Recht - Sprache - Gewalt: Elemente einer Verfassungstheorie I [2 ed.] 9783428528752, 9783428128754

Schon der Text der Erstauflage ging von der Beobachtung aus, der Gewaltpegel steige in den Gesellschaften der damaligen

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Recht - Sprache - Gewalt: Elemente einer Verfassungstheorie I [2 ed.]
 9783428528752, 9783428128754

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Schriften zur Rechtstheorie Heft 39

Recht – Sprache – Gewalt Elemente einer Verfassungstheorie I

Von Friedrich Müller

Zweite, bearbeitete und stark erweiterte Auflage

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

FRIEDRICH MÜLLER

Recht – Sprache – Gewalt

Schriften zur Rechtstheorie Heft 39

Recht – Sprache – Gewalt Elemente einer Verfassungstheorie I

Von Friedrich Müller

Zweite, bearbeitete und stark erweiterte Auflage

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

1. Auflage 1975

Alle Rechte vorbehalten # 2010 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0472 ISBN 978-3-428-12875-4 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 *

Internet: http://www.duncker-humblot.de

IN MEMORIAM

Georg Bernhard Müller 1901 – 1945 der sein Eintreten gegen den Nationalsozialismus mit dem Leben bezahlte

Vorwort zur zweiten Auflage Diese erstmals 1975 erschienene Programmschrift wurde freundlich aufgenommen, mehrfach übersetzt und trug in der Folge einen nachpositivistischen Neuansatz der Rechtslinguistik, sozusagen im Untergrund, auf ihren schmalen Schultern. Die Heidelberger Gruppe der Rechtslinguistik arbeitet seit fast fünfundzwanzig Jahren; rechtslinguistische Fragen sind inzwischen zu einem blühenden Zweig transdisziplinärer Forschung geworden. Zugleich leitete diese Schrift als Band I die Serie analytischer Studien zu Elementen einer realistischen Verfassungstheorie ein. Nicht zuletzt dank solcher Pionierleistungen hat der Text seine Aktualität bewahrt. Die Transmission von Gewalt in Recht durch Sprache bleibt prekär – die Zerbrechlichkeit dieses Dispositivs ist in gewissem Sinn das heimliche Hauptthema der Erörterung. Sie ist ferner der ethische Ansporn dazu, sich um Erhaltung, Ausbau und konzeptionelles Weiterentwickeln der anspruchsvollen rechtsstaatlichen Demokratie nicht zuletzt praktisch zu bemühen, hier und anderswo, auf dem durchaus nicht so vorbildlichen europäischen Mutterboden moderner Verfassungsstaatlichkeit wie vor allem auch in Übergangsländern, die sich demokratisieren und um den Rechtsstaat kämpfen. Schon der Text der Erstauflage ging von der Beobachtung aus, der Gewaltpegel steige in den Gesellschaften der damaligen Gegenwart langsam aber unaufhörlich an. Ein Dritteljahrhundert später hat sich diese Diagnose so zugespitzt, dass sie als Tatsache nicht mehr eigens ausgeführt zu werden braucht. Skrupellose Angriffskriege, genozidähnliche Massaker, herbei gepredigte Feindschaft zwischen Kulturen und Religionen, Terrorismus und Staatsterrorismus, innergesellschaftlicher Kleinkrieg drängen sich weltweit der Wahrnehmung auf. Was ein Lyriker in den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts, auf das nächste blickend, „das Jahrtausend des Bürgerkriegs“ genannt hatte, ist inzwischen nicht nur kalendarisch angebrochen. In dieser überarbeiteten Neuausgabe des Buchs kommt daher ein ausführliches Kapitel hinzu, das den zunehmend beunruhigenden Fragen

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Vorwort zur zweiten Auflage

der Gewalt näher nachgeht, so weit sie mit Recht und Sprache verknüpft sind: beispielsweise das „Recht des Stärkeren“ – konstitutionelle, aktuelle und symbolische Gewalt – der Staat: Zentrale des Gewalttransfers und Garant des Gewaltgefälles – der Nationalstaat in der Gewalt der Globalisierung – Freiheit und soziale Ungleichheit – Klarheit und Unklarheit von Texten und Fällen – sprachliche Analyse der Gesetzesbindung – die Gewalt der Gerichte und des förmlichen Verfahrens – Textstruktur des Rechtsstaats – eine neue Sicht auf die Gewaltenteilung – all dies vor dem Hintergrund einer pragmatischen Umdeutung des alten Schemas von „Naturzustand und Gesellschaftszustand“. Heidelberg, März 2008

F. M.

Vorwort zur ersten Auflage Praktische Zusammenarbeit der Rechtswissenschaft mit anderen Sozialwissenschaften erfordert von allen Seiten mehr an Vorbereitung, als die häufig gewordenen Aufrufe zu ihrer „Integration“ vermuten lassen. Beide Gruppen von Wissenschaften müssen angesichts der deutschen Forschungs- und Praxisgeschichte erst schrittweise „integrations“fähig gemacht werden. Recht vermittelt spezifisch formalisierte gesellschaftliche Gewalt. Recht ist zugleich notwendig an Sprache gebunden und damit an deren allgemeine Bedingungen. Wissenschaftliche Einsichten in Sprachstrukturen und Sprachvorgänge verschärfen sich aber für die Rechtsarbeit aufgrund ihres Sozialbezugs, ihres wesentlich erhöhten Grads an Verbindlichkeit, ihrer zugespitzten Entscheidungsrelevanz. Recht hat Differenzierungs-, Steuerungs- und Stabilisierungsfunktionen; es hat notwendig Herrschafts- und Legitimierungsfunktion. Alle Rechtspraxis ist politisch funktionelle Entscheidungstechnik. Juristische Methodik ist wissenschaftspraktische Zurechnungstechnik im Rahmen dieser Entscheidungsvorgänge; nämlich Technik regulärer und im Normalfall akzeptierter Rückführung von Entscheidungsnormen auf Rechtsnormen. Die unmittelbar politische Bedeutung einer rationalen juristischen Methodik ergibt sich daraus, daß der liberale Verfassungsstaat möglichst weitgehend mit rechtlich verfaßter und damit sprachlich vermittelter „konstitutioneller Gewalt“ auszukommen beansprucht. Die Studie skizziert den praktischen und wissenschaftstheoretischen Standort der juristischen Methodik. Mit den hier gegebenen Bestimmungen ist ein Bezugsrahmen rechts- und sozialwissenschaftlicher und zugleich wissenschaftlicher und politischer Art entworfen, innerhalb dessen Funktionen, Strukturen und Methoden arbeitsteilig erforscht werden können. Die überkommene Verfassungslehre blieb gegenüber Fragen der Arbeitsmethodik abstinent. Sie stellte Strukturen und Funktionen eines

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Vorwort zur ersten Auflage

Verfassungssystems weithin statisch dar. Eine realistische Verfassungslehre bedürfte aber einer umfassenden Analyse der alltäglichen Arbeitsweisen aller Funktionsträger des verfaßten Gemeinwesens. So ist auch der Zusatztitel dieser Studie zu verstehen: Er spricht aus, daß die Möglichkeiten juristischer Methodik wie deren tatsächlicher Zustand einen wichtigen Bestandteil der Verfassungstheorie bilden, eines ihrer „Elemente“.

Inhalt Fragestellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1.1 Die herrschende Auffassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1.2 Offene Fragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1.3 Voraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1.4 Änderung der Ausgangsfrage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1.5 Rechtsarbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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2.

Recht – Sprache – Gewalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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2.1 Tatsächliche Abläufe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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2.2 Zwischenergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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2.3 Verfassungspolitische Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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3.

Gesichtspunkte zur Wissenschaftstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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3.1 „Sprachspiel“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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3.2 Kommunikationssituation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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3.3 „Aktualität“, Lebensbezug, Vorverständnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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3.4 Normativität, Normstruktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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3.41 Normprogramm, Normbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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3.42 Axiomatisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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3.43 Funktionale Arbeitsteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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3.44 Normrevision . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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3.5 Folgerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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4.

Formen und Umformungen von Gewalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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4.1 Begriffliches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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4.2 Ausweitung der Kampfzone . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1.

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Inhalt

4.3 „Gewalt“ in der Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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4.4 Organisation der Gewalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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4.5 Faltung der Gewalt – Die (legitime) Gewalt des Richters . . . . . . . . . . . . .

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4.6 Textstruktur – Gewaltenteilung durch Textteilung – Gewalt der Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1. Fragestellungen 1.1 Die herrschende Auffassung Im Studienführer einer Juristischen Fakultät Baden-Württembergs ist zu lesen: „Die Jurisprudenz ist eine Kulturwissenschaft. Sie wird sich nur dem erschließen, der sich auch über die Beziehungen des Rechts zu den geschichtlichen, ökonomischen, sozialen, kulturellen und philosophischen Entwicklungen Klarheit verschafft. . . . Auch innerhalb der juristischen Disziplinen des geltenden Rechts kommt es nicht allein darauf an, daß sich der Student Kenntnisse der Rechtsdogmatik und der positiven Normen verschafft. Mindestens ebenso notwendig ist das Eindringen in die juristische Methodik, d. h. in die juristische Kunst der Abstraktion, Interpretation, Konstruktion und Systematik, sowie in die juristische Terminologie und die juristische Schlußweise. Nur wer diese Methodik beherrscht und anzuwenden versteht, vermag den Rechtsstoff als solchen zu bewältigen1.“ Wie diese Methodik der Auslegung von Gesetzen, allgemein: von Rechtssätzen nach herrschender Auffassung aussieht, sagt das Bundesverfassungsgericht: Der Wille des Gesetzgebers fällt zusammen mit dem Willen des Gesetzes (BVerfGE 11, S. 130). Maßgebend für die Auslegung einer Gesetzesvorschrift ist also der in dieser zum Ausdruck kommende objektivierte Wille des Gesetzgebers, so wie er sich aus dem Wortlaut der Gesetzesbestimmung und dem Sinnzusammenhang ergibt, in den diese hineingestellt ist. „Diesem Auslegungsziel dienen die Auslegung aus dem Wortlaut der Norm (grammatische Auslegung), aus ihrem Zusammenhang (systematische Auslegung), aus ihrem Zweck (teleologische Auslegung) und aus den Gesetzesmaterialien und der Entstehungsgeschichte (historische Auslegung). Um den objektiven Willen des Gesetzgebers zu erfassen, sind alle diese Auslegungsmetho1 Handbuch der Universität Heidelberg, Studieneinführungen Heft 2, 1974, S. 2 f.

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1. Fragestellungen

den erlaubt. Sie schließen einander nicht aus, sondern ergänzen sich gegenseitig2.“ 1.2 Offene Fragen Demnach scheint alles Wesentliche klar zu sein. Unklar ist nur noch zweierlei: Erstens: Unklar bleibt, wie sich die verschiedenen Grundpositionen oder „Schulen“ zueinander verhalten, die etwa als „Positivismus“, „Dezisionismus“, „Integrationslehre“, „marxistische Rechtslehre“ bekannt sind. Man könnte meinen, sie seien wegen ihrer Unterschiede zu diskutieren mit dem Ziel, entweder – die „richtige“ unter ihnen herauszufinden und diese sodann zu kultivieren; oder – das „Richtige“ aus allen zusammenzulesen und es zu einem wirklich oder vorgeblich Ganzen zu fügen.

Dieses Ganze bzw. die „richtige Schule“ würde es dann möglich machen, den wissenschaftstheoretischen Standort der Rechtswissenschaft und damit auch der juristischen Methodik zutreffend anzugeben – eine Hypothese, die der herrschenden Auffassung zugrunde liegt. Zweitens: Unabhängig davon bleibt ferner unklar, auf welche Fragen die am Anfang zitierten Aussagen eine Antwort geben wollen; und: für wie sinnvoll diese Fragestellung zu halten ist, sofern man sie ermitteln kann. Sie ist nicht schwer zu ermitteln. Sie lautet: Welche Art Wissenschaft ist die Rechtswissenschaft? 1.3 Voraussetzungen Vielleicht lohnt es sich, die Unterstellungen zu formulieren, die dabei unausgesprochen gemacht sind: – Es gibt (menschliche) Handlungsformen und -zusammenhänge, die sinnvoll dem Terminus „Wissenschaft“ unterfallen – dieser Terminus ist im übrigen noch zu bestimmen; 2 BVerfGE 11, S. 130; zum Zitierten s. ferner BVerfGE 1, 312; 8, 307; 10, 244 und ständige Rechtsprechung.

1.3 Voraussetzungen

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– gewisse Behandlungsarten des – im übrigen ebenfalls zu bestimmenden – Sachkomplexes „Recht“ unterfallen als „Rechtswissenschaft“ dem allgemeinen Terminus „Wissenschaft“; – die „Wissenschaften“ im ganzen bilden ein Ensemble, in dem die Unterbestimmung „Kulturwissenschaft“ ihren – im übrigen wieder zu definierenden – Platz hat; und – als Folgerung: „Die Jurisprudenz ist eine Kulturwissenschaft.“ Ihre Methode ist demnach offenbar eine kulturwissenschaftliche Methode. – Damit ist zunächst nur gesagt, Rechtswissenschaft sei keine NichtKulturwissenschaft. Die Ergänzung von „Kulturwissenschaft“ zu demjenigen Wortfeld, das den allgemeinen Terminus „Wissenschaft“ aufgliedert, wird gleichfalls vorausgesetzt.

Es ist bekannt, daß damit die Unterscheidung von „Natur- und Kulturwissenschaften“ gemeint ist; bzw. in der Fassung, die sich terminologisch besser durchgesetzt und erhalten hat, die von „Natur- und Geisteswissenschaften“. Damit ist also etwas Bekanntes herausgefunden. Warum ist mehr als ein Satz darauf verwandt worden? Was aus dem Gedankengang zu lernen war, ist nicht, daß sich die Wissenschaften nach Natur- und Geisteswissenschaften unterscheiden lassen; ist auch nicht, genauer: daß es eine weithin akzeptierte und bis heute wirksame Aussage gibt, die Wissenschaften ließen sich in „Natur- und Geisteswissenschaften“ einteilen. Was daraus zu lernen war, ist vor allem folgendes: – Einzelaspekte, wie sie von herrschenden Auffassungen oder von „Schulen“ entwickelt bzw. in den Vordergrund gestellt werden, sind daraufhin zu prüfen, ob sie in dem angedeuteten Sinn ihre eigenen Voraussetzungen darstellen, zurückverfolgen, offenlegen3; – und zu lernen ist ferner die Notwendigkeit der Suche von Kriterien, die entscheiden helfen, ob bzw. wofür die hier skizzierte Fragestellung, nämlich die der herrschenden Auffassung, sinnvoll ist.

3 Vgl. F. Müller, Normstruktur und Normativität, 1966, z. B. S. 49 ff., 199 f.; ders., Juristische Methodik, 1971, z. B. S. 172 ff., 174 f. (in der 9. Aufl. 2004: S. 392 ff.)

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1. Fragestellungen

1.4 Änderung der Ausgangsfrage Es ist fraglich, ob sie für den sinnvoll sein kann, der über die Rolle der Rechtswissenschaft und ihrer Methodik in der sozialen Realität Näheres erfahren will. Abstrakt, das heißt hier: von einer allgemeinen Skala wissenschaftstheoretischer Termini aus, wird die Jurisprudenz herkömmlich als wirklichkeitsbezogene normative „Geisteswissenschaft“ aufgefaßt4. Diesem Ausgangspunkt entsprechen, wie schon aus der Definition hervorgeht, weitere Abstraktionen: vor allem die Trennung von „Norm“ und „Wirklichkeit“, von „Sollen“ und „Sein“, die einem grundlegenden Irrtum erliegt, nämlich der Verwechslung der rechtlichen Vorschrift mit ihrem Wortlaut, also der Identifizierung von Norm und Normtext5. Die Unrichtigkeit solcher Abstraktionen zeigt sich im alltäglichen Geschäft der Rechtsanwendung auf Schritt und Tritt. Sollen sie vermieden werden, ist ein anderer Ausgangspunkt zu wählen. So gesehen, interessiert die Rechtswissenschaft weniger ihre traditionelle Abgrenzung gegenüber den Naturwissenschaften als vielmehr die sachliche Eigenart und die soziale Funktion rechtlicher Normen und ihrer spezifischen Normativität. Im übrigen haben sich auch für die allgemeine Wissenschaftstheorie die geläufigen Kriterien zur Abgrenzung der Natur- von den Geisteswissenschaften, wie absolut und relativ, objektiv und subjektiv, quantifizierend und qualifizierend, als von beiden Seiten her nicht haltbare Vergröberungen erwiesen. „Natur“ und „Geschichte“ haben die scheinbar in sich ruhende Eindeutigkeit bloßer Entgegensetzung verloren. Nicht nur in den Geisteswissenschaften hängt die Begriffsbildung von der Stellung der Probleme ab; nicht nur in ihnen ist die Qualität eines erforschten Sachverhalts bedingt durch die Richtung des Erkenntnisinteresses. Der Gegenstand „an sich“ ist auch der Naturwissenschaft nicht zugänglich. Das Untersuchungsfeld auch des Naturwissenschaftlers wird durch Leistungen des erkennenden Bewußtseins und durch dessen Bedingtheit mit geprägt. Das „Objekt“ wird auch in den sogenannten exakten Disziplinen durch den notwendigen Vorentwurf der Fragerichtung mitkonstituiert. 4 Hierzu F. Müller, Normstruktur und Normativität, S. 13 ff., 18 ff. und die Nachweise ebd., S. 13 Anm. 1. 5 Dazu ausführlich ebd., S. 147 ff.; Juristische Methodik, etwa S. 97 ff., 106 ff., 113 ff. (in der 9. Aufl. 2004: S. 167 ff., 214 ff., 234 ff.).

1.4 Änderung der Ausgangsfrage

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Vor der Instanz des heutigen wissenschaftstheoretischen Problembewußtseins hat sich der Abstand zwischen Geschichtlichkeit der Sozialwelt und bloßer Wiederholung im naturwissenschaftlichen Bereich entscheidend verringert. Die Suche nach „absoluten“ Kriterien ist wissenschaftlich nicht mehr sinnvoll. Wissenschaft fragt nach einer möglichst genauen Fassung gradueller Unterscheidungen. Die Frage nach dem Standort juristischer Methodik setzt also nicht mehr wie oben an: Welche Art von Wissenschaft unter den Wissenschaften ist die Jurisprudenz? Sie lautet vielmehr: Was geschieht tatsächlich, wenn von einer bestimmten Rechtsordnung gesagt werden kann, sie funktioniere, sie sei „in Geltung“? Diese Position ist noch nicht die der herrschenden Auffassung. Die Aussage über einen „Standort“, hier: über den der juristischen Methodik, ist eine Relationsbestimmung. Sie kann nicht von einer einzigen Variablen her gesehen werden. Aussagen über den Standort der Rechtswissenschaft und der juristischen Methodik stehen in einer Perspektive, die über ihre eigene Thematisierung hinausgeht. Weiter ist die Selbstbestimmung juristischer Methodik noch immer zu wenig ausgearbeitet, als daß von einer breiten Übereinstimmung und von hinreichender Schärfe der Reflexion juristischer Praxis im ganzen gesprochen werden könnte. Schließlich sind generelle Aussagen auch nicht über „die“ juristische Methodik als über etwas Einheitliches zu machen. Entsprechend dem größeren Erfahrungsstoff der Praxis sollte besser von partikulären Methodiken von Zivil-, Straf- und Öffentlichem Recht, von Rechtsgeschichte und Rechtsvergleichung gesprochen werden. Zwar haben diese Disziplinen wichtige Grundbedingungen gemeinsam: so 1. in der Rechtsnormtheorie; 2. in den Bindungen an methodenrelevante Verfassungssätze, vor allem aus dem Bereich des Rechtsstaats; 3. in einer Rahmentheorie von Normkonkretisierung im Sinn eines generalisierbaren Strukturmodells und 4. überdies in einer Theorie der verschiedenen normsetzenden, normkonkretisierenden und normkontrollierenden Funktionen (Gesetzgebung durch verschiedene Instanzen, Regierung und Verwaltung, Rechtsprechung, Wissenschaft). Im übrigen sind aber die einzelnen juristischen Arbeitsgebiete nach ihrer Dogmatik, ihrer Theorie, ihrer Wissenschaftsgeschichte, ihrer Rechtspolitik und nicht zuletzt nach der sachlichen Eigenart ihrer Normbereiche nicht über einen Leisten zu schlagen. Dementsprechend nehmen sich das Gewicht

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1. Fragestellungen

methodologischer Figuren und Hilfsmittel, das Gewicht von Erscheinungen wie z. B. Satzungsrecht und Richterrecht, die Rolle von materiellem Recht und Prozeßrecht in ihnen verschieden aus.

1.5 Rechtsarbeit Dabei ist einem Mißverständnis vorzubeugen: Auch Wissenschaftstheorie als Theorie ist Praxis. Sie ist Praxis, insofern sie Leistung ist, Wirkungsfaktor, Kommunikationsinhalt; insofern sie Arbeit in Gesellschaft lebender Menschen ist. Juristische Regelsetzung, Regelanwendung, Interpretation; juristische Wertung, Entscheidung, Diskussion ist Arbeit. Als Arbeit ist sie für den Ansatz der hier verfolgten Fragestellung nicht so sehr aus der Binnenstruktur ihrer Abläufe zu verstehen – laut dem Positivismus aus der Subsumtion, dem syllogistischen Schlußverfahren6 –; und nicht so sehr nach ihrem Material: positivistisch also nach den Normtexten, die mit den Normen verwechselt werden. Sie ist vielmehr im Ansatz von ihrem sozialen Umfeld her zu erforschen, von ihrem Verhältnis zu anderen vom gesellschaftlichen Zusammenleben gestellten und formulierten Aufgaben. Mit anderen Worten: Auch die Arbeit der Juristen ist strukturell von ihrer Funktion her und in ihrer Funktion als Arbeit von der gesellschaftlichen Arbeitsteilung her verständlich; oder genauer formuliert: von der Teilung der gesellschaftlichen Arbeit. Wer dagegen juristische Aussagen und Entscheidungen nur „an sich“ nehmen will, wer ihr Eingebundensein in gesellschaftliche Organisationsformen und Aufgabenstellungen, ihre spezifische Professionalisierung7 als gesellschaftlich geprägte Arbeit nicht einbezieht, der bleibt beim Glasperlenspiel mit Kommunikationsinhalten bzw. -signalen „als solchen“; so als fielen diese vom Himmel oder kämen in der Natur vor. Ob z. B. die streitentscheidende Funktion sich als diejenige des aus 6 Vgl. dazu Forsthoff, Die Umbildung des Verfassungsgesetzes, in: Festschrift für Carl Schmitt, 1959, S. 35 ff., 41; ders., Zur Problematik der Verfassungsauslegung, 1961, S. 39 f. 7 Zu „Professionalisierung“ vgl. etwa H. A. Hesse, Berufe im Wandel. Ein Beitrag zur Soziologie des Berufs, der Berufspolitik und des Berufsrechts, 2. Aufl. 1972, v. a. S. 33 ff., 69 ff., 74 ff.

1.5 Rechtsarbeit

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individueller Weisheit schöpfenden Königlichen Richters darstellt oder im „Berufsbild“ spezialisierter, bürokratischer und verbeamteter Rechtsarbeiter, das ist nicht nur eine Frage dessen, was gerade faktisch der Fall ist. Es ist eine wissenschaftlich analysierbare Frage des gesellschaftlichen Zusammenhangs von Funktionen, Strukturen und Arbeitsweisen. „Rechtsarbeit“ meint die methodische Tätigkeit von Professionellen; weder von Glasperlenspielern – diese waren noch in keiner Gesellschaft der Typus des Juristen – noch von Honoratioren, wie sie einen wesentlichen Teil der römischen Rechtsgeschichte prägten.

2. Recht – Sprache – Gewalt 2.1 Tatsächliche Abläufe Was geschieht tatsächlich, wenn eine Rechtsordnung in Funktion ist, wenn sie „funktioniert“? Ein Herr A. interessiert sich für zu einem bestimmten Zeitpunkt der Vergangenheit an einem bestimmten Ort geschehene Handlungen eines Herrn B. Er interessiert sich dafür, ob Herr B. eine bestimmte Sache an sich genommen, ob er sie weggetragen, ob er sie bei sich zu Hause verstaut oder ob er sie weiterveräußert hat. Herr A. möchte aufklären, ob Herr B. „zur Ausführung der Tat in ein Gebäude, eine Wohnung, einen Dienst- oder Geschäftsraum oder in einen anderen umschlossenen Raum“ (§ 243 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 StGB) eingebrochen, eingestiegen oder sonst eingedrungen ist, ob er sich in dem Raum etwa schon vorher verborgen gehalten hat usw. Herr A. hat nicht nur Schwierigkeiten bei der Aufklärung des Sachverhalts. Probleme stellen sich ihm vor allem auch dort, wo er Begriffe wie „Gebäude“, „Wohnung“, „Eindringen“ mit dem von ihm aufzuklärenden und zu entscheidenden „Fall“ in eine bestimmbare Verbindung bringen soll. Oder: Ein Herr A. möchte wissen, ob ein Herr B. an einem bestimmten Zeitraum der Vergangenheit an bestimmten Orten zu bestimmten studentischen Organisationen gehört hat oder nicht; ob er, und wenn ja in welcher Form, an politischen Demonstrationen teilgenommen hat; ob er dabei eine Fahne getragen hat; ob die Fahne schwarz oder rot war. Abgesehen von den Schwierigkeiten bei der Aufklärung des tatsächlichen Hergangs vergangener Vorfälle, hat Herr A. wiederum Probleme, die sich aus der Zuordnung festgestellter Einzelheiten zu Begriffen wie „Eignung“, „Befähigung“, Grundrechte „zum Kampfe gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung mißbrauchen“ offenkundig ergeben können. Oder: Ein Herr A. interessiert sich für Einzelheiten der Ehe von Herrn und Frau B. Er untersucht Fakten. Er versucht, diese Fakten be-

2.1 Tatsächliche Abläufe

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stimmten Texten zuzuordnen. Er tut das – ebenso wie in den eben genannten straf- bzw. öffentlich-rechtlichen Fällen – in einem bestimmten Verfahren. Dieses Verfahren ist gleichfalls in Texten fixiert. Die Verfahrenstexte fixieren, wie A. vorgehen darf, wofür er sich zu interessieren hat, was er auszuwählen hat und was nicht, was also relevant und irrelevant sein soll, und welche Folgerungen schließlich real für den Fortbestand der Ehe von Herrn und Frau B. zu ziehen sind; so wie oben für die Einstellung des Herrn B. in den öffentlichen Dienst oder für die Frage einer Strafbarkeit des B. Die „davor“ liegenden Fragen, ob der Verwaltungsbeamte A., der Staatsanwalt A., der Scheidungsrichter A. sich überhaupt mit jener politischen Demonstration, mit jenem etwaigen Wegnahmeakt, mit der Ehe von Herrn und Frau B. befassen darf, befassen muß – diese Fragen, d. h., die Bedingungen, unter denen A. dies zu tun bzw. zu lassen hat, sind ihrerseits durch Texte festgelegt. Diese Texte selbst sind in ihrer Entstehungsart, ihren Geltungsbedingungen, in der Möglichkeit von Kontrolle oder Änderung wiederum durch andere Texte bestimmt. Die Frage, wer sich mit der Gesamtheit dieser Texte so zu befassen hat, daß dies sozial relevant ist, „regeln“ wiederum Texte; desgleichen den Status, die Befugnisse, die Gratifikationen der betreffenden Menschen; desgleichen die Bedingungen, unter denen man in diese Rolle gelangen kann. Die genannten Texte sind offenkundig „Normtexte“, d. h. sie sind die Wortlaute von positiven Vorschriften. Die noch weiter „davor“ liegende Frage, ob sie die Texte von Rechtssätzen sind, die „gelten“, oder vielmehr von solchen, die nicht „gelten“, beantwortet sich nicht mehr aus diesen Texten als solchen; so wenig es diese Texte als solche sind, die die Fälle „regeln“, sondern vielmehr auf bestimmte Weise motivierte Menschen. Die Antwort ergibt sich nur aus der sozialen Faktizität: Ändert sich durch das Handeln von A. – vermittelt durch das Handeln weiterer Menschen A.’, A.“ (Urkundsbeamter, Strafvollzugsbeamter usw.) – real etwas am Status des Bewerbers um den öffentlichen Dienst B., des Angeklagten B., etwas an der Ehe von Herrn und Frau B. – ändert sich etwas an alldem, wenn sich aus A.s Behandlung dieser Texte ergeben sollte, am Status B.s, an B.s bisheriger Freiheit von Vorstrafen, an Herrn und Frau B.s Ehe, solle sich das und jenes ändern?

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2. Recht – Sprache – Gewalt

Diese Faktizität: ob nämlich A. Scheidungsrichter, Staatsanwalt, Verwaltungsbeamter geworden ist, ob er das Amt in relevanter Weise ausübt, ob er sich an die ihm vorgegebenen Verfahrensnormen hält, ob er B.s strafrechtliches oder politisches Verhalten, ob er Herrn und Frau B.s Ehe beurteilt an Hand von Rechtssätzen, welche „gelten“ oder an Hand von solchen, welche nicht „gelten“: diese Faktizität ist ihrerseits zwar vielfältig sprachlich vermittelt, da Gesellschaft, „Politik“, Herrschaft als immer auch kommunikative Prozesse unter Menschen immer auch sprachliche Vermittlungen darstellen. Diese Faktizität ist aber, von der Sprachlichkeit her beurteilt, doppelt eingeschränkt: – Speziell von den fraglichen Normtexten, d. h. vom Wortlaut der auf diese Fälle anzuwendenden eherechtlichen, verfassungsrechtlichen, strafrechtlichen Regelungen her, ist sie exogen (d. h. nicht: außersprachlich; sondern lediglich: außerhalb der Sprachform der fraglichen Normtexte stehend); – und sie beruht letztlich, d. h. für die Frage einer Sanktion im Konfliktsfall, bei Nicht-Funktionieren, auf nicht-sprachlicher Gewalt; wenn auch diese Gewalt wiederum in ihrem Ablauf – Urteil, Anordnung, Befehl usw. – zum Teil sprachlich vermittelt ist8. Die Unterschiedlichkeit der tatsächlichen Abläufe von „Funktionieren“ und „Nicht-Funktionieren“ weist hin auf den Unterschied zwischen institutionalisierter „konstitutioneller“ und jeweils realisierter „aktueller“ Gewalt. 8 Insoweit ist die Bestimmung „aus außersprachlichen Gegebenheiten“ bei F. Müller, Juristische Methodik, S. 98 (in der 9. Aufl. 2004: S. 167 f.), weiter zu differenzieren. – Zum Begriff „Gewalt“ und zur Realität von Gewalt: Grundsätzliche Reflexionen bei W. Benjamin, Zur Kritik der Gewalt und andere Aufsätze, 2. Aufl. 1971, S. 29 ff.; vgl. ferner H. Arendt, Macht und Gewalt, 2. Aufl. 1971; Senghaas, Aggressivität und kollektive Gewalt, 1971; Galtung, Gewalt, Frieden und Friedensforschung, in: Senghaas (Hrsg.), Kritische Friedensforschung, 1971, S. 55 ff.; dort die vergleichbare, aber nicht gleiche Unterscheidung von „personaler“ und „struktureller“ Gewalt; Horn, Gesellschaftliche Produktion von Gewalt, in: Leviathan 1973, S. 310 ff.; Hacker, Aggression. Die Brutalisierung der modernen Welt, 1971; Neidhard / Sack / Würtenberger / Lüscher / Collatz, Aggressivität und Gewalt in unserer Gesellschaft, München 1973; Preuß, Legalität und Pluralismus, 1973, S. 7 ff., bes. 31 ff.; Gurr, Ursachen und Prozesse politischer Gewalt; Hudson, Politischer Protest und Machttransfer in Krisenperioden – beide in: Jänicke (Hrsg.), Politische Systemkrisen, 1973, S. 152 ff., 201 ff. Zum Aspekt der „Macht als Kommunikationsmedium“: Luhmann, Macht, 1975, u. a. S. 4 ff.

2.2 Zwischenergebnisse

23

Konstitutionelle Gewalt ist nicht nur die im engeren Sinn politische Gewalt, die durch Verfassungs- und Rechtsordnung begründet und im bürgerlichen Verfassungsstaat bis ins einzelne ausgeformt wird; sondern nicht weniger auch die Gewalt, die aus der Gestaltung der wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse kommt. Diese Gewalt wird nicht erst durch Verfassung und Rechtssystem konstituiert, sondern weitgehend nur übernommen. Gerade im bürgerlichen Verfassungsstaat wird sie ferner nicht prinzipiell bis ins einzelne ausgeformt, sondern nur an Einzelpunkten berührt: durch Grundrechte (Eigentum und Erbrecht, wirtschaftliche Koalitionen, Vertrags- bzw. „allgemeine“ Handlungsfreiheit usw.), durch Zuständigkeiten (des Parlaments, der Bürokratie, der Gerichte) und durch Verfahren (Verwaltungsverfahren, Prozeßordnungen usw.). Diese durch wirtschaftliche Verhältnisse begründete Gewalt hat sich im bürgerlichen Staat der Neuzeit auf besondere Weise entwickelt. Die reale und / oder ideologische Funktion von Eigentum, die Freiheit einzelner abzustützen, schlug zugleich um in die durch Verfassung und Rechtsordnung abgestützte Möglichkeit, Massen nur ideologisch frei, real aber in Unfreiheit zu halten. Eigentum wurde vorgestellt als exemplarische Möglichkeit „des“ abstrakten einzelnen der bürgerlichen Theorie, über sich und sein Leben frei zu verfügen; auf seiner Grundlage entwickelten sich geschichtlich Verhältnisse, die wenigen einzelnen Eigentümern Macht verschafften, über die Leben anderer frei zu verfügen. Die sozialstaatliche Entwicklungsvariante des bürgerlichen Verfassungsstaats ändert nichts an der Zusammensetzung der konstitutionellen Gewalt aus politischer und wirtschaftlicher. Sie ändert nur die Anteile der Komponenten durch ihre Praxis krisenstabilisierender Intervention. 2.2 Zwischenergebnisse Aus den Beispielen werden folgende Zwischenergebnisse deutlich: 2.21 In dem Typus von Gesellschaft, zu dem die unsere gehört, gibt es unter anderen gesellschaftlichen Regeln solche, die durch konstitutionelle, im Konfliktsfall aktuelle Gewalt als „verbindlich geltend“ ausgewiesen sind. Dieser Tatbestand wird durch den „staatlichen“ Organisationsaufbau sowohl garantiert als auch legitimiert. Die Regelungen,

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2. Recht – Sprache – Gewalt

von denen die Rede ist, sind von anderen gesellschaftlichen Normen ferner dadurch abgehoben, daß sie einen verbindlich „geltenden“, d. h. einen in einer einzigen bestimmten Sprachfassung autoritativ fixierten Wortlaut, einen „Normtext“ aufweisen. Auch dieser zuletzt genannte Tatbestand ist durch andere Vorschriften (und deren im Konfliktsfall gewaltsame Durchsetzung) abgesichert. 2.22 Es gibt „Funktionen“, die den zu 2.21 festgehaltenen Gesamttatbestand in Gestalt von Institutionen und Ämtern aktualisieren, die also die „Geltung“ der Rechtssätze praktisch verwirklichen. 2.23 Auf eine Weise, die im Sinn von Position 2.21 und 2.22 relevant ist, beschäftigen sich mit diesen Normtexten professionelle Funktionäre, „Juristen“; oder, wenn man von der tatsächlichen gesellschaftlichen Funktion her einen allgemeineren Begriff prägen will, „Rechtsarbeiter“. 2.24 Ihre Arbeit mit Bezug auf die Rechtsordnung, d. h. auf das „funktionierende“ Ganze der Vorschriften zu 2.21 – 2.23 (zu inhaltlichen Regelungen, Verfahrensregeln, Institutionen, professionalisierten Ämtern) ist stets Arbeit mit Sozialbezug und mit Entscheidungscharakter. 2.25 Die Wissenschaft, welche die Regelungen und die Abläufe von „Normativität“ im Sinn der Positionen 2.21 – 2.24 bearbeitet, die Rechtswissenschaft, ist demnach eine allerdings sehr besondere Sozialwissenschaft und zugleich eine Entscheidungswissenschaft. Der Name „Entscheidungswissenschaft“ ist genauer als die herkömmliche Bezeichnung „Normativwissenschaft“9. 2.26 Zweifelhaft könnte sein, was soeben terminologisch unterstellt wurde, ob nämlich die Rechtswissenschaft eine „Wissenschaft“ ist. Ob sie eine „Wissenschaft“ ist, entscheidet sich nach ihrer Methode. 9 So z. B. noch F. Müller, Juristische Methodik, S. 98 f. u. ö. (vgl. dagegen in der 9. Aufl. 2004: S 187 ff.).

2.2 Zwischenergebnisse

25

2.27 Aus dem Gesagten ergibt sich einiges sowohl über diese Methode als auch über die Art, sie zu untersuchen. Im Sinn der hier entfalteten Fragestellung ist unzureichend ein Ansatz, der – die hinter alltäglicher juristischer Arbeit stehende Methode überhaupt nicht (zu einer „Methodik“) reflektiert; ferner ein Ansatz, der – juristische Methodik traditionell-philosophisch (d. h. durch unvermittelt „ontologisierende“ Unterstellung) vom sogenannten Wesen des Rechts her bestimmen will; ist unzureichend ein Modell, das – juristische Methodik autonom als „rein juristische“ Fragestellung zu bewältigen vorgibt, d. h. nur von der professionellen Technizität her, ohne deren „politische“ (gesellschaftliche) Bedingungen einzubeziehen – so der Positivismus und neopositivistische Praktiken etwa unter dem Stichwort der „Technokratie“; ist unzureichend eine Theorie, welche – die behandelten Fragen allein vom „Politischen“ her als existentielle Faktizität der „Entscheidung“ zu bestimmen sucht – so der vor allem von Carl Schmitt entwickelte Dezisionismus; ferner eine Lehre, die – Rechtsordnung, Rechtsarbeit und juristische Methodik im abwertenden Sinn instrumentell als Überbauphänomen der Klassengesellschaft faßt: als Instrument zur Aufrechterhaltung des Klassenverhältnisses und der „illusorischen Gemeinschaft“ des bürgerlichen Staates – so einige Ansätze im Marxismus; bleibt weiter unzulänglich der Versuch, – die Methodik der juristischen Arbeit allein von den Textproblemen her zu bestimmen (sprachanalytische, informationswissenschaftliche Ansätze, Verallgemeinerungen von Ansätzen der elektronischen Datenverarbeitung [EDV] für die juristische Methodik); und ist schließlich unergiebig ein Ansatz, – der Rechtswissenschaft und juristische Methodik, so der am Anfang genannte, als Problem einer verschiedene Wissenschaften nebeneinander stellenden und insofern abstrakten Wissenschaftstheorie sehen will.

Diese Richtungen oder „Schulen“ der Rechtstheorie sind nicht einfach „falsch“. Sie erfassen richtig, wenn auch in der Regel überspitzt

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2. Recht – Sprache – Gewalt

und damit einseitig einzelne Elemente wie die Abhängigkeit rechtlicher Inhalte und Organisation von der politischen Ökonomie, wie die Unentbehrlichkeit der Positivität eines gesellschaftlich wirksamen Rechts, wie den unleugbaren Entscheidungscharakter, der in der juristischen Arbeit steckt. Die Grenze ihrer Brauchbarkeit für die hier analysierte Frage liegt darin, diese Frage nur zum Teil oder überhaupt nicht zu stellen. Statt dessen stellen sie folgende Fragen: – Der Positivismus: Wie kann die Rechtswissenschaft eine autonome, eine „rein juristische“ Wissenschaft sein? Demzufolge dürfen für den Positivismus rechtliche Normen keinen sachlichen Zusammenhang mit historischen, sozialen, politischen und allgemein: mit gesellschaftlichen Gegebenheiten aufweisen10. Solche Zusammenhänge werden nicht abgestritten. Sie werden aber als die Rechtswissenschaft nicht interessierend behandelt; das ist der entscheidende Punkt11. Daß die Illusion einer „reinen“, einer von allen „nichtjuristischen“ Elementen befreiten juristischen Dogmatik und Methodik ihrerseits ein Politikum darstellt und daß die politische Auswirkung einer solchen Haltung von einzelnen Positivisten durchaus gesehen wurde12 und wird, ist eine andere Frage. Die entscheidende Verkürzung, die sich daraus für Untersuchung und Praxis rechtswissenschaftlicher Methodik ergibt, wird von einer solchen politischen Reflexion allein nicht beseitigt. Auch ein politisch reflektierter Positivist verdrängt in seiner Praxis das Gebundensein und Bedingtsein der Binnenstrukturen juristischer Arbeit an und durch die entsprechenden gesellschaftlichen Funktionen; er verdrängt alles das, aufgrund dessen juristische Methodik und Entscheidung überhaupt „in Funktion“ ist; er verkürzt die Funktions- und Strukturzusammenhänge der Rechtsordnung in wissenschaftlich unhaltbarer Weise auf die – für sich allein genommen nicht „falsche“, sondern richtig gesehene – Positivität des geltenden Rechts. 10 Vgl. v. Gerber, Grundzüge des deutschen Staatsrechts, 3. Aufl. 1880, S. V f., 10, 237; dazu F. Müller, Juristische Methodik, S. 47 ff. (in der 9. Aufl. 2004: S. 102 ff.). 11 Z. B. Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. Aufl., Wien 1960; ders., Juristenzeitung 1965, S. 465 ff.; hierzu F. Müller, Normstruktur und Normativität, S. 24 ff. 12 Schon bei v. Gerber, Über öffentliche Rechte, 1852, S. 69, 102 ff.; hierzu Wilhelm, Zur juristischen Methodenlehre im 19. Jahrhundert, 1958, S. 140 ff., 152 ff.

2.2 Zwischenergebnisse

27

– Die Ausgangsfrage dezisionistischer Positionen lautet: Wie entscheiden sich historische Ausnahmelagen, in denen nach dem Schema von „Freund und Feind“ über die Geschichtsmächtigkeit widerstreitender Kräfte befunden wird, über die Art der politischen Existenz eines Volkes, über Sein oder Nichtsein? Das aber ist eine existentialistisch getönte Geschichtstheorie anstelle der hier verfolgten Frage nach dem „normalen“, d. h. nach dem alltäglichen Funktionieren einer Rechtsordnung. Aus diesem Grund wird das – für sich allein wiederum nicht „falsche“ – Element der Dezision verallgemeinert und als für die „juristische Form“ entscheidend behauptet13. – Die Ausgangsfrage im Marxismus, soweit er sich mit der Rechtslehre befaßt, lautet: Wie stellt sich die notwendig instrumentelle Rolle des Rechts als eines Moments des Überbaus dar im Rahmen einer von der Politökonomie bestimmten und auf dem Feld der Politökonomie umzuwälzenden Gesellschaft; anstelle der hier verfolgten Frage nach Funktionen, hiervon abhängigen Strukturen und von beiden abhängigen Arbeitsweisen des Rechts als eines wandelbaren und gesellschaftlich bedingten, aber auch nach aller historischen Erfahrung gesellschaftlich unersetzlichen Phänomens, d. h. als eines Moments gesellschaftlicher Basis. Die fortbestehende Kluft zwischen dem Marxisch folgerichtigen Pašukanis und dem in der Frage der Rechtsform tendenziell bürgerlich-rechtsstaatlichen Leninisten Stucˇ ka markiert die Zweideutigkeit einer mit Marx (im „Kapital“)14 an der politökonomischen Kritik der Rechtsform ansetzenden Auffassung15.

2.28 Weiteres Zwischenergebnis: Über Rechtswissenschaft als Wissenschaft kann nur insoweit gesprochen werden, als die Jurisprudenz eine wissenschaftliche Methodik aufweist; über juristische Methodik nur als methodische Praxis, d. h. als die tatsächliche alltägliche Arbeitsweise von Rechtsarbeitern, von professionellen Funktionsträgern (Richtern, Verwaltungsbeamten, ReC. Schmitt, Politische Theologie, 2. Ausgabe 1934, S. 46 und durchgehend. Kapital I, 1. Abschnitt, 2. Kapitel, MEW 23, S. 99 f. 15 Dazu unter dem auch hier verfolgten Aspekt der Methodik: F. Müller, Juristische Methodik, S. 101, 102 f., 103 f. (in der 9. Aufl. 2004: S. 191 ff.). 13 14

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2. Recht – Sprache – Gewalt

gierungsbeamten, Staatsanwälten, Mitgliedern von Legislativorganen usw.); also nicht über juristische Methodik „als solche“ im Sinn eines abstrakt ausgrenzbaren Untersuchungsbereichs, sondern über juristische Methodik als einen gesellschaftlich verorteten Untersuchungsbereich, der sachliche Entsprechungen nach dem Schema: Funktion – Struktur – Arbeitsmethoden aufweist. Aus diesen Gründen ist es auch so wenig hilfreich, den Standort juristischer Methodik an Hand eines wissenschaftstheoretischen Tableaus von Disziplinen etwa im Sinn einer Unterscheidung von Natur- und Geisteswissenschaften zu bestimmen. Juristische Methodik betrifft die tatsächlichen Arbeitsweisen eines Sektors gesellschaftlicher Praxis mit bestimmten Aufgaben, bestimmten Abläufen, spezifischen Änderungs- und Kontrollmöglichkeiten. 2.29 Eine so verstandene juristische Methodik verdrängt nicht ihre gesellschaftliche Bedingtheit, wenn sie sich zunächst auf die Arbeitsweisen konzentriert; sie widmet sich ihnen im Sinn wissenschaftlich spezialisierter Arbeitsteilung. Sie hält nicht nur die allgemeinen Zusammenhänge mit gesellschaftlichen Organisationsformen und Inhalten bewußt, sondern auch deren prägende Einflüsse auf Einzelheiten der Rechtsordnung. „Arbeitsweisen“ haben an diesen Zusammenhängen unentrinnbar Anteil; es gibt keine gegenüber dem herrschenden Typus von Gesellschaft abstrahierbare „allgemeine“ juristische Methodik. Der Struktur dieser Zusammenhänge nach heißt „Arbeitsweisen“ zum Beispiel: die methodischen Operationen von Gerichten – Verwaltungsbehörden – Normsetzungsinstanzen; von Tatsachen- oder Revisionsinstanzen; von ordentlichen Gerichten, Verwaltungs- und Verfassungsgerichten; von Normadressaten – Wissenschaftlern – Anwälten und so weiter. Es bleibt die Frage: was heißt „Arbeitsweisen“, d. h. juristische Methodik der Funktion nach? Diese Formulierung enthält zwei Fragen: Erstens: was ist die Funktion dieser Arbeit, deren Vorgehen juristische Methodik untersucht? Die Funktion der Rechtsarbeit ist eine solche von Entscheidung und Herrschaft, von Differenzierung und Sozialsteuerung, von Verteilung und Ausgleich, von Stabilisierung und Legitimierung.

2.3 Verfassungspolitische Bewertung

29

Zweitens: Und was ist die Funktion dieser Methodik? Die Antwort, rechtstheoretisch formuliert, lautet: Ihre Funktion ist es, Regeln für die (faktisch hinreichend wahrscheinlich) erfolgreiche Zurechnung der im Einzelfall gesetzten Entscheidungsnormen zu den als dahinterstehend angegebenen allgemeinen Rechtsnormen auszuarbeiten, aufzustellen. Juristische Fallösung ist Entscheidungstechnik, juristische Methodik als Methodik der darstellenden Begründung der Entscheidung ist Zurechnungstechnik. Politisch formuliert, lautet die Antwort: Die Funktion juristischer Methodik ist es, auf erfolgreiche, weil regelmäßig als plausibel akzeptierte Art die Verantwortung für funktionell-persönliche Entscheidung, Steuerung, Verteilung, Herrschaft im Einzelfall auf jeweils weiter entfernte Instanzen zu verschieben, vor allem auf normsetzende Instanzen, so auf „den Gesetzgeber“ (zum Teil auch auf höchstrichterliche Judikatur). Schließlich: was ist im besonderen die Funktion der beanspruchten und behaupteten Rationalität einer rechtsstaatlichen juristischen Methodik? Sie ist einmal die, der bürgerlichen Wirtschafts- und Verkehrsgesellschaft die tatsächlich erforderliche Berechenbarkeit, Durchschaubarkeit, Regularität zu geben: Instrumentalität juristischer Methodik. Und sie ist zum andern die, legitimierend zu wirken, insofern Transparenz der Entscheidungsprozesse oder zumindest der Entscheidungsgründe diese für Kritik und Kontrolle öffnen und damit die realen Voraussetzungen für den Anspruch des liberalen Verfassungsstaats schaffen soll, sowohl den Status quo als auch seine Veränderung auf Zustimmung, Kompromiß und akzeptierte Mehrheitsmeinung zu stützen: Grenzen ihrer Instrumentalität.

2.3 Verfassungspolitische Bewertung Wonach bestimmen sich nun die Anforderungen an die Rechtswissenschaft als eine Wissenschaft, d. h. die Voraussetzungen für eine wissenschaftliche juristische Methodik? Die Rechtsarbeit hat nur dann eine wissenschaftliche Methode, wenn sie auf eine Art und Weise operiert, die intersubjektiv kontrollierbar und nach den realen Teilschritten ihrer

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2. Recht – Sprache – Gewalt

Arbeit differenzierbar ist; wenn sie ihr eigenes Vorgehen verallgemeinern kann, wenn sie es aufweist und offenlegt. Normativ im Sinn „geltender“ rechtlicher Vorschriften wird diese Forderung nach Wissenschaftlichkeit der Rechtsmethodik gestützt durch Formalgarantien und Formqualitäten des Rechtsstaats im Sinn des Bonner Grundgesetzes: zum Beispiel Methodenklarheit, Normklarheit; Tatbestandsbestimmtheit bei Vorschriften, die den Adressaten in seiner Rechtsstellung belasten; Textklarheit vor allem bei Änderungen und Ergänzungen der Verfassungsurkunde und, eingeschränkt, auch bei unterverfassungsrechtlichen Kodifikationen; nicht zuletzt auch durch Institutionen und durch einzelne Verfahrensvorschriften wie etwa die Möglichkeiten der Kontrolle durch höhere Instanzen, der Kontrolle durch die Verfassungsgerichtsbarkeit, durch rechtliches Gehör oder durch die Begründungspflicht für Entscheidungen. Der bürgerliche Verfassungsstaat der Neuzeit, soweit er sich als Rechtsstaat konstituiert, fordert und erlaubt eine unter dem Anspruch der Kontrollierbarkeit und damit der Rationalität arbeitende, d. h. im erörterten Sinn eine wissenschaftliche Methodik. Die technische Seite dieser Rationalität und Kontrollierbarkeit soll durch formale Regeln und Garantien gesichert werden. Die Herrschafts- und Steuerungsfunktionen der Rechtsordnung – Entscheidungs-, Stabilisierungs-, Differenzierungs- und Legitimierungsfunktion – werden dadurch in keiner Weise beseitigt. In ihrem Rahmen hat rationale Methodik tendenziell jedoch eine anti-machtstaatliche, eine im verfassungsgeschichtlich genauen Sinn des Wortes „liberalisierende“ Wirkung. Das gilt grundsätzlich für den gesamten „Kreislauf“ rechtlichen Funktionierens: für die Normtextsetzung (die nie aus einem Nichts kommt, sondern eine Vorgeschichte und eine Geschichte hat), für die Normkonkretisierung und Norm„anwendung“, für die Kontrolle der Normumsetzung, für erneute rechtspolitische Diskussion, für Normfortschreibung bzw. -änderung. Die Instrumentalität juristischer Methodik erweist sich daran, daß sie innerhalb dieses Rahmens mit ihren Entscheidungs-, Stabilisierungs-, Differenzierungs-, Steuerungsund Legitimierungsfunktionen für verschiedene politische Inhalte dienstbar gemacht werden kann. Die Grenzen ihrer Instrumentalität zeigen sich daran, daß nach aller historischen Erfahrung jede Entwicklung zu autoritären oder totalitären Herrschaftsformen mit einer EntRationalisierung verbunden ist, mit einem Abbau der Form- und Verfahrensgarantien, mit einer Einschränkung der Offenlegungspflichten,

2.3 Verfassungspolitische Bewertung

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der Kontrollmöglichkeiten und Kontrollinstanzen16; und nicht zuletzt daran, daß die Rechtsordnung, ihre Inhalte und Verfahrensweisen in dem Maß der Annahme durch die Betroffenen bedürftig sind, in dem eine Regression zu autoritären oder totalitären Varianten des neuzeitlichen Staates noch nicht stattgefunden hat; m. a. W.: soweit juristische Methodik noch die Methodik einer im genannten Sinn rationalen wissenschaftlichen Disziplin ist. In eben diesem Maß herrscht noch eine von hinreichend breitem Konsens getragene Legalität als die für den liberalen Verfassungsstaat eigentlich legitimierende Größe. Sie herrscht weithin mit konstitutioneller Gewalt; d. h. sie kommt mit ihr aus, ohne zu häufig und zu massiv die entlegitimierende „bloße“, d. h. die aktuelle Gewalt einsetzen zu müssen. Der Rechtsstaat ist, wie jeder Staat, wie jede Organisation menschlicher Gruppen eine Form von Gewalt – ihrer Regulierung, Anwendung, Rechtfertigung; und damit auch ihrer Begründung: nicht als Gewalt in ihrer Tatsächlichkeit, sondern eben als regulierter und gerechtfertigter „Macht“ („Staatsgewalt“). Das Besondere an der rechtsstaatlichen Form von Gewalt liegt vor allem darin, im Ansatz (a) Gewalt möglichst weitgehend zu entpersonalisieren; sie (b) in ihrer Regulation (Voraussetzungen, Durchführung, Begrenztheit) möglichst weitgehend auf generalisierbare Weise sprachlich zu umschreiben; und das heißt auch, sie durch wissenschaftliche Methodik tendenziell beherrschbar und vorhersehbar zu machen; und schließlich (c) in dem Maß, in dem (a) und (b) tatsächlich verwirklicht werden, Gewalt durch gleichfalls rechtsstaatlich formalisierte Kontrollgewalt zu begrenzen. Für die gegenwärtige Lage ist hierzu an Tendenzen zweierlei festzuhalten: in der gesellschaftlichen Tatsächlichkeit eine zunehmende Verschärfung im Austragen gesellschaftlicher Konflikte – der allgemei16 Vgl. nur etwa Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung, 2005. – Zur Verschärfung des Austragens gesellschaftlicher Konflikte allgemein: Hacker (Fn. 8). Zu dem im Text folgenden Verhältnis zwischen legitimierendem Konsens und entlegitimierender aktueller Gewalt vgl. Denninger, Gewalt, innere Sicherheit und demokratischer Rechtsstaat, in: Zeitschrift für Rechtspolitik 1973, S. 268 ff., 270 f.

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2. Recht – Sprache – Gewalt

ne Gewaltpegel in der Gesellschaft steigt an; und in einzelnen Sektoren der Rechtsordnung eine Hinwendung zu rechtsstaatlich kaum mehr kontrollierbaren Generalklauseln, so v. a. im politischen Strafrecht und im Recht des öffentlichen Dienstes. Daß beides politisch korrespondiert, ist bekannt. Daß juristische Arbeitsmethoden mit Strukturen und Funktionen – hier: der Rechtsstaatlichkeit – korrespondieren, zeigt sich auch hier. Der Rechtsstaat ist für eine verfassungsgeschichtliche Zwischenbilanz verwirklicht vor allem in seinen Strukturen. Er bleibt hinter dem ihn legitimierenden Anspruch zurück in seinen Arbeitsweisen. Er wird im nicht mehr liberalistisch „neutralen“, sondern interventionistischen Staat des von Parteien- und Verbändeoligarchien geprägten Gemeinwesens in seinen Funktionen unsicher. Seine Funktion war verfassungsgeschichtlich nicht nur die, eine der bürgerlichen Verkehrsgesellschaft nötige technische Rationalität zu schaffen; sondern auch die, durch Grundrechte und Verfahrensnormen, durch seine den zunächst noch absolutistischen Staatsapparat zurückdrängenden Formgarantien politische Befreiung zu ermöglichen. Die Dialektik von formalen und inhaltlichen Momenten der Rechtsstaatlichkeit „treibt“ im Hegelschen Sinn – eine andere ,Dialektik der Aufklärung‘ – den bürgerlichen Rechtsstaat insofern „über sich hinaus“, als sich seine Funktion faktisch erweitert; als sie gerade wegen ihrer Formalität politisch befreiende Wirkung auch für die sozialen Schichten zu entfalten beginnt, für die der Rechtsstaat nicht „gedacht“ war, d. h. von denen er historisch nicht erkämpft wurde. In dieser Gestalt hat der Rechtsstaat Funktionen, die geschichtlich nicht überholt sind. Daher ist er unbedingt zu verteidigen und dort, wo er hinter seinem eigenen Anspruch zurückbleibt – in der alltäglichen Arbeitsmethodik seiner Funktionsträger – auf diesen Anspruch hin zu verbessern. Zu verteidigen ist er nicht zuletzt gegen regressive Tendenzen, die wie die genannten unmittelbar, d. h. aktuell politisch motiviert sind. Das ist – in bezug auf die Axiomatik zu „Rechtsstaat“ – das hier unterstellte Vorverständnis; nicht etwa eine Tendenz, den Rechtsstaat nicht zu „hinterfragen“. Im Gegenteil: Er wäre dann rein technisch gesehen, wenn nur die juristischen Arbeitsweisen empirisch beschrieben werden sollten. Er wäre noch nicht genügend erfaßt, wenn die Methoden nur bis zu den Strukturen zurückzuverfolgen sein sollten. Er wird „hinterfragt“ durch den Vorschlag, juristische Methodik als Gesamtheit

2.3 Verfassungspolitische Bewertung

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der Fragestellungen nach: Funktionen – Strukturen – Arbeitsweisen zu behandeln, d. h. ihn zugleich, weil durch die gesellschaftliche und historische Realität vermittelt, sowohl in Frage zu stellen als auch zu praktizieren – und zwar nach seinem eigenen Anspruch von Rationalität, Kontrolle, von Änderung durch Kommunikation und Konsens statt durch sprachlose Gewalt. Und das heißt, systematisch formuliert: Seine Legitimität findet der bürgerliche Rechtsstaat gerade darin, möglichst weitgehend mit formalisierter, kontrollierbarer, sprachlich vermittelter konstitutioneller Gewalt auszukommen und möglichst wenig die deswegen entlegitimierende „bloße“, d. h. die aktuelle Gewalt einsetzen zu müssen.

3. Gesichtspunkte zur Wissenschaftstheorie Der Ansatz, der hier anstelle der noch herrschenden Auffassung vorgeschlagen wird, muß zweierlei leisten. Er muß fähig sein, die Frage so zu formulieren, daß die tatsächlichen Bedingungen, Gegebenheiten und Abläufe in den Blick kommen, die mit der Rede vom „Funktionieren“ einer Rechtsordnung gemeint sind. Er muß ferner im Sinn des Themas fähig sein, nicht nur den praktischen, sondern auch den wissenschaftstheoretischen Standort der Rechtswissenschaft und ihrer Methodik bestimmen zu helfen – von einer angemesseneren Fragestellung her. Das bisherige Zwischenergebnis der wissenschaftstheoretischen Verortung läßt sich mit den Stichwörtern „Sozialwissenschaft“ und „Entscheidungswissenschaft“ andeuten. Es ist weiter dadurch zu differenzieren, daß einzelne von der heutigen wissenschaftstheoretischen Debatte benutzte Aspekte mit der tatsächlichen Erfahrung in Verbindung gebracht werden, welche die in dieser Gesellschaft lebenden Menschen mit der gesellschaftlichen Praxis ihrer Rechtsordnung machen. Die von der allgemeinen wissenschaftstheoretischen Debatte gelieferten Gesichtspunkte, die hier ausgewählt werden, betreffen den Begriff des „Sprachspiels“ in der sprachanalytischen Philosophie; betreffen die auch in der traditionellen Theorie immer festgehaltene Frage von „Sprachform und Sachbezug“, die von der jüngeren „geisteswissenschaftlich“-philosophischen Hermeneutik in den Vordergrund gestellten Topoi „Aktualität“ und „Vorverständnis“ und schließlich Ansätze der Informationstheorie und Kommunikationstheorie. 3.1 „Sprachspiel“ Der Begriff des „Sprachspiels“ stammt in dieser Form von Wittgenstein. Der Gesichtspunkt markiert die Kluft zwischen der Frühschrift des „Tractatus“ und den Schriften seit den „Philosophischen Untersuchungen“, in denen das „Sprachspiel“ eine zentrale Stelle ein-

3.1 „Sprachspiel“

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nimmt17. Im „Tractatus“ gibt es nur eine einzige Sprache. Sie besteht aus Elementarsätzen (oder Wahrheitsfunktionen von Elementarsätzen). Jeder einzelne Elementarsatz bildet einen Sachverhalt ab. Damit ist unterstellt, Bild und Sachverhalt hätten dieselbe logische Form. Ein Satz hat nur eine einzige Funktion, nämlich die, eine Tatsache abzubilden. Nach dem Ansatz der „Philosophischen Untersuchungen“ hat ein Satz dagegen unzählige Funktionen. Die Aufgabe besteht jetzt nurmehr darin, den Satz zu verstehen. Ihn verstehen heißt jetzt nicht mehr, verstehen, was er abbildet, sondern „was er ausrichtet, d. h. verstehen, welche Funktion er hat, welche Arbeit er ausführt“. Philosophische Relevanz hat nur noch die Tatsache, daß Sätze und Ausdrücke verstanden oder mißverstanden werden können. Ein Satz wird dann verstanden, wenn durchschaut wird, in welcher tatsächlichen Situation er tatsächlich verwendet wird; d. h. also „durch das Durchschauen der Art des Sprachspieles, das in der vorliegenden Situation tatsächlich gespielt wird“18. Die These, Tatsachen könnten eine logische Form haben, ist auf dieser Stufe von Wittgenstein verworfen. Im „Tractatus“ geht es um ein Wort als einen Namen; in den „Philosophischen Untersuchungen“ um ein Wort als Moment einer konkreten Gebrauchsweise. Die Funktion der Sprache ist nicht länger die einer Abbildung der Welt. Ein „Sprachspiel“ ist vielmehr eine Sprachsituation, innerhalb welcher gesagt werden kann, daß hier – aber eben nur hier – „die Bedeutung der Wörter das Ding ist, auf das sie sich beziehen“19. Von einer Bedeutung „an sich“ eines einzelnen Wortes kann hier nicht die Rede sein; nur davon, wie das betreffende Wort innerhalb eines bestimmten Sprachspiels gebraucht wird. In der Regel ist die Bedeutung eines Wortes sein Gebrauch in der Sprache20. 17 Wittgenstein, Logisch-Philosophische Abhandlung, in: Schriften 1, 1960; ders., Philosophische Untersuchungen, ebd. 18 Hartnack, Wittgenstein und die moderne Philosophie, 1962, S. 62 ff.; die Zitate S. 68, 72; vgl. auch Roellecke, Grundfragen der juristischen Methodenlehre und die Spätphilosophie L. Wittgensteins, in: Festschrift für G. Müller, 1970, S. 323 ff. 19 Hartnack, Wittgenstein und die moderne Philosophie, S. 57. 20 Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, § 43.

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3. Gesichtspunkte zur Wissenschaftstheorie

Entscheidend ist dabei die Einsicht, daß die Sprachspiele die Lebensform der Sprechenden ausdrücken: „Eine Sprache vorstellen heißt, sich eine Lebensform vorstellen.“21 Das ist ein Gesichtspunkt, der hier nun nicht etwa mit dem Vorsatz, Wittgenstein „für die Rechtswissenschaft fruchtbar zu machen“, angeklebt werden soll. Vielmehr gilt das Gegenteil: Die bisherigen Überlegungen, die nicht von einem abstrakten wissenschaftstheoretischen Schema ausgingen, sondern bei der tatsächlichen gesellschaftlichen Wirkungsweise der Rechtsordnung anzusetzen versuchten, haben nahegelegt, daß Wörter und Ausdrücke wie „Gebäude“, „Wohnung“, „umschlossener Raum“, „Eindringen“ im strafrechtlichen Ausgangsbeispiel; wie „Eignung“ (für den öffentlichen Dienst) im öffentlich-rechtlichen oder wie etwa „schwere Eheverfehlung“ im familienrechtlichen Fall nicht Wörter und Ausdrücke sind, die für sich selbst, „an sich“ einen Sinn, einen „Inhalt“, eine „Bedeutung“ haben, die von juristischer Methodik nun im Weg geisteswissenschaftlicher, philologischer, sprachanalytischer Interpretation ermittelt, „heraus„gefunden werden müßten22; sondern daß eine Bestimmung und Bewertung juristischer Arbeitstechnik sozusagen am anderen Ende zu beginnen hat: in der Reihenfolge Funktionen – Strukturen – Arbeitsformen, deren vielfältige Entsprechungen sich als notwendig und als wissenschaftlich analysierbar erweisen. Von den gesellschaftlich gestellten Aufgaben her, von den mit Bezug auf diese Aufgaben normierten bzw. institutionalisierten Funktionen, von den dafür eingerichteten professionellen Ämtern und „Berufsbildern“, von den vor diesem Hintergrund verständlichen Strukturen aus (Einzel- oder Kollegialgericht, Verfahrensregeln, Instanzenzug usw.) kann der tatsächliche Standort juristischer Methodik, d. h. der alltäglichen Arbeit von Juristen, eher zureichend erfaßt werden. Nicht also ist Wittgenstein „auf die Jurisprudenz“ bzw. „auf die juristische Methodik anzuwenden“; sondern es ist festzuhalten, daß Beobachtungen, die sich bei einer immanenten Analyse tatsächlicher Funktionen, Strukturen und Arbeitsweisen der Rechtswelt machen lassen, in allgemeinerer Form und mit entsprechend höherem Abstraktionsgrad in jenem kurz skizzierten Topos sprachanalytischer Philosophie möglicherweise wiederzuerkennen sind. Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, § 19, S. 296. Vgl. F. Müller, Juristische Methodik, etwa S. 100 f., 105 f. (in der 9. Aufl. 2004: S. 199 ff. u. ö.). 21 22

3.2 Kommunikationssituation

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3.2 Kommunikationssituation Der darin eingeschlossene Gesichtspunkt der „Situation“ des Interpreten, der „Aktualität“ von interpretativem und methodischem Arbeiten, findet sich, anders gefärbt, sowohl in den Ansätzen der Kommunikationstheorie wie in einer auf dem früheren Heidegger fußenden „philosophischen Hermeneutik“23. Kommunikationstheoretisch geht es dabei um folgendes: Namengebung durch Sprache ist nicht ontologisch verstehbar, sondern primär aus der imperativen Kommunikationssituation; d. h. als Beschreibung einer sozialen Situation mit dem Zweck der Steuerung künftigen Verhaltens. Die Beschreibung sozialer Beziehungen soll nicht verstanden werden als dinglich-ontologische Beschreibung, sondern als ein Bestandteil komplexer Kommunikationstechniken. Die Rechtsordnung kann als Kommunikationssystem gesehen werden, als Mechanismus des Austauschs von eher imperativen als informativen Nachrichten. Kommunikationstechnik ist als imperative Denkhilfe zur Ordnung des künftigen Zusammenlebens von Mitgliedern der sozialen Gruppe verstehbar. Auch hier zeigt sich, daß dieser Ansatz auf die juristische Methodik im Sinn ihrer Fortentwicklung nicht von außen „anwendbar“ ist. Zwar weist die herkömmliche juristische Methodik mit ihrer Konzentration auf die Lehre von der Textauslegung, mit ihrer Vorstellung von einem in der Rechtsnorm fertig vorgegebenen „Inhalt“ und einer vom graphischen Satz abgehobenen und abhebbaren „Bedeutung“ Elemente eines ontologischen Denkstils auf24. Ihr gegenüber trifft die Kritik durch den kommunikationstheoretischen Ansatz, nicht aber gegenüber dem hier vorgeschlagenen Verfahren. Dieses Verfahren geht zudem mit seiner Möglichkeit sachlicher Differenzierung erheblich weiter, als es die Kommunikationstheorie bei einem Versuch ihrer „Anwendung“ auf die 23 Bei Gadamer, Wahrheit und Methode, hier nach der 2. Aufl. 1965 (3. Aufl. 1975). 24 Hierzu und zu dem soeben Referierten: Horn, Rechtssprache und Kommunikation, 1966; ders., Rechtswissenschaft und Kommunikationstheorie, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 1967, S. 573 ff.; Nachweise und Diskussion bei: F. Müller, Juristische Methodik, S. 104 ff. (in der 9. Aufl. 2004: S. 198 ff.).

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3. Gesichtspunkte zur Wissenschaftstheorie

Rechtswissenschaft zu leisten vermöchte. Denn für entwickelte Kommunikationssysteme – wie die Rechtsordnung in den industriellen Gesellschaften – tritt wegen der in ihnen notwendig gestiegenen Komplexität an die Stelle des Grundmodells der imperativen Kommunikationssituation doch wieder die typologisch-dingliche Beschreibung in den Vordergrund. Die Momente einer typologischen, die gesellschaftliche Tatsächlichkeit erfassenden Analyse sind aber aus der Beobachtung juristischer Arbeit in Praxis und Wissenschaft zu gewinnen. Eine solche Untersuchung arbeitet mit den rechts-, sozial- und entscheidungswissenschaftlichen Instrumenten einer nach ihren Funktionen, Strukturen und alltäglichen Techniken erforschten praktisch / theoretischen Rechtsarbeit.

3.3 „Aktualität“, Lebensbezug, Vorverständnis Verstehen als „Applikation“, anders gesagt: die „Aktualität“ allen Verstehens bildet einen zentralen Gesichtspunkt neuerer „philosophischer Hermeneutik“25. Verstehen ist demnach aktuelles Geschehen. Sinnerkenntnis und Anwendung sind in einem einheitlichen Vorgang untrennbar umschlossen – in einem Vorgang, der den Verstehenden notwendig einbezieht und der trotz der Bindung an den Sinn des Textes diesen zu verstehenden Sinn erst konkretisiert und insofern vollendet. Auch hier besteht für die Rechtstheorie kein Anlaß zur „Übernahme“; sondern dazu, immanente Erfahrung der Arbeit an der Rechtsordnung bestätigt zu finden. Die Eigenart juristischer Konkretisierung von Normen ist für diesen Versuch einer allgemeinen philosophischen Hermeneutik beispielhaft; der Autor, dessen Arbeitsmaterial keineswegs das der Jurisprudenz ist, hat die Vorbildlichkeit der juristischen Hermeneutik unter diesem Aspekt hervorgehoben26. Der allgemein als „Aktualität“ gefaßte Lebensbezug von Methodik und Interpretation, das den Interpreten wie das zu Interpretierende umschließende „Vorverständnis“ werden in der juristischen Arbeit wegen ihres Sozialbezugs, ihrer spezifischen Formalisierung, ihres entscheidend erhöhten Grads 25 Im Sinn von Gadamer, Wahrheit und Methode, hier vor allem S. 279, 280, 290 ff., 315, 323. 26 Gadamer, Wahrheit und Methode, S. 307 ff., 313.

3.3 „Aktualität“, Lebensbezug, Vorverständnis

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von Verbindlichkeit und wegen ihrer Relevanz für „geltende“ und damit im Bereich des Tatsächlichen fühlbare Entscheidung wesentlich verschärft. Die Tatsache der Sprachlichkeit rechtlicher Normen, rechtlicher Entscheidungen und Norm- bzw. Entscheidungskontrollen ändert daran nichts. Sie hat, von der Funktion rechtlicher Arbeit her, an eben dieser Verschärfung Anteil. Gewalt kann auch ohne sprachliche Vermittlung auskommen, wenn sie sich auch vielfach sprachlicher Vermittlung bedient. Recht kommt nie ohne sprachliche Vermittlung aus. Rechtszusammenhänge enthalten immer wesentlich sprachliche Elemente. Das spezifisch Rechtliche an Herrschaftszusammenhängen und an der die Rechtsentscheidung letztlich sanktionierenden Gewaltanwendung ist an Sprache gebunden und damit an deren allgemeine Bedingungen. Nur erweist sich bei einer Analyse der Rechtswelt, die diesen Ausgangspunkt festhält, folgendes: An den allgemeinen Bedingungen von Sprachlichkeit ermittelte Einsichten wie die des „Sprachspiels“, der „imperativen Kommunikationssituation“ oder der „Aktualität“, des „Vorverständnisses“ können an den Funktionen, Strukturen und Arbeitsweisen der Rechtsordnung nicht nur immanent, sondern wegen der dort anzutreffenden wesentlichen Verschärfung dieser Zusammenhänge auch deutlicher beobachtet werden. Der vorgängige Praxisbezug aller Interpretation, der Lebensbezug des Interpreten zum Verstehensvorgang, das Vorverständnis27, das Gestelltsein des Interpreten in einen zu aktualisierenden Traditionszusammenhang – diese Zentralbegriffe einer „philosophischen“ bzw. „geisteswissenschaftlichen“ Hermeneutik bleiben hinter den analogen Befunden juristischer Methodik graduell zurück: – Vor das „allgemeine“ Vorverständnis – konstituiert durch Inhalte, Verhaltensweisen, Vorurteile, Normen, Sprachmöglichkeiten und Sprachbarrieren der den einzelnen prägenden Sozialschicht – schiebt sich ein besonderes juristisches und rechtstheoretisches Vorverständnis, dessen Hauptbezugspunkte „geltende“, d. h. mit Gewalt sanktionierbare Normtexte und auf diese bezügliche wissenschaftliche Systematisierungsversuche, Dogmatik oder „Theorien“ sind. 27 Vgl. dessen Diskussion bei F. Müller, Normstruktur und Normativität, S. 48 ff., 55 f., 199 f. u. ö.; ders., Juristische Methodik, S. 120 ff., 123 ff., 174 (in der 9. Aufl. 2004: S. 245 ff., 249 f., 394, 489 f., 538 f.); kritisch Rottleuthner, Richterliches Handeln, 1973, S. 32 ff., 42 ff.

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3. Gesichtspunkte zur Wissenschaftstheorie

– Die „Vorbildlichkeit“ als das Wesentliche an der „Aktualität“ des Traditions- bzw. Verstehenszusammenhangs ist hier wiederum die eines verbindlichen „Geltens“, d. h. eines letztlich mit Gewalt eingeforderten Anspruchs auf bestimmtes Verhalten. – Der Lebens- und Praxisbezug ist hier eingeschlossen in eben diesen an seinen Rändern durch staatlich legitimierte Gewaltanwendung zusammengehaltenen Rahmen des Vorgangs „Normativität“.

3.4 Normativität, Normstruktur Nach dem Gesagten wird deutlich, daß eine so zu bestimmende Normativität als eine sehr spezifische ihre sachliche Entsprechung in einer spezifischen Normstruktur finden wird, also in einer besonderen Binnenstruktur der Rechtsarbeit. „Wortlaut und Sinn“, „Evokation und Redundanzen“, „Sprachgestalt und Sachbezug“ treten hier, fester umgrenzt, deutlicher definiert, verbindlicher formalisiert denn in „philosophisch-geisteswissenschaftlicher“ Hermeneutik als die hauptsächlichen Brennpunkte der rechtlichen Normstruktur auf: als Normprogramm und Normbereich28. 3.41 Normprogramm, Normbereich

Eine durch fallbezogene Rechtsarbeit konkretisierte Rechtsnorm ist mehr als ihr Wortlaut. Der Wortlaut ergibt zusammen mit allen primär sprachlichen Interpretationshilfen das „Normprogramm“. Gleichrangig gehört zur Norm der Normbereich, d. h. die Grundstruktur des Ausschnitts sozialer Wirklichkeit, den „sich“ das Normprogramm als „seinen“ Regelungsbereich „ausgesucht“ oder den es zum Teil erst „geschaffen“ hat: „ausgesucht“ in den Eingangsbeispielen etwa bei faktischen Fragen ehelichen Zusammenlebens oder in den faktischen Voraussetzungen und Umständen eines „schweren Diebstahls“; „geschaffen“ in den verfassungs- bzw. unterverfassungsrechtlichen Regeln, aus denen ermittelt werden kann, was rechtlich unter „Eignung“ für den öffentlichen Dienst verstanden werden soll. Der Normbereich kann 28 Hierzu F. Müller, Juristische Methodik, z. B. S. 107 ff., 109 ff., 164 ff. m. w.Nw.en (in der 9. Aufl. 2004: z. B. S. 214 ff., 378 ff., u. ö.).

3.4 Normativität, Normstruktur

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ganz rechtserzeugt sein: so bei Vorschriften über Fristen, Termine, bei Formvorschriften, Institutions- und Verfahrensregeln; oder nicht rechtserzeugt („Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre“, die in Art. 5 Abs. 3 S. 1 des Grundgesetzes durch das Normprogramm als „frei“ bestimmt werden). Das Normprogramm wird ermittelt durch alle als legitim anerkannten Determinanten der Rechtsarbeit als Normtextbehandlung von der schon genannten grammatischen, genetischen, historischen und systematischen Auslegung bis zu den speziellen Interpretationsfiguren der großen Rechtsbereiche Strafrecht, Zivilrecht, Öffentliches Recht, Rechtsgeschichte und Rechtsvergleichung. Der Normbereich als Sachbestandteil der Rechtsvorschrift ist empirisch zu ermitteln29. Wieweit dies fachlich kompetent oder dilettantisch geschieht, das ist unmittelbar eine Frage der Juristenausbildung. Dabei hebt das Normprogramm aus der Gesamtheit der von einer Vorschrift betroffenen tatsächlichen Gegebenheiten die für die juristische Entscheidung erheblichen Momente im Sinn einer steuernden Direktive heraus, setzt also für Fragestellung wie Gewichtung Maßstäbe verbindlicher Relevanz. Immer – etwa in der schönen Literatur, in der Alltagssprache, in der Sprache von Zeitungen oder Sachbüchern – hat Sprache Zeichencharakter, hat sie Repräsentations-30 und das heißt in einem mehrdeutigen Sinn: Stellvertretercharakter für Realität; weist sie auf 29 Vgl. z. B. F. Müller, Normstruktur und Normativität, etwa S. 187 ff. u. ö.; ders., Normbereiche von Einzelgrundrechten in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, 1968; ders., Freiheit der Kunst als Problem der Grundrechtsdogmatik, 1969, S. 67 ff.; ders., Juristische Methodik, S. 164 ff. (in der 9. Aufl. 2004: S. 378 ff.); allgemein z. B. Lautmann, Soziologie vor den Toren der Jurisprudenz, 1971; Naucke, Über die juristische Relevanz der Sozialwissenschaften, 1972; Naucke / Trappe (Hrsg.), Rechtssoziologie und Rechtspraxis, 1970; Hagen, Soziologie und Jurisprudenz, 1973. Differenzierte Ansätze bei Rottleuthner, Richterliches Handeln, 1973, z. B. S. 64 ff., 126 ff. u. ö.; s. a. die konzentrischen Bemühungen in: Grimm (Hrsg.), Rechtswissenschaft und Nachbarwissenschaften, Bd. 1, 1973, und die Daten aus den Normbereichen verarbeitende Konzeption von Denninger, Staatsrecht 1, 1973. 30 Nicht im juristischen Verständnis! – Zu historischen und wissenschaftsspezifischen Bedeutungsvarianten von „Repräsentation“: Gadamer, Wahrheit und Methode, S. 134 f. – Zur Verfassungstheorie: Chr. Müller, Das imperative und freie Mandat, 1966, durchgehend, bes. S. 125 ff., 210 ff., 223 ff.; ausführlich zur Begriffsgeschichte: Hofmann, Repräsentation, 1974. – Linguistisch gesprochen, handelt es sich um Referenz; dazu auch unten 4.6 mit Fn. 89 und 110.

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3. Gesichtspunkte zur Wissenschaftstheorie

Realität hin, evoziert sie Assoziationen an oder Urteile über Partikel von Realität. Wegen des spezifisch gesteigerten und formalisierten Sozialbezugs, Entscheidungszusammenhangs und „Geltungs-“Charakters rechtlicher Normativität findet sich dieser Sachverhalt in den Funktionen, Strukturen und Methoden der Rechtsarbeit verstärkt wieder. Von Grenzfällen abgesehen, ist das Normprogramm, das die Relevanz empirischer Daten aus dem Normbereich der Vorschrift bewerten läßt, weder eindeutig noch absolut vage. Vielmehr gibt es methodisch beherrschbare Spielräume an, innerhalb deren juristische Arbeit sich auszuweisen hat und an Hand deren sie kontrollierbar und kritisierbar ist. Daß der legitimierende Bezugspunkt juristischer Entscheidungen, die Rechtsnorm, nicht mit ihrem sprachlichen Ausdruck, also mit dem zusammen mit den Interpretationshilfen das Normprogramm formulierenden Normtext identisch ist, zeigt sich als praktische Erfahrung unabweisbar bei einer Fragestellung, die von der tatsächlichen Arbeitsund Wirkungsweise juristischer Tätigkeit statt von einem „geisteswissenschaftlich“-abstrakten Ansatzpunkt ausgeht. 3.42 Axiomatisierung

An diesem Sachverhalt scheitert auch bisher – wie es scheint nicht zufällig – der Versuch einer totalen Operationalisierung rechtlicher Normativität durch elektronische Datenverarbeitung. Rechtsfindung durch mechanische und vor allem durch elektronische, d. h. selbststeuernde Systeme von Datenspeicherung und Datenverarbeitung (Computer) setzt voraus, die betreffenden Rechtsvorschriften und Konkretisierungselemente axiomatisieren zu können. Bisherige Anwendungsfälle sind vor allem Steuer- und Sozialversicherungsrecht, Lohnund Gehaltsfestsetzungen und vergleichbare Gebiete, die durch quantifizierbare Tatbestände und weitgehend numerisch bestimmte Rechtssätze gekennzeichnet sind. Wo die Einspeicherung darüber hinaus bereits dogmatische Einzelfragen etwa aus dem Zivilrecht (z. B. § 812 ff., 985 ff. BGB) zu erfassen vermag, muß sie die Inhalte früherer Rechtsprechung und Dogmatisierung zwar dogmatisch differenziert, aber methodisch unbefragt voraussetzen, ohne deren Entstehungsbedingungen und Veränderbarkeit und ohne die methodischen Elemente der Normkonkretisierung bisher erfassen zu können. Automatische Verfahren der Rechtsgewinnung sind nach den gemachten Erfahrungen dort

3.4 Normativität, Normstruktur

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sinnvoll, wo sich Rechtsfindung ausnahmsweise nicht als Konkretisierung darstellt, sondern als einfache Subsumtion. Pläne einer durchgehenden Axiomatisierung der Rechtsordnung, die den stark differierenden Strukturen und Funktionen der Rechtssätze und vor allem der zu ihnen gleichrangig gehörenden Normbereiche nicht Rechnung tragen könnten, gingen insoweit schon im Ansatz an den gesellschaftlichen Funktionen und an den Strukturen positiven Rechts vorbei. Eine qualitativ zu Buche schlagende Operationalisierung rechtlicher Normen würde – soweit das bisher zu erkennen ist – eine qualitative Veränderung der Möglichkeiten elektronischer Datenverarbeitung voraussetzen. 3.43 Funktionale Arbeitsteilung

In den zwischen Normprogramm und Normbereich voranschreitenden Operationen juristischer Methodik ist die aus der herkömmlichen Diskussion geläufige „Zirkelhaftigkeit des Verstehens“ im Sinn einander korrigierender Fragestellungen und Teildaten nachweisbar. Das Ganze dieser Entscheidungsvorgänge ist Aufgabe für sozialwissenschaftlich informierte Rechtsarbeiter, nicht für fremdbestimmte, weil an juristische Fragestellungen gekettete Sozialwissenschaftler. Denn funktionale soziologische Analyse erschwert eher ein fallgebundenes Entscheiden, weil sie tendenziell immer neue Alternativen einbezieht. Sie akzeptiert „keine thematische Verpflichtung auf Tradition“31. Die Forderung nach funktionaler Arbeitsteilung zwischen Rechtsarbeit und der Arbeit anderer Sozialwissenschaften stellt diesen jedoch keine Vorbedingungen. Die methodische und politische Verantwortung für das Ansetzen der steuernden Perspektive des Normprogramms einer rechtlichen Vorschrift an die komplexen Teilergebnisse empirischer Studien verbleibt beim normkonkretisierenden Juristen. Die Entscheidungsarbeit insgesamt wird nicht zu einer Aufgabe anderer Sozialwissenschaftler. Sie wird zur Aufgabe von juristisch wie sozialwissenschaftlich spezialisiert ausgebildeten Juristen neuen Typs. Allerdings 31 Luhmann, Funktionale Methode und juristische Entscheidung, in: Archiv des öffentlichen Rechts 94 (1969), S. 1 ff., S. 18 ff.; hierzu: F. Müller, Juristische Methodik, S. 165 f. (in der 9. Aufl. 2004: S. 380; zur Stellung Luhmanns gegenüber der strukturierenden Rechtslehre und Methodik vgl. ebd., S. 545 u. ö.). – Zu Punkt 3.42 vgl. F. Müller / R. Christensen (Fn. 43), S. 376 f.

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3. Gesichtspunkte zur Wissenschaftstheorie

läßt die absehbare Tendenz der Hochschulpolitik, aus dem herkömmlichen Rechtsstudium die verbliebenen Reste an Wissenschaftlichkeit zugunsten einer kostensparenden „Effizienz“ auszutreiben, auf eine ins Gewicht fallende Verwissenschaftlichung juristischer Methodenpraxis für die nähere Zukunft wenig Hoffnung. 3.44 Normrevision

Interpretation und Methode nicht nur als Mittel, Vorgegebenes festzuhalten, sondern als Mittel, das Vorgegebene angesichts des stets neuen „Falls“ zu verändern – auch dieser Aspekt tritt in der Rechtsarbeit in verschärfter Weise auf. Das kann an einem Einzelpunkt gezeigt werden, an der Veränderbarkeit des Verhältnisses von Normprogramm und Normbereich, an der Frage der Normierbarkeit des zu Normierenden. Sie ist die strukturelle Zentralfrage aller Rechtspolitik. Eine Vorschrift, die veraltet; eine Regelung, der ihre sozialen Bezugspunkte genommen werden; eine Vorschrift, die nicht oder nicht mehr befolgt wird (Prohibitionsgesetzgebung in den USA, Abtreibungsgesetz bei uns), verliert nach und nach die Eigenschaft, die man ihre Geltung nennt: sie bleibt philologisch ein Normtext, aber auch nicht mehr32. Soweit sich rechtspolitische Diskussionen auf veränderte „Verhältnisse“ oder verändertes „Bewußtsein“ berufen, mag das ideologisch vielfach als „Anpassungskosmetik“ oder als Hinter-der-Entwicklung-Herlaufen erscheinen. Rechtstheoretisch und arbeitsmethodisch unter den Aspekten von Normstruktur und Normativität stellen solche Tendenzen Versuche dar, Normprogramm und Normbereich nicht zu stark auseinanderklaffen zu lassen; den Versuch, das dem Anspruch nach Normierte auch realisierbar zu normieren, d. h. die normative Kraft rechtlicher Regeln zu erhalten und – wie etwa an der Abtreibungsproblematik deutlich wird – die Auswirkungen dieser Regeln von den ursprünglichen rechtspolitischen Zielvorstellungen her nicht abirren bzw. in ihr Gegenteil umschlagen zu lassen. Über die inhaltliche und politische Vertretbarkeit von Reformbestrebungen im einzelnen ist damit nichts gesagt; wohl aber im Sinn des Themas über ihren praktischen und wissenschaftstheoretischen Standort. 32 Hierzu grundsätzlich F. Müller, Normstruktur und Normativität, z. B. S. 129, 154.

3.5 Folgerung

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3.5 Folgerung Die rechtlichen Arbeitsbereiche von der Rechtsdogmatik bis zur Rechtspolitik sind funktionell so selbständig, sind von den diffuseren Parallelbeobachtungen der „philosophisch-geisteswissenschaftlichen“ Hermeneutik graduell so deutlich abgehoben, daß sie ohne methodische Rückbindung an „Geisteswissenschaft“ behandelt werden können. Von der sozialen Realität her gesehen, verhält es sich eher umgekehrt, sind also die „Geisteswissenschaften“ unerlöste Sozialwissenschaften. Das läuft nicht darauf hinaus, sie nun wiederum über einen Leisten zu schlagen; auch nicht auf ein Methodenpotpourri. Es läuft aber darauf hinaus, die Arbeitsfelder der „Geisteswissenschaften“ und ihrer Hermeneutik – philosophische, geschichtswissenschaftliche, sprach- und literaturwissenschaftliche Arbeit usf. – stärker aufzufassen als Vorgänge zwischenmenschlicher und d. h. sozialer, sozial bedingter und professionalisierter Beeinflussung und Kommunikation. Die vielfältigen intimen Wechselwirkungen zwischen Gewalt, Recht und Sprache bleiben nun, von der Perspektive des allgegenwärtigen Phänomens der Gewalt aus, vertieft zu untersuchen.

4. Formen und Umformungen von Gewalt* 4.1 Begriffliches „Gewalt“ ist mit dem Zeitwort „walten“ verknüpft, und dieses wurzelt in „stark sein“, „besitzen“, „gebieten, herrschen“. Entsprechend der bündelnden Funktion, welche die Vorsilbe „Ge-“ oft hat, kann „Gewalt“ als die Gesamtheit des Beherrschens, der Eigenschaften und Potenziale von Herrschaft begriffen werden, als sowohl virtuelle wie auch aktuale Übermacht – körperliches, mentales und seelisches, institutionelles oder symbolisches Über„wältigen“. In welcher Form auch immer auftretend – Gewalt fragt nicht nach der Zustimmung der Beherrschten, sie missachtet die Freiheit der Überwältigten, Ver„gewalt“igten; sie zwingt oder nötigt zur Hinnahme, zur Duldung, zum Erleiden. Die gewalttätig Behandelten werden nicht als Personen wahrgenommen, verfassungsrechtlich gesagt: nicht als freie Träger des Grundrechts der Menschenwürde. Freiheit ist die Freiheit der eigenen und selbstverantwortlichen Wahl („Will-kür“). Gewalt bricht aber den Willen des Andern, achtet ihn nicht als den Andern. Sie macht ihn zur Sache, mit der willkürlich verfahren wird, setzt ihn im Kantischen Sinn vom Subjekt zum bloßen Objekt herab. Auf die Rechtsqualität hin befragt, lässt sich nur das „Recht des Stärkeren“ an den Haaren herbeiziehen, das sich aber in der Regel, sobald es am geltenden Recht gemessen wird, als Unrecht herausstellt. Auf jeden Fall ist es tautologisch: die Übermacht des Stärkeren. Rousseau hat dieses „Recht“ durch semantisches Erörtern der Wortfelder „physische Macht – Moralität“, „Notwendigkeit – Pflicht“ und „Gewalt – Recht“ so knapp wie schneidend dekonstruiert33. Es wäre wünschenswert, diese Tat hätte in der Geschichte der Diskurse für immer aus* Geschrieben 2008; dem entsprechend nach neuer Rechtschreibung. Du Contrat Social I 3. – Dazu F. Müller, Demokratie zwischen Staatsrecht und Weltrecht, 2003, S. 17 f. 33

4.1 Begriffliches

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gereicht. So ist es aber nicht; die reale Geschichte kennt kein „für immer“, so lange sie selbst real bleibt. Gewalt ist nichts als Gewalt. Bei aller Vielfalt ihrer Äußerungsformen ist sie begrifflich einfach. „Macht“ ist hingegen ein zusammengesetzter Begriff, und so sind beide Ausdrücke hier von Anfang an verwendet worden34. Das kann, wie sich von selbst versteht, aber nicht heißen, das Beurteilen von Vorgängen als „Gewalt“ sei nicht bestreitbar und umstritten. So wird etwa in der kritischen Gesellschaftstheorie von struktureller Gewalt bereits dann gesprochen, wenn Erwerbstätige ohne eigene Produktionsmittel zum Verkauf ihrer Arbeitskraft und eines Großteils ihrer Lebenszeit gezwungen sind. Auf der anderen Seite lehnte es der Bundesgerichtshof in Strafsachen ab, das Anwenden von Gewalt dann anzunehmen, wenn ein Lehrherr sein Lehrmädchen im Auto einklemmt, um sie dadurch zum Geschlechtsverkehr zu nötigen35. Der Artikel „Gewalt“ im Grimmschen Wörterbuch36 von 1911 umfasst 185 Spalten an Gebrauchsbeispielen aus der damaligen Verwendungsgeschichte dieses Terms. Zwischen „Gewalt“ und „Macht“ spannt sich ein Wortfeld der Ungewissheiten und Ambivalenzen aus. Im Deutschen ist „Gewalt“ nicht notwendig negativ besetzt. Sie kann auch als „Walten“ der guten Obrigkeit verstanden werden, als Gewaltsamkeit bei der Exekution des „Richtigen“, im Dienst dieser oder jener „guten Sache“37. Um die Bedeutungsschichten auseinander zu halten, werden Beiwörter hinzugefügt: legitime / illegitime Gewalt. Dagegen lässt es sich im Englischen bereits im Hauptwort nuancieren: power, authority (legitime), force, violence (illegitime Gewalt); ähnlich beispielsweise auch im Französischen (pouvoir – violence) oder Portugiesischen (poder – violência). Wenn, wie hier, im deutschen Ausdruck „Gewalt“ die Zwei34 Siehe oben S. 20 f. mit Fußnote 8. – Siehe ferner Bourdieu / Passeron, Grundlagen einer Theorie der symbolischen Gewalt, 1973; Galtung, Peace, violence and imperialism, 1974; Gast, Rechtserkenntnis und Gewaltstrukturen, 1975; Sofsky, Traktat über die Gewalt, 3. Aufl. 2003. 35 BGH NStZ 1981, S. 390; JR 1982, S. 115. 36 Deutsches Wörterbuch, Bd. 6 von H. Wunderlich, 1911, Sp. 4910 ff. 37 Vgl. etwa die als positiv eingesetzte Variante in der Verwendung des Ausdrucks: „revolutionäre Gewalt“ bei W. Benjamin, Zur Kritik der Gewalt, in: ders., Gesammelte Schriften, Band II 1, 1980, S. 179 ff., 202.

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4. Formen und Umformungen von Gewalt

deutigkeit nicht ausgeschaltet werden kann, so handelt es sich ersichtlich nicht um ein Spiel, das der Autor treibt. Die Zweideutigkeit erscheint vielmehr als die unseres Typs von Gesellschaft in seinem Kern: zwischen status naturalis und status civilis, Illegitimität und Legitimität, zwischen Gewalt und Macht prekär, vorläufig und nie wirklich stabil durch das geltende Recht (und das heißt durch Texte) eingerichtet. Warum „prekär“? Personen mit Entscheidungszuständigkeit und Herrschaftsmacht, unter ihnen auch Juristen, lassen sich ungern beim Verfolgen ihrer eigenen Zwecke behindern; nicht einmal durch das geltende Recht, auf das man sich im einzelnen Entscheidungsfall sei es berufen, sei es nicht berufen kann. Die Geschichte der römischen Republik bietet dafür mit der Behandlung des kodifizierten Volksrechts durch die aristokratischen Magistrate rechtshistorisch einen klassischen Fall, und auch an heutigen Beispielen mangelt es nicht. Macht kann durch ihre Träger in einer zu wenig pluralistischen Legislative und vor allem in der Exekutive nur allzu leicht instrumentell, parteiisch, brutal eingesetzt werden; in der Morgenröte des modernen Konstitutionalismus haben das die Gründerväter der US-Verfassung während ihrer Debatten im „Federalist“ klar genug ausgedrückt. Von den Anderen wird verlangt, dieselben Vorschriften als verbindliche Autorität zu befolgen, die man selber von Fall zu Fall als zweckdienlich biegbar handhabt. Im „Recht des Stärkeren“ enttarnt sich immerhin der Stärkere noch als der Träger von Übermacht; in der Gewalt, die durch geltende Normen vermittelt wird, soll dagegen die ausgeübte Herrschaft nicht mehr als Gewalt erkannt, sondern nur noch als Norm anerkannt werden. Dabei bleibt der Missbrauch von Macht (und damit ihr Umschlagen in, ihre Regression zu Gewalt) sozusagen nur jeweils anekdotisch im Vergleich zum zweiten Grund der Prekarität einer Balance zwischen Gewalt und Macht in der rechtsstaatlich verfassten Gesellschaft. Dieser liegt in der universalen Sprachlichkeit von Recht und in der Textualität allen Rechtshandelns. Bis auf weiteres ist Rechtssprache eine natürliche Sprache und bleibt als solche vieldeutig. Selbst wenn durch „optimal klares und genaues“ Formulieren von Normtexten in Verfassungen, Gesetz- und Verordnungsblättern die Polysemie hie und da ausgeschaltet zu sein scheint, kann ein – wie so oft – aus der Art schlagender

4.2 Ausweitung der Kampfzone

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neuer Fall oder eine unvorhergesehene Wendung in einem bereits behandelten Streitfall den bisher „klar“ aussehenden Normtext plötzlich als „unklar“ erscheinen lassen, jedenfalls als gesteigert bestreitbar und folglich auch von neuem umstritten.

4.2 Ausweitung der Kampfzone Thomas Hobbes stellt Gewalt als grenzenlose vor: auf Seiten der einzelnen Menschen totaler Krieg, dem entsprechend auf Seiten des Staats totale Macht (was wiederum heißt: durch Sprache gerechtfertigte totale Gewalt). Gewalt ist erfahrungsgemäß universal. Es sieht so aus, als sei Aggression eine Grundkraft des Lebens, und Gewalt ist als Potenz im menschlichen Handeln so allgegenwärtig wie sonst wohl nur noch Sprache. „Universal“ bedeutet aber nicht „total“ (im Sinn von: ausnahmslos). Hobbes hält, im Sold der erstarkenden britischen Monarchie, eine Gesellschaft der Lebenden nicht für möglich; wo er über menschliche Geschichte und soziales Handeln schreibt, traktiert er im Hintergrund immer auch die Alternative von Leben oder Tod. Sein Naturzustand ist absoluter Krieg, universale Angst, das Szenario für den Selbstmord der Gattung Mensch. Nur der Fürst, der Amtsträger als Machthaber, zählt nicht zu dieser Gattung reißender Bestien. Totale Gewalt muss durch totale Macht gebändigt werden; das Gewissen des Fürsten vor Gott schränkt die Grenzenlosigkeit seiner Übermacht nicht objektiv ein, nicht nachprüfbar, kontrollierbar. Sozialen Raum als einen nicht vorweg festlegbaren, einen Raum für das Politische kann Hobbes’ Angstneurose – in glücklicher Übereinstimmung mit den Wünschen seiner Auftraggeber – nicht zulassen. Um die Gesellschaft der Toten (das Leichenfeld des Naturzustands) zu vermeiden, erstrebt er eine tote Gesellschaft. Auch außerhalb Hobbes’scher Optionen, auch in einem politischen Gemeinwesen sind die Äußerungen von Gewalt (seien es direkt auf den menschlichen Körper gerichtete, seien es institutionelle, strukturelle, symbolische) allgegenwärtig im Sinn von: immer wieder vorkommend, stets möglich; also nicht nur in der von Gewalt geprägten Natur, sondern in gleicher Weise als den Kulturen unausweichlich eigen. Die Tiere üben Gewalt und Tötung zweckgerichtet aus, zum Leben und Überleben; aber sie massakrieren nicht, foltern nicht, führen nicht Krieg.

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4. Formen und Umformungen von Gewalt

Gewaltanwendung ist ein sozialer Vorgang; in den menschlichen Gesellschaften wird sie kulturell überformt. Der moderne Staat strebt danach, sie zu monopolisieren und durchzunormieren. Das hat er zum Teil mit den älteren Gemeinschafts- und Staatsformen gemeinsam, denen „der entscheidende kulturelle Schritt“ zu verdanken ist, nämlich die „Ersetzung der Macht des einzelnen durch die der Gemeinschaft“. Deren Macht „stellt sich nun als ,Recht‘ der Macht des einzelnen, die als ,rohe Gewalt‘ verurteilt wird, entgegen“38. Das Unterdrücken der universalen „Aggressionsneigung“ fällt besonders schwer und ist genau das Moment, „das unser Verhältnis zum Nächsten stört und die Kultur zu ihrem Aufwand nötigt“. Revolten gegen dieses Tabu, gegen den kulturell auferlegten Gewaltverzicht ereignen sich als spontane Ausbrüche (zum Beispiel religiös, konfessionell, sozial, ethnisch mehr oder weniger „begründete“ Konflikte innerhalb des selben Staates einschließlich terroristischer Aktionen) oder werden in Krieg, Bürgerkrieg, „ethnischer Säuberung“ und vom Staat angeordneter Folterpraxis als zentrale, riesenhaft verstärkte Gewalt (drapiert als „Macht“) planmäßig eingesetzt. Rohe Gewalt nimmt ihren Opfern alles, worauf Menschenrecht besteht – Entscheidungsfreiheit, Bewegungsfreiheit, körperliche Unversehrtheit, Leben und damit die materielle Grundlage für alle anderen Grund- und Menschenrechte. Das Schlimmste an Diktatur, Krieg, Bürgerkrieg und Folter ist, dass über ihren ursprünglich oft instrumentellen Ansatz hinaus – jedenfalls wird er von der Ideologie der Machthaber als zweckrational dargestellt – die vorher zurück gestaute Gewaltbereitschaft enthemmt wird. Sie wird zum Selbstläufer, der welche auch immer behaupteten „vernünftigen Zwecke“ hinter sich lässt und in „Kettenreaktionen“ oder „Spiralen von Gewalt“ keine Grenzen mehr einhält – am Schrecklichsten in Grausamkeit und entfesselter Folter, dem schlimmsten denkbaren Übel, das Menschen anderen Wesen antun können39. Darüber hinaus zerstören organisierte Aggressionen unzäh38 Sigmund Freud, Das Unbehagen in der Kultur, GW, Band XIV, S. 419 ff., 454 f. – Als zweiten Schritt der Kultivierung nennt Freud dort die Forderung nach Gerechtigkeit im Sinn der Stabilität der Niederhaltung roher Macht durch die Gewalt der Gemeinschaft; als dritten die Demokratisierung des Rechts, „zu dem alle – wenigstens alle Gemeinschaftsfähigen – durch ihre Triebopfer beigetragen haben und das keinen – wiederum mit der gleichen Ausnahme – zum Opfer der rohen Gewalt werden lässt“, ebd., S. 455. Ebd., S. 471 (und ff.) das im Text folgende Zitat.

4.2 Ausweitung der Kampfzone

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lige materielle Werte, immer wieder auch Kulturgüter (Bibliotheken, Kunstwerke, historische Schriftstücke und damit kollektives Gedächtnis, kulturelle Identität) und im Genozid das physische Fortleben von Völkern oder Volksgruppen. Außerhalb dieser Extremformen, die in der weltweiten Realität des beginnenden 21. Jahrhunderts weiterhin ebenso barbarisch und häufig vorkommen wie in der Vergangenheit, üben die Staatsapparate nicht nur selbst staatliche Gewalt aus (gesetzgebende, ausführende, richterliche), sondern lassen in Bereichen der Gesellschaft wie etwa Erziehung, Medizin, vor allem auch Wirtschaft, Arbeit, eigene und fremde Geheimdienste in unerhörtem Ausmaß Gewalt zu, indem sie diese für Rechtens erklären. Andere Gewalt wie die der Konzerne, Banken, Verbände wird nur am Rand rechtlich begrenzt, damit sie das System nicht in Frage stellt, im Übrigen aber sich selbst überlassen. Das geschieht nicht nur durch ausdrückliche Erlaubnis oder Bestätigung, sondern vielfach gerade auch durch das beredte Schweigen der Normtexte40. Eine verfassunggebende Versammlung, die gesellschaftliche Bereiche interner Gewalt als blinden Fleck im Text der Konstitution ausspart, oder ein Parlament, das solche regelungsbedürftigen Fragen nicht regelt, handeln als legitime Macht, so lange sie dabei die geltenden Vorschriften über Zuständigkeit und Verfahren einhalten. Die so „naturwüchsig“ frei belassene gesellschaftliche Gewalt gilt dadurch bis auf weiteres ihrerseits als gerechtfertigt. Das liegt auch am herkömmlichen Mangel weiterer begrifflicher Differenzierung: Entweder ist ein Han39 Vgl. nur W. Sofsky (Fn. 34); G. Beestermöller / H. Brunkhorst (Hrsg.), Rückkehr der Folter, 2006; H. Goerlich (Hrsg.), Staatliche Folter, 2007. – Vereinzelt plädieren Juristen bewusst gegen „klare Gesetzesgebote“ – hier Art. 104 I 2, 25, 1 I GG; Art. 3, 15 EMRK; ferner Verbote auf Gesetzesebene – um für bestimmte Fälle ein Zulassen von Folter, eine „Pflicht zur Anwendung von Folter“ und sogar einen „individuellen Anspruch“ von Bürgern auf die Folterung von Terroristen zu postulieren; so W. Brugger, Vom unbedingten Verbot der Folter zum bedingten Recht auf Folter, in: Juristenzeitung 2000, S. 165 ff., die Zitate ebd., S. 170 f., 172, 173. Das ist gleich mehrfach rechtswidrig, logisch zirkulär und rechtsstaatlich-demokratisch haltlos („Wertungslücke“). Der methodologische Befund über diese Argumentation fällt vernichtend aus: vgl. F. Müller / R. Christensen (Fn. 43), S. 224 in Textfußnote 172. 40 Dazu grundsätzlich F. Müller, Das Schweigen der Verfassung, in: ders., Essais zur Theorie von Recht und Verfassung, 1990, S. 172 ff.

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4. Formen und Umformungen von Gewalt

deln gewaltsam, sei es als von Beginn an illegales, sei es als missbräuchliche Machtausübung, die dadurch in Gewalt umgekippt ist; oder es ist legal und legitim, somit eine Äußerung von Macht; oder es verwirklicht sich durch Vergleich unter den Streitparteien, im Kompromiss unter den Beteiligten. In dieser dritten Konstellation steht aber (als Macht gerechtfertigte) Gewalt stets im Hintergrund, und das ist den Beteiligten bewusst – jede Form der Staatsgewalt kann eingreifen, um schwelende gesellschaftliche Konflikte, die unter den Beteiligten nicht friedlich lösbar sind, autoritär zu regeln. Auch daran zeigt sich, dass „Macht“, in ihren konkreten Äußerungsformen ebenso vielseitig und bestreitbar wie „Gewalt“, als Begriff dagegen mehrschichtig ist: Gewalt plus deren Monopolisierung plus Legitimität von Rechts wegen. Macht als das Monopol legitimer Gewaltausübung wurde von Max Weber als Kennzeichen des von Europa ausgehenden Verfassungsstaats der Moderne herausgearbeitet. Formal legitimierte sich dieses Gebilde im Sinn des Hobbes’schen Ansatzes durch Zentralisieren und Monopolisieren des Gewaltpotenzials; inhaltlich durch seine im hier gemeinten Sinn kulturellen Errungenschaften. Denn dieser Nationalstaat bot in den folgenden Jahrhunderten den hinreichend festen Rahmen, um Industrialisierung, Republik, Rechtsstaat, Demokratie und Sozialstaat sich entwickeln zu lassen; auch bot er den rechtlich gesicherten Raum für die Ausformung und Normierung der Menschen- und Bürgerrechte sowie für sozialpolitische Reformen mit den Zielen eines Abbaus von Ungleichheit und der gesellschaftlichen und politischen Inklusion aller. Angesichts dieser epochalen Formen der Transformation von Gewalt in Macht erscheint der demokratische nationale Verfassungsstaat als das leistungsfähigste aller bisherigen politischen Systeme. Er hat es vermocht, tief greifende Widersprüche wie den zwischen Arbeit und Kapital oder den Zusammenprall von Ideologien, beginnend mit den Religionskriegen der Reformationszeit, im Grundsatz friedlich zu regeln. Im Gefolge dessen, was wir Globalisierung nennen41, behält nun der Nationalstaat zwar unverzichtbare Funktionen, sieht sich in seiner Wir41 Dazu Überblick und Differenzierungen bei Fritz Hermanns, Die Globalisierung. Versuch der Darstellung des Bedeutungsspektrums der Bezeichnung, in: F. Müller (Hrsg.), Politik, [Neue] Medien und die Sprache des Rechts, 2007, S. 165 ff. – Zur politischen Analyse ebd., F. Müller, Einschränkung der nationalen Gestaltungsmöglichkeiten angesichts der wachsenden Globalisierung und

4.2 Ausweitung der Kampfzone

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kung jedoch deutlich vermindert. Der Typus der nach außen abschließbaren Organisationsform ist an sein Ende gekommen, die Ebene der zentral wichtig gewordenen Politiken und Entscheidungen hat sich verlagert. Weil das Ökosystem der Erde auf einen Kollaps zutreibt, muss die Ökologie planetar ansetzen. Die sich vom realen Wirtschaften zunehmend abkoppelnden Finanzmärkte, spekulativ auf sich selbst „referierend“, sind längst weltweit in Aktion. Produktion, Verteilung, Arbeitsmarkt und Dienstleistungen globalisieren sich zusehends. Nicht nur die Kommunikationsmittel, sondern auch die Grundfunktionen Wirtschaft, Politik, Wissenschaft, Technik werden im Weltmaßstab „simultan“ erfüllt: „Entmaterialisierung in der Produktion, Entterritorialisierung im Steuerungsapparat, Entnationalisierung in der Vorstellung von ,Souveränität‘“42 entziehen sich mehr und mehr den nationalstaatlichen Rechts- und Machthierarchien. Die einzelstaatliche Rechtsordnung wird durch das immer dichter werdende Geflecht von Völkerrecht und internationalen Menschenrechten beeinflusst, in Europa von supranationalen Vorschriften beherrscht und von dem zunehmenden Phänomen eines informellen de-facto-Weltrechts (Geschäftsbedingungen multinationaler Konzerne, Codes des elektronischen Handels u. ä.) teils ergänzt, vor allem aber unterlaufen. Die globalisierenden Vorgänge haben eine vorher ungeahnte Masse an Gewalt aufgehäuft und in Bewegung gesetzt; zugleich kann von Monopolisierung und demokratisch / rechtsstaatlicher Legitimierung dieser Gewalt noch so gut wie nicht die Rede sein, viel häufiger von schamlos ausgespieltem „Recht des Stärkeren“, von planetarem Faustrecht. Die bisher überwiegend zerstörerischen Wirkungen der Globalisierung etwa auf Landwirtschaft und Handwerk ganzer Ländergruppen, auf nationale Rechtssysteme und auf die Demokratien vor allem der Übergangsgesellschaften stellen sich weit mehr als ein Konglomerat rücksichtsloser Gewalt dar denn als ein Ensemble gerechtfertigter Macht – eine kulturelle Regression alarmierenden Ausmaßes. die Rolle der Zivilgesellschaft für mögliche Gegenstrategien, S. 155 ff. – Siehe ferner z. B. Wehler, Nationalismus, 2001; Nguyen, Die Rolle des Staates im Zeitalter der Globalisierung, 2002; Brunkhorst / Kettner (Hrsg.), Globalisierung und Demokratie, 2000; Brunkhorst, Solidarität, 2002; F. Müller, Demokratie in der Defensive, 2001; ders., Demokratie zwischen Staatsrecht und Weltrecht, 2003, bes. S. 83 ff. 42 F. Müller, ebd. (2003), S. 155 f.

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4. Formen und Umformungen von Gewalt

4.3 „Gewalt“ in der Rechtsprechung Die Frage, was der Ausdruck „Gewalt“ in Normtexten des geltenden Rechts juristisch bedeute, hat nicht nur eine eindrucksvolle Menge wissenschaftlicher Erörterungen hervorgebracht43. Sie hat auch die deutsche Justiz zeitweise in Unordnung versetzt, das Bundesverfassungsgericht gespalten und diese höchste nationale Gerichtsinstanz bis zu einem Wechsel der Rechtsprechung getrieben. Für eine solche Änderung der eigenen Spruchpraxis bietet die Judikatur des Gerichts zur (Un-)Zulässigkeit von Sitzdemonstrationen bzw. Sitzblockaden von Anfang 1995 ein spektakuläres Beispiel44. Aufschlussreich ist, wie sich das Gericht dabei selber Gewalt antut, indem es die Tatsache der Änderung seiner Praxis mühselig verschleiert. Unter Rückgriff auf Prozessrecht (§ 15 Abs. 3 S. 3 BVerfGG) legt es mit bemerkenswerter Sorgfalt dar, es handele sich nicht um eine inhaltliche Änderung, sondern nur um die Klärung einer im Senat bis dahin streitigen Frage. Tatsache ist allerdings, dass im Gegensatz zu früher ab 1995 eine Mehrheit der Richter die fast uferlose semantische Ausdehnung des gesetzlichen Gewaltbegriffs („Vergeistigung“) als verfassungswidrig beurteilte. Ausgangspunkt ist dabei der Text von § 240 Abs. 1 des Strafgesetzbuchs („Nötigung“), der das Herbeiführen einer Zwangslage „mit Gewalt oder durch Drohung“ unter Strafe stellt. Vom Reichsgericht war das Nöti43 Vgl. vor allem die groß angelegte Analyse bei E. Felder, Juristische Textarbeit im Spiegel der Öffentlichkeit, 2003, bes. S. 116 ff., 122 ff., 158 ff. – Ferner ders., Sprachliche Argumente in einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts als fachdomänen-spezifische und allgemeine Sprachgebrauchstopoi, in: F. Müller / R. Wimmer (Hrsg.), Neue Studien zur Rechtslinguistik, 2001, S. 85 ff. – Ebd., S. 203 ff.: R. Christensen / M. Sokolowski, Die Bedeutung von Gewalt und die Gewalt von Bedeutung; – Ebd., S. 235 ff. zu weiteren Fällen aus der Justizpraxis und zu anderen Vorgehensweisen der Gerichte: Th.-M. Seibert, Entfaltung des Zeichenlosen oder: wie das Gericht mit tödlicher Gewalt umgeht. Ebd. S. 236: weitere Beispiele für „Gewalt“; S. 236 ff. darüber, wie „rohe“ Gewalt durch die heutige Praxis des Strafprozesses (Suchen von Gründen für die Gewalttat, Gutachten zur Schuldfähigkeit, Rolle der Experten gegenüber dem Richter) in den Diskurs zurückgeholt wird. – Methodologische und rechtslinguistische Erörterung bei F. Müller / R. Christensen, Juristische Methodik, Band I, 9. Aufl. 2004, S. 283 ff. m. w.Nw.en. 44 Die Vorentscheidungen: BVerfGE 73, S. 206 ff.; 76, S. 211, 217. – Die Rücknahme dieser Rechtsprechung mit dem (im Senat auf Messers Schneide stehenden) Ergebnis, es liege keine „Gewalt“ vor, in BVerfGE 92, S. 1 ff.

4.3 „Gewalt“ in der Rechtsprechung

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gungsmittel der Gewalt in ständiger Rechtsprechung als körperliche Kraftentfaltung beim Täter und physische Zwangswirkung beim Opfer aufgefasst worden. Der Bundesgerichtshof in Strafsachen hatte diese Begriffsmerkmale zunehmend „vergeistigt“ und das Vorliegen einer Nötigung schließlich auf das „verwerfliche“ Herbeiführen einer Zwangslage schrumpfen lassen45. Über dieses Ausdehnen des Gewaltbegriffs hatte das Bundesverfassungsgericht unter anderem Ende 1986 zu entscheiden46. Die das Urteil tragenden vier Richter gingen seinerzeit davon aus, die Ausweitung des Merkmals „Gewalt“ in § 240 Abs. 1 StGB sei mit Art. 103 Abs. 2 GG (dem Verbot der Rückwirkung gesetzlicher Strafandrohungen) vereinbar; für das Minderheitsvotum der vier abweichenden Richter verletzte dagegen dieses Ausweiten das verfassungsrechtliche Analogieverbot und überschritt die so genannte Wortlautgrenze der Auslegung. In der Entscheidung von 1995 über Sitzdemonstrationen wurde dann umgekehrt die „erweiternde Auslegung des Gewaltbegriffs in § 240 Abs. 1 StGB“ für verfassungswidrig erklärt. Dabei leidet die Debatte über dieses Urteil, wie auch schon dessen eigene Begründung, an rechts- und sprachtheoretischen Unklarheiten über den Begriff der Wortlautgrenze von „Gewalt“. Das Gericht unterstellt einen „möglichen Wortsinn“ als einen Inhalt der Vorschrift, der vorgegeben sei und der durch sprachliche „Feststellungen“ ermittelt werden könne. Auch die wissenschaftliche Kritik an diesem Urteil geht meist so vor; sie möchte dabei nur den jeweils ermittelten Sprachgebrauch und damit den Inhalt des Tatbestandsmerkmals anders bestimmen. Auf dieser Ebene kann die Frage aber nicht entschieden werden. Weder gibt es den einheitlichen Sprachgebrauch einer homogen in sich geschlossenen Allgemeinsprache noch einen einheitlichen Gebrauch 45 Zur Entwicklung dieser Judikatur: BGHSt 1, S. 145 ff.; 19, S. 263 ff.; 23, S. 126 ff. – Nachweise zur strafrechtlichen Literatur zu diesem Thema bei F. Müller / R. Christensen (Fn. 43), S. 283 und ff.; zur Debatte über das Urteil von 1995 v. a. die Nachweise S. 284. – „Verwerflich“ stand aber bereits im Normtext von § 240 Abs. 2 StGB zum Zweck einer Legal„definition“ des Merkmals „rechtswidrig“. 46 BVerfGE 73, S. 206 ff. – Die Auffassung der Mehrheit: ebd., S. 242 ff.; das Votum der Minderheit: ebd., S. 244 ff. – Das im Text folgende Zitat aus der diese Judikatur ändernden Entscheidung in BVerfGE 92, S. 1 ff.

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4. Formen und Umformungen von Gewalt

innerhalb von Gruppensprache (etwa in der juristischen Fachsprache, deren Dissonanzen das vorliegende Beispiel ja gerade vor Augen führt). Die „Ermittlungen“ können sich nur auf einzelne Verwendungsbeispiele richten und deren Unterschiedlichkeit zur Kenntnis nehmen, sie aber nicht zu einer objektiv fixierbaren Sprachregel über den Ausdruck „Gewalt“ verallgemeinern. Rational diskutiert kann die gestellte Frage erst dann werden, wenn man die Fiktionen eines im Normtext vorgegebenen sprachlichen Gehalts und des einen objektiv fixierbaren Sprachgebrauchs verabschiedet. Es kommt dann nicht mehr darauf an, welchen sprachlichen Inhalt der Gewaltbegriff habe; sondern darauf, welche Bedeutung dem im Normtext von § 240 Abs. 1 StGB verwendeten Zeichen „Gewalt“ im konkret zu entscheidenden Streitfall argumentativ einleuchtend zugeschrieben werden kann – das heißt unter Beachtung der methodenbezogenen Vorschriften von Verfassungs- und Gesetzesrecht und in methodisch folgrichtiger Begründung. Die Bedeutung von „Gewalt“ steckt nicht einfach wortsemantisch, merkmalssemantisch in diesem Ausdruck. Sie ist in dem praktisch zu entscheidenden Fall durch nachprüfbar vorgehende Rechtsarbeit zu konstituieren, ist in dem durch Fall und Gesetzestatbestand aufgespannten Zusammenhang mit den Mitteln von Satz-, Kontext- und Textsemantik auszuarbeiten. Dabei liegt die Frage nach der Verwendung von „Gewalt“ bei § 240 StGB einfach. Die systematische Konkretisierung innerhalb dieses gesetzlichen Tatbestands zeigt bereits, dass „Drohung“ (nämlich nach dem Wortlaut des Normtexts „mit einem empfindlichen Übel“) jedenfalls etwas anderes als „Gewalt“ sein soll. Der Normtext von § 240 StGB liefert schon ausreichende Anhaltspunkte (grammatische und systematische Elemente) dafür, dass „Drohung“ diejenige Form von Einwirkung sein soll, die über „Gewalt“ hinausgeht – eben genau die Art von „Vergeistigung“, die dem Grundgedanken dieser Gesetzgebung plausibel zugeschrieben werden kann. Der Ansatz der Rechtsprechung vor 1995 übersah dagegen die interne Systematik der Vorschrift, indem er das Nennen der Nötigungsmittel überflüssig machte und ferner der Drohung neben der Gewalt keinen sinnvollen Anwendungsbereich mehr übrig ließ. Vom Normtext her ist jedoch, über das bloße Verursachen einer Zwangslage hinaus, sowohl der Gewalt als auch der Drohung ein je eigenes Operationsfeld einzuräumen. All das wird durch den zweiten Absatz desselben Paragraphen bestätigt, der in noch etwas genauerer Formulierung „die Anwendung der

4.4 Organisation der Gewalt

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Gewalt oder die Androhung des Übels“ – falls der damit angestrebte Zweck überdies als verwerflich erscheint – mit Strafe bedroht. Gegenargumente aus einer angeblich größeren materiellen Gerechtigkeit sind unter dem Grundgesetz angesichts der genannten Elemente nachrangig; die Verfassung anerkennt keine das begründbar realisierte Gesetz qualitativ überschreitende, gleichsam oberhalb der rechtsstaatlichen Textstruktur schwebende Einzelfallgerechtigkeit47. Auf dieser Grundlage lässt sich nachvollziehbar entscheiden, ob das Ausdehnen des Gewaltbegriffs noch mit den Normtexten von § 240 StGB und Art. 103 Abs. 2 GG vereinbar ist oder nicht. Das Einschränken von „Gewalt“ auf die bloße Verursachung einer Zwangslage, wie von der älteren Praxis vollzogen, würde folgenden Wortlaut voraussetzen: „Wer einen anderen rechtswidrig zu einer Handlung, Duldung oder Unterlassung nötigt, wird (. . .) bestraft“. Das Nennen der Nötigungsmittel „Gewalt und Drohung“ ist für diese Variante nicht funktional, somit überflüssig. Das Festlegen der Strafdrohung wird durch die so genannte Vergeistigung allzu vage, ist in der Sicht des Verfassungsgerichts damit nicht mehr „gesetzlich bestimmt“. Herkömmlich gesagt, verstößt das „gegen die Wortlautgrenze“. Vor dem Hintergrund der Strukturierenden Rechtslehre ausgedrückt, ist es im Ensemble von Normtext, praktischem Fall und methodenrelevanten Verfassungsvorschriften methodisch nicht mehr einsichtig begründbar.

4.4 Organisation der Gewalt Im Staat ist unerhörte Gewalt angehäuft, auch im modernen Verfassungsstaat – zu Beginn der europäischen Neuzeit außerhalb der von Marx untersuchten Ökonomie also noch eine zweite Art mehr oder weniger „ursprünglicher“ Akkumulation. Die Verfassung dieses Staatstypus ist nicht die Organisation der Freiheit48. Auch Hegel, für den sie 47 Zur Gerechtigkeit als einer methodischen Größe und zu ihrer Stellung bei der Konkretisierung von Recht vgl. F. Müller / R. Christensen (Fn. 43), z. B. RNr. 142 ff., 150, 192 ff., 329 f.; dies., Juristische Methodik, Band II Europarecht, 2. Aufl. 2007, RNr. 50, 490, 609 f., 764 ff., 771. 48 Vgl. dazu meine Selbstkritik: Über Verfassungen, in: F. Müller (Fn. 40), S. 163 und ff.

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4. Formen und Umformungen von Gewalt

den Begriff der Freiheit organisiert, also die Synthese aus Freiheit und Zwang, trifft nicht die Wirklichkeit (für die es nach seinen Worten „umso schlimmer“ sei, mit der Idee nicht überein zu stimmen). Freiheit im Staat ist als Antithese zur Gewalt nicht gleichwertig. Eine Verfassung begründet das Zwangspotenzial des Apparats als verbindlichen Normtext und organisiertes Verfahren, als Werkzeug seiner Übermacht. Der hochgemute Gedanke des alten politischen Liberalismus, das freie Individuum als Thesis zu setzen, vermischt Regel und Ausnahme, verwechselt die Lücken im System der Gewalt mit dem Ganzen. Die so genannten Freiräume im Recht, auch die Normbereiche der Grundund Menschenrechte, sind keine rechtsfreien Räume49. Sie sind durch staatliches Recht gewährt, mit Grenzen und Schranken versehen, immer nur vorläufig und revidierbar, zudem unter dem Vorbehalt eines „Missbrauchs“-Verdikts durch staatliche Instanzen stehend. Auch für die sonstigen Grenzen der Freiräume liegt die Zuständigkeit, sie zu festzulegen, allein beim Staat. Die Normbereiche der gewährenden wie der begrenzenden hoheitlichen Regeln betreffen wesentliche Ausschnitte der Gesellschaft; sie bezeichnen die jeweilige Demarkationslinie durch Ansprechen oder Aussparen, durch Thematisieren oder Schweigen – all dies auf dem Weg über Sprache, das dem Anschein nach zerbrechlichste Material. „Zerbrechlich“ unter anderem deswegen, weil das diskursiv nicht anzuhaltende Zirkulieren von Norm-, Entscheidungs- und Kommentartexten gemäß den Forderungen des Rechtsstaats durch Zuständigkeits- und Verfahrensnormen sowie durch Methodenstandards im Griff gehalten werden muss, weil diese Disziplinierung des Diskurses aber im Rahmen der Rechtssprache als einer natürlichen Sprache illusionär bleibt50. Im Verfassungsstaat wird Recht als Mittel von Herrschaft bereits durch die Anforderungen an seine Form und an die Prozeduren, es in Geltung zu setzen oder zu ändern, Brechungen und Kontrollen ausgesetzt. Und durch das Formalisieren des Rechts in Sprache wird Herrschaft auf verstärkte Kommunikation hin geöffnet; sie muss sich rechtfertigen (siehe die Begründungspflichten im Bereich aller drei Staats49 Das wird für die Grundrechte rechtstheoretisch analysiert bei F. Müller, Strukturierende Rechtslehre, 2. Aufl. 1994, bes. S. 201 ff., 403 ff. 50 Dazu eingehend F. Müller, in: F. Müller / R. Christensen (Fn. 43), S. 493 ff., 497 ff.

4.4 Organisation der Gewalt

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gewalten) und kann kommunikativ und im entwickelten Rechtsstaat auch prozedural kritisiert und überwacht werden. So lange die staatlichen Kontrollinstanzen nicht Alarm schlagen, darf hoheitliche Praxis ungehemmt handeln – mittelbar durch die in den Institutionen wirkende Gewalt, unmittelbar durch Vollzug ihrer aktuellen Gewalt51 (paradigmatisch gesprochen vom Henker bis zum Gerichtsvollzieher, von der Kriegführung bis zur Verkehrsregelung). Als Unrecht erscheint ihr Tun nur dann, wenn die Verfassung außer Kraft gesetzt ist; oder bei noch geltender Konstitution jenseits bestimmter Punkte der Demarkationslinie, wie beispielsweise „verfassungswidriges Gesetz“, „rechtswidriger Verwaltungsakt“ oder „Fehlurteil“. Subjekt ist in jedem Fall der Staatsapparat, Einzelne und Gruppen sind untergeordnete Objekte der staatlichen wie auch vorgeblich gleichgeordnete Adressaten der gesellschaftlichen Gewaltpraxis. Dabei ist vorausgesetzt, dass der Verfassungsstaat Ausbrüche nicht-staatlicher Gewalt (Revolten, Aufstände, Staatsstreich, Bürgerkrieg) dank seiner konstitutionellen und durch seine von Fall zu Fall eingesetzte aktuelle Gewalt wirksam zu verhindern vermag. Zur konstitutionellen Gewalt als der im engeren Sinn politischen, normiert und ausgeformt durch Verfassung und einfaches Recht, gehört im weiteren Sinn auch die aus der Gestaltung der wirtschaftlichen und sozialen Verhältnissen kommende. Durch die interessengeleitete Interpretation von Eigentums-, Vertrags- und Unternehmerfreiheit im bürgerlichen Verfassungsstaat prägt sie dessen Gesellschaft sehr weitgehend – nur reaktiv und punktuell begrenzt durch sozialstaatliche Forderungen seit dem Beginn des Widerstands durch die Arbeiterbewegung. Noch beunruhigender sind Dunkelfelder sei es innerhalb des Staatsbereichs (Geheimdienste, Fälle von Staatsraison, prozessual gesteuerte Straflosigkeit im „Zweiklassenstrafrecht“, hingenommene Korruption, krasse Ungleichbehandlung im Steuerrecht, systemisches Dulden von Steuerflucht trotz anekdotischer öffentlicher Aufregung im publik gewordenen Einzelfall und ähnliches), sei es im Schnittbereich von diesem mit den vorherrschenden gesellschaftlichen Kräften (Umgang des Staats mit Kartellen, großen Banken und Versicherungen, privatwirtschaftlichen Massenmedien, einflussreichen Kirchen, mit den 51

Siehe oben etwa S. 20 f., 31; dort auch zur konstitutionellen Gewalt.

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4. Formen und Umformungen von Gewalt

Partei- und Verbandsoligarchien und ähnliches). Das Ganze stellt sich als ein den rechtsstaatlichen „Primat des Rechts“, dessen „Unverbrüchlichkeit“ teils formal, teils „nur“ faktisch erheblich relativierendes Kontinuum aus Geltung und Nichtgeltung dar52. Dieses Kontinuum bedroht nicht etwa den Staatsapparat als eine subversive Gefahr, sondern stützt ihn im Gegenteil, systemisch betrachtet. Dabei sind es nicht die Normbrüche als solche, die das Politische System stabilisieren, auch nicht die im Dunkelfeld begangenen; wohl aber die Tatsache, dass sie, obwohl begangen, im Dunkelfeld bleiben. Das freie Individuum des Liberalismus ist eben kein Ansatzpunkt für reale gesellschaftliche Freiheit53. Freiheit wird in westlicher Tradition sei es aus den einzelnen Freiheiten zusammengesetzt vorgestellt, sei es als staatlich eingeräumt, als von öffentlicher Gewalt ausgesparter Raum. Das, wovon diese Freiheiten freistellen, sind Gewaltsanktionen des Herrschaftssystems. „Herrschaft“ bedeutet aber der Sache nach eine grundsätzliche Ungleichheit der Steuerungs- und Durchsetzungsmittel im Rahmen von Gewaltrelationen; dass das ältere deutsche Verwaltungsrecht vom Allgemeinen und von den Besonderen „Gewaltverhältnissen“ ausging, war eine aufschlussreiche Formel. Die bürgerliche Verfassungstradition hat seit Anbeginn das Vergröbern und Aufblähen natürlich mitgebrachter Verschiedenheiten der Einzelnen zu disproportionaler, häufig zu riesenhafter sozialer Ungleichheit gefördert: weitere Akkumulation, Konzentration zu Oligopolen und Monopolen, Verfälschen des Marktes, undurchsichtiges Subventionswesen, Mediatisierung des Volkes durch Zurückdrängen plebiszitärer Entscheidungen, Verhärtung des Parteien- und Verbändestaats, Nichtnormierung der Lobbytätigkeit, Manipulation der öffentlichen durch die (privatwirtschaftlich getragene) veröffentlichte Meinung. Das ist nicht Polemik, es ist Beschreibung. Die bürgerliche Gesellschaft ist nicht frei genug, um sich der mit Ungleichheit einhergehenden Unfreiheit widersetzen zu können. Der formal abstrakte Rechtsschutz durch Freiheitsrechte und Verfahrensregeln sichert die Ungleichheit im praktischen Ergebnis oft ab; so sympathische wie marginale Rechtsinstitute im Stil von Pro52 Theoretisch gefasst bei F. Müller, Juristische Methodik und Politisches System, 1976, S. 98 ff., 103 f. 53 Das wird untersucht bei F. Müller, Diesseits von ,Freiheit und Gleichheit‘, in: ders. (Fn. 40), S. 147 ff.

4.4 Organisation der Gewalt

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zesskostenhilfe (früher „Armenrecht“), Kartellkontrolle oder Börsenaufsicht deuten zutreffend in die Richtung, wo die Strukturprobleme liegen, ändern an ihnen aber nichts Nennenswertes. Private Freiheit, die Menschenrecht ist, nach der ein elementares menschliches Bedürfnis besteht, kann in dem Maß gesellschaftlich nicht greifen, in dem die privaten Freiheiten durch soziale Zustände der Ungleichheit in Frage gestellt werden. Die Gläubigerbank, der Arbeitgeber, der Vermieter sind lebensweltlich nicht weniger „Staat“ als der Staatsapparat. Die systemische Ungleichheit, das Gewaltgefälle als Grundsignatur des bürgerlichen Verfassungsstaats und seiner visible hand, ist in sich selber zusätzlich Gewalt. Fragen der Herrschaftsordnung als solche der Freiheit zu behandeln, ist üblich, aber idealistisch. Statt von Freiheit und Zwang als Eigenschaften idealtypischer Subjekte kann besser von Gleichheit und Ungleichheit in den Rollenausstattungen tatsächlicher Rechtsträger ausgegangen werden. Ein moderner Staat wird durch eine geschriebene Verfassung begründet, indem eine Gesamtgewalt errichtet wird; und diese rechtfertigt nicht nur ihre eigenen, sondern auch die nicht-staatlichen (wirtschaftlichen, familiären, ideologischen, politischen) Gewaltverhältnisse grundsätzlich durch Versprachlichen, im einzelnen sei es durch Normieren und einander Zuordnen, sei es auch durch Aussparen und Gewährenlassen. Die geschriebene Verfassung erscheint zwar als ein sekundärer, sie ist jedoch gleichfalls ein erheblicher Gewaltfaktor. Nach liberaler Lesart ist die „ursprüngliche“ Freiheit des Einzelnen hauptsächlich durch die Freiheit der Anderen begrenzt. Das verschweigt, dass deren Freiheit doch gleichfalls erst vom Staat eingeräumt und notfalls gewaltsam durchgesetzt wird – auch sie hängen in ihrer so genannten ursprünglichen Freiheit strikt vom zentralen Gewaltpotenzial ab. Der Staat ist nicht die altruistische, neutrale Clearing-Stelle, nicht bloß rechtstechnischer Umschlagplatz, vernünftiger Sachwalter der beteiligten Privaten. Er ist selbst Partei, ist energischer Mitspieler in einem Kontinuum von Ungleichheit / Gleichheit in den Produktions- und Kommunikationsverhältnissen seiner Gesellschaft: Zentrale des Gewalttransfers und Garant des Gewaltgefälles.

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4. Formen und Umformungen von Gewalt

4.5 Faltung der Gewalt – Die (legitime) Gewalt des Richters Nach alter Lehre ereignet sich im Prozess vor Gericht keine Gewalt. Es geht um Rechtserkenntnis, und der Richter verkündet das kognitive Ergebnis. Trotz rhetorischer Arabesken wie „richterliches Ermessen“ oder „schöpferische Rechtsfindung“ findet der Richter die (nach immer noch umlaufender Ansicht sogar: die einzig richtige) Antwort des geltenden Rechts auf den Streitfall – so als füge der Richterspruch dem Gesetz nur sprachlich und fallbezogen etwas hinzu, nicht aber normativ; als sei er kein für ausgeübte Gewalt verantwortliches Handeln. Gesetze sind demnach „anzuwenden“, da sie einen Inhalt haben, den der „objektive Wille“ des gesetzgebenden Autors bestimmt hat. Es „spricht“ in der Rechtsprechung also der Sache nach der Gesetzgeber – nicht der Richter als empirisches Subjekt, sondern ein Text. Ungereimtheiten des positivistischen Schemas werden bei Randerscheinungen wie Generalklauseln, Ermessenstatbeständen oder anhand ausnahmsweise „unbestimmter“ Rechtsbegriffe diskutiert – so als gäben „normale“ Gesetzesklauseln festen Boden unter den Füßen; als könnten Normtexte bei „gebundenen“ Entscheidungen zuverlässig binden; als seien die Rechtsbegriffe in aller Regel „bestimmt“. Bei solchen Randphänomenen werden dann willensgeleitete Momente des richterlichen Handelns gerne eingeräumt, doch im Grundsatz bleibt das Modell unangezweifelt54: Der Richter subsumiert manchmal mehr, zuweilen auch weniger syllogistisch den Fall unter die Begriffe einer vorgegebenen Rechtsnorm, der lex ante casum. Dabei wird die Rechtsordnung als vertikal holistisch55 handhabbares System unterstellt: „Es geht (. . .) um drei Grundannahmen von Geschlossenheit, zumindest von logischer Schließbarkeit: der Rechtsordnung als der Gesamtheit positiver Normen, der einzelnen Rechtsnorm als einem einheitlichen Kontinuum allein von Sprachdaten, der einzelnen Fallösung als einem durch Syllogismus beherrschbaren, durchweg primär sprachlichen Vorgang“56. 54 Vgl. F. Müller, Einige Grundfragen der Rechtslinguistik, in: ders., Methodik, Theorie, Linguistik des Rechts, 1997, S. 55 ff. 55 Ders., Die Einheit der Verfassung. Kritik des juristischen Holismus, 2. Aufl. 2007, durchgängig. Vgl. darin auch die Einleitung von R. Christensen, Müllers ,Einheit der Verfassung‘ und das Konzept diskursiver Gewaltenteilung, S. I ff. 56 F. Müller (Fn. 49), S. 438.

4.5 Faltung der Gewalt – Die (legitime) Gewalt des Richters

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Das durchaus kreative, das für natürliche Sprache normale Chaos aus kontroversen Urteilen, miteinander wetteifernden Wissenschaftskommentaren und einander widersprechenden Rechtsgutachten stört die Vertreter des ehrwürdigen Montesquieu-Paradigmas offenbar nicht. Der Diskurs der Tradition ist ein Machtdiskurs, der sich als kognitiven ausgibt – teils sich selber missverstehend, zum großen Teil aber sich auf solche Art von Verantwortung entlastend. Die demokratisch beschlossenen Normtexte prägen nach diesem Credo die gesellschaftliche Wirklichkeit, und die Instanzen der ausführenden wie der richterlichen Gewalt vermitteln diese Wirkung auf die Art eines Transmissionsriemens. Ihr Tun, gerade auch ihr sprachliches, wird als Handeln nicht sichtbar. Das neue Paradigma der Rechtslehre ändert nicht die Tatsachen im Alltag von Exekutive und Justiz, es benennt sie aber. Das alte hat sie verschleiert und damit praktisch begünstigt. Die Strukturierende Rechtslehre setzt nicht antipositivistisch an, sondern nachpositivistisch; sie vollzieht den Schritt von einer Rechtsfertigungskunde der Vergangenheit und einer in der Sache veralteten Gegenwart zur Rechtserzeugungsreflexion57. Die Justiz hat es mit „geplatzten“ Streitfällen zu tun; mit solchen, die unter den Beteiligten nicht friedlich haben beigelegt werden können. Die Parteien suchen in der Folge ihren Konflikt mit den Mitteln des Rechts fortzusetzen und für sich zu entscheiden. Der Richter unterwirft ihren Streit der Ordnung des rechtsförmigen Verfahrens. Er bringt ihn zur Sprache, damit er durchgearbeitet und zur Basis der Entscheidung gemacht werden kann. Er nimmt den Beteiligten die Befugnis weg, den Fall nach dem ,Recht‘ des Stärkeren zu Ende zu bringen, nimmt ihnen die Souveränität einer ,Kriegführung in eigener Sache‘58. Die schon bis dahin in der Lebenswelt geschehene Verbalisierung des Konflikts wird ihnen ab jetzt vom Rechtsarbeiter, der mit dem Gesetzbuch bewaffnet ist, aus der Hand genommen; und zwar 57 F. Müller (Fn. 49); knapp zusammengefasst z. B. bei dems. (Fn. 54); für den Rechtsstreit im Rahmen der Justiz: ders. / R. Christensen / M. Sokolowski, Rechtstext und Textarbeit, 1997. 58 F. Müller / R. Christensen / M. Sokolowski (Fn. 57), S. 37 ff. und durchgängig.

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4. Formen und Umformungen von Gewalt

durch die nunmehr autoritativ als allein noch maßgebend eingeführte ,Sprache des Rechts‘, welcher die Normtexte (und daneben, rechtsstaatlich und demokratisch nicht gleichrangig aber doch praktisch wirksam, Entscheidungs- und Dogmatiktexte) die Grammatik liefern. Zu den fallrelevanten Normtexten haben dann die Parteien (und ihre Anwälte, Gutachter usw.) vorzutragen, welche Bedeutung sie ihnen zugemessen haben wollen. Den Anfang bildete also die aktuelle und / oder potenzielle Gewalt einer Auseinandersetzung. Das Gericht nimmt sie auf, suspendiert ihren Austrag, lenkt und verändert sie durch Einführen seiner Sprache. Es kultiviert den Konflikt, statt ihn unter den Beteiligten weiter eskalieren zu lassen; denn das, was vor dem Griff nach dem Gesetzbuch und vor seiner Umsetzung auf den Fall gegeben war, ist der feindselige Antagonismus des geplatzten Streits, ist die Dynamik der in ihm angelegten Gewalt. Schon der kleinlichste Krieg um den Zwerg im Vorgarten des Nachbarn versetzt die Streithähne in den Zustand der ,rohen Natur‘ des Konflikts59. Nicht etwa schnappt das geltende Recht als Falle über der Streitsache und ihren Betreibern zu, sondern diese haben sich zuvor in die Falle ihrer Konfrontation rutschen lassen. Gesellschaftliche Gewalt, die ihre lebensweltliche Sprache hatte, wird durch die Sprache der Rechtsordnung in die staatliche der „rechtsprechenden Gewalt“ (so Art. 92 GG) umgeformt. Dabei ist der Kampf der Prozessparteien um Benennung und Klassifizierung nicht nur ein ,Streit um Worte‘. Das Operieren mit juridischer Nomenklatur setzt strategisch60 an, das Ziel ist symbolische Macht. Nicht um ein richtiges Verständnis der Gesetzestexte (so wie etwa bei einem philosophischen oder literarischen 59 Vgl. die Nachweise zur deutschen Gartenzwerg- und „Frustzwerg“judikatur bei F. Müller / R. Christensen / M. Sokolowski (Fn. 57), S. 44 f. – Zur Rohheit / Kultivierung von Konflikten rechtsphilosophisch: F. Müller, Über Naturzustände, in: ders. (Fn. 40), S. 137 ff. 60 „Strategie“ dabei im Sinn von Michel Foucaults Begriff der diskursiven Strategien. Diese „beziehen sich auf die Diskursobjekte, Äußerungsformen, Begriffsmanipulation: im ersten Fall stellen sie die verschiedenen Weisen dar, die Objekte abzuhandeln; im zweiten Fall stellen sie die verschiedenen Weisen dar, über Äußerungsformen zu verfügen; im dritten Fall stellen sie die verschiedenen Weisen dar, die Begriffe zu manipulieren; in jedem Fall handelt es sich um regulierte Weisen, Diskursmöglichkeiten anzuwenden“ – so A. Kremer-Marietti, Michel Foucault – Der Archäologe des Wissens, 1976, S. 155.

4.5 Faltung der Gewalt – Die (legitime) Gewalt des Richters

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Text) handelt es sich; sondern darum, von den möglichen Gebrauchsweisen der fraglichen Ausdrücke die im je eigenen Interesse liegenden als die im Fall maßgeblichen durchzusetzen. Es geht also nicht einmal um „Sprache“, sondern um das Verfügen über Sprache – so wenig „Recht“ für die Parteien hier ein Selbstzweck ist. Der durch diesen semantischen Kampf 61 angezettelte „Bürgerkrieg der Sprache mit sich selbst“62 soll für den eigenen Standpunkt gewonnen, der Sprachgebrauch des Gegners aus dem Feld der berechtigten Redeführung geschlagen werden. Auch Verhandlungen über „Deals“, Vergleiche oder sonstige Prozessabsprachen bleiben – im Hintergrund – nach wie vor diesem Ziel unterworfen. Ist der semantische Kampf erfolgreich gewesen, ist die eigene Ausdrucksverwendung als – hier im Fall – einzig berechtigte durchgesetzt, so gerät (vorbehaltlich einer Fortsetzung in weiteren Instanzen) die Gewalt, die in der Einseitigkeit des Interessenstandpunkts liegt, durch Sprache – nämlich durch die der Entscheidungsnorm und der gerichtlichen Begründung – in Vergessenheit. Darin erweist sich die Rechtserzeugung als juristische Textarbeit und diese wiederum als symbolische Gewalt. Denn symbolische Gewalt ist jene „Macht“, „der es gelingt, Bedeutungen durchzusetzen und sie als legitim durchzusetzen, indem sie Kräfteverhältnisse verschleiert, die ihrer Kraft zugrunde liegen“; und die damit „diesen Kräfteverhältnissen ihre eigene, d. h. eigentlich symbolische Kraft hinzufügt“63. Für die Bürger, die sich mit ihren Streit- und Zweifelsfällen in die Hand des Gerichts geben, werden Verständnis, Interpretation und Gebrauch von Rechtstexten zum höchst praktischen Problem; in der Dimension des Verhältnisses von bürgerlicher Freiheit und staatlicher Gewalt sogar zu einem im weiteren Sinn politischen64. Schon von An61 Zum „semantischen Kampf“, mit Nachweisen, F. Müller / R. Christensen (Fn. 43), z. B. S. 179, 186 f., 494 f. – F. Müller / R. Christensen / M. Sokolowski (Fn. 57), durchgängig. – E. Felder (Hrsg.), Semantische Kämpfe. Macht und Sprache in den Wissenschaften, 2006; darin etwa: R. Christensen / M. Sokolowski, Recht als Einsatz im semantischen Kampf, S. 353 ff. 62 Dieser Ausdruck bei J.-F. Lyotard, Der Widerstreit, 1987, S. 234. 63 P. Bourdieu / J. C. Passeron (Fn. 34), S. 12. 64 Dazu und zum Folgenden: F. Müller / R. Christensen (Fn. 43), S. 290 ff., 507 ff. – Erhellend zu den situativen Änderungen der Sprache durch Verfahren, durch institutionelle Kommunikation: Th.-M. Seibert, Aktenanalysen. Zur Schriftform juristischer Deutungen, 1981.

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4. Formen und Umformungen von Gewalt

beginn an, schon durch dem Gericht vorgeordnete Instanzen: durch die faktische Expertengewalt etwa von Funktionären der Versicherungen und von Anwälten und durch die Staatsgewalt etwa von Polizei und Staatsanwaltschaft wird die lebensweltliche Fallerzählung der Beteiligten und Zeugen professionell umformuliert. Den Beteiligten wird ihre jeweilige Sprache durch autoritär eingeführte Fachsprache enteignet. Der spontane Widerwille, gepaart mit Misstrauen, mit dem Protokolle auf der Polizeistation unterschrieben werden, ist schon ein Anzeichen für diesen Sprachwechsel (der zugleich die „Sache“ verändert, sie als eine insofern andere neu begründet). In der ursprünglichen Sprache des Vorgangs wird sich das einleitende Verfahren, erst recht der förmliche Prozess jedenfalls nicht mehr abspielen. Die Beteiligten werden sich anpassen oder sich die angepasste Fachsprache über angeheuerte Fachpersonen erkaufen müssen. Ob im weiteren Verlauf das Gericht authority oder violence ausüben wird, legitime oder illegitime Gewalt, soll davon abhängen, ob es innerhalb oder außerhalb der Grenzen des geltenden Rechts entscheidet. So lange das Gericht „nur auslegt“, so lange es die Entscheidung auf ein für alle geltendes Gesetz zurückführen kann, gilt seine fraglos ausgeübte Gewalt als demokratisch (dank „Gesetzesbindung“65) und rechtsstaatlich (durch ehrliche Methodik) legitimiert. Im anderen Fall, bei vorwiegend machtfunktional verstehbarem Gebrauch der Normtexte, die dann als Begründungsfassaden dienen, handelt es sich um rechtswidrige Gewalt. Die Unterscheidung zwischen Beidem, durch Sprache und in Sprache, ist ersichtlich ein Nadelöhr. Die Frage nach möglichen Grenzen der Interpretation stellt sich bekanntlich in jeder textbezogenen Wissenschaft. Hier geht es aber um einschneidende Verdikte mit erheblichen Konsequenzen für die beteiligten Personen, nicht selten mit kaum absehbaren Folgen für die Gesellschaft oder für wichtige ihrer Sektoren (Wirtschaft, Politik, Kultur, Familie). Die Verfassung hat dem Richter die Gewalt übertragen, zwischen verschiedenen methodisch möglichen, zwischen den umstrittenen Varianten der Interpretation verbindlich auszuwählen. Das ist der Ernstfall konkreter Abgrenzung zwischen Rechten der Gemeinschaft und individueller Freiheit. Es geht nicht um theoretisch-kognitive Rechtserkenntnis, es geht um 65 R. Christensen, Was heißt Gesetzesbindung?, 1989; ders. / H. Kudlich, Theorie richterlichen Begründens, 2001; dies., Gesetzesbindung, 2007.

4.5 Faltung der Gewalt – Die (legitime) Gewalt des Richters

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praktische Gewalt. Deren Ausübung wird durch den Bezug zum Normtext und zu anerkannten methodischen Standards, die in der Begründung einsichtig gemacht werden müssen, geteilt, erschwert und weiterer Kontrolle zugänglich gemacht. Gelingt es, sie zu rechtfertigen, so sieht sich das richterliche Walten als „Macht“ eingestuft. Mit der Verpflichtung auf den Normtext als Maßstab dieser Rechtfertigung erledigt sich das Problem der Gewalt richterlichen Handelns nicht von selbst. Der Normtext hat nämlich seine Bedeutung für den Streitfall nicht schon vorgängig, noch nicht ante casum. Die Frage stellt sich mit jedem neuen Fall wieder und mit jedem Lösungsschritt anhand der zu verstehenden, zu interpretierenden und zu bearbeitenden Texte gleichfalls neu66. Das Gewaltsame juristischer Textarbeit ist unvermeidlich, weil sprachliche Zeichen als solche endlos weiter semantisiert werden können, der Jurist aber zu entscheiden hat; weil sozusagen durch eine negative Hermeneutik die Vielfalt der Semantisierungen auf die rechtlich den Ausschlag gebende eine Bedeutung des Zeichens (der Normtexte) im Fall reduziert werden muss; das folgt aus dem Rechtsverweigerungsverbot des modernen Rechts, im Gegensatz zur Möglichkeit des non liquet im antiken römischen Recht67. Zur Entscheidung verpflichtete Juristen verstehen und interpretieren nicht nur, sie agieren vor allem – weniger ein Nachvollziehen denn ein durch Rechtsstaatsvorschriften und Arbeitsstandards gebundenes Handeln. Konfrontiert mit dem Material aufzunehmender, zu erwägender und hervorzubringender Texte, ist Rechtsarbeit68 eine markante Form von Textarbeit. 66 Zum Folgenden F. Müller / R. Christensen (Fn. 43), S. 507 ff. – Zur „Arbeit mit Texten“, welche die Rechtsarbeit kennzeichnet und die als Praxis von Recht über „Verstehen“ und „Interpretieren“ entscheidend hinausgeht, vgl. ebd., z. B. S. 34 ff., 209 f. und öfter. – Von der Linguistik her zur Arbeit mit Texten: D. Busse, Textinterpretation, 1992, S. 167 ff., 187 ff.; ders.,Recht als Text. Untersuchungen zur Arbeit mit Sprache in einer gesellschaftlichen Institution, 1992, S. 119 ff. (Beispiel aus dem Strafrecht), 191 ff. (aus dem Zivilrecht). – Rechtsarbeit als Textarbeit im durch die Strukturierende Rechtslehre und Methodik begründeten und entfalteten Sinn ist der Arbeit von Felder (Fn. 43) zugrunde gelegt. – Vgl. ferner die Analysen bei O. Jouanjan / F. Müller, Avant dire Droit. Le Texte, la Norme et le Travail du Droit, Québec 2007. 67 Zu dieser Problematik, mit weiteren Nachweisen, F. Müller / R. Christensen (Fn. 43), S. 507 ff. und öfter. 68 Zu diesem Begriff siehe oben im Text, S. 16 f.; zum Ablauf der Rechtsarbeit ferner F. Müller / R. Christensen (Fn. 43), S. 34 ff., 254 ff. und öfter.

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4. Formen und Umformungen von Gewalt

Nur im Einsatz von deren symbolischer Gewalt kann dem Gesetz, auf das der Rechtsarbeiter verpflichtet ist, Genüge getan werden. Die symbolische Gewalt juristischer Semantisierung wird im demokratischen Rechtsstaat auf den Normtext hin gebündelt. Das kann nicht einem bloß subjektiven „Willen zum Gesetz“ überlassen bleiben, auch nicht nur personal verbindlicher rechtsethischer Einsicht und Absicht. Das geltende Recht schreibt die Bindung der Rechtserzeugung an das Gesetz69 unmittelbar vor: Auf Artikel 92 des Grundgesetzes, der die „rechtsprechende Gewalt“ in die Hände der Richter legt, folgt Artikel 97, der ihnen die Hände bindet, indem er ihre Rechtsarbeit „nur dem Gesetz“ unterwirft. Die (sprachliche) Argumentation der Rechtserzeugung muss den von der Verfassung genannten Standards der Legitimation genügen. Die Rechtsarbeit hat also, von der staatlichen Verfassung angeordnet, diszipliniert zu werden. Das ist normativ verpflichtend, wenn auch diskurswidrig – sprachliche Ausdrücke tragen nicht für die Zukunft festliegende „Grenzen ihrer Bedeutung“ mit sich umher, und methodologisch ist manches möglich, das rechtsstaatlich nicht mehr zulässig erscheint. Der Unterschied dieser Aspekte sollte immer bewusst sein, und die Art der Disziplinierung muss, soll sie nicht zur Illusion und Fassade verkommen, operational und nachprüfbar bleiben. Beiden Forderungen genügt der Vorschlag von Präferenzregeln bei methodologischen Konflikten zwischen einzelnen Elementen der Konkretisierung (z. B. genetische und historische gegen grammatische und systematische Argumente,)70: allgemeiner Vorrang von Sprachdaten gegenüber den Realdaten und auch im einzelnen ein Vorrang der jeweils normtextnäheren Elemente. Die Sonderstellung des Normtexts folgt schon aus 69 Diese Formulierung wird bei R. Christensen (Fn. 65) bevorzugt gegenüber der herkömmlichen „Bindung durch das Gesetz im Sinne einer Erkenntnis seiner objektiven Bedeutung“ (ders., 1989), S. 19: „Das Modell einer ,Bindung an das Gesetz‘ sieht die Zeichenfolge des Normtextes als Gegenstand der Bindung an, Mittel der Bindung sind die verfassungsrechtlich begründeten Standards einer praktischen Bedeutungskonstitution. Das Ausmaß der Bindung ist nicht vollständige Determination, sondern relative Plausibilität im Rahmen einer vorgegebenen Argumentationskultur“. 70 Im Einzelnen entwickelt bei F. Müller, Juristische Methodik, 1971, S. 181 ff.; in der 9. Aufl. 2004 (mit R. Christensen), S. 450 ff.

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dem positivierten, das heißt hier: aus dem schriftlichen Charakter dieses Typus von Rechtsordnung. Der Normtext als solcher (als vorgefundener Wortlaut der einzelnen Vorschriften in den Gesetzessammlungen) kann die ihm zugedachten Legitimierungslasten jedoch nicht unvermittelt tragen. Er hat weder einen stabil innewohnenden Inhalt noch die normativ bereits ausreichende Bedeutung für den praktisch zu entscheidenden Fall. Allerdings ist er schon anfangs erheblich mehr als nur auf Papier verteilte Druckerschwärze71. Als das demokratisch erzeugte und förmlich in Kraft gesetzte verbindliche Eingangsdatum für Konkretisierung und Fallentscheidung liefert er sowohl für alle am Rechtsleben Beteiligten, die sich an ihm mehr oder weniger laienhaft ausrichten, als auch für die mit ihm befassten Fachjuristen eine vorläufige Semantik72. Der Richter oder der sonst mit einer förmlichen Entscheidung Beauftragte legt dann durch die (von ihm im Verlauf der Rechtsarbeit erzeugte) Rechtsnorm und die hieraus abgeleitete Entscheidungsnorm den Normtext auf eine Bedeutung für den Fall fest. Als anfänglicher Normtext hatte er diese noch nicht, sondern – linguistisch gesprochen – erst Bedeutsamkeit; er war noch nicht Text der Rechtsnorm, sondern erst Textformular. Die Begründung, die gleichfalls Text ist, hat darzutun, dass die Texte der Rechts- und der Entscheidungsnorm dem Normtext argumentativ einleuchtend und nachvollziehbar zugerechnet werden können – die Entscheidungsnorm der im Fall erzeugten allgemeinen Rechtsnorm (d. h. der Aussage des geltenden Rechts „für einen Fall wie diesen“, typischerweise als Leitsätze formuliert) und diese wiederum dem gesetzlichen Normtext. Das tägliche Leben einer Gesellschaft beruht auf vielfältig eingerichteten Formen von (sozusagen chronischer) Gewalt und erzeugt ferner (gleichsam akute) Gewalt in Form von Streitfällen. Viele Konflikte verharren in diesem Zustand, schwelen weiter, kommen rechtlich nicht zur Sprache; so zum Beispiel ungesühnte Verbrechen, entweder nicht aufklärbar oder geschützt durch Schweigekartelle oder Tabus. Der anderen Streitfälle bemächtigt sich die Rechtsordnung und verwandelt sie von roher gesellschaftlicher Gewalt in kultivierte Macht: durch das Unter71 So aber R. Ogorek, Der Wortlaut des Gesetzes – Auslegungsgrenze oder Freibrief?, in: Rechtsanwendung in Theorie und Praxis. Symposium zum 70. Geburtstag von A. Meyer-Hayoz, Basel 1993, S. 21 ff. 72 Dazu F. Müller / R. Christensen (Fn. 43), z. B. S. 38 f., 253 f., 270, 509 ff.

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4. Formen und Umformungen von Gewalt

werfen unter Institutionen (wie Polizei, Staatsanwaltschaft, Gerichte, Strafvollzug), Kompetenzen, Verfahren (vorbereitende Prozeduren, förmlicher Prozess, vollziehende Maßnahmen) und unter staatliches Agieren in Form von Entscheidungen, so weit diese Verfassung und Gesetzen entsprechen. All das geschieht (je nach Art und Stadium des Falles durch handgreifliches Tun seitens der staatlichen Stellen verstärkt) in Sprache und durch sprachliches Handeln. Der moderne Verfassungsstaat hat, wie schon oben gezeigt wurde, Sprache dabei nicht nur als „Instrument“ nötig. Mehr als bloßes Werkzeug ist Sprache sein aktives Medium, die zentrale Instanz seiner demokratisch-rechtsstaatlichen Legitimierung: dadurch, möglichst wenig aktuelle und stattdessen möglichst viel an konstitutioneller Gewalt73 einzusetzen. Diese wird, im Unterschied zu älteren gesellschaftlichen Modellen, so weit wie möglich entpersonalisiert; und sie wird in allen Stadien ihrer Verwirklichung auf eine Art und Weise sprachlich umschrieben, die verallgemeinert werden kann. Damit wird sie grundsätzlich auch vorhersehbar und kontrollierbar. Die alte Große Erzählung von Naturzustand und Gesellschaftszustand wird in der Strukturierenden Verfassungslehre74, welche die Rolle der Sprache „zwischen“ Gewalt und Recht zum Ausgang nimmt und die Textualität der Rechtsordnung nie aus dem Blick verlieren will, radikal neu interpretiert: umformuliert zu einem aktuellen Parameter, der das heute geltende Recht betrifft und der nach dem Prinzip der kommunizierenden Röhren als praktischer Maßstab taugt. Sprache trägt an sich Spuren von Gewalt und übt selber Gewalt aus. Recht wird gewaltsam gesetzt und setzt wiederum Formen von (struktureller, institutioneller, prozeduraler) Gewalt. Der Normtext als Eingangsdatum juridischer Entscheidungsvorgänge beruht auf staatlicher Gewalt und beSiehe oben, vor allem S. 29 ff. Neben der vorliegenden Schrift, die den ersten Band dieser „Elemente einer Verfassungstheorie“ bildet, vgl. weiter: F. Müller, Juristische Methodik und Politisches System, 1976; Die Einheit der Verfassung. Kritik des juristischen Holismus (1. Aufl. 1979), 2. Aufl. 2007; ,Richterrecht‘, 1986; Fragment (über) Verfassunggebende Gewalt des Volkes, 1995; Wer ist das Volk?. Die Grundfrage der Demokratie, 1997; Demokratie in der Defensive, 2001; Demokratie zwischen Staatsrecht und Weltrecht. Nationale, staatlose und globale Formen menschenrechtsgestützter Demokratisierung, 2003. – Ferner die verfassungstheoretische Abteilung in: F. Müller (Fn. 40), S. 137 – 211. 73 74

4.5 Faltung der Gewalt – Die (legitime) Gewalt des Richters

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gründet seinerseits symbolische. Das Ende dieser Vorgänge ist, in Gestalt der Rechtskraft und sonstiger Formen des Ausschlusses weiterer Überprüfung, wiederum etwas Gewaltsames. Zugleich ist Recht immer unausweichlich auf Sprache angewiesen. In diesem spannungsgeladenen Rahmen läuft nichts Geringeres als ein Spiel um Gerechtigkeit ab, die auch in den Widersprüchen der realen Gesellschaft als Ziel unvergesslich bleibt. Zum Grad der Legitimierbarkeit von Recht tragen nicht zuletzt die Klarheit und Bestimmtheit seiner Vertextung bei, so relativ diese angesichts der Polysemie natürlicher Sprache und der Instabilität von Satzund Textsemantik auch bleiben mögen. Die „Betroffenen“, das heißt alle Teilnehmer am Rechtsverkehr, sollen in der Lage sein, sich auch als juristische Laien auf Umfang und Tragweite der für sie geltenden Vorschriften einzurichten. Sie müssen sich wenigstens in Umrissen ein Bild von der Rechtslage machen, die sich für sie ergebenden Folgen einschätzen können75. Und den „Betreffenden“, nämlich den zuständigen Amtsträgern, müssen die Normtexte nach Regelungsmaterie und Regelungszweck hinreichende Anhaltspunkt dafür bieten, Rechtsnormen im Fall hervorzubringen, die argumentativ nachvollziehbar sind; und das heißt, sie als legitime juridische Entscheidungen über Andere durchzusetzen76. Diese Entscheidungen werden dadurch einer rechtlichen Kontrolle leichter zugänglich, im Fall von Beliebigkeit oder Willkür als Verletzung staatlicher Rechtspflichten besser förmlich angreifbar77. Aus eben diesem Grund fordert der demokratische Rechtsstaat auch größtmögliche Genauigkeit der Begründungstexte – um die Kontrolle überhaupt sinnvoll zu machen und um etwaige Reste nicht legitimierter Gewalt im Rahmen einer komplexen Entscheidung sicht75 Dazu, mit zahlreichen Nachweisen aus der Rechtsprechung, F. Müller / R. Christensen (Fn. 43), z. B. S. 168 ff. 76 Zur Forderung nach Klarheit und Bestimmtheit der Normtexte vgl. nur BVerfGE 60, S. 267 f.; weitere Nachweise zur Judikatur in F. Müller / R. Christensen (Fn. 43), S. 168 ff. – Zur zweifachen Aufgabe des Normtextes gegenüber den „Betroffenen“ und den „Betreffenden“ vgl. F. Müller / R. Christensen / M.Sokolowski (Fn. 57), S. 32 ff. – Zur Adressatendifferenz der Normtexte und zu den hieraus folgenden Schwierigkeiten: F. Müller / R. Christensen (Fn. 43), S. 38, 163, 270 ff. und öfter. 77 Dazu nur etwa nur BVerfGE 21, S. 73 ff., 79 f.; 31, S. 255 ff., 264; 37, S. 132 ff., 142; 52, S. 1 ff., 41, und seither ständigen Rechtsprechung.

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4. Formen und Umformungen von Gewalt

bar werden zu lassen78. Das erfordert Ehrlichkeit der Arbeitsmethoden79: Scheinrationalität, Argumentieren bloß „vom Ergebnis her“ oder die tatsächlichen Gründe überspielende rhetorische Arabesken werden diesem normativen Zusammenhang nicht gerecht. Das allgegenwärtige Problem gesellschaftlicher Gewalt bleibt (wie im imaginären / imaginierten Naturzustand) das des „Rechts“ des Stärkeren. Im Verfassungsstaat wird es übergeleitet in das der sprachförmigen Gewaltausübung, an der Oberfläche der Texte im Namen einer Rhetorik des Stärkeren. Soll der demokratische Rechtsstaat nicht nur auf dem Papier stehen, soll Gewalt also wirksam kultiviert werden, ist auch die herrschaftliche Rhetorik institutionell, instanziell und methodisch aufzuteilen, zu hemmen und zu erschweren (durch Gewaltenteilung auf den verschiedenen Ebenen, zwischen den und innerhalb der Staatsgewalten: Instanzen, Zuständigkeiten, Begründungspflichten, Rechtsbehelfe). Auch müssen die Möglichkeiten der Kontrolle durch rationale Standards einer ehrlichen Methodik operational erhalten werden. In dem zwiespältig aufgespannten Feld zwischen Recht und Gewalt und Sprache wird Genauigkeit zu einer notwendigen Bedingung von Gerechtigkeit80. Normtextklarheit, ehrliche Arbeitsmethodik und rechtsstaatliche Verfahren können die einzelne Fallentscheidung dennoch nicht ein-eindeutig beherrschen. Die Entscheidung entkommt nicht dem Bannkreis des Satzes vom unzureichenden Grund. Denn der Richter hat nicht etwa die Lösung des Falles, die er anschließend dann sprachlich zu begründen hätte, vorher schon außersprachlich erkannt. Die Fachsprache macht hier einen feinen Unterschied: Das Gericht erkennt auf (Freispruch, Geldstrafe, Schadenersatz, usw.), das heißt es entscheidet in Ausübung der von Artikel 92 Grundgesetz übertragenen richterlichen Gewalt. Das geht nicht, ohne sich über die von einem Teil der Beteiligten (manchmal auch von allen) im Verfahren geltend gemachten Lesarten der Normtexte hinweggesetzt zu haben – nicht Verteidigung und StaatsF. Müller, Gerechtigkeit und Genauigkeit, in: ders. (Fn. 40), S. 38 ff. Zur Forderung nach Methodenehrlichkeit vgl. F. Müller in: F. Müller / R. Christensen (Fn. 43), z. B. 158 f., S. 516 ff., 539 f., 541 ff. (einschließlich der Konzeption „vom Ergebniskonsens zum Arbeitskonsens“), und öfter. 80 Dazu F. Müller (Fn. 40), S. 38 ff.: Inhaltsgerechtigkeit; Verfahrensgerechtigkeit; Methodengerechtigkeit; Methodenehrlichkeit als demokratisch und rechtsstaatlich einzuforderndes Arbeitsethos. 78 79

4.5 Faltung der Gewalt – Die (legitime) Gewalt des Richters

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anwaltschaft, nicht Rechtsanwälte und Experten der Streitparteien haben das letzte Wort, sondern das Gericht. Warum dieses seiner Lesart den Vorzug gegeben hat, muss zwar von ihm begründet werden; all das ist aber nicht einfach durch den Hinweis auf eine objektive, mit anderen Worten auf eine sprachunabhängige Tatsache im Text oder in der Sprache zu rechtfertigen. Hier liegt eine weitere Grenze für noch so großes Bemühen um Klarheit und Bestimmbarkeit der Normtexte – dieser Grenze versucht das moderne Verfassungsrecht systemisch Rechnung zu tragen: Die Justiz muss zu einer selbständigen Gewalt ausgebaut sein; und der Richter, der täglich Gordische Knoten in Form von Konflikten zwischen verschiedenen Lesarten zu durchschlagen hat, darf nicht politischen, sondern nur im engeren Sinn rechtlichen Bindungen unterworfen sein – es müssen wirksame normative Garantien für seine Neutralität bestehen. Vorkehrungen dieser Art schreiben sich einer Legitimationsstruktur der positiven Rechtsordnung ein, welche die rechtstheoretische Konzeption der Normstruktur, die der Textstruktur des Rechtsstaats und der Geltungsstruktur des Politischen Systems theoretisch ergänzt81. Die Strukturierende Rechtslehre als eine Rechtslehre legitimiert nicht Gewalt. Sie untersucht die Legitimierung von Gewalt durch den Staat. Gewalt kann als solche nicht gerechtfertigt werden; die Tatsache, dass viele Menschen das, was sie ertragen müssen, auch gutheißen82, steht auf einem ganz anderen Blatt. Die Versuche, Herrschaft zu rechtfertigen, müssen – über die Selbstlegitimierung der Staatsgewalt hinaus – nicht noch vermehrt werden83. Die Aufgabe der Rechts- und Verfassungstheorie liegt darin, Art und Weise der Ausübung von Herrschaft zu beschreiben und sie an deren eigenen Vorgaben wissenschaftlich 81 Dazu in Kürze F. Müller (Fn. 49), S. 435 f. – Theoretisch vertieft bei F. Müller, in: F. Müller / R. Christensen (Fn. 43), S. 260 ff. und öfter, mit einem doppelten Begriff von „Verfassungsgemäßheit“ und der präziseren begrifflichen Unterscheidung zwischen dieser sowie „Legalität“ und „Legitimität“. – Die Konzeption der Normstruktur wurde erstmals entwickelt in F. Müller, Normstruktur und Normativität, 1966; ferner bei dems. (Fn. 49), durchgängig. – Die Ansätze der Textstruktur und der Geltungsstruktur seit dems. (Fn. 52), S. 94 ff. 82 Dazu W. Sofsky, (Fn. 34), S. 19. 83 G. Deleuze, Nietzsche, 1979: „Die Philosophie ist nicht mehr als die Bestandsaufnahme aller Gründe, die der Mensch sich gibt, um zu gehorchen.“

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4. Formen und Umformungen von Gewalt

messbar zu machen; das ist die Funktion des Gedankens der Legitimationsstruktur. Darüber hinaus entwickelt die sich dieser Rechtslehre einschreibende Strukturierende Methodik handhabbare Regeln für eine möglichst nachvollziehbar arbeitende Technik der Zurechnung von Entscheidungsnormen zu den im Fall gebildeten Rechtsnormen und von diesen zu den im selben Fall herangezogenen Normtexten84. Auf Seiten der Instrumentalität bürgerlicher Gesellschaft strebt rechtsstaatliche Methodik nach Berechenbarkeit; auf ihrer freiheitlich demokratischen Seite rechtfertigt sie – damit Nachvollzug, Zustimmung, Kompromiss, Akzeptieren hoheitlicher Entscheidung erleichternd. Es geht im hier vorliegenden Ansatz nicht um die zynische Variante einer „Legitimation durch Verfahren“; sondern um die Ansprüche, die von Rechtsstaat und Demokratie an solche Verfahren gestellt werden, damit sie als legitimierend gelten können. Die Grenzen der Instrumentalisierbarkeit juristischer Arbeitsmethoden zeigen sich auch politisch; und zwar schon daran, dass autoritäre oder diktatorische Regimes „ihre“ Rechtsordnungen ent-rationalisieren, dass sie Form- und Verfahrensgarantien, dass sie zusätzlich zum Abbau der Menschen- und Bürgerrechte auch die Offenlegung und Kontrolle der staatlichen Akte rasant abbauen müssen, um ihre Ziele durchzusetzen. Im funktionierenden Rechtsstaat kann dagegen eine ehrliche Arbeitsmethodik der Juristen zwar weder Irrationalität noch Unfairness zum Verschwinden bringen, sie aber doch merklich mühsamer machen. (Richterliche) Gewalt wird so jedenfalls leichter nachprüfbar. Innerhalb des allgemeinen Gewalttransfers der Gesellschaft wird Gewalt wenigstens ein Stück weit reversibel, wird in (verfassungsmäßig legal eingerichtete und ausgeübte) Macht rückverwandelt. Deswegen entlegitimiert ja auch das Schweigen der Verfassung85 wie auch das Verschweigen von Missständen, die der Regelung bedürftig wären, durch die Gesetzgebung. Ehrliche Politik benennt dagegen die Streitfragen, bringt sie in die Kommunikation. Ehrliche Arbeitsmethodik hält sie offen und bearbeitet sie öffentlich. Sie trägt damit eine Praxis, die in der Regel durch Konsens und nur in Ausnahmefällen durch Gewalt funktionieren soll. Aber selbst dann ruhen das politische und das Rechtssystem auf einem gewaltigen Sockel in den Institutionen versteckter und durch sie wirkender Gewalt. Das ver84 85

F. Müller, Juristische Methodik, seit der 1. Aufl. 1971. Ders. (Fn. 40), S. 172 ff.

4.6 Textstruktur – Gewaltenteilung durch Textteilung

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leiht der rechtsstaatlich verfassten sozialen Demokratie einen utopischen Beigeschmack. Auf jeden Fall ist sie es aber wert, anerkannt zu werden.

4.6 Textstruktur – Gewaltenteilung durch Textteilung – Gewalt der Sprache Unter „Text“ wird hier nicht einfach eine grammatisch verknüpfte Satzfolge verstanden; das würde die pragmatische Aufgabe dieser Art sprachlicher Äußerung vernachlässigen. Gemeint ist eine – in der Regel komplexe – sprachliche Handlung, mit der Sprecher oder Schreiber eine bestimmte kommunikative Beziehung herstellen wollen; also eine strukturierte Kette sprachlicher Betätigungen in einer Situation, in einem stets auch sozial geprägten Sprachspiel86. Rechtstexte, wie etwa gesetzliche Wortlaute oder Urteilsbegründungen, sind hierfür klassische Beispiele. Aus ihnen besteht eine geschriebene Rechtsordnung. Auch eine nicht schriftliche ist an Sprache gebunden; an mündlich überliefertes, in späteren Stadien gesammeltes und fixiertes Gewohnheitsrecht und an mündliche Urteilssprüche. In den funktional differenzierten Gesellschaften der Neuzeit treten die allgemein geltenden Anweisungen als Vor-Schriften auf, als Normtexte; das heißt als amtlich autorisierte Textformulare geltenden Rechts. Die Rechtsordnung bildet, aufruhend auf dem genannten Sockel institutioneller und in den geregelten Verfahren steckender Gewalt, ein Kontinuum von Texten. Die Rationalität dieser Form von Sprachlichkeit, die des bürgerlichen Verfassungsstaats, ist funktional zweideutig: Erleichterung von Herrschaft und Voraussetzung für Konsens. Das drückt sich in einer doppelten Form von Sprachlichkeit der Rechtstexte aus: anordnende und rechtfertigende. Historische Organisationsleistungen dieses Staatstypus wie innere Souveränität, Monopol legitimer Gewaltausübung, Hierarchie der Normen und systematischer Rechtsschutz machen diese Textstruktur möglich. 86 Vgl. K. Brinker, Linguistische Textanalyse, 1985, S. 15; D. Busse, Textinterpretation. Sprachtheoretische Grundlagen einer explikativen Semantik, 1992, z. B. S. 19, 63 ff., 79.

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4. Formen und Umformungen von Gewalt

Recht ist Mittel von Herrschaft und zugleich Mittel ihrer Begrenzung. Die Sprachlichkeit des Rechts unterwirft die Herrschaft der Kommunikation, damit der Möglichkeit von Kritik und der Notwendigkeit sprachlicher Rechtfertigung. Im Staat vom Typus des Grundgesetzes sollen rechtsstaatliche Form und demokratische Politik zu einem „materiellen Rechtsstaat“ zusammenfinden: durch zusätzliche (verfassungs-)rechtliche Sicherungen der Konsensfunktion seiner Rechtstexte. Das betrifft, zum Beispiel, auf Seiten der anordnenden Texte Forderungen wie Tatbestandsbestimmtheit, Rückwirkungsverbote, rechtliches Gehör; bezüglich der rechtfertigenden Texte die verschiedenen Begründungspflichten, das Postulat der Methodengleichheit87, das Gebot der Methodenehrlichkeit (des inhaltlichen Übereinstimmens von Finden und Begründen der Entscheidung) oder Einzelinstitute wie das der Abweichenden Meinung in der Verfassungsgerichtsbarkeit. Die Textstruktur kann wie folgt gegliedert werden: a) nach abstrakt anordnenden Texten (Gesetzeswortlaute und – soweit sie über den Fall hinaus verbindlich sein können, wie zum Teil in der Verfassungsjustiz – Texte von Rechtsnormen) und diese Normtexte rechtfertigenden Texten („Materialien“ oder „Verhandlungen“ einer Verfassunggebenden Versammlung, amtliche Gesetzesbegründungen, „Motive“ gesetzgebender Gremien, Debatten und Verhandlungen der Parlamente, Ausschussberichte sowie Entscheidungsgründe zur Bildung von Rechtsnormen / „Leitsätzen“ in der Justiz); und ferner b) nach konkret anordnenden Texten (fallbezogene Entscheidungsnormen der Rechtsprechung oder der Exekutive) und diese wiederum rechtfertigenden Texten (Begründungen in Exekutive und Justiz). Der demokratische Rechtsstaat „hat“ nicht eine Textstruktur wie eine Eigenschaft neben anderen; er ist eine solche. Sie ist es, die ihn von anderen Arten der Staatsorganisation unterscheidet. Nur die Semantik und die Strukturierungsweise der staatsproduzierten Masse an Rechtstexten distinguieren eine rechtsstaatliche Ordnung. Eine Rechtsordnung 87 Formuliert und dogmatisch entwickelt als Grundrecht auf Methodengleichheit seit F. Müller (Fn. 52), S. 65 ff., 107. – Vgl. auch F. Müller / R. Christensen (Fn. 43), S. 385, 542 ff. und öfter. – Zur Textstruktur des demokratischen Rechtsstaats vgl. etwa F. Müller (Fn. 52), S. 95 ff., 103 f.; ders., in: F. Müller / R. Christensen (FN. 43), S. 210 ff., 496 ff., 502 ff.; F. Müller / R. Christensen / M. Sokolowski (Fn. 57), S. 99 ff., 116 ff., 138 ff., 166 ff.

4.6 Textstruktur – Gewaltenteilung durch Textteilung

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ist ein Sprachspiel unter anderen, aber das einzige mit allgemeiner (im Sinn von staatlicher) Gewalt ausgestattete. Alles, was an dessen Institutionen nicht als verdinglichte oder unmittelbare Gewalt auftritt, ist mündlicher oder schriftlicher Text. Sprache kultiviert, soll heißen: diszipliniert, begrenzt und teilt die im Staat angehäufte Gewalt. Die rechtsstaatliche Gewaltenteilung verwirklicht sich als Text-Teilung für die Institutionen nebeneinander, für die Instanzen übereinander. Sie wirkt als Text-Verteilung (für das Auffächern der Zuständigkeiten) und als Text-Kontrolle (Systeme der checks and balances). Das symbolische Dispositiv teilt an die betreffenden Stellen die durch Gewalt gestützte und ihrerseits Gewalt legitimierende Befugnis aus, unter den und den Voraussetzungen Texte der und der Art mit den und den Wirkungen in die Welt zu setzen. Dieser Typus von Gewaltenteilung als Teilung, Verteilung und Kontrolle der Textkompetenzen ist eine der wichtigsten Wirkungen rechtsstaatlicher Textstruktur. Die entscheidenden Stellen haben durch Begründung darzutun, ihrer Pflicht zur Gesetzesbindung genügt zu haben. Das bindet sie an grundsätzlich überprüfbare Maßstäbe. Auf der Seite des einzelnen Beteiligten entspricht dem ein Recht auf Sprache, in Artikel 103 Absatz 1 GG „Anspruch auf rechtliches Gehör“ genannt: ein Recht, sich zum Sachverhalt und zur Rechtslage zu äußern und die Pflicht des Gerichts, „den Vortrag der Beteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen“88. Es ist ferner zu verlangen, dass vom Vortrag und der Reaktion jedes Beteiligten eine Textspur in der Entscheidungsbegründung auftaucht, und wäre es nur, um den Weg für etwaige Rechtsmittel gangbar zu halten. Anders gesagt, muss aber schon grundsätzlich die Entscheidung den Betroffenen inhaltlich Einfluss auf die Sprache geben, in der eine amtliche Entscheidung dann an die Stelle ihrer eigenen treten wird. Läge diese Sprache auch inhaltlich schon vorher zur Gänze fest, hätten wir nur sprachlich verbrämte Gewaltausübung vor uns, nicht Recht. Nur durch Sprache also, bei näherem Zusehen, kann Gewalt erträglich eingehegt werden. Eine so umfangreiche wie ausgearbeitete staatliche Textstruktur ist dafür erforderlich, und diese muss im Einzelfall 88 BVerfGE 98, S. 218 ff., 263, unter Bezug auf BVerfGE 83, S. 24 ff., 35 und BVerfGE 86, S. 133 ff., 144 f.

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4. Formen und Umformungen von Gewalt

ihr Versprechen auch einlösen. Was zwei ältere Modelle, die jeweils mit einem Metacode „hinter“ und „über“ dem Gesetz zu argumentieren gezwungen sind – das der substanziellen Gerechtigkeit und das der substanziellen Wahrheit – im Alltag der Rechtswelt nicht handhabbar machen können, ist dem Funktionieren der Textstruktur aufgebürdet. „Recht“ heißt, dass der Zwang, den der Richter ausübt, legitimiert werden kann. Das geschieht durch seine Bindung an das Gesetz. Wie aber kann der Richter an ein Gesetz gebunden sein, dessen Bedeutung er selbst erst bestimmt – im semantischen Kampf aller Beteiligten im Medium Recht89? Kann sich das Verstehen der entscheidenden Juristen wirklich der Gewalt entgegensetzen – da doch auch die Art und Weise, wie zwischen verschiedenen Lesarten entschieden werden muss, von Gewalt durchzogen ist? Wie die Strukturierende Rechtslehre entwickelt hat, ist das teils intuitive, teils routinierte Verstehen der Normtexte nicht ausreichend, sondern auch in der Theorie – nachdem die Praxis ohnehin notwendig so verfährt – durch Interpretieren (Erklären der Relation Normtexte / Rechtsfall gegenüber Anderen) und Arbeit mit Texten90 zu ergänzen. Diese wird von förmlich eingesetzten, nicht nur den Beteiligten verpflichteten, sondern auch an ihre eigenen Kompetenzen und Amtspflichten gebundenen Rechtsfunktionären ausgeführt – und das heißt, dass deren Handeln neben dem Rechtsfall unausweichlich auch die Institution (Exekutivinstanz, Staatsanwaltschaft, Gericht) selbst „bearbeitet“, also auf eine je bestimmte Weise in Funktion hält. Die drei genannten Handlungsformen gehören zu drei typischen Situationen: störungsfreie Kommunikation mit „Verstehen“, Kommunikationsstörung mit „Interpretieren“ und rechtsförmige Bearbeitung des semantischen Kampfes durch Textarbeit / Rechtsarbeit mittels der „Arbeit mit Texten“. Die zuletzt genannte Situation ist ersichtlich die des Rechtsstreits. Der Ort, an dem nach der legitimierenden Wirkung der Gesetzesbindung gefragt werden sollte, ist damit nicht eine vom herkömmlichen Positivismus diktierte Fiktion vorgegebener sprachlicher Bedeutung, 89 Dazu, am Beispiel der Referenzfixierung, B. Jeand’Heur, Sprachliches Referenzverhalten bei der richterlichen Entscheidungstätigkeit, 1989, S. 135 ff. 90 Dazu F. Müller, in: F. Müller / R. Christensen (Fn. 43), S. 34 ff., 209 f., und öfter. Über die Art der dabei zu bearbeitenden Texte vgl. ebd., S. 269 ff., in knapper Zusammenfassung: S. 475 ff.

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sondern die praktische semantische Tätigkeit der Juristen. An die Stelle illusionärer Bindungen, die das richterliche Sprechen vorab festlegen sollen, treten praktische. Sie machen in den kontroversen Vorgängen der Zuweisens und Aushandelns von Bedeutungen den Sprachkampf um die den Fall entscheidende Satzverknüpfung diskutierbar und in diesem Umfang nachvollziehbar. Kontrollfähige Standards der Rechtsarbeit im Einzelnen zu entwickeln, ist dabei Aufgabe der Methodik. Sie hat den Grundansatz zu konkretisieren, dem zufolge der demokratische Rechtsstaat die Gewalt durch Sprache bearbeitet: die Ausübung von Gewalt durch verlangsamende, aufteilende und begründungsbedürftige Zwänge erschwerend. Das war hier „Faltung“ genannt worden: die erste durch den Gang zum Gericht, welcher die aktuelle oder virtuelle physische Gewalt des Konflikts suspendiert und den Beteiligten ihre Streitsprache enteignet (gemildert durch das garantierte rechtliche Gehör). Die zweite Faltung besteht im Übertragen legitimer Gewaltausübung an einen neutralen Dritten und in dessen Eingebundensein in die rechtsstaatliche Textstruktur mit allen Pflichten und Lasten, die sich für seine Arbeit daraus ergeben. Täglich und alltäglich braucht es Sprache, um Zuständigkeiten, Ämter, Verfahren, Formen und Folgen von Entscheidungen – also institutionelle Gewalt – einzurichten und aufrecht zu erhalten; desgleichen, um strukturelle Gewalt sich auswirken zu lassen und als normal darzustellen – wie etwa die Wirtschaftsordnung, das Steuer- und Abgabenrecht, die systemischen Ungleichheiten in der Gesellschaft. Zwischen status naturalis und status civilis steht nur Sprache – aber nicht irgendeine. Sondern: in den funktional entwickelten Ländern eine geschriebene – mit Resten an Gewohnheitsrecht, das zwar keine Normtexte bildet, in Lehrbüchern und Gerichtsentscheiden aber gleichfalls als Schrift auftritt; ferner offiziell vorgeschlagene, beratene, umkämpfte, beschlossene, amtlich verkündete, also in Kraft gesetzte Sprache – sie erzeugt Dienstpflichten zum Heranziehen, Offenlegen, Durcharbeiten und Begründen. Sprache tritt somit nicht nur als Ausdruck, Satz und Satzfolge auf; sondern als förmlich geltende: eine, die als Rechtstext zu bearbeiten und zu weiterem (verbindlich entscheidenden und begründenden) Text umzuwandeln ist. Kurz: Sprache in Institutionen91, 91 Dieser Ansatz spielt auch eine zunehmende Rolle in der (Rechts-)Linguistik, vgl. etwa die wichtigen Erörterungen bei D. Busse, Recht als Text (Fn. 66);

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die nicht nur individuelles und fachliches Vorverständnis benötigt, sondern auch institutionelles92 und die angesichts ihrer Förmlichkeit auch institutionelle Sprache genannt werden kann. In Diktaturen bilden Gewalt, Sprache und Recht ein Trio infernal. Die hier untersuchten Vorkehrungen in der rechts- und sozialstaatlichen demokratischen Republik dienen dazu, diesem Trio ein humanes Gesicht zu bewahren. Das ist bedingungslos zu unterstützen; man mag es eine Frage auf Leben und Tod nennen. Die kritische Analyse spielt sich innerhalb dieses Rahmens ab. Die Strukturierende Rechtslehre sieht sich weder als reine Lehre, noch ist sie eine „Reine Rechtslehre“93. Sie ist induktiv und realistisch, also eindeutig unrein, da kontaminiert mit Realität: von ihrer Fassung der Normstruktur über die von Text- und Legitimationsstruktur bis zur Benennung der Gewaltstruktur der verfassten Gesellschaft. Nicht eine gereinigte Theorie hat die Chance, eine solche des wirklichen Rechts zu erarbeiten, weder eine Reine Sprachlehre noch eine Reine Rechtslehre94; sondern erst eine Konzeption, welche die Unreinheit der Scheidungen zwischen Recht, Sprache und Gewalt begrifflich aufdems., Rechtssprache als Problem der Bedeutungsbeschreibung. Semantische Aspekte einer institutionellen Fachsprache, in: R. Wimmer (Hrsg.), Sprache und Literatur 1998 (Sprache und Recht), S. 24 ff. – Vgl. ferner E. Felder, Juristische Textarbeit im Spiegel der Öffentlichkeit (Fn. 43); dens., Rechtsfindung im Spannungsverhältnis von sprachlicher Vagheit und Präzision, in: R. Christensen / B. Pieroth (Hrsg.), Rechtstheorie in rechtspraktischer Absicht. Freundesgabe zum 70. Geburtstag von Friedrich Müller, 2008, S. 73 ff. 92 Zu diesen drei Arten von Vorverständnis siehe F. Müller, in: F. Müller / R. Christensen (Fn. 43), S. 245 ff., 394. 93 Zu dieser Position Hans Kelsens vgl. F. Müller (Fn. 49), S. 24 ff., 148, 438 f. und öfters. – Es ist kein Zufall gewesen, sondern – bei aller Klarheit des Abschieds von ihr – eine gewollte Reverenz gegenüber der Bedeutung der Reinen Rechtslehre, dass ich die Erstausgabe der Strukturierenden Rechtslehre zum 50. Jahrestag von deren erstem Erscheinen herausbrachte (1934 – 1984). – Eine kritische Analyse des Kelsenschen Ansatzes im Rahmen der juristischen Arbeitsweisen bei O. Jouanjan, Présentation du traducteur, in: F. Müller, Discours de la méthode juridique, Paris 1996, S. 5 ff., besonders S. 7 ff. („La théorie pure du droit en panne“). 94 Vgl. hierüber F. Müller, Reine Sprachlehre – Reine Rechtslehre – Aufgaben einer Theorie des Rechts. Notizen zu Kelsen und Wittgenstein, in: ders. (Fn. 40), S. 98 ff.

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arbeitet95. Sie ist unrein für alle die Rechtsarbeit prägenden Relationen wie ,Sein und Sollen‘, ,Norm und Fall‘, ,Wirklichkeit und Norm‘, ,kognitive und willensbestimmte Elemente‘. Von ihr her wird die Unreinheit von Sprache gegenüber Gewalt besonders deutlich: als Grundbestimmung innerhalb des soeben genannten Ensembles von Relationen. Der strukturierende Ansatz ist da, um zu erklären, was in der Praxis der Rechtswelt tatsächlich geschieht. Er ist nicht da, um zu beschönigen – und die Elemente des Trios böten sich dafür auch nicht unbedingt an: Gewalt schüchtert ein und terrorisiert, zerstört und unterdrückt, verletzt und tötet, quält, rottet aus. Recht befiehlt und unterwirft; je nach seinen Inhalten und politischen Zielen befördert und deckt es oft auch die soeben der Gewalt zugeschriebenen Wirkungen. Nur Sprache will, auf den ersten Blick, demgegenüber als ein lichtes Reich der Gewaltlosigkeit erscheinen – nämlich des Ausdrucks der Menschen und des Austauschs zwischen ihnen. Genau in diesen beiden Funktionen liegt aber auch schon ihre Verneinung beschlossen: die Ausdrucksseite kann lügnerisch sein, und an die Stelle von Austausch kann irreführende Manipulation treten; der Sprache als solcher ist das nicht anzusehen. Beides sei – im Gegensatz zur primären Instrumentalität von Sprache – deren sekundäre Instrumentalisierung genannt. Es geht also um die Fälle bewusster, zweckgerichteter, vermeidlicher Unwahrhaftigkeit, die in eben diesem Maß auch vorwerfbar wird; kurz: um die Fälle, in denen eine Wahlmöglichkeit bestand. Papier ist geduldig und Sprache (jedenfalls auf kurze und mittlere Sicht) wehrlos. Sie ist nicht einfach nur Instrument, kann aber in solchen Konstellationen zum Instrument degradiert werden. Mit ihren Mitteln symbolischen Darstellens und symbolischer Wirkung bewegt sie dann Recht und Gewalt in gleichfalls infernalischer Weise. Eine einzige Lüge, wirkungsvoll platziert, kann eine Biografie zerstören, eine Bevölkerung verhetzen, Pogrome herbeiführen („Die Juden haben die Brunnen vergiftet . . .“), Kriege auslösen (die Havanna-Provokation für den Spanisch-Amerikanischen Konflikt, der Überfall auf den Sender Gleiwitz für die Invasion Polens, der Tongking-Zwischenfall für den Vietnamkrieg, die bösen Märchen der Regierungen in Washington und London für den Irak-Krieg), kann

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Dazu ebd., S. 98 ff.

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Kriege nachträglich semantisch verbiegen96, kann Genozide „begründen“. Es braucht Sprache, um zu lügen, aber nicht notwendig die Wortsprache; der Bildersprache wohnen gleichfalls immense Potenziale der Irreführung inne („Ein Bild lügt mehr als tausend Worte . . .“)97. Anders liegt es angesichts der primären Instrumentalität von Sprache. Hier geht es um eine unmittelbar mit dieser gegebene Gewalt – ohne dass eine Wahl offen gewesen wäre, ohne dass etwas vorgeworfen werden könnte. Es geht um die mit der kollektiven Weitergabe von Sprache verknüpfte Überwältigung der einzelnen Sprecher, die auch beim besten Willen meist unvermeidlich ist – so unauffällig wie allgegenwärtig: „Ein Mensch ist nicht ein Leib und eine Seele, sondern ein Körper und eine Sprache; eine Sprache, die seinen Körper von Anfang an überschreitet, ja traumatisiert; die selber von Gewalt kontaminiert ist und Gewalt ausübt; die aus dem Körper, aus der Gewalt aber nicht abgeleitet werden kann“98. Angesichts des Spracherwerbs der Kinder (wir sollten vielleicht auch sagen: des Aufoktroyierens der Muttersprache) redet Ludwig Wittgenstein in den „Philosophischen Untersuchungen“ bekanntlich von „Dressur“, polemisiert Roland Barthes zugespitzt von „Faschismus“. Dabei wird im täglichen Leben, den autoritären Charakter festzurrend, sogleich ontologisiert: in der Regel nicht: „Das heißt Baum“ oder „Das nennt man Baum“, sondern: „Das ist ein Baum“. Wie gesagt, das hat mit Vorwerfbarkeit oder Vorwurf nichts zu tun; diese gehören zum nicht nur kognitiven Bereich, zum zielgerichteten Handeln mit Sprache, zur Sprache als parole im Sinn von de Saussure. Dort ist sie von unseren Strategien, Taktiken und eben auch Verantwortlichkeiten geprägt. Hier dagegen geht es um Sprache 96 Siehe zum Ersten Weltkrieg die eindringliche Analyse von A. LobensteinReichmann, Die Dolchstoßlegende. Zur Konstruktion eines sprachlichen Mythos, in: Muttersprache 112 (2002), S. 25 ff. 97 Vgl. E. Felder, Von der Sprachkrise zur Bilderkrise. Überlegungen zum Text-Bild-Verhältnis im Paradigma der pragma-semiotischen Textarbeit, in: F. Müller (Hrsg.), Politik, [Neue] Medien und die Sprache des Rechts, 2007, S. 191 ff. 98 F. Müller, in: ders. / R. Christensen / M. Sokolowski (Fn. 57), S. 114. – Die zunächst traumatische Begegnung des kleinen Kindes mit der Sprache ist, in der Nachfolge Sigmund Freuds, vor allem von Jacques Lacan betont worden. – Konsequenzen für den hergebrachten Begriff des Subjekts erörtert K.-H. Ladeur, Postmoderne Rechtstheorie, 1992, S. 19 ff.

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als langue99: als vorgesprochenes, vorgeschriebenes kollektives System und als solches immer schon von massiver sozialer Gewalt durchsetzt, immer schon Abrichtung und Vor-Schrift transportierend und bewirkend, von informellen Gewaltverhältnissen untergründig bestimmt. Auch im normalen Alltag wird das angesichts der Zwänge, die für die ihnen jeweils Unterworfenen von den Gruppensprachen ausgehen, unübersehbar: Jugendslang, Bandensprachen, Elitejargon, die Binnencodes der Höfe (,Queen’s, King’s English‘), des Militärs, der Kirchen, der Justiz (die bekannten ,Sprachbarrieren‘ zu Ungunsten von Verfahrensbeteiligten aus der Unterschicht); überhaupt weniger die relativ harmlosen Fachsprachen (die man sich, vom Naturwissenschaftler bis zum Klempner, im Einzelfall erklären lassen kann), sondern die sozial ausgrenzenden landsmannschaftlichen Dialekte („Deine Sprache verrät Dich ja“, Neues Testament)100 und noch mehr die ständischen Redeweisen – „sich mit einem einzigen Wort unmöglich machen“, „sich den weiteren Aufstieg durch einen Fauxpas versperren“, „mit diesem Akzent natürlich keine Chance haben“ (nochmals erheblich gesteigert gegenüber Nicht-Muttersprachlern). Sogar noch die Abweichungen und Ausrutscher sind codiert („genau wissen, wie weit man zu weit gehen kann“). Besonders erbittert verteidigt seit alters her der Mittelstand seine sprachlichen Demarkationslinien gegenüber Unterschichtsprachen, vor allem in der Erziehung („So redet man nicht!“, „Solche Ausdrücke darfst Du nie in den Mund nehmen!“ bis hin zur unerlässlichen Unterscheidung von „sicherlich“ und „sicher“ im gutbürgerlichen Deutsch). Die akademische Welt steht dem kaum nach; im „langage surveillé“ des französischen Universitätsbetriebs deklassiert es schon, wenn ein Hochschullehrer statt „en revanche“ für „demgegenüber“ das sonst allgegenwärtige „par contre“ verwendet. In der Rechtswelt wechselt Sprache dann zur parole über, verhärtet zusätzlich den kompakten Gruppendruck durch staatliche Überfor99 Im Sinn von F. de Saussure, Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft, 1967, S. 27 (im Original S. 43): „la langue est un système qui ne connaît que son ordre propre“. 100 Die Charakteristika der Dialekte ändern sich oft von einem Dorf zum nächsten. Ingeniös drückt das die Rätselfrage aus, die in Oberfranken die Kinder von Lichtenfels einander stellen: „Wie weit fliegt der Nebel? Bis Michelau . . ., dort heißt er Nabel.“

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mung. Schon als langue war sie bei näherem Zusehen keine Zuflucht gewesen, keine dem „brutalen“101 (semantischen) Kampf entzogene Sphäre. In Übereinstimmung damit sprach Jacques Derrida von einer „Kontamination im Herzen des Rechts“; und davon, dass die Gewalt „der Rechtsordnung nicht äußerlich (ist). Sie bedroht das Recht in dessen Innerem“102. Sprache trägt die Spuren von Gewalt an sich und übt ihrerseits Gewalt aus. Und Recht, das einseitig gesetzt wird und neue Gewalt einrichtet, ist auf Sprache angewiesen. Die Aufgabe, Gerechtigkeit zu verwirklichen, ist innerhalb dieses Zwiespalts anzugehen. Rechtssprache ist Fachsprache und hat – in den Institutionen und Verfahren – zugleich Eigenschaften von Gruppensprache, sie übt unweigerlich Druck und Zwang aus. Dieser Sachverhalt wird immer dann verstärkt, wenn er sich mit den Verwerfungen überkreuzt, die aus schichtspezifischen Unterschieden der Beteiligten herrühren. Frühere Zeiten, so die Diskussion im Deutschland der Republik von Weimar, sprachen unverblümt von „Klassenjustiz“103; auch in der Bundesrepublik der 70er Jahre, angeregt durch die Kulturrevolution von 1968, wurde das Thema wieder erörtert104. Inzwischen gilt der Ausdruck als nicht 101 Das Eigenschaftswort „brutal“ verwendet Arthur Rimbaud für den „combat spirituel“: Une saison en enfer (1873), in: OEuvres Complètes (Pléiade 1963), S. 244. 102 J. Derrida, Gesetzeskraft. Der „mystische Grund der Autorität“, 1991, S. 74, 85. 103 Beispielsweise E. Fraenkel, Zur Soziologie der Klassenjustiz, 1927. – Auf einem etwas anderen Blatt steht und stand die so genannte politische Justiz; zu dieser umfassend O. Kirchheimer, Politische Justiz. Verwendung juristischer Verfahrensmöglichkeiten zu politischen Zwecken, Deutsche Ausgabe 1965. – Nicht dem Rechtswesen, wohl aber den Sektoren der Bildung, der Gesundheitsversorgung und der Sozialversicherung gelten die Untersuchung und Dokumentation bei K. Lauterbach, Der Zweiklassenstaat, 3. Aufl. 2007. 104 Vgl. etwa Th. Rasehorn, Rechtlosigkeit als Klassenschicksal, in: Vorgänge 12 (1973), S. 5 ff.; ders., Politisierte Justiz?, in: Recht und Gesellschaft 1973, S. 12 ff.; W. Kaupen, Klassenjustiz in der Bundesrepublik?, in: Vorgänge 12 (1973), S. 32 ff.; R. Lautmann, Soziologie vor den Toren der Jurisprudenz, 1971, durchgängig; ders. / D. Peters, Ungleichheit vor dem Gesetz. Strafjustiz und soziale Schichten, in: Vorgänge 12 (1973), S. 45 ff.; R. Geffken, Klassenjustiz, 1972, durchgängig; H. Rottleuthner, Richterliches Handeln, 1973, S. 162 ff. – Allgemeiner zu Vorverständnis und politisch-sozialem Bewusstsein der Richter: W. Rosenbaum, Naturrecht und positives Recht, 1972, z. B. S. 66 ff., 198 ff. –

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mehr politisch korrekt und ist durch einen verschärften Umgang mit Sprachnormen im Alltag105 tabuiert worden. Für Autoren, die sich der akademischen Gruppensprache fügen wollen, empfehlen sich Ausdrücke wie „gesellschaftlich bedingte, schichtbedingte Rechtsverzerrungen“106, mit denen der Sache nach nichts anderes gesagt ist. Von Sprachbarrieren, schichtspezifischen Vorurteilen und Reflexen der praktischen Juristen zu reden, bezeichnet dieselben kollektiven Erfahrungen, ist aber marktgängiger. Dabei ist schichtspezifisch107 bevorzugende bzw. benachteiligende Justiz- und Verwaltungspraxis nicht notwendig illegal: das geltende Recht hält zahlreiche Vorkehrungen bereit (die bekannteste ist wohl § 153 der Strafprozessordnung zur „Einstellung des Verfahrens“), um Ungleichbehandlungen legal erscheinen zu lassen, um gegen Gleichheitsgrundrechte verstoßende Praktiken jedenfalls formal abzusichern: white-collar-crimes werden erst ab sehr hohen Schadenssummen überhaupt verfolgt, prominente Rechtsbrecher kommen mit millionenschweren Bußgeldern davon und entgehen so einem Strafverfahren; und auch wenn es zu einem Prozess kommt, profitiert von „Deals“, allen auffällig bemühten gegenteiligen Versicherungen von Justiz und Politik zum Trotz, die gesellschaftliche ,Elite‘ und Grundsätzliche Fassung des Problems im Rahmen der Verfassungstheorie bei F. Müller (Fn. 52), S. 18 ff., 49 ff., 55 ff., 73 ff., und öfter. 105 Dieser Ausdruck in Anlehnung an R. Wimmer, Politische Korrektheit (political correctness). Verschärfter Umgang mit Normen im Alltag, in: F. Müller (Hrsg.), S. 71 ff.; vgl. schon dens., „Political Correctness“ – ein Fall für die Sprachkritik, in: A. Disselnkötter u. a. (Hrsg.), Evidenzen im Fluss. Demokratieverluste in Deutschland, 1997, S. 287 ff. – Ferner z. B. M. Behrens / R. v. Rimscha, „Politische Korrektheit“ in Deutschland. Eine Gefahr für die Demokratie, 2. Aufl. 1995; A.Hoffmann, Political Correctness. Zwischen Sprachzensur und Minderheitenschutz, 1996. – In Zusammenhang mit dem Thema „1968“: M. Wengeler, „1968“, öffentliche Sprachsensibilität und political correctness, in: Muttersprache 112 (2002), S. 1 ff. 106 So, gleichfalls in den 70er Jahren, aber von der Schweiz aus gesagt: H. Ryffel, Rechtssoziologie, 1974, S. 339 ff., 389 ff. 107 Der Gebrauch von „klassen“pezifisch sähe sich erheblichen wissenschaftlichen Einwänden gegenüber: Weder der simple ursprünglich marxistische noch der spätere subjektivierende Klassenbegriff erscheinen noch als überzeugende Fassung der Ungleichheits-Relationen in der heutigen Gesellschaft; vgl. dazu etwa C. Offe, Die Herrschaftsfunktionen des Staatsapparates, in: M. Jänicke (Hrsg.), Politische Systemkrisen, 1973, S. 236 ff.

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nicht der Fahrraddieb108. Dabei geht es nicht nur um Fälle bewusster Willkür, sondern auch um die lautlose, reflexartige Wirkung halb- oder unbewusster Einstellungen und schichtbedingter Verstehensrahmen in der sprachlichen Interpretation von Fällen und Normtexten (sie sind alle interpretationsbedürftig) auf der einen Seite, der Ungleichheit der Ausgangsbedingungen zwischen sprachgewandten Mitgliedern der Mittel- und Oberschichten, zu denen auch die mit der Sache beschäftigten Juristen gehören, und sprachlosen oder spracharmen Verfahrensbeteiligten sozial schwacher Herkunft109 auf der anderen Seite. Wenn die Rechtsordnung in Aktion tritt, verstärken sich die Wirkungen der langue und die der parole wechselseitig. Gewalt und Sprache sind eben schon elementarer, als es herkömmliche Auffassungen wahr haben wollen, ineinander verfilzt. Sie bilden nicht zwei Welten, die erst an der Pforte des Justizpalastes begännen, sich zu berühren. Das hat, neben den erörterten verfassungstheoretischen, auch noch im engeren Sinn rechtslinguistische Gründe. Recht und Gericht sind etwas anderes als der von Max Weber trefflich karikierte kraft logischem Syllogismus funktionierende Entscheidungsautomat. Diese mechanistische Vorstel108 In Straßburg war in den 60er Jahren auf einer Mauer zu lesen: „Qui vole un pain, va en prison. Qui vole des milliards, va au Palais Bourbon.“ 109 Theoretische Durcharbeitung, unter Aspekten der Strukturierenden Verfassungstheorie, bei F. Müller (Fn. 52), S. 52 ff., 98 ff.; z. B. zu „Strafrecht – Norm, Sanktion, ,Dunkelfeld‘“; „Die Abhängigkeit der Norm,anwender‘ und Normadressaten von sozialer Ungleichheit“; „Rechtsstaatliche Rationalität und soziale Schichtung“; „Politische Funktionen des bürgerlichen Rechtsstaats“, „Geltungsstruktur“. – Schon dreieinhalb Jahre im juristischen Vorbereitungsdienst haben dem Autor nicht wenig an unvergesslicher Erfahrung eingebracht – gerade im Bereich der im Text genannten lautlosen, reflexartigen, ohne besondere böse Absicht sich abspielenden Benachteiligung bzw. Bevorzugung. – Davon abgesehen, gründete sich die justizkritische Literatur vor allem der 70er Jahre des 20. Jahrhunderts in Deutschland gleichfalls nicht auf Hirngespinste; sie stammte zu einem erheblichen Teil von Richtern mit langer Praxis oder von aufmerksam teilnehmenden Beobachtern. – Ein Wissenschaftler mit jahrzehntelanger Amtserfahrung in der Staatsanwaltschaft spricht auch heute von „Zweiklassenstrafrecht“ und macht den bitter satirischen Vorschlag einer doppelten Strafprozessordnung für dieses: W. Grasnick, In Skandalgewittern. Elitejustiz als Blitzableiter?, in: Myops 2. JG / 2008, S. 46 ff., über „das Versagen unserer Strafjustiz“ in der Wirtschaftskriminalität und den „verheerenden . . . Flächenbrand“ der Absprachepraxis.

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lung des traditionellen Positivismus vergaß die natürliche Sprache als aktives Medium; sie übersah, dass wir es mit einem beunruhigenden Trio zu tun haben. Es gibt nämlich auch noch ein althergebrachtes Trio. Dieses zielte auf Beruhigung ab; es hat seine Zeit gehabt. Bei ihm geht es um die Haltbarkeit der drei Stützpfeiler des Montesquieu-Paradigmas (der Richter als „la bouche de la loi“): darum, ob ein Text in definierbarer Weise Ursprung, (Bedeutungs-)Mitte und Ziel habe; im Recht handelt es sich um „Gesetz“, „Gesetzesinhalt“ und „einzig richtige“ Entscheidung. Bereits wort- und merkmalssemantisch überfordert „die“ (einzig richtige) Entscheidung die Mittel der natürlichen Sprache – und die des Rechts ist eine von fachsprachlichen Zutaten durchsetzte natürliche Sprache. Satz- und kontextsemantisch wird die Überforderung noch deutlicher. Ebenso wenig kann, beim Lösen eines realen Streitfalls, „die“ zutreffende Referenz auf Wirklichkeit vor allen anderen Möglichkeiten privilegiert werden110. Ich kann, als Gesetzgeber, nicht meinen Sinn für alle Zukunft abgesichert, für alle Fälle beherrschbar „in den Text legen“. Und als Interpret und Bearbeiter des Normtexts kann ich nicht dieses feste Sinnzentrum „finden“. Beide Vorstellungen sind irreal, und sie betreffen keine Randerscheinung. Vielmehr sind sie das – von der Tradition gerne verdrängte – Grundphänomen der Vertextung, der Verschriftung. Dem schriftlichen Text sind, wie es am eindringlichsten Derrida entwickelt hat, weder Sinneinheit noch Sinnmitte (und noch weniger unser eigener Sinn) unterzuschieben. Der Text wird durch andere (schriftliche) Texte in nicht abzubrechende, diskursiv nicht zu beendende, vom jeweiligen Autor schlechterdings nicht dominierbare Vorgänge weiterer Semantisierung hineingezogen; nicht nur, aber besonders im Recht zudem in praktische, mit schwer wiegenden Folgen belastete Sprachkämpfe. Im juristischen Sprachspiel ist das, wegen seiner erstrangigen Relevanz für Macht / Gewalt, eben noch deutlicher als auf anderen Gebieten. Nichts am (Rechts-)Text kann dem Spiel der Differenzen entkommen. Kein Gewaltakt seines Autors (auch nicht die Platzierung auf Verfassungsrang oder im supranationalen Recht) kann den Normtext auf eine Stufe oberhalb des Diskurses stellen, kann ihn unberührbar durch Kommentare, „abweichende“ Interpre110

Grundlegend zur Referenzsemantik im Recht: B. Jeand’Heur (Fn. 89).

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tationen, „so nicht gewollte“ Konkretisierung machen. Das ist die Realität der Rechtsarbeit; und nicht ein getreues „Anwenden“ eines objektiven oder zumindest objektivierbaren „Willens des Gesetzgebers“. Und doch ist der Normtext nicht einfach ein Argument unter anderen, nicht bloß ein Topos unter vielen. Er wird institutionell abgestützt, befindet sich „in Geltung“. Er ist anders als etwa ein theoretischer oder rechtsdogmatischer Text mit Machtpotenzial verknüpft; er dient als Anfangs- und Messpunkt für staatliche Entscheidungen. Sollte nicht wenigstens dieser erste der drei Stützpfeiler des Montesquieu-Paradigmas, also der Normtext des Ursprungs, sich als solide erweisen? Der Normtext kann kein Ursprung sein; er ist selber nur Glied in einer Kette, Differenz unter Differenzen, Reaktion auf unübersichtliche Sachlagen, politische Pressionen und taktische Manöver, auf schon bestehende Regelungen und deren Folgeprobleme. Nicht selten kommt er zufällig zu Stande, immer wieder auch als leerer Formelkompromiss. Ganz abgesehen von den unabschließbaren „Anwendungs-“ oder Interpretationsdiskursen, die ihn meist seit dem ersten Entwurfsstadium begleiten, ist er oft schon im Augenblick seines Inkrafttretens änderungsbedürftig, überholt, gerichtlicher Aufhebung verdächtig. Die althergebrachte Fiktion, er sei bereits die fertige Rechtsnorm, wird ihm nicht gerecht; bei näherem empirischen Zusehen erweist sich diese Grundannahme des Gesetzespositivismus als Mystifikation. Anders daher der Vorschlag des neuen Paradigmas, ihn als (geltendes, aber noch nicht normatives) Eingangsdatum für einen notwendig produktiven Vorgang der Rechtsnormerzeugung im Fall aufzufassen. Der Normtext ist weder ein verlässlicher noch jemals ein „ursprünglicher“ Ursprung. Während er gilt, kann auch er dem unabschließbaren Spiel der Differenzen und dem Zirkulieren der Texte nicht entzogen bleiben, kann er ihnen – als Text – nicht übergeordnet werden. Etwas anderes ist es, ihm im Rahmen rechtsstaatlichdemokratischer juristischer Methodik bei methodologischen Konflikten, durch ein austariertes Ensemble von Regeln, den Vorrang einzuräumen. Das folgt nicht aus einer ,rein‘ wissenschaftlichen Annahme noch aus seiner bloßen Textualität, sondern aus positiven verfassungsrechtlichen Forderungen, die wesentlicher Bestandteil der Rechtsarbeit sind111. 111 Diese Position von F. Müller (Fn. 43) seit der 1. Auflage der „Juristischen Methodik“ (1971) ist dabei, nach und nach zum Gemeingut in Praxis und Lehre zu werden.

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Und wie steht es um das Ziel, um die eine richtige Entscheidung des Falls als den dritten Pfeiler des alten Paradigmas? Wenn es schon nicht die einzige sein kann – es gibt nämlich in der Regel mehr als eine durch plausible Argumentation112 gestützte und vor dem geltenden Recht vertretbare – dann ist sie doch die verpflichtende. Sobald nämlich Rechtskraft eingetreten ist und kein Rechtsbehelf mehr möglich bleibt (auch nicht mehr Verfassungs- oder Menschenrechtsbeschwerde), schneidet sie den Diskurs ab; verbietet sie es, mit Rechtswirkung weiter zu sprechen, weil hiermit abschließend Recht gesprochen worden ist. Doch auch diese letzte Zuflucht der Tradition erweist sich als illusionär. Der Eingriff institutioneller Gewalt (durch Ausschluss weiterer Rechtsmittel und Rechtsbehelfe) kann nicht das gesellschaftliche Hintergrundrauschen abstellen. Die Diskurse gehen auch über die unangreifbar gewordene Entscheidung hinaus weiter: Die Texte von Rechtsnorm (Leitsätze), der Entscheidungsnorm (des Tenors) und die der Begründung werden von den Beteiligten je nach Interessenlage sei es kritisiert, sei es verteidigt, werden „abweichend“ ausgelegt, werden wissenschaftlich bewertet. Sie können zum Ausgangspunkt neuer Erörterungen werden, sobald sich die individuelle Sachlage ändert oder die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen sich verschieben. Michel Foucaults unendliches Gewimmel der Kommentare113 macht vor Entscheidungen nicht Halt, die dank eines Aktes staatlicher Gewalt als „endgültig“ ausgewiesen sind. Ob sie am Ende noch gelten werden, kann keiner vorhersagen – die Frage ist eben, wann dieses „Ende“ erreicht sein soll; genau genommen erst dann, wenn das Problem, auf das sie zu antworten versuchten, aus irgend einem Grund von der Bildfläche verschwunden sein wird. Bis dahin können rechtskräftige Entscheidungen die kontroverse Debatte eher noch weiter anfachen; neue (rechts-)politische Auseinandersetzungen können sich anschließen, aus diesen können Revisionen des Norm112 Zur Argumentationstheorie, einschließlich der Geschichte und des heutigen Standes dieser zentralen Disziplin, jetzt die groß angelegte, so einleuchtend wie realitätsgesättigt argumentierende Arbeit von H. Wohlrapp, Der Begriff des Arguments, 2008. 113 M. Foucault, Die Ordnung des Diskurses, 1974, S. 18. – Dazu, wie rechtskräftige Gerichtsentscheidungen sowohl amtlich wie auch privat kommentiert und kritisiert werden, zahlreiche Beispiele aus Deutschland und den USA und deren Analyse bei R. Mishra, Zulässigkeit und Grenzen der Urteilsschelte, 1997.

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4. Formen und Umformungen von Gewalt

texts und gelegentlich auch die schon genannten Fälle einer Änderung der Judikatur durch denselben (obersten) Gerichtshof hervorgehen114. Dieser rechtsförmlich unverbindliche, nicht „geltende“ doppelte Diskurs in der Gesellschaft kann auf die verbindliche, normtext-gestützte und durch Macht sanktionierte Rechtsarbeit in der staatlichen Institution zurückschlagen: verschiebend, umwertend, ändernd. Der Staat kann zwar durch Entscheiden, das durch Macht / Gewalt abgesichert ist, über die sozialen Verhältnisse herrschen. Er kann aber nicht Herrschaft über den Diskurs erlangen. Ursprung (das auf lange Dauer angelegte Gesetz als die ratio scripta), Mitte (der eine zutreffende Normsinn) und Ziel (die eine richtige Entscheidung) sind zur wissenschaftsgeschichtlichen Erinnerung geworden. Über die Gewalt der Macht (das heißt über das diskursiv gewaltsame Anhalten der Debatte durch staatliche Rechtskraft) kann der zweite, der doppelte Strom kollektiver Aktivität der Sprecher, kann die Gewalt des außerstaatlichen Diskurses den (wiederum nur vorläufigen) Sieg davontragen, die Gewalt des diskursiven Naturzustands. Auch die Sprache des Rechts bleibt so von der Möglichkeit nicht verschont, umzukippen (so wie die Macht in Gewalt). Zwar ist in ihr Gewalt wirksam, die der Abrichtung, die der Konformität, die der PseudoOntologisierung, von Lüge und Manipulation ganz zu schweigen. Zwar übt sie teils laut, teils lautlos Druck aus: auf die Sprecher; auf die „Besprochenenen“, über die Recht gesprochen wird; auch auf die Recht Sprechenden, die kraft ihrer Verstrickung in institutionelle Sprache oft gar nicht wissen, was sie tun. Aber die Sprache tut sich nicht selber Gewalt an: sie bleibt auch im Recht grundsätzlich mehrdeutig, grundsätzlich unbegrenzt verknüpfungsfähig. Das „Gleiten der Signifikanten“ über die Signifikate115, über die scheinbar fixierten Inhalte hinweg, ist auch in der Rechtswelt nicht auszuschalten. Auch hier behält die Sprache das im ganzen116 Un114 Dazu F. Müller, in: F. Müller / R. Christensen (Fn. 43), S. 493 ff., 503 f. – Dort auch, S. 502 ff. die Konzeption vom doppelten Diskurs. 115 In den Termen von F. de Saussure, aber in der Wendung, die J. Lacan ihnen gegeben hat. 116 Grundsätzlich zum horizontalen statt vertikalen Holismus im Recht die Analysen bei F. Müller, Die Einheit der Verfassung, 1979, und in der 2. Aufl.

4.6 Textstruktur – Gewaltenteilung durch Textteilung

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bezähmbare, Unvorhersehbare, das sie in Bewegung hält. Trotz aller Bemühung des Institutionellen ist sie das noch am meisten Anarchische, das noch am wenigsten Beherrschbare unter den menschlichen Dingen. Was vermittelt zwischen Gewalt und Gewalt – zwischen der des Naturzustands und der des gesellschaftlichen? Nicht mehr, und nicht weniger, als verfasste Sprache.

2007 die Verknüpfung dieses Ansatzes der Strukturierenden Verfassungstheorie mit der neueren Diskussion durch R. Christensen, Müllers „Einheit der Verfassung“ und das Konzept der diskursiven Gewaltenteilung, ebd. S. I ff. – Vgl. vor allem auch, umfassend angelegt: R. Christensen / H. Kudlich, Gesetzesbindung: Vom vertikalen zum horizontalen Verständnis, 2008.