen Persönlichkeitsrecht einen generalklauselähnlichen Einzelfallbezug auf seiner Tatbestandsseite: „Der durch eine rechtswidrige und schuldhafte Verletzung seines Persönlichkeitsrechts Betroffene kann Ersatz des immateriellen Schadens beanspruchen, wenn die Umstände, insbesondere die Schwere der Verletzung oder des Verschuldens, eine solche Genugtuung erfordern" 154 . Der Fall ,Ginseng-Wurzeln' „liegt in seinen grundsätzlichen Zügen sehr ähnlich" wie die entsprechenden Entscheidungen in der Herrenreiter-Tradition. Mit dieser Selbstaussage verbindet der Bundesgerichtshof die Ansicht, die Zubilligung eines „immateriellen Schadensersatzes", das heißt eines sehr materiellen Ersatzes für immaterielle Schäden, sei der angemessene Ausgleich, „den die Rechtsordnung dem in seinem Persönlichkeitsrecht beeinträchtigten Kläger zu gewähren h a t " 1 5 5 . Dabei ist verkannt, daß nicht „die" Rechtsordnung zivilrechtliche Anspruchsgrundlagen zu gewähren hat, sondern das positive Zivilrecht. Dieses hat aber in Gestalt des Bürgerlichen Gesetzbuchs, durch die Beschränkung in § 253 BGB und auf die ihm entsprechenden Sondertatbestände, die für Sachverhalte wie die Herrenreiter- oder Ginseng-Fälle angeblich erforderlichen Normtexte nicht etwa zufällig nicht bereitgestellt, sondern sie diesen jedenfalls vorläufig vorenthalten. Durch Anonymisieren der Sprachfassung des Arguments („die Rechtsordnung... zu gewähren hat") soll der normative Rahmen, in dem die zivilrechtliche Rechtsfrage steht, verwischt werden, nämlich die Gewaltenteilungs- und Kompetenzordnung der Verfassung. Auf derselben taktischen Linie spricht der Sechste Zivilsenat des Bundesgerichtshofs im Ginseng-Wurzeln-Urteil davon, andernfalls „hätte das Zivilrecht (!) die Wertentscheidung des Grundgesetzes unbeachtet gelassen" 156 . Das Grundgesetz auf die hier rechtspolitisch gewünschte Art zu „beachten", den immateriell Geschädigten in Fällen bestimmten Zuschnitts einen Anspruch auf Geldersatz zu „gewähren" hat der Normtextsetzer, haben die nach der Kompetenzordnung zum Erlaß bürgerlichrechtlicher Gesetzestexte zuständigen Staatsorgane. Wenn deren Tätigkeit, wie bisher, für den fraglichen Sachverhalt nicht das ergibt, was die Judikatur de lege ferenda für richtig hält, so besteht keine rechtliche Legitimation dafür, daß sich ein erkennender Senat als „die Rechtsordnung" oder als „das Zivilrecht" gebärdet. Ähnlich, wenn auch im Stil verhaltener, hatte schon das Reichsgericht den § 276 BGB in seiner Spruchpraxis zur positiven Forderungsverletzung auf einen „allgemeinen Grundsatz" oder „allgemeinen Rechtsgedanken" hin anonymisiert. Nachdem eine Verlagsgesellschaft durch Verfassungsbeschwerde die Frage der Grundgesetzmäßigkeit dieser zivilgerichtlichen Judikatur zum 154
So der BGH im Ginseng-Wurzeln-Fall, BGHZ 35, 363 (Leitsatz). iss BGHZ 35, 363ff., 366. 156 Ebd., 368; Ausrufzeichen nicht im Original.
3.2 Analyse der Rechtsprechung
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Geldersatz für immaterielle Schäden aufgeworfen hatte, mußte sich das Bundesverfassungsgericht 1973 mit der Frage nach der Zulässigkeit von Richterrecht beschäftigen. Die sogenannte Lückenfüllung kraft „schöpferischer Rechtsfindung", die das Bundesverfassungsgericht „stets anerkannt" habe, wird in der vielgeschmähten Soraya-Entscheidung 157 mit starken Worten von einem „Mehr an Recht" gegenüber „den positiven Satzungen der Staatsgewalt" und von der verfassungsmäßigen „Rechtsordnung als einem Sinnganzen" bekräftigt, das „dem geschriebenen Gesetz gegenüber als Korrektiv zu wirken vermag". Die richterliche Entscheidung habe „nach den Maßstäben der praktischen Vernunft" der Rechtsordnung angeblich immanente Wertvorstellungen, die „ i n den Texten der geschriebenen Gesetze nicht oder nur unvollkommen zum Ausdruck gelangt sind", zu „realisieren". Unter Mißachtung der vom Grundgesetz vorgesehenen Normenkontrollverfahren - die Zivilgerichte hätten nach Art. 100 Abs. 1 GG vorlegen können - rechtfertigt, ja feiert das Bundesverfassungsgericht eine Praxis von gesetzeskorrigierendem Richterrecht 158 . Ausgang und Angelpunkt der Argumentation des Bundesverfassungsgerichts bildet verbal die Bindung des Richters an das Gesetz als ein wesentlicher Bestandteil der Gewaltentrennung und damit der Rechtsstaatlichkeit. Allerdings verfälscht der Erste Senat die Gesetzesbindung der rechtsprechenden Gewalt durch das Grundgesetz an eben der Stelle, auf die es ankommt, nämlich in ihrer normativen Ausformung. Der Senat verortet sie allein in Art. 20 Abs. 3 GG und macht die dortige Formulierung, die Rechtsprechung sei an „Gesetz und Recht" gebunden, zur Grundlage der Argumentation. Zu diesem Zweck wird diese Formel dahin umgedeutet, mit ihr werde „nach allgemeiner Meinung ein enger Gesetzespositivismus abgelehnt". Die „Gesamtheit der geschriebenen Gesetze" müsse sich nicht immer mit dem „Recht" decken. Das ist richtig und beinahe unbestritten, soweit damit Gewohnheitsrecht gemeint ist. Allerdings kann sich im Rechtsstaat des Grundgesetzes ungeschriebenes Recht nur ergänzend zum geschriebenen, nicht aber gegen dessen deutliche Regeln bilden. Gewohnheitsrecht darf nicht in Widerspruch zu ranghöherem oder ranggleichem geschriebenem Recht treten 1 5 9 . Eben darum geht es hier, und genau dies wird vom Bundesverfassungsgericht verdrängt, mit dezisionistischem Schweigen übergangen 160 . 157
BVerfGE 34, 269ff., v.a. 286ff.; ebd. die im Text folgenden Zitate, iss Dazu eingehend und kritisch J. Ipsen, Richterrecht und Verfassung, 1975, 155ff., 235f. 1 59 Z.B. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 15. Aufl., 1985, 14, 124, 145, 195f, m. Nwn. 160 Eingehende K r i t i k am Soraya-Beschluß bei F. Müller, Die Einheit der Verfassung, 1979, z.B. 43ff. K r i t i k und Ablehnung ferner bei dems., Juristische Methodik, 2. Aufl. 1976, 76; Ch.-F. Menger, VerwArch. 65 (1974), 195; Knieper, ZRP 1974, 137; Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 15. Aufl.,
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3. Was sollte als „Richterrecht" bezeichnet werden?
Wer das Ergebnis des Soraya-Beschlusses für inhaltlich vertretbar und rechtspolitisch zeitgerecht hält, hätte es vielleicht sogar auf korrekte Art begründen können: entweder dadurch, § 253 BGB wegen eines - allerdings überzeugender Abstützung bedürftigen - Verstoßes gegen Art. 1 Abs. 1 und 2 Abs. 1 GG partiell für verfassungswidrig erklären zu lassen; oder durch Nachweis eines möglichen Normwandels, der seinerseits hätte sorgfältig geprüft und dargetan werden müssen 161 . Es hätte sich dann im einzelnen zeigen lassen, ob das Resultat methodisch rational und rechtsstaatlich vertretbar zu erreichen gewesen wäre oder nicht. Mit seinen holistischen Leerformeln hat sich das Bundesverfassungsgericht nicht nur diese Mühe erspart. Es hat auch davon abgesehen, seine eigene Verfassungsbindung in diesem Fall ernst zu nehmen. Um „schöpferisch" auf diese Position legibus solutus zu gelangen, hat der Erste Senat im Soraya-Beschluß zunächst die Formel von „Gesetz und Recht" in Art. 20 Abs. 3 GG in eine methodologische Aussage umgedeutet. Sie gehört aber zu einer Bindungsnorm und damit zu einer indirekten normativen Aussage über die vom Grundgesetz anerkannten Rechtsquellen, nämlich geschriebenes Recht und Gewohnheitsrecht. Art. 20 Abs. 3 GG sagt, an welche Arten von Rechtsquellen die vollziehende und die rechtsprechende Gewalt gebunden sind. Außerdem kann Gewohnheitsrecht nicht gegen Wortlaut und Systematik der Normtexte des geltenden Rechts binden; der Soraya-Beschluß vollzieht aber, und zwar für Richterrecht, eben diese Wendung. Es ist ferner nicht korrekt, die „traditionelle Bindung des Richters an das Gesetz" 162 ausschließlich als Frage des Art. 20 Abs. 3 GG zu erörtern. Die Richter sind vielmehr nach Art. 97 Abs. 1 GG „nur dem Gesetze unterworfen". Weil es nach den Gründen des Soraya-Judikats auf den Wortlaut „Gesetz und Recht" ankommen soll, grenzt das Ausblenden des Art. 97 Abs. 1 GG aus der Entscheidung an eine Verfälschung. Die mindestens auch einschlägige, die als spezielle hier jedoch eher allein zutreffende Norm des Art. 97 Abs. 1 GG hält der Hüter der Verfassung für nicht der Erwähnung wert. Damit nimmt das Gericht seiner Argumentation die Chance für eine sonst vielleicht zu behauptende innere Schlüssigkeit. Offenbar hatte sich der Senat vorentschieden, bevor er an die Prüfung der Rechtsfrage ging: nämlich dahin, dem Bundesgerichtshof nicht ins Handwerk zu pfuschen, eine vom juristischen Zeitgeist weithin gebilligte Praktik nicht in 1985, 76; J. Ipsen, Richterrecht und Verfassung, 1978, lOOff., 235ff.; Krey, JZ 1978, 465; Larenz, AfP 1973, 451; Merten, DVB1. 1975, 678; Prümm, Verfassung und Methodik, 1976, 208; Ridder, AfP 1973, 456; H.-P. Schneider, DÖV 1975, 445, 449, 451; Schwabe, DVB1. 1973, 790; Starck, Staatsbürger und Gericht, 1975, 52ff., 54; Steinwedel, „Spezifisches Verfassungsrecht" und „einfaches Recht", 1976, 108ff., 121 ff.; Wank, Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung, 1978, 83ff. 161 Grundsätzlich zum Problem des Normwandels F. Müller, Strukturierende Rechtslehre, 1984, z.B. 117ff., 131ff., 363ff., 369ff. 162 BVerfGE 34, 269ff., 286.
3.2 Analyse der Rechtsprechung
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Frage zu stellen. Wer so handelt, gibt die mögliche und ihm als Dienstpflicht auferlegte Distanz zum Fall auf, bringt in Gestalt seines Vor-Urteils sich und sein vermeintliches Prestige ins Spiel. Er verteidigt sich selbst, indem er auf Biegen und Brechen seine erfühlte, autoritär vorweggenommene Entscheidungsnorm zu rechtfertigen sucht. Methodik und Rechtsstaat bleiben dabei auf der Strecke, Suggestiv- und Autoritätsargumente werden es schon richten. Als es einige Jahre später um eine leichtere Aufgabe als den Schutz der Ehre von Prinzessin Soraya ging, hielt sich das Bundesverfassungsgericht „ i n augenfälligem Gegensatz" 163 zum Soraya-Beschluß in der Frage richterrechtlich gesetzter Zivilrechtsnormen deutlich zurück 1 6 4 . Es weigerte sich, allgemeine Äußerungen zum Richterrecht abzugeben und zu prüfen, welche Grenzen die Verfassungsnorm richterlicher Gesetzesbindung den Versuchen zur Rechtsfortbildung zieht. Die Diskretion geht jetzt so weit, daß die tragende Begründung für den angenommenen Verfassungsverstoß nicht mehr deutlich wird: eine im Verhältnis zum Gesetzgeber unzulässige richterliche Rechtsfortbildung oder nur eine fehlerhafte Interpretation des § 823 Abs. 1 BGB 1 6 5 ? Der soziale Abstieg 1 6 6 setzte sich fort: Das Thema „Richterrecht" zwang das Bundesverfassungsgericht im Jahr 1983 dazu, sich ein Jahrzehnt nach dem Soraya-Beschluß mit der konkursrechtlichen Einordnung von Abfindungsansprüchen entlassener Arbeitnehmer aus einem Sozialplan auseinanderzusetzen 167 . Der Fünfte Senat des Bundesarbeitsgerichts hatte an dessen Großen Senat 1 6 8 die Frage gerichtet, ob Abfindungsansprüche aus Sozialplan in die §§ 59 ff. der Konkursordnung (KO) eingeordnet werden könnten und ob sie gegebenenfalls bevorrechtigte Konkursforderungen nach § 61 Abs. 1 Nr. 1 KO seien. In diesem Zusammenhang formulierte der Fünfte Senat die Frage dahin, „ob die Konkursordnung, die Sozialplanansprüche nicht erwähnt, eine Lücke enthält, die im Wege richterlicher Rechtsfortbildung zu schließen wäre". Auf den Vorlagebeschluß hin hatte der Große Senat des Bundesarbeitsgerichts 1 6 9 beide Fragen bejaht und dabei den Ansprüchen aus einem Sozialplan auf Abfindung für den Verlust des Arbeitsplatzes einen Rang noch vor der Nr. 1 des § 61 Abs. 1 KO „wegen ihrer existentiellen Bedeutung für den 163 Wank, Die verfassungsgerichtliche Kontrolle der Gesetzesauslegung und Rechtsfortbildung durch die Fachgerichte, JuS 1980, 545 u. ff. 164 BVerfGE 49, 304ff. (Weigand), 318. 165 Dazu Starck, JZ 1979, 64; Wank, ebd. 166 i m Fall BVerfGE 49, 304ff., ging es um einen umstrittenen „Sozialanwalt". 167 Beschluß des Zweiten Senats vom 19. 10. 1983, BVerfGE 65, 182ff. 168 Der Vorlagebeschluß findet sich in BAGE 29, 188ff., v.a. 195. - Als Entscheidung zum Richterrecht im Arbeitsfcamp/recht vgl. beispielsweise BAGE 33, 140ff. 169 BAGE 31, 176ff., Beschluß vom 13. 12. 1978.
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3. Was sollte als „Richterrecht" bezeichnet werden?
einzelnen Arbeitnehmer" 1 7 0 zugebilligt. Das Bundesarbeitsgericht setzt dabei die Rechtsnormen, §§ 111-113 des Betriebsverfassungsgesetzes gälten auch im Konkurs des Unternehmers, Abfindungsansprüche aus Sozialplan wegen Verlusts des Arbeitsplatzes seien bevorrechtigte Konkursforderungen im Sinn des § 61 KO und hätten Rang noch vor § 61 Abs. 1 Nr. 1 K O 1 7 1 . Die Entscheidungsnormen liegen im Rahmen eines Vorlageverfahrens in den Antworten an den anfragenden Senat und in der darin liegenden Anweisung, die fraglichen Prozesse, gestützt auf die gegebene Rechtsauskunft, weiterzuführen. Auf der methodischen und dogmatischen Linie der ständigen richterrechtlichen Judikatur des Bundesgerichtshofs sowie des Soraya-Beschlusses des Bundesverfassungsgerichts befindet der Große Senat des Bundesarbeitsgerichts, zwar seien für die konkursrechtliche Einordnung der Abfindungsansprüche „allein die Vorschriften der Konkursordnung maßgebend", doch habe das Betriebsverfassungsgesetz von 1972 Ansprüche geschaffen, „die in das herkömmliche System der Konkursordnung nicht passen". Insoweit sei „durch die neue Rechtsentwicklung im Arbeitsrecht" eine „Regelungslücke der Konkursordnung" entstanden, die zu schließen „legitime Aufgabe der Gerichte für Arbeitssachen und insbesondere des Großen Senats des Bundesarbeitsgerichts" sei. Ähnlich hatte der Bundesgerichtshof in seiner Herrenreiter-Tradition von einer durch Rechtswandel entstandenen nachträglichen Regelungslücke gesprochen und diese zur Basis seiner richterrechtlichen Argumentation gemacht. In demselben Sinn hatte das Bundesverfassungsgericht 172 dekretiert, die „Auslegung einer Gesetzesnorm" könne „nicht immer auf die Dauer bei dem ihr zu ihrer Entstehungszeit beigelegten Sinn stehenbleiben"; es sei „zu berücksichtigen, welche vernünftige Funktion sie im Zeitpunkt der Anwendung haben kann". Wo sich aber der Bundesgerichtshof nur auf geänderte Anschauungen und Verhältnisse, das Bundesverfassungsgericht in seiner Nachfolge auf „die Rechtsentwicklung in anderen Ländern der westlichen Welt" und den „Einfluß eines geänderten Rechtbewußtseins und der Wertvorstellungen einer neuen Verfassung" 173 berufen konnten, also auf vage Größen ohne unmittelbaren normativen Ausdruck im geltenden Recht, stützt sich das Bundesarbeitsgericht immerhin auf ein bestimmtes Gesetz, bei dem die Legislative die notwendige Koordination mit der Konkursordnung schuldig geblieben war. Es trifft somit auf eine Lage, die - wenn man überhaupt der Lückendoktrin anhängen w i l l - weit besser denn das in der zivilrechtlichen Judikatur zum Per-
170
Ebd., 208. Vgl. hierzu und im übrigen die Leitsätze, BAGE 31, 176; ferner ebd. 182, 193, 207f.; zu dem im Text folgenden Zitat ebd., 193, 194. 172 Soraya-Beschluß, BVerfGE 34, 269ff., 288. BVerfGE 34, 269ff., 289, 290. 171
3.2 Analyse der Rechtsprechung
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sönlichkeitsrecht beschriebene Phänomen als „Regelungslücke" ausgegeben werden kann 1 7 4 . Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts hat in seinem Sozialplan-Beschluß dieses Setzen von Rechts- und Entscheidungsnormen ohne Normtexte, die genannte Einordnung von Sozialplanabfindungen als Konkursforderungen „kraft Richterrechts" als „mit der Verfassung unvereinbar", weil gegen Art. 20 Abs. 3 GG verstoßend bezeichnet. Eine „gesetzliche Regelungslücke" bestehe nicht 1 7 5 . Das Ergebnis dieses Beschlusses ist richtig, das durch ihn in der Judikatur des Bundesverfassungsgerichts begonnene Messen mit zweierlei Maß in Fragen des Richterrechts ist skandalös. Nach Ansicht des Zweiten Senats sind die „Grenzen" des angeblich grundsätzlich zulässigen Richterrechts „ i m vorliegenden F a l l . . . eindeutig überschritten": Die Regelung der Konkursvorrechte durch § 61 KO sei „nach Wortlaut, Systematik und Sinn abschließend". Eine „gesetzliche Regelungslücke", die es dem Richter erlauben würde, „außerhalb dieses geschlossenen Systems" richterrechtlich zu arbeiten, gebe es nicht. Das Einordnen von Forderungen in die Systematik des § 61 KO verlange „große Behutsamk e i t " 1 7 6 . Weniger behutsam war das Gericht allerdings im Soraya-Judikat vorgegangen. Dort lag nicht nur eine nach Wortlaut, Systematik und Sinn abschließende Regelung des BGB zur Frage des Geldersatzes immaterieller Schäden vor, sondern in Gestalt von § 253 BGB sogar eine (darüber hinaus gehende Anspruchsnormen ausdrücklich ausschließende) Spezialvorschrift. Nicht nur gegen ein einleuchtendes Interpretationsergebnis, es gebe eine abgeschlossene Gesetzesregelung, sondern selbst gegen diese klare Spezialnorm hatte dort das Bundesverfassungsgericht offenbar ohne Bedenken richterrechtlich judiziert, da doch „das Recht" nicht mit der „Gesamtheit der geschriebenen Gesetze", nicht mit „den positiven Satzungen der Staatsgewalt" identisch sei 1 7 7 . Das Bundesarbeitsgericht hatte sich, auf der Linie des Soraya-Spruches, ebenfalls nicht im Rahmen eines dort abgelehnten angeblichen „engen Gesetzespositivismus" an die „gesetzgeberischen Weisungen in den Grenzen des möglichen Wortsinns" gehalten, sondern hatte „Wertvorstellungen, die der verfassungsmäßigen Rechtsordnung immanent, aber in den Texten der geschriebenen Gesetze nicht oder nur unvollkommen zum Ausdruck gelangt sind", in „einem Akt des bewertenden Erkennens, dem auch willenhafte Elemente nicht fehlen" ans „Licht" gebracht und es unternommen, sie in seinen „Entscheidungen zu realisieren" 178 . Das Bun174
Die daraus resultierenden rechtspolitischen Probleme und „die entstandenen Ungerechtigkeiten" werden dabei vom Bundesarbeitsgericht genannt, ihre Beseitigung als „dem Gesetzgeber vorbehalten" bezeichnet; BAGE 31, 176ff., 206ff., 209. "5 BVerfGE 65, 182ff. "« BVerfGE 65, 182 ff., 191 f. Die im Text folgenden Zitate ebd., 192, 193f. 1 77 BVerfGE 34, 269ff., 287. 178 Diese Formeln im Soraya-Beschluß, ebd.
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3. Was sollte als „Richterrecht" bezeichnet werden?
desarbeitsgericht hatte solches vor dem Hintergrund des grundgesetzlichen Sozialstaatsprinzips und in eingehender Auseinandersetzung mit Literatur und Rechtsprechung getan. Eine „gesetzliche Regelungslücke", die nach der Feststellung des Zweiten Senats im Sozialplan-Beschluß hier nicht vorlag, was die Setzung von Richterrecht ausschließen soll, hatte in der durch den Soraya-Beschluß verfassungsgerichtlich gebilligten Herrenreiter-Praxis des Bundesgerichtshofs ebenfalls nicht bestanden. Dort hatte sich die Ziviljustiz auf die allgemeine Rechtsentwicklung beim Bundesverfassungsgericht mit Erfolg berufen. Hier scheitert das Bundesarbeitsgericht mit seinem präzisen Hinweis auf das Betriebsverfassungsgesetz von 1972 und auf das Versäumnis der Legislative, die Regeln über die Abfindungsansprüche aus Sozialplan mit der Konkursordnung zu koordinieren. Dem Soraya-Beschluß entgegengesetzt, zieht sich das Bundesverfassungsgericht hier darauf zurück, das Betriebsverfassungsgesetz regle weder die Frage der Aufstellung eines Sozialplans i m Konkurs noch die sich dann gegebenenfalls stellende Rangfrage von Sozialplanabfindungen „ausdrücklich". In der Herrenreiter-Tradition der Ziviljustiz fehlt nicht nur gleichfalls eine „ausdrückliche" Basis im geltenden Recht. Es wird dort, durch Richterrecht und verfassungsgerichtlich gebilligt, sogar gegen eine ausdrückliche Regelung (§ 253 BGB) bedenkenlos judiziert. Dasselbe Bundesverfassungsgericht, das im Soraya-Fall von der Rechts„quelle" des „Sinnganzen" der verfassungsmäßigen Rechtsordnung sowie von in Normtexten nicht oder nicht klar genug ausgedrückten „immanenten Wert Vorstellungen" des Rechtssystems schwärmte, pocht im SozialplanFall mit verdächtigem Eifer auf die „Weite und Unbestimmtheit" des grundgesetzlichen Sozialstaatsprinzips, welches „regelmäßig keine unmittelbaren Handlungsanweisungen" an die Gerichte bereitstelle. Das Bundesarbeitsgericht wird in die Schranken verwiesen, weil „ i m Wege richterlicher Rechtsfortbildung aus dem Sozialstaatsgedanken kaum zu erschließen" sei, was der Große Senat über den Konkursrang von Sozialplanansprüchen ausführt. Daß das Bundesarbeitsgericht es gewagt hatte, bezüglich dieser Abfindungen von ihrer „existentiellen Bedeutung für den einzelnen Arbeitnehmer" zu sprechen, zeigt dem Bundesverfassungsgericht „deutlich, daß es (sc. das Bundesarbeitsgericht) sich aus im wesentlichen sozialpolitischen Gründen zu seinem Eingriff in das Ranggefüge der Konkursordnung entschlossen h a t " 1 7 9 . Im 34. Band hatte dagegen die dort referierte korrekte Aussage, bei der Judikatur zum allgemeinen Persönlichkeitsrecht handle es sich um Argumente „nicht rechtlicher, sondern rechtspolitischer N a t u r " 1 8 0 , das Bundesverfassungsgericht nicht beeindruckt.
179 BVerfGE 65, 182ff., 193, 194. 180 BVerfGE 34, 269ff., 276.
3.2 Analyse der Rechtsprechung
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Neben einem grobschlächtigen fiskalischen Wiegen und Wägen - im Soraya-Beschluß habe der Bundesgerichtshof „lediglich eine weitere Sanktion . . . hinzugefügt", hier jedoch würde eine einzige Gläubigergruppe bevorzugt, die übrigen Konkursgläubiger hätten „keineswegs nur . . . leicht hinnehmbare Einbußen" zu tragen - , w i l l das Verfassungsgericht abschließend den grundlegenden Unterschied des Sozialplan-Falls zum Soraya-Fall mit zwei Argumenten dartun 1 8 1 : Anders als der Bundesgerichtshof im Soraya-Judikat könne sich das Bundesarbeitsgericht „nicht darauf berufen", daß seine Rechtsprechung „von einer allgemeinen Rechtsüberzeugung gestützt werde"; seine Entscheidung habe nämlich im Schrifttum eine „geteilte Aufnahme" gefunden. Wer diesen Hinweis nicht als zynisch erkennt, sollte sich mit der Aufnahme des Soraya-Beschlusses im Schrifttum beschäftigen 182 . Zweitens betont der Senat, anders „als im sogenannten Soraya-Fall" gehe es hier „nicht um den Schutz des allgemeinen Persönlichkeitsrechts, das mit Blick auf Art. 1 und 2 Abs. 1 GG im Mittelpunkt des Wertsystems der Grundrechte steht". Normativ steht aber dieses sogenannte allgemeine Persönlichkeitsrecht nicht nur nicht im Mittelpunkt der Grundrechte, sondern nicht einmal in der Verfassung. Die Formel „mit Blick auf . . . " umschreibt dies verschämt. Das allgemeine Persönlichkeitsrecht im Sinne der richterrechtlichen Judikatur, um die es geht, nämlich als Basis für zivilrechtliche Schadensersatzansprüche bestimmter und bezifferbarer Art, ist eine dogmatische Erfindung der Rechtsprechung. Sie den positiven Sozialstaatsnormen des Grundgesetzes argumentativ überzuordnen, ist ein Vorgehen, von dem sich das Bundesverfassungsgericht im Interesse der Verfassungstreue besser freigehalten hätte. Auch im Grundgesetz unmittelbar normierte Grundrechte haben keinen höheren Rang als andere Verfassungsnormen. Das gilt nicht nur gegenüber den Sozialstaatsaussagen der Bundesverfassung, sondern auch gegenüber Art. 97 Abs. 1 GG (speziell zu Art. 20 Abs. 3 GG), der aus dieser Argumentation ausgeblendet bleibt. Von diesen Aspekten abgesehen, welche diese Art der Begründung für den SozialplanBeschluß bereits unhaltbar machen, argumentiert „mit Blick auf" Art. 2 Abs. 1 GG hier ausgerechnet derjenige Oberste Gerichtshof des Bundes, der seit dem Elfes-Urteil 1 8 3 dieses persönlichkeitsbezogene Grundrecht seines Gehalts beraubt und zugunsten einer sogenannten allgemeinen Handlungsfreiheit entleert hat. Daß der Blick gleichzeitig auf Art. 1 GG gelenkt wird, verschlimmert noch den Zusammenhang: Die Menschenwürde von - so jedenfalls die bisherigen Fälle der Judikatur - wohlsituierten Prominenten nähme Schaden, würde diesen nicht neben dem Versuch einer Naturalrestitution auch noch zusätzlich Schadensersatz in Geld zugesprochen. Dagegen berührt es die in den Augen der obersten Bundesrichter offenbar robuste 181
BVerfGE 65, 182ff., 194f. Vgl. oben Anm. 160. iss BVerfGE 6, 32 ff. 182
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3. Was sollte als „Richterrecht" bezeichnet werden?
Menschenwürde entlassener Arbeitnehmer (und der Personen, die von ihnen wirtschaftlich abhängen) nicht, wenn ihnen zum Ausgleich sozialer Härten normierte Abfindungsansprüche von „existentieller Bedeutung" 1 8 4 durch die Gestaltung des Konkursrechts wieder entzogen werden. Wenn schon vor dem Gesetz „alle Menschen . . . gleich" sein sollen (Art. 3 Abs. 1 GG), dann muß es offenbar für die im Sinn von George Orwell noch Gleicheren ein „Mehr an Recht" 1 8 5 geben als das nur gesetzliche. Im dogmatischen Ergebnis trifft die Sozialplan-Entscheidung zu, wenn auch aus anderen Gründen als den vom Gericht angegebenen. Richtig ist ihre Entscheidungsnorm, das Grundgesetz erlaube kein Einordnen von Sozialplanabfindungen als Konkursforderungen im Rang vor § 61 Abs. 1 Nr. 1 KO kraft Richterrechts. Zweifelhaft ist dagegen die im Verlauf der Entscheidungsgründe formulierte allgemeine Rechtsnorm insoweit, als sie sagt, Richterrecht sei vom Grundgesetz her zulässig, es habe allerdings (hier überschrittene) Grenzen. Die vom Bundesverfassungsgericht nicht bewältigte, nicht einmal zulänglich diskutierte Frage lautet, ob Richterrecht überhaupt mit Art. 20 Abs. 3 GG und dem hierzu speziellen Art. 97 Abs. 1 GG sowie mit der grundgesetzlichen Ausformung der Gewaltenteilung vereinbar sein kann. Die Frage ist also, ob nicht schon durch das - hier eindeutig vorliegende - Setzen von Richterrecht als solchem die Grenzen dessen, was Richter unter dem Grundgesetz tun dürfen, überschritten sind. Das richtige Ergebnis des Sozialplan-Beschlusses ist mit jenem des Soraya-Beschlusses und mit den für diesen gegebenen Gründen unvereinbar. Nach den dortigen Aussagen hat das Bundesarbeitsgericht nämlich legitim gehandelt, und zwar mit graduell noch besserem Recht als die Ziviljustiz in der Herrenreiter-Judikatur. Demgegenüber sah sich der Zweite Senat im Sozialplan-Fall - genau entgegengesetzt dem Ersten Senat im Soraya-Fall - darauf „verwiesen, gesetzgeberische Weisungen in den Grenzen des möglichen Wortsinns auf den Einzelfall anzuwenden" 186 . Das Sozialplanverfahren hätte zum Anlaß genommen werden müssen, die Soraya-Entscheidung zu korrigieren. Die Zumutung besteht darin, daß stattdessen vom Gericht eine verfassungsnormative Vereinbarkeit beider mit liebloser, fadenscheiniger Begründung bloß rhetorisch und autoritär behauptet wird. Nicht nur hat der Zweite Senat das Klärungsverfahren nach § 16 des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht unbeachtet gelassen, wie dies etwa auch für die einander entgegengesetzte Judikatur 184 Dieser Formulierung des Großen Senats des Bundesarbeitsgerichts, BAGE 31, 176ff., 208, hat das Bundesverfassungsgericht inhaltlich nicht widersprochen; vgl. BVerfGE 65, 182 ff., 194. 185 BVerfGE 34, 269 ff., 287 - in anderem, Richterrecht grundsätzlich legitimierendem Zusammenhang. 186 So, diese Vorstellung für die Rechtsprechung unter dem Grundgesetz allerdings gerade abwehrend, BVerfGE 34, 269ff., 287.
3.3 Das Phänomen „Richterrecht"
77
beider Senate zum Problem der »Einheit der Verfassung 4 g i l t 1 8 7 . Zwischen beiden Linien der mit den Beschlüssen von 1973 und 1983 für die Zukunft festgeschriebenen Doppelstrategie des Bundesverfassungsgerichts in Sachen Richterrecht liegt auch ein anstößiges sozialpolitisches Gefälle: schwere Zeiten für glanzlose, namenlose entlassene Arbeitnehmer; höchstrichterliche Genugtuung f ü r 1 8 8 Herrenreiter, Völker- und Kirchenrechtslehrer, Ex-Kaiserinnen. 3.3 Das Phänomen „Richterrecht" 3.31 Unbrauchbare Ansätze
Bevor die Legalität und Legitimität richterrechtlicher Entscheidungsakte bewertet werden kann, sollte klar sein, was unter dem Phänomen zu verstehen ist. Die Untersuchung der richterrechtlichen Spruchpraxis hat, in rechtstheoretisch schlüssigen Begriffen ausgedrückt, folgenden Typus als konstant erwiesen: Das Gericht entscheidet den Rechtsfall, bildet also eine Entscheidungsnorm, indem es diese von einer im Verlauf des Arbeitsvorgangs formulierten allgemeinen Rechtsnorm ableitet. Im Unterschied zu den nicht-richterrechtlichen Fällen hat aber kein legislatorischer Normtext zur Verfügung gestanden. Um ihn zu ersetzen, hat das Gericht entweder implizit beim Formulieren der Rechtsnorm oder explizit vor dieser Phase der Konkretisierungsarbeit selbst einen Quasi-Normtext formuliert, auf den es sich in der Folge wie auf eine legitimierende Instanz beruft. An diesem Befund scheitern einige herkömmliche Versuche, Richterrecht schon dann anzunehmen, wenn die »normale Auslegung' überschritten wird, wenn die ,Fortbildung' des (mit den Normtexten verwechselten) Rechts allein darin liegen soll, daß sich die Subsumtionsvorstellung und das positivistische Syllogismusmodell einmal mehr als unrealistisch erweisen 189 . 187
Dazu F. Müller, Die Einheit der Verfassung, 1979, 12ff., 80ff. 1 88 I n der Folge der Entscheidungen BGHZ 26, 349ff. - BGHZ 35, 363ff. BVerfGE 34, 269ff. 189 Vgl. etwa BVerfGE 34, 269ff., 287 (Soraya). Unhaltbar ist auch die Aussage dieser Entscheidung, nach der Richterrecht nicht gesetzt werde, sondern „zu finden" sei. Vgl. ferner Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. Aufl. 1960, z.B. 247f., 250f., 255; Theodor Geiger, Vorstudien zu einer Soziologie des Rechts, 1964, z.B. 174, 175, 196; Isay, Rechtsnorm und Entscheidung, 1929, z.B. 20, 25; zu den Grenzen ebd., 244; Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 5. Aufl. 1983, z.B. 351, 354 zur „gesetzesübersteigenden Rechtsfortbildung"; ders. Richterliche Rechtsfortbildung als methodisches Problem, NJW 1965, Iff., wo die Gerichte einerseits das Recht fortbilden, „indem sie es anwenden", aber andererseits es bei der „eigentlichen" richterlichen Rechtsfortbildung dem Richter bewußt sein soll, „daß er selbst eine Regel aufstellt, die er dem Gesetz nicht unmittelbar (!) entnommen hat"; ebd., l f . - Ausrufzeichen nicht im Original. Ferner Canaris, Die Feststellung von Lücken im Gesetz, 2. Aufl. 1983, z.B. 16, 20, 30, 33 zur „zulässigen Gesetzesfortbildung praeter legem"; Wank,
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3. Was sollte als „Richterrecht" bezeichnet werden?
Der gelegentlich anzutreffende Versuch, zwischen „faktischer Geltung" und „echter Rechtsquellenqualität" des Richterrechts zu unterscheiden und dieses dadurch zulänglich zu umschreiben, scheitert ebenfalls. Das Problem des Richterrechts läßt sich nicht diskutieren, „ohne daß geklärt ist, ob wir es überhaupt mit,Recht' zu tun h a b e n " 1 9 0 . Es geht nicht nur darum, daß „die Rechtsprechung auf Grund ihrer Kompetenzen ihre eigenen Entscheidungsgrundlagen bilden kann und damit die aktuelle Rechtslage bestimmt". Es ist kein „nachrangiges Problem", ob die Entscheidungen „für die Zukunft präsumtiv verbindlich oder unverbindlich sind". Auch bei Annahme ihrer formellen Unverbindlichkeit, ihrer angeblich ,nur faktischen' Geltung darf der Richter nicht etwa Rechtsnormen entwickeln und Entscheidungsnormen setzen, für die er sich methodisch nicht mehr an Normtexten des geltenden Rechts ausweisen kann. Denn das geltende Recht ,gilt' immer hier und jetzt, das heißt jeweils für diesen vorliegenden Fall. Es läßt sich eben nicht sagen, vorliegend respektiere man es zwar nicht; das schade aber nichts, weil eine Entscheidung ohne Rückhalt im geltenden Recht ja nur faktische, nicht aber juristische Geltung beanspruche, weil sie für die Zukunft nicht als präsumtiv verbindlich behauptet werde. Dem steht die Gesetzesbindung der rechtsprechenden Gewalt entgegen, die eine Bindung im Fall ist. Vor diesem Hintergrund ist es auch nicht sinnvoll,, das von den Rechtsquellenfragen abgespaltene Richterrecht nur noch als „den richterlichen Anteil an der Rechtsbildung" zu bezeichnen 191 . Desgleichen führt die Behauptung in die Irre, „daß vom Boden der Methodenlehre über seine (sc. des Richterrechts) Zulässigkeit oder Unzulässigkeit nichts ausgesagt werden" könne. Juristische Methodik sagt Wesentliches zu diesem Thema, Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung, 1978, z.B. 71 zur „gesetzesimmanenten Rechtsfortbildung"; Koch / Trapp, Richterliche Innovation - Begriff und Begründbarkeit, in: Harenburg / Podlech / Schlink (Hrsg.), Rechtlicher Wandel durch richterliche Entscheidung, 1980, 83ff., z.B. 87ff., 89f., 107: „Richterrechtliche Innovation" stelle sich als Auswahl zwischen den logisch möglichen extensionalen oder intensionalen Alternativen heraus, sei im wesentlichen eine (partielle) Füllung von semantischen Spielräumen; Koch / Rüßmann, Juristische Begründungslehre, 1982, z.B. 248f.; P. Kirchhof, Rechtsquellen und Grundgesetz, in: Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz, Bd. 2, 1976, 50ff., 99f.: „Richterliche Rechtsschöpfung vervollständigt auslegungsbedürftige Gesetzesbegriffe, ergänzt gesetzliche Generalklauseln als Stück offengelassener Gesetzgebung und bildet Regeln, die im Gesetz nicht vorgegeben sind"; H.-P. Schneider, Richterrecht, Gesetzesrecht und Verfassungsrecht, 1969, z.B. 27: Zum Bestimmungskriterium des Richterrechts dürfe nicht die Nähe zum Gesetz gemacht werden, weil sonst die unfruchtbare Trennung von Gesetz und Richterspruch reproduziert werde; es sei prinzipiell unmöglich, zwischen richterlicher Rechtsgestaltung und Rechtsschöpfung eine sinnvolle Grenze zu ziehen; Starch, Die Bindung des Richters an Gesetz und Verfassung, VVDStRL 34 (1975), 43ff., 70: Zwischen Rechtsfortbildung und bloßer Auslegung lasse sich keine Grenze finden; es handle sich nur um die Abgrenzung der Funktionenbeschreibung von Rechtsprechung und Gesetzgebung; Richterrecht entfalte nur „faktische Geltung". 190 Dem entgegengesetzt aber J. Ipsen, Richterrecht und Verfassung, 1975, 61; die im Text folgenden Zitate ebd. 191 J. Ipsen, Verfassungsrechtliche Schranken des Richterrechts, DVB1. 1984, 1102ff., 1103. Ebd. das im Text folgende Zitat.
3.3 Das Phänomen „Richterrecht"
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nämlich zunächst: ab wann eine methodisch vertretbare Rückführung der im Fall gebildeten Rechts- und Entscheidungsnorm auf einen Normtext des geltenden Rechts nicht mehr stattfinden kann, ab wann also sinnvoll überhaupt von einem Hchterrechtlichen A k t zu sprechen ist. Dessen Legitimität und Legalität entscheiden sich dann nach methodenrelevanten Normen der Verfassungsordnung, deren Heranziehen und Verarbeiten mit Hilfe methodischer Regeln ebenfalls eine (traditionell übrigens so gut wie ganz verkannte) Aufgabe juristischer Methodik ist. Die Funktion richterrechtlichen Entscheidens wird zutreffend gesehen, wo von „freier Rechtsfindung" jenseits von Gesetz, Gewohnheitsrecht und Analogie gesprochen wird, in welcher „der Richter vollständig in der Rolle eines Gesetzgebers" stehe und „eine Normregel" im generellen und abstrakten Sinn aufstelle 192 . Bei dieser Bestimmung sind Rechtsnorm und Normtext, wie gewöhnlich, nicht unterschieden; funktionell ist der Vorgang jedoch richtig erfaßt. I n eine derartige Rolle begibt sich der Richter, sobald er den Bezirk abgeleiteter Legitimität verläßt, in dem sich seine Entscheidung (wie auch die Entscheidungen im Bereich der Exekutive) methodisch auf das Gesetz, besser: auf den Normtext, zurückführen läßt 1 9 3 . Richtersprüche, die in diesen Bereich vorstoßen, sind „richterliche Gesetzgebung, keine Rechtsschöpfung"; sie sind, weil von der Basisfunktion des Gesetzes nicht gerechtfertigt - genauer: weil nicht mehr auf Normtexte methodisch rückführbar - „nichts als Willkür" genannt worden. In dieser Bewertung ist jedenfalls das tief in die Kompetenzordnung und die gewaltenteilende Architektonik des Grundgesetzes Eingreifende erfaßt, das richterrechtlichen Akten eigen ist. Freie Rechtsfindung, „gesetzesfreie richterliche Tätigkeit" 1 9 4 , ist in der Tat in existentieller Verlegenheit, sich vor Art. 20 Abs. 3 und Art. 97 Abs. 1 GG rechtsstaatlich ehrlich behaupten zu können. Wo „alle Mittel der Interpretation nicht ausreichen", hat die seit langem herrschende Lehre, dem „Dogma von der Geschlossenheit des Rechtssystemes" zuliebe, „den Richter verpflichtet, durch schöpferische Tätigkeit die Rechtsordnung . . . zu ergänzen" 195 . Das vorgeblich antipositivistische Konzept vom Richterrecht wird gebraucht, um eine verlorengegangene Illusion des Gesetzespositivismus, auf einem Umweg und ohne Rücksicht auf rechtsstaatliche und demokratische Verluste, scheinbar doch noch am Leben zu erhalten.
192
Bartholomeyczik, Die Kunst der Gesetzesauslegung, 2. Aufl. 1960, 119f. Adolf Arndt, Gesetzesrecht und Richterrecht, NJW 1963,1273 ff., 1280. Ebd. die im Text folgenden Zitate. 194 Meier-Hayoz, Der Richter als Gesetzgeber, 1951, 38. 195 Georg Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 5. Neudruck der 3. Aufl. 1966, 356f.; vgl. auch ebd., 619f. 193
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3. Was sollte als „Richterrecht" bezeichnet werden? 3.32 Umschreibung des Phänomens
Der Ausdruck „Richterrecht" und seine synonym gebrauchten Varianten sind dann sinnvoll zu verwenden, wenn neben den vorhandenen, nach Meinung des Gerichts auf den Rechtsfall nicht passenden Normtexten durch Richter ein weiterer eingeführt wird. Da unter „Normtext" nur der von den zentralen Instanzen formulierte und in Geltung gesetzte amtliche Wortlaut von Rechtsvorschriften zu verstehen ist, bleibt zu präzisieren: Bei einem richterrechtlichen Entscheidungsakt setzt das Gericht nicht nur, wie stets, eine Rechts- und eine Entscheidungsnorm, sondern auch bereits einen Qwasi-(oder Pseudo-) Normtext. Die Umschreibung eines Falls von Richterrecht hat eine rechtstheoretische, eine methodologische und eine normative Seite. Von der Rechts(norm)theorie her kommt die systematische Unterscheidung von Normtext, Rechtsnorm und Entscheidungsnorm. Methodologisch ist die Frage, ob Richterrecht vorliegt; ob also die im Fall erstellte Rechtsnorm auf einen Normtext zurückgeht, der in der vorhandenen Normtextmenge des geltenden Rechts enthalten ist, oder auf einen im Verlauf der Fallösung frei formulierten Quasi-Normtext. Normativ ist die Frage nach der (verfassungs-)rechtlichen Zulässigkeit solchen Tuns. Denn unter Aufgreifen eines nach Ansicht des Gerichts dringenden gesellschaftlichen Regelungsbedarfs, dem die Legislativorgane (noch) nicht genügt haben, hat hier eine im System der Gewaltenteilung zum Bilden von Rechts- und Entscheidungsnormen berechtigte Instanz zusätzlich einen Quasi-Normtext gesetzt. Dieser beeinflußt zunächst die den Fall dirigierende Rechts- und die ihn entscheidende Entscheidungsnorm. Er hat ferner die Tendenz, im weiteren Verlauf der Rechtsentwicklung wie ein im Legislatiwerfahren gesetzter amtlicher Normtext behandelt zu werden 1 9 6 . Richterrechtlich wird dort entschieden, wo die Entscheidungs- und die Rechtsnorm nicht bestimmten Normtexten aus der Normtextmenge des geltenden Rechts methodisch zugerechnet werden können. In dieser Aussage verknüpfen sich methodologische mit verfassungsrechtlichen Faktoren, sind mit anderen Worten methodenrelevante Normen, vor allem aus den Bereichen von Rechtsstaat und Demokratie, mit im Spiel. Das liegt an der Eigenart der sogenannten Wortlautgrenze einer demokratisch gebundenen, rechtsstaatlich geformten Arbeitsmethodik der Juristen. Der Wortlaut einer Vorschrift hat nur in den seltenen Fällen echter Subsumtion Bestimmungsfunktion, in aller Regel dagegen in positiver Richtung Indizwirkung, in negativer eine Grenzwirkung. Der Wortlaut der Norm bildet aus verfassungsrechtlichen Gründen die Grenze des Spielraums zulässiger Konkreti196 Vgl. F. Müller, Juristische Methodik und Politisches System, 1976, 82ff., 84ff.; insoweit jetzt unter Korrektur der Terminologie von ebd., 83f.
3.3 Das Phänomen „Richterrecht"
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sierung. Das heißt nicht, die Entscheidung müsse „sich aus dem Wortlaut ergeben", was eben nur in raren Grenzfällen feststellbar ist. Sie muß aber mit dem Wortlaut jedenfalls noch vereinbar sein. Das ist keine methodologische, sondern eine normative Aussage. Die Wortlautgrenze bildet die rechtsstaatlich-demokratisch angeordnete Linie nicht einer methodologisch möglichen, sondern einer positivrechtlichen zulässigen Konkretisierung 197 . Die Grenzfunktion des Wortlauts ist also nicht identisch mit der Konkretisierungsfunktion (Indizwirkung) des grammatischen Auslegungselements. Denn die Entscheidung klebt nicht am unvermittelten Wortlaut, beschränkt sich nicht auf Textinterpretation. Die im Fall formulierten Entscheidungsund Rechtsnormen müssen jedoch mit dem im vorherigen Entscheidungsvorgang voll konkretisierten Normtext jedenfalls noch vereinbar sein; dieses Urteil verlangt im Fall der Verneinung - „jedenfalls nicht mehr vereinbar" - Eindeutigkeit. Bleibt die Frage mindestens zweideutig, so kann eben nicht gesagt werden, der Spielraum jedenfalls noch möglicher Verständnisvarianten der interpretierten Sprachdaten sei verlassen. Wenn dabei im Einzelfall mehrere Konkretisierungselemente primärsprachlicher Art (Sprachdaten) zu demselben Ergebnis führen, so stellt sich die Wortlautgrenze als Normprogrammgrenze dar. Gibt es dagegen bei methodologischen Konflikten unter den einzelnen Konkretisierungsfaktoren den Grenzfall, daß sich allein das grammatische Argument durchsetzt 198 , so trägt für diese Fälle die Wortlautgrenze ihren Namen zu Recht. Es ist dann der in herkömmlicher Methodenlehre unklar so genannte „mögliche Wortsinn", der nicht mehr unvermittelte, sondern grammatisch ausgelegte Normtext, welcher die normativ begründete letzte Auffanglinie für die rechtsstaatliche Forderung nach Verfassungs- und Gesetzesbindung, einschließlich der sich daran knüpfenden weiteren rechtsstaatlichen Normen (wie Vorrang-, Vorbehalts-, Kollisions-, Maßstabs- und Kontrollnormen), realisieren h i l f t 1 9 9 . Bei richterrechtlichen Entscheidungen sind die im Fall gesetzten Rechtsund Entscheidungsnormen jedenfalls nicht mehr einem der Normtexte des geltenden Rechts zuzurechnen, ist ein Pseudo-Wortlaut außerhalb der Textmenge des geltenden Rechts als geltend unterstellt und in den Entscheidungsvorgang eingeführt worden. Fehlt der von den Legislativorganen vor197 Dazu eingehend und m.Nwn. F. Müller, Juristische Methodik, 2. Aufl. 1976, z.B. 148ff., 217ff., 224ff., 267f.; ders. Rechtsstaatliche Methodik und politische Rechtstheorie, in: Rechtsstaatliche Form - Demokratische Politik, 1977, 271ff., 274f. - Zur Rolle des Wortlauts der Vorschrift im Rahmen der Präferenzregeln bei methodologischen Konflikten: ders., Juristische Methodik, 2. Aufl. 1976,198ff., 199f., 203, 205f. 198 Dazu F. Müller, Juristische Methodik, 2. Aufl. 1976, 205, 206. 199 Zum Verhältnis von Rechts(norm)theorie und juristischer Methodik zur Linguistik: F. Müller, Strukturierende Rechtslehre, 1984, 372ff. m.Nwn.; zur pragmatischen Wende in der Linguistik ebd., 374ff., 377; sowie Hegenbarth, Juristische Hermeneutik und linguistische Pragmatik, 1982. - Zum Stand der Problematik vgl. ferner Christensen, Die Wortlautgrenze der juristischen Methodik als linguistisches Problem (in Vorbereitung); Kromer, Wortsinn und Theorie der Wortlautgrenze (in Vorbereitung).
6 F. Müller
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3. Was sollte als „Richterrecht" bezeichnet werden?
gegebene Normtext, so fehlt zwar nicht ein methodisch mögliches, wohl aber ein verfassungsrechtlich vertretbar erstellbares Normprogramm. Dagegen sind Sachbereich und Fallbereich 200 nicht nur vorhanden, sondern für das Gericht sogar von leitender Bedeutung: steht doch das ,rechtspolitische Bedürfnis' für die Richter so stark im Vordergrund, daß sie den rein tatsächlichen Sach- bzw. Fallbereich in eine quasi-normative Funktion schieben, aus welcher er einen von ihnen zugleich frei formulierten Pseudo-Normtext sowie ein mit Hilfe von dessen Sprachdaten konkretisiertes Normprogramm rechtfertigen soll. Anders gesagt, arbeitet das Gericht im Fall von Richterrecht konstitutiv aus dem Sach- und Fallbereich, ohne einen Normbereich 201 erstellen zu können. Das liegt daran, daß mangels eines offiziellen Normtextes kein rechtsstaatlich korrektes Normprogramm erzielbar ist, das seinerseits helfen könnte, die Faktoren des Normbereichs aus denen des Sach- und Fallbereichs zulässig zu selektieren. Bei dem qualitativen Begriff „Normprogramm" ist notwendig unterstellt, daß der Ausgang der Konkretisierung (außer in den Fällen von Gewohnheitsrecht) von einem amtlichen Normtext genommen wird. Er setzt weiter voraus, daß das Ergebnis der Interpretation der Sprachdaten, das Normprogramm, methodisch auf den Normtext und, falls keine methodologischen Konflikte vorliegen, auch auf die anderen primärsprachlichen Konkretisierungselemente zurückgeführt werden kann. Zwanglos herangezogene Formeln wie „Billigkeit", wie die „allgemeine Rechtsidee" oder „die Bedürfnisse des Rechtsverkehrs" sind keine Normtexte im Sinn der demokratisch-rechtsstaatlichen Verfassungsordnung, vermögen solche auch nicht zu ersetzen. Normstrukturell 202 sind die echten Fälle von Richterrecht durch das Fehlen eines Normtextes gekennzeichnet, daher auch durch das Fehlen eines korrekten Normprogramms; ferner durch das Vorherrschen rein tatsächlicher Sachargumente und durch deren Verbleiben in der nicht-normativen Gestalt des Sach- und Fallbereichs, ohne daß sie zu einem normativ relevanten Normbereich werden könnten. Trotzdem wird richterlich so gehandelt, als lägen am Ende der Konkretisierungsarbeit für die Realdaten ein Normbereich und für die Sprachdaten ein Normprogramm vor; mit anderen Worten die Strukturbestandteile einer Rechtsnorm, die in der rechtsstaatlichen gewaltenteilenden Demokratie die legitimierende Größe für richterliches 200
356f.
Zu den Begriffen F. Müller, Strukturierende Rechtslehre, 1984, z.B. 251, 254ff.,
201 Zu diesem Begriff F. Müller, Juristische Methodik, 2. Aufl. 1976, z.B. 117ff., 120ff., 180ff., 269ff.; ders., Strukturierende Rechtslehre, 1984, z.B. 117f., 132, 137ff., 142ff., 184ff., 323ff. 202 Zur Unterscheidung und gegenseitigen Zuordnung von Normstruktur - Textstruktur - Geltungsstruktur vgl. F. Müller, Juristische Methodik und Politisches System, 1976, 94ff.
3.3 Das Phänomen „Richterrecht"
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Tun, für den Ausspruch von Entscheidungsnormen darstellt. Im Fall von Richterrecht wird eine außernormativ abgestützte, nicht dem positiven Recht eingegliederte Entscheidungsnorm gesetzt, die gleichwohl für die Betroffenen Verbindlichkeit beansprucht. Ob das nicht ,erkennende', sondern frei setzende Gericht darüber hinaus seinen A k t für die Zukunft als verpflichtend akzeptiert sehen möchte oder nicht, spielt weder für die Umschreibung des Phänomens noch für seine Zulässigkeit eine Rolle. In jedem Fall liegt das Problem des Richterrechts in der Frage nach der Kompetenz zur Normtextsetzung. 3.33 Ausschluß der „falschen Entscheidung"
Eine Entscheidung, die durch sie eingeführte Rechts- bzw. Entscheidungsnorm, ist dann und darum als ,falsch' zu bezeichnen, wenn und weil sie nicht mehr am positiven Recht gerechtfertigt werden kann; wenn sie mit der Grenzfunktion des Wortlauts im erläuterten Sinn jedenfalls nicht mehr vereinbar ist. Sie ist dann rechtswidrig, wobei in „-widrig" nicht nur der Vorrang des Gesetzes (kein Gesetzes verstoß!), sondern auch der Vorbehalt des Gesetzes (kein Handeln ohne gesetzliche Grundlage!) systematisch miterfaßt ist. Gemessen am geltenden Recht, besteht also zwischen falscher und deshalb rechtswidriger Entscheidung' und ,richterrechtlicher und daher rechtmäßiger Entscheidung' kein normbezogen-methodologischer, auch kein dogmatischer Unterschied. Der Unterschied liegt nur in der abweichenden rechtspolitischen Einstellung 203 . Obgleich der richterrechtliche Akt am geltenden Recht nicht mehr ausgewiesen werden kann, soll er gleichwohl - im Bewußtsein dieser Tatsache - ausnahmsweise nicht als ,rechtswidrig', sondern als ,rechtmäßig' behandelt werden - unter Berufung auf (der Normtextmenge des geltenden Rechts fremde) Nicht-Normtexte globalen Zuschnitts („Praktikabilität", „Einzelfallgerechtigkeit", „Rechtsidee", und ähnliches). Adressaten dieses paradoxen Legitimitätsanspruchs sind zunächst die Mitglieder des Richterrecht setzenden Gremiums selbst, sodann die von der Entscheidung begünstigten Betroffenen und die durch sie Benachteiligten; weiterhin andere Instanzen der rechtsprechenden Gewalt und über diese auf längere Sicht auch ein beträchtlicher Teil der wissenschaftlichen Diskussion. Die rechtswidrige', weil (ebenfalls) an den Normtexten des geltenden Rechts nicht mehr methodisch ausweisbare Entscheidung erhebt dagegen solche Ansprüche nicht; sie beansprucht nur, und zwar vergeblich, rechtmäßig, weil am geltenden Recht legitimiert zu sein. 203 Ygi auch Larenz, Richterliche Rechtsfortbildung als methodisches Problem, NJW 1965, Iff.: Beim eigentlichen Richterrecht ist es dem Richter „bewußt, daß er selbst eine Regel aufstellt, die er dem Gesetz nicht unmittelbar entnommen hat"; ebd., 2. 6*
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3. Was sollte als „Richterrecht" bezeichnet werden?
Der Ausdruck „Richterrecht" ist somit nicht sinnvoll für falsch oder auf unkorrekte Art erweiternd oder verengend konkretisiertes Gesetzesrecht. Dieser Typus bleibt im Rahmen nicht-richterrechtlicher Rechtslehre und Methodik. Er ist lege artis unter Rückführung auf Normtexte des positiven Rechts lösbar, wenn auch die entscheidende Instanz der lex artis nicht genügt hat. 3.34 Ausschluß des Problems der Generalklauseln
Nach einer in Rechtsprechung und Literatur anzutreffenden Meinung soll Richterrecht mit dem Phänomen der Generalklauseln besonders verbunden sein. Als eine „herkömmliche und stets bewältigte richterliche Aufgabe" wird vom Bundesverfassungsgericht seit der Gleichberechtigungs-Entscheidung im 3. Band 2 0 4 die „schöpferische Füllung weiter Lücken auf der Grundlage einer richtungsweisenden Klausel" bezeichnet. Richterliche „Sätze, welche Generalklauseln des Gesetzes konkretisieren", sollen zum unbezweifelbaren Bestand des Richterrechts gehören, zum Beispiel Entscheidungen zu Vorschriften wie § 138 BGB (gute Sitten), zu § 242 BGB, zur Verwirkung, und ähnliches 205 . Generalklauseln sollen, wie auch die sogenannten unbestimmten Rechtshegriffe, „nur einen geringen normativen Gehalt auf weisen" und „den Rechtsanwender zu eigener Normbildung . . . ermächtigen". Deswegen wachse der „richterliche Anteil an der Rechtsbildung" mit „zunehmender legislatorischer Verwendung unbestimmter Rechtsbegriffe und Generalklauseln" 206 . Die Verknüpfung von Generalklauseln mit Richterrecht ist deshalb fragwürdig, weil dabei nach ihrer Struktur sowenig gefragt wird wie nach der von Rechtsnormen überhaupt; weil Generalklauseln, wie alle Rechtsnormen, mit ihren Normtexten identifiziert werden und nur als besonders allgemein gehaltene, als besonders vage „Normen" gelten. Damit geklärt werden kann, ob sie wirklich etwas Spezifisches mit Richterrecht zu tun haben oder nicht, müssen sie ebenso wie dieses strukturell dechiffriert werden. Wird Generalklauseln ein nur „geringer normativer Gehalt" zugeschrieben, so erklärt sich das aus der Verwechslung von Normtext und Norm. Die normative Wirkung von Generalklauseln ist grundsätzlich ebenso groß wie die anderer Vorschriften, oft sogar ungewöhnlich ausgeprägt. Besonderheiten weist hier nicht die Norm auf, wohl aber der Normtext. Insofern müssen 204
BVerfGE 3, 225ff., 243; vgl. z.B. auch 13, 153ff., 164; 49, 89ff., 133ff. Coing , in: Staudinger / Coing, Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, 12. Aufl. 1980, Einleitung Rdnr. 215. 206 J. Ipsen, Verfassungsrechtliche Schranken des Richterrechts, DVB1. 1984,1102; ders., Richterrecht und Verfassung, 1975, 63f. 205
3.3 Das Phänomen „Richterrecht"
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auch Aussagen berichtigt werden, Generalklauseln stellten „unvollständige Normen" oder lediglich „Normfragmente" dar 2 0 7 . Gegenüber diesen früheren Formeln ist klarzustellen, daß Generalklauseln als Rechtsnormen vollständig sind. Ist ein Sachverhalt mit Hilfe einer Generalklausel zu entscheiden, so wird auch hier eine Entscheidungsnorm sowie - zeitlich im Arbeitsprozeß vor dieser - eine Rechtsnorm gebildet, die aus Normprogramm und Normbereich besteht. „Unvollständig" ist bei Generalklauseln nur die Dichte des Normtexts. Als Rechtsnormen bieten sie keine besonderen Probleme; sie stellen dagegen insofern höhere methodische Anforderungen an ihre Bildung durch die fallentscheidende Stelle, als die positive Konkretisierungsleistung des grammatischen Elements, die Signalwirkung des Normtexts, hier geringer als üblich ist. Wenn es so sein sollte, daß Richter angesichts von Generalklauseln zur Rechts „fortbildung" gesteigert aufgerufen und berufen sind, dann fragt es sich, worin diese Steigerung ihrer Kompetenz bestehen soll: nur darin, wie immer Rechtsnormen und Entscheidungsnormen zu setzen, dabei aber an einen ungewöhnlich vagen Normtext entsprechend schwächer gebunden zu sein? Oder muß darin eine partielle Delegation an die konkretisierenden Stellen gesehen werden, Sub-Normtexte zu setzen und erst von diesen aus, zusammen mit dem Sachverhalt, Rechtsnormen und Entscheidungsnormen zu entwickeln? Eine Generalklausel könnte Richter - allerdings dann auch sonstige Rechts,anwender' - de iure ermächtigen, Sub-Normtexte zu schaffen, aufgrund von deren Indizwirkung und in deren Grenzen Rechtsnormen zu bilden und diese zu Entscheidungsnormen zu individualisieren. Es wäre dies eine Zwischenform der Rechtsentscheidung auf einer Skala, deren eines Ende durch ,Entscheidung ohne Normtext (Richterrecht) 4 und deren anderes durch ,Entscheidung unter akzeptabler Rückführung auf Normtexte' bezeichnet sind. Generalklauseln wären dann Ermächtigungsgrundlagen zum Setzen von Sub-Normtexten und zu einer hieran anschließenden f o r malen' Konkretisierung. Wäre dies richtig, so müßte das Verhältnis des zu bildenden Sub-Normtextes zum vorhandenen Normtext der Generalklausel geklärt werden. Wird dieser so ernst genommen, wie er es als ein Wortlaut des geltenden Rechts verdient und fordert, dann ist kein Grund ersichtlich, von einem Sub„ Norm text" zu sprechen und nicht vielmehr vom Normprogramm oder einem Teil des Normprogramms der im Ausgang vom Wortlaut zum Beispiel der §§ 242, 826 BGB konstruierten Rechtsnorm. Andernfalls würde der Wortlaut der Generalklausel entwertet; der ,wahre' Normtext wäre der vom Richter oder vom sonstigen Rechts,anwender' gesetzte Subnormtext. Das 207 So aber F. Müller, Juristische Methodik, 2. Aufl. 1976, z.B. 273f.; ders., Fallanalysen zur juristischen Methodik, 1974, 14; ders., Strukturierende Rechtslehre, 1984, 201f.
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3. Was sollte als „Richterrecht" bezeichnet werden?
wäre unzulässig, da auch die Wortlaute von Generalklauseln gleichwertig zum geltenden Recht gehören. Sie sind allerdings vager als die üblichen; das ist aber eine Frage auf anderer Ebene. Methodenrelevante Normen, vor allem Art. 20 Abs. 3 und 97 Abs. 1 GG, verhindern es, den amtlichen Wortlaut generalklauselartiger Vorschriften des geltenden Rechts zu leicht zu nehmen. Davon abgesehen, ist rechtstheoretisch in der Hypothese der Setzung richterrechtlicher Subnormtexte kein besonderer Gewinn zu erkennen. Von der den Richtern übertragenen rechtlichen Entscheidungsmacht her beurteilt, ermächtigt also eine Generalklausel die fallentscheidende Instanz zu nichts anderem als sonstige „Normen" (recte: Normtexte) auch. Gemäß der üblichen Vermischung der Begriffe ist das, was als „Generalklausel" bezeichnet wird, nicht diese selbst, sondern ihr Wortlaut. Der Wortlaut ist weder selbst Rechtsnorm noch ein begrifflicher Normbestandteil 208 . Darum ist es nicht länger sinnvoll, Generalklauseln als „Normfragmente" oder als „unvollständige Normen" zu bezeichnen; dem liegt immer noch die Vermischung von Norm und Normtext jedenfalls in der abgeschwächten Form zugrunde, den Wortlaut in die Rechtsnorm als deren begrifflichen Bestandteil einzugliedern. Dagegen hat es sich als korrekt herausgestellt, den Normtext zusammen mit dem Fall nur als Eingangsdatum des Konkretisierungsvorgangs aufzufassen. Die Richter setzen demnach auch in solchen Fällen, in denen zu den Eingangsgrößen ihres Arbeitsvorgangs Normtexte gehören, die man „Generalklauseln" nennt, in methodischer Orientierung an diesen eine Rechtsnorm (Normprogramm und Normbereich) und individualisieren sie abschließend zur Entscheidungsnorm. Die so erzeugten Rechts- und Entscheidungsnormen sind normal, nicht etwa fragmentarisch. So könnte allenfalls der Wortlaut, der besonders unbestimmt gefaßte Rechtssatz, genannt werden. Er ist gesteigert vage, wenn auch auf seine Art vollständig. Von Unvollständigkeit könnte, verglichen mit üblichen Normtexten, nur in zweierlei Hinsicht gesprochen werden: einmal dort, wo vage Wortlaute auf außergesetzliche (nicht notwendig: außerrechtliche) Maßstäbe wie „Treu und Glauben", „Verkehrssitte", „gute Sitten" oder auf naturwissenschaftlich kontrollierbare Standards wie „Stand der Technik" verweisen 209 . Hierin ist allerdings kein qualitativer, nur ein gradueller Unterschied zu sehen, da auch bei normalen Normtexten Sachbereich und Normbereich zu ermitteln und methodisch zu vermitteln sind; und zwar auch dann, wenn ausdrückliche Verweisungen im Normtext fehlen. Zweitens könnte von einer Unvollständigkeit 208 Dazu eingehend F. Müller, Strukturierende Rechtslehre, 1984, z.B. 230ff., 234ff., 263ff. 209 Zum Problem der technischen Standards und ihrer rechtlichen Bewältigung F. Müller, Strukturierende Rechtslehre, 1984, 275f., 395f., m.Nwn. zur zivilrechtlichen und öffentlich-rechtlichen Diskussion.
3.3 Das Phänomen „Richterrecht"
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vager Wortlaute in bezug auf die Dichte der Signale gesprochen werden, die sie dem Rechtsarbeiter zur Verfügung stellen. Sie ergeben für die positive Konkretisierungsleistung des grammatischen Elements (Signalwirkung, nur in den seltenen Grenzfällen echter Subsumtion Bestimmungswirkung) verhältnismäßig wenige Argumente. Überdies haben Generalklauseln einen breiten Sachbereich; ihr vager Normtext gibt entsprechend weniger Anhaltspunkte dafür, den Normbereich aus diesem zu selektieren. Mit anderen Worten, Normbereich und Sachbereich decken sich hier quantitativ weitergehend als normalerweise; Sachverhalt und Fallbereich stehen dort, wo mit Hilfe einer Generalklausel zu entscheiden ist, ungewöhnlich stark im Vordergrund. Die zu konstruierende Rechtsnorm und die aus ihr individualisierte Entscheidungsnorm sind am Ergebnis der interpretierten Sprachdaten entsprechend weniger exakt kontrollierbar. Anders gesagt, gibt hier der Normtext auch in seiner zweiten Funktion, der negativen Grenzwirkung im Sinn der Wortlaut-/Normprogrammgrenze, weniger Hinweise als sonst. Die Aussage, eine Rechtsentscheidung sei jedenfalls nicht mehr mit dem Normprogramm (beziehungsweise, in Grenzfällen, dem grammatisch ausgelegten Normtext) vereinbar, w i r d bei Generalklauseln erheblich seltener gemacht werden können, da sie - hier wie stets - Eindeutigkeit beansprucht 2 1 0 . Konkretisierungsvorgänge solcher Art haben somit nur das Besondere, daß die in ihnen erstellten Rechts- und Entscheidungsnormen von besonders vagen Normtexten ausgehen. Für die Frage nach dem Richterrecht besagt das nur, daß Fälle richterrechtlichen Entscheidens (Setzen von Rechts- und Entscheidungsnormen außerhalb jeder Rückführbarkeit auf Wortlaute des geltenden Rechts) hier entsprechend seltener behauptbar, weil methodisch schwerer nachweisbar sind. Trotzdem sind solche Fälle möglich. So könnte sich eine Entscheidung nicht mehr auf § 242 BGB berufen, wenn „Treu und Glauben", insoweit mit dem vagen Normtext nicht mehr vereinbar, von jedem Element des Vertrauens subjektiv und objektiv abgekoppelt würden, wenn also Faktoren wie Voraussehbarkeit, Gegenseitigkeit, Kontinuität des rechtlichen Handelns der Beteiligten keine Rolle mehr spielten und „Treu und Glauben" zu einer davon unabhängigen, vom Gericht autoritär umdefinierten Leerformel würde. Unter „guten Sitten" dürften nicht der Standard der sogenannten Ganovenehre, das Gruppenverständnis der Mafia, die besonderen Glaubensinhalte einer bestimmten Kirche oder Sekte und ähnliches unterstellt werden. „Verkehrssitte" dürfte nicht jeden Bezug zu empirisch feststellbaren Erwartungs- und Verhaltensmustern innerhalb der betreffenden Rechtsordnung oder des von der Entscheidung berührten Sektors der Gesellschaft verloren haben, und so weiter. 210 Zum Erfordernis der Eindeutigkeit in solchen Fällen: F. Müller, Rechtsstaatliche Methodik und politische Rechtstheorie, in: Rechtsstaatliche Form - Demokratische Politik, 1977, 271 ff., 274f.
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3. Was sollte als „Richterrecht" bezeichnet werden?
Es ist demnach möglich, selbst dort Richterrecht zu bilden, wo eine Generalklausel den Fall oder den fraglichen Teil des Rechtsfalls regiert. Umgekehrt bedeutet die Rechtsentscheidung anhand einer Generalklausel nicht, es werde hier notwendig Richterrecht gesetzt. Generalklauseln bilden für die Frage nach dem Richterrecht qualitativ wie systematisch kein Sonderproblem 2 1 1 . 3.35 „Richterrecht" vor dem Hintergrund der Verfassungslehre
Verfassungstheoretisch wirft Richterrecht zunächst die Frage nach Verteilung und gegenseitiger Bindung der Staatsgewalten (das rechtsstaatliche und demokratische Problem der Gewaltenteilung) und vor allem nach der konkreten Art und Weise auf, in der diese realisiert werden. Nach der bisherigen Analyse lautet die Alternative nicht „Subsumtion oder Richterrecht". Vielmehr hat sich „Konkretisierung statt Subsumtion" als ein Ergebnis herausgestellt, mit dem sich auch die Frage nach dem Richterrecht beantworten läßt. Im Rahmen der Strukturierenden Rechtslehre und Verfassungstheorie sind die gewaltenteilenden Staatsfunktionen genauer zu umschreiben. Die alte Vorstellung einer der Gesetzgebung gegenübergestellten »ausführenden Gewalt 4 , also der ,Anwendung von Gesetzen4 sowohl in der Exekutive als auch in der Judikative, stellt sich nun dar als Konkretisierung (= Erarbeitung, Konstruktion) von Rechtsnormen, die methodisch auf Normtexte des geltenden Rechts zurückführbar sind, und anschließend als Individualisierung der soeben erzeugten Rechtsnorm zur Entscheidungsnorm in casu. Damit ist die herkömmliche, verfassungsnormativ begründete Gewaltenteilungslehre nicht etwa aufgeweicht, sondern bekräftigt. Die Funktionenlehre als Doktrin der Unterscheidung und Verteilung, des gegenseitigen Verhältnisses und der wechselseitigen Kontrolle der einzelnen Funktionen öffentlicher Gewalt kann jetzt wirklichkeitsnäher gefaßt werden: Die Instanzen der Legislative setzen real normalerweise weder Rechts- noch Entscheidungsnormen, sondern allein Wort-
211 Dem nähert sich in der Sache diejenige Rechtsprechung an, die auch im Bereich von Generalklauseln Rolle und Vorrang des Gesetzgebers betont und die es diesem verwehrt, seine Aufgaben freigebig an die Gerichte zu delegieren. Demnach müssen auch unbestimmte Gesetzesfassungen für die richterliche Konkretisierungsarbeit ein Minimum an „Inhalt" vorgeben; vgl. etwa BVerfGE 19, 354ff., 361f.; 34, 293ff., 302f.; 48, 48ff., 56; 49, 89ff., 133ff. Die zuletzt genannte Entscheidung (Kalkar-Beschluß) sieht den Vorrang des Gesetzgebers vor allem „ i n grundlegenden normativen Bereichen" darin, daß er „alle wesentlichen Entscheidungen selbst zu treffen" hat und seine Verantwortung weder auf Exekutive noch auf Judikative abwälzen darf: BVerfGE 49, 89 ff., 126. Aus der Literatur zu dieser sogenannten Wesentlichkeit s theorie etwa Oppermann, Gutachten für den 51. DJT 1976, 48ff.; Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland Bd. I, 1977, 637ff.; Wagner, DVB1. 1978, 839ff.; Wank, Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung, 1978, 233ff.
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laute. Die „gesetz"gebenden Stellen haben kraft positiven Staatsrechts die Kompetenz nur zum Erzeugen und Inkraftsetzen von Normtexten 2 1 2 . Daß es hiervon durch spezielle Verfassungsnormen begründete Ausnahmen geben kann und gibt, ändert nichts am strukturellen Typus; so beispielsweise dort, wo bestimmte Verwaltungsaufgaben auch durch Gerichte wahrgenommen werden (Justizverwaltung), wo Normtexte auch im Bereich der vollziehenden Gewalt geschaffen werden können (Erlaß von Rechtsverordnungen und Satzungen, zum Beispiel Art. 80 GG), wo Instanzen der Legislative Kontrollaufgaben ausüben (etwa Art. 44, 45 a, 45 b, 87 a Abs. 1 GG) oder anhand der Normtexte der Verfassung und einzelner Gesetze, so des Bundeswahlgesetzes, selbst Rechtsnormen und Entscheidungsnormen im Einzelfall setzen (Entscheidungen des Bundestages in Immunitätsfragen, Art. 46 Abs. 2-4 GG, oder in Wahlprüfungsfragen, Art. 41 GG) 2 1 3 . Entsprechendes gilt für die sonstigen Staatsfunktionen. Anders als die „gesetz"gebenden Instanzen, die im allgemeinen nur Normtexte hervorbringen können, trägt die „recht"sprechende Gewalt insofern einen korrekten Namen, als „Recht" mit „Rechts- und Entscheidungsnormen" gleichgesetzt werden kann. Die Judikative hat kraft positiven Verfassungs- und Gesetzesrechts die Kompetenz nur zur Setzung von Rechts- und Entscheidungsnormen, die auf - in der Regel von der Legislative erzeugte - Normtexte methodisch rückführbar sind. Positivrechtliche Ausnahmen liegen dort vor, wo die Gerichte aufgrund einzelner Ermächtigungsnormen Verwaltungsfunktionen wahrnehmen oder wo ihre Entscheidungen über die Bindungswirkung hinaus Gesetzeskraft haben - auch das nur aufgrund und im Umfang von spezialgesetzlichen Sondervorschriften 214 . Abgesehen von den gesetzlichen Ausnahmefällen, haben die Instanzen der Rechtsprechung dagegen nicht die Kompetenz, Normtexte zu setzen; es hat sich oben gezeigt, daß im Einzelfall auch das Vorliegen einer Generalklausel davon keine Ausnahme bildet. Die Stellen der vollziehenden Gewalt haben kraft Verfassungs- und Gesetzesrecht die Kompetenz, orientiert entweder an Normtexten, die sich direkt an sie wenden, oder an durch Rechts- und Entscheidungsnormen vermittelten sowie an exekutivinternen Direktiven, diese mit der Vielfalt verwaltungsrechtlicher Instrumente umzusetzen. Eine allgemeinere Form dieser Situation findet sich dort, wo die Exekutive kraft sogenannten Verwaltungsvorbehalts »ureigene4 Kompetenzen wahrnimmt, also nicht nur »Gesetze vollzieht 4 , sondern rechtlich erhebliche Fälle selbst materiell gestaltet. Auch das spielt sich nicht verfassungs- und gesetzesfrei ab, son212 Dazu grundsätzlich F. Müller, Strukturierende Rechtslehre, 1984, z.B. 234ff., 263ff., bes. 268ff., 270ff. 213 Zur Rolle des Gewaltenteilungsprinzips und seiner verschiedenen Einzelfunktionen in der Verfassungsordnung zusammenfassend Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 15. Aufl. 1985,184ff., 192ff. 2 4 1 Vgl. § 31 BVerfGG iVm. §§ 13 Nr. 6, 11, 12, 14 sowie § 13 Nr. 8a BVerfGG.
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dem in einer weniger engen, aber gleichwohl verbindlichen pflichtgemäßen Bindung an Gesetz und Verfassung. Eine wichtige positivrechtliche Ausnahme liegt dort vor, wo die Exekutive kraft spezieller Kompetenzzuweisung eine verfassungsrechtlich abgesicherte, gesetzlich delegierte und rückgebundene Setzung von Normtexten (Rechtsverordnungen, Satzungen) wahrnimmt. Dagegen ist sie nicht dazu befugt, „Exekutivrecht" als mögliche Parallele zu „Richterrecht" zu setzen, das heißt bei Nichtvorliegen eines amtlichen Normtextes einen solchen aus eigener Machtvollkommenheit zu erzeugen und die vollziehende Entscheidung sodann an diesem zu orientieren. Ebensowenig gibt es für die rechtsprechende Gewalt eine dahingehende Ausnahmevorschrift im geltenden Verfassungsrecht. Auch die vom Demokratieprinzip herkommende Seite richterlicher Gesetzesbindung kann neu formuliert werden. Die ausführenden' Gewalten Exekutive und Rechtsprechung sind nicht nur rechtsstaatlich konstituiert, eingerichtet und kontrolliert, sie sind auch demokratisch gebunden. Der einerseits legislatorische, andererseits judikative und bürokratische Anteil an der Erzeugung von Recht im allgemeinen (also am Kreislauf rechtlicher Normierung zwischen Normtextsetzung, Normverwirklichung durch Setzung von Rechts- und Entscheidungsnormen und erneuter Rechtssetzung beziehungsweise -änderung) kann mit den Begriffen von Volksrecht und Amtsrecht gebündelt werden. „Volksrecht" soll demokratisch erzeugtes Recht heißen. Hierfür gibt es die Möglichkeit des Referendums, des Volksentscheids: je nach verfassungsrechtlicher Konstruktion kann es sich um Streitentscheidung, das heißt um Rechtsnorm- und Entscheidungsnormsetzung handeln, normalerweise aber um einen materiellen Entscheid ohne Orientierung an schon vorhandenen Wortlauten, das heißt um „Gesetz"gebung in Form des Setzens von Normtexten. Wo diese Möglichkeit, wie unter dem Grundgesetz, weitestgehend ausgeschaltet ist, wo es auch keine Richter- und Beamtenwahl durch das Volk gibt und wo (anders als etwa im Staatsmodell Rousseaus oder in rätedemokratischen Konzepten) kein imperatives Mandat, kein recall von Abgeordneten, Regierungsmitgliedern oder Beamten vorkommt, dort ist die einzige durch einen realen politischen Vorgang demokratisch verankerte Möglichkeit der „Recht"setzung eben das Bilden von Eingangsdaten für Rechtsentscheidungen, das parlamentarische Formulieren und Inkraftsetzen von Normtexten 2 1 5 . Konkretes Recht des Einzelfalls, also in Gestalt von Entscheidungsnormen, wird dann nicht 2 1 6 demokratisch erzeugt. Das direkte Setzen von Entscheidungsnormen ist politisch geprägten demokratischen Verfahren in 215 Dazu im Rahmen der Rechtstheorie F. Müller, Strukturierende Rechtslehre, 1984, z.B. 270ff. 216 Außer in den verfassungsrechtlichen Spezialfiguren der Einzelfallentscheidung durch das Parlament: Wahlprüfung, Beschlüsse über Immunitätsfragen.
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aller Regel entzogen. Es bleiben nur demokratische Entscheidungen im Bereich der öffentlichen Gewalt, die vielfach vermittelt sind, die in solcher Abschwächung das direkte Setzen von Rechts- und Entscheidungsnormen in künftigen Einzelfällen vorweg zu beeinflussen versuchen. Jene die Fälle unmittelbar regelnden Akte sind dem Amtsrecht vorbehalten, nämlich gerichtlich oder bürokratisch erzeugten Fallentscheiden durch Rechts- und Entscheidungsnormen, die nicht nur aus rechtsstaatlichen, sondern nicht minder auch aus demokratischen Gründen an den demokratisch geschaffenen Normtexten müssen gerechtfertigt werden können. Die ehrliche Verpflichtung auf eine rationale Arbeitsmethodik der Juristen, die sich rechtsstaatlicher Nachprüfbarkeit bewußt unterwirft und dadurch ihre Verfassungsbindung zu verwirklichen bestrebt ist, kann dazu führen, daß die in Normtexten formalisierten Ergebnisse demokratischer Politik dann auch tatsächlich den Rechtszustand in der Gesellschaft prägen. Das Amtsrecht darf das Volksrecht nicht überspielen, sich nicht von ihm abkoppeln, es nicht auszutricksen versuchen. Ein wahrhaft klassisches Beispiel dafür, bis zu welchem Grad das unternommen werden kann, bietet die römische Rechtsgeschichte während der Jahrhunderte der Republik. Bevor der gesellschaftliche Dualismus zwischen Patriziern und Plebejern und der juristische zwischen Amtsrecht und Volksrecht unter der monokratischen Diktatur des Absolutismus der späten Kaiserzeit in sich zusammenbrach, war der institutionelle Dualismus volksrechtlicher und amtsrechtlicher Legitimität immerhin systemkonform. Dagegen beansprucht die rechtsstaatliche und demokratische Ordnung des Grundgesetzes, eine Rechtsordnung für alle zu sein, nicht ein Teilrechtssystem der herrschenden zur Niederhaltung der beherrschten Klasse. Institutionelle Vorkehrungen für diese angezielte Einheit von Recht und Verfassung sind das demokratische Erzeugen von Normtexten und die Bindung der konkretisierenden Staatsfunktionen an die in den Normtexten liegende Vorgabe. Ist das eine oder das andere nicht mehr real gewährleistet, so zerfällt die Rechtsordnung unter dem ideologischen Schein ihrer gleichheitlichen Einheit in ein demokratisch erzeugtes Volksrecht der Normtexte und ein sich von diesem im Einzelfall mehr oder weniger beliebig abspaltendes Amtsrecht. Figur und Funktion des römischen Prätors setzten aber einen nicht bloß tatsächlichen, sondern einen rechtlich gestützten Systemdualismus voraus. Mit den Legitimitätsansprüchen einer Ordnung wie der des Grundgesetzes ist kein institutionelles Doppelsystem vereinbar. Nach dem verpflichtenden Konzept des Grundgesetzes sollen Recht und Verfassung nicht als Waffenstillstandslinie im latenten Bürgerkrieg, nicht als ein mit methodisch doppelter Moral geführtes Instrument in einer Auseinandersetzung ohne Waffengleichheit mißbraucht werden. Vollziehende und rechtsprechende Gewalt dürfen weder an Normtexten vorbeigehen, noch diese verbiegen, noch auch - abgesehen von aus-
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drücklichen verfassungsrechtlichen Ausnahmen - selbständig Normtexte setzen. Sie dürfen nicht Prätor spielen 217 . Rechtsstaat, Demokratie, Gewaltenteilung sind normativ geforderte verfassungstheoretische Ansätze, von denen aus das Phänomen des Richterrechts bewertet werden kann. Andere Möglichkeiten bietet daneben der analytische Zugriff einer Verfassungslehre, die das rechts(norm)theoretische Konzept der Normstruktur durch die verfassungstheoretischen der Textstruktur und der Geltungsstruktur ergänzt und ausgebaut hat 2 1 8 . Normstrukturell hatten sich die Fälle von Richterrecht durch das Fehlen eines Normtexts, damit durch den Mangel eines legitimen Normprogramms, durch das Vorherrschen der Sachgesichtspunkte und durch deren Verbleiben in der nicht-normativen Gestalt des Sachbereichs ausgezeichnet. Textstrukturell weisen sie mehrere Besonderheiten auf. Das Konzept der Textstruktur geht von der normativ begründbaren Annahme aus, daß der Verfassungsstaat in Gestalt des neuzeitlichen Rechtsstaats seine Legitimität aus dem relativen Zurückdrängen aktueller Gewalt durch das geregelte Hervortreten konstitutioneller Gewalt gewinnt; daß in ihm Herrschaft systematisch vorrangig dadurch realisiert wird, daß die für den Rechtsstaat Handelnden unter Berufung auf das geltende Recht mit Instrumenten der Sprache Gewalt vermitteln 2 1 9 . Wegen der grundlegenden Rolle von Sprache nicht nur für das tatsächliche Funktionieren des Rechtsstaats, sondern auch für sein System der Legitimität und für das Legitimieren des konkreten rechtsstaatlichen Handelns im Einzelfall kann der Rechtsstaat nach dem analytischen Konzept der Textstruktur aufgeschlüsselt werden: zum Beispiel durch die Unterscheidung von konstitutioneller und aktueller Gewalt, durch das Herausarbeiten der Doppelfunktion von Rationalität, durch die Begriffe der Dezision, der gesellschaftlichen und normativen Implikation und der Explikation als analytische Muster für das Einwirken politischer Momente auf die Normkonkretisierung, ferner durch die gemeinsame Analyse von Funktionen, Strukturen und Arbeitsweisen als Aufgabe einer von der Verfassungstheorie zu leistenden Politisch-Juristischen Methodik und noch durch andere Ansätze 220 . Die Textstruktur des Rechtsstaats erklärt auch die Wichtigkeit von Normen des positiven Verfassungsrechts, vor allem aus dem Umkreis des Demo217
Dazu F. Müller, Die Einheit der Verfassung, 1979, z.B. 167ff., 171ff. F. Müller, Juristische Methodik und Politisches System, 1976, 94, 95ff., 99ff.; ders., Strukturierende Rechtslehre, 1984, 433 ff. 219 Dazu grundsätzlich F. Müller, Recht - Sprache - Gewalt, 1975. 220 Ebd.; ferner ders., Juristische Methodik und Politisches System, 1976; ders., Die Einheit der Verfassung, 1979. - Zu den Möglichkeiten einer solchen Strukturierenden Verfassungslehre z.B. Krawietz, Rechtstheorie 7 (1976), 118f.; Dubischar, DÖV 1977, 455; Schlink, Rechtstheorie 7 (1976), 94ff.; ders., Der Staat 19 (1980), 75ff., 95ff.; Öhlinger, Österreichische Zeitschrift für Politikwissenschaft 1981, 494 f. 218
3.3 Das Phänomen „Richterrecht"
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kratie- und des Rechtsstaatsprinzips, für normorientiertes Entscheiden. Die aus dem Grundgesetz teils unmittelbar, teils parallel zu diesem gewohnheitsrechtlich, teils möglicherweise darüber hinaus verfassungstheoretisch folgenden Methodenpostulate überlagern als direkt normative oder zumindest als normbezogene Regeln die nicht-normativen Strukturierungen von Normtheorie, Dogmatik und Methodik. Das drückt sich etwa in der steuernden und auswählenden Wirkung des Normprogramms gegenüber dem Sachbereich bei der Auswahl des Normbereichs methodologisch aus; ferner in der Normprogramm- beziehungsweise Normtextgrenze zulässiger Konkretisierung und ebenso, im Fall methodologischer Konflikte zwischen den einzelnen Konkretisierungselementen, im Vorrang der unmittelbar normtextbezogenen vor den nicht direkt normtextbezogenen Argumenten 221 . Textstruktur zeigt sieht auch in der doppelten Form von Sprachlichkeit der Rechtstexte, im Unterschied zwischen anordnenden und rechtfertigenden Texten, denen auf der einen Seite etwa Normen wie Tatbestandsbestimmtheit, rechtliches Gehör, Rückwirkungsverbote und auf der anderen Seite solche wie Begründungspflichten und Methodenehrlichkeit entsprechen 222 . Normtexte als die anordnenden Texte par excellence wirken zum einen informell, indem sie durch Normtextbeachtung außerhalb institutionalisierter exekutivischer oder gerichtlicher Verfahren die normorientierte alltägliche soziale Realität prägen; indem sie also formlose Entscheidungsvorgänge auf Seiten der Normbetroffenen hervorrufen 223 . Auch die Normtextbeachtung, deretwegen es gar nicht erst zu einem Rechtsstreit kommt, ist Normkonkretisierung, wenn auch nicht im professionellen Sinn, nämlich hier durch Normtextbefolgen, durch Sich-fügen, durch Arrangement und Kompromiß. Im übrigen wirken die anordnenden Normtexte formell, das heißt im dargestellten Sinn als Eingangsdaten für Konkretisierungsvorgänge, die von staatlich bestellten, rechtlich dazu ermächtigten Funktionsträgern durchgeführt werden. Insgesamt geht es bei diesem systematischen Verbinden von Rechts(norm)theorie, Verfassungstheorie, Methodik und Dogmatik des Rechts nicht um eine statische Konzeption, nicht um ein Verschieben herkömmlicher Begriffsgrößen gegeneinander; etwa nur von „Normtext" und „Rechtsnorm" in dem Sinn, daß beispielsweise „Normativität" weiterhin als Eigenschaft von Texten aufgefaßt und nur vom Normtext auf die Rechtsnorm 221 Dazu F. Müller, Juristische Methodik, 2. Aufl. 1976,153ff., 180ff., 186f., 198ff., 2 64 ff. - Zum möglichen Zusammenspiel von Verfassungsrecht und Verfassungstheorie in diesem Zusammenhang: Schlink, Bemerkungen zum Stand der Methodendiskussion in der Verfassungsrechtswissenschaft, Der Staat 19 (1980), 73ff., 94, 95ff. 222 Zur systematischen Unterscheidung von anordnenden und rechtfertigenden Rechtstexten mit Beispielen: F. Müller, Juristische Methodik und Politisches System, 1976, 95ff. 223 Dazu F. Müller, Juristische Methodik, 2. Aufl. 1976, 104.
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3. Was sollte als „Richterrecht" bezeichnet werden?
übertragen würde. Vielmehr besteht eine Grundthese der Strukturierenden Rechtslehre 224 im Auffassen von Normativität als Vorgang und dieses Vorgangs als eines tatsächlichen Entscheidungsprozesses. Sie nennt sich „dynamisch", insofern sie eine Handlungstheorie ist. Beim Steuern der Gesellschaft durch Recht können die Organe der Gesetzgebung nur in verfassungsrechtlich eigens begründeten engen Ausnahmefällen, so bei Wahlprüfungs- und Immunitätsbeschlüssen, nach der Art der Rechtsprechung oder der Exekutive Einzelfälle bis hin zum Setzen einer Entscheidungsnorm gestalten. Im allgemeinen dürfen sie ihre politischen Vorstellungen nur bis zur Ebene des abstrakten Wortlauts in rechtsverbindliche Form bringen; „Gesetz"gebung auf allen Stufen der Normenhierarchie ist Normtextsetzung. Die Parlamente können versuchen, möglichst präzise Wortlaute zu formulieren, unerwünschte Ausnahmen von ihren inhaltlichen Zielen durch eine geeignete Systematik auszuschalten und auch sonst die guten Dienste der Gesetzgebungslehre in der Absicht zu nutzen, für das spätere Verwirklichen ihrer Vorstellungen im Einzelfall optimal zu sorgen. Die Legislative kann aber nichts am grundsätzlichen systemgegebenen Muster ändern, das im Rahmen der Textstruktur dazu führt, daß die Texte von Rechts- und Entscheidungsnormen durch Instanzen der Judikative und Exekutive gesetzt werden, durch Legislativkörperschaften dagegen nur Normtexte. Umgekehrt ist die Produktion von Normtexten aber auch nur den „ gesetz " gebenden Stellen überantwortet - wiederum mit systematisch begrenzten Ausnahmen der Normtextbildung durch Organe der vollziehenden Gewalt (Rechtsverordnung, Satzung) beziehungsweise der Justiz (Gesetzeskraft der Entscheidung). Textstrukturell kennzeichnet sich Richterrecht mithin dadurch, daß sich die rechtfertigenden Texte (Entscheidungsgründe) des für die Adressaten bindenden staatlichen Handelns hier nicht auf solche anordnenden Texte stützen können, die im normativen System der Gewaltenverteilung eben dafür vorgesehen sind, nicht auf Normtexte als Legitimationsquelle. Rechts- und Entscheidungsnorm werden ohne Rückführbarkeit auf einen legislatorisch vorgegebenen Wortlaut, gestützt allein auf einen vom Gericht selbständig eingeführten Quasi-Normtext hervorgebracht. Durch ihr praktisches Handeln weigern sich die Richter in solchen Fällen, sich selbst als Adressaten geltenden Rechts zu verhalten, nämlich der Gewaltenverteilungs- und Kompetenzregeln, der Bindungsnormen, des Zusammenspiels von (fehlendem) materiellem mit (vorhandenem) Prozeßrecht. Als Rechtsunterworfene werden nur die anderen am Verfahren Beteiligten 224 Zur Kennzeichnung dieser Rechtstheorie: F. Müller, Strukturierende Rechtslehre, 1984, z.B. 321 ff., 328ff., 374ff., 431ff.; zum Begriff „Normativität" ebd., z.B. 16f., 66f., 122f., 147f., 256ff.; zu „Normativität" als einem dynamischen Konzept ebd., 17, 261 f., 267f. - Zu dem im Text folgenden Aspekt der Gesetzgebung als Normtextsetzung: ebd., z.B. 270ff.
3.3 Das Phänomen „Richterrecht"
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behandelt, die Adressaten der Entscheidungsnorm, nicht aber die Entscheidenden selbst. Solches Handeln fällt aus der legitimierenden Grundannahme des Rechtsstaats, nämlich der Bindung durch ihrerseits Gebundene, systematisch heraus. Die Geltung sforderung von Normtexten, die verfassungsmäßig in Kraft gesetzt worden sind, besteht gegenüber der rechtsprechenden und vollziehenden Gewalt darin, daß diese in allen einschlägigen Fällen verpflichtet sind, sie als Eingangsdaten ihrer Konkretisierungsarbeit tatsächlich heranzuziehen und ernst zu nehmen. Diese Arbeit, nicht zuletzt die richterliche, ist fast immer weit vom logischen Modell des Gesetzespositivismus entfernt, erschöpft sich in aller Regel ganz und gar nicht in bloßer Subsumtion. Sie ist relativ selbständig, inhaltlich schöpferisch, systematisch unentbehrlich, um Recht im gesellschaftlichen Zusammenleben faktisch zu verwirklichen. Aber sie ist daran gebunden, die für den Fall einschlägigen Normtexte als Ausgangsgrößen ihrer Entscheidung heranzuziehen und deren Ergebnisse an der begrenzenden Funktion dieser Wortlaute abschließend zu überprüfen, sie auch noch von anderen überprüfen zu lassen. Die Frage nach der Vertretbarkeit des positivistischen Entscheidungsmodells, die Frage „Subsumtion oder Konkretisierung?", hat mit dem Problem der Zulässigkeit richterrechtlichen Handelns nichts zu tun. Die Tatsache, daß dennoch Richterrecht gesetzt wird, bietet ein theoretisch anschauliches, normativ dagegen weniger erfreuliches Beispiel für das, was die Geltungsstruktur der positiven Rechtsordnung genannt worden ist 2 2 5 . Damit ist gemeint, daß unter mehreren Gesichtspunkten eine positiv in Kraft gesetzte Rechtsordnung stets nur ein Kontinuum aus Geltung und Nichtgeltung darstellt; und zwar, daß Rechtswidrigkeiten und Rechtsbrüche nicht etwa nur tatsächlich vorkommen und als solche gebrandmarktund bekämpft werden, sondern daß sie im Gegenteil unter Aspekten, die von der Verfassungstheorie genauer zu untersuchen sind, das Rechtssystem stabilisieren. Bei einem richterrechtlichen Entscheidungsakt wird, wie auch sonst durch die Justiz, Gewalt geübt, nämlich eine bestimmte Funktionsweise von Staatsgewalt. Dabei wird bezüglich einiger für den Fall wesentlicher Normen - von den Gewaltenteilungs- und Bindungsvorschriften bis zu den prozessualen Regeln, die beim Fehlen gewisser Normtexte des materiellen Rechts bestimmte Rechtsfolgen vorsehen (Freispruch, Einstellung des Verfahrens, Abweisung der Klage, und ähnliches) - durch das eigenmächtige In-die-Bresche-springen des Gerichts eine Nicht-Geltung unterstellt. Ein unter anderen Umständen als normwidrig eingestuftes Vorgehen soll, weil es sich hier um Richterrecht handelt, ausnahmsweise als rechtmäßig, als die Rechtsordnung bereichernd und befestigend, als im modernen Staat „geradezu unentbehrlich" 2 2 6 gelten. 225 Dazu F. Müller, Juristische Methodik und Politisches System, 1976, 82 ff., bes. 98 ff., 103 f. 22 ® BVerfGE 65, 182 ff., 190.
4. Zur Zulässigkeit von Richterrecht 4.1 Die herrschende Doktrin vor dem Forum von Verfassungstheorie und Verfassungsrecht Rationale juristische Methodik ist wissenschaftspraktische Technik der Bildung von Rechts- und Entscheidungsnormen und des Zurechnens von Entscheidungsnormen zu Rechtsnormen sowie von diesen zu Normtexten. Sie gibt damit zugleich Richtlinien für das Messen von Rechtsnormen verschiedenen Rangs aneinander und für das Entwickeln richterrechtlicher Vorschriften an 2 2 7 . Wo nach den Kriterien rechtsstaatlicher Methodik die Rechts- und Entscheidungsnorm nicht einem Wortlaut des geltenden Rechts zugerechnet werden können, sondern wo ein solcher vom Gericht erfunden, als Quasi-Normtext erstellt worden ist, dort und nur dort liegt ein Fall von Richterrecht vor. Nicht dagegen geht es um die Aufgabe der Gerichte, Generalklauseln zu konkretisieren (dazu oben 3.34), noch um den Fall deutlich unrichtiger Judikate (dazu oben 3.33) 228 . Richterliches Handeln contra legem verstößt gegen den Vorrang des Gesetzes. Bei Entscheidungen praeter legem, wie sie einen Teil des Richterrechts kennzeichnen, stellt sich die Frage nach dem Vorbehalt des Gesetzes. Bei richterrechtlichen Setzungen, die zugleich contra legem gerichtet sind - wie etwa in der Herrenreiter-Tradition oder, ebenfalls klar, wenn auch weniger ausgeprägt, bei der arbeitsgerichtlichen Judikatur zur Stellung von Sozialplanansprüchen im Konkurs - kumulieren sich die normativen Maßstäbe von Vorrang und Vorbehalt des Gesetzes. Nur in den Fällen des sogenannten gesetzeskorrigierenden Richterrechts geht es mithin auch um die negative Funktion des Wortlauts als Ansatz für die Bestimmung der rechtsstaatlich nicht überschreitbaren Grenze zulässiger Konkretisierung. Beim sogenannten gesetzesergänzenden Richterrecht geht es dagegen um die positive Aufgabe des Normtexts, erster und unverzichtbarer, allenfalls durch Gewohnheitsrecht ersetzbarer Ausgangspunkt eines legalen Konkretisierungsvorgangs zu sein. In den Fällen gesetzeser227 F. Müller y Fallanalysen zur juristischen Methodik, 1974, 20 f.; ders.. Juristische Methodik, 2. Aufl. 1976, 263 - wobei zu korrigieren ist, daß bei richterrechtlichen Entscheidungsakten durch das Gericht nicht (nur) die Rechtsnorm, sondern auch ein Quasi-Normtext gesetzt wird. 228 Eine Auflistung von contra-legem-Entscheidungen versuchf z.B. Th. Vogel, Zur Praxis und Theorie der richterlichen Bindung an das Gesetz im gewaltenteilenden Staat, 1969, 39ff.
4.1 Verfassungsrecht, Verfassungstheorie und herrschende Lehre
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gänzenden Richterrechts ist ein solcher Normtext nicht vorhanden; in denen des gesetzeskorrigierenden wird mit dem richterrechtlichen Beschluß zugleich noch gegen einen vorhandenen Normtext, so in der HerrenreiterTradition gegen § 253 BGB, verstoßen. Dem entspricht verfassungsrechtlich einmal eine Verletzung des Vorbehalts, zum andern eine des Vorrangs des Gesetzes. Es hat sich gezeigt, daß die Verfassungsjustiz eine beginnende, noch nicht zu Gewohnheitsrecht erstarkte Judikatur (anders die Rechtsprechung des Reichsgerichts zur culpa in contrahendo und zur positiven Vertrags- oder Forderungsverletzung) ebenso für unzulässig erklären muß, wie sie im Ergebnis zu Recht das Sozialplan-Urteil des Großen Senats des Bundesarbeitsgerichts aufgehoben hat - und wie sie, allerdings im Gegensatz zum Soraya-Beschluß, auch die Herrenreiter-Tradition hätte kassieren müssen. Richterliches Vorgehen praeter beziehungsweise contra legem sind methodologisch unterscheidbar. Rechtstheoretisch sind sie, im engeren Blickwinkel des Richterrechts, gleichwertig. In beiden Fällen werden Rechts- und Entscheidungsnormen bewußt ohne einen mit ihnen methodisch verknüpfbaren Normtext gesetzt, wobei auch nicht Gewohnheitsrecht gegeben ist. Verfassungsrechtlich w i r d dem Verstoß gegen den Vorbehalt des Gesetzes dort, wo es um gesetzeskorrigierendes Richterrecht geht, noch ein weiterer gegen dessen Vorrang hinzugefügt. Das Bundesverfassungsgericht hat im Sozialplan-Urteil nicht etwa die Grenzen eines zulässigen Vorgehens namens ,richterliche Rechtsfortbildung' und seines Produkts ,Richterrecht' abgesteckt. Es hat vielmehr ungewollt, in der Sache ebenso korrekt wie in der systematischen Ausdrucksweise irrig, die Unzulässigkeit des Verfahrens ,richterliche Rechtsfortbildung' und von dessen Erzeugnis ,Richterrecht' festgehalten. Denn es ist vor der vom Gericht hier abgesteckten Schwelle nicht sinnvoll, überhaupt von ,Richterrecht' zu sprechen. Vor dieser Schwelle geht es um Konkretisieren. Dessen Ergebnisse, nämlich eine Rechtsnorm und die aus dieser individualisierte Entscheidungsnorm (bei gerichtlichen Verfahren die Entscheidungsformel), sind anhand eines oder mehrerer einschlägiger Normtexte des geltenden Rechts durch methodische Zurechnungsarbeit zu rechtfertigen. Konkretisieren ist, wenn schon von „Fortbildung" gesprochen werden soll, eine solche der abstrakten, legislatorisch vorgegebenen Wortlaute, nicht aber „Rechts "fortbildung. Das Recht in Gestalt von Rechts- und Entscheidungsnormen wird in diesen Arbeitsvorgängen erst gebildet - und zwar in korrekter Orientierung an der positiven und negativen Funktion der einschlägigen Normtexte, in Bindung an methodenbezogene oder zumindest methodenrelevante Normen (vor allem des Rechtsstaats auf Verfassungsebene und im übrigen der Prozeßgesetze) sowie mit Hilfe einer rechtsstaatlichen Normen genügenden, nach7 F. Müller
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4. Zur Zulässigkeit von Richterrecht
vollziehbaren Methodik. Falsch ist der herkömmliche Schluß: „Versagen des positivistischen Subsumtionsmodells - daher Zulässigkeit von Richterrecht". Folgerichtig ist dagegen die Aussage: „Konkretisierung statt Subsumtion - Unzulässigkeit von richterlichem Handeln, das nicht mehr konkretisiert, sondern das selbst Normtexte setzt". Diese zuletzt formulierte Aussage ergibt sich, wie die Untersuchung gezeigt hat, nicht allein aus Rechtstheorie und Methodenlehre; beide leisten allerdings wichtige Hilfe, das Phänomen zu formulieren und die Antwort vorzubereiten. Diese selbst ist dagegen normativ gestützt. Sie kommt aus verfassungsrechtlichen Vorgaben, zu deren Systematisierung eine normbezogene, sich an das Grundgesetz bindende Verfassungstheorie beiträgt. Wie immer, sind positivrechtliche Ausnahmen möglich. Sie müssen spezialgesetzlich angeordnet sein und sich auf derselben Ebene der Normenhierarchie finden wie die Grundsatzregeln, von denen sie Abweichungen erlauben. Für die Frage des Richterrechts im innerstaatlichen Recht unter dem Grundgesetz ist Art. 38 Abs. 1 Ziffer d des Statuts des Internationalen Gerichtshofs nicht einschlägig. Dagegen könnte eine Ausnahme in § 31 Abs. 2 BVerfGG vorliegen. Wenn es dort heißt, in den Fällen der abstrakten Normenkontrolle nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG, der konkreten nach Art. 100 Abs. 1 GG, der Völkerrechts-Normenkontrolle des Art. 100 Abs. 2 GG und bei Meinungsverschiedenheiten über das Fortgelten von früherem Recht als Bundesrecht nach Art. 126 GG habe die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts „Gesetzeskraft", so bedeutet das in den Begriffen der Rechtstheorie: In all diesen Fällen muß die Spruchformel der Verfassungsjustiz, die jeweilige Entscheidungsnorm, in Zukunft wie ein Normtext beachtet werden. Dasselbe gilt bei der Verfassungsbeschwerde nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 a und 4 b GG dann, wenn das Bundesverfassungsgericht ein Gesetz als mit dem Grundgesetz vereinbar oder unvereinbar oder für nichtig erklärt. Diese Vorschriften sind in Gestalt der Kodifikation über das Bundesverfassungsgericht zwar nur auf Gesetzesebene angesiedelt, aber in den genannten Artikeln des Grundgesetzes unmittelbar abgestützt. Sie könnten darum ohne weiteres Ausnahmen vom verfassungsrechtlichen Verbot richterrechtlicher Akte sein, falls es sich dabei um solche handeln würde. Näheres Zusehen zeigt aber, daß hier das Bundesverfassungsgericht zwar zum Setzen eines Normtexts ermächtigt ist, aber erst in der Phase der von ihm entwikkelten Entscheidungsnorm, nicht dagegen schon am Anfang des Konkretisierungsvorgangs. Bei seinen Beschlüssen in den genannten Verfahren, von der abstrakten Normenkontrolle bis zur Verfassungsbeschwerde, darf das Bundesverfassungsgericht ja nicht etwa in dem Sinn ,richterrechtlich' vorgehen, daß es sich beim Ausspruch seiner Rechts- und Entscheidungsnormen an selbstgesetzten Normtexten ausrichtet. Diese Normtexte bieten vielmehr ausschließlich das Grundgesetz beziehungsweise die sonst in den Arti-
4.1 Verfassungsrecht, Verfassungstheorie und herrschende Lehre
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kein 93 Abs. 1 Nr. 2, 93 Abs. 1 Nr. 4a und 4b, 100 Abs. 1 und 2, 126 GG genannten Maßstabsnormen („Bundesrecht"). Um ausnahmsweise zulässiges Richterrecht ginge es demgegenüber nur, wenn das Setzen eines Normtexts als Eingangsdatum der Konkretisierungsarbeit gemeint wäre. Hier handelt es sich aber allein um das Verleihen der Wirkung eines Normtexts an eine Entscheidungsnorm durch positivrechtliche Vorschrift (eben durch § 31 Abs. 2 BVerfGG). Auch die Bindung aller Gerichte und Behörden sowie der Verfassungsorgane von Bund und Ländern an die Spruchpraxis des Bundesverfassungsgerichts nach § 31 Abs. 1 BVerfGG hat mit Richterrecht nichts zu tun. Aus demselben Grund sind einzelne gesetzliche Bindungen an sonstige Teile der Rechtsprechung 229 hier nicht von Interesse. Auch Kompetenzen zur „Wahrung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung" oder zur „Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung" (zum Beispiel Art. 95 Abs. 3 GG, § 11 Abs. 4 VwGO) betreffen nicht Richterrecht. Dagegen wird das üblicherweise dort angenommen, wo in Normtexten von der „Fortbildung des Rechts", von „Rechtsfortbildung" die Rede ist 2 3 0 . Die Prozeßnormen, die solche Aufgaben stellen, haben sich mangels entsprechender Normtexte im Grundgesetz an die verfassungsrechtliche Lage zu halten. Auch das gesetzlich gewollte Fortbilden des Rechts darf nur im Setzen von Rechts- und Entscheidungsnormen bestehen, die nach rechtsstaatlichen Regeln bereits vorhandenen legislatorischen Wortlauten zurechenbar sind, nicht dagegen im freien Setzen solcher Normtexte auf die Weise des Richterrechts. Die Prozeßgesetze können die Funktionenverteilung sowie die Bindungsvorschriften der Art. 20 Abs. 3 und 97 Abs. 1 GG nicht gegen den Rangunterschied in der Normenhierarchie durchbrechen. Soweit mit Vorschriften wie § 137 GVG oder § 11 Abs. 4 VwGO solche Absichten verbunden werden, sind diese Rechtssätze verfassungskonform dahin auszulegen, daß auch durch sie richterrechtliche Entscheidungsakte nicht legitimierbar sind. Eine Interpretation der erwähnten prozeßrechtlichen Vorschriften im Sinn ermächtigender Deckungsnormen parallel zum Satzungsrecht (das, anders als die Normtextsetzung durch Rechts Verordnung im Rahmen von Art. 80 GG, nicht ausdrücklich in der Bundesverfassung normiert ist) erschiene abenteuerlich. Denn die Rechtsprechung ist eine direkt organisierte Staatsfunktion wie die unmittelbare Staatsverwaltung auch; die herkömmliche Figur der Satzungsautonomie ist dagegen juristischen Personen des öffentlichen Rechts vorbehalten. Von diesem grundsätzlichen Einwand einmal abgesehen, sind die genannten prozeßrechtlichen Aufforderungen zur „Rechtsfortbildung" auch nach Ziel, Zweck und sonstigen Mindestvorgaben in keiner Weise geprägt, anders als bei Rechtsverordnun229 Dazu etwa Olzen, Die Rechtswirkungen geänderter höchstrichterlicher Rechtsprechung in Zivilsachen, JZ 1985, 155ff., 156f. 230 Vor allem §§ 137 GVG, 11 Abs. 4 VwGO, 11 Abs. 4 FGO, 43 SGG, 45 Abs. 2 ArbGG. 7*
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4. Zur Zulässigkeit von Richterrecht
gen im Rahmen von Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG und bei den ähnlichen Kriterien für das Satzungsrecht. Im Bereich der Justiz würde das außerhalb parlamentarischer Verfahren gesetzte Richterrecht ohne jede inhaltliche Vorsteuerung durch Normtexte zu einem Amtsrecht werden, das angesichts der schöpferischen Natur auch schon der normalen Konkretisierung den Parlamenten in dem betroffenen Bereich de lege lata überhaupt kein Funktionsreservat mehr beließe. In der demokratischen Ordnung des Grundgesetzes darf die Gerichtsbarkeit nicht zum Prätor, ihr Richterrecht nicht funktionell zum amtsrechtlichen Edikt werden, das die demokratisch entstandene und verantwortete Menge der Rechtssätze (die Normtexte) überspielt 231 . Im Sinn nachpositivistischer Rechtstheorie und Methodik hat die rechtsprechende Gewalt - wie auch die vollziehende, soweit sie Fälle zu entscheiden hat - wichtige rechtsetzende Aufgaben: nämlich die Befugnis, ausgerichtet an Normtexten nicht nur Entscheidungsformeln, sondern auch Rechtsnormen hervorzubringen. Nicht dagegen hat sie die Kompetenz zur Normtextsetzung. Umgekehrt stellt all das, was auf der Basis vorhandener geltender Normtexte von einer realistischen Methodik erarbeitet wird, auch alles über Syllogismus und Subsumtion Hinausgehende, keinen Fall von Richterrecht dar. Sollte Art. 20 Abs. 3 GG tatsächlich auch methodologisch verstanden werden können, wie es das Bundesverfassungsgericht im Soraya-Beschluß 232 behauptet, so führt die Folgerung nicht zu Richterrecht, sondern zum nachpositivistischen Konzept der Normkonkretisierung. Die Alternative: entweder „enger Gesetzespositivismus" 233 oder „Normtextsetzung auch durch Richter" ist unhaltbar. Art. 20 Abs. 3 GG stellt in seiner Formel „Gesetz und Recht" das Gewohnheitsrecht neben das geschriebene Recht, schon deshalb ist die These des Verfassungsgerichts fragwürdig. Selbst wenn sie richtig sein sollte, hat das empfehlenswerte Hinausgehen über einen starren Gesetzespositivismus nichts mit einem unzulässigen Umdeuten der Vorschrift des Art. 20 Abs. 3 GG in eine Ermächtigungsnorm zu tun. Art. 20 Abs. 3 GG bindet die rechtsprechende und die vollziehende Gewalt (speziell ergänzt und bekräftigt für die Justiz durch Art. 97 Abs. 1 GG, der aber nur noch von der Bindung an das „Gesetz" spricht) an Normen, und zwar auf die der Textstruktur des Rechtsstaats eigentümliche Art einer verbindlichen Ausrichtung an Normtexten. Nicht dagegen kann Art. 20 Abs. 3 GG, ebensowenig wie Art. 97 Abs. 1 GG, in eine Kompetenznorm zur Setzung von Normen, genauer: zum Setzen von Normtexten, umgebogen werden.
231 Dazu anhand von Beispielen zum Typus der „Dezision durch Rechtsverbiegung" sowie der „Dezision durch Rechtsunterstellung": F. Müller, Juristische Methodik und Politisches System, 1976,19ff., 24ff. 232 BVerfGE 34, 269ff., 287. 233 Ebd., 286.
4.1 Verfassungsrecht, Verfassungstheorie und herrschende Lehre
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Die Vertreter der Doktrin des Richterrechts, mehr noch seine Praktiker, müssen verdeckt oder offen unterstellen, das Setzen von Richterrecht sei ein rechtserheblicher Akt. Sie müssen beanspruchen, richterrechtlich ins Spiel gebrachte Normtexte und die auf ihnen aufbauenden Judikate seien nicht etwa rechtswidrig und deshalb zu beseitigen; sie seien vielmehr rechtmäßig und daher sowohl im fraglichen Fall als auch in Zukunft zu beachten, beziehungsweise zu befolgen. Besonders die richterrechtliche Praxis handelt und argumentiert in diesem Sinn. Das Reichsgericht beruft sich gleich in· der zweiten Entscheidung zum Verschulden bei Vertragsschluß auf seine erste 234 , und entsprechend verhält es sich zu seinen eigenen richterrechtlichen Akten im weiteren Verlauf dieser Tradition. Der Bundesgerichtshof stützt sich einerseits auf das Reichsgericht, andererseits auf sich selbst, das Bundesverfassungsgericht auf Reichsgericht und Bundesgerichtshof sowie gleichfalls auf seine eigene Übung zum Thema Richterrecht 235 . Die Praxis hat sich durch nichts gehindert gesehen, ihrer Tätigkeit in Sachen Richterrecht das Siegel offizieller Normtextsetzung zuzuerkennen. Daß „die Aufstellung allgemeiner Rechtsgrundsätze in der Natur der Tätigkeit der höheren Gerichte" liege, hat ein höheres Gericht als ganz natürlich festgehalten 236 . Daß „jedenfalls unter Juristen" darüber „kein Zweifel möglich" sei, daß das „verwirklichte Recht eine Mischung von Gesetzesrecht und Richterrecht" darstelle und „sich niemals in allem mit demjenigen Recht gedeckt hat, das der Gesetzgeber gesetzt hatte" 2 3 7 , ist dagegen nur dem beharrlichen Verwechseln von Normtexten mit Rechts- und Entscheidungsnormen zuzuschreiben. Ist die Verwechslung aufgeklärt, so erweist sich dieses Zitat als ebenso richtig wie trivial. Über Richterrecht sagt es nichts aus, wohl dagegen über den Unterschied von Konkretisierung und Subsumtion. Ebenfalls nur der Sprachgestalt der Äußerung, nicht aber der Sache nach geht es um echte Fälle von Richterrecht, wenn das Bundesverfassungsgericht im Gleichberechtigungs-Urteil den Richtern das Schließen von Gesetzeslücken in „schöpferischer Rechtsfindung" mit dem Hinweis aufträgt, Lückenfüllung auf der Grundlage richtungsweisender Sätze, hier des Art. 3 Abs. 2 GG, sei „eine herkömmliche und stets bewältigte richterliche Aufgabe" 2 3 8 . Es geht dabei stattdessen um das Konkretisieren von Generalklauseln, das methodologische Besonderheiten aufweist, nicht aber richterrechtlichen Charakter hat (dazu oben 3.34). 234 RGZ 53, 200ff.; vgl. z.B. noch RGZ 66, 289ff.; 106, 22ff. Die Pionierentscheidung: RGZ 52, 18ff. 235 Β GHZ 11, 80 ff.; 13, 334ff.; 26, 349ff.; 35, 363ff. Vgl. ferner noch z.B. RGZ 78, 239ff.; 113, 413. - Für die Judikatur des Bundesverfassungsgerichts: BVerfGE 65, 182ff. (Sozialplan im Konkurs) gegenüber BVerfGE 34, 269ff. (Soraya). 236 BVerfGE 26, 327ff., 337. 237
Jahresbericht 1966 für den Bundesgerichtshof, NJW 1967, 816. 238 BVerfGE 3, 225ff., 243.
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4. Zur Zulässigkeit von Richterrecht
Deutlicher wird die Selbstaussage der Praxis dort, wo höchstrichterliche Rechtsprechung die von ihr aufgestellten Normtexte nicht nur wie legislatorische Wortlaute behandelt, sondern sie auch als solche ausgibt. Das Bundesverwaltungsgericht hat richterrechtliche „allgemeine Grundsätze des Verwaltungsrechts" als revisibles Bundesrecht im Sinn des § 137 VwGO eingestuft 239 . Dieselben „allgemeinen Grundsätze des Verwaltungsrechts" sieht das Bundessozialgericht ohne Zögern als „Gesetze" im Sinn des § 77 SGG an, weil sie „nach ständiger Rechtsprechung wie geschriebene Normen angewendet werden" 2 4 0 , also wie parlamentarische Normtexte. Während funktionalistisch interessierte Rechtssoziologie 241 die Frage des Richterrechts taktisch anspricht, müssen sich dessen Verfechter in der einen oder anderen Form mit seiner Legitimität auseinandersetzen. Weil aber Zweifel an der Rechtmäßigkeit richterrechtlichen Tuns seit jeher ein Stachel inmitten der Richterrechts-Euphorie gewesen und geblieben sind, wird nur verhältnismäßig selten offen zu sagen gewagt, Richterrecht sei neben Gesetzesrecht und Gewohnheitsrecht eine eigenständige dritte Rechtsquelle 242 . Eine andere Spielart der These, gesetzesfreies richterliches Handeln stelle eine selbständige Rechtsquelle dar, drückt sich durch Umgehen der Problematik aus. Richterrecht wird als etwas schlicht Vorkommendes, als juristischer Stütze nicht mehr bedürftig ausgegeben. Unausgesprochen wird suggeriert, es stelle keine eigenen Legitimitätsprobleme, da es doch nur in „Lücken" des geltenden Rechts gebildet werde: Nicht aufgrund der Vollständigkeit des Gesetzes, sondern der „Lückenlosigkeit der Rechtsordnung" setze der Richter in den durch Auslegung nicht schließbaren Lücken des 239 z.B. BVerwG DÖV 1971, 857; BVerwG DVB1. 1973, 373 - allerdings mit dem Versuch, die fraglichen richterrechtlichen Normtexte als Ableitungen aus Bundesverfassungsrecht zu legitimieren. 240 BSG DVB1. 1963, 249; vgl. ferner BVerwG DÖV 1961, 382. - § 77 SGG lautet: „Wird der gegen einen Verwaltungsakt gegebene Rechtsbehelf nicht oder erfolglos eingelegt, so ist der Verwaltungsakt für die Beteiligten in der Sache bindend, soweit durch Gesetz nichts anderes bestimmt ist." 241 Luhmann, Rechtssoziologie, 2. Aufl. 1983, 203: Die richterliche Entscheidung trage „ i n arbeitsteiliger Funktionsgemeinschaft mit der Gesetzgebung die Selektion des Rechts und damit dessen Positivität". Dabei bestimme die Rücksicht auf die Gesetzgebung „nicht nur die Bindungen, sondern auch die Freiheiten des Richters"; dieser könne „sich kühnere Rechtsentwicklungen leisten, wenn er das mögliche Korrektiv der Gesetzgebung hinter sich weiß". 242 Dazu Kruse, Das Richterrecht als Rechtsquelle des innerstaatlichen Rechts, 1971; Germann, Probleme und Methoden der Rechtsfindung, 2. Aufl. 1967, 272f.; Rüberg, Vertrauensschutz gegenüber rückwirkender Rechtsprechungsänderung, 1977, 86; ferner Olzen, Die Rechts Wirkungen geänderter höchstrichterlicher Rechtsprechung in Zivilsachen, JZ 1985,155 ff., 159. - wenn auch mit dem unklaren Zusatz, Richterrecht könne „allerdings nicht den Rang formeller Gesetze beanspruchen", weil „ihm die generelle Verbindlichkeit" fehle. - Vgl. schon Isay, Rechtsnorm und Entscheidung, 1929, 246: Es sei „ein wesentlicher Unterschied zwischen gesetzlichen und richterrechtlichen Normen nicht anzuerkennen". Siehe auch ebd., 186: Der Richter sei - neben dem staatlichen Gesetzgeber - eine „normsetzende Stelle". - Nwe. im übrigen bei Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 4. Aufl. 1979, 424.
4.1 Verfassungsrecht, Verfassungstheorie und herrschende Lehre
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gesetzten Rechts, also der vorhandenen Normtexte, „den Rechtssatz (sc. den Normtext) voraus, den er im Zusammenhang mit aller übrigen Rechtsordnung als Gesetzgeber für das Richtige halten würde"; diese freie Rechtsbildung solle „ja nur dann eintreten . . . , wenn eine klare Regel im geltenden Rechte nicht enthalten i s t " 2 4 3 . Das Beseitigen von Lücken „durch Aufstellung einer Norm, welche den neuen Problemen gerecht wird", sei „Aufgabe des Richters". Eine derartige Setzung müsse problemgerecht sein und sei durch Entwickeln der im Spiel befindlichen Interessen und durch das Betreiben von Rechtsvergleichung mit Blick auf die Grundsätze der Gerechtigkeit durchzuführen 244 . Axiomatisch die Legitimität von Richterrecht voraussetzend, wird gesagt, dieses bilde als Erkenntnisquelle des Gesetzesinhalts „einen Teil des Gesetzesrechts und seiner Institutionen" 2 4 5 ; sobald Prinzipien durch rechtsbildende Akte „institutionell" verkörpert seien, hätten sie die Eigenschaft positiven Rechts angenommen. Das läuft auf bloße Beschreibung hinaus, die zudem den demokratischen und rechtsstaatlichen Geltungsvorsprung formalisierter Normtexte nicht beachtet. Um das häufig bewußte, jedoch nicht eingestandene Soll an Legitimität zumindest etwas auszugleichen, werden meist - bei angeblicher grundsätzlicher Unbedenklichkeit von Richterrecht - dessen „Grenzen" gesucht. Das allerdings trägt zum Problem nicht unbedingt bei, da alles im Recht Grenzen hat, so etwa selbst die vorbehaltlos gewährleisteten Grundrechte oder 243 Ehrlich, Freie Rechtsfindung und Freie Rechtswissenschaft, 1903, 25f., 21. Ders., Grundlegung der Soziologie des Rechts, 3. Aufl. 1967, 139: Wenn für den zu entscheidenden Fall kein Rechtssatz vorhanden ist, bleibe dem Richter nichts anderes übrig, „als die Übungen, die Herrschafts- oder Rechtsverhältnisse, den Vertrag, die Satzung, die letztwillige Anordnung festzustellen, um die es sich im Rechtsstreite handelt, und darauf selbständig eine Entscheidungsnorm zu finden". - Unter „Entscheidungsnormen" versteht Ehrlich Anweisungen an die Beamten der Verwaltungs- und Gerichtsbehörden. - Zur Position Ehrlichs unter rechtstheoretischen und methodologischen Gesichtspunkten: F. Müller, Strukturierende Rechtslehre, 1984, z.B. 31, 79. 244 Coing, Grundzüge der Rechtsphilosophie, 2. Aufl. 1969, 340f. - Richterrechtliche Postulate ohne Problematisieren ihrer Legitimität und auf „Lücken" beschränkt z.B. auch bei Larenz, Richterliche Rechtsfortbildung als methodisches Problem, NJW 1965, I f f . - sogar unter Einschluß von Richterrecht contra legem im Fall eines sogenannten Rechtsnotstands („gesetzesändernde Rechtsfortbildung"); und bei dems., Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 5. Aufl. 1983, z.B. 351, 354ff., 397. - Undiskutiert wird die Legitimität von Richterrecht unterstellt und auf Gesichtspunkte der Effizienz verengt bei Zweigert, Die rechtsstaatliche Dimension von Gesetzgebung und Judikatur, in: Verhandlungen des 51. DJT (1976), Teil K, z.B. 11, 13f. 245 Esser, Richterrecht, Gerichtsgebrauch und Gewohnheitsrecht, in: Festschrift für Fritz v. Hippel, 1967, 95ff., z.B. 115,129f.; ders., Grundsatz und Norm in der richterlichen Fortbildung des Privatrechts, 3. Aufl. 1974, z.B. 132ff., 248, 279. Vgl. auch die Andeutung eines geordneten Rückzugs bei dems., Unmerklicher und merklicher Wandel der Judikatur, in: Harenburg / Podlech / Schlink (Hrsg.), Rechtlicher Wandel durch richterliche Entscheidung, 1980, 217ff., 218, 220 („mikroskopische" Rechtsneubildung durch allmähliche kasuistische Veränderung der Judikatur, „makroskopische" durch den Gesetzgeber).
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das nur praeter legem und praeter constitutionem zulässige Gewohnheitsrecht, so auch die demokratische Gesetzgebung (vgl. etwa Art. 20 Abs. 3, 93 Abs. 1 S. 2, 100 Abs. 1 GG). Als solche „Grenzen" eines im übrigen untadeligen Richterrechts sind die Gebote der „Legitimität" (die doch gerade in Frage steht!), ferner der „Objektivität, Rationalität, Stabilität, Kontinuität und Publizität" zusammengestellt worden 2 4 6 ; oder die Postulate, richterrechtlich begründete Urteile sollten nach „Konstruktion, Argumentation und Legitimation" überprüft werden: Sie müßten „dogmatisch vertretbar sein" und „bei der Gesetzesauslegung i.e.S. dem herkömmlichen Canon folgen"; sie hätten „sachgerecht" zu sein und - was gleichfalls das zu lösende Problem als bereits gelöst suggeriert - außerdem „verfassungsrechtlich legitimiert". Darunter wird „nach dem Gewaltenteilungsprinzip" die Forderung verstanden, das Gericht müsse „für die Regelbildung ebensogut oder besser als der Gesetzgeber geeignet sein" 2 4 7 . Die sogenannten Grenzen werden arrondiert mit den Selbstbestätigungen richterrechtlichen Tuns durch das Bundesverfassungsgericht im Soraya-Beschluß 248 , denen zufolge dem fraglichen „ A k t des bewertenden Erkennens" auch „willenhafte Elemente nicht fehlen", der Richter „sich dabei von Willkür freihalten" und „seine Entscheidung . . . auf rationaler Argumentation beruhen" muß. Solchermaßen wird die richterrechtliche Setzung nicht nur den „fundierten allgemeinen (!) Gerechtigkeitsvorstellungen der Gemeinschaft" entsprechen, sondern im besonderen auch „nach den Maßstäben der praktischen Vernunft" 2 4 9 vor sich gehen. Dagegen ist das, was das Verfassungsgericht mit der Rechts- und Gesetzesbindung des Art. 20 Abs. 3 GG (dem wiederum Art. 97 Abs. 1 GG hinzuzufügen gewesen wäre) der richterrechtlichen These des Großen Senats des Bundesarbeitsgerichts wie ein Flammenschwert entgegenhält 250 , nicht die gewünschte Grenzziehung für ein an sich zulässiges Handeln, sondern ungewollt ein Grund für die Unzulässigkeit von Richterrecht. Eine Stufe weiter in den Strategien, richterliche Normtextproduktion abzusichern, werden nicht mehr nur Grenzen für etwas im Prinzip Unbezweifeltes angeboten, sondern Beschwichtigungsformeln gegen Zweifel am Prinzip. Der verfassungsrechtliche Satz der Gewaltenteilung stehe „dem nicht entgegen", da nämlich „die Zwecke" des Gewaltenteilungsprinzips „durch die Geltung von Richterrecht bloß im Bereich des non liquet nicht 246 Bei H.-P. Schneider, Richterrecht, Gesetzesrecht und Verfassungsrecht, 1969, 37ff.; dazu näher ders., Die Gesetzmäßigkeit der Rechtsprechung, DÖV 1975, 443ff. 247 Die zuletzt genannten Postulate bei Wank, Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung, 1978, 257. 248 BVerfGE 34, 269ff., 287. 249 Im Soraya-Beschluß, ebd., aus BVerfGE 9, 339ff., 349, übernommen. Ausrufzeichen nicht im Original. 250 BVerfGE 65,182ff., 190ff. (Sozialplan im Konkurs).
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beeinträchtigt werden" 2 5 1 . Richterrecht, wenn auch aus Verstößen gegen gewaltenteilendes Verfassungsrecht entstanden, ist mithin nicht gar so schlimm und sogar legitim; gilt es doch nur in den Fällen, in denen die Bildung von Richterrecht in Frage kommen kann. Es siedelt erfreulicherweise nur etwas außerhalb der Legalität. Wieder eine Stufe weiter w i r d die Fragwürdigkeit des. Phänomens mit dem Hinweis in Wohlgefallen aufgelöst, die Justiz bilde ja nur ihre eigenen Entscheidungsgrundlagen und bestimme damit „die aktuelle Rechtslage". Ob dagegen „die Judikate für die Zukunft präsumtiv verbindlich oder unverbindlich" seien, erscheine „als nachrangiges Problem" 2 5 2 . Bei Richterrecht handle es sich nicht um Normen im Sinn des Art. 97 Abs. 1 GG, „die eine Bindung anderer Richter auslösen" 253 . Dagegen haben methodisch nachdenkliche Vertreter der richterrechtlichen Schule schon vor langem offen gesagt, die Richter seien auf diesem Feld neben dem staatlichen Gesetzgeber eine „normsetzende Stelle". Eine insoweit rechtsschöpferische Funktion der Judikatur müsse „nicht nur für den konkreten Fall und unter den Beteiligten, sondern auch über den Prozeß hinaus" anerkannt werden gerade dadurch übe der richterrechtliche Akt „eine gesetzgeberische Funktion" aus 254 . Dieses Eingeständnis entspricht der richterrechtlichen Praxis, die eben deswegen ins Werk gesetzt wird, um Geltung zu bewirken: gewiß zunächst nur im anstehenden Einzelfall, weil beim ersten richterrechtlichen Akt nur dieser eine Fall zu Verfügung steht; aber doch als der erste einer Reihe künftiger Fälle. Richterrechtliche Spruchpraxis hat sich bei nächster und bei späterer Gelegenheit stets auf ihren anfänglichen Setzungsakt berufen. Das ist eine tatsächliche Feststellung. Die Rechtssoziologie nimmt sie denn auch - für richterrechtliches wie für normal konkretisierendes Handeln der Gerichte - zum Ausgangspunkt ihrer Überlegung, der Richter formuliere notwendig allgemeine Regeln für seine Entscheidung. Jeder normative Aspekt einer Rechtsentscheidung müsse Generalisierung und ferner die Erwartung unterstellen, „daß andere gleiche Fälle gleich entschieden werden"; die Generalisierung stecke „schon im normativen Erwarten selbst" 2 5 5 . In der Strukturierenden Rechtslehre und der von dieser ausgehenden juristischen Methodik und Dogmatik entsprechen dem die systema251
Bydlinski, Hauptpositionen zum Richterrecht, JZ 1985, 149ff., 152. Ebd. im Anschluß: „Auch die Gesichtspunkte umfassender Vorbereitung und demokratischer Legitimation der Gesetzgebung als solche sprechen nicht gegen Richterrecht in diesem Sinne. Ihnen wäre ja keineswegs gedient, sollte jeder Richter im erwähnten Bereich nach Lust und Laune dieselbe Rechtsfrage unterschiedlich entscheiden dürfen." 252 J. P. Ipsen, Richterrecht und Verfassung, 1975, 61. 253 J. P. Ipsen, Verfassungsrechtliche Schranken des Richterrechts, DVB1. 1984, 1102 ff., 1103. 254 Isay, Rechtsnorm und Entscheidung, 1929, 242; unter Berufung auf Düringer, Richterund Rechtsprechung, 1909,19. 255 Luhmann, Rechtssoziologie, 2. Aufl. 1983, 235.
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4. Zur Zulässigkeit von Richterrecht
tische Differenz von Normtext und Norm und die generelle Natur der Rechtsnorm im Unterschied zur individuellen der Entscheidungsnorm. Wegen der normativen Allgemeinheit des rechtlichen Ausspruchs kommt es auf weitere Einzelheiten, wie Fragen der Rechtskraft, nicht mehr an 2 5 6 . Demgegenüber sind Beschwichtigungen, eine „unmittelbare Geltung des Richterrechts" liege „nur innerhalb dessen materieller und formeller Rechtskraft" 257 , nicht einsichtig. Dasselbe ist zur Andeutung einer „Grenze" des Richterrechts dort zu sagen, wo es „vorwiegend um Fragen der Zweckmäßigkeit" gehe oder wo „eine detaillierte Regelung erforderlich" sei. Die Ansicht, lediglich solche Entscheidungen könne „nur der Gesetzgeber treffen", im übrigen sei der Ersatz durch richterrechtliche Akte legitim 2 5 8 , ist schon vom positiven Recht her unhaltbar. Im Rahmen eines richterrechtlichen Urteils ist es die Entscheidungsnorm, die nur Bindungen und Wirkungen inter partes, also bezüglich der Prozeßparteien, erzeugt. Dagegen sind die im Konkretisierungsvorgang gebildete Rechtsnorm und der in solchen Fällen frei unterstellte Normtext als quasi-normative Größen für künftige Streitfälle gedacht und auch tatsächlich wirksam 2 5 9 . Aus dieser Lage erklärt sich ein weiterer Schritt in der Strategie, Richterrecht zu entschuldigen. Dieses sei jedenfalls deshalb unbedenklich, weil es im juristischen Sinn überhaupt nicht „gelte". Es gelte nur faktisch. Die Eigenart richterrechtlicher Geltungskraft bestehe lediglich in einer überredenden oder überzeugenden Wirkung, in „persuasive authority" 2 6 0 . Diese Rede von „Vernünftigkeit" im Sinn von Zweckmäßigkeit und Gerechtigkeit, von der „Autorität der Person oder des Gerichts" und ähnlichen Dingen klingt beruhigend, zumal wenn es heißt, das Gelten richterrechtlicher Sätze bestehe „nicht in formeller Bindung anderer Gerichte". Daß dies aber kein Ausweg aus dem Legitimitätsdefizit von Richterrecht ist, erhellt aus dem Zusatz, die eigentümliche Geltung richterrechtlicher Aussagen (also von ohne legislatorische Normtexte gesetzten Quasi-Normtexten und Rechtsnormen) bestehe „ i n der Pflicht" der anderen Gerichte, „sie zu beachten, das 256 Zu diesen, in Verengung des Problems, Coing, in: Staudinger / Coing, Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, 12. Aufl. 1980, Einleitung Rdnr. 221. 257 Coing, Zur Ermittlung von Sätzen des Richterrechts, JuS 1975, 277 ff., 279f. 258 Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 5. Aufl. 1983, 410. 259 Zu diesem Punkt vgl. neben den Genannten z.B. Dahm, Deutsches Recht, 1963, 35 („Kristallisationspunkte für die zukünftige Praxis"); Meyer-Hentschel, Das Bundesverwaltungsgericht als Koordinator der öffentlichen Verwaltung, DÖV 1978, 596ff.; Robert Fischer, Die Weiterbildung des Rechts durch die Rechtsprechung, 1971, 24 f. (besonders für Musterprozesse). 260 Coing, Zur Ermittlung von Sätzen des Richterrechts, JuS 1975, 277ff., 279 u. f. Ebenso ders., in: Staudinger / Coing, Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, 12. Aufl. 1980, Einleitung Rdnr.n 222ff.; die im Text folgenden Zitate ebd., Rdnr. 224. - Nach Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 4. Aufl. 1979, 424, kann Richterrecht „die gleiche faktische Geltung oder Effektivität erlangen wie ein Gesetz"; Hervorhebung nicht im Original.
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heißt sie zu prüfen und von ihnen nicht ohne zwingende sachliche Gründe abzuweichen". Es geht jedoch beim Richterrechtsproblem in Wahrheit nicht um faktische, sondern um normative Fragen. Dem Richterrecht wird mit dieser angeblich nur pragmatischen Linie dieselbe Bestimmungskraft eingeräumt wie dem Gesetzesrecht - was vom Ausgangspunkt jener Doktrin her auch folgerichtig ist. Mit »zwingenden sachlichen Gründen' gehen richterrechtlich agierende Gremien bekanntlich gerade auch von der Gesetzeslage ab. Tatsächlich w i r d Richterrecht also wie parlamentarische Normtexte behandelt; eine »Abweichung' von ihm ist nur für die Fälle vorgesehen, in denen auch gegenüber Gesetzesrecht ,frei', das heißt erneut richterrechtlich, zu handeln sein soll. Eine begriffliche Unterscheidung zwischen formeller und informeller Geltung ist belanglos, wenn Bindung an Richterrecht gefordert und - wie die fortbildende' Judikatur deutlich zeigt - auch praktiziert wird. Auf derselben Ebene liegen Bekenntnisse zum Richterrecht, die dieses terminologisch nicht den Rechtsquellen im „eigentlichen" Sinn, sondern den „uneigentlichen Rechtsquellen" 261 einverleiben. Ebenso wertlos, ferner in sich widersprüchlich ist die Beschwichtigung, Richterrecht sei zwar eine „Rechtsquelle eigener Art", könne „allerdings nicht den Rang formeller Gesetze" beanspruchen, weil ihm „die generelle Verbindlichkeit" fehle 262 . Nach einer anderen Formel soll die Kraft richterrechtlicher Akte für die betroffenen Bürger, die Verwaltung und für andere Gerichte dadurch herabgesetzt sein, daß sie „keine im echten Sinne normative und deshalb prinzipiell unüberwindliche Bindung an Präjudizien" mit sich bringen. Da die herrschende Lehre auch das Gesetzesrecht für grundsätzlich überwindbar hält und es so behandelt - eben in den Fällen richterrechtlichen Vorgehens - , bestätigen die verschiedenen abwiegelnden Sprüche jeweils auf ihre Art nur den Ernst der Frage, die sie zu verbergen suchen. Von einem „schwächeren Grad der Verbindlichkeit des Richterrechts" in einer Doktrin, die ihm gleichzeitig „das Prädikat einer Rechtsquelle" zugesteht 263 , ist nichts festzustellen. Die Widersprüchlichkeit der Versuche, Richterrecht als unbedenk261 Zu dieser Einteilung: Staudinger / Brandl, Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, Bd. 1 1957, Einleitung Rdnr.n 38ff., 47ff., 51. 262 Olzen, Die Rechtswirkungen geänderter höchstrichterlicher Rechtsprechung in Zivilsachen, JZ 1985,155ff., 159. - Für Ossenbühl, in: Erichsen / Martens (Hrsg.), A l l gemeines Verwaltungsrecht, 6. Aufl. 1983, 110f., soll eine „Argumentationslast" durch Richterrecht entstehen, eine - im Sinn von Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, 2. Aufl. 1976, 243ff. - „präsumtive Verbindlichkeit". Ebd. bei Ossenbühl, 110, das im Text folgende Zitat. 263 Ossenbühl, ebd., 110. - Die ebd. genannte Äußerung von Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung, 1968, 472, es handele sich bei dem Streit um die Rechtsquellennatur des Richterrechts weitgehend um „Konstruktions- und Formulierungskontroversen", unterstreicht den Befund noch einmal aus anderer Richtung. Dasselbe gilt nämlich bekanntlich für den Streit darüber, was im Einzelfall als,Inhalt', als verbindliche Geltungsanordnung des Gesetzesrechts gelten kann.
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lieh auszugeben, laufen in seiner Bezeichnung als einer „faktischen Rechtsquelle" 2 6 4 rhetorisch zusammen. Zu diesen Einwänden gegen die beschwichtigenden Strategien kommt noch ein weiterer :âus dem Verfassungsrecht. Wegen der Bindung der Gerichte an das positive Recht durch Art. 20 Abs. 3 und 97 Abs. 1 GG können richterrechtliche Akte nicht als erstens legal und zweitens ,nur faktisch' wirksam angesehen werden, wie etwa eine Aussage der wissenschaftlichen Lehre, eine herrschende Schule, eine ständige Spruchpraxis. Vielmehr machen die Entstehungsumstände von Richterrecht dieses wegen Verfassungsverstoßes rechtswidrig und damit normativ unbeachtlich. Seine angebliche Rechtserheblichkeit kann daher auch nicht ,nur faktisch' begründet werden, denn es bewegt sich keineswegs in einem ,rechtsleeren' Raum - dieser ist funktionell durch Verfassungsrecht und Prozeßrecht angefüllt. Auch wirkt es nicht kraft eines offenen, frei besetzbaren Funktionsvorbehalts zugunsten der Gerichte, Normtexte zu setzen. Ein solcher Funktionsvorbehalt hat sich als jedenfalls in der Verfassungsordnung des Grundgesetzes nicht vertretbar herausgestellt 265 . Angesichts dieses Stands der Dinge bot sich für die Vertreter der herrschenden Schule nur noch ein letzter taktischer Schritt an: bewußt und offen - nicht nur wie etwa bei Esser und Zweigert implizit unausgesprochen - das Rechtsproblem „Richterrecht" auf das bloß Beschreibende zu verschieben. Dieser Schritt ist in der Tat getan worden. Die Frage nach der Vereinbarkeit richterrechtlichen Handelns mit Gesetzes- und Gewohnheitsrecht wird aus dem Blick gedrängt, damit auch sein Verhältnis zu beiden. Richterrechtliche „Normversuche" sollen weder Rechtsquellen sein noch überhaupt Rechtsquellenprobleme aufwerfen. Die Frage des Richterrechts soll erörtert werden, ohne daß seine Rechtsqualität oder Nicht-Rechtsqualität geklärt w i r d 2 6 6 . Dieses Rückzugsgefecht scheitert schon an der positivrechtlichen Unmöglichkeit, eine »Verbindlichkeit für den Entscheidungsfall' von der ,Verbindlichkeit für künftige gleich liegende Fälle' abzutrennen. Wenn das „Postulat der Verbindlichkeit von Richterrecht (nicht: Gewohn264 Canaris, SAE 1972, 22. 265 Nicht einmal Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, 2. Aufl. 1976, z.B. 159, 162 ff., 195ff., für den Ausgangspunkt der Konkretisierung nicht der Gesetzestext ist, sondern der Fall, für den Richterrecht die systematische Alternative zur „eindeutigen Subsumtion" des Falles unter „das Gesetz" (also unter den Normtext) darstellt und der ursprünglich den Richtern „eine originäre rechtsschöpferische Gewalt" (1. Aufl. 1967, 311) zubilligen wollte, behauptet noch eine dem Gesetzesrecht gleichwertige Verbindlichkeit des Richterrechts. Zwar sei das Postulat vom Rechtsetzungsmonopol des Gesetz- und Verfassunggebers wirklichkeitsfremd, doch sei „die Prärogative des Gesetz- und Verfassungsgebers ein Grundsatz, der noch überall anerkannt war . . . und den festzuhalten auch heute unausweichliche Voraussetzung jeder Ordnung überhaupt ist", ebd., 160. 266 J. Ipsen, Verfassungsrechtliche Schranken des Richterrechts, DVB1. 1984, 1102ff., 1103; ders., Richterrecht und Verfassung, 1975, 61.
4.1 Verfassungsrecht, Verfassungstheorie und herrschende Lehre
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heitsrecht)" mit Art. 97 Abs. 1 GG „unvereinbar" 2 6 7 ist, so ist es aus demselben normativen Grund auch die Behauptung seiner Rechtmäßigkeit und damit für die Prozeßparteien verbindlichen Wirkung im betreffenden Einzelfall selbst. Rechtsbildung durch Gerichte ohne Anhalt an legislatorischen Normtexten soll aus der Rechtsquellenlehre ausgenommen werden, um eine Problematisierung gar nicht mehr erst zuzulassen. Sie soll nur noch als pragmatische Suche nach übernehmbaren und für künftige Praxis verpflichtenden rechtlichen Mustern aufgefaßt werden. Ausgeblendet wird dabei nicht nur die rechtstheoretische Reflexion, sondern sogar der positivrechtliche und dogmatische Bezug zur Rechtsquellenlehre 268 . Gerade von der richterrechtlichen Pjaxis wird aber zugleich, ebenso wie bei den Versuchen ihrer Apologie in der literarischen Debatte, das Ergebnis richterrechtlichen Handelns implizit als Rechtsquelle behandelt, wie eine solche verwendet; und genau diese Tatsache stellt der theoretischen und verfassungsrechtlichen Diskussion des Problems ihr Thema. Die richterrechtlichen Quasi-Normtexte werden wie legislatorische Normtexte im Fall konkretisiert, im nächsten Fall erneut aufgegriffen,,wieder angewendet4. Sie werden schließlich außerhalb, oberhalb des Bereichs der Fachjustiz vom Bundesverfassungsgericht wie legislatorische Normtexte am Grundgesetz überprüft und dabei im Stil des Kadi entweder gebilligt, obwohl nicht im Gesetz stehend und einem gesetzlichen Normtext sogar widersprechend (Soraya-Beschluß), beziehungsweise verworfen, weil nicht im Gesetz stehend (Sozialplan-Entscheidung). Von Teilen der Debatte wird eingeräumt, richterliche Rechts „fort" bildung sei nicht im ganzen haltbar. Es müßten daher zulässige von unzulässigen Fällen unterschieden werden; ,Richterrecht' sei auf die zulässigen einzuschränken. So heißt es etwa, Gesetzesfortbildung praeter legem, also in sogenannten Lücken, sei erlaubt, eine solche contra legem dagegen unerlaubt 2 6 9 . Nach den auf die Verfassung gestützten Ergebnissen der Rechtstheorie kann ,praeter legem' aber keinen rechtlich konstitutiven Unterschied zu ,contra legem' begründen. Wenn der Richter wirklich „Diener des Gesetzes" ist - und in einer demokratischen, rechtsstaatlich gewaltenteilenden Verfassungsordnung ist er es - , dann kann er auch nicht sine lege entscheiden. Dann verbieten die Vorschriften der Gewaltenverteilung, der Bin267 Insoweit richtig J. Ipsen, Verfassungsrechtliche Schranken des Richterrechts, DVB1. 1984, 1102 ff., 1103. 268 v g l neben J. Ipsen, Esser und Zweigert etwa auch Kirchhof, Rechtsquellen und Grundgesetz, in: Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz, Bd. 2 1976, 50ff., 99f.: Obwolü richterliche Leitsätze „keine Rechtssätze" seien, hätten die Richter vom Grundgesetz trotzdem den Auftrag, auch abgesehen von Generalklauseln und von der Auslegungsbedürftigkeit sonstiger Normtexte „Regeln, die im Gesetz nicht vorgegeben sind" zu bilden. 269
Canaris, Die Feststellung von Lücken im Gesetz, 2. Aufl. 1983, z.B. 16f. Das im Text folgende Zitat ebd., 51.
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d u n g an das positive Recht (Art. 20 Abs. 3, 97 Abs. 1 GG) u n d des Vorbehalts des Gesetzes e i n richterliches Vorgehen, b e i dem Rechts- u n d Entscheidungsnormen ohne R ü c k f ü h r b a r k e i t auf legislatorische N o r m t e x t e k o n s t r u i e r t werden. D a h e r w i r d v o n anderen A u t o r e n n i c h t n u r das „gesetzeskorrigierende" Richterrecht (contra legem), sondern auch das i n L ü c k e n angesiedelte „gesetzesvertretende" aus verfassungsrechtlichen G r ü n d e n f ü r u n z u lässig e r k l ä r t 2 7 0 . W o dagegen - abgesehen v o n etwaigen sonstigen Verfassungsverstößen n u r n o c h „gesetzeskonkretisierendes"
Richterrecht f ü r erlaubt gehalten
w i r d 2 7 1 , d o r t ist angesichts der gebotenen U n t e r s c h e i d u n g v o n p o s i t i v i s t i s c h f i k t i v e r »Subsumtion' u n d a l l t ä g l i c h realer »Konkretisierung' jeder echte F a l l v o n Richterrecht als r e c h t s w i d r i g eingestuft. Wer (erlaubtes) R i c h t e r recht auf bloß »gesetzeskonkretisierendes' (also auf N i c h t - Richterrecht) eingrenzt, grenzt es aus dem E r l a u b t e n aus. D i e systematisch falsch f o r m u l i e r t e Aussage des Bundesverfassungsgerichts i m Beschluß ü b e r S o z i a l p l a n a n sprüche i m K o n k u r s 2 7 2 , Richterrecht sei u n e n t b e h r l i c h u n d zulässig, habe allerdings Grenzen, l a u t e t der Sache n a c h zutreffend: Richterrecht ü b e r schreitet als solches die Grenze des Zulässigen.
270 So J. Ipsen, Richterrecht und Verfassung, 1975, 116ff., 234: M i t gesetzesvertretendem (lückenfüllendem) Richterrecht sind unter dem Grundgesetz „die Grenzen der richterlichen Verantwortung überschritten", weil es Aufgaben erfüllt, „die nach der Kompetenzordnung des Grundgesetzes dem parlamentarischen Gesetzgeber zugeordnet sind". Ebd., 235: Wo „gegen den eindeutigen Wortlaut und Sinnzusammenhang verstoßen wird", sei Richterrecht (contra legem) verfassungsrechtlich unerlaubt. Das entspricht der rechtsstaatlichen Wortlaut- bzw. Normprogrammgrenze juristischer Konkretisierung; dazu mit Nachweisen oben 3.1. 271 J. Ipsen, ebd., 232; vgl. dens., Verfassungsrechtliche Schranken des Richterrechts, DVB1. 1984, 1102ff., vor allem 1103ff. - Im Ergebnis ebenso Starck, Die Bindung des Richters an Gesetz und Verfassung, W D S t R L 34 (1975), 43ff.: Richterrecht ist „keine eigenständige Rechtsquelle", weil dem Richter „eine Kompetenz zur abstrakt generellen Rechtsetzung", also besser: zum Setzen von Normtexten, fehlt. Im selben Sinn Roellecke, ebd., 7ff., 31 f.: Es kann „nur das Gesetz sein, das die richterliche Entscheidung legitimiert"; ebd., 38f., zur Verstärkung der richterlichen Bindung an das Gesetz durch juristische Methodologie. - Ebenso Wank, Die verfassungsgerichtliche Kontrolle der Gesetzesauslegung und Rechtsfortbildung durch die Fachgerichte, JuS 1980, 545ff., v.a. 551 ff.: Die Frage der Vernünftigkeit, der sogenannten Sachnähe mit Blick auf das Grundgesetz, sei nicht entscheidend; wenn dem Richter die Kompetenz zur „Rechtsfortbildung" fehle, sei das Judikat gleichwohl verfassungswidrig. Demokratiegrundsatz, Rechtsstaatssystem und innerhalb dessen die Gewaltenteilung zögen richterlicher „Rechtsfortbildung" die verbindlichen Grenzen; so ebd., 552 m.w.Nwn. - Vgl. auch schon A. Arndt, Gesetzesrecht und Richterrecht, NJW 1963, 1273ff., 1280: Richtersprüche, die sich nicht „auf die Basisfunktion des Gesetzes rückführen lassen", seien „richterliche Gesetzgebung" und somit „nicht legitimiert", sogar: „nichts als Willkür". 272 BVerfGE 65, 182ff., 190f/
4.2 Richter „recht" und Gewohnheitsrecht
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4.2 Richter„recht" und Gewohnheitsrecht Richterrecht ist in allen Fällen, in denen der Begriff sinnvoll verwendet werden kann, unzulässig, keine verbindliche Rechtsquelle. Da es sich andererseits aus seiner Differenz zum Gesetzesrecht definiert, verlagert sich in der unter dem Grundgesetz herrschenden Rechtsquellenlehre der noch verbleibende Diskussionsrest auf Gewohnheitsrecht. Diese Verschiebung bietet einen verlockenden Ausweg dort, wo der Mangel einer Legitimität und Legalität richterrechtlichen Handelns eingestanden wird. Die Auffassung, Richterrecht habe Gewohnheitsrecht zum Geltungsgrund, w i r d seit Beginn der 70er Jahre sogar als herrschende Lehre bezeichnet 273 . Eine ständige Rechtsprechung soll dadurch, daß sie „zur Grundlage eines Gewohnheitsrechts" wird, „gesetzesgleiche Verbindlichkeit erlangen" können 2 7 4 . Unter „Gewohnheitsrecht" wird „ungesetztes" Recht verstanden, erzeugt „durch einen allgemeinen, normalerweise durch Übung manifestierten Rechtsgeltungswillen der Gemeinschaft" oder „ihrer Organe" 275 . „Ungesetzt" bedeutet dabei: zwar positivrechtlich, aber nicht als legislatorischer Normtext im verfassungsrechtlich vorgesehenen Gesetzgebungsverfahren hervorgebracht. Sätze, die (ohne diese Eigenschaft aufzuweisen) gleichwohl beanspruchen, zum geltenden Recht gezählt zu werden, entstehen demgemäß durch eine allgemeine und lang andauernde, durch Rechtsüberzeugung getragene Übung 2 7 6 . Auch die Justiz operiert mit der Vorstellung, Sätze des Richterrechts gewohnheitsrechtlich zu legitimieren 277 . Diese Sicht verlangt, anstelle längerer Übung auch einen entsprechenden Gerichtsgebrauch als Voraus273 Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung, 1973, 464 und ff., 472 m.Nwn. Ebenso v.a. auch Enneccerus / Nipperdey, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, 1. Halbbd., 15. Aufl. 1959, §§ 39 I I 3, 42 11; ferner z.B. Flume, Richterrecht im Steuerrecht, in: Steuerberater-Jahrbuch, 1964/65, 55ff., 63, 79; H. J. Hirsch, JR 1966, 334ff.; Starck, Die Bindung des Richters an Gesetz und Verfassung, W D S t R L 34 (1975), 43ff., 71: Richterrecht sei „keine eigenständige Rechtsquelle, soweit es sich nicht zu Gewohnheitsrecht entwickelt hat"; B. Heusinger, Rechtsfindung und Rechtsfortbildung i m Spiegel richterlicher Erfahrung, 1975, z.B. 84f., 89, 94ff.: Richterliche Rechtsfortbildung bedürfe der Anerkennung, und zwar derjenigen „der Mehrheit der betroffenen gegenwärtigen Rechtsgenossen", ebd., 89. 274 Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 4. Aufl. 1979, 425. 275 Ausführlich Enneccerus / Nipperdey, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, 1. Halbbd., 15. Aufl. 1959, §§ 38ff., 261 ff., 264, 266 und ff. 276 Vgl. etwa BSGE 24, 118ff, 120; OVG Münster DÖV 1967, 677; Forsthoff, Lehrbuch des Verwaltungsrechts, 10. Aufl. 1973, 144ff., 146; Olzen, Die Rechtswirkungen geänderter höchstrichterlicher Rechtsprechung in Zivilsachen, JZ 1985, 155ff., 158f. - Allgemeiner und ungenauer ist die alte Umschreibung des Gewohnheitsrechts als „die längere Zeit hindurch fortgesetzte gleichförmige Betätigung einer Norm", so Regelsberger, Pandekten Bd. I, 1893, 94. 277 Vgl. z.B. nur BGHZ 1, 369ff., 375 (Rechtsweg für Ansprüche aus öffentlichrechtlicher Verwahrung); BGHZ 9, 83ff., 88 (§§ 74, 75 EinlALR); BGH JZ 1963, 678 (Vertrauensschutz des Versicherungsnehmers).
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Setzung des Entstehens von Gewohnheitsrecht genügen zu lassen 278 . Um der Verpflichtung auf eine länger andauernde Spruchpraxis zu entkommen, wurde für Fälle von sogenannten Durchbruchsentscheidungen sogar vorgeschlagen, auf das Zeitmoment ganz zu verzichten 279 . Dagegen ist gerade im Bereich des damit angesprochenen Zivilrechts die traditionelle Überzeugung, nur durch seine Übernahme im Rechtsverkehr und eine dort dann länger andauernde allgemeine Übung könne Richterrecht zu Gewohnheitsrecht erstarken, auch vom Gesetzgeber des Bürgerlichen Gesetzbuchs geteilt worden 2 8 0 . Wäre das anders zu sehen, so bliebe statt der These ,Richterrecht legitimiert sich als Gewohnheitsrecht' nur die schon aufgegebene Behauptung übrig, es sei neben Gesetzes- und Gewohnheitsrecht eine selbständige formelle Rechtsquelle. Daher meint die herrschende Lehre, allein kraft dauernder Übung auf der Basis allgemeiner Rechtsüberzeugung „ i n den beteiligten Kreisen, also nicht nur unter Juristen", könne eine ständige Judikatur „dadurch gesetzesgleiche Verbindlichkeit erlangen, daß sie zur Grundlage eines Gewohnrechts w i r d " 2 8 1 . Das Reichsgericht hatte dabei zwischen „gefestigter" und „ständiger" Rechtsprechung unterschieden; nach drei bis vier Judikaten wurde eine Spruchtradition bereits als „gefestigt" angesehen282. Vom Grundgesetz her wird Gewohnheitsrecht als prinzipiell möglich und zulässig angesehen. Nach vorwiegender Lehre erstreckt sich die Bindung der vollziehenden und der rechtsprechenden Gewalt an „Gesetz und Recht" in Art. 20 Abs. 3 GG auf Normen jeder Art, sowohl auf geschriebenes wie auf ungeschriebenes positives Recht. Die anfangs daneben noch vertretene Meinung, die Formel weise auf positives Recht und Naturrecht hin, blieb unbestimmt und konnte sich aus nachvollziehbaren Gründen nicht durchsetzen. Das Bundesverfassungsgericht bejaht die Möglichkeit von Gewohnheitsrecht und umschreibt es als „Recht, das nicht durch förmliche Setzung, sondern durch längere tatsächliche Übung entstanden ist, die eine dauernde und ständige, gleichmäßige und allgemeine sein muß und von den beteiligten Rechtsgenossen als verbindliche Rechtsnorm anerkannt w i r d " 2 8 3 . 278 Dazu Enneccerus / Nipperdey, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, 1. Halbbd., 15. Aufl. 1959, § 39 I I 3, 267; ferner z.B. Tomuschat, Verfassungsgewohnheitsrecht, 1972, 52, 55 m.Nwn. 279 Larenz, Über die Bindungswirkung von Präjudizien, Festschrift Schima, 1969, 247ff., 261 ff. 280 Mugdan, Die gesammten Materialien zum Bürgerlichen Gesetzbuch für das Deutsche Reich, Bd. I, 1899, 570. 281 Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 4. Aufl. 1979, 425. 282 Enneccerus /Nipperdey, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, 1. Halbbd., 15. Aufl. 1959, 275; Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung, 1968, 464ff. - Vgl. auch die Abstufung von „gelegentlich ausgesprochener Rechtsansicht" über „vereinzelte Entscheidungen" und „ungefestigte Rechtsprechung" zur sogenannten ständigen oder gefestigten Judikatur bei: Coing, Zur Ermittlung von Sätzen des Richterrechts, JuS 1975, 277ff., 280.
4.2 Richter „recht" und Gewohnheitsrecht
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Gewohnheitsrechtliche Sätze haben keinen Normtext. Ihr Wortlaut wechselt bei den verschiedenen Versuchen, den Rechtssatz in der Judikatur oder in wissenschaftlichen Quellen zu formulieren. Gewohnheitsrecht hat aber seinen (nicht leicht zu realisierenden) selbständigen Legitimationsgrund in der gemeinsamen Überzeugung der am Rechtsleben Beteiligten und im hinreichend deutlichen und langdauernden Ausdruck für diese Überzeugung. Solche Eigenschaften fehlen dem Richterrecht; insofern ist die herrschende Meinung verständlich, dieses auf dem Weg über jenes doch noch zu legitimieren, auch wenn damit die ursprüngliche Sicht des Richterrechts als einer eigenständigen Rechtsquelle entfällt. Die Ansprüche an eine rechtsstaatliche Methodik gelten auch für das Konkretisieren von Gewohnheitsrecht 284 , wobei mangels einer autoritären Textfixierung, eben eines Normtexts, die Trennschärfe der Wortlaut- beziehungsweise Normprogrammgrenze herabgesetzt ist 2 8 5 . Während in der Praxis gelegentlich abrogatorisches Gewohnheitsrecht erwähnt w i r d 2 8 6 , ist davon auszugehen, daß der durchformulierte rechtsstaatliche Verfassungstyp des Grundgesetzes eine solche Wirkung von Gewohnheitsrecht ausschließt. Es ist auf eine Lücken füllende Rolle beschränkt, kann sich mit anderen Worten nicht contra legem, sondern nur praeter legem et constitutionem bilden. Es darf nicht in Widerspruch zu ranghöherem oder ranggleichem geschriebenen Recht treten, kann auch nicht im grundrechtsgeschützten Bereich förmliche Vorbehaltsgesetze ersetzen oder der Exekutive allein gewohnheitsrechtlich begründete Eingriff sermächtigungen liefern 2 8 7 . Wenn richterliche Rechtsschöpfung als eine andere Beteiligte, Gerichte und Behörden bindende, als verbindliche Setzung „nur durch die Bildung von Gewohnheitsrecht mit allen für seine rechtsbegründende Wirkung erforderlichen Voraussetzungen" entstehen können soll 2 8 8 , so müßten sich dafür zureichende Gründe finden lassen. Der Grund für die herrschende Lehre, es zu behaupten, liegt darin, Richterrecht als gegebenes Phänomen zu 283 BVerfGE 9, 109ff., 117; 15, 226ff., 232ff.; 22, 114ff., 121; 28, 21 ff.', 28f. - Auch zum Sonderproblem der Möglichkeit von Ver/assimgrsgewohnheitsrecht nimmt das Bundesverfassungsgericht keine ablehnende Haltung ein: In BVerfGE 11, 77ff., 87 wird die Bildung solchen Rechts nur wegen der Kürze des fraglichen Zeitraums verneint; in einer anderen Entscheidung nur wegen Fehlens einer einheitlichen Rechtsüberzeugung, BVerfGE 21, 312ff., 325. Vgl. ferner BVerfGE 12, 205ff., 235; 29, 211ff., 234. - Dagegen soll grundsätzlich kein Raum für gewohnheitsrechtliche Sätze innerhalb kodifikatorisch geschlossener Rechtsgebiete bleiben, BVerfGE 9,109ff., 117. 284 F. Müller, Juristische Methodik, 2. Aufl. 1976, 20, 109. 285 Dazu F. Müller, Strukturierende Rechtslehre, 1984, 156f. 286 BVerwGE 8, 317ff., 321; BVerwG DVB1. 1979, 116ff., 118; BVerwGE 9, 213ff., 221; VGH Baden-Württemberg DÖV 1978, 696. 287 Vgl. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 15. Aufl., 1985, 195f., 124, 145; zum Aspekt der Eingriffsermächtigungen für die Verwaltung: Jesch, Gesetz und Verwaltung, 1961, 115 f. 288 So BGHZ 11 Anhang, 53.
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4. Zur Zulässigkeit von Richterrecht
sehen und es auf jeden Fall legitimieren zu wollen 2 8 9 . Es geht aber nicht nur darum, daß eine in sogenannten Lücken operierende oder eine selbständig richterrechtliche Normtexte erfindende Praxis mit ihren Akten der jederzeitigen Disposition politischer Instanzen, also der legislatorischen Setzung von Normtexten unterworfen bleibt 2 9 0 . Es geht um die Frage, ob richterrechtliches Handeln, wenn schon wegen der Normen des gewaltenteilenden Rechtsstaats, der Verfassungs- und Gesetzesbindung der Judikatur sowie des Vorrangs und Vorbehalts des Gesetzes nicht unmittelbar, so doch wenigstens sekundär in der Form des Gewohnheitsrechts zugelassen werden kann. Wenn es schon nicht anfänglich als „Recht" im Sinn von Art. 20 Abs. 3 GG eingeordnet werden darf, so könnte es doch nach den Voraussetzungen des Gewohnheitsrechts vielleicht allmählich „Recht" werden. Dogmatisch verschiebt sich so die verbleibende Diskussion auf Gewohnheitsrecht, weil nur noch diese mögliche Rechtsquelle als Stütze für richterrechtlich vorgeschlagene Entscheidungs- und Rechtsnormen zur Verfügung steht; diese können sich ja gerade nicht auf das demokratisch und rechtsstaatlich geforderte Eingangsdatum eines Normtexts berufen. Ein rechtstheoretischer Grund liegt ferner darin, daß Gewohnheitsrecht, parallel hierzu, genau die Teilmenge des positiven Rechts abdeckt, die sich nicht auf Normtexte stützen kann. Anders als das geschriebene Recht verfügt es nicht über eine einzige autoritär festgelegte (beschlossene, ausgefertigte, verkündete) Sprachfassung. Seine mehr oder weniger stark wechselnde Textgestalt ist in Lehrbüchern, Kommentaren und besonders in Gerichtsentscheidungen enthalten 291 . Gewohnheitsrecht ist der einzige anerkannte Fall einer Bildung von Rechts- und Entscheidungsnormen durch Stellen der rechtsprechenden und vollziehenden Gewalt, ohne daß diese Entscheidungsakte einem legislatorischen Normtext zugerechnet werden könnten. Wegen der Strukturähnlichkeit von Gewohnheitsrecht und Richterrecht erscheint der Versuch, dieses durch jenes zu legitimieren, zunächst sinnvoll. Dabei ist allerdings auf erhebliche Besonderheiten zu achten. An die Stelle des Rechtsverkehrs, der betroffenen Gemeinschaft, der beteiligten Kreise und Personen würden hier Gerichte treten. Sollte sich die These als haltbar erweisen, so gäbe es ferner keinen Grund, die Organe der vollziehenden Gewalt von dieser Möglichkeit auszunehmen. Schließlich würde bei alldem von der rechtsprechenden (und gegebenenfalls auch der vollziehenden) Gewalt niemals im positivrechtlich unbesetzten Raum gearbeitet. Denn es 289 Dagegen geht, im Sinn der Richterrechtsdoktrin, noch von einem Nebeneinander der Bildung von Gewohnheitsrecht beziehungsweise von Richterrecht aus: F. Müller, Fallanalysen zur juristischen Methodik, 1974, 10; ders., Juristische Methodik, 2. Aufl. 1976, 268, zur Bildung von Gewohnheits- oder von Richterrecht in positivrechtlich indifferenten, vom geschriebenen Recht „unbesetzten" Bereichen. 290 Dazu F. Müller, Juristische Methodik und Politisches System, 1976,15. 291 Dazu F. Müller, Fallanalysen zur juristischen Methodik, 1974,10; ders., Juristische Methodik, 2. Aufl. 1976, z.B. 109f., 268.
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geht um einen Bereich, der durch das Zusammenspiel des materiellen Rechts mit dem Prozeßrecht und außerdem durch Normen über die Unterscheidung, Abgrenzung und Zuweisung von Kompetenzen sowie über die Bindung der ,richterrechtlich' beziehungsweise ,exekutivrechtlich' handelnden Stelle erfaßt wird. Er ist für die hier interessierenden Fragen durch geschriebenes Recht geregelt und alles andere als ein ,rechtsleerer Raum'. Auch abgesehen von der These, es gebe unter dem Grundgesetz kein Gewohnheitsrecht 292 , oder von der Ansicht, jedenfalls lasse sich Richterrecht nicht in Form des Gewohnheitsrechts absichern 293 , zeigt sich hier ein entscheidender Einwand. Gewohnheitsrecht darf sich im Rahmen des Grundgesetzes nur praeter legem et constitutionem bilden, nur auf von Verfassung und Gesetzen, überhaupt von geschriebenem Recht unbesetzten Feldern. Dieser Befund spricht nicht gegen Gewohnheitsrecht als Volksrecht - entstanden aus den praktizierten Rechtsüberzeugungen der Beteiligten und Betroffenen. Wohl aber verbannt er amtsrechtlich entstandenes Gewohnheitsrecht, dessen Prototyp Richterrecht darstellt: bei dem eine Instanz der rechtsprechenden Gewalt, im Weg des ,Leit'- oder ,Durchbruchs judikats', urplötzlich Rechts- und Entscheidungsnormen bildet, ohne auf parlamentarische Normtexte oder auf Sätze des Gewohnheitsrechts zurückgreifen zu können. Zwar muß die Frage gestellt werden, wieweit beim Entstehen von Gewohnheitsrecht die Anerkennung durch die betroffenen Beteiligten und wie weit jene durch die Funktionäre des Rechtssystems entscheidet 294 . Auch wurde schon vor langer Zeit die scharfe These formuliert, daß „alles ,Gewohnheitsrecht' in Wahrheit Juristenrecht war und i s t " 2 9 5 . Dennoch liegt hier, vom Verfassungsrecht aus beurteilt, ein wesentlicher Unterschied. Anders als bei volksrechtlichem Gewohnheitsrecht, dessen Beginn und Entwicklung keine staatsrechtliche Kompetenz- und Bindungsnorm entgegensteht, ist die lex, gegen die sich amtsrechtliches Gewohnheitsrecht nicht bilden darf, auch jede methodenrelevante Verfassungsnorm, auch Art. 97 Abs. 1 und 20 Abb. 3 GG sowie ferner das mit dem 292 Für neu sich bildendes Gewohnheitsrecht im Bereich der Verfassung ist das die Position von Tomuschat, Verfassungsgewohnheitsrecht, 1972, z.B. 132ff., 144, u.ö.; vgl. auch schon Voigt, Ungeschriebenes Verfassungsrecht, W D S t R L 10 (1952), 33 ff. 293 So - unter verschiedenen Aspekten - z.B. Tomuschat, ebd., 53f. m.Nwn.; Adomeit, Rechtsquellenfragen im Arbeitsrecht, 1969, 56ff.; Coing, in: Staudinger / Coing, Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, 12. Aufl. 1980, Einleitung Rdnr. 229, teils aus typologischen, teils aus pragmatisch-rechtspolitischen Gründen. - Siehe auch Meyer-Cording, Die Rechtsnormen, 1971, 70f.: „Nicht nur Richterrecht ist nicht Gewohnheitsrecht, sondern mehr noch: Das Gewohnheitsrecht ist nichts anderes als Richterrecht", m. Nwn. 294 Dazu F. Müller, Juristische Methodik und Politisches System, 1976, 106. 295 Max Weber, Rechtssoziologie, 2. Aufl. 1967, 337. - Dieser Gesichtspunkt auch bei Meyer-Cording, Die Rechtsnormen, 1971, 70, m. Nwn. Für den Zusammenhang mit Richterrecht vgl. z.B. auch Coing, in: Staudinger / Coing, Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, 12. Aufl. 1980, Einleitung Rdnr. 229: „Nicht die Beteiligten handeln hier aus ihrer Rechtsüberzeugung, sondern Richter entscheiden sich für die Geltung eines bestimmten Rechtssatzes".
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- möglicherweise lückenhaften - materiellen Recht zusammenspielende Prozeßrecht, das für Fälle solcher Art dann etwa die Einstellung des strafrechtlichen Verfahrens oder das Abweisen einer zivil- oder verwaltungsrechtlichen Klage vorsieht. Organisations- und Verfahrensrecht stellt sich nicht nur in seinem Eigenbereich gegen gewohnheitsrechtliche Gebilde, weil die Übung durch betroffene Dienststellen nicht die Rechtsüberzeugung der Teilnehmer am Verfassungsleben ersetzen kann 2 9 6 . Vielmehr kennzeichnen sich die Organisation und Verfahren, Kompetenzen und Bindungen der Staatsgewalt regelnden Verfassungsvorschriften allgemein durch Formenstrenge und machen Normsetzungsakte rechtswidrig, die im Gegensatz zu ihnen entstanden sind 2 9 7 . Richterrechtlich agierende Instanzen setzen sich in Widerspruch zu diesen Normen. Richterrechtlich erzeugte Quasi-Normtexte sind, wegen Verfassungswidrigkeit ihres Entstehens, als verpflichtende Direktiven genauso unerheblich wie etwa Bundes- oder Landesvorschriften, die unter Verstoß gegen Kompetenz- oder Verfahrensregeln des Grundgesetzes hervorgebracht wurden. Die Rettungsmöglichkeit ,Gewohnheitsrecht': versagt, weil im Augenblick des starting point von Richterrecht tatsächlich nicht davon die Rede sein kann, daß dieses „von den beteiligten Rechtsgenossen als verbindliche Rechtsnorm anerkannt w i r d " 2 9 8 , wie es auch das Bundesverfassungsgericht als Voraussetzung für Gewohnheitsrecht formuliert hat. Rümelins pfiffiger Amtsrichter liefert hiergegen kein Argument, nur eine hübsche Anekdote 299 . In der Sprache der positivistisch geprägten herkömmlichen Lehre „erläßt der Gesetzgeber als Rechtsquelle die Gesetze", steht er damit „souverän am Anfang der Schaffung der gesetzlichen Regel", kann das richterliche Urteil „niemals der Beginn, sondern höchstens die Fortsetzung eines Rechtserzeugungsvorganges sein" und besteht das lebende Recht aus einer Mischung der Zutaten von Gesetzgeber und Richter 3 0 0 . Rechtstheoretisch besser ausgedrückt, setzt die Legislative nur Normtexte, die aber aus verfassungsrechtlichen Gründen zwingend als Eingangsdaten für rechtsgebundene Konkretisierungsvorgänge herangezogen werden müssen. Richter dürfen ferner Rechts- und Entscheidungsnormen nur in methodischer Rückbindung an Normtexte formen, nicht aber solche selbst setzen. Das realisierte Recht ist keine „ Amalgamierung" beider 296 Dazu Tomuschat, Verfassungsgewohnheitsrecht, 1972, 138f.; ihm folgend Kirchhof, Rechtsquellen und Grundgesetz, in: Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz, Bd. 2 1976, 50ff., 92. 297 Vgl. BVerfGE 9, 109ff., 117; Kirchhof, ebd. 298 BVerfGE 22, 114ff., 121 unter Berufung auf BVerfGE 9, 109ff., 117; 15, 226ff., 232ff. - Vgl. auch BVerfGE 28, 21ff., 28f. 299 Ygi Rümelin, Die bindende Kraft des Gewohnheitsrechts, 1929, 14. - Auch Meyer-Cording, Die Rechtsnormen, 1971, 67f., 69f., sowie Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung, 1973, 472, weisen auf den Mangel gewohnheitsrechtlicher Legitimierbarkeit (deutlicher: auf die Illegalität) freier richterrechtlicher Setzungen hin. 300 So mit Nwn. Meyer-Cording, gende Wortzitat.
Die Rechtsnormen, 1971, 69 f. Ebd. das im Text fol-
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Quellen, keine Mischung aus Gesetzesrecht und Richterrecht. Es ist vielmehr die jeweils für den Einzelfall erzeugte Normativität, die sich aus den methodisch auf Normtexte rückführbaren Rechts- und Entscheidungsnormen herleitet. Richterliche Konkretisierungsarbeit ist, da Normtexten zurechenbar, etwas anderes als richterrechtliches Setzen von Pseudo-Normtexten. Die Ordnung des Grundgesetzes läßt es nicht zu, im Sinn von Rümelins Amtsrichter jene Illegalität, die Richterrecht geradezu definiert und von rechtstreuer Konkretisierung unterscheidet, im milden Zwielicht des Anfänglichen zu sehen. Amtsrecht ist nicht Volksrecht. Das überkommene Modell des Gewohnheitsrechts ist nicht auf ein vereinzeltes Handeln der Staatsgewalt, hier: der Rechtsprechung, zugeschnitten. Daß beim Inkrafttreten des Grundgesetzes die alten reichsgerichtlichen Traditionen zur culpa in contrahendo oder zur positiven Vertragsverletzung trotz ursprünglicher Illegalität inzwischen Gewohnheitsrecht geworden waren, ist anzuerkennen. Dagegen sind unter dem Grundgesetz Neubildungen von Gewohnheitsrecht mit direkt oder mittelbar eingreifender Wirkung in grundrechtsgeschützte Bereiche schon von der Grundrechtsdogmatik her unzulässig 301 , und zwar gleichgültig, ob im Öffentlichen Recht, im Straf- oder im Zivilrecht. Auch außerhalb des Grundrechtsbereichs kann es sich weder im formstrengen Organisations- und Verfahrensrecht 302 noch in der Eingriffsverwaltung in Gestalt eingreifender Ermächtigungen bilden. Auf den Feldern, die danach noch verbleiben, ist die volksrechtliche Kreation ungeschriebener Normen verfassungsrechtlich möglich, nicht dagegen die amtsrechtliche im Sinne eines Erstarkens von Richterrecht zu Gewohnheitsrecht. Für diese Aussage spricht auch die Überlegung, daß andernfalls das Prozeß- im Verhältnis zum inhaltlichen Recht sowie das Organisations- und Verfahrensrecht im Rahmen der Verfassung der Sache nach als Recht zweiten Ranges, als im Zweifelsfall weniger wichtig denn die materiellen Aspekte richterrechtlicher Setzung erachtet würden. Innerhalb der positiven Rechtsordnung ist eine derartige Deklassierung nicht-materieller Vorschriften unbegründbar. Das Ergebnis stimmt schließlich mit dem Hauptargument zu Art. 20 Abs. 3 GG überein. Diese Vorschrift kann auch noch neben Art. 97 Abs. 1 für die Frage richterlicher Bindung herangezogen werden, wobei Art. 97 Abs. 1 GG die Stellung einer nicht-verdrängenden Spezialität zugeschrie301 Z.B. BVerfGE 22, 114ff., 121: Bei grundrechtseinschränkendem ungeschriebenen Recht muß es sich „um vorkonstitutionelles, nicht um nachkonstitutionelles, neues Gewohnheitsrecht handeln. Denn der Gesetzesvorbehalt des Art. 12 Abs. 1 S. 2 GG erfordert zumindest eine Rechtsnorm, die durch einen förmlichen Rechtsetzungsakt geschaffen worden ist". BVerfGE 9, 109ff., 117.
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ben w i r d 3 0 3 . Das Argument betrifft die Funktion des Art. 20 Abs. 3; es gilt für den Bereich dieser Norm insgesamt, das heißt nicht nur für Richterrecht, sondern auch für Gewohnheitsrecht. Art. 20 Abs. 3 GG normiert die Bindung bestimmter Staatsfunktionen, nämlich der vollziehenden und der rechtsprechenden Gewalt, an Normen. Die noch offene Frage ist: an welche Normen? Die Antwort der herrschenden Lehre lautet: nicht nur an geschriebenes, sondern auch an Gewohnheitsrecht. Nicht dagegen fungiert Art. 20 Abs. 3 GG (auch) als Ermächtigung dieser Staatsfunktionen zum Setzen von bindenden, also auch die vollziehende und die rechtsprechende Gewalt selbst verpflichtenden Normen. Auch hieraus folgt, daß Art. 20 Abs. 3 GG die Bindung an das bis zum Inkrafttreten des Grundgesetzes entstandene Gewohnheitsrecht zur Kenntnis nimmt und billigt, so in den genannten Paradefällen im Zivilrecht oder auch im Normenbestand des Rechtsstaats (zum Beispiel das Übermaßverbot, der Vorrang des Gesetzes, der Vorbehalt des Gesetzes), ferner für eine Reihe wichtiger, als normativ angesehener Grundsätze im Allgemeinen Verwaltungsrecht und im Arbeitsrecht. Nicht dagegen ist Art. 20 Abs. 3 GG in eine Befugnis uminterpretierbar, das Entstehen von Gewohnheitsrecht unter dem Grundgesetz gegen die verfassungsrechtlich verteilten Funktionen zu legitimieren. Anders verhält es sich unter den Beteiligten und Betroffenen in bezug auf ungeschrieben entstehende Normen, unter den Teilnehmern am allgemeinen Rechtsverkehr, den sogenannten Rechtsgenossen; und zwar deshalb, weil diese keine gewaltenteilend eingebundenen, kompetenziell festgelegten Instanzen der Staatsgewalt sind. Der starting point von (in Rechtslücken) neu gebildetem Gewohnheitsrecht kann somit in den Bräuchen des Rechtsverkehrs und in der gleichfalls nicht durch Kompetenzen gebundenen wissenschaftlichen Forschung und Lehre liegen. Der zur Anerkennung als Norm führende Vorgang, nämlich die hinreichend lang andauernde Übung, muß dabei unter den betroffenen Teilnehmern des Rechtsverkehrs selbst stattfinden. Der schlußfolgernde Ausdruck eines solchen Vorgangs mit dem Ergebnis »Gewohnheitsrecht' wird dann sicherlich durch Instanzen der Justiz erfolgen. Dieses Formulieren ist aber nicht mit anfänglicher, unvermittelter Erfindung eines Rechtssatzes, eines Quasi-Normtexts beziehungsweise mit dem Setzen einer Rechts- und Entscheidungsnorm ohne Stütze in einem parlamentarisch abgesicherten Normtext zu verwechseln.
303 Nicht mehr vertretbar ist es dagegen, mit dem Soraya-Beschluß erstens auf die Wortformulierung „Gesetz und Recht" (im Gegensatz zu: „Gesetz") abzuheben und dabei zweitens nur Art. 20 Abs. 3 GG zu erwähnen, Art. 97 Abs. 1 GG dagegen zu ignorieren; so aber BVerfGE 34, 269ff., 286f.
4.3 Abschließende Überlegungen
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4.3 Abschließende Überlegungen In seiner Sozialplan-Entscheidung urteilt das Bundesverfassungsgericht im Ergebnis richtig, auch die Gründe treffen zu. Unrichtig ist die methodologische und theoretische Deutung, die das Gericht seinen Gründen gibt, und folglich auch deren sprachliche Stilisierung. Ihr zufolge ist richterliche Rechtsfortbildung nicht nur im modernen Staat unentbehrlich, sondern auch „eine anerkannte Funktion der Rechtsprechung". Dieser würden allerdings unter dem Grundgesetz „durch den Grundsatz der Rechts- und Gesetzesbindung des Art. 20 Abs. 3 GG Grenzen gezogen", die im vorliegenden Fall eindeutig überschritten seien 304 . Der Sache nach erfaßt das Bundesverfassungsgericht, wenn man seine Gründe im einzelnen nachprüft, dagegen folgendes: Aufgabe und Befugnis der Gerichte erschöpfen sich nicht in Subsumtion, auch nicht in grammatischer Auslegung. Ihr Tun ist notwendig schöpferisch, ist Konkretisierung statt eines gesetzespositivistischen logischen Syllogismus. Unter dem Grundgesetz ist Konkretisierung aber methodenrelevanten Normen, hier vor allem des Rechtsstaates, untergeordnet. Gegen solche wurde im fraglichen Fall verstoßen. Die arbeitsrechtliche Spruchpraxis hat hier nicht mehr Normen konkretisiert, sie hat richterrechtlich gehandelt. Das ist in der Verfassungsordnung des Grundgesetzes (unter anderem auch, aber nicht nur) wegen Art. 20 Abs. 3 GG unzulässig. Das Bundesverfassungsgericht hält den Großen Senat des Bundesarbeitsgerichts genau an der Stelle in seinem Tun an, wo er von Konkretisierung zu richterrechtlicher Setzung übergeht, wo er einen Quasi-Normtext einführt; wo er Rechts- und Entscheidungsnormen setzt, die den Normtexten des geltenden Rechts (hier: vor allem der Konkursordnung) methodisch (hier vor allem: grammatisch und systematisch) nicht mehr zurechenbar sind. Das überholte, offiziell aber noch anerkannte Ptolemäische Weltbild in der Astrophysik war, angesichts seines praktischen Versagens, durch die komplizierten Erklärungsversuche der Epizykel-Theorie künstlich am Leben gehalten worden. Der seit langem praktisch, aber auch theoretisch diskreditierte Gesetzespositivismus prägt mit einigen seiner überholten Annahmen noch die heutigen Juristengenerationen, und sei es um den Preis widersprüchlicher, im Grund nicht haltbarer Zusatzerklärungen. Die Richterrechtslehre ist eine von diesen. Dabei ist die Wahrheit, wenn die Gesamtsicht ausgewechselt ist, einfacher: Eine positive Rechtsordnung wird, gemessen am realen gesellschaftlichen Bedarf, nie inhaltlich lückenlos sein. Sie wird auch nicht durch richterrechtliche Ersatzhandlungen lückenlos werden. Die durch richterrechtliches Tim hilfsweise und im Einzelfall ange304
BVerfGE 65, 182ff., 190f.
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strebte Vollständigkeit ist ebenso illusionär wie die einstmals dem vernunftrechtlichen Gesetzgeber zugetraute. Trifft ein Gericht auf eine materiellrechtliche Lücke oder auf eine Lage, die es für eine solche hält, so sagen ihm Vorschriften des geltenden Rechts, nämlich der Zusammenhang von materiellen mit prozeßrechtlichen Sätzen, wie zu verfahren ist. Die weitere Frage, wie die festgestellte inhaltliche Lücke geschlossen werden könne, beantwortet sich gleichfalls nicht faktisch, sondern rechtlich: durch Verfassungsnormen über Zuständigkeit und Verfahren der gesetzgebenden Gewalt. Die inzwischen hundertjährige Debatte, die sich dennoch des lückenfüllenden, aber auch des konkretisierenden und sogar des Richterrechts contra legem bemächtigt hat, belegt weniger die Entwicklungsdefizite, als vor allem die Änderungsbedürftigkeit der Grundlagen der noch vorherrschenden Theorie des Rechts. Die Diskussion um Richterrecht ist ein Abkömmling des Gesetzespositivismus. Näheres Zusehen hat diese zunächst paradox wirkende These belegt. Beide orientieren sich an klassisch positivistischen Glaubenssätzen. Das zeigt sich an den beiden Hauptformen richterrechtlichen Handelns. Die erste ist Fallentscheidung in Gehorsam gegenüber den Ergebnissen der Legislative (Normtexten), aber über bloße Subsumtion hinaus. Die verbreitete Ansicht, dies für einen richterrechtlichen Vorgang zu halten, bezieht ihre mißverstandene empirische Basis aus dem Versagen des Subsumtionsdogmas, aus der illusonären Natur des Syllogismusmodells. Die zweite Hauptform von Richterrecht besteht in Fallentscheidung ohne Stütze in den Ergebnissen der Legislative, den Normtexten. Hier wird an deren Stelle gehandelt, wird explizit oder implizit ein Normtext unterschoben, der mangels kompetenzieller Berechtigung als Quasi- oder PseudoNormtext bezeichnet werden muß. Solches Tun soll gerechtfertigt sein aus dem Streben nach inhaltlicher Vollständigkeit wenn schon nicht des gegebenen Gesetzesmaterials (das heißt: der Normtextmenge), so aber doch ,der Rechtsordnung', ,der materialen Gerechtigkeit' oder ,des Rechts' - extra legem, intra ius. Lückenlosigkeit darf nicht sein; also wird sie dort, wo sie sich bemerkbar macht, ohne Rücksicht auf Gewalten- und Kompetenzverteilung kurzerhand hergestellt. Daß dieser Operation noch immer das altpositivistische Dogma von ,Einheit' und ,Geschlossenheit' der Rechtsordnung zugrundeliegt, verrät sich nicht zuletzt in der Beschränktheit des Arguments auf das materielle Recht. Ohne diese Verengung gäbe es für richterliches Grenzüberschreiten keinen Ansatzpunkt. Denn die gültige Antwort auf eine vom Gericht wertend unterstellte oder empirisch ermittelte sachliche Lücke liegt in der funktionellen Vollständigkeit der Menge positiver Rechtssätze. Die Rede von einer ,Lücke' ist voreilig; ist ein Postulat, erkauft durch die positivrechtlich nicht vertretbare Begrenzung des Rechtsbegriffs in solchen Fällen auf materielle Normen. Eine Rechtsordnung ist weder inhaltlich einheitlich (,geschlossen') noch thematisch lückenlos. Aber sie ist wegen der
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Ergänzung von materiellen Normen durch Prozeßrecht und wegen der normierten Möglichkeiten, Recht zu ändern oder es neu zu schaffen, funktionell vollständig. Allerdings hat das Ändern beziehungsweise Neusetzen eigene normative Bedingungen (Funktionen, Kompetenzen, Verfahren, verfassungsrechtliche Maßstäbe). Diese beanspruchen ebenso Geltung wie die Vorschriften des - sich als ,lücken'haft erweisenden - materiellen Rechts auch. Eine mangels inhaltlicher Normen prozessual orientierte, zum Beispiel eine abweisende Entscheidung ist im Einzelfall nicht notwendig,ungerecht', sowenig eine Entscheidung aufgrund vorhandener inhaltlicher Rechtssätze notwendig ,gerecht' ist. Hinter dem Eintreten für Richterrecht verbirgt sich damit noch eine dritte positivistische Annahme, welche ,Einzelfallgerechtigkeit' mit »Entscheidung aufgrund eines materiellen Rechtssatzes' identifiziert. Fehlt ein solcher, soll deshalb Richterrecht ihn ersetzen, soll der Richter ihn unmittelbar herstellen dürfen. Demgegenüber ist das Streben nach gerechter Entscheidung gesellschaftlicher Konflikte durch Recht im demokratisch-rechtsstaatlichen Verfassungstypus des Grundgesetzes auf verschiedene Funktionen öffentlicher Gewalt, auf verschiedene Stadien der Rechtserzeugung und ferner auf das Zusammenspiel von materiellem und von Prozeßrecht normativ verteilt. Angesichts dieses komplexen Normengebäudes konnte auch belegt werden, daß Richterrecht nicht etwa deswegen gerettet werden muß, um dem Gebot der Rechtsgewährleistung, dem Justizverweigerungsverbot zu genügen 305 . Sollte im Einzelfall ein Versäumnis der Gesetzgebung vorliegen, ein erhebliches Bedürfnis des Rechtsverkehrs noch nicht parlamentarisch beantwortet sein, so ist die Lage unbefriedigend. Sie folgt dann aber aus dem praktischen Versagen der Instanzen der Legislative und nicht aus einem Ungenügen der Rechtstheorie oder einer Fehlkonstruktion des Verfassungsstaats. Das Anstreben inhaltlicher Gerechtigkeit ist im Staat vom Typus des Grundgesetzes durch Gewaltenverteilung gebrochen und arbeitsteilig differenziert. Das nimmt die gesetzgebenden Körperschaften in die Pflicht; richterliche Grenzüberschreitung ist ein unzulässiges und, bloß pragmatisch gesehen, auch nicht unbedingt wünschbares Mittel, sie von rechtlicher und politischer Verantwortung zu entlasten. Statt eine unrecht305 Schon Georg Jellinek stellte um die Jahrhundertwende fest, es könne „die Geschlossenheit nur dadurch erreicht werden", daß man „den Richter verpflichtet", richterrechtlich vorzugehen. Denn „immerhin ist eine, auf welchem Weg immer zu findende, Entscheidungsnorm stets soweit vorhanden, als der Richter verpflichtet ist, über jeden an ihn gebrachten Fall zu judizieren", Allgemeine Staatslehre, 3. Aufl. 1966, 356f. - Der Begriff „Entscheidungsnorm" bei Jellinek stimmt nicht mit dem vorliegend gebrauchten überein und meint .Vorschrift, an die sich Gerichte und Behörden zu halten haben'. - Zum Justizverweigerungsverbot im Zusammenhang mit den Vorstellungen von Einheit und Geschlossenheit der Rechtsordnung: F. Müller, Die Einheit der Verfassung, 1979, 98f., 108ff. - Zu „Appellentscheidungen" allgemein: Ebsen, Das Bundesverfassungsgericht als Element gesellschaftlicher Selbstregulierung, 1985, 95ff.
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4. Zur Zulässigkeit von Richterrecht
mäßige, weil auf positives Recht nicht stützbare Entscheidung zu fällen, statt einen illegalen Startschuß für etwaige, im Ergebnis aber nicht erzielbare Legitimierung durch späteres Gewohnheitsrecht zu setzen, kann das Gericht in den Gründen seines korrekten, also zum Beispiel abweisenden Spruches mit guter Aussicht auf erhöhte Aufmerksamkeit den Mißstand bezeichnen. Es gibt kaum einen rechtspolitisch wirkungsvolleren Beginn einer Debatte als ein solches Signal von Seiten der (höchstrichterlichen) Rechtsprechimg. Dabei wird die Verantwortung dorthin abgegeben, wohin sie verfassungsrechtlich gehört, in den Vorgang politischer Meinungs- und Willensbildung und in die Entscheidungsarbeit der Legislativorgane. Was die Gerichte ohne Verletzung des positiven Rechts, aber trotzdem über dieses hinaus, nämlich rechtspolitisch in Gang setzen können, wird durch Appellentscheidungen eindrucksvoll wahrgenommen. Nicht zuletzt das Bundesverfassungsgericht hat ein abgestuftes Instrumentarium für informelles Einwirken auf die parlamentarischen Instanzen entwickelt und setzt es auch ein, wenn ihm dies nötig erscheint. Materiellrechtlich negative' Gerichtsentscheide, die sich der Kreation von Richterrecht enthalten und korrekt vorgehen, erzeugen oder vergrößern den aus dem Rechtsalltag kommenden Problemdruck auf die Normtexte hervorbringenden Gremien. Dieser wird durch Mittel wie etwa Fristsetzung bis zum Ende der laufenden Legislaturperiode, Abschichtung des Verfassungswidrigkeits-Urteils, Feststellen objektiver Grundgesetzwidrigkeit eines Zustands ohne einklagbare Ansprüche gegen den Gesetzgeber, wie Übergangsvorschläge der Judikatur einschließlich vorbeugender „Warnschüsse" und ähnliches, deutlich verstärkt. Dagegen wirken sich umgekehrt eigenmächtige richterliche Setzungen wie die der Herrenreiter-Tradition dahin aus, den Gesetzgeber zu demotivieren, ihm die Verantwortung, damit auch den Antrieb zum Handeln abzunehmen. Die Untätigkeit der Zivilgesetzgebung in den seit den Zeiten des Reichsgerichts richterrechtlich erledigten Problemfällen spricht eine deutliche Sprache. Im Verfassungsstaat des Grundgesetzes wird Gerechtigkeit arbeitsteilig gesucht. Der Richter ist nicht mehr Salomon. Er ist Teil der organisierten, der demokratisch gestützten, rechtsstaatlich geformten, prozeßrechtlich an bestimmte Schritte und Entscheidungstypen gebundenen Staatsgewalt. Art. 20 Abs. 3 und 97 Abs. 1 GG sind nicht Ermächtigungsvorschriften zur Normsetzung, sondern auf Normen verweisende Bindungsregeln. Die Lehre vom Richterrecht blendet i n einer von älteren rechtsgeschichtlichen Stadien her verständlichen, juristisch heute aber nicht mehr vertretbaren Weise diesen Gesamtrahmen aus. Sie läßt alles Licht allein auf die salomonische Situation fallen: Rechtsuchender - mangelhafte inhaltliche Normordnung überlegener Richter, der's schon richten wird: der aus den „Grundanschauungen des westeuropäischen Kulturkreises", aus der gemeinsamen Einsicht der „Sachkundigen aller Zeiten und Völker" 3 0 6 , aus „den" Grundsätzen der
4.3 Abschließende Überlegungen
123
Gerechtigkeit 307 , über die gesetzte Rechtsordnung hinaus, für Abhilfe sorgt. Diese gewaltsam verengte 308 , im Rahmen der Verfassung ihrerseits recht »lückenhafte 4 Sicht scheint einen unwiderstehlichen Druck dahin auszuüben, „die" Gerechtigkeit hic et nunc, sofort und ohne Umschweife, auf Biegen oder Brechen im Einzelfall erschaffen zu müssen. Das klägliche Bild des unselbständig subsumierenden, des automatenhaft „anwendenden" Richters wird dabei von Richterrecht setzenden oder entschuldigenden Instanzen der Justiz so sorgsam abschreckend gezeichnet, wie es sonst nur noch, allerdings voll Sarkasmus, Max Weber getan hat 3 0 9 . Das legt den Gedanken nahe, diese realitätsferne, mit der täglichen Praxis der Konkretisierung unvereinbare Übertreibung erfolge, um vor der düsteren Szenerie die Unvermeidlichkeit richterlichen Schöpfertums positivrechtlich um so unkritischer behaupten zu können; um eine „»schöpferische 4 Rechtstätigkeit für den Richter, zumindesten da, wo die Gesetze versagen 44, im Ton zwingender Notwendigkeit 3 1 0 zu verteidigen. Neben anderem wird dabei übersehen, daß die rechtsprechende Gewalt (fast) nie anwendet, daß sie die Rechtsnorm stets erst im Fall schaffen muß und darf - und zwar außerhalb des Entscheidungstyps, für den Begriffe wie Richterliche Rechtsfortbildung 4 oder ,Richterrecht 4 sinnvoll sind. Es wird nicht eingestanden, daß richterliche Rechts(fort)bildung, gesehen vom Normtext her, den die herrschende Schule ja mit den Normen verwechselt, der Normalfall ist. Anlaß für ein Wegdriften von rationaler Argumentation ist in der Regel das Feststellen oder Behaupten einer Lücke. Das Bekenntnis, eine Rechtsordnung könne nie lückenlos sein 311 , und deshalb müsse der Richter Lücken schließen 312 , ist widersprüchlich. Es kommt vom zweifelhaften Erbe des ver306
Wieacker, Gesetz und Richterkunst, 1958, 12 f. Coing, Grundzüge der Rechtsphilosophie, 2. Aufl. 1969, 340f. 308 Hierher gehört auch das Umgehen der Rechtspflicht zu Vorlagebeschlüssen nach Art. 100 Abs. 1 GG, so im Fall des Herrenreiter-Urteils des Bundesgerichtshofs. 309 Siehe zum einen die Redeweise des Bundesverfassungsgerichts im SorayaBeschluß: „ein enger Gesetzespositivismus"; als Alternative zum Anerkennen von Richterrecht eine Justiz, die darauf beschränkt sei, „gesetzgeberische Weisungen in den Grenzen des möglichen Wortsinns auf den Einzelfall anzuwenden" ; eine „richterliche Tätigkeit", die außerhalb des Richterrechts „nur im Erkennen und Aussprechen von Entscheidungen des Gesetzgebers" bestehe - BVerfGE 34, 269ff., 286f. - Andererseits Max Weber, Rechtssoziologie, 2. Aufl. 1967, 336: „Die Situation des an die bloße Interpretation von Paragraphen und Kontrakten gebundenen Rechtsautomaten, in welchen man oben den Tatbestand nebst den Kosten einwirft, auf daß er unten das Urteil nebst den Gründen ausspeie, erscheint den modernen Rechtspraktikern subaltern und w i r d gerade mit Universalisierung des kodifizierten formalen Gesetzesrechts immer peinlicher empfunden". - Ebd. das im Text folgende Zitat. 310 Richterliche Rechtsfortbildung sei „ i m modernen Staat geradezu unentbehrlich", BVerfGE 65, 182ff., 190. - Im historischen Kontext: „Wirklich bewußt schöpferisch', d.h. neues Recht schaffend, haben sich nur Propheten zum geltenden Recht verhalten"; Max Weber, Rechtssoziologie, 2. Aufl. 1967, 345. 311 Besonders deutlich der Soraya-Beschluß, BVerfGE 34, 269ff., 287. 312 So schon der naturrechtlich argumentierende Hermann Kantorowicz (Gnaeus Flavius), Der Kampf um die Rechtswissenschaft, 1906, 14: Das freie Recht richte sich 307
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4. Zur Zulässigkeit von Richterrecht
nunftrechtlichen Systemsgedankens nicht los, es geht dem Gesetzespositivismus noch immer in die Falle. An die Stelle der lückenhaften geltenden Rechtsordnung', also der Normtextmenge 313 , tritt, durch richterrechtliche Urkompetenz, deren „Sinnganzes". Der Gesamtsinn von etwas notwendig Lückenhaftem soll seinerseits aber vollständig sein: Das lockere Arsenal von „Wertvorstellungen", ausgesprochen durch die von „Willkür freie" selbstattestierte „praktische Vernunft" 3 1 4 höchster Richter, dringt in die Ritzen des mangelhaften materiellen Rechts und macht dieses für den Entscheidungsfall wie auch in Zukunft für den Falltypus vollkommen. Es legitimiert solch elitäres Handeln durch ,Wert' und ,Sinn', nicht aber durch Norm und Recht. Es rechtfertigt richterrechtliches Tun gegen die rechtsstaatlichdemokratische Ordnung von Funktionen, Kompetenzen und Verfahren. Diese untheoretische und pseudo-methodologische Strategie soll nicht zuletzt das leidige Problem nicht-allgemeiner, schichtgebundener, (un)bewußt bestimmten Interessen verpflichteter richterlicher Wertungen 315 verdrängen helfen, stellt sie sich doch ausdrücklich als „der praktischen Vernunft" und den „fundierten allgemeinen (!) Gerechtigkeitsvorstellungen der Gemeinschaft" 316 verpflichtet dar. Hier liegt eine Parallele zu pseudo-dogmatischen Versuchen,,Rechtsfortbildung' im zivilrechtlichen Einzelfall zu entschuldigen. Es hat sich gezeigt, daß dabei der Sache nach eine verschleierte positivistische Subsumtion unter verschiedene Arten des Normtext-Ersatzes stattfindet: unter „allgemeine Rechtsgedanken", unter „das" Recht, „die Rechtsidee", kurz: unter Quasi-Normtexte, die sich deutlich extra legem, zugleich aber angeblich intra ius befinden. Der Positivismus wird so nicht überwunden, sondern auf sogenannt höherer Ebene fortgesetzt. Er w i r d konserviert, statt durch eine nachpositivistische Rechtslehre und Methodik überholt. Die verschiedenen Strategien richterrechtlicher Praxis und Theorie sind von dieser mehrfachen Verlegenheit geprägt. Der Gesetzespositivismus ist von der herrschenden Schule nicht überwunden, gilt aber allgemein als gegen das „Dogma von der Lückenlosigkeit des Gesetzes" ; die Folgerung habe zu lauten: „Aus freiem Recht endlich muß das Gesetz in sich geschlossen werden, müssen seine Lücken ausgefüllt werden". 313 Bei Gerichtsentscheidungen mit Gesetzeskraft auch der Menge der Texte der einschlägigen Entscheidungsnormen; so vor allem für die Fälle von § 31 BVerfGG. 314 Diese Formulierungen in BVerfGE 34, 269ff., 287. 315 p ü r normtext-gelöste Wertungen solcher Art erklärt Ryffel, Rechtssoziologie, 1974, 343: „Gesellschaftlich bedingte Rechtsverzerrungen sind Beeinträchtigungen der Richtigkeit des Rechts durch abweichende Richtigkeitsvorstellungen, die nicht ausgewiesen werden können, sondern aus gesellschaftlichen Faktoren zu erklären sind". - Grundsätzlich, nämlich unter methodologischen und verfassungstheoretischen Gesichtspunkten zu den Fragen der Dezision durch Rechtsverbiegung, durch Rechtsunterstellung sowie der gesellschaftlichen Implikation: F. Müller, Juristische Methodik und Politisches System, 1976, v.a. 19ff., 24ff., 28ff., 44ff. 316 Diese Formulierungen in BVerfGE 34, 269ff., 287; Ausrufzeichen nicht im Original.
4.3 Abschließende Überlegungen
125
unglaubwürdig. Aus diesem ersten Widerspruch folgt für die Praxis der Gerichte ein zweiter. In antipositivistischem Gewand - „Sinnganzes", „Werte", „Rechtsidee" und ähnliches - werden die positivistischen Illusionen weitergepflegt. Die der wirklichen positiven Rechtsordnung nicht eigene Freiheit von Lücken wird außerhalb ihres Normtextbestands, vorgeblich aber zugleich innerhalb „des" Rechts angestrebt. Es wird ohne weitere Umstände auf „die" Gerechtigkeit durchgegriffen. Rechtsordnung und Rechtsfall werden in autoritären Sprachvorgängen holistischen Zuschnitts, durch irrationale und sich oft selbst nicht ganz ernst nehmende Methodik sowie aus dezisionistischer Entscheidungshaltung für beherrschbar erklärt. Die Alternative dazu lautet, sich von den frommen Wünschen des alten Vernunftrechts und des späteren Gesetzespositivismus zu lösen. Dafür muß, unter anderem, der jeweilige Bestand an Normtexten in einer Rechtsordnung vom faktischen gesellschaftlichen Regelungsbedarf unterschieden und damit die Lückenhaftigkeit allen positiven Rechts als gegeben hingenommen werden; übrigens bleibt ja auch ein richterrechtlich bereichertes System immer noch unvollständig. Die Funktionen- und Kompetenznormen des Verfassungsrechts sind zu respektieren, das Prozeß- und Verfahrensrecht ist als dem materiellen Recht gleichrangig zu behandeln. Recht und Rechtspolitik müssen ehrlich unterschieden werden, das heißt: in Normtexten bereits formalisierte Entscheidungen von allen anderen, die daneben oder darüber hinaus als wünschenswert gelten. Beiden, dem Recht wie der Rechtspolitik, ist das Ihre ohne normwidrige Grenzüberschreitung zu geben. Die herrschende Schule scheint noch immer betäubt von der nicht mehr neuen Einsicht, die Dogmen des Positivismus aufgeben zu müssen; verwirrt von der Aufgabe, richterliches Tun als stets selbständig und verantwortlich zu begreifen. Sonst wäre kaum zu erklären, warum die Debatte über das ganz andere Problem ,Richterrecht' noch heute, hundert Jahre nach ihrem Einsetzen, damit begründet wird, Rechts,anwendung' sei eben nicht nur Subsumtion von praktischen Fällen unter fertig vorgegebene Normen. Schon Max Weber hatte notiert, es werde „die juristische Präzision der Arbeit. . . ziemlich stark herabgesetzt", wenn man dem Richter in undurchdachter Reaktion auf den Positivismus nunmehr „die Krone des ,Schöpfers' aufdrückt" 3 1 7 . Der lange Abschied vom Positivismus fordert nicht etwa das Einschwenken auf nunmehr apokryphe und verdeckte Subsumtion positivrechtlich nicht mehr stützbarer Entscheidungen unter naturrechtliche (wie offen bei Kantorowicz) oder quasi-naturrechtliche Richterrechtsquellen von der Art „letzter Richtigkeitsgedanken" 318 , der „Grundsätze der Gerechtigkeit" 319 , 317 318
Rechtssoziologie, 2. Aufl. 1967, 346. Bartholomeyczik, Die Kunst der Gesetzesauslegung, 2. Aufl. 1960, 119.
126
4. Zur Zulässigkeit von Richterrecht
einer „verfassungsmäßigen Wertordnung" oder der „allgemeinen Prinzipien der Rechtsordnung" 320 . Die Abkehr von positivistischer Subsumtion führt vielmehr vom falsifizierten Modell des Syllogismus zum Konzept der Konkretisierung 321 . Dieses Konzept kann auch die Debatte um Richterrecht entzerren, die ihr zugrundeliegende Frage auf ihren sachlichen Kern verengen und damit die Antwort möglich machen: Was ,Richterrecht' genannt wird, ist dort, wo es gerechtfertigt werden kann, Bestandteil normaler Rechtsarbeit und nicht eigenständig 322 . Wo es dagegen ohne Rückführbarkeit auf Normtexte des geltenden Rechts, also eigenständig auftritt, kann es nicht gerechtfertigt werden. Was als »Richterrecht 4 bezeichnet wird, ist im Bereich des Grundgesetzes nie zugleich etwas eigenes und zulässig. An die Stelle positivistisch verkürzter juristischer Begriffe treten damit nicht „soziologische und ökonomische oder ethische Räsonnements" 323 von zweifelhafter Genauigkeit, sondern eine realistische Normtheorie und eine auf sie gestützte rationale Methodik und Dogmatik auch zu diesem alten Problem.
319
Coing, Grundzüge der Rechtsphilosophie, 2. Aufl. 1969, 341. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 5. Aufl. 1983, z.B. 398. 321 So z.B. Schroth, Philosophische und juristische Hermeneutik, in: A . K a u f mann / W. Hassemer (Hrsg.), Einführung in Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, 4. Aufl. 1985, 276ff., 290f. in Aufnahme der Strukturierenden Methodik. - Diese ist entwickelt bei: F. Müller, Juristische Methodik, 2. Aufl. 1976; sowie fortgeführt bei dems., Strukturierende Rechtslehre, 1984. - Genauere Nachweise zu deren Aufnahme in der wissenschaftlichen Diskussion ebd., 274ff., 314ff., 385ff., 391ff. 322 Das gilt auch für die Analogie. Soweit sie nicht durch einen begründbaren Umkehrschluß unzulässig wird, solange die analog erzeugte Rechts- und Entscheidungsnorm auf (einen oder mehrere) Normtexte methodisch rückführbar sind ^Gesetzes-' bzw. ,Rechtsanalogie'), handelt es sich nicht um richterrechtliche Setzung, sondern um erlaubte Konkretisierung. Die für sie typischen Argumente sind systematische, normbezogen-dogmatische und rechtspolitische Konkretisierungselemente; zu diesen F. Müller, Juristische Methodik, 2. Aufl. 1976, 162ff., 184ff., 194ff. - Im Fall echten Richterrechts wird - um an Formulierungen v. Savignys (Juristische Methodenlehre, hrsg. von Wesenberg, 1951, 39ff., 42) zu erinnern - „von außen etwas (sc. neue Normtexte) hinzugetan". Bei der (auf Normtexte rückführbaren) Analogie ist dagegen „die Gesetzgebung aus sich selbst ergänzt". 323 Insoweit zu Recht kritisch Max Weber, Rechtssoziologie, 2. Aufl. 1967, 346. 320
Namenverzeichnis Adomeit 115 Albert, H. 32 Arndt, Adolf 79,110
Ipsen, J. P. 10, 11, 23, 67, 69, 70, 78, 84, 105, 108, 109, 110 Isay 10, 19f., 77, 102, 105
Baden 42 f. Barion 24 Bartholomeyczik 27, 79, 125 Binder 16 Bonavides 47 Brändl 23, 107 Bruns 60, 61, 62 Bryde 55 Bülow 10, 39 Bydlinski 9, 21 f., 23, 24, 105
Jellinek, Georg 79, 121 Jesch 113
Cahill, F. V. 11 Canaris 19, 48, 77, 108, 109 Christensen 32, 56, 81 Coing 18, 23, 29f., 84, 103, 106, 112, 115, 123,126 Dahm 106 Dubischar 92 Düringer 105 Ebsen 121 Ehrlich 17 f., 103 Engisch 46 Enneccerus 111, 112 Eörsi 11 Erichsen 12, 14, 20, 23, 107 Esser 10, 13f., 30, 103, 108, 109 Fikentscher 23 Fischer, Robert 106 Flume 111 Forsthoff 24, 27,41, 111 Geiger, Theodor 27, 77 Germann 26, 102 Göldner 67 Harenburg 10, 14, 78, 103 Hassemer, W. 126 Hegel 16 Hegenbarth 81 Heinz 42 Hesse, K. 69f., 89,113 Heusinger, B. 111 Hirsch, H. J. 26,111 Horn, D. 42
Kantorowicz, H. 10, 17, 123, 125 Kaufmann, Arthur 28, 126 Kelsen 26, 30, 46, 52, 77 Kirchhof, P. 78, 109, 116 Knieper 69 Knittel 11 Koch 14, 21, 60, 78 Köhler, M. 59f., 62 Krawietz 9, 12, 92 Krey 70 Kriele 9, 14, 24, 29f., 46, 107 108 Kromer 81 Kruse 11, 102 Laband 33 Larenz 12, 14, 15, 16f., 20, 22, 41, 67, 70, 77, 83, 102, 103, 106, 111, 112, 126 Luhmann 102, 105 Märcic 9 Martens 12, 14, 20, 23, 107 Maurer 25 Meier-Hayoz 9, 11, 18, 23, 26, 79 Menger, Ch.-F. 69 Merten 70 Meyer-Cording 115,116 Meyer-Hentschel 106 Mugdan 112 Nipperdey 111, 112 Öhlinger 92 Olzen 99, 102, 107, 111 Oppermann 88 Orwell, George 76 Ossenbühl 12, 14, 20, 23, 107 Pardon 30 Podlech 10, 14, 78, 103 Prümm 70 Ptolemäus 119
128
Namenverzeichnis
Regelsberger 111 Ridder 70 Roellecke 110 Ross 26 Rousseau 90 Rüberg 11, 102 Rümelin 116 f. Rüßmann 14, 21, 60, 78 Rüthers 107, 111, 112, 116 Ryffel 15, 124 Säcker 12 Salomon 122 v. Savigny 126 Schlink 10, 14, 78, 92, 93, 103 Schmitt, C. 28, 42 Schneider, H.-P. 24, 42, 70, 78, 104 Schroth 126 Schwabe 70 Spendel 60, 62 Starck 70, 71, 78, 110, 111
Staudinger 23, 84, 106, 107, 115 Steinwedel 70 Stern 88 Trapp 14, 78» Tomuschat 112, 115, 116 Viehweg 28 Vogel, Th. 96 Voigt 115 Wagner 88 Wank 41, 70, 71, 77, 88, 104, 110 Weber, Max 39, 54, 115, 123, 125, 126 Weber, W. 24, 41 Weigand 71 Wesenberg 126 Wieacker 16f., 21, 26, 31, 41, 53, 123 Zippelius 26 Zweigert 28, 30, 103, 108,109
Sachverzeichnis
Abfindungsansprüche 76 —» s. a. Sozialplan-Entscheidung Abgeordnete 90 Absolutismus 91 Akte, -kognitive 16 Allgemeines Verwaltungsrecht 118 -»s.a. Gewohnheitsrecht Allgemeine Geschäftsbedingungen 23 Amtsrecht 54, 90, 91, 100, 117 s.a. Gewohnheitsrecht Analogie 27, 59, 67, 126 Analogieverbot 59 Analogieverfahren 11 Anknüpfungsbegriff 48 —» s.a. Normtext, Signalbegriff Anschauungswelt 43 Anspruchsdenken, zivilrechtliches 67 Anspruchsgrundlagen, zivilrechtliche 68 Anstaltsstaat, kontinentaler 33 Anstandsgefühl 16 Antipositivismus 44, 47 Anteil, schöpferischer 37, 42 —»s.a. Rechtsnorm als Konstruktion des Rechtsarbeiters Appellentscheidungen 121 f. Arbeitsmethodik, rechtsstaatliche 80 - der Juristen 91 —» s.a. Juristische Methodik Arbeitsökonomie 35 Arbeitsrecht 9, 72, 118 Argument, rechtspolitisches 10, 67 Argumentation, rationale 104 Argumente - nicht direkt normtextbezogene 93 - unmittelbar normtextbezogene 93 Argumentationslast 14 Argumentationstheorie 14, 15 Auffanglinie, rechtsstaatliche 81 —» s.a. Wortlaut, Grenzfunktion Auslegung 18f., 26, 31, 42, 45, 48, 55, 65, 67, 77, 102 - extensive 59 - genetische 56 - grammatische 42f., 55, 57, 81, 119 - historische 56 - systematische 56 - verfassungskonforme 61 —> s.a. Interpretation, Konkretisierung, Nachvollzug Autoritätsargumente 20, 27, 39, 71 9 F. Müller
Beamte 90 Beamtenwahl 90 Beamtengesetze 51 Bedeutung 48 —> s.a. Normtext, Sinn Bedürfnis, rechtspolitisches 82 Bedürfnis des Rechtslebens 23 Befolgungspflicht - beschränkte 23 Begrenzungsfunktion 48 - » Normtext, Signalwirkung Begriff 33 - juristischer 45, 48 s.a. Bedeutung, Sinn Begriffsinhalt 27 Begriff s jurisprudenz 18, 33 Begründungsdenken 32, 35, 36 Begründungspflichten 15, 93 Beschwichtigungsformeln 104, 107 Bestimmtheitsgebot 62 BestimmungsWirkung 87 - » s.a. Begrenzungsfunktion, Normtext, Signalwirkung Betriebsverfassungsgesetz 72, 74 —> s. a. Sozialplan-Entscheidung Billigkeit 31, 82 - richterliche 16 Bindung 22, 110 - demokratische 25, 35 - der Exekutive 112, 118 - der Rechtsprechung 112, 118 - der Staatsgewalten 88 - formelle 29, 106 - normative 24 - richterliche 41, 117 Bindungsnormen 21, 22, 23, 38, 61, 65, 67, 70, 94, 99 115, 122 - spezielle 22 Bindungspostulate, richterrechtliche 24, 104 Bindungspostulat staatstheoretisches 21 BindungsVorschriften 99 siehe Bindungsnormen Bindungswirkung 14, 89 Bürgerkrieg 91 Bürgerliches Gesetzbuch 63, 65, 66, 67,
68, 112
Bundesarbeitsgericht 71, 72, 73, 74, 75, 76, 104, 119 —» s.a. Sozialplan-Entscheidung
130
averzeichnis
Bundesgerichtshof 59, 60ff., 64ff.,70, 72, 74, 75, 101 Bundesrepublik 27 Bundessozialgericht 102 Bundestag 89 Bundesverfassungsgericht 22, 61, 62, 67, 69, 71 ff., 76, 77, 84, 101, 104, 109, 110, 112, 116, 119, 122 Bundesverwaltungsgericht 102 Bundeswahlgesetz 89 canones 41 s.a. Auslegung, Konkretisierungselemente common law 31 common sense 41 contra ius 11 contra-legem-Entscheidung 11, 12, 14, 16, 25, 26, 32, 37, 38, 97, 110 Culpa in contrahendo 9, 65, 97 - als Gewohnheitsrecht 117 Daten - dogmatische 57 - genetische 57 - systematische 57 —• s. a. Auslegung, canones, Konkretisierungselemente Deduktion 33 Deduktionsschema 14 Delegationspartielle 85 Demokratie 80, 82, 88, 91, 92,109, 121 Demokratiebindungen 37 s. a. Bindungen, Bindungsnormen Demokratiegebot 81 Demokratiegrundsatz 110 Demokratienormen 16, 21 Demokratieprinzip 90, 93 Dezision 31, 92, 125 durch Rechtsverbiegung 100, 91, 124 (Fn.) durch Rechtsunterstellung 100, 124 (Fn.) Dezisionismus 33, 44 Diener des Gesetzes 19 Dienstpflicht, richterliche 51, 71 Dogmatik 5, 11, 13, 19, 56, 57, 93, 105, 126 —» s.a. Daten, dogmatische Doktrinen, richterrechtliche 15 Durchbruchsentscheidungen 112, 115 Edikt, amtsrechtliches 100 s.a. Amtsrecht Eindeutigkeit 87 s.a. Wortlautgrenze, Normprogrammgrenze Eingangsdaten 57,116 - normative 50f. - nicht-normative 50 f. s.a. Konkretisierung, Normtext
Eingangsdaten der Fallösung 86 - für Rechtsentscheidungen 90 - nicht-normative 50 f. - normative 50f. - Normtexte als 51 s.a. Konkretisierung, Normtext Eingriffsermächtigungen, gewohnheitsrechtliche 113 Eingriffsverwaltung 117 Einheit der Rechtsordnung 34 s.a. Rechtsordnung Einheit der Verfassung 77 Einzelfall 20, 94,123 Einzelfallgerechtigkeit 83, 121 Element - dogmatisches 56 - grammatisches 85, 87 s.a. Auslegung, canones, Daten, Konkretisierungselemente Elemente, lösungstechnische 56 Elfes-Urteil 75 Empfänger aktive Leistung des 48 Entscheiden - juristisches 57 - normorientiertes 43, 93 - rechtspolitisches 52 Entscheidung 12, 23, 28, 33, 44, 51, 52, 81 - demokratische 91 - konkrete 57 - rechtmäßige 83 - rechtswidrige 83 - richterrechtliche 32 s.a. Entscheidungsnorm Entscheidungsbegründung 23 - konsequentialistische 14 Entscheidungsfall 25, 108, 124 Entscheidungsformel 57, 58 Entscheidungsgrundlagen 23, 24 Entscheidungshandeln 32 s. a. Handeln, juristisches Entscheidungsketten 29 Entscheidungsnorm 5,12,15,19f., 25f., 30, 34ff., 43, 46, 47, 49f, 50ff, 56ff., 64, 70, 76ff., 80, 81, 83, 85f., 88ff., 101, 103, 106, 110, 114, 115, 116, 118, 119, 126 - Adressat der 94 - als Endergebnis der Konkretisierung 49f., 52, 57, 88 - als Normtext 98 - bei Jellinek 121 - Bindungswirkung 106 - Erzeugung der 49 - individualisierte 87 - Nichtidentität mit Rechtsnorm 13 - richterliche 29 - Unterschied zu Rechtsnorm 35, 43, 47 - Zurechnung zur Rechtsnorm 96 s. a. Normtext, Rechtsnorm
Sachverzeichnis Entscheidungsnormsetzung 90, 91, 94 Entscheidungsprozesse 45, 49 Entscheidungstechnik 47 Entscheidungsvorgang 56, 57 Entstehungszeit 72 Epizykel-Theorie 119 Erfahrungswissenschaften 41 Erkenntnisgrund 23 Erkenntnisquellen 13, 103 s.a. Rechtsquellen Ermessensausübung 66 Ethik, richterrechtliche 29 Evidenzargumente 39 Exekutive 14, 48, 61, 79, 88, 90, 94 - Bindung der 70 - ureigene Kompetenz der 89 —» s. a. Bindung, der Exekutive Exekutivrecht 90 Explikation 92 Extension 14 extra legem 15, 16, 32, 38, 120, 124 Fachjurist 53 Fall 24, 47, 48, 49, 54, 55, 57 Fallbereich 35, 50, 57, 82, 87 -»s.a. Normbereich, Sachbereich Falle, logische 47, 52 s.a. Normbegriff, positivistischer Fallentscheidung 25, 48, 59, 120 Fallfrage 57 Fallösung 47, 49, 59 - juristische 45 Fallnormen 23 Falltypus 124 Flexibilität 30 Folgenbeseitigungsanspruch 66 Folgenver antwortung 52 Folgezustände 14 Forderungsverletzung, positive 9, 63 f., 67 f., 97 - als Gewohnheitsrecht 117 Form, sprachliche 45 Formenstrenge 116 Freiheitsstrafe, lebenslange 59 ff. Freirechtsbewegung 19, 22 Freirechtsschule 17, 33, 36 - soziologische Richtung 17 Fristen 28, 55 Fristsetzung 122 Fristvorschriften 48 Funktion, gesetzgeberische 105 Funktionennormen 125 Funktionen 92, 121, 124 s.a. Arbeitsweisen, Strukturen, Verfassungstheorie Funktionenlehre 88 Funktionenordnung 38 Funktionenverteilung 5, 99 Funktionsregeln 16 Funktionsträger 93 Funktionszuweisung 19, 24 9*
131
Ganzheit der Rechtsordnung 34 s. a. Rechtsordnung Gebrauchsweise juristischer Begriffe 45 Gehalt, normativer 84 Gehör, rechtliches 93 Geist - objektiver 16 - objektivierter 16 - subjektiver 16 Geist des Rechts 12 Geldersatz 68, 69, 73 s.a. Soraya-Entscheidung Geltung 5, 23, 25,51,80 121 - faktische 78 - formelle 106f. - informelle 106 f. - richterrechtlicher Aussagen 10, 106 - und Nichtgeltung 95 - Unterschied zu Normativität 51 - von Normtexten 106 f. s.a. Recht, geltendes; Normativität Geltungsanordnung 51 Geltungsbegriff 29 Geltungskraft, richterrechtliche 106 Geltungsstruktur 92, 95 Geltungsvorsprung 13 Generalisierung 105 Generalklauseln 5, 26, 61, 84, 86, 88, 89, 96, 101, 109 - als Normfragmente 86 - Struktur der 84 f. Gerechtigkeit 9, 18, 31, 103, 104, 106, 121,122,123,125 - Grundsätze der 125 - materiale 120 s. a. Einzelfallgerechtigkeit Gerechtigkeitsmaßstab - transzendenter 37 Gerechtigkeitsprinzip 28 Gerechtigkeits vor Stellungen 124 Gerichte 23, 29, 30, 31, 120 - Aufgabe der 119 - Bindung der 108 - Funktion der 30 - Rechtsbildung durch 109 s.a. Bindung, Bindungsnormen Gerichtsgebrauch 111 Gerichtsorganisation 18 Gesamtrechtsordnung 12, 20 - Geist der 11 - Prinzipien der 15 - Wertungen der 11 s.a. Rechtsordnung Gesamtsinn 32 s.a. Rechtsordnung Geschlossenheit der Rechtsordnung 121 - substantielle 33 Gesetz 12, 13, 17, 26, 27, 28, 39, 79 - als logischer Rahmen 12 - Anwendung des 37 - Basisfunktion 79
132 -
averzeichnis
geschriebenes 69 Lückenlosigkeit des 124 positives 19, 35 und Recht 27, 29, 69, 70 Vorbehalt des 21, 37, 83, 110, 114, 118 - Vorrang des 37, 83, 114,118 s.a. Normtext, Rechtsnorm, Rechtsordnung Gesetzesanwendung 42, 88 s. a. Konkretisierung Gesetzesauslegung 23, 104 s.a. Auslegung, Konkretisierung Gesetzesbegriffe 31, 48 s.a. Begriff Gesetzesbindung 17, 29, 58, 60, 61, 62, 69, 70, 78, 81, 90, 100, 104 - klassische 27 - richterliche 71 s.a. Bindung, Bindungsnormen, Normtext Gesetzesfortbildung - contra legem 19 - praeter legem 19, 109 s.a. Rechtsfortbildung Gesetzesinhalt 28 Gesetzeskraft 89, 124 - der Entscheidung 94 Gesetzeslücken 101 Gesetzesmaterialien 11, 120 Gesetzespositivismus 13, 16ff., 22, 31 ff., 36, 38ff., 42ff., 46f., 51, 53, 54, 69, 73, 79, 95, 100, 119f., 124f. - antipositivistischer 32 - Aporien des 17 - Rechtsnormmodell 53 - Subsumtionslehre 17 - und Subsumtion 124, 126 s.a. Rechtsnorm, Subsumtion, Syllogismusmodell Gesetzesrecht 13, 24, 28, 29, 36, 43, 54, 84, 102,103, 107, 108, 111 Gesetzeszweck 28 Gesetzgeber 9, 14, 15, 18, 27, 28, 30, 32, 41,58, 62,101, 104,112,116 - Problemdruck auf 122 - vernunftrechtlicher 120 - Wüle des 61 Gesetzgebung 30, 42, 48, 88, 90, 94, 126 - als Normtextsetzung 88ff., 94, 116, 120 - demokratische 104 - richterliche 79, 110 s. a. Normtext, Normtextsetzung Gesetzgebungslehre 94 Gesetzgebungsverfahren 111 Gesetzmäßigkeit 28 Gewalt - aktuelle 92 - sprachvermittelte 91 Gewaltbegriff 59
Gewalt, öffentliche siehe Öffentliche Gewalt Gewaltenteilung 12,13,16,19, 24, 30, 38, 61, 76, 79, 80, 82, 88, 92, 94, 105, 109 Gewaltenteilungsgrundsatz 21 Gewaltenteilungslehre 88 Gewaltenteilungsnormen 22, 67, 95 Gewaltenteilungsordnung 68 Gewaltenteilungsprinzip 104 - Zwecke 104 Gewaltentrennung 69 Gewaltenverteilung 120, 121 Gewohnheitsrecht 5, 13, 19, 22, 23, 27, 28, 65, 69, 70, 79, 96,100,102,104,108, 109, 111, 114, 116, 117, 118, 122 s.a. Amtsrecht, Volksrecht Gewohnheitsrecht 111 ff. - abrogatorisches 113 - als Juristenrecht 115 - als Richterrecht 115 - amtsrechtliches 115, 117 - amtsrechtlich entstandenes 115 - Begriff 111 - Begriff nach BVerfG 112 - contra legem 12 - Entstehen U l f , 115, 118 - fehlender Normtext 112, 114 - fehlende Sprachfassung 114 - Geltungsgrund 111 - Konkretisieren von 113 - Neubildung von 117 - praeter legem et constitutionem 113, 115 - und Grundgesetz 112 - Voraussetzungen 116 - volksrechtliches 115, 117 s. a. Amtsrecht, Volksrecht Ginseng-Entscheidung 66, 68 Gleichberechtigung 21 Gleichberechtigungs-Entscheidung 84, 101 Gleichheit proportionale 21 Gleichheitsgebot 76 Grenze, rechtsstaatliche 29, 52 s.a. Wortlautgrenze Grenzfunktion, negative 42, 87 s. a. Normtext, Wortlautgrenze Grundgesetz 5, 16, 18, 22, 48, 63, 64, 66, 68, 69, 70, 76, 91, 100, 108, 109, 110, 111, 115, 117, 118, 119, 122, 126 - Geltungsbereich 29 - Kompetenzordnung 110 - Verfassungstyp 113, 121 Grundrechte 66, 75, 103 Grundrechtsdogmatik 117 Grundrechtsfunktion 67 Grundsätze - allgemeine 68 - rechtsethische 15
Sachverzeichnis Grundsatzkritik, nachpositivistische 32ff., 38f. Gutachtenstil 56 Haftungsmaßstab 64 Handeln, des Juristen 16, 43, 44 - schöpferische Komponente 32, 119 Handeln - ethisches 16 - rechtsstaatliches 92 - richterrechtliches 95, 97 Handeln, richterliches 19, 25, 28, 34, 54 - gesetzesfreies 10, 102 Handlungstheorie 94 —»s.a. Leistung, aktive des Empfängers Handeln, des Juristen Strukturierende Rechtslehre, als Handlungstheorie Hermeneutik 33 Herrenreiter-Entscheidung 66, 68, 74, 76, 97, 122 Historische Rechtsschule 12,13 Holismus 12, 20, 27, 70, 125 horror vacui 16 f. Hypothesen, alltagsweltliche 43 Illusionen, positivistische 125 Immunität 89, 94 Imperativ, hypothetischer 47 s.a. Normbegriff, positivistischer Implikation - gesellschaftliche 92, 124 - normative 92 Innovation, richterrechtliche 14 Institutionen 13 Integrationslehre 33 Intension 14 inter partes 106 Interessenabwägung 29 Interessenjurisprudenz 33 Interpretation 27, 39, 42, 45, 48, 57, 79, 82 - grammatische 56 s.a. Auslegung, Konkretisierung intra ius 15, 32, 120, 124 Irrationalismus 22 Judikative 14, 88, 99 - Bindung der 70 - Kompetenz der 89 s.a. Bindung, Bindungsnormen, Öffentliche Gewalt Jurisprudenz 32, 33 s.a. Bindung, Bindungsnormen, Öffentliche Gewalt Justizstaat 27 Justizsyllogismus 14,54,57,58 s.a. Syllogismus, Subsumtion Justizverweigerungsverbot 121
133
Kautelarrechtsschöpfung 54 Klageabweisung 116 Kodifikationsdenken 33 Kodifikationsgläubigkeit 13 Kollisionsnormen 81 Kommunikationstheorie 42f., 48 Kompetenz, staatsrechtliche 115 Kompetenz-Kompetenz 27 Kompetenzen 4, 116, 121, 124 Kompetenznormen 67, 94, 100, 125 Kompetenzordnung 13,68,79,120 Kompetenzverteilung siehe Kompetenzordnung Kompetenzzuweisung 90 Konflikte, methodologische 81, 93 Konkretisierung 5, 16, 26f., 29, 34, 42, 44f., 52, 58, 84f., 88, 95, lOOf., 110, 119, 123, 126 - Begriff 46 ff. - Eingangsdaten der 25, 50, 95 - Grenze zulässiger 80, 96 - informelle 93 - Subjekt 51f. s.a. Normbetroffene, Normtextbeachtung Konkretisierungselemente 11, 21, 29, 34, 37, 81, 93 - grammatische 56 - normbezogen-dogmatische 126 - primär sprachliche 35, 45, 82 - rechtspolitische 126 - sekundär sprachliche 35 - sprachliche 55 - systematische 126 s.a. Auslegung, canones, Daten, Elemente Konkretisierungsfunktion 81 Konkretisierungsleistung, positive 85, 87 s.a. Wortlaut Konkretisierungsmodell 37 Konkretisierungssubjekt 51 f. Konkretisierungsvorgang 25, 35, 49f., 54, 87, 106, 116 - Eingangsdaten 34, 93 - Subjekt des 52 s.a. Eingangsdaten KonkretisierungsWirkung 42 Konstruktion, begriffliche 52, 87 Kontext 41, 42 Kontinuität 24, 104 Kontrolle - rechtsstaatliche 25, 35 Kontrollnormen 38, 81 Konzept, nachpositivistisches 54 Kreislauf rechtlicher Normierung 90 Krypto-Positivismus 32 Kunst, richterliche 29 Law in action 39 Law in the books 39 Leerformel 70, 87
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Legalität 77 - verfassungrechtliche 22, 105 lege artis 84 Legislative 12, 15, 16, 20, 29, 31, 34, 43, 62, 72, 74, 89, 94, 116, 120f. - Kompetenz der 89 s.a. Öffentliche Gewalt Legislativorgane, Entscheidungsarbeit der 122 Legislatiwerfahren 61 Legitimation, verfassungsrechtliche 41 Legitimität 24, 77, 92, 102, 104 - duale 54 - verfassungsrechtliche 67 - abgeleitete 79 Legitimitätsanspruch - paradoxer 83 Leistung, aktive des Empfängers 4, 48, 52 f. s.a. Kommunikationstheorie Leitgedanken 41 Leitjudikat 115 Lex ante casum 47 Logik 52 Logik, objektive 52 Lücke 11, 17, 25, 26, 32, 33, 62, 67, 71, 109, 110, 113, 114, 120, 123, 124f. - Begriff 19 - materiellrechtliche 120 - planwidrige 37 Lückenfüllung 9, 69, 84,101 Lückenlosigkeit 17, 18, 32, 55, 119f. Lückenschließung durch Gesetzgeber 120 Lückentheorem 19, 36, 46, 53, 62, 72 - K r i t i k des 18 Mandat, imperatives 90 Maßstabsnormen 81 Maßstäbe, außergesetzliche 86 Maßstäbe, verfassungsrechtliche 121 Mehrdeutigkeit 26 Menschenwürde 75, 76 Metaphysik 18 Methoden - richterlicher Rechtsfortbildung 11 Methodenehrlichkeit 93 Methodenideal, positivistisches 31 Methodenlehre 41, 78, 81 Methodenpostulate, gewohnheitsrechtliche 93 Methodenpostulate, verfassungstheoretische 93 Methodenrelevante Normen siehe Norm, methodenrelevante Methodenrelevante Rechtssätze 79f., 86, 92f., 97, 119 Methodenrelevante Verfassungsnormen 13 Methodik 5, 19, 34, 58, 71, 84, 93, 100, 125
- juristische 10, 31, 41, 4 3 f , 47, 78f, 96, 105 - nachpositivistische 35, 53, 56f.,124 - politisch-juristische 92 - rationale 126 - realistische 100 - rechtsstaatliche 96 Modellgrundlage 46 Moral 18 Musterprozesse 106 Nachpositivistische Grundsatzkritik 31 Nachvollzug 48 s.a. Auslegung, Konkretisierung Natur der Sache 11, 15, 16, 23, 31 Naturalrestitution 66 Naturrecht 10, 17, 23, 30, 38, 39,112,125 Naturwissenschaft 31 Neopositivismus 47 Neukantianismus 31 non liquet 21, 22, 104 Norm 13, 27f, 47, 49, 52, 55, 106 - fertig vorgegebene 125 - generelle 30 - gesetzliche 38 - Gleichrangigkeit von 34 - individuelle 30 - materielle 120 - methodenrelevante 79f, 86, 119 - Positivitàt der 34 - rechtsstaatliche 81 - richterliche 19, 36 - richterrechtliche 16ff., 21, 28, 38 - Setzung von 100 - und Fall 43 ff. - und Wirklichkeit 49 ff. - unvollständige 85 f. - vage 89 s.a. Gesetz, Rechtsnorm Normadressaten 51 Normativität 5, 4 8 f , 93 - als Vorgang 46, 51, 94 - Struktur von 44 f. - Unterschied zu Geltung 51 s.a. Recht, geltendes; Geltung Normauffassung, positivistische 31 Normbegriff 33, 38 - positivistischer 46 Normbereich 34f, 4 5 f , 49f., 54, 56f, 82, 86f. - Auswahl des 93 - rechtserzeugter 48 s. a. Fallbereich, Norm, Rechtsnorm, Sachbereich Normbestand - Identität des 34 Normbestandteil - begrifflicher 86 Normbetroffene 93, 107, 115, 118 Normenhierarchie 99
Sachverzeichnis Normkonkretisierung 38, 45, 49, 50, 52, 92,100 - Vorgang der 35 s.a. Konkretisierung Normenkontrolle, abstrakte 98 Normenkontrolle, konkrete 98 - Vorlagepflicht in der 62, 67, 69 Normenkontrollverfahren 69 Normfragmente 85 Norminhalt 27 Normprogramm 34f, 44, 46, 50f, 54ff., 82, 85, 86, 93 s.a. Rechtsnorm, Rechtsnormtheorie Normprogrammgrenze 81, 87, 93 - rechtsstaatliche 110 s. a. Wortlaut, Wortlautgrenze Normsetzung 122 - richterliche 5, 30, 39 - richterrechtliche 37 Normstruktur 82 - Typologie 55 s. a. Rechtsnorm, Rechtsnormtheorie Normtext 5, l l f f . , 17ff, 25ff., 29f, 32, 34, 36ff, 42f., 45ff, 50ff, 60ff, 77, 79ff, 84, 86f., 91 f f , 102f, 106, 116, 118, 123, 126 - als Ausgangspunkt 15 - als Eingangsdatum der Fallösung 34, 49, 99, 114 - als Kontrollinstanz 15 - Bindung an 91 - demokratisches Erzeugen von 91 - Dichte 85 - Erzeugen von 88f. - formelle Wirkung 93 - geltender 61 - Geltung 51 - Geltungsforderung von 95 - Geltungsvorsprung 103 - informelle Wirkung 93 - Inkraftsetzen von 89 - legislatorischer 106, 109, 111 - methodische Rückführbarkeit auf 19, 110, 119, 126 - negative Funktion 97 - parlamentarischer 102, 107, 115 - positive Funktion 96f. - quantifizierender 47 - richterrechtlicher 114 - setzen von 100 - Signalwirkung 85 - überspielen 62 - Unterschied zu Rechtsnorm 34 f f , 42, 4 6 f , 54, 56 - vager 85,87 s.a. Normprogramm, Rechtsnorm, Wortlaut Normtextbeachtung 93 Normtextbehandlung 45 Normtextfaktoren, numerische 29 Normtextfortbildung 32, 34
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s.a. Rechtsfortbildung Normtextgeber 20 s.a. Gesetzgebung, Legislative Normtextgrenze 93 s. a. Normprogrammgrenze, Wortlaut, Wortlautgrenze Normtexthypothese 30, 50, 52 s.a. Konkretisierung Normtextmenge 34, 35, 50f, 80ff, 83, 120, 124 s. a. Geltung; Recht, geltendes Normtextsetzung 90, 98f, lOOf, 110 - durch BVerfG 108 - durch Gerichte 108 - Kompetenz zur 83, 100 - legislatorische 11 Normtheorie 54 f f , 93 - Basis von 55 - nachpositivistische 56 - positivistische 16, 39 - realistische 126 - verkürzte 54 s.a. Rechtsnorm, Rechtsnormtheorie Normverständnis, positivistisches 35 s.a. Gesetzespositivismus, Positivismus Normverwirklichung 90 Normwandel 70 Normwortlaut 61 s.a. Wortlaut Nützlichkeit, soziale 18 Obersatz 32, 47, 52, 54 - formalisierter 31, 46 - logischer 36 s.a. Subsumtion, Syllogismus Objektivität 24, 104 s.a. Bindungspostulate, richterrechtliche Öffentliche Gewalt 91 - ausführende 88 - Funktionen 121 - gesetzgebende 5, 120 - konstitutionelle 92 - rechtsprechende 5, 13,15, 27, 58, 70, 78, 83, 90f, 100 Öffentliches Recht 63, 117 Ordnungsmodell, sachgeprägtes 45 sa. Normbereich, Rechtsnorm, Rechtsnormtheorie Organisation 116 Organisationsnormen 55 Organisationsrecht 116,117 - formstrenges 117 Pandektenwissenschaft 18, 33 Parlament 94, 100 Patrizier 91 Persönlichkeitsrecht, allgemeines 9, 66, 67 f , 72 f.
136
averzeichnis
Persönlichkeitsschutz, zivilrechtlicher 67 Persuasive authority 23, 29, 106 Plebejer 91 Positivismus siehe Gesetzespositivismus Positivität, formelle 28 Präjudizien 11, 13, 14, 29 - Bindung an 107 Präjudizienrechtsschöpfung 54 praeter constitutionem 104 praeter-legem-Entscheidung 26, 37, 62, 97, 103 Prätor 92, 100 Pragmatismus 29 Praktikabilität 83 s.a. Bindungspostulate, richterrechtliche Prinzipien 33 - immanente 31 - überpositive 37 Problemformulierung - richterrechtliche 9, 10 Prozeßrecht 18, 94, 99, 108,116,121,125 - Zusammenspiel mit materiellem Recht 121 Pseudo-Normtext 64, 82, 120 s.a. Quasi-Normtext Ptolemäisches Weltbild 119 Publizität 24, 104 s.a. Bindungspostulate, richterrechtliche Qualität - normative 24 Quasi-Normtext 61, 63, 65, 67, 77, 94, 96, 106, 109, 116, 118, 119, 124 s.a. Pseudo-Normtext Rangerhöhung, apokryphe 29 rätedemokratische Konzepte 90 Rationalität 24, 41, 104 - Doppelfunktion von 92 - methodische 70 Raum - rechtsleerer 108 - rechtsloser 115 Realdaten 34, 35, 46, 82 Realität, soziale 35, 42, 44, 55, 93 Recht 11, 32 - bürokratisiertes 33 - formalisiertes 33 - freies 17, 123, 124 - geschriebenes 70, 100, 114, 115 - konkretes 90 - materielles 18, 116, 120, 124, 125 - monopolisiertes 33 - Normativität des positiven 37 - positives 12,15,18, 21, 22, 23, 24, 47, 54, 60, 83, 108, 122 - Richtigkeit des 124
- Steuerungsfunktion 94 - subjektiv-öffentliches 66 - und Wirklichkeit 31, 34, 43 - ungeschriebenes positives 112 Recht, geltendes 24, 35, 50, 54, 58, 59, 64, 78, 80 83, 85, 86, 87, 88, 96, 97, 120 - funktionelle Vollständigkeit 129 s.a. Geltung, Normativität Rechtmäßigkeit 15 Rechtsanwendung 30, 48,125 Rechtsanwendungslehre 26, 43 Rechtsarbeit 25, 37, 44, 50, 53, 126 Rechtsarbeiter 52, 57, 87 Rechtsautomat 39, 123 Rechtsbegriffe 33, 120 - unbestimmte 26, 33, 84 Rechtsbewußtsein 12, 16, 72 Rechtsbildung, sekundäre 13 Rechtsbildung, freie 103 Rechtsbindung 27, 62 - der Judikative 14 - des Richters 12 - von gesetzgebender Gewalt 37 - von vollziehender Gewalt 37 s. a. Bindung, Bindungsnormen Rechtserkenntnis 31 Rechtserzeugung 31, 90 - Stadien der 121 Rechtserzeugungsprärogative 42 Rechtserzeugungsreflexion 47 Rechtserzeugungstheorie 26 Rechtsfall 47, 125 - entschiedener 25, 51, 52 s.a. Fallösung, Konkretisierung Rechtsfindung - f r e i e l l , 18, 27, 79 - schöpferische 9, 22, 69, 101 - praeter legem 26 Rechtsfortbildung 19, 26, 32, 34, 36, 38, 41,42,43,71,85,97,99, 124 - gesetzesändernde 22, 103 - gesetzesübersteigende 15 - Kompetenz zur 11 - richterliche 9f., 13, 67, 71, 109, 119, 123 - zulässige 37 Rechtsgedanke 16 - allgemeiner 65, 68, 124 Rechtsgeltungs wille 111 Rechtsgenossen 118 Rechtsgeschichte, römische 91 Rechtsgewährleistung, Gebot der 121 Rechtsgrundsatz 20 - allgemeiner 101 Rechtsidee 20, 21, 32, 33, 83, 124, 125 - allgemeine 82 Rechtsinstitute 33 Rechtskonkretisierung 13 s.a. Konkretisierung, Normkonkretisierung Rechtskraft 106
Sachverzeichnis - formelle 23, 106 - materielle 23, 106 Rechtsleben 113 Rechtslehre 16, 63 - bewährte 31 - nachpositivistische 124 Rechtsmißbrauch, Verbot des 66 Rechtsneubildung - makroskopisch 13, 14 - mikroskopisch 13 Rechtsnorm 5, 12, 13, 19, 20, 27, 30, 34, 37, 38, 40, 42f., 45ff., 56ff., 64, 76, 78ff., 84ff., 89, lOOf., 110, 114ff., 119, 126 - als Konstruktion des Rechtsarbeiters 37 - als Zwischenergebnis 49f., 52, 88 - als Zwischenergebnis der Konkretisierung 47, 50, 52, 57 - Erzeugung 47ff., 52, 58 - Individualisierung 49, 52 - Konstruktion 47, 52, 54, 57, 88, 123 - Nichtidentität mit Entscheidungsnorm 13 - Nichtidentität mit Normtext 13 - positivistische 53 - Setzen von 91, 94, 96 - Strukturmodell 45 - Typen von 45 - und Fall 44 - und Wirklichkeit 44 - Unterschied zu Entscheidungsnorm 43,47 s. a. Norm Rechtsnormbegriff 34, 35 Rechtsnormkonstruktion 5, 49, 90 Rechtsnormtheorie 31, 38, 43, 57, 80, 93 - dynamische 37 - positivistische 42, 50 - strukturierende 43 ff. Rechtsnotstand 22, 103 Rechtsordnung 18, 22, 32, 36, 46, 68, 69, 73, 87, 119, 120 - allgemeine Prinzipien 126 - anwendungsbereite 53 - Einheit der 32, 120, 121 - geltende 124 - Gesamtsinn der 33 - Geschlossenheit der 34, 46, 120, 121 - gesetzte 123 - gleichheitliche Einheit 91 - immanente Prinzipien der 12 - lückenlose 36, 102 - positive 53, 95, 117, 125 - unvollständige 37 Rechtspolitik 29, 125 Rechtsprechimg 5, 9, 12, 13, 22, 23, 24, 29, 36, 39, 40, 48, 56, 61, 62, 63, 67, 84, 89, 90, 117 - Analyse der 58, 64, 65, 66, 67, 68, 69, 70, 72, 73, 76, 77
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- Bindung der 119 - gefestigte 112 - höchstrichterliche 102, 122 - ständige 112 Rechtsprechung, richterrechtliche - des Bundesarbeitsgerichts 71, 72, 73, 76 - des Bundesgerichtshofs in Strafsachen 59, 60, 61, 62 - des Bundesgerichtshofs in Zivilsachen 64, 65, 66, 68, 77, 101, 111, 113 - des Bundessozialgerichts 111 - des Bundesverfassungsgerichts 9, 10, 22, 36, 66, 69, 70, 71, 72, 73, 74, 75, 76, 77, 84, 88, 95, 100, 101, 104, 110, 113, 116, 117, 118, 119, 123,124 - des Bundesverwaltungsgerichts 66, 102,113 - des Reichsgerichts in Zivilsachen 63, 64, 65, 66, 101 Rechtsprinzipien 12 Rechtsquelle 12,13, 22, 23, 24, 26, 27, 43, 66, 70, 74, 110, 112, 114, 116 - effizientere 29 - eigener Art 23, 107 - eigenständige 113 - faktische 108 - formelle 29 - normative 23 - Rangordnung 69 - uneigentliche 23, 107 Rechtsquellenlehre 10, 109, 111 Rechtsquellenqualität 78 Rechtssatz 17, 18, 55, 103 Rechtssätze, allgemeine 29, 63 Rechtsschöpfung 27, 54, 79 - richterliche 113 Rechtssicherheit 30, 41 Rechtssoziologie 53, 102, 105 Rechtsstaat 15f., 30, 37, 47, 69ff., 79ff., 88, 90ff., 97, 109, 118f., 121 - Legitimation des 92, 95 - neuzeitlicher 92 - Textstruktur des 100 - und Sprache 92 Rechtsstaatlichkeit 22 Rechtsstaatsnormen 16, 21 Rechtsstaatsprinzip 62, 65, 93 Rechtssystem 34 - Geschlossenheit 79 Rechtstheorie 10, 52, 121 - nachpositivistische 100 Rechtsüberzeugung 75, 111, 112, 115, 116 Rechtsvergleichung 11, 18, 28, 30, 103 Rechtsverkehr 112, 14, 118 - Bedürfnisse des 15, 82, 121 Rechtsverordnungen 89, 90, 94, 99 Rechtsverwirklichung 25, 47 Rechtsverzerrung 15
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averzeichnis
Rechtswissenschaft 12f., 25, 47, 51 Reduktion, teleologische 11 Regeln, methodische 52, 79 Regelung, abschließende 73 Regelungsbedarf, gesellschaftlicher 37, 80, 125 Regelungslücke 60, 65, 72, 73, 74 - nachträgliche 72 s.a. Lücke Reichsgericht 63, 64, 66, 68, 100, 122 Reine Rechtslehre 30, 38, 51, 52 Rhetorik 15, 28 Richter 18f.,27f., 58, 122f. - als Gesetzgeber 79, 103 - als normsetzende Stelle 105 - gesetzgeberische Stellung des 42 Richterbild 53 Richterkunst 16 Richterpersönlichkeit 18 Richterrecht 9 ff. - als Gewohnheitsrecht 112 - als Grundphänomen 5 - als Rechtsquelle 102 - als Setzen von Normtexten 100, 102 ff., 105 - als Subsumtionsüberschuß 26, 35, 53 - Apologie 109 - Begriff 25 - Bildungsvorgang 25 - Bindung 19, 107 - Bindungswirkung 20 - contra legem 60, 103, 120 - Entstehen 28 - faktische Geltung 106 - fehlende Voraussetzung für Gewohnheitsrecht 113 - Fragestellung 26 - Gegenstandsbereich des 24 - gesetzesergänzendes 25, 96f. - gesetzeskonkretisierendes 110 - gesetzeskorrigierendes 69, 96, 110 - Gesetzesrang 23 - gesetzesvertretendes 110 - Grenzen 76, 103, 106, 110 - Grundfragen 30 - interne Begrenzung 19 - Legitimität von 38, 103 - Legitimitätsdefizit von 106 - Normstruktur 92 - Postulate 104 - Problem des 83 - Rang als Rechtsquelle 106ff. - rechtstheoretische Begründung des 11 ff. - rechtstheoretische Struktur 77 - schöpferische Komponente 54 - starting point von 116 - strafbegründendes 59 - strafverschärfendes 59 - Textstruktur 92
-
1. Typus 53 2. Typus 54 und Generalklausel 84 ff. und Gesetzespositivismus 16f., 31, 33f., 36, 38, 44, 46 - und Gewohnheitsrecht 111 ff. - und Positivismus 54, 119ff., 124f. - und Verfassungslehre 88ff. - Unzulässigkeit 97f., 104 - Verbindlichkeit von 24, 107 f. - verfassungsrechtliche Begründung 20 - Vorliegen 80 - Zulässigkeit 107 ff. Richterrechtsdebatte - Hauptproblem der 24 Richterrechtsdoktrin 67 Richterwahl 90 Richtigkeitsformel 28 Richtigkeitsgedanken, letzte 27, 125 Richtigkeitsverantwortung 52 Richtlinien, außergesetzliche 16, 53 Römisches Imperium 54 Römische Kaiserzeit 91 Römische Republik 91 Rückführbarkeit - methodische 88, 89 s.a. Wortlaut Rückwirkung 30 Rückwirkungsverbot 38, 93 Sachbereich 35, 45, 50, 52, 57, 82, 86, 87 92,93 s.a. Fallbereich, Normbereich Sachbereichselemente 57 Sachelemente 45 Sachentscheidungsvoraussetzungen 5 6 Sachverhalt 35, 48ff., 55ff., 85, 87 Sanktion 30 Satzungen 89, 90, 94 Satzungsautonomie 99 Satzungsrecht 99, 100 secundum-legem-Entscheidung 26 Sein und Sollen 31, 44, 46 Semantik 15 Signalbegriff 48 s.a. Begriff sine-lege-Entscheidung 19,109 Sinnganzes 10, 20, 22, 69, 74, 124, 125 Sitten, gute 84, 86, 87 Sittengesetz 16, 31 Soraya-Entscheidung 22, 69ff., 73ff., 96, 100, 104, 109, 118, 123 Sozialplan-Entscheidung 71 ff., 75f., 97, 109f., 119 Sozialstaatsgebot 21 Sozialstaatsnormen 75 Sozialstaatsprinzip 74 SozialWissenschaft 30 Soziologismus 44 Spielräume, semantische 14
Sachverzeichnis Sprachdaten 34, 35, 55, 57, 81, 82 Sub-Normtexte 85, 86 Subsumtion 16, 25ff., 31ff, 40, 42, 47, 52, 57f., 80, 88, 95, lOOf, 110, 119f., 125 - deduktive 16 - formallogische 57 - logische 34, 55 - positivistische 124, 126 - syllogistische 33, 38 Subsumtionslehre - positivistische 17 Subsumtionsmodell 53, 54, 55, 98 Subsumtionsüberschuß 38 Suggestivargumente 39, 71 Syllogismus 25, 39, 40, 46, 47, 52, 56, 58, 100 - logischer 119 - falsifiziertes Modell des 126 Syllogismusmodell 26, 32 - Uberschuß zum 43 - positivistisches 77 System 33 - bewegliches 33 Systematik 70, 73 Systembegriff 33 Systemdenken, substantielles 18 Systemdualismus 91 Systemgedanke, vernunftrechtlicher 123 f. Schadenersatz 28f., 64 - immaterieller 68 Schadenersatzanspruch 63, 75 Schadenersatzrecht 66 Schäden, immaterielle 66, 69, 73 Schema, kausalwissenschaftliches 41 Schlußverfahren, rechtslogisches 48 Schlußvorgänge, syllogistische 13, 36 s.a. Subsumtion, Syllogismus Staatsfunktionen 88, 89 Staatsgewalt - Bindungen der 116 Staatsmodell Rousseaus 90 Stabilität 24, 104 s. a. Postulate, richterrechtliche Stand der Technik 86 starting point 118 Strafrahmen 60 - offener 61 Strafrecht 30, 58, 59, 62, 117 Strafrechtsdogmatik 62 Strukturierende Rechtslehre 36, 43f., 46f., 52,541,88, 94, 105 - als Handlungstheorie 94 Strukturierende Vefassungstheorie 5, 88, 92 Tätigkeit, richterliche 79, 123 Tatbestand 31, 39, 60
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Tatbestandsbegriffe - strafrechtliche 59 - mehrdeutige 26 Tatbestandsbestimmtheit 93 Tätigkeit, richterliche - gesetzesfreie 9 - schöpferische 31 Teilrechtssystem 91 Termin Vorschriften 48, 55 Textauslegung 48, 81 Texte - anordnende 93 - rechtfertigende 93, 94 Textstruktur 92, 94 - Konzept der 92 Tötung, heimtückische 59, 61 Topik 28, 33 Treu und Glauben 64, 66, 86, 87 Typologie, einebnende 30 Übermaßverbot 62, 118 Überprüfungsdenken 32 Überzeugung, gemeinsame 113 Übung 111, 112, 118 Umkehrschluß 126 Unmöglichkeit, verschuldete 64 Untersatz 52, 54 Unvollständigkeit, planwidrige 19, 60 Urteilsstil 56 Vagheit 26 Verantwortung, rechtspolitische 52 Verbindlichkeit 108 - gesetzesgleiche 111 - präsumtive 14, 29, 105, 107 s.a. Bindung Verfahren 116, 121, 124 Verfahrensrecht 116, 117, 125 - formstrenges 117 s.a. Prozeßrecht Verfahrensvorschriften 16, 48 Verfassung 21, 30, 43, 48, 75, 117, 123 - Vorrang der 37 - Einheit der 77 Verfassungsanwendung - formallogische 24 Verfassungsbeschwerde 68, 98 Verfassungsbindung 62, 70, 81, 90 s. a. Bindung, Bindungsnormen Verfassungsgeber 21, 24 Verfassungsgewohnheitsrecht 113 s.a. Gewohnheitsrecht Verfassungsj ustiz 24, 58 Verfassungslehre siehe Verfassungstheorie Verfassungsnorm, methodenrelevante 115 s.a. Norm, methodenrelevante Verfassungsrecht 10, 58, 66, 108, 125 - positives 16, 21, 22, 38, 92 - geltendes 90
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averzeichnis
Verfassungsstaat 92, 122 Verfassungstheorie 10,43, 88, 92f., 95, 98 s. a. Strukturierende Verfassungstheorie Verhältnismäßigkeit 61 Verifizierbarkeit 41 Verkehrssicherungspflicht 65 Verkehrssitte 23, 86, 87 Vernünftigkeit 29 Vernunft, Prinzipien der 18 Vernunft, praktische 69, 104, 124 Vernunftrecht 33, 36, 125 Verstehen 42 Vertrags Verhältnis 63 Verwaltungsrecht 9, 66 VerwaltungsVerfahrensgesetz 66 Verwerfungskompetenz 67 Verzug 64 Volksentscheid 90 Volksrecht 54, 90, 91, 117 - demokratisch erzeugtes 91 s. a. Gewohnheitsrecht, Demokratieprinzip Völkerrechts-Normenkontrolle 98 Vollständigkeit, funktionelle 120 Vollstreckung 30 Vorbehalt des Gesetzes 96, 97 Vorbehaltsgesetze, förmliche 113 Vorbehaltsnormen 81 Vorrang des Gesetztes 96, 97 Vorrangsnormen 81 Vorverständnisse 15 Waffengleichheit 91 Waffenstillstandslinie 91 Wahlprüfungsbeschlüsse 89, 94 Weigand-Entscheidung 71 Werte 125 Werteordnung 20 Wertordnung, verfassungsmäßige 126 Wertsystem 20, 75 Wertungen 52
- ausdrückliche 21 - legislatorische 48 - richterliche 124 Wertvorstellungen 10, 72, 73, 124 - immanente 69, 74 Willensbildung, politische 122 Willkür 35, 79, 104, 110, 124 Wirklichkeit, soziale 46 Wirklichkeit und Norm 43 s.a. Norm, Rechtsnorm, Rechtsnormtheorie Wirklichkeitsausschnitt 44 s.a. Fallbereich, Normbereich, Sachbereich Wirksamkeit, faktische 23, 24 Wortlaut 42, 54, 56f., 63, 65, 70, 73, 80, 85, 87, 94 - abstrakter 94 - BestimmungsWirkung 80 - eindeutiger 110 - Grenzwirkung 80f., 83, 95f. - Indizwirkung 80 f. - klarer 42 - Rückführbarkeit auf 87 - vager 86 - Vereinbarkeit mit 81 s.a. Normtext Wortlaute, legislatorische 102 Wortlautargument 22 Wortlautgrenze 37, 42, 43, 80, 81 - rechtsstaatliche 36, 110 s. a. Normprogramm, Normtext Wortsinn, möglicher 11, 19, 26, 81 - Grenze des 73, 76, 123 Zeichen wert 45 s. a. Begriffe, juristische Zivilrecht 58, 63, 65, 66, 68, 112, 117 Zulässigkeit, verfassungsrechtliche 80 Zurechnungstechnik 47 Zweckmäßigkeit 15, 106