Arbeitnehmerinteressen und Verfassung [1 ed.] 9783428493500, 9783428093502


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Arbeitnehmerinteressen und Verfassung [1 ed.]
 9783428493500, 9783428093502

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Arbeitnehmerinteressen und Verfassung

Schriften zum Öffentlichen Recht Band 755

Arbeitnehmerinteressen und Verfassung

Herausgegeben von Klaus Grupp Stephan Weth

Duncker & Humblot · Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Arbeitnehmerinteressen und Verfassung / hrsg. von Klaus Grupp und Stephan Weth. - Berlin : Duncker und Humblot, 1998 (Schriften zum öffentlichen Recht ; Bd. 755) ISBN 3-428-09350-X

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 1998 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Werner Hildebrand, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0200 ISBN 3-428-09350-X Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 θ

Vorwort Die Verfassung des Saarlandes ist am 15. Dezember 1997 fünfzig Jahre alt geworden1. Sie ist damit eine derjenigen Verfassungen, die vor dem Inkrafttreten des Grundgesetzes beschlossen wurden, und sie weist - wie vergleichbare Landesverfassungen - etliche Vorschriften zum Schutz und zur Förderung von Arbeitnehmerinteressen auf: vom Recht auf Arbeit (Art. 45 Satz 2) über die Gewährleistung der Arbeitsgerichtsbarkeit (Art. 47 Satz 1), Bestimmungen zu den Arbeitsbedingungen (Art. 47 Sätze 2 und 3) und zum Anspruch auf bezahlte Feiertage und bezahlten Urlaub (Art. 48) bis hin zur Existenzgarantie von Betriebsräten (Art. 58 Abs. 3) und der öffentlich-rechtlich institutionalisierten Vertretung von Arbeitnehmerinteressen durch die Arbeitskammer (Art. 58 Abs. 1). Freilich sind derartige Regelungen vielfach schon durch Bundesrecht getroffen, so daß sich die Frage stellt, ob die landesverfassungsrechtlichen Nonnen insoweit noch ihre Existenzberechtigung besitzen. Darüber hinaus hat der Landtag des Saarlandes - der Debatten über isolierte Verfassungsänderungen vorerst müde - am 19. Juni 1996 auf Antrag aller in ihm vertretenen Parteien einstimmig beschlossen, eine Enquete-Kommission zur Reform der Landesverfassung einzusetzen, die die Möglichkeiten einer Fortentwicklung der Verfassung überprüfen und geeignete Vorschläge erarbeiten soll2. Dieser Kommission ist vom Landtag ein Katalog mit Einzelpunkten zur Prüfung mitgegeben worden3, unter denen sich freilich der Schutz und die Förderung von Arbeitnehmerinteressen nicht finden - der Katalog nennt vielmehr in erster Linie Problemkreise aus der jüngeren politischen Diskussion,

1 Am 8. November 1947 wurde die Verfassung von den Abgeordneten der Gesetzgebenden Versammlung mit nur einer Gegenstimme angenommen (vgl. Rolf Stöber, Die saarländische Verfassung vom 15.12.1947 und ihre Entstehung, 1952, S. 522). Die französische Militärrregierung erteilte im Einverständnis mit der Regierung Frankreichs die Zustimmung zu der vorgelegten Verfassung unter dem Vorbehalt, daß zwei französisch-saarländische Abkommen über Steuerwesen und Rechtspflege angenommen würden; nachdem dies in der Sitzung der Gesetzgebenden Versammlung vom 15. Dezember 1947 erfolgt war (vgl. Stöber, a.a.O., S. 559), konnte die Verfassung an demselben Tag in Kraft treten (Amtsbl. S. 1077). 2 Landtag des Saarlandes, 26. Sitzung am 19. Juni 1996 (PIProt. 11. WP, S. 1318 ff. [1323]). 3 LT-Drucks. 11/778 und 11/882.

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Vorwort

etwa die Stärkung der Bürgerrechte, die gewaltfreie Kindererziehung, den staatlichen Schutz nichtehelicher Lebensgemeinschaften, den kommunalen Finanzausgleich, den Tierschutz und die Herabsetzung des Wahlalters bei Kommunalwahlen. Im Landtag ist jedoch auch betont worden, daß dieser Katalog nicht abschließend sei, sondern die Verfassung insgesamt der gesellschaftlichen Entwicklung angepaßt werden müsse und nicht lediglich Überkommenes festschreiben dürfe 4. Diese Aspekte waren für uns hinreichender Anlaß, im Rahmen einer generellen Erörterung von Arbeitnehmerinteressen und Verfassung auch über den Schutz und die Förderung dieser Interessen durch die saarländische Verfassung zu diskutieren: Zwar sind die bestehenden einschlägigen Vorschriften betagt und vielleicht überholt, es mag aber in einer Zeit erheblicher struktureller Veränderungen des Arbeitsmarktes und steigender Arbeitslosigkeit geboten sein, an den vorhandenen Bestimmungen festzuhalten und sie anzupassen, aber nicht aufzuheben. Überlegungen hierzu erschienen uns nicht zuletzt deshalb wichtig, weil bei den Beratungen in der Gemeinsamen Verfassungskommission des Deutschen Bundestages und des Bundesrates anläßlich der Wiederherstellung der deutschen Einheit die Aufnahme derartiger Regelungen in das Grundgesetz abgelehnt wurde5, hingegen in den Verfassungen der neuen Bundesländer mehr oder weniger umfangreiche Normen zum Schutz und zur Förderung von Arbeitnehmerinteressen zu finden sind und zudem das Recht der Europäischen Union die Stellung von Arbeitnehmern nachhaltig beeinflußt. Am 11. und 12. Juli 1997 haben wir deshalb an der Universität des Saarlandes ein wissenschaftliches Symposium über „Arbeitnehmerinteressen und Verfassung" veranstaltet, an dem neben Angehörigen mehrerer Universitäten zahlreiche Vertreter aus Politik und Praxis - namentlich vom Landtag des Saarlandes und aus der Ministerialverwaltung sowie aus der Gerichtsbarkeit und aus der Anwaltschaft - teilgenommen haben. Die während des Symposiums gehaltenen Referate legen wir mit diesem Band vor in der Hoffnung, daß sie in gleicher Weise wie im Anschluß an den jeweiligen Vortrag eine lebhafte Diskussion auslösen und zur Beantwortung der aufgeworfenen Fragen beitragen werden. 4

Abg. Dr. Bauer, Landtag des Saarlandes, 26. Sitzung am 19. Juni 1996 (PIProt. 11. WP, S. 1318ÎT. [1319, 1320]). 5 BT-Drucks. 12/6000, S. 75 ff.; s. auch schon die Auffassung der Kommission Verfassungsreform des Bundesrates (BR-Drucks. 360/92, Rdnr. 131); anders noch der Bericht der Sachverständigenkommission Staatszielbestimmungen/Gesetzgebungsaufträge (hrsg. vom Bundesminister des Innern und vom Bundesminister der Justiz), 1983, Rdnr. 87 ff.

Vorwort

Unser Dank gilt in erster Linie den Referenten, die auch der Publikation ihrer Ausführungen zugestimmt haben, darüber hinaus aber ebenso den Teilnehmern des Symposiums, die durch ihre Diskussionsbeiträge eine eingehende Erörterung der behandelten Themen - und damit wesentlich das Gelingen der Veranstaltung - gefördert haben. Dankbar sind wir weiterhin der Universität des Saarlandes und insbesondere ihrem Fachbereich Rechtswissenschaft sowie dem Sparkassen- und Giroverband Saar, die die Durchführung des Symposiums in vielfältiger Weise unterstützt haben. In sehr großem Maße zu Dank verpflichtet sind wir schließlich unseren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern namentlich Nina Litobarski, Claudia Scherer und Hiltrud Schmidt-Herrmann sowie Dr. Ulrich Stelkens und Sigurd Wem - , ohne deren tatkräftige Hilfe weder die Veranstaltung noch diese Veröffentlichung möglich gewesen wäre.

Saarbrücken, im Februar 1998 Klaus Grupp Stephan Weth

Inhaltsverzeichnis

Schutz und Förderung von Arbeitnehmerinteressen durch das Grundgesetz Von Univ.-Prof. Dr. Hanns Prutting, Köln

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Die Relevanz landesverfassungsrechtlicher Regelungen Von Univ.-Prof. Dr. Michael Sachs, Düsseldorf.

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Arbeitnehmerinteressen und europäisches Recht Von Prof. Dr. Günter Hirsch, Richter am Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften, Saarbrücken/Luxembourg 51

Die Rechtsprechung zu den Grundrechten der Arbeit Von Univ.-Prof. Dr. Dr. h. c. Peter Hanau, Köln

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Staatszielbestimmungen zur Förderung von Arbeitnehmerinteressen Von Privatdozent Dr. Karl-Peter Sommermann, Berlin/Speyer

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Institutionelle Absicherung der Wahrnehmung von Arbeitnehmerinteressen durch die Verfassung Von Univ.-Prof. Dr. Joachim Burmeister, Köln

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Schutz und Förderung von Arbeitnehmerinteressen durch das Grundgesetz Von Hanns Prütting I. Einführung Das Arbeitsrecht steht ständig unter einem enormen Aktualitätsdruck. Die Ihnen allen bekannten Schlagworte sind Flexibilisierung, Abbau überzogener Arbeitnehmerschutzvorschriften, Senkung des Kostendrucks, Öffnung der Flächentarifverträge und ähnliches. Fast gewinnt man neuerdings manchmal den Eindruck, wir müßten uns entscheiden, ob wir ein funktionsfähiges Arbeitsrecht oder ob wir ausreichend Arbeitsplätze wollen. In einer solchen Situation mag es vielleicht gut und hilfreich sein, sich auf die verfassungsrechtlichen Grundlagen des Arbeitsrechts zu besinnen. Eine solche Rückbesinnung auf die verfassungsrechtliche Verankerung von bestimmten Rechtsproblemen könnte vielleicht mancherlei Aufgeregtheit des Tages ein wenig dämpfen. Bei der Frage nach der Bedeutung der Verfassung und damit insbesondere der Grundrechte für die Arbeitnehmerinteressen stößt man zwangsläufig auf die Tatsache, daß die Grundrechte in den vergangenen nahezu 50 Jahren einen früher kaum für möglich gehaltenen Siegeszug angetreten haben. Diese Feststellung kann neben dem öffentlichen Recht auch für das gesamte Privatrecht und das Arbeitsrecht getroffen werden. Der Bedeutungswandel und das Vordringen der Grundrechte läßt sich in Deutschland schon äußerlich gut verdeutlichen. Gab es etwa in der Verfassung des Kaiserreichs von 1871 überhaupt keinen Grundrechtsteil, so war in der Weimarer Reichsverfassung des Jahres 1919 der Grundrechtsteil am Ende der Verfassung angefügt. Zudem handelte es sich damals nach überwiegendem Verständnis teilweise um reine Programmsätze. Demgegenüber hat bekanntlich das Grundgesetz des Jahres 1949 den Grundrechtskatalog an die Spitze gerückt und der Verfassungsgeber hat bereits in Art. 1 Abs. 3 GG diesen Normenkatalog als unmittelbar geltendes Recht gekennzeichnet, der Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung bindet. Wenn man vom Siegeszug der Grundrechte spricht, darf man freilich nicht nur auf die einzelnen Grundrechtsartikel und ihre Verwirklichung im Grund-

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gesetz sehen. Nicht vergessen werden darf auch die Institution des Bundesverfassungsgerichts und das Instrument der Verfassungsbeschwerde. Zwar hat die Idee der Verfassungsgerichtsbarkeit in Deutschland durchaus Tradition (erinnert sei nur an das Reichskammergericht, die Regelung in der Verfassung der Paulskirche von 1848 und den Staatsgerichtshof der Weimarer Reichsverfassung von 1919), dennoch ist das Bundesverfassungsgericht in seiner Kompetenzfulle unvergleichbar und ohne historisches Vorbild in Deutschland. Selbst rechtsvergleichend kann das Bundesverfassungsgericht in mancher Hinsicht als ungewöhnlich eingestuft werden, wenngleich natürlich in einigen Punkten der Supreme Court der Vereinigten Staaten Pate stand. Dies alles kann und muß an dieser Stelle nicht weiter vertieft werden. Immerhin mag es seine Berechtigung finden, an die formellen Grundlagen unserer heutigen Grundrechtssituation zu erinnern, nachdem das Bundesverfassungsgericht seit mehreren Jahren einer derart intensiven politischen und fachlich-juristischen Kritik unterzogen wird, daß sogar die Präsidentin des Gerichts bereits das Erreichen der Schmerzgrenze reklamiert hat. Jenseits solcher grundsätzlicher Gedanken können wir feststellen, daß die Rechtsprechung in einer großen Fülle einzelner Entscheidungen in das Arbeitsrecht eingegriffen und es modifiziert hat. Die Möglichkeit, arbeitsgerichtliche Urteile aller Instanzen mit der Verfassungsbeschwerde anzugreifen, soweit spezifisches Verfassungsrecht verletzt ist, hat hier wie überall im Privatrecht Schleusen ungeahnten Ausmaßes geöffnet. Allein aus dem letzten Jahr sei daran erinnert, daß das Bundesverfassungsgericht den Streit eines Arbeitgebers mit seinem Betriebsrat über den Inhalt einer Werkszeitung nach Art. 5 Abs. 1 GG entschieden hat1. Das BAG seinerseits hat z.B. die berühmte Quotenregelung des Bremischen Landesgleichstellungsgesetzes (Fall Kaianke) an Art. 3 GG und vor allem am europäischen Gemeinschaftsrecht gemessen und im Anschluß an die berühmte Entscheidung des EuGH2 verworfen 3. Das BAG hat ferner im Anschluß an die Bürgschaftsentscheidung des BVerfG 4 eine richterliche Inhaltskontrolle einzelvertraglicher Klauseln, gestützt auf Art. 2 Abs. 1 und 12 GG, bejaht5. Man kann wohl sagen, daß es sowohl aus praktischer Sicht wie aus der allgemeinen Betrachtung der Entwicklung der Grundrechtsdogmatik heraus fast

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BVerfG v. 8.10.1996, EzA Nr. 23 zu Art. 5 GG. EuGH v. 17.10.1995, NzA 1995, 1095. BAG v. 5.3.1996, EzA Nr. 52 zu Art. 3 GG. BVerfG v. 19.10.1993, ZIP 1993, 1775. BAG v. 16.3.1994, AP Nr. 18 zu § 611 BGB Ausbildungsbeihilfe.

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eine Selbstverständlichkeit ist, daß den Grundrechten im Arbeitsrecht eine so außerordentlich wichtige Position zukommt.

I I . Die Drittwirkung der Grundrechte Aber warum ist es überhaupt eine Selbstverständlichkeit, daß wir Grundrechte im Privat- und Arbeitsrecht anwenden? Nach herkömmlicher und klassischer Auffassung sind Grundrechte der Verfassung bekanntlich Abwehrrechte gegen den Staat, sie sollen also den einzelnen Bürger vor Eingriffen durch den Staat schützen und ihm auf diese Weise eine besondere Freiheitssphäre zur Entfaltung seiner Persönlichkeit schaffen. An dieser grundsätzlichen Feststellung ändert sich nichts dadurch, daß es unter den Grundrechten anerkanntermaßen nicht nur Abwehrrechte, sondern auch Leistungsund Gestaltungsrechte gibt. Auch ein verfassungsrechtliches Teilhaberecht wendet sich naheliegenderweise nicht an Privatpersonen. Die selbstverständliche Ausgangsposition, daß Grundrechte zwischen einzelnen Privatpersonen nicht, jedenfalls nicht unmittelbar Geltung beanspruchen können, ist in der außerordentlich intensiven Grundrechtsdogmatik der vergangenen knapp 50 Jahre manchmal aus dem Blickfeld geraten. Wenn also Herr Müller bei der Bäckerei Schmidt sein Brot einkauft, weil ihm dort die Verkäuferin am besten gefällt, dann kann der örtlich näher gelegene, preisgünstigere und qualitativ bessere Bäcker Meier nicht unter Hinweis auf Art. 3 GG Gleichbehandlung von Herrn Müller verlangen. Das Phänomen der Einwirkung der Grundrechte auf das Privatrecht und insbesondere das Arbeitsrecht wird herkömmlicherweise und zum Teil bis heute mit dem (etwas mißverständlichen) Schlagwort der Drittwirkung der Grundrechte bezeichnet6. Die sich dahinter verbergende Problematik kann im Rahmen meines Vortrags nicht vertieft behandelt werden, sie würde einen eigenen Vortrag erfordern. Allgemein bekannt aus arbeitsrechtlicher Sicht ist jedenfalls, daß der erste intensiv diskutierte Anwendungsfall der Drittwirkungsproblematik der Einfluß von Art. 3 GG auf die Lohngleichheit zwischen 6 Die Literatur zur Drittwirkung der Grundrechte ist kaum mehr zu übersehen. Gerade in den vergangenen Jahren hat diese Diskussion wieder eine enorme Belebung erfahren. Aus der jüngsten Literatur vgl. Canaris , JuS 1989, 161; Classen , AöR 122 (1997), 65; Hager, JZ 1994, 373; Hillgruber, ZRP 1995, 6; ders., AcP 191 (1991 ), 69; Ipsen, JZ 1997, 473; Klein, NJW 1989, 1633; Medicus, AcP 192 (1992), 35; Oeter, AöR 119 (1994), 529; Oldiges, Festschrift für Friauf, 1996, S. 281; Pietzcker, Festschrift für Dürig, 1990, 345; Singer, JZ 1995, 1133; Spieß, DVB1. 1994, 1222.

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Mann und Frau war. Nipperdey7 und ihm folgend das BAG8 haben dazu die These verfochten, es gelte eine unmittelbare Drittwirkung, so daß diejenigen Bestimmungen in arbeitsrechtlichen Regelungen nichtig seien, die Frauen entgegen Art. 3 GG benachteiligten. Die Gegenposition, also die Lehre von der mittelbaren Drittwirkung der Grundrechte, wurde demgegenüber vom BVerfG 9 verfochten, daß insoweit vor allem der Lehre von Dürig 10 folgte. In der Tatsache, daß Art. 9 Abs. 3 Satz 2 GG in dem fur das Arbeitsrecht zentralen Bereich der Koalitionsfreiheit ausdrücklich eine unmittelbare Drittwirkung anordnet, mag man einen besonders naheliegenden Ansatzpunkt der erstgenannten Auffassung sehen. Heute wissen wir freilich, daß Art. 9 Abs. 3 Satz 2 GG eine Ausnahme darstellt. Die Einwirkungen der Verfassung auf das Privatrecht werden meist nicht mehr im Wege der herkömmlichen Drittwirkungslehren begründet. Auch die für das Arbeitsrecht von Gamillscheg vertretene These eines „Erst-Recht-Schlusses" aus Art. 1 Abs. 3 ist sicherlich unhaltbar (These: Wenn schon die Staatsgewalt gemäß Art. 1 Abs. 3 GG an die Grundrechte gebunden ist, dann müssen dies erst recht auch die Privatrechtssubjekte sein)11. In der modernen Verfassungstheorie wird die Wirkung der Grundrechte im Privatrecht vor allem durch die in ihnen verankerte Schutzgebotsfunktion und durch die heute vielbeschworene Ausstrahlungswirkung der Grundrechte belegt. Darauf ist im einzelnen noch später zurückzukommen. Für die weiteren Überlegungen mag es vorläufig genügen, daß nach heute weithin anerkannter Rechtsprechung und Lehre die Grundrechte auf das Privat- und Arbeitsrecht einwirken, sie aber nicht unmittelbar und vollständig zur Anwendung gelangen.

I I I . Die tangierten Grundrechte im Überblick Angesichts der hier nur angedeuteten Situation fallt die Prognose nicht schwer, daß sich ein näherer Blick in die reichhaltige arbeitsrechtliche Recht7

So insbesondere Nipperdey, RdA 1950, 121; ders., Gleicher Lohn der Frau für gleiche Leistung, Rechtsgutachten, 1951; ders., Grundrechte und Privatrecht, 1961. 8 BAG v. 18.1.1955, AP Nr. 4 zu Art. 3 GG; BAG ν. 23.3.1997, AP Nr. 16 zu Art. 3 GG. 9 BVerfG v. 15.1.1958, BVerfGE 7, 198 (Fall Lüth). 10 Düng, Grundrechte und Privatrechtsprechung, Festschrift Nawiasky, 1956, S. 157; ferner Maunz/Dürig, GG, Art. 1 Abs. 3 Rdn. 131 ff. 11 Gamillscheg, AcP 164 (1964), S. 406. Dies soll nach Gamillscheg freilich nur dort gelten, wo der Private eine sog. soziale Macht darstellt. Gamillscheg zielt damit ganz offenkundig auf die Position des Arbeitgebers ab.

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sprechung zum Thema Grundrechte und Arbeitnehmerinteressen lohnt. Schon ein erster Überblick zeigt, daß es zu den Art. 1-6, 9, 12, 14 GG eine breite Palette unterschiedlichster Entscheidungen gibt. Auf diese auch fur das Arbeitsrecht zentralen Grundrechte mag sich deshalb der folgende Überblick beschränken. Spezielle Einzelfragen zu anderen Grundrechten oder das verfassungsrechtlich garantierte kirchliche Selbstbestimmungsrecht des Art. 140 GG i.V. mit Art. 137 WR seien bewußt ausgeklammert. Bei dem folgenden Überblick sollte allerdings nicht der Eindruck entstehen, es gehe isoliert um Arbeitnehmergrundrechte. Eine solche völlig isolierte Betrachtung, wie sie die Themenstellung des Symposiums nahezulegen scheint, wäre nicht möglich. Vielmehr ist die verfassungsrechtliche Situation nicht selten dadurch gekennzeichnet, daß dem Arbeitnehmer und dem Arbeitgeber gewisse Grundrechtspositionen zur Seite stehen können. Das ist auf Seiten des Arbeitgebers für die Grundrechte aus Art. 2, Art. 12, Art. 14 GG evident. Oft kann dann erst die Abwägung zwischen beiden Grundrechtspositionen im Einzelfall die richtige Entscheidungsposition ergeben. Im Streit um die Gewissensfreiheit des Art. 4 Abs. 1 GG hat dies das BAG einmal sehr deutlich in der Weise formuliert: „Inhalt und Grenzen des Direktionsrechts des Arbeitgebers zur Konkretisierung der vertragsmäßigen Arbeitsleistung ergeben sich aus einer Abwägung der beiderseitigen Interessen des Arbeitgebers und des Arbeitnehmers" 12 1. Die Menschenwürde gemäß Art. 1 GG Im einzelnen kann schon der Schutz der Menschenwürde in Art. 1 Abs. 1 GG auf das Arbeitsrecht einwirken. So ist es unzweifelhaft, daß dem Arbeitgeber die Pflicht zukommt, die Ausgestaltung der Arbeit menschengerecht vorzunehmen. Das BAG hat unter diesem Gesichtspunkt z.B. einen Fall entschieden, daß ein in einem Krankenhaus angestellter Arzt nicht wirksam verpflichtet werden könne, nach einem vollen Arbeitstag und einem anschließenden Bereitschaftsdienst erneut einen vollen Tagesdienst abzuleisten. Es hat eine über mehr als 24 Stunden dauernde Tätigkeit ohne ausreichende Ruhezeit als schlechthin unzumutbar angesehen13.

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BAG v. 20.12.1984, EzA Nr. 16 zu § 1 KSchG Verhaltensbedingte Kündigung. BAG v. 24.2.1982, AP Nr. 7 zu § 17 BAT.

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2. Die freie Entfaltung der Persönlichkeit gemäß Art. 2 GG Eine Fülle von arbeitsrechtlich relevanten Entscheidungen gibt es zu Art. 2 GG. Das beruht vor allem darauf, daß Rechtsprechung und Literatur aus dem Grundrecht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit das sog. allgemeine Persönlichkeitsrecht entwickelt haben. Es dient dem BAG insbesondere als Begründung für die Herleitung eines allgemeinen Beschäftigungsanspruchs während eines ungekündigten Arbeitsverhältnisses. Nach den überzeugenden Ausführungen des BAG geht das Arbeitsverhältnis gerade in dieser Hinsicht über eine rein schuldrechtliche Beziehung hinaus. Die konkrete Tätigkeit eines Menschen und seine Stellung im Bereich des Arbeitslebens ist Teil seiner Würde als Mensch. Damit sei es nicht zu vereinbaren, wenn einem Arbeitnehmer zugemutet wird, über lange Zeit Lohn in Empfang zu nehmen, ohne sich in seinem Beruf betätigen zu können14. Darüber hinaus hat das BAG auch den berühmten Weiterbeschäftigungsanspruch im Rahmen eines Rechtsstreites über die Kündigung aus Art. 2 GG entwickelt15. Hinzuweisen ist schließlich darauf, daß das BAG unter Hinweis auf Art. 2 GG das Recht des Arbeitnehmers konkretisiert und abgegrenzt hat, sein Privatleben frei und unbeeinflußt zu gestalten, ohne daß der Arbeitgeber daraus irgendwelche arbeitsvertraglichen Konsequenzen ziehen könnte. Es ist sicherlich eine wichtige Errungenschaft im modernen Arbeitsleben, daß der Arbeitgeber (wie dies das BAG zu Recht formuliert hat) durch den Arbeitsvertrag nicht zum Sittenwächter über die in seinem Betrieb tätigen Arbeitnehmer berufen ist 16 .

3. Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung Einen besonderen Hinweis verdient in diesem Zusammenhang das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung. Dieses Grundrecht hat das BVerfG aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht abgeleitet, das (wie soeben erwähnt) seinerseits aus Art. 2 Abs. 1 GG abgeleitet ist. Das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung ist also das Derivat eines Derivates aus Art. 2 GG17. Auf diesem eigenständigen Grundrecht beruht seinerseits ein wichtiger grundrechtlicher Schutzbereich des Arbeitnehmers, der sich unter dem Gesichtspunkt des Datenschutzes im einzelnen Arbeitsverhältnis aus14 15 16 17

BAG v. 10.11.1955, AP Nr. 2 zu § 611 BGB Beschäftigungspflicht. BAG v. 27.2.1985, AP Nr. 14 zu § 611 BGB Beschäftigungspflicht. BAG v. 23.6.1994, AP Nr. 9 zu § 242 BGB Kündigung. BVerfG v. 15.2.1983, BVerfGE 65, 1.

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prägt. Dies kann hier aus Zeitgründen nicht näher ausgeführt werden. Festzuhalten ist allein, daß nach heute anerkannter Auffassung Datenschutz Teil des Persönlichkeitsschutzes ist. Dies ist gerade auch für Arbeitnehmer kein gering zu schätzendes Schutzpotential, auf dem sich eine Reihe individualrechtlicher Positionen aufbauen können, so z.B. Informationsrechte, Berichtigungs- und Löschungsansprüche sowie der Gegendarstellungsanspruch. Nur hinzuweisen ist an dieser Stelle darauf, daß in engem Zusammenhang mit den aus Art. 2 Abs. 1 GG entwickelten vorstehenden Rechtspositionen auch die berühmte Einschränkung des Fragerechts des Arbeitgebers bei der Einstellung besteht. Auch hier handelt es sich um einen Teil des Schutzes der Privatsphäre des Arbeitnehmers. 4. Der Gleichheitssatz und die Diskriminierungsverbote Ein absolut zentrales Grundprinzip des Arbeitsrechts wird durch den Gleichheitssatz des Art. 3 GG begründet und konkretisiert. Es handelt sich um die Pflicht des Arbeitgebers zur Gleichbehandlung und um die verschiedenen Diskriminierungsverbote. Die Rechtsprechung zu diesem Bereich ist ungeheuer reichhaltig und vielfaltig und kann hier nicht dargestellt werden. Wie erwähnt, ging von Art. 3 GG und der darauf gestützten Frage nach Lohngleichheit zwischen Mann und Frau nach 1949 die gesamte Diskussion der Anwendung der Grundrechte im Privat- und Arbeitsrecht aus. Wichtig für die heutige Situation des Arbeitnehmers im Bereich von Art. 3 GG ist auch die nähere gesetzliche Ausformung, die das Diskriminierungsverbot in den §§611 a, 611b und 612 Abs. 3 BGB gefunden hat. Zu verweisen ist ferner auf § 75 Abs. 1 BetrVG. Diese Bereiche sind in den letzten Jahren sehr stark europarechtlich überformt worden, so daß sie als Thema an das Referat von Herrn Hirsch verwiesen werden können. Die aktuellste und bis heute ungeklärte Frage aus diesem Bereich dürfte es sein, wie sich die Novellierung des Grundgesetzes im Rahmen von Art. 3 Abs. 2 GG in unser Rechtssystem einfügt. Darauf wird noch zurückzukommen sein. 5. Die Glaubens- und Gewissensfreiheit gemäß Art. 4 GG Weitere wichtige Einwirkungen auf das Arbeitsverhältnis und die Situation des Arbeitnehmers strahlen von der Glaubens- und Gewissensfreiheit des Art. 4 Abs. 1 GG aus. So gehört es zum gesicherten Bestand des Arbeitsrechts, daß der Arbeitgeber keinen Einfluß auf das religiöse Bekenntnis seiner Arbeitnehmer nehmen darf. Darüber hinaus hat der Arbeitnehmer das Recht, die Arbeitsleistung im Falle eines Gewissenskonfliktes zu verweigern. Rechtlich 2 Gnipp/Weth

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wird hier das Direktionsrecht des Arbeitgebers eingeschränkt. Er darf dieses Recht nur nach billigem Ermessen gemäß § 315 BGB ausüben und hat dabei nach anerkannter Auffassung eine einzelfallbezogene Interessenabwägung vorzunehmen18. Die Auslegung des billigen Ermessens i. S. von § 315 BGB im Lichte des Art. 4 GG ist ein klassisches Beispiel für die bereits erwähnte mittelbare Drittwirkung der Grundrechte. Hier werden Generalklauseln in spezifischer Weise zum Einfallstor für verfassungsrechtliche Wertungen, an die der Gesetzgeber und der Richter unzweifelhaft gebunden sind (vgl. Art. 1 Abs. 3 GG), die also über wertausfullungsbedürftige Begriffe in das Privatrecht hineinwirken können und müssen. 6. Meinungsfreiheit, Pressefreiheit und Rundfunkfreiheit (Art. 5 GG) Eine breite Ausstrahlungswirkung hat auch Art. 5 Abs. 1 GG. Dort ist das Grundrecht auf Meinungsfreiheit, auf Pressefreiheit und auf Rundfunkfreiheit niedergelegt. Alle diese Grundrechte wirken stark in das Arbeitsrecht hinein. Besonders berühmt geworden sind die arbeitsrechtlichen Streitigkeiten zur Freiheit der Meinungsäußerung des Arbeitnehmers. In der Praxis ging es insbesondere um die Frage, inwieweit politische und ähnliche Äußerungen des Arbeitnehmers den Arbeitgeber zu einer Kündigung berechtigen. Gegenpol der Meinungsfreiheit des Arbeitnehmers ist hier das ebenfalls verfassungsrechtlich geschützte Gebot, den Betriebsfrieden nicht ernstlich und schwer zu gefährden 19. Im einzelnen ist die Abgrenzung heikel und streitig. Klar ist nur, daß diejenigen Formen der Meinungsäußerung, die den politisch Andersdenkenden bewußt provozieren wollen und den Betrieb als Forum des Wahlkampfs nutzen, nicht mehr von dem Grundrecht gedeckt sein können20. Das Grundrecht der Presse- und der Rundfunkfreiheit bewirkt, daß die innerbetriebliche Mitbestimmung durch den Betriebsrat in den sog. Tendenzunternehmen beschränkt ist. Der diesen Sachverhalt regelnden § 118 Abs. 1 BetrVG ist insofern nur einfachgesetzlicher Ausdruck einer bestimmten verfassungsrechtlichen Wertung. Hinzuweisen ist schließlich auf die Rechtsprechung des BVerfG zum Problem des sog. freien Mitarbeiters in Rundfunkanstalten und zu der Möglichkeit, die Arbeitsverhältnisse in Rundfunkanstalten im Hinblick auf die Programmvielfalt zu befristen 21.

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BAG v. 24.5.1989, AP Nr. 1 zu § 611 BGB Gewissensfreiheit. BAG v. 3.12.1954, AP Nr. 2 zu § 13KSchG. BAG v. 9.12.1982, AP Nr. 73 zu § 626 BGB. BVerfG v. 13.1.1982, BVerfGE 59, 321.

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7. Schutz von Ehe und Familie (Art. 6 GG) Eine seit langer Zeit anerkannte Ausstrahlungswirkung auf das Privatrecht hat Art. 6 Abs. 1 GG, der Ehe und Familie unter den besonderen Schutz der staatlichen Ordnung stellt. Die in diesem Verfassungsgebot enthaltenen Wertungen haben früher vor allem im Hinblick auf die sog. Zölibatsklauseln eine wichtige Rolle gespielt22. Die Ausnahmen bei kirchlichen Arbeitnehmern bedürfen an dieser Stelle keiner näheren Diskussion. Aktuelles Beispiel fur die Einwirkung von Art. 6 GG auf das Arbeitsrecht ist die Frage, ob ein alleinerziehender Elternteil bei einer überraschenden und schwerwiegenden Erkrankung von Kindern der Arbeit fernbleiben darf. Das BAG hat hier in Einzelfällen eine Pflichtenkollision angenommen, die zur Unzumutbarkeit der Arbeitsleistung führe 23. 8. Die Koalitionsfreiheit gemäß Art. 9 Abs. 3 GG Absolut grundlegende Bedeutung für das Arbeitsrecht hat Art. 9 Abs. 3 GG, der die Koalitionsfreiheit regelt. Die unterschiedlichen Aspekte dieses Grundrechts werden gemeinhin in die Stichworte der positiven Koalitionsfreiheit (Gründungs-, Beitritts- und Betätigungsfreiheit) und in die negative Koalitionsfreiheit (Freiheit des Fernbleibens oder des Austritts aus einer Koalition) eingeteilt. Hinzu kommt der Schutz der Koalition als solcher und das Recht der Koalitionen, sich in einer spezifisch koalitionsmäßigen Weise zu betätigen. Besonders hervorgehoben ist dieses zentrale arbeitsrechtliche Grundrecht noch dadurch, daß in Satz 2 des Abs. 3 eine unmittelbare Drittwirkung angeordnet ist. Angesichts der Fülle der Rechtsprechung zu Art. 9 Abs. 3 GG müssen Einzelheiten hier zunächst dahinstehen. Das erscheint um so mehr vertretbar, als die Koalitionsfreiheit nach ihrer Ausrichtung vor allem auch als verfassungsrechtliche Grundlage des kollektiven Arbeitsrechts anzusehen ist, während sich mein Thema in erster Linie am Individualschutz des einzelnen Arbeitnehmers ausrichtet.

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gung.

BAG v. 10.5.1957, AP Nr. 1 zu Art. 6 Abs. 1 GG Ehe und Familie. BAG v. 21.5.1992, AP Nr. 29 zu § 1 KSchG 1969 Verhaltensbedingte Kündi-

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9. Die Berufsfreiheit gemäß Art. 12 GG Als weiteres Grundrecht von grundlegender arbeitsrechtlicher Bedeutung muß Art. 12 Abs. 1 GG genannt werden. Das BVerfG hat Art. 12 bekanntlich als einheitliches Grundrecht der Berufsfreiheit statuiert24. Darin sind eine Fülle von Einzelaspekten enthalten. Zu nennen sind die Freiheit der Berufswahl und damit zugleich die Entscheidungsfreiheit über den Abschluß eines Arbeitsvertrags, ebenso die weitere Entscheidungsfreiheit über die Beendigung eines solchen Arbeitsverhältnisses. Art. 12 GG enthält wiederum anerkanntermaßen eine grundrechtliche Ausstrahlung auf den Arbeitnehmer und den Arbeitgeber. Beschränkungen der Berufsfreiheit müssen daher im Hinblick auf beide Seiten abgewogen und austariert werden. In der Praxis spielt dies eine große Rolle bei den berühmten Rückzahlungsklauseln von Aus- oder Fortbildungskosten, die dem Arbeitnehmer während eines Arbeitsverhältnisses zugeflossen sind25. Ähnlich kritisch werden von der Rechtsprechung Wettbewerbsverbote beurteilt, die der Arbeitgeber für die Zeit nach Beendigung eines Arbeitsverhältnisses dem ehemaligen Arbeitnehmer auferlegt 26. Zuletzt hat das BVerfG am 8.7.1997 über mehrere Verfassungsbeschwerden gegen rechtskräftige arbeitsgerichtliche Urteile entschieden, die arbeitsrechtliche Kündigungen nach der Wiedervereinigung bestätigt hatten (Fall der sog. Sonderkündigungen). Auch die im Einigungsvertrag niedergelegte Regelung, daß bestimmte Arbeitsverhältnisse im öffentlichen Dienst der ehemaligen DDR ruhen sollten (die sog. Warteschleife-Lösung), war vom BVerfG überprüft worden. Prüfungsmaßstab war in allen Fällen vor allem Art. 12 Abs. 1 GG gewesen27. Ein besonders berühmtes rechtliches und politisches Problem ist die Frage, ob sich aus Art. 12 Abs. 1 GG oder aus anderen Grundrechten ein grundrechtlich garantiertes „Recht auf Arbeit" ergibt. Dem Grundgesetz selbst kann ein solches Verfassungsrecht sicherlich nicht entnommen werden. Das ist heute weithin anerkannt. Die Vorschläge, das Recht auf Arbeit im Rahmen der Revision des Grundgesetzes mit der Wiedervereinigung einzufügen, sind bekanntlich nicht realisiert worden. Dagegen enthalten verschiedene Verfassungen der Bundesländer ein Recht auf Arbeit. Insofern kann auf den anschließenden Vortrag von Herrn Kollegen Sachs verwiesen werden. 24

BVerfG v. 11.6.1958, BVerfGE 7, 377. BAG v. 24.7.1991, AP Nr. 16 zu § 611 BGB Ausbildungsbeihilfe. 26 Vgl. dazu BAG, AP Nr. 1, Nr. 36, Nr. 42, Nr. 61 und Nr. 65 zu § 74 HGB; BAG, AP Nr. 5 zu § 74a HGB; BAG, DB 1979, 1184; BAG, BB 1994, 2283. 27 BVerfG v. 24.4.1991, BVerfGE 84, 133. 25

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10. Die Eigentumsgarantie (Art. 14 GG) Abschließend und zuletzt sei noch auf Art. 14 GG verwiesen, denn auch die Eigentumsgarantie des Grundgesetzes hat ganz erhebliche arbeitsrechtliche Bedeutung. Allerdings ist Art. 14 GG vor allem auch eine wichtige verfassungsrechtliche Schutzposition für die Arbeitgeberseite. Schon deshalb kann eine Vertiefung dieses Grundrechtes hier zunächst dahinstehen.

IV. Die verfahrensmäßige Absicherung der geschützten Grundrechte Im Rahmen der Diskussion um die verfassungsmäßige Absicherung von Aibeitnehmerinteressen muß neben dem materiellen Recht noch eine andere Komponente genannt werden, die oft vergessen oder zu Unrecht vernachlässigt wird. Wichtig für den verfassungsrechtlich garantierten Schutz des Arbeitnehmers ist nämlich auch die verfassungsrechtliche Garantie, im Streitfalle Gerichtsschutz zu erlangen. Im einzelnen enthält diese Verfassungsgarantie folgende Aspekte28. Das Grundgesetz schützt und sichert anerkanntermaßen den freien Zugang zu Gericht. Diese Rechtsschutzgarantie (manchmal auch Justizgewährungsanspruch genannt) wird jedenfalls für Rechtsverletzungen durch die öffentliche Gewalt ausdrücklich in Art. 19 Abs. 4 GG geschützt. Über den Wortlaut hinaus ist heute aber auch für privatrechtliche Streitigkeiten die Garantie eines umfassenden Rechtsschutzes anerkannt, den man aus Art. 19 Abs. 4 GG i.V. mit dem Rechtsstaatsprinzip ableiten kann. Diese Garantie erfordert einen umfassenden und möglichst lückenlosen Rechtsschutz, der allerdings nur im Rahmen der jeweils geltenden Prozeßgesetze gewährt wird. Eine Einschränkung des Zugangs zu Rechtsmittelinstanzen ist also von Verfassungs wegen nicht ausgeschlossen. Dagegen ist beispielsweise die Beschränkung des Gerichtszugangs im Rahmen von Ausbildungsstreitigkeiten gemäß § 111 Abs. 2 ArbGG m. E. verfassungswidrig, weil dort je nach dem Einzelfall dem Zugang zu Gericht die Verhandlung vor einem Schlichtungsausschuß zwingend vorhergehen muß. Dies widerspricht dem Erfordernis des BVerfG, daß für jedermann die gleiche Chance auf Anrufung eines Gerichts bestehen müsse29. Nicht zu vergessen ist aus verfassungsrechtlicher Sicht auch, daß Art. 95 Abs. 1 GG ein oberstes Bundesgericht in arbeitsrechtlichen Streitigkeiten und damit letztlich zugleich einen eigenständigen Rechtsweg zu 28

Zum folgenden vgl. Germelmarm/Matthes/Prüttitig, leitung, Rdn. 185 ff. m.w. Nachw. 29 BVerfG v. 11.2.1987, BVerfGE 74, 228.

ArbGG, 2. Aufl. 1995, Ein-

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den Arbeitsgerichten verfassungsrechtlich absichert. Diese eigenständige Arbeitsgerichtsbarkeit ist in Deutschland dem Grundsatz nach bekanntlich schon seit 1926 verwirklicht. Aber erst die Änderung des § 48 und die Aufhebung des § 48a ArbGG durch das 4. VwGO-ÄndG v. 17.12.1990 hat die h. M. veranlaßt, den eigenen Rechtsweg zu den Arbeitsgerichten anzuerkennen. Bis dahin war die Abgrenzung zwischen Zivilgerichten und Arbeitsgerichten von der h. M. zu Unrecht noch immer als ein Problem der sachlichen Zuständigkeit angesehen worden. Weiterhin von grundsätzlicher verfahrensrechtlicher Bedeutung sind die verfassungsrechtlichen Garantien des rechtlichen Gehörs gemäß Art. 103 Abs. 1 GG, die Garantie des gesetzlichen Richters gemäß Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG sowie die Garantie der Neutralität und der Unabhängigkeit des Richters gemäß Art. 97 GG. Über diese einzelnen verfahrensrechtlichen Grundsätze hinaus haben Rechtsprechung und Literatur aus dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3, 28 Abs. 1 GG) weitere wichtige Aspekte eines rechtsstaatlichen Verfahrens entwickelt, die auch dem einzelnen Arbeitnehmer bei seiner Rechtsdurchsetzung zur Seite stehen können. Zu nennen sind hier vor allem das Gebot des effektiven Rechtsschutzes, der Anspruch auf ein faires Verfahren und der Grundsatz der prozessualen Waffengleichheit. Alle diese verfahrensrechtlichen Garantien können hier verständlicherweise nicht vertieft behandelt werden. Im Rahmen des verfassungsrechtlichen Schutzes von Arbeitnehmerinteressen dürfen sie aber auch nicht vergessen oder unterschätzt werden. Denn bekanntlich ist das materielle Recht einschließlich des Verfassungsrechts in der Praxis nur so viel wert, wie es im konkreten Arbeitsgerichtsprozeß auch realisiert werden kann.

V. Aktuelle Problembereiche Schon die bisherige außerordentlich grobe und holzschnittartige Übersicht über den Zusammenhang verfassungsrechtlicher Grundsätze und Arbeitnehmerinteressen hat gezeigt, daß im Rahmen eines normalen Vortrags nur sehr wenige ausgewählte Aspekte näher betrachtet werden können. Diesem schon aus Zeitgründen zwingenden Erfordernis einer strikten Auswahl habe ich einmal dadurch Rechnung zu tragen versucht, daß ich mit Herrn Kollegen Hanau eine gewisse Vorabsprache getroffen habe. Ich selbst möchte meinen Blick auf die Art. 1-3 GG richten, während Herr Hanau vor allem die Art. 9 und 12 GG ins Auge fassen wollte. Innerhalb dieser Aufteilung war es mein Bestreben, im folgenden vor allem einige besonders aktuelle Aspekte hervorzuheben.

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1. Die Problematik von Quotenregelungen und Art. 3 Abs. 2 GG Während viele grundlegende arbeitsrechtliche Fragen im Zusammenhang mit dem Gleichheitsgebot des Art. 3 GG seit langem diskutiert und weitgehend geklärt sind, hat der Gesetzgeber durch das Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes vom 27.10.1994 mit der Schaffung eines neuen Art. 3 Abs. 2 Satz 2 GG eine neue und bis heute nicht geklärte verfassungsrechtliche Frage aufgeworfen. Satz 2 von Art. 3 Abs. 2 lautet: „Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin." Schlagwortartig gesprochen könnte dieser Satz in ganz verschiedener Weise zu verstehen sein30. Nach einer Meinung handelt es sich um die Normierung eines Staatsziels, ohne daß sich daraus Individualansprüche ergeben könnten. Nach dieser Auffassung wäre der neugeschaffene Satz 2 letztlich für den einzelnen Betroffenen nicht einklagbar. Die Gegenauffassung hält den neuen Satz 2 für ein echtes und einklagbares Individualgrundrecht, das generell und im Einzelfall der Zielsetzung der paritätischen Repräsentanz von Frauen und Männern in allen gesellschaftlichen Bereichen und damit auch im Arbeitsrecht eine eingriffslegitimierende Grundlage bietet. Nach einer dritten (zwischen diesen beiden Extrempositionen vermittelnden) Meinung ist die zuletzt genannte anspruchsbegründende und durchsetzbare Zielsetzung einer paritätischen Repräsentanz weder im neuen Satz 2 noch sonst im geltenden Verfassungsrecht enthalten. Umgekehrt soll nach dieser dritten Meinung der Satz 2 aber auch über die Bedeutung eines Programmsatzes weit hinausgehen. In ihm sei eine Leitlinie für die in jedem Einzelfall gebotene Prüfung der Verhältnismäßigkeit bei gegebener Diskriminierung enthalten. Je nach dem betroffenen Schutzgegenstand bedürfe also jede Regelung einer jeweils angemessenen Rechtfertigung. Dies bedeute im Einzelfall, daß sich eine zulässige Arbeitnehmerförderung jeweils streng nach dem Ziel der Chancengleichheit ausrichten muß. Darüber hinausgehende gesetzliche Regelungen, also insbesondere die berühmten Quotenregelungen für den öffentlichen Dienst, sind nach dieser Auffassung durch Satz 2 nicht zu rechtfertigen. Wo sie von der vermittelnden Auffassung dennoch als ultima ratio in Betracht gezogen werden, steht dies freilich in einem kaum zu lösenden Widerspruch zur berühmten Rechtsprechung des EuGH im Fall Kaianke, wonach starre Entscheidungsquoten europarechtswidrig sind, die bei gleicher Qualifikation einer Frau automatisch den Vorrang einräumen . 30

Vgl. zum folgenden vor allem Osterloh, in: Sachs, Grundgesetz, Kommentar, 1996; Art. 3 Rdn. 281 ff. 31 EuGH vom 17.10.1995, EuZW 1995, 762.

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Bei der Bewertung der genannten drei Auffassungen kann zunächst sicherlich eingeräumt werden, daß es sich bei dem neu eingefügten Satz 2 um einen Formelkompromiß handelt, so daß ein eindeutiger gesetzgeberischer Wille, der eine dieser drei Auffassungen stützt, nicht leicht zu ermitteln ist. Andererseits darf man nicht übersehen, daß Art. 3 Abs. 2 Satz 1 GG nach langjähriger und st. Rspr. des BVerfG und der nahezu allgemeinen Meinung ein subjektives Grundrecht und zugleich eine objektive Wertentscheidung enthält. Ein neu angefügter Satz 2, der inhaltlich Aspekte des Satzes 1 etwas näher konkretisiert, kann aus dieser Sicht schwerlich als Staatszielbestimmung ohne individuelle Einklagbarkeit angesehen werden. Gegenüber der entgegengesetzten Extremposition, die mit dem neuen Satz 2 die absoluten Frauenforderquoten des öffentlichen Dienstes rechtfertigen will, ist andererseits einzuwenden, daß einer solchen Auffassung der Wortlaut der neuen Verfassungsbestimmung deutlich entgegensteht. Der Satz „Der Staat fördert" ist zunächst als eine blanke Tatsachenfeststellung formuliert und hat als Normadressaten nur die öffentliche Hand selbst im Blickfeld. Ein so weitgehendes Individualgrundrecht, daß sich daraus für den Einzelnen ein unmittelbarer Anspruch auf paritätische Repräsentanz von Frauen und Männern ergäbe, kann sich weder nach dem Wortlaut noch nach dem sonstigen Grundrechtsverständnis herleiten lassen. Auch die Legitimation einer kollektiven staatlichen Regelung, die zur Erreichung einer bestimmten gesamtgesellschaftlichen Situation ohne Berücksichtigung der Verhältnismäßigkeit der Mittel ihrerseits diskriminierende Regelungen statuieren dürfte, entspricht nicht dem geltenden Verfassungsrecht. Von der europarechtlichen Diskrepanz sei dabei noch gar nicht gesprochen. Schon diese Erwägungen zeigen, daß nur die dritte hier genannte und vermittelnde Ansicht der neu eingefügten Verfassungsnorm dem Grundsatz nach gerecht wird. Der neue Satz 2 verstärkt die Schutzpflichten des Staates und erweitert sie über die individualrechtliche Ebene hinaus ganz bewußt in der Weise, daß eine bestimmte gesamtgesellschaftliche Situation allgemeine und strukturell ansetzende Maßnahmen des Gesetzgebers legitimiert, die in den Grenzen der Verhältnismäßigkeit durchaus individualrechtlich eine differenzierende Wirkung aufweisen können. Unter diesem Gesetzpunkt sind beispielsweise Informations- und Fortbildungsangebote, die sich speziell an Frauen richten, ebenso unproblematisch zulässig wie frauenspezifische Stipendien und vergleichbare Fördermaßnahmen.

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2. Die Konsistenz verfassungsrechtlicher Einwirkungen auf das Arbeitsrecht Ein nach meiner Meinung bis heute noch nicht befriedigend gelöstes Problem sind die möglicherweise sehr unterschiedlichen verfassungsrechtlichen Einwirkungen bei ein und derselben Rechtsfrage und die damit zusammenhängende Problematik der Konsistenz des Arbeitsrecht. Die Fragestellung sei anhand eines aktuellen Beispielsfalles erläutert 32. Der Kläger war bei der Beklagten als Außendienstmitarbeiter seit wenigen Wochen noch innerhalb einer Probezeit beschäftigt. Ihm wurde ohne Begründung gekündigt, wobei der Kläger nunmehr geltend macht, diese Kündigung beruhe ausschließlich auf seiner Homosexualität und sei daher verfassungswidrig. Das LAG München hatte als Berufungsinstanz die Klage abgewiesen. Das BAG hat ihr demgegenüber aus dem Gesichtspunkt von § 242 BGB (Gedanke des Rechtsmißbrauchs) stattgegeben, wobei sich das BAG ausdrücklich auf den Gesichtspunkt der Menschenwürde gemäß Art. 1 GG und die freie Entfaltung der Persönlichkeit gemäß Art. 2 Abs. 1 GG berief. Dieser Beispielsfall ließe sich im Hinblick auf Eigenschaften der Person, die nicht von unmittelbarer Bedeutung ftir das einzelne Arbeitsverhältnis sind, in vielfacher Weise variieren. So sind rechtliche Fragen in einem vergleichbaren Kontext in jüngster Zeit etwa auch für Arbeitnehmer diskutiert worden, bei denen eine HIV-Infektion vorlag, ohne daß es zu einem Krankheitsausbruch gekommen wäre 33. Die grundsätzliche Problematik der Einordnung bestimmter personenbedingter Merkmale ergibt sich insbesondere daraus, daß diese Merkmale im Vorfeld der Vertragsanbahnung, bei der Einstellung und bei der Kündigung von zentraler Bedeutung sein können. Im Vorfeld der Vertragsanbahnung geht es um das berühmte Fragerecht des Arbeitgebers. Es wurde bereits kurz angesprochen, daß hier auf der Basis von Art. 2 GG ein Schutz der Persönlichkeitsrechte des Arbeitnehmers dadurch erreicht wird, daß dem Arbeitgeber erhebliche Beschränkungen eines solchen Fragerechts auferlegt werden. In einem normalen arbeitsrechtlichen Kontext dürfte kaum zweifelhaft sein, daß Rechtsprechung und h. M. die Frage des Arbeitgebers nach einer bestehenden Homosexualität als unzulässig ansehen würden. Dem steht nun die Problematik der Freiheit der Auswahlentscheidung des Arbeitgebers beim Vertragsschluß gegenüber. Die sich aus Art. 2, 12 und 14 GG ergebenden verfassungsrechtli32

BAG v. 23.6.1994, AP Nr. 9 zu § 242 BGB Kündigung = DB 1994, 1380 = NzA 1994, 1080 = NJW 1995, 275. 33 BAG, AP Nr. 46 zu § 138 BGB = NJW 1989, 141.

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chen Spielräume der Vertragsfreiheit i. S. einer bis heute weitgehend uneingeschränkten Abschlußfreiheit fuhren dazu, daß es kein Recht auf Arbeit im Sinne einer Einstellungspflicht von Personen zu Lasten privater Arbeitgeber geben kann. Damit ist allerdings noch nicht abschließend geklärt, ob im Rahmen einer tatsächlich erfolgten Einstellung das Auswahlermessen des Arbeitgebers durch verfassungsrechtliche Gesichtspunkte weiter eingeschränkt ist. Jenseits des Bereichs des öffentlichen Dienstes (Bindung durch Art. 33 Abs. 2 GG) wird dies im Rahmen von Art. 9 Abs. 3 GG, § 611a BGB und Art. 3 Abs. 3 GG diskutiert. Keinem dieser Bereiche läßt sich allerdings der Gesichtspunkt der Homosexualität zuordnen. Damit dürfte m.E. kaum zweifelhaft sein, daß ein privater Arbeitgeber aus diesem Gesichtspunkt heraus den Abschluß eines Arbeitsvertrags verweigern kann. Hat er allerdings mit dem betreffenden Bewerber einen Arbeitsvertrag geschlossen, so steht die Frage einer möglichen Kündigung im Raum. Hier wird man bei Eingreifen des Kündigungsschutzgesetzes sagen müssen, daß der allein diskutable Fall einer personenbedingten Kündigung im Regelfall nicht in Betracht kommt. Außerhalb der Geltung des Kündigungsschutzgesetzes (so der Beispielsfall des BAG) wäre dagegen eine Kündigung bekanntlich auch ohne jede Begründung möglich. Hier hat das BAG in dem genannten Beispielsfall ein Schranke aus dem Gesichtspunkt des Rechtsmißbrauchs (§§ 242, 138 BGB) hergeleitet. Die Entscheidung ist angesichts der Tatsache, daß eine Kündigung innerhalb einer Probezeit ohne jede Begründung möglich ist und damit verfassungsrechtlich wohl auf gleicher Stufe mit dem freien Auswahlermessen des Arbeitgebers bei der Einstellung steht, sicherlich sehr problematisch und zweifelhaft. Die möglicherweise fehlende Konsistenz verfassungsrechtlicher Wertungen im Arbeitsrecht wird aber dann in voller Schärfe deutlich, wenn der Arbeitgeber in diesem Beispielsfall eine Kündigung aussprechen sollte, nachdem ein erheblicher Teil der Belegschaft dies ultimativ gefordert hat. Denn bekanntlich ist die sog. Druckkündigung in Rechtsprechung und h. L. als Kündigungsgrund anerkannt. Das Beispiel macht deutlich, daß die Einwirkung verfassungsrechtlicher Wertungen im Rahmen vorvertraglicher Information, im Rahmen des Vertragsschlusses und ihm Rahmen der Vertragsbeendigung in ihren verschiedenen Spielarten nicht vollständig harmoniert. Ob darin allerdings ein Wertungswiderspruch enthalten ist, der überwunden werden muß, erscheint dennoch zweifelhaft. Vielleicht sind die unterschiedlichen Reaktionen des Arbeitsrechts auf die hier geschilderten Situationen durch die jeweils unterschiedlichen Abwägungsergebnisse der betroffenen Grundrechtseingriffe gerechtfertigt.

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3. Vertragsfreiheit und Inhaltskontrolle Eine besonders aktuelle und noch in erheblichem Umfang ungeklärte, möglicherweise aber besonders gravierende Einwirkung der Grundrechte auf das Arbeitsrecht erwächst aus einer Richtung, die im ersten Augenblick überrascht und von arbeitsrechtlichen Fragen sehr weit entfernt zu liegen scheint. Es geht nämlich um die berühmte Rechtsprechung des BVerfG dazu, daß sich für die Gerichte aus Art. 2 Abs. 1 GG eine Pflicht zur Inhaltskontrolle von Verträgen ergibt. Diese Rechtsprechung ist bereits in der sog. Handelsvertreter-Entscheidung des BVerfG formuliert worden34. Sie ist durch die sog. Bürgschaftsentscheidung des BVerfG v. 19.10.1993 allgemein bekannt geworden35. In dem entschiedenen Fall hatte die 21jährige vermögenslose Tochter des Schuldners eine Bürgschaft über DM 100.000,- unterschrieben. Diese Bürgschaft diente der Sicherung von Krediten, mit denen der Vater der Bürgin verschiedene selbständige Unternehmen aufbauen wollte. Die Bürgin war überwiegend arbeitslos und bezog zur Zeitpunkt der Bürgschaftserklärung als ungelernte Fließbandarbeiterin ein monatliches Nettoeinkommen von DM 1.150,-. Beim Abschluß der Bürgschaft soll ein Bankangestellter der Bürgin sinngemäß erklärt haben, sie gehe dabei keine besondere Verpflichtung ein, er brauche diese Unterschrift nur für seine Akten. Nachdem der Vater der Bürgin wirtschaftlich vollkommen gescheitert war, nahm die Bank die Bürgin auf Zahlung von DM 100.000,- plus Zinsen in Anspruch. Die Klage der Bürgin auf Feststellung der Unwirksamkeit der Bürgschaft wurde in allen Instanzen als unbegründet abgewiesen. Das BVerfG hielt die auf Art. 1 und Art. 2 GG gestützte Verfassungsbeschwerde für begründet. In seiner Entscheidung nimmt das BVerfG auf das Lüth-Urteil Bezug und führt aus, daß es bei der Auslegung der Generalklauseln der §§ 138, 242 BGB einer Konkretisierung am Maßstab verfassungsrechtlicher Wertvorstellungen bedürfe. Im vorliegenden Fall hätten die Zivilgerichte sich nicht der Frage der Fremdbestimmung einer Partei gestellt und so die grundrechtlich gewährleistete Privatautonomie verkannt. Aus dieser grundrechtlichen Gewährleistung der Privatautonomie folge für den Gesetzgeber grundsätzlich die Pflicht, der Selbstbestimmung des Einzelnen im Rechtsleben einen angemessenen Betätigungsraum zu eröffnen. Wegen der kollidierenden Grundrechtspositioncn beider Parteien müsse das Gesetz für Fälle strukturell gestörter Vertragsparität zivilrechtliche Korrekturinstrumente zur Verfugung stellen, mit denen die

34 35

BVerfGE 81, 242 = NJW 1990, 1472. BVerfG v. 19.10.1993, BVertOE 89, 214 = NJW 1994, 36.

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Rechtsordnung im Einzelfall angemessen reagieren könne, damit nicht allein das Recht des Stärkeren gelte. Aus diesem Grundansatz folgert das BVerfG sodann, daß Verträge unter Anwendung der genannten Generalklauseln einer Inhaltskontrolle zu unterziehen seien. Eine solche Inhaltskontrolle sei insbesondere dann erforderlich, wenn der Inhalt des Vertrags ungewöhnlich stark belastend oder offensichtlich unangemessen sei. Diese Rechtsprechung hat in der Rechtswissenschaft eine umfangreiche Diskussion und scharfe Kontroverse ausgelöst. Für eine Auffassung ist die Entscheidung ein Fehlgriff gewesen, der den Abschied des Privatrechts von der Privatautonomie einläutet, für andere ist die Entscheidung nur die berechtigte Einzelfallkorrektur einer bestimmten Fallgestaltung und eine Bestätigung bereits bekannter Grundsätze über die Inhaltskontrolle von Verträgen. Die Schwierigkeiten, die sich aus dieser Entscheidung ergeben haben, sind vor allem durch einen sehr weit gefaßten Leitsatz und durch Entscheidungsgründe mitbestimmt, die über den konkret zu entscheidenden Fall weit hinausreichen. Nur vordergründig knüpft die Entscheidung mit dem Hinweis auf die Konkretisierung von Generalklauseln wie § 138 BGB an klassische Vorstellungen von der mittelbaren Drittwirkung der Grundrechte an. In Wahrheit lag weder ein Fall des § 138 Abs. 1 noch des Abs. 2 BGB vor. Demgegenüber ist bis heute höchst zweifelhaft und streitig, ob eine (wie auch immer festgestellte) strukturell ungleiche Verhandlungsstärke von Parteien sich zugleich als eine korrekturbedürftige Einschränkung der Gewährleistung der Privatautonomie i. S. des Art. 2 GG darstellt. Wollte man diesen Ausgangspunkt nämlich ernst nehmen, so müßte man beispielsweise in sämtlichen Verträgen, die ein einzelner Verbraucher mit einem wirtschaftlich übermächtigen Unternehmer schließt, eine solche auch individuell erforderliche Inhaltskontrolle bejahen. Aber auch wenn das BVerfG mit seinen Entscheidungsgründen über den gegebenen Anlaß weit hinausgegangen ist, so muß doch festgestellt werden, daß insbesondere der BGH in der Folge diese Rechtsprechung ganz grundsätzlich aufgenommen hat. Es kam zu einem Rechtsprechungswandel über die Frage der Wirksamkeit von Bürgschaften, der in der Kreditwirtschaft teilweise völlige Ratlosigkeit und ein rechtliches Chaos herbeigeführt hat. Jenseits dieser in den vergangenen drei Jahren geführten Grundsatzdiskussion und den Auswirkungen der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung wird manchmal übersehen, daß das BVerfG den konkreten Fall sicherlich richtig entschieden hatte. Es hätte m.E. mehr als nahe gelegen, daß die Gerichte den berüchtigten Hinweis („Dies ist nur für meine Akten") in Anwendung der Grundsätze der culpa in contrahendo oder im Wege einer Anfechtung nach § 123 BGB gewürdigt hätten. Die verfassungsgerichtliche Korrektur des Ergebnisses erfolgte aber von einer unrichtigen Entscheidungsebene. Denn der hinter dieser Rechtsprechung stehende Schutz vor Überschuldung verweist in Wahrheit auf die vollstreckungsrechtlichen Sicherungen. Wäre es anders,

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wäre kaum verständlich, warum entscheidendes Kriterium der durch das BVerfG eingeläuteten Rechtsprechung die Einkommens- und Vermögenslosigkeit von Bürgen ist. Es kann doch nicht ernstlich behauptet werden, daß ein Bürge mit höherem Monatseinkommen gegenüber einer Großbank sich nicht in der Situation einer strukturell ungleichen Verhandlungsstärke befinde. Wenn also die Vermögenslosigkeit und damit die Gefahr völliger Überschuldung materiell entscheidender Anknüpfungspunkt ist, so ist auf die Gewährung sozialstaatlichen Schutzes auf der Ebene des Zwangsvollstreckungsrechts zu verweisen. Dort ist die Frage, wieviel an Unpfändbarem dem Schuldner verbleiben muß, ausdrücklich geregelt. Weiterhin wird nur ein Abstellen auf das Vollstreckungsrecht der Tatsache gerecht, daß sich zwischen Vertragsschluß und Haftungsverwirklichung im Einzelfall die Einkommens- und Vermögensverhältnisse eines Schuldners grundlegend verändern können. Schließlich wäre, wollte man die finanzielle Überforderung im Zeitpunkt des Vertragsschlusses generell zum Anlaß der Nichtigkeit einer Bürgschaft nehmen, für den Schuldner von vornherein die Möglichkeit genommen, riskante Geschäfte abzuschließen (ζ. B. zum Aufbau einer beruflichen Existenz), die bei Gelingen langfristig den Grundstein für eine positive vermögensrechtliche Situation legen können. Eigentlicher Hintergrund der Problematik ist aber das Konkursrecht. Mit dem bekannten generellen Nachforderungsrecht der Gläubiger gegen den Gemeinschuldner auch nach Abschluß eines Konkursverfahrens gemäß § 164 Abs. 1 KO ist die vieldiskutierte Schuldturmproblematik eng verbunden. Aus dieser Sicht wird man es als einen Schritt des Gesetzgebers in die richtige Richtung ansehen müssen, wenn die künftige Insolvenzordnung ab 1.1.1999 die Möglichkeit einer Restschuldbefreiung vorsieht und damit gerade auch dem wirtschaftlich besonders schwachen Schuldner die Chance eines vermögensrechtlichen Neuanfangs bietet. Für das Arbeitsrecht 36 gilt es demgegenüber festzuhalten, daß insbesondere das BAG schon immer eine sehr weitgehende Inhaltskontrolle von Arbeitsverträgen, auch von Individualabreden vorgenommen hat. Dies könnte dafür sprechen, daß die Bürgschaftsrechtsprechung des BVerfG im Arbeitsrecht keine besonderen Veränderungen auslöst. Dabei wäre freilich übersehen, daß die Rechtsprechung der Arbeitsgerichte bisher für die intensiv wahrgenommene Billigkeits- und Inhaltskontrolle noch keine tragfähige Grundlage gefunden hat. Nach weithin anerkannter Auffassung (der sogar der Präsident des BAG zustimmt37) hat das BAG ohne ein klares dogmatisches Konzept den nach seiner Auffassung erforderlichen Schutz gegenüber unangemessenen Vertrags-

36 37

Zum folgenden nunmehr vor allem Fastrich, RdA 1997, 65. Vgl. Dieterich, RdA 1995, 129, 135.

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klauseln gewährt. Am deutlichsten zeigt sich m.E. die bestehende Unsicherheit dadurch, daß das BAG eine geradezu irritierende Vielzahl von Begründungsansätzen in der Vergangenheit vorgenommen hat, wie vor kurzem Preis eingehend dargelegt hat38. Deshalb kann es nicht erstaunen, daß das BAG den Begründungsansatz des BVerfG sehr schnell als Legitimation für eine offene Inhaltskontrolle im Arbeitsrecht aufgegriffen hat39. Auch der Präsident des BAG sieht in der Bürgschaftsrechtsprechung wichtige Impulse für die Weiterentwicklung des Arbeitsvertragsrechts 40. Die angedeutete Problematik kann schon aus Zeitgründen an dieser Stelle sicherlich nicht abschließend und umfassend behandelt werden. Aufmerksam zu machen ist aber auf die Tatsache, daß das im deutschen Recht erfolgreichste gesetzliche Instrument zur Inhaltskontrolle von Verträgen, nämlich das Gesetz über die Allgemeinen Geschäftsbedingungen, in seinem § 23 Abs. 1 gerade für das Arbeitsrecht eine Bereichsausnahme vorgenommen hat. Wie auch immer man diese gesetzgeberische Entscheidung bewertet, inhaltlich führt die Tendenz der Arbeitsgerichte dahin, wichtige Grundgedanken der Generalklausel des § 9 AGBG in das Arbeitsrecht zu transponieren. Dementsprechend sind entscheidende Kriterien der Rechtsprechung die Angemessenheit, die Benachteiligung des Arbeitnehmers sowie die Abweichung von wesentlichen Grundgedanken des geltenden Rechts. M. E. hat sich die Entscheidung des Gesetzgebers, in § 23 Abs. 1 AGBG eine Bereichsausnahme für das Arbeitsrecht vorzunehmen, damit letztlich als eine Fehlentscheidung erwiesen. 4. Der Schutz der Telearbeit und das Grundrecht auf Unverletzlichkeit der Wohnung Eine weitere und vielfach noch gar nicht erkannte neue Grundrechtskollision soll hier nur erwähnt werden, die uns demnächst möglicherweise ins Haus steht: die Entwicklung der sog. Telearbeit könnte dazu führen, daß mehr und mehr Arbeitsplätze sich in die privaten Wohnungen der Arbeitnehmer verlagern. In diesen Fällen könnte sich sehr bald die Frage stellen, wie der gesetzlich breit ausgebaute Arbeitsschutz für diese Telearbeitnehmer eingehalten und insbesondere kontrolliert werden kann. Denn unabhängig davon, ob die Kontrolle von Arbeitsschutzbestimmungen im Einzelfall in die Verantwortung

38

215). 39 40

Preis, Grundfragen der Vertragsgestaltung im Arbeitsrecht, 1993, S. 149 ff. (bis BAG, AP Nr. 18, Nr. 19 und Nr. 20 zu § 611 BGB Ausbildungsbeihilfe. Dieterich, RdA 1995, 134 ff.

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des Staates, des Betriebsrates oder des Arbeitgebers fallt, läßt sich kaum verhindern, daß jede Form der Kontrolle potentiell mit der Schutzwirkung des Art. 13 GG, also der Unverletzlichkeit der Wohnung, in Konflikt geraten kann. Will man hier nicht zwangsläufig die hohen Standards des Arbeitsschutzes verringern und die Kontrollmöglichkeiten nachhaltig zurückschrauben, so bleibt wohl nur eine vertragliche Vereinbarung zwischen den Parteien, die Wohnungszugangs- und Kontrollrechte eröffnet.

VI. Fazit Der unternommene Versuch, Einwirkungen der Verfassung auf Schutz und Förderung von Arbeitnehmerinteressen darzustellen, mußte fast zwangsläufig außerordentlich viele Wünsche und interessante Fragen offenlassen. Die gänzlich subjektive Auswahl der Einzelprobleme war allein vom Gedanken der Aktualität geleitet. Falls man es überhaupt wagen darf, aus diesem groben Überblick ein generalisierendes Fazit zu ziehen, so kann vielleicht folgendes gesagt werden: 1. Die Einwirkung der Grundrechte auf das Arbeitsrecht und speziell auf die individuellen Arbeitnehmerinteressen war in den vergangenen 50 Jahren enorm groß und von kaum zu unterschätzender Bedeutung. 2. Das BVerfG und die Arbeitsgerichte haben in diesem Zusammenhang eine breite Palette von Grundrechten für die anstehenden individualarbeitsrechtlichen Fragen fruchtbar gemacht. Dabei ist der Grundrechtskatalog selbst durch Weiterentwicklungen erheblich ergänzt worden (allgemeines Persönlichkeitsrecht, Recht auf informationelle Selbstbestimmung). 3. Diese Entwicklung ist auch durch die Rechtswissenschaft und speziell durch die enormen Fortschritte der Grundrechtsdogmatik gefordert worden. Mein Kölner Kollege Stern hat einmal formuliert, die Grundrechtsentfaltung ginge bisweilen schneller voran als der Autor schreiben konnte. 4.

Jedenfalls hat der Überblick gezeigt, daß die Grundrechte im ganzen einen tragfahigen Schutz von Arbeitnehmerinteressen bilden können. Es zeigt sich dabei aber auch, daß der Schutz des Arbeitgebers und der Schutz von Arbeitskollegen nicht außer Acht gelassen werden darf.

5. Die möglicherweise größte Gefahr für ein rechtsdogmatisch fundiertes Arbeitsrecht und für die gesamte Privatrechtsordnung könnte hier die verfassungsgerichtliche Weichenstellung der Bürgschaftsrechtsprechung darstellen.

Die Relevanz landesverfassungsrechtlicher Regelungen* Von Michael Sachs

Sehr verehrte Kollegen und Kolleginnen, meine sehr verehrten Damen und Herren, Anders als alle anderen Vorträge auf dem Programm nimmt mein Thema nicht Bezug auf Arbeitnehmerinteressen, es bezieht sich vielmehr auf: „Die Relevanz landesverfassungsrechtlicher Regelungen" überhaupt, ist also allgemeiner als die Gesamtausrichtung des Symposions. Die für Arbeitnehmerinteressen spezifischen Fragen sollen aber natürlich auch für die Ebene des Landesverfassungsrechts nicht zu kurz kommen. Im Gegenteil, sie stehen bei den letzten Referaten, über Staatszielbestimmungen und institutionelle Absicherungen, sicher ganz im Mittelpunkt. Mit gutem Grund haben die Veranstalter aber vorab die Relevanz landesverfassungsrechtlicher Regelungen an sich auf die Tagesordnung gesetzt: Denn es gibt heute kaum eine bedeutsame Frage des Verfassungsrechts, die so grundsätzlich unterschiedlich beurteilt wird. Ein wissenschaftliches Symposion „aus Anlaß der geplanten Reform der saarländischen Landesverfassung" kann daher kaum umhin, diese Problematik auch ganz grundsätzlich aufzuwerfen. Der Bezug zum Gesamtthema der Tagung soll trotzdem auch hier nicht ganz vernachlässigt werden; vielmehr werde ich versuchen, den Aspekten meiner Fragestellung besondere Aufmerksamkeit zu widmen, die auch für Arbeitnehmerinteressen wichtig werden können; das wird allerdings gelegentlich zu einer Art Spurensuche führen. Dagegen bleiben Bereiche ohne näheren Bezug hierzu grundsätzlich außer Betracht, vor allem das Staatsorganisationsrecht, obwohl hier die eigentliche Relevanz des Landesverfassungsrechts liegt. Zu den beiden Elementen der Thematik vorab nur so viel:

* Die Vortragsform wurde beibehalten; die Hinweise in den Fußnoten sind auf ein für das Verständnis des Vortrags erforderliches Minimum beschränkt. 3 Grupp/Weth

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Unter Relevanz möchte ich normative Relevanz verstehen, also die Fähigkeit, Rechtsfolgen zu begründen. Bedeutungsgehalte allein auf außerrechtlichem Gebiet bleiben außer Betracht, namentlich also nur symbolische Verfassungsbestimmungen, denen die Ausrichtung auf irgendwelche Rechtsfolgen von vornherein fehlt. Mit Landesverfassungsrecht soll in erster Linie das formelle Landesverfassungsrecht gemeint sein, also die in der Verfassungsurkunde des Landes enthaltenen Bestimmungen. Daneben wird aber auch vom materiellen Landesverfassungsrecht die Rede sein müssen, also von der Gesamtheit der rechtlichen Regelungen, die den Gegenstand „Landesverfassung" betreffen. Solche Regelungen gibt es auch außerhalb der Landesverfassungsurkunde als nur materielles Landesverfassungsrecht. Es findet sich auf landesrechtlicher Ebene in Nebengesetzen zur Landesverfassung und in den Geschäftsordnungen der Verfassungsorgane, auf bundesrechtlicher Ebene vor allem im Grundgesetz selbst, ausnahmsweise aufgrund einschlägiger Spezialkompetenzen auch in Bundesgesetzen. Grundlage jeder normativen Relevanz ist die rechtliche Geltung einer Bestimmung überhaupt. Nur die gültige Norm ist in der Lage, die von ihr angeordneten Rechtsfolgen auszulösen: Ohne Rechtsgeltung keine normative Relevanz. Allein die Geltung erlaubt indes noch kein abschließendes Urteil hierzu - vielmehr wird es nötig sein, abgestufte Formen der Relevanz zu unterscheiden. Anschließend wird ein Blick auf Grenzen der Relevanz in der Rechtsanwendung zu werfen sein. Zunächst also zu den Geltungsbedingungen von Landesverfassungsrecht. Die Rechtsgeltung der Verfassung eines souveränen, selbständigen Staates ergibt sich aus dem Wirken des normativ grundsätzlich nicht gebundenen pouvoir constituant, sie ist Ausdruck der verfassunggebenden Gewalt, die jedenfalls in den Verfassungsstaaten der Gegenwart einhellig dem Volk zugeschrieben wird. Die Rechtsgeltung der Verfassung eines Gliedstaates, der in einen Bundesstaat eingegliedert ist, kann hiermit nur sehr bedingt verglichen werden. Durch die Zugehörigkeit zum Bundesstaat ist der Gliedstaat in vielfaltiger Weise eingebunden, begrenzt und determiniert. Ebenso sind auch die Geltungsmöglichkeiten gliedstaatlicher Verfassungen von vornherein begrenzt. Dem entsprechend wird die Befugnis der Länder zur Selbstverfassung vielfach und mit Recht als bloße „Verfassungsautonomie" bezeichnet. Diese ist von der rechtlich voraussetzungslosen verfassunggebenden Gewalt des souveränen Staates prinzipiell verschieden, sie ist in ihren Wirkungsmöglichkeiten durch die Verfassung des Gesamtstaates begrenzt, wenn nicht überhaupt erst durch sie konstituiert. Die Gültigkeit landesverfassungsrechtlicher Bestimmungen

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hängt daher zuallererst davon ab, daß die Geltungsanforderungen des Grundgesetzes erfüllt sind. Insoweit geht es um zwei Problemkreise, nämlich einmal um die Verbandskompetenz des Landes für den Erlaß seiner Verfassung - nur kompetenzgerecht erlassenes Recht ist gültiges Recht, zum anderen geht es um das Verhältnis des Landesverfassungsrechts zu konkurrierendem Bundesrecht - hier kann die Geltung des Landesverfassungsrechts aufgrund von Kollisionsnormen ausgeschlossen sein1. 1 Zu den aufgezeigten Problemkreisen vgl. Henning von Olshausen, Landesverfassungsbeschwerde und Bundesrecht, 1980; Hans-Ullrich Gallwas, Konkurrenz von Bundes- und Landesgrundrechten, JA 1981, 536 ff.; Ferdinand O. Kopp, Die Grundrechte der deutschen Landesverfassungen, in: Der Föderalismus und die Zukunft der Grundrechte, 1982, S. 53 ff.; Ingo Richter, Die Verwirklichung landesverfassungsrechtlicher Grundrechte - HessStaats-GH, NJW 1982, 1381, JuS 1982, 900ff.; Michael Sachs, Anmerkung zum Beschluß des BVerfG vom 24.03.1982, DÖV 1982, 595 ff ; Siegfried Jutzi, Grundrechte der Landesverfassungen und Ausführung von Bundesrecht, DÖV 1983, 836 ff; Christian Pestalozza, Die Bedeutung gliedstaatlichen Verfassungsrechts in der Gegenwart, NVwZ 1987, 744 (748 ff); Michael Sachs, Die Bedeutung gliedstaatlichen Verfassungsrechts in der Gegenwart, DVB1. 1987, 857 (862 f.); Jost Pietzcker, Bundesgrundrechte und Landesgrundrechte, JuS 1988, L9 ff ; Wolfgang März, Bundesrecht bricht Landesrecht, 1989, S. 180 ff ; Christian Starck, Verfassunggebung in Thüringen, ThürVBl. 1992, 10 ff; Siegfried Jutzi, Zum Verhältnis von Landesverfassungsrecht und Bundesrecht sowie zur Durchsetzungskraft landesverfassungsrechtlicher Grundrechte, ThürVBl. 1993 (Sonderheft), B15 ff ; Eckart Klein, Landesverfassung und Landesverfassungsbeschwerde, DVB1. 1993, 1329 ff ; Michael Sachs, Die Landesverfassung im Rahmen der bundesstaatlichen Rechts- und Verfassungsordnung, ThürVBl. 1993, 121 ff; dersVerfassungsrechtliche Anmerkungen zum Strafverfahren gegen Erich Honecker, ZfP 1993, 121 (132 f.); Ute Sacksofsky, Landesverfassungen und Grundgesetz - am Beispiel der Verfassungen der neuen Bundesländer, NVwZ 1993, 235 ff ; Johannes Dietlein, Landesgründrechte im Bundesstaat, Jura 1994, 57 ff; Horst Dreier, Einheit und Vielfalt der Verfassungsordnungen im Bundesstaat, in: Schmidt (Hrsg.), Vielfalt des Rechts - Einheit der Rechtsordnung?, 1994, S. 113 (127 ff); Dietrich Franke, Verfassungsgerichtsbarkeit der Länder Grenzen und Möglichkeiten, in: Däubler-Gmelin/Kinkel/Meyer/Simon (Hrsg.), Gegenrede, 1994, S. 923 ff ; Dietrich Franke/Reiner Kneifel-Haverkamp, Die brandenburgische Landesverfassung, JöR 1994, 111 (138 ff); Monika Jachmann, Bundesrecht (insbesondere Bundesverfassungsrecht) und Landesverfassungen, JuS 1994, L81 ff ; Thomas R. Wolf, Landesverfassungen in den neuen Ländern unter dem Grundgesetz, VR 1994, 117 ff ; Günter C. Burmeister, Von der Kunst der Landesverfassungsgebung, ZG 1995, 289 (304 ff); Stefan Endter, Zum Verhältnis von Bundesrecht und Landesverfassungsrecht und zur Reichweite der Prüfungskompetenz der Landesverfassungsgerichte, EuGRZ 1995, 227 ff ; Siegfried Jutzi, Staatsziele der Verfassung des Freistaats Thüringen, ThürVBl. 1995, 25 ff ; Ingo von Münch, Grundrechte im Bundesstaat, in: Bitburger Gespräche 1995/1, 61 (70 ff); Matthias Niedobitek, Neuere Entwicklungen im Verfassungsrecht der deutschen Länder, 3. Aufl. 1995; Stefan Storr, Verfassunggebung in den Ländern, 1995; Karl-Georg Zierlein, Prüfungs- und Entscheidungskompetenzen der Landesverfassungsgerichte bei Verfassungsbeschwerden gegen landes-

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Die Landeskompetenz für das Landesverfassungsrecht ist in ihren Rechtsgrundlagen wie in ihrem Umfang bis heute umstritten. Nach traditioneller Sichtweise sind für den Erlaß von Landesverfassungsrecht die allgemeinen Bestimmungen des Grundgesetzes über die Verteilung der Gesetzgebungskompetenzen auf Bund und Länder maßgeblich2. Landesverfassungsrecht könnte danach auf Gebieten der ausschließlichen Bundesgesetzgebung grundsätzlich gar nicht erlassen werden, im Bereich der konkurrierenden Gesetzgebungskompetenzen nur, solange und soweit der Bund von seiner Gesetzgebungsbefügnis nicht durch Gesetz Gebrauch gemacht hat, was bekanntlich in weitem Umfang geschehen ist. Dies gilt gerade auch aufgrund von Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG für die Bereiche Arbeitsrecht, Sozialversicherung und Arbeitslosenversicherung, die vor allem für Arbeitnehmerinteressen wichtig scheinen. Jedenfalls neues Landesverfassungsrecht wäre auf den genannten Gebieten von vornherein weitestgehend ausgeschlossen, auch bei einer Verfassungsreform hier im Saarland. Demgegenüber hat sich in den letzten Jahren mehr und mehr die Auffassung durchgesetzt, daß Landesverfassungen mehr regeln dürfen, als nach Art. 70 ff. GG allgemein durch Landesrecht geregelt werden kann. Zur Begründung werden unterschiedliche Modelle angeführt. Eine Auffassung will die Verfassungsgesetzgebung schlicht von den Regeln des Grundgesetzes über die Verteilung der Gesetzgebungskompetenzen freistellen: Verfassungsgesetzgebung soll nicht Gesetzgebung im Sinne des Grundgesetzes sein3. Überzeugen kann dies bei allem Respekt für die Besonderheiten des Verfassungsrechts kaum. Jedenfalls für die Bundesebene belegt Art. 79 GG nur allzu deutlich das Gegenteil, indem er die Grundgesetzänderungen als besonderen Fall der Bunrechtliche Hoheitsakte, die auf Bundesrecht beruhen oder in einem bundesrechtlich geregelten Verfahren ergangen sind, AöR 120 (1995), 205 (216 ff.); Erhard Derminger, Zum Verhältnis von Landesverfassung und Bundesrecht, in: Eichel/Möller (Hrsg.), 50 Jahre Verfassung des Landes Hessen, 1997, S. 344 ff.; Michael Sachs, Das materielle Landesverfassungsrecht, in: Burmeister (Hrsg.), Verfassungsstaatlichkeit - FS für Klaus Stern, 1997, S. 475 (492 ff.); Rudolf Steinberg, Landesverfassungsgerichtsbarkeit und Bundesrecht, in: Eichel/Möller (Hrsg.), 50 Jahre Verfassung des Landes Hessen, 1997, S. 356 ff. 2 So Theodor Maunz, in: Maunz/Dürig u.a., Grundgesetz, Art. 31, Rdn. 21; Gallwas (o. Fußn. 1), S. 539 UMärz (o. Fußn. 1), S. 180 ff ; Peter M Huber, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, 1996, Art. 31 Rdn. 9. 3 Vgl. Jost Pietzcker, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. IV, 1990, § 99 Rdn. 35, Jutzi (o. Fußn. 1), ThürVBl. 1993, S. B16, Jachmann (o. Fußn. 1), S. L82; Jutzi (o. Fußn. 1), ThürVBl. 1995, S. 27 f.; Niedobitek (o. Fußn. 1), S. 47; v. Olshausen (o. Fußn. 1), S. 157 ff.

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desgesetzgebung regelt; überhaupt gelten die Regeln, die das Grundgesetz für Gesetze aufstellt, durchweg auch für Bestimmungen des Grundgesetzes selbst. Die Kompetenzverteilungsregeln der Art. 70 ff. GG allerdings können in der Tat den grundgesetzändernden Gesetzgeber nicht einengen - sie stehen im Gegenteil grundsätzlich zu seiner Disposition. Doch läßt sich die Verfügungsgewalt des Bundesverfassungsgesetzgebers über die Kompetenzverteilung auf die Verfassungsautonomie der in den Bundesstaat eingefügten Länder nicht übertragen. In einem kompetenzverteilenden Bundesstaat scheint es vielmehr ausgeschlossen, daß ein Land allein deshalb völlig frei ist, beliebige Gegenstände - auch solche der ausschließlichen Bundesgesetzgebung, bis hin zur Verteidigung - zu regeln, nur weil dies in der Form des Landesverfassungsrechts geschieht; allein die Form, die ein Land für seine normativen Regelungen verwendet, kann für den Umfang seiner Regelungsbefugnisse im Bundesstaat nicht entscheidend sein. Tatsächlich wird die genannte Konsequenz denn auch regelmäßig vermieden, indem die Ausübung der Kompetenzen zur Landesverfassungsgesetzgebung in unterschiedlicher Weise Einschränkungen unterworfen wird. Überzeugender scheint mir eine andere Konzeption, eine besondere Landesgesetzgebungskompetenz für die Materie „Landesverfassung" 4. Diese Konzeption leitet einerseits die Kompetenz der Länder aus dem Grundgesetz ab und trägt damit der gliedstaatlichen Einordnung der Länder in den Gesaintstaat Rechnung, andererseits weist sie den Ländern die Kompetenz zur Gestaltung ihrer materiellen Verfassung grundsätzlich ganz allgemein zu und wird dadurch der im Bundesstaatsprinzip begründeten Eigenstaatlichkeit der Länder gerecht. Das Modell entspricht der Qualifikation der Verfassungsgesetzgebung als besonderer Kategorie der Gesetzgebung und folgt zugleich der Grundstruktur der Kompetenzordnung des Grundgesetzes für die Gesetzgebung, wonach bestimmte Kompetenzmaterien zur Regelung zugewiesen sind. Wo genau die Basis der genannten Kompetenz im Grundgesetz zu sehen ist, scheint dabei beinahe sekundär: In Betracht kommen die im Bundesstaatsprinzip enthaltene Eigenstaatlichkeit der Länder als solche, ihre in Art. 28 Abs. 1 GG vorausgesetzte Verfassungsautonomie oder auch „die Natur der Sache", speziell für die Grundrechte ferner Art. 142 GG. 4 So Sachs (o. Fußn. 1), ThürVBl. 1993, S. 122; Sacksofsky (o. Fußn. 1), S. 239; Franke/Kneifel-Haverkamp (o. Fußn. 1), S. 144; Zierlein (o. Fußn. 1), S. 218 f.; Sachs (o. Fußn. 1), in: FS-Stern, S. 497 f.

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Im Ergebnis sind für die möglichen Inhalte der Landesverfassung nicht allein die einschnürenden Kompetenzkataloge der Art. 73 ff. GG maßgeblich; ebensowenig wird den Ländern aber der Zugriff auf beliebige Materien allein deshalb eröffnet, weil sie sich der Form des Landesverfassungsgesetzes bedienen. Das Problem liegt natürlich in der Abgrenzung der Kompetenzmaterie „Landesverfassung". Der dafür grundlegende Begriff des materiellen Verfassungsrechts umfaßt-wie schon zu Zeiten Georg Jellineks - erstens die Grundsatzfragen der staatlichen Organisation und zweitens die grundsätzliche Stellung des einzelnen gegenüber der Staatsgewalt, darüber hinaus müssen angesichts der Verfassungsentwicklung drittens grundsätzlich bedeutsame materiale Wertvorstellungen und Zielsetzungen des jeweiligen Staates auch für den gesellschaftlichen Bereich einbezogen werden. Dementsprechend gehören zur materiellen Landesverfassung die Grundsatzfragen der staatlichen Organisation im Lande, die grundsätzliche Stellung der einzelnen zur Landesstaatsgewalt und die Festlegung von grundsätzlich bedeutsamen Zielsetzungen und Werten für die Landesstaatsgewalt. Die zielund wertsetzende Dimension von Verfassungsrecht kann darüber hinaus auch die Basis für grundsätzlich bedeutsame unmittelbare Regelungen über das Verhältnis der Menschen im Lande zueinander sein. Dieser Begriff der materiellen Landesverfassung ist durch das Element des grundsätzlich Bedeutsamen teilweise für Wertungen offen, die nur der jeweilige Verfassungsgesetzgeber selbst authentisch treffen kann. Daraus ergibt sich eine Unterscheidung zwischen originär, allein von ihrem Gegenstand her zur Landesverfassung gehörenden Materien, und gewillkürten Elementen der materiellen Landesverfassung, die nur aufgrund entsprechender Bewertung durch den Landesverfassungsgesetzgeber zur Materie Landesverfassung zu zählen sind. Im zweiten Fall gehört eine Materie nur dann zur „Landesverfassung", wenn sie in der formellen Landesverfassung geregelt ist. Unabhängig von solcher Verankerung läßt sich wohl nur das Recht der zentralen Verfassungsorgane zum materiellen Landesverfassungsrecht rechnen: Wenn etwa der Status der Landtagsabgeordneten oder die Befugnisse eines Untersuchungsausschusses in Landesgesetzen außerhalb der Verfassungsurkunde gestaltet werden, handelt es sich gleichwohl materiell um Fragen der Landesverfassung, für die dem Land deshalb die Gesetzgebungskompetenz zusteht. Dagegen erlangen Regelungen der Verhältnisse des einzelnen zum Staat nur dadurch Verfassungsqualität, daß sie im formellen Landesverfassungsrecht verankert und dadurch für die gesamte Staatsgewalt im Lande, insbeson-

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dere für die Landesgesetzgebung, verbindlich werden. Ebenso werden Staatszielbestimmungen und ähnliche Festlegungen nur zu Bestandteilen des materiellen Landesverfassungsrechts, wenn sie in die Verfassungsurkunde des Landes aufgenommen werden. Grenzen für die authentische Erhebung zu materiellem Landesverfassungsrecht ergeben sich aus dem in der Bundestreue wurzelnden Mißbrauchsverbot, die Form des Landesverfassungsrechts darf nicht nur verwendet werden, um auf allein bundesrechtlich geprägten Gebieten politisch Einfluß zu nehmen. Die Landesgesetzgebungskompetenz für die Materie Landesverfassung kann für Einzelbereiche durch spezielle Bestimmungen des Grundgesetzes ausgeschlossen sein; mit Rücksicht auf Art. 79 Abs. 3 GG und das Bundesstaatsprinzip ist dies allerdings nicht unbegrenzt zulässig, in Frage kommende Grundgesetzbestimmungen dürfen aus Respekt vor der Eigenstaatlichkeit der Länder nur zurückhaltend in diesem Sinne interpretiert werden. Namentlich besteht regelmäßig für das Grundgesetz kein Anlaß, die Landeskompetenzen zu verkürzen, soweit es um Landesverfassungsgesetze geht, die auf jeden aktuellen Geltungsanspruch im Falle entgegenstehenden Bundesrechts verzichten. Hierauf wird zurückzukommen sein. Auch wird man im Hinblick auf das vom Grundgesetz gewollte Nebeneinander getrennter Verfassungsräume von Bund und Ländern mit je eigener Verfassungsgerichtsbarkeit generell annehmen dürfen, daß im Grundgesetz selbst enthaltene Durchgriffsregelungen von Fragen der Landesverfassung keine kompetenzverbrauchende Wirkung gegenüber den Ländern beanspruchen - dies wird etwa in Art. 142 GG für die Grundrechte ausdrücklich vorausgesetzt. Beim Verhältnis der Landeskompetenz für das materielle Landesverfassungsrecht zu grundgesetzlich begründeten Bundesgesetzgebungskompetenzen muß sorgfaltig differenziert werden: Ist das Thema der Bundeskompetenz spezifisch auch auf Fragen der Landesverfassung ausgerichtet, spricht das für ihre verdrängende Wirkung; gehört ein Regelungsgegenstand allerdings zum originären Landesverfassungsrecht, legt dies regelmäßig die Anerkennung einer Landeskompetenz nahe. Weitergehende allgemeine Aussagen sind hierzu kaum möglich. Beispielhaft kann für den gezielten Ausschluß der originären Kompetenz für die Landesverfassung Art. 21 Abs. 3 GG genannt werden, der das Thema der politischen Parteien auch hinsichtlich der Landesebene abschließend erfaßt. Dagegen sollen die bundesrechtlichen Kündigungsschutzregelungen aufgrund der nicht verfassungsspezifischen Kompetenzbestimmung des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG den Ländern nicht die Möglichkeit nehmen, für ihre Abge-

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ordneten besondere, vorrangige Kündigungsschutzregelungen zu treffen, und zwar auch durch einfaches Landesgesetz, weil es um originäres Landesverfassungsrecht geht. Dagegen müßte ein Kündigungsschutz für ehrenamtliche Richter schon durch formelle Verfassungsbestimmung zum Teil der materiellen Verfassung des Landes erhoben werden, wie dies etwa in Brandenburg geschehen ist. Angesichts der Entfernung der geregelten Frage von den Zentralfragen der Landesverfassungsorganisation bleibt die Landeskompetenz auch dann davon abhängig, daß die bundesgesetzlichen Regelungen so verstanden werden können, daß sie gegenüber gewillkürtem Landesverfassungsrecht keine Sperrwirkung entfalten. Im Sinne restriktiver Auslegung mag sich dabei auch die Erforderlichkeitsklausel des neuen Art. 72 Abs. 2 GG auswirken können. Nach allem entzieht sich die Landesgesetzgebungskompetenz für die materiell zur Landesverfassung gehörenden Fragen jeder einheitlichen Formel. Ihr Umfang kann im einzelnen nur durch wechselseitig bundesfreundliche Auslegung der einschlägigen Normen des Grundgesetzes, der Bundesgesetze und der Landesverfassungen bestimmt werden. Kompetenzgerecht erlassenes Landesverfassungsrecht kann gleichwohl ungültig sein, wenn es zu einer Konkurrenz mit Bundesrecht kommt, wenn also für denselben Sachverhalt jeweils kompetenzgetragene Regelungen des Bundesrechts und des Landesverfassungsrechts nebeneinander Geltung beanspruchen. Inwieweit es zu dieser Situation kommt oder auch nur kommen kann, hängt maßgeblich davon ab, wie die Kompetenzfragen gelöst werden. Bei Bindung der Landesverfassungskompetenz an die Art. 70 ff. GG kann es mangels Doppelkompetenz kaum je zu einem solchen Nebeneinander kommen; dagegen würde sich eine solche Normenkonkurrenz besonders häufig ergeben, wenn die formelle Landesverfassungsgesetzgebung schlechthin von den Regeln über die Verteilung der Gesetzgebungskompetenzen freigestellt würde. Bei Orientierung an einer Landeskompetenz für eine inhaltlich nicht abschließend bestimmte materielle Landesverfassung können Kollisionen durch wechselseitige Rücksichtnahme der Normsetzer und entsprechende Interpretation vielfach vermieden werden. Überhaupt besteht heute weitgehend Einigkeit darüber, daß nicht jede Konkurrenz zu Bundesrecht Bestimmungen der Landesverfassung in ihrer Geltung in Frage stellt; sie sollen namentlich dann unberührt bleiben, wenn sie mit Bundesrecht inhaltlich übereinstimmen5, - so für Grundrechtsbestimmungen ausdrücklich Art. 142 GG.

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Für die Gültigkeit der Landesverfassungsbestimmungen spielen vielmehr nur Normenkollisionen eine Rolle, also das Zusammentreffen mit widersprechendem Bundesrecht. Ein relevanter Normwiderspruch ist anzunehmen, wenn die Anwendung der konkurrierenden Normen zu Ergebnissen fuhrt, die miteinander unvereinbar sind. Bei landesverfassungsrechtlichen Grundrechten besteht daher eine Unvereinbarkeit mit den Grundrechten des Grundgesetzes regelmäßig nicht. Solange Grundrechtsnormen nur überhaupt in dieselbe Richtung wirken, namentlich Freiheit vom Staat garantieren, können sie miteinander nicht kollidieren, unabhängig davon, ob die eine oder die andere Garantie den weiteren Umfang hat. Ein Widerspruch zu einer Freiheitsgarantie ergibt sich nur, wenn eine Verfassungsnorm Ge- oder Verbote aufstellt, die die Freiheit einschränken. So konnte der landesverfassungsrechtliche Ausschluß der Aussperrung in Hessen - abgesehen vom Verhältnis zum einfachgesetzlichen Bundesrecht6 - auch als Widerspruch zu Art. 9 Abs. 3 GG aufgefaßt werden, weil der danach garantierte Schutz der Koalitionsfreiheit auch auf ihre Betätigung durch Aussperrung erstreckt wird 7. Es bleibt ein weiterer Gesichtspunkt, der bis heute meist nicht hinreichend beachtet wird: Eine Nonnenkollision setzt in jedem Fall voraus, daß die landesverfassungsrechtliche Bestimmung neben widersprechendem Bundesrecht überhaupt Geltung beansprucht. Dies erscheint schon aufgrund der gliedstaatlichen Natur der Landesverfassung zumindest in aller Regel ausgeschlossen, denn dazu müßte die Bestimmung der Landesverfassung eine Geltung beanspruchen, die von vornherein ultra vires läge. Dies wird bei den verschiedenen Formen der Relevanz des Landesverfassungsrechts nochmals zu berücksichtigen sein. Meinungsverschiedenheiten bestehen auch über die Konsequenzen einer Normenkollision für die Geltung von Landesverfassungsbestimmungen. Hier geht die überkommene Sichtweise aufgrund des Art. 31 GG als Ausdruck der Normenhierarchie von der Nichtigkeit des niederrangigen Landesverfassungsrechts aus8. Wenn Bundesrecht Landesrecht bricht, ist dieses zumindest grundsätzlich nichtig.

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A.A. Huber (o. Fußn. 2), Art. 31 Rdn. 11,12. Entscheidend hierauf abstellend BAGE 58, 138 (144 ff). Jedenfalls für bestimmte Konstellationen so BVerfGE 84, 212 (224 f.).

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Demgegenüber wollen andere Stimmen dem Bundesrecht gegenüber dem Landesverfassungsrecht nur einen Anwendungsvorrang einräumen9. Danach würde Landesverfassungsrecht von widersprechendem Bundesrecht nur überlagert werden, bliebe aber in suspendierter Geltung und würde bei späterem Wegfall des Bundesrechts zu aktueller Geltung erstarken. Diese Auffassung findet im Grundgesetz wohl keine hinreichende Grundlage; doch gelangt man - wie bereits angedeutet - auf anderem Wege zu vergleichbaren Ergebnissen. Die Geltungsbedingungen des Landesverfassungsrechts allein lassen seine Relevanz allerdings erst in gröbsten Umrissen erkennen, sie können sogar einen unzutreffenden Eindruck erwecken. Denn zwar gibt es keine normative Relevanz ohne rechtliche Geltung; doch umgekehrt führt die rechtliche Geltung an sich noch nicht notwendig zu voller normativer Relevanz. Die Geltung von Landesverfassungsnormen unter den beschriebenen Bedingungen läßt vielmehr Raum für ganz unterschiedliche Erscheinungsformen abgestufter rechtlicher Relevanz. Die regelmäßige Wirkung geltender Normen-auch solcher des Landesverfassungsrechts- besteht darin, daß sie die vorgesehenen materiellen Rechtswirkungen aktuell auslösen. Landesverfassungsrechtliche Regelungen besitzen diese vollwertige Relevanz nur, soweit für den geregelten Gegenstand keinerlei Bundesrecht besteht. Gerade auf den für Arbeitnehmerinteressen zentral bedeutsamen Gebieten des Arbeitsrechts sowie der Sozialversicherung einschließlich der Arbeitslosenversicherung hat der Bund aber von seinen Gesetzgebungskompetenzen nach Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG extensiven Gebrauch gemacht. Vom Bundesrecht unberührte Restbereiche für die Landesgesetzgebung bestehen etwa im Urlaubsrecht, namentlich für den Bildungs- oder Weiterbildungsurlaub. Insoweit können verfassungsrechtliche Verpflichtungen des Landesgesetzgebers, wie in Art. 33 Brandenburger Verfassung, aktuelle materiellrechtliche Relevanz erlangen.

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Klaus Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 1, 2. Aufl. 1984, § 19 ΠΙ 7 e α, S. 721; Sachs (ο. Fußn. 1), DVB1. 1987, S. 862; Pietzcker (o. Fußn. 3), § 99 Rdn. 40; Sachs (o. Fußn. 1), ThürVbl. 1993, S. 124; Jachmann (ο. Fußn. 1), S. L82; Jutzi (ο. Fußn. 1), ThürVBl. 1995, S. 29; Zierlein (ο. Fußn. 1), S. 225. 9 v. Olshausen (ο. Fußn. 1), S. 125 ff ; Gallwas (o. Fußn. 1), S. 538 f.; Sacksofsky (o. Fußn. 1), S. 239; Franke/Kneifel-Haverkamp (o. Fußn. 1), S. 147; Endter (o. Fußn. 1), S. 229.

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Eine Regelungslücke besteht im Bundesrecht wohl auch im Hinblick auf gewerkschaftliche Zutrittsrechte, jedenfalls soweit solche Rechte unabhängig von arbeitsvertraglichen Beziehungen für betriebsfremde Gewerkschaftsangehörige gelten sollen10. Auch hier wären aktuell relevante Landesverfassungsnormen wohl möglich11. Auswirkungen auf Arbeitsverhältnisse können sich ferner aus Regelungen ergeben, die unter anderem, speziellerem Aspekt in die Landesgesetzgebungskompetenz fallen und sich gegenüber allgemeineren Normen des Bundesrechts durchsetzen. Hierher mögen Bestimmungen über ehrenamtliche Tätigkeiten und die Wahrnehmung staatsbürgerlicher Rechte im Lande gehören; hierzu finden sich in mehreren Landesverfassungen, unter anderem auch hier im Saarland, Garantien der Freistellung gerade von arbeitsrechtlichen Verpflichtungen. Ein anderes Reservat der Landesgesetzgebung mit Auswirkungen auf Arbeitsverhältnisse ist das Feiertagsrecht, das gleichfalls in verschiedenen Landesverfassungen figuriert. Die Verpflichtung zur Entgeltzahlung an Feiertagen, wie sie die saarländische Verfassung kennt, greift allerdings über das den Ländern vorbehaltene Feiertagsrecht hinaus in den Bereich des Arbeitsrechts über und wird vom Entgeltfortzahlungsgesetz des Bundes jedenfalls seiner aktuellen materiellrechtlichen Relevanz beraubt. Einen Sonderfall bildet das Arbeitskampfrecht, das bis heute weder auf Bundes- noch auf Landesebene eine gesetzliche Regelung erfahren hat. Die maßgeblich vom Bundesarbeitsgericht geprägte Judikatur hat insoweit zwar die fehlenden gesetzlichen Grundlagen ersetzen müssen, ist dadurch aber nicht selbst zum Bundesgesetz geworden12. Die auch hier maßgebliche konkurrierende Gesetzgebungskompetenz für das Arbeitsrecht könnte daher wohl auch vom Landesgesetzgeber genutzt werden. Im Falle einer solchen landesgesetzlichen Regelung wäre auch einschlägiges Landesverfassungsrecht zu beachten; stellt es weitergehende Anforderungen als das Grundgesetz, wäre dies auch aktuell materiellrechtlich relevant. - Praktisch könnte dies für Art. 56 der Saarländischen Verfassung sein, wonach vor einem Streik alle Schlichtungsmöglichkeiten erschöpft sein müssen. 10

Vgl. zur Differenzierung BVerfGE 57, 220 (245 ff.); 93, 352 (360 f.). Vgl. Art. 51 Abs. 2 Satz 2 BrandVerf., wo allerdings nur ein Zutrittsrecht „nach Maßgabe der Gesetze" vorgesehen ist; nach Uwe Berli t, in: Simon/Franke/Sachs, Handbuch der Verfassung des Landes Brandenburg, 1994, § 9 Rdn. 11, soll es freilich auch insoweit an landesrechtlichen Umsetzungsmöglichkeiten fehlen. 12 Den Unterschied zwischen der lückenfüllenden, „richterrechtlichen" Rechtsfortbildung der Arbeitsgerichte und einer gesetzlichen Regelung betonen speziell für diesen Bereich etwa BVerfGE 84,212 (227) m.w.N.; 88, 103 (115 f.); BAG 58, 138 (149) m.w.N. 11

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Wieder anders liegt es beim landesverfassungsrechtlichen Recht auf Arbeit: Versteht man dieses Recht - mit den Landesverfassungsgerichten in Hessen13 und zuletzt hier im Saarland14 - allenfalls als institutionelle Garantie von Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung, kann es neben den Regelungen des bundesrechtlichen Arbeitsförderungsgesetzes keine aktuelle materiellrechtliche Relevanz erlangen. Insgesamt ist für den Bereich spezieller Arbeitnehmerinteressen festzuhalten, daß wegen der sehr weitgehenden bundesrechtlichen Regelungen einschlägige landesverfassungsrechtliche Garantien aktuell materiellrechtliche Relevanz zumal gegenüber dem Landesgesetzgeber nur begrenzt auf wenige enge Nischen entfalten können. Neben inhaltlich übereinstimmendem Bundesrecht kann von eigenständiger Bedeutung von Landesverfassungsrecht insoweit keine Rede sein, als die maßgeblichen materiellen Rechtsfolgen bereits aufgrund des Bundesrechts, insbesondere aufgrund des Grundgesetzes15 selbst, eintreten. Praktisch geht es hier vor allem um die Fälle paralleler Grundrechtsgewährleistungen im Grundgesetz und in den Landesverfassungen. Die Existenz inhaltsgleicher Landesverfassungsnormen ändert an der schon durch das Bundesrecht festgelegten materiellen Rechtslage im Ergebnis nichts. Die für das sachliche Ergebnis nicht entscheidenden Landesverfassungsnormen sind deshalb aber nicht ohne jede aktuelle rechtliche Bedeutung; sie können vielmehr verfassungsprozessual auf Landesebene Relevanz erlangen. Dies gilt namentlich für Verfahren zur Überprüfung von Landesrecht, zumal für abstrakte und konkrete Normenkontrollverfahren; in landesverfassungsrechtlichen Verfassungsbeschwerdeverfahren kann derartiges Landesverfassungsrecht außerdem grundsätzlich als Maßstab für das Verhalten der Gerichte und Verwaltungsbehörden des Landes dienen. Die Überprüfung von Gesetzen durch das Landesverfassungsgericht kommt allerdings nur für Landesgesetze in Betracht - damit wird auch diese Form der 13

ESVGH 22, 13(17). NJW 1996, 383 (385) = JuS 1996, 743 f. (Sachs). 15 Im übrigen ist zu denken an Bindungen des Bundesrahmenrechts oder an Bindungen, die sich bei partieller bundesrechtlicher Ausgestaltung von Gegenständen der ausschließlichen oder konkurrierenden Gesetzgebung für die im übrigen rückermächtigte oder möglich gebliebene Landesgesetzgebung aus dem Bundesrecht ergeben. Beispiel: Rückermächtigung des auf ausschließlicher Bundeskompetenz nach Art. 21 Abs. 3 GG beruhenden früheren ParteienG an den Landesgesetzgeber zur Regelung der Wahlkampfkostenerstattung bei den Landtagswahlen mit näheren verbindlichen Ausgestaltungsvorgaben, dazu VerfGHNW, NVwZ 1992, 57 = NWVB1. 1992, 275 = JuS 1993, 334 f. (Sachs). 14

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Relevanz durch die vorherrschenden bundesgesetzlichen Regelungen der fur Arbeitnehmerinteressen zentralen Materien weitestgehend zurückgedrängt. Wo Landesverfassungsrecht neben konkurrierendem Bundesrecht unanwendbar ist, fehlt ihm allerdings jede, auch nur verfassungsprozessuale, aktuelle Relevanz; besteht auch dann immerhin eine virtuelle Relevanz, soweit das Landesverfassungsrecht nicht nichtig ist, sondern nur ein Anwendungsvorrang des Bundesrechts besteht, besteht auch dann immerhin eine virtuelle Relevanz. Wie erwähnt, wird bloßer Anwendungsvorrang von manchen dann angenommen, wenn Landesverfassungsrecht mit Bundesrecht kollidiert. Zu entsprechenden Ergebnissen gelangt man aber weitgehend auch ohne die kaum zu begründende Annahme abgemilderter Kollisionsfolgen, wenn man das Landesverfassungsrecht selbst in seinen gliedstaatsspezifisch begrenzten Wirkungsmöglichkeiten zutreffend erfaßt - auch das habe ich bereits angedeutet. In einem gesamtstaatlichen Rechtssystem, das vom Vorrang kollidierenden Bundesrechts beherrscht wird, muß ein loyaler Verfassungsgesetzgeber im Lande von vornherein darauf verzichten, sich zu Bundesrecht in Widerspruch zu setzen. Dementsprechend sind Bestimmungen der Landesverfassungen, soweit irgend möglich, dahin auszulegen, daß sie gegenüber kollidierendem Bundesrecht keine aktuelle Relevanz beanspruchen. Landesverfassungsrecht gilt demnach grundsätzlich nur unter der ausgesprochenen oder unausgesprochenen Bedingung, daß es nicht zu Bundesrecht in Widerspruch steht. Solange und soweit eine Bestimmung des Landesverfassungsrechts wegen kollidierenden Bundesrechts auf nur virtuelle Geltung beschränkt ist, kann sie keinerlei Rechtswirkungen entfalten; sie mag allenfalls im Rahmen eines systematischen Zusammenhangs zur Interpretation anderer Bestimmungen der Landesverfassung beitragen, soweit dies nicht zu Widersprüchen zum Bundesrecht fuhrt. Garantien des Landesverfassungsrechts für arbeitnehmerspezifische Belange haben durchweg nur die beschriebene virtuelle Relevanz. Namentlich können die Staatszielbestimmungen und Gesetzgebungsaufträge, die in Landesverfassungen etwa zu Fragen des Arbeitsschutzes, der Sozialversicherung, der Arbeitslosenversicherung, der Tarifverträge, der Arbeits- und Sozialgerichtsbarkeit, des Frauen- und Jugendschutzes, der Arbeitszeit, des Erholungsurlaubs oder der Betriebsräte enthalten sind, nur auf die Landesstaatsgewalt, insbesondere die Landesgesetzgebung bezogen werden. Diese Verfassungsaufträge beanspruchen keine aktuelle Relevanz, solange der Landesgesetzgeber mangels Verbandskompetenz kraft Bundesrechts nicht tätig werden darf. Sie sind damit allesamt nur für den wenig wahrscheinlichen

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Fall von Bedeutung, daß die insoweit bestehenden bundesgesetzlichen Regelungen auf dieser Ebene ersatzlos aufgehoben werden. Nur virtuelle Bedeutung wegen sachlicher Unvereinbarkeit unmittelbar geltenden Landesverfassungsrechts mit dem Inhalt des Bundesrechts spielt demgegenüber praktisch kaum eine Rolle; die wenigen einschlägigen Gewährleistungen stimmen entweder mit grundgesetzlichen Garantien überein, wie bei der Koalitionsfreiheit, oder doch mit Regelungen einfacher Bundesgesetze, wie bei der Lohngleichheit von Männern und Frauen. Neben den dargestellten Abstufungen normativer Relevanz überhaupt möchte ich noch Grenzen der rechtlichen Relevanz landesverfassungsrechtlicher Bestimmungen in der Rechtsanwendung ansprechen, und zwar für zwei verschiedene Bereiche. Zum einen stellt sich die Frage, ob Landesverfassungsrecht auch für Bundesorgane verbindlich sein kann. Dies läßt sich - entgegen vielen anderslautenden Stimmen16 - nicht allgemein verneinen17. Richtig ist allerdings in der Tat, daß Landesverfassungsrecht für Bundesorgane selbst nicht als Verfassungsrecht Verbindlichkeit beanspruchen kann; insbesondere gehören Landesverfassungen für den Bundesgesetzgeber schon wegen Art. 31 GG nicht zu der für ihn nach Art. 20 Abs. 3, 1. Halbsatz GG allein maßgeblichen „verfassungsmäßigen Ordnung". Dagegen ist eine Bindung von Verwaltungsbehörden und Gerichten des Bundes an Landesverfassungsrecht durchaus möglich, ebenso wie sie auch sonst an gültiges Landesrecht gebunden sind, soweit es für ihre Entscheidungen darauf ankommt. Dies folgt daraus, daß nach Art. 20 Abs. 3, 2. Halbsatz GG die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung „an Gesetz und Recht gebunden" sind. Dazu gehört in der bundesstaatlichen Rechtsordnung auch das Landesrecht. Die Bindung an die geltenden Landesgesetze erstreckt sich auch auf die Bestimmungen der Landesverfassung, allerdings nur, soweit diese durch die allgemeinen Gesetzgebungskompetenzen des Landes gedeckt sind. In diesem Falle kann nicht vom Bundesrecht verdrängtes, unmittelbar geltendes Landesverfassungsrecht als schlichtes Landesrecht gegenüber jedem Normadressaten, auch wenn dies der Bund ist, und gegenüber jedem Rechtsanwendungsorgan, auch wenn dies Gerichte oder Verwaltungsbehörden des Bundes sind, Beachtung beanspruchen.

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Monika Jachmann, Die Relevanz der Grundrechte der Bayerischen Verfassung, BayVBl. 1997, 321 m.w.N. 17 So auch Jutzi (o. Fußn. 1), DÖV 1983, S. 840.

Die Relevanz landesverfassungsrechtlicher Regelungen

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Besondere praktische Bedeutung hat diese Gesetzeswirkung des Landesverfassungsrechts im Zusammenhang mit speziellen Arbeitnehmerinteressen mangels einschlägiger Regelungen wohl nicht; zu denken wäre etwa an die landesverfassungsunmittelbare Festlegung eines Feiertages, die auch für Stellen des Bundes - als Arbeitgeber oder als Rechtsanwender - maßgeblich wäre. Mittelbar können sich auch spezifisch verfassungsrechtliche Wirkungen von Landesverfassungsrecht auf die Tätigkeit der Bundesgerichte und Bundesbehörden auswirken, soweit das Landesverfassungsrecht nämlich für die Gültigkeit anzuwendender Landesrechtsnormen maßgeblich ist. Für formelle und nachkonstitutionelle Landesgesetze spricht Art. 100 Abs. 1 GG dies im Hinblick auf die Vorlagepflicht der Gerichte, zu denen auch die Bundesgerichte gehören, sogar ausdrücklich aus. Begrenzt ist die Relevanz des Landesverfassungsrechts für die Rechtsanwendung zum zweiten hinsichtlich der Frage, inwieweit Landesgerichte bei der Anwendung von Bundesrecht berechtigt bzw. verpflichtet sind, auch landesverfassungsrechtliche Bestimmungen zu beachten, und ob sie insoweit von den Landesverfassungsgerichten kontrolliert werden können 18 . Angesichts di-

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Zu dieser Frage siehe Johannes Dietlein, Die Grundrechte in den Verfassungen der neuen Bundesländer, 1993, S. 14 ff.; Klein (o. Fußn. 1), S. 1334; Johannes Dietlein, Landesverfassungsbeschwerde und Einheit des Bundesrechts, NVwZ 1994, 6 ff.; Franke (o. Fußn. 1), S. 933 ff.; Jachmann (o. Fußn. 1), S. L83 ff.; Philip Kunig, Die rechtsprechende Gewalt in den Ländern und die Grundrechte des Landesverfassungsrechts, NJW 1994, 687 ff.; Jochen Rozek, Landesverfassungsgerichtsbarkeit, Landesgrundrechte und die Anwendung von Bundesrecht, AöR 119 (1994), 450 ff.; Katharina Sobota, Kompetenzen der Landesverfassungsgerichte im Bundesstaat: Zersplittert die Rechtseinheit?, DVB1. 1994, 793 ff.; Bmvieister (o. Fußn. 1), S. 306 IT.; Endter (o. Fußn. 1), S. 229 ff.; Jürgen Held, Die Verfassungsbeschwerde zum Verfassungsgerichtshof Rheinland-Pfalz, NVwZ 1995, 534 ff.; Zierlein (o. Fußn. 1), S. 205 ff.; Stefan Storr, Das Grundgesetz als „mittelbare Landesverfassung"?, ThürVBl. 1997, 121 ff.; insbes. zur Honecker-Entscheidung: Richard Bartlspetger, Einstellung des Strafverfahrens von Verfassungs wegen, DVB1. 1993, 333 ff.; Jörg Berkemann, Ein Landesverfassungsgericht als Revisionsgericht - Der Streitfall Honecker, NVwZ 1993, 409 ff.; Jürgen Gebh, Bricht Berliner Landesrecht Bundesrecht?, DÖV 1993, 470 ff.; Wolfgang Löwer, Kritische Anmerkungen zum Beschluß des Verfassungsgerichtshofes des Landes Berlin in Sachen Honecker, SächsVBl. 1993, 73 ff.; Dieter Meiner, Der Verfassungsgerichtshof und das Strafverfahren, JR 1993, 89 ff., Hans-Ullrich Paejfgen, Wozu dient der Strafprozeß und inwieweit darf ein Landesverfassungsgericht in ihn intervenieren?, NJ 1993, 152 (157 ff.); Christian Pestalozza, Der „Honecker-Beschluß" des Berliner Verfassungsgerichtshofs, NVwZ 1993, 340 ff.; Sachs (o. Fußn. 1), ZfP 1993, S. 130 ff.; Christian Starck, Der Honecker-Beschluß des Berliner VerfGH, JZ 1993, 231 ff.; Rudolf Wassermann, Zum Ende des Honecker-Verfahrens, NJW 1993, 1567; Dieter Wilke, Landesverfassungsgerichtsbarkeit und Einheit des Bundesrechts, NJW 1993, 887 ff.; Martin Böckstiegel, Der gesetzliche (Verfassungs-) Richter-ein Suchspiel?, LKV 1994, 355 ff.; Eckart Klein/Andreas Haratsch, Landesverfassung und

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vergierender Auffassungen verschiedener Landesverfassungsgerichte 19 ist die Problematik dem Bundesverfassungsgericht zur Entscheidung vorgelegt worden20 Mir scheint in diesem Bereich nur, aber doch immerhin eine ergänzende Relevanz des Landesverfassungsrechts möglich, nämlich dann, aber auch nur dann, wenn das anzuwendende Bundesrecht für seine verfahrensrechtliche Handhabung oder für die Entscheidung in der Sache Spielräume offenläßt, in denen die rechtsanwendenden Organe Entscheidungsfreiheit genießen. Soweit das Bundesrecht die Handlungsspielräume der Entscheidungsträger nicht zwingend für den Einzelfall bewahren will, kann das Landesverfassungsrecht den betroffenen Landesorganen für die Nutzung der bundesrechtlich offengelassenen Spielräume verbindliche Vorgaben machen. Die aufgezeigte Problematik hat bislang, soweit ersichtlich, in den spezifisch für Arbeitnehmerinteressen bedeutsamen Gerichtszweigen der Arbeitsund Sozialgerichtsbarkeit keine Bedeutung erlangt. Soweit es um die Verletzung prozessualer Grundrechte, namentlich des rechtlichen Gehörs geht, können sich die entsprechenden Fragen in allen Gerichtsbarkeiten gleichermaßen stellen; sie werfen wohl keine für Arbeitnehmerinteressen spezifischen Probleme auf. Ein Rückgriff der zuständigen Gerichte auf materielle landesverfassungsrechtliche Grundrechte wird zumeist schon deswegen ausscheiden, weil das primär maßgebliche Bundesrecht keine landesverfassungsrechtlich auszufüllenden Spielräume enthält. Wo es solche Spielräume gibt, wird der Rückgriff auf arbeitnehmerspezifische Gewährleistungen des Landesverfassungsrechts insofern scheitern, als es um reine Gesetzgebungsaufträge geht, die nur den Landesgesetzgeber zu Regelungen verpflichten und ohne gesetzliche Umsetzung wirkungslos bleiben. Soweit Staatszielbestimmungen oder „soziale Grundrechte" auch allgemeinere Wertfestlegungen enthalten, können diese Bundesrecht- BerlVerfGH, NJW 1993, 515, JuS 1994, 559 ff; Jachmann (o. Fußn. 16), S. 321 ff 19 BerlVerfGH, NJW 1993, 515 = JuS 1993, 594 Nr. 1; NJW 1993, 513 = JuS 1993, 595 Nr. 2; NJW 1994, 436 = JuS 1994, 520 Nr. 1; DVB1. 1994, 1189 = JuS 1995, 453 Nr. 2 - bejaht Prüfungskompetenz für den Fall, daß die landes verfassungsrechtliche Kontrollnorm inhaltsgleich mit einer Grundgesetznonn ist; dagegen verneinen HessStGH und BayVerfGH eine Prüfungskompetenz, eine Ausnahme wird nur unter dem Willküraspekt zugelassen: ESVGH 19, 7 (9); 30, 1 (2 f.); 31, 161 (164); 31, 174; 34, 12; HessStGH StAnz 1994, 738; StAnz 1994, 1488; BayVerfGHE 37, 85 (86); 43, 170 (171 f.); NJW 1975, 301; NJW 1975, 302 (303). 20 SächsVerfGH (Vorlagebeschluß v. 21.09.1995), NJW 1996, 1736 = SächsVBl. 1995, 260 = DVB1. 1996, 102.

Die Relevanz landesverfassungsrechtlicher Regelungen

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aber auch für die Ausfüllung von bundesrechtlich offengelassenen Spielräumen der Rechtsanwendung bedeutsam sein. Einschlägige Fälle sind mir nicht bekannt geworden, vielleicht kann aber Herr Hanau heute mittag doch von solchen Fällen berichten. Insgesamt bleibt die Relevanz landesverfassungsrechtlicher Bestimmungen überhaupt und gerade für den Bereich der Arbeitnehmerinteressen von untergeordneter Bedeutung; auch wenn man die nur verfassungsprozessuale und die nur virtuelle, die nur einfachgesetzliche und die nur bundesrechtsergänzende Relevanz mitberücksichtigt, bleibt doch für Arbeitnehmerinteressen praktisch im wesentlichen allein das Bundesrecht und damit auch nur das Bundesverfassungsrecht entscheidend. Deshalb will ich zum Schluß noch kurz auf eine gänzlich andere Möglichkeit der Relevanz des Landesverfassungsrechts hinweisen, nämlich auf die Relevanz landesverfassungsrechtlicher Bestimmungen für die Mitwirkung der Länder im Bundesrat, insbesondere die an der Bundesgesetzgebung. Grundsätzlich gehört die Landesregierung, die nach Art. 51 Abs. 1 GG die Mitglieder des Bundesrates für das jeweilige Land stellt, zu den Landesverfassungsorganen, die durch die Landesverfassung verpflichtet werden können. Bei ihrer Mitwirkung im Bundesrat treten die von den Landesregierungen bestellten Mitglieder des Bundesrates indes aus dem Wirkungsbereich des Landes heraus, werden aufgrund besonderer grundgesetzlicher Anordnung für die Besetzung eines Bundesorgans in Anspruch genommen. Entsprechendes gilt für die Landesregierungen insgesamt, soweit sie zur Instruktion ihrer jeweiligen Bundesratsmitglieder berechtigt sind. In dieser Funktion können die Landesregierung und die Bundesratsmitglieder durch die Landesverfassung ebensowenig gebunden werden wie durch Entschließungen des Landtags, weil dies dem Zugriff des Grundgesetzes auf das Organ gerade der Landesexekutive zuwiderlaufen würde. Allgemein an die Landesstaatsgewalt adressierte Verfassungsbestimmungen, die die Staatsorgane des Landes etwa zur Verfolgung bestimmter „Staatsziele" verpflichten, sind daher aufgrund einer grundgesetzkonform restriktiven Auslegung so zu verstehen, daß sie sich nicht auf die Tätigkeit der Landesregierung im Bundesrat beziehen. Damit besteht auch insoweit kein Ansatzpunkt, die doch eher dürftige normative Relevanz des Landesverfassungsrechts für Arbeitnehmerinteressen zu steigern. Werfen wir abschließend noch einen vergleichenden Blick auf die speziell für Arbeitnehmerinteressen relevanten Inhalte der verschiedenen Landesverfassungen insgesamt. Da gibt es einerseits solche, die ein ganzes Füllhorn ein4 Grupp/Weth

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schlägiger Garantien über ihre Bürger ausschütten: Dazu gehören alte Verfassungen, aus der Zeit vor dem Grundgesetz, auch die des Saarlandes, und die neuen, die im Zusammenhang mit dem Beitritt der DDR entstanden sind. Dagegen kennen andere Länder, wie namentlich Hamburg, Niedersachsen und Schleswig-Holstein, weitgehend auch Baden-Württemberg, derartige Verfassungsbestimmungen nicht oder kaum - daß es deswegen um die Arbeitnehmerinteressen in diesen Ländern entscheidend schlechter bestellt wäre, ist jedenfalls mir bis heute nicht zu Ohren gekommen. Trifft dies aber zu, ist die Vortragsfrage nach der Relevanz landesverfassungsrechtlicher Regelungen für den Fragenkreis, dem dieses Symposion gewidmet ist, durch die Wirklichkeit klarer beantwortet, als dies der verfassungsjuristischen Bemühung möglich ist - um es ungeschminkt und sicher etwas vergröbernd auszudrücken: Landesverfassungsrechtliche Regelungen zum Schutze von Arbeitnehmerinteressen sind heute de facto weitgehend irrelevant, weil kaum mit dem dafür notwendigen Rückzug des Bundesrechts aus den maßgeblichen Rechtsgebieten zu rechnen ist, wird sich daran wohl auch in Zukunft nichts ändern.

Arbeitnehmerinteressen und europäisches Recht* Von Günter Hirsch

Das Gemeinschaftsrecht hat das Arbeitsrecht der Mitgliedstaaten zum Teil tiefgreifend verändert und beeinflußt. Die Freizügigkeit der Arbeitnehmer als eine der Grundfreiheiten des Vertrages (die inzwischen die Qualität eines Grundrechtes erhalten hat), das Gebot der Lohngleichheit von Männern und Frauen, die Fülle an einschlägigen sekundärrechtlichen Normen sowie insbesondere die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes haben die Arbeitnehmer mit in das Zentrum der europäischen Integration gerückt. Bevor auf die Arbeitnehmerinteressen auf dem Hintergrund des europäischen Rechts näher eingegangen wird, soll jedoch kurz der Gerichtshof vorgestellt und das zentrale Problem des Verhältnisses von Gemeinschaftsrecht zu nationalem Recht angesprochen werden.

I. Aufgaben und Kompetenzen des Europäischen Gerichtshofs 1. Organisation und Binnenstruktur des Gerichtshofs a) Der Gerichtshof ist - neben dem Parlament, dem Rat, der Kommission und der Europäischen Zentralbank - eines der fünf Organe der Europäischen Gemeinschaft. Das 1989 geschaffene Gericht erster Instanz ist dem Gerichtshofbeigeordnet und wird von der Organstellung des Gerichtshofes mitumfaßt. Die Europäische Gemeinschaft ist zwar mehr als ein Staatenbündnis, sie ist jedoch kein Bundesstaat, etwa im Sinne der Vereinigten Staaten von Amerika, der Bundesrepublik Deutschland oder Belgiens. Allerdings wurde die Gemeinschaft in dem festen Willen gegründet, die Grundlagen für einen immer enge-

* Die Vortragsform wurde beibehalten; Literatur- und Rechtsprechungs-Nachweise beschränken sich auf wenige weiterführende Quellen.

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ren Zusammenschluß der europäischen Völker zu schaffen, wie bereits in der Präambel der Gründungsverträge festgelegt worden ist. Die Gemeinschaft steht seit ihrem Beginn in einem fortschreitenden Integrationsprozeß, der - wie bei dynamischen Prozessen üblich - mal schneller verläuft, mal stagniert. Die Analyse und Bewertung dieses ergebnisoffenen Prozesses ist ein interessantes Problem, jedoch nicht mein Thema. Indiz und Konsequenz dieser Rechtsnatur „sui generis" der Gemeinschaft, die das deutsche Bundesverfassungsgericht veranlaßt hat, sie als „Staatenverbund" zu bezeichnen, ist das Fehlen einer strikten Gewaltenteilung, wie sie Montesquieu in seinem Hauptwerk „De l'esprit des lois" für eine Idealverfassung fordert. Wird das institutionelle Gleichgewicht eines demokratisch verfaßten Staates idealtypisch durch eine Verteilung der drei Staatsfunktionen - Legislative, Exekutive und Judikative - auf drei getrennte Machtträger gewährleistet, so weicht der Gründungsvertrag der Europäischen Gemeinschaft hiervon ab. Allein der Gerichtshof erfüllt die Aufgabe einer klassischen Judikative, wenn auch mit gewissen Einschränkungen, wie noch zu zeigen sein wird. Die Europäische Gemeinschaft war von Anfang an nicht nur als eine Art gesteigerte Freihandelszone auf völkerrechtlicher Basis konzipiert, sondern als Wirtschafts- und Rechtsgemeinschaft. Rechtsgemeinschaft kann sie aber nur sein, wenn Gemeinschaftsrecht in allen Mitgliedstaaten in gleicher Weise gilt und einheitlich angewendet wird. Um die unabdingbare Rechtseinheit sicherzustellen, ist eine Gerichtsbarkeit unverzichtbar, die sowohl für die Gemeinschaft wie auch für die Mitgliedstaaten verbindlich entscheidet, ob ihr Handeln im Einklang mit dem Gemeinschaftsrecht steht und wie gegebenenfalls Gemeinschaftsrecht auszulegen und anzuwenden ist. Diese Aufgabe obliegt dem Europäischen Gerichtshof. b) Im Gerichtshof ist jeder der 15 Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft durch einen Richter vertreten. Außerdem gehören ihm 9 Generalanwälte an, deren hauptsächliche Aufgabe es ist, dem Gericht einen Entscheidungsvorschlag zu unterbreiten. Der Europäische Gerichtshof ist nach dem Kabinettssystem aufgebaut, d.h. neben der zentralen Verwaltung und Kanzlei des Gerichts, der u.a. eine Übersetzungsabteilung sowie ein wissenschaftlicher Dienst zugeordnet sind, steht jedem Richter ein personenbezogenes Kabinett zur Verfügung, dem insbesondere drei Rechtsreferenten angehören, die als ausgewiesene Sachkenner des Gemeinschaftsrechts den Richter unterstützen.

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c) Der Gerichtshof unterscheidet sich in Struktur und Arbeitsweise deutlich von deutschen Gerichten. Lassen Sie mich dies anhand von zwei Aspekten aufzeigen: der Bestimmung des gesetzlichen Richters und der Sprachenfrage. aa) Aus der Sicht des deutschen Verfassungsrechts fordert das Grundrecht auf den gesetzlichen Richter (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG), daß im voraus nach abstrakt-generellen Kriterien festgelegt ist, welcher Richter oder welche Entscheidungsformation für die Behandlung eines Falles zuständig ist. Keinesfalls darf jeweils auf einen konkreten Fall bezogen der Richter bestimmt werden. Ganz anders beim Europäischen Gerichtshof. Nach Eingang eines Antrages bestimmt der Präsident einen der Richter als Berichterstatter. Dieser legt nach Abschluß des schriftlichen Vorverfahrens einen ersten Vorbericht über den Fall der Generalversammlung des Gerichts vor, die aus sämtlichen Richtern und Generalanwälten besteht. Diese Generalversammlung bestimmt sodann auf Vorschlag des Berichterstatters, welche Formation den konkreten Fall behandeln soll - das volle Plenum, das kleine Plenum aus elf Richtern, eine Kammer aus fünf Richtern oder eine kleine Kammer zu drei Richtern. Die Entscheidungsformation, d.h. der gesetzliche Richter, wird somit von Fall zu Fall konkret von der Generalversammlung des Gerichts festgelegt. Bedenkt man die eine oder andere Überbeanspruchung des Prinzips des gesetzlichen Richters in Deutschland, so mag es vielleicht hilfreich sein, sich vor Augen zu führen, daß ein rechtsstaatliches Gerichtsverfahren auch auf andere Weise gesichert werden kann als durch eine strikte und enge Sicht der richterlichen Geschäftsverteilung. bb) Nun zur Sprachenfrage: Offizielle Verfahrenssprache beim Gerichtshof ist jeweils die Sprache des Mitgliedstaates, der beklagt ist oder dessen Gericht den Europäische Gerichtshof angerufen hat. Hiervon zu trennen ist jedoch die interne Arbeitssprache des Gerichts; dies ist ausschließlich die französische Sprache. Dies bedeutet, daß sämtliche Dokumente eines Verfahrens auf Französisch vorliegen, daß die Berichte und Noten der Richter, der Urteilsentwurf und das beschlossene Urteil in französischer Sprache abgefaßt sind und daß die mündliche Beratung des Urteils im Richterkreis auf Französisch stattfindet. Es liegt auf der Hand, daß dies ein gewisses Handicap für alle nicht frankophonen Richter darstellt, also zur Zeit für zwölf der fünfzehn Kollegen. Das Handicap ist allerdings nicht ganz so groß, wie es auf den ersten Blick erscheinen mag. Denn die Urteilsberatungen werden schriftlich vorbereitet, so daß man sowohl seine Sicht vorab durchaus sprachfertig einbringen kann als auch die Meinung der Kollegen häufig vorab zur Kenntnis bekommt. Für das Verständnis der Urteile des Gerichtshofes nicht unwichtig ist jedoch, sich bei ihrer Lektüre bewußt zu machen, daß man einen übersetzten Text liest - denn beschlossen wird die französische Fassung des Urteils. Wenn

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einem hin und wiederum ein solches Urteil „spanisch" vorkommt, kann eine der Ursachen durchaus darin liegen, daß der französische Urteilsstil und aus der französischen Gerichtssprache stammende Formulierungen in deutscher Übersetzung weniger elegant und vielleicht auch mitunter weniger überzeugend wirken. Lassen Sie mich das Sprachenproblem anhand von Beispielen erläutern: In einer Vorlage des BGH ging es um den Begriff der „drittgerichteten Amtspflicht" - ein juristisches Problemfeld, dessen Ausleuchtung ohne weiteres eine Vorlesungsstunde füllt. Für die interne Arbeit des Gerichtshofs wurde der Begriff ins Französische erläuternd übertragen, was ungefähr drei Zeilen füllte. Auf der Grundlage dieser durchaus gelungenen Kurzerläuterung wurde der Fall beraten und entschieden. Die französische Fassung des Urteils wurde sodann ins Deutsche übersetzt, so daß im Entwurf der deutschen Urteilsfassung der Begriff „drittgerichtete Amtspflicht" nicht zu finden war, statt dessen die etwas laienhafte, knappe Umschreibung des juristischen Inhalts dieses Begriffs. Daß dies bei den Lesern des Urteils in Deutschland Irritationen ausgelöst hätte, liegt auf der Hand. Wir haben in der deutschen Fassung an die Stelle der Umschreibung wieder den Fachbegriff gesetzt. Ein weiteres Beispiel: In einer deutschen Vorlage, die die Rückforderung einer rechtswidrigen Subvention betraf, ging es zum einen um die Frage der Gutgläubigkeit des Empfängers, zum anderen um die Frage, ob der Staat mit der Rückforderung gegen Treu und Glauben verstoßen würde. Für diese beiden unterschiedlichen Rechtsbegriffe kennt die französische Sprache nur einen Begriff („bonne foi"). Mit einer bloßen Übersetzung ist dieses Sprachproblem nicht zu lösen. Hinzu kommt, daß selbst identische juristische Begriffe in den nationalen Rechtsordnungen häufig spezifische Inhalte durch die Doktrin oder Rechtsprechung erhalten haben, so daß sie sich in ihrer juristischen Bedeutung im jeweiligen Rechtssystem nicht decken. Jeder Richter am Europäischen Gerichtshof interpretiert in derartige Begriffe, die sich formal durchaus decken, den Mikrokosmos seiner eigenen juristischen Prägung hinein und versteht ihn demgemäß so, wie er in seiner Rechtsordnung gebraucht und interpretiert wird. Unter diesem Hintergrund in einer gemeinschaftsrechtlichen Rechtsordnung zu arbeiten, sie zu interpretieren und fortzuentwickeln - dies ist einer der interessantesten Aspekte der Tätigkeit als Richter am Europäischen Gerichtshof.

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2. Verfahrensmäßige Zuständigkeiten des Europäischen Gerichtshofs Die arbeits- und sozialrechtlichen Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs ergehen in aller Regel im Rahmen eines Vertragsverletzungsverfahrens oder eines Vorabentscheidungsverfahrens. a) Nach Art. 169, Art. 170 EGV kann die Kommission sowie jeder Mitgliedstaat beim Gerichtshof die Feststellung beantragen, daß ein anderer Mitgliedstaat gegen seine vertraglichen Verpflichtungen verstoßen habe. In der Regel werden Vertragsverletzungsverfahren durch die Kommission eingeleitet. Der Vorwurf kann etwa dahin gehen, daß eine staatliche Regelung mit dem primären oder sekundären Gemeinschaftsrecht nicht vereinbar ist oder daß es ein Staat versäumt hat, rechtzeitig oder ausreichend eine EG-Richtlinie in innerstaatliches Recht umzusetzen. b) Im Wege der Vorabentscheidung hat der EuGH nach Art. 177 EGV insbesondere über die Auslegung des Vertrages sowie über die Gültigkeit und Auslegung sekundären Gemeinschaftsrechts zu befinden. Zur Vorlage ist jedes Gericht eines Mitgliedstaates befugt, wenn es eine Entscheidung des EuGH zum Erlaß seines Urteils für erforderlich hält; Gerichte, deren Entscheidungen selbst nicht mehr mit Rechtsmitteln angefochten werden können, sind zur Vorlage verpflichtet (Art. 177 Abs. 2, Abs. 3 EGV). Im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens beurteilt der Europäische Gerichtshof nicht die Rechtmäßigkeit des innerstaatlichen Rechts. Allerdings ergibt sich häufig aus der im Hinblick auf eine konkrete innerstaatliche Rechtslage vorgenommenen Auslegung des Gemeinschaftsrechts mehr oder weniger deutlich die Unvereinbarkeit des nationalen Rechts mit dem der Gemeinschaft. Das nationale Gericht ist verpflichtet, das innerstaatliche Recht gemäß den Vorgaben des EuGH anzuwenden. 3. Prüfungsmaßstab, Auslegungsmethoden Der Europäische Gerichtshof hat nach Art. 164 EGV die Aufgabe, die „Wahrung des Rechts" bei der Auslegung und Anwendung des Vertrages zu sichern. a) Der Europäische Gerichtshof wendet nicht nationales Recht an, er legt es nicht aus und er prüft nicht unmittelbar, ob es mit Gemeinschaftsrecht vereinbar ist. Prüfungsmaßstab ist vielmehr immer das (primäre und sekundäre) Gemeinschaftsrecht. Allerdings zielen die Vorlagefragen im Rahmen eines Verfahrens nach Art. 177 EGV häufig, teilweise auch Vertragsverletzungs-

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verfahren nach Art. 169 EGV, mittelbar auf die Prüfung der Vereinbarkeit nationalen Rechts mit Gemeinschaftsrecht. Mit der Zuweisung der Befugnis, den Vertrag verbindlich auszulegen, soll die Rechtseinheit im gesamten Gemeinschaftsgebiet sichergestellt werden. Die Eigenschaft als „Rechtsgemeinschaft" ist ein wesentliches Strukturelement der Europäischen Gemeinschaften. b) Das „Recht", dessen Wahrung der EuGH nach Art. 164 EGV sicherzustellen hat, umfaßt nicht nur die geschriebene Nonnenordnung der Gemeinschaft, sondern das Recht im umfassenden Sinne. Damit ist dem Gerichtshof jedoch nicht die unbeschränkte Macht zur Rechtskontrolle jedweden gemeinschaftsbezogenen Handelns übertragen. Seine Kompetenzen sind in formaler Hinsicht nach dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung (Art. 3 b Abs. 1 EGV) auf die vertraglich definierten Zuständigkeiten beschränkt. In materieller Hinsicht muß der Gerichtshof die jedem Gericht vorgegebene Grenze zwischen zulässigem Richterrecht in Form der Rechtsfortbildung und unzulässiger Rechtsschöpfung beachten, also die Grenze, die die Judikative von der Legislativen abschichtet. c) Der Gerichtshof bedient sich bei der Rechtsfindung der allgemein anerkannten juristischen Auslegungsmethoden, wenn auch mit Modifikationen, die den Besonderheiten der Materie Rechnung tragen. Der Schwerpunkt der Auslegung liegt bei der systematisch-teleologischen Interpretation, also bei der Suche nach dem Sinn einer Regelung unter Berücksichtigung des Gesamtzusammenhangs, in dem sie steht und wirken soll. Insoweit ist ein wichtiger Aspekt die Frage nach der wirksamen Erreichung der allgemeinen Vertragsziele oder des konkreten Ziels der Maßnahme („effet utile").

I I . Verhältnis des Gemeinschaftsrechts zu nationalem Recht Schon frühzeitig stellte sich dem Gerichtshof die Frage nach dem Verhältnis zwischen dem Gemeinschaftsrecht und dem nationalen Recht. Er verwarf die These, der Vertrag sei lediglich ein völkerrechtliches Staatenabkommen, das nur wechselseitige Verpflichtungen zwischen den vertragschließenden Staaten begründe. Vielmehr folge-so der Gerichtshof 1963aus dem Ziel, einen gemeinsamen Markt zu schaffen, dessen Funktionieren

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die Bürger der Gemeinschaft unmittelbar betrifft, daß Rechtssubjekte des Gemeinschaftsrechts nicht nur die Mitgliedstaaten seien, sondern auch deren Bürger. Die Gemeinschaftsrechtsordnung ist somit eine eigenständige Rechtsordnung, die den einzelnen sowohl Pflichten auferlegen als auch Rechte verleihen kann, auf die sie sich unmittelbar berufen können1. Richtlinien haben nach der ständigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshof unmittelbare Wirkung, wenn sie •

nicht fristgerecht umgesetzt und



hinreichend genau und unbedingt sind.

Diese Rechtsprechung löste einen Rechtsprechungskonflikt in Deutschland aus zwischen dem Bundesfinanzhof und dem Bundesverfassungsgericht. Der Bundesfinanzhof sah diese Rechtsprechung als Überschreitung der Kompetenz des Gerichts und als unzulässige Rechtsschöpfung an2; das Bundesverfassungsgericht akzeptierte dagegen diese richterrechtliche Rechtsfortbildung durch den Europäischen Gerichtshof 3. Mit dieser Rechtsprechung zur unmittelbaren Wirkung des Gemeinschaftsrechts nahm der Gerichtshof eine zentrale Weichenstellung vor. Was die unmittelbare Wirkung des Gemeinschaftsrechts jedoch in der Rechtswirklichkeit wert ist, zeigt sich, wenn Gemeinschaftsrecht mit nationalem Recht kollidiert. Dann stellt sich die Vorrangfrage. Auch hier wurde frühzeitig - und mit Zustimmung der nationalen Verfassungsgerichte - die Grundentscheidung vom Europäische Gerichtshof getroffen: Nationales Recht, selbst solches mit Verfassungsrang, muß zurücktreten, wenn es mit Bestimmungen des EG-Vertrages oder unmittelbar geltenden Rechtsakten der Gemeinschaftsorgane unvereinbar ist. Anderenfalls wäre die Effektivität der Verpflichtungen, die die Mitgliedstaaten nach dem Vertrag vorbehaltlos und unwiderruflich übernommen haben, nicht gegeben und die Grundlage der Gemeinschaft selbst in Frage gestellt4. Nur andeuten möchte ich ein dogmatisches Problem im Zusammenhang mit der Grundsatzfrage des Vorrangs des Gemeinschaftsrechts, ein Problem, über das man des langen und des breiten diskutieren kann und das in der Presse

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EuGH, Slg. 1963, S. 1 (Van Gend/Loos), Pt. 10. BFH, EuR 1985, S. 191. 3 BVerfGE 75, 223. 4 EuGH, Slg. 1964, S. 1251 (Costa/ENEL), Pt. 12; EuGH, Slg. 1978, S. 629 (Simmenthal Π), Pt. 17/18. 2

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schlagwortartig umrissen wurde mit dem Satz: „Wer hat das letzte WortKarlsruhe oder Luxemburg?" Es geht um eine Kontroverse zwischen dem Bundesverfassungsgericht und dem Europäischen Gerichtshof in der Frage, ob das Bundesverfassungsgericht zuständig ist, Gemeinschaftsrecht auf seine Gültigkeit hin zu prüfen und gegebenenfalls zu „verwerfen", d.h. für in Deutschland unverbindlich zu erklären5. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts kann Gemeinschaftsrecht dann keinen Anwendungsanspruch in Deutschland erheben, wenn es gegen Grundrechte des Grundgesetzes verstößt oder in Überschreitung von Gemeinschaftszuständigkeit gesetzt ist. Während das Bundesverfassungsgericht bei der Grundrechtsfrage in erster Linie den Europäischen Gerichtshof als zuständige Gerichtsinstanz ansieht, beansprucht es für sich die Entscheidungskompetenz im Kompetenzbereich, also die Kompetenz, Gemeinschaftsrecht für in Deutschland nicht anwendbar erklären; in allen anderen 14 Staaten bliebe das Gemeinschaftsrecht selbstverständlich unangetastet6. Die Konsequenz dieser Auffassung wäre, daß das Gemeinschaftsrecht seinen gemeinschaftsweiten Verbindlichkeitsanspruch verlöre und nur noch eine Rechtsgemeinschaft unter Vorbehalt wäre. Die Gemeinschaft bezieht ihre Legitimation, ihren politischen Rang und ihren Zukunftsanspruch aus ihrer Eigenschaft als Rechtsgemeinschaft, ja sie ist im eigentlichen nur eine solche. Sie hat weder Polizei- noch Militärgewalt, nicht einmal eigene Vollstreckungsorgane. Deshalb kommt der normativen Kraft der Rechtsakte von Gemeinschaftsorganen, ihrer einheitlichen Geltung und identischen Anwendung für die Funktionsfähigkeit der Gemeinschaft schlechthin existentielle Bedeutung zu. Das Recht ist gleichsam der Stoff, aus dem die Gemeinschaft geschaffen wurde und zugleich der Stoff, den sie selbst schafft. Nähme man der Bundesrepublik ihr Grundgesetz, sie würde, wenn auch mehr schlecht als recht, weiterbestehen; nähme man den Europäischen Gemeinschaften die sie konstituierenden Verträge und das ausfüllende Recht, sie würde aufhören zu existieren. Um dies auf einen kurzen Nenner zu bringen: Keine Europäische Integration ohne Rechtsgemeinschaft; keine Rechtsgemeinschaft ohne Rechtseinheit; keine Rechtseinheit ohne zentrale Gerichtsbarkeit. Ein systematischer Vorbehalt zugunsten nationaler Gerichte würde den Vertrag konterkarrieren und nicht nur institutionelle Konflikte zwischen

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Vgl. dazu ausführlich G. Hirsch, NJW 1996, S. 2457 IT. Vgl. insbesondere BVerfGE 73, 339 (Solange-II); BVertOE 89, 144 (Maastricht).

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einem Mitgliedstaat und der Gemeinschaft heraufbeschwören, sondern auch Konflikte zwischen den Mitgliedstaaten, die dann jeweils von den einzelnen nationalen Gerichten zu entscheiden wären. Nun kann man juristisch nicht überzeugend argumentieren, daß nicht sein kann was nicht sein darf. Hinweise auf etwaige gefährliche Folgen des Maastricht-Urteils reichen nicht, um es für falsch zu erklären. Wie also ist das Problem rechtlich zu lösen? Dem BVerfG ist zuzustimmen, daß aus deutscher Verfassungssicht die Brücke, über die Gemeinschaftsrecht mit unmittelbarer Wirkung in die nationale Rechtsordnung hineinfließt, das deutsche Zustimmungsgesetz zu den Gemeinschaftsverträgen ist. Ebenso wie Art. 31 GG, nach dem Bundesrecht Landesrecht bricht, nur für gültiges Bundesrecht gilt, erteilt das Zustimmungsgesetz nur für gültiges Gemeinschaftsrecht den Anwendungsbefehl mit Vorrang vor deutschem Recht. Recht, das unter Überschreitung der Regelungsbefügnis der Gemeinschaft, also ultra vires, gesetzt wird, kann nationales Recht nicht verdrängen. Die Frage, um die es geht, ist jedoch aus meiner Sicht nicht die nach den Grenzen der Normsetzungkompetenz der Gemeinschaft, sondern nach dem Umfang der auf den Europäische Gerichtshof übertragenen Gerichtsbarkeit. Die Feststellung, daß Gemeinschaftsrecht nur dann Verbindlichkeit beanspruchen kann, wenn und soweit es von einer der Gemeinschaft im Vertrag von den Mitgliedstaaten eingeräumten Regelungsbefugnis gedeckt ist, besagt noch nichts darüber, wer die Befugnis hat, dies verbindlich zu beurteilen und gegebenenfalls das Gemeinschaftsrecht zu verwerfen. Insoweit ist der Vertrag klar und eindeutig. Er enthält in Art. 164 EGV die dem Europäische Gerichtshof übertragenen Rechtsprechungskompetenzen. Der Europäische Gerichtshof hat ausdrücklich die Rechtmäßigkeit von Gemeinschaftsakten zu überwachen und hierbei u. a. zu prüfen, ob die Zuständigkeitsbestimmungen verletzt sind (Art. 173 Abs. 1, 2 EGV). Nach Art. 177 EGV obliegt dem Europäische Gerichtshof über die Gültigkeit und die Auslegung von Gemeinschaftsakten zu entscheiden. Es läßt sich somit feststellen, daß der Prüfungsgegenstand, für den das BVerfG seine Entscheidungsbefugnis reklamiert - ist ein Gemeinschaftsakt von der der Gemeinschaft zugewiesenen Kompetenz gedeckt oder ultra vires nach dem Vertrag dem Europäische Gerichtshof übertragen ist. Die nationale Souveränität ist auf dem Gebiet der Gerichtsbarkeit insoweit zugunsten einer Gemeinschaftszuständigkeit eingeschränkt. Dies läßt sich nicht mit dem semantischen Kunstgriff überspielen, daß das BVerfG nur die Vereinbarkeit von Gemeinschaftsrecht mit dem Grundgesetz i.V. mit dem Zustimmungsgesetz prüft und über die Anwendbarkeit der Norm in Deutschland entscheidet, wäh-

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rend der Europäische Gerichtshof die Vereinbarkeit mit dem Vertrag prüft und über die Nichtigkeit entscheidet. Denn es geht auf beiden Ebenen um den gleichen Streitgegenstand, nämlich um die Respektierung der übertragenen Kompetenz als Voraussetzung der Gültigkeit der angegriffenen Gemeinschaftsnorm. Ich hoffe allerdings, ja, eigentlich bin ich mir ziemlich sicher, daß es sich hier um ein zweifellos juristisch faszinierendes dogmatisches Glasperlenspiel handelt, das weder die kollegiale Kooperation zwischen dem BVerfG und dem Europäische Gerichtshof trüben noch in der Zukunft zur Kollision zwischen beiden Gerichten führen wird - eine Kollision, die in der Tat unüberschaubare Folgen haben könnte und bei der beide Seiten nur zu verlieren hätten, gleichwohl, wie das Ergebnis wäre.

I I I . Normative Vorgaben des EG-Rechts zum Arbeitsrecht 1. Primäres Gemeinschaftsrccht Der EG-Vertrag enthält zwei arbeitsrechtliche Kernbestimmungen, nämlich die Garantie der Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft gemäß Art. 48 bis 51 des Vertrages sowie das Gebot des gleichen Entgelts für Männer und Frauen bei gleicher Arbeit nach Art. 119 des Vertrages. a) Art. 48 des Vertrages verbürgt die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft und verbietet jede auf Staatsangehörigkeit beruhende unterschiedliche Behandlung der Arbeitnehmer der Mitgliedstaaten in bezug auf Beschäftigung, Entlohnung und sonstige Arbeitsbedingungen (Art. 48 Abs. 2 EGV). Die Freizügigkeit gibt den Arbeitnehmern das Recht, •

sich um tatsächlich angebotene Stellen in jedem Mitgliedstaat ungehindert zu bewerben,



sich zu diesem Zweck im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen,



sich in einem Mitgliedstaat aufzuhalten, um dort nach den für die Arbeitnehmer dieses Staates geltenden Rechts- und Verwaltungsvorschriften eine Beschäftigung auszuüben,



nach Beendigung einer Beschäftigung im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaates unter Bedingungen zu verbleiben, welche die Kommission in Durchführungsverordnungen festlegt.

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Dieses Recht auf Freizügigkeit darf nur aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit beschränkt werden. Das Recht auf Freizügigkeit findet keine Anwendung auf die Beschäftigung in der öffentlichen Verwaltung (Art. 48 Abs. 4 EGV). b) Die Garantie der Lohngleichheit nach Art. 119 EGV fordert gleiches Entgelt fur Männer und Frauen bei gleicher Arbeit. Unter „Entgelt" sind die üblichen Grund- oder Mindestlöhne und -gehälter sowie alle sonstigen Vergütungen zu verstehen, die der Arbeitgeber aufgrund des Dienstverhältnisses dem Arbeitnehmer mittelbar oder unmittelbar in bar oder in Sachleistungen zahlt. Das Entgelt für eine gleiche nach Akkord bezahlte Arbeit muß aufgrund der gleichen Maßeinheit festgesetzt werden. Für eine nach Zeit bezahlte Arbeit muß das Entgelt bei gleichem Arbeitsplatz gleich sein. 2. Sekundäres Gemeinschaftsrecht a) Zur Herstellung der Freizügigkeit

Die in Artikel 48 EGV garantierte Freizügigkeit wird durch eine Reihe von Verordnungen und Richtlinien näher ausgestaltet. Zu erwähnen sind insbesondere: •

die Verordnung 1612/68 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft vom 15.10.1968, die den gleichberechtigten Zugang zum Arbeitsverhältnis und die Gleichbehandlung bei der Ausübung der Beschäftigung sicherstellt;



die Verordnung 1251/70 vom 29.6.1970 über das Bleiberecht der Arbeitnehmer nach Beendigung der Beschäftigung im Hoheitsgebiet des Mitgliedstaates;



die Richtlinie 68/360/EWG des Rates vom 15.10.1968 zur Aufhebung der Reise- und Aufenthaltsbeschränkungen für Arbeitnehmer der Mitgliedstaaten und ihrer Familienangehörigen innerhalb der Gemeinschaft;



die Richtlinie 64/221/EWG vom 25.2.1964 über die Einschränkungen der Freizügigkeit aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit;



die Verordnung 1408/71/EWG vom 14.6.1971 über die Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern.

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b) Zur Herstellung der Gleichbehandlung von Männern und Frauen Zur Konkretisierung des in Art. 119 Abs. 1 EGV enthaltenen Lohngleichheitsgebotes wurde die Richtlinie 75/117/EWG zur Angleichung der Rechtsvorschriften über die Anwendung des Grundsatzes des gleichen Entgelts für Männer und Frauen vom 10.2.1975 erlassen. Über das Lohngleichheitsgebot des Art. 119 EGV hinausgehend, wird in der Richtlinie 76/207/EWG vom 9.2.1976 ein umfassendes Gleichbehandlungsgebot für die Begründung und Durchführung des Arbeitsverhältnisses schlechthin verankert. Diese insbesondere auf Art. 235 EGV als Ermächtigungsgrundlage gestützte Richtlinie verbietet jede unmittelbare oder mittelbare Diskriminierung aufgrund des Geschlechts hinsichtlich des Zugangs zur Beschäftigung, einschließlich des Aufstieges, und des Zugangs zur Berufsbildung sowie im bezug auf die Arbeitsbedingungen und in bezug auf soziale Sicherheit. Mit der Richtlinie 79/7/EWG vom 19.12.1978 wurde der Grundsatz der Gleichbehandlung von Männern und Frauen im Bereich der sozialen Sicherheit verankert. Sie findet Anwendung auf die gesetzlichen Systeme, die Schutz gegen Krankheit, Invalidität, Alter, Arbeitsunfall und Berufskrankheit sowie Arbeitslosigkeit bieten. Die Richtlinie 86/378/EWG vom 24.7.1986 gilt der Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung bei den betrieblichen Systemen der sozialen Sicherheit. c) Zur Rechtsharmonisierung Auf der Grundlage der allgemeinen Kompetenznormen der Art. 100, 100 a EGV wurden etliche Richtlinien zur Angleichung arbeitsrechtlicher Rechtsund Verwaltungsvorschriften erlassen, insbesondere •

Richtlinie 75/120/EWG des Rates zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über Massenentlassungen vom 17.2.1975, mit der die vorherige Ankündigung von Massenentlassungen gegenüber den betroffenen Arbeitnehmern und der Arbeitsverwaltung sichergestellt werden soll;



Richtlinie 77/187/EWG des Rates zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Wahrung von Ansprüchen der Arbeitnehmer bei Übergang von Unternehmen, Betrieben und Betriebsteilen vom 14.2.1977, die dem Urteil Christel Schmidt (siehe unten) zugrunde lag;

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Richtlinie 80/987/EWG des Rates zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über den Schutz der Arbeitnehmer bei Zahlungsunfähigkeit des Arbeitsgebers vom 20.10.1980;



Richtlinie 91/533/EWG des Rates über die Pflicht des Arbeitgebers zur Unterrichtung des Arbeitnehmers über die für seinen Arbeitsvertrag oder sein Arbeitsverhältnis geltenden Bedingungen vom 14.10.1991. 3. Sozialrecht für Arbeitnehmer

Die Grenze zwischen arbeitsrechtlichen und sozialrechtlichen Bestimmungen ist mitunter fließend. Deshalb sei der Vollständigkeit halber erwähnt, daß Art. 117 des Vertrages die Mitgliedstaaten in die Pflicht nimmt, auf eine Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen der Arbeitskräfte hinzuwirken. Nach Art. 118 EGV hat die Kommission die Aufgabe, eine enge Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten insbesondere auf dem Gebiet der Beschäftigung, des Arbeitsrechts und der Arbeitsbedingungen, der beruflichen Ausbildung und Fortbildung, der sozialen Sicherheit, der Verhütung von Berufsunfällen und Berufskrankheiten, des Gesundheitsschutzes bei der Arbeit sowie des Koalitionsrechts und der Kollektiwerhandlungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern zu fördern. Die Mitgliedstaaten haben sich nach Art. 118 a EGV zu bemühen, die Verbesserung der Arbeitsumwelt zu fördern, um die Sicherheit und die Gesundheit der Arbeitnehmer zu schützen. Nach Art. 120 EGV sind die Mitgliedstaaten bestrebt, die bestehende Gleichwertigkeit der Ordnungen über die bezahlte Freizeit beizubchalten. Im Protokoll Nr. 14 über die Sozialpolitik und im Abkommen über die Sozialpolitik, dem sich Großbritannien und Nordirland nicht angeschlossen haben, werden diese Verpflichtungen der Mitglicdstaatcn weiter vertieft und konkretisiert. Aus der Fülle der sozialrechtlichen Vorschriften des sekundären Gemeinschaftsrechts mit arbeitsrechtlichen Bezügen sei die Richtlinie 92/85/EWG des Rates vom 19.10.1992 genannt, in der Maßnahmen zur Verbesserung der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes von schwangeren Arbeitnehmerinnen, Wöchnerinnen und stillenden Arbeitnehmerinnen am Arbeitsplatz vorgeschrieben werden. Aus dem Bereich der Arbeitnehmerschutzbestimmungen sei genannt die Richtlinie 80/1107/EWG des Rates zum Schutz der Arbeitnehmer vor Gefährdungen durch chemische, physikalische und biologische Arbeitsstoffe bei der Arbeit.

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IV. Bedeutsame Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs zum Arbeitsrecht Das Arbeitsrecht stellt einen besonders sensiblen Bereich innerhalb der Gemeinschaft dar. Es bedurfte nicht des Belegs, daß Großbritannien und Nordirland dem Sozialprotokoll nicht beigetreten waren und erst der Vertrag von Amsterdam auch insoweit für Rechtseinheit in Europa gesorgt hat, um die innenpolitische Bedeutung arbeits- und sozialrechtlicher Bestimmungen zu beweisen. Es geht hierbei auch um Standortvorteile, um Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik, um Tarifautonomie, um Arbeitskonfliktpotentiale. Deshalb verwundert auch nicht, daß Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs im Arbeitsbereich in aller Regel der Aufmerksamkeit in den Mitgliedstaaten sicher sein können. Besonders in Deutschland hat die Rechtsprechung des Gerichtshofs zum Teil für Aufregung gesorgt. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit will ich auf einige der „Problemfälle" näher eingehen: 1. Francovich

In der sog. Francovich-Entscheidung 7 ging es um haftungsrechtliche Konsequenzen fiir den Staat, der eine Richtlinie nicht fristgemäß umsetzt. Im Ausgangsfall hatte Italien eine Richtlinie nicht umgesetzt, die Arbeitnehmer im Falle der Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers absichern sollte. Ein Arbeitnehmer konnte deshalb rückständige Lohnansprüche gegen seinen zahlungsunfähig gewordenen Arbeitgeber nicht durchsetzen. Der EuGH entwickelte im Wege richterlicher Rechtsfortbildung aus dem Gesamtsystem des Gemeinschaftsrechts, insbesondere im Hinblick auf die Notwendigkeit, daß eine Richtlinie volle Wirksamkeit entfaltet, den Grundsatz, daß der Staat zum Schadensersatz verpflichtet sei. wenn er eine Richtlinie nicht rechtzeitig umsetzt, die einem einzelnen bestimmte Rechte einräumt, und wenn der Betroffene hierdurch einen Schaden erleidet. Diese Entscheidung löste insbesondere in Deutschland eine heftige Diskussion über die Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung aus. Diese Grenze zwischen Judikative und Legislative ist weder im nationalen Recht noch im Gemeinschaftsrecht trennscharf zu ziehen. Gerade im Staatshaftungsbereich sind zentrale Fragen auch in Deutschland richterrechtlich beantwortet worden. Der

7

EuGH, Slg. 1991-1, S. 5357.

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EuGH stand hier, wie ich meine, vor der Aufgabe, eine Lücke im gemeinschaftsrechtlichen Rechtsschutzsystem zu füllen. Inzwischen hat der Europäische Gerichtshof diese Rechtsprechung fortgeschrieben und mit den Entscheidungen Brasserie du Pêcheur und Dillenkofer

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ein kohärentes System der Haftung des Staates für gesetzgeberisches Unrecht entwickelt, das - soweit ich dies überblicke - in allen Mitgliedstaaten weitgehend akzeptiert wird. 2. Paletta

In der Paletta-Entscheidung 9 ging es um die Verbindlichkeit und den Beweiswert einer im Ausland für einen Wanderarbeitnehmer ausgestellten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung. Im Gegensatz zum vorlegenden Bundesarbeitsgericht bejahte der EuGH die Bindung des Arbeitgebers im Hinblick auf seine Lohnfortzahlungspflicht an eine derartige Bescheinigung in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht. Ihm bleibt nur die Möglichkeit, den Arbeitnehmer durch einen Arzt seiner Wahl untersuchen zu lassen - was jedoch häufig schon wegen des Zeitablaufs nicht mehr möglich sein wird. In der Folgeentscheidung Paletta II vom 2. Mai 1996IÜ hat der Europäische Gerichtshof diese Rechtsprechung überprüft und konkretisiert. Er hat klargestellt, daß das Gemeinschaftsrecht dem Arbeitgeber nicht verwehrt, Nachweise zu erbringen, anhand derer das nationale Gericht gegebenenfalls feststellen kann, daß der Arbeitnehmer sich mißbräuchlich oder betrügerisch arbeitsunfähig gemeldet hat. Inzwischen hat das Bundesarbeitsgericht auf der Grundlage der Paletta IiEntscheidung den konkreten Fall dahingehend entschieden, daß die Pflicht zur Lohnfortzahlung entfallen ist. Zur Beweisfrage führte es aus: „Der Richter muß sich, um den Beweis als geführt anzusehen, mit einem für das praktische Leben brauchbaren Grad von Gewißheit begnügen".11 3. Bötel

In der Bötel-Erttscheidung 12 ging es um die Lohnfortzahlung einer teilzeitbeschäftigten Betriebsrätin. Der EuGH folgerte aus dem Verbot der mittelba-

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EuGH, Slg. 1996-1, S. 1029; Slg. 1996-1, S. 4845. EuGH, Slg. 1992-1, S. 3423. 10 EuGH, Slg. 1996-1, S. 2357. 11 BAG, EuZW 1997, S. 540. 12 EuGH, Slg. 1992-1, S. 3589.

9

5 Grupp/Weth

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ren Diskriminierung, daß einer teilzeitbeschäftigten Betriebsrätin, die an einer Schulungsveranstaltung außerhalb ihrer Arbeitszeit teilnimmt, auch für diese Zeit ein Vergütungsanspruch gegen den Arbeitgeber zusteht. Das Bundesarbeitsgericht, das diese Entscheidung insbesondere aus rechtssystematischen Gründen ablehnt, hat einen gleichgelagerten Fall vorgelegt und unter anderem gefragt, ob nicht der Grundsatz der Unabhängigkeit des Betriebsrates es rechtfertige, daß teilzeitbeschäftigte Betriebsräte für aufgewendete Freizeit zum Zweck der Teilnahme an Schulungsveranstaltungen keine Vergütung erhalten. In der Lewark-Entscheidurtg vom 6.2.199613 hat der Europäische Gerichtshof an seiner Rechtsprechung zwar im Grundsatz festgehalten, jedoch den Weg dafür offengehalten, daß der nationale Gesetzgeber aus sozialpolitischen Gründen, etwa um die Unabhängigkeit der Betriebsratsmitglieder sicherzustellen, berechtigt ist, in verhältnismäßiger Weise unterschiedliche Ausgleichszahlungen für Schulungsveranstaltungcn an voll- und teilzeitbeschäftigte Betriebsratsmitglieder vorzusehen. Ob Beschränkung der Vergütung einer teilzeitbeschäftigten Betriebsrätin bei einer ganztägigen Schulungsveranstaltung aus Gründen der Unabhängigkeit des Amtes eines Beriebsrates geboten ist, hat das nationale Gericht zu entscheiden. 4. Christel Schmidt

Nun zu der Putzfrau, die - liest man einige der Stellungnahmen in Deutschland - zu einer Krise der Europäischen Union geführt hat - Christel Schmidt 14. Es geht um die Auslegung der Richtlinie des Rates über die Wahrung der Ansprüche der Arbeitnehmer bei Übergang von Unternehmen, Betrieben oder Betriebsteilen. Im zugrundeliegenden Fall hatte eine Sparkasse Reinigungsarbeiten, die sie bisher von einer angestellten Reinigungskraft erledigen ließ, einem gewerblichen Reinigungsunternehmen auf Werksvertragsbasis übertragen. Der Teilzeitkraft, die bisher die Reinigungsarbeiten durchgeführt hatte, wurde betriebsbedingt gekündigt. Das Reinigungsunternehmen unterbreitete der Putzfrau ein Übernahmeangebot mit einer höheren Bezahlung; diese lehnte jedoch ab. Auf Vorlage entschied der Europäische Gerichthof. daß es für den Übergang eines Betriebsteiles nicht zwingend der Übertragung von Vermögensgegenständen bedarf. Entscheidendes Kriterium sei die „Wahrung der Identität

13 14

EuGH, Slg. 1996-1, S. 243. EuGH, Slg. 1994-1, S. 1321.

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der wirtschaftlichen Einheit", die sich unter anderem danach bemesse, ob dieselbe oder eine gleichartige Geschäftstätigkeit vom neuen Inhaber tatsächlich weitergeführt werde. Im Fall Christel Schmidt, die der Auftragnehmer übernehmen wollte (es sollte also nicht nur der Putzauftrag, sondern auch das „Personal" übergehen), bejahte der Europäische Gerichtshof diese Voraussetzungen, weil vor und nach der Übertragung gleichartige Reinigungsaufgaben durchgeführt werden sollten. Ich will hier weder dieses Urteil noch die teilweise überbordende Kritik an dieser Rechtsprechung kommentieren. Nur soviel: Mit dieser Entscheidung wurde sicherlich nicht das Ende des outsourcings eingeläutet. Dies hat der Gerichtshof inzwischen auch klargestellt. Im Urteil Süzen vom 11. März 199715 ging es erneut um die für die Anwendung der Richtlinie maßgebliche Abgrenzung zwischen einem Betriebsübergang und der bloßen Funktionsnachfolge. Der Gerichtshof hat entschieden, daß die Richtlinie nicht gilt, wenn ein Unternehmen einen Auftrag verliert und ein anderes Unternehmen diesen Auftrag übernimmt, „sofern dieser Vorgang weder mit einer Übertragung relevanter materieller oder immaterieller Betriebsmittel von dem einen auf den anderen Unternehmer noch mit der Übernahme eines nach Zahl und Sachkunde wesentlichen Teils des von dem einen Unternehmen zur Durchführung des Vertrages eingesetzten Personals durch den anderen Unternehmer verbunden ist." Weitere Verfahren sind anhängig. Aufgrund des Urteils Sitzen läßt sich jedoch der Schluß ziehen, daß eine bloße Funktionsnachfolge oder betriebliche Umstrukturierung nicht in den Anwendungsbereich der Richtlinie fallt. 5. Kaianke, Marschall

Das Landesgleichstellungsgesetz von Bremen sah vor, daß bei Beförderungen im öffentlichen Dienst Frauen bei gleicher Qualifikation wie ihre männlichen Mitbewerber vorrangig zu berücksichtigen sind, wenn sie unterrepräsentiert sind. Dem Europäischen Gerichtshof wurde die Frage vorgelegt, ob dies als unzulässige Diskriminierung wegen des Geschlechts gegen die Richtlinie vom Februar 1976 verstoße, nach der beim beruflichen Aufstieg „keine unmittelbare oder mittelbare Diskriminierung aufgrund des Geschlechts" erfolgen dürfe. Der Europäische Gerichtshof bejahte das Vorliegen einer solchen Diskriminierung und sah sie auch nicht nach Art. 2 Abs. 4 der Richtlinie als

15

EuGH, Slg. 1997-1, S. 1259.

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gerechtfertigt an, da diese automatische Bevorzugung von Frauen über eine Förderung der Chancen der Frauen hinausgehe. Die zentrale Aussage des Urteils lautet: nationale Regelung, die den Frauen bei Ernennungen oder Beförderungen absolut und unbedingt den Vorrang einräumt, geht über eine Förderung der Chancengleichheit hinaus und überschreitet damit die Grenzen der in Art. 2 Abs. 4 der Richtlinie vorgesehenen Ausnahmen."16 „Eine

Das Bundesarbeitsgericht hat am 5. März 1996 den Fall Kaianke entschieden und hierbei insbesondere auf die unterschiedlichen Anforderungen des verfassungsrechtlichen Gleichbehandlungsgebots und das Diskriminierungsverbot nach der Richtlinie 76/207/EWG hingewiesen.17 In Kürze wird in der Vorlage Marschali vom Europäischen Gerichtshof zu klären sein, ob auch ein „Quotengesetz", das für Härtefälle Ausnahmen vom Bevorzugungsgebot zugunsten der Frauen vorsieht, gegen EG-Recht verstößt.18 Nach Ansicht des Generalanwalts Jacobs ist dies zu bejahen (Schlußantragvom 15. Mai 1997). Außerdem liegen dem Europäischen Gerichtshof noch weitere einschlägige Vorabentscheidungsersuchen des hessischen Staatsgerichtshofes (vom 16.1.1997) sowie des Verwaltungsgerichts Düsseldorf (vom 24.9.1996) vor. 6. Nolte , Megner/Scheffel

Die sozialversicherungsrechtlichen Regelungen über die Freistellung geringfügig Beschäftigter von der gesetzlichen Kranken- und Rentenversicherung und der Arbeitslosenversicherung (derzeit 610-DM-Regelung) sind ein sozial- und beschäftigungspolitisch umstrittenes Thema. Dem Europäischen Gerichtshof wurden diese Bestimmungen vorgelegt zur Entscheidung, ob sie eine mittelbare Diskriminierung der Frauen darstellen, da diese hiervon faktisch erheblich häufiger betroffen sind als Männer. Der Gerichtshof hat in dieser heiklen und hochpolitischen Frage die deutsche Rechtslage nicht beanstandet - was unter dem Aspekt des Judicial selfrestraint" durchaus bemerkenswert erscheint. Er hat ausgeführt: „Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie ... zur schrittweisen Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen im Bereich der sozialen Sicherheit

16

EuGH, Slg. 1995-1, S. 3051, Pt. 22. NJW 1996, S. 2529. 18 EuGH, Rs. C-409/95 (zwischenzeitlich entschieden durch Urteil vom 11.11.1997 [NJW 1997, S. 3429 f.]). 17

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steht einer nationalen Regelung, die Beschäftigungen mit regelmäßig weniger als 15 Stunden in der Woche und einem Arbeitsentgelt, das 1/7 der monatlichen Bezugsgröße nicht übersteigt, von der gesetzlichen Rentenversicherung ausschließt, nicht entgegen, selbst wenn sie erheblich mehr Frauen als Männer betrifft, da der nationale Gesetzgeber in vertretbarer Weise davon ausgehen konnte, daß die fraglichen Rechtsvorschriften erforderlich waren, um ein sozialpolitisches Ziel zu erreichen, das mit einer Diskriminierung aufgrund des Geschlechts nichts zu tun hat."19 7. Draehmpaehl

Bei dieser Vorlage des Arbeitsgerichts Hamburg ging es um die Frage, ob § 611 a BGB insoweit mit dem Gemeinschaftsrecht vereinbar ist, als er •

fur einen Schadensersatz wegen Diskriminierung aufgrund des Geschlechts bei der Einstellung ein Verschulden des Arbeitgebers fordert,



für einen Schadensersatz wegen Diskriminierung aufgrund des Geschlechts bei der Einstellung eine Höchstgrenze von drei Monatsgehältern vorsieht,



für den von mehreren Geschädigten geltend gemachten Schadensersatz wegen Diskriminierung aufgrund des Geschlechts bei der Einstellung eine Höchstgrenze von kumulativ 6 Monatsgehältern für alle diskriminierten Personen vorgibt.

Der Gerichtshof hat entschieden, daß der nationale Gesetzgeber den zivilrechtlichen Anspruch auf Schadensersatz im Falle einer Diskriminierung wegen des Geschlechts nicht vom Verschulden des Arbeitgebers abhängig machen kann.20 Dagegen steht die Richtlinie nicht einer innerstaatlichen Regelung entgegen, die für den Schadensersatz, den ein Bewerber verlangen kann, eine Höchstgrenze von drei Monatsgehältern vorgibt, wenn der Arbeitgeber beweisen kann, daß der Bewerber die zu besetzende Position wegen der besseren Qualifikation des eingestellten Bewerbers auch bei diskriminierungsfreier Auswahl nicht erhalten hätte. Dagegen verbietet die Richtlinie, daß eine Höchstgrenze von drei Monatsgehältern für den Fall festgesetzt wird, daß der diskriminierte Bewerber bei diskriminierungsfreier Auswahl die zu besetzende Position erhalten hätte.

19 20

EuGH, Rs. C-317/93. EuGH, Urt. v. 22.4.1997, C-180/95.

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Schließlich ist es nach dieser Entscheidung unzulässig, eine Höchstgrenze von kumulativ sechs Monatsgehältern vorzusehen, wenn ein Schadensersatzanspruch von mehreren Bewerbern, die aufgrund des Geschlechts diskriminiert worden sind, geltend gemacht wird. Es bleibt abzuwarten, wie die nationale Rechtsprechung die fur die Höhe des Schadensersatzes maßgebliche Unterscheidung vornehmen wird, ob der diskriminierte Bewerber auch bei diskriminierungsfreier Auswahl die Stelle erhalten hätte oder nicht. Insoweit erlegt das Urteil dein Arbeitgeber allerdings den Beweis dafür auf, daß der Bewerber die zu besetzende Position wegen der besseren Qualifikation des eingestellten Bewerbers auch bei diskriminierungsfreier Auswahl nicht erhalten hätte. 8. Gerster/Kording

In diesen beiden Vorlageverfahren geht es um die mittelbare Diskriminierung von Frauen im Arbeitsleben. Der Fall Gerster betrifft eine - inzwischen geänderte - Regelung im bayerischen Laufbahnrecht. Hiernach setzt die Beförderung in die nächst höhere Laufbahngruppe unter anderem voraus, daß sich der Betreffende während einer bestimmten Zeit in der gegenwärtigen Stellung bereits bewährt hat. Diese Bewährungszeit betrug dreieinhalb bzw. fünf Jahre: für Teilzeitbeschäftigte verlängerte sich diese Bewährungszeit jedoch um einen bestimmten Faktor. Die Frage lautete, ob es in Anbetracht der Tatsache, daß fast 90 % der Teilzeitbeschäftigten Frauen sind, eine mittelbare Diskriminierung der Frauen darstellt, wenn sie im Falle ihrer Teilzeit länger warten müssen, um auf die Beförderungsliste zu kommen, als Vollzeitarbeitskräfte. 21 Im Fall Kording geht es um die Überprüfung der Regelung im Steuerberatungsgesetz, nach der sich die als Voraussetzung für die Befreiung von der Steuerberaterprüfung geforderte mindestens fünfzehnjährige Sachbearbeitertätigkeit im gehobenen Beamtendienst der Finanzverwaltung für Teilzeitbeschäftigte mit Ermäßigung bis auf die Hälfte der regelmäßigen Arbeitszeit entsprechend verlängert. Auch insoweit müssen also teilzeitbeschäftigte Beamte, und dies sind in diesem Bereich über 92 %, länger warten als vollzeitbeschäftigte Beamte, um ohne Steuerberaterprüfung Steuerberater werden zu kön-

21 22

EuGH, Rs. C-l/95. EuGH, Rs. C-100/95.

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In beiden Fällen hat der Generalanwalt beantragt, die jeweiligen Regelungen als Verstoß gegen die Gleichbehandlungsrichtlinie (mittelbare Diskriminierung) für gemeinschaftswidrig zu erklären. 9. Grant

In diesem zur Zeit anhängigen Verfahren geht es um die Diskriminierung wegen des Geschlechts nach Art. 119 EGV. 23 Der Hintergrund des Verfahrens ist folgender: Die britische Eisenbahngesellschaft gewährt den Bediensteten Fahrtvergünstigungen in Form von Freifahrten und Fahrten zu ermäßigten Tarifen. Diese Vergünstigungen werden auch Ehepartnern der Beschäftigten gewährt sowie Partnern des jeweils anderen Geschlechts, mit denen der Bedienstete in nichtehelicher Lebensgemeinschaft lebt. Frau Grant , Bedienstete der Eisenbahngesellschaft, lebt in einer gleichgeschlechtlichen Gemeinschaft. Da ihrer Partnerin die Vergünstigungen nicht gewährt werden, sieht sie sich wegen ihres Geschlechts, genauer gesagt wegen ihrer sexuellen Orientierung, diskriminiert. Die Frage, die der Gerichtshof nun zu entscheiden hat, geht dahin, ob das Verbot der Diskriminierung wegen des Geschlechts nach Art. 119 EGV auch die Diskriminierung wegen der sexuellen Orientierung untersagt. Am Rande sei erwähnt, daß im Vertrag von Amsterdam ein neuer Art. 6 a EGV vorgeschlagen wird, nach dem unter anderem jede Diskriminierung aus Gründen des Geschlechts, der Rasse, der ethnischen Zugehörigkeit, der Religion oder des Glaubens, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung zu bekämpfen ist.

V. Schluß Für die Wirtschaft, insbesondere die stark exportorientierte deutsche Wirtschaft, ist der Europäische Binnenmarkt mit seinen Grundfreiheiten, dem freien Austausch von Waren, Dienstleistungen und Kapital, von besonderer Bedeutung. Für die Unionsbürger ist es in erster Linie ihre Freiheit, ohne Grenzkontrollen in Europa zu reisen und sich grenzüberschreitend ohne Beschrän-

23

EuGH, Rs. C-249/96.

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kung niederlassen und arbeiten zu können, die der Europäischen Union sinnfälligen Wert gibt. Sei es der Fußballspieler Bosmany dessen grenzüberschreitender Wechsel von einem Verein zu einem anderen nicht durch eine Ablösesumme erschwert werden darf, sei es die Grenzen der Kompetenz der Gemeinschaft, Regelungen zur Arbeitszeit oder eine Bananenmarktordnung zu erlassen - die Bandbreite der Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofes ist erheblich und betrifft immer mehr Lebensbereiche. Dies kann nicht verwundern, wenn man die fortschreitende Integrationsdichte berücksichtigt, hat doch inzwischen jede zweite gesetzliche Regelung in Deutschland mittelbar oder unmittelbar einen gemeinschaftsrechtlichen Hintergrund, im Bereich des Wirtschaftsrechts beruhen inzwischen gar etwa 80 % des deutschen Nonnenbestandes auf Gemeinschaftsrecht. Der Europäische Gerichtshof hat zweifellos zur Fortbildung des Gemeinschaftsrechts Erhebliches beigetragen. Ob man hieraus herleiten kann, daß er seine Rolle als die eines „Motors der Integration" definiert, möchte ich bezweifeln. Dies mag in früheren Jahrzehnten vielleicht der Fall gewesen sein; unter dem Hintergrund eines inzwischen ausdilTcrcnzicrten Gemeinschaftsrechtssystems und einer umfangreichen Judikatur kann es heute jedenfalls nicht mehr Aufgabe des Gerichtshofs sein, die Geschwindigkeit der weiteren Europäischen Integration zu bestimmen und ihr in jedem Falle die Interessen der einzelnen Mitgliedstaaten unterzuordnen. Insoweit ist der Europäische Gerichtshof nach meiner festen Überzeugung nicht „Motor der Integration"; die Geschwindigkeit und die Dichte der weiteren Integration zu bestimmen, ist vielmehr Aufgabe der Politik. Aufgabe des Gerichtshofs ist es, Hüter der Verträge zu sein und Garant der Grundfreiheiten, die die Gemeinschaft zu einem Europa der Bürger machen.

Die Rechtsprechung zu den Grundrechten der Arbeit Von Peter Hanau

I. Allgemeines Art. 9 Abs. 3 GG und Art. 12 GG kann man als die Grundrechte der Arbeit bezeichnen, nehmen sie doch beide ausdrücklich auf die Arbeit Bezug, des näheren auf die Arbeitsbedingungen, die Berufe und die Arbeitsplätze. Folgerichtig ist die in Art. 9 Abs. 3 GG verankerte Koalitionsfreiheit das einzige Grundrecht, das das Grundgesetz ausdrücklich mit unmittelbarer Drittwirkung für Arbeitgeber und Arbeitnehmer (und darüber hinaus jedermann) ausgestattet hat, denn sie soll nicht nur und nicht einmal in erster Linie das Verhältnis zwischen den Koalitionen (Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden) und dem Staat regeln, sondern vor allem das Verhältnis zwischen den Arbeitnehmern und den Arbeitgebern und ihren jeweiligen Organisationen. Bei Art. 12 GG fehlt eine solche ausdrückliche Drittwirkungsklausel, doch haben Rechtsprechung und Rechtswissenschaft nachgebessert und durch die Lehren von der mittelbaren Drittwirkung und den grundrechtlichen Schutzpflichten eine weitgehend horizontale Wirkung des Art. 12 GG erreicht 1, um die europarechtliche Terminologie zu verwenden. Naturgemäß haben diese Grundrechte der Arbeit die Arbeitsgerichte von Anfang an stark beschäftigt. 2 Von Anfang an hat sich aber auch das Bundesverfassungsgericht richtungweisend mit dieser Materie befaßt, so daß sich mein Bericht nicht auf die Arbeitsgerichte beschränken kann, sondern auch und sogar vor allem das Spannungsverhältnis, europarechtlich sagt man höflich Kooperationsverhältnis, zwischen Arbeits- und Verfassungsgerichtsbarkeit einbeziehen muß. Dabei hat sich dieses Verhältnis im Laufe der Zeit ver1

Dazu grundlegend Stet?/, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. ΙΠ, 1,1988, § 7b. 2 Siehe z.B. BAG 29.6.1965 AP Nr. 6 Art. 9 GG = DB 1965, 1365 zur gewerkschaftlichen Mitgliederwerbung im Betrieb; BAG 13.6.1958 AP Nr. 6 Art. 12 GG = DB 1958, 932 zur Beschränkung von Nebentätigkeiten.

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ändert, da sich das Bundesverfassungsgericht in unserem Bereich vom Bremser zum Antreiber der Arbeitsgerichtsbarkeit entwickelt hat, d.h. eine stärkere Berücksichtigung der Grundrechte verlangt. Das ist vor wenigen Tagen wieder deutlich geworden, als das Bundesverfassungsgericht mehrere Entscheidungen ostdeutscher Landesarbeitsgerichte über die Kündigung von Angehörigen des öffentlichen Dienstes aus der ehemaligen DDR, die bestimmte Parteiämter bekleidet hatten, aufhob, weil sie die Grundrechte, insbesondere das Grundrecht aus Art. 12 GG, dieser Personen nicht hinreichend beachtet hätten.3 Daß das Bundesverfassungsgericht von den Arbeitsgerichten einen beherzteren Zugriff auf die Grundrechte verlangt, beruht nicht etwa darauf, daß diese kein Verständnis für die grundrechtliche Bedeutung ihres Faches hätten. Im Gegenteil ist es sogar das Bundesarbeitsgericht unter seinem ersten Präsidenten Professor Dr. Nipperdey gewesen, das den Grundrechten durch die Lehre von ihrer unmittelbaren Drittwirkung ein breites Einfallstor in das Arbeitsrecht und in das gesamte Privatrecht geöffnet hat.4 Das Bundesverfassungsgericht ist dem nicht gefolgt 5 und hat das Bundesarbeitsgericht in einer wichtigen Frage des Art. 9 Abs. 3 GG, bei dem Zugangsrecht externer Gewerkschaftsvertreter in die Betriebe, ausdrücklich zurückgepfiffen. 6 Erst in den 90er Jahren, besonders seit 1995 hat sich das geändert, hat das Bundesverfassungsgericht gleichsam die Arbeitsgerichtsbarkeit überholt, so daß diese erneut vor der Aufgabe steht, sich an die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts anzupassen, diesmal aber nicht gebremst, sondern angetrieben. Wiederum ist dieses Vorantreiben der Grundrechte mit bestimmten Personen verknüpft, nämlich den Richtern am Bundesverfassungsgericht Professor Dr. Dieterich, jetzt Präsident des Bundesarbeitsgerichts, und Dr. Kühling.7 Das Bundesverfassungsgericht versteht Art. 9 Abs. 3 GG heute so, daß er jede gewerkschaftsspezifische Betätigung und jeden Tarifvertrag unter seinen Schutz stellt. Und es versteht Art. 12 GG so, daß es den Bestand eines jeden Arbeitsverhältnisses unter seinen Schutz stellt (Nachweise im folgenden). Das 3

Pressemitteilung Nr. 64/97 vom 8.7.1997. Zuerst BAG 15.1.1955 AP Nr. 4 Art. 3 GG = BAGE 1, 258. 5 Allgemein gegen die unmittelbare Drittwirkung von Grundrechten im Privatrecht das berühmte „Lüth"-Urteil v. 15.1.1958, BVerfGE 7, 198; für Betriebsvereinbarungen bestätigt durch Urteil vom 24.4.1986, BVerfGE 73, 261. 6 Beschluß vom 17.2.1981 BVerfGE 57, 220 = NJW 1981, 1829. 7 Siehe Dieterich, Die „Warteschleifen-Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts", RdA 1992, 330; Zur Pflicht der Gerichte, das Recht fortzubilden, RdA 1993, 67; Grundgesetz und Privatautonomie im Arbeitsrecht, RdA 1985, 129; Kühling, Arbeitsrecht in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, Arbeit und Recht 1994, 126. 4

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bedeutet freilich nicht, daß jede gewerkschaftliche Betätigung, jeder Tarifvertrag, jedes Arbeitsverhältnis verfassungsfest und damit unantastbar wäre. Es bedeutet aber, daß sie von staatlichen Stellen und von den Arbeitgebern und ihren Organisationen nicht beliebig eingeschränkt werden können, auch nicht aus beliebigen Sachgründen, sondern nur aus Gründen, die eine mindestens gleichwertige verfassungsrechtliche Legitimation und Verankerung haben. Die Arbeitsgerichte stehen nun vor der Aufgabe, diesen Abwägungsprozeß erneut durchzuführen. An dieser Stelle wird eine weitere Eigenheit der Grundrechte aus Art. 9 Abs. 3 und 12 GG deutlich. Es handelt sich um Grundrechte der Arbeit schlechthin, also nicht nur um Grundrechte der Arbeitnehmer, sondern auch um solche der Arbeitgeber. Je mehr das Bundesverfassungsgericht die Grundrechtsposition der Arbeitnehmer ausbaut, desto stärker trifft diese auf die Positionen der Arbeitgeberseite. Es ist sogar so, daß sich in Zukunft stärkeres Augenmerk auf die Seite der Arbeitgeber richten wird und muß, da die Grundrechte der Arbeitnehmer vom Bundesverfassungsgericht ganz umfassend verstanden und ausgestaltet werden. Schranken ergeben sich nicht mehr, wie bisher, aus den Grundrechten der Arbeitnehmer selbst, sondern nur aus entgegenstehenden Rechten der Arbeitgeber - freilich nicht nur der Arbeitgeber. Denn die Grundrechte von Arbeitnehmern können nicht nur mit denen der Arbeitgeber kollidieren, sondern auch mit denen anderer Arbeitnehmer oder Arbeitssuchender. Dies gilt besonders für Art. 12 GG, der Gewährleistungen sowohl für das Behalten als für das Erlangen eines Arbeitsplatzes enthält.

I I . Art. 9 Abs. 3 GG nach der Sprengung des Kernbereichs Die skizzierte Wende in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts betrifft im Bereich des Art. 9 Abs. 3 GG das früher entscheidende Merkmal des Kernbereichs der Koalitionsfreiheit. Eine Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts vom 8.12.19788 umschrieb die damals herrschende Auffassung so: „Art. 9 Abs. 3 GG gewährleistet den Koalitionen (Gewerkschaften) ihr Entstehen und ihren Bestand, schützt darüber hinaus aber auch einen Kernbereich koalitionsgemäßer Tätigkeiten, d.h. deqenigen Tätigkeiten, für die die Kaolitionen gegründet und die für die Erhaltung und Sicherung ihrer Existenz unerläßlich sind. Das entspricht der ständigen Rechtsprechung des BVerfG und des erkennenden Senats". Aus dieser Beschränkung der verfassungsrecht-

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AP Nr. 28 Art. 9 GG = DB 1979, 1043.

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lichen Gewährleistung der Koalitionsfreiheit auf einen Kernbereich folgerte diese Entscheidung, daß die Gewerkschaften kein Recht gegenüber den Arbeitgebern hätten, die Wahl gewerkschaftlicher Vertrauensleute im Betrieb durchführen zu lassen. Die Begründung stützt sich nicht auf Gegenrechte der Arbeitgeber, sondern allein darauf, daß die Inanspruchnahme der Betriebsräume für die Wahl der gewerkschaftlichen Vertrauensleute zur Erhaltung und Sicherung der Existenz der Gewerkschaften nicht unerläßlich sei. Die spätere Rechtsprechung hat diese Linie fortgesetzt. So heißt es in einem Urteil des BAG vom 23.2.19799 schon im Leitsatz, nicht zur verfassungsrechtlich geschützten Kernbereichsbetätigung einer Gewerkschaft - weil für die Erhaltung und Sicherung ihrer Existenz nicht unerläßlich - gehöre die Verteilung einer periodisch erscheinenden Gewerkschaftszeitung im Betrieb ausschließlich an die Mitglieder. Wiederum wird also nicht auf Gegenrechte der Arbeitgeber, sondern auf die immanente Beschränkung der gewerkschaftlichen Rechte selbst abgestellt. Besonders anschaulich dann ein Urteil des BAG vom 23.2.1979 zur Frage, ob Mitglieder der Industriegewerkschaft Bau-Steine-Erden (ablösbare) Gewerkschaftsembleme auf vom Arbeitgeber gestellten Schutzhelmen anbringen dürfen 10. Diese Befugnis wurde wiederum verneint, weil die gewerkschaftliche Werbung und Inanspruchnahme fremden Eigentums nicht unerläßlich im Sinne der Kernbereichsvoraussetzung sei, wenn sie ebenso gut mit anderen Werbemitteln verfolgt werden könnte, die die Eigentumsrechte anderer unberührt lassen. Hier tauchen mit den Eigentumsrechten Gegenpositionen der Arbeitgeber auf. Die von der Gewerkschaft und ihren Mitgliedern jedenfalls auf eine gewisse Dauer beanspruchte Nutzung der Helme als ständig auf allen ihren Arbeitsplätzen in Erscheinung tretende Werbeträger sowie der damit gleichzeitig eingriffsweise erworbene, geldwerte Vorteil in Form ersparter eigener Aufwendungen für gleich wirksame Werbungen anderer Art (z.B. für ein Anmieten einer entsprechenden Werbefläche) seien je für sich und insgesamt von solchem Gewicht, daß den Arbeitgebern ein Beseitigungsanspruch aus § 1004 BGB nicht versagt werden könne. Das Entscheidende war aber auch hier die Beschränkung der Koalitionsfreiheit auf den Kernbereich gewerkschaftlicher Tätigkeit, denn aus ihr wurde abgeleitet, daß das Eigentumsrecht der Arbeitgeber den Vorrang habe.

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AP Nr. 29 Art. 9 GG = DB 1979, 1185. AP Nr. 30 Art. 9 GG = DB 1979, 1089.

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Auf derselben Überlegung beruhen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesarbeitsgerichts11, die ein Zugangsrecht externer Gewerkschaftsvertreter zu den Betrieben zum Zwecke koalitionsspezifischer Betätigung jedenfalls für den Fall verneinen, daß die Gewerkschaft durch Mitglieder im Betrieb vertreten ist. Dann sei der Zutritt Externer nicht unerläßlich und gehöre deshalb nicht zum Kernbereich. Das Bundesverfassungsgericht 12 hat zwar ausgeführt, dem Betätigungsrecht der Koalitionen dürften nur solche Schranken gezogen werden, die im konkreten Fall zum Schutz anderer Rechtsgüter, z.B. des Betriebsfriedens oder des ungestörten Arbeitsgangs von der Sache her geboten sind. Regelungen, die nicht in dieser Weise gerechtfertigt sind, tasteten den Kerngehalt der Koalitionsbetätigung an. Bei der Beurteilung des Zugangsrechts stellt das Gericht aber gar nicht die Frage, ob das Zutrittsrecht Externer solche Rechtsgüter gefährden würde, sondern lehnte es mit der bereits erwähnten Begründung ab, daß es von vornherein nicht von der Verfassungsgarantie gewerkschaftlicher Koalitionsbetätigung umfaßt sei. Demgegenüber hatte die vom BVerfG aufgehobene Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts vom 14.2.197813 das Zutrittsrecht zu dem grundrechtlich geschützten Bereich gewerkschaftlicher Betätigung gerechnet und folgerichtig mit den Grundrechten der Arbeitgeber aus Artt. 13 (Hausrecht) und 14 (Eigentum) GG abgewogen, mit dem Ergebnis, daß die gewerkschaftliche Werbeund Informationstätigkeit im Betrieb verschiedenen Einschränkungen zu unterwerfen sei: Sie dürfe den Arbeitsablauf nicht beeinträchtigen und erst recht nicht stören und deshalb nur vor oder nach der Arbeitszeit und während der Pausen ausgeübt werden. Auf die besondere Eigenart der Betriebe, wie sie insbesondere bei kirchlichen Einrichtungen gegeben sei, müsse Rücksicht genommen werden. Der Grundsatz des Koalitionspluralismus sei zu beachten, parteipolitische Inhalte seien zu vermeiden, es dürfe nicht gegen die negative Koalitionsfreiheit verstoßen werden und Arbeitgeber und Arbeitgeberverbände dürften nicht in unsachlicher Weise angegriffen werden. Auf all das sind die anschließenden Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts und erneut des Bundesarbeitsgerichts14 gar nicht mehr eingegangen, da sie den Zutritt Externer aus der Verfassungsgarantie gewerkschaftlicher Betätigung herausgenommen haben und deshalb gar nicht mehr zu einer Abwägung mit entgegenstehenden Arbeitgeberinteressen gekommen sind.

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BAG 19.1.1982 AP Nr. 10 Art. 140 GG = DB 1982, 1015 im Anschluß an die Fn. 6 nachgewiesene Entscheidung des Β Ver IG. 12 BVerfGE 57, 220, 246. 13 AP Nr. 26 Art. 9 GG = DB 1978, 892. 14 Nachweise oben Fn. 6, 11.

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Mit besonderem Nachdruck wurde diese These dann in einem Urteil des Bundesarbeitsgerichts vom 26.1.1982 vertreten, nach dem die Verteilung gewerkschaftlicher Werbe- und Informationsschriften während der Arbeitszeit der Empfänger nicht zum Kernbereich einer koalitionsmäßigen Betätigung gehört. Darauf, ob durch eine solche Werbetätigkeit Arbeitsabläufe gestört werden, komme es nicht an.15 Die Begründung macht die Ausgangsthese besonders deutlich: Art. 9 Abs. 3 GG schütze die Koalitionsfreiheit und damit auch das Betätigungsrecht der Koalitionen nur in einem Kernbereich. Auch eine koalitionsspezifische Betätigung sei verfassungsmäßig nur insoweit verbürgt, als sie für die Erhaltung und Sicherung der Existenz der Koalition als unerläßlich betrachtet werden müsse. Die auf einen Kernbereich beschränkte verfassungsrechtliche Garantie (auch) einer Werbe- und Informationstätigkeit einer Gewerkschaft besage eben nicht, daß jede über diesen Kernbereich hinausgehende Betätigung ebenfalls ihre rechtliche Grundlage in Art. 9 Abs. 3 GG finde und nur durch gesetzliche Vorschriften oder Rechte Dritter bis an die Grenze des Kernbereichs beschränkt werden dürfe. Art. 9 Abs. 3 GG gebe vielmehr ein Recht zur koalitionsmäßigen Betätigung nur innerhalb des Kernbereichs, d.h. soweit diese Betätigung für die Erhaltung und Sicherung der Existenz der Koalitionen unerläßlich sei. Weitergehende Rechte der Koalitionen könnten nur vom Gesetzgeber eingeräumt werden. Das Bundesarbeitsgericht ist bei dieser Linie geblieben. Die Grundsätze des Urteils vom 26.1.1982 hat es in einem Urteil vom 13.11.1991 wiederholt, in dem es um die Abmahnung eines freigestellten Betriebsratsmitgliedes ging, der gewerkschaftliches Werbematerial während der Arbeitszeit verteilt hatte.16 Wiederum wurde dies als unzulässig bezeichnet, da es nicht zum verfassungsrechtlich geschützten Kernbereich koalitionsspezifischer Betätigung gehöre. Dann setzte aber die Wende ein: Dieses Urteil wurde vom Bundesverfassungsgericht mit Beschluß vom 14.11.1995 aufgehoben. 17 Das Gericht betont nun, Mitgliederwerbung sei nicht nur in dem Maße grundrechtlich geschützt, in dem sie für die Erhaltung und Sicherung des Bestandes der Gewerkschaft unerläßlich sei. Der Grundrechtsschutz erstrecke sich vielmehr auf alle Verhaltensweisen, die koalitionsspezifisch sind. Ob eine koalitionsspezifische Betätigung für die Wahrnehmung der Koalitionsfreiheit unerläßlich sei, könne demgegenüber erst bei Einschränkungen dieser Freiheit Bedeutung erlangen. Insoweit gelte für Art. 9 Abs. 3 GG nichts anderes als für die übrigen Grundrechte. Allerdings habe das Bundesverfassungsgericht selbst von einem Kern-

15 16 17

AP Nr.35 Art. 9 GG = DB 1982, 1327. AP Nr.7 § 611 BGB Abmahnung = DB 1992, 843. AP Nr.80 Art. 9 GG = BVerfGE 93, 352.

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bereich der Koalitionsfreiheit gesprochen, doch habe es den Schutzbereich des Art. 9 Abs. 3 GG damit nicht von vornherein auf den Bereich des Unerläßlichen beschränken wollen. So heiße es etwa in dem Beschluß zu gewerkschaftlichen Zutrittsrechten bei kirchlichen Einrichtungen18, dem Betätigungsrecht der Koalitionen dürften nur solche Schranken gezogen werden, die im konkreten Fall zum Schutz anderer Rechtsgüter von der Sache her geboten seien. Wie oben dargelegt wurde, hatte das Bundesverfassungsgericht damals allerdings keine Konsequenzen aus dieser Aussage gezogen. Der Beschluß vom 14.11.1995 holt das Versäumte nach, gipfelnd in dem Leitsatz, der Schutz des Art. 9 Abs. 3 GG beschränke sich nicht auf diejenigen Tätigkeiten, die für die Erhaltung und die Sicherung des Bestandes der Koalition unerläßlich sind; er umfasse vielmehr alle koalitionsspezifischen Verhaltensweisen. Dazu gehörten die Mitgliederwerbung durch die Koalition und ihre Mitglieder. Folgerichtig beschränkt sich das Bundesverfassungsgericht jetzt nicht mehr auf die Behandlung der Rechte der Gewerkschaften und ihrer Mitglieder, sondern verlangt eine Abwägung mit denen der Arbeitgeber. Dazu wird ausgeführt, auf der einen Seite gehe es um den Schutz, den Art. 9 Abs. 3 GG der Mitgliederwerbung für eine Gewerkschaft angedeihen lasse, und um das Gewicht des Interesses, auch während der Arbeitszeit für die Gewerkschaft zu werben. Für die Position des Arbeitgebers streite dessen wirtschaftliche Betätigungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG), die insbesondere bei einer Störung des Arbeitsablaufs und des Betriebsfriedens berührt werde. Damit ist die bisherige Rechtsprechung zur gewerkschaftlichen Betätigung im Betrieb Makulatur. Die Arbeitsgerichte können in Zukunft nicht mehr auf einen nur rudimentären Schutz der gewerkschaftlichen Betätigung verweisen, sondern müssen deren im Ansatz umfassenden verfassungsrechtlichen Schutz abwägen gegen die gleichfalls verfassungsrechtlich umfassend geschützte

wirtschaftliche Betätigungsfreiheit der Arbeitgeber. Der letzte Satz der neuen Entscheidung deutet an, daß Störungen des Arbeitsablaufs und des Betriebsfriedens ein zu hoher Preis für gewerkschaftliche Betätigung im Betrieb wären. Unter dieser Schwelle dürfte es aber zu einer Erweiterung der gewerkschaftlichen Werbemöglichkeiten in den Betrieben kommen, so daß abweichend von der bisherigen Rechtsprechung Gewerkschaftsembleme an vom Arbeitgeber gestellten Schutzhelmen und gewerkschaftliche Aktivitäten in der Arbeitszeit, die den Arbeitsablauf nicht stören, zulässig sein dürften. Generell wird sich sagen lassen, daß den Gewerkschaften und ihren Mitgliedern solche Aktivitäten in den Betrieben nicht untersagt werden dürfen, die anderen Vereinigungen und Arbeitnehmern erlaubt werden. Eine weitergehende Pflicht

18

Oben Fn. 12.

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zur bevorzugten Förderung gewerkschaftlicher Aktivitäten im Betrieb, etwa durch zur Verfugungstellung von Räumen, dürfte es dagegen nach wie vor nicht geben. Grenzstein des Anstoßes wird wieder der Zutritt externer Gewerkschaftsvertreter zum Betrieb zu koalitionsspezifischen Zwecken sein. Bisher wurde das Zutrittsrecht, wie dargelegt, verneint, weil es nicht zum Kernbereich unerläßlicher Gewerkschaftstätigkeit gehöre. Diese Begründung läßt sich nicht mehr halten. Trotzdem wird das Unerläßlichkeitskriterium in allen Fällen bedeutsam sein, in denen eine gewerkschaftliche Aktivität mit einem fühlbaren Eingriff in arbeitgeberische Rechtspositionen wie das Hausrecht verbunden ist. Denn dann verlangt der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, an den auch die Ausübung der Koalitionsfreiheit gebunden ist, den Eingriff auf das Unerläßliche zu beschränken. Das Kriterium der Unerläßlichkeit wird sich also in Zukunft nicht aus dem Schutzbereich der gewerkschaftlichen Koalitionsfreiheit, sondern aus dem Schutzbereich der arbeitgeberischen Gegenposition ergeben.

Dies könnte dazu fuhren, daß das koalitonsspezifische Zugangsrecht nach wie vor grundsätzlich abgelehnt wird, Ausnahmen aber großzügiger zugelassen werden, wenn die gewerkschaftliche Werbetätigkeit durch Mitglieder im Betrieb aufgrund besonderer Umstände überdurchschnittlich erschwert ist. Dabei ist auch zu berücksichtigen, daß die Arbeitgeber schon durch die Betriebsverfassung gehalten sind, eine Organisation der Arbeitnehmer im Betrieb zu dulden und zu fördern.

I I I . Konsequenzen für die Tarifautonomie Die Entwicklung von einer Reduzierung der verfassungsrechtlichen Gewährleistung gewerkschaftlicher Betätigung auf einen Kernbereich bis zu einer Abwägung der beiderseits umfassend gedachten Rechtspositionen der Gewerkschaften und ihrer Mitglieder einerseits, der Arbeitgeber und ihrer Verbände andererseits ist nicht auf die gewerkschaftliche Werbe- und Informationstätigkeit im Betrieb beschränkt, sondern erstreckt sich auch auf die Tarifautonomie, im Sinne eines Schutzes der Tarifverträge vor gesetzlichen Eingriffen. Zunächst ging die Rechtsprechung auch hier davon aus, daß der Gesetzgeber zu weitgehenden Eingriffen in Tarifverträge befugt sei, da die Koalitionsfreiheit nur in einem Kernbereich geschützt sei. Noch ein Urteil des Bundesarbeitsgerichts vom 20.10.199319 rechtfertigt das gesetzliche Verbot

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AP Nr. 3 § 41 SGB VI = DB 1994, 46.

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einer tarifvertraglichen Altersgrenze von 65 damit, daß es nicht in den durch Art. 9 Abs. 3 GG geschützten Kernbereich der Tarifautonomie eingreife. Allerdings greift dieses Urteil die in der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Zugangsrecht (oben Fn. 12) angelegte, allerdings nicht konsequent durchgeführte Erweiterung des Kernbereichs auf. In den Kernbereich der Koalitionsfreiheit werde stets eingegrififen, wenn dem Betätigungsrecht der Koalitionen Schranken gesetzt werden, die zum Schutz anderer Rechtsgüter von der Sache her nicht geboten sind. Dies wurde dann aber unter Hinweis auf das sozialstaatliche Postulat, die Finanzierbarkeit der Sozialversicherung zu sichern, und auf den Schutz der Arbeitsverhältnisse durch Art. 12 GG verneint. Dies war aber noch keine wirkliche Abwägung, da die Gründe, die zur Rechtfertigung des gesetzlichen Eingriffs in die tarifVertragliche Regelung angeführt wurden, kaum Gewicht haben. Die Finanzierbarkeit der Sozialversicherung wird durch die Aufhebung der Altersgrenze von 65 kaum gefordert, da eine Weiterarbeit nach diesem Zeitpunkt den Anspruch auf Altersrente nicht mindert, und dem Schutz bestehender Arbeitsverhältnisse durch Art. 12 GG steht das durch das gleiche Grundrecht geschützte Interesse jüngerer Arbeitnehmer entgegen, die Arbeitsplätze Älterer einzunehmen. Ausschlaggebend für diese Entscheidung war deshalb wieder der Ausgangspunkt, die Koalitionsfreiheit sei nur in einem Kernbereich geschützt. Die Wende ist in diesem Bereich erst durch einen Beschluß des Bundesverfassungsgerichts vom 24.4.1996 eingetreten.20 Auch hier wurde der gesetzliche Eingriff (durch das Gesetz über befristete Arbeitsverträge mit wissenschaftlichem Personal an Hochschulen und Forschungseinrichtungen vom 14.6.1985) in eine tarifvertragliche Regelung (die Sonderregelung SR 2y zum BAT über Zeitverträge) im Ergebnis gebilligt, doch stützt sich das Gericht nicht mehr auf die Kernbereichslehre, sondern auf eine Abwägung der beteiligten Interessen. Ausgangspunkt ist ausdrücklich, daß der Schutz des Art. 9 Abs. 3 GG nicht von vornherein auf einen Kernbereich koalitionsmäßiger Betätigung beschränkt sei, sondern sich vielmehr auf alle koalitionsspezifischen Verhaltensweisen erstrecke. Dies gelte auch, soweit Art. 9 Abs. 3 GG den Koalitionen einen spezifischen Wirkungsbereich für den Abschluß von Tarifverträgen gewährleistet. Folgerichtig kommt es nun auch in diesem Bereich auf eine Abwägung mit entgegenstehenden Rechtspositionen an. Dazu führt die Entscheidung aus, die Koalitionsfreiheit sei zwar vorbehaltlos gewährleistet. Das bedeute aber nicht, daß dem Gesetzgeber jede Regelung im Schutzbereich dieses Grundrechts verwehrt wäre. Soweit das Verhältnis der Tarifvertragsparteien zueinander berührt wird, die beide den Schutz des Art. 9 Abs. 3 GG

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AP Nr. 2 § 57a HRG = BVerfGE 94, 268.

6 Grupp/Weth

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genießen, bedürfe die Koalitionsfreiheit der gesetzlichen Ausgestaltung. Aber auch im übrigen sei dem Gesetzgeber die Regelung von Fragen, die Gegenstand von Tarifverträgen sein können, nicht von vornherein entzogen. Art. 9 Abs. 3 GG verleihe den Tarifvertragsparteien in diesem Bereich zwar ein Normsetzungsrecht, aber kein Normsetzungsmonopol. Das ergebe sich bereits aus der Gesetzgebungszuständigkeit für das Arbeitsrecht gem. Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG. Und nun folgt der entscheidende Satz: „Eine gesetzliche Regelung in dem Bereich, der auch Tarifverträgen offensteht, kommt jedenfalls dann in Betracht, wenn der Gesetzgeber sich dabei auf Grundrechte Dritter oder andere mit Verfassungsrang ausgestattete Rechte schützen kann und den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wahrt". Dem fügt das Gericht Erläuterungen an, die zeigen, daß die Rechtsprechung wieder am Anfang steht. Das Gericht läßt sogar ausdrücklich offen, ob der Gesetzgeber weitergehende Regelungsbefugnisse zum Schutz sonstiger Rechtsgüter hat. Auch staffelt das Gericht den Grundrechtsschutz im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfüng nach dem Gegenstand der gesetzlichen Regelung. Die Wirkkraft des Grundrechts nehme in dem Maße zu, in dem eine Materie aus Sachgründen am besten von den Tarifvertragsparteien geregelt werden könne. Die sachliche Nähe einer Materie zur Tarifautonomie werde äußerlich an dem Umfang erkennbar, in dem die Tarifvertragsparteien in der Praxis von ihrer Regelungsmacht Gebrauch machen. In diesem Zusammenhang mißt das Gericht dem in § 77 Abs. 3 BetrVG verankerten Schutz tarifüblicher Regelungen besondere verfassungsrechtliche Bedeutung zu. Je gewichtiger der Schutz, den Art. 9 Abs. 3 GG insofern verleiht, desto schwerwiegender müßten die Gründe sei, die einen Eingriff rechtfertigen sollen. Gesetz und Tariß fertrag sind damit aus dem bisherigen Verhältnis der Über- und Unterordnung in ein Verhältnis der Gleichordnung gerückt worden, bei dem im Einzelfall die besseren Argumente den Ausschlag dafür geben müssen, welche Seite im Kollisionsfall obsiegt. Im Anlaßfall war es das Ge-

setz, da es die Rotation des akademischen Mittelbaus und damit den Zugang immer neuer junger Wissenschaftler zu vertiefter universitärer Tätigkeit im Interesse der Wissenschaftsfreiheit sichert. Dies schien dem Gericht sogar so wichtig, daß es auch die gesetzliche Sperre gegen künftige abweichende Tarifverträge sichert. Als Faustregel für die zukünftige Abwägung zwischen Gesetz und Tarifvertrag mag dienen, daß Tarifverträge durch Gesetz nicht im Interesse einer Tarifpartei, wohl aber im öffentlichen Interesse eingeschränkt werden können. So wäre m.E. ein Eingriff in die Tarifverträge über die Entgeltfortzahlung im

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Krankheitsfall zulässig, um die Finanzierung der Pflegeversicherung zu sichern 21, aber nicht, um die Arbeitgeber im eigenen Interesse von Kosten zu entlasten. Ein öffentliches Interesse an der Beschränkung von Tarifregelungen kann auch bestehen, soweit sie zum Schutz der Sozialversicherung erforderlich ist. So können tarifliche Regelungen über einen Zuschuß zum Kurzarbeitergeld oder zum Krankengeld einen Anreiz zum Mißbrauch der sozialrechtlichen Regelung durch Arbeitgeber und Arbeitnehmer geben. Hier läßt sich dem schwedischen Recht ein Gedanke entnehmen, wie man das öffentliche Interesse mit der Tarifautonomie vereinbaren kann: Kein völliges Verbot tariflicher Zusatzregelungen, wohl aber eine Begrenzung auf 90% des entgangenen Entgelts, um immer noch einen gewissen Anreiz zur Vermeidung der Inanspruchnahme öffentlicher Kassen zu geben.

IV. Entwicklungsstufen in der verfassungsrechtlichen Gewährleistung der freien Wahl des Arbeitsplatzes (Art. 12 GG) 1. Abkehr von Arbeitsplätzen Auch das zweite Grundrecht der Arbeit, die Freiheit der Arbeitsplatzwahl, hat eine so wechselvolle Entwicklung durchgemacht, daß die Rechtsprechung wieder am Anfang steht. Allerdings hat das Bundesarbeitsgericht dieses Grundrecht, das zunächst vor allem von Unternehmern in Anspruch genommen wurde, schon früh in den Dienst von Arbcilnchmerinteressen gestellt, aber nur in einer besonderen Ausprägung, gleichsam von hinten aufgezäumt. Es hat nämlich Art. 12 GG nicht unmittelbar im Sinne eines Rechtes auf Erlangung und Erhaltung eines Arbeitsplatzes verstanden, sondern als Recht, einen Arbeitsplatz aufzugeben. Daraus wurde die Unwirksamkeit vor allem von Vereinbarungen gefolgert, die Arbeitnehmer bei Aufgabe des Arbeitsplatzes zur Rückzahlung von Gratifikationen oder Ausbildungskosten verpflichten. 22 Dies sollte es zwar mittelbar den Arbeitnehmer erleichtern, andere Arbeitsplätze zu erlangen; in Bezug auf den gerade vorhandenen Arbeitsplatz wirkte Art. 12 GG aber von seiner negativen Seite her, als Recht einen Arbeitsplatz aufzugeben. Art. 12 GG wurde so stark in diese Richtung gedehnt, daß das

21 Siehe Hanau, Arbeitsrechtliche und verfassungsrechtliche Fragen zu Karenztagen bei der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall, Forschungsbericht 231 des Bundesministeriums fur Arbeit und Sozialordnung. 22 Zuerst Urteil vom 29.6.1962 AP Nr. 25 Art. 12 GG = DB 1962, 1312.

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allgemeine Arbeitnehmerinteresse, das zugleich ein öffentliches Interesse ist, Arbeitsplätze durch Aus- und Fortbildung zu sichern, zu kurz kam.23 2. Behalten von Arbeitsplätzen Die Bedeutung dieser Rechtsprechung zu Art. 12 GG ist freilich stark zurückgegangen, seitdem sich die typischen Interessen von Arbeitgebern und Arbeitnehmern mit dem Wechsel der Konjunkturen verkehrt haben. Heute sind es typischerweise nicht die Arbeitnehmer, sondern die Arbeitgeber, die auf die Beendigung von Arbeitsverhältnissen aus sind. Damit wird Art. 12 GG für die gegenteilige Frage relevant, wie weit er den Fortbestand einmal gewählter Aifoeitsverhältnisse sichern kann. Für den Regelfall enthält allerdings das Kündigungsschutzgesetz eine durch langjährige Rechtsprechung verfeinerte Abwägung der beteiligten Interessen, so daß hier, wie das Bundesverfassungsgericht ausdrücklich festgestellt hat24, kein verfassungsrechtlicher Nachholbedarf besteht. Erst die Übernahme des öffentlichen Dienstes der DDR im Zuge der Wiedervereinigung und die darauf bezogenen Abwicklungs- und Kündigungsvorschriften des Einigungsvertrages warfen die Frage auf, ob und ggf. in welchem Umfang Art. 12 GG gesetzlichen Eingriffen und Kündigungserleichterungen bei Arbeitsverhältnissen entgegensteht. Dazu hat das Bundesverfassungsgericht schon mit Urteil vom 24.4.1991 auf Art. 12 GG zurückgegriffen und der Freiheit der Arbeitsplatzwahl die verfassungsrechtliche Gewährleistung entnommen, den einmal gewählten Arbeitsplatz beizubehalten.25 Ebenso wie die freie Berufswahl sich nicht in der Entscheidung zur Aufnahme eines Berufes erschöpfe, sondern auch die Fortsetzung und Beendigung eines Berufes umfasse, beziehe sich die freie Arbeitsplatzwahl neben der Entscheidung für eine konkrete Beschäftigung auch auf den Willen des einzelnen, diese beizubehalten oder aufzugeben. Allerdings sei mit der Wahlfreiheit keine Bestandsgarantie für den einmal gewählten Arbeitsplatz verbunden. Insoweit obliege dem Staat lediglich eine aus Art. 12 Abs. 1 GG folgende Schutzpflicht. Folgerichtig betrachtet das Bundesverfassungsgericht die Aufhebung von Arbeitsverhältnissen in abgewickelten Einrichtungen der DDR als gesetzlichen Eingriff in das Grundrecht auf freie Wahl des Arbeitsplatzes, der allerdings im wesentlichen mit dem Grundgesetz vereinbar sei, da auch die Arbeitsplatzwahl unter dem Vorbehalt gesetzlicher Beschränkungen stehe, die 23

Zur Kritik Hanau/Stoffels, Beteiligung von Arbeitnehmern an den Kosten der beruflichen Fortbildung, 1992. 24 BVerfGE 84, 133, 147; 92, 140, 150, 25. 25 BVerfGE 84, 133.

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freilich dem hohen Rang der Wahlfreiheit Rechnung tragen müßten. Wenn eine Regelung in die freie Wahl des Arbeitsplatzes mit ähnlicher Wirkung eingreife wie eine objektive Zulassungsschranke in die Freiheit der Berufswahl, sei sie nur zur Sicherung eines entsprechend wichtigen Gemeinschaftsguts unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit zulässig. Diese Voraussetzungen seien bei den Abwicklungsregelungen des Einigungsvertrages im wesentlichen gegeben. Allerdings müßten diese im Interesse Schwerbehinderter, älterer Arbeitnehmer, Alleinerziehender und insbesondere werdender und gewordener Mütter modifiziert werden. Auf dieser Grundlage gelangte das Bundesverfassungsgericht mit Beschluß vom 21.2.1995 dazu, Art. 12 GG als Grundlage für die Beurteilung von Kündigungen bzw. arbeitsgerichtlichen Urteilen über Kündigungen heranzuziehen.26 Ausgangspunkt war wieder, daß Art. 12 GG auch den Willen des einzelnen schütze, einen Arbeitsplatz beizubehalten. Wenngleich dies keine Bestandsgarantie für den einmal gewählten Arbeitsplatz sei, obliege dem Staat aber insoweit eine aus Art. 12 Abs. 1 GG folgende Schutzpflicht. Diese Schutzpflicht geht nach diesem Beschluß des Verfassungsgerichts so weit, daß ihr die Gerichte bei der Überprüfung jeder einzelnen Kündigung Rechnung tragen müssen. Deshalb verstoße ein arbeitsgerichtliches Urteil gegen Art. 12 GG, das bei einer auf den Einigungsvertrag gestützten Kündigung überhöhte Anforderungen an die Eignung der Arbeitnehmer stelle. Auf derselben Linie liegen verschiedene am 8.7.1997 verkündete Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zu weiteren Kündigungen aus dem öffentlichen Dienst der DDR übernommener Arbeitnehmer. Nach der bisher vorliegenden Pressenotiz kann die freie Wahl des Arbeitsplatzes und damit auch das Interesse an der Beibehaltung von Arbeitsplätzen nur eingeschränkt werden, wenn zwingende Gründe des Gemeinwohls dies erfordern und der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beachtet worden ist. Wie weit Art. 12 GG nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts in die Beurteilung einzelner Kündigungen hineinwirkt ergibt sich anschaulich aus der Feststellung des Gerichts in der Rechtssache 1 BvR 2111/94, das Landesarbeitsgericht habe Bedeutung und Tragweite des Grundrechts auf freie Wahl des Arbeitsplatzes verkannt, indem es die Frage, ob die falsche Beantwortung einer Arbeitgeberfrage tatsächlich geeignet war, das Vertrauen des Arbeitgebers in die charakterliche Integrität des Arbeitnehmers zu zerstören, ohne eine abschließende Würdigung der besonderen Umstände des Einzelfalles entschieden habe. Vom gedanklichen Ansatz her ist diese Rechtsprechung nicht auf den Sonderfall des öffentlichen Dienstes der DDR beschränkt, sondern ganz allgemein 26

BVerfGE 92, 140.

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auf die Beendigung von Arbeitsverhältnissen anwendbar. Von aktuellem Interesse ist hier die Frage, ob Art. 12 GG zu einer Verstärkung des Kündigungsschutzes in den Bereichsausnahmen des Kündigungsschutzgesetzes führt, also in den (durch das Beschäftigungsförderungsgesetz 1996 größer gewordenen) Kleinbetrieben, in denen das Kündigungsschutzgesetz nach seinem § 23 nicht gilt, und während der ersten 6 Monate eines Arbeitsverhältnisses. Allerdings hat das Bundesverfassungsgericht, wie erwähnt, mehrfach ausgesprochen, daß die geltenden Kündigungsvorschriften der aus Art. 12 GG folgenden Schutzpflicht hinreichend Rechnung tragen. Es ist aber nicht klar, ob dies die Ausnahmen vom gesetzlichen Kündigungsschutz einschließt. Das Bundesarbeitsgericht hat sich in einem Urteil vom 19.4.1990, das also vor der vorstehend skizzierten Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Art. 12 GG ergangen ist, mit der Verfassungsmäßigkeit der Bereichsausnahme des Kündigungsschutzgesetzes für Kleinbetriebe befaßt. 27 Als Prüfungsmaßstab hat es nicht Art. 12 GG, sondern Art. 3 GG gewählt, in diesem Zusammenhang allerdings auch Art. 12 GG neben dem Sozialstaatsprinzip als Grundlage eines gebotenen Sozialschutzes zugunsten von Arbeitnehmern erwähnt, der mit der Vertragsfreiheit zugunsten der Arbeitgeber abzuwägen sei. Bei diesen miteinander konkurrierenden rechtspolitischen Gesichtspunkten stehe dem Gesetzgeber ein weites Feld gesetzgeberischer Freiheit zu, ohne daß Willkür ersichtlich sei. Als sachliche Gründe für die Bereichsausnahme führte das Bundesarbeitsgericht an: •

die engen persönlichen Beziehungen des Klcinbctriebsinhabers, die einerseits einen gewissen Schutz aus menschlicher Rücksichtnahme verbürgen, andererseits aber auch erforderlich sind, um überhaupt das Funktionieren einer kleineren Betriebseinheit zu gewährleisten, wobei sich ein gesetzlicher Kündigungsschutz hinderlich auswirken könnte,



die geringere verwaltungsmäßige und wirtschaftliche Belastbarkeit der Kleinbetriebe, die sich aus der Notwendigkeit eventueller Prozeßfuhrung, arbeitsrechtlich und wirtschaftlich bedingter Vorhaltekosten und eventuellen Abfindungszahlungen ergibt, - die Gewährleistung größerer arbeitsmarktpolitischer Freizügigkeit des Kleinunternehmers (u.a. Schutz des Mittelstandes), die sowohl verläßliche marktwirtschaftliche Rahmenbedingungen für kleinunternehmerische Betätigung schaffe und damit im Interesse der Volkswirtschaft einen Ausgleich angesichts der zunehmenden Vermarktung durch Konzerne biete sowie gleichzeitig eine größere Flexibilität bei Schwankungen in der Auftragslage ermögliche, die besonders in Kleinbetriebe existenzgefahrdend sein können. 27

AP Nr. 8 § 23 KSchG 1969 = DB 1991, 176.

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Dies sind in der Tat beachtliche Sachgründe für eine unterschiedliche kündigungsschutzrechtliche Einstufung von Kleinbetrieben. Andererseits bezieht sich die Abwägung des Bundesarbeitsgerichts auf das Willkürverbot des Art. 3 Abs. 1 GG, das dem Arbeitgeber in der Tat ein breites Ermessen einräumt. Ganz anders ist, wie dargelegt, der vom Bundesverfassungsgericht im Fall des Art. 12 GG angewandte Prüfungsmaßstab; hier sind zwingende Gründe des Gemeinwohls für eine Einschränkung des Grundrechts erforderlich. Damit stellt sich die Frage, ob die vom Bundesarbeitsgericht zur Rechtfertigung der Bereichsausnahme für Kleinbetriebe auch im Hinblick auf Art. 12 GG ausreichen. Dazu werden im Schrifttum verschiedene Auffassungen vertreten. Auf der Grundlage der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hat Oetker28 die nunmehr gebotene Abwägung vorgenommen. Nach seiner Auffassung verbietet die grundrechtliche Schutzpflicht lediglich die völlige Vernachlässigung des Interesses des Arbeitnehmers an der Erhaltung seines Arbeitsplatzes, so daß die Bereichsausnahme wirksam und über § 242 BGB lediglich eine evident unverhältnismäßige Kündigung untersagt sei. Dabei müsse der Arbeitgeber die Beweislast hinsichtlich des subjektiven Kausalitätserfordernisses tragen. Ähnlich hat sich Lakies geäußert.29 Er will allerdings nicht nur § 242 BGB zur Kompensation der Bereichsausnahmen heranziehen, sondern diese selbst verfassungskonform dahin einzuschränken, daß auf das Unternehmen, den Arbeitgeber, und nicht den Betrieb abzustellen ist. Dabei trage der Arbeitgeber die Darlegungs- und Beweislast dafür, daß das Arbeitsverhältnis nicht unter das Kündigungsschutzgesetz falle. Im übrigen sei in verfassungskonformer Anwendung des § 242 BGB ein Minimum an Arbeitsplatzschutz zu gewähren, auch soweit das Kündigungsschutzgesetz nicht eingreife. Die vom Arbeitgeber im Prozeß vorzutragenden Kündigungsgründe unterlägen einer Plausibilitätskontrolle des Gerichts, wobei die strengen Maßstäbe des § 1 KSchG nicht anzulegen seien. Bei einer Kündigung aus betrieblichen Gründen bedürfe es außerhalb des Geltungsbereichs des KSchG keiner Darlegung der betrieblichen Erfordernisse für die Kündigung, doch unterliege die Auswahlentscheidung des Arbeitgebers der gerichtlichen Kontrolle nach § 242 BGB. Die Kriterien, nach denen der Arbeitgeber die Auswahlentscheidung vorgenommen hat, seien nach einem Auskunftsverlangen des Arbeitnehmers offenzulegen. Skeptisch haben sich dagegen Bernd Preis und Löwisch geäußert. Bernd Preis meint, daß sich die Rechtsprechung des BVerfG auf die im Einigungs28 29

Arbeit und Recht 1997,41. DB 1997, 1078.

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vertrag vorgesehenen Sonderfälle beschränke, in denen Arbeitsverhältnisse nicht durch Kündigung, sondern durch Gesetz aufgelöst wurden.30 Es sei offenbar noch kein im Kündigungsschutzprozeß unterlegene Arbeitnehmer auf die Idee gekommen, gegen die arbeitsgerichtliche Entscheidung Verfassungsbeschwerde zu erheben. Diese Prognose ist spätestens durch die erwähnten Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts vom 8.7.1997 widerlegt worden. Löwisch weist zunächst darauf hin, daß das BVerfG ausdrücklich erklärt habe, die geltenden Kündigungsvorschriften trügen dem Schutzgebot aus Art. 12 GG hinreichend Rechnung.31 Löwisch nimmt ohne weiteres an, daß das BVerfG damit auch die Bereichsausnahmen des KSchG legitimiert habe. Auch enge die Auffassung Oetkers den Gestaltungsspielraum zu sehr ein, der dem Gesetzgeber bei der Erfüllung der aus Art. 12 GG folgenden Schutzpflicht zukomme. Es sei keineswegs so, daß die Herausnahme der Arbeitnehmer in Kleinbetrieben und vor Erfüllung der Wartezeit aus dem KSchG deren Interesse an der Erhaltung des Arbeitsplatzes völlig vernachlässigt. Vielmehr komme diesen Arbeitnehmern der Schutz der Kündigungsfristen, der Kündigungsverbote, der übrigen Benachteiligungsverbote, des § 138 BGB und der auch hier geltenden allgemeinen Gebote von Treu und Glauben zugute. Daß der Gesetzgeber im übrigen der Kündigungsfreiheit des Arbeitgebers den Vorrang einräume, sei nicht unverhältnismäßig. Insbesondere sei es plausibel, durch die Gewährung der Kündigungsfreiheit an Klcinunternehmer dem Umstand Rechnung zu tragen, daß sie verwaltungsmäßig und wirtschaftlich weniger belastbar sind, größerer arbeitsmarktpolitischer Freizügigkeit bedürfen und die engen persönlichen Beziehungen zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer ein einfaches Lösungsrecht erforderlich machen. Beschäftigungsförderung zu betreiben und sich damit der Interessen deijenigen anzunehmen, die keinen Arbeitsplatz haben, gehöre nach der Rechtsprechung des BVerfG 32 genauso zu den Schutzpflichten des Gesetzgebers wie die Bestandsschutzpflicht. Es sei deshalb legitim, wenn der Gesetzgeber durch die Ausdehnung der Kleinbetriebsklausel den Kleinunternehmer von tatsächlich und psychologisch einstellungshemmenden Vorschriften befreie und ihn so zu zusätzlichen Einstellungen zu ermutigen versuche. Auch müsse ein aus § 242 BGB abgeleiteter abgeschwächter Kündigungsschutz dazu führen, die Wirksamkeit der Befristung in den Kleinbetrieben vom Vorliegen eines, wenn auch abgeschwächten, sachlichen Grundes abhängig zu machen. ^ N Z A 1997, 625, 628. DB 1997, 782, 786. 32 Löwisch verweist hier auf die Rechtsprechung zur befristeten Programmitarbeit Rundfunk, BVerfG 13.1.1982 ΒVertGE 59, 231, 266. 31

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Nach alledem geht es darum, ob man in dem Bereich, in dem das KSchG nicht gilt, aus Art. 12 GG in Verbindung mit § 242 BGB einen Kündigungsschutz zweiter Klasse ableiten kann. Die jüngste Entwicklung der Rechtsprechung des BVerfG mit ihrer intensiven Überprüfung einzelner Kündigungen spricht dafür, daß auch die Bereichsausnahmen des KSchG in den Bannkreis des Art. 12 GG kommen werden. Andererseits kann die Rechtsprechung zu dem übernommenen öffentlichen Dienst der DDR keineswegs ohne weiteres auf Kleinbetriebe übertragen werden, da die besonderen Interessen eines Kleinbetriebsinhabers besondere Beachtung verdienen. Andererseits sind die kündigungsschutzfreien Kleinbetriebe größer geworden, so daß sie nun schon 1/3 der gesamten Arbeitnehmerschaft umfassen dürften. 33 Letztlich geht es um die Frage, ob man dem Kleinbetriebsinhaber die Freiheit zu nicht nachvollziehbaren, irrationalen oder gar diskriminierenden Entscheidungen zugestehen will. Nachdem für die Abwägung der beiderseitigen Grundrechtspositionen maßgeblichen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit kommt es darauf an, ob die Respektierung solcher Kündigungsmotive im Interesse des Kleinbetriebsinhabers und seiner Berufsfreiheit erforderlich ist. Dies dürfte kaum der Fall sein. Deshalb dürfte auch in Kleinbetrieben ein abgeschwächter Kündigungsschutz mit dem Inhalt vertretbar sein, den Kündigungsentschluß plausibel zu machen und die Kündigungsgründe darzulegen: die Beweislast müßte allerdings den Arbeitnehmer treffen. 34 Diese Beschränkung der Kündigungsfreiheit müßte auch nicht zu einer untragbaren Beschränkung der Befristungsfreiheit führen. Denn es bleibt ja dabei, daß Kündigungen im Kleinbetrieb grundsätzlich keines sachlichen Grundes bedürfen, sondern nur, wie jedes Rechtsgeschäft, an den durch Art. 12 GG mitgeprägten Maßstäben des § 242 BGB zu messen sind. Dieser Maßstab gilt grundsätzlich auch für befristete Einstellungen, doch führt hier der verstärkte verfassungsrechtliche und gesetzliche Schutz der Abschlußfreiheit dazu, daß die Einstellungsentschlüsse des Arbeitgebers bisher nur in wenigen Diskriminierungsfällen nach Art. 9 Abs. 3 GG und § 611a BGB einer Rechtskontrolle unterliegen. 3. Erlangen von Arbeitsplätzen Allerdings hat Löwisch zu Recht darauf hingewiesen, daß bei dem Kündigungsschutz von Verfassungs wegen nicht allein die Interessen der Arbeits33

Dörsam, Zeitschrift für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften 1997, 55. Ähnlich schon Wank, Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht, Bd. 2, 1993, § 116 Rdnr. 13\ Hanau, ZRP 1996, 349. 34

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platzbesitzer, sondern auch die der Arbeitsuchenden zu berücksichtigen sind. Dies ist sogar der erste und unmittelbare Anwendungsbereich der Freiheit der Arbeitsplatzwahl. Die verfassungsrechtliche Entwicklung hat allerdings, wie dargelegt, am anderen Ende des Grundrechts angefangen, bei der Freiheit, einen einmal gewählten Arbeitsplatz aufzugeben. Die von Löwisch in diesem Zusammenhang zitierte Entscheidung des BVerfG vom 13.1.198235 hat zwar die Befristung der Arbeitsverträge von Programmitarbeitern im Rundfunk auch damit begründet, daß das Sozialstaatsprinzip die Verwirklichung einer sozial gerechten Ordnung für alle gebiete, also gerade auch zur Sorge für diejenigen verpflichte, die keinen Arbeitsplatz haben und einen solchen suchen. Zugleich werde es den zu diesem Kreis Gehörenden ohne die Befristung bestehender Arbeitsverhältnisse wesentlich erschwert, von ihrem Grundrecht auf freie Berufswahl Gebrauch zu machen. Hier klingt also der verfassungsrechtliche Schutz der Arbeitsuchenden schon an, aber nur im Hinblick auf die freie Berufswahl, nicht auf die weitergehende Wahl des Arbeitsplatzes. Die Rechtsprechung des BVerfG zum arbeitsrechtlichen Bestandsschutz im Einigungsvertrag ist in den Leitsätzen schon ein Schritt weiter gegangen, hat aber bei der Abwägung des Bestandsschutzes die Konkurrenz zwischen Arbeitsplatzbesitzern und Arbeitsplatzsuchenden nicht weiter berücksichtigt. Der erste Leitsatz des Urteils vom 24.4.1991 läßt zwar den arbeitsrechtlichen Schutzbereich des Art. 12 Abs. 1 GG in seinem ganzen Umfang und auch in der richtigen Reihenfolge erkennen: Schutz des einzelnen „in seinem Entschluß, eine konkrete Beschäftigungsmöglichkeit in dem gewählten Beruf zu ergreifen, beizubehalten oder aufzugeben". In den Gründen wird aber das zweite Elemente der Bestandsgarantie stärker hervorgehoben als die Chance zum Erlangen eines Arbeitsplatzes. Ausdrücklich heißt es, mit der Wahlfreiheit sei kein Anspruch auf Bereitstellung eines Arbeitsplatzes eigener Wahl verbunden. Der Beschluß des BVerfG vom 21.2.1995 hat dies wiederholt.36 Welche arbeitsrechtlichen Konsequenzen sich aus der durch Art. 12 Abs. 1 GG geschützten Freiheit ergeben, „eine konkrete Beschäftigungsmöglichkeit in dem gewählten Beruf zu ergreifen" ist deshalb offen. Auch hier muß die Arbeitsgerichtsbarkeit ganz neu ansetzen. Daß diese Ausprägung der Freiheit der Arbeitsplatzwahl keinen Anspruch auf Bereitstellung eines Arbeitsplatzes eigener Wahl gibt, schließt andere arbeitsrechtliche Konsequenzen nicht aus. Der verfassungsrechtliche Schutz der Arbeitssuchenden ist sogar für eine Vielzahl aktueller arbeitsrechtlicher Pro-

35 36

BVerfGE 59,231. BVerfGE 92, 145, 150.

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bleme bedeutsam. Löwisch37 hat ihn ja schon herangezogen, um die Bereichsausnahmen des KSchG zu rechtfertigen. Betriebsbedingte Kündigungen werden sich freilich so nicht rechtfertigen lassen, da sie in der Regel einen Abbau von Arbeitsplätzen voraussetzen und gerade nicht zu Neueinstellungen fuhren. Enger ist der Zusammenhang bei den Altersgrenzen. Die Zwangspensionierung von Arbeitnehmern erfolgt in der Regel nicht, um Arbeitsplätze abzubauen, sondern um nachrückende Arbeitnehmer auf die Arbeitsplätze zu setzen, wie sich jetzt wieder bei der Altersteilzeit zeigt. Deshalb ist es hier möglich, der Berufs- und Arbeitsplatzwahlfreiheit der Zwangspensionierten die grundrechtliche Position Arbeitsuchender entgegenzuhalten.38 So gesehen kann Art. 12 GG auch für die vielfach geforderten und teilweise schon praktizierten Einstiegstarife wichtig werden, aufgrund derer bisher Arbeitslose eine Zeitlang untertariflich bezahlt werden. Dies kann Bedenken im Hinblick auf den Gleichbehandlungsgrundsatz wecken, doch fallt auch hier ins Gewicht, daß die Einstellungschancen von Arbeitslosen durch solche Regelungen steigen könnten. Fraglich ist allerdings, ob man aus Art. 12 GG eine verfassungsrechtliche Pflicht der Tarifparteien ableiten kann, solche Einstiegstarife vorzusehen. Würde der Gesetzgeber eine entsprechende Verpflichtung der Tarifparteien statuieren, gerieten er und Art. 12 GG in Konflikt mit der Garantie der Tarifautonomie in Art. 9 Abs. 3 GG; die beiden Grundrechte der Arbeit würden also in verschiedene Richtungen weisen. Einstweilen dürfte die Bewährung von Einstiegstarifen noch nicht so feststehen, daß man sie den Tarifparteien als Allheilmittel gegen die Arbeitslosigkeit aufzwingen könnte.

V. Kollisionen der Grundrechte der Arbeit Die beiden Grundrechte der Arbeit können nicht nur in diesem Fall kollidieren, sondern sie sind von ihrem ganzen Ansatz konträr. Tarifverträge haben die Funktion und Wirkung, Arbeitsentgelte und andere Arbeitsbedingungen über diejenigen hinauszuheben, die sich auf einem Arbeitsmarkt ohne Tarifverträge ergeben würden. Das Abgehen von einem freien Marktentgelt zu einem durch Marktmacht erhöhten Entgelt hat aber notwendig zur Folge, daß weniger Arbeitskräfte beschäftigt werden als zu völlig frei gebildeten Preisen auf dem Arbeitsmarkt. Dies wird von den Anhängern der neoliberalen Schule 37

DB 1997, 782, 787. BVerfG 8.11.1994, BVerfGE 91, 252 = DB 1994, 2501 erkennt das arbeitsmarktpolitische Anliegen von Altersgrenzen, Stellen für neue Arbeitskräfte freizumachen, ausdrücklich an. 38

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ja immer wieder betont, woraus sie die gedanklich folgerichtige, aber verfassungswidrige Konsequenz ziehen, die Preisbildung am Arbeitsmarkt möglichst von Tarifverträgen freizuhalten. 39 Mit anderen Worten: Wenn die Verfassung die Tarifautonomie garantiert, nimmt sie die dadurch bewirkte Verringerung von Beschäftigungsmöglichkeiten in Kauf. Andererseits garantiert die Verfassung die Freiheit der Berufs- und Arbeitsplatzwahl, die nur effektiv werden können, wenn die Preisbildung am Arbeitsmarkt durch Tarifverträge nicht so gestört ist, daß infolge dessen Massenarbeitslosigkeit eintritt. Daß die Verfassung beides garantiert, muß zunächst bedeuten, daß sie von den Tarifparteien selbst erwartet, auf die Belange der Arbeitsuchenden Rücksicht zu nehmen, gesetzliche Eingriffe also nur zuläßt, wenn die Tarifparteien das Schutzgebot des Art. 12 GG mißachten. Nach der Auffassung vieler ist die Situation heute eingetreten, so daß sie gesetzliche Öffnungsklauseln fur Betriebe verlangen, die die tariflichen Arbeitsbedingungen nicht erschwingen können.40 Dagegen spricht aber, daß Tarifverträge bei uns nur ausnahmsweise allgemeinverbindlich sind, so daß Arbeitgeber sich durch Nichteintritt oder - dann allerdings mit Verzögerung - Austritt der Tarifbindung entziehen können.41 Außerdem erfüllen die Tarifparteien zunehmend selbst die ihnen von der Verfassung zugedachte Aufgabe, die Arbeitsbedingungen nicht so weit über die freien Arbeitsmarktbedingungen zu erhöhen, daß die Beschäftigung zu stark erschwert wird. Schließlich würden Öffnungsklauseln, wenn sie effizient sein sollen, wahrscheinlich einen solchen Sog nach unten erzeugen, daß die Tarifautonomie auf der Strecke bliebe. Dies bedeutet aber nicht, daß das Art. 12 GG in seiner originären Ausprägung als Gewährleistung von Chancen zur Berufs- und Arbeitsplatzwahl für Tarifverträge unerheblich wäre. Eine erste und wichtige Funktion des Art. 12 GG liegt darin, Tarifverträge zu rechtfertigen, die besondere Regelungen im Interesse Arbeitsuchender treffen wie Altersgrenzen oder Einstiegstarife. Darauf wurde schon hingewiesen. Ferner kann Art. 12 GG Beschränkungen der Tarifautonomie legitimieren, die zur Flankierung bestimmter gesetzlicher 39

Insbesondere das 10. Hauptgutachten der Monopolkommission, BT-Drucksache 12/8323 Nr. 194, 205: Aufgrund der vorgegebenen Anreiz- und Interessenstrukturen ist ein Bias für den Abschluß von Tariflöhnen oberhalb des markträumenden Preises immanent. Die Folge ist, daß entweder die Löhne nur nominal steigen oder sich die Position der Nichtarbeitsplatzbesitzer verschlechtert. Deshalb wird vorgeschlagen, daß von tarifvertraglichen Regelungen durch Betriebsvereinbarungen abgewichen werden kann (gesetzliche Öffnungsklausel). 40 s. Löwisch, Tariföffnung bei Unternehmens- und Arbeitsplatzgeföhrdung, NJW 1997, 905, m.w.N. 41 s. Hanau, Die Deregulierung von Tarifverträgen durch Betriebsvereinbarungen als Problem der Koalitionsfreiheit, RdA 1993, 1.

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Maßnahmen zur Arbeitsförderung dienen. Wie z.B. die Beschränkung der ABM-Förderung auf bestimmte Prozentsätze des Tariflohnes und die Setzung tariffester Eckpunkte durch das neue Recht des Eingliederungsvertrages. 42 Insgesamt läßt sich sagen, daß die Herstellung praktischer Konkordanz zwischen den beiden im Ansatz so konträren Grundrechten der Arbeit als zentrale Aufgabe des heutigen und zukünftigen Arbeitsrechts betrachtet werden muß.

42

Dazu Hanau, DB 1997,1278.

Staatszielbestimmungen zur Förderung von Arbeitnehmerinteressen Von Karl-Peter Sommermann Das mir anvertraute Thema weist mehrere Dimensionen auf: Erstens knüpft es an einen Befund an, nämlich daß es im geltenden Verfassungsrecht Staatszielbestimmungen gibt, die auf die Förderung von Arbeitnehmerinteressen gerichtet sind. Zweitens formuliert es eine These, und damit zugleich eine Frage, nämlich daß bzw. ob Staatszielbestimmungen Arbeitnehmerinteressen fördern können. Drittens schließlich drängt das Thema nach Aussagen darüber, ob es empfehlenswert sei, Staatszielbestimmungen zur Förderung von Arbeitnehmerinteressen in Verfassungen aufzunehmen und wie gegebenenfalls entsprechende Staatszielbestimmungen zu gestalten sind. An diesem Dreischritt - Darstellung des verfassungstextlichen Befundes, Analyse der normativen Wirkung und verfassungslegistische Schlußfolgerungen - sollen sich die nachfolgenden Ausführungen orientieren.

I. Der Befund Ein vertikaler und horizontaler Verfassungsvcrglcich, d.h. ein Vergleich der Staatsverfassungen, welcher sowohl frühere als auch ausländische Texte einbezieht, fordert einen großen Reichtum an Verfassungssätzen zutage, welche Arbeitnehmerinteressen zu dienen bestimmt sind. Bei längst nicht allen, doch - wie zu zeigen sein wird - dem überwiegenden Teil dieser Verfassungssätze handelt es sich um Staatszielbestimmungen. Bevor indes die in Grenzbereichen immer fließende Verengung auf Staatszielbestimmungen vorgenommen wird, soll der Formen- und Inhaltsreichtum der verschiedenen auf Arbeitnehmerinteressen bezogenen Verfassungssätze skizziert werden. 1. Verfassungssätze zur Förderung von Arbeitnehmerinteressen Ursprungspunkt und bis heute zentraler Topos im Verfassungsdiskurs über den Status der Bürger als Arbeitnehmer ist das Recht auf Arbeit. Bereits von

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Naturrechtslehrern der Aufklärung postuliert 1 , fand sich ein erster verfassungsrechtlicher Anklang in Artikel 21 der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte, die der französischen Verfassung von 1793 vorangestellt wurde 2 : „Les secours publics sont une dette sacrée. La société doit la subsistance aux citoyens malheureux, soit en leur procurant du travail, soit en assurant les moyens d'exister à ceux qui sont hors d'état de travailler." Mit der Zuspitzung der Sozialen Frage im 19. Jahrhundert wurde das Recht auf Arbeit zum Kampfbegriff sozialrevolutionärer politischer Programme. Alle wesentlichen Argumente, die für und gegen eine entsprechende Verfassungsverbürgung sprechen können, waren bereits Mitte des 19. Jahrhunderts ausgetauscht. Während die Befürworter in einer verfassungsrechtlichen Verankerung des Rechts auf Arbeit ein wirksames Instrument zur Sicherung der physischen und sozialen Existenz des Einzelnen erblickten, die aller Freiheitsausübung vorgelagert sei, sahen die Gegner das Gemeinwesen am Abgrund der Diktatur, da ein Recht auf Arbeit nur in einem Staat Realität gewinnen könne, welcher die vorhandenen Arbeitsplätze zwangsverwaltet. Die entscheidenden Argumente fielen sowohl in den Verfassungsberatungen der Paulskirche 3 als auch kurz zuvor in der französischen Nationalversammlung 4. Während indes 1

Vgl. insbesondere C. Wolff, Vernünftige Gedancken von dem gesellschaftlichen Leben und insonderheit dem gemeinen Wesen zu Beförderung der Glückseeligkeit des menschlichen Geschlechtes („Politik") 1721, zitiert nach der 4. Auflage, Frankfurt/Leipzig 1736, § 280 (S. 213): „Und da kein Mensch dem andern Unterhalt geben darf!, der arbeiten kan und soviel zu arbeiten Gelegenheit findet, daß er dadurch seinem Leibe nöthigen Unterhalt zu verschaffen vermögend ist ..., über dieses auch ein jeder Mensch so viel arbeiten soll, als ohne Abbruch seiner Gesundheit und der Kräffte seines Leibes, auch der zuläßigen Ergötzlichkeit seines Gemüthes geschehen kan ...; so hat man absonderlich darauf bedacht zu seyn, wie man einem jeden so viel Arbeit verschaffe, als er ertragen kan, auch den Lohn der Arbeit dergestalt setze, daß man dabey sein nöthiges Auskommen finden könne ..." Bereits bei Wolff findet sich sonach zugleich die enge Verknüpfung des Rechts auf Arbeit mit der Pflicht zu arbeiten. Dies entspricht dem allgemeinen Grundsatz „ex obligatione ius oritur", den Wolff in seinem Spätwerk Jus Naturae" näher begründet hat (Pars I, Halle/Magdeburg 1740, §§ 23 ff). 2 Die Verfassung von 1793 ist abgedruckt bei J. Godechot, Les constitutions de la France depuis 1789, Paris 1979, S. 79 ff. Näher zum sozialstaatlichen Gehalt der zweiten französischen Verfassung K.-P. Sommermann, Zweihundert Jahre französische Verfassung von 1793: die Verfassungstradition des Jahres I, in: Der Staat Bd. 32 (1993), S. 611,627 ff. 3 Vgl. dazu M Rath, Die Garantie des Rechts auf Arbeit, Göttingen 1974, S 38 ff , J.-D. Kühne, Die Reichsverfassung der Paulskirche. Vorbild und Verwirklichung im späteren deutschen Rechtsleben, Frankfurt a.M. 1985, S. 273 f. 4 Prominenter Gegner eines Rechts auf Arbeit war Alexis de Tocqueville. Am deutlichsten spiegelt sich seine Position in einer schriftlichen Notiz für die maßgebliche Debatte der Assemblée Constituante im September 1848 wider (abgedruckt in: A. de

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die deutsche verfassunggebende Versammlung im Ergebnis eine verfassungsrechtliche Verankerung deutlich ablehnte, hielt die französische Constituante von 1848 an der Tradition von 1793 fest 5. Die Bereitstellung von Arbeit durch Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen wird allerdings nur noch „dans les limites de ses ressources", also in den Grenzen der Leistungsfähigkeit des Gemeinwesens, zugesichert 6. Das später vom Bundesverfassungsgericht als „Vorbehalt des Möglichen" benannte Prinzip 7 findet hier eine erste verfassungsrechtliche Ausprägung. In der Folgezeit, vollends im 20. Jahrhundert, setzte sich dann allgemein die Einsicht durch, daß ein Recht auf Arbeit, verstanden als Recht auf einen bestimmten Arbeitsplatz, sich letztlich nur in einer Planwirtschaft realisieren läßt, die in der Regel Baustein eines totalitären Regimes ist. In den sozialistischen Staaten wurde der Traum vom Recht auf Arbeit verwirklicht 8 ; der Preis, der dafür bezahlt wurde, ist bekannt. Nicht alle freilich, die ein Recht auf Arbeit propagierten, strebten die Verwirklichung in einer Planwirtschaft an. Sie interpretierten das Recht auf Arbeit nicht als Recht auf einen bestimmten Arbeitsplatz, sondern als ein Sozialprinzip, welches den Staat verpflichtet, darauf hinzuwirken, daß jeder BürTocqueville, Oeuvres complètes, hrsg. von J.-P. Mayer, tome ΠΙ, Paris 1990, S. 181 ff.): „Si l'ouvrier a droit au travail, il en résulte que le pouvoir social doit se mettre en mesure de lui en fournir toutes les fois qu'il en demande. Or pour en arriver là, il n'y a qu'un moyen, c'est de se mettre lui-même à la tête du travail national, de le diriger, le modérer, l'activer suivant les besoins. Cela suppose non seulement qu'il dirige par luimême le travail, mais toutes choses, les idées, les aptitudes, les besoins, l'homme tout entier et qu'il dispose de tout." Tocqueville warnt damit eindringlich vor einem totalitären Staat. 5 Vgl. Abs. 8 der Präambel der Verfassung von 1848 (abgedruckt bei Godechot, vorige Anm., S. 263 ff): „La République ... doit, par une assistance fraternelle, assurer l'existence des citoyens nécessiteux, soit en leur.procurant du travail dans les limites de ses ressources, soit en donnant, à défaut de la famille, des secours à ceux qui sont hors d'état de travailler." In Art. 13 Satz 2 der Verfassung wird diese Staatspflicht in einer mit modernen Staatszielbestimmungen vergleichbaren Formulierung aufgegriffen: „La société favorise et encourage le développement du travail par l'enseignement primaire gratuit, l'éducation professionnelle, l'égalité de rapports entre le patron et l'ouvrier, les institutions de prévoyance et de crédit, les institutions agricoles, les associations volontaires, et l'établissement, par l'Etat, les département et les communes, de travaux publics propres à employer les bras inoccupés ..." 6 Abs. 8 der Präambel der Verfassung von 1848 (vorige Anm.). 7 Numerus clausus-Urteil von 1972, BVerfGE 33, 303, 333 ff. 8 In den sozialistischen Verfassungen wurde demgemäß dem Recht auf Arbeit von Anfang an ein hoher Stellenwert eingeräumt, vgl. nur Art. 118 (erster Artikel des Grundrechtsteils) der Verfassung der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken von 1936; Art. 24 der DDR-Verfassung von 1968 i.d.F. von 1974; heute noch Art. 42 der Verfassung der Volksrepublik China von 1982; Art. 55 die Verfassung der Sozialistischen Republik Vietnam von 1992. 7 Grupp/Weth

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ger in den Genuß eines Arbeitsplatzes kommt. Der Autor einer im Jahr 1922 erschienenen ausführlichen Monographie mit dem Titel „Recht auf Arbeit und Arbeitspflicht" war der Ansicht, daß das Recht auf Arbeit, welches er eingangs als „legitimes Kind des Arbeitslosenproblems" apostrophiert hatte9, mit der bevorstehenden Einführung der Arbeitslosenversicherung verwirklicht würde10. In diesem Sinne hatte die Weimarer Verfassung zurückhaltender nicht von einem Recht auf Arbeit gesprochen, sondern als erste demokratische Verfassung versucht, den Schutz der Interessen der Arbeitnehmer in ausdifferenzierter Form zu konstitutionalisieren. Diesem Ansatz folgten die meisten späteren Verfassungen. Das Bonner Grundgesetz von 1949, obwohl in Teilen an die Weimarer Tradition angelehnt, stellt insoweit im Kreis der westeuropäischen Nachkriegsverfassungen eine Ausnahmeerscheinung dar. Die Gründe für den deutschen Sonderweg sind bekannt: Zum einen sollte die neue Verfassung nichts versprechen, was sie nicht halten konnte; die erstrebte strenge Normativität hielt man für gefährdet, wenn dem Grundrechtsteil Verfassungssätze beigefügt würden, deren Verwirklichung von Leistungsgesetzen, also der Bereitstellung nicht ohne weiteres zur Verfügung stehender staatlicher Mittel abhängig gewesen wäre. Zum anderen war die Erfahrung gegenwärtig, daß die reiche Ausstattung der Weimarer Verfassung mit Prinzipien der Wirtschaflsund Sozialordnung weder eine wirtschaftliche Katastrophe hatte verhindern noch den sozialen Frieden hatte sichern können. Das Weimarer Trauma entfaltete allerdings erst auf Bundesebene diese nachhaltige Wirkung. Auf Länderebene Schloß man sich, jedenfalls vor Erlaß des Grundgesetzes, in den meisten Fällen der in Europa und bald weiten Teilen der Welt herrschenden Tendenz an, trotz aller Rückschläge zu versuchen, durch die verfassungsrechtliche Verankerung sozialer Garantien für die Arbeitnehmer auf dem Weg einer Sicherung und Verbesserung ihrer beruflichen, materiellen und sozialen Existenz voranzukommen. Die Weimarer Tradition begegnet dem Rechtsvergleicher in mehreren Verfassungen. Im geltenden in- und ausländischen Verfassungsrecht lassen sich ratione materioe fünf Gruppen von Verfassungsnormen unterscheiden, die auf die Förderung der Arbeitnehmerinteressen gerichtet sind: •

Erstens sind Garantien und Prinzipien zu nennen, die sich auf den Zugang des Einzelnen zur Arbeit beziehen. Neben der nach wie vor in zahlreichen demokratischen Verfassungen zu findenden Formulierung eines „Rechts auf Arbeit" 11 zählen hierzu etwa die Verpflichtung des Staates auf 9

W. A. Malachowski, Recht auf Arbeit und Arbeitspflicht, Jena 1922, S. 1. Ebd., S. 130 ff. (179 f.). 11 Vgl. den 3. Grundsatz der Präambel der französischen Verfassung von 1946 (die über die sie in bezug nehmende Präambel der Verfassung von 1958 Bestandteil des 10

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die Durchführung einer Politik der Vollbeschäftigung oder der Erhaltung von Arbeitsplätzen 12 sowie Garantien oder Gesetzgebungsaufträge für einen Kündigungsschutz 13 . •

Zweitens finden sich in zahlreichen Verfassungen Zielbestimmungen, die auf die Festlegung von Mindeststandards und die Verbesserung der Arbeitsbedingungen und Arbeitsumwelt gerichtet sind. So werden neben der Forderung angemessener Löhne 14 beispielsweise sichere und gesundheitsverträgliche Bedingungen am Arbeitsplatz 15 sowie die Arbeitszeit 16 und die Erholung 17 zum Gegenstand verfassungsrechtlicher Verbürgungen.

geltenden Verfassungsrechts ist); Art. 4 der italienischen Verfassung von 1947; Art. 11 Abs. 4 der luxemburgischen Verfassung von 1868 i.d.F. von 1983; Art. 22 Abs. 1 der griechischen Verfassung von 1975; Art. 58 Abs. 1 der portugiesischen Verfassung von 1976/92; Art. 35 Abs. 1 der spanischen Verfassung von 1978, Art. 38 Abs. 1 der rumänischen Verfassung von 1991; Art. 48 Abs. 1 der bulgarischen Verfassung von 1991; Art. 35 Abs. 3 der slowakischen Verfassung von 1992; Art. 23 Abs. 2 Ziff. 1 der belgischen Verfassung von 1994; von den deutschen Landesverfassungen vgl. Art. 53 Abs. 2 der rheinland-pfälzischen Verfassung von 1947; Art. 8 der Bremer Verfassung von 1947; Art. 45 der saarländischen Verfassung von 1947; Art. 12 Abs. 1 Satz 1 der Berliner Verfassung von 1950; Art. 24 Abs. 1 Satz 3 der nordrhein-westfölischen Verfassung von 1950; vorsichtiger Art. 48 Abs. 1 der brandenburgischen Verfassung von 1992. Näher zum Recht auf Arbeit in rechtsvergleichender Perspektive C. Tomuschat, in: J. Pietzcker/H. Fenn/C. Tomuschat/B. Baron von Maydell, Recht auf Arbeit. Vortrage anläßlich des Symposiums zum 70. Geburtstag von Karl Josef Partsch, Bonn 1984, S. 45 ff. 12 Vgl. z.B. § 75 Abs. 1 der dänischen Verfassung von 1953; Art. 22 Abs. 1 der griechischen Verfassung von 1975; Art. 40 Abs. 1 Satz 2 der spanischen Verfassung von 1978; Art. 19 Abs. 1 der niederländischen Verfassung von 1983; aus dem geltenden deutschen Verfassungsrecht der Länder vgl. Art. 12 Abs. 1 Satz 2 der Berliner Verfassung; Art. 48 der brandenburgischen Verfassung; Art. 17 Abs. 1 der mecklenburg-vorpommerschen Verfassung; Art. 39 der sachsen-anhaltinischen Verfassung; Art. 36 der thüringischen Verfassung. 13 Vgl. etwa Art. 53 der portugiesischen Verfassung von 1976/92; Art. 48 Abs. 4 der brandenburgischen Verfassung. 14 Vgl. etwa Art. 36 der italienischen Verfassung von 1947; Art. 59 Abs. 1 lit. a der portugiesischen Verfassung von 1976/92; Art. 23 Abs. 2 Ziff. 1 der belgischen Verfassung von 1994; Art. 33 der hessischen Verfassung; Art. 168 f. der bayerischen Verfassung; Art. 56 der rheinland-pfälzischen Verfassung; Art. 24 Abs. 2 der nordrheinwestfölischen Verfassung. 15 Vgl. Art. 59 Abs. 1 lit. b und c der portugiesischen Verfassung von 1976/92; Art. 40 Abs. 2 Satz der spanischen Verfassung von 1978; Art. 19 Abs. 2 der niederländischen Verfassung von 1983; Art. 167 der bayerischen Verfassung von 1946; Art. 57 der rheinland-pfälzischen Verfassung; Art. 52 der Bremer Verfassung von 1947; Art. 48 Abs. 3 der brandenburgischen Verfassung. 16 Vgl. Art. 36 Abs. 1 Satz 2 der italienischen Verfassung von 1947; Art. 59 Abs. 2 lit. b der portugiesischen Verfassung von 1976/92; Art. 31 der hessischen Verfassung;

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Drittens sehen Verfassungen Bestimmungen über die berufliche Förderung der Arbeitnehmer vor. Hierzu zählen sowohl Regelungen über die Vorbereitung auf den Beruf, insbesondere Ausbildungsgarantien 18, als auch die Förderung der beruflichen Fortbildung 19 .



Viertens finden sich in zahlreichen Verfassungen Garantien und Prinzipien für die effektive Ermöglichung einer Interessenwahrnehmung durch die Arbeitnehmer selbst. Neben der Koalitionsfreiheit 20 , dem Streikrecht 21 und flankierender Garantien 22 zählen hierher beispielsweise Verbürgungen zur betrieblichen Mitbestimmung 23 .

Art. 173 der bayerischen Verfassung; Art. 57 der rheinland-pfälzischen Verfassung; Art. 55 der Bremer Verfassung von 1947. 17 Vgl. Art. 36 Abs. 2 der italienischen Verfassung von 1947; Art. 59 Abs. 1 lit. d der portugiesischen Verfassung von 1976/92; Art. 34 der hessischen Verfassung von 1946; Art. 174 der bayerischen Verfassung; Art. 56 der Bremer Verfassung; Art. 24 Abs. 3 der nordrhein-westfölischen Verfassung. 18 Vgl. nur den 11. Grundsatz der Präambel der französischen Verfassung von 1946; Art. 40 Abs. 2 Satz 1 der spanischen Verfassung von 1978; Art. 128 u. Art. 132 der bayerischen Verfassung. 19 Vgl. etwa Art. 35 Abs. 2 der italienischen Verfassung von 1947; Art. 40 Abs. 2 Satz 1 der spanischen Verfassung von 1978; Art. 35 der Bremer Verfassung; Art. 33 u. Art. 48 Abs. 2 der brandenburgischen Verfassung. 20 Vgl. 4. Grundsatz der Präambel der französischen Verfassung von 1946; Art. 9 Abs. 3 des Bonner Grundgesetzes; Art. 23 Abs. 1 der griechischen Verfassung von 1975; Art. 55 der portugiesischen Verfassung von 1976/92; Art. 28 Abs. 1 u. Art. 37 der spanischen Verfassung von 1978; Art. 36 der hessischen Verfassung; Art. 170 der bayerischen Verfassung; Art. 66 Abs. 1 der rheinland-pfölzischen Verfassung; Art. 48 der Bremer Verfassung; Art. 51 der brandenburgischen Verfassung; Art. 37 Abs. 1 der thüringischen Verfassung. 21 Vgl. 5. Grundsatz der Präambel der französischen Verfassung von 1946; Art. 40 der italienischen Verfassung von 1947; Art. 57 der portugiesischen Verfassung von 1976/92; Art. 28 Abs. 2 der spanischen Verfassung von 1978; Art. 29 Abs. 4 der hessischen Verfassung; Art. 66 Abs. 2 der rheinland-pfölzischen Verfassung; Art. 37 Abs. 2 der thüringischen Verfassung. 22 Vgl. etwa Art. 55 der portugiesischen Verfassung von 1976/92 (besondere Rechte der Gewerkschaften); Art. 177 der bayerischen Verfassung (gerichtliche Entscheidung von Arbeitsstreitigkeiten); Art. 52 Abs. 2 der rheinland-pfölzischen Verfassung (Schutz vor Mißbrauch wirtschaftlicher Macht). 23 Vgl. 6. Grundsatz der Präambel der französischen Verfassung von 1946; Art. 54 der portugiesischen Verfassung von 1976/92; Art. 19 Abs. 2 der niederländischen Verfassung von 1983; Art. 37 f. der hessischen Verfassung; Art. 175 der bayerischen Verfassung; Art. 67 der rheinland-pfölzischen Verfassung; Art. 47 der Bremer Verfassung; Art. 17 der Berliner Verfassung; Art. 26 der nordrhein-westfölischen Verfassung; Art. 50 der brandenburgischen Verfassung; Art. 37 Abs. 3 der thüringischen Verfassung.

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Zu nennen sind schließlich fünftens Garantien sozialer Sicherheit für Personen, die ihre Arbeit unfreiwillig verlieren oder nicht mehr ausüben können24 oder aus Altersgründen aus dem Arbeitsprozeß ausscheiden25.

Die Vielfalt der Arbeitnehmerinteressen gewidmeten Verfassungsnormen ist groß. Es gibt hier beredte Verfassungen, wie etwa die portugiesische Verfassung von 1976, und eher zurückhaltende Verfassungen, wie etwa die dänische Verfassung von 1953 oder auch noch die niederländische Verfassung von 1983. Daß die Opulenz verfassungsrechtlich proklamierter sozialer Zielsetzungen keineswegs immer mit der effektiven Leistungsfähigkeit des sozialen Sicherungssystems korreliert, liegt auf der Hand. Ja häufig sind es gerade die armen, von sozialen Notständen gebeutelten Staaten, die versuchen, durch verfassungsrechtliche Zielprojektionen eine wirtschaftliche und soziale Transformation herbeizuführen und dem Elend zu entrinnen. Umgekehrt ist nicht zuletzt das Bonner Grundgesetz ein Beispiel dafür, daß auf der Grundlage einer vergleichsweise sozialabstinenten Verfassung die Fortentwicklung und der Ausbau eines hochentwickelten, ausdifferenzierten Systems der Sozialen Sicherheit erreicht werden kann. Am ehesten korreliert noch die sozialrechtliche Askese der Verfassung der USA von 1787 mit einer entsprechenden Zurückhaltung auf einfachgesetzlicher Ebene. Doch selbst in den Vereinigten Staaten, deren Bundesverfassungsrecht noch nicht einmal eine Sozialstaatsklausel enthält, zeigte sich immer wieder ein Bedarf an sozialen Leitprinzipien. Hatte Roosevelt bereits in der Atlantik-Charta von 1941 neben dem „freedom from fear" auch den „freedom from want" als Teil einer gerechten Weltordnung postuliert 26, so wurde in dem amerikanischen Beschäftigungsförderungsgesetz von 1946 folgende Zielsetzung formuliert 27: ,Jt is the continuing policy and responsibility of the federal government to use all practicable means consistent with its needs and obligations and other essential con-

24 Vgl. den 9. Grundsatz der Präambel der französischen Verfassung von 1946; Art. 38 der italienischen Verfassung von 1947; Art. 41 der spanischen Verfassung von 1978; Art. 59 Abs. 1 lit. e u. Art. 63 Abs. 4 der portugiesischen Verfassung von 1976/92; Art. 28 Abs. 3 u. Art. 35 der hessischen Verfassung; Art. 53 Abs. 3 der rheinland-pfälzischen Verfassung; Art. 171 der bayerischen Verfassung. 25 Vgl. den 9. Grundsatz der Präambel der französischen Verfassung von 1946; Art. 63 Abs. 4 der portugiesischen Verfassung von 1976/92; Art. 50 der spanischen Verfassung von 1978; Art. 45 der brandenburgischen Verfassung. 26 Sechster Grundsatz der gemeinsamen Erklärung des Präsidenten der Vereinigten Staaten und des Premierministers von Großbritannien vom 14.8.1941, Department of State Bulletin Bd. 5, Nr. 112, vom 16.8.1941, S. 125. 27 Section 2 des Employment Act von 1946, P.L. 79-304, abgedruckt im Bericht der Advisory Commission on Intergovernmental Relations „Reducing Unemployment: Intergovernmental Dimensions of a National Problem", Washington 1982, S. 36.

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siderations of national policy, with the assistance and cooperation of industry, agriculture, labor, and state and local governments, to coordinate and utilize all its plans, functions, and resources for the purpose of creating and maintaining, in a manner calculated to foster and promote free competitive enterprise and the general welfare, conditions under which there will be afforded useful employment opportunities, including self-employment, for those willing, and seeking to work, and to promote maximum employment, production, and purchaising power."

Diese eher „weichen" Formulierungen, die eine stark abgemilderte Fassung der im Zuge des New Deal ursprünglich ausgearbeiteten Entwürfe darstellen28, passen ersichtlich nicht in den Duktus der Verfassung von 1787 und ihrer Amendments. Sie spiegeln indes einen aus der Erfahrung wirtschaftlicher Krisen und sozialer Degradation gewonnenen Konsens wider, daß der Staat sein Handeln nicht auf Freiheitsschutz, d.h. den klassischen Sicherheitszweck, beschränken darf, sondern auch für die Erhaltung und Schaffung von Arbeitsplätzen, soziale Sicherheit und Mehrung des Wohlstands Verantwortung übernehmen muß. Darüber, wie der Staat diese Aufgabe zu erfüllen hat, insbesondere wie weit der staatliche Interventionismus gehen darf, bestehen freilich zwischen den USA und den kontinentaleuropäischen Staaten noch sehr unterschiedliche Vorstellungen. 2. Die Qualifizierung von Verfassungssätzen als Staatszielbestimmungen Zählen heute zum kontinentaleuropäischen acquis constitutionnel eine Rei-

he verfassungsrechtlicher Verbürgungen, die auch Garantien und Prinzipien zum Schutz und zur Förderung von Arbeitnehmerinteressen umfassen, so fragt sich, welche Rolle dabei der Normtypus der Staatszielbestimmungen spielt. Von Hans Peter Ipsen nach dem Zweiten Weltkrieg „entdeckt" und von ihm und anderen Autoren zunächst für die abstrakten materiellen Prinzipien des Grundgesetzes, insbesondere das Sozialstaatsprinzip, gebraucht29, handelt es 28

In dem ursprünglichen Entwurf eines ,,Full Employment Act of 1945", dem sogenannten „Murray Bill" vom 18.12.1944, wurde sogar ein Recht auf Arbeit statuiert. Section 2 lautete (abgedruckt ebd.): a) Every American able to work and willing to work has the right to a useful and remunerative job in the industries or shops or offices or farms or mines of the nation. b) It is the responsibility of the government to guarantee that right by assuring continuing füll employment." 29 H. P. Ipsen, Über das Grundgesetz. Rede gehalten anläßlich des Beginns des neuen Amtsjahres des Rektors der Universität Hamburg am 17. November 1949, Hamburg 1950, S. 14; der Begriff erlangte sodann vor allem durch den Aufsatz von U. Scheuner über „Staatszielbestimmungen" aus dem Jahr 1972 Verbreitung (in: Festschrift für Ernst Forsthoffzum 70. Geburtstag, München 1972, S. 325-346).

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sich bei Staatszielbestimmungen um eine Normkategorie, die sich heute in fast allen modernen Verfassungen findet. Faßt man die Meinungsbildung in der deutschen Verfassungsrechtsdogmatik zusammen, so lassen sich Staatszielbestimmungen als Verfassungssätze definieren, die das Handeln des Staates auf die Verfolgung oder Verwirklichung eines bestimmten Ziels verpflichten, ohne dem Bürger subjektive Recht einzuräumen30. Es geht also um finale, rein objektiv-rechtlich wirkende Verfassungssätze. Im Unterschied zu bloßen Programmsätzen handelt es sich aber nicht um lediglich unverbindliche, ethische Leitlinien, sondern um rechtsverbindliche Prinzipien. Anders als Gesetzgebungsaufträge binden sie nicht nur den Gesetzgeber, sondern auch die Exekutive und Judikative. Im Unterschied zu den Staatsstrukturprinzipien weisen sie in Reinform, d.h. soweit nicht mit verfahrensmäßigen und formellen Qualifizierungen versehen, lediglich die Richtung bzw. das Ziel, determinieren hingegen nicht, wie etwa das formelle Rechtsstaatsprinzip, die Handlungsmodalitäten und -wege31. Verfassungssätze, welche diese Kriterien erfüllen, können einen sehr unterschiedlichen Konkretionsgrad aufweisen. Neben einer so abstrakten Zielbestimmung wie dem Sozialstaatsgebot können sie beispielsweise die Form eines konkreten Leitprinzips zum Schutz und zur Gleichstellung von Arbeitnehmerinnen annehmen32. Für den Verfassungsinterpreten stellt sich häufig die Frage, wie Staatszielbestimmungen von anderen materiellen Verfassungssätzen, insbesondere Grundrechten abzugrenzen sind. Insbesondere in Fällen, in denen soziale Verbürgungen als „Recht auf..." formuliert sind, gerät er leicht in eine Antinomie. Nimmt man eine Verfassung, die ein „Recht auf Arbeit" verankert, ernst, so sieht man sich im Hinblick auf den Wortlaut gezwungen, einen subjektivrechtlichen Gehalt der Vorschrift anzuerkennen. Sobald man dieses Recht auf 30

Vgl. K.-P. Sommermann, Staatsziel „Umweltschutz" mit Gesetzesvorbehalt?, in: DVB1. 1991, S. 34 m.w.N. in Fn. 6; ders., Staatsziele und Staatszielbestimmungen, Tübingen 1997, S. 5, 326, 350, 482. Immer wieder zitiert wird die Definition der vom Bundesminister des Innern und vom Bundesminister der Justiz eingesetzten Sachverständigenkommission „Staatszielbestimmungen/Gesetzgebungsaufträge" (Bericht, Bonn 1983, S. 21): „Staatszielbestimmungen sind Verfassungsnormen mit rechtlich bindender Wirkung, die der Staatstätigkeit die fortdauernde Beachtung oder Erfüllung bestimmter Aufgaben - sachlich umschriebener Ziele - vorschreiben. Sie umreißen ein bestimmtes Programm der Staatstätigkeit und sind dadurch eine Richtlinie oder Direktive für das staatliche Handeln, auch für die Auslegung von Gesetzen und sonstiger Rechtsvorschriften." 31 Zur Abgrenzung der Staatszielbestimmungen von Gesetzgebungsaufträgen, Aufgabennormen, Kompetenzbestimmungen, Einrichtungsgarantien, sozialen Rechten und Strukturprinzipien näher K.-P. Sommermann, Staatsziele und Staatszielbestimmungen, Tübingen 1997, S. 362 ff. 32 Vgl. etwa Art. 37 der italienischen Verfassung von 1947.

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Arbeit aber dem Empfängerhorizont der Bürger entsprechend als Recht auf einen konkreten Arbeitsplatz auslegen will, wird die Undurchfuhrbarkeit des Rechts augenfällig. Nicht allein, daß man dem Richter, bei dem das Recht auf Arbeit eingeklagt würde, eine schlüssige Antwort auf die Frage, welchen Arbeitsplatz er denn zusprechen soll, nicht geben könnte; auch die Beachtung der in den demokratischen Verfassungen ebenfalls enthaltenen wirtschaftlichen Freiheiten, die einer staatlichen Planwirtschaft entgegenstehen, sind mit einem Recht auf Arbeit nicht in Übereinstimmung zu bringen 33. Als das spanische Verfassungsgericht eine entsprechende Frage beantworten mußte, blieb ihm nichts anderes übrig, als das Recht auf Arbeit inhaltlich letztlich auf ein nur den Arbeitsplatzbesitzern zugute kommendes Recht auf Stabilität in der Beschäftigung, d.h. auf ein mittelbar drittwirkendes Grundrecht zu reduzieren, nicht ohne wichtigen Grund entlassen zu werden. Die für die Sozialordnung interessante Komponente des Rechts auf Arbeit, wie denjenigen Arbeit zu verschaffen ist, die keine haben, konnte es indes nur rein objektiv-rechtlich konkretisieren: Das Recht auf Arbeit bedeute in seiner kollektiven Dimension den Auftrag an die öffentlichen Gewalten, eine Politik der Vollbeschäftigung zu verfolgen 34. Da indes dieses Leitprinzip indes in einer anderen Verfassungsbestimmung gesondert verankert ist 35 , hätte es hierzu eines Rückgriffs auf das Recht auf Arbeit nicht bedurft. In Deutschland wurden die landesverfassungsrechtlichen Verbürgungen des Rechts auf Arbeit bekanntlich ebenfalls als beschäftigungspolitische Leitprinzipien interpretiert 36. Werden als „Recht auf ..." formulierte Garantien verfassungssystematisch mit den Grundrechten verbunden, die ihrer Natur nach nicht von einer gesetzlichen Ausgestaltung abhängig, sondern unmittelbar angewendet werden können, so wird die notwendig relativierende Auslegung sozialer Rechte zu einer Abwertung des Grundrechtskatalogs insgesamt führen. Die durchaus differenziert geführte Diskussion der Weimarer Staatsrechtslehre zum normativen 33 Vgl. dazu nur H. Fenn, in: Pietzcker/Fenn/Tomuschat/Baron von Maydell (Anm. 11), S. 29 ff. 34 Urteil 22/1981 des spanischen Verfassungsgerichts vom 2.7.1981, Boletin de Jurisprudencia Constitucional 4, S. 243 ff Das Gericht spricht zwar von einem „Recht auf einen Arbeitsplatz", doch bleibt diese Dimension jenseits des Bestandsschutzes inhaltsleer. Diesen versucht man in Deutschland mittlerweile sogar aus der ursprünglich ausschließlich als Abwehrrecht konzipierten Berufsfreiheit herzuleiten, vgl. nur H. Oetker, Arbeitsrechtlicher Bestandschutz und Grundrechtsordnung, in: RdA 1997, S. 9,13 ff. 35 Vgl. Art. 40 Abs. 1 Satz 2 der spanischen Verfassung. 36 Siehe etwa BayVerfGH DÖV 1961, S. 710, 711 (mit Anmerkung von H. Krüger auf S. 712 f.); A Dickersbach, in: Geller/Kleinrahm, Die Verfassung des Landes Nordrhein-Westfalen. Kommentar, 3. Aufl., Göttingen 1977 ff, Art. 24 Anm. 4 a.

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Gehalt der materiellen Bestimmungen der Verfassung von 191937 bietet hierfür ein mahnendes Beispiel. Im Ergebnis wurde der normative Wert sämtlicher Grundrechtsbestimmungen gemindert. Einen Ausweg aus dieser Infizierung aller Grundrechtsbestimmungen mit der normativen Anorexie sozialer Rechte hat vor sechzig Jahren die irische Verfassung gewiesen. Die irische Verfassung von 1937 unterschied als erste deutlich zwischen nicht einklagbaren „directive principles of social policy" einerseits und „fundamental rights" andererseits. Dabei erfolgte diese Unterscheidung nicht allein durch die Systematik der Verfassung, sondern zugleich durch eine ausdrückliche Normativitätsbestimmung38. Die irische Lösung hat später einen Siegeszug durch die moderne Verfassunggebung angetreten. Zu nennen ist zunächst die indische Verfassung von 1949, die zwischen „fundamental rights" einerseits und „directive principles of state policy" andererseits unterscheidet. Letzteren schreibt sie in Artikel 37 folgende Bindungswirkung zu: „The provisions contained in this Part shall not be enforceable by any court, but the principles therein laid down are nevertheless fundamental in the governance of the country and it shall be the duty of the State to apply these principles in making laws."

In Europa war es vor allem die spanische Verfassung von 1978, welche das Prinzip ausdrücklicher Normativitätsdistinktion aufgriff und zugleich durch eine ergänzende Ausdiflferenzierung prozeduraler Schutzinstrumente eine neue Entwicklungsstufe einleitete39. Neben einer besonders geschützten Gruppe von Grundrechten, die nicht nur in einem beschleunigten Verfahren vor den einfachen Gerichten, sondern notfalls auch mit der Verfassungsbeschwerde einklagbar sind, sowie einer Gruppe von lediglich in den allgemeinen Verfahren vor den einfachen Gerichten einklagbaren Rechten weist sie „Leitprinzipien der Sozial- und Wirtschaftspolitik" aus, deren Normativität sie wie folgt definiert 40: 37

Vgl. dazu nur Κ Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. m/1, München 1988, §§ 59 V 6 (S. 120 ff.), 65 I 3 b (S. 484 ff.) u. 65 I 4 (S. 491 ff.). 38 Art. 45 der irischen Verfassung lautet: „The principles of social policy set forth in this Article are intended for the general guidance of the Oireachtas. The application of those principles in the making of laws shall be the care of the Oireachtas exclusively, and shall not be cognisable by any Court under any of the provisions of this Constitution." 39 Näher dazu K.-P. Sommerniann y Der Schutz der Grundrechte in Spanien nach der Verfassung von 1978, Berlin 1984, S. 142 ff.; ders., Der richterliche Schutz der Grundrechte in Spanien, in: H.-R. Honi/A. Weber (Hrsg.), Richterliche Verfassungskontrolle in Lateinamerika, Spanien und Portugal, Baden-Baden 1988, S. 23,24 ff. 40 Art. 53 Abs. 3 der spanischen Verfassung von 1978.

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„Die Anerkennung, die Achtung und der Schutz der ... Leitprinzipien leitet die positive Gesetzgebung, die gerichtliche Praxis und die Tätigkeit der öffentlichen Gewalten. Sie können nur vor der ordentlichen Gerichtsbarkeit, nach Maßgabe der sie entwickelnden Gesetze, geltend gemacht werden."

Diese Normativitätsbestimmung für die Leitprinzipien der Sozial- und Wirtschaftspolitik stellt für den Verfassungsinterpreten unmißverständlich klar, daß selbst darin enthaltene als „Recht auf..." formulierte Normen keinen unmittelbaren subjektiv-rechtlichen Gehalt aufweisen. Zu den erwähnten Ungereimtheiten beim „Recht auf Arbeit" kam es in Spanien nur, weil der Verfassungsgeber dieses Recht nicht der dritten Gruppe, also den Leitprinzipien, zugeschlagen hatte, sondern systemfremd der zweiten Gruppe mit Bestimmungen subjektiv-rechtlichen Charakters. In Deutschland hat man auf Bundesebene überhaupt nicht, auf Landesebene nur ansatzweise die spätestens mit der spanischen Verfassung von 1978 gefundene klare Form einer Ausdifferenzierung der materiellen Verfassungsbestimmungen rezipiert. Der Verfassungsdiskurs der Gemeinsamen Verfassungskommission nach der deutschen Wiedervereinigung wurde unter auffälliger Abwesenheit rechtsvergleichender Betrachtungen geführt. Die Verfassungsdiskussion in den neuen Ländern führte immerhin zur ausdrücklichen Unterscheidung zwischen Grundrechten und Staatszielen, teilweise daneben, als dritter Kategorie, auch den Einrichtungsgarantien. Überwiegend wurden zudem Normativitätsbestimmungen beigefügt. So heißt es etwa in der sachsenanhaltinischen Verfassung von 1992 (Artikel 3): „(1) Die nachfolgenden Grundrechte binden Gesetzgebung, vollziehende Gewaltung und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht. (2) Die nachfolgenden Einrichtungsgarantien verpflichten das Land, diese Einrichtungen zu schützen sowie deren Bestand und Entwicklung zu gewährleisten. (3) Die nachfolgenden Staatsziele verpflichten das Land, sie nach Kräften anzustreben und sein Handeln danach auszurichten."

Es ist allein die sachsen-anhaltinische Verfassung, welche durch ihre Systematik dabei zugleich deutlich macht, welche Verfassungsbestimmungen Grundrechte normieren und welche Vorschriften Staatszielbestimmungen enthalten. Bei den Verfassungen der anderen Bundesländer lassen sich Grundrechte und Staatszielbestimmungen allein auf Grund der Systematik des Verfassungstextes nicht klar auseinanderhalten. Immerhin sind die Verfassungen der neuen Bundesländer hier insgesamt weiter entwickelt als die Verfassungen der alten. Angesichts der bereits im Ausland erzielten Errungenschaften hätte man sich allerdings noch größere Klarheit gewünscht.

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II. Die Wirkung der Staatszielbestimmungen zur Förderung von Arbeitnehmerinteressen Die meisten Garantien und Prinzipien in den europäischen Verfassungen, welche dem Schutz und der Förderung von Aibeitnehmerinteressen dienen, lassen sich nach den dargestellten Grundsätzen als Staatszielbestimmungen qualifizieren. Dies gilt in verschiedenen Verfassungen für das Ziel einer Politik der Vollbeschäftigung ebenso wie für Vorschriften über die Gewährleistung gesunder Arbeitsbedingungen oder sozialer Absicherung von Arbeitslosen. Daß diese Staatszielbestimmungen für die gesamte Staatsgewalt, d.h. für die Legislative, Exekutive und Judikative verbindlich sind, ergibt sich bereits aus der oben zugrunde gelegten Definition. Die normative Wirkung im einzelnen bedarf allerdings noch einer näheren Betrachtung. Aufschluß über die praktische Wirkung geben die Instrumente, die zur Durchsetzung von Staatszielbestimmungen zur Verfügung gestellt werden. 1. Normative Wirkung der Staatszielbestimmungen Die normative Wirkung der Staatszielbestimmungen läßt sich unter verschiedenen Aspekten betrachten. a) Da Staatszielbestimmungen in aller Regel der normativen Ausgestaltung bedürfen, richten sie an den Gesetzgeber einen Regelungsauftrag. Nach den Grundsätzen des Vorbehaltes des Gesetzes, die Art. 80 Abs. 1 GG sowie der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts 41 zu entnehmen sind, hat der parlamentarische Gesetzgeber dabei alle wesentlichen Entscheidungen der Zielverfolgung und Zielverwirklichung selbst zu treffen. Die Handlungsverpflichtung des Gesetzgebers ist naturgemäß nicht eine unbedingte. Bestehen bereits Regelungen zur Zielverwirklichung oder kommt der Gesetzgeber bei Berücksichtigung anderer materieller Verfassungsbestimmungen zu dem Schluß, daß weitere Zielverwirklichungsmaßnahmen nur unter Inkaufnahme unverhältnismäßiger Nachteile für andere Verfassungsziele oder -güter durchgeführt werden können, so entfällt eine Handlungspflicht, ja sie wäre gegebenenfalls sogar verfassungswidrig. Der Staat ist nicht mono-final orientiert, sondern steht in einem Gefüge konkurrierender und häufig konfligiercnder Ziele. Oft wird es seine begrenzte finanzielle Leistungsfähigkeit sein, die einem Voranschrei41

Vgl. aus der umfangreichen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts etwa BVerfGE 49, 89,126 f.

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ten auf dem Weg der Zielverwirklichung -jedenfalls vorübergehendGrenzen zieht. Angesichts der Tatsache, daß die Wirtschaft konjunkturellen Schwankungen unterworfen ist und die sich wandelnden tatsächlichen Verhältnisse bei polyvalenten Zielgefügen wechselnde Zielverwirklichungsprioritäten auslösen, kann Staatszielbestimmungen nicht einmal eine Garantie des status quo zwingend entnommen werden42. Sieht etwa eine Verfassung die Bereitstellung von Arbeitslosenunterstützung vor, die Menschen ohne Arbeit einen angemessenen Lebensstandard erlauben soll, so deutet das Ziel eines angemessenen Lebensstandards zwar in Richtung einer stetigen Erhöhung der gewährten Arbeitslosenunterstützung. Verschlechtert sich indes die wirtschaftliche Lage und damit die Leistungsfähigkeit des Systems der Arbeitslosenunterstützung oder wird eine Konzentration von Mitteln auf die Verwirklichung eines anderen Ziels vordringlich (Beispiel: Konzentration auf das Staatsziel Umweltschutz bei einer drohenden Umweltkatastrophe), so muß auch ein vorübergehender Rückschritt gegenüber dem bisherigen Grad der Zielverwirklichung möglich sein. Staatszielbestimmungen enthalten eben durch ihre Einbindung in ein Gesamtzielgefüge nicht ein Maximierungs-, sondern ein Optimierungsgebot43. b)

Sowohl die Exekutive als auch die Judikative haben die Staatszielbestimmungen als Interpretationskriterium heranzuziehen. Im Arbeitsrecht können Staatszielbestimmungen insbesondere über die zivilrechtlichen Generalklauseln oder sonstige finaler Aufladung zugängliche Regelungen („teleophile Normen") Wirkung entfalten, sofern die Zielbestimmungen auf eine staatliche Gestaltung arbeitsrechtlicher Beziehungen gerichtet sind. Ein Beispiel für diese Zielrichtung bietet Artikel 24 der nordrheinwestfälischen Verfassung. Nach dieser Bestimmung steht im Mittelpunkt des Wirtschaftslebens das Wohl des Menschen und hat ferner der Schutz seiner Arbeitskraft Vorrang vor dem Schutz materiellen Besitzes. Artikel 55 der rheinland-pfälzischen Verfassung. Danach sind die Arbeitsbedingungen so zu gestalten, daß sie die Gesundheit, die Würde, das Familienleben und die kulturellen Ansprüche der Arbeitnehmer sichern44. Der-

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So aber (für die Leitprinzipien der spanischen Verfassung) L. Lopez Guerra , in: J. de Esteban/L. Lopez Guerra u.a., El régimen constitucional espafiol, Bd. 1, Madrid 1980, S. 346 f. 43 Näher hierzu K.-P. Sommermann, Staatsziele und Staatszielbestimmungen, Tübingen 1997, S. 359 ff., 411 ff. 44 Offener ist Art. 45 der saarländischen Verfassung formuliert, wonach die menschliche Arbeitskraft den Schutz des Staates genießt. Vgl. auch Artikel 55 der rheinland-pfälzischen Verfassung, wonach die Arbeitsbedingungen so zu gestalten

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artige Verfassungssätze können zugleich - wie alle Staatszielbestimmungen - bei nicht gebundenen Verwaltungsentscheidungen Bedeutung als Ermessensrichtlinie gewinnen. Vernachlässigt sei an dieser Stelle die Frage, in welchem Umfang eine Ausrichtung von Ermessensentscheidungen an Zielbestimmungen des Landes gegen das Grundgesetz verstoßen kann. c) Die meisten Staatszielbestimmungen sind so abstrakt gefaßt, daß sie nicht nur hinsichtlich der Zielverfolgung der gesetzlichen Konkretisierung bedürfen, sondern auch bezüglich ihres Zielbereichs. Dies eröffnet dem Gesetzgeber erhebliche Gestaltungsspielräume, zumal sich Zielbereich und Zielverwirklichung bzw. Zielverfolgung nicht immer eindeutig trennen lassen45. Allerdings ist selbst bei hochabstrakten Staatszielbestimmungen ein Zielkern zu definieren, der nicht zur Disposition des Gesetzgebers steht. Bekanntlich hat das Bundesverfassungsgericht sogar bei einem so abstrakten Ziel wie dem Sozialstaatsprinzip einen Zielkern identifiziert. Zusammenfassend heißt es in einem Beschluß des Ersten Senats aus dem Jahre 1990 zum Sozialstaatsprinzip46: ,»Angesichts seiner Weite und Unbestimmtheit läßt sich daraus jedoch regelmäßig kein Gebot entnehmen, soziale Leistungen in einem bestimmten Umfang zu gewähren. Zwingend ist lediglich, daß der Staat die Mindestvoraussetzungen für ein menschenwürdiges Dasein seiner Bürger schafft. ... Soweit es nicht um die genannten Mindestvoraussetzungen geht, steht es in der Entscheidung des Gesetzgebers, in welchem Umfang soziale Hilfe unter Berücksichtigung der vorhandenen Mittel und anderer gleichrangiger Staatsaufgaben gewährt werden sollen..."

Bei Staatszielbestimmungen geringeren Abstraktionsgrads verdichtet sich auch die Bindungswirkung. Dies ist insbesondere bei Zielbestimmungen der Fall, die materielle und formelle Qualifizierungen hinsichtlich der Zielverwirklichung enthalten. Ein Beispiel bildet Artikel 176 der bayerischen Verfassung, der die Gewährleistung der betrieblichen Mitbestimmung zum Gegenstand hat. Zu beachten ist somit, daß die Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers bei steigendem Kongretionsgrad der Staatszielbestimmungen eingeengt wird. Ist das Netz der Staatszielbestimmungen zu eng gewoben, so wird der demokratische Gesetzgeber zu einem Vollzugsorgan ohne eigenständige Gestaltungsmöglichkeiten in Grundsind, daß sie die Gesundheit, die Würde, das Familienleben und die kulturellen Ansprüche der Arbeitnehmer sichern. 45 Näher zur Einschätzungsprörogative des Gesetzgebers Sommermann (Anm. 43), S. 427 ff. 46 BVerfGE 82, 60, 80.

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satzfragen degradiert 47. Je stärker das Handeln des Gesetzgebers durch Zielvorgaben determiniert wird, desto größer ist die Gefahr, daß der Staat auf unvorhergesehene Entwicklungen nicht angemessen reagieren kann. d) Besondere Beachtung verdienen auch unter Normativitätsgesichtspunkten Staatszielbestimmungen, die wie subjektive Rechte formuliert sind. Wie bereits festgestellt, wird auch noch in modernen demokratischen Verfassungen von einem „Recht auf Arbeit" gesprochen, obwohl die Verfassungssystematik oder ausdrückliche Normativitätsbestimmungen keinen Zweifel daran lassen, daß es sich um eine Staatszielbestimmung handelt. Weitere Beispiele entsprechender Gewährleistungen im Interesse der Arbeitnehmer bilden das Recht auf Erholung und Freizeit 48 sowie das Recht auf soziale Sicherheit49. Wenn die Formulierung einer Staatszielbestimmung als „Recht auf..." einen Sinn machen soll, so kann dieser nur darin liegen, daß die Zielverwirklichungsverpflichtung mit einem Subjektivierungsauftrag an den Gesetzgeber verknüpft ist. Der Gesetzgeber soll mit anderen Worten zur Zielverwirklichung subjektive Rechtspositionen schaffen. Eine Staatszielbestimmung, die ein Recht auf Arbeitslosenunterstützung statuiert, enthält zwar nicht selbst eine subjektiv-rechtliche Rechtsposition, auf die sich ein Arbeitsloser vor Gericht berufen könnte; der Gesetzgeber hat in seiner gesetzlichen Regelung der Arbeitslosenunterstützung indes einklagbare Anspruchspositionen zu schaffen. Häufig wird sich der Verfassungsgeber aber bei seiner subjektivrechtlichen Formulierung solcherart differenzierte Gedanken nicht gemacht haben, sondern schlicht an klassische Forderungen der Arbeiterbewegung angeknüpft haben. Aufgabe des Verfassungsrechtlers muß es sein, den Verfassungsgeber oder verfassungsändernden Gesetzgeber darauf hinzuweisen, daß die plakative Forderung sozialer Rechte, die der Bürger für unmittelbar gerichtlich einklagbar halten muß, nicht in eine verbindliche und damit auch für den Bürger verläßliche Verfassung paßt. Sie weckt Erwartungen und Hoffnungen, die nicht einlösbar sind50. Während ein Recht auf Arbeitslosenunterstützung, jedenfalls auf einfachgesetzlicher Ebene, subjektiv-rechtlichen Gehalt gewinnen kann, ist dies beim Recht auf Arbeit, will man sich nicht vom allgemeinen Sprachgebrauch bis zur 47

Vgl. auchD. Merten, Über Staatsziele, in: DÖV 1993, S. 368, 375. Siehe Artikel 59 Abs. 1 lit. d der portugiesischen Verfassung von 1976/82/89/92. 49 Siehe Artikel 63 Abs. 1 der portugiesischen Verfassung von 1976/82/89/92. 50 Gegen jede Form der „Verfassungsschwärmerei" namentlich D. Merten, Verfassungspatriotismus und Verfassungsschwärmerei. Betrachtungen eines Politischen, in: Verwaltungsarchiv Bd. 83 (1992), 283, 290, der vor „Verfassungsenttäuschungen" warnt. 48

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Unkenntlichkeit entfernen, undenkbar. Die dargestellte Auslegung des Rechts auf Arbeit durch das spanische Verfassungsgericht als Recht auf Stabilität in der Beschäftigung zeigt das Dilemma. Der Arbeitslose muß dann darauf vertröstet werden, daß er selbst zwar kein Recht, der Staat aber immerhin die Verpflichtung hat, ganz generell fur die Schaffung von Arbeitsplätzen zu sorgen. Soll nicht die Verfassung insgesamt unglaubwürdig werden, sollten Verfassungsgeber daher den Eindruck subjektiver Rechte erweckende Formulierungen meiden und statt dessen entsprechende Schutz- und Förderverpflichtungen der Staaten normieren. Dieser Forderung werden beispielsweise die Staatszielbestimmungen in der bereits lobend erwähnten sachsen-anhaltinischen Verfassung 51 weitgehend gerecht. Auf völkerrechtlicher Ebene ist zwar in der der Europäischen Sozialcharta 52 und in dem Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte53 auch von „Rechten auf..." die Rede; diese werden jedoch vor allem in der Europäischen Sozialcharta sodann jeweils durch Prinzipien konkretisiert, die als reine promotional obligations formuliert sind54. In Übereinstimmung mit dem Grundsatz der Völkerrechtsfreundlichkeit zahlreicher Verfassungsordnungen sind derartige internationale Verbürgungen zur Förderung von Arbeitnehmerinteressen - hinzuweisen ist beispielsweise auch auf die zahlreichen im Rahmen der Internationalen Arbeitsorganisation ausgearbeiteten Konventionen - bei der Konkretisierung nationaler Staatszielbestimmungen heranzuziehen55. Dabei wird man zugleich feststellen, daß soziale Staatszielbestimmungen häufig lediglich Standards und Ziele statuieren, zu deren Einhaltung und Verfolgung die Staaten völkerrechtlich ohnehin verpflichtet sind. Bei der Dis-

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Artikel 34 ff. BGBl. 1964 Π, S. 1262; ergänzt durch Zusatzprotokolle vom 5.5.1988 (European Treaty Series No. 128), vom 21.10.1991 (ELM Bd. 31 [1992], S. 158 ff.) und vom 9.11.1995 (ILM Bd. 34 [1995], S. 1456 ff); revidierter Text in European Treaty Series No. 163 (abgedruckt auch in ILM Bd. 36 [1997], S. 31 ff). 53 BGBl. 1973 Π, S. 1570. 54 Näher zu den völkerrechtlichen Aspekten des Rechts auf Arbeit B. Baron von May dell, in: Pietzcker/Fenn/Tomuschat/Baron von Maydell (Anm. 11), S. 62 ff; C. Tomuschat, The Right to Work, in: A. Rosas/J. Helgesen (Hrsg.), Human Rights in a Changing East-West Perspective, London/New York 1990, S. 174-201; vgl. im übrigen die Beiträge in: B. Baron von Maydell/A. Nußberger (Hrsg.), Social Protection by Way of International Law. Appraisal, Deficits and Further Development, Berlin 1996. 55 Vgl. dazu Κ. -P. Sommermann, Völkerrechtlich garantierte Menschenrechte als Maßstab der Verfassungskonkrtisierung. Die Menschenrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes, in: AöR Bd. 114 (1989), S. 391-422. 52

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kussion darüber, ob die Einfügung sozialer Prinzipien in Verfassungen nicht schlechthin schädlich sei, sollte dies bedacht werden. Überdies werden zunehmend soziale Garantien und Zielbestimmungen des europäischen Gemeinschaftsrechts im innerstaatlichen Bereich Bedeutung gewinnen56. 2. Die Durchsetzung der Staatszielbestimmungen Die dargestellten rechtlichen Wirkungen der Staatszielbestimmungen bedürfen zu ihrer Efifektuierung letztlich auch geeigneter Durchsetzungsinstrumente. Von der Vielfalt möglicher Instrumente seien hier nur die gerichtliche Durchsetzung und die Kontrolle durch Ombudsman-Einrichtungen genannt. a) Die Gerichte tragen zur Verwirklichung der Staatsziele bei, indem sie die materiellen Verfassungsbestimmungen als Interpretationskriterium der anzuwendenden Rechtsnormen heranziehen. Im Extremfall kann ein Gericht sogar zu der Überzeugung kommen, daß ein Gesetz gegen eine Staatszielbestimmung verstößt. Wegen der dargelegten Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers, die sich aus der Polyvalenz des Zielgefüges, dem Abstraktionsgrad der Staatszielbestimmungen sowie den sich wandelnden äußeren Umständen ergibt, ist eine derartige Verfassungswidrigkeit allerdings nur anzunehmen, wenn eine Rechtsnorm offenkundig einer Staatszielbestimmung zuwiderläuft, obwohl dies zur Verwirklichung anderer Ziele, denen in vertretbarer Weise im konkreten Fall Vorrang eingeräumt werden könnte, nicht erforderlich ist. In Deutschland müßte in einem solchen Fall ein Gericht die Frage gemäß Artikel 100 Absatz 1 Grundgesetz dem Bundesverfassungsgericht vorlegen. Dieses könnte im übrigen auch im Weg einer abstrakten Normenkontrolle mit entsprechenden Fragen befaßt werden. Voraussetzung ist allerdings immer, daß der Gesetzgeber bereits gehandelt hat. Handlungspflichten, die sich für den Gesetzgeber aus Staatszielbestimmungen ergeben, können indes grund56 Zur Schaffung eines einheitlichen europäischen Sozialraums vgl. nur H. Kuhn, Die soziale Dimension der Europäischen Gemeinschaft, Berlin 1995, S. 295 ff.; zur Lage nach dem Maastrichter Unionsvertrag vgl. auch W. Baldze, Die sozialpolitischen Kompetenzen der Europäischen Union, Baden-Baden 1994, S. 252 ff.; zu den Entwicklungsperspektiven J. C. K. Ringler, Die Europäische Sozialunion, Berlin 1997, S. 232 ff. Der Amsterdamer Vertrag von 1997 sieht die Einfügung eines speziellen Titels über die Beschäftigungspolitik in den EG-Vertrag vor. Die neuen Vertragsbestimmungen statuieren beschäftigungspolitische Leitlinien sowohl für die Gemeinschaft (der allerdings keine zusätzlichen eigenständigen Kompetenzen eingeräumt werden) als auch für die Mitgliedstaaten.

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sätzlich nicht zum Gegenstand eines verfassungsgerichtlichen Verfahrens gemacht werden. Teilaspekte einer solchen möglichen Verfassungswidrigkeit durch Unterlassen können allenfalls durch die Rüge eines gleichheitswidrigen Begünstigungsausschlusses aufgefangen werden, dann etwa auch im Wege einer Verfassungsbeschwerde. Eine umfassende Überprüfung der Handlungspflichten wird dadurch freilich nicht eröffnet. Lediglich in Ländern, die wie Portugal ein spezielles verfassungsgerichtliches Verfahren zur Feststellung einer Verfassungswidrigkeit durch Unterlassen eingeführt haben57, ist dieser Aspekt umfassend justitiabel. Es bleibt freilich die Frage, ob man in diesem Bereich überhaupt eine volle Justitiabilität anstrebt. Sie würde wohl tatsächlich „den parlamentarischen Gesetzgebungsstaat ein Stück weiter zum verfassungsgerichtlichen Jurisdiktionsstaat" führen 58. Angesicht der Tatsache, daß in einer kürzlich durchgeführten Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Emnid 75 % der Bürger dem Bundesverfassungsgericht vertrauen, während es nur 49 % sind, die dem Bundestag Vertrauen entgegenbringen59, mag der ein oder andere -vielleicht mit einem Seitenblick auf das platonische Staatsideal einer Regierung der Philosophen60 - Tendenzen zu einem verfassungsgerichtlichen Jurisdiktionsstaat zunächst für gar nicht so bedrohlich halten. Unter dem Gesichtspunkt des Demokratieprinzips indes wäre eine Übertragung aller wesentlichen Entscheidungen des Staatswesens auf ein Rechtsprechungsorgan, selbst wenn es Verfassungsorganqualität besitzt, nicht hinnehmbar.

57 Vgl. Art. 283 der portugiesischen Verfassung von 1976/92. Zur Verfassungswidrigkeit durch Unterlassen und dem darauf bezogenen Kontrollverfahren näher JJ. Gomes Canotilho, Direito constitucional, 4. Aufl., Coimbra 1989, S. 828 ff.; J. Miranda, L'inconstitutionnalité par omission dans le droit portugais, in: Revue Européenne de Droit Public Bd. 4 (1992), S. 39-59. 58 Diese Befürchtung äußert allgemein gegenüber Staatszielbestimmungen H. H. Klein, Staatsziele im Verfassungsgesetz - Empfiehlt es sich, ein Staatsziel Umweltschutz in das Grundgesetz aufzunehmen?, in: DVB1. 1991, S. 729, 734 ff. Entsprechend warnte vor dem „Übergang vom parlamentarischen Gesetzgebungsstaat zum verfassungsgerichtlichen Jurisdiktionsstaat", allerdings im Hinblick auf die fortschreitende Anreicherung der objektiv-rechtlichen Gehalte der Grundrechte, bereits E.-W. Bökkenförde, Grundrechte als Grundsatznormen. Zur gegenwärtigen Lage der Grundrechtsdogmatik, in: Der Staat Bd. 29 (1990), S. 1, 25. 59 „Der Spiegel", Heft 27/1997 vom 30.6.1997, S. 41. 60 Piaton, Der Staat, 5 Buch (473 ff.). Das Ideal bezog sich freilich auf „Philosophenkönige". Wegen einer Kritik des platonischen Herrscherideals und seiner totalitären Zügen siehe Κ R. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Bd. 1, Tübingen 1957, S. 191 ff. 8 Grupp/Weth

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b) Als weicheres Instrument der Durchsetzung von Staatszielbestimmungen bieten sich Ombudsman-Einrichtungen an. Die Erfahrungen in zahlreichen Staaten zeigen, daß Ombudsman-Einrichtungen, aber auch andere Petitionsorgane, an die sich die Bürger ohne Einhaltung besonderer Förmlichkeiten mit Beschwerden wenden können, sich als vorzügliches Instrument zur Aufdeckung struktureller Mängel gerade der Sozialgesetzgebung eignen. Man hat daher zu Recht von einer Affinität der Ombudsman-Einrichtungen zu den sozialen Grundrechten gesprochen61. In Schleswig-Holstein beispielsweise wurde ein auf soziale Angelegenheiten spezialisierter parlamentarischer Ombudsman geschaffen. Für die Effektivität dieser Einrichtung kommt es maßgeblich auf die Unabhängigkeit und die Ausgestaltung seiner Befugnisse an. Als wirksames Kontrollinstrument haben sich insbesondere Ombudsmänner erwiesen, die vom Parlament gewählt wurden (gegebenenfalls mit qualifizierter Mehrheit), die sowohl auf Antrag als auch ex officio tätig werden können und deren Berichte vom Parlament und von der Öffentlichkeit gebührend zur Kenntnis genommen werden. Eine wesentliche Stärkung der Ombudsman-Einrichtung kann dadurch erreicht werden, daß man ihr besondere Klagerechte einräumt. In Portugal kann der Provedor de Justi ça sogar das erwähnte verfassungsgerichtliche Verfahren zur Feststellung einer Verfassungswidrigkeit durch Unterlassen einleiten.

I I I . Verfassungslegistische und verfassungspolitische Schlußfolgerungen Aus dem skizzierten rechtsvergleichenden Befund sowie der Analyse der Rechtswirkungen von Staatszielbestimmungen und Möglichkeiten ihrer Implementierung lassen sich Schlußfolgerungen ziehen, die in Empfehlungen für eine künftige Verfassungsgebung oder Verfassungsänderung münden: 1.

Staatszielbestimmungen zur Förderung von Arbeitnehmerinteressen sind heute Bestandteil zahlreicher ausländischer Verfassungen und auch der meisten deutschen Landesverfassungen. Durch die Konstitutionalisierung werden die Ziele, jedenfalls in ihrer Grundaussage, der tagespolitischen Diskussion entzogen. Häufig normieren sie Standards, an die die Staaten völkerrechtlich ohnehin gebunden sind.

61

Th. Öhlinger, Ombudsmann und soziale Grundrechte, in: S. Matscher (Hrsg.), Ombudsmann in Europa. Institutioneller Vergleich, Kehl u. a. 1994, S. 95, 99.

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2. Die Aufnahme von Staatszielbestimmungen fuhrt nicht zwangsläufig zu einer Minderung der Normativkraft einer Verfassung und zu einer Entwertung der Grundrechte. Voraussetzung ist allerdings, daß zwischen (subjektiven) Grundrechten und (rein objektiv-rechtlichen) Staatszielbestimmungen eindeutig differenziert wird. Dies kann am wirksamsten dadurch erreicht werden, daß durch die Verfassungssystematik beide Normgruppen unterschieden und durch eine besondere Normativitätsbestimmung die unterschiedliche Bindungswirkung klargestellt wird. 3.

Auch bei einer entsprechend klaren Trennung zwischen Grundrechten und Staatszielbestimmungen sollten letztere nicht als „Recht auf..." formuliert werden. Hierdurch werden falsche Erwartungen geweckt und wird die Glaubwürdigkeit der Verfassung insgesamt beschädigt. Vielmehr sollte bereits durch die Wortwahl die für Staatszielbestimmungen charakteristische Bindungswirkung verdeutlicht werden. Typische Formulierungen lauten: „Der Staat schützt ...", „Der Staat fördert ...", „Der Staat ergreift Maßnahmen ...", „Der Staat sorgt für Eine Formulierung mit „Recht auf..." ist nur vertretbar, wenn dem Gesetzgeber zugleich ein eindeutiger Subjektivierungsauftrag erteilt werden soll, der auch realisierbar ist.

4.

Dem entwicklungsoffenen Charakter von Verfassungen entsprechend sollte man bei der Aufnahme neuer Staatszielbestimmungen Zurückhaltung üben und sich insgesamt auf die wesentlichen Zielsetzungen beschränken. Andernfalls besteht die Gefahr, daß der parlamentarische Gesetzgeber in ein Netz von Zielen verstrickt wird, die entweder seine Handlungsfähigkeit lähmen oder sich gegenseitig aufheben.

5.

In die Bestimmungen über die Normativität von Staatszielbestimmungen, deren Verwirklichung in der Regel erhebliche staatliche Leistungen erfordert, sollte der Klarstellung halber der „Vorbehalt des Möglichen" aufgenommen werden. Die Verfassungen von Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen bringen dies schlicht und zweckmäßig durch die Formel „nach seinen Kräften" 62 bzw. „nach Kräften" 63 zum Ausdruck.

6.

Um Verfassungen nicht mit wirkungslosen Bestimmungen zu befrachten und dadurch in Mißkredit zu bringen, sollten Landesverfassungsgeber auf Staatszielbestimmungen verzichten, deren Verwirklichung nicht in ihrer

62

Siehe Artikel 13 der sächsischen Verfassung von 1992 und Artikel 43 der thüringischen Verfassung von 1993. 63 So Artikel 3 Abs. 3 der sachsen-anhaltinischcn Verfassung von 1992.

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Kompetenz liegt 64 oder deren Verwirklichung gegen das Grundgesetz verstoßen würde 65. Den Vorteil, den man sich dadurch verspricht, daß durch neue Identifikationselemente in den Landesverfassungen letztlich auch einen Verfassungswandel bzw. eine Verfassungsänderung auf Bundesebene herbeigefiihren oder zumindest begünstigen könnten, kann die Gefahr eines Autoritätsverlusts der Landesverfassung insgesamt nicht aufwiegen. 7.

Staatszielbestimmungen zur Förderung von Arbeitnehmerinteressen werden vorrangig die vom Staat zu schaffenden Rahmenbedingungen der sozialen Marktwirtschaft zum Gegenstand haben. Da sich Staatszielbestimmung per definitionem an den Staat richten, können Arbeitgeber durch sie stets nur indirekt in die Pflicht genommen werden. Der Gesetzgeber hat bei der Konkretisierung des Weges und der Mittel der Zielverwirklichung die Grundrechte aller Beteiligten zu achten. Keinesfalls stellen Staatszielbestimmungen eine unmittelbare Ermächtigungsgrundlage für Eingriffe der Exekutive, etwa in Rechte der Tarifparteien, dar.

64

Bei den meisten Materien der ausschließlichen Gesetzgebungskompetenz des Bundes ist bereits wegen der Natur der Regelungsgegenstände eine Rückübertragung an die Länder (im Wege einer Verfassungsänderung) ausgeschlossen. Selbst bei den Materien der konkurrierenden Gesetzgebungszuständigkeit ist es überwiegend unwahrscheinlich, daß der Bund seine Gesetzgebung zurücknimmt, um den Ländern neue Regelungsspielräume zu eröffnen. Immerhin ist dies nicht ausgeschlossen, so daß zugunsten entsprechender Staatszielbestimmungen eine Reservefunktion ins Feld geführt werden könnte. Zur Frage, ob die Kompetenzvorschriften der Art. 70 ff. GG eine Schranke für den Landesverfassungsgeber darstellen können, vgl. im übrigen Th. Rincke, Staatszielbestimmungen der Verfassung des Freistaates Sachsen, Frankfurt a.M. u.a. 1997, S. 78 ff. 65 Z u den Möglichkeiten bundesrechtskonfonner Auslegung vgl. S. Jutzi, Landesverfassungsrecht und Bundesrecht. Kollisionslagen und Gcltungsprobleme, exemplifiziert an sozialen und wirtschaftlichen Bestimmungen des Landesverfassungsrechts, Berlin 1982, S. 29,46,71 ff.

Institutionelle Absicherung der Wahrnehmung von Arbeitnehmerinteressen durch die Verfassung' Von Joachim Burmeister I. Einleitung 1. Der Begriff des Interesses als Ausgangspunkt der Untersuchung Unter dem Begriff „Interesse", so konstatierte Philipp Heck 1932 in seinem grundlegenden Werk „Begriffsbildung und Interessenjurisprudenz", versteht man im allgemeinen Sprachgebrauch „diejenige Bedeutung, die Lebensgüter für die Menschen haben und daher das Begehren nach Lebensgütern".1 Interessen im so verstandenen Sinne hat jedes Individuum, seien sie wirtschaftlich, kulturell, weltanschaulich oder religiös geprägt. Damit ist gleichsam die erste Ebene der Interessenbildung beschrieben: das individuelle Privatinteresse des einzelnen Rechtssubjekts. Wenn sich nun die Interessen mehrerer Individuen decken, entsteht ein kollektives Privatinteresse, welches im Falle einer organisierten Wahrnehmung auf breiterer Basis zu einem Gruppenoder Partikularinteresse aufsteigt. Über den Interessen aller einzelnen, mehreren und Gruppen steht schließlich das Gesamtinteresse der staatlichen Gemeinschaft. Diese Einteilung in die drei Stufen denkbarer Interessenformationen verdeutlicht, daß staatliche Aktivitäten, jedenfalls im Hinblick auf den modernen Staat des Grundgesetzes, allein auf der dritten Ebene (Wahrnehmung des Gesamtinteresses) angesiedelt werden können. In bezug auf die erste Ebene gilt hingegen die staatliche Neutralitätspflicht gegenüber privaten Meinungen und Interessen, in der Allgemeinen Staatslehre von Herbert Krüger treffend als * Meinem wissenschaftlichen Mitarbeiter Alexander Stephan schulde ich Dank für die gründliche Vorarbeit. 1 Heck, Begriffsbildung und lnteressenjurisprudenz, Tübingen 1932, S. 36 f.

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Grundsatz der Nicht-Identifikation bezeichnet.2 Der moderne Staat ist gehindert, unmittelbar und zielgerichtet Interessen einzelner Privilegierter wahrzunehmen; er hat vielmehr stets das bonum commune im Auge zu behalten. Andererseits ist das Wohl der staatlichen Gemeinschaft selbstverständlich auch und vor allem auf das Wohl ihrer einzelnen Glieder ausgerichtet. So ist etwa in der Grundrechtsdogmatik die Schutzpflicht des Staates und damit ein aktives Tätigwerden der staatlichen Organe zugunsten bedeutender, grundrechtsrelevanter Interessen des Einzelnen unstreitig anerkannt. Aber auch hier gilt der Satz Walter Jellineks, daß es der Allgemeinheit nicht gleichgültig sein kann, „ob eines ihrer Mitglieder stirbt oder dahinsiecht"3. Der Staat ist mithin nur deshalb zur eigenen, aktiven Interessenwahrnehmung verpflichtet, weil sich das Interesse des Einzelnen im konkreten Fall zum Gesamtinteresse erhebt. Die Interessen der Arbeitnehmer, um die es hier allein geht, sind vielfältig und zumeist abhängig von der jeweiligen Tätigkeit des einzelnen Arbeitnehmers. Unter dem Oberbegriff der Arbeitnehmer vereinigen sich immerhin Menschen aus den vielfältigsten Berufszweigen und aus unterschiedlichen Einkommensklassen. Zumindest bestimmte individuelle Belange der Arbeitnehmer im Rahmen ihres Arbeitsverhältnisses stehen unter dem besonderen Schutz des Grundgesetzes, wie dies Hanns Prütting (abgedruckt in diesem Band) dargestellt hat. Auch die kollektive, aber immer noch private Wahrnehmung sich deckender Arbeitnehmerinteressen vor allem seitens der Gewerkschaften genießt durch Art. 9 Abs. 3 GG und Art. 56 Abs. 1 SaarlLVerf verfassungsrechtlichen Schutz. Diese Schutzgewährung erfolgt jedoch primär in Form des NichtEingreifens des Staates in den Schutzbereich der grundrechtlichen Veibürgung. Auf einer ganz anderen Ebene bewegt sich indes die Frage, ob der Staat selbst bestimmte Arbeitnehmerinteressen aktiv wahrnehmen und in dieser Eigenschaft entsprechende Aufgaben ausführen darf oder ob dies daran scheitern muß, daß es sich hierbei gerade nicht um ein Gesamtinteresse der staatlichen Gemeinschaft im Sinne vorgenannter Einteilung handelt. Im Saarland gewinnt diese Frage deshalb eine besondere Bedeutung, weil neben Bremen nur hier eine Arbeitnehmerkammer als Körperschaft des öf2

Krüger, Allgemeine Staatslehre, 2. Aufl. 1966, S. 178 ff; 763. Praktisch bedeutsam ist der Grundsatz der Nicht-Identifikation vor allem für die verfassungsrechtliche Bestimmung des Verhältnisses von Staat und Kirche; vgl. BVerfGE 42, 312 (332); 53, 366 (401); näher dazu Burmeister, Das Verhältnis von Staat und Kirche unter dem Grundgesetz, in: Festschrift für G. Winkler, 1997, S. 139 ff. 3 Jellinek, Verwaltungsrecht, Neudruck der 3. Aufl. 1966, S. 435.

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fentlichen Rechts mit Pflichtzugehörigkeit grundsätzlich aller im Saarland beschäftigten Arbeitnehmer eingerichtet wurde, welche gemäß § 2 Abs. 1 des Gesetzes über die Arbeitskammer des Saarlandes (SaarlArbKG) die allgemeinen wirtschaftlichen, ökologischen, sozialen und kulturellen Interessen der Arbeitnehmer wahrzunehmen hat. Vor diesem Hintergrund ergeben sich notwendigerweise zwei Problemkreise, denen im folgenden nachzugehen sein wird: Zunächst (sub II) ist zu erörtern, ob die Errichtung einer solchen Aibeitskammer als Körperschaft des öffentlichen Rechts und damit die staatliche Wahrnehmung von Partikularinteressen angesichts des soeben Ausgeführten überhaupt verfassungsrechtlich zulässig ist. Bejahendenfalls ist weiter zu fragen (sub III), ob eine solche staatliche Wahrnehmung von Arbeitnehmerinteressen möglicherweise sogar vom Grundgesetz oder der Saarländischen Landesverfassung - unabhängig von der ausdrücklichen Erwähnung der Arbeitskammer in Art. 59 SaarlLVerf - zwingend gefordert wird, so daß von einer institutionellen Absicherung ausgegangen werden kann, die sich auch im Hinblick auf eine geplante Reform der Landesverfassung als änderungsfest erweisen müßte. 2. Die geschichtliche Entwicklung des Arbcitnchmcrkammerwesens Vorab erscheint es jedoch ratsam, noch kurz auf die geschichtliche Entwicklung der Arbeitnehmerkammern einzugehen, um sich dieser im Saarland gegebenen Besonderheit bewußt zu werden. Die Entwicklung des Arbeitnehmerkammerwesens stellt sich als Zusammenschau von Arbeiterbewegung, Ständeverfassung, Selbstverwaltung und Mitbestimmung dar. Handel, Handwerk und Landwirtschaft besaßen bereits lange vor der Jahrhundertwende Kammern, die die betreffenden Berufsinteressen vertraten. 4 1871 wurden erstmals auch Arbeitskammern oder sogenannte Arbeitsämter gefordert, die eine Vertretung der Gesamtinteressen aller Arbeitnehmer gewährleisten sollten. In den folgenden Jahren stellten die Sozialdemokraten immer wieder entsprechende Anträge im Reichstag und in einigen Länderparlamenten, die allerdings zunächst abgelehnt wurden. 1905 erklärte der Staatssekretär im Reichsamt des Inneren, Graf von Posadowsky, schließ4 Vgl. Tettinger, Kammerrecht, München 1997, S. 37 ff.; Frentzel, Die Industrieund Handelskammern und ihre Spitzenorganisationen in Staat und Wirtschaft, in: Die Verantwortung des Unternehmers in der Selbstverwaltung, Festschrift zur 100-JahrFeier des DIHT, Frankfurt a. M. 1961, S. 27 ff.

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lieh die Bereitschaft der Regierung, Arbeitskammern ins Leben zu rufen, in denen Arbeitgeber und Arbeitnehmer in gleicher Zahl vertreten sein sollten.5 Über die Frage dieser paritätischen Besetzung der Kammern sowie über ihre organisatorische Ausgestaltung kam es indessen alsbald zu Meinungsverschiedenheiten, so daß Deutschland bis zum Ende des ersten Weltkriegs ohne Kammereinrichtungen für Arbeitnehmer blieb. In der Zeit der Weimarer Republik trat der Reichstagsabgeordnete und Arbeitsrechtler Sinzheimer im Hinblick auf eine Ausformung der Bestimmungen des Art. 165 WRV vehement für die Errichtung öffentlich-rechtlicher Organisationen ein, in denen die Arbeitnehmerschaft so zusammengefaßt werden sollte wie die Kaufleute in den Handelskammern, die Ärzte in den Ärztekammern und die Handwerker in den Handwerkerkammern. 6 Der Reichstag konnte sich in seiner Gespaltenheit aber - i m Gegensatz zu Österreich und Luxemburg, wo 1920 bzw. 1924 Aibeitnehmerkammern gegründet wurden - wiederum nicht zu einer solchen Lösung durchringen. Wenn auch die Bemühungen hinsichtlich des gesamten Reichsgebietes scheiterten, so führten sie doch mit der Errichtung der Kammern für Arbeiter und Angestellte 1921 in Bremen und 1925 mit der Schaffung einer Arbeitskammer des Saarlandes, welches zu dieser Zeit unter der Verwaltung des Völkerbundes stand, zu einem teilweisen Erfolg. Als besonderer Nachteil im Saarland entpuppte sich aber schon bald die hier (im Gegensatz zu Bremen) bestehende paritätische Struktur der Kammer, wodurch die Interessenwahrnehmung mangels einheitlicher Meinungsbildung zunehmend gelähmt wurde. Auch zeigte sich, daß die Arbeitgeber nur zögernd bereit waren, ihr besonderes Fachwissen - erworben durch ihre langjährige Tätigkeit in den Wirtschaftskammern - in die Arbeitskammer einzubringen. 1935 kam es zur Auflösung der Arbeitnehmerkammern durch die Nationalsozialisten. Nach dem zweiten Weltkrieg führte die saarländische Verfassungskommission Art. 59 Abs. 1 in die Landesverfassung ein, wonach „die Wirtschaft des Saarlandes ihre öffentlich-rechtliche Vertretung jeweils in der Industrie- und Handelskammer, in der Handwerkskammer, in der Landwirtschaftskammer und in der Arbeitskammer" findet. Auf dieser Grundlage entstand die Arbeitskammer des Saarlandes 1951 neu, diesmal allerdings ohne Beteiligung der Arbeitgeber. Auch in Bremen wurden die Arbeitnehmerkammern früheren Vorbildes nach einer vorübergehenden Einschränkung durch die Militärregierung, welche eine Zwangszugehörigkeit aller Arbeitnehmer als mit der Vereinsfreiheit unvereinbar erachtete, wiederbelebt. 5

Vgl. Syrup-Neuloh, Hundert Jahre Staatliche Sozialpolitik 1837-1939, Stuttgart 1957, S. 197 ff.; Peters, Arbeitnehmerkammern in der BRD?, München 1973, S. 27 iT. 6 Vgl. Fraenkel, Hugo Sinzheimer, JZ 1958, S.457 IT.

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Die schließlich in den späten 60er und frühen 70er Jahren geführte Diskussion um die Errichtung von Arbeitnehmerkammern auch in anderen Bundesländern7, die ihre besondere Brisanz dadurch erhielt, daß der damalige Bundesarbeitsminister Katzer in seiner Eigenschaft als Hauptgeschäftsführer der Sozialausschüsse der CDA die Schaffung solcher Kammern mehrfach gefordert hatte8, blieb vornehmlich wegen Widerstands seitens der Gewerkschaften erfolglos.

I I . Die verfassungsrechtliche Zulässigkeit der Errichtung von Arbeitnehmerkammern als Körperschaften des öffentlichen Rechts mit Zwangszugehörigkeit Das BVerfG hat sich in seiner Entscheidung vom 18.12.19749 umfassend mit der verfassungsrechtlichen Zulässigkeit der Arbeitskammer des Saarlandes und der Arbeitnehmerkammern in Bremen auseinandergesetzt. Die Aussagen des BVerfG sollen hier noch einmal kritisch beleuchtet werden, um hieraus Rückschlüsse ziehen zu können für die Frage nach der institutionellen Absicherung dieser Form der staatlichen Interessenwahrnehmung. 1. Die Zuständigkeit der Länder fur die Errichtung von Arbeitnehmerkammern Die Zuständigkeit der Länder für die Errichtung von Arbeitnehmerkammern auf der Grundlage entsprechender Gesetze ergibt sich aus dem Kompetenztitel „Arbeitsrecht" im Rahmen der konkurrierenden Gesetzgebung gemäß Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG. Selbstverständlich kann es sich hierbei lediglich um eine schwerpunktartige Einordnung handeln, da mit dem Recht der Arbeitskammern immer auch Teilbereiche des Rechts der Wirtschaft nach Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG berührt werden. Da der Bund jedoch - wie in dem geschichtlichen Überblick gezeigt - von der Schaffung eines Arbeitnehmerkam7 Siehe hierzu Zacher, Arbeitskammern im demokratischen und sozialen Rechtsstaat. Ein Rechtsgutachten zur verfassungsrechtlichen Zulässigkeit der Errichtung von Arbeitskammern in Bayern, 1971; Müller, Die rechtliche, die rechtspolitische und die gesellschaftspolitische Problematik des Arbeitnehmerkammerwesens, DB 1980, S. 91 ff; Förster, Die Arbeitskammer des Saarlandes, ArbRGegw 6 (Dok. 1967), 1968, S. 57 ff (64 f.). 8 Der Spiegel Nr. 42 v. 11.10.1961. 9 BVerfGE 38, 281 ff

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merwesens abgesehen hat, steht dieses Gebiet den Ländern zur eigenen Regelung offen, gleichgültig in welchem Titel innerhalb der konkurrierenden Gesetzgebung man es nun verortet. Es stellt sich jedoch die in der Entscheidung des BVerfG mit keinem Wort angesprochene Frage, ob einer landesrechtlichen Regelung möglicherweise im Wege, daß sie eine Zwangszugehörigkeit auch von im Saarland bzw. in Bremen beschäftigten Bundesbediensteten normiert. Die „Rechtsverhältnisse der im Dienste des Bundes und der bundesunmittelbaren Körperschaften des öffentlichen Rechts stehenden Personen" gehören aber gemäß Art. 73 Nr. 8 GG zur ausschließlichen Gesetzgebungskompetenz des Bundes. Allerdings sind hiervon nicht etwa jegliche Rechtsverhältnisse von Bundesbediensteten erfaßt; gemeint ist vielmehr nur die Regelung des Dienstverhältnisses als solches, wenn auch mit seinen individual- und kollektivrechtlichen Ausprägungen. Durch die Einrichtung von Arbeitnehmerkammern und eine gesetzlich angeordnetete Zugehörigkeit hierzu wird aber gerade nicht das Dienstverhältnis zum Bund oder einer bundesunmittelbaren Körperschaft des öffentlichen Rechts berührt, sondern die bloße Eigenschaft als Arbeitnehmer in dem betreffenden Bundesland (wenn auch als Bundesbediensteter) bildet nur den Anknüpfungspunkt für ein neues, gerade nicht dienstrechtliches Rechtsverhältnis.10 Art. 73 Nr. 8 GG steht demnach einer landesrechtlichen Regelung von Arbeitnehmerkammern auch dann nicht entgegen, wenn diese ebenfalls die Arbeitnehmer des Bundes miteinbezieht, was im Hinblick auf den Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG im übrigen auch geboten erscheint. 2. Vereinbarkeit mit der negativen Vereinigungs- und Koalitionsfreiheit nach Art. 9 Abs. 1, Abs. 3 GG Die in Art. 9 Abs. 1 GG geschützte Freiheit, Vereinigungen zu bilden und diesen beizutreten, schließt als Kehrseite auch das Recht ein, ihnen fernzubleiben oder aus ihnen auszutreten. In diese negative Vereinigungsfreiheit könnte die gesetzlich angeordnete Kammerzugehörigkeit aller Arbeitnehmer eingreifen. Art. 9 Abs. 1 GG erstreckt sich indes nach ständiger Rechtsprechung des BVerfG nur auf privatrechtliche Vereinigungen.11 Denn das Wesen eines Freiheitsrechtes wie dem der Vereinigungsfreiheit liegt gerade darin, dem Einzelnen eine Sphäre von Freiheit gegenüber dem Staat zu verbürgen; das Freiheitsrecht kann niemals auf Teilhabe an staatlicher Gewalt ausgerichtet sein. Daher ist ein Zusammenschluß einzelner Staatsbürger zu einem öf10 11

So zutreffend Zacher, a.a.O. (Anm. 7), S. 47 ff. BVerfGE 10, 89 (102); 354 (361 ff); 15, 235 (239).

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fentlich-rechtlichen Zwangsverband ohne einen Hoheitsakt nicht möglich. Da sich die negative Vereinigungsfreiheit aber aus der positiven ableitet, kann der Einzelne auch nur solchen Vereinigungen fernbleiben, deren Bildung einer privaten Initiative überhaupt zugänglich ist. Hieraus folgt, daß er sich gegenüber einem staatlichen Organisationsakt, der ihn in eine Vereinigung des öffentlichen Rechts zwingt, nicht auf Art. 9 Abs. 1 GG berufen kann, weil er eben insoweit auch nicht in den Schutzbereich der positiven Vereinigungsfreiheit fällt. Auch die Schöpfer des Grundgesetzes wollten einen Mitgliedszwang zu öffentlich-rechtlichen Körperschaften nicht ausschließen; im Herrenchiemseer Entwurf findet sich vielmehr die Klarstellung, daß Art. 9 Abs. 1 GG nicht verbiete, auch künftig Angehörige bestimmter Berufe in öffentlich-rechtlichen Organisationen verpflichtend zusammenzufassen.12 Nichts anderes ergibt sich im Hinblick auf die negative Koalitionsfreiheit des einzelnen Arbeitnehmers gemäß Art. 9 Abs. 3 GG. Denn Art. 9 Abs. 3 GG stellt lediglich die gegenüber Art. 9 Abs. 1 GG speziellere Schutzvorschrift für solche Organisationen dar, welche die besonderen an den Koalitionscharakter gestellten Anforderungen erfüllen. Koalitionen in diesem Sinne sind aber in gleicher Weise ausschließlich freie, privatrechtliche Zusammenschlüsse, die durch ihre Unabhängigkeit zum Staat gekennzeichnet sind.13 Die Arbeitnehmerkammern sind gemäß ihrer gesetzlichen Grundlage (vgl. § 1 SaarlArbKG) als Körperschaften des öffentlichen Rechts eingerichtet und als solche legitimiert durch ihre berufsständische Selbstverwaltungstätigkeit. Sie sind damit zu eigenem Handeln befähigte und mit hoheitlichen Befugnissen (etwa mit dem Recht zur Einziehung von Beiträgen) ausgestattete Verwaltungsträger und Teil der mittelbaren Staatsverwaltung, also Element der Staatsgewalt des betreffenden Bundeslandes selbst. Schon aus diesem Grunde stellt es eine sprachliche Verwirrung dar, wenn im Schrifttum gelegentlich von einer „Zwangsmitgliedschaft" der Arbeitnehmer gesprochen wird. 14 Die Arbeitnehmer sind hier keineswegs echte Mitglieder der Kammer, vergleichbar mit den Mitgliedern eines Vereins, sondern Zwangszugehörige einer Organisation, die zur Sphäre der Staatlichkeit gehört.

12

Vgl. Peters, a.a.O. (Anm. 5), S. 190. Jarass/Pieroth, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, 3. Aufl. München 1995, Art. 9, Rn. 23; Höfling, in: Sachs, Grundgesetz Kommentar, München 1996, Art. 9, Rn. 53. 14 Vgl. exemplarisch Frotscher; Wirtschaftsverfassungs- und Wirtschaftsverwaltungsrecht, 2. Aufl. München 1994, Rn. 428 ff.; Tettinger, a.a.O., S. 29. 13

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Es bleibt demnach festzuhalten, daß durch die gesetzlich bestimmte Zwangszugehörigkeit zu Aibeitnehmerkammern als öffentlich-rechtlichen Körperschaften nicht einmal der Schutzbereich der negativen Vereinigungsoder Koalitionsfreiheit betroffen wird. 3. Vereinbarkeit mit der individuellen positiven Vereinigungs- und Koalitionsfreiheit Fallen die Arbeitnehmerkammern nicht unter die Vereinigungen, denen man entsprechend dem Schutzbereich des Art. 9 Abs. 1 und Abs. 3 GG nach freiem Belieben beitreten oder fernbleiben kann, so könnte ein (mittelbarer) Verstoß gegen die positive Vereinigungs- und Koalitionsfreiheit dennoch darin liegen, daß die Zwangszugehörigkeit auf die vorgeschaltete Willensbildung einwirkt, indem sie Arbeitnehmer von einer Mitgliedschaft bei den frei gebildeten Vereinigungen und Koalitionen abhält und somit, wie Peter Lerche formuliert hat, den „Grundrechtsausübungswillen" im Hinblick auf Art. 9 Abs. 1 bzw. Abs. 3 GG lähmend beeinflußt. 15 Dem ist allerdings entgegenzuhalten, daß die Arbeitnehmerkammern keine Monopolstellung beanspruchen und insbesondere der geringe Jahresbeitrag keinen Arbeitnehmer notwendigerweise davon abhalten muß, auch anderen, privatrechtlichen - und damit vom Schutzbereich des Art. 9 Abs. 1 und Abs. 3 GG erfaßten - Organisationen beizutreten. Derartige Zweifel werden zudem von der Praxis widerlegt: wo Kammern existieren, sind weit mehr Arbeitnehmer etwa in Gewerkschaften organisiert als in anderen Bundesländern - rund 70 % gegenüber einem Bundesdurchschnitt von 40 %. 16 Die Zwangszugehörigkeit einschließlich aller Folgen hindert die Arbeitnehmer also nicht, sich zusätzlich gewerkschaftlich zu betätigen. 4. Vereinbarkeit mit der kollektiven Koalitionsfreiheit nach Art. 9 Abs. 3 GG Art. 9 Abs. 3 GG garantiert allerdings nicht nur die individuelle Freiheit des einzelnen Arbeitnehmers, sich zu Koalitionen zusammenzuschließen bzw.

15

Lerche, Rechtsgutachten zur Verfassungsmäßigkeit der erwogenen Einrichtung einer Arbeitskammer in Bayern unter besonderer Berücksichtigung von Art. 179 der Bayerischen Verfassung, München 1970, S. 56. 16 Angabe der Arbeitskammer des Saarlandes, in: 40 Jahre Arbeitskammer des Saarlandes, Pressedienst, S. 2.

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ihnen beizutreten, sondern auch das korporative Daseins- und Betätigungsrecht der Koalition selbst, die sogenannte kollektive Koalitionsfreiheit. 17 In eben diese Freiheit würde in unzulässiger Weise eingegriffen, wenn der Staat durch die Errichtung einer eigenen öffentlich-rechtlichen Körperschaft zur aktiven Wahrnehmung von Arbeitnehmerinteressen in den Aufgabenbereich der durch Art. 9 Abs. 3 GG geschützten Gewerkschaften einbrechen und ihnen dadurch den Lebensraum nehmen würde. Der Staat darf nämlich nicht durch die beliebige Einrichtung öffentlich-rechtlicher Körperschaften das freie Verbandswesen unterlaufen. Es stellt sich somit die zentrale Frage, ob eine derartige echte Konkurrenz zwischen den der Arbeitskammer zugedachten Aufgaben und der Interessenwahrnehmung durch die Gewerkschaften besteht.18 Aus dem Gesetz über die Aibeitskammer des Saarlandes und dem Gesetz über die Arbeitnehmerkammern im Lande Bremen lassen sich insoweit zwei Aufgabenbereiche unterscheiden: Nach außen vertreten die Kammern die Interessen aller Arbeitnehmer und stellen ihre Sachkenntnis in den Dienst des Staates, indem sie - insbesondere durch die Erstattung von Gutachten und Berichten - vorbereitend an Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung mitwirken. Nach innen entfalten sie umfangreiche Aktivitäten bei der Beratung und Betreuung der Kammerzugehörigen vornehmlich auf dem Gebiet der Berufsbildung und -fortbildung, der sozialrechtlichen Schulung, der Beratung in Rechts- und Steuerangelegenheiten sowie mit der Einrichtung von Kultur- und Erholungsstätten. Das BVerfG stellt in diesem Zusammenhang zunächst fest, daß diese Aufgaben „seit jeher" auch von den Gewerkschaften in der ihnen seit langem zukommenden Bedeutung als wesentlicher Faktor des öffentlichen Lebens wahrgenommen würden. 19 Allerdings zieht es aus dieser Feststellung nicht etwa die Konsequenz, daß durch den insoweit identischen Aufgabenbereich das korporative Daseinsrecht der Koalitionen ausgehöhlt werde, so daß ein Verstoß gegen Art. 9 Abs. 3 GG vorläge. Vielmehr beruft sich das BVerfG auf seine überkommene „Kernbereichslehre" 20, indem es ausspricht, den Koalitionen sei nur ein „Kernbereich" koalitionsgemäßer Tätigkeit verfassungsrechtlich garantiert. Die Gewerkschaften seien ihrem Ursprung nach-so versucht das

17

Grundlegend BVerfGE 4, 96, 101 ff. Vgl. hierzu Bull, Arbeitnehmerkammern und Gewerkschaften - Konkurrenz oder Ergänzung?, AuR 1975, S. 271 ff. 19 BVerfGE 38, 281 (304). 20 BVerfGE 4, 96 (106); 28, 295 (305 f.); 58, 233 (247). 18

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BVerfG den Kerngehalt der Gewährleitung zu bestimmen - aus dem Gegensatz zu den Arbeitgebern entstandene Kampforganisationen zur Durchsetzung günstiger Tarifverträge für die bei ihnen organisierten Arbeitnehmer. Demgegenüber ist unstreitig anerkannt, daß die Arbeitnehmerkammern keinerlei Befugnis haben, in die tarifvertraglichen Auseinandersetzungen der Gewerkschaften mit den Arbeitgebern einzugreifen oder hierzu auch nur Stellung zu beziehen. Sie sind als Teil der mittelbaren Staatsverwaltung vielmehr zur Neutralität verpflichtet. Als Ergebnis dieser „Kernbereichslehre" ergibt sich nach dem BVerfG, daß durch die Einrichtung von Arbeitnehmerkammern in dem verfassungsrechtlich allein maßgebenden Tätigkeitsfeld der Gewerkschaften überhaupt keine Kollision mit diesen entstehen könne, so daß ein Verstoß gegen die kollektive Koalitionsfreiheit des Art. 9 Abs. 3 GG zu verneinen sei. Zur Begründung dieses zutreffenden Ergebnisses hätte es indes keines Rückgriffs auf die zweifelhafte Kernbereichslehre bedurft. An dieser ist nämlich zu kritisieren, daß sie die in der Grundrechtsdogmatik elementaren Kategorien von Grundrechtstatbestand und Grundrechtsschranke miteinander „vermischt": es bleibt völlig unklar, ob die Kernbereichsbestimmung auf einen von vornherein verengten Schutzbereich verweist oder - was überzeugender ist - lediglich den nach zulässiger Einschränkung verbleibenden effektiven Garantiebereich beschreibt.21 So hat das BVerfG an anderer Stelle ausgesprochen, die Koalitionsfreiheit beziehe sich nicht nur auf Tarifauseinandersetzungen, sie umfasse vielmehr „die Bildung, die Betätigung und die Entwicklung der Koalitionen in ihrer Mannigfaltigkeit" und überlasse ihnen grundsätzlich die Wahl der Mittel, die sie zur Erreichung ihres Zwecks für geeignet hielten.22 Für die Beantwortung der hier entscheidenden Frage, ob eine mögliche Konkurrenztätigkeit der Arbeitnehmerkammern den Gewerkschaften ihren Lebensraum entzieht und damit einen Eingriff in die kollektive Koalitionsfreiheit darstellt, bedarf es indessen nicht der Bestimmung eines - wie auch immer gearteten - Kernbereichs der verfassungsrechtlich gewährleisteten Koalitionsfreiheit. Es steht vielmehr fest, daß den Gewerkschaft trotz möglicher Überschneidungen ein weiter, ausschließlich von ihnen wahrnehmbarer Aufgabenbereich verbleibt: nur sie können Partei eines Tarifvertrages und eines Schlichtungsverfahrens sein, sie besitzen die Postulationsfähigkeit nach § 11 21

Vgl. zu dieser Kritik Höfling, in: Sachs, Grundgesetz Kommentar, Art. 9, Rn. 72 m.w.N. 22 BVerfGE 18, 18 (32).

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Abs. 1 S. 2 ArbGG und ihnen steht die Ausübung der bedeutsamen Rechte im Betriebsverfassungs- und Personalvertretungsrecht zu. Die Arbeitnehmerkammern sollen durch ihre beratende und unterstützende Hilfstätigkeit die Voraussetzungen für bessere Arbeitsbedingungen prüfen, abwägen und fördern; allein die Gewerkschaften können sie hingegen selbst herbeiführen. Der Schwerpunkt der Kammern liegt mithin auf „diagnostischem", der der Gewerkschaften auf „therapeutischem" Gebiet.23 In § 2 Abs. 2 SaarlArbKG ist zudem ausdrücklich festgelegt, daß die Arbeitskammer auch die Gewerkschaften und sonstige selbständige Vereinigungen von Arbeitnehmern zu unterstützen und zu beraten hat, so daß schon von der gesetzlichen Konzeption her gerade keine Verdrängung vorgesehen ist. Selbst bei einer noch so umfassenden Wahrnehmung der Arbeitnehmerinteressen durch die Kammern sind weiterhin privatrechtliche Koalitionen unerläßlich, die diese Interessen in Vereinbarungen mit den Arbeitgebern umsetzen können. Mit der Existenz und Tätigkeit der Arbeitnehmerkammern ist nach alledem also kein Eingriff in das korporative Daseinsrecht der Koalitionen verbunden; Art. 9 Abs. 3 GG ist auch hinsichtlich der kollektiven Koalitionsfreiheit nicht betroffen. 5. Vereinbarkeit mit Art. 12 Abs. 1 GG In der zugrundeliegenden Entscheidung des BVerfG überhaupt nicht und in der Literatur nur unzulänglich erörtert wurde bislang die Frage, ob durch die Errichtung von Arbeitnehmerkammern möglicherweise die - hier im Rahmen von Art. 12 Abs. 1 GG allein in Betracht kommende - Berufsausübungsfreiheit tangiert wird. Immerhin verbindet sich mit der Eigenschaft des Einzelnen als Arbeitnehmer eine gesetzliche Pflichtzugehörigkeit zu der Kammer samt Beitragspflicht, wobei die Beiträge unmittelbar von dem Arbeitgeber einzubehalten und abzuführen sind. Allerdings prüft das BVerfG die verfassungsrechtliche Zulässigkeit von Eingriffen in die Berufsfreiheit immer in bezug auf ein konkret bestimmbares Berufsbild. 24 Schon aus diesem Grunde wäre es mehr als zweifelhaft, die „Arbeitnehmerschaft" als solche und damit schlechthin jede Tätigkeit in abhängiger Stellung ohne Rücksicht auf ihren konkreten sachlichen Gehalt unter den 23

(303). 24

So Großmann, Zur Rechtmäßigkeit von Arbeitnehmerkammern, RdA 1968, 297

BVerfGE 7, 377 (406); 13, 97 (106, 117); 75, 246 (265 ff.); Tettinger, Grundgesetz Kommentar, Art. 12, Rn. 52.

in: Sachs,

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Begriff „Beruf' subsumieren zu wollen. Darüber hinaus ist nach ständiger Rechtsprechung des BVerfG für die Anerkennung eines Eingriffs in die Berufs(ausübungs-)freiheit Voraussetzung, daß der Gesetzgeber eine objektiv berufsregelnde Tendenz verfolgt. 25 Die Zwangszugehörigkeit zur Arbeitnehmerkammer und die hiermit verbundene Beitragspflicht sind demgegenüber gerade berufsneutral; hierdurch soll nicht etwa eine bestimmte berufliche Tätigkeit als solche gezielt ausgestaltet und geregelt, sondern es solllediglich eine allen Berufssparten zugute kommende, effiziente und unabhängige Kammeraibeit gewährleistet werden, die ohne Anordnung einer Zwangszugehörigkeit kaum möglich wäre. Im Ergebnis wird der Freiheitsraum des Art. 12 Abs. 1 GG durch die gesetzliche Einrichtung von Arbeitskammern also in keinem Fall berührt. 6. Vereinbarkeit mit Art. 2 Abs. 1 GG Eine verfassungsrechtliche Beurteilung der Zulässigkeit von Arbeitnehmerkammern hat sich mangels Einschlägigkeit eines speziellen Freiheitsrechts demnach - wie bei der Zwangszugehörigeit zu anderen öffentlich-rechtlichen Körperschaften und Anstalten - allein an Art. 2 Abs. 1 GG zu orientieren. Die insoweit zweifellos betroffene allgemeine Handlungsfreiheit des einzelnen Arbeitnehmers findet indes ihre Schranke in der verfassungsmäßigen Ordnung. a) Erfüllung

einer „ legitimen öffentlichen

Aufgabe "

Wie das BVerfG seit den Entscheidungen zur Pflichtzugehörigkeit aller in Bayern tätigen Ärzte bei der Bayerischen Ärzteversorgung 26 und zur Pflichtzugehörigkeit zu den Industrie- und Handelskammern27 in ständiger Rechtsprechung wiederholt, gehört eine gesetzliche Regelung, die eine Zwangszugehörigkeit zu öffentlich-rechtlichen Verbänden normiert, aber nur dann zur verfassungsmäßigen Ordnung in diesem Sinne, wenn der Verband eine „legitime öffentliche Aufgabe" erfüllt. Hiermit sind nach dem BVerfG Aufgaben gemeint, an deren Erfüllung ein gesteigertes Interesse der Gemeinschaft besteht.28 Eben diese so definierte Voraussetzung führt uns zurück zu der eingangs beschriebenen Einteilung in die drei verschiedenen Interessenkategori25 26 27 28

BVerfGE BVerfGE BVerfGE BVerfGE

10, 354 (362); 15,235 (239). 10, 354 (362 f.). 15,235 (239 ff.). 38, 281 (299).

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en. Denn das BVerfG selbst legt hier die oben aufgestellte Prämisse zugrunde, daß Körperschaften und Anstalten des öffentlichen Rechts, wenn sie einen Platz in der verfassungsmäßigen Ordnung beanspruchen wollen, nicht bloß Einzel- oder Partikularinteressen wahrnehmen dürfen, sondern gerade dem Gemeinwohl zu dienen haben. Gustav Radbruch hat diesbezüglich unterschieden zwischen dem sozialen Gemeinwohl als Wohl aller oder möglichst vieler Einzelner, dem organischen Gemeinwohl als Wohl des Staates oder der Gemeinde und schließlich dem institutionellen Gemeinwohl als ein versachlichtes Wohl in Bestrebungen wie Kunst und Wissenschaft. 29 Hier kommt in erster Linie das soziale Gemeinwohl in Betracht. Es ist dabei zu fragen, durch welches Bindeglied sich die Individual· und Partikularinteressen der einzelnen Arbeitnehmer zum Gemeinwohl in diesem Sinne verdichten, dessen sich der Staat durch die Schaffung einer öffentlich-rechtlichen Körperschaft annehmen darf. Nur wenn dieser „Brükkenschlag" gelingt, kann von einer „legitimen öffentlichen Aufgabe" der Arbeitnehmerkammern ausgegangen werden. Es kann insoweit aber nicht zweifelhaft sein, daß der Staat an einer leistungsfähigen Arbeitnehmerschaft ein virulentes Interesse hat, weil sich diese positiv auf das soziale Ganze auswirkt. Durch die Berücksichtigung der - zum Teil entgegengesetzten - berufsständischen Interessen in den verschiedenen Kammern trägt der Staat zum sozialen Ausgleich bei und leistet dabei in besonderer Weise Daseinsvorsorge. Damit wird deutlich, daß die Arbeitnehmerkammern nicht allein die Interessen der einzelnen Arbeitnehmer um ihrer selbst willen wahrnehmen, sondern daß diese Form der institutionellen Interessenwahrnehmung auch eine Förderung des Gemeinwohls bewirkt. 30 Nur am Rande sei erwähnt, daß früher ein Tätigkeitsschwerpunkt der saarländischen Arbeitskammer in der Unterhaltung des „Ferienwerks" lag, welches den sozialtouristischen Auftrag hatte, einkommensschwachen und kinderreichen Familien eine Urlaubsreise zu ermöglichen.31 Im Hinblick hierauf hätte man trefflich diskutieren können, ob darin noch ein Gemeinwohlbezug

29

Radbruch, Der Zweck des Rechts, in: Der Mensch im Recht, Göttingen 1958, S. 88 f. 30 Zur Unterscheidung von eigenütziger und gemeinwohldienlicher Freiheitsgewährleistung jüngst Burmeister, „Dienende Freiheitsgewährleistungen - Struktur und Gehalt eines besonderen Grundrechtstypus", in: Festschrift fur Κ. Stem, 1997, S. 835 ff. 31 Das „Ferienwerk" war Kommanditist des „gemeinwirtschaftlichen Unternehmens für touristik gmbh & co. KG, Frankfurt/Main" (g-u-t-reisen), das seinerseits in das Touristik-Unternehmen „Neckermann-Reisen" integriert war. 9 Gmpp/Weth

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zu erkennen ist oder ob hier allein die Individualinteressen der einzelnen Arbeitnehmer und vor allem die Beteiligung der Arbeitskammer an dem lukrativen Geschäft des Massentourismus im Vordergrund stehen. Die Kammer hat sich aber 1978 aus diesen Aktivitäten zurückgezogen; heute steht nur noch das Familienferiendorf Scheidegg im Allgäu in ihrem Besitz. Hinsichtlich der übrigen oben beschriebenen Tätigkeitsbereiche kann aber festgehalten werden, daß die Arbeitnehmerkammern eine gemeinwohlbezogene, „legitime öffentliche Aufgabe" wahrnehmen. b) Erforderlichkeit des öffentlichen

der Errichtung einer Körperschaft Rechts mit Zwangszugehörigkeit

Dies alleine rechtfertigt ihre Existenz jedoch noch nicht. Der in der Zwangszugehörigkeit liegende Eingriff in Art. 2 Abs. 1 GG muß weiterhin auch verhältnismäßig sein. Dabei stellt sich die Frage, ob die Errichtung einer öffentlich-rechtlichen Körperschaft mit Pflichtzugehörigkeit zur Wahrnehmung von Arbeitnehmerinteressen seitens des Staates erforderlich ist oder ob die den Arbeitnehmerkammern zugewiesenen Aufgaben in gleicher Weise von den Gewerkschaften, denen der Einzelne nach freiem Belieben beitreten oder fernbleiben darf, (mit-)erfüllt werden könnten. Das BVerfG selbst spricht hier von dem Einwand der „Überflüssigkeit". 32 aa) Fehlende Erforderlichkeit aufgrund des Subsidiaritätsprinzips und des Grundsatzes der „Daseinsnotwendigkeit" öffentlich-rechtlicher Körperschaften? Um diesen Einwand verfassungsrechtlich zu untermauern, wird verschiedentlich auf das Subsidiaritätsprinzip abgestellt, nach welchem die aus der Errichtung einer öffentlich-rechtlichen Körperschaft resultierende staatliche Zwangsmaßnahme nur dann gerechtfertigt sein soll, wenn die hiermit beabsichtigte Förderung des Gemeinwohls nicht durch den freien Einsatz von Einzelpersonen oder privatrechtlichen Personenvereinigungen erfüllt werden kann.33 Als Ausfluß dieses Grundsatzes wird zudem das von Jellinek betonte 32

BVerfGE 38, 281 (310). So Gass, Zur verfassungsrechtlichen Problematik der saarländischen Arbeitskammer und der bremischen Arbeitnehmerkammern. Ein Beitrag zur Lehre von der negativen Vereinigungsfreiheit, DÖV 1960, 778 (781 ff ). 33

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Erfordernis der Daseinsnotwendigkeit von Körperschaften des öffentlichen Rechts34 angeführt. Die Anerkennung des Subsidiaritätsprinzips innerhalb des geltenden Verfassungsrechts ist indes höchst umstritten.35 Zwar werden die verschiedenen Stufen, auf denen das Subsidiaritätsprinzip fußen soll - der einzelne Mensch, die Familie, private Vereine, Gemeinden und Gemeindeverbände, Länder, Bund und supranationale Einrichtungen - im Grundgesetz ausdrücklich genannt und garantiert. Die jeweiligen für eine Allgemeingültigkeit des Subsidiaritätsprinzips angeführten Vorschriften des Grundgesetzes betreffen jedoch - wie etwa Art. 6 Abs. 2 GG - die Lösung sehr unterschiedlicher Interessenkonflikte. Es ginge zu weit, hieraus den Grundsatz ableiten zu wollen, daß der kleineren Einheit gegenüber der größeren stets der Vorrang gebührt; eine entsprechende Entscheidung kann lediglich aufgund der verfassungsrechtlichen Bewertung im Einzelfall getroffen werden. Bereits im Bereich der Gesetzgebungskompetenzen als wesentlichem Teil der Staatsorganisation hält sich das Grundgesetz keineswegs streng an ein Subsidiaritätsprinzip: wie wäre es sonst zu erklären, daß dem Bund im Rahmen der konkurrierenden Gesetzgebung Aufgaben übertragen werden, die mühelos auch von den Ländern erfüllt werden könnten? Auch das von Teilen der Literatur hervorgehobene Erfordernis der „Daseinsnotwendigkeit öffentlich-rechtlicher Körperschaften" paßt hier insofern nicht, als Jellinek dieses Merkmal allein hinsichtlich der Problematik angeführt hat, ob die Auflösung einer Körperschaft durch freiwilligen Entschluß möglich sei. Der Streit, ob dem Subsidiaritätsprinzip - ungeachtet der hier erwähnten Bedenken - ein normativer Charakter zugesprochen werden kann, so daß, diesem Grundsatz entsprechend, die Errichtung von Arbeitnehmerkammern deshalb unzulässig wäre, weil die ihnen zugedachten Aufgaben auch ohne staatlichen Eingriff von Seiten der Gewerkschaften wahrgenommen werden könnten, bedarf jedoch keiner Vertiefung, weil diese letztgenannte Prämisse gerade nicht zutrifft: So ergibt sich ein erster wichtiger Unterschied zwischen beiden Institutionen bereits daraus, daß die Gewerkschaften primär die Interessen ihrer Mitglieder wahrnehmen, während die Interessenwahrnehmung durch die Arbeitskammern umfassend die Gesamtheit aller Arbeitnehmer zu repräsentie-

34

Jellinek, a.a.O., S. 174; dagegen BVerwGE 23, 304 (307). Vgl. dazu Isensee, Subsidiaritätsprinzip und Verfassungsrecht, Berlin 1968, einerseits und Herzog, in: Evangelisches Staatslexikon, 3. Aufl. Stuttgart 1987, Spalte 3564 ff.; BVerwGE 23, 304 (306 f.) andererseits. 35

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ren hat. Um es an einem Beispiel zu verdeutlichen: In der Diskussion um das Ladenschlußgesetz stellen die Gewerkschaften, ihrer Bestimmung gemäß, die Interessen der Arbeitnehmer im Einzelhandel in den Vordergrund. Die Arbeitskammer hat in ihren Stellungnahmen hingegen nicht nur die Belange dieser Arbeitnehmer, sondern auch die der einkaufenden Arbeitnehmer aller anderen Berufszweige zu berücksichtigen. Die Konzeption der Arbeitskammern ergibt sich aus ihrem gesetzlichen Auftrag, als Organe des Staates die wirtschaftliche, soziale und kulturelle Lage der sozialen Gruppe der in abhängiger Arbeit Tätigen von einem objektiven, das heißt nicht von vornherein interessenbestimmten Standpunkt aus zu analysieren und auf der so gewonnenen Grundlage die zur Wahrung der Arbeitnehmerinteressen erforderlichen Maßnahmen in Abstimmung mit den Interessen der anderen Bevölkerungsgruppen zu treffen. Die Kammerarbeit ist mithin immer auf das Ganze von Staat und Gesellschaft ausgerichtet, die Gewerkschaftsarbeit primär auf den sozialen „Gegner". In diesem Zusammenspiel ist eine für das Wohl der Arbeitnehmerschaft förderliche Koexistenz zu sehen, so daß die Arbeitnehmerkammern nicht mit den Gewerkschaften kollidieren, sondern beide miteinander kooperieren können. Durch die Errichtung von Kammern auch auf Arbeitnehmerseite wurde zudem nur das verwirklicht, was auf Arbeitgeberseite in viel stärkerem Maße längst vorhanden war. Dort besteht nämlich nicht nur eine solche Doppelvertretung, sondern sogar eine dreifache Repräsentation: einmal durch die Unternehmerkammern (Industrie- und Handelskammern, Handwerkskammern, Landwirtschaftskammern), des weiteren durch die Arbeitgeberverbände (Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände mit ihren Mitgliederverbänden) und schließlich durch die Fachverbände (Bundesverband der Deutschen Industrie und Fachorganisationen des Handwerks). Vor diesem Hintergrund ergibt sich die verfassungsrechtliche Erforderlichkeit bereits daraus, daß der Staat mit der Errichtung von Arbeitnehmerkammern den Rahmen für einen weiteren sozialen Ausgleich zwischen den sich im Arbeitsleben Gegenüberstehenden schafft. Die Gewerkschaften sind als private Vereinigungen, die in erster Linie den Bezug zu ihren Mitgliedern wahren müssen, auch überhaupt nicht in der Lage, die Interessen aller Arbeitnehmer zu verwirklichen; dies würde unweigerlich zu „Lähmungserscheinungen" mit einer Einbuße an Kampffähigkeit gegenüber dem Arbeitgeberlager führen und hätte einen Identitätsverlust zur Folge. Schon aus diesem Grunde kann der Errichtung von Arbeitnehmerkammern nicht das Argument entgegengehalten werden, ihre Arbeit könne ebensogut von den Gewerkschaften wahrgenommen werden, so daß ihnen das Merkmal der Erforderlichkeit fehle. Auf die umstrittene Einordnung des Subsidiaritätsprinzips in das verfassungsrechtliche Gesamtgefüge kommt es demnach

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gar nicht an, weil bei einem nicht nur vordergründigen Vergleich der unterschiedlichen Tätigkeitsausrichtung beider Institutionen eine Subsidiarität in diesem Sinne gar nicht besteht. Daß die Aktivitäten der Gewerkschaften über ihren Mitgliederbestand hinaus allgemeine Bedeutung auch für nichtorganisierte Arbeitnehmer erlangen, weshalb den Gewerkschaften zugleich eine öffentliche (aber wohlgemerkt keine öffentlich-rechtliche!) Funktion zukommt, gehört nicht typischerweise zu ihrem Wesen, sondern ist lediglich Ausfluß ihrer Bedeutung und Macht. bb) Fehlende Erforderlichkeit aufgrund paritätischer Besetzung der Unternehmerkammern? Die Einrichtung von Arbeitnehmerkammern ist aber möglicherweise deshalb nicht erforderlich, weil der Staat eine Wahrnehmung der Arbeitnehmerinteressen auch durch eine paritätische Besetzung der Unternehmerkammern erreichen könnte, wie dies die Gewerkschaften als bevorzugtes Modell anstreben. In den Handwerkskammern sind bereits nach geltendem Recht Gesellen oder andere Arbeitnehmer zu mindestens einem Drittel in allen Organen zu beteiligen.36 Die Organe der Industrie- und Handelskammern dagegen werden bislang nur von Unternehmerseite beschickt. Abgesehen davon, daß die Verwirklichung einer paritätischen Besetzung der Standesvertretungen der gewerblichen Wirtschaft auf den verständlichen Widerspruch der ebenfalls zwangszugehörigen Unternehmer stoßen würde, neigen paritätische Einrichtungen bei teilweise gegensätzlichen Interessen häufig dazu, sich „festzufahren". Gegnerfreie Kammern hingegen können in einem Rahmen sich deckender Interessen diese wirksamer wahrnehmen und mithin effektiver arbeiten. Das Modell einer paritätischen Vertretung der Arbeitnehmer in den Unternehmerkammern stellt folglich keine echte Alternative zur Schaffung eigener Arbeitnehmerkammern dar. cc) Erforderlichkeit der Zwangszugehörigkeit Im Rahmen einer Untersuchung der verfassungsrechtlichen Zulässigkeit der Errichtung von Arbeitnehmerkammern als Körperschaften des öffentlichen Rechts bedarf schließlich noch der Erörterung, ob auch die damit verbundene Pflichtzugehörigkeit aller Arbeitnehmer zur sachgemäßen Erfüllung der

36

Vgl. §§ 93 Abs. 1 S. 2, 108 Abs. 1 S. 2, 110 Abs. 1 S. 1 HandwO.

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Kammeraufgaben erforderlich oder ob hier vielmehr eine freie Mitgliedschaft zu verlangen ist. Hierzu hat das BVerfG zutreffend ausgeführt, daß dann, wenn der Arbeitnehmerschaft als sozialer Gruppe nach der gesetzgeberischen Konzeption eine neutrale, unpolitisch-objektive Vertretung ihrer allgemeinen Interessen zugesichert werden soll, gerade ein Zusammenschluß aller Arbeitnehmer auf der Hand liege.37 Denn Gutachten oder Berichten, in denen die Belange aller Arbeitnehmer berücksichtigt und gegeneinander abgewogen worden sind, ist naturgemäß ein wesentlich höherer Wert beizumessen. Eine - wie es die Errichtung einer öffentlich-rechtlichen Körperschaft erfordert - gleichmäßige Aufgabenwahrnehmung im Hinblick auf die Bedürfnisse aller Arbeitnehmer kann bei einer zudem verhältnismäßig geringen Beitragspflicht nur im Falle einer umfassenden Mitgliedschaft und - darauf beruhend - einer finanziellen Absicherung gewährleistet sein. Dies wäre bei einer freien Mitgliedschaft, die zwangsläufig eine interessenorientierte Mitgliederwerbung notwendig machen würde, mehr als zweifelhaft. Unter diesen Gesichtspunkten ist auch die mit der Schaffung von Arbeitnehmerkammern verbundene Zwangszugehörigkeit aller Arbeitnehmer verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. 7. Ergebnis Es kann demnach als erstes Ergebnis festgehalten werden, daß die staatliche Wahrnehmung von Arbeitnehmerinteressen durch die Errichtung von Arbeitnehmerkammern trotz der hier angesprochenen Problemimplikationen als verfassungsrechtlich zulässig anzusehen ist. Mehr noch: Die Gewerkschaften sollten erkennen, daß hierin keine Konkurrenz zu ihrer eigenen Koalitionsarbeit, sondern vielmehr die besondere Chance von deren Förderung liegt. In Zeiten fortschreitender Mitgliederstagnation und Kostenexplosion kann sich die Übernahme allgemeiner Beratungs-, Schulungs- und Förderungsaktivitäten durch die Arbeitnehmerkammern für die Gewerkschaften überaus positiv auswirken. Denn die Abwälzung derartiger Annexfunktionen auf den Staat ermöglicht den Koalitionen nicht nur eine präzisere Selbstdarstellung und Rückbesinnung auf die ihnen eigentlich zugedachten Aufgaben als Kampforganisation der Arbeitnehmerschaft, sondern bietet zudem eine wirksame Abwehr gegen ihre schleichende Indienstnahme zu den primär staatlichen Aufgaben im Bereich der Daseinsvorsorge. Eine klar abgegrenzte Doppelvertre37

BVerfGE 38, 281 (310).

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tung der Arbeitnehmer trägt dann Früchte im Mitgliederbestand der Gewerkschaften, in einer effizienteren Arbeit der einzelnen Institutionen einerseits und einer gedeihlichen Zusammenarbeit beider Arbeitnehmerrepräsentanten andererseits.

III. Die institutionelle Absicherung der Wahrnehmung von Arbeitnehmerinteressen durch den Staat Das BVerfG hat seine grundlegende Entscheidung jedoch ausdrücklich auf die Arbeitskammer des Saarlandes und die Arbeitnehmerkammern in Bremen beschränkt, weil diese hier aus der geschichtlichen Entwicklung heraus wesentliche, organisch gewachsene Bestandteile der jeweiligen Sozialverfassung darstellen. Aus diesem Grunde ist nun der zweiten eingangs aufgeworfenen Frage nachzugehen, ob die staatliche Interessenwahrnehmung durch die Errichtung von Arbeitnehmerkammern darüber hinaus von der Verfassung zwingend gefordert wird, ob sie mithin als Institution verfassungsrechtlich abgesichert sind. 1. Zwingendes Erfordernis wegen Art. 3 Abs. 1 GG Diese Frage könnte zunächst dann zu bejahen sein, wenn der Gesetzgeber angesichts der umfangreichen Einrichtung von Unternehmerkammern durch den Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG gehalten wäre, ebenfalls Arbeitnehmerkammern zu schaffen. Dem ist jedoch entgegenzuhalten, daß dem Gesetzgeber durchaus ein Ermessen zukommt, Sondergesetze für bestimmte Lebensbereiche zu erlassen, wenn er dies wegen der besonderen Verhältnisse einzelner Adressatengruppen für nützlich hält.38 Dieses Erfordernis träfe zwar auch auf die Gesamtheit der Arbeitnehmer infolge ihrer zumindest ähnlichen sozialen und wirtschaftlichen Stellung zu; eine Regelung allein der berufsständischen Selbstverwaltung der Wirtschaft verstößt aber - weil sich hier die Interessen aufgrund der detaillierteren Einteilung in verschiedene Wirtschaftszweige (Industrie, Handel, Landwirtschaft) eher decken - noch nicht gegen das Willkürverbot.

38

BVerfGE 10, 89(102).

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Auch das Bestehen von Arbeitnehmerkammern in nur zwei Bundesländern ist im Hinblick auf Art. 3 Abs. 1 und Art. 33 Abs. 1 GG rechtlich unbedenklich, weil der Landesgesetzgeber wegen derföderalistischen Struktur der Bundesrepublik den Gleichheitssatz lediglich innerhalb des Geltungsbereichs der jeweiligen Landesverfassung zu wahren hat und sich grundsätzlich nicht an die Regelungsvorgaben in anderen Bundesländern halten muß.39 Unter diesen Gesichtspunkten ist die Errichtung von Arbeitnehmerkammern - auch in allen Bundesländern - also nicht zwingend erforderlich. 2. Die Einrichtung von Arbeitnehmerkammern als institutionelle Garantie Die Arbeitskammern als öffentlich-rechtliche Körperschaften könnten aber jedenfalls in ihrem jetzigen Bestand und vor allem aufgrund der Verbürgung in Art. 59 Abs. 1 SaarlLVerf die besondere Stellung einer institutionellen Garantie einnehmen. So bezeichnete grundlegend Carl Schmitt die Gewährleistung „formalisierter und organisierter und daher umgrenzbarer und unterscheidbarer Einrichtungen öffentlich-rechtlichen Charakters", welche abzugrenzen sind von den Institutsgarantien als verfassungsrechtliche Gewährleistung von privatrechtlichen Rechtsinstituten.40 Als institutionelle Garantien in diesem Sinne sind insbesondere die gemeindliche Selbstverwaltung, die Religionsgemeinschaften sowie das Bestehen von Universitäten und Rundfunkanstalten zu nennen. Diese Rechtskomplexe haben sich aber allesamt aus bestimmten individualrechtlichen Freiheitsbetätigungen herausgebildet. Indem zunächst die WRV und später das Grundgesetz diese Tätigkeitskomplexe mit selbständigen Regelungsgehalten ausgestaltet und anerkannt haben, wurden institutionelle Garantien als eigenständige Rechtsgewährleistungen geschaffen. Es handelt sich hierbei also um die objektiv· und subjektivrechtliche Verselbständigung bestimmter Grundrechtsausübungen, welche in öffentlich-rechliche Formen überfuhrt wurden. Diese Wesensmerkmale, bei deren Vorliegen von einer institutionellen Garantie gesprochen werden kann, treffen auf die Errichtung von Arbeitnehmerkammern indes nicht zu. Denn hier werden nicht individuelle Freiheitsrechte in öffentlich-rechtlich organisierter Form wahrgenommen, sondern vielmehr 39 Art. 33 Abs. 1 verpflichtet nicht zur „Gleichheit der Länder", vgl. Battis, in: Sachs, Grundgesetz Kommentar, Art. 33, Rn. 17; BVertGE 33, 303 (352). 40 C. Schmitt, Freiheitsrechte und institutionelle Garantien der Reichsverfassung, in: Verfassungsrechtliche Aufsätze aus den Jahren 1924-1954, Berlin 1958, S. 149.

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Aufgaben der staatlichen Daseinsvorsorge. Für deren Erfüllung, die der Staat auch als solcher unmittelbar leisten könnte, wurde aus Gründen der Verwaltungseffizienz und als Teil der berufsständischen Selbstverwaltung eine eigene Einrichtung im Rahmen der mittelbaren Staatsverwaltung geschaffen. Es findet hier also keine Überführung vom Individualfreiheitsrecht zur staatlichen Wahrnehmung als institutionelle Garantie, sondern lediglich eine Auslagerung originär staatlicher Aufgaben statt. Daß mit der Errichtung von Arbeitnehmerkammern keine institutionelle Garantie im hier verstandenen Sinne verbunden ist, wird auch dadurch deutlich, daß sie sich nicht wie die eben genannten juristischen Personen des öffentlichen Rechts auf Art. 19 Abs. 3 GG berufen können. Als Teil der Staatsorganisation sind sie gerade nicht grundrechtsberechtigt, sondern allein grundrechtsverpflichtet. 3. Zwingendes Erfordernis als Ausfluß des Sozialstaatsprinzips Eine besondere Wahrnehmung von Arbeitnehmerinteressen durch den Staat könnte sich schließlich zwingend als Ausfluß des in Art. 20 Abs. 1 und 28 Abs. 1 GG verankerten Sozialstaatsprinzips ergeben. Zwar ist die Interpretation der Sozialstaatsklausel heute weit über Deutungen wie die als „substanzloser BlankettbegrifP' 41 hinausgelangt; eine definitive Erschließung seines Inhalts begegnet jedoch nach wie vor einer gewissen Unsicherheit. Anerkanntermaßen handelt es sich hierbei um eine offene, dynamisch-zukunftsorientierte Staatszielbestimmung, gerichtet zumindest auf die Herstellung sozialer Sicherheit und sozialer Gerechtigkeit.42 Es ist insoweit bereits ausgeführt worden, daß die Schaffung von Arbeitnehmerkammern zweifellos dem sozialen Ausgleich zwischen den am Arbeitsprozeß Beteiligten und der Herstellung einer Gleichberechtigung der Arbeitnehmer beim Aufbau von Kammern als gemeinwirtschaftlichen Selbstverwaltungsorganisationen auf überbetrieblicher Ebene dient. Indes darf nicht verkannt werden, daß das Sozialstaatsprinzip - abgesehen von seinem durch die Sicherung eines sozialen Mindeststandards bestimmten Kernbereichs - in seiner aktuellen Bedeutung immer nur aus seiner jeweiligen, durch den Gesetzgeber verwirklichten Realisation erfaßt werden kann. Dem Gesetzgeber kommt gerade bei der Umsetzung des Sozialstaatsprinzips

41

Grewe, Das bundesstaatliche System des Grundgesetzes, DRZ 1949, 349 (351). Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band I, München 1977, § 21 I 5, Π; Degenhart, Staatsrecht I, 12. Aufl. Heidelberg 1996, Rn. 354 f. 42

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ein besonderes Gestaltungsermessen zu.43 Darum kann aus dieser offenen Staatszielbestimmung auch nicht zwingend die Einrichtung einer öffentlichrechtlichen Wahrnehmung von Arbeitnehmerinteressen im gesamten Bundesgebiet gefordert werden. Auch fur Bremen und das Saarland, wo die Kammern gesetzlich vorgesehen sind, ergibt sich hinsichtlich einer institutionellen Absicherung aufgrund des Sozialstaatsprinzips zunächst nichts anderes, denn aus dem jeweiligen Inhalt sozialstaatlicher Gesetzgebung darf nicht in dem Sinne auf den Inhalt des Sozialstaatsprinzips selbst geschlossen werden, daß die auf einfachgesetzlicher Ebene getroffenen Regelungen kurzerhand mit dem Regelungsgehalt der Staatszielbestimmung als solcher gleichzusetzen wären. Im Saarland könnte sich die Rechtslage aber deshalb unterscheiden, weil die Arbeitskammer als öffentlich-rechtliche Vertretung der Arbeitnehmerinteressen in Art. 59 Abs. 1 SaarlLVerf mit Verfassungsrang ausgestattet ist. Es handelt sich hierbei also gerade nicht um eine bloß auf einfach-gesetzlicher Ebene getroffene Regelung zur Ausformung des Sozialstaatsprinzips, sondern um eine Ausgestaltung auf Verfassungsebene. Der Einwand, hierdurch finde das Sozialstaatsprinzip im Saarland eine ungleich stärkere Ausprägung als nach dem Grundgesetz vorgesehen, was gegen das Homogenitätsgebot verstoße, trägt insofern nicht, als die verfassungsmäßige Ordnung in den Bundesländern gemäß Art. 28 Abs. 1 S. 1 GG lediglich den Grundsätzen des sozialen Rechtsstaats nach dem Grundgesetz zu entsprechen hat. Die „Erhebung" der Arbeitskammer in die saarländische Landesverfassung ist darüber hinaus im Zusammenhang mit Art. 101 Abs. 2 SaarlLVerf zu betrachten, wonach eine Änderung der Landesverfassung den Grundsätzen des demokratischen und sozialen Rechtsstaates nicht widersprechen darf. Insoweit liegt der Schluß nahe, daß zu diesen unabänderlichen sozialstaatlichen Grundsätzen der Landesverfassung eben auch die besondere Ausprägung in Art. 59 Abs. 1 SaarlLVerf gehört. Immerhin findet sich in der Landesverfassung - ebenso wie im Grundgesetz - nur an wenigen Stellen eine greifbare Ausprägung des Sozialstaatsprinzips; dies wird in der Regel der flexibleren Gesetzgebung auf einfach-gesetzlicher Ebene überlassen. Um so eher - so könnte man argumentieren - gehören die sozialstaatlichen Elemente, die Eingang in die Landesverfassung gefunden haben, zu den gemäß Art. 101 Abs. 2 SaarlLVerf änderungsfesten Grundsätzen. Dies würde bedeuten, daß die Wahrnehmung von Arbeitnehmerinteressen durch eine öffentlich-rechtliche

43

Vgl. Stern, ebd., § 21 Π 3.

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Institution verfassungsrechtlich abgesichert wäre und auch nicht durch eine Änderung des Art. 59 Abs. 1 SaarlLVerf beseitigt werden könnte. Es erscheint indes zweifelhaft, ob mit dem in Art. 101 Abs. 2 SaarlLVerf als unabänderlich festgeschriebenen Grundsatz des sozialen Rechtsstaats tatsächlich seine besondere Ausgestaltung in der Landesverfassung gemeint ist. Das würde nämlich dazu führen, daß die Landesverfassung nicht nur - was unbestreitbar ist - das Sozialstaatsprinzip näher ausgestalten könnte, sondern darüber hinaus auch änderungsfester als das Grundgesetz wäre. Dies hätte zur Konsequenz, daß bestimmte Ausprägungen des Sozialstaatsprinzips, die nicht zu seinen unabänderlichen Grundsätzen gemäß Art. 79 Abs. 3 GG gehören, über den „Umweg" einer Aufnahme in die Landesverfassung dennoch als änderungsfest verankert werden könnten. Es ist deshalb davon auszugehen, daß sich die in Art. 101 Abs. 2 SaarlLVerf aufgeführten Grundsätze nicht auf die spezielle Ausprägung in der Landesverfassung beziehen, sondern sich mit denen in Art. 79 Abs. 3 i. V. m. Art. 20 Abs. 1 GG decken. Das grundgesetzliche Bekenntnis zur Sozialstaatlichkeit wird aber nur insoweit gegenüber Verfassungsänderungen abgesichert, als es sich eben zu einem „Grundsatz" verdichtet hat. Hierzu gehören die einzelnen sozialstaatlich motivierten Einrichtungen und Leistungen noch nicht, seien sie auch ausnahmsweise einmal auf (landes-)verfassungsrechtlicher Ebene verbürgt. Es ergibt sich also der Befund, daß die öffentlich-rechtliche Wahrnehmung von Arbeitnehmerinteressen durch die Schaffung von Arbeitnehmerkammern auch nicht unter Berufung auf das Sozialstaatsprinzip zwingend geboten ist. Denn die Funktion der Sozialstaatsklausel ist in erster Linie eine unterstützende; das „Soziale" hat sich primär und wesentlich durch die Gesellschaft und in der Gesellschaft zu vollziehen.44 Das durch das Grundgesetz konstituierte Zusammenwirken von Rechts- und Sozialstaat verlangt nämlich eine gesellschaftliche Selbstorganisation im Sinne freiheitlicher Vereinigung und sozialverantwortlicher Zusammenarbeit von Individuen. Die Sozialstaatsklausel kann nur in diese Richtung weisen; sie darf der gesellschaftlichen Selbstorganisation durch ihren Einfluß nicht den Charakter der freiheitlichen Verhaltensform nehmen. Die so verstandene soziale Bindung seines als Ausfluß des Rechtsstaatsprinzips grundsätzlich freien Verhaltens verpflichtet das Individuum aber, die Belange der Allgemeinheit und die Rechte anderer zu achten. Die Sozialstaatsklausel wirkt mithin, wie Rupert Scholz zutreffend formuliert hat, als Gemeinschaftsbindung, nicht als Gemeinschaftsbegründung 45; ihr ist 44

Zacher, Das soziale Staatsziel, in: Isensee/Kirchhof, HdbStR Band I, Heidelberg 1987, §25, Rn. 31. 45 Scholz, Koalitionsfreiheit als Verfassungsproblem, München 1971, S. 187.

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kein organisations- oder kompetenzrechtliches Merkmal, welches zur Bildung öffentlich-rechtlicher Einrichtungen zwingen würde, zu eigen. 4. Schutz der Koalitionsfreiheit als Institutsgarantie Diese Prämisse der Selbstorganisation und Selbstverantwortung setzt allerdings die funktionierende Autonomie der gesellschaftlichen Verhältnisse und Prozesse voraus. Damit dies gewährleistet ist, muß dem Einzelnen aber die Möglichkeit eröffnet sein, sich zur Verschaffung der für ihn existenznotwendigen Güter und Dienste kollektiv zusammenzuschließen. Daher ist zumindest die in Art. 9 Abs. 3 GG und Art. 56 Abs. 1 SaarlLVerf niedergelegte Koalitionsfreiheit und damit die Wahrnehmung von Arbeitnehmerinteressen in privatrechtlicher Form notwendiger Ausfluß des Sozialstaatsprinzips und insoweit institutionell abgesichert.46 Es stellt sich dabei lediglich die Frage, in welchem Umfang dieser verfassungsrechtliche Schutz der Koalitionen - entsprechend der Begriffsunterscheidung Carl Schmitts-als Institutsgarantie ausgestaltet ist. Zum einen läßt sich der Bestand des heutigen Koalitionswesens nicht als Institutsgarantie begreifen. Denn die tatsächliche Existenz eines verbandsmäßigen Koalitionswesens und sein konkretes Ausmaß sind Ergebnis eines freiheitlichen Lebensprozesses, kein rechtliches Institut; die Faktizität darf hier nicht kurzerhand in Normativität umgewandelt werden. Eine Institutsgarantie besteht ebenfalls nicht hinsichtlich der Rechtsform, in der sich die Koalitionsfreiheit zur Zeit vollzieht. Aus ihr läßt sich also nicht die Gewährleistung des organisationsrechtlichen status quo ableiten; sie sichert etwa den Gewerkschaften nicht unbedingt die von ihnen bislang bevorzugte Rechtsform des nicht-rechtsfahigen Vereins. Vielmehr ist das Koalitionswesen als Ausfluß des Sozialstaatsprinzips und der ihm zukommenden Rechtsstellungsgarantie des Art. 19 Abs. 3 GG lediglich in seinem „Fundament" abgesichert, und zwar dahingehend, daß sich zur Wahrung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen überhaupt Verbände frei bilden können, denen eine bestandsrechtlich adäquate Organisationsform zur Verfügung gestellt wird. Die Ausprägung der Koalitionen im einzelnen ist dagegen Ausfluß der Koalitionsfreiheit des Art. 9 Abs. 3 GG selbst und gehört nicht mehr zu der aus dem Sozialstaatsbekenntnis ableitbaren Institutsgarantie.

46

BVerfGE 4, 96 (102); Zacher, a.a.O. (Anm.7); Richardi, individuelle Koalitionsfreiheit, AöR 93 (1968), S. 243 (263).

Koalitionsgewalt und

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Es läßt sich somit festhalten, daß die Wahrnehmung von Arbeitnehmerinteressen -abgesehen von der bisherigen landesverfassungsrechtlichen Gewährleistung der Arbeitskammer des Saarlandes in Art. 59 Abs. 1 SaarlLVerf - als Ausfluß des Sozialstaatsprinzips lediglich in dem rechtlichen Rahmen privater Koalitionsverbände durch eine - zumindest beschränkteInstitutsgarantie abgesichert ist. 5. Ausblick: Institutionelle Absicherung einer Wahrnehmung von Arbeitnehmerinteressen auf interregionaler Ebene Abschließend soll daher in einem Ausblick noch der Frage nachgegangen werden, auf welche Weise auch eine Wahrnehmung staatlicherseits institutionell untermauert werden könnte. Ist dies auf nationaler Ebene nach dem oben Gesagten nicht zu erreichen, so könnte eine Lösung - wie so oft - im Prozeß der Europäischen Integration liegen. Dieser hat nämlich an den innergemeinschaftlichen Grenzen zentraler europäischer Regionen einen regionalen Integrationsprozeß ausgelöst, der sich positiv auch auf das Arbeitsrecht auswirkt. So besteht seit mehr als 20 Jahren der Interregionale Gewerkschaftsrat Saarland-Lothringen-Luxemburg-Trier/Westpfalz (Saar-Lor-Lux), und am 07. 11. 1996 wurde auf dem zweiten Gipfeltreffen der Großregion in Saarbrücken seiner Forderung nach Einrichtung eines drittelparitätisch besetzten Interregionalen Wirtschafts- und Sozialausschusses stattgegeben.47 Dieser hat die Aufgabe, sich mit den gemeinsamen grenzüberschreitenden wirtschaftlichen und sozialen Fragen zu befassen und hierbei den Interregionalen Gewerkschaftsrat, die Wirtschaftsverbände und die Kammern zu unterstützen. Denn die Bekämpfung struktureller Arbeitsmarktprobleme und das Ergreifen von arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen zur Schaffung eines einheitlichen Arbeitsmarktes sind in einem Grenzgebiet wie der hiesigen Großregion nicht mehr im nationalen Alleingang möglich; es bedarf vielmehr einer abgestimmten arbeitsmarktpolitischen Strategie. Eine solche gemeinsame interregionale Zusammenarbeit bei der Wahrnehmung von Arbeitnehmerinteressen könnte nun auch Vorbild sein für ein entsprechendes Tätigwerden einzelner in Grenzregionen liegender Bundesländer auf öffentlich-rechtlicher Ebene. Hierfür spricht - für das Saarland - zum einen das im Februar 1992 in die saarländische Landesverfassung eingeführte Staatsziel des Art. 60 Abs. 2 S. 2 SaarlLVerf, wonach das Saarland mit ande47

Vgl. Interregionaler Gewerkschaftsrat Saar-Lor-Lux (Hrsg.), 20 Jahre Interregionaler Gewerkschaftsrat Saar-Lor-Lux (1976-1996), Saarbrücken 1996, S. 46 ff.

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ren europäischen Regionen zusammenarbeitet und grenzüberschreitende Beziehungen zwischen benachbarten Gebietskörperschaften und Einrichtungen unterstützt. Zum anderen ist auf Initiative des Saarlandes48 in Art. 24 GG der neue Abs. la eingeführt worden, der den Ländern zur Ausübung ihrer staatlichen Befugnisse gestattet, mit Zustimmung der Bundesregierung Hoheitsrechte auf grenznachbarschaftliche Einrichtungen zu übertragen. Bereits diese gegenüber dem Begriff der „zwischenstaatlichen Einrichtungen" nach Art. 24 Abs. 1 GG gewählte Bezeichnung zeigt, daß es sich hierbei nicht notwendigerweise - wie dort - um eine völkerrechtliche Einrichtung handeln muß.49 Die Errichtung von grenznachbarschaftlichen Einrichtungen durch Abschluß eines Staatsvertrages, verbunden mit der Übertragung von Hoheitsrechten, kann sich dabei in zwei verschiedenen Rechtsformen vollziehen50: Einerseits sind grenzüberschreitend organisierte Verbände nationalen Rechts denkbar, also grenznachbarschaftliche Einrichtungen, die zwar im Rechtssystem eines der beteiligten Partner verbleiben, aber hoheitliche Aufgaben beiderseits der Grenze wahrnehmen dürfen. Andererseits wären entsprechende Einrichtungen international-autonomen Rechts möglich, die in den innergemeinschaftlichen Grenzregionen zumindest in Teilbereichen staatlicher Aufgabenwahrnehmung an die Stelle nationaler Regelungssysteme treten würden. Bei letzterem Modell träte zwar die Systemneubildung im Zuge der Entstehung von „Europäischen Regionen" deutlicher hervor, seine Verwirklichung scheint jedoch rechtstechnisch und politisch wesentlich komplizierter. Unterhalb dieser neu eröffneten Option des Art. 24 Abs. la GG ist aber - w i e schon bisher-die Schaffung grenznachbarschaftlicher Einrichtungen durch öffentlich-rechtliche Vereinbarungen mit nachgeordneten Körperschaften eines Nachbarstaates möglich, wenn und soweit keine Hoheitsrechte übertragen werden.51 Es bestehen mithin zwei Möglichkeiten, wie den in Grenzregionen liegenden Bundesländern wie etwa dem Saarland, aber auch zum Beispiel Nordrhein-Westfalen, die staatliche Wahrnehmung von Arbeitnehmerinteressen durch die Schaffung einer grenznachbarschaftlichen Einrichtung des öffentli48

Vgl. Presseinformation des Saarlandes Nr. 104/93 v. 24.06.1993. Rojahn, in: v. Münch/Kunig, Grundgesetz-Kommentar, Band 2, 3. Aufl. München 1995, Art. 24, Rn. 83. 50 Siehe hierzu Halmes, Transformationsprozesse in den Europäischen Kernregionen? - Regionale Integration am Beispiel Saar-Lor-Lux, DÖV 1995, 933 (940). 51 Streinz, in: Sachs, Grundgesetz Kommentar, Art. 24, Rn. 41; Wohlfahrt, Neue Gesetze zur kommunalen grenzüberschreitenden Zusammenarbeit in Frankreich und im Saarland, NVwZ 1994, 1072 (1077). 49

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chen Rechts eröffnet wäre. Denkt man aber allein schon an die bei den Arbeitnehmerkammern nationalen Rechts vorgesehene Pflichtzugehörigkeit, so kann nicht zweifelhaft sein, daß die Schaffung von Einrichtungen wahrscheinlicher ist, welche nach Maßgabe des Art. 24 Abs. la GG Hoheitsrechte wahrnehmen dürfen. Eine derartige grenznachbarschaftliche Einrichtung - ich nenne sie einmal „Interregionale Arbeitskammer" - bietet sich in der Großregion SaarLor-Lux schon deshalb an, weil Arbeitskammern hier sowohl im Saarland als auch in Luxemburg bestehen. Wäre sie interregional erst einmal institutionalisiert, so wäre die Rückholbarkeit von abgetretenen Kompetenzen nur noch sehr schwer möglich. Die öffentlich-rechtliche Wahrnehmung von Arbeitnehmerinteressen durch eine solche grenznachbarschaftliche Einrichtung in einer Weise, wie sie zur Zeit auf nationaler Ebene von der Arbeitskammer des Saarlandes und den Arbeitnehmerkammern in Bremen betrieben wird, wäre somit auf interregionaler Ebene weitestgehend institutionell abgesichert. Es zeigt sich also, daß sich jenseits der zu Beginn beschriebenen drei verschiedenen Interessenkategorien - bezogen auf die Arbeitnehmerinteressen noch eine vierte Ebene erhebt: das Gesamtinteresse einer über die nationalstaatliche Gemeinschaft hinausreichenden interregionalen, europäischen Gemeinschaft. Dessen Wahrnehmung nicht nur im Rahmen des Interregionalen Wirtschafts- und Sozialausschusses, sondern auch in öffentlich-rechtlicher Form durch die Nachbarregionen selbst wäre durchaus möglich; sie steht indes noch aus.