Republikanischer Alltag: Die Weimarer Demokratie und die Suche nach Normalität 3515119523, 9783515119528

Die Jahre von 1918/19 bis 1933 sind eine turbulente Zeit in der deutschen Geschichte. Zwischen Putschversuchen und Wirts

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German Pages 371 [374] Year 2017

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Table of contents :
INHALT
VORWORT
Andreas Braune & Michael Dreyer:
Die „Veralltäglichung” republikanischer Herrschaft
MÖGLICHKEITEN UND GRENZEN EINER POSTREVOLUTIONÄREN NORMALITÄT: ZUR POLITISCHEN IDEENGESCHICHTE DER REVOLUTION UND REPUBLIK
Martin Platt:
Deutschland 1918/19. Die unerklärte Revolution
Albert Dikovich:
Arnold Metzger und die Phänomenologie der Deutschen Revolution 1918/19
Thomas Schubert:
Marxistische und völkische Ideologiekritik versus
demokratische Weltanschauungsanalyse?
Bemerkungen zum geistigen Bürgerkrieg in der Weimarer Republik
Verena Wirtz:
‚Flaggenstreit‘. Zur politischen Sinnlichkeit der Weimarer Demokratie
EINÜBEN EINER REPUBLIKANISCHEN ALLTAGSPRAXIS: BIOGRAFISCHE ANSÄTZE
Alexander Wierzock:
Die Ambivalenzen eines Republikaners.
Ferdinand Tönnies und die Weimarer Republik
Antonia Schilling:
Zentrumspolitikerinnen in der Weimarer Republik.
Das Beispiel Helene Weber (1881–1962)
Paul Köppen:
„Défendre les intérêts de son pays avec calme et non sans habilité“.
Leopold von Hoesch als deutscher Botschafter in Paris, 1923–1932
Volker Köhler:
Bürokratie, Politik und Klienten.
Carl Severing als Patron und Parteigenosse
Sebastian Schäfer:
Rudolf Olden – Journalist und Pazifist
Daniel Münzner:
Kurt Hiller – ein linksrepublikanischer Feind der Weimarer Republik
Friederike Höhn:
Zurufe links – Unruhe bei den Nationalsozialisten. Wirken und
Wahrnehmung Erich Ludendorffs als Reichstagsabgeordneter, 1924–1928
NEUE POLITISCHE ORDNUNG UND UMKÄMPFTER ALLTAG: INSTITUTIONELLE ANSÄTZE & POLITIKFELDER
Marcel Böhles:
Lichtgestalten der Republik – Die Verehrung „republikanischer Märtyrer“
im Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold
Sebastian Elsbach:
Schwarz-Rot-Gold. Das Reichsbanner im Kampf für die Weimarer Republik
Oded Heilbronner:
Popular Liberalism in Germany 1866–1932.
The Construction of Bourgeois, Popular Liberal and National-Socialist
Subculture in South-West Germany
Reiner Fenske:
Imperiale Kontinuitäten in der Weimarer Republik?
Verbandspolitische Versuche zur Wiedererrichtung deutscher Herrschaft in Ostmitteleuropa
und Afrika und die Reaktionen der Politik
Anne Gnausch:
Selbsttötungen in der Weimarer Republik –
Krisenparadigma, Diskurs und Fürsorgepraxis
EIN NEUER ALLTAG FÜR DEN NACHWUCHS? BILDUNG, SCHULUNG, UNIVERSITÄT
Ronny Noak:
Von „Staatsbürgerausbildung“ und „Kaderschmieden“.
Die Parteischulen der Weimarer Republik
Christian Faludi: Der „neue“ gegen den „alten Geist“. Reformwille und Widerstände an der Universität Jena, 1921–24
Rebecca Schröder:
Zur akademischen Mobilität in der Weimarer Republik.
Die beiden Freiburger Professoren Ludwig Aschoff und
Engelbert Krebs als Weltreisende
Dominik Herzner:
Zwischen Anspruch und Wirklichkeit.
Die Umsetzung der Auswärtigen Kulturpolitik
in den Deutschen Auslandsschulen Spaniens zwischen 1918 und 1933
Florian Heßdörfer: Biologie und Klassenkampf von oben – Wilhelm Hartnacke in der Bildungsdiskussion der Weimarer Republik
VERZEICHNIS DER AUTORINNEN UND AUTOREN
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Republikanischer Alltag: Die Weimarer Demokratie und die Suche nach Normalität
 3515119523, 9783515119528

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Republikanischer Alltag Die Weimarer Demokratie und die Suche nach Normalität

Herausgegeben von Andreas Braune und Michael Dreyer

Weimarer Schriften zur republik

Franz Steiner Verlag

2

Republikanischer Alltag Herausgegeben von Andreas Braune und Michael Dreyer

weimarer schriften zur republik Herausgegeben von Michael Dreyer und Andreas Braune Band 2

Republikanischer Alltag Die Weimarer Demokratie und die Suche nach Normalität

Herausgegeben von Andreas Braune und Michael Dreyer

Franz Steiner Verlag

Gedruckt aus Mitteln des Strategie- und Innovationsbudgets des Thüringer Ministeriums für Wirtschaft, Wissenschaft und Digitale Gesellschaft

Umschlagabbildung: Berlin. Reichstagsgebäude, 1932 Bundesarchiv: Bild Nr. 146-1998-010-14, Fotograf: Klinke & Co.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2017 Druck: Hubert & Co., Göttingen Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany ISBN 978-3-515-11952-8 (Print) ISBN 978-3-515-11954-2 (E-Book)

INHALT Vorwort .................................................................................................................. IX Andreas Braune & Michael Dreyer Die „Veralltäglichung” republikanischer Herrschaft ............................................. XI MÖGLICHKEITEN UND GRENZEN EINER POSTREVOLUTIONÄREN NORMALITÄT: ZUR POLITISCHEN IDEENGESCHICHTE DER REVOLUTION UND REPUBLIK Martin Platt Deutschland 1918/19. Die unerklärte Revolution.................................................... 3 Albert Dikovich Arnold Metzger und die Phänomenologie der Deutschen Revolution 1918/19 .... 19 Thomas Schubert Marxistische und völkische Ideologiekritik versus demokratische Weltanschauungsanalyse? Bemerkungen zum geistigen Bürgerkrieg in der Weimarer Republik .................. 33 Verena Wirtz ‚Flaggenstreit‘. Zur politischen Sinnlichkeit der Weimarer Demokratie .............. 51 EINÜBEN EINER REPUBLIKANISCHEN ALLTAGSPRAXIS: BIOGRAFISCHE ANSÄTZE Alexander Wierzock Die Ambivalenzen eines Republikaners. Ferdinand Tönnies und die Weimarer Republik .................................................... 69 Antonia Schilling Zentrumspolitikerinnen in der Weimarer Republik. Das Beispiel Helene Weber (1881–1962) ............................................................. 87

VI

Inhalt

Paul Köppen „Défendre les intérêts de son pays avec calme et non sans habilité“. Leopold von Hoesch als deutscher Botschafter in Paris, 1923–1932 .................. 103 Volker Köhler Bürokratie, Politik und Klienten. Carl Severing als Patron und Parteigenosse ........................................................ 119 Sebastian Schäfer Rudolf Olden – Journalist und Pazifist ................................................................ 135 Daniel Münzner Kurt Hiller – ein linksrepublikanischer Feind der Weimarer Republik............... 151 Friederike Höhn Zurufe links – Unruhe bei den Nationalsozialisten. Wirken und Wahrnehmung Erich Ludendorffs als Reichstagsabgeordneter, 1924–1928....... 167

NEUE POLITISCHE ORDNUNG UND UMKÄMPFTER ALLTAG: INSTITUTIONELLE ANSÄTZE & POLITIKFELDER Marcel Böhles Lichtgestalten der Republik – Die Verehrung „republikanischer Märtyrer“ im Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold ................................................................... 187 Sebastian Elsbach Schwarz-Rot-Gold. Das Reichsbanner im Kampf für die Weimarer Republik ... 203 Oded Heilbronner Popular Liberalism in Germany 1866–1932. The Construction of Bourgeois, Popular Liberal and National-Socialist Subculture in South-West Germany .................................................................... 217 Reiner Fenske Imperiale Kontinuitäten in der Weimarer Republik? Verbandspolitische Versuche zur Wiedererrichtung deutscher Herrschaft in Ostmitteleuropa und Afrika und die Reaktionen der Politik ..................................... 237 Anne Gnausch Selbsttötungen in der Weimarer Republik – Krisenparadigma, Diskurs und Fürsorgepraxis ................................................... 251

Inhalt

VII

EIN NEUER ALLTAG FÜR DEN NACHWUCHS? BILDUNG, SCHULUNG, UNIVERSITÄT Ronny Noak Von „Staatsbürgerausbildung“ und „Kaderschmieden“. Die Parteischulen der Weimarer Republik .......................................................... 271 Christian Faludi Der „neue“ gegen den „alten Geist“. Reformwille und Widerstände an der Universität Jena, 1921–24 ....................... 285 Rebecca Schröder Zur akademischen Mobilität in der Weimarer Republik. Die beiden Freiburger Professoren Ludwig Aschoff und Engelbert Krebs als Weltreisende ........................................................................ 307 Dominik Herzner Zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Die Umsetzung der Auswärtigen Kulturpolitik in den Deutschen Auslandsschulen Spaniens zwischen 1918 und 1933 ............. 321 Florian Heßdörfer Biologie und Klassenkampf von oben – Wilhelm Hartnacke in der Bildungsdiskussion der Weimarer Republik ............. 333 Verzeichnis der Autorinnen und Autoren ............................................................ 351

VORWORT Mit diesem Band legen wir nach dem Auftaktband „Weimar als Herausforderung“ von 2016 den zweiten Band in der Reihe „Weimarer Schriften zur Republik“ vor – womit die Reihe anhebt, eine tatsächliche Reihe zu werden. Sie möchte damit nicht nur die wissenschaftliche Publikationsplattform der Forschungsstelle Weimarer Republik an der Friedrich-Schiller-Universität Jena und des Weimarer Republik e.V. sein, sondern auch ein Forum für die Forschungen verschiedenster Disziplinen zur Weimarer Republik und zur weiteren Demokratie- und Republikgeschichte Deutschlands und Europas werden. Die Reihe „Weimarer Schriften zur Republik“ ist eng verknüpft mit der Initiative des Weimarer Republik e.V., in Weimar ab 2019 mit dem „Haus der Weimarer Republik. Forum für Demokratie“ einen zentralen Erinnerungsort für die erste deutsche Demokratie einzurichten, wo auch die Forschungsstelle Weimarer Republik ihre Funktion als Knotenpunkt der nationalen und internationalen Weimar-Forschung wahrnehmen soll. Unser erster Dank gilt daher den verschiedenen Akteuren, die einen entscheidenden Anteil an dem bisherigen Erfolg der Initiative haben – als da sind: Das Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz, geleitet von Bundesminister Heiko Maas, der spiritus rector des Weimarer Republik e.V., Carsten Schneider, MdB, und die Stadt Weimar, namentlich Oberbürgermeister Stefan Wolf und Stadtkulturdirektorin Julia Miehe. Die Forschungsstelle Weimarer Republik an der FSU Jena wurde 2016 aus Mitteln des Thüringer Ministeriums für Wirtschaft, Wissenschaft und Digitale Gesellschaft eingerichtet. Minister Wolfgang Tiefensee und seinen Mitarbeiter/-innen, allen voran Michael Edinger, gilt unser Dank dafür, die Arbeit der Forschungsstelle und damit auch diese Publikation möglich gemacht zu haben. Die Herausgeber danken außerdem Alf Rößner, Michael Haun, Stephan Zänker, Markus Hünniger, Sven Steinbrück und Michael Schultheiß, die die Arbeit des Weimarer Republik e.V. in allen Belangen professionell führen und unterstützen und damit auch die Arbeit der Forschungsstelle hervorragend begleiten. Gedankt sei natürlich auch allen Autorinnen und Autoren, die mit ihrer Arbeit und ihren Beiträgen zu einer beeindruckenden Schau darüber beigetragen haben, wie lebendig die Erforschung der Weimarer Republik in den diversen Disziplinen kurz vor ihrem 100. Gründungsjahr ist. Unser Dank gilt schließlich erneut den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Franz Steiner Verlags und seinem Leiter, Thomas Schaber, die der Reihe eine professionelle und renommierte Heimat gegeben haben. Andreas Braune & Michael Dreyer

Jena, im September 2017

DIE „VERALLTÄGLICHUNG“1 REPUBLIKANISCHER HERRSCHAFT Andreas Braune & Michael Dreyer Hätte die ‚Berliner Republik‘ die Lebensdauer der Weimarer Republik gehabt, wäre im Jahr 2004 Schluss mit dem wiedervereinigten demokratischen Deutschland gewesen. Nach sechs Jahren im Amt hätte Gerhard Schröder seine Regierungszeit beenden müssen und Angela Merkel wäre nie in das 2001 eröffnete Berliner Kanzleramt eingezogen. Die Leistungen bei der Umsetzung der großen Herausforderung für das wiedervereinigte Deutschland – der Herbeiführung der inneren Einheit auf wirtschaftlichem, politischen, sozialen und kulturellen Gebiet bei gleichzeitiger Verankerung einer demokratischen Kultur in Ostdeutschland – hätten spätere Generationen auf Basis des Jahresberichts zur Deutschen Einheit von 2004 beurteilen müssen. Der klingt jedoch mit Stichworten wie „Potenziale erschließen, Erfolge stärken“, „neue Impulse setzen“ und „innere Einheit fördern“2 nicht so, als wäre die Herausforderung nach dreizehn Jahren schon zufriedenstellend gelöst gewesen, ja lässt sich fragen, ob dies heute, nach fast drei Jahrzehnten, in allen Bereichen der Fall ist. Dabei waren sowohl die Ausgangslage wie auch die begleitenden Rahmenbedingungen für den Prozess der Herstellung der inneren Einheit für die Berliner Republik im Vergleich zu denjenigen der Weimarer Republik geradezu ideal: Eine konsolidierte parlamentarische Demokratie inkorporierte im Grunde geräuschlos auf institutioneller Ebene fünf neue Bundesländer, und der Wohlstand und die kräftige Volkswirtschaft der Bundesrepublik sorgten – trotz aller bestehenden volkswirtschaftlichen Unterschiede zwischen beiden Teilen Deutschlands – für die nötigen Investitionen und die ökonomische Absicherung des Integrationsprozesses. Existenzielle Herausforderungen und Krisen gab es für diesen Prozess an keiner Stelle. Ganz anders in der Weimarer Republik, die vor der Herkulesaufgabe stand, eine parlamentarische Demokratie überhaupt erst zu gründen und zu konsolidieren, und dies unter den Bedingungen der volkswirtschaftlichen und sozialmoralischen Folgen des Krieges und des Friedensschlusses. Vor diesem Hintergrund tendiert die jüngere Forschung zur Weimarer Republik bekanntlich dazu, die Chancen und Errungenschaften, die Leistungen und Potentiale der ersten deutschen Demokratie

  1 2  

Weber (1922): Wirtschaft und Gesellschaft, S. 142. Beauftragte der Bundesregierung für die neuen Länder (2004): Jahresbericht

XII

Andreas Braune & Michael Dreyer

stärker in den Blick zu nehmen.3 Sie geht davon aus, dass der Abbruch der Demokratisierung Deutschlands im Jahr 1932/33 kein zwangsläufiges Ereignis war, das in der Gründungssituation der Weimarer Republik, ihren verfassungsrechtlichen Strukturen und den politischen Spaltungen von Anfang an angelegt war, sondern dass es immer, auch noch im Januar 1933, die reale Chance des Überlebens der ersten deutschen Demokratie gegeben hat. Die Weimarer Demokratie ist nicht gescheitert oder untergegangen oder aufgelöst worden; sie ist bewusst zerstört worden in einem „Staatsstreich auf Raten“.4 Was vor diesem Hintergrund in die Beurteilung der Weimarer Republik in besonderem Maße mit einbezogen werden muss, ist das, was in der klassischen Einteilung ihrer wenigen Jahre als die „Phase der relativen Stabilisierung“5 bezeichnet wurde. Sie beginnt im Jahr 1923/24 und endet 1930 mit der Weltwirtschaftskrise und dem Übergang zu den Präsidialregimen. Sie umfasst damit – um die Relationen noch einmal deutlich zu machen – weniger als zwei volle Legislaturperioden des damaligen Reichstags oder des heutigen Bundestags. In dieser Phase, aber auch schon in den Gründungsjahren der Republik von 1918/19 bis 1923, lassen sich Ansätze und Kristallisationspunkte dessen identifizieren, was wir hier als republikanische Alltagspraxis bezeichnen. Es geht dabei um Strukturelemente und Verhaltensmuster in allen gesellschaftlichen Teilbereichen, die für das beständige Funktionieren republikanischer Herrschaft essentiell sind und die in unserer gegenwärtigen Demokratie teilweise so fest verankert sind, dass sie als Selbstverständlichkeiten kaum in Erscheinung treten. In der Weimarer Republik mussten sie im Spannungsfeld zwischen „Normalität und Fragilität“6 erst eingeführt, erkämpft und erprobt werden. Im politischen Bereich sind das beispielsweise der Übergang zu einer parlamentarischen Praxis, in der die Parteien in echte Regierungsverantwortung kommen und das Wechselspiel von demokratischer Opposition und Regierung einüben müssen; der Übergang zu einem zivilen und republikanischen Verständnis des Staatsoberhauptes (wo Friedrich Ebert Herausragendes leistete7) und der übrigen Staatsgewalten und Institutionen, genauso wie das Einüben des politischen Prozesses nach den Grundregeln der Verschränkung von Volkssouveränität, Repräsentation und direkter Demokratie. Dazu gehörte auch eine republikanische Verwaltung, die sich als Dienstleister gegenüber der Bürgerschaft und Garant ihrer legitimen Ansprüche auf Gleichbehandlung und Menschenwürde   3

4 5 6 7

Siehe exemplarisch: Büttner (2008): Überforderte Republik, Lehnert (2012): Hugo Preuß, Gallus (2010): Vergessene Revolution, Gusy (2000): demokratisches Denken, Ders. (1997): Reichsverfassung, Mühlhausen (2006): Friedrich Ebert, Groh (2010): Demokratische Staatsrechtslehrer, Schultheiß (2009): Weimar und die Republik, Llanque (2010): Souveräne Demokratie, Müller (2014): Lebensversuche. Dreyer (2009): Wehrhafte Demokratie, S. 184. Schon Bracher (1955): Auflösung der Weimarer Republik, S. 271ff., hat – trotz etwas irreführendem Titel seiner Bonner Habilitationsschrift – den antiparlamentarischen Charakter der Regierung Brüning deutlich herausgearbeitet. Kolb (2010): Weimarer Republik, S. 54. Vgl. Müller / Tooze (2015): Demokratie. Die vielen Einzelfallstudien des Bandes Normalität und Fragilität zeigen an, dass im Grunde alle Demokratien nach 1918 vor dieser Herausforderung standen. Wie es jüngst dokumentiert ist in: Mühlhausen (2016): Reden als Reichspräsident.

Die umkämpfte „Veralltäglichung“ republikanischer Herrschaft

XIII

versteht. Dazu gehörte die Implementierung des aktiven und passiven Frauenwahlrechts, die mehr bedeutete als dessen reiner Vollzug, nämlich auch die Bildung von republikanischen Staatsbürgerinnen und das Einreißen sehr niedrig hängender gläserner Decken in Politik und Gesellschaft. Dazu gehörte überhaupt eine demokratische Debatten-, Presse- und Meinungskultur und ein Verständnis einer pluralistischen Zivilgesellschaft, in dem die Organisation und Artikulation eigener Interessen und Ansichten als legitim angesehen wird. Dazu gehörte die Hinwendung zu einer republikanischen Außenpolitik, die in der Diktion der Zeit auf ‚Revision durch Verständigung‘ im Rahmen des Völkerrechts, nicht auf machtpolitische Revision der Versailler Friedensordnung zielte. Und dazu gehörte darüber hinaus die implizite oder explizite Formulierung eines republikanischen Selbstverständnisses und Wertekanons inklusive eines republikanischen Geschichts- und Legitimationsnarrativs und einer republikanischen Formensprache in der Staatssymbolik und Festkultur. In Wirtschaft und Gesellschaft meint republikanische Alltagspraxis im so verstandenen Sinne die umfassende Geltung des Prinzips der gleichen Freiheit und der fairen Chancengerechtigkeit,8 die gemeinsam jede Einzelne und jeden Einzelnen in den Status eines Bürgers (im Sinne von citoyen), nicht eines Untertanen oder Weisungsempfängers versetzen. Rechtssicherheit und Rechtsstaatlichkeit sowie Sozialstaatlichkeit und Mindestformen der Wirtschaftsdemokratie (Vereinigungs- und Koalitionsfreiheit, betriebliche Mitbestimmung etc.) sind dafür essentiell. Republikanische Herrschaft ist dabei durchaus mit einem konservativen Wertesystem vereinbar, aber es muss ein demokratischer Konservativismus sein, der gesellschaftliche Pluralität und die Pluralität von Interessenslagen, Lebensentwürfen und Wertesystemen im Rahmen eines republikanischen Konsenses und seiner Spielregeln prinzipiell anerkennt. Niemand wird nun behaupten wollen, dass die Weimarer Republik an irgendeiner Stelle ihres Bestehens diese hier nur skizzenhaft umrissene republikanische Herrschaft und ihre Alltagspraxis vollumfänglich etabliert hätte. Andernfalls wäre es für die reaktionären Eliten, die 1932/33 an den Schaltstellen der Macht saßen, auch nicht so leicht gewesen, die Demokratie in Deutschland zu zerstören. Was aber konstatiert werden kann, ist der Umstand, dass in der Gründungssituation und in der Weimarer Reichsverfassung die Grundlagen für eine Transformation hin zu einer demokratisch-republikanischen Herrschaftspraxis angelegt waren und dass im weiteren Verlauf der Republik – trotz widriger Umstände und harter Anfeindungen – wichtige Schritte zu ihrer Durchsetzung getan wurden und zentrale (und auch weniger zentrale) Akteure daran arbeiteten. Was wir in der Weimarer Republik also durchaus konstatieren können, ist das Ringen um eine republikanische Normalität beziehungsweise um die Veralltäglichung republikanischer Herrschaft. Den Begriff der ‚Veralltäglichung‘ hatte Max Weber ursprünglich für die charismatische Herrschaft reserviert, weil sie ihrem Wesen nach in ihrer idealtypischen   8  

Diese Formulierung ist bewusst an die beiden Grundsätze der Gerechtigkeit bei John Rawls angelegt. Vgl. Rawls (1971): Theorie der Gerechtigkeit, S. 336f.

XIV

Andreas Braune & Michael Dreyer

Form auf dem außeralltäglichen Charisma des Herrschers und bestimmter außeralltäglichen Leistungen im statu nascendi der Herrschaft beruht.9 Republikanische Herrschaft im hier verstandenen Sinne gab es in der Typologie Webers ohnehin nicht, wobei sie sich jedoch bestimmter Elemente legaler und rationaler Herrschaft bedient. Trotzdem gilt für die Etablierung republikanischer Herrschaft, was Weber für die Veralltäglichung charismatischer Herrschaft konstatierte: „Die Veralltäglichung vollzieht sich nicht kampflos.“10 Das liegt vor allem, aber nicht nur daran, dass die Geltungsgründe legitimer Herrschaft grundlegend verändert werden mussten. Die Legitimität der Herrschaft des Kaiserreichs basierte auf einer spezifischen Mischung aus traditionaler, erbcharismatischer und rationaler Herrschaft, wobei die ersten beiden Elemente die Stützen davon waren, was John Rawls in Eine Theorie der Gerechtigkeit einen ‚öffentlich anerkannten Gerechtigkeitssinn‘11 nannte, weil sie in Form des Gottesgnadentums, des monarchischen Prinzips und des Bundes souveräner Fürsten die Säulen des legitimatorischen Selbstverständnisses des Kaiserreichs bildeten.12 Die Elemente rationaler Herrschaft – etwa die weitgehende Umsetzung von Rechtsstaatlichkeit und eines rationalen Staatsaufbaus – sorgten jedoch faktisch und im Hintergrund dafür, dass diese im Grunde vormoderne legitimatorische Basis tatsächlich trug. Was die Weimarer Republik zu ihrem Selbsterhalt und ihrer inneren Stabilisierung leisten musste, war gewissermaßen eine Umcodierung des öffentlichen Gerechtigkeitssinns, nachdem die alten Geltungsgründe 1918 kollabiert waren. Das ‚Motiv der kollektiven ethischen Umkehr‘ tauchte daher nicht nur in der Revolutionsdiagnose Arnold Metzgers auf, die Albert Dikovich in diesem Band präsentiert, sondern war im Bewusstsein der Zeitgenossen weit verbreitet. Für eine solche Umcodierung bestanden sehr gute Voraussetzungen, wie die überwältigende Mehrheit für die ‚Weimarer Koalition‘ bei der Wahl zur Nationalversammlung signalisierte. An die Stelle der alten Geltungsgründe mussten neue, republikanische treten, aber es war nicht zu erwarten, dass die Protagonisten der alten Ordnung und die Vertreter des alten Wertesystems – oder auch diejenigen neuer, alternativer und anti-republikanischer Ordnungsmodelle – diese Transformation kampf- und widerstandslos zulassen würden. Es ist daher nicht übertrieben, wenn Thomas Schubert in diesem Band einen geistigen Bürgerkrieg in Deutschland diagnostiziert. Das liberal-demokratische Lager bildete eine Partei in dieser nicht nur intellektuellen Auseinandersetzung – und wie es für einen Bürgerkrieg typisch ist, strebte es danach, seine Geltungsgründe als die alleinigen durchzusetzen. Weniger kann eine Republik auch nicht beanspruchen, will sie eine konsolidierte republikanische Herrschaft sein. Diese Etablierungskämpfe sind dabei auch ein Ringen darum, die Grenze dessen festzulegen, was Ernst Fraenkel „die nebeneinander bestehenden kontroversen und nicht kontroversen Sektoren des Gemeinwesens“13 nannte. Der Rawlssche öffentliche Gerechtigkeitssinn muss in einer pluralistischen   9 10 11 12 13

Vgl. Weber (1922): Wirtschaft und Gesellschaft, S. 144. Ebd. S. 146. Vgl. Vgl. Rawls (1971): Theorie der Gerechtigkeit, S. 388f., S. 493 und passim. Vgl. etwa Machtan (2008): Die Abdankung, S. 58–74. Fraenkel (1964): Deutschland, S. 249.

Die umkämpfte „Veralltäglichung“ republikanischer Herrschaft

XV

Demokratie von einem ‚überlappenden Konsens‘ über nicht verhandelbare Werte getragen werden. Einen solchen republikanischen Konsens zu definieren und gegen alle Widerstände zu erstreiten, war eine der vordringlichen Aufgaben der jungen Republik. Kampf, Konflikt und Streit waren daher die dominanten Modi, in denen sich die Etablierung republikanischer Herrschaft in der historischen Situation der Weimarer Republik vollzog und vollziehen musste, weil ihr diese Modi aufgezwungen wurden. Aber auch das Suchen und Einüben neuer Verfahren und Verhaltensweisen, institutionelle und individuelle Lernprozesse und eine graduelle Akkommodation und Akklimatisation mit den neuen Verhältnissen gehörten dazu. Die Weimarer Republik war eine Transformationsgesellschaft unter widrigen Umständen, die ihr eigenes republikanisches Selbstverständnis erst suchen und eine republikanische Normalität erst durchsetzen musste. Dabei kann sogar diagnostiziert werden – wie es Verena Wirtz in diesem Band mit ihrem Beitrag zum Flaggenstreit als Lesart vorschlägt – dass diese Suchbewegungen zum Teil selbst schon nach einem republikanischen Grundverständnis erfolgten: Eine autoritäre Setzung des Reichspräsidenten wurde als Beendigung des Flaggenstreits nicht mehr als angemessen empfunden, vielmehr wurde der ‚Streit‘ auch als reflexiver und demokratischer Aushandlungsprozess einer politischen Gemeinschaft verstanden, der seinen adäquaten Ort im Parlament hat. Bei allen institutionellen und gesamtgesellschaftlichen Lern- und Transformationsprozessen muss die Verankerung republikanischer Herrschaft letztlich auf individueller Ebene erfolgen. Biografische Ansätze zur Erforschung der Weimarer Republik eignen sich daher nach wie vor sehr gut dazu, diese individuellen Lernund Akkommodationsprozesse – oder auch ihre Verweigerung – nachzuzeichnen. Das Raster Republikfeinde – Vernunftrepublikaner14 – Herzensrepublikaner ist dafür sicherlich zu grob, aber die genauerer Betrachtung einzelner Biografien lehrt doch, dass sich einzelne Protagonisten in sehr unterschiedlichen Graden und mit unterschiedlicher Geschwindigkeit und Intensität mit der Republik anfreundeten. Das Spektrum reicht hier von der starrsinnigen Verweigerung (Friederike Höhn über Erich Ludendorff) bis zum gelebten Republikanismus in politischer Praxis (Antonia Schilling über Helene Weber, Volker Köhler über Carl Severing und Paul Köppen über Leopold von Hoesch). Intellektuelle, aber doch ambivalente Freundschaft mit der Republik (Alexander Wierzock über Ferdinand Tönnies) steht neben der radikalen Konversion vom Nationalliberalen zum linksliberalen Pazifisten (Sebastian Schäfer über Rudolf Olden) und der linksaristokratischen Gegnerschaft zur Republik (Daniel Münzner über Kurt Hiller). So unterschiedlich diese individuellen Positionierungen und Anpassungsstrategien auch waren, so verband sie doch, dass sie sich zu der Gemengelage des geistigen Bürgerkrieges positionieren mussten – und damit auch zur Republik, die trotzdem zwischen 1919 und 1932 recht erfolgreich das Monopol physischer und symbolischer Gewalt verteidigte. Es verwundert daher nicht, dass viele Akteure wie Helene Weber, Carl Severing und Leopold von   14 Vgl. Wirsching (2008): Vernunftrepublikanismus.

XVI

Andreas Braune & Michael Dreyer

Hoesch nach den Spielregeln der Republik spielten und so zur institutionellen Festigung der Republik und zum Lernen ihrer Institutionen beitrugen. Wie sie taten das unzählige andere Parlamentarier/innen und Beamte und es ist nicht zu viel behauptet, wenn man konstatiert, dass sich durch wechselseitige Verstärkerprozesse des individuellen und institutionellen Lernens die Republik bei einer längeren Lebensdauer weiter konsolidiert und zu einem eigenen republikanischen Alltag gefunden hätte. Dass das Ringen um diesen Alltag und ein republikanisches Selbstverständnis in den wenigen Jahren der Weimarer Republik in vollem Gange und keineswegs entschieden war, davon zeugen auch die Beiträge über institutionelle Ansätze und Politikfelder. Starke Kontinuitäten, die vom Kaiserreich in die Weimarer Republik fortwirkten (Reiner Fenske über die kolonialen Verbände, aber auch Dominik Herzner über die auswärtige Kulturpolitik und die Rolle der Diasporagemeinschaften), der schnelle Kollaps liberal-demokratischen Potentials in einigen Regionen Deutschlands (Oded Heilbronner über den Liberalismus in Schwaben) und eine ‚Suizidepidemie‘ als scheinbares Krisensymptom der ‚klassischen Moderne‘ (Anne Gnausch) zeichnen kein gutes Bild über die Erfolgsaussichten in diesem Kampf um republikanische Deutungshoheit und einen republikanischen Alltag. Selbst das Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold (Marcel Böhles und Sebastian Elsbach) ist in diesem Lichte eher eine Ausnahmeerscheinung, die beständig für etwas kämpfen musste, was in einer konsolidierten Republik eine Selbstverständlichkeit sein müsste. Aber auch eine andere Lesart ist möglich: Das Reichsbanner entwickelte und propagierte zusammen mit anderen Akteuren (wie etwa mit dem bei Verena Wirtz herausgestrichenen Edwin Redslob) eine genuin republikanische Gedenkkultur und Staatsästhetik und bezog aktiv für die Republik Position; die Kolonialverbände stießen mit ihren reaktionären Forderungen bei der offiziellen Politik im Grunde auf taube Ohren; die größtenteils genauso reaktionären Diasporagemeinschaften in Spanien sahen sich mit einer neuen auswärtigen Kulturpolitik konfrontiert, die mehr und mehr die Konturen einer republikanischen Außenpolitik annahm (siehe auch Paul Köppen); und selbst die ‚Suizidepidemie‘ kann ebenso gut als Durchbruchsphänomen der klassischen Moderne betrachtet werden, weil erstens der Suizid im Vergleich zum Kaiserreich mehr und mehr enttabuisiert wurde und weil zweitens erstmals eine tatsächliche Vorsorgepraxis zumindest erprobt werden konnte. Was von der einen Seite als ‚Schwäche‘, ‚Krisensymptom‘ oder ‚Scheitern‘ der Republik gelesen werden kann, stellt sich in einer anderen Betrachtungsweise durchaus als engagiertes Ringen um republikanische Normalität dar und zeugt oftmals sogar von ihrer partiellen Durchsetzung. Das Gleiche gilt auch für den letzten Abschnitt des Bandes, der der schulischen, akademischen und politischen Bildung in der Weimarer Republik gewidmet ist. Jenem Bereich also, der für eine dauerhafte Festigung republikanischer Normalität essentiell ist. Vor allem die Beiträge von Christian Faludi über das Ringen um die Ausrichtung der Universität Jena in den Anfangsjahren der Republik und Florian Heßdörfers Beitrag über den ‚Klassenkampf von oben bei Wilhelm Hartnacke‘ zeigen an, wie weit die Republik in vieler Hinsicht noch von jener Normalität entfernt war, die sie sich gewünscht hätte. Dagegen gab es aber auch Ansätze einer neuen

Die umkämpfte „Veralltäglichung“ republikanischer Herrschaft

XVII

Art akademischer Mobilität mit einem neuen, streckenweise internationalistischen Selbstverständnis (Rebecca Schröder). Vor allem aber gingen die politischen Parteien der Weimarer Republik – allen voran natürlich die republikanischen – zu einer politischen Schulungsarbeit ihrer Anhänger und Funktionäre über, die die Aktivitäten der Parteien in der Bundesrepublik sogar teilweise noch übersteigt (Ronny Noak). Auch hier entwickelte sich eine neue republikanische Praxis, die das Kaiserreich nicht (oder kaum) kannte und die die Parteien durch institutionelles Lernen mehr und mehr fit für eine moderne parlamentarische Massendemokratie machten. Überall – auf institutioneller wie individueller Ebene; in Politik, Gesellschaft und Bildung – fanden sich Ansätze und Kristallisationspunkte für die Herausbildung einer republikanischen Alltagspraxis. Sie fiel 1919 nicht vom Himmel, und die Begleitumstände der Entstehung der Republik und die fortdauernden schwierigen Rahmenbedingungen ließen sie nicht schnell und friedlich gedeihen. Aber sie waren da und sie waren wirksam. Die Beiträge dieses Bandes sind nicht unter der gemeinsamen Fragestellung über die Bedingungen der Veralltäglichung republikanischer Herrschaft zustande gekommen. Aber es ist sicherlich auch nicht zufällig, dass die hier vereinten aktuellen Forschungsarbeiten sich ohne große Verbiegung unter dem Weberschen Wort der Veralltäglichung verbinden lassen. Die Beiträge dokumentieren einen Workshop für den wissenschaftlichen Nachwuchs, der im Sommer 2016 unter dem Titel „Politik der Weimarer Republik: Aktuelle Forschungen“ von der Forschungsstelle Weimarer Republik an der Friedrich-Schiller-Universität Jena und dem Weimarer Republik e.V. organisiert wurde. Hinzu kommen die Beiträge von Volker Köhler und Daniel Münzner, die als Träger des Friedrich-Ebert-Preises 2016 dazu eingeladen wurden, Überlegungen aus ihren prämierten Dissertationen in den Band einfließen zu lassen.15 Der breite Titel für die Tagung wurde gewählt, um den aktuellen Stand der Erforschung der Politik der Weimarer Republik zu vergegenwärtigen. Die einzelnen Beiträge dieses Bandes argumentieren daher aus der inhaltlichen wie methodischen Perspektive des jeweiligen Faches und Forschungsprojektes heraus. Bei der Gesamtschau des Programms der Tagung und des Inhalts dieses Bandes stach dann jedoch hervor, dass sich nahezu alle Forschungsprojekte nicht mit den großen Fragen über das Scheitern der Republik oder mit Großthemen, Großpersonen oder Großinstitutionen beschäftigten, sondern eher mit den Funktionslogiken der Politik und Gesellschaft der Weimarer Republik im Kleinen – mit dem Alltag der Republik. Es war kein ruhiger und kein unumstrittener Alltag, aber es war einer, der ‚vor sich ging‘ und versuchte, gegen alle Widerstände alltäglicher zu werden. Diese Beobachtung veranlasste uns zu den hier skizzierten Überlegungen zu einer Veralltäglichung republikanischer Herrschaft, die als konstituierendes Element der Weimarer Transformationsgesellschaft bislang kaum beleuchtet wurde und – so unsere Hoffnung – neue Forschungen in dieser Richtung anzuregen vermag.

  15 Der dritte Preisträger, Marcel Böhles, war schon als Referent bei der Tagung zugegen.

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Andreas Braune & Michael Dreyer

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MÖGLICHKEITEN UND GRENZEN EINER POSTREVOLUTIONÄREN NORMALITÄT: ZUR POLITISCHEN IDEENGESCHICHTE DER REVOLUTION UND REPUBLIK

DEUTSCHLAND 1918/19 Die unerklärte Revolution Martin Platt Das abrupte Ende des Kaiserreiches erschien den Zeitgenossen vielfach unerwartet und unerklärlich. Dass das Deutsche Reich einen als nationalen Verteidigungs- und Überlebenskampf apostrophierten Weltkrieg mit einem einseitigen Waffenstillstandsgesuch verloren gab, ließ sich ebenso wenig in tradierte Vorstellungswelten einpassen wie das lautlose Hinwegsacken des monarchischen Systems in Reich und Ländern. In einer unüberschaubaren Zahl an Erinnerungswerken ist die „verkehrte Welt“ zwischen Kaiserreich und Weimarer Republik von den Zeitgenossen oft erst nachträglich in eine Sinnstruktur eingebettet worden.1 Darin kommt ein von rückschauender Normativität geprägter Rechtfertigungsdruck der Autoren zum Ausdruck, der die historischen Geschehnisse und die Rolle ihrer Protagonisten eher verklärt, anstatt zu ihrer Erklärung beizutragen.2 Streiks, Proteste und Insubordinationen gehörten – nicht nur in Deutschland – zu gängigen Erscheinungen des Ersten Weltkrieges. Selbst immense Ausmaße solcher Gefolgschaftsverweigerungen, wie der Januarstreik 1918 mit reichsweit Millionen Beteiligten, hatten den überkommenen Machtverhältnissen des Kaiserreiches jedoch wenig anhaben können. In Kooperation mit den Führern der Mehrheitssozialdemokratie (MSPD) war es den Ordnungskräften stattdessen stets gelungen, den öffentlichen Verweigerungshaltungen die politische Spitze zu nehmen. Als meuternde Matrosenverbände Anfang November 1918 die Kontrolle über die Gouverneursstadt Kiel gewannen, wurden diese Ereignisse im Berliner Kriegskabinett zwar als beunruhigend registriert. Besondere Maßnahmen, die vom Umgang mit bisher bekannten Protestformen abwichen, wurden jedoch nicht getroffen.3   1

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Als „verkehrte Welt“ beschreibt Martin H. Geyer auf instruktive Weise den Zerfall traditioneller kultureller Wertbindungen in der Weimarer Republik. Revolution, Inflation und kulturelle Innovation setzten derart neue Orientierungen, dass die bekannte Welt in Schieflage zu geraten und „verkehrt“ zu sein schien, vgl. Geyer (1998): Verkehrte Welt. Stellvertretend für die zahlreichen Erinnerungswerke: Scheidemann (1928): Memoiren eines Sozialdemokraten; Groener (1972): Lebenserinnerungen. Neben den das eigene Handeln verklärenden Erinnerungen Scheidemanns gilt dies v. a. für die Memoiren Max von Badens, vgl. Baden (1927): Erinnerungen und Dokumente. Zur Kritik daran vgl. Machtan (2013): Autobiografie. In den Sitzungen des Berliner Kriegskabinetts, dem seit der Kabinettsumbildung im Zuge der Oktoberreform auch Philip Scheidemann und Matthias Erzberger angehörten, spielten die Kie-

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Auch der Chefredakteur des liberalen „Berliner Tageblatts“, Theodor Wolff, beschrieb den Kieler Matrosenaufstand am 7. November 1918 zunächst nur als „örtliche Vorgänge“.4 Am folgenden Tag sah er sie indes bereits zu „einer ungeheuer ernsten Bewegung“ ausgeweitet, die gleichwohl „fast ausschließlich eine Militärbewegung“ geblieben sei.5 Trotz des bedrohlichen Tones seiner Schilderungen vermied er es, den Ereignissen einen terminologisch exzeptionellen Charakter zu verleihen. Der Vagheit und Richtungslosigkeit der amorphen „Aufstandsbewegung“6 setzte er erst und erstmals am 10. November explizit die Bezeichnung „Revolution“ entgegen.7 Er konstatierte, die zurückliegenden Ereignisse hätten das kaiserliche Regime in unerwarteter und historisch unvergleichlicher Weise wie ein „plötzlich losbrechender Sturmwind […] mit allem, was unten und oben dazugehörte“ hinweggefegt.8 Mit der Abdankung des Kaisers und der Übertragung der Reichskanzlerschaft auf Friedrich Ebert hatte die von Kiel sich ausbreitende „Bewegung“ offenbar eine Qualität erhalten, die, um erklärt werden zu können, nun zu besonderen Begriffen nötigte. Dabei galt Wolff das Ende des Kaiserreiches nicht nur als „Revolution“, sondern sogar als „größte aller Revolutionen“ – eine „Revolution“ freilich, die in seiner Zeitung zuvor noch nie als solche bezeichnet worden war.9 1. DAS UNERKLÄRLICHE – „DIE GRÖSSTE ALLER REVOLUTIONEN“ Durch den Revolutionsbegriff ließen sich die Ereignisse der vergangenen Tage, die bis dahin in ihrer Bedeutung im Diffusen geblieben waren, interpretatorisch strukturieren. Mit der Abdankung des Kaisers und der Bildung des Rates der Volksbeauftragten konnte der richtungslosen „Bewegung“ nachträglich ein konkretes Ziel

 

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ler Geschehnisse selten eine prominente Rolle. Stattdessen gingen die Ratsmitglieder noch wenige Tage, bevor die Aufstandsbewegung nach Berlin übergriff, davon aus, dass sie lokal eingegrenzt werden könne, vgl. Kabinettsprotokolle BA R43 4613. Die Entsendung Gustav Noskes (MSPD) und dessen Ernennung zum Kieler Gouverneur folgte der erprobten Strategie, Unmutsbekundungen durch Einsatz populärer Sozialdemokraten lokal zu kanalisieren. Berliner Tageblatt Nr. 570, Abendausgabe vom 07. November 1918. Ebd., Nr. 572, Abendausgabe vom 08. November 1918. Ebd., Nr. 575, Abendausgabe vom 09. November 1918. Ebd., Nr. 576, Morgenausgabe vom 10. November 1918. Ebd. Ebd. Wenn Wolff am 10. November im Titel seines Leitartikels den „Sieg der Revolution“ konstatierte, so bezog sich dies in erster Linie auf den Akt der Abdankung. „Revolution“ reflektiert hier ein enges politisch-institutionelles Verständnis, das die politische Exzeptionalität des Herrschaftswechsels beschreibt, nicht die Besonderheit des empirisch Beobachtbaren, wiewohl er nun auch für die Schilderung der Straßenszenen die Analogie zu anderen Revolutionen bemühte, die in den Tagen zuvor keine explizite Rolle gespielt hatte.

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attestiert werden, das nun erreicht worden war. „Revolution“ übersetzte das Beobachtete in einen gemeinverständlichen Zeichencode, durch den das zuvor Unerklärliche nun gleichsam „logisch“ wurde.10 Der Revolutionsbegriff diente indes nicht nur dazu, die vermeintliche Logik der zurückliegenden Ereignisse zu entschlüsseln, sondern er ermöglichte es auch, zukünftige Ereignisse vorzudeuten. Auch wenn ihn der Blick auf die Straßen an die Französische Revolution erinnerte, vermittelte er seine inhaltlichen Forderungen in dezidierter Analogie zur Englischen Revolution von 1688: im Verbund mit kooperationswilligen Bürgerlichen müsse die „revolutionäre“ Übergangsregierung auf die rasche Einberufung einer Nationalversammlung drängen; waghalsige wirtschaftliche Experimente seien dagegen gefahrvoll und müssten vermieden werden, ebenso Vergeltungsmaßnahmen gegen Symbole und Personen des untergegangenen Kaiserreiches; nur ein organisch-demokratisches Staatsgebilde werde eine Zukunft haben.11 Analogien zur Russischen Revolution – dem in dieser Zeit omnipräsenten Beispiel einer Revolution – versagte sich Wolff jedoch. Den aus ihr abgeleiteten Parolen einer Diktatur des Proletariats und den vermeintlichen Begleiterscheinungen des Terrors einer Minderheitengruppe und wirtschaftlichen Chaos‘ sprach er nicht nur grundsätzlich die politische Legitimation ab, sondern auch die Legitimation als Revolution.12 Wolffs Revolutionsbegriff erschöpft sich damit nicht in der Feststellung, dass das Kaiserreich untergegangen sei, sondern knüpft an ihn eindeutige Zukunftserwartungen. Bleiben diese Erwartungen jedoch uneingelöst, verliert sein Revolutionsbegriff an Plausibilität. Dieser Befund ist stellvertretend für zeitgenössische Begriffe einer „deutschen Revolution“. Im Kollektivsingular „Revolution“ ließen sich divergierende, nicht selten widersprüchliche Zukunftsforderungen artikulieren.13 Für den Revolutionsbegriff entscheidend war zunächst die unwidersprochene Auffassung, dass weitreichenden Zukunftsentwürfen durch die Abdankung des Kaisers und die Abschaffung des monarchischen Systems das gedankliche und politische Hindernis genommen   10 Waren ihm die öffentlich protestierenden Menschenmengen als Teil einer in Ziel und Ursprung unerklärlichen „Bewegung“ bis dahin schwer einordbar, glich die Szenerie auf den Berliner Straßen Theodor Wolff am 10. November 1918 „den Zeichnungen der alten französischen Revolutionsmaler“, ebd. Sie wurden damit logisch und in ihrer historischen Bedeutung buchstäblich konsequent. 11 Vgl. ebd. Die sogenannte Glorious Revolution scheint Wolff dabei wohl als dezidiert liberale und in erster Linie politische Revolution vor Augen gestanden zu haben, in der es v. a. um Organe und die Verfassung des Staates ging, nicht jedoch um soziale Forderungen. Zur Kritik an der Verflechtung liberal-politischer und sozialer Zielsetzungen im Revolutionsbegriff vgl. auch Arendt, Revolution, S. 73–76 und S. 142. Dem liberalen Drang nach Freiheit habe der Anspruch, die soziale Frage zu lösen, im Weg gestanden, sodass nach der Amerikanischen Revolution alle weiteren Revolutionen in einen zu verurteilenden Terror gemündet seien, mithin für Arendt keine Revolutionen sind. 12 Noch deutlicher als am 10. November wird dies in seinem Titelbeitrag vom 11. November, Berliner Tageblatt Nr. 578, Abendausgabe. 13 Vgl. dazu über das konkrete Beispiel 1918/19 hinaus grundsätzlich für den Revolutionsbegriff Koselleck (2006): Revolution als Begriff, S. 244f.  

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war. Zeitgenössische Revolutionsbegriffe verbinden in der Regel zwei Zeitdimensionen: retrospektiv wird das Ende des Kaiserreiches konstatiert, prospektiv wird das entstandene Machtvakuum gefüllt. „Revolution“ ist damit zeitgenössisch nie in erster Linie ein Erklärungsbegriff, der sich an historischen Befunden orientiert, sondern stets auch ein Anspruch, der an die Zukunft gerichtet wird.14 Wie das von Kaiser und Landesfürsten hinterlassene Vakuum zu füllen war – darüber konnte zwischen den divergierenden Revolutionsbegriffen solange keine Einigkeit erzielt werden, wie entsprechende Forderungen auf die Zukunft ausgerichtet waren und damit im „Erwartungshorizont“ möglich blieben.15 Dass indes nicht alle divergierenden und über den Revolutionsbegriff transportierten Forderungen realisiert werden konnten, liegt auf der Hand. Wo solche Forderungen unerfüllt blieben, verlor der Revolutionsbegriff an Plausibilität: die Differenz zwischen Vordeutung und mangelhafter Realisierung wurde erkennbar. Wenn in der Historiografie auf die vermeintliche Eindeutigkeit zeitgenössischer Revolutionsbe-

  14 Diese normativ-emphatischen Signaturen machen auch den Revolutionsbegriff an sich aus, vgl. Koselleck (2006): Revolution als Begriff, S. 245–250. Auf dieser Grundlage ist behauptet worden, Revolutionsforschung könne, als Ableitung eines derart verfassten Revolutionsbegriffes, gar nicht unpolitisch sein, vgl. Kluge (1985): Die deutsche Revolution, S. 11. 15 Reinhart Koselleck hat mit den Begriffen „Erfahrungsraum“ und „Erwartungshorizont“ beschrieben, dass gegenüber statisch-zirkularen Zukunftsvorstellungen in der Neuzeit auch Zukunftsentwürfe artikulierbar waren, die nicht durch tradiertes Erfahrungswissen gedeckt sein mussten. So seien christliche Jenseitsvorstellungen zunehmend in den Bereich politischer Herstellbarkeit gerückt worden. Die Moderne wiederum sei schließlich dadurch gekennzeichnet, dass der „Erfahrungsraum“ und der „Erwartungshorizont“ – also das als realisierbar Geforderte und das als realisiert Bekannte – signifikant auseinanderklaffen können, vgl. Koselleck (2015 [1975]): „Erfahrungsraum“, v. a. S. 355–359. Der Revolutionsbegriff ist für diese Überlegungen ein elementarer Bezugspunkt. Dass sich Erfahrung und Erwartung 1918/19 in besonders zugespitzter Weise gegenüberstanden, gehört zu einer wesentlichen Zeiterfahrung, die Ernst Troeltsch mit dem Begriff „Traumland Waffenstillstandsperiode“ belegt hat. Statt einer geistigen und materiellen Anerkennung der durch das einseitige Waffenstillstandsersuchen offenkundigen Kriegsniederlage ist die Zeit zwischen Waffenstillstandsgesuch und Versailler Vertrag geprägt von markant positiven Zukunftshoffnungen, sowohl in Verbindung mit sozialistischen Revolutionserwartungen als auch in Verbindung mit ununterbrochenen konservativen Nachkriegsvorstellungen, vgl. Troeltsch (1966): Spektator-Briefe, S. 69. Der „Erwartungshorizont“ bzw. die Zukunftsvorstellungen weiter Teile der deutschen Bevölkerung von 1918/19 sind im heutigen „Erfahrungsraum“ nurmehr schwer als realistisch vorstellbar: im heutigen Wissen um die Bedingungen des Versailler Friedensvertrages erscheint etwa die unter Konservativen intakte Vorstellung, Deutschland werde seine erworbenen Kolonien behalten können, abwegig und unrealistisch. Auch die Erwartung, das Deutsche Reich könne einen totalen Zusammenbruch erleben und ins Chaos sogenannter „russischer Verhältnisse“ abdriften, erscheint im von der heutigen Perspektive geprägten Erfahrungsraum nicht realistisch. Die schon zeitgenössisch populären Erwartungen an die Sozialisierung von Industriebetrieben sind aus der rückschauenden Erfahrung heraus jedoch nicht gleichermaßen gestutzt worden, sondern gelten nach wie vor als „wünschbar und mögliche Eingriffe“, vgl. Winkler (1979), Sozialdemokratie und Revolution, S. 21.  

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griffe hingewiesen wird, um die Bezeichnung „deutsche Revolution“ zu rechtfertigen, bleibt deren prospektive Dimension unberücksichtigt.16 Die Divergenz zeitgenössisch-prospektiver Forderungen führte notwendigerweise zu dem Ergebnis, dass die „deutsche Revolution“ vielfach enttäuschte, weil sie nach der Abdankung des Kaisers nicht den Verlauf nahm, der zuvor möglich schien und nun eingefordert wurde.17 Theodor Wolffs Hoffnung, die „deutsche Revolution“ werde sich nach seinen Vorstellungen entwickeln, hatte sich – für zeitgenössische Revolutionsbegriffe emblematisch – schon nach wenigen Tagen zerschlagen.18 Der Revolutionsbegriff taucht im „Berliner Tageblatt“ nach dem 11. November 1918 bezeichnenderweise nicht mehr prominent auf. Rückblickend bestritt Wolff den seinerzeit euphorisch als Revolution gedeuteten Ereignissen sogar jedes ursprüngliche Pathos.19 Mit Wolffs Revolutionsbegriff bleiben die Ereignisse seit der Abdankung des Kaisers unerklärlich. Er betont stattdessen die Diskrepanz zwischen der historischen Faktizität und ihrer normativen Vordeutung: er richtet sich an einer Revolution aus, die es in dieser Form gar nicht gegeben hat. Die „deutsche Revolution“ ist paradox genannt worden.20 Dabei sind nicht eigentlich die historischen Ereignisse paradox, sondern vielmehr die Erklärungsangebote, über die sie interpretatorisch strukturiert werden. Die Enttäuschung über ihre Ereignisgeschichte prägt bis heute die meisten Darstellungen zur „deutschen Revolution“, der Zweifel an der Plausibilität der Bezeichnung „Revolution“ dagegen nicht.21 2. DIE ENTTÄUSCHUNG – „HUN REVOLUTION FARCE“22 Schon unter den Zeitgenossen war der Revolutionsbegriff nicht nur inhaltlich uneindeutig, sondern auch umstritten. Er war keineswegs zwangsläufig, sondern

  16 Vgl. Kluge (1985): Die deutsche Revolution, S. 12. 17 Vgl. Fischer (2006): A very german revolution, S. 15. Schon das zeitgenössische Selbstverständnis der Weimarer Republik habe sich nicht auf die „Revolution“ gegründet, sondern auf deren Überwindung, vgl. Rürup (1993): Revolution von 1918/19, S. 27. 18 Bereits am 11. November, dem Tag nach seiner Hoffnung auf eine bürgerliche Regierungsbeteiligung, kritisierte er, dass die „Revolutionsregierung“ rein sozialistisch formiert worden sei, vgl. Berliner Tageblatt Nr. 578, Abendausgabe vom 11. November 1918. 19 1936 schrieb Wolff: „Bei Berührung mit diesem Ereignis verflüchtigt sich aus der Sprache des Chronisten gewissermaßen jedes Atom einer pathetischen Substanz.“ Siehe Ullrich (2009): Die Revolution von, S. 7. 20 Vgl. Wirsching (2008): Die paradoxe Revolution. 21 Vgl. Gallus (2010): Die vergessene Revolution, S.36. Substantielle Kritik am Revolutionsbegriff äußerte zuletzt lediglich bei Pohl (1991): Obrigkeitsstaat und Demokratie, S. 52. 22 „Daily Mirror”, 23. November 1918, BA R903 55733 Bl. 57.  

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stellte lediglich eine, wenn auch die prominenteste, Alternative dar.23 Zeitgenössische Kritik am Revolutionsbegriff lässt sich in besonderem Maße nachzeichnen, wenn man den Blick über Deutschland hinausreichen lässt, wo der Übergang von Kaiserreich auf Weimarer Republik bis heute nur selten als „Revolution“ anerkannt wird.24 In ihrem Pressespiegel skandinavischer Zeitungen schrieb die Norddeutsche Allgemeine Zeitung am 15. November 1918, man sei dort allenthalben überrascht, welchen Verlauf die deutsche Revolution nehme. Gegen die Erwartung, „dass sich die Ereignisse mit der Gewalt eines Naturvorganges zu äußerstem Wirrwarr überstürzen würden“, hätten „die Meldungen einer wesentlich unblutigen Umwälzung ohne bedeutende Störungen der öffentlichen Ordnung und des inneren Staatsgefüges“ Staunen erweckt.25 Die „deutsche Revolution“ entsprach der Vorstellung von einer Revolution also offenbar nur eingeschränkt. Die Abweichung der deutschen Geschehnisse vom offenbar als „Revolution“ Erwarteten führten in der alliierten Presse vielfach zu einer Zurückweisung des Revolutionsbegriffes:26 Gegen die in der britischen Westminster Gazette schon am 07. November geäußerte Ansicht, eine „orderly revolution“ in Deutschland, die von Disziplin und Ordnungssinn als klassisch deutsche Tugenden gekennzeichnet sei, sei eigentlich das Beste, was Europa passieren könne27, erhoben sich mehrheitlich gegenteilige Ansichten. „The so-called German revolution“, schrieb bspw. die Daily Mail am 23. November 1918, sei lediglich eine von ranghohen Militärs durchgeführte Inszenierung. Während sich an den staatlichen und Machtstrukturen

  23 Kurt Eisner und Phlipp Scheidemann kamen als Protagonisten der „deutschen Revolution“ in ihren öffentlichkeitswirksamen Republik-Proklamationen jeweils und voneinander unabhängig bspw. ganz ohne den Revolutionsbegriff aus, vgl. Ritter, Miller (1968): Die deutsche Revolution, S. 61f., S. 77f. 24 In der – wenn auch in erster sozial-, d.h. politikwissenschaftlich geprägten – vergleichenden Revolutionsforschung taucht die „deutsche Revolution“ auch dann nicht als Case auf, wenn man sich über die grundsätzlich geringe Fallzahl beklagt. Theda Skocpol betont sogar explizit, dass sich die „deutsche Revolution“ nicht als Fall eigne, da sie nicht hinreichend als solcher definiert werden könne, vgl. Skocpol (1979): States, S. 105–108, S. 145ff. In der sehr großzügigen Definition von „Revolution“ in Jack Goldstones Encyclopedia of Political Revolutions wird der „deutschen Revolution“ immerhin ein Artikel gewidmet. Sie lasse sich jedoch, mit keiner allgemeinen sozialwissenschaftlichen Theorie fassen, weil sie, in Reminiszenz auf Walter Rathenau, lediglich eine „inadvertent revolution“ sei – eine „Revolution aus Versehen“, vgl. Hamilton (1998): German Revolution, S. 200. 25 Norddeutsche Allgemeine Zeitung, 15. November 1918. „Ohne Jahrhunderte alte militärische Disziplin“, pointierte die dänische Zeitung Finandstide am 30. November 1918, hätte sich „eine solche Umwälzung nicht in Reih und Glied, taktfest und mit Manneszucht vornehmen“ lassen. 26 Zumindest suggerieren das die breiten Presseauswertungen des Auswärtigen Amtes, auf die hier auzugsweise zugegriffen wird. 27 BA R901/55735, Bl. 21.  

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nichts ändere, ließen die Militärs „Hans and his kind play at being revolutionaries“.28 Auch italienische und französische Zeitungen sprachen von einer lediglich inszenierten, komödienhaften „Revolution“, die in kalter Berechnung befehlsmäßig durchgeführt werde, um die deutschen Friedensbedingungen zu verbessern.29 Die Diskrepanz der deutschen Ereignisse zur Vorstellung von Revolution konnte darin münden, den Revolutionsbegriff selbst abzulehnen. Sie konnte jedoch auch dazu führen, dass sie als national bedingte Abweichung begriffen wurde. Die nationalen Spezifika der „deutschen Revolution“ ließen sich dabei gezielt gegen die Spezifika der Russischen Revolution einsetzen, die für die zeitgenössische Auseinandersetzung mit dem Revolutionsbegriff anders als heutzutage omnipräsent gewesen ist. „Deutsch“ geriet so über seine geografische Bedeutung hinaus zum normativ intonierten Statement gegenüber der Russischen Revolution. Die Mehrheitssozialdemokraten bemühten sich in Fortsetzung ihrer seit dem Revisionismusstreit geltenden politischen Rhetorik gerade darum, Analogien zur Russischen Revolution und den von ihr geprägten Attributen zu vermeiden: Chaos, Terror und Diktatur, wie sie der Russischen attestiert wurden, sollten gerade keine Kennzeichen der „deutschen Revolution“ sein. „Deutsch“ bedeutete hier in erster Linie „nicht-russisch“, sodass die Konvergenz beider im Rahmen eines verbindenden Revolutionsbegriffes von mehrheitssozialdemokratischer Seite bewusst unterbunden wurde. Umgekehrt zielte die konservativ-nationalistische Presse darauf, gerade die Parallelen zwischen „deutscher“ und Russischer Revolution nachzuweisen. Indem die im Attribut „russisch“, hier v. a. „bolschewistisch“, gebundenen, durchweg negativ besetzten Charakteristika auch in Deutschland aufgezeigt wurden, ließ sich die „deutsche Revolution“ entscheidend delegitimieren, ohne dabei den Revolutionsbegriff selbst in den Fokus zu nehmen.30 Die Diskrepanz zwischen der abstrakten Vorstellung einer Revolution und der konkreten „deutschen Revolution“ prägt auch die Historiografie. Auch hier wird sie nicht über den Revolutionsbegriff selbst diskutiert, sondern über die ihm beigestellten Attribute. Kaum eine Darstellung zur „deutschen Revolution“ kommt ohne ein sie als Revolution disqualifizierendes Attribut aus. Allenthalben negative Epitheta wie „gescheitert“, „steckengeblieben“, „verraten“31 usw. bringen die Enttäuschung darüber zum Ausdruck, „that post-First World War Germany did not get the revolution that historians would have preferred“.32 So wenig die „deutsche Revolution“   28 BA R901/55734, Bl. 3. 29 So die Gazetta del Popolo vom 18. November 1918, BA R901/55733, Bl. 11, und die Depêche de Rouen vom 22. November 1918, BA R901/55734, Bl. 9. 30 In der konservativen deutschen Presse wurde hingegen konsequent der „russische Charakter“ der Ereignisse beschworen, der sich im Zerrbild „Bolschewismus“ normativ perhorreszieren ließ. Vgl. dazu Wirsching (2007): Antibolschewismus als Lernprozess, S. 147–152. Grundsätzlich auch Lösche (1967): Bolschewismus. 31 „Gescheitert“ bei Kluge (1975): Soldatenräte und Revolution, S. 352; „steckengeblieben“ bei Kolb (1979): steckengebliebene Revolution; „verraten“ bei Haffner (1969): Verratene Revolution. 32 Siehe Fischer (2006): A very german revolution, S. 15.

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den divergierenden zeitgenössischen Vorstellungen einer Revolution gerecht werden konnte, so wenig entspricht sie den gängigen Vorstellungen der meisten Historiker. Das aus der prospektiven Dimension resultierende Plausibilitätsdefizit zeitgenössischer Revolutionsbegriffe wird dadurch nicht aufgelöst, sondern unter Preisgabe konsequenter geschichtswissenschaftlicher Retrospektive rückblickend verlängert. 3. „WÜNSCHBAR UND MÖGLICH“ – REVOLUTION IM KONTRAFAKT Die „deutsche Revolution“ ist im Urteil vieler Historiker weder konkret noch abstrakt gesehen revolutionär genug gewesen. Sie sei keine „große Revolution“ nach Art etwa der Französischen oder Russischen Revolution gewesen.33 Sie sei aber auch für sich genommen eine paradoxe „Revolution ohne Revolutionäre“ gewesen, mithin eine makelhafte Revolution.34 Was den Ereignissen im Übergang zwischen Kaiserreich und Weimarer Republik zu einer „richtigen“ Revolution fehlt, ist in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung Kanon: „Die Sozialdemokraten hätten bei stärkerem politischem Gestaltungswillen mehr verändern können und weniger bewahren müssen.“35 Konkret hätte es nach Heinrich August Winkler der umfassenden Sozialisierung sogenannter Schlüsselindustrien v. a. im Bergbau, einem durchgreifenden Revirement in Militär, Bürokratie und Justiz sowie einer Bodenreform ostelbischen Grundbesitzes bedurft.36 Sämtliche dieser Forderungen lassen sich über die prospektive Dimension zeitgenössischer Revolutionsbegriffe belegen, sind also schon historisch artikuliert, jedoch niemals eingelöst worden. Dass sie nicht eingelöst wurden, wird über das persönliche Scheitern ihrer Protagonisten erklärt. Indem diese keinen ausreichenden Willen zur Gestaltung zeigten, konnten sie die Gestaltungsziele auch nicht verwirklichen. Derart auf personelle Aspekte fokussiert, bleibt das strukturelle Plausibilitätsdefizit des Revolutionsbegriffes unberücksichtigt. Seine Plausibilität wird nicht über die historische Faktizität, sondern über das „hätte sein können“ begründet – die „deutsche Revolution“ hätte eine richtige Revolution sein können.37 Derart kontrafaktische Positionen prägen die Forschungsdebatte um die „deutsche Revolution“ seit Jahrzehnten. Oft genug ist den Gedankenspielen um eine   33 Winkler (1990): Revolution von 1918/19, S. 312. 34 Siehe Roß (1998): Revolution ohne Revolutionäre, vgl. Fischer (2006): A very german revolution, S. 6. 35 Winkler (1990): Revolution von 1918/19, S. 305. 36 Vgl. ebd., S. 306. 37 Auch Alexander Gallus hat festgestellt, dass die wissenschaftliche Beschäftigung mit der „deutschen Revolution“ nurmehr selten an die historischen Quellen gebunden sei, vgl. Gallus (2010): Die vergessene Revolution, S. 35. Die neuesten Arbeiten stellen den unmittelbaren Quellenbezug indes unter Ausweitung der Materialbasis wieder her, ohne jedoch gleichzeitig auch zu signifikant neuen Erkenntnissen oder Positionen zu kommen, so bei Aulke (2015): Räume der Revolution und Stalmann (2016): Wiederentdeckung der Revolution.  

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kontrafaktisch-alternative „deutsche Revolution“ der Vorrang vor der Erklärung der eigentlichen Geschehnisse gegeben worden.38 Historiografisch gesehen ist die „deutsche Revolution“ so in erster Linie eine kontrafaktische Revolution: das kontrafaktisch Mögliche und retrospektiv Erstrebenswerte dient dem Revolutionsbegriff als Plausibilitätsanker, das faktisch Geschehene allein rechtfertigt ihn dagegen nicht hinreichend. Im Fokus auf „wünschbare und mögliche Eingriffe“ in den Verlauf der „deutschen Revolution“ hat sich die Ansicht verfestigt, ihr realer Verlauf müsse unbedingt nicht wünschbar gewesen sein.39 Statt die historischen Geschehnisse über kontrafaktische Fragestellungen zu erhellen, haben diese für die „deutsche Revolution“ mittlerweile dazu geführt, sie zu negieren. Wenn die geringe Aufmerksamkeit, die die „deutsche Revolution“ in der öffentlichen Erinnerungskultur erfährt, beklagt wird, so liegt dies auch daran, dass sich die Historiografie in den vergangenen Jahrzehnten vom eigentlichen Forschungsgegenstand zunehmend entfernt hat.40 Solange eine sachlich fundierte Begründung des Revolutionsbegriffes aussteht – folgerte schon Ulrich Kluge – ist eine wissenschaftlich neutrale Auseinandersetzung mit der „deutschen Revolution“ erschwert.41 Sie bleibt dann politisch und reflektiert v. a. diejenige Revolution, die sich Historiker_innen gewünscht hätten, nicht die Ereignisse selbst. So, wie das Diktum der „steckengebliebenen Revolution“ mittlerweile gegen die Forschung selbst gewendet wird, ist auch das der „paradoxen Revolution“ gegen sie ins Feld zu führen.42 Denn eine Geschichtsschreibung, die axiomatisch die verpassten Chancen und die Versäumnisse betont, wird dem Phänomen „deutsche Revolution“ schwerlich Raum für eine fruchtbare Erinnerungskultur schaffen.43 Sie wird vielmehr Gegenstand negativ konnotierter Erinnerung bleiben, wie schon in der Weimarer Republik.   38 Das gilt v. a. für die besondere Popularität, die die Auseinandersetzung um die „deutsche Revolution“ für sich reklamieren konnte, solange sie eine wünschbare Alternative zum tatsächlichen deutschen Geschichtsverlauf suggerieren konnte, d.h. einen umgekehrten Sonderweg, der noch das jetzige Werk Winklers prägt. Der Kernfrage seines Aufsatzes von 1990 ist er in zunehmend abgeschwächter Form bis in jüngere Publikationen treu geblieben: „Hätte ein anderer Verlauf der Revolution Deutschland den Weg in die Katastrophe der Jahre 1933 bis 1945 erspart?“, Winkler (1990): Revolution von 1918/19, S. 303; vgl. exemplarisch auch Winkler (2002): Der lange Weg, S. 384f. Deutlich moderater schließlich in Winkler (2007): Hitlers Schatten, S. 57f., wo er, möglicherweise auch selbstkritisch, vor den Klagen über den tatsächlichen Verlauf der „deutschen Revolution“ warnt. 39 Winkler (1979): Sozialdemokratie und Revolution, S. 21. 40 Klagen über mangelndes Interesse an der „deutschen Revolution“ schon bei Rürup (1993): Revolution von 1918/19, S. 5f. sowie bei Bramke (2009): Eine ungeliebte Revolution, S. 13. Von einer Wiederentdeckung spricht Stalmann (2016): Wiederentdeckung der Revolution. 41 Vgl. Kluge (1985): Die deutsche Revolution, S. 12. 42 Vgl. Gallus (2010): Einleitung, S. 10f. 43 Erst eine konsequente Historisierung, die v. a. die Vielzahl der Entwicklungswege und Entwicklungserwartungen nachzeichne, öffne, so Alexander Gallus, die Auseinandersetzung um die „deutsche Revolution“ nüchternen Zugängen. Die „quasi-pathologischen“ Selbstbeschrän 

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4. FEHLER, VERSÄUMNISSE, OBLIQUITÄTEN – „A FLAWED REVOLUTION“44 Gegenüber dem in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung vertretenen kontrafaktischen Idealbild der „deutschen Revolution“ erscheinen die tatsächlich unterlassenen „revolutionären“ Eingriffe als Fehler, Defizite und Versäumnisse.45 Sie sind „nicht-revolutionäre“ Obliquitäten. Als derartige Unregelmäßigkeiten trüben sie die Plausibilität des Revolutionsbegriffes: das Nicht-Revolutionäre bleibt über ihn unerklärlich. Eine prominente nicht-revolutionäre Obliquität dieser Art stellt das Verhältnis zwischen Zivilregierung und Militär dar. Das Ausmaß der im „Ebert-GroenerBündnis“ verschlagworteten Kooperation zwischen „revolutionärem“ Rat der Volksbeauftragten und kaiserlich autorisierter Oberster Heeresleitung ist im einschlägigen Urteil der Historiker weit über das Nötige hinausgegangen.46 Eine Kooperation zwischen Militärs als Garantiemacht des Kaiserreiches und der von Sozialdemokraten geführten Zivilregierungen erscheint als abwegig, sogar widersinnig: Auf den Kaiser vereidigte Offiziere hätten sich nicht zu Verhandlungen mit Aufrührern hergeben dürfen.47 Umgekehrt hätten die sozialdemokratischen Regierungsverantwortlichen in Reich und Ländern ihre traditionelle Programmatik nicht dem Zweckbündnis mit einer schon entmachteten antidemokratischen Klientel opfern dürfen.48 Die empirisch tatsächlich festgestellte zivil-militärische Kooperation wirft Fragen und Deutungsprobleme auf, die bis heute offen geblieben sind, weil sie aus der Perspektive eines axiomatisch nicht wünschbaren realen Verlaufes der „deutschen Revolution“ nicht aufzulösen sind. Warum handelten sowohl Offiziere wie auch sozialdemokratisch geführte Regierungen nicht so, wie es in einer Revolution „logisch“ und erklärbar gewesen wäre? Paralyse auf der einen und mangelnder Gestaltungswille auf der anderen Seite erscheinen in der Forschung als Erklärung.49 Jeweils geht es dabei um persönliche Fehlbarkeiten und charakterliche Eigenschaften, um gewissermaßen „weiche“  

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kungen der Forschung hinsichtlich eines Königsweges der deutschen Revolution müssten zugunsten historiografischer Nachzeichnung der offenen Situation aufgegeben werden, wenn die „deutsche Revolution“ als Forschungsgegenstand wieder anschlussfähig werden soll; vgl. Gallus, Reaktualisierung, S. 17f. Siehe Fischer (2006), a very german revolution, S. 6. Diese Wahrnehmung ist konsequent, solange sie mit eindeutigen und indiskutablen Zielvorstellungen verbunden ist, von denen aus Abweichungen als normativ gut oder schlecht bewertet werden können. „Fehler“ setzt jedoch voraus, dass den historisch Handelnden die eigenen Zielvorstellungen als gegeben oktroyiert werden. Dass sie selbst vielleicht ganz andere Ziele hatten, bleibt unberücksichtigt. Vgl. stellvertretend Rürup (1983): Demokratische Revolution, S. 293. Vgl. Schmidt (1981): Heimatheer und Revolution, S. 9, S. 60. Vgl. Kluge (1975): Soldatenräte und Revolution, S. 126ff. und 352ff. Vgl. stellvertretend Winkler (1990): Revolution von 1918/19, S. 305; Rossol (2015): Securing Order, S. 59.

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Faktoren, die die strukturelle Deutungsfolie „Revolution“ unberührt lassen. Stellt man jedoch in Rechnung, dass die Haltung Eberts und Groeners kein Einzelphänomen ist, sondern auch für administrative Autoritäten auf regionaler Basis tatsächlich die Regel darstellt, vermag eine Deutung als unregelmäßige Fehlbarkeit nicht zu überzeugen. Sie muss notwendigerweise in die Aporie münden, die „deutsche Revolution“ sei eine Revolution gewesen, die konkret gar nicht viel Revolutionäres vorzuweisen hat. Rüdiger Bergien und Peter Keller haben in ihren Arbeiten zum Ost-Grenzschutz in der Weimarer Republik und zur Gründung der Reichswehr nachgewiesen, dass zivil-militärische Kooperationsformen jenseits offizieller politischer Programmatik in der Weimarer Republik lagerübergreifend durchaus konsensfähig waren, bzw. sogar einen integrativen Grundkonsens der Weimarer Republik ausmachen.50 Vor dem Hintergrund dieser Arbeiten stellt sich die Frage, ob 1918/19 statt der kooperativen Momente nicht auch vielmehr die revolutionären Momente eigentlich die Unregelmäßigkeit darstellen. In ihrer von Richard Löwenthal auf die griffige Formel vom „Anti-Chaos-Reflex“ gebrachten Fixiertheit auf die Begriffe Ordnung, Sicherheit und Ruhe haben die in Reich und Ländern führenden Mehrheitssozialdemokraten ihrem Handeln nämlich Schlagworte gesetzt, die zum Revolutionsbegriff geradezu gegenläufig sind.51 Sie bildeten einen dezidierten Kontrapunkt zu denjenigen Begriffen, die mit der Russischen Revolution assoziiert wurden. Die Ablehnung einer Russischen Revolution in Deutschland bildete 1918/19 ein lagerübergreifend größeres Konvergenzpotential als der affirmative Bezug auf eine „deutsche Revolution“. In der Forschung zur „deutschen Revolution“ ist dem Aspekt der politischen Orientierung bisher selten die nötige Aufmerksamkeit gewidmet worden. Der Revolutionsbegriff hat das Spektrum politischer Akteure ebenso zugunsten eines vereinfachten Binärsystems aufgelöst wie die frühe These eines klaren „Entweder-Oder“ zwischen parlamentarischer Demokratie und Rätesystem.52 In beiden Deutungsfolien erscheint die politische Positionierung der Akteure vorderhand „logisch“ und eindeutig. In Polarisierungen von alte Eliten/neue Eliten, Revolution/Gegenrevolution und Diktatur/Demokratie werden die Konflikte der den einzelnen Blöcken zugeordneten Akteursgruppen ebenso verwischt wie die lagerübergreifenden Schnittmengen verschiedener Gruppen. Das Regierungsbündnis zwischen MSPD und USPD erscheint im Deutungsparadigma „Revolution“ logisch und braucht nicht hinterfragt zu werden. Die Verhandlungen zwischen den antagonistischen Schwesterparteien zeigen jedoch keine selbstverständliche Bereitschaft

  50 Vgl. Bergien (2012): Die bellizistische Republik, S. 17; Keller (2014): Wehrmacht der Republik, S. 46. 51 Vgl. Koselleck u. a. (1984): Revolution (Grundbegriffe), S. 702. Löwenthal (1981): Vom Ausbleiben. 52 Vgl. Erdmann (1955): Geschichte, S. 6.  

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zu Kooperation und Kompromiss.53 Das Regierungsbündnis war nicht minder ein unter Druck geschlossener ungewollter Kompromiss als das „Ebert-Groener-Bündnis“. Im post-kaiserlichen Machtvakuum war für Friedrich Ebert nicht eindeutig, welche Kooperationen sich angesichts der zahlreichen politischen Herausforderungen als tragfähig erweisen würden.54 Im Aufkommen der Räte als neuer politischer Organisationsformen war zudem keineswegs sicher, dass die etablierten Organisationen wie MSPD und Gewerkschaften sich auf die Gefolgschaft ihrer eigenen Klientel verlassen konnten. Seine Reaktion auf das machtpolitische Vakuum war eine extensive Bündnispolitik. Parallel zum Regierungsbündnis mit der USPD bemühte er sich um die Unterstützung des Berliner Rätekongresses, der Obersten Heeresleitung, der Gewerkschaften, Unternehmerverbände, Soldaten und der Beamten. Man kann diese Bündnispolitik als programmatische Fortsetzung der Burgfriedenspolitik verstehen, aber auch als den kurzfristigen Versuch, die politische Situation zu stabilisieren und in der politischen Dynamik nach der Abdankung der Reichs- und Landesfürsten neue Orientierung zu schaffen. Den Kern der Ebertschen Bündnispolitik bildet der Versuch, eine innenpolitische Polarisierung zu verhindern. Daran war das Gebot geknüpft, selbst auf Handlungen zu verzichten, die eine solche Polarisierung provozieren konnten. Dieser Verzicht ist für den Übergang zwischen Kaiserreich und Weimarer Republik charakteristischer als eine geschlossene Zukunftsvision und der kompromisslose Wille, diese auszugestalten. Das Gebot zum Verzicht ist dabei reziprok: So verzichteten – am Beispiel der zivil-militärischen Kooperation – die Offiziere darauf, den Wunsch des Kaisers umzusetzen, schon dem Anzeichen einer Revolution „die Antwort aufs Pflaster zu diktieren“ und an seiner Seite gegen die „innere Front“ zu marschieren.55 Sie verzichteten auch darauf, ihrer vielfach sicher nicht republikfreundlichen Gesinnung dezidierten praktischen Ausdruck zu verleihen, solange diese Republik nicht hinreichend stabil konstituiert war. Umgekehrt verzichteten die Mehrheitssozialdemokraten auf ein Revirement in der Armee sowie darauf, die militärreformerischen Forderungen von Soldaten und Matrosen – also überwiegend ihrer politischen Klientel – umzusetzen. Durch diese Politik der bündnispolitischen Machtsicherung gewannen alle Bündnispartner Orientierung und Handlungsfähigkeit, während sie gleichzeitig Gestaltungsfreiheit einbüßten.   53 Die Verhandlungen sind gut nachgezeichnet bei Ritter, Miller (1968): Die deutsche Revolution, S. 86–96. 54 Hinsichtlich der Beurteilung von Friedrich Ebert in der deutschen Revolution konkurrieren in der Forschung Darstellungen, die im Sinne einer wünschbaren Revolution dessen fehlenden revolutionären Impetus kritisieren, mit biografisch inspirierten Arbeiten, die Eberts Haltung im Sinne der polito-gesellschaftlichen Stabilisierung würdigen. Gerade die im Umfeld der Reichspräsident-Friedrich-Ebert-Gedenkstätte entstandenen Arbeiten berücksichtigen den im Erfahrungsraum limitierten Handlungskontext in besonderem Maße und kommen darüber zu einer positiven Beurteilung Eberts, vgl. z.B. Mühlhausen, Ebert, S. 117–120. 55 So Kaiser Wilhelm II. im Hauptquartier der OHL in Spa am 03. November 1918, bei Machtan (2008): Die Abdankung, S. 216.  

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Die Basis der USPD drängte hingegen zunehmend darauf, den Kompromisskurs ihrer Volksbeauftragten nicht mehr zu tragen. Im Pochen auf einen größeren Gestaltungswillen isolierte sich die USPD jedoch politisch und büßte mit dem Austritt aus der „Revolutionsregierung“ die Möglichkeit ein, ihrem Gestaltungswillen in der nunmehrigen Oppositionsrolle pragmatischen Ausdruck zu verleihen. Sie kündigte damit den bereits zur „Revolution“ getauften Geschehnissen ihre Anerkennung auf.56 Bei der zivil-militärischen Kooperation handelte es sich um einen einerseits bewussten, andererseits reziproken Kompromiss, durch den das mit der Abdankung entstandene Machtvakuum aufgefangen und die Integrität des sich weiterhin im Krieg befindlichen Heeres gewahrt werden konnte. Die daraus resultierende Kooperation ist keineswegs zu idealisieren. Sie erwies sich jedoch, als tragfähiger als das sozialistische Regierungsbündnis zwischen MSPD und USPD. Die Frage, warum Offiziere und Mehrheitssozialdemokraten in der „deutschen Revolution“ nicht so gehandelt haben, wie es in einer „Revolution“ erwartbar und erklärbar gewesen wäre, lässt sich verhältnismäßig leicht auflösen: weil es eine solche Revolution nicht gegeben hat. Dass es sie wiederum nicht gegeben hat, ist kein Versäumnis, sondern Kern des Gründungskompromisses der Weimarer Republik. Die „deutsche Revolution“ selbst stellt einen Kompromiss dar, der in seiner realen Form von den ihn tragenden Akteuren sicher nicht als wünschbar betrachtet worden ist. Er ist darum dennoch nicht ungewollt gewesen, auch wenn er konsequenterweise überall dort auf Kritik stößt, wo er Konzessionen an historische und kontrafaktische Zukunftsvisionen verlangt, in denen die Desillusionierungen einer Nachkriegsgesellschaft noch kaum berücksichtigt sind. 5. DIE UNERKLÄRTE REVOLUTION Die Kritik an den kooperativen Momenten der „deutschen Revolution“ bringt die Enttäuschung darüber zum Ausdruck, mit den eigenen Zukunftsvorstellungen Kompromisse machen zu müssen.57 Diese Kritik ist in der Überzeugung eines   56 Den Austritt der USPD aus der Regierungskoalition und die erheblichen Gewalthandlungen in der zweiten Phase der „deutschen Revolution“ sieht Reinhard Rürup stellvertretend für die Forschung als Reaktion auf die Enttäuschung mit dem Verlauf der „Revolution“, vgl. Rürup (1983): Demokratische Revolution, S. 288f. In dieser Enttäuschung liegt die konsequente Erkenntnis, dass die Geschehnisse mit dem eigenen Revolutionsbegriff nicht zu vereinbaren sind und dessen Programmatik nicht zugunsten einer pragmatischen Koalition geopfert werden soll. 57 Mit der „deutschen Revolution“ habe sich schon zeitgenössisch keine politische Richtung gänzlich identifizieren können, vgl. Gallus (2006): Deutsche Revolution 1918, S. 133. Diese fehlende Identifikation wird dabei auf die „Revolution“ als gleichsam substantiale Erscheinung zurückgespielt, nicht auf die Kompromissfähigkeit der politischen Richtungen und ihrer Zukunftsvorstellungen, bspw. Vorstellungen von „Revolution“. In eine andere Richtung geht Michael Epkenhans, der bei vielen militärischen Führern ein Verharren auf Illusion und Träumen  

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wünschbar anderen Verlaufes der „deutschen Revolution“ und in den Epitheta der „gescheiterten“ und „unvollkommenen“ Revolution apodiktisch in ihre Erforschung und Erinnerung eingeschrieben worden. Sie bildet nicht mehr das Ergebnis, sondern mittlerweile die axiomatische Basis der Forschung, basiert jedoch auf einer Revolution, die es nicht gegeben hat. Die Bemühungen um Deeskalation, Entpolarisierung, Kompromiss und Kooperation, die Kennzeichen des Überganges zwischen Kaiserreich und Weimarer Republik sind, sind keine revolutionären Obliquitäten. Sie sind intendiert gewesen. Löst man den Blick vom engen Fokus auf 1918/19, sind die unterschiedlichen Kooperationsphänomene – mit Blick auf „Burgfrieden“, Interfraktionellen Ausschuss, Weimarer Koalition und Reichsexekutionen – durchaus „logisch“ und erklärbar. Diesen Phänomenen Rechnung zu tragen, hieße, ihnen eigene analytische Qualität beizumessen und sie vom Stigma der Fehlerhaftigkeit zu lösen. Das bedeutet in erster Linie, dass ein Deutungsparadigma zu konstituieren ist, in das sie integrierbar sind. Dazu müsste der Revolutionsbegriff entweder so modifiziert werden, dass er in die Bezeichnung „deutsche Revolution“ nicht mehr vorderhand historisch unerfüllte Vorstellungen einschließt, sondern anerkennt, dass sie selbst Ergebnis eines Kompromisses divergierender Vorstellungen von „Revolution“ ist.58 Oder der Revolutionsbegriff müsste als unplausible Analysekategorie konsequenterweise aufgegeben werden. Ansonsten bleibt die „deutsche Revolution“ ein „Traumland“ à la Troeltsch, das analytisch kaum zu vermessen ist. Sie bliebe darin unerklärt. QUELLEN Berliner Tageblatt Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde: BA R901, BA R903, BA R43 Norddeutsche Allgemeine Zeitung Ritter, Gerhard A. / Miller, Susanne: Die deutsche Revolution 1918 1919. Dokumente. Frankfurt am Main 1968.

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  beklagt, mithin eine völlige Abkehr vom Politischen selbst, d.h. einem handlungsorientierten Pragmatismus, vgl. Epkenhans (1999): Politik, S. 217 u. 228f. Die Enttäuschung über die „Revolution“ wäre danach nicht den Ereignissen, sondern den mentalen Dispositionen der Zeitgenossen anzulasten. 58 Alexander Gallus hat mit seinem Aufruf zur Historisierung der „deutschen Revolution“ jüngst den entsprechenden Impuls gesetzt, vgl. Gallus (2016): Reaktualisierung.

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ARNOLD METZGER UND DIE PHÄNOMENOLOGIE DER DEUTSCHEN REVOLUTION 1918/19 Albert Dikovich 1. EINLEITUNG: PHILOSOPHIE IN DEN MITTELEUROPÄISCHEN REVOLUTIONEN 1918/19 ‚Revolution‘, wie sie im Herbst 1918 in Mitteleuropa ausgerufen wurde, prägte als eine Grundkategorie das politische Denken und die politische Kultur nach 1918 nachhaltig. Nicht nur kursierte sie in unterschiedlichen politischen Deutungscodes und firmierten neu entstehende antiliberale und antidemokratische Bewegungen unter dem Titel der ‚Revolution‘ (konservative Revolution, völkische Revolution, revolutionärer Nationalismus), der Umbruch von 1918 prägte auch grundlegend eine zum Utopismus neigende Erwartungshaltung gegenüber dem Politischen, neue Ideale politischer Repräsentation oder die diskursive Konstruktion politischer Subjektivität. So korrelierte, wie Rüdiger Graf1 gezeigt hat, mit dem verbreiteten Deutungsmuster der Krise die Option der Revolution als Verheißung auf Rettung aus eben dieser Notsituation sozialer, materieller und geistiger Natur. Der Ausgang aus der Krise verlangte das Auftreten des politisch Außergewöhnlichen, des visionären „charismatischen“ Führers oder der „entschlossenen“ Avantgarde als überlegenen Formen der politischen Repräsentation. Von dieser wurde mehr verlangt als – im klassisch liberalen Verständnis – die Vertretung verbindender gesellschaftlich vorliegender Interessen; denn revolutionäre Politik fordert Virtuosität, eine energetisierende Ausstrahlung, heroische Willenskraft. Als heilsgeschichtliche Versprechung stellte die Revolution einen „Ausweg aus der entzauberten Welt“2 dar, wie Norbert Bolz es formulierte, und wurde für den radikalen, rückhaltlos opferbereiten Aktivisten Glaubensgegenstand und Quelle existentiellen Sinns. ‚Revolution‘ fungierte für die politische Linke wie auch die Rechte als Inbegriff einer radikal an Idealen orientierten, auf das soziale und kulturelle Ganze gehenden, nicht weniger als die Erneuerung des Menschen anstrebenden Politik. Von der Faszination der Revolution blieb natürlich auch die Philosophie nicht unberührt. Die Selbstverpflichtung gegenüber der geforderten umfassenden gesellschaftlichen Transformation schien ihr dabei auch ein Weg zu sein, um sich ihrer eigenen wissenschaftshistorischen Krise zu entwinden. Bereits der Erste Weltkrieg hatte der im Zuge der Spezialisierung des Wissens im Laufe des 19. Jahrhunderts   1 2

Vgl. Graf (2008): Zukunft der Weimarer Republik. Bolz (1989): Auszug.

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und des allmählichen Bedeutungsverlusts des klassischen bürgerlichen Bildungsideals an den Rand gedrängten Philosophie mit Hilfe der Vorstellung, sich als Teil der „geistigen Kriegsführung“ erneut als ein „Bildungswissen“ (Scheler) von gesellschaftsprägender Kraft einschalten zu können, zu neuem Selbstbewusstsein verholfen.3 Die Funktionsbestimmung, die Philosophie im Zusammenhang der politischen Entwicklungen in der revolutionären Umbruchsphase erhielt, umreißt die von Kurt Hiller in der bereits 1916 erschienenen Philosophie des Ziels ausgegebene Losung von der „Revolutionierung der Köpfe“, die „jedem dinglichen Umsturz vorangehen“ müsse.4 Um radikal zu sein, schien die Revolution der Philosophie zu bedürfen. Verbreitet war das Verständnis der Revolution als einem plötzlich und spontan eintretenden „Naturereignisses“, das es retrospektiv in seiner wesenhaften geschichtsphilosophischen Bedeutung erst zu begreifen galt. Damit verbunden reklamierte die Philosophie für sich die Rolle eines produktiven gesellschaftsgestaltenden Faktors, arbeitete durch Kritik an der Überwindung der moralischen Grundlagen einer abzulösenden Kultur und Gesellschaft und sah sich mit dazu berufen, der vielfach geforderten ideengeleiteten Politik ihre legitimatorische Grundlage zu geben.5 Aus der Perspektive der Gegenwart erscheinen schließlich als äußerst naiv und realitätsfremd die Forderungen einiger Zeitgenossen, sie im neu einzurichtenden Staat gänzlich mit der politischen Macht verschmelzen zu lassen; so wurde etwa bei dem Neukantianer Paul Natorp – einem der wirkungsreichsten Philosophen der Zeit – oder bei Leonard Nelson das platonische Modell der Philosophenherrschaft mit Blick auf den neu zu errichtenden Staat aktualisiert. Diesem missionarischen Selbstverständnis zahlreicher Philosophen scheint, wie aus zeitgenössischen Äußerungen hervorgeht, die Wahrnehmung eines zunehmenden Interesses der akademischen Jugend an der Philosophie zugrunde zu liegen. Edmund Husserl etwa schreibt 1922 in einer Vorbemerkung zu seinem Aufsatz über „Erneuerung“ vom Andrang, den er in seinen Lehrveranstaltungen durch Angehörige der „Generation der Schützengräben“ erlebe, und spricht von einem „tiefen, in   3

4 5

 

Vgl. Bialas (1997): Intellektuellengeschichtliche Facetten. Zur Krise der Geisteswissenschaften und Philosophie allgemein vgl. Ringer (1983): Die Gelehrten. – Philosophen und philosophisch gebildete AutorInnen, die sich durch politischen Aktivismus und/oder programmatische Äußerungen einschalteten, waren neben den in dieser Arbeit behandelten Akteuren u. a. Ernst Bloch, Gustav Radbruch, Siegfried Marck, Arthur Liebert, Ernst Troeltsch, Rudolf Eucken, Kurt Eisner, Gustav Landauer, Otto Neurath, Helene Stöcker, Rosa Luxemburg, Johannes Verweyen, Friedrich Wilhelm Foerster, Walter Rathenau, Max Weber, Karl Mannheim und Kurt Hiller. Hiller (1969): Philosophie des Ziels, S. 34. Philosophie stand dabei nicht nur in einem arbeitsteiligen Verbund mit anderen Formen von gesellschaftlichem „Konstruktionswissen“ (Soziologie, Ökonomie, Eugenik – der Begriff „Politik des Lebens“ war um 1918 verbreitet), sondern stand auch in Konkurrenz zu einem alternativen „Expertenwissen“ in Fragen der Subjektivität wie der Psychologie. Vgl. Rinn (2005): Kampf um das Subjekt, S. 365. Pál Szende, Sozialdemokrat, Soziologe und Finanzminister in der Regierung Mihályi Károlyis, sprach 1922 rückblickend von einem Kampf der Wissenschaften um „Autorität“ im Gefolge der Revolution. Szende (1922): Wissenschaft und Autorität, S. 302.

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der innersten Persönlichkeit verwurzelten Interesse an der Philosophie“, das Ausdruck ist einer kollektiven Orientierungssuche nach dem symbolischen Kollaps des Ersten Weltkriegs. Mit einer tiefen Abneigung gegen die idealistische Betriebsamkeit der Kriegsrhetorik, ja selbst mit einem starken Mißtrauen gegen die philosophischen, religiösen, nationalen Ideale war diese Jugend größtenteils zurückgekehrt. Aus dem unentwirrbaren Durcheinander von Wahrheit, frommer Lüge, frecher Verleumdung von echten und verfälschten Idealen und Gefühlen wollte sie herauskommen. […] Eine neue Welt im Geiste reiner Wahrhaftigkeit wollte sie um sich bauen. Die Philosophie war für sie wissenschaftliche Stätte radikaler Selbstbesinnungen.6

Betrachtet man den Diskurs der Philosophie aus der Revolutionszeit, so kristallisieren sich für den Betrachter bald eine Reihe „politisch-philosophischer Topoi“, in denen sich eine Einzelwerke und Autoren übergreifende „Verwandtschaft der Gehalte“ (Karl Mannheim) und Problemstellungen manifestiert, die die Philosophie als Erfahrungs- und Denkraum in der Revolution bestimmen. Für ein methodologisch leitendes Konzept kann dabei auf den Begriff des politischen Imaginären zurückgegriffen werden, wie er zuerst von Cornelius Castoriadis und später von Kulturwissenschaftlern wie Albrecht Koschorke und Susanne Lüdemann ausgearbeitet wurde.7 Philosophie wird demnach als ein diskursives Feld verstanden, in dem die für die politischen Deutungskulturen der Zwischenkriegszeit in Deutschland und in Mitteleuropa so bedeutende, aber semantisch radikal offene Kategorie der ‚Revolution‘ mit unterschiedlichen Vorstellungsinhalten besetzt wurde. Diese heterogenen und oft unvereinbaren semantischen Besetzungen sind Resultate von ideologischen Definitionskämpfen und Vereinnahmungsversuchen, denen der Revolutionsbegriff ausgesetzt ist. Sie sind kontingent, dabei jedoch „nicht beliebig oder überhistorisch, sie antworten auf die spezifischen Probleme einer Epoche“8 bzw. einer historischen Situation und sind verbunden mit der Absicht, in diese in bestimmter Weise gestaltend einzugreifen. Die untersuchten Artikulationen des politischen Imaginären bedienen sich dem Traditionsbestand der Philosophie entnommener Konzepte und Deutungssysteme, um „Gemein-Begriffe“ bereitzustellen, durch die potentiell „ein Gemeinwesen sich inaugurieren und reproduzieren, sich als Ganzheit imaginieren und diese Vorstellung durch […] Reinszenierung nach innen und außen vermitteln“9 kann und die im Sinne der betreffenden philosophischen Akteure im Rahmen institutioneller Dispositive (wie Kultur- und Bildungspolitik, Propaganda, Kunst etc.) auch zu gesellschaftlicher Wirkmächtigkeit geführt werden sollen.

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Husserl (1989a): Beilage I, S. 94f. Vgl. Castoriadis (1984): Gesellschaft als imaginäre Institution; Koschorke et al. (2007): Der fiktive Staat; Lüdemann (2004): Metaphern der Gesellschaft. Spitta (2013): Gemeinschaft jenseits von Identität? S 34. Ebd.

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2. REVOLUTION ALS UMKEHR: ARNOLD METZGER Um diesen abstrakten Ausführungen ein konkretes Beispiel nachfolgen zu lassen, möchte ich mich in meinem Aufsatz auf den heute weitgehend in Vergessenheit geratenen Philosophen Arnold Metzger konzentrieren. Mit nur 26 Jahren machte Metzger eine kurze Karriere als Vorsitzender des Brest-Litowsker Soldatenrates und ab November 1918 als Verantwortlicher für die Berliner Anti-Spartakus-Propaganda und später Leiter der kulturpolitischen Abteilung der Zentrale für Heimatdienst in Berlin, der er kurzzeitig vorstand. Auch wenn seine frühen Schriften zu den weniger bekannten und wirkungsreichen philosophischen Beiträgen zur Novemberrevolution 1918 gezählt werden müssen und seine Zuordnung zum häufig geschmähten Typus des „Novembersozialisten“, „Literaten-“ oder auch „Gesinnungspolitikers“ (Max Weber) – also des in der Revolutionsphase politisierten, angesichts der baldigen Enttäuschungen sich jedoch wieder von der politischen Tätigkeit zurückziehenden Intellektuellen – naheliegt, so lassen sich in meinen Augen doch aus ideengeschichtlicher Perspektive sowie aus subjektgeschichtlicher Perspektive gute Gründe für die Auseinandersetzung mit dem Werk und Leben dieses Autors angeben. Von Interesse sind seine Schriften der Revolutionszeit, da in ihnen eine eklektizistische, unterschiedliche zeittypische Diskurselemente aus der neoidealistischen akademischen Philosophie, der expressionistischen Literatur und zeitgenössischer politischer Rhetorik amalgamierende und als explizites Konkurrenzunternehmen zum Marxismus deklarierte Philosophie der Revolution ausgearbeitet wird, welche ein ethisiertes Verständnis der Revolution formuliert, das durch und durch auf die Herausforderungen des Umbruchs in Deutschland zu antworten sucht und insofern auch als eine genuine Philosophie der Deutschen Revolution bezeichnet werden kann. Aus der Perspektive der Geschichte der Subjektivität lassen sich Metzgers Reflexionen, die oft, wie sich aus seinen Briefen und Tagebuchaufzeichnungen erschließen lässt, durch Erlebnisse als Frontsoldat und als unerfahrener Revolutionspolitiker veranlasst wurden, als tastende, stark existentiell aufgeladene Verarbeitungsversuche einer kollektiven und persönlichen Umbruchserfahrung gelesen werden. Im Folgenden werde ich die Revolutionsschriften Metzgers, deren umfassendste die knapp hundertseitige und unveröffentlicht gebliebene Phänomenologie der Revolution darstellt, als Ausgangspunkt nehmen, um einen bedeutenden Topos der zeitgenössischen philosophischen Revolutionsdiskurse zu diskutieren; die Deutung der Revolution als Prozess der ethischen „Umkehr“. In diesem Aufsatz interessiert die Umkehr – wahlweise auch „Konversion“ oder „moralische Erneuerung“ – als eine Vokabel der „language of radicalism“ (Oded Heilbronner) in der Revolutionszeit, das weit entfernt steht von der dominierenden martialischen Sprache kommunistischer und nationaler Revolutionäre, im Gegensatz zu dieser jedoch historisch marginal blieb.

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2.1 Deutung von Nationalismus und Krieg Das Motiv der kollektiven ethischen Umkehr war keineswegs eine Neuheit des Revolutionsdiskurses. So gehörte ‚Umkehr‘ bereits in der Vorkriegszeit zum Vokabular der Jugendbewegung. Philosophisch ist die Metzgersche Revolutionsdeutung verankert in einer vor dem Weltkrieg bereits verbreiteten, in Konkurrenz zum Marxismus stehenden Tradition wert- und kulturtheoretisch begründeter Kapitalismuskritik, wie sie von Ernst Troeltsch, insbesondere aber vom lebensphilosophische und phänomenologische Argumentationsstränge verbindenden Max Scheler vertreten wurde. Der Kapitalismus – und mit ihm verbundene Phänomene wie die Atomisierung des Sozialen, die Verselbstständigung des Leistungs- und Wachstumsdenkens, der Imperialismus als Politik der ökonomisch konkurrierenden Nationalstaaten – wurde hier nicht primär als ein ökonomisches System verstanden, sondern als eine ethische Ordnung, für welche die Umkehrung des nach Scheler ontologisch begründeten Primats der religiösen und moralischen Werte vor den vitalen bzw. vor Nützlichkeitswerten – den Triebkräften des ökonomischen Lebens – konstitutiv sei. Der Kapitalismus in seiner konkreten historischen Ausgestaltung ist demnach wesentlich Resultat einer als „Abfall“ gedeuteten Entwicklung, die in der als autonom und eigendynamisch verstandenen Sphäre der Kultur an der Schwelle zur Neuzeit stattgefunden habe. Metzger schlägt also in eine von zeitgenössischen Kulturkritikern bereits vorbereitete Kerbe, wenn er Anfang 1919 schreibt, dass das „kapitalistische System […] die auf die wirtschaftliche und soziale Ebene ausgebreitete Entfaltung des die vergangene Epoche tragenden, alle ihre Ausdrucksentfaltungen überwältigenden, unendlich sündhaften Glaubens: daß die zeitlichen Interessen, die Bedürfnisse des biologischen Daseins über das Gute und Gerechte zu entscheiden hätten.“10 Auf der Basis dieser kulturkritischen Ideen hatte Scheler bereits in seiner Kriegsschrift Der Genius des Krieges und der deutsche Krieg von 1915 die Begrüßung des Krieges insbesondere durch die deutsche Jugend als einen Umbruch in der geistigen Haltung in Deutschland gedeutet. Individualismus und Nützlichkeitsorientierung schienen überwunden zu werden in der heroischen Opferbereitschaft der Soldaten und dem Glauben an die höherstufigen nationalkulturellen Werte und an die geschichtliche Mission Deutschlands, die gerade als eine Befreiung Europas vom kapitalistischen Geist deklariert wurde, dessen zunehmende Durchsetzung in Kontinentaleuropa im 19. Jahrhundert Folge des politisch-ökonomischen und vor allem kulturellen angelsächsischen Einflusses sei. Der Krieg ist jedoch nicht nur ein Schlag gegen einen äußeren Feind und dessen verderblichen moralisch-kulturellen Einfluss, sondern entfaltet innere sublimatorische Tendenzen, einen Prozess der Selbstveredelung der kriegsführenden Gesellschaft. Wenn in Genius des Krieges von einem „fast metaphysischen Erwachen aus dem dumpfen Zustand des bleiernen Schlafes“ und heroisierend von den hervorragenden Vertretern der Generation der Schützengräben als   10 Metzger (1979a): Der neue Glaube, S. 131.  

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„Gläubigern der Liebe gegenüber den Gläubigern der Organisation und des Rechtsvertrages, […] Gläubigern des schöpferischen Geistes gegenüber den Gläubigern des rechnenden Verstandes“11 die Rede ist, so sind dies bei Scheler der Kriegslegitimation dienende Denkfiguren und Begrifflichkeiten, die in den Schriften von Arnold Metzger wieder aufgegriffen werden, jedoch in einer Verschiebung hin auf die deutsche Revolution. Der Krieg ist bei Metzger nicht eine Abkehr von den moralisch-kulturellen Niedergangserscheinungen des 19. Jahrhunderts, sondern deren katastrophale Manifestation. „Wir wissen, daß der Krieg ein Werk der von Grund auf korrumpierten europäisch-amerikanischen Gesellschaft ist, der leitenden Motive, in welche sich die Ideologie dieser Gesellschaft bis auf den heutigen Tag versenkt hat.“ Die in geistiger Hinsicht primäre Aufgabe der Revolution könne demnach nur darin liegen, „mit der Gesinnung zu brechen, welche die kriegführende Gesellschaft beherrscht.“12 Bei Metzger fungiert der Topos der Umkehr in einem modifizierten großen historischen Narrativ, nämlich einer nationalen Dekadenzgeschichte Deutschlands, die ihre Anfänge in den 1870er Jahren hat. Der Abfall, der bei Scheler noch mit propagandistischer Absicht als ein Resultat der angelsächsischen wirtschaftlich-kulturellen Hegemonie ausgegeben wurde, wird nunmehr in der innerdeutschen Entwicklung selbst verankert. Der deutsche Nationalismus, die deutsche Staatsgläubigkeit sind die spezifisch deutsche Äußerung einer globalen, die gesamte westliche Zivilisation treffenden Verderbnis. Der schrankenlose „Wille zur Macht“13 wird in ihm lediglich aus seiner anarchisch-individualistischen Form des Markthandelns herausgehoben und erhält eine kollektivierte Gestalt: Es könnte gesagt werden, daß die Idee der Nation die Idee des Guten bedeute, daß sich in ihr die Heiligkeit des gegenwärtigen Menschen verdichte, daß sie die Gesellschaft zu Gott und dem Ideellen führe; daß in der bedingungslosen Unterordnung unter die nationalen Erfordernisse der gegenwärtige Mensch seine Demut vor göttlichen Dingen bezeuge, daß ihm also die Distanz zum Absoluten nicht verlorengegangen sei.14

Metzger spielt hier auf die Bewertung der „Vaterlandsliebe“ in der deutschen Kriegsphilosophie an, um anschließend dieser entgegenzusetzen, dass diese Meinung, von den Priestern der Zeit gelehrt, die Anarchie und Haltlosigkeit des modernen Gewissens (beweist), welches nicht fähig ist, Ideelles und Zeitliches, Göttliches und Menschliches voneinander zu trennen. […] Nur eine religiös und sittlich desorientierte Gesellschaft (war) fähig, sich hemmungslos einer Liebe zu verkaufen, deren Gegenstand nicht das Göttliche und die Idee ist, sondern ein zeitliches Etwas, das von Immoralität und Irreligiosität so durchtränkt ist wie der moderne Begriff der Nation.15

  11 12 13 14 15

Scheler (1982): Genius des Krieges, S. 12. Metzger (1979d): Der Zusammenbruch, S. 113. Metzger (1979b): Phänomenologie der Revolution, S. 45. Ebd., S. 120. Ebd.

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Metzger argumentiert, dass der deutsche Nationalismus im Laufe des 19. Jahrhunderts Wendungen unternahm und differenziert dabei zwischen einem postiv bewerteten idealistischen Nationalismus der ersten Jahrhunderthälfte, dem das „Gute und das Wahre […] als ideelle Werte“ galten und das Schicksal der Nation noch eingebettet war in einem metaphysisch-theologischen Ordo-Gedanken. Die Ideologie des Nationalstaats, die die Kultur bestimmte, in welche die Generation Metzgers sozialisiert wurde, hat jedoch nichts mehr vom „kosmischen Gehalt“, der dem Gedanken der Nation noch im Denken Hegels oder Fichtes zugekommen wäre.16 Die „Bismarcksche Zeit“ habe „die Tendenz zur Erfüllung gebracht, von welcher die Bewegung des 19. Jahrhunderts im ganzen getragen war. Sie hat den Abfall von der Idee vollzogen.“17 Nach Bismarck verdränge Machtkalkül und wirtschaftliches Vorteilsstreben vollends den Idealismus in der Politik der Regierenden, die nicht mehr im Glauben an eine Mission der deutschen Nation handeln – mag diese nun theologisch oder auch geschichtsphilosophisch begründet sein. Gleichzeitig mit dieser Säkularisierungstendenz entwickle die Bismarcksche Ära den Kult um den Staat, durch den die heterogenen, wirtschaftlich konkurrierenden Individuen erst geistig zu einer Einheit verbunden werden. Die Absorbierung der „Freiheit des Individuums“ durch den „nationale[n] Staat“ vollendet sich im deutschen Militarismus. Als „Träger des Unendlichen“18 fordert der nationale Staat vom Individuum Opferbereitschaft, doch das Worumwillen dieses Opfers hat seine metaphysische Legitimität verloren, politisches Handeln wird getrieben vom Drang nach reiner Macht um ihrer selbst willen: „Beherrschung des Wirtschaftsmarktes, diplomatische Überlegenheit und Ausnutzung der Schwächen des Nachbars, der zugleich Gegner ist, eingestellten Tendenz.“19 2. 2. Moralische Not und revolutionäre Rettung Der Nationalismus des späten 19. Jahrhunderts als Idolatrie der Macht und falsches, ausgehöhltes Glaubens- oder Wertsystem, in das jedoch er selbst und seine Zeitgenossen sozialisiert wurden, habe nun seine Entlarvung und seinen katastrophalen Bankrott im Weltkrieg erfahren. Der geschichtsphilosophischen und kulturkritischen Bewertung des Krieges eignet bei Metzger ein hoher Grad an Ambivalenz; denn mag der patriotische Idealismus der deutschen Jugend auch ein fehlgeleiteter Idealismus gewesen sein, ist er dennoch eine Manifestation einer bestimmten geistigen und seelischen Leidenschaft und Unzufriedenheit mit den bestehenden Zuständen, in deren authentischer und dauerhafter Entfaltung die propagierte Erneuerung liegt. Der Krieg hat also zur moralischen Veredelung der kämpfenden Jugend beigetragen, indem er ihre Opferbereitschaft, ihre Haltung der Demut vor dem Ge  16 17 18 19

Ebd., S. 121. Ebd., S. 123. Ebd., S. 117. Ebd., S. 118.

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danken der Nation hervorkehrte. Doch zugleich wurde die im Wilhelminismus aufgewachsene Jugend im Krieg um das wahre Ideal betrogen. Metzgers eigene Kriegsaufzeichnungen dokumentieren, wie für den mit 22 Jahren in den Krieg eintretenden Freiwilligen im Laufe der Kriegserlebnisse die nationalistischen Erbauungsphrasen der Volksgemeinschaft oder der deutschen Kulturmission ihre Glaubwürdigkeit verloren – wobei von allen Erfahrungen die der Diskriminierung der Juden durch Militärs und Regierung, von der er selbst betroffen war, die wohl prägendste ist. Am Ende steht die Erfahrung eines radikalen „Leid[s] über die Sinnlosigkeit unseres Lebens“, wie er in einem unveröffentlicht gebliebenen Fragment 1920 schreibt. Im Krieg sei eine „Illusion zergangen“, nämlich das „Pathos der Bismarckschen Jahre, das den Staat an die Stelle der Religion setzte“ 20. Dieses kollektive Leid, dem sich Metzger mit seinen Zeitgenossen ausgesetzt sieht, sei jedoch kein reiner Fatalismus, es trage den Keim seiner Überwindung bereits in sich. Es folgt in Metzgers Ausführungen eine erstaunliche Volte: Die Sinnlosigkeit seines Lebens steht für den wilhelminischen Menschen fest. […] Doch besinnen wir uns. Ist das Leid nicht sein eigener Totengräber? Liegt in ihm nicht die Gewißheit von seiner Überwindung? Der Leidende ist verneinend und bejahend zugleich. Denn sein Leid ist Leid an dem Unwert seines Lebens. Es entspricht ihm die Gewißheit von dem Werte, die Gewißheit, die sich auf das Leiderlebnis beruft und daraus ihre Evidenz schöpft. In seinem Schmerze ist der Leidende des Wertes gewiß, dessen ‚Was‘ er vielleicht nicht im Begriffe kennt, von dem er aber weiß, daß nur seine Realisierung die Befreiung von seinem unwerten Leben mit sich bringen würde.21

Es ist die Katastrophe des Zusammenbruchs eines Glaubens- und Wertsystems, die Zerstörung der Idole der alten Ordnung, die in sich die Möglichkeit einer Konversion, einer Läuterung und Hinwendung zur Idee, zum „Guten“ und zur „Gerechtigkeit“22 birgt, auf die es in der Revolutionsphilosophie Metzgers zentral ankommt. Konversion ist hier durchaus im strengen Sinne als ein Übergang von einem Glaubenssystem in ein anderes zu verstehen. Der Sozialist Metzger versteht sein eigenes kulturpolitisches Wirken durchaus als Arbeit an einem neuen Glaubenssystem, zu dem der Sozialismus erst erhoben werden müsste, der seinerseits auf das kollektive Bedürfnis nach Orientierung und Sinngebung im vom Krieg hinterlassenen Vakuum zu antworten habe. „Es gilt, ein bitter ernstes Werk zu tun: unser Volk herausreißen aus heilloser Verwirrung. Dem muß sich alles einordnen und unterordnen, was noch Daseinsberechtigung beanspruchen will. Die ethische Macht gemeinsamer Tat allein vermag uns noch zu retten.“23 Diese gemeinsame Tat ist nun   20 21 22 23

 

Metzger (1979c): Sinn unseres Leides, S. 141. Ebd., S. 141f. Hervorhebung im Original. Metzger (1979a): Der neue Glaube, S. 128. Engelhardt (1979): Aktionsprogramm, S. 211. Das Robert Engelhardt als offiziellen Autor anführende Aktionsprogramm spiegelt bis in die Wortwahl hinein die Positionen Metzgers zum Zeitpunkt seiner Verfassung wider und ist womöglich aus einem Entwurf Metzgers heraus entstanden; siehe den Kommentar des Herausgebers der Frühschriften Metzgers zum Aktionsprogramm ebd., S. 209.

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die Umkehr hin zu dem, was er meist „liebende Gemeinschaft“24, mitunter auch Sozialismus nennt. Dass der Marxismus als Theorie ökonomischer Gesetzmäßigkeiten diese emotionale, existentielle oder gar spirituell zu nennende Dimension der kollektiven Erfahrung nach dem Zusammenbruch des alten Systems nicht zu erreichen vermag, lässt ihn dabei in den Augen Metzgers als überholt erscheinen. Überhaupt erscheint jedoch der Sozialismus nicht mehr als Hervorbringung des sein Klasseninteresse durchsetzenden Proletariats; das revolutionäre Subjekt, das hier adressiert wird, verschiebt sich hin zu der nach existentiellem Sinn, nach Idee und Glauben verlangenden Generation der Schützengräben. Die religiös aufgeladenen Konzepte der Umkehr und die Erneuerung des Glaubens auf der Basis eines radikalen Bruchs mit dem „,moralischen‘ Bestand“ der „kriegführende[n] Gesellschaft“ und der seine „Knabenjahre vergiftende[n] gesellschaftliche[n] Tradition“25 sind Deutungsschemata, durch die der Katastrophe des Krieges und der Niederlage noch eine positive Bedeutung innerhalb einer Entwicklungserzählung abgerungen wird. Es ist dieses Geschichtsnarrativ, eine „suggestive Idee“, wie er schreibt, die Metzger in seinem identitätspolitischen Programm als Gegenkraft zur Kriegsdepression und der inneren Spannungen, insbesondere dem Antisemitismus der Sündenbockdiskurse etablieren möchte, durchaus im Sinne einer Politik der zu mobilisierenden (positiven, produktiven, gemeinschaftlich verbindenden) Leidenschaften26, die dem rationalistischen Marxismus unbekannt sei: Das allen Volksschichten Gemeinsame muß wieder als das Wesentliche des Lebensinhalts empfunden werden. Die Möglichkeit wäre gerade jetzt in einem hohen Maße gegeben. Wir tragen alle die gleichen gegenwärtigen Eindrücke in uns: Krieg, Revolution, Zusammenbruch von erschütternder Tragik. Würde diese Gemeinsamkeit des Geschickes erst recht in ihrer ganzen Größe erfaßt, würde das Massenschicksal zu einem Massenerleben: es müßte unser ganzes Volk unlösbar zusammenschweißen. […] Gemeinsam ist uns allen die tiefe Sehnsucht, wieder an Wahrheit und Gerechtigkeit glauben zu dürfen.27

Trotz der großen materiellen Not in den ersten Nachkriegsmonaten ist für Metzger die „moralische Not des Volkes […] das Entscheidende“. Metzger leugnet dabei nicht die Dringlichkeit der Fragen „organisatorische[r] Arbeit“, insbesondere in den Angelegenheiten der Wirtschaft. Nur müsse jeder wirtschaftliche und institutionellpolitische Umbau vergeblich bleiben, wenn er nicht von einer Aufrichtung des „Willens“ und des „Glaubens“ getragen werde. Alle politischen Maßnahmen münden damit, so Metzger in seinem Beitrag zum von ihm als Leiter der Kulturabteilung der Zentrale für Heimatdienst herausgegebenen Sammelband Der Geist der neuen Volksgemeinschaft. Eine Denkschrift für das deutsche Volk, in einer „grundsätzliche[n], alles Aktuell-Politische übergreifende[n] Forderung: die schrankenlose Desorientierung des Volkes in der gegenwärtigen Anarchie der Dinge in der letzten Bedeutung zu begreifen und den zielstrebigen Willen zu erkennen, welcher   24 25 26 27  

Metzger (1979b): Phänomenologie der Revolution, S. 48. Metzger (1979d): Der Zusammenbruch, S. 113. Vgl. Metzger (1979e): Tagebuchaufzeichnungen (15. 6. 1919), S. 226. Engelhardt (1979): Aktionsprogramm, S. 210f.

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bei aller Zerfahrenheit hinter der gegenwärtigen Haltlosigkeit steht.“ Die „Erkenntnis der inneren Not der Gesellschaft“ biete die „einzige Möglichkeit, um zu ‚geordneten Zuständen‘ zu kommen“.28 2.3. Phänomenologie und die Idee der Sachlichkeit im neuen Volksstaat Metzger sah es nun als Mission der deutschen Geistigkeit an, diese Erkenntnis zu vertiefen und zu verbreiten, und versuchte selbst politisch im Dienste dieser Mission zu wirken. Darüber hinaus aber sah er die Phänomenologie als angemessene philosophische Methode an, um diese politikleitende Erkenntnis systematisch auszuarbeiten. In diesem Sinne ist sein Projekt einer Phänomenologie der Revolution zu verstehen, die 1919 zur Verfassung eines zwar vollendeten, jedoch aufgrund von sachlichen Einwänden seines künftigen Freiburger Lehrers und Mentors Edmund Husserl von der Veröffentlichung im S. Fischer Verlag zurückgezogenen Manuskripts führte. Metzgers Unternehmen hat dabei zwei Hauptanliegen. Zum einen liefert es eine geschichtsphilosophische Deutung des Krieges als Resultat des kulturell-ethischen Abfalls, wie sie oben bereits skizzenhaft wiedergegeben wurde. Blickt man auf die argumentative Strategie des Textes, so ist von besonderem Interesse, dass die Einsicht in den moralischen Abfall der Vorkriegsgesellschaft nicht an den privilegierten theoretischen Standpunkt oder an die spezielle Erkenntnistätigkeit des Philosophen gebunden ist, sondern einen kollektiv geteilten Ausgangspunkt darstellt. In der Enttäuschung und der Depression ist die Unwahrheit der alten Ordnung bereits erfasst, jedoch nur in einer unartikulierten Form, sodass der Philosophie die Aufgabe zukommt, den Sinn dieser kollektiven Erfahrung auszusprechen. Philosophie klärt so die Verzweiflung über sich selbst auf. Über diese philosophische Delegitimation der politischen, sozialen und kulturellen Ordnung der kriegsführenden Gesellschaft hinaus versucht Metzger, philosophische Legitimationsprinzipien für das kommende, abwechselnd als Volksstaat, Sozialismus oder liebende Gemeinschaft bezeichnete Neue zu liefern. Die Revolution, die nur durch eine Wiedererrichtung des „Glaubens“ gelingen könne, sei auch auf die Erneuerung des Ordo-Gedankens angewiesen, der den „Willen zur Macht“ in geregelte Bahnen lenkt. „Dies ist das Entscheidende, daß die Gesellschaft über ihrer Handlung, über ihrer sozialen Entfaltung ein von ihren ökonomischen und vitalen Interessen unabhängiges Gesetz des Rechts anerkennt, von dem sie als gültig erachtet, daß es für alle bindend ist.“29 Es ist der phänomenologische Ideenrealismus, den Metzger in Schelers materialer Wertethik, noch mehr jedoch in Husserls Logischen Untersuchungen (1900) zu finden vermeinte, der ihm die junge philosophische Denkschule zur geistigen Leitung der Revolution bestimmt erscheinen ließ.

  28 Metzger (1979a): Der neue Glaube, S. 126f. 29 Ebd., S. 130.

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Der philosophisch-theoretische Kampf gegen den Subjektivismus, den Metzger vom frühen Husserl geführt sah, verbindet sich bei ihm mit dem Gedanken der ethischen Ablösung von der Gesellschaft der Vorkriegs- und Kriegszeit. Im philosophischen Subjektivismus, dem er gleichermaßen die Transzendentalphilosophie, den Psychologismus und den nietzscheanisch-lebensphilosophischen Gedanken des Willens zur Macht zuordnete, erscheint Welt (als Natur und gesellschaftliche Welt) nur als Mittel des instrumentell-manipulativen Eingreifens der Subjekte. Für die revolutionäre Erneuerung des Menschen von seinem inneren Grunde her wäre eines die Grundvoraussetzung: die Erkenntnis, daß der Subjektivität ihre Grenzen nicht von ihr selbst, sondern von der Ordnung der Ideen vorgeschrieben werden, und daß ihr Verhältnis zu dieser das des Abstandes, nicht das der Immanenz und der Selbstbestimmung ist, wie die rationalistische Philosophie lehrte. Die Aufrichtung des Glaubens ist an dieses Dogma gebunden.30

Keine philosophische Lehre hätte in derselben Weise die Falschheit des Primats der Subjektivität vor Augen führen können, wie es die Katastrophe des Weltkriegs tat, die Metzger als Exzess des Willens zur Macht und der damit verbundenen technischen Beherrschung von Natur und Mensch deutete. Doch die Erneuerung setze nicht nur eine Ent-Täuschung mit Blick auf das Alte voraus, sondern eine gültige geistige Fundierung der neuen Ordnung. Wenn er nun die Philosophie dazu verpflichtete, diese zu besorgen, so fasste er damit ein philosophisches Denken ins Auge, das zwar aus der geteilten historischen Erfahrung heraus den Logos des Zeitgeschehens erfassen sollte und dennoch eine absolute Geltung beansprucht. Die philosophische Erkenntnis und die von ihr erschaute Ordnung – das allgemein verbindliche und überzeitliche „Gesetz“ – steht über dem Gegensatz der sozialen Interessen und Bedürfnisse. Sie erschließt sich nicht vom Standpunkt einer privilegierten Klassenperspektive, sondern ist schlicht Einsicht in die wahre Ordnung des Seins selbst. Das von der Philosophie artikulierte Ordnungsprinzip, das nach Metzger die organisatorische Arbeit und das politische Handeln im neuen Deutschland bestimmen sollte, ist selbst der politischen Verhandelbarkeit enthoben; es ist im Grunde apolitischen oder eher: transpolitischen Charakters. Metzger zielt hier ab auf die philosophisch-politische Fiktion eines ontologischen Leitprinzips, dem eine „sachliche“ Politik und Wirtschaft zu verpflichten wäre. In einer an seinen Lehrer Rudolf Eucken erinnernden Weise sieht Metzger in diesem imaginierten Gemeinwesen die Entfaltung des kollektiven Lebens aus sich selbst am Wirken: „Die liebende Gemeinschaft befreit die Gesellschaft von der Abhängigkeit der innerhalb ihres Kreises autonomen Gegenstandsgebiete von den Interessen der Wirtschaft und anderen vom Willen der Macht beherrschten Motiven. Sie bedeutet die Ausbreitung des Lebens selbst als des Trägers eigengesetzlicher Gegenstandssphären.“31 Medium dieser „Ausbreitung des Lebens“ sei die Arbeit, die die Volksgemeinschaft korporatistisch-sozialistisch und im Glauben an die Geltung des transzendenten „Gesetzes“ zu organisieren habe.   30 Metzger (1979b): Phänomenologie der Revolution, S. 36. 31 Ebd., S. 37.

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3. AUSBLICK: DISKURSE DER UMKEHR BEI MAX SCHELER, PAUL NATORP UND EDMUND HUSSERL Ich habe hier nicht die Möglichkeit, auf Metzgers eher idiosynkratisches, konservative und progressive Momente verschmelzendes Verständnis von Sozialismus und die spärlichen Vorschläge zu dessen konkreter institutioneller Umsetzung näher einzugehen.32 Ich will abschließend lediglich einige Hinweise geben auf die übergreifende Bedeutung und Präsenz des Topos der Umkehr in philosophisch-politischen Texten der Zeit. „Umkehr“ bildete als moralisch-politische Reflexionsfigur ein zentrales Element der u. a. in der Philosophie betriebenen und von der Forschung bisher vernachlässigten „Schuldkultur“33 in der unmittelbaren Nachkriegszeit, die ohne weitreichende Wirkung blieb und sich nicht durchsetzen konnte gegen konkurrierende, insbesondere nationalistische, revanchistische (und häufig auch antisemitische) Deutungsmuster der Niederlage und ihrer Folgen. „Umkehr“ steht auch in diametralem Gegensatz zu einer anderen und viel folgereicheren ethisch-existentiellen Aufladung des Kriegserlebnisses und einer damit verbundenen Vorstellung der Erneuerung des Menschen, nämlich der Idee einer durch den Krieg gehärteten, kalten, und damit überlegenen Frontkämpferelite, wie sie am prominentesten bei Ernst Jünger zu finden ist. Als Formel für einen kollektiven Gesinnungswandel und Reflexionsfigur ist sie in den späten Kriegsschriften des wohl wirkungsreichsten philosophischen Kriegsbefürworters und späteren Unterstützers der Republik Max Scheler zu finden. Gegen „Fortschrittler“ und „Melioristen“ gewendet schreibt dieser in seinem Aufsatz Reue und Wiedergeburt aus dem Jahr 1917, dass „nicht die Utopie, sondern die Reue […] die revolutionärste Kraft der sittlichen Welt“ sei.34 Sie sei eine Form der „Selbstheilung der Seele“ und der „einzige Weg zur Wiedergewinnung ihrer verlorenen Kräfte“35 Die Reue sprenge „die Kette der durch das Schuldwachstum der Menschen und Zeiten vermittelten Fortzeugungskraft des Bösen. Sie macht eben damit neue schuldfreie Anfänge des Lebens möglich. Die Reue ist die mächtigste Selbstregenerationskraft der sittlichen Welt, die ihrem steten Absterben entgegenarbeitet.“36 Bei Paul Natorp, ein weiterer ehemaliger philosophischer Kriegsbefürworter, erscheint die Schuldidee als geistiger Gründungsakt eines neuen solidarischen und pazifizierten Gemeinwesens, das er in seiner Revolutionsschrift von 1920, Soziali  32 Es sei hier auf die in Entstehung befindliche Dissertationsarbeit des Verfassers über die deutsche Philosophie und das politische Imaginäre in den mitteleuropäischen Revolutionen von 1918/19 hingewiesen, in der diese Themen wie auch der ideen- und philosophiegeschichtliche Kontext eingehend behandelt werden. 33 Lethen (1994): Verhaltenslehren der Kälte, S. 42. 34 Scheler (1933): Reue und Wiedergeburt, S. 42. 35 Ebd., S. 12. 36 Ebd., S. 41.  

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dealismus, entwarf: „Wir leiden, was wir verdienen. Wir tragen die ganze Last unserer Vergangenheit.“37 Der Neuaufbau Deutschlands als „Sozial-Einheitsstaat“ auf einer von Autoritarismus, Militarismus auf der einen, von Individualismus und egoistischen Vorteilsstreben auf der anderen Seite befreiten Grundlage ist die neugefasste deutsche Weltmission; sie sei eine „Aufgabe, die einem Volk zunächst zu seiner eigenen Rettung gestellt ist, und zum Heil der gesamten Menschheit führen soll“38. Edmund Husserl, dessen Assistent Arnold Metzger im Jahre 1920 werden sollte, verfasst schließlich in den Jahren 1922/23 eine Reihe von Aufsätzen für die japanische Zeitschrift Kaizo,39 in denen er, gesättigt vom Pathos des radikalen Neubeginns, wie es aus den Schriften Metzgers vertraut ist und die akademische Jugend prägte, eine philosophische Systematisierung des Gedankens der Umkehr und der Erneuerung versuchte, die an Elaboriertheit die Überlegungen eines Schelers oder Metzgers übersteigt. Interessant ist hier zu beobachten, wie im Text Husserls nach der Enttäuschung der übersteigerten politischen Erwartungen der jungen Intellektuellen die Philosophie, genauer die sich als enorm einflussreich erweisende „phänomenologische Erneuerungsbewegung“40 in der Philosophie zum eigentlichen Ort der geistigen und moralischen Neuorientierung und einer kollektiven „Arbeit am Selbst“ (Foucault), also gleichsam zum Statthalter jener radikalen Revolution, die im politischen Raum nicht realisiert wurde, erklärt wird. Der unmittelbare Anschluss der Philosophie an die Dispositive der Politik ist hier nicht mehr gegeben; an der Idee einer durch Philosophie angetriebenen kulturellen und moralischen Erneuerung – in der Literatur auch als die Husserlsche Variante der Idee einer ‚Kulturrevolution‘ bezeichnet41 – , die sich insbesondere durch die Ausstrahlungskraft einer philosophisch gebildeten Elite vollziehen sollte, würde der Begründer der Phänomenologie indes weiterhin festhalten; selbst noch in seiner Wiener Rede von 1935, Die Philosophie in der Krisis der europäischen Menschheit – also zu einem Zeitpunkt, an dem die geschichtliche Entwicklung kaum mehr einen Grund dafür lieferte, am Glauben an die Möglichkeit derselben festzuhalten.

  37 Natorp (1920): Sozialidealismus, S. 2. 38 Ebd., S. 19. Natorps Versuch, mit Blick auf eine völlig veränderte innen- und außenpolitische Lage den Gedanken der deutschen Weltmission zu aktualisieren, macht ebenso wie die eingangs in diesem Aufsatz diskutierte Anwendung von Motiven der Kriegsphilosophie Schelers auf die Revolution bei Metzger deutlich, dass die Revolution ursprünglich an den Krieg gerichtete Erneuerungshoffnungen „erbte“. 39 Vgl. Husserl (1989b): Fünf Aufsätze über Erneuerung. 40 Husserl (1989a): Beilage I, S. 95. 41 Vgl. Goto (2004): Begriff der Person, S. 274.

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Albert Dikovich

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MARXISTISCHE UND VÖLKISCHE IDEOLOGIEKRITIK VERSUS DEMOKRATISCHE WELTANSCHAUUNGSANALYSE? Bemerkungen zum geistigen Bürgerkrieg in der Weimarer Republik Thomas Schubert 1. VORBEMERKUNG Vorgestellt wird eine Konstellation innerhalb der politischen Ideengeschichtsschreibung. Es geht um einen frühen Moment im Streit verschiedener Formen des analytisch-reflexiven Denkens: der Ideologiekritik in ihren radikalen Ausprägungen und der Weltanschauungsanalyse als einer liberal-demokratischen Denkform. Beide Methodenrichtungen – die eine eher politisierend, die andere eher philosophierend – konkurrierten darum, die intellektuelle Geschichte ihrer Zeit zu schreiben. Die gemeinsame Zeit ihrer Protagonisten war die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts, insbesondere die Zeit der Weimarer Republik. Die auf den ersten Blick methodische Auseinandersetzung offenbart sich bei genauerer Betrachtung als ein Schauplatz des politischen Kampfes um diesen ersten demokratischen und republikanischen Staat in Deutschland. Als Vertreter, an denen charakteristische Positionen festzumachen sind, werden behandelt: Max Scheler1 als Metaphysiker und Vernunftrepublikaner, Karl Mannheim2 als Sozialwissenschaftler und linksliberaler Demokrat, Georg Lukács3 als orthodox-marxistischer Ideologiekritiker und Revolutionär sowie Carl Schmitt4 als konservativer Ideengeschichtler und Gegenrevolutionär. Wissenschaftlich bewegte sich dieser Streit im Rahmen der Begründung und Ausgestaltung einer neuen Wissenschaft von der Politik. Politisch war er Ausdruck eines spätestens seit 1918 in Deutschland tobenden und von Max Scheler 1927 so bezeichneten „geistigen Bürgerkrieges“5. Skizzieren möchte ich die verschiedenen Positionen anhand der Beantwortung von vier Fragen: – Erstens: Welche Aufgabe hat eine Wissenschaft von der Politik? – Zweitens: Inwiefern ist eine Wissenschaft des Politischen selbst politisch?

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Vgl. Scheler (1922): Weltanschauungslehre. Vgl. Mannheim (1929): Politik als Wissenschaft? Vgl. Lukàcs (1923): Geschichte und Klassenbewusstsein. Vgl. Schmitt (1927): Begriff des Politischen. Scheler (1927): Weltalter des Ausgleichs, S. 113.

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Drittens: Welche Wahrheitsansprüche lassen sich angesichts von Bedingungsund Funktionalisierungsverhältnissen im Bereich des Politischen noch begründen? – Viertens: Sind die aus verschiedenen Gruppeninteressen erwachsenden gesellschaftlichen Differenzen antagonistischer Natur und lassen sich nur durch einen Bürgerkrieg entscheiden oder erscheint eine Lösung auf dem Verhandlungswege möglich? Der Fragenkatalog und die hier zu betrachtende Konstellation hat jedoch eine Vorgeschichte, der sich zunächst zugewandt werden soll. 2. EXPOSITION 2.1 Karl Marx – Falsche Ideologie und richtige Weltanschauung Die Ideologielehre von Marx stellte im 19. Jahrhundert ein geistiges Erdbeben dar, dessen Ausläufer noch bis in unsere Gegenwart hinein spürbar sind. Wenn nicht der Marxismus selbst, so firmiert doch weiterhin dessen Ideologielehre als eine wirkmächtige intellektuelle Ressource der zeitgenössischen Theoriebildung, insbesondere bei Theorien zur Beschreibung von Gruppeninteressen und (Un)Gerechtigkeitsverhältnissen. Mehr noch als für die Theorien der Gegenwart und deren Politiken ist sie für das Verständnis der intellektuellen und politischen Entwicklung im 20. Jahrhundert relevant. Auf besondere Weise trifft dies für die Weimarer Republik zu. Marx begeisterte sich an der Aussicht auf die Revolution und rief zum Umsturz aller Verhältnisse auf. Engels berauschte sich an der Radikalität dieser Theorie, und tatsächlich sollte die kommende Revolution alles Bisherige in den Schatten stellen. Als revolutionär galt vor allem die These, wonach hinter den miteinander im Streit liegenden Erscheinungen der geistigen Welt – und somit auch der Welt des Politischen – bestimmte gruppenspezifische Bewusstseinsformen stehen. Die Gruppen unterscheiden sich nach ihren Interessen und Bedürfnissen, welche ihnen aus deren Stellung im ökonomischen Produktions- und Verteilungsprozess zuwachsen. Sie wurden daher als ökonomische Klassen bezeichnet. Das gesellschaftliche Sein in allen seinen Formen, insbesondere die darin vorfindlichen Herrschaftsverhältnisse, steht somit in einem direkten Funktionsverhältnis mit dem materiellen Sein, also der Ökonomie. Vermittelt wird dieses Funktionsverhältnis durch ein Bewusstsein, das wiederum klassengebunden ist. Das Funktionsverhältnis nicht nur zu beschreiben, sondern in seiner Dynamik auch zu steuern, sei die doppelte Aufgabe einer neuartigen Wissenschaft von der Politik.

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Zunächst noch unschlüssig, wie sie zu benennen sei, fanden sich allgemeine Bezeichnungen wie „Wissenschaft der Geschichte“6 und „materialistische“ oder „positive Wissenschaft“7 . Zudem war von Kritik, insbesondere der „Kritik der neuesten deutschen Philosophie“8, beziehungsweise der Staats- und Rechtsphilosophie die Rede. Auch der Begriff „Kommunismus“ wirkte in seiner Mehrdeutigkeit eher verwirrend, denn diesen verwandte Marx nicht nur zur Bezeichnung seiner wissenschaftlichen „Lehre von den Bedingungen der Befreiung des Proletariats“9 sowie deren politische Zielvorstellung, bzw. Utopie10. Er benannte damit auch die „wirkliche Bewegung“11 der Vereinigung von Theorie (Wissenschaft/ Philosophie) und Praxis (Politik/ Ethik). Letztlich setzte sich zur Bezeichnung der neuen Wissenschaft die von Engels eingeführte Bezeichnung des „wissenschaftlichen Sozialismus“12 durch, was zugleich der Name für die eigenen „Weltanschauung“13 war. Ob dessen Doppelstruktur als geschichtliche Entwicklungslehre und politisches Aktionsprogramm14 hat der spätere akademische Marxismus östlicher Provenienz, einen historischen Materialismus von einem wissenschaftlichen Kommunismus zu unterscheiden versucht. In den westlichen Residuen marxistischer Theoriebildung war hingegen eher die Bezeichnung Ideologiekritik gebräuchlich, was einer Engführung des Marxschen Ansatzes auf das Ideologie- und Bewusstseinsproblem entspricht, ohne dass das Politische damit aus den Debatten verschwand. Nach Marx kamen alle bisherigen Gesellschaften nicht ohne eine metaphysische Hinterwelt aus, in der auf ein höheres Wesen, ein religiöses Heil oder auf ein sonstiges der Kritik und der Erfahrung entzogenes Gut verwiesen wird. Dieser metaphysische Bereich diente nicht zuletzt zur Legitimation und zur Verschleierung der Herrschaft einer bestimmten Gruppe über die Gesamtgesellschaft. In der Geschichte sei mit dem Proletariat nun erstmals eine Klasse von Produzenten aufgetreten, welche als vollständig entrechtet und entfremdet niemanden mehr unter sich weiß, den es zum Gegenstand der Ausbeutung machen könnte. Eine revolutionäre Machtübernahme des Proletariats käme somit dem Ende aller ökonomischen Ausbeutung, der Befreiung aller Menschen und dem Beginn eines neuen Zeitalters gleich. Die Machtergreifung kann freilich auch gegen den Willen der zu Befreienden geschehen, was ausdrücklich nicht dem Postulat der Freiheit widerspricht, da es außerhalb des revolutionären proletarischen Bewusstseins ohnehin keinen freien   6 7 8 9 10 11 12 13

Marx (1983a): Deutsche Ideologie, MEW, Bd. 3., S. 18. Ebd., S. 27. Ebd., S. 11. Engels (1983): Grundsätze des Kommunismus, MEW, Bd. 4, S. 363. Marx (1983a): Deutsche Ideologie, MEW, Bd. 3, S. 33. Ebd., S. 35 und S. 70. Vgl. z.B. ebd., S. 491 oder Engels (1990): Anti-Dühring, MEW, Bd. 20, S. 265. Engels sah in den Thesen zu Feuerbach den „geniale(n) Keim der neuen Weltanschauung“, beziehungsweise die Grundgedanken der „Marxschen Weltanschauung“ vorgezeichnet. In: Engels (1984): Ludwig Feuerbach, MEW, Bd. 21, S. 263f. 14 Vgl. z. B. Marx / Engels (1983b): Manifest, MEW, Bd. 4, S. 481f.

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Willen geben kann. Denn nur das Proletariat befindet sich aufgrund seiner besonderen Stellung mit den Erfordernissen der ökonomisch-historischen Entwicklung in Übereinstimmung. Dies ist bei den Gegnern der proletarischen Revolution offenkundig nicht der Fall. Daher erscheint die Ausübung von Zwang und die Anwendung von Gewalt nicht nur wissenschaftlich begründet und moralisch geboten. Sie ist im Namen der Vollendung der Geschichte auch notwendig. Die Revolution ist dialektisch betrachtet im Interesse aller, explizit auch im Interesse der Bekämpften – zumindest der Überlebenden –, da sie eine Befreiung von ihrem nicht auf der Höhe der Zeit befindlichen, falschen Bewusstsein verspricht. Marx und Engels fanden auf die eingangs skizzierten Fragen somit folgende Antworten und ich beziehe mich hier neben dem kommunistischen Manifest und den Thesen zu Feuerbach auf die Deutsche Ideologie. Erstens: Die Wissenschaft vom Politischen hat die in der welthistorischen Entwicklung liegende Logik zu erkennen und in die erkannte Richtung voranzubringen. Zweitens: Eine Wissenschaft des Politischen ist auf zweifache Weise politisch: zum einem aufgrund des gesellschaftlichen Umfeldes, das Ausdruck der politischen Herrschaftsverhältnisse ist, zum anderen durch den aktiven Einsatz des Wissenschaftlers zu Gunsten der politischen Entwicklungslogik, wofür Marx und Engels das beste Beispiel abgaben. Drittens: Alle Objektivationen des Wissens in Politik, Wissenschaft, Kunst, Philosophie, Recht und Religion stellen reine Funktionalisierungen durch den ökonomischen Prozess dar. Dieser Mechanismus verspricht die Möglichkeit, prognostische Aussagen über den Gang der Geschichte auf einer wissenschaftlichen Grundlage zu treffen. Dabei wird jedoch ein geschichtsphilosophischer Wahrheitsanspruch formuliert, der weit über den Status von wissenschaftlichen Hypothesen hinausgeht. In einem erst 1932 veröffentlichten Fragment spricht Marx von der Teilung der Arbeit in der Wissenschaft als einem Ausdruck des Klasseninteresses der Bourgeoisie, woraufhin er folgert: „Es gibt [noch] keine Geschichte der Politik, des Rechts, der Wissenschaft, der Kunst, der Religion etc.“15 Nicht nur die materielle, sondern ebenfalls die geistige Arbeitsteilung sollte durch die Überwindung der bürgerlichen Gesellschaft aufgehoben werden. Marx träumte hier unter den Bedingungen der Industriegesellschaft den romantischen Traum von der Einheit des Wissens, verkörpert im Bewusstsein eines Einzelnen und im identischen Bewusstsein aller. Viertens: Zuletzt beschreibt Marx die in der Gesellschaft zum Ausdruck kommenden Klassendifferenzen als antagonistisch, wonach sie sich nur gewaltsam durch eine „totale Revolution“16 im Stile eines „veritablen Bürgerkrieges“17 entscheiden lassen. Der Sieg der proletarischen und zugleich letzten Revolution verbürgt dabei das Ende aller Ideologien. Die sich selbst undurchsichtigen Bewusstseinsformen werden aufhören und die partielle, aber einzig wahrheitsfähige Bewusstseinsform des Proletariats wird zur allgemeinen. Die Gründe für Kriege und Bürgerkriege hören   15 Marx (1983a): Beilagen, S. 539f. 16 Marx (1983c): Das Elend der Philosophie, MEW, Bd. 4, S. 182. 17. Ebd., S 180.

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auf, da die grundlegende Bedürfnisstruktur aller Menschen die gleiche ist und deren Befriedigung zur allgemeinen gesellschaftlichen Praxis erhoben wird. Im siegreichen Kommunismus wäre somit die beste aller möglichen Welten erreicht. Der Staat hört als Machtinstrument auf zu existieren und die unverfälschte Wahrheit regiert, denn alles was gedacht werden kann, entspringt einer objektiv-historischen Notwendigkeit. In einer von allen Klasseninteressen befreiten Gesellschaft gibt sich die Wahrheit für alle unmittelbar und unverschleiert zu erkennen. Die Menschheit lebt in Übereinstimmung mit ihrer Möglichkeit, d.h. nach Hegel, auf den sich Marx hier bezieht, in Identität mit ihrem Wesen oder mit ihrem Begriff. Das Paradies ist im Kommunismus nicht nah, es ist auch nicht fern, es ist in der jeweiligen Gestalt der sich notwendig entwickelnden Idealgesellschaft immer schon erreicht. Bei allem visionären Reiz, den diese Überlegungen auszustrahlen vermögen, ist nüchtern festzuhalten, dass in einer solchen Welt des unmittelbaren In-derWahrheit-Seins für so etwas wie Politik, eine Wissenschaft des Politischen oder Philosophie im traditionellen Sinne kein Platz mehr ist. Ein Ort zur Analyse und zur Vermittlung von Interessensgegensätzen ist nicht mehr notwendig, wenn die Philosophie in die gesellschaftliche Praxis überführt ist, der Tendenz nach alle zu Philosophen werden 18 oder zumindest derselben Meinung sind. Selbst wenn Marx und Engels sich den Umsturz anders vorgestellt haben und auch wenn dieser letztlich gescheitert ist, so hat er in seinen welthistorischen Wirkungen tatsächlich alles bis dahin Dagewesene übertroffen. Seinen sichtbaren Anfang nahm diese Entwicklung 1917 mit der russischen Oktoberrevolution. Existentiell für Deutschland wurde sie aber erst ein Jahr später mit der deutschen Revolution von 1918/19.19 2.2 Wilhelm Dilthey – Reform statt Revolution Marx fand auf die ewigen philosophischen Fragen nach Wahrheit, Freiheit und Gerechtigkeit mit dem sich stellvertretend für die Gesamtgesellschaft befreienden revolutionären Proletariat eine einzige und zwar eine politische Antwort. Aus der damit einhergehenden Auflösung der Grenzen zwischen Philosophie und Politik, ja zwischen Wissenschaft und Revolution, sah Dilthey eine Gefahr für den Bestand von aufeinander nicht reduzierbaren Kultursystemen erwachsen. Gleichwohl erkannte er in dem Hinweis auf die Klassenstruktur der Gesellschaft und die damit einhergehende Wahrheits- und Gerechtigkeitsfrage unabweisbare Aspekte, auf die es zu reagieren galt – allerdings ohne dabei durch einen Bürgerkrieg den Untergang der Kultur zu riskieren.   18 Marx (1984): Einleitung zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, MEW Bd. 1., S. 379 u. 385. 19 Zur Bedeutung teils eschatologischer Erwartungshaltungen vor und in der Revolution von 1918 für ihre zeitgenössische und nachträgliche Beurteilung siehe den Beitrag von Martin Platt in diesem Band.  

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Sein von 1880 bis 1910 entwickeltes hermeneutisches Konzept der individuellen Persönlichkeitsbildung durch Akte des Selbst- und Fremdverstehens20 stand unter der Losung: „Reform, nicht radikale revolutionäre Veränderung“21. Er verstand es als eine geisteswissenschaftliche Alternative zur historisch-materialistischen Ideologiekritik, indem er die Methode gegenüber den gleichen, aber als eigengesetzlich erachteten, Kulturtypen wie „Moral, Religion und Metaphysik [Philosophie]“ zur Anwendung brachte, die Marx als bloße „Ideologie“ bezeichnete oder die er als Ausdruck ideologischer „Bewusstseinsformen“ beschrieb22. Aus Ideologie wurde bei Dilthey Weltanschauung, aus Bewusstseinsformen wurden Weltanschauungsformen und aus der Kritik der Ideologien wurde in seiner Terminologie die Weltanschauungsanalyse. Die Relativierung der Weltanschauungen fiel bei Dilthey zum einen weniger radikal aus als bei Marx. Zum anderen verzichtete er auf die Priorisierung einer einzigen. Vor allem aber verzichtete Dilthey auf die metaphysische Hintertür des Marxismus und auf die damit verbundene Glaubensgewissheit, die aus der Idee des Proletariats als einer Art Erlöser erwächst, vergleichbar der späteren Rolle der idealisierten Einheitspartei im Leninismus oder zur Figur des vergöttlichten Führers im Stalinismus. Für die vier Fragen folgt daraus: Erstens: Die Notwendigkeit einer eigenständigen Wissenschaft von der Politik erkannte Dilthey nicht an. Das Politische stellte für ihn keinen eigenständigen und wahrheitsfähigen Bereich der Kultur dar und sollte vielmehr als ein geisteswissenschaftliches Subthema behandelt werden. Zweitens: Die wissenschaftliche Perspektive betrachtete Dilthey ihrem Anspruch nach als wertfrei, was für den Bereich einer nur hypothetischen Wissenschaft von der Politik gleichermaßen zu gelten habe. Drittens: Bezüglich der Frage nach der Determiniertheit des Denkens griff er einen zentralen Gedanken von Marx auf, nur dass die das Denken bestimmende Lage nicht mehr rein materialistisch, d. h. klassengebunden und ökonomisch verstanden wurde, sondern anthropologisch, psychologisch und lebensweltlich. Es sollten zunächst Grundtypen des philosophischen Denkens bestimmt werden, von denen dann miteinander koexistierende politische Einstellungen abzuleiten wären. Viertens: Angesichts der Beantwortung der bisherigen Fragen verbot sich für ihn jeglicher Rekurs auf einen Bürgerkrieg als Mittel zur Durchsetzung politischer, religiöser oder sonstiger Ideen. Ein solcher ist zwar denkbar. Nachvollziehbare Gründe und mögliche Ziele lassen sich in Diltheys humanistischem Idealismus der Freiheit aber nur nachträglich verstehen und nicht prognostisch begründen oder der kommenden Revolution auf die Fahnen schreiben. Der Versuch einer Politisierung der Philosophie oder eines anderen Kultursystems ist von Dilthey als methodisch unbegründet und als eine Gefahr für das Denken selbst abgewiesen worden. Zugleich wurde die Geisteswissenschaft durch den Verzicht auf die Begründung einer eigenständigen Wissenschaft von der Politik an   20 Vgl. Dilthey (1960): Weltanschauungslehre, GS, Bd.8. 21 Dilthey (1934): Pädagogik, GS, Bd. 9, S. 179. 22 Vgl. Marx (1983a): Deutsche Ideologie, S. 26.

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der Beschäftigung mit neu hervortretenden politischen Kulturtypen, wie Kommunismus oder Faschismus, gehindert. Dies zu leisten, blieb seinen Kollegen und Schülern vorbehalten, darunter Max Scheler und Karl Mannheim. 3. DURCHFÜHRUNG 3.1 Georg Lukács – Revolutionärer Messianismus in der Weimarer Republik Lukács führte 1923 mit seinem Buch Geschichte und Klassenbewusstsein in Deutschland einen Angriff auf das bürgerlich-liberale Denken in der Tradition Diltheys. Die darin versammelten Aufsätze stellen Reaktionen auf die russische und deutsche Revolution sowie auf Lukács´ eigenes Engagement in der ungarischen Räterepublik dar. Unter Bezug auf Max Weber und den Diltheyschüler Georg Simmel unternahm er darin eine folgenschwere Aktualisierung des Marxschen Ideologiedenkens. Seine nicht zuletzt über Simmel vermittelte Nähe zu „idealistisch-ethische[n] Fragestellungen“23 provozierte heftige Kritik von Seiten des sich gerade zu einer säkularen Weltkirche konstituierenden Marxismus-Leninismus. Insbesondere die Frage, wie sich das dem Proletariat zugerechnete revolutionäre Bewusstsein in eine revolutionäre Praxis überführen lasse, schien darin unzureichend geklärt. Vermisst wurde an der von Lukács später selbst als „subjektivistisch“ und „utopisch“24 kritisierten Theorie die Einbeziehung der nach Marx notwendigen ökonomischen Vermittlungsschritte. Was die Kritiker allerdings auch nicht erklären konnten, war die Frage, wie Marx überhaupt zu seinen Erkenntnissen kommen konnte, entstammte er doch der falschen Klasse und schien sein Bewusstsein den Bedingungen von dessen Möglichkeit weit voraus zu sein. Lukács hatte jedenfalls gegen den orthodoxen Marxismus und letztlich gegen sich selbst auf eine Weise Recht, die er später nicht mehr wahrhaben wollte. Sein damaliges Denken hatte die unbeabsichtigte Konsequenz, dass mit der Entfremdung, wenn diese von einem eher ökonomischen zu einem eher moralischen Begriff umgedeutet wird, die Notwendigkeit einer dezidiert proletarischen Revolution entfallen könnte. Denn entfremdet war nach Lukács nun nicht mehr nur der Arbeiter von seinem Produkt und von dem erzielten Mehrwert seiner Arbeit. Als von seiner idealen Lebensmöglichkeit entfremdet konnte nun jeder unter bürgerlich-kapitalistischen Verhältnissen lebende Mensch angesehen werden. Dieser sollte sich zudem spontan seiner Situation bewusst werden und politisch dagegen angehen können. Bekannt ist dieser Gedanke heute nicht nur aus der marxistischen Kulturkritik in der Traditionslinie von Luxemburg, Lukács, Bloch, Marcuse, Adorno, Horkhei  23 Lukács (1968): Geschichte und Klassenbewusstsein, Vorwort von 1967, S. 7. 24 Ebd., S. 8.

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mer, bis zum frühen Bahro, mit der Pointe der Anwendung des Entfremdungsbegriffs auch auf sozialistische Verhältnisse. Ebenso findet sich diese Denkform in einer von der deutschen Romantik herrührenden konservativen Zivilisationskritik in der Linie Jünger, Schmitt, Heidegger und der späte Bahro. Zu einem wichtigen Zeugnis des intellektuellen Radikalismus in der Weimarer Republik wird Lukács´ Kapitalismus- und Demokratiekritik aber erst durch seine Beantwortung der vier Fragen im Sinne des Marxismus-Leninismus. Er selbst sprach in dieser Hinsicht von seinem „Hass auf das Leben im Kapitalismus“25 und die bürgerliche Welt seiner Herkunft, gekoppelt mit der Hoffnung auf einen „großen revolutionären Umschwung“ nach dem Vorbild der „Oktoberrevolution“26. In Verbindung mit dem Postulat der „Todfeindschaft“ gegenüber den „sozialdemokratischen Opportunisten“27, als einem einzigen möglichen Verbündeten, konnte dies 1923 wohl nichts anderes als Bürgerkrieg bedeuten. Faktisch sprach Lukács, im Unterschied zu seinen orthodox marxistischen Kritikern, nicht von Bürgerkrieg28, sondern von einem die Revolution vorbereitenden „Kampf um das Bewußtsein“.29 3.2 Carl Schmitt – Gegenrevolutionärer Messianismus in der Weimarer Republik Eine gänzlich andere Reaktion auf die russische Revolution, den Zusammenbruch der alten Ordnung und vor allem des Staates stellt das Denken Schmitts dar. Die Angst vor dem Chaos veranlasste ihn zum Entwurf eines Souveräns, der nicht nur formal über den Ausnahmezustand entscheiden kann, sondern diesen auch zur Gefahrenabwehr einzusetzen bereit ist. Nach Schmitt hat sich die Weimarer Republik in einem Anfall von radikal-romantischem Demokratismus die Mittel zur Verteidigung gegenüber ihren inneren Feinden selbst aus der Hand geschlagen. Der politische Extremismus von links wie rechts sei von einer Übernahme der Macht auf Dauer nur durch das Zusammenwirken von starkem Staat, starkem Mann und einer Tradition, die sich auf einen starken Glauben gründet, abzuhalten. In dieser Kombination sah er die einzige Möglichkeit, um eine drohende Sowjetisierung Deutschlands zu verhindern, worin für ihn die politische Hauptgefahr lag. Sein Denken nahm dabei die Gestalt einer politischen Theologie an, die sich 1918/19 noch als radikal antimarxistisch und antirevolutionär verstand. Er argu  25 26 27 28

Ebd., S. 8. Ebd., S. 8 und 17. Ebd., S. 118. Einer seiner schärfsten Kritiker erinnerte ihn daran, dass man sich in einem „Zeitalter der Bürgerkriege“ befinde, wonach sich die Kritik am Marxismus für Marxisten von selbst verbiete und als „Sünde“ anzusehen sei. (Rudas, Ladislaus (1924): Klassenbewußtseinstheorie, S. 1081f.) 29 Lukács (1968): Geschichte und Klassenbewusstsein, S. 151.  

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mentierte auf eigenwillige Weise intellektuell-analytisch und zugleich überwältigend und denunziatorisch. Im Rahmen seines Freund-Feind-Schemas30 sollten Gegner identifiziert, anhand ihrer theoretischen Schwächen und Widersprüche klassifiziert und im Gestus der Allwissenheit – der freilich unbegründet bleibt – aus der politischen Kultur eliminiert werden. Statt zu einer Verschmelzung von Philosophie und Politik – wie im Marxismus – kommt es zu dem Versuch einer Verschmelzung von Politik und Religion. Aus Schmitts antidemokratischer und gegenrevolutionärer Haltung erwuchs dem liberalen Weimarer Prinzip ein zunächst noch ganz der Tradition des Konservativismus verhafteter Gegner. Jetzt hatte nicht nur der antibürgerliche Internationalismus mit Lukács einen klugen, selbständig denkenden und aggressiven Wortführer auf seiner Seite, sondern auch der konservativ-autoritäre Nationalismus. Schmitts spätere Wendung von einem konservativen Rechtsdenker zum Advokaten des Führerprinzips stellt zwar eine Radikalisierung dieses Denkens dar. Zugleich ist die Anwendung seines politisch-philosophischen Staatsverständnisses auf die Erfordernisse nach der nationalsozialistischen Machtergreifung von Kontinuität gezeichnet. In der weltanschaulichen Umstellung von autoritär-konservativ auf völkisch-totalitär steht Schmitt beispielhaft für den Übergang von einem existentiellen Konservativismus zu zentralen Aspekten der Weltanschauung des NS. Die vier zu behandelnden Fragen lassen sich folgendermaßen beantworten. Erstens: Systematisch ist von Schmitt keine politische Wissenschaft entworfen worden. Seine „Politische Theologie“31 kann aber als eine solche gelesen werden. Zweitens: Die Wissenschaft musste dabei nicht explizit politisch sein und die Politik nicht explizit wissenschaftlich werden. Beide, Wissenschaft und Politik, haben sich stattdessen den Interessen des Staates und des sich in ihm zusammenfindenden Volkes unterzuordnen. In seiner wahlweisen „Entscheidung“ für Volk, Religion oder Rasse als ein Wahrheitskriterium erwies sich ihm „das Politische als das Totale“32 und zeigte sich sein Denken in seiner Grundstruktur als illiberal. Drittens: Die Legitimation von Macht und die Bestimmung von Interessen sollte sich wiederum von selbst verstehen – zumindest für diejenigen gleichen Glaubens oder Herkunft. Die menschlichen Wissensformen stehen somit auch in dieser Perspektive in einem strengen Funktionsverhältnis. Allerdings wird hier nicht auf eine Klasse hin funktionalisiert, sondern zunächst auf christliches Kultur-Volk und nach der Machtergreifung auf Rasse. Viertens: Die aus verschiedenen Gruppeninteressen erwachsenden gesellschaftlichen Differenzen erscheinen natürlicher Art. Sie lassen sich nicht auflösen oder ausgleichen, sondern letztlich nur gewaltsam entscheiden, nötigenfalls unter Ausrufung des Ausnahmezustandes als einer verrechtlichten Form

  30 Hier noch implizit. Später hat Schmitt es zu einem Grundprinzip seiner politischen Philosophie erhoben. Vgl. insb. Schmitt (1927): Begriff des Politischen. 31 Schmitt (1922): Politische Theologie. 32 Ebd., Vorbemerkung zur zweiten Auflage 1933, S. 7.  

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des Krieges im Innern. Zur Begründung des Ausnahmezustandes diente ihm insbesondere die Verhinderung eines ungeregelten Bürgerkrieges.33 Er sah nicht, dass sein Denken geradewegs auf einen solchen zuführte oder er nahm es billigend in Kauf. Parallel hierzu formulierte Adolf Hitler im letzten Kapitel von Mein Kampf seine Thesen zu dem von den Nationalsozialisten vorzubereitenden „Vernichtungskrieg“ gegen den Marxismus, das Judentum, den Katholizismus und alle weiteren Feinde. Diesen Krieg versprach er im Stile von „blutigsten Bürgerkriegen“34 zu führen und er fügte dem noch die Phantasie hinzu, dass bei dieser Gelegenheit auch ein paar tausend Juden zur Abschreckung „unter Giftgas gehalten“35 werden könnten. Eine Maßnahme, die Hitler während des Weltkrieges zu vermissen vorgab und die er zur Schwächung des „Feinde[es] im eigenen Inneren“36 im „zweiten Kampf“ oder „letzten Entscheidungskampf“37 – nachzuholen empfahl. Bei Schmitt wie bei Hitler stehen außerhalb der eigenen Volks- und Glaubensgemeinschaft nur noch potentielle Feinde. Diejenigen sind – vergleichbar den Klassenfeinden beim Aufbau des Kommunismus – zu gegebener Zeit nach innen und nach außen hin zu bekämpfen, Die Begründungen sind verschieden, die Folgen sind ähnlich, wobei der zur Herrschaft gekommene Faschismus seine Feinde zum Selbstzweck zu bekämpfen scheint und diesen nicht mehr dialektisch auseinandersetzen muss, warum ihr Untergang aus den edelsten humanistischen Überlegungen heraus geschehen muss. Nicht nur der humanistische auch der philosophische Anspruch des zur Macht gekommenen Marxismus-Leninismus erscheint somit höher als der des Nationalsozialismus. Die selbstgestellte Aufgabe, seinen Opfern glaubhaft zu machen, dass ihr Leid zum Besten aller sei, erinnert dabei an ein Paradoxon, an dessen Lösung bereits die heilige römische Inquisition gescheitert ist. 3.3 Max Scheler – Ausgleich statt Bürgerkrieg Scheler gilt neben Mannheim als einer der Begründer der Wissenssoziologie. Deren zentraler Bestandteil liegt in der Fortführung und Systematisierung der von

  33 Zustimmen paraphrasierte er Donoso: „Wie der Liberalismus in jeder politischen Einzelheit diskutiert und transigiert, so möchte er auch die metaphysische Wahrheit in eine Diskussion auflösen. Sein Wesen ist Verhandeln, abwartende Halbheit, mit der Hoffnung, die definitive Auseinandersetzung, die blutige Entscheidungsschlacht, könnte in eine parlamentarische Debatte verwandelt werden und ließe sich durch eine ewige Diskussion ewig suspendieren. Diktatur ist der Gegensatz zu Diskussion.“ Schmitt (1922): Politische Theologie, S. 66f. 34 Hitler (2016): Mein Kampf, S. 1721. 35 Ebd., S. 1719. 36 Ebd., S. 1725. 37 Ebd., S. 1707f.  

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Husserl38 und Weber39 kritisch kommentierten und von Jaspers40 weitergeführten Weltanschauungsanalyse. Stärker noch als diese sah sich Scheler in der Weimarer Zeit mit dem Phänomen der weltanschaulichen Radikalisierung konfrontiert, und versuchte seinerseits darauf zu reagieren. Die Demokratie erlebte er 1925 als „dumpfe Massen-, Interessen- und Gefühlsdemokratie, für welche die Führer nur vorgeschobene Exponenten der herrschenden Gruppentriebe sind, bald völkisch, bald kirchlich, bald kommunistisch“41. Als beispielhaft für diese Entwicklungsmöglichkeiten nannte er den Faschismus in Italien, den dogmatisierten Marxismus in Russland und die politische Einflussnahme des christlichen Fundamentalismus in den U.S.A.42 In der „Tendenz auf Selbstüberwindung der parlamentarischen Demokratie“43 und des „liberalen Prinzips“ 44 durch Bürokratisierung und mangelnde Befriedigung eines „metaphysischen Bedürfnisses“ sah er die Hauptgefahr in „Bünde[n] fascistischer und kommunistischer Abart mit freien bewaffneten Gefolgschaften“45. Angesichts der durch Krieg und Revolution vertieften Gegensätze im kulturellen und politischen Bereich entwarf er bis zu seinem Tod 1928 für die miteinander im Streit liegenden Kultursysteme eine Ordnung wechselseitiger Begrenzung und Anerkennung. Die Kulturbereiche Kunst, Wissenschaft, Philosophie, Religion, Recht und Politik sollten noch entschiedener als bei Dilthey in ihrer Eigengesetzlichkeit begriffen und gegeneinander vor usurpatorischen Bestrebungen gesichert werden. Was Scheler dabei vorschwebte, war eine „Weltanschauungslehre“, die als einer Art „‘parlamentarisches System‘ in der Herrschaft der Weltanschauungen“ regulierend und ausgleichend wirkt46. Die andauernde Krise der Weimarer Republik führte nicht nur zu einer verstärkten Politisierung sämtlicher Kulturformen, wie sie zuvor bereits Dilthey prognostizierte. Nunmehr drohte von ihren extremistischen Rändern her der Gesamtkultur die Usurpation durch das Politische. Möglich wurde eine solche Entwicklung allerdings erst, indem bestimmte politische Weltanschauungen zusätzlich den Habitus von künstlerischen, philosophischen, wissenschaftlichen und religiösen Weltanschauungen annahmen. Sie beanspruchten eine immer umfassendere Antwortkompetenz für alle möglichen Fragen und behaupteten in ihrer wechselseitigen Ausschließlichkeit einen universalistischen Anspruch. Nach außen erwuchsen daraus Antagonismen und nach innen Antinomien, woraus sich deren andauernde Aggressivität in beide Richtungen erklärt.   38 39 40 41 42 43 44 45 46  

Husserl (1911): Historismus und Weltanschauungsphilosophie, S. 49–72. Weber (1919): Wissenschaft als Beruf Jaspers (1919): Psychologie der Weltanschauungen. Scheler (1925): Die Formen des Wissens und die Bildung. Ebd., S. 86. Scheler (1925): Probleme einer Soziologie des Wissens, S. 179. Ebd., S. 183. Ebd. Scheler (1922): Weltanschauungslehre, S. 26.

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Der politische Marxismus näherte sich der Kultur in usurpatorischer Absicht von Seiten der Philosophie und der Sozialwissenschaften. Das völkische Denken setzte zunächst bei Kunst und Religion an, um sich der Formen des gesellschaftlichen Irrationalismus und des Kultes zu bemächtigen. Beide stießen dabei in die Mitte der Gesellschaft vor, wo den Vertretern der liberalen Demokratie zwar noch die Institutionen des Rechts und des Staates zuzugehören schienen, aber in einem zunehmenden Maße nicht mehr die Menschen. Max Scheler war sich der von mir hier geschilderten Entwicklungen47 nicht nur als einer Bedrohung des philosophischen Denkens, sondern gegenüber der intellektuellen Kultur als solcher offenbar bewusst. Jedenfalls reagierte auf diese Gefahr, indem er sein kultursystematisches Denken auf den Bereich der konkreten politischen Weltanschauungen ausdehnte. Er strebte einen politischen Ausgleich auf der Grundlage eines universalistischen Menschenbildes an, um einen drohenden Bürgerkrieg zu verhindern. Seine zu diesem Zwecke gegen die Rede vom Klassenkrieg und Rassenkrieg formulierte Geschichtserzählung firmierte unter der Bezeichnung „Weltalter des Ausgleiches“48. Träger dieses Kompromisses sollte eine philosophische Elite sein. Denn nur einer solchen traute er es zu, sich zu Gunsten von Allgemeininteressen von ihren Sonderinteressen zu lösen. Somit sind die Antworten, welche sich bei Scheler auf die gestellten vier Fragen finden, die gleichen wie zuvor bereits bei Dilthey. Bei ihm kam es im Unterschied zu Lukács und Schmitt zu keiner Ausbildung einer eigenständigen politischen Wissenschaft. Vielmehr suchte er den Bereich des Politischen in seine Kultursystematik zu integrieren und somit einzuhegen. Die in Deutschland sich lange berührungslos voneinander weg entwickelnden Bereiche der geistigen Kultur und einer von Trieben gesteuerten Politik sollten auf diese Weise selbst zu einem Ausgleich gelangen. Schelers eigene philosophische und politische Weltanschauung war dabei stärker metaphysisch-religiös orientiert als Diltheys idealistischer Glaube an den Menschen. Diese könnte in Anlehnung an Schmitt sogar als eine politische Theologie bezeichnet werden. Nur steht bei diesem der rächende, strafende und kriegerische Gott des Alten Testaments im Mittelpunkt. Bei Scheler hingegen ist es der liebende, vergebende und duldende Gott des Neuen Testaments. Hinzu kommt die spezifische Struktur seines zweistufigen Systems der gesellschaftlichen Wissensformen. Darin existieren nicht nur die verschiedenen Formen des Wissens und Weltanschauens wie Kunst, Wissenschaft, Philosophie, Religion und Politik als aufeinander abgestimmt. Innerhalb dieser formalen Struktur sollten die konkreten ästhetischen, philosophischen usw. Weltanschauungen ihre Differenzen austragen können. Das mag damals vielleicht als weltfremd erschienen sein, beschreibt zugleich aber nichts anderes als die Realität der politischen Auseinandersetzung in der heutigen Bundesrepublik.   47 Diese beruht in auf einer Auseinandersetzung mit Texten von Klaus Lichtblau und Wolf Lepenies. Vgl. Lichtblau (1996): Kulturkrise und Soziologie. Und Lepenies (2006): Kultur und Politik. 48 Scheler (1922): Weltanschauungslehre.

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3.4 Karl Mannheim – Entwurf einer Politischen Wissenschaft Wie Scheler sah sich Mannheim mit einem „Kampf aller gegen alle in der geistigen Arena“49 konfrontiert. Auch er reagierte auf Gefahr des Zerreißens, zuerst der intellektuellen Kommunikation und danach des gesellschaftlichen Zusammenhalts. Paradoxerweise sah er die Politik im Zuge der „Demokratisierung“50 der Kultur im „Kampfe bestimmter um die Weltbeherrschung ringender Gruppen“ und ihrer „Weltauslegungsarten“.51 Politik tendiere dazu, „ein Kampf auf Tod und Leben zu werden“52, wobei das Ziel der Extremen sei, nicht mehr „bloß im Recht zu sein, sondern auch die gesellschaftliche und geistige Existenz ihrer Gegner zu vernichten“.53 Weniger als Scheler und Dilthey dem philosophischen Idealismus verhaftet, veröffentlichte er 1929 seinen ersten Entwurf zu einer „politischen Wissenschaft“54, die er im Gegensatz zu Lukács und Schmitt auch so benannte. Im Unterschied zu den Genannten begründete er diese sozial-wissenschaftlich und nicht mehr metaphysisch-philosophisch oder politisch-ideologisch. Eine politische Wissenschaft habe daher drei Aufgaben zu lösen. Zum einen soll sie prüfen, inwieweit die Politik als institutionelles Regierungshandeln nach wissenschaftlichen Kriterien und Erkenntnissen betrieben werden kann. Zum anderen sollen die bestehenden politischen Weltanschauungen – bei Mannheim „Ideologien“ – einer vergleichenden Analyse unterzogen werden. In einem weiteren Schritt sollte sie dazu dienen, eine „spezifische Aufgabe politischer Bildung“ zu erfüllen, welche in der „Bildung eines Nachwuchses im Gebiete des Aktiven, des Politischen“ bestünde55. In dieser neuen politischen Klasse sah Mannheim den „prädestinierte[n] Anwalt der geistigen Interessen des Ganzen“56, der aus einer „Mittellage“57 heraus und unter dem „Bedürfnis der Gesamtorientierung und der Zusammenschau“ bei der „Vermittlung zwischen den Extremen“58 die Funktion eines „Wächters“ zufällt.59 Zur Ausarbeitung, aber nicht zur Vollendung, gelangte bis 1933 nur der zweite Teil. Analysiert und verglichen wurden darin die in der Weimarer Republik miteinander um die Alleinherrschaft im Staat streitenden „vier Gegenspieler […] in unserer Epoche“, beziehungsweise deren „idealtypische[n] Repräsentanten“60: Des   49 50 51 52 53 54 55 56 57 58 59 60  

Wirth (1965): Vorwort zu: Mannheim (1929): Ideologie, S. IX. Mannheim (1929): Ideologie, S. 9. Ebd., S. 231. Ebd., S. 34. Ebd., S. 35. Ebd., S. 6. Ebd., S. 154f. Ebd., S. 138. Ebd. Ebd., S. 134. Ebd., S. 140. Ebd., S. 102.

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demokratischen Liberalismus, des radikalen Konservatismus, des nationalistischen wie rassistischen Faschismus und des Kommunismus.61 Dabei sollte weniger deren unmittelbare Programmatik zur Darstellung gelangen. Vielmehr ging es um die geistigen Grundlagen und die Zielvorstellungen für den Fall des Erreichens der alleinigen Macht. Mannheim ging es wie Scheler zwar um die Frage nach möglichen Synthesen, aber mehr noch ging es ihm um ein Verstehen mit dem aufklärerischen Ziel, die Öffentlichkeit über die Natur der miteinander streitenden Parteien in Kenntnis zu setzen. Sein neuartiger Ansatz bediente sich dabei gleichermaßen sozialwissenschaftlicher und geisteswissenschaftlicher Methoden, z. B. Marx´ These von der sozialen Lage des Denkens sowie Diltheys Konzept eines verstehenden und die Welt auslegenden Bewusstseins. Der Entwurf stellt somit eine Synthese zwischen Ideologiekritik und Weltanschauungsanalyse dar – unter Enthaltung von jeglichem revolutionären, antirevolutionären, kulturromantischen oder zivilisationskritischen Gestus. Politisch blieb sein Denken in dem formalen Sinne, dass trotz aller wissenschaftlichen und methodischen Differenzen die Arena zu deren Austragung unbedingt offenzuhalten sei.62 Diese Zwischenstellung bescherte ihm von seinen Gegnern auf allen Seiten die heftigste Kritik. Den Marxisten galt er als zu idealistisch und philosophisch, den philosophischen Idealisten als zu marxistisch und politisch, den Konservativen galt er als zu liberal und zu jüdisch. Bis zum Ende der Republik hielt diese allgemeine Kritik an und erschwerte nach 1945 letztlich die Rückkehr des Ansatzes aus dem Exil. Mannheim rezipierte nicht nur Dilthey, Lukács, Scheler und Schmitt, diese waren ihm auch persönlich bekannt. An Schmitt bewunderte er, wie übrigens auch Lukács, die Kritik des politischen Irrationalismus in der deutschen Romantik, bevor dieser selbst zum politischen Romantiker wurde.63 Den Marxismus seines Freundes Lukács rezipierte er kritisch und als Hermeneutiker, was ihm von diesem später die heftigsten Vorwürfe64 eintrug. Den weltanschauungsanalytischen Ansatz von Dilthey und Scheler komplettierte er um den Bereich des Politischen. So gelang es ihm, die Weltanschauungsanalyse von einem rein philosophischen auf einen sozialwissenschaftlichen Unterbau zu stellen, ohne dabei ihre Herkunft aus der Philosophie zu verleugnen.   61 Vgl. ebd., S. 102–128. Das Besondere an dieser Aufzählung liegt in der relativ frühen Benennung aller am (nicht nur geistigen) deutschen Bürgerkrieg des 20. Jahrhunderts beteiligten Parteien, denen es tatsächlich gelang, in einem deutschen Staat oder in einem Teil, die politische Macht auszuüben. (Der Reihenfolge nach: In der Weimarer Republik und der Bundesrepublik Deutschland, im Ständestaat Österreich, im “Dritten Reich“ und in der “Deutschen demokratischen Republik“). 62 Vgl. ebd., S.76. 63 Prägnant für diesen Wandel ist die Verwendung der Unterscheidung von Freund und Feind, die er 1919 noch aus einer romantisch-occasionalistischen Geisteshaltung hervorgehen sah und als „Scheinargumentation“ bezeichnete. Schmitt (1919): Politische Romantik, S. 109. 64 Lukács (1955): Zerstörung der Vernunft, S. 318–413.  

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Der hervorstechende Ausdruck dieser Herkunft ist Mannheims Intellektuellensoziologie. Darin beschrieb er eine eigene Klasse „sozial freischwebende[r] Intelligenz“65. Deren Vertreter seien sich ihrer sozialen Determiniertheit und sonstiger Funktionalisierungen bewusst, die sie zu relativieren verstehen. Erst auf dieser Grundlage seien überhaupt Synthesen oder Kompromisse im Bereich der Weltanschauungen möglich.66 Eine solche zuerst von Alfred Weber insinuierte Vorstellung verhält sich analog zu Diltheys Idee eines nicht akademischen Philosophen und zu Schelers Begriff des Weltanschauungsphilosophen. Übereinstimmend ging es bei dieser partiellen Abkehr von der parlamentarischen Massendemokratie nicht um deren Ende, sondern um eine individuelle und nicht mehr kollektive Zurechenbarkeit demokratischer Eigenschaften, wie Selbstdurchsichtigkeit und Kompromissfähigkeit.67 4. REPRISE Anhand der die Untersuchung leitenden vier Fragen zeigt sich eine deutliche Differenz von marxistischer, konservativer und völkischer Ideologiekritik auf der einen Seite und demokratischer Weltanschauungsanalyse auf der anderen. Dies gilt sowohl in wissenschaftlicher als auch in politischer Hinsicht. Auf Seiten der Ideologiekritik korrespondiert in allen ihren Spielarten mit der Begründung einer Wissenschaft des Politischen ein unbedingter Wille zur politischen Tat. Diese Tat soll entweder revolutionär sein oder gerade die Revolution verhindern. Die nicht zuletzt zwischen revolutionärer und gegenrevolutionärer Ideologiekritik zum Ausdruck kommenden Differenzen werden als antagonistisch angesehen und auf verschiedene Klassen-, Stände- oder Glaubens- bzw. Rassezugehörigkeiten zurückgeführt. Diese Determinanten gelten außer beim traditionellen Konservativismus als unhintergehbar, wonach ein Klassen- oder Rassenkrieg – sprich Bürgerkrieg – als unvermeidbar erscheint. Die Ideologiekritik in der Weimarer Republik fächert sich dabei aufgrund ihrer politischen Extrempositionen und des Rekurses auf verschiedene Wahrheitskriterien nach Mannheim in zwei „einander bekämpfende Gegenutopien“68 auf. Die Weltanschauungsanalyse hingegen neigt in beiden Formen – einer eher philosophischen und einer eher sozialwissenschaftlichen – weder zu politischer Militanz, noch schließen sich beide kategorisch aus. Die Differenzen sind methodischer Natur und stehen in keinem absoluten Bedingungsverhältnis zu einer etwaigen politischen oder religiösen Agenda. Der Methodenstreit innerhalb der Weltanschauungsanalyse ist nach innen wie nach außen z. B. gegenüber den Argumenten der Ideologiekritik insofern offen, als dass dem Konkurrenten oder Gegner weder   65 Mannheim (1929): Ideologie, S. 135. 66 Ebd., S. 165f. 67 Darin liegt ein weiterer Beleg für die starke Bezogenheit der Ansätze von Dilthey, Scheler und Mannheim aufeinander, welche bislang so noch nicht gesehen wurde. 68 Ebd., S. 181.

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die Möglichkeit zur öffentlichen Äußerung genommen wird, noch soll diesem aus politisch-ideologischen Überlegungen heraus ein persönlicher Schaden zugefügt werden. Die große Gemeinsamkeit von Ideologiekritik und Weltanschauungsanalyse resultiert aus der Relativierung von Wahrheitsansprüchen mittels der Kenntlichmachung verschiedener Bedingungs- und Funktionalisierungsverhältnisse. Doch während die Weltanschauungsanalyse diesen Prozess immer weiter treibt und letztlich auf sich selbst anwendet, postuliert die Ideologiekritik im Proletariat, im Volk oder in der Rasse ein Ideales und Absolutes, welches diesem Prozess enthoben sein soll. Der daraus erwachsende Widerspruch sprengt das jeweilige System oder schließt es nach außen hin sektiererisch ab. Eine Wissenschaft des Politischen kann so zwar gewollt und postuliert werden, mit einem exklusiven Wahrheitsanspruch ausgestattet und politisch betrieben verliert sie aber ihre Existenzberechtigung als eine wissenschaftliche Methode. Aus einer letzten Gemeinsamkeit erwächst zugleich die entscheidende Differenz zwischen Ideologiekritik und Weltanschauungsanalyse. In beiden kann es zur Ausbildung einer politischen Religion oder politischen Theologie, beziehungsweise Metaphysik kommen. Diese allein ist jedoch nicht ursächlich für einen geistigen Bürgerkrieg. Ist sie in ein offenes – so wie bei Scheler – oder demokratisches – so wie bei Mannheim – System des Wissens eingebunden und nicht dessen beherrschende Instanz, bleibt die Anerkennung verschiedener politischer Glaubensrichtungen möglich und ist ein Ausgleich von gegenteiligen aber berechtigt erscheinenden Forderungen zumindest denkbar. Die in Disposition und Durchführung entworfene Konstellation von marxistischer Ideologiekritik, völkischem Ideologiedenken sowie republikanischer Weltanschauungsanalyse hat bis heute ein Nachspiel. Die von Scheler und Mannheim in den zwanziger Jahren in wechselseitiger Ergänzung entwickelte Methode einer wissenssoziologisch-hermeneutischen Weltanschauungsanalyse wurde 1933 ins Exil getrieben und später in der Bundesrepublik und der DDR zu Gunsten anderer Ansätze marginalisiert. Scheler und Mannheim waren nach 1945 zwar dem Namen nach und unter dem Signum der „Wissenssoziologie“ bekannt, auch konnten diesbezüglich Beiträge aus England und den USA zumindest in die Bundesrepublik zurückwirken.69 Von einem Zusammenführen und Weiterdenken dieser Theoriemodelle kann aber nicht die Rede sein. Nicht gänzlich unschuldig daran, später fälschlich der Ideologiekritik zugeschlagen zu werden, fand Mannheim dort kein Zuhause. Er benutzte die Begriffe Weltanschauung und Ideologie sowie Weltanschauungsanalyse und Ideologiekritik zwar synonym, aber ausdrücklich in einem nicht marxistischen Sinne. Zudem ar  69 Diese wurden insbesondere über den ebenfalls emigrierten Wissenssoziologen Alfred Schütz vermittelt. So auch das Buch von Berger / Luckmann (1972): Konstruktion der Wirklichkeit. Dieses einflussreiche Buch wird in seiner schroffen Abgrenzung zum eher ideengeschichtlichen Ansatz von Scheler und Mannheim diesen nicht gerecht und ist somit selbst Teil des geschilderten Vergessens- und Verdrängungsprozesses.

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beitet er zu dieser Zeit nur zu politischen Weltanschauungen, welche immer Interessen geleitet sind. Nur für diese nutzte er den Begriff der Ideologie. Eine oberflächliche Lektüre kann hier zu Missverständnissen führen und vergessen lassen, dass Mannheims, sich dessen bewusst, bereits nach der Veröffentlichung von „Ideologie und Utopie“ den Begriff der Ideologie zu vermeiden suchte. Einflussreicher wurden deren ehemalige Opponenten und Herolde von proletarischer Revolution und konservativer Gegenrevolution. Lukács avancierte, obgleich er sich von seiner Schrift aus dem Jahr 1923 distanzierte, zum Ideengeber der neomarxistischen Ideologiekritik. Schmitts Denkgestus und seine harte Sicht auf die Dinge ist weiterhin von einer Faszination, welche nicht nur die Denker des Prinzipiellen betrifft. Beider Aktualität erwächst aus den andauernden Ärgernissen, welche die Herrschaft des liberalen Prinzips in der auf Wahrheit und Authentizität abzielenden Welt der Weltanschauungen hervorruft und hervorrufen muss. Doch weder konnten Lukács und Schmitt einen solchen Anspruch konkret einlösen, noch ist irgendeine Weltanschauung in der Lage, dies verallgemeinernd und für alle zufriedenstellend zu tun. Der zusammen mit der Gründung der Weimarer Republik ausgebrochene geistige Bürgerkrieg nahm immer mehr die Gestalt eines realen an. Dieser deutsche Bürgerkrieg wurde erst 1989/90 entschieden. Doch sich dieses Sieges sicher zu sein, widerspräche nicht nur der historischen Erfahrung, es widerspräche auch dem liberalen Prinzip in Wissenschaft und Politik. LITERATUR Berger, Peter L. / Luckmann, Thomas: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie, 3. Aufl., Frankfurt/M. 1972. Dilthey, Wilhelm: Pädagogik. Geschichte und Grundlinien des Systems, GS, Bd. 9, Leipzig 1934. Ders.: Weltanschauungslehre. Abhandlungen zur Philosophie der Philosophie, GS, Bd. 8, Stuttgart 1960. Engels, Friedrich: Grundsätze des Kommunismus, MEW, Bd. 4, Berlin (Ost) 1983. Ders.: Anti-Dühring, MEW, Bd. 20, Berlin (Ost) 1990. Ders.: Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie, MEW, Bd. 21, Berlin (Ost) 1984. Hitler, Adolf: Mein Kampf. Eine Kritische Edition, Hartmann, Christian u.a. (Hrsg.), München / Berlin 2016, zuerst 1925 und 1927. Husserl, Edmund: „Historismus und Weltanschauungsphilosophie“, in: Philosophie als strenge Wissenschaft, Frankfurt/M. 1965, zuerst 1911. Jaspers, Karl: Psychologie der Weltanschauungen, 6. Aufl., München 1985, zuerst 1919. Lepenies, Wolf: Kultur und Politik. Deutsche Geschichten, München/Wien 2006. Lichtblau, Klaus: Kulturkrise und Soziologie um die Jahrhundertwende, Frankfurt/M. 1996. Lukàcs, Georg: Geschichte und Klassenbewußtsein, 2. Aufl., Neuwied 1968, zuerst 1923. Ders.: Lebensphilosophie im imperialistischen Deutschland. In: Zerstörung der Vernunft, Berlin (Ost) 1955. Mannheim, Karl: Ideologie und Utopie, 8. Aufl., Frankfurt/M. 1995, zuerst 1929. Marx, Karl: Deutsche Ideologie. MEW, Bd. 3., Berlin (Ost) 1983a. Ders. / Engels, Friedrich: Manifest der Kommunistischen Partei, MEW, Bd. 4, Berlin (Ost) 1983b. Ders.: Das Elend der Philosophie, MEW, Bd. 4, Berlin (Ost) 1983c.

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Ders.: Einleitung zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, MEW Bd. 1., Berlin (Ost) 1984 Rudas, Ladislaus: Die Klassenbewußtseinstheorie von Lukács II, in: Arbeiterliteratur, Heft 12, Wien 1924. Scheler, Max: Der Mensch im Weltalter des Ausgleichs. In Philosophische Weltanschauung, Bern 1968, zuerst 1927. Ders.: Probleme einer Soziologie des Wissens. In: GW, Bd. 8, 2. Aufl., Bern/München 1969, zuerst 1925. Ders.: Die Formen des Wissens und die Bildung. In: GW, Bd. 9, Bern/München 1979, zuerst 1925. Ders.: Weltanschauungslehre, Soziologie und Weltanschauungssetzung. In: Schriften zur Soziologie und Weltanschauungslehre. 3. Aufl., GW, Bd. 6, Bonn 1986, zuerst 1922. Schmitt, Carl: Politische Romantik: 6. Aufl., Berlin 1991, zuerst 1919. Ders.: Der Begriff des Politischen, 1933 bearb. Aufl., Berlin 1991, zuerst 1927. Ders.: Politische Theologie. 10. Aufl., Berlin 2015, zuerst 1922. Weber, Max: Wissenschaft als Beruf. In Schriften 1894–1922. Kaesler, Dirk (Hrsg.), Stuttgart 2002, zuerst 1919. Wirth, Luis: Vorwort zu: Mannheim, Karl: Ideologie und Utopie 4. Aufl., Frankfurt/M. 1965, S. IX.

‚FLAGGENSTREIT‘ Zur politischen Sinnlichkeit der Weimarer Demokratie Verena Wirtz 1. ‚WEIMAR‘ – WEDER BONN NOCH BERLIN Der berühmt-berüchtigte Flaggenstreit ist in die deutsche Geschichtsschreibung eingegangen als Exempel für die Demokratieunfähigkeit der Weimarer Republik. Wie viele andere Fallbeispiele reiht sich auch dieses forschungsgeschichtlich in die normative Frage nach den Fortschritten und Fehltritten der ersten deutschen Demokratie ein. Als Resultat des „Weimar-Komplexes“ der zweiten deutschen Demokratie und ihrem Leitmotiv „Bonn ist nicht Weimar“ galt sie lange als von Anfang an zum Scheitern verurteilt. Heute kann man das auch anders sehen. So wie Bonn nicht Weimar war, war Weimar auch nicht Bonn: „Weimar was Weimar“.1 So selbstverständlich diese Feststellung Benjamin Ziemanns heute klingen mag, sie war es in den letzten sechzig Jahren Republik-Forschung keineswegs. Der Historiker bringt mit dieser Formel die Defizite der bisherigen Studien zur ersten deutschen Demokratie auf den Punkt. In Anlehnung an die Historische Semantik und aktuelle Forschungstrends der politischen Kultur- und Globalgeschichte betonte er die Eigenständigkeit einer Epoche, deren Geschichte bislang allzu teleologisch geschrieben wurde, um den Aufstieg des Nationalsozialismus zu erklären und als lehrreiches Negativbeispiel der Stabilisierung und Selbstvergewisserung der zweiten deutschen Demokratie zu dienen. 2 Ziemanns Sammelrezension zeigt aber auch, dass es nicht einfach ist, die bisherigen Erzählmuster und Dichotomien zu verlassen. Sich vorzunehmen, eine Epoche völlig neu zu lesen, nachdem ihre Subjekte, Parteien und Ideologien sechs Jahrzehnte lang in links und rechts, vernunft- und herzensrepublikanisch, demokratisch   1

2  

Ziemann (2010): Weimar was Weimar, S. 571; Allemann (1956): Bonn ist nicht Weimar; Ullrich (2009): Der Weimar-Komplex. Zu den Studien, die explizit die politische Kultur und Kulturpolitik Weimars für das Scheitern der Demokratie (mit-) verantwortlich machen, zählen u.a. Düwell (1976): Deutschlands auswärtige Kulturpolitik; Hermand / Trommler (1978): Die Kultur; Heffen (1987): Der Reichskunstwart; Kniesche / Brockmann (1994): Dancing on the volcano; Schievelbusch (2001): Die Kultur der Niederlage; Jelavich (2006): Berlin Alexanderplatz; Weitz (2007): Weimar Germany; Büttner (2008): Weimar; Reichel (2012): Glanz und Elend; Trommler (2014): Kulturmacht ohne Kompass. Siehe Anm. 1 sowie Rossol (2009): Performing the Nation; Müller / Tooze (2015): Normalität und Fragilität.

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und demokratiefeindlich, modern und reaktionär eingeteilt wurden, ist leichter gesagt als getan. Blickt man aber auf ihre eigenen Selbstverständigungsweisen, auf jene Syntheseversuche, die sich seit dem Ersten Weltkrieg semantisch in Begriffsparadoxien und Komposita wie der Konservativen Revolution, dem Christussozialismus oder der Neuen Sachlichkeit niederschlugen, wird erkennbar, dass die Weimarer Republik von ihren Widersprüchen lebte. Als „Erwartungsbegriff“3 galt sie auch in Europa und in den USA als zwar prekär und offen, ebenso aber als historisch unausweichlich. Nimmt man diese Eigenständigkeit der Epoche ernst, gilt es, ihre Widersprüche auszuhalten und zu analysieren; Schubladen wie Periodisierungen zu hinterfragen und nicht sofort durch neue zu ersetzen. Das ist vielleicht eine der größten Herausforderungen der neuen Republik-Forschung. 4 Im Gegensatz zu den kontrafaktischen Werturteilen und teleologischen Erzählmodi der Vergangenheit gilt die Weimarer Republik heute wieder als Forschungsdesiderat und kulturelle Gedächtnislücke. Dass die erste deutsche Demokratie nun verstärkt ins Zentrum der Aufmerksamkeit von Politik, Forschung und Öffentlichkeit rückt, verdankt sich nicht nur dem anstehenden Gründungsjubiläum. Vielmehr lassen besonders die aktuellen Gefährdungen der repräsentativen Demokratien Parallelitäten im Umgang mit jenen Krisen erkennen, die schon die erste Demokratie ins Wanken brachten, wie die Herausgeber der Reihe „Weimarer Schriften zur Republik“ einleitend zu Recht betonen.5 Diese mögliche Analogie ist ein Grund dafür, warum wir es mehr oder weniger bewusst mit einer Renaissance der Weimar-Forschung zu tun haben, obwohl diese selbst noch nicht historisiert worden ist. Immerhin speiste sich bislang die Relevanz der Beschäftigung mit der ersten deutschen Demokratie aus ihrer Rolle als Negativfolie der Bundesrepublik. Dieses, die Wiedervereinigung überdauernde Distanzverhältnis hat sich im Rückblick nicht nur durch den realen zeitlichen Abstand zu Weimar ad absurdum geführt. Zeitgeschichtliche Forschung bedeutet auch, jene Kontinuitäten und Wiederholungsstrukturen vergessener oder bewusst verdrängter Selbstverständigungsweisen historisch zu untersuchen, die erst heute sichtbar werden. Ziel dieses Beitrages ist es daher nicht, die Demokratie vom Negativen ins Positive zu wenden, nur um die Beurteilung der Republik anders zu gewichten. Er wird es ebenfalls unterlassen, das alte Erzählmuster der Tragödie durch ein neues, etwa satirisches zu ersetzen, wie es Ziemann am Ende seiner Sammelrezension vorschlägt. Demgegenüber sollen gerade jene Lesarten und Ordnungsmuster historisierend untersucht werden, die dem Deutungshorizont der Epoche selbst entsprangen. So sind der zeitgenössische Begriff sowie die Praxis und Wahrnehmung des   3 4 5

Müller (2016): Die Weimarer Republik, S. 60 und Hertfelder (2016): ‚Meteor‘, S. 54. Vgl. Wirsching (2008): Vernunftrepublikanismus, S. 9–26. Vgl. Dreyer / Braune (2016): Weimar als Herausforderung, S. XI–XVI. Im ersten Band dieser Reihe eröffneten auch Alexander Gallus am Beispiel der Revolutionsforschung und Tim B. Müller am Beispiel der Demokratieforschung einen neuen, historisierenden Blick auf die Weimarer Republik und ihre zeitgenössischen Wahrnehmungsweisen und Möglichkeitshorizonte. Vgl. Gallus (2016): Auf dem Weg, S. 9–23; Müller (2016): Die Weimarer Republik, S. 57–81.

‚Flaggenstreit‘. Zur politischen Sinnlichkeit der Weimarer Republik

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Politischen bereits neu bewertet worden. Denn die Selbstartikulation der Zwischenkriegszeit als Übergangs- und Wendezustand resultierte nicht zuletzt aus dem deutlichen Bewusstsein der Zeitgenossen am Ende des Ersten Weltkriegs, die neue Staatsform mit entsprechenden Inhalten zu füllen und das Politische im 20. Jahrhundert neu zu definieren. Der Forschungsansatz der politischen Kulturgeschichte knüpft an diese zeitgenössische Fragestellung, wie sich Politik in der Moderne überhaupt symbolisch repräsentiert und über ihre Sinn- und Sinnesstrukturen Macht generiert, an. Nadine Rossol, Thomas Hertfelder und Christian Welzbacher ist es u.a. jüngst zu verdanken, dass Symbolpolitik heute nicht mehr nur als „dekoratives Beiwerk“ verstanden, sondern als konstitutiver Bestandteil demokratischer wie totalitärer Systeminszenierungen begriffen wird.6 Auch die Kulturpolitik war nach dem Ersten Weltkrieg keineswegs nur „eine Art Surrogatmittel zur Erreichung machtpolitischer Ziele“ wie es Kurt Düwell in seinem Grundlagenwerk von 1976 zur auswärtigen Kulturpolitik konstatierte.7 Schon am Vorabend des Ersten Weltkriegs wurde sie prominent von dem Historiker Karl Lamprecht eingefordert. Dass ihr Einsatz, wie die Propaganda im Krieg, von Seiten des Kaiserreichs weitestgehend unterlassen worden war, wurde als fatales Versäumnis begriffen und parteiübergreifend für die Kriegsniederlage mitverantwortlich gemacht. Danach institutionalisiert und systematisiert, avancierte die Kulturpolitik zum Inbegriff moderner Staatskunst und die Propaganda zur Kunst politischer Massenbeeinflussung. Die diesen Entwicklungen und Erwartungen übergeordnete Prozessvorstellung der „Ästhetisierung der Politik“ ergriff keineswegs nur Faschisten und Republikgegner, wie Walter Benjamin 1936 im Pariser Exil suggerierte.8 Parteiübergreifend setzte sich zu Beginn der Weimarer Republik mal kritisch, mal affirmativ, die Vorstellung durch, dass die neue Staatsform nur dann mit Inhalten, mit Leben und mit Herz gefüllt werden könne, wenn die Demokratie sichtbar,   6

7 8

 

Hertfelder (2008): ‚Meteor‘, S. 50; Vgl. Rossol (2010): Performing the Nation, S. 1f.; Welzbacher (2010): Der Reichskunstwart. Vgl. auch Eitz / Engelhardt (2015): Einleitung. In: Dies. (Hrsg.): Diskursgeschichte der Weimarer Republik, Bd.1, S. 8–32, hier S. 28; und speziell zum Flaggenstreit das Kapitel von Thorsten Eitz. In: ebd., S. 32–100; Siehe auch grundsätzlich Rohe (1990): Politische Kultur; Mergel (2002): Überlegungen; Stollberg-Rilinger (2005): Was heißt Kulturgeschichte des Politischen?; Hardtwig (2005): Politische Kulturgeschichte; Lepenies (2006): Kultur und Politik. Düwell (1976): Deutschlands Auswärtige Kulturpolitik, S. 247. Benjamin (1981): Das Kunstwerk, S. 7–44; Vgl. Jeismann (2014): ‚Propaganda‘, S. 205 f.; Siehe dazu überblicksartig Bussemer (2005): Propaganda. Zur Kulturpolitik siehe v.a. Lamprecht (1912): Über auswärtige Kulturpolitik; Spranger (1923): ‚Kulturpolitik‘; Rühlmann (1923): ‚Kulturpropaganda‘. In den Geistes- und Kulturwissenschaften finden sich neuere Ansätze, die den Herkunftskontext des ex post verschmähten Zusammenhangs von Ästhetik und Politik zwar neu konzeptualisieren, aber nicht historisieren. So etwa Ankersmit (1996): Aesthetic Politics; Barck / Faber (1999): Ästhetik des Politischen; Vorländer (2003): Zur Ästhetik der Demokratie; Rancière (2008): Die Aufteilung des Sinnlichen; Braubach / Setton / Temesvári (2010): ‚Ästhetisierung‘; Braungart (2012): Ästhetik der Politik.

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fühlbar, erlebbar werde. Neue Stellen wie das Reichskunstwartamt wurden geschaffen, um die „Formgebung des Reiches“ zu steuern. Sogenannte Künstlerpolitiker wie Kurt Eisner traten auf die Bühne der Politik und selbsternannte Staatskünstler versprachen dem Volk die nationale Einheit im sehnsüchtig erwarteten Kulturstaat. Vor dem Hintergrund dieses hier nur panoramahaft skizzierten Erwartungshorizontes überrascht es nicht, dass mit der neuen Staatsform auch ihre symbolische Repräsentation in Form von Flaggen und Farben umstritten war.9 2. „JEDES ZEIGEN IST VERSCHWEIGEN“10. FARBEN UND FAHNEN ALS KOMMUNIKATIONSFORMEN Flagge zeigen oder Farbe bekennen sind Redensarten, die auch im heutigen Sprachgebrauch eine klare Positionierung artikulieren – sei sie politischer oder persönlicher Natur. Sie verlangen nach einer Entscheidung, nach einem entweder – oder, Freund oder Feind. Vermittlung und Kompromiss stehen im Imperativ des FlaggeZeigens nicht zur Debatte. Ein sowohl – als auch ist in diesen Redewendungen genauso wenig inbegriffen, bedürfte es doch der mündlichen Erläuterung, während das Flagge zeigen und Farbe bekennen auch ohne große Worte durch einen rein visuellen Symbolausdruck artikuliert werden kann. Das offene, rein sinnlich wahrnehmbare Bekenntnis weiß nichts von den spezifischen Beweg- oder Hintergründen einer Haltung, auch wenn diese vorhanden sein mögen. Das Farbe-Bekennen verlangt – seinem etymologischen Herkunftskontext des Kartenspiels im 18. Jahrhundert entsprechend – nach einer für alle sichtbaren Stellungnahme. Während Farbe bekennen heute auch eine private Meinungsäußerung darstellen kann, wird das Flagge zeigen vor allem in politischen Kontexten verwendet und steht im metaphorischen Feld des Krieges. Die ursprünglich aus der Seefahrt stammende Redensart unter falscher Flagge segeln bedeutet im militärischen Kontext eine verdeckte Operation durchzuführen, im übertragenden Sinne seine Identität zu verschleiern, seine innere Haltung zu maskieren. Die Flagge zu hissen gehörte schon im Mittelalter zum Akt der Eroberung und war ein praktisches Signal der Zuordnung auf dem Schlachtfeld, während die Flagge streichen Kapitulation und Niederlage bedeutete. Daher versinnbildlichte die Flagge seit dem 15. und vermehrt seit dem 16. Jahrhundert kollektive Zugehörigkeitsmerkmale, und im Laufe des 19. Jahrhunderts wurde ihr Einsatz auf See, im Handel oder im Krieg national-rechtlich geregelt, normiert und verwissenschaftlicht. Immer häufiger dienten Farben, Flächen und Formen der nationalen Identifikation, ein von weiter Ferne erkennbarer Garant für die Identifizierung eines Staates oder einer Partei. Die Visualisierung   9

Vgl. Kratz-Kessemeier (2008): Kunst für die Republik, S. 601; Trommler (2014): Kulturmacht ohne Kompass, S. 295; Pyta (2015): Hitler, S. 138; Welzbacher (2010): Der Reichskunstwart, S. 11–59; Zur Wahrnehmung Eisners als Kunstpolitiker, der „geistreich ästhetisiere“, siehe Fischarts Portrait in der Weltbühne (9. Januar 1919), S. 195 f. 10 Koselleck (1998): Politische Sinnlichkeit, S. 33.

 

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einer imagined community, die Übersetzung einer Nation in ein einziges Zeichen, war zur Kulturpflicht jedes aufstrebenden Nationalstaats geworden. 11 Da sich das deutsche Kaiserreich zwar politisch einigen, aber symbolisch die Selbstständigkeit der einzelnen Länder erhalten wollte, kam es schon im 19. Jahrhundert zu den ersten Flaggenstreits. Der Hauptkonflikt bestand darin, aus der Entscheidung für beziehungsweise gegen eine groß- oder kleindeutsche Lösung, Kaiser oder König, das Reich oder Preußen, die symbolpolitischen Konsequenzen zu ziehen. Bismarck setzte sich zwar 1866 mit der schwarz-weiß-roten Trikolore gegen die als Revolutionsfarben diffamierte schwarz-rot-goldene Kolorade durch. Kriegsflagge blieb aber zunächst das schwarze Eiserne Kreuz auf weißem Grund mit dem preußischen Adler in der Mitte. Und obwohl Bismarcks Entscheidung dazu führte, dass der schwarz-weiß-rote Kompromiss zwischen Preußen und der Hanse 1892 offiziell zur Reichsflagge erklärt wurde, rückten deutsche Soldaten noch bis 1918 in den Farben ihres Landes in den Krieg.12 Der Flaggenkompromiss von 1871 galt in der Forschung bislang als Zeichen nationaler Unvollkommenheit und Uneinheitlichkeit, die – das stellte man sich auch im Kaiserreich bereits vor – im zukünftigen Kulturstaat überwunden werden müsse. Elisabeth Fehrenbach leitete aus diesem vermeintlichen „Defizit“ die Ursache für den Sieg der nationalsozialistischen über die republikanische Symbolpolitik ab, indem sie konstatierte, dass die „Unbestimmtheit [der Flaggenfrage], hinter der sich eine Unsicherheit des nationalen Bewußtseins verbarg, zu dem problematischen Erbe gehört[e], welches das Kaiserreich der Weimarer Republik hinterließ“.13 Auch Annegret Heffen schloss ihre Dissertation über den Weimarer Reichskunstwart Edwin Redslob mit der These, daß die Republik von den sie tragenden Kräften geopfert wurde. Gerade das Ausweichen des Amtes auf unpolitische Argumente in hochpolitischen Fragen, wie zum Beispiel in der Flaggenfrage […] zeigen das Unvermögen der Kräfte der Mitte, mit eindeutigen Aussagen für die Republik […] Entscheidungen durchzusetzen, die der Demokratie ein gefestigtes Ansehen und sicheren Rückhalt in der Bevölkerung gegeben hätten.14

Peter Reichel beklagte noch 2012, dass der „Flaggendauerstreit“ der Weimarer Republik aufzeige, „wie sehr sie über ihre ordnungspolitische Grundlage zerstritten ist, hin- und hergerissen zwischen Monarchie und Demokratie, tief gespalten in verfeindete politische Lager“. Die Präsensform seiner These weist bereits darauf hin, dass Reichel den Streit über die Nationalsymbole bis heute als Mangel deutschen Nationalbewusstseins auslegt. Zeugte nicht das Fußball-Sommermärchen 2006 von etwas „farbenfröhliche[r] und fremdenfreundliche[r] Heiterkeit“, so der Historiker,   11 Vgl. Anderson (2006): Imagined Communities, S. 6; Geulen (2004): Wahlverwandte, S. 16. 12 Vgl. Fehrenbach (1971): Über die Bedeutung, S. 296–357; Reichel (2012): Glanz und Elend, S. 99–113; ‚Flagge‘ (2002). In: Kluge S. 297. Siehe auch Siegel (1912): Die Flagge. 13 Ebd., S. 349. 14 Heffen (1987): Der Reichskunstwart, S. 274; Vgl. Welzbacher (2010): Der Reichskunstwart, S. 11–58, hier S. 18; Stuhrmann (2002): Redslob, S. 39–69, hier S. 56; Laube (1997): Der Reichskunstwart, S. 226.  

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hätte der symbolpolitische Sieg des ‚Dritten Reiches‘ über die Weimarer Republik und Hitlers „Missbrauch“ der sonst so existenziellen Symbiose von Politik und Ästhetik, auf ewig den Aufstieg der Deutschen zu einer politischen Kulturnation verhindert. Von dieser als verhängnisvoll empfundenen, aber nicht näher erörterten „Staatskultur“ im ‚Dritten Reich‘ distanziert sich bis heute auch die Kulturpolitik der Bundesrepublik, welche dieser „ein[en] Kulturstaat gegenübergestellt [hat], wie es das Bundesverfassungsgericht allgemein als Staatszielbestimmung definiert hat.“15 Auf Grundlage dieser bis heute andauernden kulturpolitischen ex negativo-Definition ging der berühmt-berüchtigte Flaggenstreit in die Weimar-Forschung als Beispiel für das Scheitern der Weimarer Republik ein. Ohne den eigenen oder den zeitgenössischen Demokratiebegriff zu reflektieren, wurde die Demokratie Weimars an ihrem angeblichen symbolpolitischen Defizit gemessen. Im Wesentlichen kamen Werturteile wie diese zu dem Ergebnis, dass es der ersten deutschen Demokratie an starken, einheitlichen Staatspraktiken und kompromisslosem Handeln gefehlt habe. Dass dieses Argument seit Mitte der zwanziger Jahre exakt der nationalsozialistischen Antisystempropaganda entsprach – gerade Weimar wollte und sollte von den Nationalsozialisten symbolpolitisch eingenommen werden – scheint bei dieser Art von Demokratiekritik keine Rolle zu spielen; genauso wenig wie der Versuch, das zeitgenössische Selbstverständnis der politischen Akteure in den Blick zu nehmen oder die Symbol- und Kulturpolitik der Weimarer Republik von der des Nationalsozialismus historisierend zu unterscheiden.16 3. DER ‚FLAGGENKOMPROMISS‘ IN DER ERSTEN DEUTSCHEN DEMOKRATIE Anders als es sich die Weimar-Forschung der Bonner Republik im Nachhinein gewünscht hätte, wurde die Flaggenfrage in der Weimarer Republik zum Gegenstand einer lebendigen Auseinandersetzung um die symbolische Repräsentation der neuen Staatsform. In der Weimarer „Debattendemokratie“17 betraf sie einerseits den Kern der politischen Gestaltung der Republik und andererseits die Frage nach der wahrnehmungsästhetischen Verinnerlichung der neuen Staatsform. Als „Fahne   15 Schneider (2007): Grundlagentexte zur Kulturpolitik, S. 8; Reichel (2012): Glanz und Elend, S. 168. Zur Kontinuität der deutschen Kulturnation als vorpolitisches Konzept siehe Welzbacher (2009): Die Republik als Kunstwerk, S. 193; Schmidt (2007): Friedrich Meineckes Kulturnation, S. 597 f.; Gegen diese „kausalgenetische Sonderwegsthese“ argumentierte früh Koselleck (2000): Deutschland – eine verspätete Nation?, S. 379; Vgl. dazu grundsätzlich Lepsius (1990): Nation und Nationalismus, S. 240–244 und konkret Müller (2016): Die Weimarer Republik, S. 61. 16 Vgl. Buchner (2009): Politische Symbolik, S. 162, der gegen Gerhard Pauls These, die Republik sei „arm an Symbolen“ gewesen, argumentiert. Paul (1990): Aufstand der Bilder, S. 168. Siehe auch Schimpf (2008): Versagen einer Zufluchtsstadt, S. 140 und Rossol (2010): Performing the Nation, S. 2. 17 Müller (2016): Die Weimarer Republik, S. 69.

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der Sehnsucht“ nach Einheit und Freiheit wurde die letztendlich in Artikel 3 der Weimarer Verfassung festgeschriebene schwarz-rot-goldene Kolorade zunächst selbst in konservativen Kreisen und Zeitungen als Nationalflagge akzeptiert. Gleichwohl kam es, um die alten Eliten symbolpolitisch zu befriedigen, im Juli 1921 zu einer „Kompromißlösung“, die es Militär und Marine erlaubte, die schwarz-weiß-rote Trikolore als Handels- und Marineflagge „vorläufig weiterzuführen“. In den Regularien der neuen Flaggenverordnung standen sich nun insgesamt fünf Nationalflaggen und fünf Handelsflaggen gegenüber; ein Zustand, der von Vertretern der Regierung wie der Öffentlichkeit als unhaltbar deklariert wurde. Dies lag vor allem an der von allen Parteien geteilten Sehnsucht, die politischen wie gesellschaftlichen Differenzen, die Zerstrittenheit der Parteien und Interessen, die Konflikte zwischen Klassen und Generationen mit der neuen Staatsform kulturpolitisch zu überwinden.18 Der Reichskunstwart nahm in dem Widerstreit der durch die Farben SchwarzWeiß-Rot und Schwarz-Rot-Gold repräsentierten Weltanschauungsgegensätze jene Doppelrolle ein, die in ihrer vermittelnden Funktion seinem Selbst- und seinem Amtsverständnis entsprach. Im neuen „Kampf um die Symbole“, die „Wesen jeder Gemeinschaft“ seien, sollte es bald nicht mehr um den „Gegensatz zwischen Volksstaat und Obrigkeitsstaat [gehen], da er die aus der Sehnsucht des Volkes geborenen Farben des großdeutschen Einheits- und Freiheitsstaates den ruhmvollen, aber nicht vom Volke gewollten, sondern von der Regierung festgesetzten Farben gegenüberstellt.“ Deshalb wurde die in der Verfassung verankerte Entscheidung für SchwarzRot-Gold als ein „lebendiger Ausdruck des Volksganzen“, als volkssouveräne, gegen die Monarchie und den Militarismus gerichtete Entscheidung ausgelegt.19 Die Doppelbeflaggung stand einerseits für die gesellschaftlichen, historischen und politischen Ambivalenzen der Weimarer Demokratie, die regelmäßig zur Disposition standen, und andererseits war sie Ausdruck der allseits beschworenen Syntheseverheißung, welche aber nicht erzwungen, sondern sich organisch und in Form einer kulturpolitischen Auseinandersetzung realisieren sollte. Redslob arbeitete kontinuierlich an einer einheitlichen, wie er es nannte, „Formgebung des Reiches“.20 Jedoch vertrat er wie der Historiker Veit Valentin die Auffassung, dass ein zukünftiger Kompromiss jeglicher Art von augenblicklicher Oktroyierung vorzuziehen sei. Letzterer schloss seine Geschichte der deutschen Farben aus dem Jahre 1929 mit der Gewissheit, dass die „deutsche Geschichte noch nicht zu Ende“ sei und gleich dem „Flaggenstreit enden wird in der Versöhnung“, weil „wechselseitiges Verstehen hier das Zeichen echter politischer Lebenskraft wäre.“21

  18 Redslob (1929): Geleitwort, S. IX–XII; Valentin / Neubecker (1929): Die deutschen Farben, S. 65; Vgl. Rossol (2010): Fahne, Adler und Hymne, S. 136–145. 19 Redslob, ebd.; Vgl. Rossol (2010): Fahne, Adler und Hymne, S. 141 f. 20 Welzbacher (2010): „Die künstlerische Formgebung“. In: Ders. (Hrsg.): Der Reichskunstwart, S. 11–59, hier S. 18–20.Vgl. Ders. (2009): Die Republik als Kunstwerk, S. 201. 21 Valentin (1929): Die deutschen Farben, S. 68.

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Der öffentlich ausgetragene Deutungskampf um die Flagge erreichte im Sommer 1926 seinen Höhepunkt. Nachdem der damalige Reichspräsident Paul von Hindenburg bei einem Besuch in Hamburg von Delegierten des südamerikanischen ‚Auslanddeutschtums‘ erfahren hatte, dass diese das deutsche Ansehen in Übersee aufgrund der Doppelbeflaggung als gefährdet ansähen, setzte Hindenburg beim damaligen Reichskanzler Hans Luther eine Abänderung der Flaggenverordnung vom 11. April 1921 durch, welche am 5. Mai 1926 verabschiedet wurde. Hindenburg wollte mit seiner zweiten Flaggenverordnung den vorherigen Kompromiss durch eine höhere Wertigkeit von Schwarz-Weiß-Rot ersetzen, indem er die Beflaggung der Kaiserreichsfarben für den Handel „an außereuropäischen Plätzen“ erlaubte. Schwarz-Rot-Gold war auf dieser Handelsflagge nur noch als Gösch zu sehen. Als es daraufhin zu einem Aufstand in der Koalition und in der Presse kam, musste Luther nach einem Misstrauensvotum nur sieben Tage nach dem neuen Reichsgesetzeserlass zurücktreten. Er selbst bezeichnete diesen Akt der Entlassung als ‚Fenstersturz‘. Tatsächlich war Hindenburg am 9. Mai daran gescheitert, durch einen offenen Brief an Luther die Situation zu entschärfen, indem er sich auf die zukünftige nationale Einheit und ästhetische Einheitlichkeit berief: Nichts liegt mir […] ferner, als die durch die Verfassung bestehenden Nationalfarben zu beseitigen. […] Leider hat sich aber aus den Erörterungen in Presse und Öffentlichkeit erneut ergeben, wie verhängnisvoll und gefährlich für unser Volk der schwebende Streit um die Flagge ist. […] Möge der Zeitpunkt nicht fern sein, wo sich das deutsche Volk wieder friedlich um ein und dasselbe Symbol seines staatlichen Daseins schart!22

Der Eingriff in die politische Symbolik der Demokratie wurde Luther deshalb so übelgenommen, weil die neue Verordnung vom Kabinett ohne Absprache mit den Koalitionsparteien durchgesetzt und ihre Bekanntmachung trotz Protest nicht zurückgenommen wurde. Nicht die Ambivalenz der Flaggensymbolik war also das Problem, sondern die von oben verordnete Beseitigung dieser. Die Vossische Zeitung fasste die „drei Kardinalsfehler“ der Regierung so zusammen: „sie hat den ungeeignetsten Zeitpunkt ausgewählt, sie hat mit der Verordnung die Öffentlichkeit überrumpelt, und sie hat schließlich eine Kompromiß-Lösung zu oktroyieren versucht, die den Flaggenstreit nicht beilegt, sondern im Gegenteil verschärft.“ Die Art und Weise wie die Verordnung zustande kam, entsprach offensichtlich nicht dem Demokratieverständnis der Regierung und republiknahen Presse. Wer in der Flaggenfrage Befürworter eines starken Durchgreifens des Staates war und nicht den Reichstag integrierte, hinkte der politischen Kultur der Weimarer Republik hinterher oder begab sich in die republikfeindlichen Lager der rechten und linken Extreme. Wie die Vossische Zeitung berichtete, sahen vor allem SPD, Zentrum und   22 Handschreiben des Reichspräsidenten Hindenburg an den Reichskanzler Luther (9. Mai 1926). In: Valentin / Neubecker (1929): Die deutschen Farben, S. 138; Vgl. Erste Flaggenverordnung v. 11. April 1921 und die zweite Flaggenverordnung v. 5. Mai 1926. In: ebd., S. 128–130 u. 137; Vgl. ‚Eine neue Flaggenverordnung‘. In: Vossische Zeitung, Nr. 210, Morgen-Ausgabe v. Mittwoch, den 5. Mai 1926, S. 1.  

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DDP hierin einen „Versuch rechtsstehender Kreise, einen Bruch innerhalb der gegenwärtigen Regierungskoalition herbeizuführen“, weil sie „wussten, welche gefährliche politische Bombe mit einer derartigen Flaggenverordnung in das deutsche Volk geschleudert wurde.“23 Und die Bombe schlug ein. Die Flaggenfrage hinterließ vor allem einen unüberwindbaren Graben zwischen jenen, die noch immer über die Weltanschauungsgegensätze der beiden Trikoloren stritten, und denen, die eine gänzlich neue politische Symbolkultur im Auge hatten. KPD, NSDAP und völkische Parteien lehnten beide Flaggenvarianten ab. In Ernst Graf zu Reventlows Reichswart wollte man keinen Kompromiss aus Vergangenheit und Gegenwart, Kaiserreich und Republik schließen: nur die Zukunft kam als Symbol für die völkische und nationalsozialistische Bewegung in Frage: Uns Völkischen kann keine Fahne oder Flagge etwas wirklich geben, die nicht sichtbar oder unsichtbar das Hakenkreuz enthält. Das Hakenkreuz bedeutet ja nicht allein die Forderung der judenlosen, des vom Judentum gereinigten Staates, sondern auch des wahrhaft sozialen Staates. Dieser ist […] der einzig mögliche Staat einer deutschen Zukunft.24

Jenseits der ideologischen Differenzen waren sich aber alle Parteien darüber einig, dass die Realisierung der nationalen Einheit nur durch eine einheitliche Symbolik zu erreichen sei. Staatsform und Staatsymbol waren eins geworden. Selbst im Reichswart rekurrierte man auf den „alten deutschen Einheitsgedanken“. Bei der ästhetischen Gestaltung der „Demokratie als Lebensform“25 ging es nicht zuletzt um die Herstellung neuen Selbst-Bewusstseins durch die Wahrnehmung der Anderen: Der schifffahrende Ausländer sieht überall auf deutschen Amtsgebäuden zwei Flaggen. […] Abgesehen von der Ungewöhnlichkeit eines solchen Flaggendualismus, den kein anderer Staat der Welt kennt, – der Fremde muss den Eindruck gewinnen, daß schwarz-weiß-rot ebenso die offizielle Reichsfarbe sei wie schwarz-rot-gold, […] er wird sich über die merkwürdige innere Zerklüftung eines Volkes wundern, das an seiner Maingrenze sowie an seiner konfessionellen Zweiteilung noch nicht genug hat. […] Man kann nicht behaupten, daß solche Erwägungen dem deutschen Prestige im Auslande nützlich sein werden. Die innere Zerrissenheit, unter der wir seit Jahrhunderten leiden, wird aufs neue vor aller Welt offenbart.26

Dieses Szenario macht deutlich, wie sehr schon Mitte der zwanziger Jahre Bedeutung und Praxis der inneren und äußeren Kulturpolitik Früchte getragen hatten: Im nationalen Bewusstsein war die Erwartung vom synästhetisch geschaffenen und sinnlich erfahrbaren Staat mittlerweile fest verankert. Ein Leserbriefeschreiber der Vossischen Zeitung machte sich besonders über die Qualität der Farben Gedanken. Vor allem das Gold müsse glänzen und dürfe nicht hellgelb aussehen, sonst werde es zur Angriffsfläche der Rechten und gebe sich der Lächerlichkeit preis. Außerdem erzeuge nur ein sattes Gelb oder Gold einen „ästhetischen Eindruck, indem es ein   23 24 25 26

Ebd.; R., M. (1926): ‚Die Pandora-Büchse’, S. 1. ‚Optische Schlagworte’. In: Reichswart 20 (15. Mai 1926) S. 1–2, hier S. 2. Heuss (1920): Die neue Demokratie, S. 157. Ebd.; M. R. (1926): ‚Die Pandora-Büchse‘, S. 1.

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„warmes Gefühl“ beim Betrachter auslöse. Ein ‚Auslandsdeutscher‘ amüsierte sich wiederum über die ausufernde Skandalisierung der Debatte und versicherte, das Ausland interessiere sich nicht für die deutschen Fahnen, sondern nur für deutsche Waren. Allerdings war auch er davon überzeugt, dass die neue Staatsform mit einer neuen Staatssymbolik einhergehen müsse. Und der politisch schärfste Satiriker der Weimarer Republik, Kurt Tucholsky, veröffentlichte ein Flaggenlied, das am 18. Mai 1926 in der Weltbühne erschien. Auch wenn und gerade weil er sich hier über die Entstehung des Eklats lustig machte – er verortete ihn bei einem Caballero an einem Stammtisch in Rio de Janeiro –, rechnete er dessen politischen Implikationen eine immense Wirkmacht zu: Die ihr bis jetzt geschlafen: / seid ihr nun endlich wach? / In jedem großen Hafen / bekommt ihr eins aufs Dach. / In jedem fernen Lande umflattert euch der Hohn / und zeigt der Welt die Schande / von deutscher Reaktion. – / Republik! / Republik! / Hast du das gewollt? / Schwarz wie die Reichswehr. / Weiß die Zelle. / Rot die Ferne, / Kehre um! / Kehre um! / zu SchwarzRot-Gold!27

Tucholskys Lied wurde seit seiner Veröffentlichung ständig auf den Massenprotesten des 1924 gegründeten Reichsbanners Schwarz-Rot-Gold gesungen und avancierte auf den Straßen für eine kurze Zeit zur Hymne der Republikaner. Damit hatte er zur Schaffung jener republikanischen Atmosphäre beigetragen, die er ein Jahr zuvor in der öffentlichen Debatte um die „Inszenierung der Republik“ vom Reichskunstwart eingefordert hatte.28 Dieser wiederum wollte das Volk über eine neue „Einheitsflagge“ abstimmen lassen. Einen Volksentscheid hatten auch viele Journalisten und Politiker aus einem breiten Parteienspektrum gefordert. Da diese politische zunächst eine künstlerische Angelegenheit war, schrieb Redslob einen Wettbewerb zur Gestaltung einer neuen Flagge aus, nachdem sein eigener Versuch, die weltanschaulichen Symbole beider Trikolore in einer Flagge zu vereinen, in der Presse karikiert worden war. Bis zum Oktober 1926 wurden über eintausend Entwürfe eingereicht, von denen die meisten ebenfalls beide Flaggenversionen ineinander blendeten. Auch wenn der Streit immer wieder neu aufflammte, kam es in der Weimarer Republik nicht mehr zu seiner Beilegung.29 Wer nun glaubt, dass sich der Flaggenstreit mit der ‚Machtergreifung‘ der Nationalsozialisten 1933 erledigt habe, liegt allerdings falsch. Die Konsolidierungsphase des Regimes zeichnete sich wie in vielen anderen Bereichen der Kulturpolitik auch durch integrationsideologische Kontinuitäten und Kontingenzen aus. Hindenburg hatte in einem Erlass vom 12. März 1933 die Trikolore des Kaiserreichs neben der Hakenkreuzflagge wiedereingeführt – so viel zu seiner Absichtserklärung von 1926, es liege ihm nichts ferner als die neuen Nationalfarben zu beseitigen. Wie die   27 Tucholsky (1926): Flaggenlied, S. 773; Graf Strachwitz (1926): Der Streit um die Reichsfarben, S. 25; von Dippes (1926): Der Sinn des Flaggenwechsels, S. 21. 28 Vgl. Redslob / Tucholsky / Jeßner / Mann (1925): Die Inszenierung der Republik, S. 80–82. 29 Vgl. ‚Massenprotest des Reichsbanners’ (1926), S. 1 f.; Vgl. ‚Der Reichskunstwart Redslob beim neuesten Flaggenentwurf (1926) und dazu alle Entwürfe in Abbildung bei Rossol (2010): Fahne, Adler und Hymne, S. 141–144; Vgl. zur Symbolpolitik des Reichsbanners Böhles (2016): Im Gleichschritt, S. 133–147 und der Beitrag von Sebastian Elsbach in diesem Band.

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Ironie der Geschichte es so will, folgte dieser Verordnung jedoch ebenfalls ein kulturpolitischer Eklat in Übersee, als an einem Sommertag des Jahres 1934 die Hakenkreuzflagge neben der Handelsflagge im Küstenwind des New-Yorker Hafens aufhörte zu wehen, nachdem sie von Demonstranten buchstäblich in den Schmutz gezogen worden war. Dass die US-amerikanische Botschaft die Hakenkreuz- als Partei- und nicht als Nationalflagge interpretierte, um die Wogen zu glätten, war vermutlich die passende Gelegenheit für Hitler nach dem Tod des Reichspräsidenten auch dessen Flagge und Weltanschauung abzuschaffen. Ab 1935 war die Hakenkreuzflagge die alleinige National-, Reichs- und Handelsflagge des ‚Dritten Reiches‘.30 4. AUSBLICK: DAS ‚SOMMERMÄRCHEN‘ 2006 UND DIE ‚MORAL VON DER GESCHICHT‘‘ Es ist kein Zufall, dass der berüchtigte Flaggenstreit sowohl in der Weimarer Republik als auch im ‚Dritten Reich‘ einen Konflikt sichtbar machte, der durch die Verknüpfung der Wahrnehmung des Anderen mit der Wahrung und Herstellung des Eigenen ein symbolpolitisches Ausmaß in Recht und Öffentlichkeit erreichte, wie es selten der Fall gewesen ist. Insofern ist es durchaus berechtigt, mindestens von einem Streit zu sprechen. Blickt man auf den Streit, die politische Kultur und die demokratische Debatte hinter der Flagge, werden zwei Dinge klar; erstens, dass die politische und öffentliche Auseinandersetzung um die neue Deutungshoheit des Ästhetischen Konsequenzen für die Theorie und Praxis der staatlichen Kulturpolitik hatte: Es ging bei weitem nicht nur um die Repräsentation und Inszenierung der Demokratie, sondern um ihre sinnliche Erfahrbarkeit, die Sinn stiften und jeden einzelnen zum demokratischen Bürger erziehen sollte. Die neue Staatsform suchte noch nach ihrem Inhalt, die politische Gestaltung der Demokratie nach ihrem Gehalt, kurz gesagt: function followed form.31 Zweitens kann nicht mehr behauptet werden, die Demokratie sei an ihrem Kompromisscharakter gescheitert und die Republik von den sie tragenden Kräften geopfert worden. Unterminiert worden ist ihre rege und bis heute umstrittene Debattenkultur seit Ende der zwanziger Jahre von ihren Gegnern. Es waren jene linke und vor allem rechten Parteien, die, wie gezeigt, unter Traditionsbildung etwas völlig anderes verstanden als etwa der Reichskunstwart. Ziel des ‚Dritten Reiches‘ war nicht die Realisierung des Volksstaates, sondern die unmittelbare und radikal-progressive Schaffung eines Kunstvolkes im Staat, dessen Bewegung alles andere als   30 Vgl. Davis (1975): Flags and standards. 31 Das ist die Umkehrung der durch den Architekten Louis Sullivan berühmt gewordenen Formel form follows function. Vgl. dazu Lambert (1993): Form Follows Function?, S. 7; Aufgrund ihres didaktischen Konzepts der „Kontradiktorik“ bis heute als vorbildlich bewertete demokratische Staatsbürgererziehung in der Weimarer Republik siehe Busch (2016): Staatsbürgerkunde, S. 400.

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zwischen verschiedenen Traditionen vermitteln wollte. Die kompromisslose Einführung einer vermeintlich eigenen Herrschaftsästhetik stand nicht zur Debatte und ging der politischen ‚Machtergreifung‘ voraus; genauso wie die Diffamierung und Abschaffung feindlicher Symbole mit der tatsächlichen Vernichtung der Gegner einherging. Bis heute wirkt sich dieser Zusammenhang auf unsere politische Selbstwahrnehmung aus. Die Rede vom Sommermärchen im Jahr der Heimfußballweltmeisterschaft 2006 generierte sich nicht zuletzt über den scheinbar befreiten, omnipräsenten Einsatz von Schwarz-Rot-Gold, der in den Feuilletons sofort als „unverklemmter, weltoffener Patriotismus“ oder „Partypatriotismus“ entweder begrüßt oder vehement abgelehnt wurde.32 Der Streit über die nationale Identifikation setzte sich in Öffentlichkeit und Forschung genauso fort wie die Empfindlichkeit gegenüber ihrer ästhetischen Repräsentation. So schrieb der Jurist und Journalist Heribert Prantl in der Süddeutschen Zeitung mehrmals gegen die „Verunglimpfung der deutschen Farben“ an und beschwerte sich über die sogenannte „Senfentscheidung“ des Bundesverfassungsgerichts.33 Dieses hatte am 15. September 2008 die Bestrafung eines Neonazis zurückgezogen, der in nationalsozialistischer Tradition die deutschen Farben als Schwarz-Rot-Gelb bzw. -Senf diffamiert hatte. Obwohl das Gericht den Schutz der Nationalsymbole durch die Verfassung garantiert, sah es hier das Recht auf freie Meinungsäußerung als höherrangiger an. Der Verfassungsrichter Johannes Masing begründete diese Entscheidung folgendermaßen: [B]ei der Bezeichnung ‚Schwarz-Rot-Senf‘ für die Fahne der Bundesrepublik Deutschland ist eine Bezugnahme auf die Weimarer Republik nicht zu übersehen. Mit diesem Ausspruch protestierten Rechtsextreme damals gegen die Reichsfarben und damit gegen den durch diese repräsentierten freiheitlichen republikanischen Staat. Jedoch ist nicht ohne weiteres davon auszugehen, dass diese historische Verknüpfung im Bewusstsein der Bevölkerung präsent ist und daher in der konkreten Situation auch so erfasst wurde. Auch bedarf es einer eingehenden Würdigung, ob – selbst wenn man der Äußerung diesen historischen Bezug beimisst – die Umschreibung der Farbe ‚Gold‘ als Senf in der konkreten Situation eine empfindliche Schmähung beziehungsweise besondere Verächtlichmachung bedeutet, welche geeignet war, die Achtung der Bürger für den Bestand der rechtsstaatlich verfassten Demokratie in der Bundesrepublik auszuhöhlen und zu untergraben.34

Die Urteilsbegründung Masings beruhte auf dem Argument, aufgrund der angenommenen Geschichtsvergessenheit der Bevölkerung die Geschichte tatsächlich zu begraben. Deutet diese Kehrtwende des letzten Jahrzehnts nun auf eine Geschichtsverarbeitung der Weimarer Republik hin? Leiten die Urteile des Bundesverfassungsgerichts sowie der Umgang der Bevölkerung mit der Nationalflagge eine neue symbolpolitische Epoche ein? Haben sich die Identitätsmerkmale deutscher Staatswerdung von ihrer bedeutungsgeschichtlichen Dimension emanzipiert? Sind wir   32 Rautenberg (2008): Schwarz-Rot-Gold, hier S. 93 und vgl. ebd., S. 27–40. 33 Prantl (2008): Schwarz-Rot-Mostrich, S. 1. 34 Masing u.a. (2008): BVerfG-Beschluss; Vgl. BVerfGE 81, 278, 294; dazu der Vgl. zum Reichsgericht, JW 1929, S. 2352 (Nr. 16): Beschimpfung der Reichsfarben durch ihre Bezeichnung als ‚Mostrichfahne‘; Vgl. Gusy (1997): Die Weimarer Reichsverfassung, S. 86 f.

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am Ende eines identitätspolitischen und forschungsgeschichtlichen Sonderwegs angelangt, in dem die ästhetische Repräsentation des Staates als selbstverständlich erscheint und selbstbewusst praktiziert wird? Mitnichten. Das Leitmotiv „Bonn ist nicht Weimar“ scheint zwar an ein Ende gelangt zu sein. Das Gespenst von Weimar geistert nicht mehr ständig durch unsere identitätspolitischen Debatten. Dieses neue, scheinbar entspannte Verhältnis zur ersten deutschen Demokratie zeugt aber keineswegs von der Verarbeitung ihrer Geschichte, von dem Bewusstsein über die Eigenständigkeit und Eigentümlichkeit demokratischer Debattenkultur in der Weimarer Republik. Es lässt sich eher eine unbewusst praktizierte Parallelität zu dieser erkennen, die erst in dem Moment realisiert werden konnte, da die selbstauferlegte Distanz zu Weimar grundlegend hinterfragt worden ist. Die Republik, und dies hat der Flaggenstreit gezeigt, war kreativ, kompromiss- und konkurrenzfähig im Umgang mit der Frage, wie es um die symbolpolitische Einheit einer Demokratie bestellt sein und auf welche Art und Weise Einigkeit herbeigeführt werden sollte. Historisch bestand die Grundlage eines möglichen Konsenses im überparteilichen Ruf nach der synästhetisch erlebbaren Synthese. Doch es waren die Nationalsozialisten und nicht die Republikaner, die sie ohne Kompromisse herstellten. Das scheint uns heute wieder bewusst zu werden und zwar nicht, wenn es um die materielle Qualität identitätspolitischer Symbole geht, sondern wenn in Krisenzeiten und -diskursen ästhetische Homogenitätsversprechen politischem Dezisionismus vorauseilen.35 LITERATUR Allemann, Fritz René: Bonn ist nicht Weimar, Köln 1956. Anderson, Benedict: Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread of Nationalism, London / New York 2006. Ankersmith, Kennan Ferguson: Aestetic politics. Political philosophy beyond fact and value, Stanford 1996. Barck, Karlheinz / Faber, Richard (Hrsg.): Ästhetik des Politischen – Politik des Ästhetischen, Würzburg 1999. Benjamin, Walter: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. In: Ders.: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Drei Studien zur Kunstsoziologie, Frankfurt a. M. 1981, S. 7–44. Böhles, Marcel: Im Gleichschritt für die Republik. Das Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold im Südwesten. 1924 bis 1933 (Veröffentlichungen des Instituts für soziale Bewegungen A, Bd. 62), Essen 2016. Braungart, Wolfgang: Ästhetik der Politik, Ästhetik des Politischen. Ein Versuch in Thesen (Das Politische als Kommunikation, Bd.1), Göttingen 2012. Buchner, Bernd: Politische Symbolik in der Weimarer Republik – wo bleibt die demokratische Tradition? In: Schultheiß, Michael / Roßberg, Julia (Hrsg.): Weimar und die Republik. Geburtsstunde eines demokratischen Deutschlands, Weimar 2009, S. 161–172. Busch, Matthias: Staatsbürgerkunde in der Weimarer Republik. Genese einer demokratischen Fachdidaktik, Bad Heilbrunn 2015.

  35 Allemann (1956): Bonn ist nicht Weimar; Vgl. Ullrich (2009): Der Weimar-Komplex.

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EINÜBEN EINER REPUBLIKANISCHEN ALLTAGSPRAXIS: BIOGRAFISCHE ANSÄTZE

DIE AMBIVALENZEN EINES REPUBLIKANERS Ferdinand Tönnies und die Weimarer Republik Alexander Wierzock Im Jahr 1926 brachte der Soziologe Ferdinand Tönnies (1855–1936) das Verhältnis seiner akademischen Kollegen zur Weimar Republik sehr gut auf den Punkt, wenn er urteilte, dass mit einem jähen Aufschwung demokratischer Gedanken in Deutschland unter den „herrschenden Denkweisen“ nicht zu rechnen sei, da die „Intellektuellen ganz überwiegend undemokratisch, ja antidemokratisch sind“.1 Tatsächlich wurde die infolge der Revolution 1918/19 entstandene Republik von den deutschen Hochschullehrern mehrheitlich kühl distanziert betrachtet und von einigen sogar ganz offen abgelehnt.2 Wenn überhaupt, dann gab es an den deutschen Universitäten nur eine zahlenmäßig kleine republikanisch-demokratische Minderheit. Zu dieser Minderheit gehörte Tönnies, der nach dem Ersten Weltkrieg einer der einflussreichsten deutschen Sozialwissenschaftler war. Bereits im Wilhelminischen Kaiserreich hatte Tönnies in scharfer Frontstellung zur Monarchie gestanden und sich verschiedentlich für eine Demokratisierung des Staates eingesetzt.3 Folglich stand er auch nach dem Sturz der Monarchie im republikanischen Lager. Allein die Auflistung der politischen Vereinigungen, denen er in der Weimarer Republik angehörte, liest sich wie ein Auszug aus dem Register der damals vorhandenen republikanischen Organisationen. Angefangen beim „Republikanischen Club“, dem Tönnies an seiner universitären Wirkungsstätte in Kiel vorstand, über den „Bund Neues Vaterland“, der sich 1922 in die „Deutsche Liga für Menschenrechte“ umbenannte, gehörte er vielen weiteren politischen Zusammenschlüssen an. Mit der für ihn typischen Sympathie unterstützte er auf dem akademischen Gebiet die „Vereinigung freiheitlicher Akademiker“ genauso wie den „Weimarer Kreis“, einen Verbund verfassungstreuer Hochschullehrer, den er 1926 zusammen mit Friedrich Meinecke   1

2 3  

Tönnies (1929): Demokratie und Parlamentarismus, S. 80 (zuerst 1926). Der vorliegende Aufsatz basiert auf Ergebnissen meines laufenden Dissertationsvorhabens über Ferdinand Tönnies als politischen Intellektuellen. Der Gerda Henkel Stiftung sei an dieser Stelle für ihre Förderung dieses Projektes herzlich gedankt. Siehe hierzu und anhand des konkreten Beispiels der Universität Jena den Beitrag von Christian Faludi in diesem Band. Vgl. Wierzock (2014): Tönnies als Kritiker.

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und anderen Kollegen ins Leben gerufen hatte.4 Zusätzlich hierzu engagierte sich Tönnies im „Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold“, dessen Reichsausschuss er seit der Gründung 1924 angehörte.5 Parteipolitisch irgendwo zwischen Sozialliberalismus Friedrich Naumannscher Prägung und Sozialdemokratie schwankend, hatte er zeitweilig der Deutschen Demokratischen Partei (DDP) und der SPD (Sozialdemokratischen Partei Deutschlands) nahegestanden. Zum Beitritt in eine politische Partei sollte es allerdings erst 1930 kommen, als er sich unter dem Eindruck des Aufstiegs der Nationalsozialisten der Sozialdemokratie anschloss. Mag Tönnies im Vergleich zu Friedrich Ebert oder anderen Politikern eine weniger bedeutende republikanische Symbolfigur gewesen sein – was das universitäre Feld anbelangt, konnte er es sehr wohl mit bekannteren Namen aufnehmen. Kaum eine Episode kann das vielleicht besser zeigen, als die Feierlichkeiten zu seinem 70. Geburtstag, die am 25. und 26. Juli 1925 in Kiel stattfanden. Diese verliefen dreigeteilt: Zwei Veranstaltungen – ein von vielen Gelehrten auswärtiger Universitäten besuchter Ehrenabend im Wissenschaftlichen Klub des Instituts für Weltwirtschaft und ein großer Festkommers im Kollegienhaus des Instituts – bildeten die eine Seite der Feierlichkeiten. In bemerkenswerten Kontrast zu diesen Veranstaltungen, die dem Anlass das entsprechende akademische Gepränge verliehen, stand ein Fackelzug, der Tönnies am 25. Juli dargebracht wurde. Denn anders als sonst üblich wurde dieser nicht von der Studentenschaft, sondern vom Reichsbanner und der Sozialistischen Arbeiter-Jugend (SAJ) organisiert. 6 Eine große Menschenmenge im „rötlichen Schein von etwa einem halben Tausend Fackeln“ hatte sich, wie die „Kieler Zeitung“ berichtete, am Lessingplatz versammelt, um von dort durch die Brunswik und die für den Matrosenaufstand von 1918 wichtige Karlstraße in Richtung Düsternbrook zum Haus von Tönnies im Niemannsweg 61 zu marschieren. Es lässt sich leicht erahnen, wie befremdlich es auf die Bewohner des eleganten Villenviertels gewirkt haben muss, als der Tross aus schwarz-rot-goldenen Fahnen, Trommlern und Fackelträgern durch Düsternbrook zog und seine Sprechchöre überall zu hören waren. Nicht zufällig übergingen die konservativ-nationalistischen „Kieler Neueste Nachrichten“ diesen Teil der Feierlichkeiten nahezu, wenn sie im Nachhinein nur erwähnten, dass er „einen politischen Klang in die Ehrungen für den Gelehrten“ gebracht habe.7 Kämpferisch beschrieb dagegen die „Schleswig-Holsteinische Volkszeitung“ – das sozialdemokra  4 5

6 7  

Vgl. zu den aufgeführten Mitgliedschaften Döring (1975): Weimarer Kreis, S. 126 u. S. 260. Vgl. hierzu den von Tönnies ausgefüllten Fragebogen zur Durchführung des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom 7. April 1933, GSPK, I. HA Rep. 76, Sekt. 9 Tit IV Nr. 22 Bd. 1, Bl. 76. Tönniesʼ Mitgliedschaft im Reichsausschuss des Reichsbanners wird auch vom zentralen Presseorgan der Organisation belegt. Vgl. Unser Reichsausschuß, Das Reichsbanner, 4.5.1929. Diesen Hinweis verdanke ich Sebastian Elsbach. Zum Reichsbanner in der Weimarer Republik siehe Elsbachs Beitrag in diesem Band. Vgl. Festkommers zu Ehren von Geheimrat Tönnies, Kieler Zeitung, 27.7.1925. Dort auch das folgende Zitat und die weiteren Angaben. Ehrungen für Geheimrat Tönnies, Kieler Neueste Nachrichten, 28.7.1925.

Ferdinand Tönnies und die Weimarer Republik

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tische Parteiorgan Kiels – die Szene: „»Pulver ist schwarz, Blut ist rot, golden flackert die Flamme« schallte es aus mehreren tausend kräftigen Männerkehlen durch das Wohnviertel der Schwarz-weiß-roten.“8 Wie Tönnies auf den Fackelzug reagierte, lässt sich aus der Volkszeitung erkennen, die berichtete, dass er kurzerhand den Balkon seines Wohnhauses zur Tribüne machte, von dort die Menge grüßte und „ein Hoch auf das große Deutschland unter der schwarz-rot-goldenen Fahne“ ausbrachte. Hierauf folgte eine Rede des Vorsitzenden des schleswig-holsteinischen Reichsbanners Richard Hansen, der Tönnies für sein „Wirken im Interesse des schaffenden Volkes“ dankte. Flankiert wurden diese Worte durch Grußadressen des Republikanischen Clubs und der DDP, in der es hieß: „[Die] Politiker Deutschlands ehren in Ihnen den Kämpfer und Führer. […] Sie haben in den Streitigkeiten des Tages mitgesprochen und mitgekämpft. Vor anderen haben wir Demokraten das Recht uns dessen zu freuen: denn Sie sind unser.“9 Doch so sehr die republikanisch-demokratischen Kräfte Tönnies als Bundesgenossen für sich reklamierten und so sehr er auch Ende der 1920er Jahre während der Weltwirtschaftskrise und der Auflösung der Demokratie als solcher hervortrat, sollten diese Berührungspunkte nicht dazu verleiten, seine zahlreichen Bedenken gegenüber der Weimarer Republik zu übersehen. Vor allem zu den Parteien und ihren Berufspolitikern bestand ein für ihn kaum zu überbrückender Gegensatz, der sich aus sozialpolitisch-eudämonistischen Ansprüchen ableitete, die Tönnies bereits im Kaiserreich ausgebildet hatte und die er nun gegenüber dem neu entstandenen parlamentarischen System aktualisieren sollte. Dies führte zu der Konsequenz, dass Tönnies einzelne Politiker wie Carl Heinrich Becker, Friedrich Naumann und Albert Südekum als Staatsmänner zwar hochgradig schätze, den durchschnittlichen Berufspolitiker und die Parteienpolitik insgesamt aber als Gefahr für das Gemeinwohl betrachtete. Zeigt sich bereits an diesem Punkt, dass Tönniesʼ Bekenntnis zur Weimarer Republik nicht ganz so eindeutig ausfällt, wie es zunächst den Anschein hat, lässt sich auch an anderen Punkten herausarbeiten, dass sein Verhältnis zur Republik höchst ambivalent ausfiel. Dieser Beitrag versucht die Ambivalenzen, die in der Auseinandersetzung mit Tönnies bisher kaum beachtet wurden, stärker in den Blick zu nehmen. Eine solche Skizzierung ist nicht nur dazu angetan, seine Rolle als politischer Intellektueller schärfer zu umreißen, sie liefert auch die Hintergrundfolie für seine teils eigenwilligen politiktheoretischen Betrachtungen über die Demokratie als Staatsform, die gerade während der Weimarer Republik eine besondere Stellung in seinem Werk einnahmen. Tönniesʼ Einwände gegenüber der Weimarer Republik werden in vier Schritten unter die Lupe genommen werden. In einem ersten Schritt wird der Frage nachgegangen, welchen Standpunkt Tönnies im Winter 1918/19 gegenüber der Republik einnahm. Hieran anknüpfend soll seinen Vorstellungen einer primär kontinuierlichen und ohne Brüche vorgehenden Entwicklung zur Demokratie nachgegangen   8 9

Ferdinand Tönniesʼ Ehrentag, Schleswig-Holsteinische Volkszeitung, 27.7.1925. Dort auch die beiden folgenden Zitate. Glückwunschadresse der Demokratischen Partei, Kieler Zeitung, 26.7.1925.

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werden, um zu klären, ob und inwieweit sich aus dieser Perspektive ein Spannungsverhältnis zur Weimarer Republik ergab. Im dritten Abschnitt geht es um die Parteien- und Parlamentarismuskritik von Tönnies und inwiefern diese sein Bild von der Weimarer Demokratie negativ beeinflusste. Da die Parteien und ihre Berufspolitiker für Tönnies überwiegend negativ besetzt waren, soll zuletzt kurz aufgezeigt werden, wie sich sein Verhältnis zu der Partei gestaltete, der er inhaltlich vielleicht am nächsten stand: zur Sozialdemokratie. 1. FRÜHE BETRACHTUNGEN DER WEIMARER REPUBLIK Ernst Troeltsch hat die Monate zwischen November 1918 bis Anfang Mai 1919 rückblickend einmal als ein „Traumland der Waffenstillstandsperiode“ bezeichnet, um die phantastischen Vorstellungen einer besseren Zukunft zu charakterisieren, die nach dem militärischen Zusammenbruch und der Revolution weite Teile der deutschen Bevölkerung erfasst hatten.10 Tönnies bietet ein eindringliches Beispiel dafür, dass sich nicht jeder in diesem Traumland befand. Vielmehr schien ihm die Zeit und die Ungewissheit der Zukunft dazu angetan, sich des bekannten Verses zu erinnern, der in der Göttlichen Komödie als Inschrift über der Höllenpforte steht: „Lasciate ogni speranza“.11 Doch korrekterweise sollte seine Haltung nicht auf eine totale Hoffnungslosigkeit verkürzt werden. Tönnies war eher der Ansicht, dass Deutschland nach dem Krieg weiterhin eine schwierige Zeit der Entbehrungen bevorstünde und dass nur besonnenes Handeln die politischen Spielräume allmählich erweitern könne. Mit politischen Utopien nach einer Sowjetrepublik auf deutschem Boden ging er ebenso hart ins Gericht wie mit Forderungen nach einer großangelegten Sozialisierung der Wirtschaft, wie sie damals bis in Teile der bürgerlichen Parteien erhoben wurden. Die einen waren ihm gefährliche „Russenschwärmer und Fanatiker“, die anderen unverantwortliche Träumer, die wähnten, „man werde es so bequem haben, wie Köln zur Zeit der Heinzelmännchen“.12 Seinen Freund Paul Natorp, der in diesen Fragen mehr für die revolutionären Erneuerungshoffnungen empfänglich war, ließ er wissen: „Ich habe mit den Räten und allen Verfassungs-Idealismen nichts im Sinn. […] Es gilt, politisch praktisch zu verfahren, und anzuerkennen, daß das Proletariat nicht allein in der Welt, in Wahrheit […] nur ein 1/3 des Volkes ist.“13 Insofern verwundert es nicht zu sehen, dass Tönnies in der Situation des Jahres   10 Troeltsch (2015): Nach der Entscheidung, S. 131 (zuerst 1919). 11 Siehe Ferdinand Tönnies an Harald Høffding, 7.3.1919, in: Tönnies/ Höffding (1989): Briefwechsel, S. 134. Die Stelle lautet im Kontext: „Aber dies glorreiche Zeitalter sagt in dieser wie in so mancher Beziehung Lasciate ogni speranza!“ Mit der letzten Stelle des Satzes bezieht sich Tönnies auf Dantes Göttliche Komödie. Auf Deutsch lautet sie so viel wie: Lasst alle Hoffnung fahren. 12 Tönnies (2011): Gang der Revolution, S. 122 u. S. 134 (zuerst 1919). 13 Ferdinand Tönnies an Paul Natorp, 29.6.1919, UBM, PNN, HS. 831:171.  

Ferdinand Tönnies und die Weimarer Republik

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1918/19 die verfassungsgebende Nationalversammlung unterstützte, zu der er keine Alternative sah. Dennoch: So sehr Tönnies für die Nationalversammlung eintrat, so wenig war er gewillt in ihr per se eine Errungenschaft zu erkennen. Bisher unbekannte Äußerungen im privaten Umfeld zeigen das. Als er im Februar 1919 wegen der Eröffnung der Nationalversammlung nach Weimar gekommen war, schrieb er anlässlich der Verabschiedung des Gesetzes über die vorläufige Staatsgewalt an seine Ehefrau, dass im Parlament endlich „die Notverfassung unter Dach gebracht wurde“, was „wenigstens ein kleiner Schritt vorwärts“ sei. Dessen ungeachtet konnte er sich nicht des Eindrucks erwehren, dass „alles trüber“ geworden war.14 Das war keine dahingeworfene Bemerkung eines Außenstehenden. Ganz im Gegenteil, Tönnies hatte in Weimar, vermittelt über verschiedene politische Zirkel, vielfach Gelegenheit gehabt, mit Abgeordneten und Beamten ins Gespräch zu kommen, um so einen Blick hinter die Kulissen zu werfen. Das fing mit Gertrud Bäumer (DDP) an, mit der er sich sprichwörtlich die Klinke in die Hand gab, da beide bei seinem Studienfreund, dem ehemaligen Staatsminister des Großherzogtums Sachsen Carl Rothe untergekommen waren, und setzte sich beim preußischen Finanzminister Albert Südekum (SPD) fort, bei dem Tönnies einen Abend in geselliger Runde mit August Winnig (SPD), Hugo Lindemann (SPD) und einigen Ministerialbeamten verbrachte. Gesondert von diesem Kreis kamen noch Gespräche mit Max Quarck (SPD), Hugo Sinzheimer (SPD), Hermann Luppe (DDP) und Walther Schücking (DDP) hinzu.15 Nicht immer verliefen die Unterredungen freundlich, vor allem mit der Abgeordneten Bäumer kam es zu ernsthaften Meinungsverschiedenheiten.16 Natürlich nutzte Tönnies auch die Möglichkeit, mehrere Sitzungen der Nationalversammlungen zu besuchen und hörte dabei die „großen Reden von Scheidemann u. Naumann“ sowie „Erzberger“, wie er in einem seiner Notizbücher vermerkte. Alles in Allem verließ er Weimar mit recht gemischten Gefühlen. Kurz vor seiner Abreise heißt es in einem Brief an Natorp: „Die Nationalversammlung ist nicht sehr ermutigend. Indessen wir dürfen uns zutrauen, auf sie und ihre Nachfolger immerhin mehr Einfluß zu gewinnen als auf den ehemaligen Reichstag.“17

  14 Ferdinand Tönnies an Marie Tönnies, 11.2.1919, SHLB, TN, Cb 54.59:02.24. 15 Siehe Carl Rothe an Ferdinand Tönnies, 25.1.1919, SHLB, TN, Cb 54.56:III: „Es wird bei uns Frl. Dr. Bäumer wohnen; aber für dich ist selbstverständlich auch immer Platz.“ Zu Südekum und den anderen Personen siehe die Eintragungen vom 11. bis 15.2.1919 im Taschenkalender 1919, SHLB, TN, Cb 54.12:17. Dort auch die beiden folgenden Zitate. Zum Verhältnis von Südekum und Tönnies vgl. Bloch (2009): Südekum, S. 35–44. 16 Dies belegt ein späterer Brief von Tönnies an Bäumer: „Wir sind uns früher im Hause meines Freundes Rothe begegnet. Wenn wir damals nicht immer übereinstimmten, so glaube ich, dass die gemeinsamen Erlebnisse seitdem zwischen uns vermittelt haben.“ Siehe Ferdinand Tönnies an Gertrud Bäumer, 24.7.1934, SHLB, TN, Cb 54.51. 17 Ferdinand Tönnies an Paul Natorp, 14.2.1919, UBM, PNN, HS. 831:169.

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2. DIE WEIMARER REPUBLIK: EIN ENTWICKLUNGSGESCHICHTLICHER STÖRFAKTOR? Zu mehr als diesem nüchternen Fazit wollte es nicht reichen. Dafür trug die Demokratie, die in Weimar erstmals verfassungspolitisch in Erscheinung trat, zu sehr den Makel einer Entwicklung an sich, die Tönnies nicht gewollt hatte. Um seine Distanz besser verstehen zu können, muss ein wenig ausgeholt und darauf aufmerksam gemacht werden, dass Tönnies in der europäischen Geschichte eine Entwicklungstendenz zur Demokratie angelegt sah. Dieser Prozess entsprach seiner Auffassung nach einer inneren Logik, die in der Neuzeit mit der Idee gleicher Bürgerrechte und der Massen als Faktor in der Geschichte aufgekommen sei. Wenn der Staat schlussendlich aus der Souveränität des Volkes, also aus der Gesamtheit aller ihm angehörenden Männer und Frauen, hervorgehe, käme dieser Prozess zu seiner vorläufigen Vollendung. Seinen logischen Abschluss fand der Staat für Tönnies in der Staatsform einer demokratischen Republik. Diese Erwartungen, die ihn dazu brachten, die Republik als Zielperspektive zu formulieren, fasste er bereits als junger Mann deutlich ins Auge, wenn er im Freundeskreis die Dritte Französische Republik als Beispiel der kommenden Dinge hinstellte: Deshalb aber stehe ich nicht an, die Franzosen glücklich zu heissen, sofern sie die todten Reste von Legitimitätsprincipien und Feudalismus endgültig losgeworden sind und bei Zeiten schon die Regierungsform gefunden haben, wenigstens ihrem Schema nach, welche für die Zukunft […] die einzig mögliche sein wird.18

Was diese Tendenz zu einer demokratisch verfassten Republik anbelangt, sollte nicht unerwähnt bleiben, dass Tönnies diese mit einer weiteren Entwicklung parallel laufen sah, die den Staat als Institution der bürgerlichen Gesellschaft allmählich in den Verwaltungsstaat der Gesamtheit aller seiner Bürger überführen sollte. Mit anderen Worten: Die Entwicklung lief für ihn notwendig auf eine demokratische Wohlfahrtsstaatlichkeit hinaus, obgleich er diesen Ausdruck nie verwendet hat und er stattdessen von einer „Tendenz zum Sozialismus“ sprach, was aber letztendlich den Kern der Sache trifft.19 Dass sich für den Soziologen beide Prozesse wechselseitig bedingten, lässt sich sehr gut aus einem Brief vom Januar 1894 an den Historiker Carl Schirren erkennen: Ich hege kaum überschwängliche Erwartungen von der zukünftigen europäischen oder amerikanisch-australischen Kultur. Aber eine fortschreitende Sozialisierung der Gesellschaft und zunehmende Demokratisierung des Staates halte ich […] für unvermeidlich, und diesen Strom zu regulieren für die einzig mögliche Methode einer kulturerhaltenden Politik. Ob diese die entfesselten Kräfte der Massen zu beherrschen vermag, oder ob sie wie der Zauberlehrling darin ersaufen wird, das halte ich für die exakte Frage.20

  18 Ferdinand Tönnies an Johannes Heller, o.D. [1879], SHLB, TN, Cb 54.51:6. 19 Tönnies (1913): Entwicklung der sozialen Frage, S. 155. 20 Ferdinand Tönnies an Carl Schirren, 14.1.1894, BArch KO, CSN, N/1613/68.

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Nun sollte aber, und an diesem Punkt nähert man sich den Einwänden von Tönnies gegenüber der Weimarer Republik, diese „kulturerhaltende Politik“ nicht das Produkt einer revolutionären Zäsur sein. Ganz im Gegenteil, abrupte revolutionäre Systemwechsel konnten diesen komplizierten Prozess nur gefährden. Denn eine Revolution beschwor, so die Sorge von Tönnies, ein ganzes Bündel von Gefahren herauf. An vorderster Stelle chaotische und bürgerkriegsähnliche Zustände, die dann erst wieder überwunden werden mussten und eine komplexe Industriegesellschaft auf lange Sicht schädigen konnten. Wer die ökonomischen und politischen Verhältnisse grundlegend ändern wollte, musste das behutsam tun. Tönnies, darüber besteht kein Zweifel, hatte sich voll und ganz einer evolutionären Entwicklungsperspektive verschrieben. Die von ihm favorisierte republikanische Wohlfahrtsdemokratie sollte das Produkt einer friedlichen Aufwärtsentwicklung sein. Dementsprechend schrieb er 1913: „Der Geburtsakt eines neuen Zeitalters hat schon begonnen. Gewaltsames Handeln würde ihn eher unterbrechen als fördern.“21 Diese Zukunftserwartung sah Tönnies nach dem Ersten Weltkrieg zur Makulatur geworden. Zwar war ein „neues Zeitalter“ angebrochen, allerdings ein ganz anderes als Tönnies erwartet hatte. Wie nachhaltig der Krieg und seine Folgen den Soziologen erschüttert hatten, ist noch aus einem Satz herauszuhören, den er im Winter 1935 seinem Assistenten Ernst Jurkat diktierte: „Für die ruhige Weiterentwicklung der Gesellschaft in den bisherigen Bahnen, die auf leidlichen inneren Frieden beruhte, war der Ausbruch des Krieges eine ungeheure Störung.“22 Diese Perspektive bestimmte auch seine Sicht auf die durch die revolutionären Umbrüche von 1918/19 entstandene Weimarer Republik, die auf ihn wie ein Zerrbild seiner Erwartungen wirken musste. Im Grunde hatten sich alle seine Befürchtungen einer nicht durch Kontinuität, sondern durch Bruch bestimmten Entwicklung bewahrheitet: Nach außen hin isoliert und im Innern durch extreme Gegensätze zwischen Anhängern und Feinden der neuen Staatsordnung zerrissen, schien ihm die Republik notorisch schwach und auf tönernen Füßen zu stehen. Dass er den Zeitraum zwischen 1918 und 1922 bereits als Phase einer rückschrittlichen Entwicklung begriffen haben dürfte, als sie noch mehr oder weniger unmittelbare Gegenwart für ihn war, lässt sich gut aus einer Gegenwartsdiagnose erkennen, die er im Oktober 1922 auf dem Internationalen Soziologischen Kongress in Wien wagte. Dabei kam er zu dem Ergebnis, dass die revolutionären Umwälzungen der jüngsten Zeit – terminologisch sprach er von „proletarischen Revolutionen“ – als „paradoxe Phase im Gesamtprozess der politischen Revolution der Neuzeit“ aufgefasst werden müssten.23 Denn ihr Ergebnis sei zwar wie im Falle von Deutschland oder Österreich eine „politische Revolution – die Veränderung der Staatsform“ von der Monarchie zur Republik gewesen, soziologisch gesehen hätten sie aber dazu geführt, „die gesellschaftlichen Mächte [zu] erheben und [zu] verstärken, denen die proletarische Empörung entgegenwirken wollte und will.“ Nach alledem   21 Tönnies (1913): Entwicklung der sozialen Frage, S. 157. 22 Ders. (2016): Gesamtausgabe Bd. 22, Teilbd. 2, S. 201. 23 Ders. (1923): Theorie der Revolution, S. 36f. Dort auch die folgenden Zitate.  

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lässt sich sagen, dass die aus der Novemberrevolution hervorgegangene Republik für Tönnies, ähnlich wie der Weltkrieg, eine Art Störfaktor darstellte, der statt einen republikanischen Wohlfahrtsstaat zu etablieren, zwei Expropriierte, nämlich die besitzlosen und lohnabhängigen Schichten und den durch den Krieg verschuldeten Staat zusammengebracht habe.24 Ein Gedanke, den der mit Tönnies befreundete Rudolf Goldscheid wenige Jahre später mit folgendem Sinnbild auf den Punkt brachte: „Den armen Staat kann das Volk ruhig erobern, es erbeutet damit nur leere Kassen.“25 3. SKEPSIS GEGENÜBER PARLAMENT UND PARTEIENREGIERUNG Ein zweiter wichtiger Einwand gegen die Weimarer Republik und vielleicht der schwerstwiegende ergab sich für Tönnies aus der parlamentarischen Regierungsform. Denn wenngleich er während der Wilhelminischen Ära wiederholt für eine Parlamentarisierung des Deutschen Reiches eingetreten war, wie etwa während der Daily-Telegraph-Affäre, hegte er doch „gerechte Bedenken […] gegen das parlamentarische System“, wie er sich im Dezember 1918 in einem Brief an Paul Natorp ausdrückte.26 Ganz in dieser Linie standen auch seine Bedenken gegenüber den Parteien, was mit ironischem Unterton anklingt, wenn er wenig später an den Marburger Neukantianer schrieb, dass Deutschland nun „mit einer Parteienregierung gesegnet“ sei.27 Dass die Parteien und das Parlament im deutschen Bildungsbürgertum überwiegend negativ besetzt waren, hatte eine längere Tradition und braucht hier nicht erörtert zu werden. An dieser Stelle soll vielmehr interessieren, wie Tönnies diese Vorbehalte politiktheoretisch sublimierte, lassen sich doch so wesentliche Vorbehalte dieses Denkers gegenüber der Weimarer Demokratie besser nachvollziehen. Die kritische Ausgangsbasis ist dabei eine überparteilich-parlamentarismuskritische Haltung, die bereits um 1898 bei ihm ausgemacht werden kann und die in solchen Schriften wie „Politik und Moral“ (1901) immer schärfere Konturen annimmt, bis sie in den 1920er Jahren nach einem immensen Lektüreprogramm, welches James Bryce, Wilhelm Hasbach, Émile de Laveleye und viele andere Autoren umfassen sollte, zu einer ausgefeilten Demokratietheorie werden wird.28 Wer diese Demokratietheorie näher unter die Lupe nimmt, bemerkt zugleich, wie grundlegend Tönnies sein Verhältnis zur Demokratie revidierte hatte. Vor dem Krieg meinte er noch dem dänischen Philosophen Anton Thomsen, der die Demokratie lieber zugunsten eines stärker autoritären Staates aufgegeben gesehen hätte,   24 25 26 27 28  

Vgl. Tönnies (1926): Das Eigentum, S. 35f. Goldscheid (1926): Staat, Haushalt, Gesellschaft, S. 153. Ferdinand Tönnies an Paul Natorp, 25.12.1918, UBM, PNN, HS. 831:168. Ferdinand Tönnies an Paul Natorp, 14.2.1919, ebd., HS. 831:169. Vgl. Ferdinand Tönnies, Ueber den Parteien, SHLB, TN, Cb 54.33:17, ders. (1901): Politik und Moral und ders. (1926): Soziologie des demokratischen Staates (zuerst erschienen 1923).

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trotzig zu antworten: „Die Demokratie muss durchgemacht und durchgekämpft werden, trotz aller ihrer Verkehrtheiten“.29 Nun war er kaum noch gewillt diese „Verkehrtheiten“ einfach in Kauf zu nehmen. Eine neue Demokratie bar solcher Auswüchse sollte her, worauf er die SPD, die DDP und das Zentrum hinwies: „Das Problem der Demokratie als wirklicher Staatsverfassung in der heutigen Gesellschaft liegt noch ungelöst, ja kaum angefaßt, vor den republikanisch-demokratischen Parteien“.30 Diese Demokratie in spe sollte sich von den überlieferten Formen lösen und so die Mängel der bestehenden demokratischen Systeme, begrifflich sprach Tönnies vom „modernen Parlamentarismus“, aufheben.31 Ohne hier näher auf die Ausgestaltung der von ihm projektierten Demokratie eingehen zu können, einige neuere Aufsätze haben das ausführlich getan, sei nur so viel gesagt, dass Tönnies von einem parlamentarischen zu einem stärker direktdemokratischen Regierungssystem übergehen wollte.32 Das Parlament sollte nur noch eine beratende Rolle im Gesetzgebungsprozess ausüben und die Regierung in Form eines Direktorialkabinetts direkt vom Volk gewählt werden. Zur Kontrolle der Regierung war von Tönnies ein wiederum durch Direktwahl bestätigtes Verfassungsgericht vorgesehen und überhaupt sollten Volksentscheide in diesem System eine zentrale Rolle spielen.33 Sein Hauptkritikpunkt am Parlamentarismus war, dass er mit seiner Dreiteilung in Volksvertretung, Regierung und richterliche Gewalt die Volkssouveränität – das eigentliche „demokratische Prinzip“ – erheblich beschränke. Dagegen sah er das Wesen der Demokratie darin, dass „das Volk, d. h. die Gesamtheit der Bürger, nicht als die große Menge, sondern als einheitliches Organ des von ihm gewollten Staates sich wisse“ und seine Vertreter „nach seinem Willen bestimme und über sie verfüge. Auch nachdem es sie bestellt und ihnen die weitesten Befugnisse der Führung, also auch der Gesetzgebung, übertragen hat.“34 Die ganze Argumentation erinnert an Carl Schmitts Parlamentarismuskritik, wie ja auch die demokratietheoretischen Gedanken von Tönnies tatsächlich in Auseinandersetzung mit Schmitt – den Tönnies übrigens lange sehr geschätzt hat – entstanden sind.35 Doch anders als jener erblickte Tönnies den unmittelbarsten Aus  29 30 31 32

Ferdinand Tönnies an Anton Thomsen, 16.1.1911, DKB, ATN, NKS 4703.4°. Tönnies (1929): Demokratie und Parlamentarismus, S. 66. Ebd.: S. 66. Zur neueren Literatur über Tönniesʼ Demokratiekonzeption siehe: Schlüter-Knauer (2014): Die kontroverse Demokratie u. ders. (2013): Theorie, Empirie, Demokratie. 33 Am ausführlichsten hat Tönnies seinen Entwurf einer Demokratie 1926 auf dem Deutschen Soziologentag in Wien vorgestellt, siehe Tönnies (1927): Demokratie, S. 28–36. 34 Tönnies (1929): Demokratie und Parlamentarismus, S. 53. 35 Siehe hierzu die Briefe von Carl Schmitt an Ferdinand Tönnies, SHLB, TN, Cb 54.56:734. Ein besonders intensiver Umgang entwickelte sich in den frühen 1930er Jahren. So forderte Tönnies als Präsident der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (DGS) Schmitt 1931 dazu auf, innerhalb der DGS die Untergruppe für politische Soziologie zu leiten. Ob Schmitt die Leitung der Untergruppe tatsächlich übernahm, ist unklar. Vgl. Carl Schmitt (2010): Tagebücher 1930– 1934, S. 109. Eintragung v. 14.5.1931.  

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druck der Demokratie nicht in einem irgendwie durch Massenakklamation bestätigten Führerstaat, stattdessen suchte er das Heil einer vollkommeneren Demokratie in der Obhut eines Systems sich gegenseitig ergänzender direktdemokratisch legitimierter Institutionen. Dass die Gesamtheit der Bürger zu so einem gesamtstaatlichen Handeln noch nicht reif sei, ja manchmal „der Volkswille töricht“ und mitunter auch „auf mangelnder Erkenntnis des eigenen Wohles“ beruhen konnte, stand für ihn auf einem anderen Blatt.36 Langfristig würde der „Volksentscheid“ – in der Schweiz sah er diese Entwicklung deutlich angelegt – „als ein beinahe zwingendes politisches Erziehungsmittel wirken“. In dieselbe Richtung zielte auch seine Idee einer entsprechenden politischen Staatsbürgererziehung, die einmal am Werk, viel zu einer vernünftigen und besonnenen Wählerschaft beitragen würde.37 Hatte sich für Tönnies die Weimarer Republik durch die Einführung der gleichen staatsbürgerlichen Rechte für Frauen ohnehin „über alle bisher verwirklichten Gestaltungen“ der Demokratie erhoben, sollte nun weiter vorangeschritten und die Demokratie vollkommener zum Ausdruck gebracht werden, wie Tönnies schon 1919 klar formuliert hatte: Daß die unmittelbare Volkswahl – das Plebiszit – und der Volksentscheid – das Referendum – nicht nur die letzten, sondern als solche auch die vollkommensten Ausdrücke […] der demokratischen Staatsform sind, wird kaum bestritten, und gelangt mehr und mehr zur tatsächlichen Anerkennung im Staatsrechte derjenigen Staaten, die darauf Anspruch machen, jene Staatsform in der reinsten Ausprägung zu verwirklichen. An deren Spitze steht jetzt das Deutsche Reich.38

Die weiteren Einwände gegenüber der bestehenden Demokratie gingen dahin, dass sie durch ihre parlamentarische Regierungsweise auch anderweitig dahin tendiere, die Volkssouveränität zu neutralisieren. Dies offenbarte sich für Tönnies daran, dass die Abgeordnetenrekrutierung allein den Parteien vorbehalten bleibe, wodurch im Parlament und in der aus ihr hervorgehenden Regierung in erster Linie Berufspolitiker sitzen würden. Ob dadurch aber gerade diejenigen gewählt würden, von denen garantiert sei, dass sie ihr Amt im Interesse des gemeinsamen Besten ausüben, wagte Tönnies ernsthaft zu bezweifeln.39 Ein weiterer Einwand gegen das Parlament richtete sich gegen die aus ihm gebildeten Regierungen, die der Soziologe generell für schwach hielt, was er unter Hinweis auf die in raschem Wechsel folgenden Kabinette der Weimarer Republik und der ehemals so gelobten Dritten Französischen Republik zu untermauern versuchte. Dass es aber innerhalb der Weimarer Demokratie mit Preußen unter dem Ministerpräsidenten Otto Braun auch eine relativ stabile Regierung gab, wollte Tönnies allem Anschein nach ebenso wenig wahrhaben wie die Tatsache, dass den fragilen Regierungsbündnissen im Nachbarland ein hohes Maß an Koalitionsfähigkeit zugrunde lag, die so in der Weimarer   36 Tönnies (1926): Die große Menge und das Volk, S. 300. Dort auch das folgende Zitat. 37 Vgl. Tönnies (1929): Demokratie und Parlamentarismus, S. 77. 38 Tönnies (1926): Die große Menge und das Volk, S. 298. Das vorangehende Zitat ebd. Der Text erschien erstmals 1922 in „Schmollers Jahrbuch“. Tönnies führt aber aus, dass diese Schrift größtenteils bereits 1919 entstanden war. Vgl. ebd.: S. 303, Fn. 1. 39 Vgl. Tönnies (1929): Demokratie und Parlamentarismus, S. 51.  

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Republik nicht gegeben war.40 Aber es waren nicht nur schwache Regierungen, die Tönnies dem Parlamentarismus zur Last legte. Für ebenso bedenklich hielt er, dass es in einer parlamentarischen Demokratie schlecht um das Allgemeinwohl bestellt sei, da er die Parteien für prädestiniert sah, den Einflüssen von geldmächtigen Interessen zu erliegen. Diese Entwicklungstendenz pflegte er mit dem heute kaum noch verwendeten Begriff der Plutokratie zu bezeichnen und gerade die parlamentarische Demokratie hielt er für besonders gefährdet, in ein plutokratisches System abzudriften. Schon 1901 hatte er auf diese Gefahr hingewiesen: „Aber ein parlamentarisches System scheint allerdings die Form zu sein, in der sie [die Plutokratie] am glattesten ihre Geschäfte abwickeln kann“.41 Besonders die USA galten Tönnies in dieser Hinsicht als ein Negativbeispiel par excellence, hatte sich doch seiner Auffassung nach hier die Plutokratie in einer Demokratie, wenn auch in einer präsidentiellen, wie unter einer schützenden Hülle eingenistet.42 1922 schien er in seiner Schrift „Kritik der Öffentlichen Meinung“ eine ganz ähnliche Entwicklung für die Weimarer Republik zu prognostizieren: Die Republik ist das Banner des Proletariats, darum schon scheinen alle Meinungen, die mit den Angelegenheiten des Kapitals und des Grundbesitzes verknüpft sind, um das Banner der Monarchie sich sammeln zu sollen […]. Wenn dieser Zustand länger als ein Menschenalter dauern sollte, so wird voraussichtlich die Öffentliche Meinung sich an die republikanische Verfassung gewöhnen und mit ihr aussöhnen; sollte sich sogar herausstellen, daß sie der bestehenden Gesellschaftsordnung eher günstig als nachteilig wirken wird, so wird sie den Umsturz der Staatsordnung nicht nur verschmerzen, sondern als Fortschritt preisen. So ist die Entwicklung in Frankreich während der letzten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts gewesen; und die Republik der Vereinigten Staaten ist noch das festeste Bollwerk der Bourgeoisie und ihres Privateigentums.43

4. DAS VERHÄLTNIS ZUR WEIMARER SOZIALDEMOKRATIE Wie bereits angedeutet wurde, hatte sich Tönnies bei der Suche nach einer alternativen Demokratie, die sich von der überkommenen parlamentarischen Regierungsweise lösen sollte, an die drei demokratisch-republikanischen Parteien gewandt. Allerdings sollte man nicht glauben, dass er sich übertriebenen Erwartungen hingegeben hätte, die Parteien würden eine solche Demokratiekonzeption, die im Kern gegen sie selbst gerichtet war, ernsthaft in Erwägung ziehen wollen. Darauf deutet auch eine Antwort an den dänischen Philosophen Harald Høffding hin, der, nachdem er sich mit den Überlegungen seines Freundes näher auseinandergesetzt hatte, diesen gefragt hatte: „Wird das Hauptproblem nicht dies sein: wie können die Par  40 Zu Frankreich vgl. Raithel (2005): Spiel des Parlamentarismus, zu Otto Braun vgl. Görtemaker (2014): Otto Braun. 41 Tönnies (1901): Politik und Moral, S. 41. 42 Ebd. 43 Ders. (2002): Gesamtausgabe Bd. 14, S. 471 (zuerst 1922).  

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lamente dazu bewegt (resp. gezwungen) werden, nur eine beratende Stellung einzunehmen?“44 Hierauf erwiderte Tönnies: „Das praktische Hauptproblem ist ohne Zweifel das von Ihnen hervorgehobene, ich aber überlasse es dem Napoleonischen Schicksal, nämlich der Politik.“45 Das klingt relativ unkonkret und nicht sehr erwartungsvoll. Doch obgleich Tönnies im Hinblick auf den Resonanzraum seiner Demokratiekonzeption relativ skeptisch gewesen sein dürfte, sah er in einer der bestehenden Parteien am ehesten Anknüpfungspotential für seine Ideen: gemeint ist die Sozialdemokratie. Wobei allerdings auch das Verhältnis zu dieser Partei, mit der er über Jahrzehnte sympathisiert und für deren Anerkennung er im Kaiserreich unermüdlich geworben hatte, wenig Anlass gibt, seine Parteienskepsis am Anfang der Weimarer Republik relativieren zu wollen. Gewissermaßen fand die Kritik an der parlamentarischen Demokratie ihr Pendant in wachsenden Vorbehalten gegenüber der sozialdemokratischen Partei. Prinzipiell kommt man nicht umhin zu fragen, warum Tönnies 1918/19, als „viele Intellektuelle, auch Universitätsprofessoren, der bisher geächteten Partei beitraten“, er es diesen nicht gleichtat?46 Hatte er nicht in den 1890er Jahren exakt auf diese Entwicklung hingearbeitet, als er Werner Sombart und andere Kollegen vergebens zu bewegen versucht hatte, mit ihm in die Sozialdemokratie einzutreten?47 Doch das sollte alles keine Rolle mehr spielen, denn mit der neueingeführten Staatsform änderte sich auch seine Stellung zur SPD grundlegend. Nach außen hin kam das freilich nicht so sehr zur Geltung. Da rühmte er durchaus die „national-patriotische Haltung“ der Partei während des Weltkrieges, stellte ihr besonnenes Verhalten während der Novemberrevolution, als es möglich war „dem Vorbilde Rußlands zu folgen“, heraus oder behauptete, dass „ein demokratischer Staat […] sich glücklich preisen“ könnte, wenn er sich wie die SPD unter „Bebel, Liebknecht, Auer, Singer, Grillparzer u.a.“ von einem „Dutzend Männer des einmütigen Vertrauens […] regieren ließe.“48 Aber das letzte Zitat deutet es bereits an: Tönnies positiver Bezugspunkt bildete mehr die Vorkriegs- als die Nachkriegssozialdemokratie. Zur SPD der frühen Weimarer Republik ging er vielmehr bald auf Abstand, um dann, nach einem kurzen Zwischenspiel bei der DDP, vorerst in parteipolitischer Heimatlosigkeit zu verharren.49 Das änderte sich erst 1930, als er unter dem Eindruck des Aufstiegs der Nationalsozialisten schließlich doch der Sozialdemokratie   44 Harald Høffding an Ferdinand Tönnies, 28.8.1926, in: Tönnies/ Höffding (1989): Briefwechsel, S. 175. 45 Ferdinand Tönnies an Harald Høffding, 2.9.1926, in: ebd.: S. 176. 46 Tönnies (2002): Gesamtausgabe Bd. 14, S. 653. 47 Vgl. Lenger (2012): Werner Sombart, S. 94f. 48 Tönnies (2002): Gesamtausgabe Bd. 14, S. 651; ders. (1929): Demokratie und Parlamentarismus, S. 43 u. ders. (1923): Zur Krise der Sozialpolitik, o.S. 49 In dem Fragebogen zur Durchführung des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums, den Tönnies 1933 ausfüllen musste, gab er an, dass er „nach 1918 zeitweilig […] der  

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beitrat. Seine seit 1918/19 wachsende Distanz zur SPD ließ er vor allem in der Briefkorrespondenz mit langjährigen Weggefährten und befreundeten Sozialdemokraten durchblicken. So gab er dem just vom Amt des Staatssekretärs im Auswärtigen Amt demissionierten Wilhelm Solf, mit dem er über den politischen Club der Deutschen Gesellschaft 1914 verbunden war, im Dezember 1918 zu verstehen, dass er schon immer gewußt habe, dass „unter den Sozialdemokraten […] zwar treue und tüchtige Leute, aber keine Staatsdiener von überlegener Willenskraft und Einsicht sich finden“.50 Kann das noch als tröstende Geste verbucht werden, ging Tönnies wenig später gegenüber Natorp erneut mit der Sozialdemokratie ins Gericht. Den Anlass bot diesmal die Debatte über die Staatsbezeichnung, bei der die SPD wie die linkssozialistische Unabhängige Sozialdemokratie den Standpunkt vertreten hatte, dass dem republikanischen Gedanken in der Staatsbezeichnung Rechnung getragen werden sollte und daher die Bezeichnung „Deutsches Reich“ zugunsten der einer „Deutschen Republik“ aufgegeben werden sollte. Tönnies war empört, wie „der vernünftige Teil der Sozialdemokr.[atie], offenbar unter dem Drucke des unvernünftigen, nicht einmal den Namen [der vorhergehenden Staatsform] übrig lassen will.“51 Man kann sich vorstellen, wie Tönnies, der überall Kontinuität wahren wollte, diese Idee aufgenommen haben muss. Lässt sich bereits hier eine deutliche Abkühlung im Verhältnis zur SPD erkennen, wird dies spätestens im Mai 1919 sehr deutlich, als Tönnies seine Mitarbeit an der „Neuen Zeit“, dem Theorieorgan der SPD, aufkündigte. Die Antwort des Chefredakteurs Heinrich Cunow zeigt, dass Tönnies daran gelegen war, auf keinen Fall mehr als Parteimitglied der SPD wahrgenommen zu werden: Ich verstehe recht wohl Ihre Bedenken gegen Ihre Mitarbeit an der Neuen Zeit, glaube aber doch, dass sie im ganzen wenig begründet sind. Die Neue Zeit hat bereits vielfach Artikel von Gelehrten und Schriftstellern gebracht, die, wenn sie auch der Partei nahestehen, doch nicht eingeschriebene Mitglieder sind, und ich glaube daher, dass niemand aus der Tatsache der Mitarbeiterschaft kurzweg schliessen wird, der Betreffende sei direktes Mitglied der sozialdemokratischen Partei.52

Die tiefergehende Problematik, die in der wachsenden Distanz zwischen Tönnies und der Sozialdemokratie zum Vorschein kam, rührt daher, dass der Soziologe wohl einsehen musste, dass die SPD nicht zu der staatstragenden Partei geworden war, auf die er noch während des Krieges gehofft hatte. Im Gegenteil - für viele Parteigenossen bis hinauf in die Führungsebene blieb die SPD auch noch in der Republik eine Oppositionspartei oder sogar eine revolutionäre Klassenpartei. Diese letzte Sichtweise war für Tönnies schon im Kaiserreich ein Parteienselbstverständnis, das er am liebsten aufgegeben gesehen hätte. Schon 1902 hatte   deutschen demokratischen Partei“ angehört habe. Siehe Fragebogen zur Durchführung des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom 7. April 1933, GSPK, I. HA Rep. 76, Sekt. 9 Tit IV Nr. 22 Bd. 1, Bl. 76. 50 Ferdinand Tönnies an Wilhelm Solf, 21.12.1918, BArch KO, WSN, N 1053/60. 51 Ferdinand Tönnies an Paul Natorp, 27.2.1919, UBM, PNN, HS. 831:170. 52 Heinrich Cunow an Ferdinand Tönnies, 8.5.1919, SHLB, TN, Cb 54.56:215.  

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er dies in einer für die „Gesellschaft für soziale Reform“ verfassten Broschüre näher ausgeführt, in der er erklärte, dass sich die sozialdemokratische Partei „im Sinne des gemeinsamen Wohles und des vaterländischen Interesses“ umso vorteilhafter entwickeln würde, „je mehr sie sowohl über die bloße Interessenvertretung des industriellen Proletariats, als über den unbedingten demokratischen Radikalismus durch höhere politische Gesichtspunkte sich zu erheben vermag“.53 Anders ausgedrückt: Die SPD sollte sich sozial öffnen und lagerübergreifende Politikangebote machen. Diese Kritik wiederholte er in abgewandelter Form auch 1920 in einem Gutachten zur Revision des Erfurter Programms, um das ihn der Parteivorstand gebeten hatte und das in Anbetracht der Distanz, die Tönnies seinerzeit gegenüber der SPD an den Tag legte, bezeichnenderweise unter einem Pseudonym erschien. Der letzte Satz des Gutachtens bringt dabei gut auf den Punkt, worum es Tönnies ging: „Heute gilt es, […] alle Kräfte einer Gesamtarbeiterbewegung, einer Partei, die ‚moralische Eroberungen‘, besonders auch in den Kreisen der geistigen Arbeit“ – hierunter verstand er Angestellte, Beamte und Akademiker – „zu machen gesonnen, und darauf als eine Lebensnotwendigkeit angewiesen ist, zu versammeln.“54 Zu dieser Partei sollte die SPD aber erst nach dem Zweiten Weltkrieg werden. Es hieße Tönnies aber gründlich missverstehen, wollte man annehmen, er habe auf eine SPD im Sinne ihres späteren Parteiprogramms von Bad Godesberg vorgreifen wollen. Ging es nach ihm, sollte auch weiterhin an marxistische Traditionsbestände angeknüpft und auf eine Verwirklichung des Sozialismus hingearbeitet werden.55 5. VERSUCH EINER WERTUNG Tönniesʼ Verhältnis zur parteienstaatlichen Demokratie lässt eine Reihe von Ambivalenzen erkennen, wie diese in erster Linie auf die frühen Jahre der Weimarer Republik gerichtete Skizze gezeigt hat. Diese Distanz resultierte aus entwicklungs-, demokratie- und parteientheoretischen Überlegungen und machte Tönnies zu so etwas wie einem skeptischen Republikaner. Diese Charakterisierung deckt sich sehr gut mit älteren Forschungen, wie der von Herbert Döring über den Weimarer Kreis, die den Blick darauf gelenkt haben, dass bis in die Reihe der Republikaner nur ganz wenige die neue Staatsordnung und ihre parteienstaatliche Demokratie für sakrosankt hielten.56 Tönniesʼ Einwände basierten dabei nicht nur aus den Erfahrungen einer schwachen Republik mit instabilen Regierungen, seine Distanz gegenüber der Republik hatte auch mit seinem bereits im Kaiserreich ausgeprägten evolutionären Demokratieverständnis zu tun, das er nach 1918/19 aktualisierte und das ihn dazu   53 Tönnies (1902): Vereins- und Versammlungsrecht, S. 55. Hervorh. im Original. 54 Normannus [Tönnies] (1920): Kritisches und Positives, S. 24. 55 Siehe ausführlicher zu Tönniesʼ Verhältnis zur Sozialdemokratie am Beispiel des soeben erwähnten Gutachtens zur Revision des Erfurter Programmes: Wierzock (2016), Nähe und Distanz, S. 321–327. 56 Vgl. Döring (1975): Der Weimarer Kreis.  

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brachte, die parlamentarische Regierungsweise als überholt einzustufen. Ihr Pendant fand diese Sichtweise in der Kritik an der SPD, die er von einer Klassenpartei zu einer linken Volkspartei weiterentwickeln wollte. Interessant zu sehen ist, wie Tönnies, der sich selbst immer wieder als Kontinuitätsdenker zu verorten suchte, damit einer Sehnsucht nach Veränderung erlag – zumindest was die Frage der Demokratie und ihrer Parteien anbelangt – die für die Weimarer Republik geradezu notorisch war.57 Bei aller Skepsis gegenüber dem parlamentarischen Repräsentativsystem der Republik blieb Tönnies aber immer ein „Kritiker innerhalb der Demokratie“ – um hier eine Formulierung des Historikers Tim B. Müller aufzugreifen.58 Wie ist Tönnies fernerhin einzuordnen? Einesteils weisen seine Vorbehalte gegen die parlamentarische Demokratie, sein Misstrauen am Parteienstaat und seine Forderung nach Überparteilichkeit auf das Fortwirken spezifischer Vorstellungen über Politik, die aus der Zeit des wilhelminischen Deutschland herrühren und von denen er sich nach 1918 nicht lösen konnte. Aus dieser Perspektive erscheint Tönnies somit wie ein ehemals progressiver Denker, der aber bestimmten Denkschablonen des Obrigkeitsstaates verhaftet blieb und mit der parlamentarischen Demokratie einfach nicht warm wurde. Andererseits sollte nicht übersehen werden, dass Tönnies mit seiner Kritik ganz klar in die zeitgenössische Diskussion hineingehörte, denn links wie rechts und über die Parteien und sozialen Milieus hinweg gab es in der Weimarer Republik einen starken Antiparlamentarismus – auch unter den republiktreuen Kräften, so eigenartig das auch aus heutiger Sicht erscheinen mag. Nicht minder unbedeutend für die politische Kultur dieser Jahre war der Wille zur Überparteilichkeit. War diese Denkweise vor allem unter den Intellektuellen vorzufinden, gab es auch innerhalb der Parteien immer wieder Stimmen, die sich überparteilich positionierten. Zeitweise besonders erfolgreich tat dies beispielsweise der Zentrumspolitiker Joseph Wirth, der unzufrieden mit dem Richtungsstreit in seiner Partei 1926 zum Zusammenschluss der republikanischen Bewegung aufgefordert und hierfür zusammen mit Paul Löbe (SPD) und Ludwig Haas (DDP) eine Republikanische Union gegründet hatte. Das war natürlich gegen den Rechtskurs der eigenen Zentrumspartei gerichtet, hatte aber auch Potential zur Gründung einer neuen Partei. Nicht von ungefähr war als langfristiges Fernziel der Republikanischen Union die Einberufung eines „Republikanischen Nationalkonvents“ vorgesehen.59 Zur Propagierung dieser

  57 Zu den zahlreichen Zukunftsdiskursen der Weimarer Republik vgl. Graf (2008): Weimarer Republik. 58 Müller (2014): Nach dem Ersten Weltkrieg, S. 53. 59 Wirth (1926): Wege zur Republikanischen Union. Zum Potential und jähen Ende von Wirths Plänen eines Zusammenschlusses der republikanischen Parteien, um vielleicht langfristig ein Zweiparteiensystem zu etablieren, vgl. Mergel (2012): Parlamentarische Kultur, S. 371–374. Zu Wirth allgemein siehe Hörster-Philipps (1998) Joseph Wirth.  

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Ideen war außerdem eine Zeitschrift, die „Deutsche Republik“, ins Lebens gerufen worden – für die übrigens auch Tönnies schrieb.60 Ebenfalls ein Produkt der Zeit und beutend für die in die Zukunft weisende Demokratie war Tönniesʼ Forderung die Sozialpolitik nach Kräften auszubauen, um allmählich einen starken Wohlfahrtsstaat, die soziale Republik, zu begründen. Auch diese von ihm vertretene Zielperspektive stammte aus dem Kaiserreich, aber erst in der Weimarer Republik war sie bei allen gemäßigten Parteien zu so etwas wie „Common sense“ geworden.61 Trotz aller Ermahnungen von Tönnies zu einer besonnenen und behutsamen Sozialpolitik – vor 1914 pflegte er das „wissenschaftlich geläuterten Sozialismus“ zu nennen62 – sollte bei alldem nicht vergessen werden, dass sein Begriff von Wohlfahrtsstaatlichkeit weit über die im Vergleich zu heute schwachen Sozialsicherungssysteme der Weimarer Republik hinauswies. Auch die teils stark antikapitalistische Stoßrichtung seiner Gedanken gepaart mit dem Ziel einen starken Steuerstaat zu errichten, sollte hier berücksichtigt werden. So hatte er 1926 er auf dem Deutschen Soziologentag in Wien über die Demokratie der Zukunft ausgeführt: „Der liberale Staat wurde arm und von der Bewilligung von Steuern abhängig gedacht und gewollt. Der demokratische Staat muß […] reich sein oder werden.“63 Genau hier lag das Problem für Tönnies: Die parlamentarische Demokratie und der Parteienstaat standen für ihn nicht unverrückbar im Zentrum einer Demokratie, ganz im Gegenteil sie erwiesen sich aus seiner Sicht zunehmend als Hindernis auf dem Weg zu einer sozialen Ausgestaltung des Staates. Dass Tönnies diese Betrachtungsweise bei aller ebenfalls vorhandenen pragmatischen Anerkennung des vorhandenen Staatsgefüges nicht nur in den frühen Jahren der Republik eigen war, zeigt die folgende Bemerkung aus dem Jahr 1929: „Auch wenn der Parteienstaat wirklich eine so schöne Sache wäre, […] so müßte man ihn über Bord werfen, sobald es offenbar notwendig ist, um die Republik nicht nur zu retten, sondern – was wichtiger ist, zu einer sozialen Republik auszugestalten.“64 Wollte man Tönnies also zusammen mit Intellektuellen wie Ernst Troeltsch, Friedrich Meineke und anderen in eine Art von progressiver Gründungsgeneration Weimars einordnen, so lässt sich sicher sagen, dass er mit Blick auf seine demokratietheoretischen Überlegungen zu den skeptischsten Köpfen dieser Gruppe gehörte. QUELLEN Bundesarchiv Koblenz (BArch KO) – Nl. Carl Schirren (CSN) – Nl. Wilhelm Solf (WSN)

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Vgl. Tönnies (1998): Erhebung? (zuerst erschienen 1932). Vgl. Müller (2014): Nach dem Ersten Weltkrieg, S. 95–113. Tönnies (1913): Entwicklung der sozialen Frage, S. 56. Tönnies (1927): Demokratie, S. 35. Tönnies (1929): Partei und Staat, S. 196.

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Det Kongelige Bibliotek Kopenhagen (DKB) – Nl. Anton Thomsen (ATN) Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz (GSPK) – I. HA Rep. 76, Sekt. 9 Tit IV Nr. 22 Bd. 1. Schleswig-Holsteinische Landesbibliothek (SHLB) – Nl. Ferdinand Tönnies (TN) Universitätsbibliothek Marburg (UBM) – Nl. Paul Natorp (PNN)

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ZENTRUMSPOLITIKERINNEN IN DER WEIMARER REPUBLIK Das Beispiel Helene Weber (1881–1962) Antonia Schilling „Ohne daß die Mehrzahl der Frauen es gewünscht hätte, ja gegen Wunsch und Willen eines Teils von ihnen, hat die Revolution des November 1918 den Frauen das Wahlrecht gegeben.“1

So beurteilte 1920 die DDP-Politikerin und Autorin Regine Deutsch die Erlangung des Frauenwahlrechts.2 Des Weiteren führte sie aus, dass insbesondere die „rechts orientierten Verbände“ gegen das Frauenwahlrecht eingestellt gewesen seien, auch weil sie eine höhere Wahlbeteiligung der Arbeiterinnen als der Bürgerinnen befürchteten. Insbesondere verwies sie auf den Deutschen Evangelischen Frauenbund (DEF), der noch 1918 auf Grund der Ablehnung des Frauenwahlrechts aus dem Bund deutscher Frauenvereine (BDF) ausgetreten war. Der Katholische Deutsche Frauenbund (KDF), der die Frauenfrage ebenfalls in Verbindung mit dem Christentum lösen wollte, verhielt sich hingegen aus taktischen Gründen unparteiisch hinsichtlich der Frage des Frauenwahlrechts, diskutierte sie aber dennoch in seiner Zeitschrift ausführlich.3 Aber unabhängig davon, ob sich Teile der Frauenbewegung vor 1918 für oder gegen das Frauenwahlrecht ausgesprochen hatten, stellten nach 1918 alle Parteien Frauen als Kandidatinnen auf. Die Erlangung des aktiven und passiven Frauenwahlrechts stellte für die neuen Parlamentarierinnen einen entscheidenden Einschnitt in ihr Leben dar. Dieser Beitrag befasst sich mit diesen ersten weiblichen Abgeordneten der Weimarer Republik, wobei der Fokus auf die Zentrumsfrauen gerichtet sein wird. Die von Barbara von Hindenburg herausgearbeiteten soziologischen Merkmale der

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Deutsch (1920): Die politische Tat, S. 1. Während der Weimarer Republik dokumentierte sie in ihren Publikationen Die politische Tat und Parlamentarische Frauenarbeit I und II die Tätigkeit der weiblichen Abgeordneten in der Nationalversammlung und im Reichstag. Vgl. Hübsch-Faust (1993): Deutsch, Regine, S. 91– 92. Der Katholische Frauenbund (KFB) benannte sich 1916 in Katholischer Frauenbund Deutschlands (KFD) um. Aus Rücksicht auf die Zweigvereine der abgetretenen und besetzten ehemaligen deutschen Gebiete nannte er sich 1921 in Katholischer Deutscher Frauenbund (KDF) um. In diesem Aufsatz wird einheitlich mit KDF abgekürzt.

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weiblichen Abgeordneten des Preußischen Landtags in der Weimarer Republik sollen mit denen der Zentrumsparlamentarierinnen abgeglichen werden.4 Insbesondere am Beispiel von Helene Weber (1881–1962) soll untersucht werden, inwiefern sie als typische weibliche Abgeordnete des Zentrums gelten kann. Welche sozialen Faktoren ermöglichten Helene Weber eine Karriere als Zentrumspolitikerin in der Weimarer Republik? Daneben sollen auch Zahl und Anlässe der Reden der Zentrumspolitikerinnen miteinander verglichen werden, um herauszuarbeiten, wann das Zentrum wen als Rednerin einsetzte. Von Hindenburg kam zu dem Ergebnis, dass Altersstruktur und politische Überzeugungen der weiblichen Abgeordneten deutlich heterogener gewesen seien, als dies in Bezug auf die männlichen Abgeordneten der Fall war. Prägend seien neben dem Ersten Weltkrieg die Erfahrung der gesellschaftlichen und politischen Unfreiheit als Frau gewesen, das handlungswirksame Eintreten gegen diese in den Frauenbewegungen, die Zunahme an Bildungs- und Berufschancen und die Erfahrung der radikalen Erweiterung ihrer Rechte.5 Interessanterweise stellten die Zentrumspolitikerinnen im Preußischen Landtag hinsichtlich ihrer Sozialisation die homogenste Gruppe dar: Alle waren zuvor in der Katholischen Frauenbewegung engagiert, entweder im Verein katholischer deutscher Lehrerinnen (VkdL) oder im Katholischen Frauenbund Deutschlands (KFD), etwa zwei Dritteln von ihnen waren zuvor Lehrerinnen gewesen.6 Insgesamt waren die weiblichen Abgeordneten des Preußischen Landtags verglichen mit den männlichen überproportional in den 1870er bis 1890er Jahren geboren, während in den Geburtenjahrgängen vor 1870 und nach 1890 die Männer dominierten.7 Politikerinnen des Preußischen Landtages gehörten also weder zu den ältesten, noch zu den jüngsten Parlamentariern. Ersteres lässt sich sicherlich mit der erst in den 1860er Jahren erfolgten Entstehung organisierten Frauenbewegung erklären, während letzteres auf den Rückgang von Frauenmandaten verweisen könnte.8 1. DIE VORAUSSETZUNGEN DER POLITISIERUNG: DIE FRAUENBEWEGUNG IM 19. JAHRHUNDERT Erste Ansätze zu der Entstehung einer deutschen Frauenbewegung hatte es bereits seit den 1840er Jahren im Vorfeld der Revolution von 1848 gegeben.9 Nach   4 5 6 7 8 9  

Vgl. Hindenburg (2014): Abgeordnete Preußischer Landtag, S. 29–37. Sie zeigt auch, dass die Generationskonzepte von Ulrich Herbert und Michael Wildt sich nicht auf Frauen erweitern lassen. Vgl. dazu: Herbert (1996): Best, sowie Wildt (2002): Die Generation. Vgl. Ebd., S. 35. Ebd., S. 33. Vgl. auch Sack (1998): Zwischen religiöser Bindung, S. 109. Vgl. Hindenburg (2014): Die Abgeordneten, S. 29–30. Zu den jüngeren und jüngsten Geburtenjahrgängen der 1890er und 1900er gehörten hauptsächlich die NSDAP- und KPD-Abgeordneten des Preußischen Landtages. Vgl. ebd. Zu ersterem vgl. den nächsten Abschnitt. Vgl. Gerhard (1990): Unerhört, S. 42–70.

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1848/49 wurde Frauen zunächst die Bildung von Organisationen durch das Versammlungs- und Vereinsrecht verboten. Louise Otto-Peters und Auguste Schmidt gründeten 1865 den Allgemeinen Deutschen Frauenverein, der den ersten organisatorischen Zusammenschluss einer Frauenbewegung in Deutschland darstellte. Er setzte sich besonders für das Recht der Frauen auf Bildung und Erwerbsarbeit ein. 1894 wurde schließlich der Bund Deutscher Frauenvereine (BDF) als Dachorganisation der bürgerlichen Frauenbewegung gegründet.10 Die Frauenbewegung im Kaiserreich war in politischer Hinsicht ausdifferenziert. Neben einer bürgerlich-liberalen Bewegung gab es eine große sozialistische Frauenbewegung, die das Frauenwahlrecht einforderte. August Bebel verband in seinem Buch Die Frau und der Sozialismus 1879 das Frauenstimmrecht mit den Partizipationsbestrebungen der Arbeiterschaft und brachte es auf die Formel: „Was für die Arbeiterklasse Recht ist, kann für die Frau kein Unrecht sein.“11 Die SPD forderte unter diesem Einfluss als erste Partei in ihrem Erfurter Programm 1891 das allgemeine und gleiche aktive und passive Wahlrecht für Männer und Frauen.12 In der bürgerlichen Frauenbewegung war das Wahlrecht hingegen umstrittener: Der BDF war sich uneins in dieser Frage und so mussten sich Stimmrechtsbefürworterinnen außerhalb des Dachvereins für das Wahlrecht engagieren, etwa im 1902 gegründeten Deutschen Verband für Frauenstimmrecht. So kam es 1918 zum bereits erwähnten Austritt des DEF.13 Der KDF hingegen war dem BDF nicht beigetreten, da die Katholikinnen ihre Unabhängigkeit von der Frauenbewegung bewahren wollten; punktuell gab es jedoch eine Zusammenarbeit. In Preußen bestand bis 1908 ein politisches Vereins- und Versammlungsverbot für Frauen, was Frauenwahlrechtsverbände unterband.14 1.1 Der Katholische Frauenbund Ebenso wie ihre Schwestern in anderen Flügel der Frauenbewegung versuchten die Katholikinnen, die den KDF 1903 gründeten, die Probleme ihrer Zeit für ihr Ge-

  10 Vgl. Ebd., S. 170–184. 11 Bebel (1895): Die Frau, S. 211. Vgl. auch Lauterer (2003): Geschichte des Frauenstimmrechts, S. 802–803. 12 „Allgemeines, gleiches, direktes Wahl- und Stimmrecht mit geheimer Stimmabgabe aller über 20 Jahre alten Reichsangehörigen ohne Unterschied des Geschlechts für alle Wahlen und Abstimmungen.“ Kautsky (1912): Das Erfurter Programm, S. 256. 13 Hindenburg (2014): Abgeordnete Preußischer Landtag, S. 29. Vgl. zur Frage des Frauenstimmrechts im Kaiserreich im europäischen Vergleich: Bock (1999): Frauenwahlrecht, S. 95–136. 14 Vgl. Lauterer (2003): Geschichte des Frauenstimmrechts, S. 807.  

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schlecht zu lösen. Mit der Gründung des DEF 1899 war die erste konfessionell gebundene Frauenbewegung entstanden.15 Dabei unterschieden sie sich von der interkonfessionellen Frauenbewegung durch die Betonung der christlichen Grundlagen ihres Engagements: Die katholische Frauenorganisation will die geregelte, kraftvolle Teilnahme der katholischen Frau an der Heilung der Wunden der Gesellschaft und dem Aufbau derselben auf christlicher Grundlage herbeiführen. Ihre Losung soll sein: Halte fest und schreite voran! Halte fest, was dir geworden ist durch Christum und seine heilige Kirche!16

Die Frau wurde dabei als besonders geeignet und offen für religiöses Engagement angesehen: Das eigentliche Wesen des Weibes ist die Innerlichkeit, wie die Religion selbst Innerlichkeit ist. Die Religion ist dem Weibe angeboren, und beide wurden von jeher in engste Verbindung gebracht. […] Kurz gesagt: das Weib ohne Religion ist unweiblich.17

Die katholische Frauenbewegung trat erst mit der Gründung des KDF 1903 in die Öffentlichkeit, auch wenn ihr bereits der 1885 entstandene VkdL zuzurechnen ist. Seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts waren beiden Vereinen zahlreiche katholische Frauenorganisationen vorausgegangen. Besonders Frauenkongregationen verbreiteten sich rasch. Sie ermöglichten ein Leben in weitgehender Autarkie im Umgang mit finanziellen und personellen Ressourcen und boten unter dem Dach der Kirche für Frauen neue Handlungsspielräume, die sie in der männlich dominierten Öffentlichkeit der bürgerlichen Gesellschaft nicht besaßen.18 Dabei sind diese klerikalen Frauenvereine – es handelt sich in erster Linie um die Jungfrauenund Müttervereine – von Frauenbewegungsvereinen zu unterscheiden. Die Vereinsleitung ersterer lag in den Händen von Klerikern und beruhte auf dem sogenannten Pfarrprinzip. Meist waren ihre Mitglieder auch deutlich weniger gebildet und konnten nur einen niedrigen Ausbildungsgrad vorweisen. Dagegen waren die Frauenbewegungsvereine, KDF und VkdL, auf dem Prinzip der Selbstorganisation und Selbsthilfe aufgebaut. Es handelte sich um Vereine bürgerlichen Rechts unter weiblicher Leitung, die strukturell unabhängig von kirchlicher Organisation waren. Sie   15 Neben dem DEF und dem KDF existierte seit 1904 der Jüdische Frauenbund. Vgl. Gerhard (1990): Unerhört, S. 201–207. Zum DEF vgl. Baumann (1995): Religion und Emanzipation, S. 89–119. Zum JFB vgl. Kaplan (1981): Die jüdische Frauenbewegung. Der KDF wuchs in den Jahren von 1903 bis 1918 sehr stark an: 1904 hatte er schon 1.478 Mitglieder. Im April 1905 waren es 4.860 Mitglieder und 20 Zweigvereine. Bereits im November des nächsten Jahres zählte er 11.971 Mitglieder und 30 Zweigvereine. 1918 hatte er insgesamt 110.000 Mitglieder mit 400 Zweigvereinen. Damit übertraf er die beiden anderen religiösen Frauenvereine deutlich. 16 Herber (1904): Zusammenschluß katholischer Frauen, S. 118.Vgl dazu auch: Dransfeld (1912): Die Frau, S. 217–224. 17 Ommer (1904): Das Weib, S. 282. 18 Kranstedt (2003): Migration und Mobilität, S. 82. Vgl. auch: Meiwes (2002): Katholische Frauenkongregationen, S. 115–133.  

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verfügten meist über einen geistlichen Beirat, dem jedoch nur beratende Funktion zukam. Der KDF hatte sich aus taktischen Gründen neutral in der Frage des Frauenwahlrechts verhalten. Dieses wurde aber ab 1906 in der Zeitschrift des Bundes Die Christliche Frau eingehend debattiert; dabei hatte man sowohl Gegner, als auch Befürworter des Wahlrechts zu Wort kommen lassen. Bis 1918 sollte die Zeitschrift bei ihrer Neutralität bleiben.19 1.2. Zentrum und Frauenwahlrecht Während sich das Zentrum und die konservativen Parteien zuvor noch gegen das Frauenwahlrecht ausgesprochen hatten, profitieren ausgerechnet selbige nach 1918 mit am meisten von den Frauenstimmen. Das galt neben dem Zentrum in erster Linie für die DNVP.20 Dem Zentrum als Vertretung der Katholiken kam dabei sicherlich die größere Religions- und Kirchentreue der Katholikinnen im 19. Jahrhundert zugute: Bereits seit der Hinwendung der katholischen Kirche zum Ultramontanismus waren Frauen zunehmend zu den Trägern der Frömmigkeit unter den Laien geworden, während sich immer mehr Männer im Kontext der Säkularisierung von der Kirche abwendeten. Durch die Trennung von Produktion und Reproduktion im Zuge zunehmender Industrialisierung seit Beginn des 19. Jahrhunderts wurde Frauen verstärkt auf den privaten und innerfamiliären Raum beschränkt, der sie der Säkularisierung aber auch weniger aussetzte.21 Dieser weiblichen Frömmigkeit kam entgegen, dass Papst Pius X. sich nicht wie sein Vorgänger Leo auf die Außenpolitik konzentrierte, sondern sich als Reformer für innerkirchliche Angelegenheiten sah. Dabei lag sein Fokus auf der Erneuerung religiöser Praxis, wie der HerzJesu-Verehrung, marianischer Frömmigkeit und eucharistischer Bewegung. Diese Praktiken wurden vor allem von Frauen angenommen. Generell lässt sich im 19. Jahrhundert von einer Feminisierung der christlichen Religion in Europa und den USA sprechen.22   19 Vgl. Sack (1998): Zwischen religiöser Bindung, S. 33–34. 20 Vgl. Heinsohn (2009): Konservative Parteien, S. 82–83. Auch nach der Einführung des aktiven und passiven Frauenwahlrechts sprachen sich noch Zentrumsabgeordnete gegen diese aus. So schreibt der Zentrumspolitiker Heinrich Köhler in seinen Lebenserinnerungen: „Ein besonderes Wort noch zu den Frauen als Abgeordnete zum Parlament im allgemeinen und zu den weiblichen Abgeordneten des Zentrums im besonderen. Da stehe ich auf Grund meiner Erfahrungen im badischen Landtag und im Deutschen Reichstag auf dem Standpunkt: die Frau als Wählerin: Ja; als Abgeordnete: Nein. […] Kaum waren die Frauen ins Parlament eingezogen, begann schon ihre Vermännlichung. […] Wenn alle Parteien – mit Außnahme der NSDAP – Frauen auf die Kandidatenlisten setzten, so nur aus wahltaktischen Gründen, um die Stimmen der Frauen für sich zu sichern. Für die Arbeit des Parlaments waren sie ganz unwichtig und durchaus entbehrlich.“ In: Köhler (1964): Lebenserinnerungen, S. 229–230. 21 Vgl. Busch (1995): Die Feminisierung, S. 206–209. 22 Vgl. dazu ausführlich: McLeod: Weibliche Frömmigkeit, S. 134–153.  

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2. PARLAMENTARIERINNEN IN DER WEIMARER REPUBLIK Mit dem Zusammenbruch des Kaiserreichs ergaben sich neue Partizipationschancen für Frauen. Neben Soldaten erhielten jetzt auch sie das aktive und passive Wahlrecht. Außerdem war das Alter der Wahlberechtigten von 25 auf 20 Jahre heruntergesetzt worden. Damit wuchs die Zahl der Wahlberechtigten auf das Zweieinhalbfache im Vergleich zu den Reichstagswahlen von 1912. Das führte dazu, dass sich alle Parteien nun zum Frauenwahlrecht nicht nur positionieren, sondern auch praktisch verhalten mussten. Die Nationalversammlung wies mit 8,7% einen im Vergleich zu den nachfolgenden Reichstagen – und auch zu den ersten Bundestagen nach 1949 – hohen Frauenanteil auf.23 Alle Parteien hatten Frauen aufgestellt. SPD und USPD verfügten dabei über den größten Anteil an gewählten Parlamentarierinnen. Für das Zentrum wurden unter den 90 Mandatsträgern sechs Parlamentarierinnen in die Nationalversammlung gewählt: Neben Helene Weber gelangten Agnes Neuhaus (1854–1945), Hedwig Dransfeld (1871–1925), Maria Schmitz (1875– 1962), Marie Zettler (1885–1950) und Christine Teusch (1888–1968) für die Zentrumsfraktion in die Nationalversammlung. In der Nationalversammlung lag der Anteil lediger Parlamentarierinnen insgesamt bei ca. 53%: Von 36 Parlamentarierinnen waren 19 unverheiratet, 17 verheiratet.24 Dabei waren die meisten verheirateten Parlamentarierinnen bei der SPD zu finden: 13 von 19 Abgeordneten waren verheiratet und Mütter. Bei den weiblichen USPD-Abgeordneten waren sogar alle drei verheiratet. Beim Zentrum hingegen waren außer der verwitweten Agnes Neuhaus alle weiblichen Abgeordneten ledig.25 Die Zentrumsabgeordnete Christine Teusch hatte 1921 eine Verlobung mit Joseph Wirth im engsten Freundeskreis angekündigt, die dann aber gelöst wurde. Die beiden verband danach eine freundschaftliche Beziehung, auch noch nachdem Wirth 1925 aus der Zentrumsfraktion austrat. Wahrscheinlich wäre bei einer Heirat Teuschs eigene politische Karriere erst einmal zu Ende gewesen.26 Während die linken weiblichen Abgeordneten überwiegend verheiratet waren, waren die Parlamentarierinnen der bürgerlichen und rechten Parteien in der Regel ledig. Die große Ausnahme bildete hier die DVP-Abgeordnete Katharina von Kardorff-Obheim (1879–1962), die nicht nur mehrmals verheiratet und Mutter von sechs Kindern   23 Während der Nationalversammlung erhöhte sich der Frauenanteil durch vier Nachrückerinnen auf 41, also 9,7%. Streng genommen waren ursprünglich 36 Parlamentarierinnen in die Nationalversammlung gewählt worden, aber Gertrud Lohndahl (SPD) rückte bereits im Februar 1919 nach. 24 Vgl. Maas (1919): Nationalversammlung, S. XL. Er geht dabei von den 36 ursprünglichen weiblichen Abgeordneten aus und bezieht nicht die Nachrückerinnen Marie Behncke (SPD), Helene Grünberg (USPD), Hedwig Kurt (SPD) und Elisabeth Lüders (DDP) ein. Behncke und Kurt waren verheiratet, Grünberg und Lüders hingegen ledig. Damit erhöht sich der Anteil lediger Abgeordneter auf 21 (52,5%) und der verheirateter auf 19 (47,5%). 25 Der genaue Anteil der Witwen lässt sich nicht ermitteln. 26 Vgl. Lauterer (2002): Parlamentarierinnen in Deutschland, S. 34.  

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war, sondern darüber hinaus auch geschieden. Die verheirateten Parlamentarierinnen ließen sich erst für ein Parlament aufstellen, wenn ihre Kinder erwachsen oder selbstständig waren.27 In den Reichstagen 1920–1933 nahm der Frauenanteil gemessen an der Nationalversammlung deutlich ab und bewegte sich zwischen 5,9 und 8,5%.28 Im Laufe der Weimarer Republik saßen 38 weibliche Abgeordnete für das Zentrum und die BVP im Reichstag und in den einzelnen Länderparlamenten.29 Die Dauer ihrer parlamentarischen Arbeit war dabei sehr unterschiedlich, von Nachrückerinnen, die nur wenige Monate Abgeordnete waren, bis zu Parlamentarierinnen, die über die gesamten 13 Jahre der Weimarer Republik Parlamentsmandate innehatten. Bei letzteren handelt es sich um sechs Abgeordnete: Im badischen Landtag saßen über die gesamten Jahre der Weimarer Republik hinweg Maria Riegel und Clara Siebert, im preußischen Elise Stoffels und Gertud Wronka und im württembergischen Luise Rist. Christine Teusch war Reichstagsabgeordnete während der gesamten Weimarer Republik. Helene Weber, Hedwig Dransfeld und Clara Siebert saßen sowohl im Reichstag, als auch im preußischen bzw. badischen Landtag.30 Die beiden größten Gruppen stellten mit jeweils 15 Parlamentarierinnen die in den 1870er und 1880er Jahren Geborenen. Sie hatten bereits von der Gründung des VkdL 1885 und auch der allgemeinen Debatte über Bildungschancen von Frauen profitiert. Vor 1870 sind nur fünf und in den 1890er Jahren nur weibliche drei Zentrumsabgeordnete geboren. Die niedrige Zahl der Altersgruppe ab 1890 zeigt bereits die zunehmend wegbrechenden Frauenmandate im Zentrum an.31 Von den 13 weiblichen Reichstagsabgeordneten des Zentrums und der BVP waren sechs verheiratet bzw. verwitwet. Unter den 25 Landtagsabgeordneten waren hingegen 18 ledig und sechs verheiratet. Fast alle Verheirateten hatten vor ihrer Ehe eine Berufsausbildung absolviert und auch in ihrem Beruf gearbeitet. Sie stellten außerdem die älteren Parlamentarierinnen des Zentrums, während sich unter den um 1890 geborenen keine verheiratete Abgeordnete mehr befand.32 Auch im KDF gewannen die ledigen Frauen in Weimar zunehmend an Einfluss: Waren bei seiner Gründung 1903 noch die verheirateten Vorstandfrauen in der Überzahl, stellten im Laufe der Zeit ledige Frauen die Mehrheit.33 Auffällig bleibt aber die insgesamt höhere Zahl an   27 Vgl. ebd., S. 35–36. So waren etwa Klara Zetkins Söhne 36 und 37 Jahre alt, als sie gewählt wurde. 28 Die Berechnungen fallen je nach Berücksichtigung von Nachrückern unterschiedlich aus. Vgl. dazu: Sack (1998): Zwischen religiöser Bindung, S. 431, sowie Bremme (1956): Die politische Rolle, S. 124. 29 Vgl. dazu Sack (1998): Zwischen religiöser Bindung, S. 92–113. 30 Vgl. ebd., S. 98. Weber hatte als einzige von den dreien während der gesamten Zeit der Weimarer Republik ein parlamentarisches Mandat inne. 31 Zu den Lebensdaten vgl. Sack (1998): Zwischen religiöser Bindung, S. 410–423. 32 Vgl. ebd. Die Wertschätzung der unverheirateten Frau spiegelt sich auch im Festhalten des VkdL am Lehrerinnenzölibat. 33 Vgl. ebd.  

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ledigen Abgeordneten. Die meisten Zentrumspolitikerinnen stammten, was nicht weiter verwundert, genau wie der Großteil der Parlamentarier aus Preußen.34 Die meisten weiblichen Zentrumsabgeordneten entstammten dem gehobenen Bildungsbürgertum. Daneben gab es einige Parlamentarierinnen aus dem wohlhabenden Besitzbürgertum sowie ganz vereinzelt aus dem Militäradel. Nur Helene Wessel und Aloysia Eberle wichen von dieser bürgerlichen Herkunft ab: Wessels Vater war Lokomotivführer und Eberle stammte wahrscheinlich aus einer Arbeiterfamilie.35 3. HELENE WEBER IN DER WEIMARER REPUBLIK Helene Weber wurde 1881 als Tochter des Volksschullehrers Wilhelm Weber und seiner Frau Agnes Christiane, geb. van Gent, in Elberfeld geboren. Sie gehörte damit zu der großen Gruppe von Zentrumsfrauen, die in den 1880ern geboren wurden. Nach der Ausbildung als Volksschullehrerin und erster Praxiserfahrung als Lehrerin in Elberfeld und Aachen studierte sie als Gasthörerin Geschichte, Philosophie und Romanistik in Bonn und Grenoble. Damit nutzte sie die neuen, aber noch unzulänglichen Bildungsmöglichkeiten ihrer Zeit. Da in Preußen erst 1908 das Frauenstudium eingeführt wurde, konnte sie lediglich als Gasthörerin studieren.36 Helene Weber gehört damit zu den sozialen Aufsteigerinnen ihrer Fraktion. Als typisch für die Zentrumsparlamentarierinnen kann hingegen ihre Berufswahl als Lehrerin gelten. Damit war im Kaiserreich das Lehreinnenzölibat verbunden; verheiratete Lehrerinnen mussten aus dem Schuldienst ausscheiden. Trotz der Restriktion der Gasthörerschaft durfte sie die Prüfung zur Oberlehrerin ablegen. Sie begann an der Kaiserin-Augusta-Schule in Köln zu unterrichten. In Köln wurde sie Mitglied des KFB und gründete1916 zusammen mit Hedwig Dransfeld die Katholische Soziale Frauenschule Köln, deren Leiterin sie bis 1918 blieb.37 Mit der Übernahme des Vorstands des Frauenbundes durch Dransfeld 1912 wurden zunehmend die ledigen, berufstätigen Frauen dort die Entscheidenden.38 Daneben trat sie dem Wahlrechtsverband für Westdeutschland bei, um sich für das Frauenwahlrecht zu engagieren. Dieser wollte das Zensuswahlrecht beibehalten, stand also für eine bürgerlich ausgerichtete Politik. Über das Frauenwahlrecht und die politische Arbeit der Frau verfasste sie im Laufe der Weimarer Republik mehrere Artikel.   34 Vgl. Lauterer (2002): Parlamentarierinnen, S. 26–28. 35 Vgl. Sack (1998): Zwischen religiöser Bindung, S. 96. 36 Vgl. Kriszio (2001): Frauen im Studium, S. 294. In der Familie Weber scheint allgemein Wert auf Bildung und Ausbildung gelegt worden zu sein. Conrad Weber, ein Bruder Helenes, war Jurist und wurde Vizepräsident des Kammergerichts Berlin. Mindestens zwei der sechs Kinder gelangten also zu einem höheren akademischen Abschluss als der Vater und stiegen sozial auf. 37 Vgl. Sack (1998): Zwischen religiöser Bindung, S. 32–33. 38 Ebd., S. 99–101.  

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In diesen setzte sie sich von der Vorstellung ab, das Frauenwahlrecht sei dadurch entwertet, dass die Revolution es unvermittelt gebracht habe.39 In der Nationalversammlung tat sie sich in erster Linie mit sozialen und familienrechtlichen Themen hervor, brachte aber auch ihre außenpolitischen Vorstellungen vor. In ihrer ersten Rede vor der Nationalversammlung verlangte sie, dass Eupen und Malmedy deutsch bleiben sollten.40 Dabei verband sie geschickt ihr außenpolitisches Anliegen mit ihrem Geschlecht, indem sie betonte, sie spreche hier im Namen der besetzten Gebiete, aber auch als Frau. Neben Weber sprach an diesem Tag noch die SPD-Abgeordnete Clara Bohm-Schuch, die ebenfalls auf ihr Geschlecht als Frau einging, indem sie sich auf das Leid aller Frauen und Mütter durch den Krieg bezog.41 Webers anderen Reden in der Nationalversammlung befassen sich dann wieder mit sozialpolitischen Fragen. So sprach sie zu den Themen Wöchnerinnenschutz und Reform des Lichtspielwesens. Daneben stellte sie noch eine Anfrage, was die Reichsregierung gegen den Mangel an Wäschestücken für die kinderreichen Familien zu tun gedenke. 42 Agnes Neuhaus und Maria Schmitz sprachen ebenfalls in vier Sitzungen der Nationalversammlung, während Marie Zettler zwei und Christine Teusch nur eine Rede hielten. Hedwig Dransfeld hingegen äußerte sich nicht im Plenum der Nationalversammlung.43 Hier zählt Helene Weber mit insgesamt vier Reden also zu den häufigsten Rednerinnen ihrer Fraktion. Bei der namentlichen Abstimmung über die Annahme des Versailler Vertrags am 22. Juni 1919 stimmte Helene Weber zunächst für diese, auch weil sich die Regierung Bauer gegen die „Ehrenpunkte“ des Vertrages, also gegen die Feststellung der alleinigen Kriegsschuld und gegen die Auslieferung der Kriegsverursacher, ausgesprochen hatte.44 Die Entente ging auf diese Forderung der Regierung allerdings nicht ein. Bei der folgenden nichtnamentlichen Abstimmung am nächsten Tag stimmten Weber und ihre Fraktionskollegin Maria Schmitz mit Nein. Weber begründete dies gegenüber einer Freundin: „Der Würfel ist gefallen. Ich war   39 Vgl. Weber (1924): Grundsätzliches, S. 50. Weber sieht in dem Frauenwahlrecht nicht nur ein demokratisches Ideal, sondern verknüpft es auch mit der Rolle der Frau bei dem „Wiederaufbau des deutschen Volkes“. 40 Weber war als Rednerin von Gröber in einer gemeinsamen Sitzung am 11.5.1919 der Fraktionen der Deutschen Nationalversammlung und der Preußischen Landesversammlung vorgeschlagen worden. Diese hatte bewusst eine weibliche Abgeordnete ausgewählt, um einen Appell an alle Frauen zu richten. Vgl. Die Zentrumsfraktion in der verfassungsgebenden Preußischen Nationalversammlung. Sitzungsprotokolle, S. 37. 41 Vgl. Verhandlungen Nationalversammlung 327 (1920), S. 1105. 42 Verhandlungen Nationalversammlung 334 (1921), S. 7021. 43 Vgl. Verhandlungen Nationalversammlung 334 (1921), S. 6067–6068; 6099–6100; 7014; 7030. 44 Vgl. Verhandlungen Nationalversammlung 327 (1920), S. 1115, S. 1138. Vgl. auch Lauterer: Parlamentarierinnen in Deutschland, S. 129–130; sowie dies. (1996): Nationalbewußtsein, S. 145–149. Die DDP-Abgeordnete Marie Baum erinnerte sich später, es wären 36 weibliche Abgeordnete der Nationalversammlung gegen den Versailler Vertrag eingetreten. Tatsächlich stimmten in der namentlichen, ersten Abstimmung 75 % der Parlamentarierinnen und 60,8 % der Männer mit Ja. Vgl. ebd.  

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zunächst – ohne Schmachparagraphen – für „ja“, dann für „Nein“. Ich konnte nicht anders. Mehr kann ich nicht schreiben.“45 Allerdings bewertet sie später in einem Aufsatz von 1929 die Annahme des Friedensvertrags durch die Nationalversammlung deutlich differenzierter: Heute wird rückblickend fast jeder Politiker behaupten, daß die Unterschreibung des Versailler Friedensvertrags der beste Weg zur Befreiung Deutschlands war. Diejenigen – und es waren vor allem Frauen – die ihn nicht unterschrieben haben, konnten ihrer Seele das Geständnis nicht abzwingen, daß Deutschland alleine schuldig sei.46

Weber bildet sowohl mit ihrem Nein, als auch mit ihrer späteren deutlich pragmatischeren Einschätzung eine Ausnahme in der eigenen Partei, aber auch unter den Parlamentarierinnen. Diese hatten nämlich – entgegen Webers Aussage – zum Großteil mit „Ja“ gestimmt und später eben nicht zu einer solchen Einschätzung gefunden. Sicherlich ist Helene Webers Karriere im Preußischen Volkswohlfahrtsministerium, in das sie 1919 eintrat, eine Besonderheit. Dieses wurde im selben Jahr neu gegründet und blieb während der gesamten Zeit seines Bestehens bis 1932 zentrumsgeführt. Auch das wird ihre Einstellung vereinfacht haben, da keine bereits bestehenden Strukturen aufgebrochen werden mussten. Weber wurde dort zunächst als Referentin eingestellt und bereits 1920 zur Ministerialrätin ernannt. Dort leitete sie das Dezernat Soziale Frauenschulen und Landpflegeschulen im natürlichen Zusammenhang entsprechenden Gebieten der Jugendpflege.47 Verantwortlich für ihre Einstellung war dort ihr Vorgesetzter Adam Stegerwald48, der für diese Stelle dezidiert eine Frau suchte. Sie hatte sich dafür durch den Aufbau der Frauenschule in Köln qualifiziert, da zu ihren Aufgaben die Erstellung einer Prüfungsordnung für soziale Frauenschulen gehören sollte. Weber kam damit in eine Position, in der sie Einfluss gewann auf die Fürsorgepolitik der Weimarer Republik. 1932 wurde das Ministerium aufgelöst und Weber in das Preußische Kultusministerium versetzt. Weber war nach Gertrud Bäumer die zweite Frau, die zur Ministerialrätin berufen wurde: Bäumer hatte diese Position im Reichsinnenministerium seit 1920 inne.49 Helene Weber war Mitglied des ersten Preußischen Landtages in der Weimarer Republik von 1921 bis 1924. Der Preußische Landtag war im Gegensatz zum Reichstag deutlich stabiler: So gab es bis 1932 nur vier Legislaturperioden.50 In der ersten Wahlperiode waren 44 Parlamentarierinnen neben 420 männlichen Abgeordneten vertreten. Fünf weibliche Abgeordnete stellten Kommunisten und die USPD zusammen, jeweils acht die SPD und das Zentrum, zwei die DDP, sechs die DVP   45 46 47 48

Weber an Badenhewer am 1. Juli 1919, IFZ NL Weber ED 160/47. Weber (1929): Die Nationalversammlung, S. 66. W.D. (1920): Ministerialrat, S. 98. Baum: Rückblick, S. 217. Adam Stegerwald hatte bereits die Karriere von Christine Teusch gefördert, indem er ihr 1918 anbot, für den Gesamtverband der Christlichen Gewerkschaften Deutschlands ein Frauendezernat einzurichten. Vgl. Lauterer (1995): Das Recht, S. 139. 49 Vgl. Lauterer (2002): Parlamentarierinnen, S. 85–86. 50 Vgl. Hindenburg (2014): Abgeordnete Preußischer Landtag, S. 29.  

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und fünf die DNVP. Damit war der Frauenanteil deutlich höher als im Reichstag.51 Weber hielt im Preußischen Landtag nur zwei Reden, die sich jeweils mit der Situation des Ruhrgebiets und der Not des Deutschen Volkes beschäftigten und als Mitglied des Volkswohlfahrtsministeriums beantwortete sie eine kleine Anfrage. Ihre Zentrumskollegin Gertrud Wronka hingegen hielt im selben Zeitraum in elf Sitzungen Reden, mehr als alle anderen Zentrumspolitikerinnen.52 Die weiblichen Abgeordneten in anderen Parteien kamen deutlich mehr zu Wort: Absoluter Spitzenreiterin in diesem Landtag waren die kommunistischen Abgeordneten Rosi Wolsstein und Martha Arendsee mit 85 Reden in 49 Sitzungen bzw. 40 Reden in 29 Sitzungen.53 Beide waren darüber hinaus Mitglied im Fraktionsvorstand der Landtagsfraktion der KPD und Rosi Wolsstein auch Vorsitzende.54 Helene Weber gehörte hier nicht zu den gefragtesten Rednerinnen in der eigenen Fraktion. Sie beantwortete aber als einzige weibliche Ministerialrätin eine Anfrage.55 Auch im Reichstag, dessen Mitglied Weber von 1924 bis 1933 war, sprach Weber in erster Linie zu sozialen und gesellschaftlichen Fragestellungen.56 Insgesamt kam sie mehr zu Wort als im Preußischen Landtag: So hielt sie in der dritten Wahlperiode in sieben Sitzungen Reden; allerdings war innerhalb der Zentrumsfraktion Christine Teusch mit 24 Reden die mit Abstand gefragtesten Rednerin der Zentrumsfraktion.57 Dabei behandelte Weber Themen wie Alkoholismus, Geschlechtskrankheiten, Bewahrung der Jugend vor „Schmutz und Schund“, sowie das Verwahrungsgesetz. Während dieser Legislaturperiode wurde Helene Weber auch Vorsitzende des Reichsfrauenrats der Zentrumspartei und gelangt darüber in den Reichspartei- und Reichsfraktionsvorstand der Zentrumspartei.58 Auch dies war eine herausgehobene Position gegenüber den anderen Parlamentarierinnen. Während der vierten Wahlperiode, die von 1928 bis 1930 dauerte, war die Anzahl der   51 Die Mandate von Zentrumspolitikerinnen haben sich von sechs in der Nationalversammlung auf vier (mit BVP) im ersten Reichstag verringert. So verlor auch Weber wegen eines schlechten Listenplatzes ihr Mandat. Sie kandidierte parallel für Reichs- und Landtag, war aber bei der Landtagswahl auf Listenplatz 1. 52 Preußischer Landtag Drucksachen 15 (1925), S. 25231. Wronka hielt bereits in der 45. Sitzung eine Rede. 53 Vgl. ebd. 54 Vgl. ebd., S. 10134. 55 Der Frauenanteil in der Zentrumsfraktion des Reichstages variierte von ca. 4,7 % 1920 bis zu 8,6 % im sechsten Reichstag 1932, wobei der Frauenanteil insgesamt 1920 am höchsten war. In der Reichstagsfraktion des Zentrums nahm er also durchaus zu. 56 Der Reichstag war im Gegensatz zum Preußischen Landtag während der Weimarer Republik deutlich instabiler. Die zweite Wahlperiode dauerte nur von Mai bis August 1924. Dort hielt von den Zentrumsparlamentarierinnen nur Christine Teusch eine Rede. Vgl. Verhandlungen Reichstag 381 (1924), S. 1252. 57 Agnes Neuhaus hielt vier Reden, Klara Philipp hingegen sprach nur in einer Sitzung und Hedwig Dransfeld sprach nicht. Vgl. Verhandlungen Reichstag 396 (1930), S. 930, 938, 1033, 1045. 58 Sie trat diese Position in der Nachfolge von Hedwig Dransfeld an, die am 13.3.1925 verstorben war. Vgl. Sack (1998), S. 411–412, 424.  

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Reden unter den Zentrumsparlamentarierinnen deutlich ausgeglichener: Teusch kam sechsmal, Weber fünfmal und Neuhaus viermal zu Wort, während sich Hedwig Fuchs nur einmal äußerte.59 Die fünfte Wahlperiode dauerte mit nur 64 Sitzungen von Oktober 1930 bis Mai 1932. Das Zentrum stellte hier mit Christine Teusch, Helene Weber und Elisabeth Zillken drei weibliche Abgeordnete. Hier hielt nur Helene Weber von den Zentrumsfrauen insgesamt drei Reden, die sich mit der weiblichen Beamtin, der Ernährungslage der Bevölkerung und der Familie auseinandersetzten und wieder in der Sozialpolitik einzuordnen sind.60 Während der sechsten Wahlperiode 1932, die nur noch aus zwei Sitzungen bestand, hielt unter allen Parlamentarierinnen nur die Kommunistin und Alterspräsidentin Clara Zetkin eine Rede.61 Auch die darauffolgenden Reichstage traten nur noch zu einzelnen Sitzungen zusammen und sind daher nicht mehr repräsentativ für die Sprechzeitverteilung unter den weiblichen Zentrumsabgeordneten.62 Mit dem Einparteingesetz im Juni 1933 endete die Abgeordnetentätigkeit der weiblichen Parlamentarierinnen, da die NSDAP keine Frauen aufstellte. Zusammengefasst betrafen Helene Webers Reden im Wesentlichen das Aktionsfeld der Sozialpolitik. Damit hebt sie sich nicht von den anderen weiblichen Abgeordneten ab, deren Reden auch in diesem Feld anzusiedeln sind. Das deckt sich mit den von Heide-Marie Lauterer herausgearbeiteten Themen, an denen die Parlamentarierinnen aller Fraktionen beteiligten, nämlich der Sozialpolitik und der Nationalpolitik, wobei ersteres überwog.63

  59 Vgl. Verhandlungen Reichstag 429 (1932), S. 651, 744, 822, 834. 60 Vgl. Verhandlungen Reichstag 447 (1934), S. 362. 61 Vgl. Verhandlungen Reichstag 454 (1932), S. 26. Für das Zentrum saßen in dieser Legislaturperiode die fünf Parlamentarierinnen Helene Drießen, Else Peerenboom, Clara Siebert, Christine Teusch, Helene Weber und Elisabeth Zillken im Reichstag. 62 In der siebten Wahlperiode trat der Reichstag nur zu drei Sitzungen zusammen, in denen keine einzige Parlamentarierin mehr eine Rede hielt. Vgl. Verhandlungen Reichstag 456 (1933), S. 61–68. Gewählt wurden Else Peerenboom, Christine Teusch, Helene Weber und Elisabeth Zillken. Dasselbe gilt für die achte Legislaturperiode des Reichstages. Vgl. Verhandlungen Reichstag 457 (1934), S. 13–18. 63 Vgl. Lauterer (2002): Parlamentarierinnen, S. 120–151. So berichtete etwa die SPD-Abgeordnete Adele Schreiber: „Die Wahl der Ausschüsse ist aber nicht nur Ergebnis freien Willens. Wie allenthalben besteht die Neigung, den Frauen bestimmte Gebiete, die nach landläufiger Meinung ihrer Eignung besonders entsprechen, zuweisen und bei der relativ großen Zahl von weiblichen Abgeordneten bleibt so mancher Wunsch nach Mitarbeit auf anderen Gebieten unerfüllt. Daher finden wir die die regste Frauentätigkeit im Ausschuß für Bevölkerungspolitik, […] im Ausschuß für soziale Angelegenheiten, in den Ausschüssen für Rechtsfragen, Schulfragen. Gelegentlich kommt eine Frau bei außenpolitischen Auseinandersetzungen, bei den Zoll- und Steuerpolitik.“ Vgl. Schreiber (1930): Die Sozialdemokratin, S. 118.

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4. WEBER ALS ARCHETYP DER WEIBLICHEN ZENTRUMSABGEORDNETEN Helene Webers Biographie lässt sie in vielen Punkten als Archetyp der Zentrumsabgeordneten erscheinen: So hat sie als in den 1880er Jahren Geborene bereits von ersten Verbesserungen der Bildungschancen für Frauen profitiert und als 24jährige die ihr gebotenen Möglichkeiten als Gasthörerin genutzt. Anders als die meisten ihrer Zentrumskolleginnen entstammte sie aber nicht dem gut situierten Bürgertum und wurde wahrscheinlich auch nicht finanziell durch ihre Eltern unterstützt. Die Mitgliedschaft in der katholischen Frauenbewegung verband sie mit allen ihren Zentrumskolleginnen. Ihr Engagement im Wahlrechtsverband für Westdeutschland unterschied sie hingegen von anderen Katholikinnen, da der Katholische Frauenbund sich bis 1918 neutral in dieser Frage verhielt und keine Position bezog. In der Weimarer Republik besetzten zunehmend ledige Zentrumsfrauen die wichtigen Positionen in der Partei. Auch hier kann Helene Weber als Beispiel dienen. Ihre Erfahrung beim Aufbau und der Leitung der Sozialen Frauenschule in Köln für den Katholischen Frauenbund kamen ihr später zugute, als das zentrumsgeführte Volkswohlfahrtsministerium eine Referentin in diesem Bereich suchte. Dass sie bereits ein Jahr später zur Ministerialrätin ernannt wurde, ist sicherlich durch den Umstand begünstigt worden, dass es sich bei dem Ministerium um eine Neugründung handelte und insofern nicht auf bestehende Strukturen Rücksicht genommen werden musste. Eine vergleichbare Funktion, wenn auch auf Reichsebene, hatte zu diesem Zeitpunkt nur die im Innenministerium angestellte Ministerialrätin Gertrud Bäumer inne. In der Nationalversammlung setzte sich Helene Weber durch ihr Abstimmungsverhalten über den Versailler Vertrag von den meisten ihrer Zentrumskolleginnen ab. Sie hielt viermal eine Rede, was verglichen mit den anderen Zentrumsfrauen relativ häufig war. Im Preußischen Landtag hingegen war Gertrud Wronka sicherlich die gefragtere Rednerin. In den folgenden Wahlperioden des Reichstages wurde Helene Weber immer begehrter als Rednerin. Sicherlich wird hier auch ihre Position als Mitglied des Reichspartei- und Reichsfraktionsvorstandes der Zentrumspartei hineingespielt haben. Dass sie sich in erster Linie in der Sozialpolitik einbrachte, wie auch die anderen Parlamentarierinnen, ist zum einen dadurch begründet, dass ihr als ausgesprochener Expertin hier Kompetenz zugetraut wurde; mit dem bürgerlichen Konzept der „geistigen Mütterlichkeit“ war auch eine angenommene höhere Eignung der Frauen in diesem Themengebiete verbunden. Gerade mit der Polarität der Geschlechter wurde die Partizipation der Frauen begründet, aber gleichzeitig begrenzte es auch die Möglichkeit der Parlamentarierinnen. Das Beispiel Helene Weber zeigt also, dass in ihrer Biographie viele fördernde Faktoren zusammenkamen, die ihre Karriere mit ermöglichten. Nach 1945 machten sowohl Christine Teusch, Helene Wessel als auch Helene Weber Karriere in der frühen Bundesrepublik. Während sich Teusch und Weber der neugeründeten CDU anschlossen, blieb Wessel in der Zentrumspartei. Sie gehörten damit zu einer kleinen Gruppe von Parlamentarierinnen, die sowohl in Weimar als

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auch in der Bundesrepublik Politik machten.64 Von den insgesamt 38 weiblichen Zentrumsabgeordneten hatten nach 1945 acht ein politisches Mandat inne. Sie alle waren in den 1880er oder 1890er Jahren geboren.65 Das war auch deshalb möglich, weil Zentrumsabgeordnete in der Zeit des Dritten Reichs einer weniger strikten Verfolgung ausgesetzt waren, als dies bei kommunistischen und sozialistischen Abgeordneten der Fall war. Gleichzeitig spielte eine Rolle, dass Weber zu den in den 1880er Jahren geborenen Politikerinnen gehörte, mithin schon im fortgeschrittenen Alter, aber noch nicht zu alt für politische Ämter war. LITERATUR Baumann, Ursula: Religion und Emanzipation. Konfessionelle Frauenbewegung in Deutschland 1900–1933. In: Götz von Olenhusen, Irmtraut (Hrsg.): Frauen unter dem Patriarchat der Kirchen. Katholikinnen und Protestantinnen im 19. Und 20. Jahrhundert, Stuttgart u.a 1995, S. 89– 119. Bebel, August: Die Frau und der Sozialismus, 10. Aufl., Stuttgart 1891. Baum, Marie: Rückblick auf mein Leben, Heidelberg 1953. Bock, Gisela: Frauenwahlrecht – Deutschland um 1900 in vergleichender Perspektive. In: Grüttner, Michael u.a. (Hrsg.): Geschichte und Emanzipation. Festschrift für Reinhard Rürup, Frankfurt / New York 1999, S. 95–136. Bremme, Gabriele: Die politische Rolle der Frau in Deutschland. Eine Untersuchung über den Einfluß der Frauen bei Wahlen und ihre Teilnahme in Parteien und Parlamenten, (= Schriftenreihe des unesco-Instituts für Sozialwissenschaften Köln, 4) Göttingen 1956. Busch, Nobert: Die Feminisierung der ultramontanen Frömmigkeit. In: Götz von Olenhusen, Irmtraud (Hrsg.): Wunderbare Erscheinungen. Frauen und katholische Frömmigkeit im 19. und 20. Jahrhundert, München u.a 1995, S. 206–209. Deutsch, Regine: Die politische Tat der Frau. Aus der Nationalversammlung, Gotha 1920. Dransfeld, Hedwig: Die Frau im kirchlichen und religiösen Leben. In: Die Christliche Frau 10 (1912) H. 7, S. 217–224. W.D.: Frau Ministerialrat Helene Weber. In: Die Christliche Frau 18 (1920), S. 97–100. Gerhard, Ute: Unerhört. Die Geschichte der deutschen Frauenbewegung, Reinbeck 1990. Heinsohn, Kirsten: Konservative Parteien in Deutschland 1912 bis 1933. Demokratisierung und Partizipation in geschlechterhistorischer Perspektive, Düsseldorf 2009. Herber, Pauline: Zusammenschluß katholischer Frauen betreffs der Frauenbewegung unserer Zeit. In: Die Christliche Frau 2 (1904) H. 4, S. 118. Herbert, Herbert: Best, Biographische Studien, Bonn 1996. Hindenburg, Barbara von: Die Abgeordneten des Preußischen Landtags 1919–1933. Die Kategorie Generation im Geschlechtervergleich. In: Ariadne 65 (2014), S. 29–37. Hübsch-Faust, Monika: Deutsch, Regine (Regina). In: Dick, Jutta/ Sassenberg, Marina (Hrsg.): Jüdische Frauen im 19. und 20. Jahrhundert. Lexikon zu Leben und Werk. Reinbek 1993, S.91– 92.

  64 Von der SPD wären hier z.B. Louise Schroeder und Maria Ansorge und die zu nennen. Vgl. dazu: Marquardt (1999): Politik. 65 Neben Helene Weber handelt es sich um Maria Beyerle, Else Perrenboom, Helene Rothländer, Christine Teusch, Helene Wessel, Gertrud Wronka und Elisabeth Zillken. Vgl, Sack (1998), S. 410–423.

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„DÉFENDRE LES INTÉRÊTS DE SON PAYS AVEC CALME ET NON SANS HABILITÉ“ Leopold von Hoesch als deutscher Botschafter in Paris, 1923–1932 Paul Köppen

  Abb. 1: Max Beckmann, Paris Society (1931), Solomon R. Guggenheim Museum © Artists Rights Society, New York/VG Bild-Kunst, Bonn.

Während ein Sänger im Hintergrund, sichtlich bemüht und von einer gut versteckten Pianistin begleitet, für die musikalische Umrahmung sorgt, tummelt sich im Vordergrund von Max Beckmanns Pariser Gesellschaft aus dem Jahre 1931 eine illustre Schar an europäischer Prominenz: in der Bildmitte der elitär-konservative Kulturbund-Gründer Karl Anton Prinz Rohan; schräg davor IG-Farben-Vorstand Georg von Schnitzler mitsamt Gattin, der Kunstmäzenin Lilly von Malinckrodt; links außen der große Coco Chanel-Rivale Paul Poiret sowie die Allzweckwaffe des Pariser Politikbetriebes Anatole de Monzie; ganz rechts der Frankfurter Bankier L. Albert Hahn sowie der jüdische Großindustrielle und bedeutende Musiksammler

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Paul Hirsch; rechts unten schließlich, zunächst kaum zu erkennen, tief in einen Sessel versunken, das Gesicht in die Hand gestützt und dunkle Sorgenfalten auf der Stirn, der damalige Gastgeber im noch heute als Botschaftsgebäude genutzten Hôtel Beauharnais am linken Seine-Ufer: der deutsche Diplomat Leopold von Hoesch. Wegen seiner kühlen Distanziertheit ist Beckmanns Gemälde im Nachhinein oft als Sinnbild gedeutet worden: für die trotz „aller Eleganz und Distinktion […] schwer belasteten deutsch-französischen Beziehungen“1 der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg etwa oder für „the continued unfolding of the economic and political crisis“2 der 1920er und 30er Jahre überhaupt – als Omen für das heraufziehende Unheil also, dessen düstere Schatten spätere Beobachter bereits auf den Gesichtern der Portraitierten ausgemacht haben wollen. Von welchem Unheil hier die Rede ist, wird schnell klar, blickt man auf deren weitere Lebenswege: Poiret, immerhin der Erfinder des modernen Designer-Parfums, wird im Zuge der Weltwirtschaftskrise alles verlieren und sich als Straßenkünstler durchschlagen müssen; Rohan wird zu jenen Vertretern des intellektuellen Establishments zählen, die früh mit den Ideen des Nationalsozialismus sympathisieren; de Monzie wird ab 1940 zunächst aktiv das Vichy-Regime unterstützen, ehe er von überzeugteren Kollaborateuren aus allen Ämtern gedrängt wird; Hahn und Hirsch haben zu dieser Zeit das europäische Festland längst verlassen, um antisemitischer Verfolgung zu entgehen; und Georg von Schnitzler wird 1948 in Nürnberg als NS-Kriegsverbrecher verurteilt werden, Tatbestand: Plünderung und Raub in den von Deutschland besetzten Gebieten Europas. Damit scheint sich die Pariser Gesellschaft bestens einzufügen in jenes Meisternarrativ zur Geschichte der Zwischenkriegszeit, das Jochen Hung unlängst auf das prägnante Begriffspaar „good culture and bad politics“3 gebracht hat: Dem „einzigartigen Reichtum an bemerkenswerten künstlerischen Manifestationen und geistigen Leistungen“ der Epoche, zu denen auch Beckmanns Werke fraglos zählen, steht demnach grundsätzlich „die politische und wirtschaftliche Dauermisere jener Jahre“4 gegenüber. Der Künstler als ‚Außenseiter‘ habe, so beschrieb es Peter Gay bereits vor fünf Dekaden, trotz aller „exuberant creativity“ letztlich nur abbilden können, was ihn stets und überall umgab: „anxiety, fear, a rising sense of doom.“5 Denkbar ist gleichwohl auch eine völlig andere Herangehensweise: Beckmann begann mit der Arbeit an seinem Motiv bereits 1925 – dem Jahr also, das politisch wie wirtschaftlich als eines der besseren der Zwischenkriegszeit gelten darf. Unter Zuhilfenahme US-amerikanischer Finanzmittel aus dem Dawes-Plan war es den Staaten Europas zuvor binnen weniger Monate gelungen, die zunächst am Rande eines erneuten Kriegsausbruchs ausgetragenen Konflikte zumindest so weit beizu  1 2 3 4 5  

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Leopold von Hoesch als deutscher Botschafter in Paris, 1923–32

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legen, dass sich die beteiligten Länder im Oktober 1925 in Locarno die Unverletzlichkeit ihrer gegenseitigen Grenzen garantieren und alsbald sogar Deutschlands Aufnahme in den Völkerbund avisieren konnten. 1927 folgte ein deutsch-französischer Handelsvertrag, 1928 der Entwurf eines völkerrechtlichen Kriegsächtungspaktes.6 Beobachter quittierten die neue „Bereitschaft der maßgebenden Kreise“ zur „europäische[n] Zusammenarbeit“7 mit großer Zuversicht. Das sich hier andeutende Entwicklungspotenzial der internationalen Nachkriegsordnung erschien zwischenzeitlich als so vielversprechend, dass deren erklärte Gegner – Adolf Hitler beispielsweise – schon zu verzweifeln begannen.8 Bedenkt man vor diesem Hintergrund den jüngst wieder vermehrt formulierten Wunsch nach „eine[r] verhalten optimistische[n] Lesart“9 der Zeit ab 1919, die in Abkehr vom dominierenden Deutungsmuster als reiner Krisen- und Katastrophenperiode sowie – in Anlehnung an Thomas Nipperdey10 – unter stärkerer Einbeziehung zeitgenössischer Sichtweisen den Sinn für die tatsächliche Offenheit der damaligen historischen Situation wahren soll,11 böte sich somit auch eine positivere Interpretation der Pariser Gesellschaft an: Aus der Perspektive des Miterlebenden zeigt die Darstellung dann zunächst eine zwar verhaltene, angesichts der äußeren Umstände und der besonderen Vorgeschichte aber alles andere als gewöhnliche Kontaktszene zwischen Vertretern vor allem zweier Länder, deren Beziehung bis dato auf die vielbeschworene ‚Erbfeindschaft am Rhein‘ festgelegt schien.12 Noch 1924 hatte Kurt Tucholsky „den Zustand des ewigen Zähnefletschens, Heulens, Fauchens und Bellens“ zwischen Deutschen und Franzosen „als den primären“ bezeichnet. Man wisse gar nicht mehr, wie es überhaupt anders gehe. Auf beiden Seiten fänden sich „Geschichtslehrer, die zum Kriege hetzen; Universitätsprofessoren, die zum Kriege hetzen; Kindergärtnerinnen, die zum Kriege hetzen“.13 Dass Beckmann ein Jahr später eine Zusammenkunft deutscher und französischer Eliten ausgerechnet in der deutschen Botschaft in Paris zum Anlass eines neuen Gruppengemäldes nahm, kann insofern als bewusster Kontrapunkt verstanden werden, als Indiz dafür, dass ein Miteinanderauskommen trotz der vermeintlichen Wesensgegensätze, die über Generationen hinweg als essentieller Kern der jeweiligen Identitätsbildung dienten,14 eben doch möglich war – wenn man sich denn um Verständigung und Austausch bemühte. Und in der Person Hoesch zeigt das Bild dann noch etwas Wichtiges: nämlich wie viel Arbeit in einer solchen Annäherung steckte.   6 7 8 9 10 11 12

Ausführlich dazu Steiner (2005): Lights that Failed; Blessing (2008): Frieden. Vossische Zeitung Abendausgabe vom 18.08.1927. Vgl. Tooze (2015), Sintflut, S. 12–14. Müller / Tooze (2015), Demokratie, S. 23. Klassisch: Nipperdey (1978), Kontinuität. Vgl. Müller (2014): Krieg und Demokratie. Hierzu u.a. Jeismann (1992): Vaterland der Feinde; Kaelble (1991): Nachbarn am Rhein; Nolan (2005): Inverted Mirror; Ziethen (2014): Feindbilder. 13 Die Weltbühne vom 30.10.1924. 14 Vgl. Hüser (2000), Selbstfindung durch Fremdwahrnehmung.  

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1. DIE UNFÄHIGKEIT ZUM FRIEDENSSCHLUSS NACH 1918 UND DIE OHNMACHT DER DIPLOMATIE Als Leopold von Hoesch am 11. Januar 1923 zunächst kommissarisch die Leitung der deutschen Botschaft in Paris übernahm, existierten de facto keine diplomatischen Beziehungen seines Landes zu Frankreich. Seit dem frühen Morgen waren etwa 60.000 hauptsächlich französische Soldaten in die wichtigen Industriegebiete entlang der Ruhr einmarschiert,15 was im Reich nicht nur eine Welle nationaler Entrüstung auslöste, sondern von vielen bereits als Auftakt zu einer erneuten kriegerischen Auseinandersetzung verstanden wurde.16 Anlass der drohenden Eskalation war einmal mehr die Reparationsfrage, die schon seit geraumer Zeit als konfliktstiftender Kristallisationspunkt der diametralen Friedenserwartungen von Siegern und Besiegten des Weltkrieges fungierte;17 weniger weil die damit verbundenen Probleme grundsätzlich unlösbar gewesen wären, sondern vor allem weil die Entschädigungszahlungen auch aufgrund ihrer Symbolkraft rasch als Revisionshebel gegen die ursprünglich konzipierte Versailler Ordnung angesetzt wurden – und zwar sowohl in Deutschland als auch in Frankreich.18 Hielt man die Kontributionsforderungen auf der rechten Rheinseite mehrheitlich ohnehin für völlig inakzeptabel, suchte man auf der linken spätestens ab 1920 nach geeigneten Mitteln zur Erreichung und Wahrung einer sécurité nationale. Seitdem man sich im Klaren darüber sein musste, dass die auf Allianzerhaltung ausgerichtete Friedensstrategie des französischen Ministerpräsidenten Georges Clemenceau durch die Nichtratifikation des Versailler Vertrages im US-Senat hinfällig geworden war,19 erhielten die Reparationen auch in Paris einen vorwiegend instrumentellen Charakter zur Schwächung des deutschen Nachbarn über den reinen Wortlaut des Friedens hinaus.20 Das wiederum goss Öl ins Feuer all jener, die in den Leistungen von Anfang an keine vertretbaren Wiedergutmachungsbeiträge sahen, sondern Zwangsmaßnahmen zur verschleierten Fortführung des Krieges gegen eine ohnehin am Boden liegende Nation.21 An dieser Stelle rächte sich, dass man die Ausformulierung der konkreten Reparationsbedingungen in Versailles noch vertagt hatte. Das Friedenswerk, das keineswegs – wie oft behauptet – automatisch in einen neuen Krieg führen musste, erhielt auf diese Weise „[s]on caractère éminemment dynamique“22 und wurde zur allgegenwärtigen Projektionsfläche des alten wie neuen, weiterhin unausweichlich erscheinenden deutsch-französischen Antagonismus.   15 16 17 18 19 20 21 22  

Siehe Fischer (2003): Ruhr Crisis. Vgl. Krumeich (2004): Ruhrkampf als Krieg. Dazu nach wie vor Kent (1989): Spoils of War; sowie Gomes (2010): German Reparations. Hierzu v.a. Fink (2011): Revisionism. Siehe Ambrosius (1986): Treaty Fight. Ausführlich Jackson (2013): Beyond the Balance of Power. Zu diesen Sichtweisen allgemein Beaupré (2009): Trauma. Soutou (1987): L’Allemagne et la France, S. 10.

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Die damit in Gang gesetzte ‚Eskalationsdynamik‘ (Nicolas Beaupré) bis hin zur Ruhrbesetzung 1923 wurde zusätzlich befeuert durch den seit geraumer Zeit beobachtbaren Verlust bilateraler Interaktionsgrundlagen. Vor allem die klassische Diplomatie schien ihre eigentliche Daseinsberechtigung zu Beginn des 20. Jahrhunderts weitestgehend eingebüßt zu haben.23 Spätestens durch den von Diplomaten nicht nur nicht verhinderten, sondern in allgemeiner Wahrnehmung sogar mitverursachten Weltkrieg setzte sich in den Köpfen vieler Zeitgenossen ein grundsätzliches „Missfallen am Modus diplomatischer Verhandlungsführung“ fest. Der diplomatischen Sphäre, ihren Akteuren, Aufgaben und Methoden schlugen prinzipielle Vorbehalte, ja zum Teil offene Verachtung entgegen. Die Folgen dieser „Repräsentations-, Legitimations- und Vertrauenskrise“24 ließen sich etwa in Egon Friedells vielbeachteter Kulturgeschichte der Neuzeit nachlesen. Der Diplomat, so hieß es dort Ende der 1920er Jahre, müsse als der einzige „offiziell anerkannte […] Beruf“ gelten, „dessen Inhalt die Schurkerei“ ist: Eine ganze Klasse von Menschen, zumeist jener fetten trüben Oberschicht von Nichtstuern, Weiberjägern und Hasardspielern angehörig, die man die Creme nennt, wird von der Regierung in besondere Schulen geschickt, mit Revenuen ausgestattet, mit Ehrenzeichen und Titeln belohnt, ausdrücklich und eingestandenermaßen dafür, daß sie ihr ganzes Leben mit Intrigieren, Spionieren, Betrügen und Bestechen hinbringt: staatlich […] besoldete Gauner und Taugenichtse […]; Drohnen mit Giftstachel also. Sie sind die Meister der Lüge, die Handlanger der Hölle, die schlimmste Spielart von Schurken.25

Die Abscheu, die hier zum Ausdruck kam, stellte in ihrer Resolutheit natürlich generell jedweden Sinn und jede Rechtmäßigkeit diplomatischer Handlungen infrage. Der Botschafter als eigentlicher ‚Mittler zwischen den Lagern‘ erschien in dem Maße obsolet geworden, in dem die jeweiligen Öffentlichkeiten Verhandlungen mit der Gegenseite bereits von vornherein als nutzlos, ja frevelhaft ausschlossen. Dies galt insbesondere für Frankreich und für Deutschland: Etwas vereinfachend gesagt hatte aus französischer Sicht ein Diplomat der Grande Nation nach mehreren Generationen der Erbfeindschaft und dem – nun hoffentlich endgültigen – Sieg über Deutschland künftig allenfalls Direktiven der Pariser Politik an die Kabinette in Berlin weiterzugeben. Aus Sicht der deutschen Öffentlichkeit wiederum sollte ein Auslandsvertreter in Frankreich in erster Linie gegen genau diese ‚Diktate‘ protestieren. Sich mit einer anderen Zielsetzung ins bilaterale Verhältnis einzubringen oder sogar dessen generelle Verbesserung anzustreben, war von den meisten Zeitgenossen gar nicht gewollt – nach 1918 weniger als je zuvor. Hautnah erlebte diese verfahrene Situation zunächst Hoeschs unmittelbarer Amtsvorgänger in Paris, der vormalige Reichstagsabgeordnete Wilhelm Mayer. Zwar war dieser seinen Botschafterposten im Januar 1920 anlässlich der offiziellen Wiederaufnahme diplomatischer Kontakte zwischen beiden Ländern mit dem from  23 Vgl. hierzu Steller (2011b): Geheimnis und Öffentlichkeit. 24 Steller (2011a): Diplomatie, S. 363. 25 Friedell (1965): Kulturgeschichte der Neuzeit, S. 1479f.  

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men Wunsch angetreten, dass „die Beziehungen […] jetzt, wo der Frieden geschlossen sei, sich allmählich bessern würden“.26 Allein: Konkretes dazu beizutragen vermochte er nicht – im Gegenteil. Während ihm die französische Presse zügig die eigenen Weltkriegsreden vorhielt, in denen er siegesgewiss Kriegsentschädigungen als legitimes Mittel zur Vermeidung neuerlicher Konflikte angepriesen hatte, sollte Mayer nach dem Willen seiner Berliner Vorgesetzten in Paris nun ausgerechnet dafür Verständnis erreichen, dass Deutschland seinerseits zu solchen Entschädigungszahlungen nicht bereit war. Durch fehlende Erfahrung auf internationalem Parkett zusätzlich erschwert, glich diese Aufgabe der sprichwörtlichen Quadratur des Kreises. Solange die Gegenseite nicht von ihrer Position abrückte, bestenfalls zugunsten der eigenen, solange verfügten diplomatische Vermittlungspraktiken – ob man sie nun beherrschte oder nicht – in einem solchen Setting über keine echten Erfolgsaussichten. Vielmehr erschien die klassische Diplomatie hier als eine Art Anachronismus, der dem Ideal der ‚Wahrung der nationalen Ehre‘ schon durch seine schiere Existenz zu widersprechen schien. Zugeständnisse zu machen oder solche zur Erreichung einer günstigeren Verhandlungsposition auch nur anzudeuten – mithin Kernkompetenzen des Diplomaten –, stand in einer konfrontativen Weltsicht dem Landesverrat näher als einem erwünschten bilateralen Fortschritt. Noch 1925 schrieb die Deutsche Zeitung, dass es „gänzlich unvereinbar mit Würde und Ehre einer großen Nation“ sei, wenn „man sich mit denselben Leuten“ zu Gesprächen „einläßt, von denen man […] jederzeit, wenn es ihnen behagt, geknebelt, ausgezogen und vergewaltigt wird.“27 Ein selbstbewusster Konfrontationskurs erschien da adäquater. Ähnliches wurde in Frankreich proklamiert: Die nationalistisch-antideutsche L’Action française etwa diskutierte nahezu jede außenpolitische Frage der unmittelbaren Nachkriegszeit im Hinblick auf Deutschland mit eindeutiger Stoßrichtung: „Quand occuperons-nous enfin la Ruhr?“28 In den Gesetzmäßigkeiten der Erbfeindschaft hatten Diplomaten keinen wirklichen Nutzen mehr, da Aussprachen eh als unschicklich, Verhandlungen ohnehin als überflüssig und Kompromisse als grundsätzlich anrüchig galten. Eine belastbare Vorstellung von einer auf Ausgleich und Kooperation bedachten Verständigungspolitik und ihren Potenzialen fehlte zunächst nahezu vollständig. Bezeichnenderweise entschied sich Berlin an besagtem 11. Januar 1923 als Reaktion auf den Ruhreinmarsch der Franzosen zur Abberufung Mayers aus Paris: zum einen natürlich, um ein Zeichen des Protests zu setzen, zum anderen aber auch, weil dieser Schritt ohnehin den Tatsachen vor Ort entsprach. Mayer hatte kurz zuvor offen eingestanden, dass jeder Versuch, „mit Frankreich etwa jetzt noch zu sprechen, […] völlig aussichtlos“29 sei. Hoesch, bislang Botschaftsrat, blieb als provisorischer Geschäftsträger mit einem kleinen Rumpfteam im Hôtel Beauharnais zurück – ein Umstand, der sich schon bald als echter Glücksfall erweisen sollte.   26 27 28 29

Mayer an das Auswärtige Amt [AA] vom 30.01.1920 in: ADAP A III, Nr. 22, S. 45. Deutsche Zeitung vom 05.09.1925. L’Action française vom 28.10.1920. Mayer an AA vom 05.01.1923 in ADAP A VII, Nr. 8.

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2. DIE REFUNKTIONALISIERUNG DER DIPLOMATIE UNTER LEOPOLD VON HOESCH Die in Paris Verbliebenen machten sich allen Widrigkeiten zum Trotz unverzüglich daran, eine weitere Zuspitzung der Krise zu verhindern. Insbesondere Hoesch schien hierbei sofort über so etwas wie eine eigene Agenda zu verfügen, die gewissermaßen auf eine gleichzeitige Vermittlung an zwei Fronten hinauslief: Zunächst ging es natürlich darum, die französische Regierung von weiteren „Maßnahmen kriegerischen Charakters gegen Deutschland“30 abzuhalten, idealerweise indem man mit diplomatischen Mitteln den Grundstein für eine baldige „Fühlungnahme auf offiziösem Weg“31 legte und so die Vorbedingung dafür schuf, „daß der gesunde Menschenverstand […] eines Tages […] über den Chauvinismus sieg[t]“.32 Derlei war nach den ernüchternden Erfahrungen Mayers bereits ambitioniert genug. Grundvoraussetzung für ein solches Unterfangen sei jedoch, so Hoesch weiter, dass es im gleichen Atemzug auch gelinge, in Berlin ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass – bei aller Rücksichtnahme auf die Stimmung in der eigenen Bevölkerung – nach außen jetzt unbedingt der „Wunsch nach Vermeidung von Schärfen [zu] erkennen“33 sein musste. Die Abwehrhaltung des sogenannten ‚passiven Widerstands‘, den die Regierung des parteilosen Kanzlers Wilhelm Cuno ab Mitte Januar 1923 durch die Übernahme der Lohnfortzahlungen für die im Ruhrgebiet Streikenden eingenommen hatte, würde die Franzosen jedenfalls nicht nachgeben lassen, obschon dies in Berlin tatsächlich einige zu hoffen schienen.34 Hoesch hielt hier sogleich dagegen, dass die Besetzung von Frankreich aus „als eine nach dem Vertrage von Versailles berechtigte Zwangsvollstreckungsaktion gegen [einen] widerstrebenden Schuldner“35 erscheine. Der deutsche Widerstand, ob legitim oder nicht, zwinge die Besatzer nun, „in der Kraftprobe zu siegen“. Und alles spräche dafür, dass es genauso kommen werde: „Frankreich kann vielmehr […] auf zunächst nicht absehbare Zeit aushalten[,] […] es wird nicht auf die Knie kommen“,36 warnte Hoesch. Allein das „französische Programm“ könne dementsprechend als Verhandlungsbasis dienen. Deutschland müsse „den gegenwärtigen Invasionszustand mehr oder weniger […] sanktionieren und dazu noch den Rheinlandpfändern […] zustimmen“. Auch wenn derlei „wenig verlockend“ klinge, mache die Beibehaltung des „Zustand[es] der Abwehr“ nur Sinn, wenn dieser auch wirklich bis zum Ende „durchführbar ist“.37 Französischerseits wäre so oder so mit der „schärfsten Fortführung   30 31 32 33 34 35 36 37  

Hoesch an AA vom 17.01.1923 in PA AA R 28232k. Hoesch an AA vom 31.03.1923 in ADAP A VII, Nr. 173. Hoesch an AA vom 13.02.1923 in ADAP A VII, Nr. 88. Hoesch an AA vom 15.01.1923 in PA AA R70478. Vgl. Rupieper (1978): Cuno Government, S. 121f. Hoesch an AA vom 17.01.1923 in PA AA R 28232k. Hoesch an AA vom 13.02.1923 in ADAP A VII, Nr. 88. Hoesch an AA vom 16.01.1923 in ADAP A VII, Nr. 27.

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[der] Unternehmung zu rechnen“, man vertraue in Paris momentan voll und ganz auf die eigene „Überlegenheit“.38 Mit solchen Einschätzungen lag Hoesch natürlich konträr zum damaligen Stimmungsbild großer Teile der deutschen Öffentlichkeit. Während Hunderttausende auf spontanen Protestkundgebungen im ganzen Reich ihrem Unmut freien Lauf ließen,39 nutzen manche Zeitgenossen die hitzige Situation sogar dazu, ihre Landsleute wieder zu den Waffen zu rufen. Der Geist der Erbfeindschaft war erneut spürund erlebbar geworden, an Rhein und Ruhr ebenso wie in Berlin, Hamburg und München. In der Folge kam es bis weit in den Sommer hinein zu teils blutigen Zusammenstößen zwischen Besatzern und Besetzten sowie zu gewaltsamen Vergeltungsaktionen an mutmaßlichen Streikbrechern und sogenannten ‚Franzosenliebchen‘.40 Die Regierung Cuno war dabei keineswegs immer Herrin der Lage, sondern oft genug bloß Getriebene der Ereignisse. Selbst Nebenkriegsschauplätze gerieten hier schnell außer Kontrolle. Als etwa die bayerische Landesregierung die Ausweisung des französischen Sondergesandten Emil Dards forderte, wollte der Berliner Außenminister Frederic von Rosenberg Paris wissen lassen, dass man „infolge der berechtigten Erregung der Bevölkerung durch den militärischen Einmarsch in das Ruhrgebiet“41 nicht mehr für dessen Sicherheit garantieren könne. Hoesch, der diese Nachricht überbringen sollte, hielt ein solches Vorgehen – wohl auch mit Blick auf seine eigene Position in der französischen Hauptstadt – für kontraproduktiv. Zwar sei man, so räumte er ein, angesichts der jüngsten Entwicklung natürlich „voll berechtigt, nunmehr in energischer Weise [Dards] Abberufung zu fordern.“ Allerdings müsse man sich dabei unbedingt an die geltenden internationalen Regeln halten. Einen Vertreter eines anderen Staates kurzerhand für schutzlos zu erklären, würde Berlin nicht nur vor Frankreich, sondern auch vor der ganzen Welt und vor der auf ihren Prärogativen ängstlich bedachten internationalen Diplomatie ins Unrecht setzen […]. Die Unverletzbarkeit der diplomatischen Vertreter ist einer der unangefochtenen und von jeher anerkannten Grundsätze des Völkerrechts. […] M.E. muß jeder Staat die bei ihm akkreditierten Gesandten, solange sie sich im betreffenden Land aufhalten, ohne Rücksicht auf das, was gegen sie vorliegt, mit allen Mitteln schützen und kann die Verantwortung für deren Sicherheit nicht ablehnen.

Damit kritisierte Hoesch ausdrücklich eine Direktive seines Berliner Amtschefs, weil diese seiner Meinung nach auch „die Möglichkeit meines weiteren Verhandelns mit der Französischen Regierung in Frage stellt.“42 Bislang hatte es solche Verhandlungen in Paris zwar noch gar nicht gegeben, Hoesch ließ jedoch keinerlei Zweifel daran, dass allein sie das Ziel seiner Arbeit vor Ort sein konnten. Eben weil

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Hoesch an AA vom 23.01.1923 in ADAP A VII, Nr. 44. Vgl. die entsprechenden Meldungen im Berliner Tageblatt vom 15.01.1923. Siehe G. Krüger (2004): Gewalt im Ruhrkampf. Rosenberg an Botschaft Paris vom 21.01.1923 in ADAP A VII, Nr. 42. Alle Zitate: Hoesch an AA vom 26.01.1923 in PA AA R 28232k [Hervorhebung von mir, P.K.].

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„[e]ine Besiegung des Gegners nicht in Frage komm[t]“, sei das „Bestehen normaler diplomatischer Beziehungen“43 nun einmal notwendiger Ausgangspunkt für alle „Bemühungen um [eine] Besserung [der] Atmosphäre“44. Berlin stünde augenblicklich vor der großen Herausforderung, eine Außenpolitik zu entwickeln, die „nicht [den] Sieg verheißt, sondern nur eine Vorbedingung schaffen kann für eine vielleicht erst nach langer Leidenszeit eintretende Besinnung.“45 Es verstehe sich von selbst, dass dies sogar in einer Krise wie der gegenwärtigen die „Anbequemung an diplomatische Gepflogenheiten erfordert“.46 Der Richtungs- und Methodendissens, der sich aus solchen Analysen und Vorschlägen zwischen dem provisorischen Geschäftsträger sowie dem Gros der Verantwortlichen in Berlin ergab, wurde im Lauf des Jahres 1923 immer offenkundiger. Nicht nur vom rechten Rand des politischen Spektrums im Reich wurden die Berichte und Eingaben Hoeschs sowie seine ständigen Ermahnungen, endlich auch die Pariser Perspektive in die eigenen Überlegungen miteinzubeziehen, immer häufiger als „nationale Würdelosigkeit besonderer Art“47 verunglimpft. Im Kabinett und auch auf den Fluren des Auswärtigen Amts fehlte Hoesch vorerst die Rückendeckung für seinen Kurs. Wie zum Beweis schlug Rosenberg nur kurz nach den Diskussionen um die Ausweisung Dards vor, die „Fiktion normaler Beziehungen durch Beibehaltung beiderseitiger […] Vertretungen“ demonstrativ zu beenden und den Abbruch diplomatischer Beziehungen […] insofern vielleicht nützlich wirken [zu lassen], als er dem Zustande der Stagnation ein Ende bereiten und dem französischen Volk sowie der übrigen Welt die Augen öffnen würde.48

Die Antwort Hoeschs hierauf zeigte abermals, dass dieser keinesfalls gewillt war, sich von seinen vor Ort gewonnen Überzeugungen abbringen zu lassen. Zwar suggerierte er auch an dieser Stelle prinzipielles Verständnis für den Gedankengang des in der deutschen Öffentlichkeit um Rückhalt ringenden Außenministers. Gleichzeitig zog er in Abwägung des Für und Wider zum wiederholten Male aber gänzlich andere Schlüsse: Hoesch bekräftigte erneut, dass der für die Ruhraktion in Deutschland als Hauptschuldige angesehene französische Ministerpräsident Raymond Poincaré „unter keinen Umständen den Abbruch der Beziehungen wünschte.“49 Vielmehr sei dieser „an das Unternehmen mit der Absicht herangegangen […], die Vorbedingungen für eine deutsch-französische Sonderverständigung zu schaffen.“50 Erst aufgrund der Reaktionen im Reich habe man sich „in die   43 44 45 46 47 48 49 50  

Hoesch an AA vom 08.01.1924 in PA AA R 70488. Hoesch an AA vom 02.12.1923 in PA AA R 28234k Hoesch an AA vom 13.02.1923 in ADAP A VII, Nr. 88. Hoesch an AA vom 08.01.1924 in PA AA R 70488. Deutsche Tageszeitung vom 03.01.1924. Runderlass Rosenbergs vom 10.02.1923 in ADAP A VII, Nr. 82. Hoesch an AA vom 10.02.1923 in ADAP A VII, Nr. 84. Hoesch an AA vom 27.02.1923 in ADAP A VII, Nr. 114. Diese Sichtweise findet sich inzwischen auch in der neueren Forschung wieder. Siehe v.a. Keiger (2002): Poincaré.

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Idee verbissen, den deutschen Widerstand überwinden zu müssen.“ Für Berlin würde diese Kraftprobe nun auf Dauer „vielleicht zu schwierig“. Als Ausweg bleibe nach wie vor allein die „Anknüpfung von offiziösen Besprechungen mit maßgebenden französischen Persönlichkeiten“.51 Für diese müsse man unbedingt „unsere Bereitwilligkeit zur Leistung von Reparationszahlungen […] unter Berücksichtigung der deutschen Fähigkeiten“52 glaubhaft belegen. War das Kabinett Cuno dessen ungeachtet weiterhin fest entschlossen, die „bisherige Linie nicht [zu] verlassen“,53 nahm Hoesch damit bereits im Frühjahr 1923 vorweg, was erst Monate später unter einer neuen deutschen Regierung umsetzbar werden sollte: den bedingungslosen Abbruch des passiven Widerstandes und die Wiederaufnahme von Reparationszahlungen als unverzichtbare Voraussetzungen einer internationalen Beruhigung im ersten und einer deutsch-französischen Annäherung im zweiten Schritt. Damit erkannte Hoesch deutlich früher als die meisten anderen Zeitgenossen, dass die Ruhrkrise, gelänge die Verhinderung eines neuerlichen Krieges, über kurz oder lang einen grundsätzlichen Wendepunkt in den internationalen Beziehungen der Nachkriegszeit markieren konnte.54 Die für Besatzer wie Besetzte gleichermaßen augenfällige Unproduktivität der weitestgehend ergebnislosen Konfrontation zwang beide Seiten dazu, künftig neue außenpolitische Konzepte zu entwickeln, die die gewohnte Erbfeindschaftsrhetorik hinter sich ließen und Verständigungsbemühungen als Elemente moderner Politikansätze zumindest nicht mehr kategorisch ausschlossen.55 Hoesch brachte seine Überzeugungen hierzu in einem richtungweisenden Satz schon Ende Dezember 1923 auf den Punkt und umriss so bereits das Programm der späteren deutsch-französischen Verständigungspolitik: „[E]ine Lösung [kann] nicht mehr in einer Abschüttelung des Gegners, sondern nur in einer innigen Verflechtung der beiderseitigen Interessen gesucht werden“.56 Unter dieser Prämisse gewann Hoesch alsbald auch wachsenden Einfluss auf die Ausrichtung Berlins: Bereits einen Tag nach dem Kabinettswechsel am 13. August 1923 argumentierte er, dass eine „durchgreifende Änderung [der] deutsche[n] Außenpolitik“ überfällig sei. Um eine „Unterwerfung unter den gegenwärtigen Zustand“ komme man dabei in „sachlicher Konsequenz“57 nicht mehr umhin. Der neue Kanzler und Außenminister Gustav Stresemann, der sich unverzüglich Hoeschs Berichte der letzten Monate bringen ließ und sie aufmerksam studierte, hoffte zunächst selbst auf ein persönliches Treffen mit den Pariser Verantwortungsträgern, wurde jedoch unverzüglich abgewiesen. Entsprechend instruierte er Hoesch, „Poin  51 52 53 54 55 56 57  

Hoesch an AA vom 31.03.1923 in ADAP A VII, Nr. 173. Hoesch an Rosenberg vom 24.04.1923 in ADAP A VII, Nr. 202. Ministerbesprechung vom 28.04.1923 in AdR Cuno, Nr. 142. So jetzt auch die neuere Forschung: Vgl. z.B. Cohrs (2006): Unfinished Peace, S. 100. Hierzu v.a. Blessing (2008): Frieden, S. 70. Hoesch an AA vom 29.12.1923 in ADAP A IX, Nr. 77. Hoesch an AA vom 14.08.1923 in ADAP A VIII, Nr. 102

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caré persönlich auf[zu]suchen und ihm [die] Notwendigkeit unmittelbarer Regierungsverhandlungen unter Betonung rein praktischer Notwendigkeit vor[zu]schlagen.“58 Dabei sollte er selbstständig alles ausräumen dürfen, was „als Vorwand dienen könnte, die Aufnahme von Verhandlungen abzulehnen.“59 Das hieraus hervorgehende Vieraugen-Gespräch Hoeschs mit Poincaré am 10. Oktober 1923 kann, auch wenn es natürlich vorerst noch ohne konkrete Ergebnisse blieb, durchaus als ein Meilenstein in den deutsch-französischen Beziehungen der Nachkriegszeit gesehen werden. Zum ersten Mal seit der Ruhrkrise – und bedenkt man die schlechten Beziehungen zuvor: eigentlich zum ersten Mal seit vielen Jahren – kam es zwischen Deutschland und Frankreich nun zu an inhaltlichen Erwägungen ausgerichteten bilateralen Gesprächen, in denen der Fokus nicht mehr nur auf Vergangenem lag, sondern in denen das Bemühen um Lösungen erstmals einen gleichberechtigten Platz, vielleicht sogar einen Vorrang erhielt. Selbst der französische Ministerpräsident erklärte überraschend freimütig, „[e]r wolle […] sich jeder Vorwürfe für [die] Vergangenheit enthalten und lediglich [die] Zukunft ins Auge fassen.“60 Dieser Fortschritt bildete die Basis für eine Wiederinbetriebnahme funktionaler diplomatischer Beziehungen zwischen Paris und Berlin, in denen Hoesch ab sofort als unverzichtbar galt. Poincaré ließ sich bereits nach einer Woche zu der vielsagenden Bemerkung hinreißen, „[e]r sei nicht mis[s]trauisch gegen ihn[,] Hoesch“, sondern allenfalls noch „mis[s]trauisch gegen das deutsche Volk.“61 Als Stresemann im Dezember erneut um ein persönliches Gespräch mit Frankreichs Regierungschef ersuchte, ließ dieser ausrichten, dass derlei doch gar nicht nötig wäre: Die „französische Verhandlungskommission sei er und die deutsche Kommission sei [Hoesch] und auf diese Weise sei jede gewünschte Aussprache möglich.“62

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Entwurf eines entsprechenden Telegramms für Hoesch in ADAP A VIII, Nr. 172, Anm. 3 Stresemann an Hoesch vom 07.10.1923 in ADAP A VIII, Nr. 181. Hoesch an AA vom 10.10.1923 in ADAP A VIII, Nr. 186. Notiz von Harry Graf Kessler vom 17.10.1923 in Kessler (2009): Tagebuch, Bd. 8, S. 121. Hoesch an AA vom 15.12.1923 in ADAP A IX, Nr. 60.

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3. LEOPOLD VON HOESCH UND DIE DEUTSCH-FRANZÖSISCHE VERSTÄNDIGUNG

Abb. 2: Stresemann, Chamberlain, Briand in Locarno63

Fast auf den Tag genau zwei Jahre nach Hoeschs erstem Treffen mit Poincaré entstand im schweizerischen Locarno ein Foto, das im europäischen Gedächtnis deutlich enger mit der Idee einer internationalen Verständigung nach dem Ersten Weltkrieg verknüpft ist als die von der Öffentlichkeit kaum wahrgenommenen Unterredungen des Geschäftsträgers in Paris. Es zeigt – auf den ersten Blick recht unspektakulär – Gustav Stresemann an einem kleinen Tisch sitzend neben dem Briten Austen Chamberlain und dem Franzosen Aristide Briand. Die Stimmung wirkt kaum weniger distanziert als in der Pariser Gesellschaft Beckmanns, dennoch sprachen damalige Augenzeugen sofort von einer „Zeitenwende“.64 Der multilaterale Grenzgarantiepakt, den die drei Außenminister Mitte Oktober 1925 abschließend verhandelten und der ihnen den Friedennobelpreis einbringen sollte, erschien vielen Zeitgenossen als der große Wurf, als Chance auf „une paix permanente“.65 Endlich, so urteilte beispielsweise der deutsche Journalist Georg Bernhard mit Blick auf das   63 Bundesarchiv, Bild 183-R03618, Fotograf: o. Ang. 64 Vorwärts vom 17.10.1925. 65 Le Figaro vom 16.10.1925  

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Gruppenbild der drei Herren, sei Europas Verantwortlichen ins Bewusstsein getreten, dass „eine Politik des Friedens […] sich der Methode des gegenseitigen Verkehrs bedienen“66 muss. Kaum jemand dürfte den Prozess dieser ‚Bewusstwerdung‘ intensiver erlebt und begleitet haben als Leopold von Hoesch – zumal der ‚gegenseitige Verkehr‘ in Locarno, von dem Bernhard schwärmte, keineswegs einfach zustande gekommen war, sondern genau wie die ‚Politik des Friedens‘ mühsam angebahnt werden musste: durch behutsame Kontaktaufnahme, langwierige Vorbesprechungen, geschicktes Taktieren und zahllose vertrauensbildende Maßnahmen, mithin: durch erfolgreiche Diplomatie. Sicherlich nicht grundlos entstand in den Jahren vor und nach der Locarno-Konferenz Hoeschs bis heute währender Ruf als mutmaßlich „fähigster Botschafter der Zwischenkriegszeit“.67 Ganz gleich, ob eine solche Zuschreibung am Ende etwas zu plakativ ist oder nicht: Sie vermittelt einen ungefähren Eindruck von der Schlüsselrolle, die der promovierte Jurist und Spross zweier großer Industriellendynastien in den deutsch-französischen Beziehungen nach 1923 spielte. Seitdem Hoesch die deutschen Belange in Paris vertrat, – „avec calme et non sans habilité“,68 wie Poincaré anerkennend bemerkte – kam es zwischen den vormaligen Erbfeinden am Rhein schrittweise zu einer aus heutiger Sicht längst überfälligen Rückgewinnung politischer Handlungsalternativen jenseits der gewohnten Konfrontationsautomatismen. Dafür knüpfte Hoesch in Paris exakt jene persönlich-informellen Kontakte, die seinem Vorgänger noch verwehrt geblieben waren – etwa zu Jacques Seydoux, dem langjährigen Wirtschaftsdirektor im französischen Außenministerium, oder zum dortigen Protokollchef Pierre de Fouquières –, die sich alsbald als unerlässlich erweisen sollten für jede nachhaltige Verständigungsarbeit. Auch zu Poincaré und dessen Nachfolgern hatte Hoesch einen guten, vor allem belastbaren Draht. Stresemann notierte später, dass es dem Geschäftsträger, der 1924 zum ordentlichen Botschafter bestellt wurde, „gerade bei der wirklich sehr schwierigen Frage von Verhandlungen mit Persönlichkeiten, die nicht leicht zu nehmen sind“, bemerkenswert schnell gelinge, „sich […] eine sehr gute Stellung“ zu erarbeiten. Zum ersten Mal seit Jahrzehnten sei man Dank Hoesch inzwischen wieder in der Lage, in Gesprächen mit Paris „auch den deutschen Standpunkt […] zum Ausdruck zu bringen.“69 Der Botschafter als personifizierte politische Institution wurde an dieser Stelle wieder zu einem zentralen Medium des bilateralen Austauschs zwischen zwei lange Zeit kaum zur produktiven Kommunikation fähigen Staaten, die freilich nicht allein wegen ihm sofort in eine Phase andauernder Eintracht eintraten, die aber gleichwohl über ihn ihre in der Sache unverändert weiterbestehenden Meinungsverschiedenheiten und Konflikte beizulegen begannen. Gerade auch das Hôtel Beauharnais wurde, Beckmanns Gemälde belegt es, unter seiner neuen Führung zu einem geschickt genutzten Begegnungs- und Anbahnungsraum für transnationale Netzwerke   66 67 68 69

Vossische Zeitung vom 16.10.1925. Hagspiel (1984): Verständigung, S. 18. Baechler (1996): Stresemann, S. 486, Anm. 23. Stresemann (1932): Vermächtnis, Bd. 1, S. 317.

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politischer, gesellschaftlicher und vor allem ökonomischer Prägung. Hoesch war hier gleichermaßen Mitinitiator wie wesentlicher Baustein, sowohl symbolischer Repräsentant als auch aktiver Gestalter einer nicht mehr länger nur an den Traditionen der Erbfeindschaft verhafteten, sondern auf die Zukunft ausgerichteten multilateralen Außenpolitik, die aus vorwiegend rationalen Erwägungen heraus eher das Verbindende herauszuarbeiten suchte, anstatt weiterhin das Trennende zu betonen. Gemeinsam mit zwei langjährigen Weggefährten in Berlin – dem künftigen Staatssekretär im Auswärtigen Amt Carl von Schubert sowie dem für Westeuropa zuständigen Ministerialdirektor Gerhard Köpke – und alsbald mit der vollen Rückendeckung Stresemanns war Hoesch somit auch direkt an der Konzeption und Ausformulierung einer ‚republikanischen Außenpolitik‘70 beteiligt, deren naheliegendes wie einleuchtendes Ziel es war, die Weimarer Republik wegzuführen vom unproduktiven, in der Regel unilateralen Aktionismus der unmittelbaren Nachkriegsjahre hin zu einer den äußeren Rahmenbedingungen der europäischen Ordnung Rechnung tragenden Politik des Ausgleichs und der Integration. Bereits 1922 entwarfen die Genannten wesentliche Eckpunkte jener Sicherheitsstruktur, die drei Jahre später in Locarno die europäische Nachkriegsarchitektur auf ein neues Fundament stellte. Zugrunde lag die Erkenntnis, dass zur Erlangung nationaler Ziele internationale Gegebenheiten in der modernen Welt unbedingt zu berücksichtigen und bestenfalls gleich in das eigene Vorgehen zu integrieren waren – ganz so wie Hoesch es mit seinem auf Frankreich gemünzten Wort von der ‚Notwendigkeit einer innigen Interessensverflechtung‘ bereits formuliert hatte. Wie weit die Arbeit für diese Verständigung ging, zeigt eine Episode: Als sich in Berlin unmittelbar im Anschluss an die Konferenz von Locarno aus der Euphorie um deren positive Rückwirkungen auf das Reich – für November war die Räumung der seit Jahren besetzten Kölner Zone in Aussicht gestellt worden – eine allgemeine „Genugtuung über [die neuen] angenehme[n] Beziehungen“71 zu Frankreich breitzumachen schien, verhandelte Hoesch in Paris längst schon mit einer Delegation von Gemüsebauern aus dem südfranzösischen Departement Vaucluse über ‚höchstdringliche‘ Handels- und Zollfragen, die keinen Aufschub duldeten, weil die „französische Ernte an Frühgemüse Ende November oder Anfang Dezember einsetzt“. Einer möglichst günstigen Regelung dieser Angelegenheit komme, so erklärte er dem Auswärtigen Amt, auch deshalb größte Priorität zu, weil „für den Abschluß eines deutsch-französischen Handelsabkommens“, das nach der Abarbeitung der Sicherheitsfrage die nächste wichtige Aufgabe der Botschaft sei, enorm viel von der Einstellung der „gemüse- und weinbauende[n] Gegenden Südfrankreichs als [einem der] Hauptzentren für die Idee einer deutsch-französischen Verständigung“72 abhinge. Diese bei aller Ernsthaftigkeit einer gewissen Komik nicht entbehrende Szene, in der sich wohl mindestens genauso viel Arbeitseifer offenbarte   70 Hierzu nach wie vor P. Krüger (1985): Außenpolitik. 71 Hoesch an AA vom 23.10.1925 in ADAP A XIV, Nr. 172. 72 Alle Zitate: Hoesch an AA vom 23.10.1925 in ADAP A XIV, Nr. 173.

Leopold von Hoesch als deutscher Botschafter in Paris, 1923–32

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wie ein der Sache angemessenes Bemühen um die Verstetigung der bilateralen Annäherung, gibt sicherlich einen guten Eindruck vom Wirken des Botschafters, der zu keinem Zeitpunkt – selbst in Momenten großer Erfolge nicht – nachließ, mit den Franzosen Kompromisse zu suchen und um Konzessionen zu ringen, der aber auch nie vergaß, in Berlin fortwährend für die Fortführung der „Politik der Verständigung“ zu werben, weil er nur zu gut ahnte, „daß einer umfassenden direkten deutsch-französischen Verständigung immer wieder unüberwindliche Hindernisse in den Weg treten“73 konnten. Auch mit dieser Einschätzung sollte Hoesch Recht behalten. ABKÜRZUNGEN ADAP : AdR: PA AA:

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  73 Hoesch an AA vom 20.11.1925 in ADAP A XIV, Nr. 250.

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BÜROKRATIE, POLITIK UND KLIENTEN Carl Severing als Patron und Parteigenosse Volker Köhler Carl Severing war als „Sozialdemokrat aus Westfalen mit preußischen Tugenden“1 – so der Untertitel einer Biographie – einer der bedeutendsten Politiker der Weimarer Republik, ist heute aber nur Experten noch ein Begriff. Dabei war er als Innenminister Preußens und zeitweise auch des Reiches verantwortlich für eine Demokratisierungswelle in der staatlichen Verwaltung, die sowohl ehrfurchtsvoll als auch abwertend bereits von Zeitgenossen als „System Severing“ bezeichnet wurde und zumindest in Preußen zu einer relativen Stabilität der Republik beitrug.2 In der Figur Severings spiegelt sich geradezu idealtypisch die Verbindung von Sach- und Personalpolitik. Er war davon überzeugt, dass nur mit dem richtigen Personal die von ihm angestrebte Politik mittel- und langfristig umzusetzen war. Politik hatte für Severing eine klare personale Komponente. Diese lässt sich auch über seine Rekrutierungspolitik hinaus verfolgen und darum soll es in diesem Aufsatz gehen. Ein Blick in Carl Severings Nachlass offenbart einen überzeugten Sozialdemokraten, der seine Aufgabe als Politiker nicht alleine darin sah, sachlich und ideologisch für seine Themen zu streiten, sondern auch darin, Individuen zu helfen. Severing entwickelte sich – so die These, der hier nachgegangen werden soll – zu einem modernen Parteipolitiker in einer modernen Partei, der gleichzeitig zu einer Art Patron wurde, der ein Klientelnetzwerk an persönlichen Kontakten bürokratisch verwaltete. Die Begrifflichkeiten „Patron“ und „Parteinetzwerk“ deuten dabei an, dass in diesem Beitrag der Versuch unternommen werden soll, das Phänomen personaler Abhängigkeitsverhältnisse bei Severing als Teil einer politischen Kultur zu deuten, die einerseits Bezüge zu vormodernen Politikformen aufweist, andererseits spezifisch modern war. Daher sollen im Folgenden Interpretationsangebote der frühneuzeitlichen Patronageforschung ebenso wie Befunde sozialer Netzwerkanalysen herangezogen werden. Um Severing derart beleuchten zu können, soll im Folgenden zunächst auf Severing als Person, seine Biographie und sein politisches Umfeld eingegangen werden. Anschließend soll an ausgewählten Beispielen gezeigt werden, welche Bedeutung Personal- und Klientelpolitik für Severing hatten und wie sich diese im Einzelnen ausgestaltete. Daran an- und abschließend werden   1 2

Alexander (1992): Carl Severing. Ehni (1975): Bollwerk Preußen; Orlow (1986): Weimar Prussia, S. 254.

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am Beispiel des sozialdemokratischen Politikers allgemeine Überlegungen zur Bedeutung personaler Politikstrukturen in modernen Parteien und bürokratisch verwalteten Staaten erfolgen. Der 1875 im westfälischen Herford geborene Carl Severing wuchs in einem Arbeitermilieu auf. Sein Vater war Zigarrensortierer, seine Mutter Näherin. Wie er im Untertitel des ersten Bandes seiner Autobiographie festhielt, folgte dann ein steiler Aufstieg „vom Schlosser zum Minister“.3 Während dieses Aufstiegs vermochte es Severing, verschiedenste Beziehungen zu knüpfen, sei es als Schlosserlehrling im ihn ausbildenden Betrieb, sei es seit 1892 in der Gewerkschaft oder schließlich ab 1893 in der Partei. Die Debatten und Diskussionen rund um seine Positionen vernetzten ihn mit ersten Parteigenossen, mündeten in ersten Freundschaften, generierten aber auch Antipathien. Beispielhaft für diese Beziehungen stehen seine schillernden Zuschreibungen in der Historiographie, die von „Zauderer“ über „Arbeitermörder“ hin zu „Überzeugungstäter“ reichten.4 Beziehungen begleiteten ihn sein politisches Leben lang; sie prägten ihn.5 Severings politische Lehrjahre fanden in der Fundamentalopposition statt: Seine Partei, die SPD, hatte im Kaiserreich aufgrund von Wahlrecht, zeitweiser Verfolgung und dem Verhalten der anderen Parteien keine Chance darauf, Regierungen zu stellen. Es gab keine SPD-Beteiligung an Regierungen auf Landes- oder Reichsebene und durch das in Preußen geltende Dreiklassenwahlrecht war die SPD auch in einem Großteil der großstädtischen Kommunen von exekutiven Ämtern weit entfernt. Nur wer sich das vor Augen führt, kann erahnen, welche Gelegenheit der Umsturz von 1918/19 für sozialdemokratische Politiker, aber auch Wähler – und nun ja auch Wählerinnen – bot.6 Erstmals stellte die SPD Ministerpräsidenten in Reich und Ländern, erstmals gab es großflächige Regierungsbeteiligungen für die Sozialdemokraten – und damit Zugriff auf staatliche Ressourcen.7 Diese in einem sozialdemokratischen Sinne neu zu verteilen war für die Sozialdemokraten Gebot und Chance der Zeit.8 Auch Carl Severing erkannte dies. Für die Umsetzung dieser Auffassung von Politik bedurfte es jedoch Personal mit gleicher Überzeugung. Insbesondere der Kapp-Putsch von 1920 zeigte die Probleme auf, die sich aus dem Versuch ergeben konnten, republikanische Politik mit republikfeindlichen Beamten durchzusetzen. Schließlich hat  3 4 5 6 7 8

 

Severing (1950): Mein Lebensweg. Alexander (1992): Carl Severing, S. 11f. Alexander (1992): Carl Severing, S. 16‒87. Winkler beschreibt unter der Prämisse der zögerlichen Machtübernahme die Möglichkeitsräume, die sich den Sozialdemokraten nach November 1918 eröffneten: Winkler (1984): Arbeiter, S. 19‒152. So vor allem in Sachsen und Preußen, vgl. Rudolph (1993): Die Sozialdemokratie; Schulze (1977): Otto Braun, S. 239‒251. Etwa: Severing (1950): Mein Lebensweg, S. 281‒291. Siehe auch den Beitrag von Christian Faludi in diesem Band, in dem anhand der Thüringischen Hochschulpolitik in den frühen Jahren der Weimarer Republik geschildert wird, wie sozialdemokratischer Gestaltungswille in Konflikt mit den Beharrungskräften in alten Institutionen kommen konnte.

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ten sich während des Putsches viele preußische Beamte hinter die Putschisten gestellt und mit diesen zusammengearbeitet. Severing begann daher damit, die preußische Verwaltung auf ihre Republikfreundlichkeit hin zu untersuchen und, wo es ihm möglich war, republikfeindliche durch republikfreundliche Beamte zu ersetzen.9 Der daraus resultierende Aufbau des unter anderem von Hans-Peter Ehni so bezeichneten republikanischen „Bollwerk Preußens“ unter Severing und seinem Nachfolger Albert Grzezinski ist gut erforscht und dokumentiert.10 Das gilt auch für das auftretende Problem, geeignete Beamte zu finden. So war das für Beamtenstellen de facto geltende Juristenmonopol etwa insofern problematisch, als es in der Arbeiterpartei SPD kaum Juristen gab und daher auch wenige Rekruten für Spitzenbeamtenjobs. Oftmals wurden daher Vertreter der bürgerlichen DDP oder des Zentrums für diese Positionen angefragt.11 Unter diesen Voraussetzungen gelang auf lokaler und kleinregionaler Ebene, etwa bei Landräten, eine Demokratisierung der konservativen ländlichen Gebiete kaum.12 Schließlich wurde die Personalpolitik von konservativer Seite auch als „Futterkrippenwirtschaft“ gebrandmarkt13: Als Versorgungspolitik für Parteikader, die nun Stellen in der öffentlichen Verwaltung bekämen. Wie auch immer man diesen Vorwurf im Einzelnen bewerten mag, es wird an dieser Stelle klar, dass Klientel- und Personalpolitik bei Severing – aber wohl auch im Allgemeinen – nicht trennscharf zu unterscheiden sind. Dieser Befund ist einerseits bemerkenswert, andererseits nicht weiter verwunderlich. Schließlich ist es common sense, dass Politiker Abhängigkeiten und Beziehungen zu Wählern und anderen Politikern, zu Beamten und Freunden pflegen. Viele Skandale, in denen diese Verflechtungen in den Augen der Beobachter überhandgenommen hatten und haben, zeugen davon.14 Andererseits gibt es die „Meistererzählung“ von der fortschreitenden Verstaatlichung durch zunehmende Bürokratisierung, Institutionalisierung und Versachlichung von Verwaltungs- und Politikvorgängen.15 Auch moderne Parteien werden zumeist nur in der internen Analyse als heterogene, von internen Machtkämpfen, Bündnissen, Anti- und Sympathien strukturierte Organisationen wahrgenommen.16 Von außen betrachtet treten die   9 Orlow (1986): Weimar Prussia, S. 115‒151. 10 Vgl. insbesondere Runge (1965): Politik und Beamtentum; aber auch Ehni (1975): Bollwerk Preußen, und Orlow (1986), Weimar Prussia. 11 Leisner (1987): Das Juristenmonopol. 12 Vgl. Behrend (1957): Zur Personalpolitik. 13 Vgl. etwa „Futterkrippen-Korruption“, in: Leipziger Allgemeine Zeitung, 6.11.1921. 14 Für die Weimarer Republik einschlägig: Klein (2014): Korruption; für einen Überblick bis 1933: Engels (2014): Die Geschichte der Korruption. 15 Vgl. Rubinstein (2010): Max Weber; aber auch Pakulski (2012): Weberian Foundations 16 Über den Begriff Mikropolitik wird später noch zu reden sein. Hier genügt, auf dessen Bedeutung für die Analyse von Organisationen in der Soziologie, aber auch Geschichtswissenschaft zu verweisen: Brüggemeier / Felsch (1992): Mikropolitik; Lauschke / Welskopp (1994): Mikropolitik im Unternehmen.  

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Parteien meist als recht einheitliche Akteure auf. In dieses Bild fügt sich ein Parteipolitiker wie Severing und die hohe Bedeutung, welche er Personalpolitik im weitesten Sinne beimaß, nur schwer ein. Auf den folgenden Seiten soll die Person Severing daher als vielschichtiger Akteur sichtbar gemacht werden, der mehr war als nur eine ‚biographische Konstruktion‘ an der Schnittstelle von Staat und Partei, von politischen Zielen und politischem Alltag, von Amts- und Mandatsträger sowie Parteimitglied und Privatperson.17 Folgende Fragen sind in diesem Zusammenhang zu beantworten: Wie kam Severing zu seiner Machtposition? Was wollte Severing in dieser Position erreichen? Wer wendete sich an Severing in seiner Machtposition und mit welchem Ziel? Nach welchen Kriterien bestellte Severing sein Feld der Kontakte und Klienten? Welche Bedeutung hatten persönliche Kontakte für Severings Politik? So lassen sich neue Einsichten in die Welt der Politik zur Hochzeit der Moderne, den 1920er Jahren, gewinnen. 1. POLITISCHE ZIELE UND METHODEN Severing war, in diesem Punkt sind sich Historiker weitgehend einig, ein überzeugter Sozialdemokrat, für den Politik auch Überzeugungstat, nicht nur reine Machtoption darstellte.18 Sein Ziel war, nach 1918 ein sozialdemokratisch geprägtes Gemeinweisen zu schaffen. Auf dem Weg dorthin zeigte er sich jedoch durchaus pragmatisch. Er war bereit, mit anderen politischen Gruppierungen zielführend zusammenzuarbeiten und erkannte die Rolle, die eine funktionierende Verwaltung für Gestaltung und Umsetzung von Politik zu spielen vermag.19 Beispielhaft äußert sich das an einem Schreiben, welches Severing an den Vorsitzenden der Vereinigung der Polizeioffiziere Preußens in Antwort auf dessen Glückwünsche zum 50. Geburtstag des Politikers verfasste. Darin ließ er seine Amtsauffassung als Innenminister erkennen: Er versprach, die „materiellen und ideellen Interessen“ der Polizeibeamten zu vertreten, darin werde ihn nichts wankend machen, weil ich überzeugt bin, daß gerade in den unruhigen Zeiten, in denen wir leben, der Beamte des Schutzes seiner Vorgesetzten bedarf, wenn er seine schwere Pflicht für Volk und Staat erfüllen soll.20

Wie Severing Personal- und Sachebene zusammendachte, dabei aber vor allem auf Erreichen sachlicher Ziele aus war, zeigt sich auch in einem anderen Antwortschreiben. 1924 antwortete Severing einem erbosten Reichstagsmitglied und Sozialdemokraten. Dieser hatte sich um die Zukunft eines ihm bekannten Beamten gesorgt   17 Für die narrativen Fallstricke beziehungsweise Pfadabhängigkeiten vieler historischer Studien vgl. programmatisch: Bourdieu (1990): Illusion; oder zuletzt am Beispiel Bismarcks: Prager (2016): Lektüre. 18 Vgl. Alexander (1992): Carl Severing, S. 11ff. 19 Alexander (1992), Carl Severing, S. 126f. 20 Brief Severing an Dillenburger vom 13.6.1931, in: AdSD, N Severing/47 (4/31-10/31).

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und den Eindruck gewonnen, Severing ginge einer Antwort auf seine Anfrage aus dem Weg. Severing versuchte ihn zu besänftigen, verwies darauf, dass die Personalpolitik dem größeren politischen Ziel diene, indem er notierte: …und was die persönliche Seite für Herrn Knoll anlangt, so halte ich mich für verpflichtet darauf aufmerksam zu machen, daß der Beamtenabbau so zahlreiche Veränderungen bringt, daß ich im Augenblick eine präzise Auskunft über die nächste Zukunft des Herrn Knoll nicht geben kann. Ich muß mich vielmehr darauf beschränken, meine Versprechen von früher ganz allgemein dahin zu wiederholen, daß ich mich für Herrn Knoll persönlich interessieren werde.21

Severing verfolgte das Ziel, Beamten- und Polizeiapparat personell so zu besetzen, dass dieser bestmöglich den Interessen der Republik diente. Dabei ging er kompromisslos in der Sache, jedoch kompromissbereit in individuellen Fällen vor. Diese Mischung aus persönlichen Bündnissen und öffentlich kompromissloser Vertretung des eigenen Standpunkts scheint eine Erfolgsformel für Severing gewesen zu sein. 2. KLIENTEL UND FREUNDE: SEVERINGS BEZIEHUNGEN Carl Severing wusste, dass gute Beziehungen zu Beamten, Parteigenossen und Wählern die Umsetzung politischer Ziele erleichtern konnten. Er war durch seine Karriere in Gewerkschaft und Partei gut vernetzt. So verwundert es nicht, dass Parteigenossen, Freunde und Beamte jederzeit in verschiedenen, auch überlappenden Rollen an Severing herantraten. Nicht nur Posten und Stellen wurden bei ihm angefragt, auch Bitten um Hilfe bei der Finanzierung von Krediten, dem Abzahlen von Schulden oder anderen Projekten erreichten Severing ständig. Doch war Severings Netzwerk mehr als eine bewusst und funktional zusammengestellte Adresskartei. Es bestand vielmehr aus Beziehungen, die bisweilen emotionale, nostalgische, manchmal auch funktionalistische Hintergründe hatten, dabei von gegenseitiger Sympathie oder auch Respekt geprägt waren. Ein gutes Beispiel für diese Verbindung von funktionaler und emotionaler Ebene findet sich im Schriftwechsel zwischen Major a.D. Cochenburg und Carl Severing. Cochenburg hatte nach dem Ersten Weltkrieg als Mitarbeiter unter Severing gedient, der damals rheinischer Reichskommissar gewesen war. 1923 arbeitete er für eine Hamburger ExportFirma. In einem Schreiben an Severing aus diesem Jahr nahm er auf die gemeinsame Vergangenheit Bezug und bat Severing um Hilfe bei der Beschaffung von in Bielefeld ausgegebenem Notgeld. Severing ließ daraufhin seine Beziehungen zu einem dortigen Stadtrat spielen, um seinem ehemaligen Mitarbeiter diesen Gefallen zu tun.22 Zwei Jahre später schrieb Cochenburg wieder an Severing. Diesmal nicht als Mitarbeiter einer Firma, sondern als Privatmann, der sich für den Bau einer Kirche im Taunus einsetzte. Um diesen zu finanzieren, sollte eine Lotterie veranstaltet   21 Brief Severing an Beuermann vom 4.2.1924, in: AdSD, N Severing/213 (2/23–2/24). 22 Briefwechsel Cochenburg-Severing 10. U. 12.2.1923, AdSD N Severing/36 (4/21-8/23).  

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werden, die vom preußischen Innenminister, der, wie der Zufall es wollte, Carl Severing hieß, genehmigt werden musste. Auch hier half Severing gerne aus.23 Cochenburg war kein Einzelfall. So wurde Severing auch von alten Bekannten und Institutionen sowie Organisationen aus dem Bielefelder Umfeld angeschrieben, etwa der Stadt Bielefeld selbst, dem dortigen Metall-Arbeiter-Verband oder dem Reichsbannerverband.24 Sodann erreichten Severing Briefe von einfachen Parteimitgliedern aus Preußen, denen er als Minister bekannt war und die von ihm als prominentem Parteigenossen Hilfe erbaten. Durch seine Funktion als Minister schließlich etablierte Severing Kontakte zu Politikern der eigenen wie auch anderer Parteien. Diese meldeten sich bisweilen ebenfalls bei Severing und erbaten Hilfe bei Stellenbeschaffungen für deren Klienten. Auf all diese Beispiele wird noch genauer eingegangen. Zunächst soll es darum gehen, diese Vielzahl an Verfassern von Briefen an Severing zu kategorisieren. Die oben aufgeführten Beispiele verweisen auf die Heterogenität der Severingschen Kontakte. Sie können etwa nach Typ des Kontakts, Organisationrahmen, in dem der Kontakt hergestellt wurde, und in Hinblick auf den Zugang zu staatlichen Ressourcen unterschieden werden. So ergibt sich ein Fächer verschiedener Typen: vom einfachen Parteimitglied ohne persönlichen Bezug zu Severing hin zu Organisationen wie dem Reichsbanner, dem sich Severing eng verbunden fühlte:25

Typ des Kontakts Einfaches Parteimitglied Freund, Familienmitglied, Bekannter Gewerkschaftsbund, Reichsbanner o.ä.

Art des Kontakts in Bezug auf Ressourcenzugang Asymmetrisch Asymmetrisch Asymmetrisch

Spitzenpolitiker

Symmetrisch

Spitzenpolitiker aus eigener Partei

Symmetrisch

Grad der Zugehörigkeit zur gleichen Organisation Hoch (gleiche Partei) Niedrig (nur personaler Kontakt) Hoch (Severing oftmals Mitglied) Gering (informelle Kontaktaufnahme) Hoch

Tabelle 1: Beziehungstypen in Kontakt mit Severing

Die Heterogenität der Kontakte Severings drückte sich auch im Umgang Severings mit unterschiedlichen Typen von Anfragen dieser Kontakte aus. Im Folgenden sollen einige Beispiele – vom einfachen Parteimitglied über den Politikerkollegen bis   23 Briefwechsel Cochenburg-Severing 2. U. 4.12. 1925, AdSD N Severing/41 (9/25–2/26). 24 AdSD, N Severing/280. 25 Zum Reichsbanner zuletzt: Böhles (2016): Gleichschritt. Siehe auch seinen Beitrag und den von Sebastian Elsbach in diesem Band.

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hin zu Gewerkschaftsbitten – Einblick in die Art und Weise des Severingschen Umgangs mit Bitten und Bittstellern, Kontakten und Anfragen bieten. Es fällt zunächst auf, dass Carl Severing bei nahezu allen Anfragen, die an ihn gerichtet wurden, Zeit, Energie und Wohlwollen aufbrachte und auf eine beträchtliche Zahl der Briefe individuell antwortete.26 Dies ist insbesondere im Hinblick auf Anfragen ihm unbekannter Wähler und Parteimitglieder bemerkenswert. Severing hatte hierbei eine von seiner Privatsekretärin verwaltete, institutionalisierte Form, auf Bitten einfacher Parteimitglieder zu antworten. Er ging in einem Antwortschreiben kurz auf deren individuelle Situation ein und verwies ansonsten auf einen dem Schreiben beigefügten Scheck über 10 Mark. Zumeist schloss er sein Schreiben mit den Worten: ….das Geld stammt aus einem Herrn Minister für besondere Zwecke zur Verfügung stehenden Fonds und braucht nicht zurückerstattet zu werden.27

Das beigefügte Geld stammte aus einem etwas euphemistisch als Privatfonds bezeichneten Bestand. Über dessen Aus- und Eingänge führte seine Sekretärin penibel Buch.28 Es handelte sich dabei, soweit ersichtlich, vor allem um Severings Privatvermögen, das er zu diesem Zweck von seiner Sekretärin verwalten ließ. Ein solches „Patronagesekretariat“, wie man es überspitzt nennen könnte, ist aus den Schreibstuben frühneuzeitlicher Kardinäle und Fürsten bekannt, erwartet man aber nicht von einem modernen Politiker.29 Dabei ist dieser Umgang mit Klienten in seiner ‚Verbürokratisierung‘ ja in gewisser Weise geradezu modern. Wie im Weberianischen Idealtypus wird ein informeller, patrimonialer Vorgang über einen Bürokratisierungsprozess nachprüfbar. Es wurde Buch geführt, um Rechenschaft abzulegen. Der Clou dabei war aber, dass man nur gegenüber sich selbst, nicht gegenüber einer Öffentlichkeit, der man in diesen Dingen zu Transparenz verpflichtet wäre, nachweispflichtig blieb. Eine solche „bureaucratie de la recommandation“ findet sich im Übrigen auch bei manchen Parlamentariern der Dritten Republik in Frankreich.30 Sie verweist erneut auf die Bedeutung, die Severing personalen Beziehungen für die Umsetzung sachlicher Politik beimaß. Im konkreten Fall ging es darum, Sozialdemokraten zu helfen und ihnen damit zu zeigen, dass auch sie von der neuen Staatsform profitieren können – wenngleich vor allem Severing persönlich, nicht der Staat ihnen half. Die Geste symbolisierte jedoch, dass sozialdemokratische Politiker nach ihrer Klientel schauten und sie nicht verrieten, jetzt, wo sie an den Schalthebeln der Macht saßen und Zugriff auf öffentliche Ressourcen hatten.   26 Dies gilt im Vergleich zu anderen Fällen, etwa Konrad Adenauer oder die sächsischen Ministerpräsidenten bis 1923, die ich in meiner Dissertation untersucht habe, Köhler (Frühjahr 2017): Mikropolitik (Wallstein). 27 Brief Sekretärin Severing an Paula Lohagen vom 16.2.1925, in: AdSD, N Severing/271 (5/25– 12/25). 28 S. AdSD, N Severing. 29 Für die Schilderung eines solchen Patronagesekretariats, vgl. etwa das dritte Kapitel von Emich (2001): Bürokratie. 30 Vgl. Bour / Köhler (2014): Recommandations.

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Parteizugehörigkeit wurde damit verstärkt. Severings Handlung etablierte Abhängigkeiten zwischen Parteipolitiker und Parteimitglied, aber auch zwischen Gesinnungspolitiker und Gesinnungsgenosse, wie die beiden folgenden Beispiele zeigen. 1931 erhielt Severing Post aus Hannover. Der Arbeitslose, „in der SPD organisierte“ Willi Jankowski klagte dem „Herrn Minister des Inneren“ sein Leid. Er habe sich „in dem Glauben, feste Arbeit zu haben, verheiratet“ und eine „Küche auf Abzahlung“ erworben. Severing sei seine letzte Hoffnung auf Besserung – ob er denn nicht den noch ausstehenden Restbetrag für die Küche, 108 Mark, bezahlen könne. Bemerkenswert an diesem Schreiben ist die offenbare Zusammenhanglosigkeit. Bis auf die Tatsache der gemeinsamen Parteimitgliedschaft verbindet Severing und Jankowski offenbar nichts. Lediglich Verzweiflung und die Hoffnung auf eine sozialdemokratische Solidargemeinschaft lassen den Hannoveraner zur Feder greifen. Keine Referenz, keine gemeinsame Erfahrung scheint zu existieren, da Jankowski anbietet, dass Severing „sich ruhig über [ihn] erkundigen“ könne.31 Severings Antwort stellte sich wie oben beschrieben dar. Er ging auf das individuelle Anliegen ein – „die gewünschte Summe kann ich Ihnen daher leider nicht geben“ – und schloss mit der Bemerkung, er füge „in Rücksicht auf Ihre augenblickliche Notlage diesem Schreiben 10 Mk bei“. Die „zahlreichen“ Unterstützungsgesuche, die er erhalte, ließen kein anderes Vorgehen zu.32 Jankowski konnte sich an Severing nur aufgrund der gemeinsamen Parteimitgliedschaft wenden, denn sie gab Jankowski Anlass und Rechtfertigung überhaupt an Severing zu schreiben. Die gemeinsame Gesinnung spielte in diesem Fall kaum eine Rolle. Vielmehr war die Zugehörigkeit zur gleichen Organisation der entscheidende Faktor – denn Jankowski ließ es ja dabei bewenden, sich als Parteimitglied auszuweisen. Anders als andere Schreiber, wie etwa eine Dame namens Paula Lohagen, führte er keine sozialdemokratischen Werte, also Gesinnung, ins Feld. Frau Lohagen verwies in ihren Bittbriefen an Severing immer wieder auf ihren aktiven Einsatz für die sozialistische Idee. Sie arbeite „tüchtig in der Partei, Frauenbewegung, habe sogar schon größere Reden geschwungen“.33 Auch wenn sie Kommunistin sei – „Die Zeiten ändern sich [und] mit ihr die Menschen“ – zeichnete sie sich somit als Gesinnungsgenossin Severings, als Vertreterin sozialistischer Ideen und hatte auch damit gewissen Erfolg.34 Anders verhielt es sich mit Anfragen von Parteimitgliedern mit Funktion oder Amt. Hier wählte Severing einen anderen Zugang. Er ging auf diese Briefe sehr viel gezielter ein. Diese Kontakte pflegte er auf einer weniger institutionalisierten, individuelleren Ebene, weil sie ihm auch individuellere Vorteile bringen konnten. Eine gute Beziehung zu anderen Ministern und einflussreichen Politikern auf lokaler oder regionaler Ebene konnte ihm politisch helfen, wenn er auf deren Informationen

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Brief Jankowksi an Severing vom 8.1.1931, AdSD N Severing/275 (10/30-12/31). Brief Severing an Jankowski vom 9.1.1931, ebd. Brief Lohagen an Severing vom 8.[unleserlich].1924, AdSD N Severing/271 (5/25–7/26). Ebd.

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oder Loyalitäten in seiner Funktion als Minister angewiesen war. Sie waren Multiplikatoren, die seine Politik an der Basis durchsetzen, oder Bekanntschaften, die ihm auf dem kurzen Dienstweg helfen konnten. So erhielt er 1922 einen Brief von Gustav Stresemann, in dem der liberale Politiker ihm einen Dr. Weber für ein „Landratsamt in der Grenzmark Posen-Westpreußen“ empfahl. Severing nahm das Schreiben ernst, ließ die darin gemachten Aussagen über Dr. Weber prüfen, erhielt jedoch von seinen Mitarbeitern die Auskunft, dass gewisse Aussagen in Stresemanns Schreiben über den Werdegang Webers zweifelhaft seien. Diese Prüfung stellte den Höhepunkt einer seit März 1922 stattfindenden Beschäftigung mit der Person Webers und ihrer Bewerbung auf die Landratsstelle dar. Zuvor hatte Severing sich bereits intensiv mit der Personalfrage beschäftigt, sich dann aber entschieden, die Bewerbung an den zuständigen Personalreferenten weiterzugeben. Stresemanns Brief brachte die Sache nun erneut auf die Agenda.35 Stresemanns Rolle in diesem Verfahren ist interessant. Er sprach sich für Weber aus, ohne diesen – wie er betont – besonders innig zu kennen. Vielmehr trat er als prominenter Vertreter seiner Partei für einen Parteigenossen ein. Ähnliches lässt sich auch andernorts in Severings Briefwechseln finden. Etwa erhielt Severing 1923 Post vom ehemaligen und späteren Reichskanzler und führenden SPD-Politiker Hermann Müller. Dieser sprach sich Severing gegenüber in einem „handschriftlich! Persönlich!“ überschriebenen Brief für die Bewerbung eines Dr. Lugers aus, den er „persönlich nicht kenne“, der ihm aber „gut empfohlen“ worden sei. Severings Privatsekretärin antwortete Müller daraufhin, dass die Bewerbung noch unbeschieden im Finanzministerium liege. Handschriftliche Notizen auf diesem Brief im Nachlass Severings bestätigen dann, dass die Einstellung erfolgreich vollzogen wurde.36 In einer anderen Rolle wiederum sah sich Severing, wenn er aus den Reihen der Partei nicht um Posten, sondern um Rat gefragt wurde. Hier zeigt das Beispiel der Frankfurter Oberbürgermeisterwahl 1924 eindrücklich die Vermischung von organisatorischem und personalem Handeln – eine Vermischung von oben geschilderter sozialdemokratischer Klientelbildung wie im Fall Jankowski mit politischer Netzwerkbildung wie im Falle Müller/Stresemann. Die SPD-Fraktion in der Frankfurter Stadtverordnetenversammlung bat Severing im Zuge der Wahl um Hilfe. Sie waren auf der Suche nach geeigneten Kandidaten, die den Posten in „einer Stadt von der Bedeutung Frankfurts“ auszufüllen vermögen. Ein Sozialdemokrat kam dabei nicht in Frage, da der zweite Bürgermeister bereits der Partei angehörte. Dennoch fragte die Fraktion nach fähigen Lokalpolitikern aus der eigenen und außerhalb der Partei, um für Kandidatur und Kampfkandidatur gut aufgestellt zu sein. Severing antwortete dem Fraktionsvorsitzenden „Persönlich! Eigenhändig!“ und gab offenherzig Einschätzungen von Politikern und Beamten, die in Frage kämen.37   35 Briefwechsel Stresemann-Weber-Severing, AdSD N Severing/211 (3/22-5/22). 36 Briefwechsel Müller-Stresemann, AdSD N Severing/213 (2/23–2/24). 37 Briefwechsel Kirchner-Severing, AdSD N Severing/214 (6/24–12/24).

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Severings soziale (Kenntnisse über preußische Beamte und Bürgermeister) und kulturelle (Autorität innerhalb der Partei) Reputation nutzte ihm hier, um Beziehungen zu Frankfurter Parteigenossen zu pflegen und zu einem gewissen Grade auf einer informellen, weil vertraulichen Ebene Einfluss auf die dortige Politik zu nehmen. Im Rahmen der Parteiorganisation fand hier also ein informeller Austausch statt. Schließlich wandten sich noch Verbände, Vereine und Organisationen an Severing. Diesen war Severing entweder emotional verbunden, weil er ihnen in der Vergangenheit selbst angehört hatte, oder standen ihm politisch nah, weil sie seine Politik in der Sache unterstützten. In letztere Kategorie gehörte etwa das Reichsbanner, in erstere der Bielefelder Metallarbeiter-Verband. In beiden Fällen konnte Severing über die Organisationsstruktur wiederum auch einzelnen Individuen helfen und dabei sichergehen, dass etwaige monetäre Hilfen durch die Organisationen in seinem Sinne verteilt wurden. Die Kommunikation mit Verbänden, Vereinen und Organisationen gestaltete sich jedoch formaler. Es dominierten regelmäßige oder auf Anfrage gegebene Spenden an oder von Organisationen. So verwaltete Severing auch einen Fonds, den „Ebert-Fonds“, aus dem kleinere Summen an notleidende Menschen vergeben werden konnten. Immer wieder erreichten ihn auch Anfragen von Verbänden und Organisationen, etwa vom Sängerverbund Bielefeld, die um ständige Unterstützung baten, denen aber Severing nur einmalige Spenden zukommen ließ. Über diese einmaligen Spenden wurde dann aber Rechenschaft abgelegt, etwa wenn der Metallarbeiterverband Bielefeld Severing mitteilte, wofür die von Severing gespendeten 300 Mark eingesetzt worden waren.38 Die Summen, die Severing durch oder an Organisationen und Institutionen spendete, bewegten sich – wie die 300 Mark andeuten – in einer anderen Größenordnung als die Gelder, die er in Antwort auf Einzelanfragen versandte. Sie waren aber stets monetäre Zuwendungen, was im Kontrast zu den verschafften Stellen steht, um die es bei Kommunikationen mit anderen Politikern oft ging. So waren derartige Organisationen und Bekanntschaften Multiplikatoren, die Abhängigkeiten für Severing aufrechterhielten oder herstellten – sowohl in einer vertikalen, hierarchischen als auch horizontalen, kollegial-freundschaftlichen Dimension. 3. PATRON UND WEAK TIE: SEVERINGS POSITIONEN IM BEZIEHUNGSGEFLECHT Versucht man die Überlegungen aus der Sicht Severings zusammenzufassen, kommt man kaum umhin, mit Begrifflichkeiten aus der Patronage- und Netzwerkforschung zu arbeiten.39 So kann – jenseits der reinen Sach- oder Personalpolitik – Severings Politikstil als Gabentauschakt beschrieben werden. Er gab, also   38 AdSD N Severing/273. 39 Zu jeweiligen Überblicken über diese Disziplinen: Emich / Reinhardt / Thiessen / Wieland (2005), Stand und Perspektiven; Düring./ Eumann (2013): Historische Netzwerkforschung.  

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vermittelte oder erfüllte Gefallen, und durfte daher auf eine Gegengabe hoffen. Dieser grundlegende Akt politischen Handelns wurde vom französischen Soziologen und Anthropologen Marcel Mauss beschrieben40 und wurde als Erklärungsansatz ein wichtiger Bestandteil der Patronageforschung.41 Gabentauschakte lassen sich als Hintergrund all der geschilderten informellen politischen Handlungen begreifen. Wichtig dabei ist, dass das Prinzip von Gabe und dem stillschweigenden Gebot der Gegengabe eine soziale Grundkonfiguration darstellt, die anders als eine Transaktion kein quid pro quo, kein Zeitfenster und keine fest definierte Menge an Ressourcen im Zentrum einer Transaktion kennt, sondern eben nur das Wissen beinhaltet, dass eine Gabe zu einer Gegengabe verpflichtet. Ähnlich wie im Film „Der Pate“ Gefallen Gegengefallen implizieren und dadurch Abhängigkeiten schaffen, etabliert auch die Gabe eine soziale Beziehung mit Abhängigkeitscharakter. Freilich muss sich ein solches Abhängigkeitsverhältnis nicht über asymmetrische Ressourcenzugänge definieren. Auch zwei gleichrangige Politiker etwa können eine Beziehung über Gabentausch etablieren. Solche Bitten um Gaben wurden von Severing in der einen oder anderen Form erfüllt. Im informellen Rahmen, in dem dies geschah, gab es nur die Etablierung einer Beziehung durch die Gabe, kein institutionalisiertes do ut des. Jankowski mag nicht in den höchsten Tönen von Severing geschwärmt haben, als dieser ihm 10 Mark zukommen ließ, statt die ganze Küche zu bezahlen, doch wird er wohlwollend auf die Geste geblickt und den Eindruck gewonnen haben, dass er nun Severing und vielleicht auch der Partei, für die Severing stand, einen Gefallen schulde. Gleiche Abhängigkeiten entstanden bei der Stellenvermittlung als Gefallen für Kollegen wie Müller oder Großspenden an Organisationen wie den Metallarbeiterverbund. Diese Abhängigkeiten und Beziehungen unterschieden sich in ihrer Ausrichtung. Für die einen war Severing Patron42, für die anderen eine – um einen Begriff aus der Netzwerkforschung aufzugreifen – weak tie.43 Als Patron bestand gegenüber den Klienten – etwa Jankowski – ein hierarchisches Verhältnis.44 Gabe und Gegengabe konnten demnach nicht identisch sein. Der monetären Gabe stand vielmehr Loyalität der gemeinsamen Partei, der gemeinsamen Ideologie gegenüber. Jankowski war in diesem Sinne ein Klient des ressourcenverteilenden Politikers. Anders verhielt es sich bei Stresemann und Müller. Beide waren theoretisch in der Lage, Severings Gefallen mit einem identischen Gegengefallen zu beantworten. Sie standen auf der gleichen hierarchischen Ebene und versprachen sich einen direkteren Gewinn von ihrem informellen Verhalten. Die Rolle, die Severing, aber auch Müller oder Stresemann in diesen Situationen einnahmen, war einerseits die eines brokers zwischen Bittsteller und Stellenvergeber, andererseits die einer weak tie, also einer Verbindung, die unterschiedliche   40 Mauss (2009): Die Gabe. 41 Reinhard (2011): Die Nase der Kleopatra; Kettering (1988), Gift-Giving. 42 Zu den Begrifflichkeiten in funktionalistischer Ausprägung noch immer: Kettering (1986): Patrons, brokers, and clients. 43 Granovetter (1973): Weak Ties, Granovetter (1983): Weak-Ties Revisited. 44 Vgl. auch Eisenstadt / Roniger (1980): Patron-Client Relations.

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Gruppierungen miteinander verband – im Falle Stresemann-Severing also etwa nationalliberale und sozialdemokratische Partei. Severing war zum einen Patron, Zentrum eines auf ihn gerichteten Klientelnetzwerkes, dem er Ressourcen verschaffte und dafür politische Loyalität bekam; außerdem war er als weak tie Bindeglied zwischen unterschiedlichen Gruppierungen, die er durch gleichberechtigten Gabentausch miteinander in Beziehung setzen konnte; und schließlich fungierte er als broker, der seinen Klienten auch Zugang zu anderen Gruppierungen über seine Funktion als weak tie ermöglichen konnte. Das Überlappen von netzwerktheoretischen und patronagegeschichtlichen Begrifflichkeiten, also von weak tie und broker, ist nicht zufällig gewählt. Sie verweisen auf eine besondere Eigenschaft von Severings Politikstil in einer Übergangsphase der Moderne. Entgegen der Annahme modernisierungstheoretischer oder die Rolle von Interessenverbänden und Organisationen in den Mittelpunkt ihrer Darstellung setzender Studien, verschwindet das personale Element in einem hochinstitutionalisierten und von moderner Bürokratie durchdrungenen Umfeld wie der Weimarer Republik nicht. Personale Kontakte hatten für Severing weiterhin einen Platz und Wert. Sie stützten seine Position und ermöglichten ihm, Republikwerbung zu betreiben und – wie die Literatur rund um das „System Severing“ herausgearbeitet hat – republikfreundliche Beamte zu rekrutieren.45 Informelle, personale Kontakte dieser Art stellten eine einfache, weil regelarme, wenngleich auch nicht regellose Art der politischen Durchsetzungskraft und Personalpolitik dar. Sie ergänzten Severings formale Politik. Sie ersetzten sie nicht und sie machten sie auch keinesfalls zur Makulatur oder zum „Schaugeschäft“, wie ein Blick auf vormoderne Patronagepolitik nahelegen könnte, deren Regelwerk in den 1920er Jahren nicht mehr dominante Spielart der Politik war.46 Informelle Politik hatte für Severing mit seiner buchhalterischen Verwaltung über Spenden eine reale Rolle und Funktion. Anders als einige „Meistererzählungen“ der Moderne nahelegen, verschwand das personelle Element nicht in der Bürokratie, es verwuchs vielmehr mit ihr und stellte sich neben sie. Dies zeigt sich am Beispiel Carl Severings besonders deutlich. 4. PATRON UND PARTEIGENOSSE: SKIZZE EINER MODERNEN MIKROPOLITIK Der Blick auf Carl Severing als Patron und Parteigenosse, nicht primär als Amtsund Mandatsträger, ergänzt somit das Bild seiner Politik in der Weimarer Republik um eine informelle Facette. Severing trat als informeller Patron mit einem selbst festgelegten Regelwerk auf. Er nutzte persönliche Beziehungen und persönlich an   45 Ehni (1975): Bollwerk Preußen. 46 Vgl. für eine Schilderung derartiger Ansichten bei gleichzeitiger Betonung der Bedeutung derartiger Politikformen auch für die Gegenwart: Kettering (1998): Development und Grüne (2010): Ansätze.  

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ihn gerichtete Anfragen, um damit Zustimmung für seine und für sozialdemokratische Politik zu kreieren. Dabei mischten sich persönliche Beziehungen und Anfragen, die Severing aufgrund seines Amts und Mandats bekam, mit solchen, die aus seiner persönlichen Biographie resultierten. Eine Geschichte dieser personalen Beziehungen ist also auch immer eine Geschichte sowohl des politischen Amts als auch der Person, die es ausfüllt. Als solches verstanden es auch die Zeitgenossen. Eine informelle Anfrage war ein Hybrid47, der eine persönliche Kontaktaufnahme mit der Bitte um eine öffentliche Ressource (Geld, Anerkennung, Stelle, …) verband. Die Analyse dieses Hybrides hilft, Zustimmung zu Politik zu erklären, beleuchtet Entscheidungsprozesse aus dem Blickwinkel der Hinterzimmer und löst eine artifizielle, idealtypische Trennung zwischen Privatperson und öffentlichem Amt beziehungsweise Mandat in einer Form auf, die eine Überlappung nicht als per se illegitim erscheinen lässt. Erfahrungen und Erwartungen der Akteure werden vielmehr Teil des politischen Prozesses, gerade auch in der Dimension daraus resultierender persönlicher Kontakte und Gabentauschakte. Eine Geschichte des Lobbyings ist Teil einer solchen Betrachtung, doch soll der Fokus auf die individuelle Verflechtung der Akteure die Beschreibung der Rolle von personalen Verflechtungen bei politischen Prozessen auf einer viel basaleren, weniger funktionalen, wertfreien Ebene ermöglichen. Ein talentierter Politiker wie Carl Severing nutzte Personalpolitik und personale Politik, weil er wusste, dass dadurch seine sachlichen Ziele besser durchsetzbar waren. Er begriff sowohl die SPD-Parteiorganisation als auch sein Ministerium, die Polizei und andere Institutionen als von Menschen bevölkert und aus Interessen, Wünschen und Motiven verschiedener Individuen zusammengesetzt. Politische Ziele konnte man vielleicht auch gegen diese Gemengelage erreichen. Wusste man sie auf seiner Seite, erleichterte das allerdings die Entscheidungsfindung und erweiterte den Handlungsspielraum. In diesem Sinne war ein personaler Politikstil eben kein reines Relikt vormoderner Praktiken. Vielmehr hatten sich personale Kontakte mit dem modernen Parteien- und Bürokratiewesen verwoben und gleichzeitig als eine Art Parallelstruktur neben diesem eine neue Rolle gefunden. Sie ermöglichten den informellen Zugang zu Ressourcen. Als solche sind sie als Mikropolitik ein modernes Phänomen.48 Als solche verstand sie auch Severing und setzte sie ein. Mikropolitik in diesem Sinne bezeichnet informell-personale Praktiken in modernen Gesellschaften und deren Bedeutung bei der Allokation von (staatlichen) Ressourcen. Ein solcher Mikropolitikbegriff lehnt sich sowohl an die Organisationssoziologie wie auch an Konzepte Wolfgang Reinhards an.49 Letzterer verweist auf die Eingebundenheit der Akteure in soziale Netzwerke. Im Falle Severings ist die enge Verzahnung von informeller und organisatorischer Ebene bemerkenswert.   47 Zum Konzept des Hybriden als Überwindung klassischer Trennlinien moderner Analyse (hier konkret: Natur-Kultur): Latour (2008): Modern gewesen, S. 19‒21. 48 Die hier zu beobachtende Formalisierung des Informellen an sich ist jedoch auch für die Frühe Neuzeit zu beobachten, vgl. Emich (2011): Formalisierung. 49 Zuletzt: Reinhard (2011): Die Nase der Kleopatra.  

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Organisation (etwa Partei) und Gesinnung (etwa Sozialdemokratie) sind Kategorien dieser informellen Politik, die in sich einen modernen Kern tragen. Ihre Bedeutung für Mikropolitik lässt sich vor der Sattelzeit in dieser Dimension nicht nachweisen.50 Der Befund legt nahe, dass – wie bereits oben erläutert – personale Verflechtungen und deren Rolle bei Ressourcenvergaben weder zu überwindende Überbleibsel der Vormoderne noch das seit Menschengedenken immer gleiche Spiel sind. Sie existieren auch in der Moderne der 1920er Jahre – versinnbildlicht in der erfolgreichen Politik, die Carl Severing auch mit ihrer Hilfe praktizieren konnte – doch sie passen sich dabei ihren Umgebungen, sozialen Formen und Legitimationsmöglichkeiten an. Als Legitimation dient Severing dabei die Verteidigung der Republik und die Teilhabe sozialdemokratischer Wählerschichten an den Ressourcen dieses Staates. In diesem Sinne entwickelte er persönliche Kontakte, Bekanntschaften und Abhängigkeiten, mit deren Hilfe er zielgerichtet seine politischen Ziele zu verfolgen vermochte. Er war Patron, Parteigenosse und Politiker zugleich – und das stellte eben keinen Widerspruch dar. QUELLEN Archiv der Sozialen Demokratie Deutschlands (AdSD), Nachlass Severing.

LITERATUR Alexander, Thomas: Carl Severing. Sozialdemokrat aus Westfalen mit preußischen Tugenden, Bielefeld 1992. Asch, Ronald G. / Emich, Birgit / Engels, Jens Ivo: Einleitung. In: Asch, Ronald G. / Emich, Birgit / Engels, Jens Ivo (Hrsg): Integration – Legitimation – Korruption. Politische Patronage in Früher Neuzeit und Moderne, Frankfurt am Main 2011, S. 7‒30. Behrend, Hans-Karl: Zur Personalpolitik des Preußischen Ministeriums des Innern. Die Besetzung der Landratstellen in den östlichen Provinzen 1919‒1933. In: Jahrbuch für die Geschichte Mittel- und Ostdeutschlands 6 (1957), S. 173‒214. Bernsee, Robert: Corruption in German Political Discourse between 1780 and 1820: A Categorisation. In: Journal of Modern European History 11 (2013), S. 52‒71. Böhles, Marcel: Im Gleichschritt für die Republik. Das Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold im Südwesten. 1924 bis 1933, Essen 2016. Bour, Julie / Volker Köhler : Recommandations et clientélisme en miroir: la France de la IIIe République et l'Allemagne de la république de Weimar, in: Monier, Frédéric / Dard, Olivier / Engels, Jens Ivo (Hrsg): Patronage et corruption politiques dans l'Europe contemporaine (= Les coulisses du politique à l'époque contemporaine XIXe-XXe siècles, 2), Paris 2014, S. 185‒201. Bourdieu, Pierre: Die biographische Illusion, in: BIOS 3(1990), S. 75‒81. Brüggemeier, Michael / Felsch, Anke: Mikropolitik. In: Die Betriebswirtschaft 52 (1992), S. 133‒ 136. Düring, Marten / Eumann, Ulrich, Historische Netzwerkforschung. Ein neuer Ansatz in den Geschichtswissenschaften. In: Geschichte und Gesellschaft 39 (2013), S. 369‒390.

  50 Vgl. Bernsee (2013): Corruption.

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mokratie und Emanzipation zwischen Saale und Elbe. Beiträge zur Geschichte der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung bis 1933 (= Veröffentlichungen des Instituts zur Erforschung der Europäischen Arbeiterbewegung. Schriftenreihe A, Darstellungen, Bd. 4), Essen 1993, S. 212‒ 225. Runge, Wolfgang: Politik und Beamtentum im Parteienstaat. Die Demokratisierung der politischen Beamten in Preußen zwischen 1918 und 1933 (= Schriftenreihe des Arbeitskreises für moderne Sozialgeschichte, 5), Stuttgart 1965. Schulze, Hagen: Otto Braun. Oder: Preußens demokratische Sendung, Frankfurt am Main, Berlin, Wien 1977. Severing, Carl: Mein Lebensweg. Vom Schlosser zum Minister (Bd. 1), Köln 1950. Winkler, Heinrich August: Arbeiter und Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik 1918 bis 1924. Von der Revolution zur Stabilisierung, Berlin, Bonn 1984.

RUDOLF OLDEN Journalist und Pazifist Sebastian Schäfer 1. OLDEN – EIN (FAST) UNBEKANNTER Einem breiteren wissenschaftlichen Fachpublikum dürfte Rudolf Olden (1885– 1940) bisher gänzlich unbekannt sein. Dabei vertrat er als Rechtsanwalt u.a. Carl von Ossietzky während des Weltbühne-Prozesses 1931. Nach Ende des Ersten Weltkrieges in Wien lebend, kehrte er 1926 nach Berlin zurück und wurde im „Berliner Tageblatt“ der führende politische Leitartikler. In seinen Artikeln engagierte sich Olden gegen den Nationalismus und für Demokratie und Menschenrechte. Unter einem ideengeschichtlichen Erkenntnisinteresse wird das Rollenbild des Pazifisten beleuchtet, seine Vorstellungen einer friedlichen Gesellschaft anhand innenund außenpolitischer Diskurse der Weimarer Republik nachgezeichnet, nach Einflüssen bzw. Prägungen gefragt und die Repräsentativität seiner Positionen zwischen 1918 und 1933 geprüft. Historische Friedensforschung und Intellektuellengeschichte verknüpfen sich in einer Intellektuellenbiographie. Bisherige Forschungen zu Olden sind vorrangig geprägt durch biographische Abrisse und Skizzen1, Darstellungen aus dem privaten Umfeld2 sowie Veröffentlichungen zur englischen Exilzeit.3 Diese umfangreichen Publikationen analysieren sein Leben und Wirken in Großbritannien zwischen 1933 und 1940; zusätzlich wurden einige Exilschriften und Privatkorrespondenzen4 aus dieser Zeit neu herausgegeben. Das Deutsche Exilarchiv widmete ihm unter dem Titel „Rudolf Olden: Journalist gegen Hitler – Anwalt der Republik“ im Jahr 2010 eine Ausstellung. Die Forschung untersucht jeweils verschiedene Rollenbilder, die dem historischen Subjekt, unabhängig vom konkreten zeithistorischen Kontext, zugeschrieben werden können. Als Journalist tritt uns Olden zeitgleich als Schriftsteller und Literat entgegen, der bereits vor dem Ersten Weltkrieg mit der Novelle „Hildegard von F.“ und der Komödie „Die Rückkehr nach Amerika“ erste literarische Gehversuche unternahm;   1 2 3 4  

Vgl. Greuner (1969): Gegenspieler; Vgl. Wehrmann (1984): Erinnerung; Vgl. Finetti (1990): Niemand hört zu; Vgl. Brinson/Malet (1994): In tiefem Dunkel; Vgl. Müller (1999): Olden; Vgl. Balke (2010): Der Mann; Vgl. Asmus / Eckert (2010): Eine Biographie. Vgl. Seidel (2007): The Story; Vgl. Sufott (2010): My parents. Vgl. Brinson / Malet (1995): German Exiles. Vgl. Brinson / Malet (1987): Briefe; Dies. (1990): Rettet Ossietzky!; Dies. (1994): In tiefem Dunkel.

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1924 thematisierte er beispielsweise als Herausgeber gemeinsam mit Hugo Bettauer in der Zeitschrift „Er und Sie. Wochenschrift für Lebenskultur und Erotik“ Fragen von Homosexualität, sexueller Gleichberechtigung oder Abtreibung.5 Die Forschungsliteratur zeigt zugleich ein Interesse an dem Juristen Olden.6 Auch die Rolle des Journalisten Olden steht im Mittelpunkt7, so z.B. in den grundlegenden Studien zum „Berliner Tageblatt“ sowie dem „Pariser Tageblatt“.8 Arbeiten, die die politischen Implikationen und ideengeschichtlichen Grundlagen seiner Beiträge analysieren und die unterschiedlichen Rollenbilder zu einem kohärenten Ganzen zusammenführen, fehlen bisher. 2. OLDEN UND DER WELTKRIEG In Deutschland blieben die Ereignisse des Ersten Weltkrieges lange Zeit, zumal unter dem Eindruck der Geschehnisse ab 1933, verdrängt bzw. durch die Schrecken des Holocaust überzeichnet. Sie schienen in der Betrachtung nur mit Blick auf den Aufstieg des Nationalsozialismus relevant und wurden in diesem Kontext rezipiert. In England und Frankreich dagegen erhielt der Krieg als ‚The Great War‘ bzw. ‚La Grande Guerre‘ stets eine unübersehbare gesellschaftliche Präsenz. Schon zum neunzigsten Jahrestag 2004 erreichte die Forschung in der Konfrontation und Auseinandersetzung mit dem Ersten Weltkrieg einen Höhepunkt, der sich 2014, zur hundertjährigen Wiederkehr des Kriegsausbruches, intensivierte. Ende Juli 1914 hält sich der 29jährige Olden als Rechtsreferendar in Frankfurt am Main auf. Über die politische Situation schrieb er am 29. Juli: „Hier glaubt man allgemein an Krieg und hält den Zeitpunkt für sehr günstig für Deutschland.“ Eines stand für ihn fest: „Wenn Deutschland Krieg bekommt, so denke ich mich doch freiwillig zu stellen, sonst muss ich noch als Landsturm Eisenbahnlinien bewachen, was mir keine sehr würdige Beschäftigung zu sein scheint.“9 Diese Vorstellung wurde in nur wenigen Tagen zur endgültigen Gewissheit, als er am 3. August, nicht ganz ohne Stolz, über seinen freiwilligen Eintritt in das Dragonerregiment Nr. 24 berichtete. Er sei „voller guter Zuversicht, so gefährlich die Situation auch sei.“10 In Darmstadt würde er fortan „mindestens 2 Monate ausgebildet, ehe (er) nachrücken kann, also ist vorläufig gar keine Gefahr“, zumal der Krieg „sehr unwahrscheinlich“11 länger als ein Jahr andauern werde. Die ersten Wochen in der Garni  5 6

Vgl. Hall (1978): Fall Bettauer. Vgl. Blanke (1988): Streitbare Juristen; Vgl. Krohn (1991): Deutsche Jusitz; Vgl. Müller (2010): Jurist. 7 Vgl. Finetti (1990): Niemand hört zu; Vgl. Finetti (2010): Vergessene Kern. 8 Vgl. Schwarz (1968): Wolff; Vgl. Sösemann (1976): Das Ende; Vgl. Peterson (1987): Liberal Press. 9 Brief R.O. an Rosa Olden, 29.07.1914. In: Dt. Exilarchiv, Sign.: EB 79 / 20. 10 Brief R.O. an Hedwig Liechtenstein, 03.08.1914. In: Dt. Exilarchiv, Sign.: EB 79 / 20. 11 Vgl. ebd.  

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son beeindruckten ihn zunächst stark. Er schwärmt von einem „imponierenden militärischen Prinzip“, den gebildeten adligen Kameraden in seiner Einheit, die unter dem „Druck der Zeiten ungeheuer viel aus dem Menschen“ herausholten und einer „gewissen Überlegenheit“ gegenüber den Franzosen. Das Feldgrau des deutschen Landsers und seine „fabelhafte Ordnung“ sei damit zwangsläufig dem französischen Söldner in seinen „roten Hosen und blauen mantelartigen Röcken“ überlegen.12 Mag man anfänglich von großer Euphorie und Kriegsbegeisterung in seinen Briefen nichts verspüren, so schien die Intensität dieser Gefühle im Laufe des Septembers 1914 zu steigen. Zumindest bringt er im Angesicht der ersten militärischen Erfolge im Westen die Empfindung zum Ausdruck, wahrscheinlich schon zu spät zu kommen. Hoffen kann man nur, dass es noch etwa vier Wochen dauern wird. Auf mehr rechne ich jedenfalls nicht mehr. Aber wenn der Krieg nach Westen in dem nächsten Monat so weiter geht, wie im vergangenen, so wird man sich eine Pelzmütze anschaffen müsse, um nach Osten zu reiten, denn wir sind nicht zufrieden, wenn wir zum Nachtmahl nicht unseren Sieg haben. Es ist hinreisend und überwältigend wie unsere Armeen vorgehen. Und wenn die militärischen Fähigkeiten ein absolutes Kriterium für eine Nation bedeuten, so sind wir die überwältigendste der Welt.13

Die Unzufriedenheit Oldens über die Länge seiner Ausbildung wächst, wenngleich mit Blick auf die Dauer des Krieges seine Einschätzungen durchaus variieren. „Was uns stört ist, dass wir noch nicht herauskommen, während von anderen Regimentern schon Freiwillige ausgerückt sind, aber wir werden schon dran kommen, denn der Krieg ist gewiss nicht so rasch zu Ende, wie manche Leute geglaubt haben.“14 Ursächlich für diese Wandlung mag wohl das Scheitern des deutschen Heeres an der Marne gewesen sein. Die Sehnsucht nach dem ersten Fronteinsatz blieb ungebrochen. Ich muss schon sagen, dass es mir hohle Zeit scheint, denn der Garnisonsdienst fängt an mir langweilig zu werden. Und zum Langweilen ist der Krieg doch nicht da. Wir sehnen uns alle danach, nicht mehr leere Zuschauer bei der großen Welttragödie zu sein. Hier muss man mitgespielt haben.15

Weiter heißt es: Vorläufig bin ich begierig auf all das Neue, was es zu erleben geben wird. Ich hoffe, dass dies der einzige Krieg in meinem Leben sein wird. Aber den will ich bestimmt nicht auslassen. Und ich will die Grundlagen kennen lernen, die Grundlagen zu dem Deutschland nach dem Krieg, von dem ich mir wünsche, dass es in mancher Beziehung anders aussehen möchte, wie vorher.16

  12 13 14 15 16  

Brief R.O. an Ilse Seilern, 25.08.1914. In: Dt. Exilarchiv, Sign.: EB 79 / 20. Brief R.O. an Ilse Seilern, 04.09.1914. In: Dt. Exilarchiv, Sign.: EB 79 / 20. Brief R.O. an Hedwig Liechtenstein, 13.09.1914. In: Dt. Exilarchiv, Sign.: EB 79 / 20. Brief R.O. an Ilse Seilern, 30.10.1914. In: Dt. Exilarchiv, Sign.: EB 79 / 20. Brief R.O. an Ilse Seilern, 02.11.1914. In: Dt. Exilarchiv, Sign.: EB 79 / 20.

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Olden verknüpft seine persönlichen Erwartungen mit dem Wunsch auf einen politischen wie gesellschaftlichen Neuanfang, zu dem dieser Krieg die Voraussetzungen schaffen werde. Kurz bevor er endlich die Gelegenheiten erhalten sollte, seinen brieflichen Tatendrang im Felde zu beweisen, verletze er sich am Bein, was ihm zunächst einen kurzen Aufenthalt im Reservelazarett bescherte und seinen Fronteinsatz weiter verzögerte.17 Erst Ende Dezember 1914 kam er dem Krieg etwas näher, als er nach seiner Genesung zu seiner Einheit an die Westfront zurückkehrte und in der belgischen Provinz Limburg ersten Garnisonsdienst leistete. Auf einem Truppenübungsplatz sollte Olden, ohne in die Kampfhandlungen im Westen involviert zu sein, die nächsten Monate das Dasein eines deutschen Besatzungssoldaten fristen, immer hoffend, bald an der Schlacht teilnehmen zu dürfen. „Ich bin es sehr zufrieden so und bin nur begierig, noch mehr davon zu erleben als bisher, denn so allein wird man später sagen können, dass man dabei war.“18 In seiner ‚Verzweiflung richtete er im Februar 1915 sogar die dringliche Bitte an seine Mutter, sie möge ihm über ihre Kontakte in Wiesbaden einen Posten an der Front verschaffen: Das ist ein trauriges Kapitel – den Krieg nicht mitzumachen als ‚Kriegsfreiwilliger‘ ist recht traurig. Schaut Euch doch einmal um in Wiesbaden, ihr trefft doch sicher eine Menge höherer Kavallerieoffiziere, ob sich nicht irgendwo für mich ein Posten bei der Kavallerie oder als Meldereiter an der Front findet.19

Erst Ende März/Anfang April 1915 rückte der erste Kampfeinsatz näher, allerdings an der Ostfront. In den Briefen aus dieser Zeit wurden die Ereignisse stolz präsentiert. Es sei ein „großes und geniales Unternehmen“ gewesen, was in ihm nur die „wundervollsten Gefühle“ hervorgerufen habe. Zusammengedrängt auf wenig Wochen, Patrouillen, Vorpostengeplänkel, Angriffe, Verfolgung, dann Rückzugsgefechte, Bahnsprengungen, Schützengrabendienst. Dabei die ganze Zeit von aller Welt abgeschnitten.“

Er könne mit Genugtuung sagen, dass ich immer mit Freude und immer mit einem vergnügten Gesicht dabei war. Wie überhaupt die vielgeschmähten Kriegsfreiwilligen nach meiner Ansicht das Beste von allen Mannschaften geleistet haben.20

Die letzten Wochen seien die „interessantesten“ seines bisherigen Lebens, da er „bis zum Schluss nicht nur dabei, sondern vorne dran“ gewesen sei. Seiner in Belgien beantragten Versetzung wurde Ende Mai 1915 stattgegeben.21 Die Begeisterung, die der erste Kampfeinsatz bei ihm auslöste, schien sich zunächst im neuen   17 18 19 20 21  

Vgl. Brief R.O. an Rosa Olden, 20.11. und 30.11.1914. In: Dt. Exilarchiv. Sign.: EB 79 / 20. Brief R.O. an Rosa Olden, 05.01.1915. In: Dt. Exilarchiv, Sign.: EB 79 / 20. Brief R.O. an Rosa Olden, 08.02.1915. In: Dt. Exilarchiv, Sign.: EB 79 / 20. Brief R.O. an Hedwig Liechtenstein, 18.05.1915. In: Dt. Exilarchiv, Sign.: EB 79 / 20. Vgl. Brief R.O. an Rosa Olden, 15.04.1915. In: Dt. Exilarchiv, Sign.: EB 79 / 20.

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Regiment zu verstetigen. „Ich habe schon wieder Verlangen in die Front zu kommen.“22 Auf ein rasches Kriegsende, zumindest an der Ostfront, projizierte Olden aber seine Hoffnungen nicht, und so sehr er doch seine ‚heldenhaften‘ soldatischen Leistungen zu schildern suchte, wurde ihm der Krieg zunehmend „lästig“.23 Mit der Veränderung seiner persönlichen Situation durch den Regimentswechsel richtete sich erstmals sein Blick wieder auf die (politische) Lage in Deutschland. „Ich fürchte, man wird eine Reihe von Jahren nur von diesem Krieg sprechen, der doch auf die Dauer etwas eintönig ist und schon jetzt eine Flut empörend flacher Literatur gezeigt hat.“24 Auf welche Titel er dabei anspielt, bleibt jedoch im Unklaren. Seine grundsätzliche Haltung gegenüber dem Krieg wurde kritischer. „Was man vom Kriege erwartete, war doch mehr eine kurze Sensation, aber nicht dieser Dauerzustand, der einen bald zum Zigeuner und Landsknecht machen könnte.“25 Zunehmend selbstkritisch reflektierte er Ende Juli 1915 die Mär vom schnellen Krieg, der er, wie so viele seiner Zeitgenossen, in den rauschhaften Augusttagen des Jahres 1914 unterlag: „Ich hätte eben nicht gedacht, dass der Krieg ein Jahr und länger dauern wird. Aber wer hätte das gedacht! Man wird wohl Rücksicht auf die kriegerischen Umstände nehmen.“26 Die aufkeimende Langeweile und Unzufriedenheit – Olden schrieb in diesem Zusammenhang mehrfach von einem „Urlaub auf Staatskosten“27 – fand jedoch bald ein Ende. Ab dem 8. August 1915 war er wieder in Kampfhandlungen verwickelt. An seine Mutter schrieb er: „Ich bin zur Zeit damit beschäftigt, Kowno zu erobern, was wohl nicht mehr lange auf sich warten lassen wird. Neulich hatten wir einmal eine sehr ungemütliche Nacht. Aber jetzt geht es anscheinend gut.“28 In diesen Tage erreichte ihn ein Brief seiner Tante, die darin seiner Aufforderung nachkam, ihm einmal „ein Bild des jetzigen Lebens in Deutschland“ zu zeichnen. Ernüchtert stellte er in seiner Antwort fest: „Ich habe jetzt wieder das Gefühl davon, wie drückend und langweilig es dort ist, was ich schon wieder vergessen hatte.“ An dieser Stelle mögen ihn erste und ernste Zweifel überfallen haben, ob der Krieg tatsächlich die Grundlagen für ein neues Deutschland schaffen könne, wie er zu Beginn innig hoffte. „Man macht sich, wenn man so lange draussen ist, so viel Illusionen.“29 Anfang September 1915 war schließlich jede Begeisterung verflogen. „Die Politik ist

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Brief R.O. an Rosa Olden, 26.05.1915. In: Dt. Exilarchiv, Sign.: EB 79 / 20. Vgl. Brief R.O. an Rosa Olden, 09.06.1915. In: Dt. Exilarchiv, Sign.: EB 79 / 20. Brief R.O. an Ilse Seilern,16.07.1915. In: Dt. Exilarchiv, Sign.: EB 79 / 20. Brief R.O. an Rosa Olden,16.07.1915. In: Dt. Exilarchiv, Sign.: EB 79 / 20. Brief R.O. an Rosa Olden, 23.07.1915. In: Dt. Exilarchiv, Sign.: EB 79 / 20. Brief R.O. an Ilse Seilern, 30.05.1915; Brief R.O. an Rosa Olden, 21.06.1915. In: Dt. Exilarchiv, Sign.: EB 79 / 20. 28 Brief R.O. an Rosa Olden, 12.08.1915. In: Dt. Exilarchiv, Sign.: EB 79 / 20. 29 Brief R.O. an Hedwig Liechtenstein, 21.08.1915. In: Dt. Exilarchiv, Sign.: EB 79 / 20.  

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langweilig und der Krieg bietet auch nichts Neuartiges mehr.“30 Es wurde ihm endgültig bewusst, dass der Krieg „schon mehr als eine dauernde Einrichtung“31 geworden war. Das Jahr 1915 endete mit ernsten Zweifeln, ob der Krieg tatsächlich Katalysator einer neuen politischen wie gesellschaftlichen Ordnung sein könne. Ende Mai 1916 ist die Frustration über den Krieg und seine Hoffnungen, die er auf ihn gesetzt hatte, offenkundig. „Alles grau und hässlich und ich ganz enttäuscht und ohne Hoffnung und niedergeschmettert.“32 Anders als bei Walter Flex, der „die Vorstellung von der Regeneration des eigenen Volkes im Krieg mit der Idee einer moralischen Gesundung im Erleben unangetasteter Natur verband,“33 betonte Olden hier aus persönlichem Erleben seine Abscheu gegenüber jener Romantik. Vom bewegten Jahr 1917 erfahren wir aus den Briefen Oldens nur sehr wenig. Politische wie militärische Beurteilungen lassen sich in der Korrespondenz kaum finden. „Aber ich halte es für sehr leicht möglich, dass es im Herbst 1917 oder im folgenden Winter mit dem Krieg aus ist.“34 Als die USA Anfang Februar die diplomatischen Beziehungen zum Deutschen Reich abbrachen, war dies für ihn „persönlich ein harter Schlag. Aber ich glaube trotzdem nicht, dass man dort seine politischen Ansichten geändert hat.“35 Womöglich wollte er damit seine Zweifel über einen möglichen Kriegseintritt der Vereinigten Staaten zum Ausdruck bringen. Eine unmittelbare Reaktion auf den Anfang April erfolgten Eintritt der USA in den Krieg ließ sich nicht finden. Erst Ende Mai formulierte er folgende „Erwartung“ hinsichtlich des Kriegsverlaufes: „Friede nicht vor Herbst-Winter 1918.“36 Innerhalb weniger Monate ließ Olden offenbar jede Hoffnung auf ein rasches Kriegsende fahren. Was ihn dazu bewog, bleibt offen. Mit Beginn des letzten Kriegsjahres war sein aktiver Kampfeinsatz endgültig beendet. Bis Ende Februar 1918 weilte Olden aufgrund seines gesundheitlichen Zustandes im niederösterreichischen Kurort Semmering, von dem aus er zunächst als Adjutant ins hessische Bad Nauheim versetzt wurde. „Mein Dienst ist hier nur Bureaudienst bei einem anscheinend sehr freundlichen Oberstleutnant a.D.“37 Wie von der militärischen Führung erhofft, brachten die Erfolge im Osten, an deren Ende der Friedensschluss von Brest-Litwosk Anfang März 1918 stand, die Möglichkeit, eine siegreiche Entscheidung im Westen zu erzwingen. Die ‚Operation Michael‘ begann am 21. März mit einem mehrstündigen deutschen Artilleriebeschuss. Von der aufkeimenden Euphorie durch rasche Geländegewinne blieb Olden unbeeindruckt.   30 31 32 33 34 35 36 37  

Brief R.O. an Rosa Olden, 01.09.1915. In: Dt. Exilarchiv, Sign.: EB 79 / 20. Brief R.O. an Rosa Olden, 01.10.1915. In: Dt. Exilarchiv, Sign.: EB 79 / 20. Brief R.O. an Ilse Seilern, 22.05.1916. In: Dt. Exilarchiv, Sign.: EB 79 / 20. Münkler (2013): Der Große Krieg, S. 352. Brief R.O. an Rosa Olden,12.01.1917. In: Dt. Exilarchiv, Sign.: EB 79 / 20. Brief R.O. an Ilse Seilern, 12.02.1917. In: Dt. Exilarchiv, Sign.: EB 79 / 20. Brief R.O. an Ilse Seilern, 22.05.1917. In: Dt. Exilarchiv, Sign.: EB 79 / 20. Brief R.O. an Rosa Olden, 25.02.1918; Vgl. Brief R.O. an Ilse Seilern, 24.02.1918. In: Dt. Exilarchiv, Sign.: EB 79 / 20.

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Die Stimmungsänderung ist leider nicht zu übersehen und ich bedaure sie sehr, lasse mich persönlich aber dadurch in keiner Weise beeinflussen. Aber ich hoffe jetzt auch auf baldigen Frieden – so Anfang 1919 schätze ich. Es ist das erste mal, finde ich, dass man überhaupt von einer Aussicht darauf sprechen kann. Aber jetzt wird doch die Entscheidung im Westen gesucht, wo sie fallen muss.38

Wie diese nun konkret auszusehen habe, bleibt ebenso offen wie seine Position nach dem Scheitern der Offensive. In den letzten Apriltagen begleitete Olden schließlich als Adjutant einen Truppentransport an die Westfront39, bis er im Mai an ein Kriegsgericht versetzt wurde.40 Bereits vier Wochen später endete seine Arbeit dort. Meine hiesige Verwendung wird wohl bald zu Ende sein – ich arbeite nur noch Stösse von Kriegsgerichtsakten auf und fahre wieder nach Nauheim. Doch gehöre ich mehr dort mir selbst und also der Welt – finde keine Befriedigung in diesen Verhältnissen, die ganz ähnlich mich schon einmal so verderblich allem Wesentlichen im Menschlichen entfremdet haben.41

Die Desillusionierung über den Krieg und seinen menschenverachtenden Charakter trat ihm im Rahmen seiner Tätigkeit beim Kriegsgericht nochmals wie in einem Brennglas vor Augen. Über die genauen Gründe seines Abschiedes aus der Militärgerichtsbarkeit erfahren wir von ihm persönlich nur wenig: „Ein kurzer Abriss meiner Erlebnisse: Draussen war nicht viel Interessantes. Man wollte mich als Auditeur behalten, aber ich bat, davon abzusehen – aus mancherlei Gründen, die ich erzählen können müsste.“42 Lediglich aus einer biographischen Skizze seines Bruders Balder Olden erfahren wir etwas mehr über die persönliche Bedeutung jener vier Wochen. Als er aus dem Stab heraus zum Kriegsgerichtsrat kommandiert wurde, erlebte er sein Damaskus. Was er in den Schützengräben, auf Patrouille und im Stab nicht erahnt hatte, wurde ihm als Richter elementar bewusst: die Grauenhaftigkeit der preußischen Armee-Maschine, die Herzlosigkeit ihrer Gesetzgebung, der Sinn jenes Krieges: nicht nur einer Klasse, sondern einer Kaste alle Macht im Staat zu geben: den Junkern. Ich weiß nicht, wie er das Recht handhabte, das in seine Hände gepresst war; Ich weiß nur das: als hochqualifizierter Offizier bekam er damals Urlaub in die Schweiz und besuchte unsere Schwester. Eine ganze Nacht saß er an ihrem Bett und weinte, ohne sprechen zu können.43

Innere Leere, Einsamkeit, Desillusionierung und Perspektivlosigkeit kennzeichnen stärker als jemals zuvor seine Gemütslage. „Ich fühle mich leer und initiativlos, stärkeren Mächten hilflos preisgegeben.“44 Die These, dass Oldens spätere pazifistische Position, die Allianz zwischen konservativen Eliten des Militärs und dem Junkertum führten zum Untergang der Weimarer Demokratie, wie er sie in seiner Hindenburg-Biographie 1935 formulieren sollte, hier ihren Ursprung hatte, mag zu  38 39 40 41 42 43 44

Brief R.O. an Rosa Olden, 22.03.1918. In: Dt. Exilarchiv, Sign.: EB 79 / 20. Vgl. Brief R.O. an Ilse Seilern, 20.04.1918. In: Dt. Exilarchiv, Sign.: EB 79 / 20. Vgl. Brief R.O. an Ilse Seilern,16.05.1918. In: Dt. Exilarchiv, Sign.: EB 79 / 20. Brief R.O. an Ilse Seilern, 20.05.1918. In: Dt. Exilarchiv, Sign.: EB 79 / 20. Brief R.O. an Ilse Seilern, 16.06.1918. In: Dt. Exilarchiv, Sign.: EB 79 / 20. Olden, B. (1943): Olden und die Junker, S. 3. Brief R.O. an Ilse Seilern, 01.08.1918. In: Dt. Exilarchiv, Sign.: EB 79 / 20.

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nächst plausibel erscheinen. Jedoch blendet es die Vorgänge der Weimarer Republik, d. h. besonders deren politische Justiz, gegen die er als Journalist und Jurist aktiv kämpfen wird, aus. Eventuell haben die Erlebnisse des Kriegsgerichts ihn für diese Problematik sensibilisiert, doch bleibt ihr Stellenwert innerhalb der weiteren Entwicklung fraglich und geht womöglich stärker auf die Zuschreibung zurück, die sein Bruder 1943 formulierte. Bezieht man seine Skizze ‚Das Gefecht von Ogurkischki‘ aus dem Jahre 1938, die zum ersten und einzigen Male einen Blick auf seine Kriegserinnerungen wirft, in die Betrachtung mit ein, so scheinen die vier Wochen des Kriegsgerichts rückblickend nicht relevant. Von den vielen kriegerischen Begebenheiten, die ich während der drei Jahre Frontdienst erlebte, die ich mit Spannung erwartet und von denen ich geglaubt hatte, sie würden mir Stoff zum Nachdenken für Jahrzehnte bieten, wenn ich sie überlebte, erinnere ich mich schon jetzt nur noch hie und da einer einzigen. Und diese ist das Gefecht von Ogurkischki.45

Mit keinem Wort geht Olden auch nur andeutungsweise auf den Mai bzw. Juni 1918 ein. Auch die Hindenburg-Biographie weist keinen Bezug auf. Aus den Erfahrungen des Kriegsgerichtes allein ein pazifistisches Erweckungserlebnis schlussfolgern zu wollen, greift letztlich zu kurz. Sucht man abschließend nach einer Bedeutung, die dem Krieg in Oldens Leben zukam, so beschrieb er rückblickend zunächst seine „Zufriedenheit, dass jetzt schon [die Ereignisse] in einem dumpfen Schwall des Unterbewußtseins verschwunden“ sind, auch wenn er sie zu Beginn „mit so viel Ungeduld erwartet“46 habe. Wie lässt sich diese Ungeduld aus heutiger Perspektive deuten? Der durch die Wiener Moderne um Arthur Schnitzler und Jakob Wassermann intellektuell wie künstlerisch tief geprägte Olden empfand den Beginn des Krieges als Katharsis, was typisch war für jene Schriftsteller und Künstler, in denen er sein Vorbild sah. Ihr Schaffen in den ersten Kriegsjahren war Ausdruck einer ungeheuren Hoffnung auf politische wie künstlerische Erneuerung, was er mit ihnen teilte. Die Ablehnung bzw. Distanz vieler Intellektueller zur Gesellschaft des Kaiserreiches mündete in die Kritik des mit ihm verbundenen Friedens. In diesem Phänomen vereinten sich die Kritik an der Vorkriegszeit, wie der Wunsch nach sozialer Integration durch den Krieg, als quasi revolutionärer Aufbruch in einen neuen gesellschaftlichen Zustand, zu dem man als Kriegsfreiwilliger seinen Beitrag leisten wollte. Was hier zum Ausdruck kam, war ein „kollektives Unbehagen an zivilisatorischen Modernisierungsprozessen, die sich in Deutschland seit der Reichsgründung rapide beschleunigt hatten.“47 Enge, Langeweile und Motivationslosigkeit der Vorkriegszeit, die jene Generation um Olden empfand, suchten sich in der allgemeinen Kriegsbegeisterung des August 1914 ein Ventil. Jenes Gefühl, was Olden 1914 zum begeisterten Kriegsfreiwilligen gemacht hatte, schilderte er in seiner Hindenburg-Biographie: „Die Verehrung der   45 Olden (1938): Gefecht von Ogurkischki, S. 25. 46 Ebd. 47 Anz (1996): Vitalismus, S. 237.  

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Vergangenheit bestand in der Verherrlichung des Kriegs. Was die jugendlichen Gemüter an romantischer Hoffnung bedurften, das bot ihnen die Aussicht auf einen neuen Krieg. Der Krieg war die große Chance, war Erlösung und Erhöhung zugleich.“48 3. REVOLUTION, REPUBLIK, MENSCHENRECHTE Für Olden schien 1918 eines unverrückbar festzustehen: Alle revolutionären Umwälzungen führten nur äußerlich zu einem Wandel. Es ist weniger von Belange, welche neuen staatlichen Strukturen die Weimarer Nationalversammlung den Deutschen künftig geben würde. Die hässliche Fratze des Militarismus werde darunter immer wieder zum Vorschein kommen. Der Schein der staatlichen Liberalisierung diene den neuen Machthabern nur im Kampf um angenehmere Friedensbedingungen. „Ist Deutschland auch von der Revolution bewegt, erregt, durchpflügt, verändert, es ist doch Deutschland.“49 Es gelang nicht, die militärische Führung entscheidend zu zähmen. Ziel des Staates müsse die Implementierung und Wahrung der Menschenrechte sein. Sie seien über alle Nationalismen erhaben und bereiteten den Boden für einen künftigen friedlichen Internationalismus. Die in der ‚déclaration des droits de l'homme‘ verfassten Grundsätze seien somit die „natürlichen Rechte des Menschen schlechthin. Das Ziel alles politischen Gemeinwesens wurde hier endgültig klargestellt, festgelegt.“ Der Sozialismus habe sich in diesem Punkt als unfähig erwiesen. Für den deutschen Sprachraum insbesondere habe er sogar den Siegeszug der Menschenrechtserklärung verzögert, woran das politische System Deutschlands nach der Republikausrufung noch kranke. „1830 und 1848 hat sie ihre Rolle gespielt und hat erst ihren Einfluß verloren, als sie von den neuen internationalen Heilsätzen des Sozialismus abgelöst wurde.“50 Dass der Mensch im Allgemeinen frei und gleich an unveräußerlichen Rechten geboren sei, definiere die Handlungsmaxime des Staates. Diese Rechte zu schützen und zu erhalten bildete für den jungen Kriegsheimkehrer die oberste Maxime jeder politischen Gemeinschaft. Für die innenpolitischen Auseinandersetzungen waren nach Ansicht Oldens äußerst ungünstige Voraussetzungen geschaffen. Besonders die Einbeziehung der Arbeiter- und Soldatenräte empfand er als eine Hypothek für das zukünftige parlamentarische System. Gewiß, in ihnen wird geredet, und da es ihrer fast überall gibt, kann man annehmen, daß unmäßig viel öffentlich geredet worden ist in diesen Wochen. Was man davon hört, ist viel Gezänk, auch Anderes, aber kein Wort, das bleibt, das irgendwo dauernden Widerhall findet. Und diese übervielen, kleinen Augenblicks-Parlamente können auch kein Boden für solche Worte sein.

  48 Olden (1935): Hindenburg, S. 70. 49 Olden (1919): Wort in der Revolution. 50 Alle Zitate: Olden (1919): Der Internationalismus.

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Die Ereignisse dokumentierten für Olden bis Ende Januar 1919 nur eines: Die Gabe des Wortes hat auch die Revolution den Deutschen nicht gegeben. Er ist der Alte geblieben, derselbe Deutsche, wie vorher, der schießen, aber nicht sprechen konnte. Wer aber nicht spricht, kann sich nicht verteidigen; er kann seine Gesinnung ändern, aber nicht die Welt von der Aenderung überzeugen.51

Pathetisch könnte man die bisherige Position zu den revolutionären Ereignissen nach Ende des Ersten Weltkrieges wie folgt zusammenfassen: Eure Botschaft hör ich wohl, allein mir fehlt der Glaube! Woran entzündeten sich seine Zweifel an der Aufrichtigkeit und Zweckmäßigkeit der politisch Handelnden? Mit einem Wort: am Idealismus. Das Urübel in einem Zeitalter der Ideologien sei „die Absicht und Fähigkeit eines Menschen seine Handlungen nicht nach dem ihm jeweils sich bietenden Vorteil, sondern nach einer allgemeinen, unpersönlichen Idee einzurichten.“ Die politische Idee lasse den Menschen als Mittel zum Zweck verkommen. Der Idealist maße sich an, einen bestimmten gesellschaftlichen Zustand, den er für erstrebenswert hält, allgemeingültig für alle Mitmenschen oder gar die gesamte Menschheit zu erklären. Selbst die demokratische Parteienpolitik unterliege dem Zwang der Idealisierung ihrer politischen Ziele, will sie wählbar erscheinen und seien ihre Forderungen auch noch so utopisch. „Politik, die die Kunst des Erreichbaren sein soll, ist eben das Gegenteil: sie ist die Kunst, das Unerreichbare und Unmögliche mit dem unerträglichen Brustton der Überzeugung als nahe bevorstehend hinauszuposaunen.“ Liberalität habe keine Überlebenschance. Olden sprach den Deutschen die politische Reife ab, wenn sie in ihrem Urteil einzig und allein dem Ideal frönen. Die staatliche Erziehung habe versagt. Das Kind nämlich ist absolut unidealistisch, seinem einfachen klaren, sauberen Gefühl ist das Ideal fremd. Und würde den großen Kindern fremd bleiben, wäre nicht jegliche Erziehung auf das unmenschliche und unchristliche bemüht, ein Ideal nach dem andern in die unverdorbene Seele zu pressen.52

Das Bürgertum stehe sinnbildlich für dieses Versagen. „Seine Bildung, auf die er sich viel zugute tut, besteht nur darin, daß er Erkenntnisse von gestern zur Täuschung seiner Kinder mißbraucht. Aus seinem sozialen Standpunkt heraus ist der Bürger blinder Anbeter der Macht, die seine wirtschaftliche Basis schützt, Verehrer des Militarismus.“ Wenn er einerseits zum Träger des Idealismus degradiert wird, bietet er andererseits die Möglichkeit zur Umkehr. Entscheidend sei die Dichotomie zwischen revolutionärer Tat und revolutionärem Gedanken. Nur letzterer könne überhaupt die Grundlage für eine wahre Revolution legen. Für den Bewusstwerdungsprozess neuen gesellschaftlichen Lebens sei nur der Gedanke konstitutiv. Allein eine Revolution des Geistes könne politischen Fortschritt bringen und die neue Demokratie langfristig stabilisieren. Die revolutionäre Tat diene nur dem Übergang. Sie solle kurzfristig dem revolutionären Gedanken zum Durchbruch verhel  51 Alle Zitate: Olden (1919): Wort in der Revolution. 52 Alle Zitate: Olden (1919): Versuch gegen den Idealismus.

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fen. „Revolution, deren eigentliches Wesen Geist ist, wird dann vorübergehend, einen Augenblick lang, Handlung, sprengt mit der den Mitteln der feindlichen Gesellschaft angepaßten Taktik der Gewalt deren Bestand und verpufft sofort im luftleeren Raum.“ Die Novemberrevolution und das Bürgertum seien über dieses Stadium nie hinaus gekommen. Nachdem das politische System des Monarchismus beseitigt war, sah das Bürgertum nach Ansicht Oldens aber eben keine Notwenigkeit mehr, die Revolution auf erzieherischem Wege fortzusetzen. Die Aushandlung von annehmbaren Friedensbedingungen, die Abwehr der kommunistischen Gefahr und der Schutz der eigenen ökonomischen Interessen erschienen dem Bürger wichtiger als die Auseinandersetzung mit den Ursachen ihrer (politischen) Unmündigkeit. Die nach der Zerstörung sich wieder zur positiven Arbeit sammelnden Kräfte bilden die bürgerliche Reaktion nach der revolutionären Tat. Die Arbeitsmittel der Bürgerschaft sind Emsigkeit und Fleiß, das Motiv ihrer Handlungen ist der Trieb zur Erhaltung ihres Lebens, ihr Streben geht dahin, möglichst bald wieder in Bequemlichkeit und Wohlleben, in den Sumpf ihrer Geistesträgheit zu versinken.

Dabei seien sie doch eigentlich aufgrund ihrer wirtschaftlichen Unabhängigkeit geradezu prädestiniert, Träger des revolutionären Gedankens zu sein. Das Bürgertum sei aufgefordert ein gesellschaftliches Klima zu schaffen, in dem der Geist der Revolution zivilisierend wirken könne. Gleichwohl habe es der Bürger nicht mehr selbst in der Hand, erneuernd im Sinne des revolutionären Geistes zu wirken. Olden wies dem Schriftsteller und Dichter diese Funktion zu, der als Anarchist „zu unserem Heil, Störer, Erneuerer, Erfrischer bürgerlicher Ordnung sein soll.“ Nur ein bürgerliches Umfeld erlaube es dem literarischen Revolutionär auf die Gesinnung der Bevölkerung dauerhaft erzieherisch einwirken zu können. „Darum ist es nötig, daß der Bürger, gleichgültig welcher Partei er sich zuschreibt, wieder fest die Leitung der Welt in die Hand nimmt. Dann wieder wird für den Revolutionär des Gedankens seine große Zeit gekommen sein.“53 Bei allem Bestreben, die bürgerliche Ordnung für den Neuaufbau der Weimarer Republik fruchtbar zu machen, blieb eine bittere Erkenntnis bestehen. Von Anbeginn an habe sich das deutsche Offizierskorps mehrheitlich aus bürgerlichen Eliten zusammengesetzt, die antisemitisch, konservativ bzw. nationalliberal und königstreu waren. Ende Oktober 1919 stellte Olden fest, dass weder Krieg noch Revolution an dieser Gesinnung etwas geändert haben. Der große Krieg, die Revolution sind vorbei. Von den tiefen Spuren, die beide im deutschen Volke zurückgelassen haben, wird viel gesprochen und geschrieben. Tatsächlich ist die politische Struktur des Reiches umgekehrt, auf den Kopf gestellt, die gesellschaftliche besteht. Die große Masse des Bürgertums ist geblieben, was sie war: monarchistisch, militaristisch, antisemitisch.54

  53 Alle Zitate: Olden (1919): Lob des Bürgers. 54 „Von Gesinnung waren sie Junker.“ Olden (1919): Der deutsche Bürger.

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Die fortwährende Hetze und Gewalt gegen Juden oder die Verweigerung des Gehorsams gegenüber sozialdemokratisch orientierten Vorgesetzten in der Verwaltung bezeugten lauthals, dass eine geistige Revolution nie stattgefunden hatte. Die Einstellung der akademischen Jugend stimmte Olden zudem besonders nachdenklich. Statt der neuen Zeit vom Katheder aus den Weg zu ebnen, „klammert sie sich an die Erinnerung der Vergangenheit, in der die Völker Deutschland fürchteten, ohne es zu achten oder zu lieben.“55 Unter nationalistischem Vorzeichen trete sie nur für die Freiheit Deutschlands ein. Dabei verlange doch eigentlich der Kosmopolitismus der akademischen Tradition von den Wissenschaften und deren Vertretern einen Aufschrei des Anstands gegen den kriegslüsternen Revanchismus. Schließlich fordere der Idealismus unter demokratischen Vorzeichen einen tiefgreifenden Wertewandel heraus, den sowohl das Elternhaus als auch die Schulen und Universitäten in ihrer Erziehung als eine neue pädagogische Aufgabe begreifen müssen. Die bisher dargestellte Argumentation Oldens ist keine theoretisch in sich geschlossene Auseinandersetzung. Zwar definierte er den Reichstag als eine Institution, auf deren Grundlage das neue Deutschland geschaffen werde müsse, doch traute er scheinbar den darin verantwortlichen Personen nicht zu, die wirklich gesellschaftlichen Defizite zu benennen und schließlich zu beheben, da deren Handeln durch falsche politische Zwecke getrübt sei. Über verfassungsrechtliche Fragestellungen im Zuge der Debatte zur Weimarer Reichsverfassung äußerste sich Olden nicht. Er bekundete im Allgemeinen eher seine Enttäuschung „über die geringe Leistung des jungen parlamentarisch-demokratischen Regimes“56, obwohl er ihr seine grundsätzliche Unterstützung nicht verweigern will. So fiel die Führung Deutschlands dem Reichstag wie eine überreife Frucht in den Schoß. Zu ihrer Eroberung hat er so gut wie nichts getan. Die Bekehrung zur parlamentarischen Demokratie ist ausschließlich eine Folge des völligen Versagens aller anderen Machtfaktoren. Bei aller prinzipiellen Anhängerschaft zum demokratischen Prinzip muß aber eins gesagt werden: ist die Demokratie nicht imstande, die schöpferischen Männer aus dem ganzen Volke heraus an die Spitze zu bringen, so ist sie keinen Pfifferling wert.57

Dies rechtfertigte aus Sicht Oldens die Ergänzung des Parlamentarismus durch eine ‚Herrschaft der Weisen‘. Sicherlich war damit kein uneingeschränkter Machtzugriff derjenigen verbunden, die Olden für qualifiziert genug hielt, am Aufbau der Demokratie mitzutun. Der Reichstag habe sich über seine Geschichte hinweg aber als lenkbar durch die jeweiligen Machteliten bewiesen. Vor allem das Militär und die Beamtenschaft mit ihrer bürgerlichen Herkunft blieben auch nach 1918 ein entscheidender Einflussfaktor. Die kritische Auseinandersetzung, die er mit dem Idealismus führte, ging auf die Person Bernhard Shaw zurück. Für Olden war der Bezug auf ihn in drei Bereichen besonders relevant. In seiner Kritik gegenüber dem Idealismus spiegelte sich   55 Olden (1920): Die reaktionären Akademiker. 56 Olden (1920): Preußentum und Sozialismus. 57 Olden (1920): Demokratie in Deutschland.

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die von Shaw vorformulierte Feststellung wider, dass die mit gewissen Idealen beladene bürgerliche Erziehung und die damit verbundene Moral, den verfassungsrechtlich verbrieften Rechten und Normen z. T. entgegen stehen und sogar unter demokratischen Strukturen zu einem Unterdrückungsinstrument werden könne. Die Veränderung der politischen Struktur erzeuge eben gerade nicht automatisch die Bereitschaft, solche Ideale beiseite zu schieben. Vielmehr müssten gesellschaftliche Wandlungsprozesse unter dem evolutionären Vorzeichen einer neuen staatsbürgerlichen Erziehung stehen, um die Grundlage für ein friedliches Miteinander zu schaffen, die jeden neuen Militarismus ausschließe. Zweitens wendete Olden die Kritik, die Shaw an der ‚romantischen‘ Literatur übte, in ein positives Bild des realistischen Literaten als erzieherischen Anarchisten, indem er u. a. den irischen Dramatiker als Vorbild proklamierte, das zur Beseitigung des idealistischen Prinzips geeignet sei und so eine Revolution des Geistes überhaupt erst möglich werden lasse. Shaw schilderte den Realisten als eine Figur, die durch den Geist des Widerspruchs geprägt sei. Er habe sich eben in einem Prozess der Selbstfindung von einem vorformulierten Moralsystem gelöst. Vielleicht erkannte Olden in dieser Perspektive seine eigene (politische) Unmündigkeit, die ihn z. B. 1914 zu einem begeisterten Kriegsfreiwilligen hatte werden lassen und offenbarte ihm die gesellschaftliche Scheinwelt, in der er vor und während des Krieges lebte. Fasst man nun die Positionen des Pazifismus in Deutschland zur Novemberrevolution zusammen, so ergibt sich grundsätzlich eine gewisse Polarisierung zwischen dem Versuch, die politische Entwicklung in Richtung einer sozialistischen Revolution zu verschieben bzw. allein durch eine bürgerliche Verfassungsrevolution die neue Demokratie zu stabilisieren. Olden, dessen pazifistische Anschauungen sich wohl erst in der Phase nach 1918 in den politischen Tumulten der Republikgründung formiert haben dürften, versuchte in seinem evolutionären Reformismus, der vor allem pädagogische und erzieherische Aspekte betonte, beide Pole miteinander zu verbinden. Mit der Berufung auf die französische Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte bezeugte Olden seine liberale Geisteshaltung. Dabei erschöpften sich seine Positionen aber nicht in einer rein semantischen Befürwortung, sondern er suchte durch Kritik am Idealismus des Bürgertums bzw. durch seine Ablehnung einer Diktatur des Proletariats unter kommunistischen Vorzeichen ideelle Grundlagen zu identifizieren, auf denen der neue Staat aufgebaut sein müsse, um ein wiederholtes Aufleben des Militarismus zu verhindern. In diesem Zusammenhang war er eindeutig durch angelsächsische Denktraditionen geprägt, die ihm über den Umweg der österreichischen Sozialdemokratie zugänglich waren. Dass er dabei nicht eine gezielte theoretische Auseinandersetzung in Form einer geschlossenen Theoriebildung betrieb, ist eher sekundär und vielmehr Ausdruck seiner eigenen politischen Identitätssuche, die durch Widersprüche und Defizite gekennzeichnet war. So entbehrten seine Artikel nicht einen gewissen Idealismus, wenn er die Revolution durch einen evolutionären Erziehungsprozess zu verlängern suchte, negierte diese Position doch den pragmatischen Handlungsdruck, dem die politisch Führenden in der unmittelbaren Nachkriegszeit ausgesetzt waren. Darüber hinaus lehnte er eine institutionalisierte Verankerung der Arbeiter- und Soldatenräte strikt ab, befürwortete aber den, wenn auch nur kurzweiligen, Anarchismus des

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Literaten als Handlungsanleiter für die politischen Eliten im Reichstag. Sucht man abschließend in der Zeit bis Mitte 1920 für Olden nach einer politischen Charakterisierung, so kann er durchaus als ein – parteipolitisch betrachtet – heimatloser ‚sozialliberaler‘ Antimilitarist bezeichnet werden, der durch einen ideengeschichtlichen Eklektizismus geformt wurde. LITERATUR Anz, Thomas: Vitalismus und Kriegsdichtung. In: Mommsen, Wolfgang (Hrsg.): Kultur und Krieg: Die Rolle der Intellektuellen, Künstler und Schriftsteller im Ersten Weltkrieg. (Schriften des Historischen Kollegs, Nr. 34), München 1996, S. 235–249. Asmus, Sylvia / Eckert, Brita: Rudolf Olden – Eine Biografie in Dokumenten und Bildern. In: Dies. (Hrsg.): Rudolf Olden. Journalist gegen Hitler – Anwalt der Republik, Frankfurt am Main 2010, S. 11–80. Balke, Florian: Rudolf Olden. Der Mann, der Hitler früh durchschaute. In: FAZ, 04.05.2010, . Blanke, Thomas / Perels, Joachim / Stascheit, Ulrich (Hrsg.): Streitbare Juristen. Eine andere Tradition, Baden-Baden 1988. Brinson, Charmian / Malet, Marian (Hrsg.): Rudolf Olden – Peter Olden. Briefe aus den Jahren 1935–1936, Berlin 1987. Dies. (Hrsg.): Rettet Ossietzky! Dokumente aus dem Nachlass von Rudolf Olden, Oldenburg 1990. Dies. (Hrsg.): Rudolf und Ika Olden. In tiefem Dunkel liegt Deutschland. Von Hitler vertrieben – Ein Jahr deutsche Emigration, Berlin 1994. Brinson, Charmian (Hrsg.): German Exiles in Great Britain 1933–1945, Stuttgart 1995. Finetti, Marco: Niemand hört zu, niemand glaubte uns. In: DIE ZEIT, 21.09.1990, . Deutsches Exilarchiv 1933–1945: Abteilung Exil-Literatur, Deutsche Nationalbibliothek Frankfurt am Main: Teilnachlass Rudolf Olden – Sign.: EB 79 / 20. Greuner, Ruth: Gegenspieler. Profile linksbürgerlicher Publizisten aus Kaisereich und Weimarer Republik, Berlin 1969. Hall, Murray G.: Der Fall Bettauer, Wien 1978. Krohn, Manfred: Die deutsche Justiz im Urteil der Nationalsozialisten 1920–1933, Frankfurt am Main 1991. Müller, Ingo: Rudolf Olden. In: Hockerts, Hans-Günther (Hrsg.): Neue deutsche Biographie. (Nauwach-Pagel, Bd. 19), Berlin 1999, S. 505–506. Ders.: Rudolf Olden, Jurist. In: Asmus, Sylvia / Eckert, Brita (Hrsg.): Rudolf Olden. Journalist gegen Hitler – Anwalt der Republik, Frankfurt am Main 2010, S. 109–116. Münkler, Herfried: Der Große Krieg. Die Welt 1914 bis 1918, Berlin 2013. Olden, Balder: Rudolf Olden und die Junker. In: Argentinisches Tageblatt 54. Jg., Nr. 192, 28.08.1943. Olden, Rudolf: Das Wort in der Revolution. In: Fremden-Blatt 73. Jg., Nr. 20, 21.01.1919. Ders.: Der Internationalismus in der Revolution. In: Fremden-Blatt 73. Jg., Nr. 25, 26.01.1919. Ders.: Versuch gegen den Idealismus. In: Der Friede 2. Jg., Nr. 63, 04.04.1919. Ders.: Lob des Bürgers. In: Der Friede 2. Jg., Nr. 77, 25.07.1919. Ders.: Der deutsche Bürger. In: Der Neue Tag 1. Jg., Nr. 207, 19.10.1919. Ders.: Die reaktionären Akademiker. In: Der Neue Tag 2. Jg., Nr. 32, 01.02.1920. Ders.: Preußentum und Sozialismus. In: Der Neue Tag 2. Jg., Nr. 87, 28.03.1920. Ders.: Demokratie in Deutschland. In: Der Neue Tag 2. Jg., Nr. 94, 04.04.1920. Ders.: Hindenburg. Oder der Geist der preussischen Armee. (Exilliteratur, Nr. 16). Hildesheim 1982, zuerst 1935.

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KURT HILLER Ein linksrepublikanischer Feind der Weimarer Republik Daniel Münzner 1. DIE FEINDE DER DEMOKRATIE FRÜHER UND HEUTE „Demokratie“ bedeutet heute, „daß ein paar überalterte politische Klubs, unter dem Vorwand, Parteien zu sein, die Politik monopolisieren“. (Kurt Hiller im Mai 1925)1 „Die Wahlmüdigkeit ist Folge einer abgehobenen Politik der Altparteien, die schon seit längerem keinen Bezugspunkt mehr zu den Sorgen der Menschen hat.“ (Frauke Petry im Dezember 2014)2

„Altparteien“, „Volksverräter“ und „Lügenpresse“3 – mit diesem und anderem längst überwunden geglaubten Vokabular rütteln die Partei Alternative für Deutschland (AfD) und der Verein Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes (PEGIDA) seit 2014 an den etablierten Normen der politischen Kultur Deutschlands: die Anerkennung des politischen Gegners als legitimen Akteur und das Argumentieren auf Grundlage von empirisch belegbaren Fakten. Die Situation erinnert viele Beobachter nicht zu Unrecht an die Lage im Deutschen Reich zu Ende der 1920er, Anfang der 1930er Jahre, die in der „Auslieferung“4 der Regierungsgewalt an die Nationalsozialisten kumuliert.5 Neben „altrechten“ Monarchisten waren es vor allem verschiedene Strömungen der Neuen Rechten – später von ihren Anhängern unter dem Begriff „Konservative Revolution“ zu einer einheitlichen, progressiven Bewegung stilisiert –,6 die gegen die Republik und die Demokratie publizistisch zu Felde zogen. Sie argumentierten dabei mit ganz

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Hiller (1924): Republikanische Krönungsfeier, S. 688. Petry (2014): Wahlmüdigkeit. Fink (2016), Die Sprache der Nazis. „Machtergreifung“, Machtübertragung oder auch Machterschleichung – eine Vielzahl von Begriffen ist schon für die Ereignisse um den 30. Januar 1933 verwandt worden. „Auslieferung“ betont sowohl den Druck der NS-Bewegung als auch die freiwillige Preisgabe der Macht durch die konservativen Politiker um Hindenburg, von Papen und Schleicher. Büttner (2008): Weimar, S. 486. Nolte/ Eigenmann (2016): Warum die AfD-Erfolge; Beck/ Pilath (2016): Der Hass. Siehe dazu insbesondere Breuer (1990): Die „Konservative Revolution“; Breuer. (1993): Anatomie.

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ähnlichen Ideologemen wie die Anhänger von AfD und PEGIDA – Volk, Gemeinschaft, Nation, Entscheidung, Schicksal7 – und unterstellten den regierenden Parteien verschiedener weltanschaulicher Ausrichtungen gegen die „wahren“ Interessen des „deutschen Volkes“ zu arbeiten.8 Für die historische Forschung sind die Autoren dieser politischen Ideen deshalb von besonderem Interesse, weil sie als „Wegbereiter des Faschismus“ interpretiert werden,9 welche losgelöst von den realen Problemen der ersten deutschen Republik die politische Kultur vergifteten.10 Die Parallelen zum Jahr 2016 sind unverkennbar. Trotz einer wirtschaftlich seit vielen Jahren guten Lage, relativ niedriger Arbeitslosenzahlen und politisch stabiler Regierungen unter Angela Merkel, die sowohl die Finanz- und Wirtschaftskrise von 2008 als auch die Eurokrise von 2010 bewältigten sowie die Integration von circa einer Million Flüchtlingen organisierten, sind plötzlich fundamentaloppositionelle Systemkritiker und Untergangspropheten zu vernehmen. Damit soll weder behauptet werden, dass die Bundesrepublik beispielsweise mit Armut, einer steigenden Ungleichheit der Vermögensverteilung oder stark herkunftsabhängiger Bildungschancen keine Herausforderungen zu bewältigen hätte, noch, dass es in der Weimarer Republik nach 1929 kein Massenelend gegeben hätte. Doch damals wie heute entstanden die meisten republikfeindlichen Theorien und Untergangsszenarien in Phasen weitgehender Prosperität in Kreisen ökonomisch abgesicherter Kritiker. Sehen wir also erneut die Vorboten eines Zerfalls der deutschen Demokratie in eine autoritäre, vielleicht auch totalitäre Diktatur? Für diese Frage muss der Blick auf die Vielfalt der republikfeindlichen Diskurse zwischen 1918 und 1933 geworfen werden. Gerade im Laufe des letzten Jahrzehnts gerieten neben den schon lange untersuchten politisch rechten auch linke und republikanische Systemkritiker in den Blick der Forschung.11 Der hier untersuchte Kurt Hiller war zwischen 1924 und 1933 einer der wichtigsten Autoren der Weltbühne, dem publizistischen Flaggschiff der parteiunabhängigen linken Republikaner. Zugleich vertrat Hiller dezidiert antidemokratische, republikfeindliche und zum Teil rechte Positionen, obwohl er zur Wahl demokratischer Parteien aufrief, sich für Abrüstung und die Rechte Homosexueller einsetzte.   7

Zu den Grundbegriffen des antidemokratischen Denkens siehe Sontheimer (1968): Antidemokratisches Denken, S. 244. 8 Ebd., S. 273. Zur den anlogen Konzepten der heutigen rechten Bewegungen und Ideologen siehe Wildt (2017): Volk, S. 91–120; Weiß (2017): Die autoritäre Revolte; Vorländer et al. (2016): PEGIDA, S. 31–46. 9 So bezeichnete Joachim Petzold einst die Jungkonservativen, eine Teilgruppierung der Neuen Rechten. Petzold (1983): Wegbereiter. 10 Gerade in der Phase der Goldenen Zwanziger erschienen pessimistische Untergangsfantasien und antidemokratische Schriften. Aus Sicht der neurechten Autoren war dies freilich konsequent, sahen sie doch gerade in liberalen und demokratischen Errungenschaften die Gefahren für das „deutsche Volk“. Beispielhaft genannt seien Jung (1927): Die Herrschaft der Minderwertigen; Moeller van den Bruck (1923): Das dritte Reich; Stapel (1928): Die Fiktionen. 11 Münzner (2015): Kurt Hiller; Gallus (2012): Heimat „Weltbühne“. Wirsching/ Eder (2008): Vernunftrepublikanismus; Bavaj (2005): Von links.

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Während er vor 1933 mit seiner eigenwilligen Haltung letztlich zu einem der Totengräber der Republik avancierte, wurde er nach 1945 respektierter Teil des publizistischen Establishments. Am Beispiel dieses Sonderlings lässt sich beobachten, was die Weimarer Republik von der Bundesrepublik unterscheidet, und warum die Angriffe rechter Ideologen keinen erneuten Untergang der Demokratie herbeiführen werden. 2. BEGRIFFE UND METHODE: RECHTE UND LINKE SYSTEMKRITIKER UND DIE DISKRIMINIERUNG VON INTELLEKTUELLEN Die Weimarer Republik war aus Sicht der politischen Ideengeschichte eine sehr bewegte Zeit, in der die Grenzen zwischen rechts und links zu verschwimmen schienen. Es gab neben den klar antirepublikanischen Kommunisten, Nationalsozialisten, Monarchisten und Deutschnationalen auch „[u]northodoxe Sozialisten“, „linke Leute von rechts“ oder weltentrückte „ästhetische Fundamentalisten“12, die sich als Systemkritiker profilierten. Manfred Grangl und Gérard Raulet sprechen daher von der „Kultur einer Gemengelage“13 und Wolfgang Bilias diagnostiziert einen „Modus totaler Austauschbarkeit“.14 Dennoch sind die Kategorien „rechts“ und „links“ nicht aus der Diskussion verschwunden und das mit gutem Grund. Zum einen wären nach Auflösung dieser Kategorien andere Termini notwendig, um die Vielfalt der politischen Ideen sinnvoll klassifizieren und beschreiben zu können. Diese sind bisher nicht in Sicht. Zum anderen weisen rechte und linke Demokratiekritik in der Regel ganz unterschiedliche Ziele auf. Die rechten „Ordnungen der Ungleichheit“ waren nicht nur demokratie- und republikfeindlich, sondern beinhalteten teilweise Elemente eines „genozidalen Denkens“, das als Vorläufer der Shoah interpretiert werden kann. Ähnliches lässt sich für die linken, auf stärkere und mehr Gleichheit zielenden sozialen Ordnungsvorstellungen für die deutsche Ideengeschichte nicht sagen.15 Dies ist wohl einer der Gründe, warum die Forschung die Ideen linksintellektueller Republikfeinde weniger berücksichtigt hat. Hinzu kommt, dass die teils vernichtenden Urteile, die Autoren wie Kurt Tucholsky, Carl von Ossietzky oder andere Autoren der Weltbühne über die Weimarer Republik fällten, in der Regel von dem Ziel einer noch zu schaffenden, sozialeren und liberaleren Gesellschaft ausgingen. Funktional betrachtet zerstörten diese Autoren genauso die Republik wie die radikalen Rechten jedoch mit dem Ziel, die grundlegenden republikanischen Werte von Freiheit und Gleichheit gründlicher und radikaler umzusetzen, als der bestehende Staat es tat.   12 Wannenwetsch (2010): Unorthodoxe Sozialisten; Schüddekopf (1960): Linke Leute von rechts; Breuer (1995): Ästhetischer Fundamentalismus. 13 Grangl/ Raulet (1994): Intellektuellendiskurse. 14 Bialas (1997): Intellektuellengeschichtliche Facetten, S. 16–17. 15 Unter internationaler Perspektive wäre diese These – denkt man an die Massentötungen unter Mao und Stalin – freilich zu differenzieren.

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Daneben existierten kommunistische, anarchistische und weitere linke Strömungen, die Staat und Demokratie nicht reformieren, sondern zerstören und überwinden wollten. Bei Hiller findet sich beides: Reformeifer und politischer Gestaltungswille, Fundamentalkritik und Systemopposition. Will man diese merkwürdige Geisteshaltung verstehen, wird der Blick auf die gesellschaftliche Position der Linksintellektuellen und ihre Ausgrenzung unvermeidlich. Verbale Scharmützel waren und sind bis heute unter politischen Autoren üblich, ohne dass dies als persönliche Bedrohung empfunden wird. Hier geht es jedoch um strukturelle und kulturelle Gewalt im Sinne Johan Galtungs,16 die sich als gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit nicht gegen Hiller als Person, sondern gegen ihn als Angehöriger einer sozialen Klasse (Intellektuelle), einer ethnischen Gruppe („Jude“) und seine sexuelle Orientierung (Homosexueller) richteten. Dabei war allein der Begriff „Jude“ genau genommen schon Teil dieser Ausgrenzung, denn Hiller wurde vornehmlich durch antisemitische Angriffe daran erinnert, dass er jüdische Vorfahren besaß, und musste sich so erst mit diesem Teil seiner ihm von außen zugeschriebenen Identität auseinandersetzen.17 Die Demokratiekritik Kurt Hillers lässt sich in fast allen Fragen als eine Reaktion auf Diskriminierungserfahrungen lesen, welche es Hiller schwer bis unmöglich machten, sich vorbehaltlos für die Republik einzusetzen. 3. DIE DEMOKRATIEKRITIK KURT HILLERS 3.1. Kurt Hiller – vom Bürgersohn zum Bürgerschreck Hiller wurde 1885 als Sohn des Krawattenfabrikanten Hartwig Hiller und der Hausfrau Ella Hiller geboren. Sein Vater starb, als er 12 Jahre alt war, was zu einer sehr engen Mutter-Sohn-Beziehung führte. Hiller wohnte bei seiner Mutter bis zu seiner Verhaftung durch die Nationalsozialisten im Jahr 1933. Eingebunden waren die beiden aber in die Großfamilie Singer, deren Patriarch Paul Singer seit 1908 als Vorsitzender der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands amtierte. Hiller studierte und promovierte in Jura, wobei er mit „Das Recht über sich selbst“ ein höchst kontroverses Thema für seine Doktorarbeit wählte.18 Er begründete darin unter anderem, warum Menschen ein Recht auf die Akzeptanz ihrer sexuellen Orientierung, auf Abtreibung oder Selbstmord hätten und forderte damit die ersatzlose Streichung gleich mehrerer Paragrafen des Strafgesetzbuches.   16 Grundlegend dazu Galtung (1978): Strukturelle Gewalt. 17 Daher soll im weiteren Verlauf auch von Antisemitismus gesprochen werden, der sich in dieser Zeit auch gegen prominente nichtjüdische Menschen richten konnte, wie die Morde an Mathias Erzberger oder Karl Liebknecht belegen. Beide waren in der rechten Presse zuvor als „Juden“ beschimpft worden. 18 Hiller (1908): Das Recht.  

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In Hillers Jugendzeit fällt auch die Geburt des Intellektuellen. 1898 entstand der Begriff „les intellectuells“ im Zusammenhang mit der „Affaire Dreyfus“. Der aus dem Elsass stammende jüdische Hauptmann Dreyfus war – auch seiner Religion und ethnischen Herkunft wegen – zu Unrecht der Spionage gegen Frankreich verurteilt worden. Der Schriftsteller Emile Zola hatte mit seinem Artikel „J’accuse“ gegen das Urteil protestiert und war von seinen Gegnern als „Intellektueller“ beschimpft worden, was sich schnell in eine ehrenhafte Selbstbezeichnung wandelte.19 Damit entstand die Sozialfigur des politisch intervenierenden, für Gerechtigkeit kämpfenden Bildungsbürgers. Um 1908 bezeichneten sich Kurt Hiller und seine Studienfreunde als „intellektuelle Partei“, um damit eine Abgrenzung von der „majoritären Fraktion der Feuchtfröhlichen“ in ihrer Studentenverbindung, der Freien Wissenschaftlichen Vereinigung, vorzunehmen. Sie inszenierten sich in der Tradition Zolas als Streiter für Humanismus und im Sinne ihrer Interpretation als Bildungseiferer. Den Kampf gegen „geschmacklosen Stumpfsinn und das Phrasentum ungebildeter und anmaßender Bierstudenten“20 verloren die „Intellektuellen“ zwar, gründeten aber nach dem Hinauswurf von Kurt Hiller den Neuen Club, die Keimzelle des Literarischen Expressionismus in Berlin. Im Herbst 1914 feierte der damals noch unpolitische „Litterat“21 Hiller zunächst den „Sturmwind des Krieges“, der die „Läppischkeiten des stet-niederen Lebens“22 hinweggefegt habe. Die langweilige bürgerliche Normalität, die die Expressionisten beklagt hatten, war vorbei. Die Euphorie für den Krieg währte aber nur wenige Wochen. Nachdem der von Hiller geliebte Ernst Wilhelm Lotz an der Front starb, wandelt er sich zum Kriegsgegner; nachdem die Militärzensur seine Bücher verbot, wurde er zum Antimonarchisten. So gelangte der wohlsituierte und der Monarchie durchaus aufgeschlossene Kurt Hiller in das Lager der Sozialisten. 3.2 Die Theorie der Logokratie und der Kampf um sexuelle Gleichberechtigung Im November 1918 übernahmen nicht nur Arbeiter und Soldaten die Macht im Deutschen Reich, sondern auch Intellektuelle. Unter anderem in Berlin und München hatten sich Räte Geistiger Arbeiter gegründet, denen mit Kurt Hiller und Heinrich Mann prominente Literaten vorstanden. Nach einem halben Jahr der Einflusslosigkeit verschwanden diese wieder und zurück blieb Kurt Hiller mit seiner Idee der „Logokratie“, der Herrschaft des Geistes, für die er bis ans Ende seines Lebens stritt. Durch „gegenseitige Auswitterung“ sollten die Intellektuellen die „Diktatur   19 Zur Geschichte dieses Begriffs zuletzt: Bering (2010): Die Epoche. 20 Hiller (31.12.1908): Brief. 21 Hiller schrieb dieses Wort in der Regel mit Doppel-T, wohl um seine elitäre und revolutionäre Gesinnung zu unterstreichen und sich vom gewöhnlichen, nur Bücher schreibenden „Literaten“ abzugrenzen. 22 Hiller (1914): An die Partei, S. 645.  

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der Mittelmäßigkeit“,23 wie Hiller die Demokratie nannte, überwinden. Dieser Topos diente ihm als publizistische Allzweckwaffe gegen die Republik, mit der er nach dem Scheitern der Rätebewegung und dem Verschwinden seines Berliner Rates die parlamentarische Demokratie als „Staatslehre des Relativismus, zu deutsch: der Ideenlosigkeit“ angriff. Er kritisierte, dass der „Demokratismus […] an keinen geistigen Inhalt gebunden [sei], [er] verabsolutier[e] einzig das Formale: den Kompromiss.“24 Der „Rat geistiger Arbeiter“, von Hiller auch als „Deutsches Herrenhaus“ bezeichnet, sollte hingegen „durch Vernunft, die oberste [Instanz] sein“ und sich „selber gebären.“25 Die verschwommene Idee einer Selbstermächtigung mochte in der revolutionären Situation des November 1918 umsetzbar gewesen sein; wie die Intellektuellen aber eine neuen Systemwechsel anstoßen sollten, blieb offen. Dafür differenzierte Hiller seine Herrschaft der Besten zeitweilig konsequent aus und wollte einen „Monarchen“ der Geistigen auf „Lebenszeit“ ernennen lassen.26 Innerhalb seines logokratischen Modells hatte er allerdings auch immer demokratische Grundprinzipien integriert. Die Geistigen selbst sollten durch Mehrheitsabstimmungen die Meinungsbildung herbeiführen und selbstredend ging er davon aus, dass es auch in seinem Idealstaat eine Opposition sowie eine unabhängige Presse geben würde.27 So seltsam dieses Modell erscheinen mag, war es jedoch kein Einzelfall in der Ideenlandschaft der wenige Jahre alten ersten deutschen Demokratie, die sich selbst noch in einer Findungsphase befand. Theoretiker verschiedenster politischer Richtungen entwarfen der Hillerschen Logokratie ähnliche Konzepte eines neuen Adels.28 Hiller legitimierte seine Ideen vor allem mit einer theoretischen Fundamentalkritik an der Demokratie, doch daneben deutet er an, dass die nach 1918 fortgesetzte Ausgrenzung der Homosexuellen ihn zum Logokraten werden ließ. In seinem Buch über den Anti-Schwulen-Paragrafen 175 erklärte er: In Fragen der Geschlechtsfreiheit stimmt die in ältesten Vorurteilen befangene, von blinden dumpfen Gegenwallungen beherrschte Menge wider die These der Freiheit, für die These der Reaktion. Vorneweg die Weiber.29

Hiller schlussfolgerte daraus: „Man muss das Volk aufklären, ehe man es entscheiden lässt. Und hat man nicht die Zeit so lange zu warten, bis es aufgeklärt ist, dann muss man darauf verzichten, es entscheiden zu lassen.“30 Die Idee, dass nur entscheiden sollte, wer über die nötige Kompetenz verfügte, zieht sich durch Hillers Schriften und bezog sich in der Regel ausschließlich auf Männer. Denn auch wenn   23 Hiller (1930): Die Rolle der Geistigen, S. 572. 24 Hiller (1920): Der Geist, S. 130–131. 25 Hiller (1918): Ein deutsches Herrenhaus, S. 412. Ausführlich zu Hillers Konzept der Logokratie siehe Lützenkirchen (1912): Logokratie. 26 Hiller (1925): Logokratie, S. 188–198. 27 Hiller (1927): Presse, S. 11; Hiller (1919): Zur Entbarbarisierung, S. 317–319. 28 Gerstner (2008): Neuer Adel. 29 Hiller (1922): § 175, S. 59–60. 30 Ebd., S. 63.  

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Hiller als Schwuler diskriminiert wurde, so vertrat er selbst für die Zeit typische frauenfeindliche Ansichten.31 Weil sich Hiller durch weit verbreitete Vorurteile ausgegrenzt fühlte, misstraute er der Idee einer staatsbürgerlichen Gleichheit aller Menschen, sei es in Fragen des Intellekts oder des biologischen Geschlechts. Er selbst wurde zwar nie wegen eines Vergehens nach Paragraf 175 bezichtigt, musste jedoch immer wieder homophobe oder auch antisemitische Anfeindungen über sich ergehen lassen. Ein gewisser Pol Michels schrieb im November 1918 in einer Glosse über Hillers Idee einer zukünftigen paradiesischen Gesellschaft, diese wäre „in einer zwanzig bis dreißigjährigen Greisenheit in Nächten sexueller Hilflosigkeit abmasturbiert“ worden.32 Selbst in der Deutschen Friedensgesellschaft, in der Hiller von linken und liberalen Bildungsbürgern umgeben war, sollen seine Gegner – aus der proletarischen Fraktion um Fritz Küster –, „wenn man (in [s]einer Abwesenheit) ausserstande war, auf [s]eine Argumente irgendwas halbwegs Gescheites vorzubringen, ein bekanntes sexuelles ‚Argument‘ gegen […] [ihn] ausspielt[]“ haben.33 Als Mitarbeiter des Wissenschaftlich-humanitären Komitees, das sich unter Führung des Sexualreformers Magnus Hirschfeld für eine Abschaffung des Paragrafen 175 einsetzte, war Hiller nicht nur mit dem Leid der juristisch verfolgten Schwulen vertraut, sondern wurde auch öffentlich als Homosexueller wahrgenommen. Vor allem aber verband man mit seinem Namen die im Begriff der Logokratie enthaltene und gegen die Demokratie gerichtete Polemik. 3.3 Hillers Parteienhass und die Ausgrenzung pazifistischer Kritiker „Wir, unsereins gewohnt, einen Staatszustand weniger nach seiner verfassungsrechtlichen Form als nach seinem soziokulturellen Inhalt zu bewerten, stehen zu dieser Republik kühl bis ans Herz hinan und rufen doch […]: Es lebe die Republik.“34 Derartige pragmatische Statements mögen überraschen, aber Hiller war eben nicht nur der antidemokratische Logokrat, sondern auch jemand, der sich politisch einmischen wollte. Während er auf theoretischer Ebene für eine Logokratie eintrat, warb er praktisch doch für die Teilnahme an Wahlen und auch ganz direkt für bestimmte, in der Regel republikanische Parteien und Politiker. Dem „Prinzip des kleinsten Übels“35 folgend, wählte der Logokrat stets jene, die seinen pazifistischen und linkssozialistischen Ideen noch am nächsten kamen. Nach der Auflösung der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei, die am ehesten seine und die Vorstellungen anderer linker Publizisten wie Kurt Tucholsky oder Carl von Ossietzky ver  31 Münzner (2015), Kurt Hiller, S. 336. Für Näheres zu Hillers Frauenbild siehe Lütgemeier-Davin (2017): Hiller und die Frauen. 32 Michels (1918): Das Verbrechen, S. 753. 33 Hiller (18.06.1946): Brief. 34 Hiller (1929): Minister der Republik, S. 296. 35 Hiller (1928): Koalition, S. 818.  

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treten hatte, distanzierte Hiller sich ausdrücklich von den ihm inhaltlich nahestehenden Wahllisten linker Splittergruppierungen, weil diese die Stimmen der Linken splitten würden. „Stellt um Gottes willen keine auf!“, forderte er im Dezember 192436 und empfahl seinen Anhängern nun die SPD mit den Worten: „Nicht das Herz, der Verstand muss hier entscheiden.“37 Für die KPD avancierte er damit zum Konterrevolutionär. Hiller sah das gelassen und verwies nun darauf, dass gerade die KPD durch ihre Fundamentalopposition eine linke Mehrheit blockierte.38 Pragmatisch eingestellt, auf die Kraft von rationalen Argumenten vertrauend und doch zu keinem Zeitpunkt ein begeisterter Demokrat, erwies sich Hiller als Vernunftrepublikaner, weil er Kritik und Argumenten seiner Gegner im Prinzip zugänglich blieb.39 Er stellte in den Krisenzeiten der Republik das Funktionieren des Parlaments über seine sozialistischen Visionen, den Verstand über das Herz. Dieser Maxime folgte Hiller und warb auch für die aus seiner Sicht opportunistische SPD. Als sich Hiller 1928 für die KPD entschied, begründete er dies ausdrücklich mit der stabilen Lage, in der sich die Republik befände, und mit seiner Sehnsucht nach einer sozialeren Republik. Die SPD schien ihm dafür zu konservativ, wenngleich er ihre Verdienste ausdrücklich anerkannte: Gewiss als republikanische Partei ist die SPD brauchbar […]. Aber die monarchische Reaktion hat aufgehört, eine Gefahr zu bedeuten, und der Republikanismus hat folglich begonnen, ein ausgeleiertes Programm zu sein.40

Vor allem in der Phase zwischen 1924 und 1929 schimpfte Hiller über die „kapitalistische Scheindemokratie“41, den „Vulgärdemokratismus“, „Pachulkokratie“ oder die „Diktatur der Mittelmäßigkeit“42. In der Erfindung antidemokratischer Schimpfwörter zeigte sich Hiller besonders kreativ. Dies brachte ihn allerdings nie mit dem Gesetz in Konflikt, denn im herrschenden verbalen Bürgerkrieg der Republik war Hiller nur eine Stimme unter vielen. „Ob Tucholsky auf Hitler oder irgend einen unglücklichen sozialdemokratischen Minister zielte, war ihm gleichgültig“, schreibt Walter Laqueur sehr treffend in Bezug auf diese Frage.43 Allerdings muss berücksichtigt werden, dass die Rolle eines Intellektuellen auch die polemische Auseinandersetzung mit herrschenden Zuständen erfordert, und diese gab es in der Weimarer Republik in erheblichem Maße. Nur bei bestimmter Kritik reagierten die staatlichen Organe sehr sensibel. Die Rechtsprechung erfand mit dem „publizistischen Landesverrat“ einen kreativen Be  36 37 38 39 40 41 42 43  

Hiller (1924): Wahlparole, S. 647. Ebd., S. 648. Hiller (1924): Wirth-Block, S. 788. Zum Begriff des Vernunftrepublikanismus siehe: Wirsching (2008): „Vernunftrepublikanismus“, S. 9–13. Hiller (1928): Wahlkampfforderungen, S. 664. Hiller (1929): Was eint uns, S. 466. Hiller (1939), Die Rolle der Geistigen, S. 572. Laqueur (1976): Weimar, S. 68.

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griff, um Journalisten zu verurteilen, die die geheime, völkerrechtswidrige Aufrüstung des Deutschen Reiches aufdeckten.44 Ermittlungen wegen Landesverrats wurden gegen den selbsterklärten Antidemokraten Hiller erst eingeleitet, als dieser „den Aufstand gegen den Krieg“ gefordert hatte.45 Die Einstellung des Verfahrens erfolgt zwar bald darauf, aber wohl nur, weil der stellvertretende Leiter der preußischen Kriminalpolizei bei der Rede anwesend gewesen war und damals nichts Anstößiges vermeldet hatte.46 Ein für den 10. Oktober 1930 geplantes Rundfunkgespräch zwischen Kurt Hiller und Pater Franziskus Stratmann vom Friedensbund deutscher Katholiken wurde hingegen von den Zensurbehörden abgesagt. Die vorab aufgezeichnete Diskussion und insbesondere Hillers Positionen forderten aus Sicht der Zensurbehörde „an vielen Stellen zum Widerspruch heraus“ und wären „in der jetzigen politisch aufgeregten Zeit geeignet, zum Schaden des Rundfunkhauses in weiten Volkskreisen Anstoß zu erregen“.47 Die Debatte wurde dann in der nachfolgenden Ausgabe der Friedenswarte abgedruckt. Das Gespräch war eher philosophisch als agitatorisch und einzig Hillers revolutionärer Pazifismus, seine Behauptung, nur im Sozialismus sei endgültiger Frieden möglich, ließ sich ansatzweise als staatsgefährdend interpretieren.48 Dass eine solche Diskussion nicht gesendet werden sollte, schockierte auch die Berliner Volkszeitung, die sarkastisch vorschlug, doch „demnächst Kleinkaliberschießen zur Ergötzung der Radiohörer“ abzuspielen.49 3.4 Die Angriffe auf linke Politiker und die habituelle Differenz Besonders unnachgiebig griff Hiller linke Politiker an, die er als „Besitzangstdemokraten“, „Pöstchenangstsozialisten“ und „Ermächtigungsrepublikaner“ diffamierte.50 Reichspräsident Friedrich Ebert war für ihn der „übelste aller bremsenden,   44 Vgl. dazu: Münzner (2015): Ein Staat der Verräter, S. 138–158. 45 Neben Hiller wurde auch Ernst Friedrich, der Herausgeber der schwarzen Fahne, angeklagt. Friedrich wurde im Gegensatz zu Hiller aber verurteilt. o.A. (03.12.1928): Schreiben der Abteilung I A. Details dazu bei Münzner (2015), Kurt Hiller, S. 141–140. 46 Hiller (15.07.1929): Erklärung zur Strafsache. 47 o.A. (06.10.1930): Schreiben des Ministerialrats. 48 Hiller/ Stratmann (1930): Können Kriege, S. 321–329. An anderer Stelle hatte Hiller sogar ausdrücklich hervorgehoben, dass Revolutionen auch gewaltfrei möglich seien. Hiller (1929): Das neue Programm, S. 174. 49 o.A. (10.10.1930): Unzeitgemäßes Friedensgespräch. Vgl. dazu auch den Kommentar im 8UhrAbendblatt: „Wenn auch die Stellungnahme des Überwachungsausschusses auf den ersten Blick [...] plausibel aussieht, so wäre sein Eingriff besser unterblieben, da er nach unserer Meinung trotz aller Beschönigung nach Zensur schmeckt [und] […] den Rundfunk zu einer radikal entpolitisierten Unterhaltungs-Einrichtung herabwürdigt. Der Rundfunk, so viel sollte auch der Überwachungsausschuß allmählich gelernt haben, wird im guten Sinne politisch sein oder er wird nicht sein.“ o.A. (10.10.1930): Über Pazifismus. 50 Hiller (1924): Der Wille, S. 297.  

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herzenskonservativen Philister“51 und damit war Hiller nicht allein. Die Sozialdemokratie, die von einem „Typ Ebert“ beherrscht wurde, galt auch anderen linksrepublikanischen Schriftstellern als geistfeindlich, saturiert und zu kompromissbereit gegenüber den alten Eliten.52 Den „Typ Ebert“ gab es aus der Perspektive der bürgerlichen Intellektuellen wirklich. Reichspräsident Friedrich Ebert war Sattlergeselle, Gustav Noske Korbmacher (Reichswehrminister 1919), Gustav Bauer (Reichskanzler 1919 –1920) hatte als Schreiber in einer Anwaltskanzlei gearbeitet, Hermann Müller (Reichskanzler 1928–1930) als Handelsgehilfe, Philipp Scheidemann (Reichsministerpräsident 1919) das Buchdruckerhandwerk und selbst der von Hiller so geschätzte preußische Ministerpräsident Otto Braun „nur“ Drucker gelernt.53 Studiert war kaum einer der Führungskader der SPD, ihr sozialer Aufstieg erfolgte über die Partei. Hiller hätte gewiss seine eigene standesdünkelhafte Überheblichkeit bestritten, doch es war diese habituelle Differenz, die unterschiedliche Herkunft, die ihn über diese Sozialdemokraten spotten ließ. Er wünschte sich weltgewandte Politiker, die den bürgerlichen Bildungskanon beherrschten. Es gab diese auch unter den Linken, wie etwa den Medienmogul Willi Münzenberg.54 Hiller achtete Münzenberg, obwohl dieser aus einem Arbeiterhaushalt stammte und seine letzte formale Bildung in einer Schuhfabrik erworben hatte. Doch Münzenberg verinnerlichte mit seinem gesellschaftlichen Aufstieg die „feinen Unterschiede“. Er ging gerne ins Theater und in die Oper, las die deutschen Klassiker und hielt wenig von den Versuchen, eine proletarische Literatur zu schaffen.55 Trotz seiner Herkunft gab sich Münzenberg wie ein bourgeoiser Unternehmer. Hillers öffentliche Wertschätzung für einen anderen Politiker war weit kontroverser und zeigt, was er und andere am demokratischen Führungspersonal der Weimarer Republik vermissten. Als die „lista nationale“ der italienischen Faschisten 1924 die Wahlen mit überragender Mehrheit gewann, war Mussolini für den Logokraten „die lebendige Widerlegung des Demokratismus“56. Hiller urteilte: „Die Demokratie erzeugt nämlich den Fascismus; ihre Impotenz erzeugt ihn!“57 Er pries die „Vitalität”, Eleganz und Ehrlichkeit des „Duce“ und nannte ihn einen „Kraftkerl“, wenngleich er ihn auch als einen „Verbrecher“ bezeichnete.58 Doch eines war Mussolini aus Hillers Sicht eben nicht: ein langweiliger, aus dem System von Wahlen und Demokratie hervorgegangener Parteipolitiker. Selbst ein öffentlich von seinen Gegnern feminisierter Homosexueller wie Kurt Hiller verspürte den Wunsch nach einer besonders männlichen Führungsfigur. In einer späteren Schrift verlangte   51 52 53 54 55 56 57 58  

Hiller (15.02.1959): Brief. Eder (2008): „Wissen und verändern!“, S. 161. Laqueur (1976), Weimar, S. 69. Wenig überraschend erklärte der sozialdemokratische Pressedienst den Urheber der Angriffe zu einer „kommunistische[n] Münzenbergzelle in Gestalt des Dr. Kurt Hiller“. Hiller (21.10.1927): Brief. Gross (1991): Willi Münzenberg, S. 311. Hiller (1928): Mussolini, S. 45. Hiller (1927): Das Ziel, S. 46. Hiller (1928), Mussolini, S. 45.

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Hiller für das „Profil eines idealen Führers“, dieser dürfe „weder ein schiefer Besen sein noch ein schleppender Sack, sondern […] [müsse] von anständiger Form und gerader Haltung sein“, und begründete es mit dem Verweis auf ein Foto aus dem Jahr 1919, das den Reichspräsidenten und den Reichswehrminister nur in Badehose zeigte: „Durch nichts wurde die Weimarer Republik so lächerlich wie durch die Nacktaufnahme von Ebert und Noske, aus dem Seebade.“59 Mussolini hingegen hatte sich immer in Uniform und männlichen Posen ablichten lassen. Man fühlt sich hier an die Kritik Tucholskys erinnert, der sich einst über die Hässlichkeit deutscher Offiziere belustigte. Dessen Unterschrift „Tiere sehen dich an“ zu einer Fotomontage John Heartfields, die glotzende Köpfe alter Männer in Militäruniform zeigte, veranlasste Walter Laqueur zu der sarkastischen Feststellung: Wenn Tucholsky damit sagen wollte, dass die deutsche Armee besser aussehende Offiziere nötig habe, so besorgten ihm die Nationalsozialisten solche ein paar Jahre später in der Figur von Reinhard Heydrich und anderer junger Heldengestalten von strahlender Erscheinung.60

Es waren sowohl diese „jungen Heldengestalten“ der SS als auch die proletarischen Einheiten der SA, die Hiller ab Sommer 1933 in verschiedene Konzentrationslager verschleppten. 1934 wurde er – vermutlich auf Intervention hochrangiger homosexueller Nationalsozialisten – entlassen und flüchtete erst nach Prag, dann nach London und kehrte 1955 in sein Heimatland zurück.61 4. BONN IST NICHT WEIMAR UND BERLIN SCHON GAR NICHT „Bonn ist nicht Weimar“ – mit diesem Schlagwort wurde die Bundesrepublik in den Anfangsjahren gern beschrieben. Dabei handelte es sich vor allem um eine Form der Selbstvergewisserung. Von einer Art „Weimar-Komplex“ – der Furcht vor dem erneuten Scheitern des Staates – getrieben, grenzte sich die Bundesrepublik Deutschland verfassungspolitisch, kulturell und vor allem rhetorisch immer wieder von der Weimarer Republik ab.62 Welche erfolgreichen Veränderungen dies auf der Ebene der politischen Kultur ebenfalls bewirkte, zeigt das Beispiel Kurt Hiller. Als dieser 1955 wieder deutschen Boden betrat, war er ein respektierter Publizist mit exzellenten Verbindungen in die SPD, die zu kritisieren er sich nach wie vor nicht zurückhielt. Hiller verbreitete seine nun abgeschwächte antidemokratische Kritik in Büchern und Radioansprachen und wurde trotzdem vom SPD-Vorsitzenden Kurt Schuhmacher zur Privataudienz geladen. Der damalige Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion Fritz Erler konstatierte am Ende eines Briefes an Hiller: „Bei aller politischen Verschiedenheit, die zwischen Ihren Freunden und mir liegt,   59 60 61 62  

Hiller (1950): Profil, S. 393. Laqueur (1976), Weimar, S. 67. Für weitere Details zum Leben siehe: Münzner (2016), Kurt Hiller. Siehe dazu: Ullrich (2009): Der Weimar-Komplex.

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ersehe ich doch ganz klar ihr Bekenntnis zu unserem demokratischen Staat.“63 Der so Gelobte erklärte selbst dann 1967 in seiner Autobiografie fast entschuldigend in Bezug auf seine Weimarer Schriften, es sei gewiss verständlich, dass „[jemand] mit sechsunddreißig Jahren im Zorn über ein gerissen-borniertes Afterrepublikanertum gelegentlich auf eine Art stilistisch überschnappt“.64 Hillers Sicht auf den demokratischen Staat nach 1945 war noch immer kritisch, wurde aber nicht mehr als ausschließlich destruktiv oder systemgefährdend wahrgenommen. Nicht so sehr Hiller als vielmehr die Welt um ihn hatte sich verändert. Entscheidend für die Annäherung zwischen Hiller und der Demokratie war der Wandel der SPD. Mit dem Godesberger Programm hatte sich die Arbeiterpartei vom Marxismus verabschiedet und war damit näher an den Vorstellungen Hillers. Wichtiger war zudem das Führungspersonal, das anders als zu Weimarer Zeiten intellektuelles Charisma versprühte. Insbesondere mit dem Kanzlerkandidaten Willy Brandt begann in den 1960er Jahren eine intensive Zusammenarbeit zwischen linken Intellektuellen und der SPD. Ein deutlicher Wandel der Rahmenbedingungen ist auch beim Blick auf physische Gewalt und institutionalisierten Antisemitismus zu diagnostizieren. Paramilitärische Wehrverbände, die zwischen 1918 und 1933 das Bild der Straßen geprägt hatten, sowie antisemitische und rechtsterroristische Organisationen gab es in der Bundesrepublik nicht mehr. Intellektuelles Wirken war möglich, ohne Attentate fürchten zu müssen. Kurt Hiller konnte in den Urlaub fahren, ohne Gefahr zu laufen, als Jude abgewiesen zu werden. Die Diskriminierung von Homosexuellen setzte sich bis Ende der 1960er Jahre fort, aber 1969 wurde endlich der Begriff „widernatürliche Unzucht“ aus dem deutschen Strafgesetzbuch gestrichen und damit der Anti-Schwulen-Paragraf 175 weitgehend entschärft. Es war der letzte Baustein, um Hiller mit der Bundesrepublik zu versöhnen. Dieser hatte gelernt, Parteien als notwendiges Übel zu akzeptierten und sich ihrer in Form der Sozialdemokratie für seine politischen Ziele zu bedienen. Die SPD hingegen griff in den 1960er Jahren auf Schriftsteller in den Wahlkämpfen zurück und integrierte damit ihre linken Kritiker. Dies war nicht der einzige, aber aus ideengeschichtlicher Perspektive ein wichtiger Stabilisierungsfaktor für die Bonner Republik. Die Berliner Republik, wie die Bundesrepublik seit dem Umzug der Regierung in die Hauptstadt Berlin genannt wird, ist weit liberaler, gewaltfreier als ihre Vorgänger und hat damit gute Voraussetzungen, auch antidemokratische Kritiker an sich zu binden, wenn diese sich als Vernunftrepublikaner einem rationalen Diskurs aus Argumenten stellen. Solange die Gesellschaft veränderungs- und kritikfähig

  63 Hiller (1965): Briefwechsel S. 3f. 64 Hiller (1969): Leben, Logos, S. 171.  

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bleibt, wird sie nicht zu einer „Republik ohne Republikaner werden“.65 Der „tödliche [...] Klammergriff“66 von linker, rechter und innerrepublikanischer Systemkritik, der die Weimarer Republik ideologisch zerstörte, ist nicht in Sicht, sollte aber der liberalen und demokratischen Gesellschaft sowie ihren rational argumentierenden Kritikern mahnend in Erinnerung bleiben. LITERATUR Bavaj, Riccardo: Von links gegen Weimar. Linkes antiparlamentarisches Denken in der Weimarer Republik. Bonn 2005. Beck, Kurt/ Pilath, Monika: „Der Hass erinnert an die späte Weimarer Republik“. Unter: http://www.zeit.de/politik/deutschland/2016-03/kurt-beck-rheinland-pfalz-landtagswahl-spdafd-malu-dreyer. 11.03.2016. Bering, Dietz: Die Epoche der Intellektuellen. 1898–2001. Geburt–Begriff–Grabmal. Darmstadt 2010. Bialas, Wolfgang: Intellektuellengeschichtliche Facetten der Weimarer Republik. In: Bialas, Wolfgang/ Iggers, Georg G. (Hrsg.): Intellektuelle in der Weimarer Republik. Frankfurt am Main 1997, S. 15–32. Breuer, Stefan: Die „Konservative Revolution“ – Kritik eines Mythos. In: Politische Vierteljahresschrift 31 (1990), S. 585–607. Breuer, Stefan: Anatomie der konservativen Revolution. Darmstadt 1993. Breuer, Stefan: Ästhetischer Fundamentalismus. Stefan George und der deutsche Antimodernismus, Darmstadt 1995. Büttner, Ursula: Weimar. Die überforderte Republik 1918–1933. Leistung und Versagen in Staat, Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur. Bonn 2008. Eder, Jürgen: „Wissen und verändern!“. Alfred Döblin und die Suche nach einer Republik der Literatur. In: Wirsching / Eder (2008): Vernunftrepublikanismus, S. 157–176. Fink, Anke: Die Sprache der Nazis kehrt schleichend zurück. Unter: http://www.rbb-online.de/politik/beitrag/2016/10/pegida-afd-woerter-nazi-sprache.html. 16.10.2016. Gallus, Alexander: Heimat „Weltbühne“. Eine Intellektuellengeschichte im 20. Jahrhundert. Göttingen 2012. Galtung, Johan: Strukturelle Gewalt. Beiträge zur Friedens- und Konfliktforschung. Reinbek bei Hamburg 1978. Gerstner, Alexandra: Neuer Adel. Aristokratische Elitekonzeptionen zwischen Jahrhundertwende und Nationalsozialismus. Darmstadt 2008. Grangl, Manfred/ Raulet, Gérard (Hrsg.): Intellektuellendiskurse in der Weimarer Republik. Zur politischen Kultur einer Gemengelage. Frankfurt am Main 1994. Gross, Babette: Willi Münzenberg. Eine politische Biographie. Leipzig 1991. Hiller, Kurt: Das Recht über sich selbst. Eine strafrechtsphilosophische Studie. Heidelberg 1908. Ders.: Brief an Curt Calmon. München, Psychatrische Abteilung des Garnisonslazaretts 31.12.1908. In: DLA Marbach, A: Loewenson, 68.1129.

  65 Ossietzky sah die „Republik ohne Republik“ auch aus umgekehrter Perspektive, dem Fehlen einer Republik, für die es sich zu kämpfen lohnen würde. „Man spricht häufig von der Republik ohne Republikaner. Es liegt leider umgekehrt: die Republikaner sind ohne Republik. Und es gibt keine Republik, weil es keine Linke gibt. Weil das große Moorgelände der ‚Mitte‘ alles aufsaugt. Weil man viel lieber ‚ausbalanciert‘ als kämpft.“ Ossietzky (1924): Deutsche Linke, S. 1323. 66 Bavaj (2005), Von links, S. 496.

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ZURUFE LINKS – UNRUHE BEI DEN NATIONALSOZIALISTEN Wirken und Wahrnehmung Erich Ludendorffs als Reichstagsabgeordneter, 19241928 Friederike Höhn 1. EINLEITUNG „Es ist eine Schmach, daß noch immer politische Gefangene festgehalten werden, daß Kommunisten gefangen gehalten werden, während ein Ludendorff frei herumläuft.“1 Mit diesen Worten begrüßte der KPD-Abgeordneten Iwan Katz in der Eröffnungssitzung des Zweiten Reichstages am 27. Mai 1924 den neugewählten Abgeordneten Erich Ludendorff. Die wenig herzlichen Worte zeigen, dass es sich hier nicht um irgendeinen Neuling handeln konnte: Noch wenige Wochen vor der Wahl hatte Ludendorff als Mitputschist des 9. November 1923 vor dem Münchner Landgericht gestanden und war freigesprochen worden. Auch am Kapp-Putsch in Berlin drei Jahre zuvor war er beteiligt gewesen, was ihm aber damals nicht nachgewiesen werden konnte. Schließlich war er den Deutschen auch und vor allem noch als der Feldherr des Weltkrieges in Erinnerung, der an der Spitze der 3. Obersten Heeresleitung (OHL) mit allen Mitteln einen Siegfrieden erreichen wollte und für viele die Schuld an der Niederlage personifizierte. Sein politisches Profil war über die Jahre wechselhaft, doch eines war Ludendorff nie: ein Befürworter von Republik und Parlamentarismus. Dennoch saß er nun als Abgeordneter im Reichstag der Weimarer Republik. Zwar gehört Ludendorff zweifellos zu den bekanntesten und in mancher Hinsicht auch einflussreichsten Personen der deutschen Geschichte der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Doch konzentrieren sich die meisten Untersuchungen auf die Zeit des Ersten Weltkrieges.2 Zwar fehlt sein Name in kaum einer Untersuchung zur politischen oder militärischen Geschichte der Weimarer Republik, doch steht eine umfassende Gesamtdarstellung seiner Nachkriegsbiografie bislang aus.3 Ins-

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Protokoll der 1. Sitzung vom 27.5.1924, in: Sten.Ber., II. WP, Bd 381, S. 16, hier S. 1C. Goodspeed (1966): Ludendorff, Venohr (1993): Ludendorff, Nebelin (2010): Ludendorff. Thoß (1978): Ludendorff-Kreis, Chickering (2003): Ludendorffs letzter Krieg, Amm (2006): Ludendorff-Bewegung.

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besondere zu seiner Zeit als Abgeordneter im Reichstag klafft eine erhebliche Lücke.4 Dabei lassen sich anhand der Untersuchung dieses Lebensabschnittes markante Punkte von Ludendorffs Lebensweg und Wirkungskraft, Selbstverständnis und öffentlicher Wahrnehmung nachvollziehen. Am 26. Oktober 1918 entließ Kaiser Wilhelm II. Ludendorff aus seinen Diensten, seit 1916 Erster Generalquartiermeister der Armee und faktischer Chef des Generalstabes. Damit endete dessen altes Leben, und es begann der „letzte Krieg“, den Ludendorff in seinem Leben führen würde und der nur ein Ziel kannte: die Rückeroberung von Macht, Ansehen und Einfluss.5 Diesen Kampf führte er mit Schwert und Feder, beteiligte sich in der Aussicht auf eine erneute Spitzenposition an zwei Umsturzversuchen und veröffentlichte Unmengen an Artikeln, Broschüren und Büchern, die seinen Zeitgenossen vor Augen führen sollten, dass nur er qua seiner historischen Größe das deutsche Volk retten werde.6 Es gelang ihm, eine beträchtliche Schar von Anhängern in rechtsnationalen, republikfeindlichen Kreisen um sich zu scharen und schließlich zu einem der Protagonisten der völkischen Bewegung zu werden.7 Nach der Verurteilung Hitlers stieg er zu deren unumstrittenen Führer auf – und entschied, die Völkischen und Nationalsozialisten bei den Reichstagswahlen antreten zu lassen. Dass der überzeugte Antiparlamentarier sich für die Nutzung des Parlaments entschied und als Abgeordneter dann den Sturz von der zentralen Figur innerhalb der völkischen Bewegung zur politischen Randständigkeit und Isolation erlitt, fordert doch dazu auf, mehr Licht in die „parlamentarische“ Phase von Ludendorffs öffentlichem Wirken zu bringen. Hierzu sollen die Umstände, die zu dem völkischen Zusammenschluss und der Entscheidung zugunsten einer parlamentarischen Vertretung geführt hatten, angesprochen und in diesem Rahmen die Motive und Ziele Ludendorffs beleuchtet werden. Ausgehend hiervon wird anschließend die von Ludendorff wahrgenommene parlamentarische Praxis sowie sein eigenes parlamentarisches Wirken geschildert. Eine letzte Überlegung widmet sich dem Widerhall, den der Abgeordnete Ludendorff bei den interessierten Zeitgenossen gefunden hat. Hier sollte sich zeigen, dass eine seltsame Interessenskoalition zwischen den politisch zutiefst verfeindeten Gruppierungen bei der Wahrnehmung von Ludendorffs parlamentarischer Phase herausbildete.

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Ansätze ebd., S. 7891. Döring (2001): Parlamentarischer Arm sowie Wulff (1968): DVFP – beide konzentrieren sich auf Parteien, nicht auf Einzelakteure. Vgl. Chickering (2003): Ludendorffs letzter Krieg. Ludendorff veröffentlichte zahllose Beiträge im Völkischen Kurier und in der Deutschen Wochenschau. Zu seinen wichtigsten Büchern gehören Ludendorff (1919): Kriegserinnerungen, Ludendorff (1920): Urkunden der Obersten Heeresleitung, Ludendorff (1921): Kriegführung und Politik, Ludendorff (1935): Der totale Krieg sowie die posthum erschienene, dreibändige Autobiografie Vom Feldherrn zum Weltrevolutionär und Wegbereiter Deutscher Volksschöpfung (zitiert als Lebenserinnerungen IIII). Hierzu Thoß (1978): Ludendorff-Kreis.

Wirken und Wahrnehmung Erich Ludendorffs als Reichstagsabgeordneter

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2. DER WEG INS PARLAMENT – LAGER, MOTIVE UND ZIELE DER VÖLKISCH-NATIONALSOZIALISTISCHEN RECHTEN UND IHRES EXPONENTEN LUDENDORFF Nach der Verurteilung Hitlers im Putsch-Prozess oblag es dem ehemaligen Generalquartiermeister, die Bewegung zusammenzuhalten. Hierbei erblickte er in den für Mai angekündigten Wahlen eine gute Gelegenheit „gemeinsamen Handelns und einheitlichen Auftretens“ der völkischen Bewegung.8 Die bereits im März 1923 zwischen Hitler und dem Führer der Deutschvölkischen Freiheitspartei (DVFP), Albrecht von Graefe, begonnene Zusammenarbeit war seit Februar 1924 auf maßgebliches Einwirken Ludendorffs hin intensiviert worden. Schließlich konnte eine Vereinbarung zum Zusammenschluss beider Parteien für die Dauer von sechs Monaten getroffen werden, deren Leitung das Triumvirat Ludendorff, Graefe und für die Nationalsozialisten Gregor Straßer übernahm.9 So unterschiedlich DVFP und NSDAP in ihrer Struktur und ihrer Auffassung von völkischer Politik waren, zu diesem Zeitpunkt verband sie die Angst vor dem Untergang: Beide Parteien waren nach dem Putsch verboten worden, die NSDAP war ohne Hitler führerlos, und auch die DVFP war durch den Misserfolg geschwächt worden. Der parteilose Ludendorff nahm als überparteilicher spiritus rector die Rolle eines inoffiziellen Schirmherrn der Bewegung ein und sah sich selbst dafür verantwortlich, die auseinanderstrebenden Gruppierungen zusammenzuhalten. Der richtige Weg dafür schien ihm die Beteiligung an Wahlen – was Hitler strikt ablehnte. Dieser war der Ansicht, die Bewegung sei dazu noch nicht stark genug; deren Einflussmöglichkeiten in Parlamenten betrachtete er zu dieser Zeit als nicht ausreichend, um wirkliche Veränderungen bewirken zu können.10 Die ersten Wahlergebnisse gaben Ludendorff hingegen recht: Das Zweckbündnis konnte bei Landtagswahlen in Bayern, Thüringen und Lübeck beachtliche Erfolge verzeichnen, in Mecklenburg und Württemberg wurde der Völkische Block auf Anhieb sogar drittstärkste Kraft.11 Mit diesem Rückenwind ausgestattet, setzte Ludendorff nun seinen Namen an die Spitze der Reichsliste für die anstehenden Reichstagswahlen und begab sich ab Mitte April auf Wahlkampftour durch Bayern.12 Der Völkische Block warb damit, im Parlament gegen die Bestimmungen des Versailler Vertrages, gegen die parlamentarische Demokratie und insbesondere gegen die SPD kämpfen zu wollen. Als Ziele wurden die Verwirklichung der Volksgemeinschaft ohne Klassenkampf ausgegeben, der Ausschluss der Juden aus dem   8 9

Ludendorff (1940): Lebenserinnerungen I, S. 327. Deutsche Freiheitsbewegung in Nord und Süd, in: Reichswart vom 17.3.1923, Wulff (1968): DVFP, S. 22, Kershaw (1998): Hitler, S. 284. – Die DVFP war nach dem Rathenau-Mord 1922 als dezidiert antisemitische, völkische Abspaltung von der DNVP innerhalb des Parlaments entstanden. Ihr gehörten Albrecht von Graefe, Wilhelm Henning und Reinhold Wulle als führende Köpfe an. Nach dem Münchner Putschversuch war sie bis Ende Februar 1924 verboten. 10 Vgl. Döring (2001): Parlamentarischer Arm, S. 42. 11 Vgl. ebd., S. 47. 12 Vgl. Ludendorff (1940): Lebenserinnerungen I, S. 333.  

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öffentlichen Leben und die Abschaffung des jetzigen Parlamentarismus – als „geistlose, rein zahlenmäßige Mehrheitsanbetung“ verunglimpft – versprochen. Stattdessen wolle man einen völkischen Staat mit berufsständischer Volksvertretung errichten.13 In letzterem Punkt gingen die Ansichten beider Parteien stark auseinander: Die NSDAP verfolgte weiterhin die Idee eines nach italienischem Vorbild gestalteten Führerstaates, während der DVFP ein an Bismarcks Reichsschöpfung angelehntes Staatsgebilde mit einem Reichsverweser und einem geheimen Rat an der Spitze vorschwebte. Den Faschismus und das Führerprinzip lehnte sie kategorisch ab.14 Solche Gegensätze innerhalb der von Ludendorff angeführten Parteienverbindung werfen die Frage nach dessen eigenen Motiven und Zielvorstellungen auf. Bettina Amm verortet Ludendorff ursprünglich im Feld der „alten Nationalisten“, dem auch die Mitglieder der DVFP zuzuordnen sind.15 So ist es nicht verwunderlich, dass er nach dem Krieg zunächst Gefallen an der Deutschnationalen Volkspartei (DNVP) fand und öffentlich als Monarchist und Unterstützer des Hauses Hohenzollern in Erscheinung trat.16 Nach dem gescheiterten Kapp-Putsch wandte er sich radikaleren, rechtsnationalen Kreisen zu, die ihn letztlich in die völkische Bewegung führten.17 In dieser für Verschwörungstheorien fruchtbaren Umgebung verstärkten sich auch seine eigenen Erklärungen dafür, warum der Krieg verloren ging und warum er noch immer keine neue Stellung an der Spitze erreicht hatte. Ludendorff gehörte bekanntermaßen zu den Geburtshelfern der „Dolchstoßlegende“, welche nicht das Versagen der militärischen Führung für die Kriegsniederlage verantwortlich machte, sondern sozialistische und pazifistische Kräfte beschuldigte, die deutsche Kriegführung sabotiert und den Untergang herbeigeführt zu haben.18 Ludendorff zog daraus die Konsequenz, dass nicht mehr länger das Primat des Politischen, sondern das des Militärischen gelten müsse, um das deutsche Volk wieder zu Kraft und Größe zu führen. Dazu sei neben einer starken Armee auch die Ausbreitung militärischer Tugenden und Denkweisen in der gesamten Bevölkerung vonnöten, also die Militarisierung von Staat und Gesellschaft, um das deutsche Volk auf den nächsten und entscheidenden Krieg vorzubereiten. Familie, Volkstum und Rassebewusstsein stellten hierbei wichtige Elemente dar, auch in wirtschaftlicher Perspektive.19 1921 befürwortete Ludendorff an der Spitze dieses Staates noch den zurückgekehrten

  13 Vgl. Wahlaufrufe der DVFP und der NSDAP, in: Reichstagshandbuch II/1924, S. 318322 und 322324. 14 Vgl. Breuer (2008): Die Völkischen, S. 196. 15 Vgl. Amm (2006): Ludendorff-Bewegung, S. 6367, Zitat S. 63. 16 Ebd., S. 70f. 17 Vgl. Thoß (1978): Ludendorff-Kreis, S. 6065. 18 Vgl. Borst (1969): Ludendorff-Bewegung, S. 1420. – Zur Dolchstoßlegende und deren Verbreitung und Einfluss siehe Krumeich (2001), Dolchstoßlegende, Barth (2003): Dolchstoßlegenden. 19 Vgl. Ludendorff (1921): Kriegführung und Politik, S. 332342.  

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Hohenzollernfürsten; spätestens 1923 aber sah er sich selbst in dieser Position.20 Erst mit der Gründung des Tannenbergbundes, der Dachorganisation der ludendorfftreuen Verbände nach dessen Loslösung von Hitler und den Deutschvölkischen 1925, formulierte Ludendorff hieraus ein konkretes politisches Programm: In den Kampfzielen vom Sommer 1927 wird festgehalten, dass sich alle politischen, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Bereiche der Wehrhaftigkeit und der Freiheit des deutschen Volkes unterzuordnen hätten. Damit waren unter anderem weitgehende Autarkie, umfangreiche Wehrerziehung und Wehrpflicht, eine diktatorisch geführte Regierung – befreit von den „undeutschen Zeitkrankheiten“ Parlamentarismus und Bürokratie – sowie der vollständige Ausschluss von Juden aus dem Staate gemeint.21 Die Ähnlichkeiten mit dem Programm der NSDAP sind kaum zu übersehen, den großen Unterschied bildete die religiöse Weltanschauung, die in der Ludendorff-Bewegung über allem schwebte. Es lässt sich also feststellen, dass die Positionen Ludendorffs die in der Verbindung von Deutschvölkischen und Nationalsozialisten vorfindbare Gemengelage spiegelten, mit vielen Gemeinsamkeiten, aber auch mit jeweils sehr eigenen Akzenten in der angestrebten staatlichen Erneuerung – patriarchal, faschistisch, militaristisch. Diese Heterogenität war allerdings in jener Phase ein allen Beteiligten bewusstes Wesensmerkmal der rechtsextremen Republikgegner und hatte bis dato einem gemeinsamen Vorgehen im Weg gestanden. Ludendorff konnte diese Gegensätze für den Moment überstrahlen und die verschiedenen Lager für ein geschlossenes Handeln gewinnen, mit dem Ziel, eben jene Heterogenität abzubauen und Einheit innerhalb des rechtsextremen Lagers zu erreichen. Wie nun bewährte sich jener Weg und die sich daran anschließende Präsenz im Parlament? 3. DAS SCHEITERN LUDENDORFFS IN FRAKTION, BEWEGUNG UND PARLAMENT Für Ludendorff war die Wahl zunächst „ein voller Erfolg“.22 Die Listenvereinigung errang auf Anhieb fast zwei Millionen Stimmen und zog mit 32 Abgeordneten in den Reichstag ein.23 Am 27. Mai 1924 fand die Parlamentseröffnung statt, staatstragend wurde der prominente und unter besonderer Beobachtung der Presse stehende Neuling Ludendorff von seinen Fraktionskollegen in den Saal geleitet. Die erste, bereits eingangs erwähnte Sitzung war keineswegs von erwartbarer, feierlicher Langeweile geprägt, sondern wurde zu einer Agitationsveranstaltung der KPD, deren Abgeordnete mit derart viel Getöse die Freilassung ihrer in Haft befindlichen   20 So Nebelin (2000): Völkischer Prophet, S. 247 auf Basis von Ludendorff, Die völkische Bewegung, in: Völkischer Beobachter vom 1.11.1923. 21 Ludendorff (1951): Lebenserinnerungen II, S. 8689, Zitat S. 87. 22 Ludendorff (1940): Lebenserinnerungen I, S. 335. 23 Gesamtergebnis der Wahlen zum Reichstag am 4. Mai 1924, in: Reichstagshandbuch II/1924, S. 348f.  

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Genossen forderten, dass sie schließlich abgebrochen werden musste.24 Das sich Ludendorff hier erstmals hautnah bietende Bild der deutschen Volksvertretung bestätigte seine Vorurteile: „Theateraufführungen“ nannte er die Sitzungen später in seinen Erinnerungen.25 An der Eröffnung des Dritten Reichstags am 5. Januar 1925 nahm er dementsprechend nicht mehr teil.26 Seine Arbeit als Mitglied des Reichstages, der Beginn seines „parlamentarischen Leidensweges“27, hatte er bereits am 25. Mai aufgenommen: In ihrer ersten Sitzung konstituierten sich die gewählten Abgeordneten des Völkischen Blocks als Fraktion unter dem Namen Nationalsozialistische Freiheitbewegung (NSFB) – eine Kompromissbenennung, die auf den Vorschlag Ludendorffs zurückging.28 Zum Fraktionsführer bestimmte er Albrecht von Graefe, den geübtesten Parlamentarier in den eigenen Reihen und Kopf des nominell wesentlich stärkeren Abgeordnetenblocks der DVFP. Da auch der Fraktionsvorstand von den Deutschvölkischen dominiert wurde, behielten sie die Oberhand in der Ausrichtung der NSFB-Politik im Parlament – verbunden mit der Hoffnung, die radikalen Nationalsozialisten eindämmen zu können.29 Beide Parteien verband die Verachtung für das Weimarer System und den Reichstag, doch die DVFP lehnte die parlamentarische Beteiligung nicht ab, sondern war der Ansicht, „daß man bis zu einer Möglichkeit, andere Verhältnisse herbeizuführen, auch mit dem Parlamentarismus arbeiten“ müsse.30 Die NSDAP hingegen verstand sich als antiparlamentarische Partei und konnte ihren Einzug in den Reichstag für sich und ihre Anhänger nur damit rechtfertigen, durch konsequente Regelverweigerung „das Parlament von innen heraus zerstören“31 zu wollen. Interne Streitigkeiten über die Arbeit und das Auftreten der Fraktion waren also schon vorprogrammiert. Dazu trug insbesondere die von Ludendorff und Graefe forcierte Einigung der Bewegung in einer einzigen Partei nach Vorbild der Reichstagsfraktion bei. Doch Ludendorffs Autorität wurde hier ihre Grenzen aufgezeigt: Die NSDAP verweigerte den Beitritt ebenso wie etliche ihr nahestehende Gruppierungen, womit die   24 Vgl. Protokoll der 1. Sitzung vom 27.5.1924, in: Sten.Ber., II. WP, Bd 381, S. 16, Keine Regierung und der Reichstag unter Kommunisten-Obstruktion, in: Berliner Börsenzeitung vom 28.5.1924, Lärmender Auftakt im Reichstag, in: Vossische Zeitung vom 28.5.1924, Die erste Reichstagssitzung abgebrochen, in: Berliner Tageblatt vom 28.5.1924. 25 Ludendorff (1940): Lebenserinnerungen I, S. 336. 26 Vgl. Protokoll der 1. Sitzung vom 5.1.1925, in: Sten.Ber., III. WP, Bd 384, S. 17, hier S. 2C. 27 Ludendorff (1940): Lebenserinnerungen I, S. 335. 28 Vgl. Döring (2001): Parlamentarischer Arm, S. 65. 29 Vgl. ebd., S. 67f. 30 Deutschvölkisch! In: Reichswart vom 22.7.1922, S. 4. Siehe auch Gründungsaufruf der DVFP vom 17.2.1922, abgedruckt bei Wulff (1968): DVFP, S. 275f. und Abg. Stöhr (NSFB), Protokoll der 16. Sitzung vom 23.7.1924, in: Sten.Ber., II. WP, Bd 381, S. 529567, hier S. 562B. 31 Rede von Rudolf Buttmann vom 24.1.1924, zitiert nach Döring (2001): Parlamentarischer Arm, S. 47.Vgl. auch Nationalsozialismus und Wahlen, in: Großdeutsche Zeitung vom 8.3.1924, Hitler in einem Brief an Rudolf Heß vom 29. Juli 1925, nach: Kershaw (1998): Hitler, S. 285.  

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neue Partei nichts weiter als eine Dachorganisation lose verbundener völkischer Gruppen blieb.32 Der General konnte seiner Rolle als Einiger nicht gerecht werden und begann, sich von seinen Getreuen zu distanzieren. Trotz aller Konflikte erneuerten Deutschvölkische und Nationalsozialisten zur Reichstagswahl im Dezember 1924 ihre Listenverbindung, mussten aber erhebliche Verluste hinnehmen.33 Nach der Haftentlassung Hitlers im Frühjahr 1925 und der Aufhebung des Verbots der NSDAP löste sich die pragmatische Ehe der völkischen Parteien und bestand fortan nur noch im Reichstag. Bei der Scheidung schloss sich Ludendorff keiner der beiden Gruppen an, sondern trat von der Reichsführerschaft zurück und verließ Berlin.34 Der Fraktion blieb er bis zum Frühjahr 1927 verbunden, doch an Sitzungen nahm er nicht mehr teil.35 Innerhalb der Bewegung geriet Ludendorff aufs Abstellgleis – was insbesondere bei den für ihn katastrophalen Wahlen zum Reichspräsidenten offensichtlich wurde: Am 29. März 1925 trat er als Kandidat der NSDAP an, die DVFP hingegen unterstützte Karl Jarres, den Kompromisskandidaten des Reichsblocks (Deutsche Volkspartei, Wirtschaftspartei und DNVP). Ludendorff konnte nur 286.000 Stimmen (1,1 Prozent) auf sich vereinigen und damit von Hitler ohne Schaden fallen gelassen werden – seine Zeit als Zugpferd der Bewegung war vorüber.36 Ludendorff musste sich eingestehen, dass seine Gefolgschaft und sein Einfluss geschwunden waren: „Hinter mir blieben nur wenige Deutsche“, konstatierte er im Sommer 1925.37 Neben seiner grundsätzlichen Abneigung gegenüber dem Parlamentarismus waren es vor allem diese inneren Kämpfe, die Ludendorff „das parlamentarische Leben so zuwider“ machten.38 Die Bewegung in das Parlament zu führen und dadurch zusammenzuhalten, war sein Bestreben gewesen – und er war kläglich darin gescheitert, seiner Rolle als überparteiliches, verbindendes Element gerecht zu werden. Die Schuld dafür suchte er aber nicht bei sich selbst, sondern machte das Wirken der „überstaatlichen Mächte“ innerhalb der eigenen Reihen dafür verantwortlich.39 Spätestens 1926 nahm er sein Mandat als Abgeordneter nicht mehr wahr. Allerdings: Auch zuvor kann von einer regen Tätigkeit im Reichstag keine Rede sein.   32 Vgl. Döring (2001): Parlamentarischer Arm, S. 6973. 33 Vgl. Wulff (1968): DVFP, S. 64. 34 Vgl. Döring (2001): Parlamentarischer Arm, S. 75f, Rücktritt der Reichsführerschaft der NSFB, in: Deutsche Wochenschau vom 15.2.1925. 35 Ludendorff wird am 1.4.1927 erstmals als fraktionsloser Abgeordneter geführt. Vgl. Protokoll der 302. und 303. Sitzung vom 1.4.1927, in: Sten.Ber., III. WP, Bd 393, S. 1026110222, hier S. 10332, Breucker (1953): Die Tragik Ludendorffs, S. 191. 36 Vgl. Buchheim (1958): Entwicklung der Ludendorff-Bewegung, S. 366, Piper (2005): Alfred Rosenberg, S. 192. 37 Ludendorff (1940): Lebenserinnerungen I, S. 401. 38 Ebd., S. 336. 39 Ebd. Unter den „Überstaatlichen Mächten“ subsumierte Ludendorff Katholiken, Juden und Freimaurer. Erstmals erwähnt in: Ludendorff (1921): Kriegführung und Politik, S. 44 (Katholiken), S. 52 (Juden), S. 88 (Freimaurer). Vgl. Thoß (1978): Ludendorff-Kreis, S. 56 und 198.  

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Von Beginn an beteiligte sich Ludendorff weder im Sinne der DVFP am parlamentarischen Betrieb, noch suchte er diesen im Stile der NSDAP zu zerstören. Zwischen Mai 1924 und März 1928 gehörte er dem Reichstag an, in mehr als 400 Sitzungen meldete er sich kein einziges Mal zu Wort, und nur an einer Minderzahl von namentlichen Abstimmungen nahm er teil – nicht einmal an jener, als über die Freilassung seines Fraktionskollegen und Mitputschisten vom 9. November 1923, Hermann Kriebel, abgestimmt wurde.40 Für den gesamten Zeitraum 1924 bis 1928 lassen sich nur drei Gelegenheiten ausmachen, in denen Ludendorff als Abgeordneter in Erscheinung trat: erstens die Abstimmung über die Dawes-Gesetze im August 1924, zweitens jene über Locarno im November 1925 und drittens die Diskussion um die Ostsiedlung Ende 1925/Anfang 1926. Der Kampf gegen die Dawes-Gesetze war eines der zentralen Wahlkampfversprechen des Völkischen Blocks gewesen und sollte auch zum bestimmenden Thema des Zweiten Reichstags werden. Der Dawes-Plan war im Frühjahr 1924 von der alliierten Reparationskommission aufgestellt worden, um die Zahlungen des Deutschen Reiches zur Begleichung der Kriegsschäden zu regeln. Zur Aufbringung der notwendigen Finanzmittel in Höhe von einer bis 2,5 Milliarden Goldmark jährlich – und von unbestimmter Dauer – mussten etliche Gesetze geändert werden; unter anderem wurden den Alliierten hoheitliche Befugnisse zur Kontrolle der öffentlichen Haushalte, der Reichsbank und Reichsbahn eingeräumt. Im Gegenzug wurden dem Reich eine Auslandsanleihe in Höhe von 800 Millionen Reichsmark und die Räumung des Ruhrgebietes bis Jahresende zugesagt.41 Ludendorff lehnte diesen Plan rundweg ab, denn für ihn kam die Zahlung von Reparationen der Anerkennung der deutschen Kriegsschuld gleich. Doch an der Debatte im Plenum, die über mehrere Monate hinweg geführt wurde, beteiligte er sich – im Gegensatz zu seinen Fraktionskollegen – nicht. Als in der Sitzung vom 29. August schließlich die finale Abstimmung anstand, unterstützte er einen Antrag der KPD, um eine namentliche Entscheidung zu erzwingen.42 Doch er verließ den Saal bereits nach der wichtigsten, fünften Einzelabstimmung über die Änderungen des Reichsbahngesetzes, nachdem Teile der DNVP der Regierungskoalition zur notwendigen Zweidrittel-Mehrheit verholfen hatten.43 Ludendorff gab sich persönlich beleidigt und enttäuscht. Im Hinausgehen wandte er sich an seinen Nebensitzer, den DVP-Abgeordneten und Konteradmiral a.D. Franz Willi Brüninghaus: „Heute vor zehn Jahren habe ich vor Tannenberg Deutschland gerettet. Sie haben es heute aufs neue [sic] verraten.“44 Er fuhr nach Ostpreußen, um sich bei zahlreichen Gedenkveranstaltungen als eben dieser Retter feiern zu lassen und kehrte erst am   40 41 42 43 44  

Vgl. Protokoll der 4. Sitzung vom 2.6.1924, in: Sten.Ber., II. WP, Bd 381, S. 2953, hier S. 51. Vgl. Büttner (2010): Weimar, S. 567f, Döring (2001): Parlamentarischer Arm, S. 88f. Vgl. Parteivorstand der SPD (1924): Völkische im Reichstag, S. 16. Vgl. zur DNVP und Dawes-Gesetzgebung Ohnezeit (2011): DNVP, S. 260272. Zitiert nach Richter (2002): Deutsche Volkspartei, S. 345. Zitat ähnlich bei Breucker (1953): Die Tragik Ludendorffs, S. 191.

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11. Mai 1925 zu Hindenburgs Vereidigung als Reichpräsident in den Reichstag zurück.45 Ebenso wie die NSDAP und die Deutschvölkischen hatte Ludendorff nach seiner eigenen erfolglosen Kandidatur seinen langjährigen Weggefährten im zweiten Wahlgang unterstützt.46 Das Verhältnis zwischen den beiden ehemaligen Köpfen der 3. OHL war seit Ludendorffs Entlassung schwierig gewesen und verschlechtere sich im Sommer 1925, als Hindenburg seinen jährlichen Besuch bei Ludendorff in München mit der Begründung absagte, er könne als Reichspräsident nicht mit einem erklärten Republikfeind zusammentreffen.47 Daraufhin sagte Ludendorff ihm den Kampf an. Eine erste Gelegenheit bot die Verabschiedung des Locarno-Vertrages, mit welchem die im Versailler Vertrag festgelegten deutschen Grenzen im Westen und die Entmilitarisierung des Rheinlandes bestätigt und die Aufnahme des Deutschen Reiches in den Völkerbund beschlossen werden sollten.48 Ludendorff schloss sich der massiven Kritik der äußersten Linken und Rechten an, wobei er vor allem auf die Demaskierung des eigentlich rechtsnational-monarchisch gesinnten Reichspräsidenten als Republikaner abzielte, um ihn bei seinen Anhängern herabzusetzen. Hierzu kam er sogar nach Berlin, um an der Abstimmung über die Verträge teilzunehmen.49 Doch statt sich zuvor in die intensive Debatte einzumischen, um Hindenburg zu kritisieren, schrieb er nach der Ratifizierung durch das Parlament einen öffentlichen Brief, in welchem er sich direkt an Hindenburg wandte und ihn aufforderte, diesen „Vertrag der Unehre und Versklavung“ nicht zu unterzeichnen.50 Dem Rat seines alten Gefährten folgte Hindenburg bekanntermaßen nicht. Neben der Ablehnung der Außenpolitik der Regierung bildete die Förderung der Siedlung eines der Schwerpunktthemen der völkischen Politik. Schon im Zweiten Reichstag und verstärkt durch eine neue Ausweisungswelle deutscher Optanten aus Polen 1925 setzten sich die Parlamentarier mit mehreren Anträgen für die finanzielle Unterstützung der Ansiedlung dieser Vertriebenen an der deutsch-polnischen Grenze ein.51 Auch Ludendorff, aus der Provinz Posen stammend, zeigte sich hier aktiv, als er im Sommer 1925 die Grenzmark Posen-Westpreußen besuchte und sich dort als „Befreier der Ostmark“ feiern ließ – eine Anspielung auf die Schlacht von Tannenberg 1914. In einer Rede sprach er vor allem den Optanten Mut zu und   45 Ludendorff (1940): Lebenserinnerungen I, S. 256, Ludendorff (1951): Lebenserinnerungen II, S. 23. 46 Ludendorff für Hindenburg, in: Eiserne Blätter 6 (1925), H. 42, S. 797799. 47 Vgl. BArch N 77/16: Schreiben Hindenburgs an Ludendorff vom 25.8.1925 und Entwurf des Antwortschreibens vom 30.8.1925, Ludendorff (1951): Lebenserinnerungen II, S. 23. 48 Vgl. Krüger (1985): Außenpolitik Weimar, S. 269300. 49 Vgl. Protokoll der 127. Sitzung vom 27.11.1925, in: Sten.Ber., III. WP, Bd 388, S. 46194668, hier S. 4664. 50 Ludendorff im Völkischen Kurier vom 20.11.1925, zitiert nach BArch R 601/396, Bl. 8f (Abschrift). 51 Vgl. Döring (2001): Parlamentarischer Arm, S. 174f. Anträge Graefe und Genossen vom 24.7.1924 (Ds 386) und vom 2.9.1924 (Ds 542 und 543) in: Sten.Ber., Anlagen, II. WP, Bd 383 und Antrag vom 7.8.1925 (Ds 1402) in: Sten.Ber., Anlagen, III. WP, Bd 404.  

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wetterte gegen die Regierung und den Reichstag, die sich nicht um die Menschen an der Grenze kümmerten.52 Vielleicht erinnerte er sich dabei daran, dass er selbst immer noch Mitglied eben jenes Reichstags war, denn er stellte im Spätherbst zwei Anträge an die Regierung, in welchen er Beihilfen für die Planung und Ausführung der Ansiedlung und die Bereitstellung von 200 Millionen Reichsmark im Reichshaushalt für den Ankauf von Siedlungsland östlich der Elbe forderte.53 Gleichzeitig veröffentlichte Ludendorff eine Artikelserie in der Deutschen Wochenschau, in der er sich den „Aufbaufragen“ widmete: Darin richtete er den Blick in die Vergangenheit und erinnerte an sein großes Engagement zur Bevölkerungspolitik im Weltkrieg, seine Pläne zur Territorialgewinnung und Ansiedlung von Frontkämpfern und Kriegsbeschädigten in Kurland und Litauen.54 Was er seinen antisemitischen Anhängern dabei verschwieg: Während seiner Zeit in Ober Ost hatte er sich auch für die Belange der dortigen jüdischen Bevölkerung stark gemacht.55 Tatsächlich beschloss der Reichstag, die Regierung zu ersuchen, dass „die Maßnahmen zur Durchführung der Optanten- und Flüchtlingsansiedlung zu beschleunigen und unverzüglich die dazu erforderlichen Mittel zur Verfügung zu stellen“56 seien. Doch dies geschah nicht auf Basis von Ludendorffs Initiative: Fast alle Parteien, von der DNVP bis zur SPD, waren sich der großen Brisanz des Themas bewusst und hatten Anträge eingereicht.57 Hier war Ludendorff zur Abwechslung mit dem Strom geschwommen und hatte dennoch nichts erreicht: Trotz der intensiven Beschäftigung aller Regierungsorgane mit dieser „Aufgabe größter geschichtlicher Bedeutung“, so Reichskanzler Hans Luther58, konnten keine Fortschritte erzielt werden. Auch die Deutschvölkischen und Ludendorff verloren das Interesse.59 In allen drei Beispielen zeigt sich die Grundstruktur des Ludendorffschen Denken und Handelns: Er war gefangen im Weltkrieg; die Niederlage und seine persönliche Rolle darin hat er Zeit seines Lebens nicht verwunden. Seine Betrachtung tagespolitischer Themen blieb stets rückwärtsgewandt und auf sein eigenes Wirken bezogen. Probleme der Gegenwart interessierten ihn nur marginal. Den Dawes-Plan und die Locarno-Verträge lehnte er als direkte Folgen der von ihm mitverschuldeten   52 Ludendorff spricht, in: Deutsche Wochenschau vom 16.8.1925. Siehe auch Ludendorff (1951): Lebenserinnerungen II, S. 25f. 53 Vgl. Antrag Ludendorff und Genossen vom 21.11.1925 (Ds 1518) und Änderungsantrag vom 4.12.1925 (Ds 1634), in: Sten.Ber., Anlagen, III. WP, Bd 405. 54 Siehe Artikelserie „Aufbau-Fragen“ in der Deutsche Wochenschau, insb. Beitrag vom 3.1.1926. Zu Ludendorffs Politik im Weltkrieg vgl. Nebelin (2010): Ludendorff, S. 194f. und S. 344347. 55 Vgl. ebd., S. 194. 56 Entschließung vom 10.12.1925 (Ds 1638), in: Sten.Ber., Anlagen, III. WP, Bd 405. 57 Vgl. Antrag Müller (Franken) und Genossen vom 12.1.1925 (Ds 258), in: Sten.Ber., Anlagen, III. WP, Bd 397, Anträge Behrens und Genossen vom 10.3.1926 (Ds 2038) und vom 24.3.1926 (Ds 2151), in: Sten.Ber., Anlagen, III. WP, Bd 407, gemeinsamer Bericht des Wohnungswesens- und des Haushaltsausschusses vom 29.6.1926 (Ds 2480), in: Sten.Ber., Anlagen, III. WP, Bd 409. 58 BArch R 43 I/1288, zitiert nach: Ludwig (2004): Ostsiedlung, S. 54. 59 Vgl. Döring (2001): Parlamentarischer Arm, S. 176.  

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Niederlage ab; bei der Thematik Ostsiedlung wiederum wollte Ludendorff aufzeigen, was er als Feldherr alles schon viele Jahre früher hätte erreichen können, wenn er nicht von der Politik auf das Feld der militärischen Kriegführung beschränkt worden wäre. Die Beispiele verdeutlichen auch, dass Ludendorff kaum Interesse an parlamentarischer Beteiligung hatte und auch bei Themen, die ihm wichtig waren, seine Möglichkeiten als Abgeordneter nicht ausschöpfte. In weitaus stärkerem Maße als seine nationalsozialistischen Kollegen blieb er in seiner antiparlamentarischen Verweigerungshaltung konsequent. Nach dem Ende seiner Abgeordnetenzeit rief er 1928 zum Wahlboykott auf und freute sich über die geringe Wahlbeteiligung.60 „Ich bin kein Politiker“, sagte Ludendorff nicht ohne Stolz von sich selbst. Vielmehr nahm er sich als Staatsmann wahr, der sich dem Wohl des Volkes verpflichtet hatte und den aus seiner Warte korrupten und verlogenen Politikbetrieb von innen aufmischen wollte.61 Dazu gehörte auch, dass seine Fraktionskollegen ihn weiterhin nicht als „Abgeordneten“, sondern als „Exzellenz“ titulierten.62 Seine Stummheit als Abgeordneter kann aber nicht allein als Protest verstanden, vielmehr sollte sie als Feigheit gedeutet werden. Als Redner im Plenum wäre er, anders als Offizier in der Truppe, als „Diktator“ im Krieg oder als einflussreicher Wortführer rechter Splittergruppen, auf Gegenrede und Widerspruch gestoßen. Eine ungewohnte Situation, der er sich nicht stellen mochte. Deshalb bevorzugte er monologe Kommunikationsformen, also die Rede vor devoten Anhängern und schriftliche Einlassungen in Form von Büchern, Broschüren und vor allem Artikeln.63 Ebensowenig wurde das Parlament zur Bühne des politischen Erfolgs seiner Fraktion, welche nicht als Keimzelle der Vereinigung funktionierte; damit verfehlte Ludendorff sein ursprüngliches Ziel der parlamentarischen Beteiligung. 4. KRITIK UND WAHRNEHMUNG DES ABGEORDNETEN LUDENDORFF Keineswegs ist es so, dass Ludendorffs Desinteresse und Verweigerung im Parlament eine absolute Ausnahme gewesen wäre.64 Auch war er bei Weitem nicht der einzige NSFB-Abgeordnete, der nie am „Tisch des Hauses“ zu allen Mitgliedern des Reichstags sprach, sondern seine Reden lieber außerhalb des Parlamentes schwang. Was ihn aber von diesen unterschied, war seine enorme Prominenz: Seit seiner Entlassung und dem Kriegsende 1918 stand er im Fokus der Öffentlichkeit,   60 Vgl. Deutsche Wochenschau vom 27.6.1928, Ludendorff (1951): Lebenserinnerungen II, S. 169. Wahlbeteiligung siehe nach Falter et al. (1986): Wahlen und Abstimmungen, S. 71. 61 Ahlemann (1929): Wahrheit über Ludendorff, S. 8. Siehe auch Ludendorff (1940): Lebenserinnerungen I, S. 335f. 62 Vgl. Rede des Abg. Henning (NSFB), Protokoll der 8. Sitzung vom 5.6.1924, in: Sten.Ber., II. WP, Bd 381, S. 107164, hier S. 157B. 63 Hierzu Borst (1969): Ludendorff-Bewegung. 64 Etwa 20 Prozent der Abgeordneten waren nur unregelmäßig oder nie anwesend, so Mergel (2002): Parlamentarische Kultur, S. 184.  

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kaum eine Woche verging, ohne dass eine Zeitung nicht etwas Neues über ihn mitzuteilen hatte. Auch im Parlament war er mehrmals thematisiert worden; das bekannteste Beispiel bildet sicherlich der damalige Reichsministerpräsident Philipp Scheidemann, der den ehemaligen Generalquartiermeister in seiner Regierungserklärung am 13. Februar 1919 einen „genialen Hasardeur“ nannte und ihn zum Symbol für die Niederlage machte.65 Auch in seiner „parlamentarischen“ Phase, beginnend mit der Bekanntgabe seiner Kandidatur für den Reichstag, fanden Pressevertreter stets genügend Anlass, sich über Ludendorff zu ärgern, zu amüsieren und vor ihm zu warnen. So erschien am 18. Januar 1924 in der SPD-Satirezeitschrift Lachen links ein Gedicht, in dem vor allem die ehemaligen Kriegsteilnehmer daran erinnert wurden, welches Leid sie unter Ludendorffs Ägide im Weltkrieg hatten erfahren müssen: [...] Und wer im Krieg das Augenlicht verlor, Wählt Ludendorff, wählt Ludendorff, Wen Gas zerfraß, wem Hand und Fuß erfror, Wählt Ludendorff, wählt Ludendorff. [...]66

Nach seinem Einzug in den Reichstag verstummte die Kritik an Ludendorff weder im Plenum noch in der Presse. Besonders die Sozialdemokraten und die Linksliberalen schossen sich auf ihn ein und skandierten, dass Ludendorff mit seinem Mandat nun die „ersehnte Führerrolle“ zu erreichen hoffe. Doch dafür fehle es ihm an grundlegenden politischen Kenntnissen, sodass sich die Aktivität im Reichstag dahingehend erschöpfe, dass Ludendorff „sobald ein völkisches Kraftwort ertönt, den Arm hebt, die Hand mit dem Einglas steil emporstreckt und Heil! ruft.“67 Da Ludendorff im Plenum nie das Wort ergriff, war inhaltliche Kritik an seinen politischen Äußerungen nicht möglich. So verlagerten sich die Beobachter darauf, Ludendorffs Image als strammer Völkischer zu torpedieren und ihn als einen Opportunisten zu entlarven, der sein Fähnlein gerne mit dem Wind drehe. Dies betraf vor allem drei Punkte: Ludendorffs ambivalente Haltung gegenüber den Juden in Vergangenheit und Gegenwart, der Widerspruch zwischen der Ablehnung des gegenwärtigen Staatsystems und der Annahme seiner Leistungen in Form von Diäten und Pensionen sowie die Zusammenarbeit seiner Fraktion mit der KPD. In Reden und Veröffentlichungen zeigte Ludendorff sich als überzeugter Antisemit, der die Juden – sowohl die deutschen Juden als auch das den überstaatlichen Mächten zugeordnete „Weltjudentum“ – für die Kriegsniederlage und die Misere des deutschen Volkes verantwortlich machte.68 Seine Beobachter wiesen aber auf   65 Protokoll der 6. Sitzung vom 13.2.1919, in: Sten.Ber. Nationalversammlung, Bd 326, S. 4365, hier S. 46A. 66 Ludendorff ist Reichstagskandidat, in: Lachen links vom 18.1.1924, S. 15. 67 Ludendorff in Weimar, in: Hamburger Echo vom 16.8.1924, Ludendorff im Reichstag, in: Frankfurter Zeitung vom 26.6.1924, Völkische Götzendämmerung, in: Vorwärts vom 31.8.1924. 68 Ludendorff im Völkischen Kurier vom 20.11.1925, zitiert nach BArch R 601/396, Bl. 8f (Abschrift).  

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den – durch die Geschichtswissenschaft bestätigten – Fakt hin, dass er sich im Krieg besonders stark für die Belange der osteuropäischen Juden im Besatzungsgebiet Ober Ost eingesetzt habe.69 Kritisch-amüsiert zeigten sich seine Gegner auch darüber, dass Ludendorff aus Angst vor Attentaten der KPD um Schutz seiner Person in der Reichshauptstadt gebeten hatte – beim jüdischen Präsidenten der Berliner Politischen Polizei, Bernhard Weiß.70

Abb. 1: Die Lebensmüden71

  69 Vgl. Parteivorstand der SPD (1924): Völkische im Reichstag, S. 19f, Einst konnte er mauscheln, in: Lachen links vom 25.4.1924, S. 199. Siehe auch Abg. von Richthofen (DDP), Protokoll der 190. Sitzung vom 28.4.1926, in: Sten.Ber., III. WP 1924, Bd 390, S. 68956925, hier S. 6916. – Zu Ludendorffs Einsatz für die Ostjuden siehe Nebelin (2010): Ludendorff, S. 194 und Stražas (1982): Dezernat für jüdische Angelegenheiten, S. 316318. 70 Vgl. Protokoll der 6. Sitzung vom 4.6.1924, in: Sten.Ber., II. WP, Bd 381, S. 67101, hier S. 88 und Protokoll der 8. Sitzung vom 5.6.1924, in: ebd., S. 107164, hier S. 125B. 71 In: Lachen links vom 28.11.1924, S. 579. Online verfügbar gemacht durch die UB Heidelberg. http://lachenlinks.uni-hd.de  

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Das Verhältnis zur KPD war erwartungsgemäß besonders angespannt. Bereits in der ersten Sitzung des Zweiten Reichstags trat deren Abgeordneter Werner Scholem ans Rednerpult und verhöhnte Ludendorff, indem er eine Brille mit blauen Gläsern hochhob – eine beliebte Anspielung auf Ludendorffs Flucht vor der Revolution nach Schweden 1918.72 Im parlamentarischen Betrieb hingegen verband die beiden extremen Flügelparteien häufig mehr als sie trennte, vor allem als es in der zweiten Wahlperiode um die Freilassung politischer Gefangener ging oder bei der bereits erwähnten Abstimmung über die Dawes-Gesetze. Lachen links veröffentlichte angesichts dieser guten Zusammenarbeit gerne entsprechende Karikaturen und Bemerkungen, etwa jene vom 28. November 1924, die Ludendorff und Ruth Fischer, Wortführerin der äußersten Linken, beim gemeinsam angestrebten Suizid angesichts der bevorstehenden Neuwahlen zeigte. Dabei legte der Zeichner Ludendorff die Worte „Komm, geliebte Ruth Fischer, wir haben im Reichstag Seite an Seite gestritten, jetzt müssen wir auch vereint in den – Wahlkampf gehen...“ in den Mund.73 Wie allen Mitgliedern seiner Fraktion wurde auch Ludendorff vorgeworfen, sich vor allem wegen der Diäten und der Freifahrkarte in den Reichstag gewählt haben zu lassen.74 In einer Agitationsbroschüre für Funktionäre rechnete die SPD vor, dass Ludendorff nun als Abgeordneter neben einer stattlichen Generalspension von 22 000 Mark auch noch Diäten in Höhe von monatlich 318 Mark beziehe – und damit sehr gut von den Geldern des Staates lebe, den er so bitter bekämpfte.75 Mag die gute finanzielle Ausstattung für einige seiner Fraktionskollegen durchaus wichtig gewesen sein, dürften wirtschaftliche Motive bei Ludendorffs Kandidatur für den Reichstag keine so ausschlaggebende Rolle gespielt haben. Ansonsten hätte er sich öfter auf seinem Platz im Plenum einfinden müssen: Der Reichstag erhob Strafabzüge bei unentschuldigtem Fehlen, sodass Ludendorffs permanente Nichtanwesenheit die Höhe der Diäten stark reduzierte.76 Weitaus interessanter dürften hingegen die Freifahrkarte für die Reichsbahn und der Schutz vor Strafverfolgung durch parlamentarische Immunität gewesen sein. Die Fahrkarte ermöglichte es ihm, zur   72 Keine Regierung und der Reichstag unter Kommunisten-Obstruktion, in: Berliner Zeitung vom 28.5.1924. Vgl. auch die Abbildung „Reichstagsabgeordneter Ludendorff“, in: Lachen links vom 16.5.1924, Titelseite. – Ludendorffs ehemaliger Adjutant und Freund bestätigte die Existenz der Brille, vgl. Breucker (1953): Die Tragik Ludendorffs, S. 79. 73 Die Lebensmüden, in: Lachen links vom 28.11.1924, S. 579. 74 Ludendorffs Diäten, in: Hamburgischer Correspondent vom 14.8.1925. 75 Parteivorstand der SPD (1924): Völkische im Reichstag, S. 6. Die Diät eines Abgeordneten betrug seit 1923 25 Prozent eines Ministergehalts; 1924 waren dies 318 Mark monatlich, 1928 bereits 750 Mark, wobei sich die Kaufkraft verdoppelte. Vgl. Mergel (2002): Parlamentarische Kultur, S. 113. Die tatsächliche Höhe von Ludendorffs Pension ist nicht bekannt. Andere Offiziere, etwa General von Lüttwitz, verloren nach dem Kapp-Putsch von 1920 (vorübergehend) ihre Pensionsansprüche, vgl. Kabinettssitzung vom 8.2.1927, in: Akten der Reichskanzlei. Weimarer Republik. Kabinett Marx III/IV, Bd 1, S. 528530. Ludendorff war davon nicht betroffen, da ihm seinerzeit keine Beteiligung am Staatsstreich nachgewiesen werden konnte. 76 Vgl. Mergel (2002): Parlamentarische Kultur, S. 110.  

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politischen Agitation das gesamte Reich bereisen zu können – was er auch kräftig wahrnahm und aufgrund des Schutzes vor Strafverfolgung ohne Rücksicht auf mögliche rechtliche Folgen seine politischen Gegner diffamieren und gegen den Staat hetzen konnte. Doch nicht nur von seinen politischen Kontrahenten wurde Ludendorffs Tätigkeit im Reichstag kritisiert; auch aus den eigenen Reihen hagelte es Kritik. Das Plenum sei nicht der richtige Platz für Ludendorff, schrieben Bremer Nationalsozialisten anlässlich der Neuwahlen: „Ludendorff, verlaß‘ das Parlament!“ Doch ihnen ging es nicht darum, dass Ludendorff sich nicht wie ein Abgeordneter verhielt – im Gegenteil: Sie befürchteten, er könne ein richtiger Parlamentarier werden. Daher warnten sie ihn, sich nicht weiter dem „zersetzenden Gifthauch des Parlaments“ auszusetzen.77 Auch der DNVP-Abgeordnete Erich Wienbeck zeigte sich ehrlich betrübt über Ludendorffs Mandat, denn auch ihm erschien es als der falsche Weg. In seinen Erinnerungen von 1947 schrieb er über seinen damaligen Eindruck: Am meisten schmerzte es mich […], Ludendorff im Reichstag zu sehen. Wenn einer dahin nicht gehörte, dann war er es. […] Hätte er es nicht getan, […], dann wäre er und nicht Hindenburg der Nachfolger Eberts […] gewesen.78

Wenngleich Ludendorff im Parlament und in der Presse auch weiterhin vor allem als General des Weltkriegs und als Mitputschist von 1920 und 1923 präsent blieb, so fügten sich in seiner Zeit als Reichstagsabgeordneter doch auch neue Facetten zur Wahrnehmung und insbesondere zur kritischen öffentlichen Beobachtung des prominenten Republikgegners hinzu. Dabei fiel es seinen Gegnern naturgemäß schwer, sich inhaltlich an einem Abgeordneten abzuarbeiten, der allein durch konsequente Verweigerung auffiel. Dadurch bot er keine Angriffsfläche. Es blieb allein die Möglichkeit, ihm die Befähigung zum Politiker abzusprechen, ihn als Personifikation, vielleicht sogar als „Posterboy“ der völkischen Bewegung darzustellen. Hierbei zeigt sich eine starke Konvergenz zwischen Eigen- und Fremdwahrnehmung: Ludendorff sah sich selbst nicht als Politiker und Abgeordneter und von seinen kritischen Beobachtern wurde ihm dies auch nicht zuerkannt. In beiden Bildern dominiert die Perzeption als ehemaliger General, als Mitputschist und als völkischer Agitator auf der Straße – in entsprechend unterschiedlicher Bewertung. 5. BILANZ Ich habe das parlamentarische Leben aus tiefster Seele verabscheut. Für einen an Tätigkeit gewöhnten Menschen war das Herumsitzen in den Speiseräumen, auf den Stühlen der Wandelhalle oder das Zuhören langer Reden, die nur für die Parteipresse gesprochen wurden, und das Erleben des ganzen Getriebes ‚im Plenum‘ – gut, daß das ein Fremdwort ist – eine Strafe.79

  77 Zitiert nach Ludendorff, verlaß‘ das Parlament, in: Frankfurter Zeitung vom 2.11.1924. 78 BArch KLE 627: Manuskript der Lebenserinnerungen Erich Wienbecks für die Jahre 1919– 1947, zitiert nach Terhalle (2009): Deutschnational in Weimar, S. 135. 79 Ludendorff (1940): Lebenserinnerungen I, S. 335f.

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Mit dem Ziel, das völkische Lager zu einigen, war Ludendorff 1924 als Kandidat angetreten. Im Machtkampf zwischen Graefe, Hitler und ihm selbst hatte er sich von seinen beiden Kontrahenten für deren jeweilige Anliegen instrumentalisieren lassen: Mit Graefe gemeinsam führte er gegen den Willen Hitlers die Nationalsozialisten ins Parlament und versuchte, die Abwesenheit des NSDAP-Vorsitzenden zur Gründung einer völkischen Einheitspartei zu nutzen; von Hitler ließ er sich als aussichtloser Kandidat bei den Reichspräsidentschaftswahlen gegen den Wunsch der Deutschvölkischen aufstellen. Im politischen Feld zwischen Intrigen und Zweckbündnissen war Ludendorff beiden unterlegen– sei es aus Naivität, Unwissen oder falschem Vertrauen. Zwischen den Lagern zerrieben, wandte er sich schließlich ab und suchte in der Gründung des Tannenbergbundes eine ihm loyal ergebene Alternative zu schaffen – womit er Ende der 1920er Jahre mehr oder weniger in der Versenkung verschwand. Dabei hatte Ludendorff bis 1924 sicherlich nicht zu jenen gehört, die den parlamentarischen Weg für richtig hielten. Parlamentarismus bedeutet Verhandlung und Kompromiss und beruht nicht auf der Durchsetzung des eigenen Willens gegen den Untergebenen wie den Feind (frei nach Clausewitz), wie es der Offizier Ludendorff sein gesamtes Leben betrieben hatte. Die Wahlteilnahme war für ihn ein Mittel gewesen, die Bewegung unter seiner Führung zusammenzuhalten. Als sich das Scheitern dieses Bestrebens abzeichnete, wandte sich Ludendorff vom Reichstag ab und vertiefte seine Abneigung gegenüber gewählten Volksvertretern. Bei Hitler hingegen setzte eine Entwicklung in umgekehrter Richtung ein: Hatte er 1924 der Beteiligung in Parlamenten noch ablehnend gegenübergestanden, erkannte er nach seiner Rückkehr aus der Haft die Vorteile. Aus der Präsenz seiner Partei im Reichstag formte Hitler ein geeignetes Kampfmittel, welches er – im Gegensatz zu Ludendorff – letztlich erfolgreich für sich nutzen konnte. Ausgehend von der Notlösung von 1924 entwickelte sich die NSDAP zur reichsweit agierenden politischen Kraft, die ab 1932 die größte Fraktion und 1933 schließlich den Reichskanzler stellte. Mit der Entscheidung vom Frühjahr 1924, die Nationalsozialisten ins Parlament zu führen, war Ludendorff also in unverhoffter Weise – und zu seinem eigenen Ärgernis – zu einem Steigbügelhalter Hitlers geworden. Dabei hätte die Aktion doch ihm selbst nutzen sollen, denn wie alles, was Ludendorff nach Kriegsende tat, hatte auch sein politisches Engagement als Abgeordneter für ihn persönlich nur das eine Ziel: die Erreichung einer Spitzenstellung, die Rehabilitation seiner Person und die Befriedigung seines durch zurückliegende Kriegserfolge aufgeblähten Egos, das nach Macht, Einfluss und Stellung verlangte. Doch die sich ihm bietenden Möglichkeiten der Agitation blieben ungenutzt, die Bühne des Parlamentes diente ihm nicht als Propagandaraum für seine eigenen Ideen der staatlichen Umgestaltung hin zu einer von ihm geführten Militärdiktatur. Sein gleichzeitig intensives außerparlamentarisches Engagement zeigt, dass er durchaus eine Vision hatte, die er der Welt mitteilen wollte: Im Völkischen Kurier und ab 1925 in der Deutschen Wochenschau veröffentlichte Ludendorff fast in jeder Ausgabe Namensbeiträge zu unterschiedlichen Themen – auch zu Fragen der aktuellen Politik, Wirtschaft und Kultur. Zudem trat er bei unzähligen politischen und

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Gedenkveranstaltungen im gesamten Reich auf. Nicht aber im Plenum: Dafür fehlten ihm wohl einfach der Mut und das nötige parlamentarische Format. Da sein parlamentarisches Wirken bzw. Nichtwirken keine Spuren hinterließ, kann eine wissenschaftliche Betrachtung desselben im Ergebnis nur unbefriedigend sein; nichtsdestotrotz lässt sich die Erkenntnis festhalten, dass die Spurenlosigkeit für den geschichtspolitisch versierten Ludendorff im Nachhinein durchaus von großer Wichtigkeit war. Schon während seiner Zugehörigkeit zum Reichstag ging er auf Distanz zu diesem und inszenierte sich als Außenstehender. Nach seinem Ausscheiden war der Abgeordnete Ludendorff ganz in dessen Sinne schnell vergessen. Dem soll hiermit Abhilfe geschaffen werden – ganz im Sinne der Geschichte. QUELLEN Bundesarchiv Berlin: R 601/396 Bundesarchiv Freiburg: N 77/16

Büro des Reichspräsidenten/Präsidialkanzlei, Akte Ludendorff Nachlass Ludendorff

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NEUE POLITISCHE ORDNUNG UND UMKÄMPFTER ALLTAG: INSTITUTIONELLE ANSÄTZE & POLITIKFELDER

LICHTGESTALTEN DER REPUBLIK Die Verehrung „republikanischer Märtyrer“ im Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold Marcel Böhles 1. KAMPF UM DIE DEUTUNGSHOHEIT Das im Februar 1924 gegründete Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold entstand als Reaktion der drei Parteien der „Weimarer Koalition“ auf die existenzielle Bedrohung der Republik im vorangegangenen „Krisenjahr“ 1923. Innerhalb weniger Monate verbreitete sich das neue Bündnis aus Anhängern von SPD, Zentrum und DDP über das gesamte Reichsgebiet und stieg dank seiner in die Millionen gehenden Anhängerschaft zu einer veritablen Sammlungsbewegung auf. Das Reichsbanner stellte damit den einzigen ernstzunehmenden Versuch vor 1933 dar, überzeugte Republikaner und Demokraten aus verschiedenen Parteien unter einem Dach zu vereinen1. In Zeiten politischer Auseinandersetzungen von einer heute kaum noch vorstellbaren Schärfe und angesichts tief sitzender Vorbehalte und Gegensätze zwischen Sozialdemokratie, politischem Katholizismus und Linksliberalismus erschien dieses Zusammengehen umso bemerkenswerter. Wichtige Aufgaben des Reichsbanners waren unter anderem der Saalschutz bei politischen Veranstaltungen, Wahlkampfhilfe für die Trägerparteien und Mobilisierung von deren Anhängern vor wichtigen Urnengängen, das Ausrichten von pro-republikanischen Propagandaveranstaltungen wie Aufmärschen oder „Bannerweihen“ – und nicht zuletzt die Funktion, allen republikanisch gesinnten Weltkriegsveteranen ein eigenes Forum zu bieten. Daneben war der Organisation aber auch daran gelegen, in zentralen Fragen der Symbolpolitik und der Erinnerungskultur mit ihren Vorstellungen eine Deutungshoheit bei der deutschen Bevölkerung zu erlangen, um das geistige Fundament der Republik stärken zu helfen. Die Weimarer Republik war von Beginn an in zwei „Großlager“2 gespalten: ein republikanisches („schwarz-rot-gold“) und ein traditionalistisches („schwarz-weißrot“). Beide Großlager führten auf der Ebene der Symbol- und Erinnerungspolitik seit 1919 heftige Auseinandersetzungen – nicht zufällig führte schließlich die   1

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Als Standardwerk zum Reichsbanner gilt nach wie vor Rohe (1966): Das Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold, einen kompakten Überblick gibt Ziemann (2011): Zukunft der Republik? In jüngerer Zeit erschienen mit Voigt (2009): Kampfbünde der Arbeiterbewegung und Böhles (2016): Im Gleichschritt für die Republik zwei Regionalstudien, die den Blick auf die Organisation geschärft und um wichtige Aspekte wie deren Erinnerungskultur erweitert haben. Lehnert (1993): Volksblock des Reichsbannerlagers, S. 78.

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Sammlungsbewegung die Farben der Republik auch offensiv im eigenen Namen. Daher engagierte sich hier das Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold auf einer ganzen Reihe von Feldern, beispielsweise beim Einsatz für die Reichsfarben Schwarz-RotGold, dem Bemühen um eine angemessene Erinnerung an die Revolution von 1848 oder der Ausdeutung des Weltkrieges. Besonders der letzte Punkt bereitete der Organisation große Mühe, da das nationalistisch-konservative Lager die Kriegserfahrung jedes einzelnen Soldaten effektvoll zum „Fronterlebnis“ stilisierte und die Niederlage 1918 nicht der alliierten Übermacht, sondern dem Verrat in den eigenen Reihen anlastete (Stichwort „Dolchstoßlegende“). Alle Bemühungen des rechten Lagers zielten folglich darauf ab, die Deutschen zu überzeugen, „Demokratie und Republik seien fremdländische, undeutsche, welsche Einfuhrartikel“3, die Weimarer Republik also eine durch die Niederlage und den Willen der Siegermächte oktroyierte Staatsform mit einer dem deutschen Wesen widersprechenden Verfassung. Dem setzte das Reichsbanner seine eigenen Narrative entgegen: die Traditionslinien der deutschen Demokratie- und Freiheitsbewegung seit 1848, die Entmystifizierung des Krieges als ein Völkergemetzel ohne Sinn und wahre Sieger oder das Lob auf die Fortschrittlichkeit der Weimarer Reichsverfassung und die mit ihr einhergehenden Errungenschaften (zum Beispiel Wahlrecht für Männer und Frauen, ziviles Oberkommando über die Armee, Arbeitnehmerrechte). Ein wichtiger Baustein der pro-republikanischen Gegenpropaganda bildete außerdem das Verteidigen und Rehabilitieren der von rechter Seite geschmähten und verleumdeten Politiker Weimars, die zum Teil Opfer der Mordserie rechtsextremer Terroristen Anfang der 1920er Jahre geworden waren. Für das Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold waren in diesem Zusammenhang vor allem drei Persönlichkeiten deutschlandweit von Bedeutung, denen als „republikanische Märtyrer“ posthume Ehrungen zuteilwurden: Matthias Erzberger (1875– 1921), Walther Rathenau (1867–1922) und Friedrich Ebert4 (1871–1925). Letzterer war zwar eines natürlichen Todes gestorben, war aber ebenfalls in seinen letzten Lebensjahren heftigen Verunglimpfungen und Rufmordkampagnen von rechts ausgesetzt gewesen, was seinen frühen Tod im Amt des Reichspräsidenten begünstigt hatte. Alle drei boten sich an, dem Reichsbanner als Vorkämpfer einer nach wie vor bedrohten Republik zu dienen, da ihre Ermordung bzw. Verleumdung eine wichtige Voraussetzung für das Zusammenrücken der Weimarer Koalitionsparteien bildete und die drei Politiker den drei verschiedenen Trägerparteien des Reichsbanners angehört hatten. Sowohl der 1921 ermordete ehemalige Reichsfinanzminister Erzberger (Zentrum) als auch der ein Jahr später einem Attentat zum Opfer gefallene Reichsaußenminister Rathenau (DDP) konnten als bürgerliche Politiker den überparteilichen Anspruch des stark sozialdemokratisch dominierten Reichsbanners unterstreichen. Zu den drei reichsweit als „republikanische Märtyrer“ gefeierten Politikern gesellten sich auf regionaler Ebene noch weitere Persönlichkeiten hinzu, für   3 4

Löbe et al. (ca. 1924): Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold, S. 6. Zu den drei genannten Politikern vgl. Mühlhausen (2016): Friedrich Ebert; Oppelland (2016): Matthias Erzberger; Sabrow (2016): Walther Rathenau.

Die Verehrung „republikanischer Märtyrer“ im Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold

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den deutschen Südwesten und insbesondere Baden diente der kurz nach Kriegsausbruch gefallene Mannheimer SPD-Reichstagsabgeordnete Ludwig Frank (1874– 1914) als Identifikationsfigur. Weiter unten wird die Verehrung des Reichsbanners für Frank näher behandelt, zunächst aber die Bedeutung der ebenfalls aus dem Südwesten stammenden Politiker Erzberger und Ebert für das pro-republikanische Abwehrbündnis.

Abb. 1: Bestellbare Radierungen der drei Reichsbanner-Märtyrer aus der Abteilung Vereinsbedarf des Reichsbanners5

Im ganzen Deutschen Reich errichtete das Reichsbanner Denkmäler für die prominenten Republikaner und setzte sich für die entsprechende (Um-)Benennung von Straßen, Plätzen und markanten Bauwerken ein – nach ihrer Machtübernahme 1933 machten die Nationalsozialisten diese Aktionen überall rückgängig, als die Namen der demokratischen Politiker Weimars aus der Öffentlichkeit getilgt wurden. Dennoch: Mit der Vielzahl an Gedenkorten, die an Erzberger, Rathenau, Ebert und andere erinnerten, schuf die Organisation für die junge Republik einen „ersten überparteilichen Traditionsbestand, mit dem sich die Hoffnung auf politische Versöhnung in einem gespaltenen Land verband.“6 Teilweise scheinen die Mitglieder des Reichsbanners etwas übereifrig gehandelt zu haben, da die badische Gauleitung 1928 bemängelte, dass verschiedene Ortsgruppen offenbar auf dem Standpunkt   5 6  

Aus: Kreisarchiv Rhein-Neckar/Ladenburg, Nachlass Willy Gärtner 18/1926. Sabrow (1998): Macht der Mythen, S. 7.

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stünden, „um jeden Preis ein Ebert- oder anderes Denkmal zu errichten, ohne dabei besonders auf Qualität und Dauerhaftigkeit zu achten“7. Regelmäßig erschienen zudem an Geburts- und Todestagen ausführliche Artikel und Aufsätze in der Reichsbanner-Presse (im Sprachrohr „Das Reichsbanner“ bzw. in der „Illustrierten Reichsbanner-Zeitung“, seit 1928: „Illustrierte Republikanische Zeitung“, IRZ), teilweise von Weggefährten und prominenten Politikern verfasst, in denen die Verdienste der Verstorbenen gewürdigt wurden8. In den Ortsgruppen vertrieb die „Abteilung Vereinsbedarf“ der Magdeburger Reichsbanner-Zentrale neben Porträtbildern, Büsten und anderen Devotionalien Friedrich Eberts auch jeweils eine Radierung von Matthias Erzberger und Walther Rathenau.9. 2. MATTHIAS ERZBERGER Der am 26. August 1921 ermordete Zentrumspolitiker Matthias Erzberger befand sich als Unterzeichner des Waffenstillstands von Compiègne vom ersten Tag der Republik an im Visier der nationalistischen Rechten. Als „Vaterlandsverräter“ und „Erfüllungspolitiker“ diffamiert, überlebte er bereits am 26. Januar 1920 nur mit Glück ein Attentat in Berlin und blieb auch danach im Fokus völkisch-nationaler Polemik, insbesondere durch den deutschnationalen Politiker Karl Helfferich, der Erzberger in mehreren Artikeln scharf angegriffen und dessen Hetze in dem Aufruf „Fort mit Erzberger!“ gegipfelt hatte. Der Zentrumspolitiker zog den Hass des rechten Spektrums auf sich, da er als Reichsfinanzminister nicht nur für die Annahme des Versailler Vertrages eingetreten war, sondern auch in dieser Funktion mit entschlossenen Reformen eine Besteuerung der Vermögenden durchgesetzt hatte, um die finanziellen Folgelasten des Krieges gerechter zu verteilen. Seine Ermordung durch die beiden ehemaligen Marineoffiziere Heinrich Tillessen und Heinrich Schulz in Bad Griesbach im Schwarzwald machte Erzberger zum Märtyrer und verschaffte ihm im linken Spektrum eine Popularität, die er zu seinen Lebzeiten in dieser Form wohl nie genossen hatte10. Fünf Jahre nach seinem gewaltsamen Tod würdigte die Reichsbanner-Zeitung in einem Artikel Erzbergers Verdienste und erklärte angesichts seiner damals immer noch flüchtigen Mörder, dass man „natürlich von seinen mit giftigem Haß erfüllten Gegnern nicht verlangen“ könne, dass sie „ihre Untaten einsehen und ihre Ansichten ändern“. Umso mehr sei es daher „für jeden deutschen Republikaner […] Pflicht, diesen Mann nicht zu vergessen, sein Wollen zu vollenden und sein Werk zu krönen“11.   7

Rundschreiben Gauvorstand Baden vom 15.09.1928, NL Willy Gärtner (Kreisarchiv RheinNeckar, Ladenburg), Nr. 1928/30. 8 Böhles (2016): Im Gleichschritt für die Republik, S. 149f. 9 NL Willy Gärtner, Nr. 1926/18. 10 Epstein (1962): Matthias Erzberger, S. 441. 11 Reichsbanner-Zeitung, 18/1926.

 

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Erzbergers Herkunft – er stammte aus dem kleinen Ort Buttenhausen12 auf der Schwäbischen Alb – bot dem Reichsbanner in Württemberg die Gelegenheit, vor Ort an den Politiker zu erinnern. Sowohl an seinem Geburtshaus als auch an seinem Grab in Biberach versammelte sich das Reichsbanner alljährlich an Gedenktagen, so zum Beispiel anlässlich Erzbergers 50. Geburtstag am 20. September 1925, über den die Reichsbanner-Zeitung berichtete: Am Grabmal Erzbergers in Bieberach (sic!) […] hielt die Ortsgruppe Ulm des Reichsbanners Schwarz-Rot-Gold eine würdige Gedenkfeier ab. Mehrere hundert Reichsbannerleute hatten nach Arbeitsschluß im Extrazug die Fahrt nach Bieberach angetreten, wo sie von einer riesigen Menschenmenge erwartet wurden. […] Dann sprach der Reichsbanner-Gauvorsitzende [Alfons] Buse aus Stuttgart, der den Menschen und Politiker Erzberger eingehend würdigte. Er wies darauf hin, daß die Reichs- und Landesbehörden es Jahr für Jahr versäumt hätten, sich um die Schmückung des Grabes am Todestag zu bekümmern. Hier sei das Reichsbanner eingesprungen, um eine Ehrenschuld des neuen Staates nachzuholen, die Erzberger verdient hätte wie vielleicht kein anderer Reichsminister der letzten Zeit.13

Abb. 2: Enthüllung der Gedenktafel am Haus von Matthias Erzberger14

Zwei Jahre später, am 8. Mai 1927, veranstaltete das Reichsbanner im Geburtsort Buttenhausen eine Kundgebung, bei der an Erzbergers Geburtshaus eine Gedenktafel mit folgender Inschrift enthüllt wurde: „Matthias Erzberger – Reichsminister in Deutschlands schwerster Zeit – für das Vaterland gestorben am 26. August 1921“. Aufnahmen von der Feier bestätigen die laut IRZ außerordentlich starke Beteiligung der Bevölkerung. Über die von der Ortsgruppe Reutlingen initiierte Veranstaltung, an der knapp 500 Reichsbannerangehörige und ein Großteil der Einwohner Buttenhausens teilnahmen,15 berichtete die Reichsbanner-Zeitung mit einer Paraphrase der Rede des Reutlinger Gemeinderats und Reichsbannerfunktionärs Hans Freytag:

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Buttenhausen gehört heute als Ortsteil zur Gemeinde Münsingen im Landkreis Reutlingen. Reichsbanner-Zeitung, 18/1925. Aus: Illustrierte Reichsbanner-Zeitung, 22/1927. Schwäbische Tagwacht, 09.05.1927.

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Marcel Böhles Warum gerade wir vom Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold zur Ehrung Erzbergers hier stehen? Weil er nach seiner ganzen politischen und sozialen Einstellung und nach seiner staatsmännischen Auffassung heute neben Wirth und Köhler mit in unsern Reihen stehen würde; weil er allezeit für „Einigkeit und Recht und Freiheit“ sich einsetzte, für die Republik und Demokratie, für ein einheitliches und größeres Deutschland, für alle die Ideale, die wir in den Farben Schwarz-Rot-Gold zusammenfassen. Und weil wir der Überzeugung sind, daß der Geist der drei Toten, die als Opfer am Tore der deutschen Republik bestattet sind: Matthias Erzberger, Walter Rathenau und Fritz Ebert, noch oft und oft die Mehrheit des deutschen Volkes wird zusammenführen müssen, wenn der Weg in eine bessere Zukunft wieder ein Stück weit frei gemacht werden soll.16

In der Tat hatten erst die Morde an Erzberger und Rathenau den Kitt für eine geeinte pro-republikanische Allianz gegeben und wirkten entsprechend lange nach. Denn trotz aller Entfremdung und internen Konflikte mit den bürgerlichen Partnern sollte das Reichsbanner bis zum Ende 1933 zumindest formal nie seinen überparteilichen Anspruch aufgeben. Besonders die fortgesetzte Beteiligung des Zentrums an allen Reichsregierungen, darunter den rechten „Bürgerblock“-Kabinetten, stellte die Zusammenarbeit mit dem sozialdemokratisch geprägten Reichsbanner auf eine harte Probe. In der Anfangszeit hatte es noch ein großes Einvernehmen gegeben, als das Reichsbanner im zweiten Wahlkampf der Reichspräsidentschaftswahl 1925 mit großem Elan den gemeinsamen „Volksblock“-Kandidaten Wilhelm Marx unterstützte. Doch spätestens mit dem Austritt Wilhelm Marx‘ aus dem Reichsbanner im Jahr 1927 setzte eine Entfremdung ein, die dazu führte, dass das Zentrum in der Endphase der Republik innerhalb der Organisation völlig marginalisiert war. 3. FRIEDRICH EBERT Friedrich Ebert, erster Reichspräsident der Weimarer Republik von 1919 bis 1925, wurde als ein Opfer anti-republikanischer Propaganda und Verleumdungskampagnen in die Riege der für die Republik gestorbenen Staatsmänner aufgenommen. Eberts plötzliche Krankheit und sein Tod am 28. Februar 1925 überraschten die Reichsbanner-Mitglieder fast auf den Tag genau ein Jahr nach Gründung der Organisation und überschattete mehrere zu diesem Anlass ausgerichtete Großkundgebungen des Reichsbanners im Frühjahr 1925. Unter dem Eindruck von Eberts Tod stand auch ein großer „Republikanischer Tag“ in Stuttgart, bei dem der Zentrumspolitiker Ernst Bauer eine bemerkenswerte Würdigung formulierte, indem er daran erinnerte, dass gerade Ebert bewiesen habe, „daß Leute aus dem Volk etwas werden können“. Von daher sei es umso unverständlicher, wenn „von Angehörigen des schaffenden Volkes und des Mittelstandes über Eberts Herkunft gewitzelt“ worden sei. Mit Anspielung auf die vermeintliche Weltläufigkeit Wilhelms II. meinte der Redner, Ebert habe immerhin „in sieben Sprachen schweigen können, wo sein Vorgänger in sieben Sprachen Lohkäs geredet“17 habe.   16 Reichsbanner-Zeitung, 12/1927. 17 Schwäbische Tagwacht, 16.03.1925.

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Erst wenige Wochen zuvor war am 22. Februar 1925 mit einem Massenaufmarsch des Reichsbanners in Magdeburg des ersten Gründungstages gedacht worden („Tag der Hunderttausend“). Ebert hatte noch als eine seiner letzten Amtshandlungen ein Telegramm an die versammelten Mitglieder des Republikanerbundes gesandt, dem er seine besten Wünsche für „die Erfüllung seiner großen staatspolitischen Aufgaben“18 aussprach. Doch ausgerechnet in Magdeburg – der Keimzelle und Gründungsstadt des Reichsbanners – hatte Ebert wenige Wochen vor seinem Ableben eine empfindliche Niederlage erlitten, die nach Ansicht vieler Republikaner seinen Tod beschleunigte. Ebert hatte nach einem verleumderischen Artikel in der „Mitteldeutschen Presse“ gegen den verantwortlichen Redakteur einen Beleidigungsprozess angestrengt, da dieser ihm unverblümt Landesverrat vorgeworfen hatte. Den Hintergrund der Anschuldigungen bildete Eberts Verhalten während des Berliner Munitionsarbeiterstreiks im Januar 1918, als er vorübergehend in die örtliche Streikleitung eingetreten war. Das Magdeburger Verfahren, der 143. Beleidigungsprozess des Reichspräsidenten, endete am 23. Dezember 1924 mit einem mehr als ernüchternden Urteil19. Zwar verurteilte das Gericht den angeklagten Redakteur zu einer geringfügigen Gefängnisstrafe, hielt aber in seiner Urteilsbegründung fest, dass Ebert durch seine Beteiligung an dem Massenstreik Anfang 1918 unter strafrechtlichen Gesichtspunkten Landesverrat begangen habe. Was sich für seine Gegner als ein unverhofftes Geschenk erwies – jedermann durfte nun den Reichspräsidenten ungestraft als „Landesverräter“ bezeichnen –, geißelte die SPDund Reichsbanner-Presse als Skandalurteil und Justizkomödie. In einem Nachruf für das „Reichsbanner“ erinnerte Reichstagspräsident Paul Löbe daher an die Tage des Prozesses: Nun er in seiner badischen Heimat ruht, dürfen wir es offen sagen, nicht um Haß zu schüren, aber um der Wahrheit willen: diesen Tod haben mitverschuldet jene, die in ihren Angriffen auf Friedrich Ebert kein Maß kannten, die seine persönliche Ehre in den Staub zogen […] Und was noch bitterer ist, er hat gefühlt, daß diese Hinrichtung an ihm vollzogen wurde. […] Er sagte es uns, daß er die Last seines Amtes kaum noch bis zum Ende der Wahlzeit tragen könne, da er sich krank fühlte. Aber weder während des Magdeburger Prozesses noch während der Barmat-Untersuchung konnte er sich ins Krankenhaus begeben: der Chor der Angreifer hätte wüst geschrien: Aha! Er geht ins Sanatorium! Merkt ihr was? Und deshalb blieb er.20

Die Beisetzungsfeierlichkeiten für Friedrich Ebert am 4. und 5. März 1925 zunächst in Berlin und dann in seiner Heimatstadt Heidelberg gerieten zu einer gewaltigen Demonstration von Weimars Republikanern, an der das Reichsbanner einen maßgeblichen Anteil hatte. Bereits in Berlin hatte die Organisation an dem riesigen Trauerzug teilgenommen – insgesamt schätzte man die Zahl der Teilnehmer und Schaulustigen auf mindestens eine Million –, auf der nächtlichen Fahrt des Sonder-

  18 Reichsbanner-Zeitung, 6/1925. 19 Mühlhausen (2006): Friedrich Ebert, S. 952f. 20 Reichsbanner-Zeitung, 6/1925.  

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zugs mit dem Sarg Eberts nach Heidelberg erwiesen dann auf allen größeren Bahnhöfen Abordnungen des Reichsbanners dem Reichspräsidenten die letzte Ehre.21. Auch an dem wegen des großen Andrangs in drei Teile aufgeteilten Trauerzug aus ca. 30.000 Menschen am Vormittag des 5. März beteiligte sich das Reichsbanner auf dem Weg zum Heidelberger Bergfriedhof22. Das Grab Friedrich Eberts fungierte fortan als „Erinnerungsort der SPD und des Reichsbanners Schwarz-RotGold“23, die dort alljährlich am Todestag Eberts oder am Verfassungstag Gedenkfeiern abhielten, in Anwesenheit von Eberts Witwe Louise und zumeist auch seinen beiden Söhnen. Die Anziehungskraft von Eberts Grabstätte auf das Reichsbanner blieb ungebrochen, wie wiederholte Besuche von Reichsbannerabordnungen zeigen, die auf dem Weg zu Großveranstaltungen in Heidelberg Station machten, um vor Ort des Verstorbenen zu gedenken. Zum Gautag des badischen Reichsbanners an Pfingsten 1927 enthüllte das Republikanerbündnis zudem an Eberts Geburtshaus in der Heidelberger Altstadt eine Gedenktafel, die an den großen Sohn der Stadt erinnerte24. Insgesamt zeichnete das Reichsbanner ein äußerst positives Bild von Ebert – anders als seine Partei, die bei allen Würdigungen nach seinem Tod auch Kritik hatte anklingen lassen. So hatte der „Vorwärts“ in seinem ersten Nachruf davon gesprochen, dass das Staatsamt Ebert dem Parteileben entfremdet habe; er sei nur noch bei offiziellen Anlässen mit „Volksmassen in Berührung“ gekommen, was freilich auf die „vollkommene Überparteilichkeit“25 zurückzuführen sei, mit der Ebert sein Amt ausgefüllt habe. Für das Reichsbanner hingegen war es gerade jene Überparteilichkeit, die den Sozialdemokraten Ebert in seinem hohen Amt auszeichnete, wie der SPD-Reichstagsabgeordnete Wilhelm Sollmann noch 1930 in einem Artikel unter dem Titel „Ebert und das Reichsbanner“ ausdrückte: Er war Sozialdemokrat und hat sich zu dieser parteipolitischen Überzeugung auch an dem Tage öffentlich bekannt, der ihn auf den Präsidentensitz des Reiches berief. […] Was sein ganzes Lebenswerk war, das blieb sein Dienst auch als Reichspräsident: Er wollte allen Volkskräften den vollen Anteil an der Staatsführung und an der Gesetzgebung sichern, um durch diese Staatsgewalt aus dem Volk auch die Gesellschaftsordnung wirtschaftlich umzugestalten und zu ethisieren. So war er als Reichspräsident ein Bahnbrecher des Reichsbannergedankens, noch ehe dieser Kampfbund der Republik bestand.26

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Mühlhausen (2006): Friedrich Ebert, S. 977. Volkszeitung (Heidelberg), 04.03.1925. Mühlhausen (2005): Republik in Trauer, S. 65. Volkszeitung, 07.06.1927. Mühlhausen (2006): Friedrich Ebert, S. 982. Reichsbanner-Zeitung, 8/1930.

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4. LUDWIG FRANK Eine herausragende Verehrung im südwestdeutschen, insbesondere im badischen Reichsbanner erfuhr seit Gründung der Organisation der 1914 an der Westfront gefallene Mannheimer SPD-Reichstagsabgeordnete Ludwig Frank. Den postumen Aufstieg fast zu einer Art „Schutzpatron“27 der Organisation verdankte Frank seinem Wirken vor und zu Beginn des Krieges, das in der Kontinuität des Reichsbanners stehend gedeutet werden konnte. Der 1874 als Sohn eines jüdischen Kaufmanns geborene Frank ließ sich nach seinem Jurastudium in Freiburg und Berlin als Rechtsanwalt in Mannheim nieder. Der charismatische und rhetorisch begabte Politiker, der als große Nachwuchshoffnung der Sozialdemokratie und möglicher Kronprinz innerhalb der Parteiführung galt, wurde 1905 als jüngster Abgeordneter in den badischen Landtag gewählt und vertrat seit 1907 den Wahlkreis 11 (Mannheim) für die SPD im Reichstag. Frank profilierte sich in Berlin als scharfer Kritiker des wilhelminischen Militarismus und bemühte sich noch bis zuletzt dank seiner zahlreichen guten Kontakte nach Frankreich und Großbritannien um einen Ausgleich mit den anderen Großmächten. Umso überraschender kam daher für viele seiner Parteifreunde, dass Frank auf einer Kundgebung der Mannheimer SPD am 29. Juli – der österreichisch-serbische Krieg war bereits ausgebrochen – zwar zum Frieden aufrief, dann aber hinzufügte, dass wir ‚vaterlandslosen Gesellen’ wissen, daß wir, wenn auch Stiefkinder, so doch Kinder Deutschlands sind und daß wir uns unser Vaterland gegen die Reaktion erkämpfen müssen. Wenn ein Krieg ausbricht, so werden also auch die sozialdemokratischen Soldaten gewissenhaft ihre Pflicht erfüllen.28

Um mit gutem Beispiel voranzugehen, meldete sich Frank als vierzigjähriger Landsturmmann sofort nach der Abstimmung zu den Kriegskrediten als Freiwilliger an die Front, fiel aber bereits am 3. September 1914 nahe des lothringischen Lunéville. Der spätere Bundespräsident Theodor Heuss – in der Weimarer Republik DDPMitglied und im Reichsbanner aktiv – schrieb dazu in seinen Erinnerungen: Um seiner äußeren Erscheinung willen, wohl auch im Wissen um den realistischen Machtsinn, der ihn trug, verglich man Ludwig Frank gerne mit Ferdinand Lassalle, und er hat vermutlich nichts gegen eine solche Meinung gehabt. Sie bekam einen schier unheimlichen Zug: Frank fiel, auf den Tag, als sich Lassalles Tod zum fünfzigsten Male jährte, wie jener im vierzigsten Jahre.29

Der SPD-Politiker war neben Hans von Meding von der pro-welfischen DeutschHannoverschen Partei der einzige Reichstagsabgeordnete, der im Weltkrieg fiel. Zu seinem 10. Todestag errichtete das Mannheimer Reichsbanner im Auftrag des Bundesvorstands für Frank ein Denkmal am Eingang zum Luisenpark, das anlässlich des „Südwestdeutschen Republikanertages“ am 27./28. September 1924 unter den   27 Harter (1992): Ortsgruppe Schiltach, S. 287. 28 FES (1986): Ludwig Frank, S. 29. 29 Ebd., S. 33. Tatsächlich fiel Frank allerdings erst vier Tage nach Lassalles 50. Todestag.  

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Klängen des Deutschlandliedes enthüllt wurde. Bereits seit 1925 mehrfach von Feinden des Reichsbanners beschädigt, demontierten die Nationalsozialisten das Denkmal kurz nach der „Machtergreifung“ im Frühjahr 193330. Das Denkmal erhebt sich auf einer etwa 8 Meter im Quadrat angelegten gärtnerischen Plattform. Es ist der Ausdruck des von Ludwig Frank kurz vor seinem Auszug ins Feld geäußerten Gedankens, der die Begründung seiner freiwilligen Meldung bildet: ‚Einer muss die Fundamente gesehen haben: die Fundamente des neuen Staates.’ Eine große Plakette von der Hand des Bildhauers Otto Ostertag […] zeigt den markanten, hohen, energisch geformten Kopf des Führers, seinen idealistischen Blick und seine straffen Züge. Eine prägnante Aufschrift kündet: ‚Dem Republikaner Ludwig Frank’31

Abb. 3: Ludwig-Frank-Denkmal in Mannheim32

Zum Werk des Mannheimer Architekten Artur Lehmann und des Bildhauers August Köstner ergänzte der „Badische Beobachter“, das Monument mache „in seiner pyramidenhaften Staffelung mit der krönenden Flamme einen gehaltenen Eindruck“33. Die Einweihung bildete den Höhepunkt des zweitägigen Aufmarsches der Republikaner in Mannheim, zu dem Reichsbanner-Delegationen aus ganz Süddeutschland und Spitzenpolitiker aus Berlin anreisten34. Zur Enthüllung defilierten   30 31 32 33 34  

Mannheimer Morgen, 04.03.1950. Reichsbanner-Zeitung, 10/1924 (Beilage). Aus: Watzinger (1995): Ludwig Frank, S. 77. Badischer Beobachter, 29.09.1924. Unter anderem Reichstagspräsident Paul Löbe (SPD) sowie die Reichskanzler a. D. Joseph Wirth (Zentrum) und Hermann Müller (SPD).

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in einem Festzug weit mehr als 10.000 Teilnehmer des Treffens35, die Fahnen des Reichsbanners und der 1848er-Revolution mit sich führten. Die Festrede zur Einweihung des Denkmals hielt der SPD-Reichstagsabgeordnete Friedrich Stampfer, der selbst als österreichischer Soldat am Weltkrieg teilgenommen hatte. In ihr würdigte Stampfer den Politiker Ludwig Frank, der es als einer der ganz wenigen geschafft habe, „Volksmann und Staatsmann“ gleichermaßen zu sein und angesichts seines Einsatzes für einen Ausgleich mit Frankreich vor 1914 „fremde Schuld mit eignem Blute bezahlt“36 habe. Schon in den Wochen vor dem großen Mannheimer Treffen hatte die Verbandspresse Frank eingehend bedacht. Wenn ein Name berufen sei, dem Bunde republikanischer Kriegsteilnehmer als „Leitstern“ zu dienen, so sei es der von Ludwig Frank, verkündete die Reichsbanner-Zeitung in einer ihrer ersten Ausgaben: ein „leuchtendes Meteor am Himmel der deutschen Demokratie, schnell und stolz aufsteigend, verlosch er jäh“37. Auch Franks jüdischen Hintergrund sparten die Verantwortlichen vom „Reichsbanner“ nicht aus und erklärten dazu: Ludwig Frank war ganz und von Herzen Deutscher; von tiefster deutscher Bildung durchtränkt […] Deutsch war sein überlegener freudiger Humor, sein oft kindlich anmutendes Lachen. Nichts lag ihm ferner als finsteres Puritanertum und dogmatischer Doktrinarismus, die auch bei demokratischen Politikern vorkommen. Er war eben durchaus eine Persönlichkeit ersten Ranges. Frank war Jude und gehörte nicht zu denen, die es verleugneten oder abschüttelten. Er war der schlagendste Beweis gegen das Märchen alldeutscher und jüdischer Nationalisten, daß zwischen Deutschen und Juden eine unüberbrückbare Kluft liege.38

Hier zeigte sich, dass es das Reichsbanner beim Kampf gegen den grassierenden Antisemitismus ernst meinte, so wie es die Organisation ein halbes Jahr zuvor in ihrem Gründungsaufruf angekündigt hatte. Darin hatte sich das Bündnis scharf gegen eine weit verbreitete „schmachvolle Judenhetze“ gewandt, die völlig außer Acht lasse, „daß Schulter an Schulter mit Katholiken, Protestanten und Freidenkern jüdische Soldaten gekämpft und geblutet haben“39. Gleichzeitig fällt auf, wie sehr noch 1924 die „deutschen“ Eigenschaften an Frank betont werden und wie doch letztlich ein Gegensatz zwischen Deutschen und Juden vorausgesetzt wird. Doch selbst davon abgesehen, muss man bezweifeln, ob Ludwig Frank tatsächlich unter den Mitgliedern des Reichsbanners jene ungeteilte Zustimmung erfuhr, wie sie von der Verbandspresse suggeriert wurde. Durch seine freiwillige Meldung 1914 geriet Frank für einen Teil der SPD-Anhänger nämlich zum „Symbol für den Burgfrieden“ und galt vielen unter ihnen durch den im Krieg fortdauernden Reformstau, die weitere Ausgrenzung der Sozialdemokraten sowie durch die Novemberrevolution als „historisch überholt“40 und Verkörperung des Irrwegs, den die SPD beschritten   35 36 37 38 39 40  

Kreutz (2011): Reichsbanner Rhein-Neckar-Region, S. 245. Reichsbanner-Zeitung, 11/1924. Reichsbanner-Zeitung, 8/1924. Reichsbanner-Zeitung, 8/1924. Reichsbanner-Zeitung, 1/1924. Ziemann (1998): Republikanische Kriegserinnerung, S. 393.

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hatte. Daran konnte auch nichts ändern, dass Laudatoren wie Stampfer Franks Engagement für seine politischen Ziele vor 1914 heraushoben: „Republikanische Demokratie, gleiches Wahlrecht, Bund der Völker, allgemeine Abrüstung, internationale Schiedsgerichtsbarkeit.“41 Wichtigstes Argument der Rechtfertigung von Franks freiwilliger Kriegsdienstmeldung bildete der Hinweis auf seine Bemühungen für die Abschaffung des preußischen Dreiklassenwahlrechts, die er mit dem patriotischen Einsatz bei Kriegsbeginn zu erreichen suchte. Seine dazu überlieferte Äußerung in einem Brief („Jetzt führen wir für das preußische Wahlrecht einen Krieg“42) konnte als Beleg hierfür gelten. Franks gute Reputation in bürgerlichen Kreisen zeigten auch die Reaktionen der Zentrumspresse auf das Ereignis in Mannheim und die maßgebliche Beteiligung des Reichsbanners dabei. War es ein Wagnis, die Denkmalsenthüllung des im Weltkriege gefallenen bekannten Republikaners und Sozialdemokraten Ludwig Frank zum Anlaß einer überparteilichen gewaltigen Kundgebung für den Bestand der deutschen Republik und die republikanische Idee zu machen? Das Reichsbanner hat es unternommen […], um dem deutschen Volke und der aufhorchenden Welt zu zeigen, daß das unheilvoll in Parteien zerklüftete Deutschland zu einer alle umfassenden großen Idee bereit und fähig ist, auch dann, wenn der gewählte äußere Anlaß die Ehrung eines Parteimannes ist, eines Mannes, der, abgesehen von seiner politischen Weltanschauung, das Symbol eines ehrenhaften, geraden und nationalen deutschen Bürgers war.43

Der „Badische Beobachter“ lobte den im Mittelpunkt stehenden Toten, der mit seiner Entscheidung zur Verteidigung des Vaterlandes 1914 „so ganz Reichsbannergeist und Reichsbannerprogramm“44 vorgelebt habe. Eher gemischte Erinnerungen mit Frank verband das Zentrum mit dessen Zeit als badischer Landtagsabgeordneter, wo er sich durch eine pragmatische Politik der Kooperation parteiübergreifende Anerkennung erworben hatte. Durch eine Wahlabsprache mit dem Zentrum überhaupt erst in den Karlsruher Landtag gewählt, führte Frank zusammen mit seinen badischen Genossen die SPD aus der jahrelangen Fundamentalopposition, was freilich innerparteilich höchst umstritten blieb. Absprachen vor Stichwahlen mit der Fortschrittspartei und den Nationalliberalen verhinderten, dass Zentrum und Konservative die befürchtete absolute Mehrheit erhielten – ein Präzedenzfall für die Zusammenarbeit von SPD und Linksbürgerlichen, wie sie später im Reichstag während des Weltkriegs unter den Mehrheitsparteien Schule machte. Im Jahre 1907 nahm Frank zusammen mit Wilhelm Kolb an der Beerdigung des badischen Großherzogs Friedrich I. teil und erwirkte ein Jahr später maßgeblich die Zustimmung seiner Fraktion zum Budget, was einer Sensation gleichkam. Noch 20 Jahre später griff die Reichsbanner-Zeitung den damaligen Konflikt auf und räumte ein, Ludwig   41 Volksfreund (Karlsruhe), 29.09.1924. 42 In: Volksstimme (Mannheim, Jubiläumsausgabe), 01.05.1930. vgl. auch Watzinger (1995): Ludwig Frank, S. 73. 43 Freiburger Tagespost, 30.09.1924. 44 Badischer Beobachter, 29.09.1924.  

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Frank habe damals „mit Zustimmung der badischen Arbeiter, aber nicht mit Billigung vieler seiner Parteigenossen im Reiche“ gehandelt, diese allerdings hätten in „unbedingter, oft unfruchtbarer Gegnerschaft“ zur politischen Ordnung des Kaiserreichs gestanden – Frank hingegen habe eine „politisch weitsichtigere, geschickte Realpolitik“45 betrieben. So ließ sich Ludwig Frank geradezu idealtypisch für eine Zusammenarbeit mit den gemäßigten bürgerlichen Parteien in Anspruch nehmen. 5. ZUSAMMENFASSUNG Der Kampf um die Deutungshoheit über die den Weltkrieg betreffenden Fragen nahm ein solch erbittertes Ausmaß an, dass der SPD-Reichstagsabgeordnete und „Vorwärts“-Chefredakteur Friedrich Stampfer 1931 von einem „Bürgerkrieg der Erinnerungen“46 sprach, der einen politischen Konsens über die Verortung des Weltkrieges und folglich auch der Weimarer Republik in der deutschen Geschichte unmöglich mache. „Die Aneignung und Interpretation der Erfahrung der Kämpfe der Jahre 1914–1918 bewegte sich in den Bahnen eines polarisierten Schemas, zwischen den Alternativen der Befürwortung oder grundsätzlichen Ablehnung und Denunziation des Krieges und fügte sich ein in die Deutungshorizonte der bereits in der Kaiserzeit etablierten sozial-moralischen Milieus der deutschen Gesellschaft.“47 Analog zur heftigen Konfrontation über die Auslegung von Ursachen, Verlauf und Ausgang des Weltkrieges prägte die deutsche Nachkriegsgesellschaft auch eine tiefe Spaltung über die Frage, wie die Republik und ihre Protagonisten selbst zu bewerten seien. Hier nahm das Reichsbanner mit seiner aktiven Parteinahme für Erzberger, Rathenau, Ebert und andere den Gegenpol zur völkisch-nationalistischen Sichtweise ein. Ganz bewusst machte es sich damit in weiten Teilen der Bevölkerung angreifbar und stieß damit sicher auch auf Kritik aus den eigenen Reihen, gerade wenn man die nicht unumstrittene Position von Erzberger und Ebert in ihren jeweiligen Parteien in Betracht zieht. Auch mag es in der posthumen Verehrung der republikanischen „Märtyrer“ manche Verklärung und unberechtigte Überhöhung gegeben haben – dennoch: Mit seinem Einsatz für die frühzeitig ermordeten bzw. verstorbenen Vorstreiter einer parlamentarischen und sozialen Demokratie erwarb sich das Reichsbanner Verdienste bei der Etablierung einer politischen Erinnerungskultur, wie sie uns heute für die Bundesrepublik deutlich vertrauter erscheint. Dies wog umso mehr, da sich die Weimarer Republik ansonsten stets sehr zurückhaltend inszenierte und es ihr eher an Ritualen und Symbolen mangelte, mit denen die Grundlagen der Republik hätten sinnfällig werden können. In Zeiten, in denen gewählte Politiker erneut heftigen Anfeindungen ausgesetzt sind – man denke hier nur an die alltäglichen Hasstiraden in den „sozialen Medien“ – bekommen die Aktivitäten des Reichsbanners eine neue ungeahnte Aktualität. Auch heute müssen wir   45 Reichsbanner-Zeitung, 8/1928 (Beilage „Jungbanner“). 46 Gerwarth (2006): Weimar Germany, S. 6. 47 In: Baumeister (2007): Kampf ohne Front?, S. 359.

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uns wieder vermehrt der Frage stellen, wie wir damit umgehen, dass demokratisch legitimierte Vertreter der Bundesrepublik Angriffen ausgesetzt sind, die auf Grundlage von Gerüchten, Halbwahrheiten und Verschwörungstheorien entstehen. Schon die Weimarer Republik war in diesem Sinne eine Art „postfaktisches“ Zeitalter, dem sich das Reichsbanner mit seinen Mitteln entgegenzustellen versuchte. LITERATUR Baumeister, Martin: Kampf ohne Front? Theatralische Kriegsdarstellungen in der Weimarer Republik. In: Hardtwig, Wolfgang (Hrsg.): Ordnungen in der Krise. Zur politischen Kulturgeschichte Deutschlands 1900–1933, München 2007, S. 357–376. Böhles, Marcel: Im Gleichschritt für die Republik. Das Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold im Südwesten 1924 bis 1933 (Reihe A des Instituts für soziale Bewegungen Bochum, Band 62), Essen 2016. Epstein, Klaus: Matthias Erzberger und das Dilemma der deutschen Demokratie, Berlin/Frankfurt 1962. Friedrich-Ebert-Stiftung (Hrsg.): Ludwig Frank. Beiträge zur Würdigung seiner Persönlichkeit (zusammengestellt aus Anlaß der Namensverleihung ‚Ludwig-Frank-Bildungsstätte‘ am 3. Juni 1986 in Vorderweidenthal), Bonn 1986. Gerwarth, Robert: The Past in Weimar Germany. In: Contemporary European History, Band 15/1 (2006), S. 1–22. Harter, Hans: Das Bürgertum fehlt und überlässt dem Arbeiter den Schutz der Republik. Die Ortsgruppe Schiltach des Reichsbanners Schwarz-Rot-Gold. In: Die Ortenau. Veröffentlichungen des Historischen Vereins für Mittelbaden, 72. Jahresband (1992), S. 271–302. Kreutz, Jörg: Die Fahne der Republik ist Schwarz-Rot-Gold. Die Anfänge des Reichsbanners Schwarz-Rot-Gold in der Rhein-Neckar-Region (1924–1927). In: Krauß, Martin / Nieß, Ulrich (Hrsg.): Stadt, Land, Heimat. Beiträge zur Geschichte der Metropolregion Rhein-Neckar im Industriezeitalter, Basel u. a. 2011, S.239–268. Lehnert, Detlef: Von der politisch-kulturellen Fragmentierung zur demokratischen Sammlung. Der ‚Volksblock’ des ‚Reichsbannerlagers’ und die katholischen Republikaner. In: Megerle, Klaus (Hrsg.): Pluralismus als Verfassungs- und Gesellschaftsmodell. Zur politischen Kultur in der Weimarer Republik, Opladen 1993, S. 77–130. Mühlhausen, Walter: Friedrich Ebert in der politischen Erinnerung und in der historischen Forschung. In: Dreyer, Michael / Braune, Andreas: Weimar als Herausforderung. Die Weimarer Republik und die Demokratie im 21. Jahrhundert, Stuttgart 2016, S. 159–174. Ders.: Friedrich Ebert 1871–1925. Reichspräsident der Weimarer Republik, Bonn 2006. Ders.: Die Republik in Trauer. Der Tod des ersten Reichspräsidenten Friedrich Ebert, Heidelberg 2005. Oppelland, Torsten: Matthias Erzberger – Der vergessene Märtyrer. In: Dreyer, Michael / Braune, Andreas: Weimar als Herausforderung. Die Weimarer Republik und die Demokratie im 21. Jahrhundert, Stuttgart 2016, S. 175–188. Das Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold. Beiträge von Paul Löbe, Philipp Scheidemann, Wilhelm Sollmann, Fritz Koch, Robert Breuer, Arno Scholz, Senator Gerth u. a., Berlin o. J. (ca. 1924). Rohe, Karl: Das Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold. Ein Beitrag zur Geschichte und Struktur der politischen Kampfverbände zur Zeit der Weimarer Republik (Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, Band 34), Düsseldorf 1966. Sabrow, Martin: Walther Rathenau – Ein Repräsentant der Republik? In: Dreyer, Michael / Braune, Andreas: Weimar als Herausforderung. Die Weimarer Republik und die Demokratie im 21. Jahrhundert, Stuttgart 2016, S. 189–204.

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Ders.: Die Macht der Mythen. Walther Rathenau im öffentlichen Gedächtnis (Sechs Essays), Berlin 1998. Voigt, Carsten: Kampfbünde der Arbeiterbewegung. Das Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold und der Rote Frontkämpferbund in Sachen 1924–1933, Köln/Weimar/Wien 2009. Watzinger, Karl Otto: Ludwig Frank. Ein deutscher Politiker jüdischer Herkunft, Sigmaringen 1995. Ziemann, Benjamin: Die Zukunft der Republik? Das Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold 1924–1933, Bonn 2011. Ders.: Republikanische Kriegserinnerung in einer polarisierten Öffentlichkeit. Das Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold als Veteranenverband der sozialistischen Arbeiterschaft, in: Historische Zeitschrift, Band 267 (1998), S. 357–398.

 

SCHWARZ-ROT-GOLD Das Reichsbanner im Kampf für die Weimarer Republik Sebastian Elsbach 1. FORSCHUNGSVORHABEN UND EINORDNUNG In der bisherigen Literatur zur Geschichte der Weimarer Republik spielt das Reichsbanner trotz der Tatsache, dass es der größte Wehrverband dieser Zeit war, nur eine Nebenrolle.1 Andererseits scheint es Allgemeinwissen zu sein, dass das Straßenbild der Weimarer Zeit von den Wehrverbänden beherrscht wurde, die als vermeintliche „Bürgerkriegs“-Truppen eingesetzt wurden und kontinuierlich in gewalttätige Auseinandersetzungen mit ihren politischen Gegnern verwickelt waren. Im Fokus des Interesses standen und stehen die radikalsten Verbände, also die nationalsozialistische Sturmabteilung (SA) und der kommunistische Rotfrontkämpferbund (RFB). Dementsprechend war auch der Fokus der Weimar-Forschung in der Nachkriegszeit ausgerichtet. Das Reichsbanner wurde in der Debatte der 1950er und 1960er Jahre aber nicht ignoriert. Im Gegenteil spielte es in den Untersuchungen prominenter Autoren eine nicht unwichtige Rolle.2 Die Grundfrage war damals, ob das Reichsbanner am 20. Juli 1932 (erfolgreich) hätte eingesetzt werden können, um den Preußenschlag abzuwehren. Bereits Karl Rohe hat diese Frage in seiner Dissertation zum Reichsbanner klar verneint und damit die zentrale Debatte um das Reichsbanner beendet, ohne eine neue Debatte zu eröffnen.3 Dies wäre auch allein dadurch erschwert worden, dass die Akten des Reichsbanners genauso wie die Akten der SPD oder der anderen republikanischen Parteien und Gewerkschaften größtenteils vernichtet waren. Die einzig praktikable Möglichkeit, etwas über den Gesamtzusammenhang des Reichsbanners herauszufinden, besteht daher darin, die   1

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In jüngster Zeit wird dem Reichsbanner allerdings vermehrt Aufmerksamkeit zuteil. So fanden sich in der 7. Auflage des Standardwerks zur Geschichte der Weimarer Republik von Eberhard Kolb laut Index lediglich drei Nennungen des Reichsbanners (Kolb (2009): Republik, S. 341). In der 8. Auflage sind es bereits fünf Nennungen, was die Forschungsergebnisse von Ziemann und Rossol widerspiegelt (Kolb/Schumann (2013): Republik, S. 371). Hingegen nennt Büttner das Reichsbanner laut Index immerhin auf 14 Seiten (Büttner (2008): Republik, S. 842). Auch Winkler behandelt das Reichsbanner auf gut 50 der über 2500 Seiten seines dreibändigen Werkes zur Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik (Winkler (1985): Revolution, Winkler (1988): Schein, Winkler (1990): Katastrophe). Siehe u.a. Matthias (1960): Ende u. Bracher (1955): Auflösung. Rohe (1966): Reichsbanner, S. 426ff. Zur Kontroverse um die Reaktion der SPD auf den Preußenschlag auch: Kolb (2009): Republik, S. 237f.

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Akten der Sicherheitsbehörden des Reiches und Preußens zu sichten. Diese bieten eine Perspektive, die es erlaubt zu klären, welche Rolle das Reichsbanner in der Innen- und Militärpolitik der Weimarer Republik spielte, die sich nicht ausschließlich im Thema Preußenschlag erschöpft. Eine weitere wesentliche sicherheitspolitische Frage ist etwa, inwiefern das Reichsbanner als Hilfspolizei zur Bekämpfung des politischen Radikalismus hätte eingesetzt werden können und welche konkreten Schritte in diese Richtung tatsächlich gemacht wurden. Die Akten des Reichsinnenministeriums, inklusive des Reichskommissars zur Überwachung der öffentlichen Ordnung (RKO), die Akten der Reichskanzlei, sowie die Akten des preußischen Landeskriminalamtes ab August 1932, dessen Abteilung I A (Politische Polizei) als Keimzelle des Geheimen Staatspolizeiamtes anzusehen ist, haben sich – mit Ausnahme der Mehrheit der Reichskanzleiakten – im Zentralen Staatsarchiv der DDR befunden und waren somit für westdeutsche Historiker kaum zugänglich.4 So wurde noch Mitte der 1980er Jahre Wolfram Pyta die Nutzung des Archivs für seine Dissertation über den Kampf der Sozialdemokratie gegen den Nationalsozialismus verwehrt und Heinrich August Winkler konnte diese Akten für seine ansonsten umfassende Geschichte der Weimarer Arbeiterbewegung ebenfalls nicht einsehen.5 Direkt nach Freigabe des DDR-Zentralarchivs hatte der deutsch-israelische Historiker Jakob Toury mit der Arbeit an einer Geschichte des Reichsbanners begonnen. Aufgrund seines fortgeschrittenen Alters konnte Toury aber nur einen längeren Aufsatz über die Gründungsgeschichte sowie einen Aufsatz über den jüdischen Anteil an der Gründung des Reichsbanners verfassen.6 Die wesentlichen Koordinaten der Geschichte der Weimarer Republik galten im Großteil der Forschungsgemeinschaft aber bereits in den 1980er Jahren als geklärt (Stichwort: „Selbstpreisgabe“)7, obwohl die zentralen Quellen zur Weimarer Innenpolitik nicht angemessen von frei arbeitenden Wissenschaftlern ausgewertet worden waren. Das Forschungsparadigma verschob sich ungeachtet dessen in den 1990er Jahren hin zu Regionalstudien, sowie in Richtung eines kulturgeschichtlichen Ansatzes. Wertvolle Studien mit solchen Schwerpunkten sind über das Reichsbanner bereits geschrieben worden. Zu nennen wären hier Arbeiten von Marcel Böhles, David Mintert, Nadine Rossol, Carsten Voigt und Benjamin Ziemann.8 Wie aus den obigen Ausführungen ersichtlich sein sollte, basiert diese Untersuchung hingegen auf einem klassisch zu nennenden Ansatz, in dem Organisations-, Institutions- und Personengeschichte   4 5

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Die von DDR-Historikern ausgearbeiteten Beiträge zum Reichsbanner (Helmbold (1970): Reichsbanner u. Gotschlich (1987): Kapitulation) können nach allgemeiner Auffassung nur sehr bedingt überzeugen (So u.a. Toury (1997): Stiefkinder, S. 11). Pyta (1989): Auseinandersetzung, S. 20 u. Winkler (1985): Revolution, S. 739. Auch Rohe erhielt keinen Zugang zum Potsdamer Zentralarchiv (Rohe (1966): Reichsbanner, S. 475): während bemerkenswerterweise Volker Berghahn für seine Dissertation zum Stahlhelm eine Akteneinsicht in Potsdam gewährt wurde (Berghahn (1966): Stahlhelm, S. 289). Beide Aufsätze sind zu finden in: Toury (1997): Stiefkinder. Erdmann/Schulze (1980): Selbstpreisgabe. Böhles (2016): Gleichschritt, Mintert (2002): Sturmtrupp, Rossol (2010): Performing, Voigt (2009): Kampfbünde u. Ziemann (2014): Veteranen. Eher zusammenfassenden Charakter hat Ziemann (2011): Zukunft.

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verbunden wird, um Kenntnisse über politische Prozesse zu erlangen, wobei auch kulturgeschichtliche Aspekte angeschnitten werden. Generelles Ziel der Arbeit ist es somit, das Reichsbanner in seiner Bedeutung für die Geschichte der Weimarer Republik zu untersuchen, wobei der Schwerpunkt auf den vielfältigen Bemühungen der Reichsbanneraktivisten zum Schutz der Republik liegt. 2. ZWISCHEN GEWALT- UND ZIVILKULTUR Das Reichsbanner als republikanischer Wehrverband beschränkte sich keineswegs nur auf die Organisation paramilitärischer Übungen oder die Teilnahme an Straßenkämpfen. Der Großteil des Verbandslebens drehte sich um genuin zivilkulturelle Veranstaltungen, wie etwa die Feiern der Reichsverfassung oder sog. Republikanische Tage, sowie Wahlkampfarbeit und allgemeine Werbung für republikanische Ideen.9 Insbesondere im Jungbanner, dem Jugendverband des Reichsbanners, wurde nicht allein Wehrsport betrieben. Vielmehr gab es auch politische Bildungsangebote, die für die damalige Zeit durchaus fortschrittlich waren und oftmals in Kooperation mit der staatlichen Reichszentrale für Heimatdienst durchgeführt wurden. Es ist im Falle des Reichsbanners eine interessante Durchmischung von paramilitärischen und somit gewaltkulturellen, sowie zivilkulturellen Aktivitäten zu beobachten, die sich nicht etwa gegenseitig aufhoben, sondern einander bedingten. So waren beispielsweise die Verfassungsfeiern des Reichsbanners mit ihren Paraden uniformierter Formationen, Fahnenweihen und anderen Elementen aus der militärisierten Kultur des Kaiserreiches gleichzeitig zivil- und gewaltkulturelle Ereignisse. Die politische Kultur der Weimarer Republik war stark von der nachhaltigen Militarisierung des Kaiserreiches und des Ersten Weltkriegs geprägt, so dass es nicht verwundern kann, wenn selbst der republikanische Teil der Weimarer Zivilgesellschaft in einem für unser heutiges Verständnis bemerkenswertem Ausmaß militarisiert war. Diese Tatsachen nachzuverfolgen erfordert eine Gesamtbetrachtung der politischen Entwicklung des Reichsbanners und seiner Vorläuferorganisationen, wie dem Republikanischen Führerbund und dem Republikanischen Reichsbund (RRB), deren Existenz die bereits in der Weimarer Zeit aufgestellte These widerlegt, dass das Reichsbanner zu spät gegründet worden sei um einen wesentlichen Einfluss auf die politische Entwicklung zu erlangen.10 Führerbund und Reichsbund waren die einzigen Vorläufer des Reichsbanners, die reichsweit organisiert waren und versuchten Einfluss auf die Gestaltung der Reichspolitik zu nehmen und nicht nur im lokalen Rahmen aktiv waren. Der Republikanische Führerbund als Offiziersvereinigung war in Deutschland zudem die erste genuin demokratische Militärorganisation des 20. Jahrhunderts, dessen Politik auf eine umfassende Republikanisierung der Armee hinwirkte und versuchte eine Achtung der staatsbürgerli  9 Siehe den Beitrag von Marcel Böhles in diesem Band. 10 Der Führerbund wurde im Frühjahr 1919 gegründet und der Reichsbund im Frühjahr 1921.  

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chen Grundrechte aller Soldaten durchzusetzen, wobei zahlreiche spätere Reichsbannermitglieder mitarbeiteten.11 Hiermit schuf der Führerbund eine Traditionslinie, die vom Reichsbanner fortgesetzt wurde und bei der Gründung der Bundeswehr knapp fünf Jahrzehnte später schließlich zum Durchbruch gelangen sollte. Das Konzept des Staatsbürgers in Uniform war bereits den Weimarer Republikanern nicht fremd. Aufgrund der Abschottung des Militärs gegen äußere Einflussnahme und der systematischen Verdrängung demokratisch orientierter Offiziere waren die Republikaner jedoch bereits 1921 gezwungen, ihre Ideale in zivilgesellschaftlicher Form auszudrücken, was zur Gründung des Reichsbundes als überparteilicher Initiative führte.12

Abb. 1: Berlin, Aufmarsch der Reichsbannerverbände 193013

  11 Hierzu gehörten laut einer Denkschrift der Gestapo von 1936 (Siehe BArch R58/617, Bl. 25– 40) u.a. Erich Kuttner (SPD), Anton Fischer (SPD), Hans Emil Lange (SPD), Otto Nuschke (DDP) und Wilhelm Abegg (DDP). Im Führerbund waren auch Republikaner organisiert, die bereits aus dem Heeresdienst ausgeschieden waren. 12 Der Einfluss des Führerbundes wurde bereits in Folge des gescheiterten Kapp-Putsches von 1920 empfindlich beschnitten, da sich die Mitglieder des Führerbundes auf die Seite der rechtmäßigen Regierung Gustav Bauers (SPD) gestellt hatten und daher von Seiten der sich neutral verhaltenden Reichswehrführung als unzuverlässig eingestuft wurden. Auch der Reichswehrminister Gustav Noske (SPD) war nicht bereit sich zum Führerbund zu bekennen und stufte die Organisation im Gegenteil als „parteiliche“ Initiative ein, welche geeignet sei die „Zuverlässigkeit“ der Armee zu untergraben (Zur Geschichte des Führerbundes allgemein: „Der Republikanische Führerbund“ von Anton Fischer, in: RBZ Nr. 37/1929 u. „Erinnerungen an den Republikanischen Führerbund“ von Hans E. Lange, in: RBZ Nr. 48/1929. Zur ablehnenden Position Noskes vgl.: Schreiben Noskes an alle Wehrkreiskommandos vom 17.7.1919, in: BArch RH59, Nr. 39, Bl. 53). 13 Bundesarchiv, Bild 102-00331, Fotograf: Georg Pahl.  

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Auch wenn der Reichsbund nicht das massenhafte Medienecho des Reichsbanners erzielen konnte und eher als bürgerlicher Honoratioren-Verein auftrat, konnte er gewisse Erfolge bei der Verbreitung demokratischer Gedanken insbesondere in akademischen Kreisen vorweisen.14 Die Erziehung der republikanischen Jugend zu differenziert denkenden, staatsloyalen Demokraten wurde auch im Jungbanner forciert, aus dessen Mitgliedern sich ab 1930 die Schutzformationen (Schufo) des Reichsbanners rekrutierten. Im Ideal eines wehrhaften Demokraten, der den Feinden der Republik mit Worten entgegentrat, aber notfalls auch mit der Faust, verschmolzen einmal mehr die gewalt- und zivilkulturellen Ansprüche des Reichsbanners. 3. NATIONALREPUBLIKANISCHE ANTWORT AUF DEN NATIONALSOZIALISMUS Das Reichsbanner als Zusammenschluss von Mitgliedern der SPD, der DDP und des Zentrums war einer nationalrepublikanischen und keiner parteipolitischen Grundlinie verpflichtet. Im Geiste des Nationalrepublikanismus wurden in der Reichsbannerpresse die Leistungen der jungen Republik für den deutschen Nationalstaat betont und den ehemaligen monarchistischen Machthabern deren nationaler Anspruch abgesprochen.15 Ganz in der Tradition der liberaldemokratischen 1848er-Revolution brachte sich das Reichsbanner somit in einen scharfen Gegensatz zu allen restaurativen Bestrebungen, weswegen sich das Reichsbanner im ersten Jahrfünft seines Bestehens auf die Bekämpfung des deutschnational und monarchistisch ausgerichteten Stahlhelms konzentrierte. Ab 1929 rückte dann die NSDAP immer mehr in den Fokus der republikanischen Abwehrorganisation. In zahlreichen Broschüren und Zeitungsartikeln versuchten die Reichsbanneraktivisten die Öffentlichkeit über den vermeintlich wahren, verbrecherischen und nichtnationalen (da parteiegoistischen) Charakter der NS-Bewegung aufzuklären und deren opportunistische Programmlosigkeit offenzulegen, wobei das Reichsbanner mit anderen republikanischen Organisationen wie dem Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens (C.V.) eng zusammenarbeitete und insbesondere die Gefährlichkeit des NS-Antisemitismus für die Gesamtgesellschaft betonte.16   14 Aussagekräftiges Quellenmaterial zum Reichsbund enthält u.a.: BArch R43I/768. 15 So bereits Saage (1986): Republik. Das Wort Nationalrepublikanismus ist keine Neuschöpfung der Forschung, sondern wurde bereits von Mitgliedern des Republikanischen Reichsbundes verwendet. So nannte sich z.B. das Verbandsorgan des Bremer Reichsbundes Die freie Hanse. National-Republikanisches Wochenblatt (Siehe einzelne Ausgaben der Zeitung, in: FES, Bestand Reichsbanner, 4/RSRG, Box 1). 16 Siehe insbesondere Gyßling (2003): Mein Leben u. Hirschberg (1929): Gesicht. Alfred Hirschberg war ein Publizist des C.V. und laut Arnold Paucker Autor der betreffenden ReichsbannerBroschüre (Paucker (1969): Abwehrkampf, S. 269). Auch Benz sieht das Reichsbanner als Organisation zur Abwehr des Antisemitismus (Benz (2011): Abwehr).  

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Nach den massiven Stimmengewinnen der NSDAP bei der Reichstagswahl im September 1930 forcierte das Reichsbanner seine Bemühungen. Noch im selben Herbst wurde eine umfassende organisatorische Reform des Reichsbanners beschlossen und durchgeführt, wobei die Schufo mit etwa 250.000 Mitgliedern den aktivsten Teil des Reichsbanners darstellte, das insgesamt etwa 1,5 Millionen Mitglieder umfasste.17 Das Reichsbanner erlebte in dieser Phase ein starkes Anwachsen der Mitgliederzahlen, so dass eindeutig eine Belebung des Reichsbanners in Folge der Bedrohungssituation festzustellen ist.18 Keineswegs sahen die Republikaner dem Untergang ihrer Republik tatenlos zu, sondern mobilisierten beträchtliche Mittel zur Bekämpfung des Nationalsozialismus.19 Hierbei gab es durchaus unterschiedliche Ansätze innerhalb der Reichsbannerführung, die von Otto Hörsing (SPD, 1. Bundesvorsitzende 1924–1931) und Karl Höltermann (SPD, 2. Bundesvorsitzende 1924–1931, 1. Bundesvorsitzende 1931–1933) geleitet wurde. Hörsing, der vielfach die Notwendigkeit der Überparteilichkeit des Reichsbanners unterstrichen hatte, versuchte nach dem ersten Generalappell der Schufo am 22. Februar 1931, also dem ersten öffentlichen Großauftritt der Formationen, die Kontakte zwischen den verschiedenen republikanischen Vereinen und insbesondere den bürgerlichen   17 Zum Vergleich: der RFB überschritt vor seinem Verbot wohl nie die Marke von 100.000 Mitgliedern (Siehe das Schreiben des RKO an das Reichsinnenministerium vom 2.4.27, in: BArch R1501/125668j, Bl. 49f.). Die SA wuchs ab 1929 zu einer Massenorganisation und dürfte erst 1932 eine ähnlich hohe Mitgliederzahl wie die Schufo erreicht haben. Der Stahlhelm als größter Wehrverband der Rechten verfügte über etwa 340.000 Mitglieder (So die vergleichsweise zuverlässigen Zahlenangaben zum Stahlhelm und der SA bei: Fricke et al. (1986): Lexikon, S. 145 u. 159). Nach außen hin gaben die Verbände aus propagandistischen Gründen stets übertriebene Mitgliederzahlen an, die etwa das Doppelte bis Dreifache der tatsächlich Aktiven betrugen (Siehe hierzu die interne Denkschrift des Reichsbanners „Unsere Gegner“, in: FES, NL Franz Osterroth, 1/FOAC, Mappe 140). Die offiziellen Mitgliederzahlen der Verbände sind aufgrund der unklaren Quellenlage schwer zu überprüfen. Der RKO ging 1927 von etwa 1.500.000 Mitgliedern des Reichsbanners aus (Siehe das bereits erwähnte Schreiben des RKO an das Reichsinnenministerium vom 2.4.27, in: BArch R1501/125668j, Bl. 49f.), was Anfang der 1930er auch tatsächlich erreicht worden sein dürfte, wie sich durch verbandseigene Meldungen über verlorene, nummerierte Mitgliedsbücher bestätigen lässt (Siehe u.a. „Mitteilungen des Bundesvorstandes“, in: RBZ Nr. 32/1932 vom 6.8.), wobei auch dies weniger als die Hälfte der offiziell angegebenen 3.500.000 Mitglieder waren. Dass das Reichsbanner mehr Mitglieder hatte als alle anderen Wehrverbände zusammengenommen, ist jedoch eindeutig. 18 Hierzu Voigt (2009): Kampfbünde, S. 446ff. 19 Allein im Jahr 1932 wurden gut 300.000 Mark im Rahmen der Reichsbannerversicherung gegen Schadensfälle ausgegeben. Insgesamt wurden für die Reichsbannerversicherung, die auch Gerichtskosten abdeckte, knapp 800.000 Mark verwendet, was mehreren 10.000 Einzelfällen entsprechen dürfte (Siehe „Mitteilungen des Bundesvorstandes“, in: RBZ Nr. 23/1932, RBZ Nr. 32/1932, RBZ Nr. 42/1932 u. RBZ Nr. 3/1933). Das Gesamtvermögen aller Organisationsgliederungen des Reichsbanners dürfte mehrere Millionen Reichsmark betragen haben. So betrug allein der Jahreshaushalt des Reichsbannergaues Schleswig-Holstein (1 von 32 Gauen) stets über 100.000 Mark (Siehe Hauptausgabenbuch der Gaugeschäftsstelle Kiel, in: LA Schleswig, Abt. 384.1, Nr. 53). Eine Gesamtübersicht zum Finanzhaushalt des Reichsbanners liegt aus den oben beschriebenen quellenbezogenen Gründen nicht vor.  

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Republikanern zu stärken. Im März 1931 erfolgte unter Hörsings Vorsitz die Gründungskonferenz des Kartells der republikanischen Verbände. In dieser Dachorganisation, dessen Geschäftsführung beim Republikanischen Reichsbund lag, waren mehr als ein Dutzend republikanische Vereine, wie der Republikanische Lehrerbund, die Republikanische Beschwerdestelle, die Liga für Menschenrechte u.a.m., versammelt. Das Ziel des Kartells war es, unabhängig von Parteien und Parlamenten eine republikanische, überparteiliche Position zu festigen und diese gegenüber den präsidialen Machthabern zu vertreten. Insbesondere sollte das Kabinett Heinrich Brünings (Zentrum) zum Wohle der Republik und Nation auf eine entschiedene Bekämpfung des Nationalsozialismus verpflichtet werden.20 Für Hörsing selbst war in dieser Zeit zudem das Thema Arbeitsbeschaffung zu einem zentralen Anliegen geworden. Wenn es durch massive staatliche Interventionen gelänge, die Arbeitslosigkeit zu verringern, dann würde auch dem Nationalsozialismus seine Agitationsbasis verloren gehen, so Hörsings Logik. Bei der SPD, den Gewerkschaften und dem Brüning-Kabinett konnte er allerdings keine Unterstützung für seine Pläne gewinnen, die er mit Hilfe seines engsten Mitarbeiters Paul Crohn (SPD) in Form von Artikeln und Broschüren ausgearbeitet hatte. Dies lag neben einer grundsätzlichen Ablehnung von Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen in Regierungskreisen auch an der Unausgereiftheit von Hörsings Vorschlägen. So forderte er u.a. ein allgemeines Arbeitsverbot für Ausländer und die restlose Abschaffung der Arbeitslosenversicherung als vermeintlich „unproduktiver“ Einrichtung.21 Hörsing wurde aufgrund seines wirtschaftspolitischen Engagements zunehmend isoliert und schließlich im Dezember 1931 von Höltermann an der Spitze des Reichsbanners abgelöst. Dies geschah im Kontext eines erneuten Rechtsrucks innerhalb des Brüning-Kabinetts und damit zusammenhängend der fortschreitenden Ausschaltung der SPD in der Reichspolitik. Als Reaktion hierauf wurde von der SPD, den Freien Gewerkschaften, dem Arbeiter-Turn- und Sportbund und dem Reichsbanner die Eiserne Front (EF) gebildet. Die EF ist als Bündnis der Organisationen des sozialdemokratischen Milieus zu verstehen, mit dem Ziel, die eigenen politischen Machtreserven zu mobilisieren. Der Vorsitz der EF lag bei Höltermann, auf dessen Initiative die Gründung wohl auch zurückzuführen ist.22 Für das Reichsbanner bedeutete dies eine einschneidende Veränderung, da nun die bürgerlichen Mitglieder des Bundes, die ohnehin immer in der Minderheit waren, erneut an Einfluss verloren. Diese Sozialdemokratisierung des Reichsbanners brachte auch eine zumindest oberflächliche Militarisierung der SPD und ihres propagandistischen   20 Vgl. das Schreiben des Kartells an die Regierung Brüning vom 19.5.31 und die Antwort vom 30.5., in: BArch R43I/769, Bl. 4f. 21 Vgl. Crohn (1931): Kriegsplan, S. 39ff. u. 47f. 22 Siehe Rundschreiben des Gauvorstandes Nr. 18/1931 vom 13.12., in: LA NRW Abt. Westfalen, C 61, Nr. 9. Darin wird das Schreiben des „technischen Bundesführers“ Höltermann zur Bildung der Eisernen Front und die Beurlaubung Hörsings bekannt gegeben. Ferner Hörsings Bericht über das Entstehen der Eisernen Front, in: FES, NL Otto Hörsing, 1/OHAB, Mappe 19. Der Entwurf mit dem Titel „Eiserne Front“ stammt vom 29.1.32.

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Auftretens mit sich (Dreipfeil-Propaganda), was sich jedoch nur teilweise in organisatorischen Veränderungen innerhalb des SPD-Parteiapparats widerspiegelte (z.B. das sog. Pionier-System in Hamburg). Höltermann rückte das Reichsbanner allerdings nur organisatorisch nach links. Politisch trug er weiterhin die nationalrepublikanische Linie seines Vorgängers Hörsing mit, was sich vor allem in der bedeutenden Unterstützung der Wiederwahl des Reichspräsidenten Paul von Hindenburgs ausdrückte, der als Beschützer von Nation und Republik beworben wurde und eine Reichspräsidentschaft Hitlers verhindern sollte.23

Abb. 2: Klebezettel der Eisernen Front 193224

Diese zwei unterschiedlichen Strategien zur Bekämpfung des Nationalsozialismus, also Hörsings Versuch, die bürgerlichen Republikaner zu binden, sowie Höltermanns Konzentration auf die Machtreserven der Sozialdemokratie bei gleichzeitiger Kooperation mit der Regierung, mündeten trotz der enormen Kraftanstrengungen, die auch in der Eisernen Front geleistet wurden, bekanntermaßen nicht in einem Sieg der Republikaner. Die Gründe hierfür sind primär im Wechselspiel zwischen dem Reichsbanner als privater Gewaltorganisation und den staatlichen Machtträgern zu suchen, aber nicht in einer vermeintlichen Passivität der Republikaner.   23 Wie aus den Handakten des damaligen Reichsinnenministers Wilhelm Groener hervorgeht, wurden im Kontext der Reichspräsidentschaftswahl 1932 vom Reichsbanner (laut eigenen Angaben gegenüber Groener) etwa 60 Millionen Plakate und Flugblätter geklebt bzw. verteilt. Ferner wurde allen – d.h. auch Rechtskonservativen wie Gottfried Treviranus oder Kuno Westarp – Mitgliedern von Hindenburgs Wahlausschüssen Saalschutz gewährt. Bei diesen Einsätzen zugunsten Hindenburgs starben drei Mitglieder des Reichsbanners und etwa 600 wurden leicht oder schwer verletzt (Vgl. BArch R1501/113117, Bl. 218ff.). 24 Quelle: http://www.lzw-portal.de/filter/eiserne-front/ (Zugriff am 6.9.2019)

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4. VERHINDERTE SCHUTZTRUPPEN DER REPUBLIK Innerhalb des Reichsbanners gab es verschiedenste Ansätze zur Stabilisierung des angegriffenen demokratischen Systems. Das zentrale Anliegen des Reichsbanners, welches bereits in der ersten Satzung vom 22. Februar 1924 formuliert wurde, war es jedoch, die Republik gegen weitere Putschversuche oder Aufstände zu verteidigen und zwar unabhängig davon, ob diese von Rechts oder Links kamen.25 So wollten sich die Mitglieder des Reichsbanners der regulären Schutzpolizei (Schupo) als Hilfspolizisten zur Verfügung stellen. Ganz wie es in den Jahren 1919 bis 1923 im Rahmen der Freiwilligenverbände praktiziert worden war, als spätere Mitglieder des Reichsbanners wie Erich Kuttner (SPD) im „Regiment Reichstag“ oder Ernst Lemmer (DDP) in der „Marburger Volkskompanie“ für die Republik gekämpft hatten.26 So bereiteten sich die Mitglieder des Reichsbanners durch Marsch- und Waffenübungen, sowie eine allgemeine sportliche Betätigung auf ihren möglichen Einsatz vor. Das Reichsbanner versuchte aber nicht eine Privatarmee aufzubauen, die unabhängig von den staatlichen Waffenträgern in der Lage gewesen wäre, militärisch zu agieren, sondern verstand sich lediglich als Personalreserve für den Notfall. Eine tatsächlich militärische (also „kriegerische“) Organisation war das Reichsbanner demzufolge nicht, was nicht zuletzt auch an den restriktiven Abrüstungsbestimmungen lag, die eine systematische Bewaffnung des Reichsbanners unmöglich machten.27 Das Reichsbanner bewegte sich mit seinen paramilitärischen Aktivitäten in einer rechtlichen Grauzone und versuchte kontinuierlich die offizielle Anerkennung und Unterstützung der staatlichen Institutionen zu erlangen, die es schützen wollte. Nun waren diese privaten Gewaltmaßnahmen aus Sicht des republikanischen Staates nicht ausschließlich willkommen. Gerade der preußische Innenminister Carl Severing (SPD) blieb stets skeptisch gegenüber den Aktivitäten des Reichsbanners, da er eine Unterminierung des staatlichen Gewaltmonopols und insbesondere einen potentiellen Machtanspruch einer Hilfspolizei befürchtete. Gleichzeitig war er gezwungen das Reichsbanner zu tolerieren und in Grenzen auch zu unterstützen, da die antidemokratischen Wehrverbände eine ernsthafte innenpolitische Gefahrenquelle darstellten. Severing war allerdings nicht bereit dem Reichsbanner eine umfassende Anerkennung zukommen zu lassen. Er ließ es 1930 nicht auf einen Konflikt mit der Reichsregierung und Hindenburg ankommen, sondern schenkte vielmehr der Reichswehrführung um Kurt von Schleicher sein Vertrauen, was nicht   25 Siehe Gründungsaufruf des Reichsbanners vom 22.2.1924, z.B. in: BArch R43I/767, Bl. 4 oder RBZ Nr.1/1924. 26 Die Idee einer republikanischen Hilfspolizei wurde besonders emphatisch vom ehemaligen Polizeioffizier Hermann Schützinger (SPD) vertreten (Siehe Schützinger (1924): Kampfbrevier). 27 In den Entscheidungszentren der Entente wurde diese auf eine Personalreserve beschränkte Rolle aller (!) Wehrverbände durchaus wahrgenommen (Siehe u.a. The Military Situation in Germany, C.I.D. Paper No. 926-B, December 1928, in: UK National Archives, CAB 24/199/54).  

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unähnlich zum Verhalten Noskes Jahre zuvor war.28 Severing wurde, wie bereits Noske 1920, hintergangen und am 20. Juli 1932 seines Amtes gewaltsam enthoben. Auch im Vorfeld des Preußenschlags war Severing nicht bereit, sich auf republikanische Freiwilligenverbände zu stützten, wie es ihm von Reichsbannerseite wiederholt vertraulich, aber auch öffentlich angeboten worden war.29 Die These, dass das Ende der Republik auch durch die Passivität der Republikaner herbeigeführt wurde, sollte also nicht verallgemeinert, sondern wesentlich konkreter formuliert werden. Nicht nur Severing ist der Vorwurf des schuldhaften Unterlassens zu machen, sondern auch dem späteren Reichskanzler Kurt von Schleicher. Es ist bekannt, dass Schleicher innerhalb der Reichswehrführung zu jenen gehörte, die in der NSDAP einen potentiell wertvollen Bündnispartner sahen, doch – und dies ist der entscheidende Punkt – entfremdete sich Schleicher im August 1932 zunehmend von den Nationalsozialisten, was vom Reichsbanner gefördert wurde. Ende des Jahres 1932 erfolgte eine Annäherung zwischen Reichswehr und Reichsbanner, die das Ergebnis eines langjährigen Prozesses war und an dessen Ende schließlich das beiderseitige starke Misstrauen abgebaut werden konnte.30 Wie das von Helmut31 Klotz (SPD) – ein wichtiger Publizist des Reichsbanners – 1934 im Pariser Exil herausgegebene „Tagebuch eines Reichswehrgenerals“ (auch Berliner Tagebücher) nahelegt, hatte der stellvertretende Reichsbannervorsitzende Johannes Stelling (SPD) noch im Januar 1933 in einer Unterredung mit Schleicher diesen dazu aufgefordert, mit energischen Schritten und wenn nötig mit Gewalt gegen die NSDAP vorzugehen. Die Grundidee war wohl alle Wehrverbände aufzulösen und dieses Verbot von einer neu zu bildenden Hilfspolizei überwachen zu lassen. Als Mitglieder der Hilfspolizei wurden zuverlässige Angehörige des Reichsbanners und auch des sich staats- und reichswehrtreu gebärdenden Stahlhelms in Betracht gezogen, wobei die Führung der Hilfspolizei dem Schupo-Major

  28 Siehe den Schriftwechsel zwischen Severings Mitarbeiter Erich Klausener (Zentrum), dem Chef der Reichskanzlei Hermann Pünder (Zentrum) und Schleicher vom November und Dezember 1930, in: BArch R43I/767, Bl. 264–268. Dort wird von Seiten Severings der Idee einer Reichsbanner-Hilfspolizei eine klare Absage erteilt und erläutert, dass die Reichswehr im Falle von Unruhen erneut im Inneren eingesetzt werden müsse, was am 20. Juli 1932 ja auch geschah. 29 Es ist mittlerweile Konsens, dass ein gewaltsamer Widerstand der Republik am 20. Juli wohl keinen Erfolg gehabt hätte und von den historisch Handelnden auch nicht beabsichtigt war (Siehe u.a. Winkler (1998): Weimar, S. 493ff., Kolb/Schumann (2013): Republik, S. 143). Entscheidend ist aber, dass ein legaler Einsatz des Reichsbanners als Hilfspolizei zur Bekämpfung öffentlicher Ausschreitungen angesichts der sich ab 1929 verschärfenden politischen Gewalt lange vor dem 20. Juli möglich gewesen wäre und mehrfach von Reichsbannerseite vorgeschlagen wurde, aber Severing dieses Angebot nicht akzeptierte. 30 Siehe Rohe (1966): Reichsbanner, S. 444ff. Zu Schleichers Positionen: Vogelsang (1962): Reichswehr. 31 In der Literatur auch „Helmuth“.  

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a.D. und Reichsbannermitglied Karl Heinrich (SPD) hätte übertragen werden sollen.32 Den Kontakt zwischen Stelling und Schleicher hat, wenn man der Publikation von Klotz in diesem Punkt Glauben schenkt, der engste Mitarbeiter Schleichers, der Generalmajor Ferdinand von Bredow, hergestellt, der genauso wie Schleicher im Kontext des sog. Röhm-Putsches 1934 ermordet wurde. Stelling wurde bereits im Juni 1933 ermordet und Klotz wurde 1943 nach einem Schauprozess hingerichtet, was die in diesem Punkt recht dürftige Quellenlage erklärt.33 Unabhängig davon, ob es tatsächlich zu einem Treffen zwischen Stelling und Schleicher gekommen ist, lässt sich auf Basis der Quellen feststellen, dass während der Kanzlerschaft Schleichers das oben dargestellte Konzept einer ReichsbannerHilfspolizei an ihn herangetragen wurde. Warum diese Idee nicht realisiert wurde, liegt in der allgemeinen politischen Konstellation dieser Monate begründet. Schleicher fühlte sich offenbar nicht in der Lage, gegen den erklärten Willen Paul von Hindenburgs ein Bündnis mit republikanischen Kräften zu schließen. Das Reichsbanner war beim Präsidenten nicht als „überparteilicher“ Verband angesehen, sondern galt als „politischer“ Verein. Somit konnte es im Gegensatz zu den im Sprachgebrauch der damaligen Rechten „unpolitischen“ Verbänden wie dem Stahlhelm nicht offiziell bei Hindenburg Einfluss nehmen. Dies war „politischen“ Vereinen schlicht nicht gestattet. Inoffizielle Kanäle, die das Reichsbanner als Alternative hätte nutzen können, gab es bei Hindenburg, anders als beim Reichswehrministerium, nicht.34 So wird ersichtlich, dass die Versuche des Reichsbanners, Einfluss auf die Reichswehr zu nehmen, nicht direkt am Widerstand des Offizierskorps   32 Heinrichs Name wird bei Klotz nicht erwähnt, aber aus der Abschrift eines Verhörs von Heinrich durch die Gestapo geht seine Beteiligung an diesen Plänen hervor (Siehe BArch R58/2241, Bl. 74). 33 Siehe Klotz (1934): Berlin Diaries Vol. I, S. 232ff. (Eintrag vom 4.1.33), 250ff. (Einträge vom 14. u. 15.1.33) u. 262–267 (Einträge vom 28., 29. u. 30.1.33). Dort wird von den Zusammenkünften Schleichers mit einem Sozialdemokraten berichtet, der nur als „Freund St-“ bezeichnet wird. Wahrscheinlich handelt es sich hierbei um Stelling, allerdings hatten auch Karl Mayr und Klotz selbst Kontakte zum Reichswehrministerium, so dass die Identität von „Freund St-“ nicht abschließend geklärt ist. Zur allgemeinen Zuverlässigkeit der Publikation von Klotz sei angemerkt, dass er selbst darauf hinwies, dass Namen, Orte und Datumsangaben aus verständlichen Gründen nur verfremdet wiedergegeben werden konnten (Vgl. ebd., S. 21ff.). Es kann hingegen nicht angezweifelt werden, dass Klotz für sein Buch Material aus dem Reichswehrministerium verwendete, da ihm Interna bekannt waren. So z.B. im Eintrag vom 6.2.33 (Klotz (1935): Berlin Diaries Vol. II, S. 41ff.), wo eine Besprechung Hitlers mit ausgewählten Reichswehroffizieren beschrieben wird, in der Hitler sein Programm der Aufrüstung und Expansionskriege präsentierte, obwohl er öffentlich zu diesem Zeitpunkt eine friedliche Entwicklung versprach. Eine Besprechung mit solchem Inhalt fand in der Tat am 3.2.33 in der Wohnung Kurt von Hammersteins statt, wobei sogar die Wortwahl Hitlers grob mit dem Bericht von Klotz übereinstimmt (Siehe Vogelsang (1954): Dokumente, S. 434f. Als Beispiel zur ähnlichen Wortwahl: „Gefährliche Zeiten“ (laut Vogelsang) u. „period of danger“ (laut Klotz)). Ob nun tatsächlich Bredow, Hammerstein oder eine andere Person Klotz diese Informationen zuspielte, ist im Vergleich mit der Tatsache, dass überhaupt ein interner Informant existierte, weniger von Belang. 34 Zu Hindenburg und dessen Politikverständnis: Pyta (2007): Hindenburg.  

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scheiterten, der mittels des Reichswehrministeriums überwunden werden konnte, sondern am Oberbefehlshaber Hindenburg und dessen politischer Agenda. Bereits im Kontext des SA-Verbotes im Frühjahr 1932 hatte Hindenburg in einer Weise gegen den damaligen Reichswehrminister Wilhelm Groener intrigiert, die als persönlicher und politischer Verrat bezeichnet werden muss. Hindenburg hatte öffentlich ein Verbot des Reichsbanners gefordert, nachdem er nur wenige Tage zuvor dank der Wahlkampfhilfe des Reichsbanners im Amt bestätigt worden war. Nachdem Hindenburg dieser Wunsch von Groener und Brüning nicht gewährt wurde, nutzte er die nächste Gelegenheit, um Groener aus dem Amt zu drängen, was mittelbar auch zum Ende des Brüning-Kabinetts führte.35 Schleicher fürchtete wohl, dass ihm im Falle einer zu engen Anlehnung an das Reichsbanner eine ähnliche Behandlung widerfahren würde. Als einzige Handlungsoption blieb Schleicher im Januar 1933 daher die Möglichkeit eines Militärputsches zur Absetzung des Reichspräsidenten und soweit wir wissen, wäre ein solcher Schritt vom Reichsbanner aktiv mitgetragen worden.36 Doch auch Schleicher blieb passiv und nach der Ernennung Hitlers wurde nicht das Reichsbanner, sondern die SA zur Hilfspolizei erklärt, was wohl nicht zufällig am neunten „Geburtstag“ des Reichsbanners geschah, dem 22. Februar 1933. Bewaffnet mit den Gewehren der Schupo ging die SA mit großem Effekt gegen die Republikaner vor, was schnell zum Ende des Reichsbanners führte. Die weiteren Phasen der Machtergreifung bis zum Sommer sind bekannt. Doch ist es kritisch festzuhalten, dass die Demobilisierung und Zerschlagung des Reichsbanners zu den ersten Ereignissen dieses Prozesses zählt. Genauso wie die öffentliche Verurteilung des Reichsbanners durch Hindenburg im April 1932 einen ersten konkreten Schritt hin zu dessen Bruch mit Brüning und den republikanischen Parteien darstellte. Zusammenfassend wird daher klar, dass die bereits von Hörsing unternommenen Versuche des Reichsbanners, positive Kontakte zum Reichswehrministerium zu knüpfen, von gewissen Erfolgen gekrönt waren, aber aufgrund des Handelns von Hindenburg (Absetzung Schleichers und vorherige Absetzung Groeners als Reichswehrminister) keinen dauerhaften politischen Nutzen für die Republikaner erbrachten. 5. AUSBLICK Ein genauerer Blick auf die Interaktion des Reichsbanners mit den staatlichen Sicherheitsorganen zeigt deutlich, dass der Republikanerbund eine zentrale Stellung im Machtspiel der Weimarer Republik innehatte und nicht nur eine passive Nebenrolle einnahm. Während hier skizziert werden konnte, warum das Reichsbanner nicht mit Waffengewalt aktiv gegen die Machtergreifung oder den Preußenschlag   35 Zum SA-Verbot und den Folgen: Kolb/Schumann (2013): Republik, S. 140f. Dreyer betont die Verantwortung Hindenburgs für diese fortschreitende Schwächung der Demokratie (Vgl. Dreyer (2009): Wehrhaft, S. 179f.). 36 Zur Frage der Staatsnotstandspläne Schleichers: Kolb / Pyta (1992): Staatsnotstand.

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vorging, muss abschließend darauf verwiesen werden, dass die Republikaner unabhängig von ihrem möglichen Einsatz als Hilfspolizei sehr wohl auf einer alltäglichen Basis Gewalt für die Demokratie einsetzten. Die statistische Aufarbeitung der Beteiligung des Reichsbanners an den Straßenkämpfen der 1920er und 1930er Jahre wird in der umfassenderen und bald vorzulegenden Arbeit ebenfalls erfolgen, wobei auch auf die performative Ebene der politischen Gewalt eingegangen wird.37 Zwischen 1924 und 1932 starben insgesamt etwa 500 Personen bei politisch motivierten Auseinandersetzungen der Wehrverbände, wobei Mitglieder des Reichsbanners an etwa 100 Tötungsdelikten beteiligt waren. Es ist zu klären, wie sich die Republikaner bei diesen Konfrontationen verhielten und unter welchen Umständen jene Männer zu Tode kamen, welche die Republik bis zuletzt verteidigten. LITERATUR Benz, Wolfgang: Zur Geschichte der organisierten Abwehr des Antisemitismus, in: Jahrbuch für Antisemitismusforschung 20 (2011), S. 15–35. Berghahn, Volker R.: Stahlhelm. Bund der Frontsoldaten 1918–1935, Düsseldorf 1966. Böhles, Marcel: Im Gleichschritt für die Republik. Das Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold im Südwesten, 1924 bis 1933, Essen 2016. Bracher, Klaus Dietrich: Die Auflösung der Weimarer Republik. Eine Studie zum Problem des Machtzerfalls in der Weimarer Republik, Villingen 1964 [1955]. Büttner, Ursula: Weimar. Die überforderte Republik 1918–1933, Bonn 2008. Curius, D. [Crohn, Paul]: Otto Hörsings Kriegsplan zur Niederringung der Arbeitslosigkeit, Berlin 1931. Dreyer, Michael: Weimar als wehrhafte Demokratie. Ein unterschätztes Vorbild, in: Die Weimarer Verfassung. Wert und Wirkung für die Demokratie, Erfurt 2009, S. 161–189. Erdmann, Karl Dietrich / Schulze, Hagen (Hg.): Weimar. Selbstpreisgabe einer Demokratie. Eine Bilanz heute, Düsseldorf 1980. Fricke, Dieter et al. (Hg.): Lexikon zur Parteiengeschichte. Die bürgerlichen und kleinbürgerlichen Verbände in Deutschland (1789–1945), Bd. 4, Leipzig 1986. Gotschlich, Helga: Zwischen Kampf und Kapitulation. Zur Geschichte des Reichsbanners SchwarzRot-Gold, Berlin (Ost) 1987. Gyßling, Walter: Mein Leben in Deutschland vor und nach 1933, Hill (Hg.), Bremen 2003. Helmbold, Heinz: Das Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold in der Periode der relativen Stabilisierung des Kapitalismus 1924–29. Ziele, Funktion und Struktur, Jena 1970. [Hirschberg, Alfred]: Das wahre Gesicht des Nationalsozialismus. Theorie und Praxis der NSDAP, Bundesvorstand des Reichsbanners Schwarz-Rot-Gold (Hg.), Magdeburg 1929. Klotz, Helmut: The Berlin Diaries. The Private Journals of a General in the German War Ministery revealing the Secret Intrigue and Political Barraty of 1932–1933, Vol. I, London 1934. Ders.: The Berlin Diaries. The Private Journals of a General in the German War Ministry revealing the Secrets of Hitler’s seizure of power, Vol. II, London 1935. Kolb, Eberhard / Pyta, Wolfram: Die Staatsnotstandsplanung unter den Regierungen Papen und Schleicher, in: Winkler (Hg.): Die deutsche Staatskrise 1930–1933. Handlungsspielräume und Alternativen, München 1992, S. 155–181. Ders.: Die Weimarer Republik, München 2009. Ders. / Schumann, Dirk: Die Weimarer Republik, München 2013.

  37 Richtungsweisend zu diesem Aspekt ist: Schumann (2001): Gewalt.

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POPULAR LIBERALISM IN GERMANY 1866–1932 The Construction of Bourgeois, Popular Liberal and National-Socialist Subculture in South-West Germany Oded Heilbronner 1. INTRODUCTION In this paper, I shall introduce the term “Popular Liberalism” within the context of German Liberalism and the German Bourgeoisie for the first time.1 I shall focus on political, social and cultural patterns in Germany up to the early 1930s. I argue that popular-radical liberal bourgeois pressure-groups and parties persistently focussed their criticism on the need to move the political system of the German Second Reich and the Weimar Republic in a more radical direction. By studying this political and cultural formation, I believe I can prove the existence of German Popular Liberalism in a specific region: Greater Swabia (Groß-Schwaben) in South Germany. In this region the local bourgeoisie, (artisans, rich farmers, small businessmen, civil servants, small entrepreneurs) members in Liberal movements, fought hard to retain their constituents' loyalty. With varying degrees of success, they opened up the party leadership to new voices, evolved new organizational forms, and sought to placate their electorate by aggressive defense of local industrial interests. In Greater Swabia, local Liberals (mostly members of the National-Liberal Party and peasants organisations) were proudly conscious of their radical identity and strongly determined to survive as an electoral and social force. It can even be said that in some southern regions Popular Liberalism dominated the school, the pub, the local voluntary association (Verein), and the Old Catholic church. Together with the popular Catholics, the Popular Liberals were the movers and shakers of the local political   1

By the term Popular Liberalism I mean an English originated political and cultural mass-phenomenon from the second half of the 19th Century characterized by six main elements: 1. Support for a liberal economy (in England mainly free trade. In South Germany, a moderate support for free trade). 2. Political populism expressed in an encouragement of freedom and liberty (particularly constitutional liberty), egalitarianism (in the form of anti-elitist, anti-Junkerish sentiments), and republicanism (in the form of the desire for the common good and the preservation of the community). 3. A religious identity based on Nonconformity, anti-clericalism (in South Germany) and anti-Anglicanism (in England). 4. Advocacy of a nationalist-imperialist foreign policy. 5. The view that politics was underpinned by the notion of a “community” (Gemeinschaft) or a “people” rather than a class or the state. 6. Disestablishmentarianism. Here I rely mainly on Biagini (1994): Liberty, p. 6; Vickers (1996): Pressure Groups, pp. 38ff.

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culture. In short, the existence of a long tradition of plebeian radicalism and its cultural and institutional expression are undoubtedly of great significance. The major goal of my article is to offer a new explanation for the success of National Socialism before 1933 in certain regions in South Germany: one connected with the fact that there was a substantial continuity in Popular Liberalism throughout the second half of the 19th and the first third of the 20th century. Now, one of the difficulties about discussing the linkages between German Bourgeoisie, German Liberalism and National Socialism is that it is a subject we seem to know so well that we are unable to reconsider its historical roots. In my study, I wish to re-examine the relations between Popular Liberalism and National Socialism, in the hope that a different viewpoint will produce a deeper understanding of the discourse of the German Bourgeoisie with relation to the Nazi success before 1933. My argument is based on the continuity of radical-liberal bourgeois politics, which in this period continued to be dominant in many parties, pressuregroups and bourgeois associations. According to this interpretation, the post 1920s National Socialism drew from a variety of cultural sources and, especially before 1933, reacted pragmatically to changing circumstances. It is further argued that National Socialist thought and actions did not just emerge from within the Nazi Party itself, but also developed autonomously and concurrently within the various subcultures and regions of Weimar Germany with predominantly rural liberal traditions. A fresh look should be taken at the relationship between local-regional identities and national politics, which is illustrated by the fact that a rural Liberalism with a radical legacy existed in certain regions where the Nazi Party won massive electoral successes. In contrast to prevailing beliefs, I suggest that this local-regional radical identity (which will be discussed below as a radical liberal subculture) was not submerged by the Nazi Party, but changed its form of representation.2 Here, I should like to follow the advice of the German political historian Karl Rohe: “One is in a better position to estimate the Nazi Party's regional strength if one knows not only the social composition of the regional electorate but its voting behaviour in the Kaiserreich, that is to say its political-cultural composition”.3 The people and associations of this subculture believed that the Nazi Party could fulfil their radical-liberal vision, rooted in the local democratic and liberal traditions that stretched from 1848 to the early 20th century. Until the late 1920s, liberal and peasants parties, bourgeois organisations and bourgeois associations were the socio-political representatives of this vision and culture. From the late 1920s to the beginning of the 1930s the representatives of these organisations formed the Nazi Party chapters in many villages and towns. By 1932, at least in south Germany and as a result of the Strasser-Himmler-Goebbels organisational reforms within the Nazi party,4 this unique Radical-Liberal legacy within the Nazi Party had started to disintegrate and to lose its radical appeal.   2 3 4

I have developed those ideas in Heilbronner (2015): Popular Liberalism. Rohe (1990): Elections, p. 16. Mühlberger (1986): Central Control.

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This article is divided into three parts. In the first part, I shall describe the unique radical-liberal subculture in Greater Swabia. In the second part, I shall describe the principal stages in the development of Popular Liberalism in South Germany from the mid-19th century to the final years of the Weimar Republic. Finally, I will try to describe how this unique radical-liberal subculture changed its form of representation. 2. THE RADICAL-LIBERAL INFRASTRUCTURE Both in the period of the German Second Reich and in the Weimar period, the radical liberals in Greater Swabia built their success on special traditions and a special infrastructure.5 Side by side with the accepted image of South Germany as an Ultramontane domain where liberalism (mainly its political force, The National Liberal Party) failed after the 1870s, we must consider the case of Greater Swabia, which constituted a definite radical-liberal subculture with agents who carried the popular-liberal culture beyond the end of the 19th century. I would like to dwell briefly on the long-term reasons for the strong support for the radical liberals in Greater Swabia. Greater Swabia was an unusual area in South Germany.6 It did not form part of the political landscape (politische Landschaft) of the states of Bavaria, Württemberg and Baden in the first half of the 19th century. Most of the towns and villages in Greater Swabia had a tradition of self- administration (Selbstverwaltung) which was contrary to the political culture of some of the areas to the north of Greater Swabia which from the 17th century were under a centralized rule, whether a regional ruler or the Habsburg emperor. During the process of state-building at the beginning of the 19th century, Greater Swabia developed hostile feelings towards the new post- Napoleonic central authorities. Until the 1820s, the areas of Lake Constance, Hohenzollern and South Baden formed part of the archdiocese of Constance, known for its tolerant liberal attitude, which both religiously and politically was in opposition to the archdiocese of Strasbourg and from the 1820s to the archdiocese of Freiburg and the Baden central government in Karlsruhe. Even before the year 1848 and especially in that year, the area was a focus of social and political protest against the Baden government. In Prussian Hohenzollern-Sigmaringen, there was resentment against the Prussian government from 1850 onwards, when the area was annexed to Prussia. In the 1860s, the cultural strategies were forged which typified the radical-liberal subculture in the area until the eve of the First World War: i.e., a fierce struggle against Ultramontanism, and opposition, which sometimes took the form of physical protest, to any form of central government organization. This opposition was accompanied by the development of organizational, cultural and linguistic tools of   5 6

Heilbronner (2015): Popular Liberalism; Steber (2010): Ethnische Gewissheiten. I adopted the term “Greater Swabia“ (Groß-Schwaben) from Heinze (1995): Bayerisch-Schwaben; Klöckler (2001): Reichsreformdiskussion, pp. 306–312.

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expression and the formation of social groups which stressed a tradition of freedom, anti-elitism and an awareness of the special quality of the locality and region (Heimatgefühl). Among those groups were, e. g., The National Liberal Party, Young Liberals Associations (Jungliberale Vereine) the local liberal newspapers, the bourgeois cultural Voluntary Associations (Vereine) which cultivated sport, music, culture and local folklore, and the local schools which even after the 1860s were under the control of the liberals. Finally, the local bourgeoisie - many of them anticlerical in their religious beliefs - concentrated around the Old Catholic Church in towns like Kempten, Lindenberg, Lindau, Constance, Messkirch and Donauschingen. This subculture was based on a partial opposition, or rather reaction, to the two hegemonic cultures, or – it would be more accurate to say – a reaction to the image of the two hegemonic cultures. One was the hegemonic political culture which originated north of the River Main, which stood for a Prussian-German nationhood, bureaucracy, a strong state, militarism and Protestantism, and which was to be found both in Berlin and in the regional governmental Protestant centres of South Germany: Karlsruhe, Stuttgart and Frankfurt. The other was the culture associated with the Catholic-ultramontane hegemony in South Germany and its religious centres in Freiburg, Augsburg and Munich. The response and partial opposition to these two cultures created a radical-liberal subculture characterized by protest and reaction. During certain periods in the second half of the 19th century and even in the Weimar period, the liberal Prussians and even Bismarck served as temporary models for many of the cultural elites in the area, especially in Hohenzollern. Still, the republican traditions of the early modern period, the memory of the frequent rebellions against the central government in the 17th and 18th centuries and the strong hatred for the Catholic Church, especially in its Ultramontane form, fuelled radical-liberal activity during most of the period until the First World War and also afterwards.7 In addition, a great deal was said about a constitution being the basis of all governmental actions and about the importance of the concept of freedom and the liberty of the individual. This was not the accepted model of the German idea of freedom, in which the Obrigkeit (the authority of the state) determined the degree and limits of freedom. But here it was a freedom determined by a local authority, voluntary bodies, and which existed in a narrower framework – whether it was the Heimat, the village, the place of residence or the “community” (Gemeinschaft) – to which all who shared the same belief in a vision of freedom deeply rooted in the local culture belonged. The idea of self-administration as a protection for the freedom of the individual and the community against the encroachments of the state and the central authority was extremely popular and continued to be influential in the Weimar period. The economic infrastructure provided a strong support for economic liberalism, which in turn provided a basis for popular liberalism. The economic structure of Greater Swabia was unique in South Germany. In addition to many backward farms   7

Heilbronner (1996): Catholic (rural) Bourgeoisie; Heilbronner (1995): Regionale Aspekte.

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and villages, there were also large, prosperous farms covering more than twenty acres. As a result of all this, an economy with agrarian-capitalist characteristics had developed in the area. A large and visible segment of Catholic bourgeoisie, wealthy farmers, prosperous artisans and owners of workshops had existed in the region since the 18th century. Representatives or supporters of the liberals, most of whom were anticlerical Catholics, directed the main economic institutions of the region: agricultural institutions like the Agricultural Association, the Co-operative and Further-Education Association and the Cattle Insurance Association.8 This unique infrastructure relied on four major cultural institutions that were of great assistance to the liberal cultural elites of the region. The first was the NationalLiberal party and its Associations like the Young Liberal Associations, which enjoyed a position of unique strength. During the Kaiserreich, an electoral survey of Greater Swabia showed a definite, unusual attraction towards liberal groups and associations and movements. It seems correct to characterize the party as a People’s Party (Volkspartei) which united citizens of all regions, beliefs and social background. The second has already been mentioned, and that was the Old Catholic Church, which until the end of the 19th century provided the moral support for popular liberalism. The third was the local pro-liberal (and in early 1930s, pro-Nazi) press, which played a key role in the formation of local and radical-national sentiment. The fourth institution which helped to preserve the bourgeois-national anticlerical hegemony in the region and disseminated radical ideas was the bourgeois voluntary associations and clubs. From the 1860s onwards, Voluntary Associations like the Gymnastics Association, the Veterans Association, the Sharpshooters Association, the Choral Association, the Museum- and Theatre Association, or the Historical Association and many others disseminated the idea of radical-liberal ideas in their meetings and events. In the Weimar period, many of them turned towards the nationalist-folkish ideology, stressing the values of direct democracy without the intervention of parties, and the freedom of the individual within a “people’s community” (Volksgemeinschaft).9 Thus, the main pillars of Popular Liberalism in Greater Swabia were 1st local traditions and memories, concentrated mainly around self-administration, freedom, independence, and disestablishmentarianism, 2nd the local bourgeoisie and anti-clerical activists, 3rd the economic infrastructure which permitted capitalist activity and encouraged enterprise and free trade, 4th Liberal associations 5th the radical press, and, finally, 6th the bourgeois associations.   8 9 9

Lindner (1995): Milchwirtschaft; Schelbert (1983): Landvolk des Allgäu, pp. 27–29, 30–31; Herbner (1989): Auf der Baar. Heilbronner (2015): Popular Liberalism; Heilbronner (1997): Reichstagswahlkämpfe; Sperber (1997): Kaiser’s Voters, p.145; Heilbronner (1998): Bourgeois Club; Heilbronner (1996): Heilbronner (1993): verlassene Stammtisch; Heilbronner (1994): NSDAP – bürgerlicher Verein. Donaueschinger Wochenblatt, 8.8.1866.

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3. THE POLITICS OF THE SUBCULTURE: 1860s-1930 Between the 1860s – the period of the birth of popular liberalism in the region – and the beginning of the 1930s, with the ascendancy of dogmatic national-socialism, five stages in the development of the radical-popular liberal subculture in South Germany may be discerned. 3.1 The end of the 1860s and the beginning of the 1870s This was the period when the radical-liberal subculture emerged. Its guiding principles were opposition to Ultramontane tendencies in the Catholic Church, the call for a free-trade economy and the struggle for a united Germany in which the southern regions would find their independent position. The struggle against the Ultramontanes was the most prominent factor at that period, but there were also other matters which preoccupied the south German liberals. Among those were the demand for far-reaching reforms in schools and in the administrative bureaucracy, together with a demand for equal opportunities for every man, whatever his status or origin, to realize his abilities in the economy and in social life.10 This demand was not only part of local tradition and the heritage of 1848 but was also influenced by the radical struggle around the Second Reform Act in England in 1866–67. At that period, it merged with a struggle for a liberal economy and with opposition to the Prussian aristocracy and bureaucracy and also, to a lesser degree, to those of Bavaria and Baden. All these aspirations found expression in the struggle against the Ultramontane Catholic Church (the Kulturkampf), which was basically a struggle for the future character of Germany.11 Only twenty years had passed from the glorious year 1848– 1849, which in Greater Swabia was a revolutionary year in which republican-democratic ideas played a central role. Already in the elections to the Customs Parliament (Zollparlament-Wahlen), and all the more at the beginning of the 1870s, the radical liberals put forward a programme which was an almost exact copy of that of 1848. The priests, the senior officials, the Junkers and the local aristocracy were to give way to the educated and democratic bourgeoisie and the productive class of artisans and skilled workers. The new society that emerged would be more egalitarian, and every citizen would be free to hold whatever religious beliefs he wished. As a result of the economic freedom, there would be an economic prosperity which would not only benefit the middle classes but also the workers. The Kulturkampf was a pretext for obtaining a new socio-political arrangement exactly as the question of slavery and the Civil War in the United States a few years before, or the   10 Staatsarchiv Augsburg, Regierung, 8831, “Wahlaufruf”; Kemptner Zeitung, 18.1.1868 “Offener Brief des Oberländer Bauern“. 11 Gall (1965): Partei- und sozialgeschichtliche.  

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struggle over the Second Reform Act in England in the same years had been a pretext for creating a new society.12 3.2 The final decade of the 19th century During the final years of the 19th century the radical-liberal subculture entered a new phase. The reasons for this were the increasing conservatism of the National Liberal Party in the regions northern of the river of Main, the participation of a younger generation in politics on a local level, and social and religious changes caused by economic conditions in Germany (which was emerging from a period of economic depression), the modern consumer culture and growing nationalization of the masses. In Swabia and Bavaria the liberals were weakened and the hegemony passed to their temporary successors, the Bavarian Peasants’ Association (Bayerischer Bauernbund), which operated chiefly in Lower Bavaria but also had influence in a few regions of Swabia. Although the Bavarian Peasants’ Association (in Swabia sometimes called the Swabian Peasants’ Association) did not have equal success in all areas, and the organization contained a variety of elements – democratic, liberal, nationalist, conservative – it often engaged in a struggle against the Obrigkeit, the government representatives and the Catholic Church which resembled the radical-liberal activities of the 1860s and 1870s.13 In Swabia many members of the Peasants’ Association were farmers and artisans, former activists of the National Liberal Party.Some of them left the liberal chapters and established liberal-democratic societies before joining the Peasants’ Association. The radicalism of the Swabian liberal farmers in their former party, the National Liberals, was now expressed in the Swabian Peasants’ Association, especially in the Mindelheim-Günzburg region. In this region, the Peasants’ War of 1525 was seen as the model for a struggle for freedom which still had to be waged at the beginning of the 20th century. The “rebellious peasants” of that period devoted their efforts to the struggle against clericalism, opposition to the aristocracy, bureaucracy and urbanization, and championship of the needs and rights of the individual, especially the small farmer and the agricultural labourer.14 The end of the 19th century is a period which is regarded as both a low-point in the history of German liberalism and as a period in which North German liberalism was attempting to decide on the path to take in the future. It seems that in Greater Swabia as well as in other regions a special German model of a radical democratic movement came into being. Much has been written about the rise of the   12 Blackbourn (1987): Progress and Piety; Anderson (1986): Kulturkampf. 13 Hochberger (1991): Bayerische Bauernbund; Hundhammer (1924): Geschichte des Bayerischen Bauernbund; Farr (1986): Peasants Protest. 14 Staatsarchiv Augsburg, BA Memmingen, 6205 („Aufruf“); BA Memmingen, 6181, 12.2.1895, 10.3.1898.  

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democratic and antisemitic movements in Hessen and Saxony, the newly-established Catholic mass-organizations and the extension of the scope of socialist activities throughout Germany. The expression “politics in a new key”15 is a good description of these developments. In South Germany, together with the struggle against the priesthood, the aristocracy and officialdom, there now came into existence for the first time since the 1860s a form of radical liberalism combining national-liberal imperialist patriotism with economic policies based on a compromise between tariff policies (Schutzzölle) and a free market (Freiandel) of industrial products. Other elements of this model were a stress on individualism, an opposition to the traditional elites, a demand for freedom for workers and peasants under a constitution which would assure the intervention and assistance of the state in social legislation, and of course the traditional anticlericalism. The heritage of the republican-democratic period 1848–49 continued to be felt. Throughout the elections of 1893, and, even more, 1898 – in which the liberals throughout Germany were supposed to (but did not) celebrate the fiftieth anniversary of the revolutionary year 1848 – the radical liberals of Greater Swabia continually praised the heritage of 1848. They especially evoked the revolt of the peasants and artisans in that revolutionary year against the priests and the local aristocracy. In the sprit of 1848 they raised the slogan “Long live Liberty, Equality, Fraternity and Dynamite”.16 3.3 The years before the First World War Another and very significant change in the radical-liberal subculture took place on the eve of the First World War. In this period, there was a strengthening of the electoral base of liberalism, which had been weakened (especially in Greater Swabia for the reason we have mentioned) after the Kulturkampf, and popular liberalism acquired new characteristics. This was part of a general process of a strengthening of German liberalism. The decade before the First World War was marked throughout Germany by a consolidation of the National Liberal Party and the leftist liberal parties.17 South Germany was no exception, apart from the fact that there a unique form of Liberalism, Popular Liberalism, formed part of the process. There were some outstanding features of the radical-liberal subculture in Greater Swabia. The first was the establishment of the Young Liberal Associations with a radical character. Another outstanding feature of Popular Liberalism in the South of Germany at that period was the establishment (or sometimes re-establishment) of liberal Vereine representing the National Liberal Party and/or the leftist liberals (not connected to the Young Liberals). From the beginning of the century,   15 Schorske (1967): New Key. 16 „Es lebe die Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit und das Dynamit“ – Prozess Dr. Wassmannsdorff Oberamtsmann in Bonndorf gegen 1. Redakteur Heinrich H. Müller (“Freiburger Bote”) und Redakteur Friedrich Lanz (“Oberbadisches Volksblatt”), Oktober 1895, p. 16. 17 Thompson (2000): Left Liberals; Palmowski (2001): Mediating the Nation; Kurlander (2001): Price of Exclusion.

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many of them drew up new statutes in which the words “freedom” and “democracy” featured prominently, as a few examples from southern Swabia demonstrate: the liberal Verein in Sonthofen reformulated its principles in 1911, and called for “the encouragement of free thought and democratic opinion in the Fatherland regions.”. In the village of Altusried, the liberal Verein declared that its aim was to encourage liberal as well as social activities. In the village of Bayersried, it said that its aim was to educate the public to “popular-free national principles” (volkstümlich-freiheitliche, nationale Grundsätze).18 Attention should be given to the language used by the radical liberals on the eve of the First World War, since later part of it was discernable in the radicalliberals’ post-war subculture. The language was usually directed against the priesthood and the Zentrum party. It was accompanied by verbal and physical violence. The violent language which had been so noticeable from the time of the Kulturkampf now re-emerged stronger than ever. It was sometimes used by liberal personalities who were revealed as being violent in their private lives and public activities as well. Expressions like the description of the struggle against the Zentrum as a Vernichtung (extermination) and the election as a Krieg (war), a Schlacht (battle) or a Feldzug (military campaign) recurred again and again. The liberals assailed the priests as “spiritual terrorists” (purveyors of geistlichen Terrorismus) or “robbers.”19 The liberal activists themselves were described as “liberal troops” (Liberale Truppen) engaged in a “crusade” against the Church. In southern Swabia, the liberals were described as warriors marching forth to war (needless to say, against the priesthood) “with a calm expression, cold blood and confident steps.” This language was apparently not unique to South German liberalism: in Kassel (Hessen), the representative of the Young Liberals in 1907 expressed himself as follows: “For us National Liberals there is a clear duty: struggle against the Zentrum and the Antisemites until their elimination.” 20 Thus, the continued frequent usage of expressions like “Freedom”, “Democracy”, “Liberation from Slavery”, “Struggle”, “War”, “Constitution”, “Gemeinschaft”, “Vaterland”, “Heimat” alongside expressions of opposition to the state, the establishment, the bureaucracy and the aristocracy, as well as the verbal violence we have described show remarkable continuity. This is at least the case in the culture and political language of Greater Swabia, despite the difference of atmosphere   18 The liberal Verein in Immenstadt in 1899 revised the first paragraph of its Statutes which were originally written in 1881, replacing the sentence “Aim of the Verein… to support the political direction of the Reich” with the sentence “Aim of the Verein… to develop the liberal direction of the Reich”. See, Staatsarchiv Augsburg, BZ Sonthofen, 3684, Statuten des liberalen Vereins […], 1881, 1899); 3687, Statuten [...] 1911, Regierung, BZ Kempten, 9756 – 30.1.1909; BZ Markt Oberdorf, 108b – Mitgliedkarte und Satzungen des Liberalen Vereins Bayersried 1911; BZ Sonthofen 3691 – Liberale Vereinigung Hindelang 1912. 19 These observations are based on pamphlets in the Generallandesarchiv Karlsruhe, Nationalliberale Partei 69/87, 96, 103. 20 „Für uns Nationalliberale ergibt sich eine unzweideutige politische Aufgabe: Kampf gegen Zentrum und Antisemiten bis zur Vernichtung.” Quoted in Sunkel (1907): Nationalliberal, p. 27.

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between the 1860s and the decade preceding the First World War. This continuity undoubtedly illustrates the special character of South Germany: the combination of aggressiveness with liberal-democratic-republican principles that gives a unique colouring to South German liberalism on the eve of the First World War, something which perhaps facilitated its adaptation to the protest movements after the war and finally to National-Socialism. 4. THE FIRST WORLD WAR AND THE FIRST DECADE OF THE WEIMAR REPUBLIC. DISCONTINUITY AND CURRENTS OF CONTINUITY The deep discontinuity between the pre-war and the post-war periods caused by the First World War and the post-war German crisis and inflation is well documented. But, despite these upheavals, there are some cases where a continuity is also well documented.21 There is no doubt that Greater Swabia suffered like all regions in Germany from the war, but in spite of the intervening upheavals, on the whole, continuity prevailed over change. Truly, the war effort damaged the handful of industries that constituted the economic backbone of Greater Swabia. Most branches of local economy were harnessed to the need of war production and agriculture, the most important source of livelihood for local population, had been placed under state control in 1915. By then, the nationalistic enthusiasm which had swept parts of the region’s population in August 1914 had disappeared without trace. In this regard, the Greater Swabia inhabitants shared the experience of German society at large from 1916. However, their plight was further exacerbated by the economic and social periphery position of the region which rendered them more vulnerable to administrative intervention. The revolutions of 1918–1919 in all parts of Germany, including Greater Swabia, affected the radical-liberal subculture. The events of 1918 had divergent impacts in various parts of Greater Swabia. Also the revolutions of 1918 in Greater Swabia was experienced differently, as the new hatred and fear of Socialism and mainly Communism was something new to the political culture of the region. On the other hand, currents of continuity in radical-liberalism were noticeable and I will come to them later. But together with them, some components of the radical liberal subculture began to disintegrate. Popular liberalism split into a number of different liberal and agrarian groups which from the beginning of the 1920s fought against each other as well as engaging in the traditional struggle against the state and the Catholic Church. In addition to this organizational fragmentation, new radical elements – anti-Marxism and an intensified anti-Socialism, hitherto unknown elements to the region’s political culture, contributed to a change in the modes of action of South German popular liberalism, and of course (despite continuity in many spheres) to changes in the radical-liberal rhetoric of the liberal movements which existed in Greater Swabia before the war.   21 See the same argument in Ziemann (1999): Front und Heimat, p. 470.

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But before describing these changes, one must note the elements of continuity. The traditional liberal parties, under new names, continued to operate and to win considerable sympathy after 1918 in the majority of towns and villages in which they had been strong previous to the war. In southern Swabia, chapters of the National Liberal Party continued to operate under the name Deutsche Volkspartei (DVP)-Nationalliberale at least until 1928, and in a large number of important towns and villages like Lindenberg, Walterhofen, Immenstadt and Oberstdorf they had considerable electoral success. In Central Swabia, the liberals, and especially the German Democratic Party (the DDP), succeeded in putting forward a radicalliberal platform focused on fear of communism and state intervention in the economic sphere. The use of these motifs against the background of the leftist and rightist revolutions in Munich and Bavaria at the end of 1918 and the beginning of 1919 was effective with the dairy-farmers and the representatives of the light industries in the area until at least 1920. From the mid-1920s, there was an increasing collaboration between the liberals and the branches of the Bavarian Peasant Association (the Bayrische Bauernbund, after 1919 called the Bauern- undMittelstandspartei) in the whole of Bavaria and in southern Swabia. In this co-operation, the peasants’ movements set the tone. In southern Baden, an independent peasants’ movement was set up for the first time: The Baden Agrarian Association (Der Badische Landbund). It grew out of the post-war peasants’ councils (Bauernräte), and had many radical-liberal members.22 But here one finds continuity, too: in the Constance region, the new liberal parties founded liberal associations in accordance with the traditions that existed before the First World War. In the elections to the National Assembly and the Reichstag in 1919 and in 1920, the liberals won wide support in their traditional strongholds: Constance, Messkirch, Waldshut, St. Blasien, Lenskirch, Bonndorf and many other towns and villages.23 The traditional attitudes of desire for freedom and opposition to the aristocracy were also strongly expressed in the referendum on the expropriation of the princes (Volksbegehren und Volksentschied zur Enteignung der Fürstenvermögen”) which took place in 1926. A majority of local farmers and artisans in small towns and villages spported the expropriation solution. In addition to this anti-establishment tendency, there was a continuity of support for a liberal economy among liberal groups and peasants’ organizations.24 Of course, hostility to the Catholic Church and to political Catholicism remained one of the cornerstones of the organizational activities of the farmers, and especially of the Badische Landbund, after the war as well. The call for freedom, for the right of the farmer and the artisan to live as they pleased and to practice religion as they wanted, and a rejection of the dictates of the priests in the schools, demonstrate a continuity in popular liberalism from the period of the Empire to the   22 Bleibtreu (1922): Bauernbewegung. 23 Heilbronner (1993): First World War. 24 „Für die Sicherheit des Privateigentums, insbesondere auch des Privateigentums an Grund und Boden“, Schwarzwälder Zeitung, 3.1.1922.  

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time of the Weimar Republic. Attacks on priests were a routine affair in the Baar region in South Baden after 1920, and farmers’ tales of their sufferings and their exploitation by the priests from the time of the Peasants’ War in the 16th century, including their experiences during the Saltpetre rebellions in the 18th century, and the traditional descriptions of the oppression of the workers by the monastery of St. Blasien, were recycled after the war and disseminated throughout southern Baden.25 Currents of continuity are reflected in the post-war careers of radical liberals. Immediately after the war, many of them gave their support to the DVP or the DDP, During the first yeas of the republic, they were engaged in man interest groups while with their leaving the liberal parties. So, many of them found their way into peasant organizations and parties such as the Badische Landbund, Allgäuer Bauernverband, or the Bayerische Bauernbund. The Merk, Weishaar and Frank families – all largescale farmers or prosperous artisans – joined the Badische Bauernbund, and later the Nazi Party. Together with these, local notables such as mayors of towns, heads of villages and many schoolteachers (especially teachers in primary schools – Volksschullehrer) emerged, as in the days of the Empire, as a radical, anticlerical element. They were all disappointed about the collaboration between the old liberal parties and the old-new regime established after the 1920 elections to the Reichstag, which was mainly composed of representatives of the old Prussian and local elites. There was also in South Germany a certain continuity in the activities of those cornerstones of German liberalism, the bourgeois Vereine. Despite the crisis that hit many of them during the war and immediately after, from the beginning of the 1920s most of them acted on behalf of the unique Swabian culture in the best prewar liberal cultural tradition, although now they did not specifically declare their commitment to popular liberalism. Together with these activities, there was a nationalist and anti-socialist extremism in the actions of the Vereine that had not been so noticeable before the war. This extremism was generally accompanied by anticlerical activity under the slogan “Volksstum gegen die Bayerische Volkspartei”.26 In addition to their activities on behalf of the Heimat, the Vereine saw themselves as defenders of the Vaterland against its external enemies – at that time, the socialists and the communists. Prestigious Vereine like the Turnvereine and the Männergesangvereine saw themselves as representing the true will of the people divided by opposing party loyalties. Calls for a democracy that would rise above class and political differences appeared increasingly in the pronouncements of the Vereine. Together with the Vereine activity, the aggressive language, the violent rhetoric and the physical violence that had existed before the war, were now exacerbated by the events of the war, the rightist and leftist revolutions experienced in a number of regions of Bavarian Swabia and the economic distress and the climate of violence experienced by the people of the period. For example, there was the (new and frequent) use of the terms “communists” and “bolshevists” to describe government officials visiting the villages of the Baar in southern Baden in order to apply some   25 Bleibtreu (1922): Bauernbewegung, p.10; Bleibtreu (1924): Landbund. 26 Allgäuer Tagblatt, 20.7.1924; more details Heilbronner (1998): German bourgeois Club.

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law or other. The use of the word “extermination” (Vernichtung) which had already occurred before the war, was now more frequent, and it was accompanied by an atmosphere of violence that reflected the violence that existed in reality. In Immenstadt in southern Swabia and Lindau on the shores of Lake Constance, liberal activists and folkish and right-wing groups (a new phenomenon on the local scene) used violent language and made power demonstrations in the streets.27 But the break that took place was as noticeable as the continuity. The clearest sign of the weakening and finally the disintegration of the radical-liberal subculture in Greater Swabia was the disintegration of the bourgeois Vereine, especially from the mid-1920s onwards. Popular Liberalism also lost its newspapers. Many newspapers that had supported the liberals before the war began immediately after the war to support the peasants’ organizations, and from 1930 on, they moved in an increasingly anti-republican and finally National-Socialist direction. Support for anti-Marxist actions and fear of the bolshevist menace became quite central to the decisions of liberal voters, supporters and activists. Such behaviour represents maybe more than anything else the rupture with the radical-liberal tradition. The liberal parties also experienced a profound crisis from the end of the 1920s. It is true that immediately after 1918 the liberal sympathisers, mainly farmers and artisans, supported them in rural communities with a liberal electoral past. But from 1921, many of them directed their support to the local peasants’ organizations: in Swabia and Bavaria the Bavarian (and Allgäu) Peasant Association and in Baden the local Agrarian Association.28 They in turn grew weaker towards the end of the 1920s and suffered from internal disputes which centered around the attitude toward the Weimar republican institutions, the liberal economic policy, local economicadministrative independence and finally the attitude to strong government intervention.29 In South Baden, some of the former members of the Agrarian Association joined the DVP, which under the leadership of Stresemann supported the Weimar Republic, while others joined the newly founded Baden Agrarian Association (Badische Landbund), and later joined the Nazi Party that had just begun to operate in South Baden from 1928.

  27 Here it is important to mention Thomas Childers important work; Childers (1990). Childers stresses in his work the centrality of occupation in the social vocabulary of Weimar political discourse with strong connotations of estate (Stand) and occupation-estate (Berufsstand) in it. Since his work concentrates on political activity in mainly urban centers, his conclusions do not reflect the situation in agrarian regions where religion, local traditions and of course, economic problems played a crucial role in the social vocabulary. For Greater Swabia see Hoser (1996): Revolution von 1918/19; Staatsarchiv Augsburg, Regierung, 18224-Wochenberichte, Halbmonatsberichte, 8.7.1922; Bezirksämter, Lindau, 361 - Krieger und Veteranvereine im BZ Lindau, 17.7.1929; Stadtarchiv Immenstadt, Chronik Glötzle. 28 Heilbronner (1998): Catholicism, Political Culture; Heilbronner (1998), Allgäu. 29 Jones (1986): Crisis and Realignment, p. 214.

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5. THE RE-EMERGENCE OF POPULAR-RADICAL LIBERALISM. In view of the processes of fragmentation and disintegration and the weakness of the former radical-liberal subculture, many of those who had belonged to it in the past now sought a cultural alternative which would restore their vigour and provide a real promise of regeneration for the disintegrating subculture. Many flocked to the National Socialist chapters in Greater Swabia. They came from many different political and cultural backgrounds. In the ranks of the Nazi Party and among its voters there were both Catholics and Protestants, and of course people from many different social strata. The social composition of the Nazi Party in Greater Swabia after 1930 could undoubtedly have reminded many people from both the Catholic clerical camp (who would have regarded it with deep suspicion) and from the radical-liberal camp (who would have been encouraged by it) of another, similar “people’s party” (Volkspartei): the National Liberal Party in the days of the Kulturkampf, and especially the southern radical-liberal fraction within it. Thus, together with some former socialists and communists, with antisemites and conservative liberals, the radical-liberal fraction was one of the constituent elements of the chapters of the National Socialist movement in Greater Swabia.30 From 1929 on, a growing number of priests began to notice a disturbing resemblance between the pre-war radical-liberal movement and the Nazi movement in Southern Germany. By 1931 the uneasiness had extended to many conservative bourgeois citizens who viewed the radicalism of the new movement with alarm. Both the priests and conservative bourgeois were aware of the points of continuity between pre-war radical liberalism and the Nazi movement, i.e, the revived idea of a “people’s community” (Volksgemeinschaft) and the Nazis’ opposition to the Obrigkeit and the Catholic Church. Along with their call for equality and direct democracy, this reflected the radical-liberals’ dream of returning to the “lost world” prior to the war. Unlike these two groups, some segments of the local society were attracted to the National Socialists’ violent use of anticlerical motifs while others were drawn to the movement’s anti-institutional, anti-system image, as it was reminiscent of the Young Liberals’ preoccupations just before the war. Still others believed the vigorous actions against the left in the cities of Northern and Western Germany were the National Socialists’ most important contribution. In a large number of villages, it was well known that many of those who began to support the Nazis in the late 1920s were the same persons and descendants of families and individuals who had professed radical-liberal beliefs or had supported Popular Liberalism before 1914 or during the Weimar period. Among radical liberals, support for the National Socialist movement followed three patterns: 1. Radical-liberals who set up chapters (Ortsgruppe) became members and disseminated National Socialist propaganda with a radical-liberal flavor in the various regions of Greater Swabia.   30 Heilbronner (1998): Catholicism, Political Culture.

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2. Another group, consisting of former farmers, artisans and notables (Honoratioren), tended to see National Socialism as the continuation of their radical path before the war. They or their parents had been members of the liberal or peasants’ movements in the past and after 1928 joined the chapters of the National Socialist movement, worked on its behalf, but did not become members out of fear for their jobs and position. 3. And, finally, there were liberal figures who, while still active in their old parties (the DDP or the DVP), publicly endorsed the Nazi movement or some of its ideas. The rituals and ceremonies of the new movement and those of pre-war radicalliberals displayed several similarities. There was the role of the “travelling speaker” or the local poet in the activity of both movements, the very strong affiliation between the bourgeois Verein and the Nazi movement, and the same tavern which was chosen as the meeting place for both radical-liberals in the past and members of the Nazi movement in the early 1930s.31 Similarities could equally be found in both movements’ narratives: the narrative of inclusion and exclusion, the narrative of struggle (Kampf), the narrative of freedom (Freiheit), the narrative of a “people’s community” (Volksgemeinschaft). And, lastly, both groups were democratic in their commitment to a ”government for the people”: e.g., Popular Liberalism before 1914 and National Socialism, at least in Greater Swabia until 1931–32, were marked by a strong emphasis on pragmatism and an acceptance of both constitutional methods (elections, elected government) and the already existing aspirations of the people.32 The resilience of these attitudes in a variety of political contexts can be explained by their very deep historical roots, which can be traced back to 1848 or even earlier. It may be assumed that the capacity of Nazi chapters in Greater Swabia to assimilate time-honoured traditions congenial to pre-war liberal activists, activists of the peasants’ movements and supporters of the Weimar liberal parties created a radical-liberal current side by side with the social-leftist and folkish-rightist currents within the chapters of the local National Socialist movement in that part of Germany.33 The radical-liberal activists, now members or supporters of the National Socialist movement, were dealing with a public that had partly retained the characteristics of the “world of yesterday” – the period before the First World War. Until 1931–32 they did not fear to express in meetings of the movement or in internal discussions ideas similar to those they had expressed on the eve of the war or earlier.   31 Heilbronner (1993): Verlassene Stammtisch; Heilbronner (1994): NSDAP Ein bürgerlicher Verein? 32 In Greater Swabia, the notion of People (Volk) had, at least until mid-1930s more LiberalDemocratic meaning based on past memories and pre-1914 traditions than the Nazi-Racist meaning, which was widespread in the eastern part of Sot German and of course in other regions in Germany. On this topic see recently Stephenson (2016) 33 Many examples can be found in Heilbronner (2015): Popular Liberalism, pp.172–175.  

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Many speeches featured the familiar themes of the Swabian Heimat in opposition to Prussia, the monarchy and the Junker aristocracy and called for the abolition of the republican-democratic system, the practice of a nationalistic foreign policy and the creation of an anticlerical, democratic-egalitarian Volksgemeinschaft without class differences, where freedom would prevail and individuals could find happiness and pursue their self-development. At least until 1932, no one among the folkish or the semi-socialist National Socialists would have opposed the activities of radical-liberals in the Nazi Party’s chapters in the regions of Greater Swabia.34 6. CONCLUSION: THE PECULIARITY OF SOUTHERN GERMAN LIBERALISM By early 1930, the Nazi movement in Germany contained many different propagandist and ideological elements. Some, like racial antisemitism, lost their propagandist power by that time, and some voters mistakenly assumed that Nazi antisemitism was no longer a central feature for the party leadership. At the same time, the radical-liberal factor also lost some of its power in the movement’s chapters in Greater Swabia. The worsening of the political and economic crisis, the ever-increasing violence, the fear of bolshevism and the strengthening of the communist party, together with internal processes within the Nazi Party such as the rise of the cult of the Führer at the beginning of 1932, the transference of the movement’s centre of activity to the corridors of power in Berlin and the policy-shift of the party headquarters in Berlin and Munich in a more totalitarian, anti-liberal direction (as we saw in Greater Swabia and among ex-radical-liberal gropus expressed by the imposition of centralization and ideological control) influenced the activities of the movement in the provinces 35 and made things difficult for those who felt uncomfortable with the new atmosphere in Germany as reflected in the party’s chapters. In South Germany, these were chiefly the former radical-liberal activists. It was more difficult for them than for others to realize their vision in the chapters of the National Socialist movement in South Germany.36 But that does not mean that many of them went back to supporting their former liberal parties and the peasant movements or took refuge in political indifference. Some of them became more extreme in their attitudes and from 1932 on supported the new radical Nazi line with its more anti-liberal, folkish and extremist tone. Most of the elements of the traditional slogan of the radical liberals in Greater Swabia “Long live Liberty, Equality, Fraternity and Dynamite” (“Es lebe die Freiheit, Gleichheit, Bruederlichkeit und das Dynamit”)37 – had now been abandoned due to the strengthening of the extreme left and the impasse reached by the regime, and   34 35 36 37

Heilbronner (1998): Catholicism, Political Culture. Mühlberger (1986) Central Control. Heilbronner (1998): Catholicism, Political Culture, pp. 91–97. See note 16.

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only the Dynamite remained. The radical liberals in South Germany like many other Germans wanted a solution that would bring order and stability, and if it was necessary to use force in order to achieve this, it was better to do so before a communist revolution broke out. The year 1932 may perhaps have reminded elderly radical liberals and their families and children in South Germany of another, similar period: the 1860s and the 1870s. The atmosphere of that period had been perceived at the time as posing a threat to their existence. Ultramontanism was viewed by the liberals as a threat to freedom of the individual, to a liberal economy, to the right of the Germans to live in a nation-state. This was the background to the rise of the Old Catholics and the democratic liberal movements. In addition to this struggle, the radical liberals also launched their campaign against enemies like the aristocracy and the bureaucracy whom they regarded as corrupt. The struggle against the bolshevists and communists and the popular claims against the German elites was seen by quite a number of former radical liberals in 1932 as resembling the struggle against Ultramontanism in the period of the Kulturkampf. But there were also definite differences which caused the radical liberals at the beginning of the 1930s to behave differently and to end their careers in a different way from their counterparts in the 1870s. From the mid-19th century until the 1880s, the liberals had the cultural hegemony in Germany.38 Most Germans saw their culture as unquestionably bourgeois-liberal. This culture went together with a successful liberal economy, a bourgeois legal code, universal values of justice and freedom of the individual, and – in most German states – a political majority in the local legislative bodies. That Germany was able to permit the liberals to dictate the nature of the struggle against the Catholic Church and the aristocracy.39 Similarly, in South Germany, popular liberalism was able to develop, within the dominant Catholic culture, a style of its own and its own forms of reaction and struggle against Ultramontanism, the state and the aristocracy. The special character of South Germany was expressed in the liberal subculture, which had lasting-power and prolonged success. But after the First World War and especially at the beginning of the 1930s, the German power-structures and culture, including those in South Germany, were entirely different. The liberal forces were weakened and tired, the liberal economy was in deep crisis and the liberal political culture was no longer hegemonic but fragmented, violent and very frightened of the extreme left. The only force on which the radical liberals who had come into existence in Greater Swabia felt they could rely to protect their interests and allow them to act freely were the chapters of the National Socialist movement in Greater Swabia. Some of these chapters had been founded by liberals, and they closely resembled those of the radical liberals and their successors, the peasant movements. For some time, it seemed that the radicalliberal subculture might be resurrected. But the more the German crisis intensified,   38 Eley (1996): Bismarckian Germany; Palmowski (2001): Mediating the Nation. 39 Blackbourn (1987); Anderson (2000), pp. 260–265.

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IMPERIALE KONTINUITÄTEN IN DER WEIMARER REPUBLIK? Verbandspolitische Versuche zur Wiedererrichtung deutscher Herrschaft in Ostmitteleuropa und Afrika und die Reaktionen der Politik Reiner Fenske 1. EINLEITUNG Welche Ansätze gab es auf verbandspolitischer Ebene für die Wiedererrichtung deutscher Herrschaft nach 1919 sowohl in Hinblick auf die ehemaligen deutschen Kolonien in Afrika als auch auf die vormals preußischen, nunmehr polnischen Gebiete in Ostmitteleuropa? Diese Frage wurde zwar in der älteren Forschung gestreift, aber nicht systematisch aufgearbeitet.1 Mit ihrer hier partiell erfolgenden Beantwortung soll zugleich ein Beitrag geleistet werden zu „der Frage nach Kontinuitäten zwischen dem Imperialismus des postbismarckischen Kaiserreichs und dem des nationalsozialistischen Deutschland“.2 Gefolgt wird damit neueren historischen Thesen, die den deutschen ‚Kolonialismus‘ nicht nur für den evidenten Fall der überseeischen Herrschaftsgebiete als Analyseinstrument sehen, sondern auch für dessen Anwendung auf Ostmitteleuropa plädieren.3 ‚Imperialität‘ ist dabei ein von mir in Anlehnung an Jürgen Osterhammel, Frederick Cooper u.a. geprägter Arbeitsbegriff. Er soll hier vereinfacht ausgedrückt als der globalere, mehr für Vergleiche geeignete Begriff statt ähnlicher, aber problematischere Begriffe wie ‚Kolonialismus‘ oder ‚Imperialismus‘ fungieren.4 Die Ebene der Verbände ist dafür besonders geeignet, da nach dem Verlust der Kolonien und durch den Versailler Friedensvertrag der offiziellen deutschen Außenpolitik für solche Vorhaben strikt die Hände gebunden waren. Eine Studie, die nicht so sehr die offizielle Regierungspolitik in den Blick nimmt,5 sondern vielmehr die vielfältigen verbandspolitischen Aktivitäten, ermöglicht dabei die Verbindung älterer sozialhistorischer Perspektiven mit neueren Ansätzen aus den historischen Kulturwissenschaften. So können hier im diachronen Vergleich beispielsweise die   1 2 3 4 5  

Siehe Rüger (1977): Kolonialrevisionismus; Gentzen (1960): Zur Geschichte. Osterhammel (2000): Imperialgeschichte, S. 229. Siehe v.a. Conrad (2006): Globalisierung und Nation; Kopp (2012): Germany's wild east; Dickinson (2008): The German Empire; Zahra (2005): Looking East. Vgl. Osterhammel/ Jansen (2012): Kolonialismus, S. 18–28; Cooper (2003): Staaten, Imperien. Siehe Smith (2004): „Weltpolitik“ und „Lebensraum“.

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Formen der Geselligkeit, der Erinnerungspolitik oder auch das Engagement der Frauen in den Verbänden näher studiert werden. Damit bietet sich zugleich die Möglichkeit, die noch stark auf das ‚lange‘ 19. Jahrhundert orientierte Bürgertumsforschung stärker um Perspektiven aus dem 20. Jahrhundert zu bereichern.6 Ich beschränke mich hier allerdings auf einige politikgeschichtliche Aspekte meiner Forschungen. Zwar mögen dem Auswärtigen Amt nach dem Ende des Ersten Weltkriegs weitgehend die Hände gebunden gewesen sein, dennoch nutzte es jede sich bietende Gelegenheit, diese Restriktionen zu umgehen. So verfolgte es durch eine informelle und meist geheime Subventionierung von bestimmten Verbänden und vermeintlich ‚unpolitischer‘ Kulturpolitik7 seine außen- und letztlich machtpolitischen Zielvorstellungen weiter.8 Daneben gab es eine Vielzahl an Verbänden, die sich als eigenständige Akteure bereits im Kaiserreich entwickelten. Als Beispiele wähle ich hier die beiden (gemessen an ihrer Mitgliederzahl)9 größten imperialen Verbände während der Weimarer Republik: einerseits die „Deutsche Kolonialgesellschaft“ mit klarem Fokus auf die ehemaligen afrikanischen Kolonien und andererseits den „Deutschen Ostbund“, der eine Art Bindeglied zwischen dem alldeutsch geprägten „Deutschen Ostmarkenverein“ der Vorkriegszeit und den Vertriebenenverbänden der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg bildet. Wichtig ist hierbei, dass beide Verbände nicht simple ‚Tarn-Agenturen‘ deutscher Außenpolitik waren, sondern eigene politische Ziele verfolgten und diese wiederholt sowohl mit der offiziellen deutschen Politik als auch mit ihrem inoffizielleren Teil in Konflikt gerieten, sich also ‚verselbstständigten‘. Zu fragen sein wird neben diesen verbandspolitischen Zielen und Konflikten auch nach den Reaktionen jener ‚inoffiziellen‘, sprich: geheimen Teile der deutschen Außenpolitik und ihren eigenen Zielvorstellungen. Rekonstruieren lässt sich dies neben einigen edierten Dokumenten sowie vergleichsweise wenigen Studien10 vor allem aus Archivalien in Berliner Archiven (Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, Bundesarchiv Berlin Lichterfelde, Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes). Abgeschlossen werden soll dieser politikhistorische Überblick mit einem Ausblick auf die weitere Entwicklung beider Verbände in der Zeit nach dem 30.1.1933, als beide jeweils im „Reichskolonialbund“ bzw. im „Bund Deutscher Osten“ ‚gleichgeschaltet‘ wurden.11 Der Fokus meiner Überlegungen und der hier präsentierten Quellenstudien liegt allerdings klar auf der Weimarer Republik.   6

Siehe Hoffmann (2003): Geselligkeit und Demokratie; Nathaus (2009): Organisierte Geselligkeit. 7 Siehe hierzu auch den Beitrag von Dominik Herzner in diesem Band. 8 Siehe Düwell (1976): Deutschlands auswärtige Kulturpolitik. 9 Für 1925 hatte die DKG ca. 24000 Mitglieder. Vgl. Hartwig (1983): Art. (DKG), S. 725. Für den „Ostbund“ geht eine externe Quelle 1926 von ca. 50000 Mitgliedern aus. Vgl. Niederschrift über die von den Ressorts des Reichs und Preußens am 28.9.1926 abgehaltene kommissarische Besprechung über den Ostbund (Abschrift [des Reichsministers des Innern]), 1.11.1926,], in: BArch R 8043, Nr. 1148: Deutsche Stiftung – Ostverbände, Bd. 2, Bl. 490–493, hier Bl. 492. 10 Siehe Schattkowsky (1994): Deutschland und Polen; Crozier (1981): Imperial decline. 11 Hildebrand (1969): Reich zum Weltreich; Rothbart (1970): „Bund Deutscher Osten“.

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2. IMPERIALE VERBÄNDE ALS TARNAGENTUREN DEUTSCHER AUSSENPOLITIK? 2.1 Erstes Beispiel: der „Ostbund“ Zunächst erfolgt hier eine kurze Skizze der wesentlichen Aufgabengebiete der beiden Verbands-Beispiele. Diese werden anschließend kontrastiert mit den Vorstellungen deutscher Außenpolitik. Deutlich wird so, dass es zu vielfältigen Konflikten zwischen den beteiligten Akteurs-Gruppen kam, die beide Verbände auf spezifische Weise affin für faschistische Ideologeme werden ließen, ohne dass es statthaft wäre, ihnen in Gänze eine faschistische Ideenwelt zuzuschreiben. Der „Ostbund“ ging im Spätsommer 1920 einerseits aus dem „Reichsverband Ostschutz“, einer Berliner Hilfsorganisation für die aus der ehemals preußischen Provinz Posen infolge des „Posener Aufstands“ geflüchteten Deutschen hervor. Sein anderer Gründungszweig liegt mit dem „deutschen Heimatbund Posener Flüchtlinge“ in einer jener militanten ‚Heimwehren‘, die sich gegen Ende des Ersten Weltkriegs häufig bildeten.12 Diesen ging es keineswegs um die sentimentale Pflege heimatpolitischer Erinnerungskultur. Vielmehr zielten sie auf die „[a]lsbaldigste Wiedereroberung unserer Heimat unter Fühlungnahme mit den obersten Militärbehörden zum Zwecke eines gleichmäßigen Vorgehens auf der ganzen Front.“13 Dieser Doppelcharakter sollte während der gesamten Weimarer Republik für den „Ostbund“ charakteristisch bleiben: einerseits übernahm er mit Wohnungsund Arbeitsvermittlung, Rechtsberatung, Darlehensgewährung usw. zahlreiche Aufgaben einer explizit nur für ‚verdrängte Ostdeutsche‘14 bestimmten verbandlichen Wohlfahrtspolitik.15 In dieser Hinsicht hatte der Verbandsvorsitzende und ehemalige Ministerialbeamte Alfred von Tilly ganz Recht, wenn er gegenüber dem Reichsfinanzministerium seinen Verband selbstbewusst als die „Interessenvertretung der ostmärkischen Verdrängten“ bezeichnete.16 Andererseits waren ganz klare revisionistische Forderungen zunächst gegenüber Polen für den Verband ebenso charakteristisch. So hieß es bereits unmittelbar nach dem im Winter 1918/19 ausgebrochenen „Posener Aufstand“: „Das Deutschtum muß stark werden, stark bleiben, auch im Osten und gerade im Osten – bis der   12 Vgl. zeitgenössisch dazu Cleinow (1934): Verlust der Ostmark, S. 181–184. 13 Dok. Nr. 52 b, in: Schulze (Bearb.) (1971): Das Kabinett Scheidemann, S. 216, Anm. 15. 14 Statt des Begriffs der ‚Vertriebenen‘ war der geläufigere Begriff für diese Gruppe während der Republik derjenige der „Verdrängten“: Bach (1922): Kongreß der Verdrängten. Zur erstgenannten Begriffsverwendung wusste allerdings schon Meyers Lexikon 1926 von „vertriebenen Grenzlanddeutschen“ zu berichten: Art. Flüchtlingsfürsorge. 15 Siehe Kaiser (1993): Freie Wohlfahrtsverbände. 16 Der Bundespräsident von Tilly [sowie] der Bundesdirektor Ginschel an das Reichsfinanzministerium, Berlin, den 5.3.1922, in: BArch R 2, Nr. 881: Reichsfinanzministerium, Akten betreffend: Die Kriegsschäden Deutscher in den abgetretenen Gebieten. Generalia, Bd. 6: 1.1925– 31.12.1928, Bl. 22.  

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Tag kommt, da die schwarz-weiß-roten Fahnen wieder flattern, die jetzt zusammengerollt wurden.“17 Derartige Überlegungen korrespondierten mit einem ethnisch konnotierten und sehr exklusiven zeitgenössischen Verständnis des Begriffs des Flüchtlings. So definierte Beispielsweise Meyers Lexikon (71926) den Begriff „Flüchtlingsfürsorge“ wie folgt: Flüchtlingsfürsorge: die Fürsorge des Deutschen Reiches für heimatlose Deutsche, staatenlose ehemalige Deutsche und staatenlose Personen deutscher Abkunft, die infolge des Weltkrieges in das Reichsgebiet zurückkehrten […]. Die Geflüchteten, zu denen nach Friedenschluß auch die vertriebenen Grenzlanddeutschen zählten.18

Vor diesem Hintergrund verwundert es keineswegs, dass nicht nur der Vertrag von Versailles aufgrund seiner Abstimmungsklauseln und deren für die deutsche Seite niederschlagenden Ergebnisse vom „Ostbund“ fortwährend bekämpft wurde.19 Daneben richtete sich die Verbandsagitation besonders ab Mitte der 1920er Jahre gegen ein „Ost-Locarno“,20 also einen möglichen außenpolitischen Ausgleich mit Polen, der ja alle Besitzansprüche der eigenen Mitgliederbasis hinfällig gemacht hätte.21 Da Mitte der 20er der skizzierte Aufgabenbereich der Wohlfahrt zunehmend von staatlichen Stellen übernommen wurde, akzentuierte der Verband schon aus Selbsterhaltungsgründen seine politische Ausrichtung viel stärker. So teilte die Verbandsführung 1928 mit, ihrer Organisation gehe es nicht vordringlich darum, für die „Entschädigung der Verdrängten“ zu streiten, sondern dass unsere Bestrebungen vor allem dahin gehen, eine baldige Lösung der Ostfragen im Sinne der großdeutschen Ziele zu erwirken und dass wir demgemäß für die Unterstützung des Deutschtums diesseits und jenseits der Ostgrenzen durch die Volksgesamtheit für die wirtschaftliche und kulturelle Förderung der uns verbliebenen Ostgebiete und gegen die gewaltsame Entdeutschung der uns entrissenen Ostgebiete und die Stärkung des deutschen Volkstums daselbst eintreten.22

Diese wohl ganz bewusst im Ungefähr-unkonkreten gelassenen Äußerungen waren zu dem Zeitpunkt intern bereits durch sehr konkrete Zielvorstellungen präzisiert worden. So heißt es 1927 in einem internen Strategiepapier des völkisch beeinflussten „Deutschen Schutzbundes“, in dem auch der „Ostbund“ Mitglied war, dass das Ziel ein deutscher Staat sei, „der alles geschlossene deutsche Siedlungsgebiet umfaßt, insbesondere das ostdeutsche.“23 Dass die hier durchscheinende ‚Sorge um das Deutschtum‘ aber selbst für solch streng geheime Dokumente nur Fassade war und   17 18 19 20

Lüdtke (1919): Deutsche Möglichkeiten, S. 58. Art. Flüchtlingsfürsorge, Hervorhebung R.F. Siehe Laba (2014): Das Volk. Vgl. [Anonym]: Tagung des Ostbundes. Schnelle Hilfe für die Geschädigten! In: Deutsche Allgemeine Zeitung Nr. 562 vom 29.11.1925, in: PA AA, R 82313, Rep. IV a: Polen, Politik 25 C, Akten betreffend: Deutscher Ostbund e.V., Bd. 1: 1.1.1925–14.8.1926, Bl. 68. 21 Höltje (1958): Ostlocarno-Problem. 22 Bundesleitung [des DO] an Regierungsrat a. D. Krahmer-Möllenberg in Berlin, 10.4.1928, in: BArch R 8043, Nr. 1148: Deutsche Stiftung – Ostverbände, Bd. 2, Bl. 326. 23 Dok. Nr. 72, in: Schumann / Nestler (1975): Weltherrschaft im Visier, S. 191.

 

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das eigentliche Motiv die imperiale Herrschaft Deutschlands über weite Teile Ostmitteleuropas war, wird im Nachsatz des letzten Zitates deutlich: „Das Kerngebiet der europäischen Neuordnung ist das Völkermischgebiet zwischen dem Ostrand des deutschen Siedlungsgebietes und dem Westrand des russischen; Mitteleuropa und das nahe Ost- und Südosteuropa.“24 Um diese Ziele zu erreichen, hatte man sehr genau die Propaganda-Techniken im Zuge des Ersten Weltkriegs studiert. Dabei knüpfte man durchaus positiv an das zeitgenössische Verständnis des Begriffs „Propaganda“ an, welches diese als legitime Werbung für politische Anliegen verstand.25 So wurde in der Führungsspitze des „Ostbunds“ bezüglich aller ehemalig deutschen Ostgebiete vereinbart, man solle „in [die] Propaganda auch das Wort ‚Selbstbestimmung‘, das insbesondere im Ausland einen guten Klang habe, hineinarbeiten.“26 Daraus resultierende Abstimmungen sollten allerdings nicht befürwortet werden, da „durch die Tatsache der starken Polonisierung eine Abstimmung unter Umständen auch gegen uns umschlagen könne.“ Und bezüglich der verbandsinternen propagandistischen Richtlinien heißt es unmissverständlich, dass man unbedingt in jeder Propaganda so tun müsse, als ob man daran glaube, dass auf friedlichem Wege sich eine Änderung der Grenzen erzielen lasse; man dürfe nicht durchblicken lassen, dass man in Wirklichkeit glaube, dass durch die Machtpolitik oder durch einen Krieg sich die Grenzen nur verändern lassen würden.

So war es nur folgerichtig, wenn mit dem völkisch geprägten Historiker und Publizisten Franz Lüdtke ein führender Verbandsfunktionär im September 1933 die Losung ausgab: „Wir kennen keine Grenzen im Ostraum!“27 Derart laute und aggressive deutsche Expansionspropaganda wurde aus taktischen Gründen zumindest für wenige Jahre durch die deutsch-polnische Annäherung zwischen 1934–38 von offizieller Seite der NSDAP ein Riegel vorgeschoben,28 um wieder stärker insgeheim die Eroberung Osteuropas vorzubereiten. . Doch welche Ziele hatte die deutsche Außenpolitik jener Zeit in derselben Region Europas und wie verhielt sie sich zum „Ostbund“? All ihrer militärischen Machtmittel für ausgreifende imperiale Herrschaft beraubt, war deutsche Osteuropa-Politik nach 1918/19 vor allem darauf bedacht, durch eine vermeintlich ‚unpolitische‘, in Wahrheit aber höchst politische ‚Kulturpolitik‘ die deutschsprachigen Minoritäten in Osteuropa zu erhalten und zu fördern. Eine Schlüsselrolle spielte hierbei die deutsche Minorität in Polen, das aus deutscher Sicht als ‚undankbarer   24 Ebd. 25 Vgl. Dipper/ Schieder (1984): Art. Propaganda, S. 106–108. 26 Hasslacher [Geschäftsträger schlesischer Städte und Handelskammern] an die Industrie- und Handelskammer Breslau; Berlin, den 18.10.1929, in: PA AA, R 82315, Rep. IV a: Polen, Politik 25 C, Akten betreffend: Deutscher Ostbund e.V. (jetzt: Bund Deutscher Osten), Bd. 3: 30.5.1927–6.4.1933, Bl. 209–214, hier Bl. 211. Auch die folgenden Zitate ebd. Zitiert nach Fischer (1991): Die deutsche Publizistik, S. 58 f., Anm. 18. 27 Deutsche Tageszeitung vom 9.9.1933, zitiert nach Rothbart (1972): Bund Deutscher Osten, S. 214. 28 Siehe Wollstein (1983): Hitlers gescheitertes Projekt.  

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Emporkömmling‘ galt und die ‚Gnade‘ der Gewährung eines eigenen Staates durch die Mittelmächte seit November 1916 schamlos gegen diese, besonders aber gegen das Deutsche Reich ausgenutzt hatte.29 Zur Unterstützung eben jener deutschen Minderheit, die als politischer Machtfaktor für eine Grenzrevision gegenüber Polen erhalten werden sollte, wurden offiziell private, inoffiziell aber von deutschen Ministerien finanzierte Organisationen geschaffen. Die wichtigsten waren hier die „Deutsche Stiftung“ sowie der „Deutsche Schutzbund“.30 Solche Dach- und Tarnverbände können durchaus als staatlich initiierte ‚top-down‘-Gründungen bezeichnet werden. Dagegen war der „Ostbund“ eine genuin private ‚bottom-up‘-Gründung von Funktionseliten der ehemaligen preußischen Ostprovinzen. Er warb eifrig um Mitglieder unter eben jenen zeitgenössisch so genannten „Verdrängten“, die wir durchaus bereits als ‚Vertriebene‘ bezeichnen können (und vielleicht auch sollten). Eben diese Mitgliederwerbung durch das Versprechen, diesen ‚Verdrängten‘ in der Weimarer Republik eine neue Existenz durch vielfältige Hilfsmaßnahmen zu ermöglichen, beförderte die Abwanderung aus Polen. Damit schwächte der „Ostbund“ ganz offensichtlich eben jene informelle deutsche Machtoption, die er durch seine militante Revisions-Rhetorik doch gerade zu stärken vorgab. Dementsprechend vernichtend fielen somit auch die Beschwerden seitens der außenpolitisch maßgeblichen Stellen über den Verband aus. So äußerte das preußische Staatsministerium, dass aufgrund der „verständnisvolle[n] Fürsorge, die die Reichs- und Staatsregierung den Ostprovinzen angedeihen lassen, [wird] die Tätigkeit des Deutschen Ostbundes für entbehrlich erachtet“.31 Und das deutsche Konsulat in Thorn urteilte über den Verband ganz undiplomatisch, dafür aber unerbittlich sarkastisch: Er ist bekanntlich nichts anderes als eine weit verzweigte Anwaltsfirma, die ein sehr lebhaftes Interesse daran hat, dass die Entschädigungen möglichst hoch ausfallen, da sie an den Erfolgen prozentual beteiligt ist.32

2.2 Das zweite Beispiel: die „Deutsche Kolonialgesellschaft“ Wie aber lassen sich die Aufgabengebiete und Ziele des anderen hier diskutierten Beispiels charakterisieren, der „Deutschen Kolonialgesellschaft“? Diese war seit   29 Vgl. Spät (2014): Die „polnische Frage“, S. 398–406. 30 Siehe Krekeler (1973): Revisionsanspruch; Fensch (1966): Zur Vorgeschichte. 31 Weismann [Staatssekretär des preußischen Staatsministeriums] an den Deutschen Ostbund e.V.; Berlin, den 24.11.1928, in: PA AA, R 82315, Rep. IV a: Polen, Politik 25 C, Akten betreffend: Deutscher Ostbund e.V. (jetzt: Bund Deutscher Osten), Bd. 3: 30.5.1927–6.4.1933, Bl. 183 r, Hervorhebung im Original. 32 Deutsches Konsulat Thorn an das Auswärtige Amt; [betrifft]: Schluss mit den Reichsentschädigungen; Thorn, den 11.10.1929 (Abschrift), in: ebd., Bl. 205 f., hier Bl. 205, Hervorhebung R.F.  

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ihrer Gründung 1884 vor allem ein Verband der sozialen Oberschichten.33 Nach dem Ersten Weltkrieg verlor das Deutsche Reich nicht nur all seine Kolonien, sondern die DKG für kurze Zeit auch ihre Daseinsgrundlage. Allerdings machte man hier aus der Not schnell eine Tugend und äußerte sich selbstbewusst: „Hätten wir noch keine Kolonialgesellschaft, so müsste sie jetzt ins Leben gerufen werden.“34 Allerdings klafften Anspruch und Realität zunehmend auseinander. Statt zügig die ehemaligen afrikanischen Kolonien durch den Eintritt in den Völkerbund und dessen semikoloniales Mandatssystem35 zumindest teilweise wiederzugewinnen, trat man verbandspolitisch in Sachen Kolonialrevisionismus zunehmend auf der Stelle. Dazu trug nicht unwesentlich bei, dass das Auswärtige Amt zwar grundsätzlich ebenfalls den Kolonialrevisionismus unterstützte, ihn aber nachrangig behandelte und strategischen Gesichtspunkten unterordnete. So waren der Ausgleich mit Frankreich, die Aufrüstungs- oder die Reparationsfrage für das Ministerium von größerer Relevanz; freilich immer unter dem Gesichtspunkt, dass es auch hier um die Entfaltungsmöglichkeiten einer nur temporär verhinderten Weltmacht ersten Ranges ging, als die man sich insgeheim selber sah. Auch international galt Deutschland ab der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre zwar kolonialpolitisch als rehabilitiert, allerdings wurden sämtliche Versuche besonders seitens Großbritanniens abgewehrt, diese rein symbolische Anerkennung in praktische Konsequenzen für die Kolonialpläne der DKG umzumünzen.36 Als Fernziel schwebte dabei der DKG sowie ihrem weiblich geprägten Schwesternverband, dem „Frauenbund der DKG“ vor, rassistisch getrennte Siedlungskolonien in Südwestafrika sowie dem Hochland Ostafrikas zu errichten.37 In den Worten des führenden Verbandsfunktionärs Heinrich Schnee gäbe es in den Höhengebieten Ostafrikas […] ausgedehnte[,] für europäische Siedlung[en] geeignet[e] Gebiete, [die] Raum nicht bloss für die gegenwärtige Bevölkerung[,] sondern in allmählicher Entwicklung für zehntausende und später Hunderttausende von Weissen bieten werden.38

Aber alle Hoffnungen und Sehnsüchte nach Wiedererrichtung eines afrikanischen Kolonialreichs zerstoben spätestens infolge der Hyperinflation bis 1923 sowie der Weltwirtschaftskrise ab 1929. Die Verbandszeitschrift ging 1923 ein, die Mitgliederzuwächse blieben aus und selbst die Berliner Zentrale, das „Afrikahaus“, musste   33 Siehe Demhardt (2002): Deutsche Kolonialgesellschaft; Fröhlich (1998 [1999]): Das lange Scheitern; Bendikat (1984): Organisierte Kolonialbewegung. 34 Aufruf der Hauptversammlung der DKG in Magdeburg; den 7.5.1920: Deutschland, gedenke deiner Kolonien!, in: BArch R 8023, Nr. 803: Deutsche Kolonial-Gesellschaft, [Entwürfe betreffs des Verlustes der Kolonien], Bl. 5. 35 Siehe Pedersen (2015): The Guardians. 36 Vgl. Crozier (1981): Imperial decline, S. 221. 37 Vgl. Frauenbund der DKG, Abteilung Groß-Berlin an die DKG-Zentrale; Berlin, den 5.12.1930, in: BArch R 8023, Nr. 404: Frauenbund der DKG, Bl. 201. 38 [Schnee, Heinrich]: Warum Deutschland Kolonien haben muss, 1930, in: GStA PK VI. HA: Nachlässe, Nl. Heinrich Schnee, Nr. 24: Heinrich-Schnee-Archiv. Bd. 2: Aufzeichnungen, Berichte Nr. 27–72, Bl. 1–10, hier, Bl. 8, Hervorhebung R.F.  

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teilweise an Dritte untervermietet werden, um Geld einzunehmen.39 Hinzu kam, dass der Verband während der Republik als abgehobene Organisation der Oberklassen wahrgenommen wurde. In der DKG seien „nur Gouverneure, ehemalige Offiziere und Beamte und sonst noch einige verkalkte Leute […], die keine Fühlung mit dem Volk hätten und haben wollten, die nichts leisteten und in jeder Beziehung rückständig wären.“40 Durch hohe Mitgliedsbeiträge torpedierte der Verband sein eigenes Ziel, eine Organisation zu werden, deren „Mitglieder […] allen Erwerbsund Gesellschaftskreisen [angehören].“41 Stattdessen blieb es bis zum Ende der Weimarer Republik bei der Klage, die die DKG-Abteilung Bonn/ Bad Godesberg bereits 1919 äußerte. Die Verbandsführung habe es unterlassen, „die D.K.G. zu einer wirklichen Volksgesellschaft auszubauen. Der schon lange vor dem Kriege […] gepflegte Gedanke, die D.K.G. volkstümlicher zu gestalten, ist leider bisher ein frommer Wunsch geblieben.“42 Noch schlimmer traf die Verbandsführung, dass selbst der Kern der eigenen Klientel, nämlich das gehobene Bürgertum, zusehends den Veranstaltungen der DKG fernblieb und man deswegen mehr und mehr bei der insgeheim verachteten Arbeiterschaft agitieren musste. So beklagte der ehemalige Verbandspräsident Seitz noch 1932 über seine eigene Herkunftsregion, „dass in Baden eine erfolgreiche Agitation für Kolonialpolitik nur mit Hilfe der Jugend & der Arbeiter möglich ist. Das Bürgertum hier ist schwer mobil zu machen.“43 Bereits ein Jahr vorher resümierte Seitz in dem Entwurf eines Zeitschriftenartikels: um zu zeigen, wie wenig der einst mit so viel Enthusiasmus begrüsste Eintritt in den Völkerbund an unserer internationalen Stellung geändert hat. Man begnügte sich mit dem Schein der Grossmacht, sah hinweg über Alles, was in der Völkerbundssatzung und den Mandatsstatuten für uns Deutsche entwürdigend und schädigend ist […] und ist der Paria unter den Völkern

  39 Vgl. [DKG-Generalsekretär Duems(?)] an [Theodor] Seitz in Baden-Baden; [Berlin(?)], den 24.3.1932, in: BArch, R 8023, Nr. 669: [DKG-Korrespondenz mit Theodor Seitz etc.], Bl. 100– 102 r., hier Bl. 100 r.–101. 40 Auszug aus dem Bericht über eine vom „Bund für koloniale Erneuerung“, Ortsgruppe Görlitz, vom 20.11.1930 einberufene […] Versammlung, in: GStA PK, VI. HA: Nachlässe, Nl. Heinrich Schnee, Nr. 78 b: Heinrich-Schnee-Archiv. Sitzungsprotokolle etc. jener Verbände, Bünde u. Arbeitsgemeinschaften, die Schnee als Präsident leitete, unpaginiert. 41 Die Deutsche Kolonialgesellschaft [Gründung, Zweck, Arbeitsgebiete, Kriegstätigkeit etc.]; Berlin, Frühjahr 1929, in: BArch R 8023, Nr. 403: Deutsche Kolonial-Gesellschaft, [Akotech, Arbeitsgemeinschaft deutscher Verbände, DKG etc.], Bl. 91–94, hier Bl. 94. 42 DKG-Abteilung Bonn-Godesberg an die DKG-Zentrale in Berlin; Bonn, den 18.6.1919, in: BArch, R 8023, Nr. 803: Deutsche Kolonial-Gesellschaft, [Entwürfe betreffs des Verlustes der Kolonien], Bl. 177, hier Bl. 177 r. 43 [Theodor] Seitz an Duems in Berlin; Baden-Baden, den 22.1.1932, in: BArch, R 8023, Nr. 669: [DKG-Korrespondenz mit Theodor Seitz etc.], Bl. 116.  

Imperiale Kontinuitäten in der Weimarer Republik?

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geblieben. Von dem Zionismus aber könnten wir lernen, wie man seine Ansprüche in der heutigen Aera der angeblichen Herrschaft der internationalen Gerechtigkeit und des Völkergewissens mit Erfolg geltend macht.44

Diese Resignation und Verbitterung über die seitens der DKG als zögerlich und schwach wahrgenommene Außenpolitik entlud sich ab der Zeit der Präsidialkabinette in einer zunehmenden Orientierung an der NSDAP. Im Zentrum der Kritik stand dabei zunächst die fortwährend den Außenminister stellende DVP, die sämtliche Hoffnungen auf „Vertretung der kolonialen Belange auf[s] bitterste enttäuschte.“45 Für die darauffolgende Hinwendung zur NSDAP war kein faschistisches Weltbild ausschlaggebend, sondern schlichter Opportunismus. So urteilte der letzte DKG-Vorsitzende Heinrich Schnee: „Mit der NSDAP hatte ich mich bis dahin zu wenig beschäftigt, um zu einem klaren Urteil über sie gekommen zu sein.“46 Dennoch glaubte man ihrer Propaganda aufs Wort. Schnee fährt an anderer Stelle diesbezüglich fort: „Ich hatte mich um die Anschauungen der NSDAP zur Kolonialfrage wenig gekümmert und nach dem […] Punkt 3[47] ihres Programms ohne weiters [sic!] angenommen, dass sie für die Kolonien wäre.“48 Erst lange nachdem die DKG im „Reichskolonialbund“ ‚gleichgeschaltet‘ und damit zumindest der Bedeutungslosigkeit anheim gegeben worden war, begriff Schnee, dass Hitler unter Kolonien etwas völlig anderes verstand, als es für die DKG-Kreise bis dahin üblich war: „unter ‚Land und Boden(Kolonien)‘ des Programms [verstand Hitler, RF] ursprünglich garnicht [sic!] überseeische Kolonien […], sondern Landerwerbungen in Europa.“49 3. VERGLEICHENDES FAZIT: IMPERIALE KONTINUITÄTEN? Beide hier betrachteten Verbände knüpften in ihren außenpolitischen Zielvorstellungen an die imperiale Expansion Preußens bzw. des deutschen Kaiserreichs an.   44 Seitz, Theodor: Das Mandat von Palästina im Vergleich mit den Mandaten über Deutschostund Deutschsüdwestafrika [undatierter Entwurf, ca. Mai/ Juni 1931], in: ebd., Bl. 168–172, hier Bl. 172, Hervorhebung R.F. 45 DKG-Abteilung Görlitz an die DKG-Zentrale; betrifft: Präsidentenwahl; Görlitz, den 12.11.1930, in: BArch, R 8023, Nr. 797: [DKG-Vorstandssitzungen etc.], Bl. 101. 46 Austritt Schnees aus der Deutschen Volkspartei, Oktober 1932, in: GStA PK, VI. HA: Nachlässe, Nl. Heinrich Schnee, Nr. 24: Heinrich-Schnee-Archiv. Bd. 2: Aufzeichnungen, Berichte Nr. 27–72, Bl. 204 f., hier Bl. 205. 47 Im Punkt 3 des Programms der Partei vom Februar 1920 heißt es: „Wir fordern Land und Boden (Kolonien) zur Ernährung unseres Volkes und Ansiedlung unseres Bevölkerungsüberschusses.“ Dok. Nr. 61: Parteiprogramm der NSDAP, in: Kühnl (2000): Faschismus, S. 97. 48 [Schnee, Heinrich: Aufzeichnung über die] Deutsche Kolonialgesellschaft [undatiert, nach 1936; im Folgenden zitiert als: Schnee: Aufzeichnung über die Deutsche Kolonialgesellschaft], in: GStA PK, VI. HA: Nachlässe, Nl. Heinrich Schnee, Nr. 25: Heinrich-Schnee-Archiv. Bd. 3: Aufzeichnungen, Berichte Nr. 73–100, Bl. 1–53, hier Bl. 10 f. 49 Ebd., Bl. 11.  

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Dass diese keineswegs so reibungslos verlief, wie sie gerade von der DKG oder dem „Ostbund“ in der Weimarer Republik idealisiert wurde, konnte hier nicht Gegenstand näherer Erörterungen werden. Allerdings zeigen diese weitgespannten verbandspolitischen Zielvorstellungen einerseits, sowie die begrenzten Mittel seitens der deutschen Außenpolitik andererseits, dass Konflikte, Resignation und Enttäuschungen allenthalben die Folgen waren, wenngleich man sich prinzipiell in den imperialen Zielen einig war. In Anlehnung an einen Definitionsversuch des Globalhistorikers Jürgen Osterhammel50 kann man in diesen Konflikten den Kern von ‚Imperialität‘ ausmachen: einerseits den Willen, ein möglichst weltweites Imperium zu erobern. Andererseits – und hier sind die Unterschiede beispielsweise zum britischen Empire eklatant – fehlten der Weimarer Politik schlichtweg die machtpolitischen Mittel und die außenpolitische ‚Bewegungsfreiheit‘, um diesem Willen Geltung zu verschaffen. ‚Imperialität‘ meint hier also im Unterschied zum Begriff des ‚Imperialismus‘ eben den Unterschied zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Da beides umso mehr während der Republik auseinanderklaffte, wurden die imperialen Hoffnungen der Verbände weitestgehend enttäuscht. Diese suchten nunmehr nach alternativen politischen Partnern, die sie auf jeweils verschiedenen Wegen in der NSDAP zu erkennen glaubten. Dies führte zu Handlungsweisen der Verbandsleitungen, die zwischen dem Engagement in einem später durch die SS geführten Siedlungsverband reichen konnte bis hin zu weitgehender Apathie und kolonialpolitischer Enttäuschung. Von kollektivem ‚Widerstehen‘ aber oder gar antifaschistischen Überzeugungen und Handlungen kann bei keinem der hier vorgestellten Verbände die Rede sein. Einmal mehr zeigt dies nicht die Macht, sondern vielmehr die Ohnmacht imperialer Ideen, die in beiden Fällen auch noch nach dem Ende der direkten Kolonialherrschaft zu einer teilweisen Radikalisierung führten.51 QUELLEN Bundearchiv Berlin Lichterfelde BArch R 2, Nr. 881: Reichsfinanzministerium, Akten betreffend: Die Kriegsschäden Deutscher in den abgetretenen Gebieten. Generalia, Bd. 6: 1.1925–31.12.1928. BArch R 8023, Nr. 403: Deutsche Kolonial-Gesellschaft, [Akotech, Arbeitsgemeinschaft deutscher Verbände, DKG etc.]. BArch R 8023, Nr. 404: Frauenbund der DKG. BArch R 8023, Nr. 803: Deutsche Kolonial-Gesellschaft, [Entwürfe betreffs des Verlustes der Kolonien].

  50 Osterhammel gibt zu bedenken, dass Imperialismus eigentlich der allgemeinere Begriff und Kolonialismus im Unterschied zu ihm der Spezialfall sei. Dies liegt in seiner Definition begründet, wonach Wille und Mittel zu einer weltweiten Interessenwahrnehmung konstitutiv seien für Imperialismen. ‚Imperialität‘ hebt somit viel stärker auf die Ebene weitreichender Zielvorstellungen ab und weniger auf deren außenpolitische Konkretisierung durch Kriege etc. Vgl. Osterhammel / Jansen (2012): Kolonialismus, S. 27. 51 Siehe Reinkowski/ Thum (2013): Helpless Imperialists.

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SELBSTTÖTUNGEN IN DER WEIMARER REPUBLIK Krisenparadigma, Diskurs und Fürsorgepraxis1 Anne Gnausch Jedes Jahr nehmen sich in Deutschland ungefähr 10.000 Menschen selbst das Leben; davon sind ca. 70 Prozent Männer. Die Anzahl der Suizidversuche kann auf mindestens 100.000 im Jahr geschätzt werden. Suizidversuche können oft als „Hilferufe“ interpretiert werden und Frauen unternehmen diese besonders häufig. In Deutschland sterben mehr Menschen durch Suizid, als durch Verkehrsunfälle, AIDS, illegale Drogen und Gewalttaten zusammen. In der Gruppe der jungen Erwachsenen ist Selbsttötung die häufigste Todesursache überhaupt. Seit 2003 veranstaltet die International Association for Suicide Prevention gemeinsam mit der World Health Organisation jährlich am 10. September den Welttag der Suizidprävention, um die Öffentlichkeit auf die weitgehend verdrängte Problematik der Suizidalität aufmerksam zu machen. Der Suizid ist kein Thema, das die Gesellschaft beunruhigt, weil dieser als Resultat einer krankhaften Entwicklung verstanden und in den Verantwortungsbereich der Medizin verschoben wird. Laut WHO gehen 65 bis 90 Prozent aller Selbsttötungen auf Depressionen zurück.2 Gerät eine Selbsttötung in die Schlagzeilen wie im Fall von Hannelore Kohl (2001), Robert Enke (2009) und Robin Williams (2014), wird mit der öffentlichen Berichterstattung häufig nur eine bessere Behandlung von Depressionen gefordert.3 Vor rund 100 Jahren war die Situation eine ganz andere: Selbsttötungen standen im Mittelpunkt der öffentlichen Aufmerksamkeit, sowohl in der breiten Öffentlichkeit der Tagespresse als auch in der Fachöffentlichkeit der Seelsorger, Mediziner, Politiker und Pädagogen. Im Jahre 1927 gab der katholische Journalist und Suizidforscher Hans Rost (1877–1970) eine Bibliographie des Selbstmords heraus, die

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Die Begriffe Freitod, Selbstmord, Selbsttötung und Suizid werden in der deutschen Alltagssprache synonym verwendet, ihre Herausbildung und ihr Gebrauch standen jeweils in Verbindung mit bestimmten Deutungskonzepten des Todes durch eigene Hand und verweisen auf das moralische Dilemma angesichts dieser menschlichen Handlung. Aufgrund ihrer sachlich neutralen Form werden im vorliegendem Beitrag die Begriffe „Selbsttötung“ und „Suizid“ favorisiert. Die Begriffe „Selbstmord“ und „Selbstmörder“ sind hingegen Quellenbegriffe und bezeichnen den historischen Gegenstand. Krug, et al. (2002): World report, S. 192. Vgl. exemplarisch: N.N. (2015): Suizid und Depression.

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3771 Titel verzeichnete.4 Auch die Zahl der Beiträge in Zeitungen und Zeitschriften, die zum Thema Selbstmord veröffentlicht wurden, sind Legion. So erschienen etwa in der Vossischen Zeitung, einer bürgerlich liberalen Berliner Tageszeitung, zwischen 1918 und 1934 insgesamt 1682 Artikel, die den Begriff „Selbstmord“ im Titel trugen.5 Der Suizid war schon im Kaiserreich „Gravitationszentrum weltanschaulicher und politischer Kontroversen“ gewesen.6 Der Beginn des Ersten Weltkriegs, das massenhafte Sterben im Feld und die mörderische Kriegsmaschinerie ließen die individuelle Selbsttötung für einige Jahre an den Rand des öffentlichen Interesses treten. In der Weimarer Republik rückte der Suizid als gesamtgesellschaftliches Problem erneut in den Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit. Für viele der Zeitgenossen manifestierte sich in den Zahlen der jährlichen Selbsttötungen die Misere der modernen Gesellschaft. Es verbreitete sich die Auffassung, die Zeit allgemeiner Unsicherheit, politischer Unordnung, sozialer und wirtschaftlicher Not treibe die Suizidzahlen unaufhaltsam in die Höhe.7 In den späten 1920er Jahren lieferten Zeitungen fast täglich Berichte von „Selbstmord-Tragödien“, was auf die Virulenz der Suizid-Thematik in der Weimarer Zeit verweist. Ausgehend von diesem Befund fragt dieser Aufsatz nach dem gesellschaftlichen, kulturellen sowie praktischen Umgang mit dem Phänomen des Suizids in der Weimarer Republik. Der Beitrag rekonstruiert den zeitgenössischen Suiziddiskurs, analysiert die öffentliche und kulturelle Wahrnehmung von Selbsttötungen in der Weimarer Zeit, untersucht, wie die verschiedenen politischen Lager das Thema Suizid für sich instrumentalisierten, und zeigt am Beispiel der Reichshauptstadt Berlin, welche Fürsorgemaßnahmen gegen das Ansteigen der Suizidrate ergriffen wurden. 1. DAS KRISENPARADIGMA DER WEIMARER ZEIT IN DER HISTORIOGRAPHISCHEN FORSCHUNG Selbsttötungen sind eine historische Konstante, sie kommen in allen Epochen und Kulturen vor. Die Umstände, unter denen sich Menschen das Leben nehmen, und die Art und Weise, wie die Gesellschaft damit umgeht, unterliegen hingegen einem historischen Wandel. Der Suizid ist der „intimste und unzugänglichste menschliche Akt“ und zugleich auch ein von sozialen Strukturen und kulturellen Interpretationen geprägtes gesellschaftliches Phänomen.8 Der Umgang mit Selbsttötungen sagt viel   4 5 6 7 8  

Rost (1927): Bibliographie des Selbstmords. Dies ergab eine Recherche in der Datenbank „Vossische Zeitung online 1918–1934“. In der Volltextsuche lieferte der Suchbegriff „Selbstmord“ sogar 3571 Ergebnisse. Vgl. http://db.saur.de/VOSS (Stand 23.09.2016). Baumann (2001): Geschichte des Suizids, S. 10 und 323. Vgl. Goeschel (2011): Selbstmord im Dritten Reich, S. 24. Cobb (2011): Tod in Paris, S. 143.

Selbsttötungen in der Weimarer Republik

253

über die Gesellschaft der Weimarer Zeit aus. Durch das Prisma des Suizids lassen sich epochenspezifische Mentalitäten der von den Zeitgenossen oft als krisenhaft wahrgenommenen Weimarer Republik aufzeigen. Der Historiker Detlev Peukert (1950–1990) begreift in seinem 1987 erschienenen Standardwerk die Weimarer Republik als „Krisenjahre der klassischen Moderne“.9 Die neuere historiographische Forschung hat dieses Deutungsmuster hinterfragt und auf die narrative Konstruktion und die historische Offenheit von Krisen hingewiesen. Der Topos der Krise steht nicht nur für die Bedrohung des Alten, sondern eben auch für die Chance zur Erneuerung.10 Gleichwohl bildet der Krisenzustand der Weimarer Republik nach wie vor ein zentrales Motiv der Forschung.11 Der Historiker Manfred Kittel konstatierte 2005: „Am objektiven Charakter der Krise Weimars kann aber für jeden, der sich auch nur ansatzweise mit den politischen und wirtschaftlichen Problemen der Zeit auseinandersetzt, nicht der geringste Zweifel sein.“12 Peukert zufolge bildete sich in jenen 14 Jahren der Weimarer Republik die Moderne, die sich seit der Jahrhundertwende zu entfalten begonnen hatte, in der modernen Sozialpolitik, der Technik, den Natur- und Humanwissenschaften sowie der modernen Kunst und Literatur in ihrer klassischen Form vollständig aus und geriet zugleich in eine Krise.13 Diese umfasste alle Bereiche und wurde von 1930 bis 1933 zur „totalen Krise“.14 Jedes in Deutschland zu beobachtende Krisensymptom finde sich auch in anderen Ländern der modernen Industriegesellschaft, so Peukert. Insofern sei die deutsche Krise paradigmatisch. In Deutschland habe sich der Modernisierungsprozess in den 1920er Jahren aber brutaler und unverblümter durchgesetzt als in anderen Ländern. Zugleich hätten sich nicht nur seine Lichtseiten besonders faszinierend ausgeprägt, sondern auch seine Schattenseiten bedrückend auf die ohnehin deprimierenden Alltagserfahrungen von Krieg, Niederlage, Legitimationsverlust der alten Werte, Inflation und Weltwirtschaftskrise gelegt. Die Verknüpfung dieser einzelnen Krisenfaktoren zu einer allumfassenden Krise der politischen Legitimation und der sozialen Wertesysteme sei in dieser Zeit in Deutschland laut Peukert einzigartig gewesen. „Aus dieser umfassenden Krise schien es für die Deutschen keinen bekannten Ausweg zu geben, weder auf dem gewohnten Pfade des sozialen und politischen Handelns noch in der individuellen Perspektive des eigenen Lebenswegs.“15 Dies, so Peukert, belege die Suizidstatistik: 1932 fielen auf je eine Million Einwohner in Großbritannien 85 Suizide, in den USA 133, in Frankreich 155, in Deutschland aber 260.16   9 10 11 12 13 14 15 16  

Peukert (1987): Weimarer Republik. Vgl. Föllmer / Graf (2005): „Krise“ der Weimarer Republik, S. 14. Vgl. etwa: Kolb / Schumann (2013): Die Weimarer Republik, S. 237. Kittel (2005): „Krise“ der Weimarer Republik, http://www.sehepunkte.de/2005/11/7924.html, letzter Zugriff: 25.09.2016. Vgl. Peukert (1987): Weimarer Republik., S. 266–271. Ebd., S. 243. Ebd., S. 271. Ebd.

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Was Peukert hier nicht berücksichtigt und wofür er von Moritz Föllmer und Rüdiger Graf kritisiert worden ist, ist die Tatsache, dass die Suizidrate auch im Kaiserreich schon höher war als in anderen Ländern.17 1913 kamen im Deutschen Reich auf 1 Million Einwohner 232 Selbsttötungen, 1915: 166, 1918: 157, 1920: 217, 1925: 245 und 1932: 292 (anders als von Peukert zitiert).18 In England und Wales waren es zwischen 1914 und 1918 im Jahresdurschnitt 82 Selbsttötungen auf 1 Million Einwohner, in den USA 146 und in Frankreich 168.19

1913

Deutsches Reich 232 1926

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1918

157

1927

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1919

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1928

252

1920

217

1929

261

1921

206

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278

1922

218

1931

288

1923

213

1932

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231

1933

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1925

245

Tabelle 1: Selbsttötungen auf 1 Million Einwohner in Deutschland 1913, 1918–193320

Föllmer und Graf konstatieren, dass Peukert die zeitgenössische Sicht übernehme und die Suizidrate als Beleg für die Ausweglosigkeit der deutschen Krise heranziehe, obwohl sie nur wenig höher lag als im Kaiserreich.21 Der Blick auf die Zahlen verdeutlicht, dass die Suizidrate im Deutschen Reich nach ihrem Tiefststand am Ende des Ersten Weltkriegs 1918 zunächst diskontinuierlich anstieg und den Vorkriegsstand erst 1924 wieder erreichte. Er zeigt aber auch, dass die Suizidzahlen mit dem Beginn der Weltwirtschaftskrise 1929 von Jahr zu Jahr anstiegen und die Suizidrate des Kaiserreichs deutlich übertrafen. Wichtiger als die teilweise spekulative Rekonstruktion der wahren Verhältniszahlen ist aber vielmehr der Fakt, dass   17 18 19 20

Föllmer / Graf (2005): „Krise“ der Weimarer Republik, S. 28. Diese Statistik ist entnommen aus Baumann (2001): Geschichte des Suizids, S. 326–327. Füllkrug (1927): Der Selbstmord in der Kriegs- und Nachkriegszeit, S. 18. Baumann (2001): Geschichte des Suizids, S. 324–326. Baumann generierte diese Zahlen auf Grundlage zeitgenössischer Statistiken. Hierbei gilt es den sozialen Konstruktionscharakter von Selbsttötungsstatistiken zu beachten, diese sind immer auch Teil des jeweiligen Suiziddiskurses. Aufgrund der Stabilisierung der statistischen Erfassung im 20. Jahrhundert kann aber angenommen werden, dass Veränderungen der Suizidrate zumindest reale Tendenzen abbilden. 21 Föllmer / Graf (2005): „Krise“ der Weimarer Republik, S. 28.  

Selbsttötungen in der Weimarer Republik

255

dem Phänomen des Suizids in der Weimarer Zeit solch eine große gesellschaftliche Aufmerksamkeit zuteilwurde.22 2. DER SUIZIDDISKURS Bereits 1897 hatte der französische Soziologe Émile Durkheim (1858–1917) sein Buch Le Suicide veröffentlich, in dem er konstatiert, dass die Suizidrate in Zeiten des Krieges aufgrund von Kollektivempfindungen sowie der größeren Integration aller Individuen sinkt.23 Das Kernstück seiner Arbeit bildet ein ätiologisches Klassifikationsmodell: Mithilfe der Begriffe Egoismus, Anomie und Altruismus unterscheidet Durkheim drei Typen von Suiziden, die aus unterschiedlichen sozialen Strukturen hervorgehen.24 Durkheim und seine Zeitgenossen sahen in der damals steigenden Zahl der Selbsttötungsfälle einen Ausdruck für „die kollektive Krankheit” der gegenwärtigen Gesellschaft.25 Auch der evangelische Theologe Gerhard Füllkrug (1870–1948) sowie der bereits erwähnte katholische Journalist und Suizidforscher Hans Rost, beide Meinungsführer im deutschsprachigen theologischen Suiziddiskurs der Weimarer Zeit, sahen die Wurzel des sogenannten „Selbstmordübels“ in der modernen Zeit. Vor allem im vermeintlich zerstörerischen Einfluss der Säkularisierung und Massenkultur.26 Ganz ähnlich argumentierte auch der Stuttgarter Regierungsrat Mailänder, der 1925 schrieb: Es muß in der Presse und bei jeder Gelegenheit Front gemacht werden gegen die in der Literatur, auf der Bühne, im Kino und sonst vertretenen Anschauung, als ob der Selbstmord unter Umständen eine selbstverständliche und womöglich noch zu verherrlichende Tat sei.27

Mailänder lässt offen, auf welche Literatur, Theaterstücke und Filme er sich mit seiner Aussage bezieht. Die Vermutung mag dahin gehen, dass er die betreffenden Werke nicht noch bekannter machen wollte. Der Selbstmord war eine durchaus populäre Thematik in der Kultur der 1920er Jahre.28 Etwa in folgenden zeitgenössischen Spielfilmen wurde dieser verhandelt: „Sylvester – Tragödie einer Nacht“

  22 Vgl. Baumann (2001): Geschichte des Suizids, S. 226. 23 Durkheim (1983): Der Selbstmord, S. 227–231. 24 Ebd., S. 162–318. Der egoistische Suizid resultiere laut Durkheim aus einer unzureichenden sozialen Integration des Individuums, wohingegen der altruistische Suizid als Opferakt für die Gesellschaft zu verstehen sei und eine zu starke Bindung des Einzelnen an das Kollektiv ausdrücke. Der anomische Suizid wiederum verweise auf das Fehlen von moralischer Regulierung und gesellschaftlichen Normen. 25 Ebd., S. 20. 26 Vgl. Goeschel (2011): Selbstmord im Dritten Reich, S. 56. 27 Mailänder (1925): Selbstmordfälle in Stuttgart, S. 123. 28 Vgl. Föllmer (2009): Suicide and Crisis, S. 195.  

256

Anne Gnausch

(1923), „Dirnentragödie“ (1927), „Mutter Krausens Fahrt ins Glück“ (1929), „Boykott – Primanerehre“ (1930) und „Kuhle Wampe oder Wem gehört die Welt?“ (1930).29 2.1 Die (Groß-)Stadt im Suiziddiskurs Es war Konsens im Suiziddiskurs der 1920er Jahre, dass die (Groß-)Städte eine höhere Suizidrate aufweisen, als die ländlichen Gegenden des Deutschen Reiches. Der Berliner Oberkonsistorialrat Troschke formulierte es 1932 so: „Hinsichtlich des Selbstmordvorkommens verhalten sich Stadt und Land etwa wie 1,6:1, d.h. in den Städten gehen über einhalb mehr Menschen durch eigene Hand zugrunde als auf dem Lande.“30 Den Grund hierfür sah Troschke in der inneren Verbundenheit der Landgemeinden, die dem Einzelnen mehr Rückhalt gebe. „Der Mensch ist nie einsamer als in der Masse. Die Stadt mit ihrer Masse geht kalt und fremd an der Not des einzelnen vorüber.“31 Der Psychiater Hans Walter Gruhle (1880–1958) publizierte 1940 eine Monographie über Suizid , die nicht die typische NS-Ideologie vertrat.32 Er argumentierte in eine ähnliche Richtung und sah die Hauptgründe der vermehrten Selbsttötungen in der Stadt in: Industrialisierung, größerer Wohndichte, damit zusammenhängend anderen Verkehrs- und Trinksitten, größerer Konfliktsmöglichkeit, Lösung aus ländlich gebundener Haltung (Kirche); dazu bei den Großstädten im Zuzug zweifelhafter auch seelisch gefährdeter Personen (Psychopathen, Rauschgiftsüchtige, gescheiterte Existenzen).33

Dieses Zitat zeigt nicht nur, wie antimodern und urbanisierungskritisch die Diskursteilnehmer dachten, sondern verdeutlicht auch, dass Gruhle und seine Zeitgenossen das Phänomen des Suizids nicht nur als medizinisches und psychiatrisches, sondern auch und vielleicht vor allem als soziales und moralisches Problem verstanden. Wie es die obigen Zitate schon andeuten, standen Großstädte, vor allem die Reichshauptstadt Berlin, im frühen 20. Jahrhundert in dem Ruf „Brutstätten“ des Suizids zu sein.34 Im Kaiserreich und der Weimarer Republik stand Berlin in der reichsweiten Suizidstatistik an erster Stelle. Lediglich Hamburg hatte gegen Ende der 1920er Jahre noch höhere Suizidraten zu verzeichnen.35

  29 Zum Film in der Weimarer Republik vgl.: Nowak (2015): Projektionen der Moral, Prinzler (2012): Licht und Schatten, Krebs (2011): Selbstmord auf der Leinwand, Korte (1978): Film und Realität in der Weimarer Republik. 30 Troschke (1932): Selbstmord in Deutschland, S. 14–15. 31 Ebd. 32 Gefolgt wird hier dem Urteil Ursula Baumanns. Vgl. Baumann (2001): Geschichte des Suizids, S. 351. 33 Gruhle (1940): Selbstmord, S. 64. 34 Vgl. Goeschel (2011): Selbstmord im Dritten Reich, S. 32. 35 Füllkrug (1933): Fürsorge für die Lebensmüden, S. 101.

Selbsttötungen in der Weimarer Republik

257

Berlin 1913

385

1926

470

1918

389

1927

430

1919

475

1928

390

1920

492

1929

422

1921

352

1930

466

1922

439

1931

483

1923

435

1932

531

1924

454

1933

500

1925

430

Tabelle 2: Selbsttötungen auf 1 Million Einwohner in Berlin 1913, 1918–193336

Wie ein Blick auf die Tabelle zeigt, weist die Berliner Rate über den gesamten Zeitraum des späten Kaiserreichs und der Weimarer Republik ein viel höheres Niveau als die nationale auf, vor allem in den 1920er Jahren stiegen die Berliner Suizidzahlen. Die meisten Selbsttötungen verzeichnete Berlin 1932. In diesem Jahr nahmen sich in der Reichshauptstadt 2262 Menschen das Leben (1343 Männer, 919 Frauen), bei einer Einwohnerzahl von 4,3 Millionen.37 Zum Vergleich: 1912 begingen in Berlin 791 Menschen Suizid (536 Männer, 255 Frauen), bei einer Einwohnerzahl von 2,08 Millionen und 2014 waren es 374 Menschen (271 Männer, 103 Frauen), bei einer Einwohnerzahl von 3,5 Millionen.38 Diese beträchtlichen Zahlenunterschiede verweisen eindrucksvoll auf den von Peukert konstatierten Zusammenhang zwischen Suizidrate und Krise der Weimarer Republik. 2.2 Suizid und Presse Auch die Zeitungen stellten in der Weimarer Zeit einen Zusammenhang zwischen der zunehmenden Modernisierung respektive Urbanisierung des Lebens und der steigenden Suizidrate her, wie etwa folgender Artikel exemplarisch zeigt, der im Oktober 1931 in der antiliberalen und national geprägten Zeitung Der Reichsbote erschien39:

  36 Diese Statistik ist entnommen aus Baumann (2001): Geschichte des Suizids, S. 327. 37 Baumann (2001): Geschichte des Suizids, S. 326f. 38 Landesamt (1914): Statistisches Jahrbuch für den Preussischen Staat, Berlin-Brandenburg (2016): Statistischer Bericht. 39 Vgl. Goeschel (2011): Selbstmord im Dritten Reich, S. 24.  

258

Anne Gnausch Wieder gehen durch die Zeitungen fast täglich Nachrichten über die in auffälliger Weise sich häufenden Selbstmorde. Besonders in den Städten steigt die Ziffer rapide an. Die Zusammenballung der Menschenmassen in den modernen Steinwüsten begünstigt die Neigung willensschwacher Naturen, das Leben bei der ersten Gelegenheit fortzuwerfen.40

Dieser Artikel verweist noch einmal darauf, dass ab den späten 1920er Jahren in den Zeitungen nahezu täglich Meldungen über Suizide erschienen. Der heutige Pressekodex gebietet bei der Berichterstattung über Selbsttötung Zurückhaltung. Dies gilt insbesondere für die Nennung von Namen, die Veröffentlichung von Fotos und die Schilderung näherer Begleitumstände. In der Weimarer Zeit gab es keine derartige Richtlinie. Das erklärt die damals zahlreichen Meldungen in der Presse, die teils sehr drastisch formuliert waren, auf den Tathergang eingingen, und neben dem Namen oft sogar die Adresse des Suizidenten nannten. Ein Beispiel aus der Vossischen Zeitung möge dies illustrieren: Der 42 Jahre alte Arbeiter Richard Braunsdorf jagte sich in seiner Wohnung im Hause Curvystraße 42 eine Kugel in den Kopf. In hoffnungslosem Zustand fand er im Urban-Krankenhaus Aufnahme. Das Motiv der Verzweiflungstat ist noch nicht geklärt.41

Die Teilnehmer am Suiziddiskurs der Weimarer Zeit verwiesen auf die negative Wirkung derartiger Presseberichterstattung, weil diese Nachahmungstaten begünstigen würde. Der Journalist und Suizidforscher Hans Rost publizierte im Januar 1930 einen Artikel mit dem Titel „Der Selbstmord und die Presse“. Darin stellte er die Behauptung auf, „daß die übertriebene, sensationsbedürftige Selbstmordberichterstattung in der Presse einen ganz erheblichen Anteil zur Steigerung der Selbstmordhäufigkeit beiträgt.“42 Er betonte, dass es in der Selbstmordforschung längst erwiesene Tatsache sei, dass dem Selbstmord in hohem Grade ein Nachahmungsreiz innewohne. So habe man beobachtet, dass ausführliche Berichterstattungen in der Zeitung über Technik des Selbstmords unter Angabe des Alters und Geschlechts in kurzer Zeit gleich mehrere Selbstmordfälle nach sich zogen, die genau der Zeitungsschilderung entsprachen. Rost kommt zu dem Fazit, „daß eine ganz erkleckliche Anzahl von Selbstmorden sich nicht ereignen würde, wenn die Presse von ihrer oft grauenerregenden, Nerven aufpeitschenden Selbstmordberichterstattung Abstand nehmen würde.“43 Der Journalist fordert sogar „die Aufnahme von Selbstmordberichten überhaupt [zu] verbieten.“44 Eine ähnliche Argumentationsfigur findet sich auch beim Stuttgarter Regierungsrat Mailänder. Dieser strich bereits 1925 heraus, dass die zahlreichen Mitteilungen in der Presse über Selbstmorde und Selbstmordversuche nicht unbedenklich seien, „da die Häufigkeit der Selbstmorde auf leicht empfängliche heruntergestimmte Menschen ansteckend wirkt.“45 Beson  40 41 42 43 44 45  

Michaelis (1931): Selbstmordpsychose, in: Der Reichsbote, 18.10.1931. N.N. (1932b): Selbstmord-Tragödie. Rost (1930): Der Selbstmord und die Presse, in: Augustinus-Blatt, Januar 1930. Ebd. Ebd. Mailänder (1925): Selbstmordfälle in Stuttgart, S. 123.

Selbsttötungen in der Weimarer Republik

259

ders gefährlich seien „solche Pressemitteilungen, wenn sie mit falschen Kommentaren versehen werden, wenn z.B. von einer Epidemie gesprochen wird, die gar nicht da ist.“46 2.3 Das Bedrohungsszenario der „Selbstmordepidemie“ Das Bedrohungsszenario einer „Selbstmordepidemie“ war virulent in den Tageszeitungen der Weimarer Zeit. Interessant erscheint in diesem Zusammenhang, dass hier der medizinische Begriff der Epidemie Verwendung fand. Selbsttötungen wurden in der Weimarer Republik ja eben gerade nicht als rein medizinisches oder psychiatrisches, sondern auch als soziales und moralisches Problem verstanden.47 In der Verwendung des Wortes Epidemie in den 1920er Jahren deutete sich also bereits die heutige Lesart des Suizids als Symptom einer Krankheit an. Bereits im September 1919 erschien in der Vossischen Zeitung ein Essay des Kunstkritikers Karl Scheffler (1869–1951), in dem er konstatierte: Wenn die Statistik der Selbstmorde dieser Jahre erscheint, wird man von einer Selbstmordepidemie sprechen. Schon was die Zeitungen melden, übersteigt weit das gewohnte; doch werden viele Fälle ja noch rücksichtsvoll verschwiegen, und das meiste wird den Zeitungen nicht einmal bekannt. Einen Begriff von der Ausdehnung der grassierenden Selbstmordepidemie erhält man erst, wenn man sich in seinem engeren Kreise umsieht und von den Fällen, die einem bekannt werden, aufs Ganze schließt.48

Auffällig ist, dass Scheffler in seinem Essay von einer grassierenden Ausdehnung der Selbstmordepidemie sprach, obwohl er hierfür keine statistischen Belege anführen konnte. Die Vossische Zeitung publizierte Mitte der 1920er Jahre drei weitere Artikel, die den Eindruck verstärkten, man lebe in einer Zeit der Selbstmordepidemie. Am 17. August 1925, am 20. Juli 1926 sowie am 26. Juli 1926 erschienen in der Vossischen Zeitung Berichte mit dem Titel „Die Selbstmordepidemie“.49 Im Artikel vom 17. August hieß es: Die Kurve der Selbstmorde, die in der letzten Zeit verhältnismäßig konstant blieb, hat in den letzten Tagen eine außerordentliche Steigerung aufgewiesen. Die Zahl der Selbstmorde und Selbstmordversuche am gestrigen Sonntag läßt selbst die schlimmsten Tage der Inflation und des Hungers hinter sich.50

  46 Ebd. Im Übrigen gebietet der heutige Pressekodex bei der Berichterstattung über Selbsttötung Zurückhaltung. Dies gilt insbesondere für die Nennung von Namen, die Veröffentlichung von Fotos und die Schilderung näherer Begleitumstände wie Ort und Methode der Selbsttötung. Eine Ausnahme ist nur dann gerechtfertigt, wenn es sich um einen Vorfall der Zeitgeschichte von öffentlichem Interesse handelt. So sollen mögliche Nachahmungstaten verhindert werden. 47 Vgl. hierzu: Langewand (2016): Die kranke Republik. 48 Scheffler (1919): Selbstmord, in: Vossische Zeitung, 16.09.1919. 49 N.N. (1925b): Die Selbstmordepidemie, N.N. (1926b): Die Selbstmord-Epidemie, N.N. (1926a): Die Selbstmord Epidemie. 50 N.N. (1925b): Die Selbstmordepidemie.  

260

Anne Gnausch

An jenem Sonntag wurden in Berlin acht Suizide und sechs Suizidversuche verübt. Es fällt auf, dass der Artikel in dramatisierender Weise auf die Zeit der Inflation Bezug nimmt und betont, dass die gegenwärtige Situation die damalige noch in den Schatten stelle. Dies verdeutlicht, wie verbreitet unter den Zeitgenossen der Weimarer Republik das Gefühl war, eine „Krise“ zu durchleben.51 Die in den Artikeln genannten Zahlen rechtfertigen es nicht, von einer „Selbstmordepidemie“ zu sprechen, wie bereits der Zeitgenosse Mailänder bemerkte. 2.4 Politische Lager und Suizidberichterstattung Zeitungen aller politischen Lager berichteten in der Weimarer Zeit über Selbsttötungen und versuchten politisches Kapital aus diesen Meldungen zu schlagen. Vor allem kommunistische und nationalsozialistische Autoren brachten die steigende Suizidrate in einen direkten Zusammenhang mit der sozialen, politischen und wirtschaftlichen Situation in der Weimarer Republik. Zeitungen, die sich für die erste deutsche Demokratie einsetzten (etwa die Berliner Morgenpost und das Berliner Tageblatt) agierten bedächtiger und stellten kaum eine unmittelbare Beziehung zwischen der Weimarer Republik und den Selbsttötungen her.52 Am 31. März 1932 erschien in der kommunistischen Welt am Abend unter der Schlagzeile „12 Selbstmorde ... Hunger“ ein Artikel, der das „Selbstmordproblem“ auf die wirtschaftliche Notlage in der Weimarer Republik zurückführte und behauptete, die KPD werde dieses beseitigen: Es vergeht kaum eine Stunde mehr, ohne daß sich in Berlin Menschen das Leben nehmen. Am gestrigen Tage haben sich sieben Menschen aus Verzweiflung aus dem Leben geschafft, darunter Ehepaare, ein stellungsloser Ingenieur, ein achtzehnjähriges Mädchen. [...] Die Selbstmordziffern steigen, wie das Elend steigt; denn sie sind zum allergrößten Teil die Folgen der Politik des kleineren Uebels, der Notverordnungen, des Abbaus, der Massenarbeitslosigkeit. Heute und morgen werden den Aermsten der Armen wiederum die Wohlfahrtsunterstützungen gekürzt, die Mieten aber erhöht. Es wird Zeit, daß jeder bei den kommenden Wahlen dazu beiträgt, Schluß zu machen mit diesen Zuständen.53

Aber auch konservativ orientierte Zeitungen machten die Zustände in der Weimarer Republik für die steigenden Suizidzahlen verantwortlich, wie die folgenden zwei Beispiele exemplarisch illustrieren sollen: In der katholischen Tageszeitung Das bayerische Vaterland erschien am 24. Juni 1924 ein Artikel, der ebenfalls den Titel „Selbstmordepidemie“ trug. Auch darin war die Rede von einer „seit den letzten Jahren schrecklich um sich greifende[n] Selbstmordepidemie.“54 Der Beitrag argumentierte mit der ökonomischen Lehre von Adam Smith (1723–1790), die besagt,   51 Zu Suizid und Krise in der Weimarer Peublik vgl.: Föllmer (2009): Suicide and Crisis. 52 Vgl. hierzu auch die Analyse bei Goeschel: Goeschel (2011): Selbstmord im Dritten Reich, S. 41–50. 53 N.N. (1932a): 12 Selbstmorde in 30 Stunden. 54 N.N. (1924): Selbstmordepidemie, in: Das bayerische Vaterland, 24.06.1924.  

Selbsttötungen in der Weimarer Republik

261

dass sich der Reichtum einer Nation am Wachstum seiner Bevölkerung zeige und nimmt dies zum Anlass die Weimarer Demokratie in Frage zu stellen: Kann die „glorreiche Novemberrepublik“ noch ein drastischeres Argument für ihre ganze Jämmerlichkeit liefern als durch die zunehmende Selbstmordquote? Die Schuld an den vielen Selbstmorden trifft indirekt und mit Zentnerschwere jene Leute, welche die Munitionsstreiks angezettelt, die Revolution gemacht, den Versailler Schandvertrag und damit all das umfängliche Elend über unser einst so herrliches Vaterland gebracht haben.55

Dieses Zitat zeigt deutlich die Ablehnung der ersten deutschen Demokratie und die Rückbesinnung auf das deutsche Kaiserreich, das hier als „einst so herrliches Vaterland“ glorifiziert wird. Das Bamberger Volksblatt, das größter Organ der Zentrumspartei in Ober- und Mittelfranken machte im Jahre 1929 die Folgen des Ersten Weltkrieges und die daraus resultierende wirtschaftliche Situation für die seit 1923 steigende Suizidrate verantwortlich. So seien Selbstmorde ganzer Familien „[s]päte Opfer des verlorenen Krieges, der Inflation, der schändlichen Fron, die wir auf uns nehmen mußten, Gefallene des Krieges nach dem Kriege.“56 Auch die Nationalsozialisten argumentierten ähnlich, um die Weimarer Republik in Verruf zu bringen. Adolf Hitler (1889–1945) machte in seiner Reichstagsrede vom 17. Mai 1933 den Versailler Vertrag und Reparationszahlungen nicht nur für die wirtschaftlichen Probleme der Weimarer Republik verantwortlich: „Seit dem Tage der Unterzeichnung dieses Vertrages [...] haben sich in unserem deutschen Volk fast nur aus Not und Elend 224 900 Menschen mit freiem Willen das Leben genommen, Männer und Frauen, Greise und Kinder!“57 Die Suizidproblematik wurde aber nicht erst seit Hitlers Rede im Reichstag diskutiert. Bereits ab Mitte der 1920er Jahre stand das Thema auf der politischen Agenda.58 So befasste sich etwa der Haushaltsauschuss des Reichstages in einer Sondersitzung am 25. Mai 1925 mit Suiziden in der Reichswehr. 1924 hatten sich 133 Soldaten suizidiert und 27 einen Suizidversuch unternommen.59 Auch der sozialpolitisch progressive Abgeordnete Prof. Dr. Dr. Dr. Wilhelm Kahl (1849–1932) von der Deutschen Volkspartei machte die krisenhafte Situation in der Weimarer Republik für die vermehrten Selbsttötungen verantwortlich: Durch unser ganzes Volk geht gegenwärtig ein seelischer Tiefstand, eine mangelnde Widerstandsfähigkeit gegen die neuen, schwer tragbaren Zustände. Die Achtung vor dem Leben ist gemindert. Diesen Tatbestand müssen wir überwinden.60

  55 Ebd. 56 Burgert (1929): Familienselbstmord, in: Bamberger Volksblatt, Nr. 82, 1929. 57 Domarus (1973): Hitler. Reden und Proklamationen 1932–1945 (Erster Halband 1932–1934), S. 279. 58 Eine Auswertung der Reichstagsprotokolle zur Selbstmordthematik steht noch aus. Ich plane diese im Rahmen meiner Dissertation durchzuführen. 59 N.N. (1925a): Selbstmorde bei der Reichswehr. 60 Ebd. Im Protokoll der Ausschusssitzung ist dieses Zitat nicht vermerkt. Die Augsburger Postzeitung bezog sich hier vermutlich auf mündliche Aussagen von Ausschussmitgliedern gegenüber der Presse. Vgl. BArch 101/1370 Ausschuß für den Reichshaushalt 55. Sitzung, 25.05.1925.

262

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Der Abgeordnete thematisierte allerdings nicht, wie dem „Selbstmordproblem“ zu begegnen sei. Die sich in der Weimarer Republik etablierende Suizidprävention und -fürsorge wurde im lokalen Kontext und nicht im Reichstag verhandelt. 3. SUIZIDPRÄVENTION UND -FÜRSORGE IN DER WEIMARER REPUBLIK Die Reichshauptstadt stand im Suiziddiskurs der Weimarer Republik wegen ihrer hohen Suizidrate oft im Fokus der Berichterstattung. Am 12. November 1925 erschien im Lokalblatt Der Berliner Westen ein Artikel, der abermals von einer „Selbstmordepidemie“ in Berlin berichtete und praktische Maßnahmen dagegen forderte: Für Groß-Berlin ist angesichts der furchtbaren, fort und fort Opfer heischenden Selbstmordepidemie die Gründung eines Anti-Selbstmord-Bureaus eine bedeutsame Zeitfrage; es ist eine unabweisbare Forderung des Tages, und mit Sicherheit ist anzunehmen, daß unser Volk trotz Krieg und Blutvergießen, trotz Massenmord und Revolution noch nicht so verroht und gleichgültig wurde, daß der freiwillige Tod nicht doch Menschenleben rühren und wahre Menschenfreunde zur Hilfe aufzurufen vermöchte [...].61

Das Berliner „Antiselbstmordbüro“ war allerdings schon im Juli desselben Jahres eröffnet worden. Ein Artikel im Berliner Tageblatt hatte dies am 20. August 1925 bekanntgegeben.62 Bereits am 15. Januar 1925 hatte sich in Berlin, unter Vorsitz des evangelischen Theologen Gerhard Füllkrug, die „ständigen Kommission zur Bearbeitung der Selbstmordfrage“ gegründet. Diese bestand aus Repräsentanten der Inneren Mission, Vertretern der evangelischen und katholischen Kirchenbehörden, des Hauptwohlfahrtsamtes, der Berliner Stadtmission, des katholischen Caritasverbandes, des Jugend- und Wohlfahrtsamtes der Jüdischen Gemeinde, der Heilsarmee, des Polizeipräsidiums und der Krankenhausfürsorge.63 Die Zusammensetzung der Kommission verdeutlicht nicht nur deren interkonfessionelle Basis, sondern zeigt auch, dass das Phänomen des Suizids in der Weimarer Zeit als ein gesamtgesellschaftliches Problem wahrgenommen und auch so behandelt wurde. In Absprache mit der Kommission wandelte die Berliner Stadtmission zum 1. Juli 1925 ihre bisher bestehende „Auskunftstelle für Armensachen“ in die „Soziale Hilfe“ um. Diese beinhaltete neben einer Arbeitsvermittlung und einer Schreibstube für arbeitslose „Kaufleute und Angehörige des Mittelstandes“ auch die „Beratung Verzweifelter und Lebensmüder“ – das sogenannte „Antiselbstmordbüro“.64 Drei hauptamtliche Mitarbeiter und eine ehrenamtliche Helferin standen „von morgens um 8 Uhr bis abends um 7 Uhr“ zur Verfügung, zwei der Mitarbeiter unternahmen   61 62 63 64  

Rheinebner (1925): Vom freiwilligen Tode, in: Der Berliner Westen, 12.11.1925. N.N. (1925c): Das Antiselbstmordbureau. ADE CA G Nr. 1206 I, Selbstmord. Kommission Vol. 1, 1924–1929. Ebd.

Selbsttötungen in der Weimarer Republik

263

Hausbesuche.65 Die Presse mokierte sich allerdings über die periphere Lage am Johannistisch 5 in Berlin-Kreuzberg, wo das Büro nur „über Treppen und Treppchen“ zu erreichen sei.66 Trotzdem wurde das „Antiselbstmordbüro“ – auch wegen der Berichterstattung in den Zeitungen anlässlich seiner Eröffnung – sehr stark frequentiert: „Was wir seitdem erlebten an Not, Verzweiflung und Menschenelend – dafür fehlen uns die Worte. Ein fast übermenschlicher Kampf setzte für unsere kleine Stelle ein“, berichtete ein Mitarbeiter der Berliner Stadtmission im September 1925.67 Glaubt man dem Artikel im Berliner Tageblatt, so fanden Hilfesuchende umgehend praktische Unterstützung. Sie erhielten Essen und Kleidung, Erwerbslose wurden „in der Schreibstube“ „gegen anständiges Entgelt beschäftigt“.68 Die Berliner Stadtmission begriff ihr Angebot als „soziale Beratung, die jede blosse Abfertigung zu vermeiden sucht und auf individuelle Behandlung eingestellt ist.“69 Das ist angesichts des Andrangs von 50–60 Menschen täglich schwer vorstellbar. Rasch wurde das Personal aufgestockt. Bereits im Dezember 1925 wurden zwei weitere feste Mitarbeiter eingestellt. Binnen drei Monaten hatte die „Soziale Hilfe“ rund 1.000 Hilfesuchende aktiv betreut, zum Teil auch finanziell unterstützt sowie 220 Menschen in Arbeit gebracht. Allein in der Schreibstube waren 80 Menschen beschäftigt. Unter den Hilfesuchenden, die die Beratungsstelle täglich aufsuchten, waren durchschnittlich 6–10 „schwere Fälle“, die „wirklich Beratung Lebensmüder beanspruchen“, heißt es in einem Bericht aus dem Jahre 1925.70 Das „Antiselbstmordbüro“ war nicht die einzige Einrichtung dieser Art in der Reichshauptstadt. Auch das evangelische Hauptwohlfahrtsamt (Pallasstraße 8–9, Berlin-Schöneberg) und die Heilsarmee (Dresdenerstraße 34–35, Berlin-Kreuzberg) berieten suizidale Menschen und waren wohl ähnlich stark frequentiert. Dennoch musste die „Kommission zur Bearbeitung der Selbstmordfrage“ im Februar 1927 feststellen, dass es „auch dort nur möglich [sei], in ganz dringenden Fällen zu helfen. Die Abteilungen der Heilsarmee sind sehr überlaufen“.71 In der zeitgenössischen Presse waren aber nicht nur positive Berichte über die städtische und kirchliche Suizidprävention zu lesen. Im September 1930 erschien der Erfahrungsbericht des Journalisten Fritz Reppo in der kommunistischen Zeitung Berlin am Morgen.72 Der Journalist hatte sich als verzweifelter Selbstmordkandidat bei den „Stationen der christlichen Nächstenliebe“ vorgestellt. Zuerst begab er sich in Füllkrugs Büro im feinen Berliner Vorort Dahlem. Dort traf er nur die Frau Füllkrugs an, die ihn mit ein paar Wurststullen sowie zwanzig Pfennig abspeiste und   65 66 67 68 69 70 71 72  

Ebd. Rheinebner (1925): Vom freiwilligen Tode, in: Der Berliner Westen, 12.11.1925. ADE CA G Nr. 1206 I, Selbstmord. Kommission Vol. 1, 1924–1929. N.N. (1925c): Das Antiselbstmordbureau. ADE CA Nr. 1206aI, Selbstmord. Preisausschreiben, 1925–1930. ADE CA G Nr. 1206 I, Selbstmord. Kommission Vol. 1, 1924–1929. Ebd. Reppo (1930): Erlebnisse eines Selbstmordkandidaten, in: Berlin am Morgen, 18.09.1930.

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ihm riet, er möge auf die „göttliche Barmherzigkeit“ vertrauen und zum Wohlfahrtsamt gehen.73 Als nächstes ging Reppo zur „Sozialen Hilfe“ der Berliner Stadtmission am Johannistisch, wo ihm der Stadtmissionar vorwarf „Mensch, Sie klagen ja wie ein altes Weib“, ihm aber anbot zwei Tage im Missionshaus zu wohnen.74 Schließlich versuchte Reppo sein Glück in der Stadtmission des Arbeiterbezirks Moabit, wo ihm der Pastor empfahl sich im Gebet zu üben, ihm 50 Pfennig gab und ihn wegschickte. So verwundert es nicht, dass der Journalist resümierte, mit der „christlichen Wohlfahrt“ sei es nicht weit her. Es wäre jedoch voreilig, die Arbeit der Berliner „Antiselbstmordkommission“ deshalb grundsätzlich in Frage zu stellen. Ungeachtet aller Unzulänglichkeiten bildete das von der Berliner Kommission initiierte interkonfessionelle Beratungs- und Hilfsangebot eine „fortschrittliche Form der Suizidprophylaxe“.75 Doch die finanzielle Situation der Berliner „Antiselbstmordkommission“ wurde immer prekärer. Gerhard Füllkrug rief im Februar 1933 im Berliner Westen dazu auf, dass der Arbeitsgemeinschaft Persönlichkeiten beitreten sollen, „die wirtschaftlich und durch ihre Lebenserfahrung in der Lage sind, uns zu unterstützen.“76 Im Mai 1933 wies er die Mitglieder der Kommission sogar an: „Jeder soll versuchen, in seinem Bekanntenkreise Freunde für die Arbeit zu gewinnen, die durch kleine Geldspenden die Arbeit unterstützten.“77 Dass Füllkrug plante, in seiner Privatwohnung eine Beratungsstelle für Lebensmüde einzurichten, verdeutlicht die finanzielle Notlage der Kommission eindrücklich. Die Machtübernahme der Nationalsozialisten im Januar 1933 ließ die Mitglieder der Berliner Kommission – aufgrund der Versprechen Hitlers – zunächst auf zusätzliche finanzielle Unterstützung hoffen. Gerhard Füllkrug spekulierte auf eine persönliche Verhandlung mit Goebbels, doch zu dieser Unterredung kam es nie. Die NS-Volkswohlfahrt teilte der Kommission im August 1933 mit, „dass nach den neuen Richtlinien die Betreuung der Lebensmüden nicht zu ihren Obliegenheiten gehöre“ und sich der Arbeitsausschuss „mit den kirchlichen Wohltätigkeitsorganisationen“ in Verbindung setzen solle.78 In der NS-Zeit unternahmen die staatlichen Stellen wenig, um Suizide zu verhindern, denn aus Sicht der Nationalsozialisten hatten die Menschen nun keinen Grund mehr, sich zu suizidieren. Der Suizid wurde aus der politischen und sozialen Tagesordnung genommen. Von einer abnehmenden Suizidrate im Nationalsozialismus kann jedoch keine Rede sein, die Zahlen blieben auch nach 1933 auf hohem Niveau und stiegen von 1936 bis 1939 weiter an (für die Zeit danach sind keine statistischen Daten verfügbar).79 Einige Zahlen   73 74 75 76

Ebd. Ebd. Baumann (2001): Geschichte des Suizids, S. 335. N.N. (1933): Lebensüberdruß wird erforscht. Eine interkonfessionelle Arbeitsgemeinschaft in Dahlem, in: Der Berliner Westen, 12.02.1933. 77 ADE CA/G Nr. 350, Hilfe für Lebensmüde, 1927–1932. 78 Ebd. 79 Vgl. Goeschel (2005): Geschichte der Selbsttötung im Nationalsozialismus, S. 180–181.  

Selbsttötungen in der Weimarer Republik

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mögen dies illustrieren: 1932 nahmen sich im Deutschen Reich 18934 Menschen das Leben, 1936 waren es 19288 und 1939 begingen 22273 Personen Suizid.80 Die von den Nationalsozialisten propagierte Idee einer von Suizid und sozialer Not befreiten Volksgemeinschaft blieb mithin bloße Ideologie. 4. FAZIT Selbsttötungen sind in Deutschland heute kein Thema mehr, das die Öffentlichkeit beunruhigt, weil sie als medizinisches bzw. psychiatrisches Problem betrachtet werden. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts hingegen erregte das Phänomen die Gemüter. Der Suizid wurde breit diskutiert, in Tagespresse ebenso wie in Kirche, Medizin und Politik. Wie die vorangegangene Analyse des Suiziddiskurses gezeigt hat, wurde die ab Mitte der 1920er Jahre steigende Selbsttötungsrate in einen direkten Zusammenhang mit der sozialen, politischen und wirtschaftlichen Situation in der Weimarer Republik gebracht. Der Selbstmord diente als Projektionsfläche des gesellschaftlichen Krisenbewusstseins und wurde mit den als belastend empfundenen Veränderungen der Moderne, wie etwa der Urbanisierung, assoziiert.81 Es fand eine Verknüpfung der Selbstmordthematik mit dem zeitgenössischen Krisendiskurs der Weimarer Zeit statt. Der Selbstmord wurde vor allem von den Zeitungen der linken und rechten politischen Lager zu einem Symptom der Krise der Weimarer Republik stilisiert, das sie mit ihren alternativen Ordnungsentwürfen zu lösen versprachen. Das „Selbstmordproblem“ wurde in der Weimarer Republik als ein gesamtgesellschaftliches verstanden und behandelt, was sich nicht zuletzt daran zeigt, dass Politiker im Reichstag darüber verhandelten und kommunale Stellen Maßnahmen in der Suizidprävention sowie -fürsorge ergriffen. Das Berliner „Antiselbstmordbüro“ war eingegliedert in die „Soziale Hilfe“ der Berliner Stadtmission, die u.a. eine Arbeitsvermittlung enthielt. Dies verweist darauf, dass der Suizid in der Weimarer Zeit auch im Kontext sozialer Fragen verhandelt wurde. Doch trotz der gesamtgesellschaftlichen Beachtung der Selbstmordthematik, verstärkte sich das Problem weiter. Ein Grund hierfür mag u.a. die Unterfinanzierung von Präventionsund Fürsorgeeinrichtungen, wie etwa der Berliner „Kommission zur Bearbeitung der Selbstmordfrage“ gewesen sein. Die Gedankenfigur einer „Selbstmordepidemie“ war omnipräsent im Suiziddiskurs der Weimarer Zeit und es wurde immer wieder auf den Ansteckungs- und Nachahmungseffekt hingewiesen, der den Selbsttötungen innewohne. Auch wenn von einer Epidemie im eigentlichen Sinne nicht die Rede sein kann, verdeutlichen die steigenden Zahlen in der Suizidstatistik der 1920er und frühen 1930er Jahre eindrücklich, dass der Suizid in der Weimarer Republik nicht nur ein diskursiv erzeugtes Phänomen war, sondern eine für die Zeitgenossen erfahrbare Tatsache. Die ausgiebige Thematisierung von Selbsttötungen in der Weimarer Presse sowie der   80 Vgl. Baumann (2001): Geschichte des Suizids, S. 368. 81 Vgl. ebd, S. 11.

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Auf- und Ausbau eines Beratungs- und Hilfsangebotes für suizidale Menschen deuten ferner darauf hin, dass die Enttabuisierung des Suizids in der Weimarer Republik weiter voranschritt und dieser deshalb für viele einen leichter gangbaren Weg darstellte als noch im Kaiserreich. QUELLEN Archiv für Diakonie und Entwicklung: ADE CA G Nr. 1206 I, Selbstmord. Kommission Vol. 1, 1924–1929. Archiv für Diakonie und Entwicklung: ADE CA Nr. 1206aI, Selbstmord. Preisausschreiben, 1925– 1930. Archiv für Diakonie und Entwicklung: ADE CA/G Nr. 350, Hilfe für Lebensmüde, 1932–1927. Bundesarchiv: BArch 101/1370 Ausschuß für den Reichshaushalt 55. Sitzung, 25.05.1925.

LITERATUR Baumann, Ursula: Vom Recht auf den eigenen Tod. Die Geschichte des Suizids vom 18. bis zum 20. Jahrhundert, Weimar 2001. Berlin-Brandenburg, Amt für Statistik: Statistischer Bericht A IV 10 - j / 14. Sterbefälle nach Todesursachen in Berlin 2014, Potsdam 2016. Burgert, Helmut: Familienselbstmord, in: Bamberger Volksblatt, Nr. 82, 1929. Cobb, Richard: Tod in Paris. Die Leichen der Seine, Stuttgart 2011. Domarus, Max: Hitler. Reden und Proklamationen 1932–1945 (Erster Halband 1932–1934), Wiesbaden 1973. Durkheim, Émile: Der Selbstmord, (= Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft, Bd. 431), Frankfurt am Main 1983. Föllmer, Moritz: Suicide and Crisis in Weimar Berlin, in: Central European History 42 (2009) 2, S. 195–221. Ders. / Graf, Rüdiger (Hrsg.): Die „Krise“ der Weimarer Republik. Kritik eines Deutungsmusters, Frankfurt am Main 2005. Füllkrug, Gerhard: Der Selbstmord in der Kriegs- und Nachkriegszeit. Eine moralstatistische Untersuchung Schwerin 1927. Ders.: Fürsorge für die Lebensmüden, in: Gesundheitsfürsorge. Zeitschrift der evangelischen Kranken- und Pflegeanstalten 7 (1933) 5, S. 101–103. Goeschel, Christian: Methodische Überlegungen zur Geschichte der Selbsttötung im Nationalsozislismus, in: Andreas Bähr / Hans Medick (Hrsg.): Sterben von eigener Hand. Selbsttötung als kulturelle Praxis, Köln 2005, S. 169–189. Ders.: Selbstmord im Dritten Reich, Berlin 2011. Gruhle, Hans Walter: Selbstmord, Leipzig 1940. Kittel, Manfred: Moritz Föllmer / Rüdiger Graf: Die „Krise“ der Weimarer Republik, in: Sehepunkte. Rezensionsjournal für die Geschichtswissenschaften 5 (2005) 11, http://www.sehepunkte.de/2005/11/7924.html, letzter Zugriff: 25.09.2016. Kolb, Eberhard / Schumann, Dirk: Die Weimarer Republik, (=Oldenbourg Grundriss der Geschichte, Bd. 16), 8. Aufl., München 2013. Korte, Helmut (Hrsg.): Film und Realität in der Weimarer Republik, München, Wien 1978. Krebs, Pauline: Selbstmord auf der Leinwand. Umgang mit einem gesellschaftlichen Tabu im Film der 20er Jahre, Saarbrücken 2011. Krug, Etienne G., et al.: World report on violence and health, Genf 2002.

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EIN NEUER ALLTAG FÜR DEN NACHWUCHS? BILDUNG, SCHULUNG, UNIVERSITÄT

VON „STAATSBÜRGERAUSBILDUNG“ UND „KADERSCHMIEDEN“ Die Parteischulen der Weimarer Republik Ronny Noak 1. DURCH SCHULUNG ZUR POLITIK? DIE BEDEUTUNG VON PARTEISCHULEN IN DER DEUTSCHEN GESCHICHTE Mit dem Ende des Kaiserreiches, der Ausrufung der Republik 1918 und dem daran anschließenden Aufbau einer parlamentarischen Demokratie in Deutschland weitete sich das Tätigkeitsfeld der politischen Parteien aus. Durch Schaffung einer vom Vertrauen des Reichstags abhängigen Regierung und der Demokratisierung von Verwaltung und Gesellschaft konnten die Parteien in der Weimarer Republik ihre Einflussmöglichkeiten steigern. Sie wurden maßgebend zuständig für die Ausarbeitung von Gesetzesentwürfen, bei der Bildung von Regierungen und bei der Artikulierung, Transferierung und Organisierung des Gemeinwillens in die staatlichen Institutionen, beispielsweise durch die Besetzung öffentlicher Ämter.1 Im neu geschaffenen „Parteienstaat“2 oblag es ihnen außerdem, politische Zielsetzungen zu entwerfen und diese zur Umsetzung zu bringen.3 Dabei erfolgte dies insbesondere in Abgrenzung von anderen Parteien und Interessenverbänden.4 Mit der Konstituierung der ersten Republik in Deutschland wurden die Parteien damit das verbindende Element zwischen Staat und Gesellschaft. Der Zugewinn an Kompetenzen bedeutete aber auch, dass das politische Leben nicht mehr primär auf Wahlkampfzeiten beschränkt war. Der politische Wettkampf wurde vielmehr zur täglichen Arbeit der Parteien. Beide Faktoren erhöhten den Bedarf an ausgebildetem Personal. Folgerichtig wurde eine Ausbildung der Mitglieder und Anhänger für diese neu geschaffenen Aufgaben notwendig und somit zu einer Kernaufgabe der Parteien.5 Durch Wissen, Erprobung und Bewährung sollten befähigte Personen zur Staatsführung herausgebildet werden. Es galt zuvorderst, die   1 2 3 4 5  

Zur Bedeutung und Funktion der Parteien in der Weimarer Republik vgl. Gusy (1993): Parteienstaat und Boldt (1997): Stellung, S. 52 f. Eine Zuschreibung, die sowohl positiv als auch negativ konnotiert gewesen sein konnte. Vgl. Conze (1979): Parteien, S. 3. Zum Parteiensystem im Zeitraum von 1918 bis 1933 vgl. u.a. Mommsen (1998): Aufstieg und Büttner (2008): Weimar. Vgl. Morlok (2010): Politische Chancengleichheit, S. 22–24. Vgl. Gusy (1993): Parteienstaat, S. 64.

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geschaffene parlamentarische Demokratie mit Leben zu füllen. So entsprang der Appell: „Die Schläfrigkeit muß gründlich beseitigt werden. In einem Volksstaate müssen eben alle denken. Jeder muß arbeiten. Wie das Arbeiten gelernt werden muß, so muß auch das Politisieren gelernt werden. Also Schulung.“6 Wollten die Parteien diesem Anspruch und den neu geschaffenen Aufgaben gerecht werden, mussten sie entsprechende Institutionen zur Schulung schaffen. Diese lassen sich unter dem Begriff der Parteischulen subsumieren. Die Bedeutung und Funktionsweise von Parteischulen ist der wissenschaftlichen Forschung dabei keinesfalls fremd. Weniger beachtet, allerdings in der deutschen Geschichte der erste Ausdruck einer Bildungsinstitution für Parteimitglieder, bestand die Parteischule der Sozialdemokratie bereits in der Zeit des Kaiserreiches. 1906 gegründet, wurde hier erstmals der Versuch unternommen, Funktionären eine Unterrichtung in politischen Themen zu ermöglichen und sie mit dem „Rüstzeug“ für Karrieren in Politik und Partei auszustatten. Galt diese Schule zunächst mehr als Ausdruck einer einsetzenden umfassenden Arbeiterbildung denn als Institution zur Funktionärsausbildung,7 so zeigte Wilhelm Heinz Schröder, dass ihr Besuch nahezu ein Garant für eine Anstellung als Funktionär in der Partei oder für die Wahl zum Abgeordneten wurde.8 Die Parteischule erweiterte damit die klassische Arbeiterbildung, welche die fehlende schulische Ausbildung eines Arbeiters kompensieren sollte, nicht nur, sondern schuf ein neues Betätigungsfeld. Wissenschaftlich untersucht wurden bisher vor allem die Parteischulen in autoritären und antidemokratischen Regimen. Erkenntnisse gab es diesbezüglich vor allem hinsichtlich der Frage, ob und in welchem Ausmaß Parteischulen bei der Stabilisierung und der Durchsetzung der Ideologie des Nationalsozialismus und beim Aufbau des Realsozialismus der Deutschen Demokratischen Republik mitwirkten. Für die NS-Zeit zeigte sich dabei, dass die 1933 einsetzende und nahezu alle Lebensbereiche erfassende Schulungsarbeit in der NSDAP sowohl die Legitimation und Unterstützung für den Weltkrieg als auch den Holocaust steigerte. Umfassend untersucht ist dabei vor allem die Schulungsarbeit in der SS der NSDAP. Diese habe explizit das Ziel verfolgt, durch intensive weltanschauliche Schulungsarbeit die „Avantgarde des Nationalsozialismus“9 zu bilden. Dabei wirkte die Schulung, indem sie „den legitimatorischen Rahmen“ ausbildete, „der das Überschreiten zivilisatorischer Grenzen erleichterte.“10 Für die weiteren Untergliederungen in der NSDAP galt vor allem, dass eine langfristige Schulung dem Aufstieg in diesen häufig vorausging.11

  6 7 8 9 10 11  

Lehrer Holz auf der Heide (1921): Parteischule, S. 72. So bei Grebing (1970): Arbeiterbewegung, S. 107. Vgl. Schröder (1999): Politik als Beruf?, S. 42. Harten (2014): Himmlers Lehrer, S. 41. Vgl. ebd. zur Schulung in der SS. Ebd., S. 10. Vgl. Wegehaupt (2012): „Haß“.

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Das zweite umfassend betrachtete Themenfeld ist die Arbeit der SED-Parteischulen. Hier zeigten die Untersuchungen, dass die ideologische Schulung und Ideologiefestigung in den Parteischulen einen weiten Raum einnahm. Vor allem die Frühphase der DDR rückte dabei in den Fokus, da hier der ideologische und personelle Grundstock für den Staatsaufbau gelegt wurde.12 Jüngst wurden auch lokale Parteischulen als Räume, in denen Herrschaftspraktiken ein- und ausgeübt wurden, untersucht.13 Dabei zeigte sich, dass in den Schulen der SED durchaus die Möglichkeit der Diskussion und geringfügigen Revisionen der vorgegebenen Narrative und des Unterrichtsinhalts durch die Schüler möglich war. Beide Parteien, sowohl NSDAP als auch SED bzw. KPD, konnten dabei während ihrer Herrschaftsphase auf Erfahrungen aufbauen, die ihre Mitglieder im Rahmen der ersten deutschen Demokratie gemacht hatten. Sie hatten bereits zu Beginn der 1930er Jahre über „Kaderschmieden“ verfügt, in denen die Parteigänger geschult wurden. Dies war allerdings ebenso kein Alleinstellungsmerkmal. Vielmehr hatten bis zum Beginn der 1930er Jahre nahezu alle bedeutsamen Parteien der Weimarer Republik14 die Bildung, Unterrichtung und Schulung der eigenen Mitglieder als wesentliche Einwirkungsmöglichkeit und Kernaspekt ihrer alltäglichen Parteiarbeit begriffen. So versuchten die Parteien auf unterschiedlichstem Wege ihre Anhänger für den politischen Wettbewerb zu schulen, sei es durch die Ausbildung zu mündigen Parteimitgliedern und Staatsbürgern oder durch die Schaffung einer einheitlichen und ideologisch gefestigten Parteifunktionär- und Mitgliederbasis, die zur direkten Umsetzung der politischen Programme ausgebildet wurde.15 In diesem Beitrag wird anhand zweier ausgewählter Themenfelder – den begrifflichen Differenzierungen und den institutionellen Ausprägungen der Schulungsarbeit – ein Einblick in die heterogene Schulungsarbeit der Parteien anhand der aufgezeigten Differenzen in Selbstverständnis und Umsetzung gegeben.16 Damit eröffnet die Arbeit einen Blick auf die Binnenorganisation und -arbeit von Parteien. Hier lassen sich Entscheidungsfindungen, Führungsprozesse und das Zustandekommen sowie   12 Vgl. Kluttig (1997): Parteischulung sowie Schmeitzner (2001): Schulen der Diktatur. 13 Vgl. Kiepe (2016): Revolution. 14 Unter Betrachtung der Faktoren Mitgliederzahlen, Erfolg bei Wahlen, Regierungsbeteiligung, Existenzdauer und Vertretung auf Reichsebene lassen sich die folgenden Parteien als die bedeutsamsten der Weimarer Republik klassifizieren: Deutsche Demokratische Partei (DDP), Deutschnationale Volkspartei (DNVP), Deutsche Volkspartei (DVP), Kommunistische Partei Deutschlands (KPD), Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei (NSDAP), (Mehrheits)Sozialdemokratische Partei Deutschlands ((M)SPD) und die Zentrumspartei (Z). 15 Darunter ließe sich vor allem ein von Carsten Krinn als „edukationistisch“ bezeichnetes Vorgehen fassen, das den zu Unterrichtenden jedoch in seiner Mündigkeit einschränkt. Vgl. Krinn (2007): Emanzipation, S. 36 und S. 580. 16 Dies kann hier nur umrissartig erfolgen, wobei vor allem die Differenzen bezüglich der Parteischulen herausgearbeitet werden. In dem bis Ende 2018 abgeschlossenen Dissertationsprojekt werden diese und weitere Fragen in größerer Ausführlichkeit betrachtet werden können.  

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die Durchsetzung von Programmatiken erklären. Während Parteien bisher vorwiegend bezüglich ihrer Programmatik und ihrer Einwirkung bei politischen Entscheidungsprozessen untersucht wurden17, vermag der Blick in die Parteien festzustellen, wie diese Programme entstehen und welche Faktoren zu ihrer Umsetzung beitragen. Ebenso stehen Wechselwirkungen zwischen Parteispitze und -basis damit im Fokus. Eine zentrale Rolle bei diesen Prozessen kann den Parteischulen zugesprochen werden. Quellengrundlage der Untersuchung bilden neben den von den Parteien herausgegebenen Periodika, die sich vor allem der Veranstaltungsankündigung und Nachberichterstattung widmeten, interne Parteirundschreiben und Protokolle sowie Nachlässe der Lehrer und Teilnehmer. 2. ANNÄHERUNG AN EIN PHÄNOMEN – DIE BEZEICHNUNGEN DER SCHULUNGSARBEIT Das Schulungssystem der Parteien in der Zeit der Weimarer Republik lässt sich nicht auf den Begriff der Parteischule reduzieren. Ausschließlich eine Institution konnte sich über einen längeren Zeitraum unter diesem Namen etablieren: die „Parteischule Rosa-Luxemburg“ der KPD in Fichtenau. Alle weiteren Parteien verzichteten auf die Schaffung einer expliziten Parteischule.18 Dem Phänomen der Mitgliederschulung muss sich daher auf anderen Pfaden angenähert werden. Wie lässt sich die Ausbildung und Unterrichtung der Parteimitglieder in der Zeit der Weimarer Republik demnach erfassen? Zunächst wird sich hierfür in diesem Kapitel den begrifflichen Ausprägungen und Differenzen der Schulungsarbeit in den einzelnen Parteien gewidmet bevor im anschließenden Kapitel die institutionelle Umsetzung einführend erläutert wird. Die Parteien hatten im Zeitraum von 1918 bis 1933 erstmals die Möglichkeit, ohne staatliche Reglementierung sowohl innerhalb der Partei als auch im vorpolitischen Raum tätig zu werden. Die Schulungsarbeit an den eigenen Mitgliedern und Anhängern wurde dabei von allen Parteien frühzeitig als eines der wesentlichen Betätigungsfelder ausgemacht. Der expliziten Arbeit ging jedoch ebenso eine theoretische Debatte über Formen, Wege und Ziele der Schulung in den Parteien vo-

  17 Vgl. hierzu insbesondere die Bände aus der Reihe: Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien der Kommission für Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien. 18 Die DNVP sprach 1921 von Kursen in einer Parteischule in Detmold. Vgl. Geschäftsbericht der Hauptgeschäftsstelle der Deutschnationalen Volkspartei (Oktober 1920 bis August 1921). In: Bundesarchiv Berlin (BA B), NS 5-VI/682, Bl. 3. Die fehlende Berichterstattung und Bewerbung weiterer Veranstaltungen legt allerdings nahe, dass die Parteischule nur für einen kurzen Zeitraum bestand und keine umfassende Schulungsarbeit vorgenommen wurde.  

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raus. Die Tatsache, dass sich daraus folgend in allen Parteien eigene Begrifflichkeiten für die Schulungsarbeit ausprägten, zeigt, dass es frühzeitig Differenzen in der Art und Weise der Schulungsarbeit gab. Die Sozialdemokratie, die mit der bereits erwähnten Parteischule aus dem Kaiserreich schon Erfahrungen auf dem Gebiet der Mitgliederunterrichtung gemacht hatte, stellte sich zunächst in diese Tradition. Mit dem Begriff der sozialistischen Bildungsarbeit, der bereits vor 1918 Anwendung fand19, verband die SPD weiterhin eine doppelte Aufgabe: zum einen die Arbeiterbildung im Sinne einer umfassenden Allgemeinbildung und gleichzeitig die Ausbildung geschulter Funktionäre zum Einsatz in der eigenen Partei. Trotz der geänderten politischen Rahmenbedingungen war die Ausbildung des Klassenbewusstseins in der Arbeiterschaft als Aufgabe der SPD nicht obsolet geworden. Aufzeigbar ist dies daran, dass das Winterprogramm des Reichsausschusses für sozialistische Bildungsarbeit 1925/26 den Themenkomplex „Arbeiterbildungswesen im Verhältnis zur Bildungstätigkeit von Reich, Staat, Gemeinde und anders gerichteten Organisationen“20 beinhaltete. Sozialistische Bildungsarbeit verstand sich demnach auch als Abgrenzung zu weiteren Bildungseinrichtungen. Dennoch zielte der Begriff gleichsam darauf, die Mitglieder der Partei mit dem nötigen Wissen für das Leben in der Demokratie auszustatten und somit auch für politische und öffentliche Ämter auszubilden. Die fortgeführte Verwendung des Terminus ‚sozialistische Bildungsarbeit‘ lässt somit weniger einen Rückschluss auf den Inhalt der konkreten Arbeit zu, als vielmehr auf das weiterreichende Verständnis von Bildungsarbeit, die sich nicht als ausschließliche Fortsetzung der Parteischule auffassen lässt. Die Zentrumspartei hatte aufgrund ihrer kontinuierlichen Teilhabe an der Reichsregierung in der Zeit von 1919 bis 1932 eine besonders wirkmächtige Position. Initiativen zur Schulung der Parteimitglieder hatten jedoch erst einige Jahre nach der Gründung der Weimarer Republik begonnen. Dabei hatte sich das Zentrum den Begriff der politischen Bildungsarbeit angeeignet. 1927 kam es auf der „Tagung der Parteibeamten“ erstmals zu einem Entschluss, diese Arbeit umfassend in der Zentrumspartei durchzuführen. Entsprungen war der Begriff der politischen Bildungsarbeit allerdings in anderen Institutionen, die parteiunabhängig wirkten. Beispielsweise verstand sich die Reichszentrale für Heimatdienst als Träger der politischen Bildungsarbeit. Daran lässt sich das Selbstverständnis der Bildungsarbeit für die Mitglieder der Partei ablesen. Anstelle einer Parteischule, die der Unterrichtung in der eigenen Weltanschauung dienen sollte, verstand die Parteiführung es als ihre Aufgabe, Wissen über und Verständnis für den Aufbau und die Funktionsweise der Demokratie zu vermitteln. Dieses Selbstverständnis der eigenen Schulungsarbeit entsprang dabei auch aus der 1925 getätigten Empfehlung, die Bildungsarbeit der Partei in Kooperation mit der Reichszentrale für Heimatdienst stattfinden zu   19 Zur Tradition der Arbeiterbildung vgl. Scharfenberg (1989): Sozialistische Bildungsarbeit. 20 Reichsausschuss für sozialistische Bildungsarbeit. Winterprogramm 1925 / 26. In: BA B, R 1507/3061, Bl. 153.  

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lassen.21 Aus dieser wohl pragmatischen Symbiose des Jahres 1925 entwickelte sich schließlich auch das Verständnis über die Parteischulung. Die Ablehnung gegenüber einer weltanschaulich an das Zentrum gebundenen Unterrichtung wirkte dabei bis in die Reihen der eigenen Jugendorganisation. So wurde im Verbandsorgan in einem Aufsatz mit dem Titel:„Macht eure Parteischulen zu, wir wollen politische Schulen“22 die Bedeutung der eigenen Schulungsarbeit diskutiert. Parteischulen dürften dabei nicht allein in der dogmatischen Unterrichtung verharren, so das Ergebnis. Die DDP, neben SPD und Zentrum die dritte Partei der „Weimarer Koalition“, verwendete für ihre Schulungsarbeit im Sinne einer Parteischule vor allem die Begriffe der staatsbürgerlichen Ausbildung und der staatsbürgerlichen Erziehung. Gleiches gilt für die DVP. Die Anhänger beider Parteien lassen sich im liberalen Milieu verorten, insbesondere das (Bildungs-)Bürgertum zählte zu den Unterstützern. Mit der Staatsbürgerausbildung verband sich vorwiegend die Möglichkeit der Parteimitglieder, in diesen Kursen „Fragen und Probleme zu erörtern, die sich auf ihre Arbeit im öffentlichen Leben, im engeren Sinne in der Parteipolitik, beziehen.“23 Die Erziehung der Parteimitglieder sollte sich der begrifflichen Orientierung nach demzufolge weniger mit den Parteiprogrammen, vielmehr mit der Einübung demokratischer Verfahrensweisen befassen und dabei vor allem den Erfahrungshorizont der Teilnehmer berücksichtigen und bestehendes Wissen vertiefen. Erst im Anschluss daran stünde die Einführung in parteipolitische Präferenzen. Die DNVP, deren Verhältnis zur Weimarer Republik sich zwischen Regierungsbeteiligung und grundlegender Opposition zum politischen System im Laufe der Zeit mehrfach wandelte, versuchte, in der Schulungsfrage einen ganzheitlichen Anspruch umzusetzen, der den Eindruck der Prägung durch eine Partei vermindern sollte. Hier setzte sich neben dem allgemein gehaltenem Begriff der Schulung der Begriff der Volksbildung oder der Erziehung zur Volksgemeinschaft durch. Die Ablehnung der Weimarer Demokratie wurde in dieser Unterrichtung dadurch ausgedrückt, dass es der DNVP darum ging, „Männer [zu gewinnen, R.N.], die dazu herangebildet sind, wieder einen echten deutschen Nationalstaat aufzubauen.“24 Das Ziel der deutschnationalen Bildungsarbeit bestand nicht so sehr in der Ausbildung für das Wirken in der Partei, sondern sie beabsichtigte vielmehr, durch Unterrichtung in historischen und „völkischen“ Themenkomplexen den deutschen Staat zu hegemonialer Größe zurück zu führen. Die KPD hatte anfangs unter der Bezeichnung Agitation und Propaganda auch die Schulung der eigenen Mitglieder erfasst. Die angedachte Trennung der Begriffe ließ sich jedoch mit der Unterrichtung der eigenen Mitglieder in Weltanschauungsfragen nicht gänzlich in Einklang bringen, da Agitation und Propaganda vor allem   21 22 23 24  

Vgl. o.A. (1925): Zentrumspartei, S. 191. o. A. (1925): Parteischulen, S. 253 f. Belsen (1925): Sommer- und Herbstschulen, S. 164. 5. Arbeitsabend der Staatspolitischen Arbeitsgemeinschaft vom Freitag, den 28. März 1919. In: BA B, R 8005/327, Bl. 8.

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als Gewinnung einer breiten Basis für die Arbeit der KPD verstanden wurden. So entstand– insbesondere in Abgrenzung zur Arbeit gegenüber dem politischen Gegner und als Voraussetzung für eine erfolgreiche Anwendung der Agitation und Propaganda – die Formulierung von der „Hebung des theoretischen Niveaus“25. Diese meinte vor allem, dass die Schriften des Marxismus-Leninismus die zentralen Theorien in der Schulung wurden. Zeitlich korrelierte die Einführung der Notwendigkeit der Hebung des theoretischen Niveaus mit der Übernahme des Parteivorsitzes durch Ernst Thälmann. Auch wenn dieser nicht zu den intellektuellen und theoriegeschulten Vorreitern der Partei gehörte26, zeigt sich daran, welche vermehrte Bedeutung der Schulung in der KPD nun beigemessen wurde. Ein gehobenes theoretisches Niveau in einem geschulten Kader der Partei wurde ab 1925 unter Thälmanns Vorsitz schließlich zur Vorbedingung einer erfolgreichen Revolution bestimmt. Die NSDAP legte in ihrer „Kampfzeit“, die sie selbst als die Zeit bis zur Machtergreifung definierte, keinen herausgehobenen Wert auf eine Schulung für die Partei. Dennoch wurde die Führerschulung oder Führerauslese mit dem Anwachsen der Mitgliederzahlen der Partei als notwendige Aufgabe aufgefasst. Eine klare Vorstellung darüber, auf welchem Wege diese zu erfolgen habe, wurde jedoch kaum entwickelt. Zweierlei Erkenntnisse lassen sich aus den verschiedenen Bezeichnungen der Schulungsarbeit gewinnen. Zum einen wird deutlich, dass sich die Bildungsarbeit zu einem wesentlichen Aspekt der Parteiarbeit ausgeweitet hatte. Die mit der Schaffung der Republik einhergehenden umfassenderen Betätigungsfelder der Parteien und die Bestellung politischer und öffentlicher Ämter bewirkten, dass sich Parteimitglieder für diese Positionen professionalisierten. „Politik als Beruf“ wurde immer häufiger möglich und angestrebt, sodass auch eine Ausbildung hierfür an Bedeutung gewann. Die Parteien verstanden sich als essentielle Instanz zur Durchführung dieser Ausbildung. Gleichsam versuchten die Parteien durch verschiedene Formen der Schulungsarbeit den parteipolitischen Aspekt in unterschiedlichen Ausprägungen in den Vordergrund zu stellen und somit die eigene Arbeit – ähnlich dem politischen Wettbewerb um Wählerstimmen –von den konkurrierenden Parteien abzugrenzen und die Schulung im Sinne der eigenen Programmatik aufzugreifen und einzubinden.

  25 So fand diese Formulierung als Maßgabe Eingang in den Entwurf des Reichsschulungsplans der KPD für das Jahr 1930/31. In: Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz: I. HA. Rep. 77 Ministerium des Innern, St. 18 Nr. 5, Bl. 12. 26 Vgl. Fuhrer (2011): Ernst Thälmann, S. 206–211.

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3. PARTEISCHULUNG OHNE PARTEISCHULEN? DIE INSTITUTIONEN DER FUNKTIONÄRSAUSBILDUNG Entsprechend den unterschiedlichen Auffassungen über Inhalt und Bedeutung der Funktionärsausbildung in den Parteien entwickelten sich auch die Schulungsangebote in Form von unterschiedlichen Praktiken und Institutionen. Doch obwohl sie auf verschiedene Wege die Unterrichtung der Mitglieder vornahmen, hatten sie doch eines gemeinsam: sie sahen ihre Aufgabe in der Schulung der Parteimitglieder, was die Zusammenfassung unter dem Begriff der Parteischule rechtfertigt. Auch wenn sich die Institutionen selbst selten so bezeichneten, verstanden sie sich häufig schließlich als solche. Die Schulung in den Reihen der SPD oblag dem Reichsausschuss für sozialistische Bildungsarbeit. Dieser koordinierte die Entsendung von bis zu drei Wanderlehrern und trug somit für eine reichsweite Schulungsarbeit Sorge. Trotz eines angenommenen Antrages auf dem Parteitag in Kiel 1927, bei dem man sich für die Errichtung einer Parteischule ausgesprochen hatte27, wurde dieses Vorhaben nicht umgesetzt, sodass eine lokal gebundene Parteischule nicht existierte. Die Heimvolkshochschule (HVH) in Tinz bei Gera entwickelt sich allerdings sukzessive zu einer „Kaderschmiede“ der SPD, in der vor allem junge Parteimitglieder in den Bereichen Wirtschafts- und Gesellschaftslehre geschult wurden. Auch die Zentrumspartei hatte zunächst keine feste Institution für die Schulungsarbeit errichtet. So vage der Begriff der politischen Bildungsarbeit definiert war, so variabel agierte auch die Partei auf dem Gebiet der Mitgliedererziehung. Zunächst wirkte das Erbe aus der Verbandsarbeit der Partei im Kaiserreich nach. Katholische Verbände agierten und koordinierten ihre Arbeit mit der Zentrumspartei. Unter anderem integrierte der Volksverein für das katholische Deutschland durch die Abhaltung der „volkswirtschaftlichen und staatsbürgerlichen Kurse“ die Schulungsarbeit für Zentrumsmitglieder in den 1920er Jahren. Sowohl einzelne Lehrer als auch Schüler dieser Kurse stammten aus den Reihen des Zentrums. Erst die Zentralisierung der Bildungsarbeit in der Partei ab 1927 führte auch zu einer innerparteilichen Institution, die sich der Mitgliederschulung annehmen sollte: die Gesellschaft zur Förderung politischer Bildungsarbeit. Doch dieser Einrichtung gelang es kaum, eine eigenständige Schulungsarbeit zu entwickeln. Ausdruck der fehlenden Wirkmächtigkeit der Gesellschaft wurde die Tatsache, dass sie im September 1929 nur 144 Mitglieder verzeichnete.28 So blieben als Schulungsstätten für das Zentrum die parteinahen katholischen Verbände maßgebend. Im Gegensatz zu den sozialdemokratischen Bildungsbestrebungen, die zentral organisiert und koordiniert wurden, entfaltete sich in der Deutschen Demokratischen Partei ein Schulungswesen, das vor allem durch regionale Initiativen ins Le  27 Vgl. Sozialdemokratischer Parteitag (1927): S. 267. 28 Vgl. Gesellschaft zur Förderung politischer Bildungsarbeit. Jahresbericht vom 1. Oktober 1928 bis 30. September 1929. In: BA Koblenz, N 1176/19.

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ben gerufen wurde. Als Format wurden die Demokratischen Herbst- und Sommerschulen gewählt. Hierbei handelte es sich um in unregelmäßigen Abständen stattfindende Wochenendschulungen, die sich meist einem speziellen Thema, beispielsweise Kommunalpolitik, Kulturpolitik oder Völkerbundsfragen, widmeten. Dabei fanden zwischen 1922 und 1927 circa 25 Schulungswochen an verschiedenen Orten statt. Parallel hierzu etablierten sich die Staatsbürgerlichen Ausbildungskurse, welche die Mitglieder der Partei dazu befähigen sollten „im Bekanntenkreise, in ihren Organisationen, in den Betrieben und Geschäften Aufklärung über die politischen Zusammenhänge, über unsere Ideale und ihre Grundlagen zu verbreiten.“29 Zusätzlich übernahm auch die Deutsche Hochschule für Politik in Berlin diese Aufgabe, auch wenn sowohl in der Leitung, als auch im Lehrerkollegium und bei den Studierenden nicht ausschließlich Mitglieder der DDP saßen. Die DVP entwickelte nach bisherigem Kenntnisstand keine eigenständige Schulungsinstitution, sondern beschränkte sich auf die Bewerbung parteinaher oder überparteilicher Veranstaltungen. Vor allem die Ausbildungskurse unter der Mitarbeit von Katharina von Kardorff-Oheimb sollten dabei besucht werden. Eine umfassende Parteischulung initiierte die DVP auch in der Folge nicht. Einer der wesentlichen Gründe hierfür mag darin liegen, dass der DVP die Umwandlung zur Mitgliederpartei nur in geringem Umfang gelang.30 Schließlich kommen aber auch fehlende Ressourcen, die DVP ist hinsichtlich der Wahlergebnisse und Mitgliederzahlen die kleinste der hier untersuchten Parteien31, oder fehlendes Bestreben der Professionalisierung der Parteiarbeit als Erklärungen in Betracht. Ein annähernd identisches Format wie die DDP führten die Deutschnationalen ein. Allerdings begann ihre umfassende Schulungsarbeit zeitlich wesentlich später. Vor allem für die Jahre 1930/31 plante die DNVP eine Unterrichtung der Mitglieder, bei der an mehr als 15 Orten in der Republik Kurse abgehalten werden sollten.32 Zuvor hatten zwar zentrale Schulungswochen stattgefunden und sowohl die Deutschnationale Studentenschaft als auch das Politische Kolleg –aus dem die Deutsche Hochschule für nationale Politik hervorging – unter der Leitung Martin Spahns mit seinen Nationalpolitischen Lehrgängen wirkten als Schulungsstätten für künftige Mandatsträger. Dennoch sorgten die innerparteilichen (Ab-)Spaltungsbewegungen und die Übernahme des Parteivorsitzes durch Alfred Hugenberg nach 1928 für einen erneuten Zuwachs an Schulungsveranstaltungen. Hierbei wollte sich die Partei keinesfalls ausschließlich auf die Gebiete mit den erfolgreichsten Wahlergebnissen oder höchsten Mitgliederzahlen beschränken. Vielmehr unternahm sie den Versuch, im gesamten Gebiet des Reiches Schulungsvorhaben durchzuführen.   29 o.A. (1922): Staatsbürgerliche Ausbildungskurse, S. 597. 30 Vgl. Büttner (2008): Weimar, S. 92. 31 Ihr Maximum von 13,9% der Stimmen bei der Reichstagswahl 1920 wurde mindestens einmal von allen anderen Parteien übertroffen. Der DDP gelang dies allerdings nur bei den Wahlen zur Nationalversammlung 1919. 32 Vgl. Rundschreiben der DNVP vom 30. September 1930, in: BA B, R 8005/245, Bl. 233–236. Durchgeführt wurden allerding nur sieben dieser Kurse. Vgl. Rundschreiben der Parteizentrale der DNVP, Nr. 40, vom 7. November 1930. In: BA B, R 8005/251, Bl. 21.

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Allerdings konnte nicht die gesamte Anzahl der Kurse abgehalten werden, sodass dem Ende der DNVP das Ende ihrer Schulungsarbeit zeitlich vorausging. Die Rosa-Luxemburg-Schule der KPD mag zwar für die Partei die wesentliche Schulungseinrichtung gewesen sein. Ihre Präsenz überstrahlt allerdings die Tatsache, dass die KPD bereits Jahre zuvor den Versuch unternahm, zunächst 1919 in Hanau, dann 1923 in Jena, auf der Burg Hohenstein in der Sächsischen Schweiz und 1928 in Dresden ihre Mitglieder für den Klassenkampf zu schulen. Ging es der Partei in den ersten Jahren der Republik noch um eine Erziehung zum bewaffneten Aufstand mit folgender Revolution, so änderte sich dies mit einer stärkeren Ausrichtung auf die ideologische und theorielastigere Schulung ab 1925, wobei die gewünschte Ausbildung eines Parteikaders eine Zentralisierung nach sich zog. Dass die KPD zusätzlich durch Marxistische Arbeiterschulen (MASCH) den Versuch unternahm, über ihren Mitgliederstamm hinaus Personal zu gewinnen, ist bisher selten aufgenommen worden. 33 Die MASCH sollten dabei vor allem der Gewinnung neuer Mitglieder dienen und diese sowie die Basis der KPD in die Grundlagen des Marxismus-Leninismus einführen. Die NSDAP hatte in ihrer eigenen Historiographie festgehalten: „Die Kampfzeit kannte eine besondere Schulungs- und Erziehungsarbeit innerhalb der Partei nicht. […] Der Kampf mit dem Gegner war Schulung, Bewährung und Auslese zugleich.“34 Dieses Urteil unterschlägt allerdings, dass die NSDAP mit der Ausrichtung auf die Legalitätstaktik ebenso begonnen hatte, ihre Mitglieder zu unterrichten. Im Oktober 1927 hatte Joseph Goebbels die Schule für Politik in Berlin ins Leben gerufen. Hier sprach dieser unter anderem persönlich zu dem Thema „Erziehung und Führerschicht“35 und bereitete somit den Weg zur Auslese einer kommenden Elite der Nationalsozialisten selbst vor. Mit der Reichsführerschule der SA, gegründet 1931, schuf die Partei schließlich eine Schulungsinstitution, die einer Parteischule entsprach. Hier überwog die Ausbildung in weltanschaulichen Fragen, womit eine Abgrenzung von der zuvor vor allem getätigten Wehrerziehung vorgenommen wurde.36 Neben den kurz dargestellten Institutionen, die den Parteien direkt unterstanden, wirkten allerdings auch den Parteien angeschlossene Verbände und Vorfeldorganisationen in der Schulungsarbeit mit. Ihre Bedeutung kann in einer umfassenden Betrachtung nicht vernachlässigt werden. Die wichtigste Rolle spielten dabei die Jugendverbände. Die bereits genannte HVH Tinz ist dabei das prominenteste   33 Bei Krinn (2007): Emanzipation findet sich bereits die Analyse der Schulungsarbeit der (Bezirks-)Parteischulen und der MASCH. Allerdings kann eine weitere Betrachtung dieser Institution insbesondere im Vergleich neue Erkenntnisse fördern. 34 Proksch (1940): Erziehungsauftrag, S. 212 f. 35 Eintrag vom 21. Oktober 1929. In: Tagebücher Joseph Goebbels (2004), S. 354. 36 Ab Dezember 1932 warb und unterrichtete die Reichsführerschule der SA auch gezielt die Mitglieder der SS. Vgl. SS-Befehl Nr. 69, vom 23. Dezember 1932. In: BA B, R 1507/2091, Bl. 155. Daran zeigte sich bereits die gestiegene Bedeutung der SS für die Schaffung einer weltanschaulichen Elite, die sich nach 1933 fortsetzte.  

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Beispiel des Selbstverständnisses der Jugendorganisationen, die zukünftige Bereitstellung von Mandatsträgern und Parteifunktionären gewährleisten zu können. Dass dies dem Selbstverständnis nach sogar die Hauptaufgabe der Verbände sein konnte, zeigen sowohl historische Traditionslinien, in die sich die Jugendverbände stellten, als auch ihre Programmatiken. So übernahm die Jugendorganisation des Zentrums, die Windthorstbunde, diesen Namen aus einem Verband des Kaiserreiches, der sich noch der Bildung aller Katholiken zur politischen Mitwirkung verpflichtet sah. Aber auch der Jugendverband der DNVP, der Bismarckbund37, fand seinen namentlichen Vorläufer im 1918 gegründeten „Bismarck-Bund deutscher Männer und Frauen. Deutschnationaler Hilfsbund für vaterländische Aufklärung und Schulung“.38 Die Jugendorganisation der DDP grenzte sich demgegenüber von dieser Auffassung ab und sah als ihre wesentliche Aufgabe nicht die Arbeit in der Partei. In den Vordergrund rückte hier vielmehr der Aspekt der Ausbildung von demokratischen Staatsbürgern. So sah die Verbandsleitung die Aufgabe der Jugendorganisation darin, die heranwachsenden Staatsbürger zunächst „in der aus Liebe zu unserm Volk und Vaterland geborenen Deutschen demokratischen Partei zusammen[zu]fassen und in ihr die Gedanken und Ideen der Demokratie [zu] vertiefen“.39 Ein Gedankengang, der sich bereits in den formulierten Zielen der staatsbürgerlichen Ausbildungskurse fand. Außerdem konnten auch die Gewerkschaften in der Zeit zwischen 1919 und 1933 die Ausbildung von Mitgliedern übernehmen. Die Betrachtung des Zusammenwirkens und der gegenseitigen Durchdringung dieser drei Verbände muss daher eine Untersuchung der Parteischulen ebenso beinhalten. 4. FAZIT UND AUSBLICK Wie sich zeigte, waren die Formen der Schulungsarbeit der Parteien so vielfältig wie die Parteienlandschaft der Republik selbst. So entwickelte sich sowohl im demokratischen als auch im antidemokratischen Spektrum ein weitumfassendes System, das den Mitgliedern die Möglichkeit zur Aus- und Weiterbildung bot oder diese sogar zur Bedingung eines weiteren Aufstiegs machte. Hier wurde das geistige und organisatorische Rüstzeug für die Arbeit in den Parteien geschaffen. Neben festen Parteischulen existierten dabei verschiedene Formen der Unterrichtung, sodass sich die Parteien nicht nur in Institution und Inhalt, sondern selbst in der gewählten Methode vielfältig unterschieden. Trotz des weitgehend identischen Anliegens der Parteien, der Professionalisierung der Parteiarbeit und der Befähigung zur   37 Ursprünglich als Bismarckjugend gegründet, benannte sich der Verband 1929 in Bismarckbund um, um nicht nur Jugendlichen sondern auch der Alterskohorte der 20- bis 30-Jährigen offenzustehen. Vgl. Krabbe (1995): Parteijugend, S. 177. 38 Satzung des Bundes in: BA B, N 2329/33. 39 Niederschrift über die Tagung der Parteisekretäre der Deutschen demokratischen Partei am 17. und 18. Mai 1919 in Berlin. In: BA B, R 45-III/27, Bl. 106.

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politischen Arbeit im Staat, entwickelte sich damit ein differenziertes und verzweigtes Netz an Schulungsangeboten. Eines der Kernmerkmale dieser Schulungsangebote mag die Differenzierung in der Arbeit zwischen demokratischen Parteien und den Gegnern der Weimarer Republik gewesen sein. Erstere standen mit der Revolution von 1918 vor einer doppelten Aufgabe. Sie mussten neben der Schulung für die eigene Organisation gleichsam die Mitglieder zu Staatsbürgern in der Demokratie ausbilden. Neben der Reichszentrale für Heimatdienst und dem Schulfach Staatsbürgerkunde wurden die Parteien zu einem der Protagonisten auf dem Gebiet der politischen Demokratiebildung. Nur wenige weitere Verbände, dazu ließe sich das Reichsbanner-SchwarzRot-Gold40 zählen, nahmen sich ebenfalls dieser Aufgabe an. Diese Doppelfunktion mag einer der Gründe sein, warum sich die Bezeichnung „Parteischule“ in der Weimarer Republik bei der überwiegenden Anzahl der Schulungsinstitutionen nicht finden lässt. Nicht nur die Programmatik der eigenen Partei musste gelehrt werden, sondern es ging den Zeitgenossinnen und Zeitgenossen um eine umfassendere Ausbildung für das Leben in der Demokratie. Für das weitere Vorgehen bei der Untersuchung dieser Thematik bleibt abschließend anzumerken, dass sich die Analyse nicht nur in den dargestellten Elementen erschöpfen kann. Im oben erwähnten Dissertationsprojekt werden daher darüber hinaus die Lehrer, Teilnehmer, Stundenpläne, regionale und temporale Häufungen, finanzielle Ausstattung, die Träger der Parteischulen, die Bedeutung von parteiinternen Kurs- und Führungswechseln und ihr Einfluss auf die Schulungsarbeit betrachtet werden. Auch die Arbeit der Jugendverbände und Gewerkschaften erhält Eingang in die Untersuchung. Damit lässt sich ein umfassendes Bild über die Parteischulen und ihr Wirken in einem demokratischen Umfeld geben und aufzeigen, inwiefern die Schulung der Mitglieder als Aufgabe von Parteien Einfluss auf ihr Wirken hat. QUELLEN Bundesarchiv Berlin: N 2329/33; NS 5-VI/682; R 1507/2091; R 1507/3061; R 45-III/27; R 8005/245; R 8005/251; R 8005/327. Bundesarchiv Koblenz: N 1176/19. Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz: I. HA. Rep. 77 Ministerium des Innern, St. 18 Nr. 5.

LITERATUR Belsen, Dorothe von: Ueber Sommer- und Herbstschulen. In: Die Hilfe. Zeitschrift für Politik, Literatur und Kunst 31 (1925), S. 164f.

  40 Zum Wirken des Reichsbanners vgl. die Beiträge von Marcel Böhles und Sebastian Elsbach in diesem Band.

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Boldt, Hans: Die Stellung von Parlament und Parteien in der Weimarer Reichsverfassung. Verfassungstheorie und Verfassungswirklichkeit. In: Kolb, Eberhard / Mühlhausen, Walter (Hrsg.): Demokratie in der Krise. Parteien im Verfassungssystem der Weimarer Republik. (Schriftenreihe der Stiftung Reichspräsident Friedrich-Ebert-Gedenkstätte, Bd. 5), München 1997, S. 19– 58. Büttner, Ursula: Weimar: Die überforderte Republik 1918–1933. Leistung und Versagen in Staat, Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur, Stuttgart 2008. Conze, Werner: Die deutschen Parteien in der Staatsverfassung vor 1933. In: Matthias, Erich / Morsey, Rudolf (Hrsg.): Das Ende der Parteien 1933. Darstellungen und Dokumente, Königstein/Ts. / Düsseldorf 1979, S. 3–28. Fröhlich, Elke (Hrsg.): Die Tagebücher von Joseph Goebbels. Im Auftrag des Instituts für Zeitgeschichte und mit Unterstützung des Staatlichen Archivdienstes Rußlands. Teil I Aufzeichnungen 1923 – 1941, Band 1 / III Juni 1928 – November 1929, Bearbeitet von Anne Munding, München 2004. Fuhrer, Armin: Ernst Thälmann. Soldat des Proletariats, München 2011. Grebing, Helga: Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, München 1970. Gusy, Christoph: Die Lehre vom Parteienstaat in der Weimarer Republik. (Schriften zum Parteienrecht, Bd. 8), Baden-Baden 1993. Harten, Hans-Christian: Himmlers Lehrer. Die Weltanschauliche Schulung in der SS 1933–1945, Paderborn 2014. Kiepe, Jan: Für die Revolution auf die Schulbank. Eine alltagsgeschichtliche Studie über die SEDFunktionärsausbildung in Thüringen. (Archiv der sozialen Demokratie der Friedrich-EbertStiftung, Reihe: Politik- und Gesellschaftsgeschichte, Bd. 101), Bonn 2016. Kluttig, Thekla: Parteischulung und Kaderauslese in der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands 1946–1961, Berlin 1997. Krabbe, Wolfgang: Die gescheiterte Zukunft der Ersten Republik. Jugendorganisationen bürgerlicher Parteien im Weimarer Staat (1918–1933), Opladen 1995. Krinn, Carsten: Zwischen Emanzipation und Edukationismus. Anspruch und Wirklichkeit der Schulungsarbeit der Weimarer KPD. (Geschichte und Erwachsenenbildung, Bd. 22), Essen 2007. Lehrer Holz auf der Heide: Die Parteischule. In: Das Zentrum. Halbmonatsschrift für politische Bildung 1 (1921), S. 72. Mommsen, Hans: Aufstieg und Untergang der Republik von Weimar 1918–1933. Überarb. und aktualisierte Ausg., Berlin 1998. Morlok, Martin: Politische Chancengleichheit durch Abschottung? Die Filterwirkung politischer Parteien gegenüber gesellschaftlichen Machtpositionen. In: Gehne, David / Spiehr, Tim (Hrsg.): Krise oder Wandel der Parteiendemokratie. Festschrift für Ulrich von Alemann, Wiesbaden 2010, S. 19–36. o.A.: Staatsbürgerliche Ausbildungskurse. In: Der Demokrat. Mitteilungen aus der Deutschen Demokratischen Partei 3 (1922), S. 597–599. o. A.: Macht eure Parteischulen zu, wir wollen politische Schulen. In: Das junge Zentrum. Monatsschrift des Reichsverbandes der Deutschen Windthorstbunde 4 (1925), S. 253 f. o.A.: Zentrumspartei und staatsbürgerliche Schulungsarbeit der Reichszentrale für Heimatdienst. In: Mitteilungen der Deutschen Zentrumspartei (DZP) 6 (1925), S. 191 f. Proksch, Rudolf: Der Erziehungsauftrag der NSDAP. In: Benze, Rudolf / Gräfer, Gustav (Hrsg): Erziehungsmächte und Erziehungshoheit im Großdeutschen Reich als gestaltende Kräfte im Leben des Deutschen, Leipzig 1940, S. 212–235. Scharfenberg, Günter: Sozialistische Bildungsarbeit im Kaiserreich. Zur Theorie und Praxis der politischen Bildungsarbeit des Reichsbildungsausschusses und der Parteischule der SPD vom Mannheimer Parteitag bis zum Ersten Weltkrieg 1906–1914, Berlin 1989. Schmeitzner, Mike: Schulen der Diktatur. Die Kaderausbildung der KPD/SED in Sachsen 1945– 1952. (Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung. Berichte und Studien, Bd. 33), Dresden 2001.

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Schröder, Wilhelm Heinz: Politik als Beruf? Ausbildung und Karrieren von sozialdemokratischen Reichstagsabgeordneten im Kaiserreich und in der Weimarer Republik. In: Dowe, Dieter / Kocka, Jürgen / Winkler, Heinrich August (Hrsg.): Parteien im Wandel. Vom Kaiserreich zur Weimarer Republik. Rekrutierung – Qualifizierung – Karrieren. (Schriftenreihe der Stiftung Reichspräsident Friedrich-Ebert-Gedenkstätte, Bd. 7), München 1999, S. 27–84. Sozialdemokratischer Parteitag 1927 in Kiel. Protokoll mit dem Bericht der Frauenkonferenz, Berlin 1927. Wegehaupt, Phillip: „Wir grüßen den Haß!“. Die ideologische Schulung und Ausrichtung der NSDAP-Funktionäre im Dritten Reich. (Zentrum für Antisemitismusforschung: Reihe Dokumente, Texte, Materialien), Berlin 2012.

DER „NEUE“ GEGEN DEN „ALTEN GEIST“ Reformwille und Widerstände an der Universität Jena, 1921–24 Christian Faludi Dieser Beitrag beschreibt eine Episode aus der Geschichte der Universität Jena während der Weimarer Republik. Er handelt vom Thüringer Hochschulkonflikt, der sich in den Jahren 1921 bis 1924 – vereinfacht ausgedrückt – zwischen dem linken Volksbildungsminister Max Greil (USPD, ab 1922 SPD) und dessen Ministerialräten auf der einen sowie den konservativ bis völkisch eingestellten „alten Eliten“ der Alma Mater Jenensis auf der anderen Seite schrittweise entwickelte. Anhand einer Dokumentation seiner wichtigsten Ereignisse wird den Fragen nachgegangen, welche Dynamiken zur Eskalation des Konfliktes führten und welche handlungsleitenden Interessen sich dabei jeweils gegenüberstanden.1 Der Aufsatz ist darüber hinaus ein regional- und mikrogeschichtlicher Beitrag zur Untersuchung des spannungsreichen Verhältnisses zwischen den Akteuren des politischen und gesellschaftlichen Aufbruchs nach 1918/19 sowie den Beharrungskräften alter Eliten und hergekommener Institutionen, die sich ihnen in den Weg stellten. 1. AUSGANGSLAGE Der Thüringer Hochschulkonflikt in der Ära Greil hatte eine Vorgeschichte: Bereits 1919/20 hatte es Reformen an der lokal auch als Salana bezeichneten Universität gegeben. Sie betrafen die Verfassung, deren Selbstverwaltung und die Vertretung der Studentenschaft; nicht aber die Strukturen der Fakultäten. Andernorts war man schon weiter und hatte bereits im Kaiserreich strukturell etwa die Natur- von den Geisteswissenschaften getrennt. In den frühen Jahren der Weimarer Republik zogen immer mehr Universitäten nach.2 Auch in Jena war dieser Ruf zu hören, blieb aber unbeachtet. Nicht anders verhielt es sich mit der Umstrukturierung der Philosophischen Fakultät und der Gründung einer Rechts- und Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät, dem Ausbau von Pädagogik und Psychologie, bzw. der Schaffung von Lehrstühlen für empirische Sozialforschung und andere moderne Disziplinen; so   1 2  

Für längst nicht alle Ereignisse ist hier Platz. Vgl. etwas ausführlicher dazu die breiter angelegten Arbeiten: John / Stutz (2009): Universität; Bräuer / Faludi (2013): Universität. Baumgarten (1997): Professoren; UAJ, BA 96, Bl. 44–65; LATh – HStA Weimar, ThVM C 122, Bl. 9.

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auch in der Medizin. Vor allem die Ordinarien der Philosophischen Fakultät liefen gegen derartige Vorhaben in der Saalestadt Sturm. Fürchteten sie doch darum, dass die Großfakultät ihre Kernfunktion verlieren würde und mit der Modernisierung der vermeintlich spezielle „Geist der Salana“, als einer traditionell philosophischen Universität verloren ginge – soweit zumindest die Argumentation der im Habitus verankerten „Gralshüter“.3 Tatsächlich ging es im Kern aber zuerst immer um den Erhalt der hergebrachten Einfluss- und Machtstruktur, die mit der Gründung der Weimarer Republik auch in Jena brüchig wurde. Ausdruck des daraus resultierenden reflexartigen Handelns zum Erhalt des Status quo war nicht sofort der Systemkampf. Es begann mit dem steten Versuch, die (Berufungs-)Politik so zu beeinflussen, dass Disziplinen in gegebener Struktur blieben und nur dieser zugeneigte Persönlichkeiten den Ruf erhielten. Jeder Reformwille barg in derartiger Konstellation zwangsläufig einen Konflikt, wurde er doch als Eingriff in eine selbst konstruierte Autonomie begriffen. In den Anfangsjahren der Weimarer Republik konnte sich das Jenaer Bollwerk gegen äußere Eingriffe zunächst fast ungestört behaupten. Nach der Landesgründung 1920 war die Regierung Arnold Paulssen (DDP) damit beschäftigt, eine neue staatliche Struktur zu schaffen. Das universitäre Wesen musste überhaupt erst einmal (finanziell) gesichert werden. Zu den zahlreichen großen Problemlagen kamen viele nicht weniger wichtige kleine Dinge hinzu, wie etwa die Versorgung der Studierenden – kurzum, es ging erst einmal um die Herstellung von Normalität.4 Eine Reform der Fakultätsstruktur der Universität Jena rückte tatsächlich erst infolge der vorgezogenen Landtagswahlen 1921 auf die Agenda. Von der KPD toleriert, bildete sich in deren Folge eine von August Frölich geführte SPD/USPD-Minderheitsregierung. In dieser übernahm Max Greil das ab 1921 selbständige Volksbildungsministerium. Der Nichtakademiker war als Sohn eines Schuhmachers im Erzgebirge aufgewachsen und von 1898 bis 1919 als Volksschullehrer im südthüringischen Triebes tätig gewesen; zeitweise auch in der Arbeiterstadt Gera. 1919 trat er der USPD bei, wurde Mitglied im Reußischen Landtag und Vorsitzender des Lehrerrates von Reuß.5 Gemeinsam mit Mitstreitern aus dem Gothaer Schulreformermilieu wie Hermann Brill, Albin Tenner oder auch Theodor Neubauer erarbeitete er schließlich ein Konzept, das vom Deutschen Lehrerverein, Reformbünden und Gewerkschaften inspiriert, eine grundlegende Neugestaltung der Volksbildung „vom Kindergarten bis zur Universität“ ermöglichen sollte. Der Hochschule kam im Plan unter dem Axiom „Ein Volk, eine Schule, ein Lehrerstand“ die Rolle des Überbaus

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Vgl. etwa Bauch (1922): Jena. Vgl. etwa: Bräuer / Faludi (2013): Universität, S. 41–115. Zu Greil etwa Mitzenheim (1996): Schulreform; die Personalakte des Ministers im LATh – HStA Weimar gilt als verschollen.

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ohne Sonderstellung zu.6 Greil ging es um die Schaffung einer schrankenlosen „Bildungseinheit“, die das Bildungsniveau der Masse heben7 und letztlich eine „Volksgemeinschaft im Geiste“ schaffen sollte.8 Der Schlüssel dazu war die akademische Ausbildung der Volksschullehrer.9 Für die Umsetzung seiner universitätspolitischen Maßnahmen griff Greil auf bereits bestehendes Personal im Weimarer Ministerium zurück und ergänzte dieses durch politisch Gleichgesinnte. Wichtigste Person in dieser Konstellation war Julius Schaxel. Der Zoologe und ehemalige Haeckel-Schüler hatte bis 1909 bei Ludwig Plate promoviert und sich 1912 habilitiert. Ab 1918 leitete er die Anstalt für Experimentelle Biologie. Als linkspolitisch Aktiver trat er im selben Jahr der SPD bei und betätigte sich in der Arbeiterbildungsbewegung. 1922 leistete er zur Berufung als vortragender Rat den Treueeid im Weimarer Ministerium.10 Zur zweiten zentralen Figur in Sachen Universitätspolitik wurde Friedrich Stier. Der Jurist und Weltkriegsoffizier verkörperte nicht nur durch seine DNVP-Mitgliedschaft den konservativen Geist eines jungen aufstrebenden Beamten aus der ehemaligen Residenzstadt Weimar, der – mit allerhand Talent für Organisatorisches und Netzwerktätigkeit wie auch Anpassungsfähigkeit ausgestattet – mühelos die Brücke zu alten Eliten bilden konnte. 1918 war extra für ihn eine Stelle bei der Kultusverwaltung des Freistaates Sachsen-Weimar-Eisenach geschaffen worden. Im Zuge der Landesgründung wurde er unter anderem Vorsitzender im Verwaltungsdirektorium der Universitätskliniken. Ausgerechnet unter dem linken Politiker Greil geriet Stiers bis 1945 andauernde ministerielle Karriere aber erst richtig in Schwung.11 Ebenfalls bereits im Stab vorhanden war der Jurist Ernst Wuttig. Der alte Richter war schon 1908 ins Kultusdepartement gekommen und hatte sich zum Ministerialdirektor hochgearbeitet.12 Seinerzeit galt er als einer der verlässlichsten und einflussreichsten Beamten in Weimar, über den nur „mit der größten Bewunderung“ gesprochen wurde.13 Komplettiert wurde die Führungsriege durch die Berufung des international gereisten Studienrates, parteilosen Sozialisten und nunmehrigen Beauftragten für Lehrerbildung Herbert Kühnert14 sowie den Initiator der Volkshochschulbewegung Reinhard Buchwald.15

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Amtsblatt ThVM 1 (1922), S. 1. Stenographische Berichte des II. Landtages von Thüringen, 80. Sitzung (24.5.1922), S. 2301– 2309. Zitate: Buchwald (1992): Geschichte, S. 323. Zur Kritik an diesen Forderungen siehe den Beitrag von Florian Heßdörfer in diesem Band. LATh – HStA Weimar) PABV 27428. LATh – HStA Weimar, PABV 4738/4739. LATh – HStA Weimar, PABV 34580. Zitat: Meß (1935): Erinnerungen, S. 2. LATh – HStA Weimar, PABV 17567. LATh – HStA Weimar, PABV 3448.

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2. BERUFUNGSPOLITIK Der Konflikt zwischen dem Weimarer Volksbildungsministerium und dem Establishment der Landesuniversität entflammte nicht über Nacht. Er kam schrittweise in Gang. Zunächst gab man sich vonseiten der Salana (scheinbar) kompromissbereit und versuchte, mehr oder weniger durch eine eigene listige Berufungspolitik die Absichten Greils möglichst reibungsarm ins Leere laufen zu lassen. Als linker Nichtakademiker mit umfassend reformerischen Absichten hatte er zudem keinerlei Lobby. Die Taktik begann mit den ersten, vergleichsweise zaghaften Versuchen von Neuerungen: Ende 1921 plante Greil auf Initiative des Lehrerbundes und der Gesellschaft für Experimentelle Psychologie, eine universitäre psychologische Ausbildungs- und Forschungsstätte zu schaffen, die der in seinem Konzept zentralen Lehrerbildung zugutekommen sollte.16 Während der einflussreiche Herbartianer Wilhelm Rein dem Ansinnen durchaus positiv gegenübertrat, meldeten die politisch deutlich rechts stehenden Ordinarien der Philosophie Bruno Bauch und Max Wundt17 Bedenken an und forderten die Einbettung einer solchen Einrichtung, wenn sie überhaupt zu schaffen sei, in die bestehende Fakultäts- und Lehrstruktur. Zuspruch aus der Philosophie erhielt Greil lediglich von Paul Ferdinand Linke, der eine Denkschrift vorlegte.18 Allerdings hatte dieser im Kollegenkreis keinerlei Rückhalt; als Sozialdemokrat war er ohnehin krasser Außenseiter. Nachdem Greil auch auf Grundlage von Linkes Ausarbeitung die für das Land sparsamere Variante eines Extraordinariats in Betracht zog, begegnete die Philosophische Fakultät diesem Ansinnen mit dem eigenen Plan eines Ordinariats, was, bezogen auf die zeitgleich einsetzende Debatte um die Nachfolge des alternden Wilhelm Reins, eine Hängepartie zur Folge hatte, die bis 1923 nicht gelöst werden sollte. Deutlich offener agierten die etablierten Ordinarien da schon im Fall Eberhard Grisebach: 1913 hatte sich der Schüler des Nobelpreisträgers Rudolf Eucken habilitiert und später mit einer eigenen „kritischen Philosophie“ derart profiliert, dass er insbesondere unter weiten Teilen der Jenaer Studentenschaft hohes Ansehen genoss. Als langjähriger Geschäftsführer im örtlichen Kunstverein war er zudem auch ein Vertreter „der Modernen“ seiner Region.19 Die hatten es zum Zeitpunkt ohnehin nicht leicht im spießigen „Krähwinkel“ Jena, an der Universität schon gar nicht.20 Nachdem unter anderem auf Initiative von Grisebachs Vereinsnachfolger, dem Archäologieprofessor Guido Herbert Koch, der Vorschlag seiner Berufung zum außerordentlichen Professor einging, wurde dieser von der Fakultät mehrheitlich abgelehnt. Für Greil war offensichtlich, dass sich hinter dem Votum die Absicht ver  16 17 18 19 20  

Vgl. hierzu auch: Eckardt (1973): Gründung. Zur völkischen und republikfeindlichen Einstellung beider: John (2012): Schule, S. 83ff. LATh – HStA Weimar, ThVM C 303, Bl. 2. Vgl. Prondczynsky (1999): Universitätspädagogik. Das Zitat stammt vom Physiker Erwin Schrödinger, der bereits wenige Monate nach seiner Berufung die Stadt fluchtartig verließ. Vgl. Faludi (in Vorbereitung), Schrödinger.

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barg, einen unbequemen Kollegen mit großem Wirkungskreis vom Universitätsbetrieb fernzuhalten. Den Konflikt billigend in Kauf nehmend, setzte er sich kurzerhand über den Entscheid hinweg und berief Grisebach zum Extraordinarius. Die Antwort folgte prompt. Für die Gegner der Berufung galt Greils Handeln als unangemessener Eingriff in die akademische Selbstverwaltung. Auf Proteste folgten Diffamierungen, was wiederum die Fakultät in zwei Lager spaltete und unter anderem auch dazu führte, dass selbst der konservative Historiker Alexander Cartellieri dem „Ordinarienwahn“ wich und als Dekan zurücktrat.21 Noch lenkte die Fakultät ein und erteilte selbst den Lehrauftrag an Grisebach.22 Dennoch, der Konflikt war richtungsweisend und zeigte parallele wie kommende Handlungsabläufe bereits auf: So auch für den Fall Korsch. Karl Korsch stammte als Sprössling einer Bauernfamilie aus der Lüneburger Heide. Er hatte in Jena studiert und war im Vorfeld des Ersten Weltkrieges maßgeblich in Eugen Diederichs freistudentischem Sera-Kreis aktiv gewesen. Nach dem Krieg wurde er als „kritischer Marxist“ zu einem der ideologischen Taktgeber der KPD. 1920 brach er zunächst mit der Partei, blieb aber politisch aktiv. Bereits 1919 hatte er sich bei dem Rechtswissenschaftler Heinrich Gerland habilitiert. 1923 sollte er Ordinarius werden.23 Den Hintergrund für Korschs Berufung bildete die Etablierung der seinerzeit noch jungen und durchaus umstrittenen Disziplin der Soziologie. Bereits seit 1921 hatte der Jurist Franz Jerusalem versucht, in Jena ein Soziologisches Seminar zu errichten. Wie Korsch wurde auch Jerusalem auf Greils Entscheid hin zunächst mit einem prekären Privatdozenten-Stipendium mehr schlecht als recht an die Salana gebunden. Bemerkenswerterweise und von der Öffentlichkeit weitgehend ignoriert, fand trotz dieser defizitären Struktur im September 1922 der erste Deutsche Soziologentag nach zehn Jahren Pause in Jena statt.24 Zeitgleich überlegten Jerusalem und Korsch gemeinsam mit Gerland, wie sie vor Ort geeignete Strukturen zur Etablierung der Soziologie schaffen könnten. Während Gerland, der sich politisch zunehmend nach rechts bewegte, ein Kriminologisches Institut mit soziologischer Ausrichtung an der Juristischen Fakultät vorschwebte,25 schlugen Korsch und Jerusalem eigene Wege ein. Im Anschluss an die Marxistische Arbeitswoche – eine Art Keimzelle der späteren Frankfurter Schule –, an der Korsch teilgenommen hatte, wurden beide aktiv und errichteten mit Unterstützung aus Weimar ein eigenständiges Seminar. Das Fach – so der Plan – sollte als interdisziplinäre „Universalwissenschaft“ eine Verbindungsposition an der Hochschule einnehmen.   21 Zum Zitat: ThULB, HSA, Nachlass Cartellieri, Nr. 1, Kasten 5, Tagebücher 1918–1922, hier 14./21.5.1922. 22 Stier (1959): Lebensskizzen, n.p. (Grisebach). 23 Steinbach (2008): Tor. 24 Dyk / Lessenich (2008): Jena. 25 In diesem Zusammenhang ist zu erwähnen, dass die Gründung der Rechts- und Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät 1923 ohne Reibereien vollzogen wurde. Vgl. John / Stutz (2013): Universität, S. 345ff.  

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Die entsprechende personelle Besetzung dazu sollte folgen.26 Auch hier war der Konflikt bereits im Plan enthalten: Das konservative Establishment stand nicht nur dem Inhalt der Disziplin skeptisch gegenüber, vielmehr noch stand deren Anspruch einer „Universalwissenschaft“ in direkter Konkurrenz zur Philosophie. Von der absehbaren Debatte um das Personal ganz zu schweigen, dürfte den Initiatoren von Beginn an klar gewesen sein, dass sie mit ihrer Richtung auf Konfrontationskurs lagen. Bereits im Mai 1922 hatte Greil den Universitätskurator Max Vollert angewiesen, Jerusalem entsprechende Räume zur Verfügung zu stellen. Der zum Zeitpunkt Einundsiebzigjährige konnte mit dem Vorhaben buchstäblich nichts anfangen.27 In einer Art Selbstreflektion, die das Verständnis der Disziplin für die Zeit treffend charakterisiert, entgegnete er an Greil: „Die Soziologie (die übrigens mit Sozialismus keineswegs identisch ist) ist m.E. keine neue Wissenschaft, sondern nur eine besondere Betrachtungsweise rechtlicher und wirtschaftlicher Verhältnisse“.28 Jerusalems Wirken – den er trotz Unkenntnis fachlicher Spezifika als dafür ungeeignet hielt – begründete Vollert mit dem bloßen Streben nach einer festen Anstellung. Trotzdem musste er sich freilich Greils Anweisung fügen und für die notwendigen Räumlichkeiten sorgen, was er auch widerwillig tat. Anschließend ließ der Minister Jerusalems Lehrauftrag erweitern. Hinzu kam ein weiterer für Arbeitsrecht für Gerlands Neffen, Hans Carl Nipperdey, sowie einer für Rechtsphilosophie an der Juristischen Fakultät für Korsch.29 Mit Letzterem schuf Greil einen direkten Konkurrenten zum philosophischen Establishment, das nicht nur das zugewiesene Fachgebiet weiterhin für sich beanspruchte, sondern auch die politische Einstellung des Lehrers zwangsläufig als eine offene Provokation begreifen musste. Der Protest ließ nicht lange auf sich warten.30 Unter Federführung des Dekans Robert Haußner und der Ordinarien Wundt, Bauch sowie Rein wurden Schreiben an das Ministerium gerichtet, die Korsch sämtliche Qualifikationen absprachen, da seine Lehren vollständig auf den Schriften von Karl Marx fußen würden. Greil aber hielt an seinem Vorhaben unbeirrt fest. Jerusalem übernahm als Ordinarius für Öffentliches Recht und Soziologie 1922/23 das Seminar und am 30. August 1923 wurde Korsch zum Professor für Zivil-, Prozess- und Arbeitsrecht berufen.31 Wie tief der Bruch zwischen Universität und Ministerium an diesem Punkt ging, zeigte sich wenige Monate später: Korsch, der im Oktober 1923 kurzfristig als Justizminister in die nun auch von der KPD aktiv mitgetragene Landesregierung rückte, musste sich infolge des Reichswehreinmarsches im Rahmen der Reichsexekution versteckt halten. Gerland, der als Lehrer auch lange Zeit dessen enger Vertrauter war, betrieb daraufhin den beruflichen Rufmord. Er beanspruchte dessen   26 27 28 29 30 31  

LATh – HStA Weimar, ThVM C 317, Bl. 3ff. LATh – HStA Weimar, PABV 32437. LATh – HStA Weimar, ThVM C 317, Bl. 2r–3r, Zitat Bl. 2v. UAJ, C 369, Bl. 128. UAJ, C 369, Bl. 131–134. Stier (1959): Lebensskizzen, n.p. (Jerusalem, Korsch).

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Stelle für Nipperdey und beteiligte sich an der Stimmungsmache gegen seinen einstigen Schüler. Als dieser nach Beruhigung der politischen Situation zurückkehren und seine Antrittsvorlesung halten wollte, versperrten Korporierte und Pedelle auf Rektorweisung Korsch den Zugang zum Hauptgebäude. Nach dem Entzug der Professur durch Greils Nachfolger Richard Leutheußer (DVP) verließ er Jena schließlich Richtung Berlin.32 3. EXTREMISMUS Als im Juni 1922 Mitglieder der Organisation Consul Reichsaußenminister Walther Rathenau ermordeten, hatte das Auswirkungen auf die gesamte junge Republik. Gänzlich anders, als es sich die Verschwörer aber ausgemalt hatten, führte der Mord nicht zum Bürgerkrieg, mit dem „das System“ zum Kippen gebracht werden sollte. Vielmehr brach sich eine Welle der Empörung Bahn, die eine ganze Reihe von Maßnahmen zum Schutz der Republik mit sich zog.33 Für die Landesuniversität Jena bargen die Ereignisse ein zusätzliches, pikantes Detail: Die Attentäter Hermann Fischer und Erwin Kern waren nach ihrer Tat quer durch das Land geflohen, bis sie schließlich auf der Burg Saaleck Unterschlupf fanden. Deren Besitzer hatte in Jena promoviert, war selbst völkischer Aktivist und gehörte zum Verschwörerkreis. Nachdem das Versteck zufällig entdeckt worden war, entwickelte sich ein Feuergefecht mit der Polizei. Die Gesuchten kamen dabei ums Leben und wurden am 21. Juni auf dem hiesigen Friedhof bestattet. Laut Berichten aus der Presse befanden sich unter den Gästen der Beerdigung nicht nur Paramilitärs, sondern auch Korporierte mitteldeutscher Universitäten, die die Toten als „Märtyrer“ feierten. Jenaer Studenten trugen demnach gemeinsam mit Kommilitonen vom Technikum Bad Sulza die Särge.34 Die Berichterstattung blieb freilich auch dem Weimarer Ministerium nicht verborgen. Eilig forderte Greil nach Bekanntwerden den Kurator der Salana zur Aufklärung auf. Vollert gegenüber gab sich die Polizei ahnungslos. Daher wandte er sich an Rektor Bauch.35 Dessen Antwort lässt tief blicken, was die Einstellung eines völkischen Hochschullehrers gegenüber der Schutzbedürftigkeit der Republik vor Teilen einer radikalisierten Kriegsjugendgeneration anbelangte.36 Bauch wies die Vorwürfe lapidar ohne Prüfung zurück und ergänzte dazu in einem Tenor der Doppelmoral:   32 33 34 35 36

 

Steinbach (2008): Tor. UAJ, Best. BA, Nr. 1859, Bl. 27r+v. Sabrow (1994): Rathenaumord. UAJ, Best. BA, Nr. 1859, Bl. 36r. Eines der wenigen studentischen Gegengewichte bildete das Jenaer Kartell der Deutschen Republikanischen Studentenschaft, das letztlich gegenüber der rechten Übermacht aber nur eine Fußnote in dieser Geschichte blieb. Vgl. Bräuer / Faludi (2013): Universität, S. 118–123. Vgl. in dem Kontext auch John (1983): Wirken.

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  Trotzdem sieht sich der Grosse Senat veranlasst, dem Schreiben gegenüber grundsätzlich darauf hinzuweisen, dass er mit den Pflichten der Universität die Funktionen politischer Polizei, wie sie in der Aufforderung der Ermittelung der Teilnehmer an der Beerdigung der RathenauMörder liegen, für unvereinbar hält. [… Der Senat] besteht darauf, dass die Behörden der Universität, vor allem das Rektorat, von politischen Tendenzen, insbesondere solchen nach Art politischer Polizei durchaus rein zu halten sind.37

Rund um die Vorgänge infolge des Rathenau-Mordes war diese Grundeinstellung kein Einzelfall. Während etwa die in Jena von Heinrich Gerland initiierten, seit 1921 jährlich stattfindenden Reichsgründungsfeiern der Universität in der gesamten Weimarer Zeit stets eine zahlenmäßig hohe Frequenz mit enormer Öffentlichkeit erreichten, wurden die Verfassungsfeiern für die Republik von der Salana vollständig ignoriert. Anlässlich des Gedenkens an den 18. Januar 1871 gaben sich traditionell Revanchismus und Revisionismus die Klinke in die Hand. Im Zuge der Ruhrkrise etwa gelangten die Feierlichkeiten zum Ausgangspunkt einer „Franzosenhatz“, bei der Studierende im Hotel Schwarzer Bär randalierend, eine französische Gastfamilie aus der Stadt vertrieben.38 Auch der Allgemeine Studierendenausschuss (AStA) rief zu Aktionen gegen Belgier und Franzosen auf,39 in deren Folge es zu Tumulten und Angriffen gegen den Lektor René Olivier kam. Eher verhalten mahnte der Rektor daraufhin die Studierenden, diesen nicht weiter zu belästigen – das aber auch erst nach polizeilicher Aufforderung40 und nur mit dem Zusatz: „weil er während der deutschen Okkupationszeit sich in den Dienst der deutschen Verwaltung gestellt hat“.41 Dabei hatte das sich anbahnende Szenario vom Januar 1923 bereits im Vorfeld für reichlich Unverständnis im Ministerium gesorgt. Bezeichnend schrieb Greil an Bauch: Der Einladung zur Gedenkfeier der Reichsgründung auf den 18. Januar 1923 werden wir nicht folgen. Wir haben leider erst durch diese Einladung mit Befremden von dieser Veranstaltung erfahren, nachdem bereits im vorigen Jahre der unterzeichnete Staatsminister dem damaligen Herrn Rektor mitgeteilt hatte, daß in der deutschen Republik der 18. Januar aus geschichtlichen Gründen nicht mehr als feierlich zu begehender Gedenktag gelten könne und die Abhaltung einer Feier an diesem Tage die Auffassung stütze, als ob die Thüringische Landesuniversität im gewollten Gegensatz zu Regierung und Landtag stünde. Wenn wir heute von weiteren Schritten absehen, so geschieht es in der Annahme, daß die Universität nach dem Vorgang anderer Körperschaften ihren Widerspruch gegen die Besetzung des Ruhrgebietes zum Ausdruck bringen will, zugleich aber alles vermeidet, was dem Empfinden weiter Volkskreise widersprechen würde. Die nur mit schweren Opfern erhaltene Landesuniversität darf keine Sonderstellung im Volksganzen einnehmen. Das geschieht aber, wenn die Landesuniversität den 18. Januar – den Tag der Kaiserproklamation – besonders festlich begeht, während sie auf jede

  37 38 39 40 41  

UAJ, Best. BA, Nr. 1859, Bl. 39r. Jenaer Volksblatt v. 17.2.1923. UAJ, Best. BA, Nr. 1829, Bl. 4r. Ebd., Bl. 64r. Ebd., Bl. 61r.

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  Feier an den im Lande Thüringen allgemein eingeführten staatlichen Feiertagen (1. Mai, 11. August und 9. Nov.) grundsätzlich verzichtet.42

Die öffentliche Antwort darauf mit deutlich unverhohlenen Worten gab der Adressat später unter anderem während der Reichsgründungsfeier 1926 mit seiner programmatischen Rede: „Der Geist von Potsdam und der Geist von Weimar.“43 Auf die Ermordung Rathenaus indes folgten auch in Thüringen allerhand Maßnahmen. Das Innenministerium verbot rechtsradikale und militaristische Vereine; Greil fügte dem die Ortsgruppe vom Hochschulring Deutscher Art zu und ließ an der Universität verbreiten, dass Studierenden das Tragen von Abzeichen verbotener Gruppierungen nicht mehr erlaubt war.44 Es folgten Verschärfungen der Erlasse und deren Ausdehnung, auch auf Lehrkörper und Angestellte. Aufgrund der Einstellung der Universitätsleitung und ihrer erkennbaren Zurückhaltung, bei den Maßnahmen mitzuwirken, ließ Greil Vordrucke an die Ordinarien verteilen, auf denen diese ihre Republiktreue ehrenwörtlich erklären mussten.45 Die meisten unterzeichneten nur widerwillig und der Senat beschloss, derartige Bekenntnisse künftig in „Geschlossenheit“ dem Ministerium zu verweigern.46 Greil nutzte die Gelegenheit ferner dazu, um einen schon Jahre andauernden Rechtskonflikt über die Mitgliedschaft in der Deutschen Studentenschaft zu lösen, indem er völkisch-rassistischen Zugangskriterien gegenüber dem AStA eine klare Absage erteilte.47 Dass aber auch diese Maßnahme bestenfalls Kosmetik war, zeigte sich schon kurze Zeit später. Am 8. November 1923 berichtete die Zeitung Das Volk unter der Überschrift „Warum in Jena so wenig Studenten sind“: Selbstverständlich besteht in den ‚eingeweihten‘ Kreisen der Rechten kein Zweifel darüber, daß die Schuld daran an der radikalen Schulpolitik des sozialistischen Volksbildungsministers Greil liegt, der nur sozialistische und kommunistische Professoren nach Jena berufen soll, vor denen das ‚national empfindende‘ Studententum ausreißt. Nun erfährt man‘s aber anders, und die wahre Ursache des Ausbleibens der Studenten in diesem Semester soll der Jenaer Bevölkerung nicht vorenthalten werden. Der Sonderberichterstatter des ‚Berliner Tageblattes‘ in Coburg berichtet seinem Blatte (Mittwoch-Abendausgabe), daß die faschistische Grenzwache Nord bei Hönbach an der bayerischen Grenze zum größten Teil aus Thüringern besteht, darunter viele Studenten aus Jena. Damit ist das Geheimnis enthüllt. Nicht die radikalen Jenaer Professoren vertreiben die Studenten, sondern die reaktionären bayerischen Putschisten ziehen sie an.48

Tatsächlich gehörten auch Jenaer Studenten dem Strom paramilitärischer Kräfte an, der sich im Herbst 1923 Richtung Bayern bewegte, um von dort aus einen Putsch   42 Ebd., Bl. 95r. 43 Bauch (1926): Geist. Schon seine Rede 1922 veröffentlichte er im Münchner Lehmann-Verlag, der die schriftstellerische Bühne für die Rechtsradikalen seiner Zeit war. 44 UAJ, Best. BA, Nr. 1859, Bl. 27r+v. 45 LATh – HStA Weimar, ThVM, A 15. 46 UAJ, BA 1859, Bl. 47v. 47 Ebd., Bl. 223r+v. 48 Das Volk v. 8.11.1923.  

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gegen die Berliner Regierung zu führen. Anlass dafür bot ein im Völkischen Beobachter abgedruckter Aufruf der SA zur „Bildung von nationalen Verbänden“.49 Der Kaufmann Alfred Wehner warb daraufhin in Jena zunächst vierzig Männer, meist Korporierte, mit denen er sich am 7. November auf den Weg nach Bamberg machte. Tags darauf folgten noch einmal sechzig. Gemeinsam bildeten sie die „Studentenkompagnie Jena“, die von der Reichswehr in einer Landespolizeikaserne gedrillt werden sollte. Keiner von ihnen „dachte an eine Auseinandersetzung innerhalb Bayerns.“50 Die Ausbildung endete jedoch an dem Tag, an dem sie begonnen hatte. In Folge der Ereignisse von München wurde der Verband aufgelöst und seine Mitglieder setzten sich in Richtung Heimat ab. Einige Studierende wurden auf dem Weg dorthin von der Polizei festgesetzt und verhört.51 Als der Vorgang im Weimarer Ministerium bekannt wurde, reagierte man hier sofort. Noch am 9. November veranlasste Schaxel über seinen Minister, dass der Rektor der Universität Max Henkel, ein Mediziner von höchst zweifelhaftem Ruf,52 fortan Anwesenheitslisten führen lassen und Abwesende melden sollte. Es hieß: Wer illegalen, besonders antirepublikanischen und monarchistischen Organisationen angehört oder ihren Formationen sich beigesellt hat, wird nach II, 5 der Verordnung zum Schutze der Republik im Thür. Schulwesen von der Landesuniversität entfernt.53

Ferner befürwortete er die Entsendung von Studenten, die als „verbriefte Republikaner“ galten, zur Landespolizei. Ähnlich den Erfahrungen rund um den RathenauMord liefen aber auch diesmal sämtliche Bemühungen ins Leere und Schaxel musste schon bald in einem internen Schreiben eingestehen: Auf unsere Anordnung IV 2405 D1 vom 9. Nov. 23, der Rektor wolle feststellen, welche Stud. von Jena abwesend sind, haben wir zunächst nichts zu erwarten; denn der Senat hat unser Schreiben in seiner Sitzung vom 1. Dez. einfach zu den Akten genommen (laut Niederschrift und Auskunft des Universitätsamtmannes).54

Damit nicht genug, wurde mittellosen Studenten in Jena zum Zeitpunkt noch „geraten sich in Ohrdruf bei der Reichswehr zur Ausbildung als Zeitfreiwillige zu melden.“55 Mit diesem Wissen meldete Henkel fast zwei Monate später der zum Zeitpunkt schon handlungsunfähigen Regierung: „Die angestellten Ermittelungen über den Eintritt hiesiger Studierender in ungesetzliche Verbände haben zu keinem greifbaren Resultat geführt.“56

  49 50 51 52 53 54 55 56  

John (1984): Studenten. LATh – HStA Weimar, ThVM, C 203, Bl. 1r–2v. Bräuer / Faludi: Universität (2013), S. 123–127. Ratz (2002): Fall. LATh – HStA Weimar, ThVM, C 203, Bl. 11r–12r. Ebd., Bl. 9r–10r. Ebd. LATh – HStA Weimar, ThVM, C 203, Bl. 36r.

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4. VERWALTUNGSREFORM Die geschilderten Ereignisse machen bereits deutlich, dass Greils Ministerium spätestens ab 1922 auf das Handeln des Universitätsestablishments kaum mehr Einfluss nehmen konnte. Jeder Versuch führte zur reflexartigen Abwehrreaktion. Eher zufällig eröffnete sich aber im Sommer des Jahres eine Chance, die eigene Position zu stärken: Am 21. Juni ersuchte der greise Universitätskurator Max Vollert den Minister für Volksbildung um seine Versetzung in den Ruhestand.57 Greil nutzte die Gelegenheit und begann, sein Ministerium inklusive Universitätsamt komplett umzustrukturieren.58 Im Oktober 1922 teilte er der Universität mit, dass Vollert zum 1. November ausscheiden werde. Einen Nachfolger in bisheriger Form sollte es nicht mehr geben, da die Landesgründung das antiquierte Amt überflüssig gemacht hätte. „Zweckdienlicher“ sei es, die Geschäfte nunmehr von Weimar aus abzuwickeln. Das Kuratelbüro in Jena wurde daraufhin zur ministeriellen Außenstelle umfunktioniert. Der bisherige Amtmann Julius Vogel tat darin weiter Dienst; was hieß: als Sekretär arbeiten und den Schriftverkehr leiten.59 Vollerts Aufgaben wurden nach kurzer Übergangsperiode auf drei Ministeriumsmitarbeiter verteilt: Kühnert übernahm Lehrerbildung, Unterrichtsorganisation und Neuordnung des Prüfungswesens. Schaxel wurden unter anderem die strukturgebenden Bereiche der Universitätsorganisation sowie die sensiblen Gebiete Aufsicht, Personalangelegenheiten und Angelegenheiten der Studierenden übertragen. Stier erhielt als Jurist unter anderem die Geschäftsbereiche rechtlicher Art, dazu die Besoldungs- und Vermögensverwaltung sowie Bauangelegenheiten. Seine Funktion im Verwaltungsdirektorium der Kliniken behielt er zudem.60 Nominell befand sich daraufhin Schaxel in der einflussreichsten Position. Tatsächlich nahm diese im weiteren Verlauf aber Stier ein. Er bildete letztlich das Scharnier zwischen Jena und Weimar, wo er zudem im Februar 1923 Leiter der Abteilung D (Hochschule) wurde. Darüber hinaus befand er sich mindestens zweimal wöchentlich im ehemaligen Kuratelbüro beziehungsweise im Klinikum Bachstraße und baute hier sukzessive sein Netzwerk aus. Erfolgreich, wie sich später zeigte: Nach dem Ausscheiden seiner Kollegen übernahm er deren Aufgaben und wurde mit kurzen Unterbrechungen bis 1945 zum de facto-Kurator der Universität.61 Schranken fand Stier nur selten vor, da er grundsätzlich als (überparteiisch) zuverlässig galt. Ob das in Sachen Einstellung tatsächlich immer der Fall war, darf bezweifelt werden. 1941 behauptete er etwa in einem Schreiben an das Reichswissenschaftsministerium, er selbst hätte die Strukturänderung 1922 quasi im Alleingang betrieben, um selbstlos gegen Greil agierend, die Gefahr eines „roten Kurators“ dadurch zu verhindern, dass er sich selbst auf die   57 58 59 60 61  

LATh – HStA Weimar, PABV 32437, Bl. 37r+v. LATh – HStA Weimar, ThVM, C 15. UAJ, Best. C, Nr. 54, Bl. 57r–58v. LATh – HStA Weimar, ThVM, C 9, Bl. 4r–8r; 9r–11r. Zum Begriff: John / Stutz (2009): Universität, S. 334.

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Stelle setzte.62 Wie bereits gezeigt, war es aber Schaxel, der von Greil auf die wichtigsten Positionen gesetzt worden war. Aus Sicht vieler Ordinarien hatte dieser bereits mit seinem Eintritt ins Ministerium gegen den akademischen Korpsgeist verstoßen und sich ins Abseits katapultiert.63 Jetzt galt er ihnen endgültig als der „Vollstreckungsbeamte“ des „roten Ministers“. Rückblickend „kämpfte“ Schaxel dementsprechend auch mit „dem Mute der Verzweiflung“ als „General ohne Armee, umgeben von verlogenen Saboteuren und offenen Gegnern.“64 Das Zitat beschreibt die Situation treffend. Im Zuge der Strukturmaßnahme befürchtete die Universitätsleitung, dass von Weimar aus nun endgültig deren Autonomie beschnitten werden würde. Konkret hatte man Angst, es könnte Eingriffe zur Revision des Statuts geben. Ähnlich der Taktik zur Unterwanderung bei der Berufungspolitik wollten Rektor und Senat auch hier mit einem eigenen Plan in der Hinterhand der Regierung gegebenenfalls zuvorkommen und das Verfahren dadurch zumindest verschleppen. Im Dezember 1922 beschloss der Große Senat, beschleunigt einen neuen Statuten-Entwurf anfertigen zu lassen. Im Februar 1923 – Greils Neustrukturierung hatte mittlerweile Gestalt angenommen – wandte sich Bauch in Sorge der erwarteten Reform aus Weimar konspirativ an den Mineralogen Gottlob Linck und bekräftigte nochmals, dass es nun darauf ankäme, „die Hauptpunkte darzulegen, die auf eine gewisse Selbständigkeit der Universität als akademischer Körperschaft abzielen.“65 Dass die Befürchtungen nicht gegenstandslos waren, sollte sich schon kurz darauf zeigen. Eine Handhabe gegen die neue Strukturierung hatte die Universität gegenüber dem Ministerium indes freilich nicht. Den Druck aus der verfahrenen Situation konnten die Maßnahmen aber auch nicht nehmen; sollten sie auch nicht. Und so verschärfte sich das ohnehin schon stark angespannte Verhältnis weiter. 5. PÄDAGOGIK Trotz aller Schwierigkeiten gehörte es auch 1923 weiterhin zum „bes. Dominium“ von Max Greil, aus der Universität einen Hort moderner Lehrerbildung zu machen, um damit seiner ganzheitlichen Bildungsreform eine personelle Basis zu verschaffen.66 Dementsprechend legte er besonderen Wert darauf, Pädagogik und Psychologie neu auszurichten, was hieß, die Philosophische Fakultät, wie schon zuvor auch die Rechts- und Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät, in Abteilungen neu zu gliedern. Wie oben erwähnt, gab es bereits seit Sommer 1922 Bemühungen zur Neubesetzung von Wilhelm Reins Professur. Programmatisch standen sich dabei mit dem Ministerium auf der einen und der Universitätsleitung auf der anderen auch   62 63 64 65 66

LATh – HStA Weimar, ThVM, C 128, Bl. 41f. Vgl. die Rede Hedemann. In: JUZ 2 (SS 1919), S. 65. Schaxel (1938): Autobiographie, S. 28. UAJ, BA 92, Bl. 200. Zitat (Stier): UAJ, Best. BA, Nr. 1859, Bl. 55r–56r.

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Anhänger zweier unterschiedlicher Schulen gegenüber. Während Greil nach einer Ausrichtung zur Reformpädagogik strebte, sah man sich in Jena wieder einmal als Hüter einer Tradition, die in diesem Fall dem Herbartianismus folgte und mit Rein hier ihren letzten bedeutenden Vertreter hatte. Weimar wollte die Hochschule für eine experimentell-pädagogische Psychologie öffnen, die maßgebenden Ordinarien wollten die philosophische Eingrenzung erhalten.67 Der zu Emeritierende selbst befand sich hierbei selbstverständlich auf einer Linie mit der Universitätsleitung und favorisierte für seine Nachfolge den eigenen Schüler und Schwiegersohn Georg Weiß. Zum Zeitpunkt war dieser in Jena Privatdozent und Lehrer an der vom Pionier der Pädagogik Karl Volkmar Stoy gegründeten, nun von Rein geleiteten und in Deutschland einzigartigen Universitäts-Übungsschule.68 Im Januar 1923 versuchte man vonseiten der Salana, eventuellen Plänen aus Weimar zuvorzukommen, indem man Weiß für die Besetzung eines praxisorientierten Extraordinariats vorschlug. Zur Berufung auf das Ordinariat wurde eine Kandidatenliste mit Philosophen erarbeitet. Diese Maßnahme war ein konspirativer Schachzug, mit dem das Ministerium aus der Reserve gelockt werden sollte, um es anschließend bloßzustellen. Im Vordergrund agierte Walther Judeich, der Dekan der Philosophischen Fakultät. Als generalstabmäßiger „Treiber und Hetzer“ im Hintergrund wurde später Wundt identifiziert.69 In dessen Katalog befand sich niemand, dem das Ministerium hätte zustimmen können. Alle Kandidaten verkörperten das Gegenteil Weimarer Absichten. Manche Namen waren sogar rein provokativ eingefügt worden und standen real gar nicht zur Debatte; darunter etwa der „völkisch-politische Erzieher“ Ernst Krieck. Als einziger einigermaßen aussichtsreicher Kandidat galt Erich Jaensch, später einer der „aufdringlichsten literarischen Zutreiber des Nationalsozialismus“.70 Mit den anderen Kandidaten hätte man sich laut Schaxel „in der wissenschaftlichen Welt blamiert.“71 Greil reagierte indes wenig überraschend, indem er im April mitteilte, dass er die Vorschläge nicht akzeptieren würde, da er für den Posten den österreichischen Psychologen Wilhelm Peters in Betracht zöge, ein Sozialdemokrat jüdischer Herkunft.72 Damit war der Coup gelandet und das Establishment schlüpfte in die vorbereitete Opferrolle des „aufgezwungenen Kampf[es] für die Freiheit der Wissenschaft“.73 Von Jena aus startete eine Kampagne, um Peters Reputation zu beschädigen und ihn öffentlich für die Stelle als ungeeignet darzustellen. Den Minister traf der Vorwurf, dass ihm die notwendige Sachkenntnis für die Berufung fehle und er sich allein aus parteipolitischen Gründen über die mit angeblich fachlicher Kompetenz erstellte Vorschlagsliste der Universitätsleitung hinweggesetzt hätte. Mehr noch, er sei „kulturfeindlich“, „schlage den Interessen   67 68 69 70 71 72 73  

Prondczynsky (1999): Universitätspädagogik. Stier (1959): Lebensskizzen, n.p. (Weiß). Zitat (Tenner): UAJ, Best. BA, Nr. 1859, Bl. 55r–56r. Metzger (1979): Gestaltpsychologie, S. 84f. UAJ, Best. BA, Nr. 1859, Bl. 55r–56r. UAJ, BA 928, Bl. 292. UAJ, Best. BA, Nr. 928, Bl. 305r–306r.

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der Universität Jena ins Gesicht“ und hätte jemanden berufen, der die „sittliche“ Erziehung Thüringer Kinder zerstören wolle. Protestnoten in Kampfrhetorik wurden verfasst, allerhand Interna in der Presse lanciert und der Hochschulverband sowie die politische Opposition gegen die Regierung in Stellung gebracht.74 Die „alten Eliten“ ließen dabei alle Hüllen fallen und nur wenige an der Universität empörten sich darüber öffentlich.75 Die Antwort aus Weimar ließ nicht lange auf sich warten. Schon zuvor hatte Schaxel – voll auf Konfrontationskurs – im Landtag erklärt, „Ueber eine Protestnote würde [… man im Ministerium] nur lachen“. Jena sollte zum „erziehungswissenschaftlichen Zentrum“ gemacht werden, und die Gelegenheit würde jetzt dazu genutzt, „um neues Blut zuzuführen.“ Überhaupt sollte die Universität „von Grund auf erneuert werden, nicht nur durch ein neues Statut, sondern auch durch neue Persönlichkeiten.“76 Greil, der später selbst erklärte, dass er von „politischen Gesichtspunkten“ gegen „reaktionäre Elemente“ geleitet wurde, griff anschließend tatsächlich tief in das Selbstverwaltungsrecht der Hochschule ein.77 Zunächst nahm er aufgrund der lancierten Berichterstattung die Universitätsleitung in Haftung, indem er verfügte, dass fortan alle amtlichen Schreiben der Philosophischen Fakultät von Rektor und Senat vor Versand geprüft werden sollten.78 Danach hob er die im Statut festgeschriebene Vorschrift zur förmlichen Berufung von Universitätslehrern durch die Hochschule auf. Daraufhin endete das Verfahren von Peters als erstes dieser Art mit dessen Ernennung zum Ordinarius und Direktor der Psychologischen Anstalt durch das Staatsministerium am 1. Mai 1923.79 Kurz darauf änderte Greil das Statut gegen den Willen der Universität auch dahingehend,80 dass Nichthabilitierte Lehrberechtigungen erhalten konnten, und machte in der Folge davon Gebrauch.81 Gegen die Errichtung der Erziehungswissenschaftlichen Abteilung der Philosophischen Fakultät regte sich zwischenzeitlich weiter erheblicher Widerstand. Zunächst erhielt Schaxel vom Senat wegen seiner Äußerungen im Landtag einen Verweis ausgesprochen.82 Walther Judeich geißelte die Umstrukturierung und Berufungspolitik als „Vergewaltigung [des] Selbstbestimmungsrechtes“ der Universität.83 Und im Dezember 1923 stimmte der Große Senat dafür, die Erziehungswissenschaftliche Abteilung nicht anzuerkennen. Der Wortlaut dazu war:   74 75 76 77 78 79 80 81 82 83  

Bräuer / Faludi (2013): Universität, S. 222–229; Rauchfuß (2000): Hochschulkonflikt. Einer der wenigen war wieder Cartellieri. Vgl. Eckardt (1973): Gründung, S. 544. UAJ, Best. BA, Nr. 1859, Bl. 55r–56r. Zitate (Greil): UAJ, Best. BA, Nr. 1859, Bl. 96r. Die Universität weigerte sich, Folge zu leisten. UAJ, BA 928, Bl. 301f.; UAJ, Best. BA; Nr. 1859, Bl. 89r. Stier (1959): Lebensskizzen, n.p. (Peters). UAJ, BA 92, Bl. 205ff. Ebd., Bl. 208r+v; Bräuer / Faludi (2013): Universität, S. 209–217. UAJ, BA 1859, Bl. 57. UAJ, Best. BA, Nr. 96, Bl. 5r–7r.

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  Wir versagen der Einrichtung der erziehungswissenschaftlichen Abteilung bei der philosophischen Fakultät und dem dazu erlassenen Statut in allen seinen Teilen die Anerkennung; aus formalen Gründen, weil dabei der Senat nicht gehört und die Rechte der Fakultät und des Senats nicht gewahrt worden sind; aus sachlichen Gründen, weil durch die Aufhebung bewährter Einrichtungen einerseits und andererseits durch die Aufnahme von Sachen und Personen, die mit Universität und Wissenschaft gar nichts zu tun haben, Ruf und Ansehen der Universität schwer geschädigt werden.84

Die Befürchtung der Konservativen, Greils Politik sei Ausdruck einer politischen Durchdringung ihres vermeintlichen Hoheitsgebietes, kamen dabei nicht von ungefähr, wenngleich sich dessen Absichten zumindest aber immer auf dem festen Boden republikanischer Grundsätze bewegten.85 So war etwa die Berufung des vormaligen Hessischen Kultusministers Reinhard Strecker zum Honorarprofessor auf einen Plan zwischen Schaxel und Emil Fuchs, einem führenden Kopf im Bund der Religiösen Sozialistinnen und Sozialisten Thüringens, zurückzuführen. Dieser sah vor, „in Jena eine Front zu bilden“ und „ein socialistisches Kulturcentrum“ zu schaffen, das „die wissenschaftliche Welt schon zum Aufmerken zwingen und die Gedanken einer neuen socialistischen Kulturgestaltung der Welt deutlich machen“ sollte.86 Dazu gehörten auch die weiteren Berufungen: Aus dem Schuldienst kamen die USPD/SPD-Frau Anna Siemsen und der Reformpädagoge Otto Scheibner. Wilhelm Flitner war Mitbegründer der Jenaer Volkshochschule. Alle wurden ebenfalls zu Honorarprofessoren – womit das Ministerium gegen eigene, der Salana im Jahr zuvor erlassene Richtlinien handelte.87 Der Husserl-Schüler Paul Linke wurde Extraordinarius. Greil entsprach darüber hinaus auch dem Wunsch Reins, indem der Herbartianer Georg Weiß eine außerordentliche Professur erhielt.88 Die Berufung des Hamburger Schulreformers und späteren Begründers der Jenaplan-Pädagogik Peter Petersen verlief gleichfalls ohne Reibungsverlust, da er als der Philosophie nah galt.89 Erheblichen Widerstand verursachte dagegen die Besetzung des zweiten Ordinariats. Nach mehreren Absagen entschied man sich in Weimar zur Berufung von Mathilde Vaerting. Nicht nur, dass es zum Zeitpunkt ein absolutes Novum darstellte, eine Frau zum „Professor“ zu machen – die weibliche Form des Wortes existierte noch nicht einmal im deutschen Sprachgebrauch. Vaerting war überdies auch noch eine entschiedene Schulreformerin, beschäftigte sich mit Geschlechterforschung und war nicht habilitiert. Am 1. Oktober 1923 wurde sie die erste Frau auf einem Ordinariat in Jena sowie die erste Professorin für Pädagogik und zweite in Deutschland überhaupt. Greil, dessen Berufungspolitik insgesamt bis dahin   84 85 86 87

Ebd., Bl. 28r+v. John (2012): Schule, insb. S. 94f. LATh – HStA Weimar, ThVM, C 319, Bl. 13r. Diese schrieben eine vorhergehende sechsjährige Zugehörigkeit zur Universität vor. Vgl. UAJ, Best. BA, Nr. 1859, Bl. 77r–79v. 88 UAJ, Best. BA, Nr. 96, Bl. 10r+v. 89 PPAV, Mappe: Peter Petersen Personalien, n.f.; UAJ, Best. M, Nr. 630/1, Bl. 22r–24r; John (2012): Schule, S. 77ff.  

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schon eine beachtliche Liste bedeutsamer Wissenschaftler aufwies, brach hier richtungsweisend gleich mit einem ganzen Bündel tradierter Hochschulformen. Er gab der Berufenen aber auch eine schwere Hypothek mit, die sie, als „Stieftochter der Alma Mater“ geltend, zum „unbeliebten Querkopf“ machte.90 Vaerting selbst präsentierte sich im Klima des Chauvinismus an einer von konservativ bis völkisch weit rechts stehenden Männern dominierten Universität nach außen erstaunlich schlagfertig und selbstsicher. Dabei dürfte es ihr tatsächlich nicht immer leichtgefallen sein, sich gegen jeden der Angreifer zu behaupten. Insbesondere, da einige von ihnen in der radikalen öffentlichen Auseinandersetzung besonders erprobt und extrem rücksichtslos waren. 6. ANTISEMITISMUS Das Phänomen Antisemitismus an der Landesuniversität in der Weimarer Zeit ist besonders eng mit einem Namen verknüpft: Ludwig Plate. Der Sozialdarwinist hatte sich 1888 in Marburg habilitiert. Als er 1909 einen Ruf nach Jena erhielt und dort die Nachfolge Ernst Haeckels als Direktor des Zoologischen Instituts und des neuen Phyletischen Museums antrat, wurde er aufgrund seines rücksichtslosen Charakters selbst seinem berühmten Vorgänger rasch unangenehm. Bereits zuvor hatte er sich im Bereich der Rassenhygiene und Eugenik derart profiliert, dass er heute als ein ideologischer Vordenker des Nationalsozialismus gilt.91 In seiner Jenaer Zeit trat Plate stets als chauvinistischer Scharfmacher gegen alles auf, was nicht in sein Weltbild passte. Wo er sich einmischte, eskalierte jeder Streit.92 Zielscheibe seiner Angriffe wurden beispielsweise Karl Korsch oder Mathilde Vaerting, gegen die er unter anderem eine Schmähschrift verfasste.93 Gegen den Pädagogen Peters – den er „als ‚Kollegen‘ überhaupt nicht anerkenne“, ignoriere und nicht einmal „grüsse“ – entfachte Plate eine Kampagne, indem er in einer seiner „Vorlesungen über die Judenfrage“ die Hörer „aus vaterländischen Gründen“ darüber „aufklärte“, dass dieser in Wahrheit „Pereles“ hieße und durch die Namensänderung seine jüdische Identität in übler Absicht verschleiern wollte.94 Plates spöttische Vortragsart und das Thema erregten unter der Studentenschaft stets große Aufmerksamkeit und viel Beifall. Er wusste genau, was er mit dem Angriff auf öffentlicher Bühne tat, und die gesamte Universität diskutierte den Vorgang „lebhaft“.95 Peters wehrte sich freilich gegen die Verleumdung, konnte aber als „Aufgezwungener“ kaum auf Unterstützung der Universitätsleitung bauen. Ideologisch und im Korpsgeist verhaftet,   90 Naumann (2001): Vaerting. 91 Zur Anthropologie: Hoßfeld (2005): Geschichte; zur Zoologie in Jena: Gerber (2009), Universität, S. 146–151. 92 Bräuer / Faludi (2013): Universität, S. 163–192. 93 Plate (1930): Feminismus. 94 UAJ, Best. BA, Nr. 951, Bl. 2r–3r. 95 UAJ, Best. BA, Nr. 951, Bl. 4r–5r.  

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standen viele dem Angreifer ohnehin näher. Ein vom Ministerium veranlasstes Dienststrafverfahren gegen Plate – es war nicht das erste – endete dementsprechend unter dem Deckmantel der Bewahrung „akademischer Lehrfreiheit“ mit einem Freispruch.96 Der Beschuldigte selbst wandte sich nach dem Regierungswechsel 1924 nach Weimar mit dem Antrag, die „Satzung über die Dienststrafverfahren gegen Universitätslehrer“ zu ändern.97 Bereits im Vorfeld hatten sich auch außerhalb von Plates Lehrveranstaltungen rassistische Einstellungen breitgemacht. 1922 etwa wurde an der Medizinischen Fakultät verfügt, „die ersten Bänke des Auditoriums für die Angehörigen der arischen Rasse reserviert“ zu halten.98 1923 forderte der Rektor – auf Initiative Studierender der „Vertreterschaft von 1911“ – alle Ausländer an der Universität auf, nur noch deutsch zu sprechen.99 Im Fall des zugelassenen aber angeblich nicht genügend vorgebildeten jüdischen Studenten Weißfeiler behauptete der Mediziner Rudolf Abel, über Jena würde als „Volkshochschule für ausländische Juden“ gespottet. Schuld daran sei der wegen der „judenfreundlichen Politik des Ministeriums für Volksbildung ungeheuerlich wachsende Zustrom ausländischer Juden“.100 Besorgt fragte er: Und wenn demnächst die Ausländer noch zahlreicher als bisher in die klinischen Semester gelangen, sollen die Leiber unserer deutschen Kranken, die überwiegend den handarbeitenden, judenfreien Schichten der Bevölkerung angehören, Objekte für Studien und Übungen ausländischer Angehöriger einer fremden Rasse werden?101

Der Jurist Justus Wilhelm Hedemann, der schon 1931 öffentlich und affirmativ aus „Mein Kampf“ zitieren sollte,102 schlug in Anlehnung an Statistiken aus der Anatomie einen ähnlichen Tenor an. In einer Kampagne gegen Schaxel schrieb er an den Hochschulverband, dieser habe „eine Ausländer-Politik betrieben, die uns eine völlige Überschwemmung mit ausländischen Elementen und zwar vor allem ausländischen Juden gebracht hat.“103 Die herausgegriffenen Beispiele akademischen Rassismus, insbesondere im Bereich der Medizin, machen deutlich, in welchem Klima sich der Thüringer Hochschulkonflikt entfaltete.104 Es ist daher wenig überraschend, dass dieser im Kontext der Berufung eines Mediziners jüdischer Herkunft vollständig eskalierte.   96 97 98 99 100 101 102 103 104  

UAJ, Best. BA, Nr. 967a, Bl. 80r–89r. LATh – HStA Weimar, ThVM, C 136, Bl. 16r–17v. LATh – HStA Weimar, ThVM, C 10, Bl. 5r. UAJ, Best. BA, Nr. 1922, Bl. 57. Tatsächlich führte die Zulassungspolitik zu einem dringend notwendigen Anstieg der Studierendenzahlen; auch aus unterrepräsentierten Schichten. Vgl. Bräuer / Faludi (2013): Universität, S. 93–99. UAJ, Best. BA, Nr. 1922, Bl. 40r–41r. Hedemann (1931): Jugend, S. 21. BArch, 8088, Nr. 556; Bräuer / Faludi (2013): Universität, S. 248–263. Vgl. zum Klima auch: Schröder-Auerbach (1995): Jugend.

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Im Zuge der Naturheilbewegung wurde zu Beginn der Weimarer Republik auch in Jena der Ruf nach einem Lehrstuhl für Naturheilkunde immer lauter; in der Ära Greil wurde er erhört. Die Umsetzung barg mehrere Konfliktpotenziale: Die Initiative dazu kam von den Thüringer Vereinen für naturgemäße Lebens- und Heilweise, also von außen.105 Die Naturheilkunde stand im Kontrast zur Schulmedizin.106 Und die Universität verfolgte eigene Pläne: Mit dem Internisten Julius Grober, einem späteren „Pionier der Rassenhygiene“, hatte sie zudem einen eigenen Kandidaten, der seit 1911 physikalisch-diätische Therapie lehrte. Im April 1921 informierte Stier Grober „vertraulich“ über eine Liste möglicher Kandidaten für den zu schaffenden Lehrstuhl. Auf ihr befand sich auch Emil Klein, der seit 1902 Oberarzt an der Charité war – ebenfalls im Bereich physikalisch-diätische Therapie.107 Im Juni machte sich erster Widerstand durch die Medizinische Fakultät bemerkbar, „wenn ausserhalb der Universität stehenden Interessengruppen ein unmittelbarer Einfluss auf Berufungs- und Personalfragen eingeräumt würde.“108 Im Dezember erreichte das Ministerium ein Gutachten über die Kandidaten aus der Feder des weithin geachteten und später an NS-Euthanasieverbrechen beteiligten Pädiaters Jussuf Ibrahim. Sein Urteil war vernichtend. Besonders Emil Klein sprach er jegliche Reputation ab: Den Hauptteil der Veröffentlichungen des Prof. Klein bilden aber Agitations- und Streitschriften gegen die Aerzte, gegen die ‚Schulmedizin‘, gegen die Wissenschaft und deren Vertreter, die mit allen Mitteln der Dialektik verächtlich und schlecht gemacht werden, im Gegensatz zu vielen Laienpraktikern, die von ihm als Verkünder des wahren Heiles der Menschheit gepriesen werden. […] Die Medizinische Fakultät kann sich nur in schärfsten Gegensatz zu Professor Klein stellen und muss ihn als völlig ungeeignet bezeichnen, den Lehrstuhl für physikalischdiätetische Heilverfahren an der Universität Jena einzunehmen.109

Der Linie entsprechend schloss Ibrahim mit der Empfehlung, Grober die Stelle zuzuweisen. Zeitgleich setzte die vorbereitende Stimmungsmache gegen „den Juden“ Klein ein.110 Fast zwei Jahre später, der Hochschulkonflikt war bereits in vollem Gange, teilte Greil der Universität mit, dass das Staatsministerium Emil Klein zum 1. November 1923 zum Ordinarius mit Lehrauftrag für „klinische Pathologie und Therapie“ berufen hatte.111 Daraufhin holte Rektor Henkel zum rhetorischen Rundumschlag aus und verfasste ein Schreiben, in dem er sich über sämtliche Maßnahmen der Ära Greil ausführlich und aus seiner Sicht beschwerte.112 Wenngleich einige Punkte darin durchaus eine berechtigte Kritik ausdrückten, war der Zweck da  105 106 107 108 109 110 111 112  

Faludi / Hendel (in Vorbereitung): Naturheilverein. UAJ, Best. L, Nr. 434, Bl. 32r–41r. UAJ, Best. L, Nr. 434, Bl. 21r. Ebd., Bl. 32r. Ebd., Bl. 32v. Stutz / John (2013): Universität, S. 349. UAJ, Best. L, Nr. 434, Bl. 99r. UAJ, Best. BA, Nr. 1859, Bl. 77r–79v.

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hinter nicht die Suche nach einem Kompromiss. Vielmehr war der Brief ein Aufschrei in Richtung Öffentlichkeit, die Henkel in gewohnt konspirativer Manier durch eine Lancierung in der Presse für seinen Feldzug einspannen wollte. Am 14. Oktober druckte die Thüringer Allgemeine Zeitung Auszüge daraus mit dem Kommentar: Man muß es aufs freudigste begrüßen, daß der offizielle Vertreter der Thüringer Landesuniversität in so klarer und sachlicher Weise gegen die unerhörten Eingriffe des Volksbildungsministers, der die Jenaer Hochschule zu einer Vorburg sozialistischer Parteidoktrin stempeln will, Stellung nimmt.113

Nachdem Greil vom Rektor die Nennung des Verantwortlichen für die Weitergabe des Schriftstückes verlangte, erhielt er die Antwort: „Senatsbeschluss“. Daraufhin verschärfte er seinen Erlass vom April und verfügte, dass künftig sämtliche Schreiben nach außen von Schaxel in der Ministerialgeschäftsstelle genehmigt werden müssten.114 Das wurde als Affront gewertet und brachte das Fass zum Überlaufen. Acht Tage später – das Land befand sich schon im Ausnahmezustand – machten sich Henkel und sein Vertreter, der Jurist Rudolf Hübner, auf den Weg nach Weimar, um endlich – und mit dem Rückenwind der politischen Ereignisse – im direkten Kontakt und in großer Runde miteinander ins Gespräch zu kommen. Ihnen gegenüber befanden sich Greil, Schaxel, Stier, Kühnert und der in die Regierung gewechselte Korsch. Der Versuch eines offenen Dialoges kam aber viel zu spät und entwickelte sich im aufgeladenen Klima schnell zur Farce. Henkel, dem beim Hereinbitten schon kein Stuhl angeboten worden war, redete sich rasch in Rage. Nach einem Schlagabtausch mit Greil übernahm Hübner das Wort und beschwerte sich heftig über die „Praeventivzensur“ des Ministers. Selbst Korsch pflichtete dem bei. Greil aber beharrte auf seinen Standpunkten; so auch auf der Berufung Kleins aus „politischen Gründen“. Daraufhin erklärte Henkel seinen Rücktritt als Rektor.115 Im Anschluss an das Treffen ging es weiter, wie gehabt: Henkel, Hübner, Judeich, Wundt und andere entsponnen nun eine überregionale (Presse-)Kampagne gegen die „Greilsche Diktatur“ und dessen nach Jena Berufene fanden sich andauerndem Feuer ausgesetzt.116 Im besonderen Ausmaß sollte das auch Schaxel treffen.117 Hedemann brachte dazu noch den Verband Deutscher Hochschulen erfolgreich und generalstabmäßig auf die Barrikaden gegen das Ministerium, das sich zum Zeitpunkt schon an anderer Front in extremer Krise befand. Infolge der Reichsexekution gegen Sachsen und des Einmarschs der Reichswehr auch in Thüringen im November 1923 endete jeder Handlungsspielraum der „Arbeiterregierung“ Frölich jäh. Rund um die Ereignisse – den Regierungseintritt der KPD und den Reichsmaßnahmen – sah man sich auf Seiten des Universitätsestablishments nicht nur zunehmend   113 114 115 116 117

Thüringer Allgemeine Zeitung v. 14.10.1923. UAJ, Best. BA, Nr. 1859, Bl. 89r. UAJ, Best. BA, Nr. 1859, Bl. 95r–99r. Vgl. etwa: UAJ, Best. L, Nr. 434, Bl. 112r–122r; BA 96, Bl. 67; BA 1859, Bl. 206. Bräuer / Faludi (2013): Universität, S. 248–263.

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als Sieger, sondern auch moralisch und in den handlungsleitenden politischen Einstellungen bestätigt. Derart gestärkt beschloss der Große Senat am 15. Dezember, den Verkehr mit dem bereits unter Reichskuratel stehenden Ministerium umfassend einzustellen, was als Autonomieerklärung gemeint auch den Weg zur Revision von Maßnahmen Greils ebnen sollte. Und so verkündete Hedemann im Januar 1924 triumphierend und programmatisch: „da sich die Thüringischen Minister alle gegenseitig beurlaubt haben, [werden] die Geschäfte also rein bürokratisch von den Ministerialdirektoren weitergeführt […]. So sind irgendwie durchgreifende Beschlüsse nicht mehr zu erwarten.“118 7. SCHLUSS Eine Bewertung in Rückschau auf die Dokumentation fällt nicht nur aufgrund der Vielschichtigkeit der Ereignisse schwer. Nur allzu leicht ist es in der ein oder anderen Situation möglich, dass der Betrachter in die (subjektive) Sackgasse manövriert, indem er einer Seite seine Sympathie schenkt.119 Wie gesehen, waren es auch durchaus hehre oder zumindest vertretbare Ziele, die sich zu Beginn des Konfliktes gegenüberstanden: Reformwille versus Tradition, die Neustrukturierung versus die Bewahrung des Bestehenden – das ist beides zurecht in der Sache an sich und aus bestimmten Perspektiven als vornehme Absicht deutbar sowie per se kaum verwerflich. Daran entzündete sich die Auseinandersetzung auch nicht. Erst die vielfältige ideologische Aufladung, in vielen Belangen ein Kennzeichen der jungen Demokratie, als eines, beziehungsweise die Maxime puren Hegemoniestrebens als anderes Extrem brachten die Dynamik in Gang. Und menschliche Unzulänglichkeiten befeuerten schließlich die Feindseligkeit: Missverständnisse, Unterstellungen, Kränkungen, Verbitterung, Eitelkeiten, Chauvinismus, Status-/Besitzdenken, Verleumdungen, Alleingänge, Empathie- und Rücksichtslosigkeit sowie ein unsäglicher Briefverkehr, der Gesichtsfeld-Beziehungen fast vollständig ersetzte, waren Treibstoff einer Fehde, die zunächst keiner stoppen wollte und später keiner mehr konnte. All das führte dazu, dass sich am Ende zwei Parteien derart aufgeladen gegenüberstanden, dass nur die totale Niederlage einer oder beider Seiten übrigblieb. Letztlich diktierten äußere Ereignisse den Ausgang. Die Schuldfrage zu stellen, ist in so gearteter Konstellation nicht zielführend. Den fehlgeleiteten Prozess (frühzeitig) als solchen zu erkennen, ist die Lehre, die auch für gegenwärtige politische Konstellationen bleibt. Denn in Bezug auf die Gesamtgeschichte der Weimarer Republik bildet der Thüringer Hochschulkonflikt zwar nur eine zeitlich begrenzte, regionale Episode. Im Vergleich zur Gesamtkonstellation ist er aber ein paradigmatisches Beispiel für die vielfältigen Spaltungen innerhalb einer Gesellschaft und die Unterschätzung derer Sprengkraft. Letzten Endes war es schließlich auch die Uneinigkeit, die allzu oft und zu lange das Geschehen bestimmte und damit einer homogen   118 BArch, R 8088, Nr. 556, n.p. 119 Vgl. etwa zum „historiographisch schlechten Ruf“ Greils: John (2009): Land, S. 44ff.

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auftretenden „Bewegung“ selbst das Werkzeug in die Hand gab, die erste deutsche Demokratie auszuhebeln. ARCHIVALISCHE ABKÜRZUNGEN BArch – Bundesarchiv Best. – Bestand HSA – Handschriftenabteilung HStA – Hauptstaatsarchiv LATH – Landesarchiv Thüringen PABV – Personalakten Bereich Volksbildung PPAV – Peter Petersen Archiv Vechta ThULB – Thüringische Universitäts- und Landesbibliothek ThVM – Thüringisches Volksbildungsministerium UAJ – Universitätsarchiv Jena

LITERATUR Bauch, Bruno: Der Geist von Potsdam und der Geist von Weimar. Eine Rede bei der von der Universität Jena veranstalteten Feier des Jahrestages der Gründung des Deutschen Reiches gehalten am 18. Januar 1926, Jena 1926. Ders.: Jena und die Philosophie des deutschen Idealismus. Rede gehalten zur Feier der akademischen Preisverteilung am 17. Juni 1922 in der Stadtkirche zu Jena, Jena 1922. Baumgarten, Marita: Professoren und Universitäten im 19. Jahrhundert, Göttingen 1997. Bräuer, Tom / Faludi, Christian: Die Universität Jena in der Weimarer Republik 1918–1933. Eine Quellenedition (=Quellen und Beiträge zur Geschichte der Universität Jena 10), Stuttgart 2013. Buchwald, Reinhard: Miterlebte Geschichte. Lebenserinnerungen 1884–1930, hrsg. v. Ulrich Herrmann, Köln / Weimar / Wien 1992. Dyk, Silke van, Lessenich, Stephan (Hrsg.): Jena und die deutsche Soziologie. Der Soziologentag 1922 und das Soziologentreffen 1934 in der Retrospektive, Frankfurt a.M. / New York 2008. Eckardt, Georg: Die Gründung der Psychologischen Anstalt in Jena (1923). In: WZUJ GSR 23 (1973), S. 517–559. Faludi, Christian / Hendel, Joachim: Naturheilverein. In: Lexikon zur Jenaer Stadtgeschichte (in Vorbereitung). Ders.: Schrödinger, Erwin. In: Lexikon zur Jenaer Stadtgeschichte (in Vorbereitung). Gerber, Stefan: Die Universität Jena 1850–1918. In: Traditionen – Brüche – Wandlungen. Die Universität Jena 1850–1995, hrsg. von der Senatskommission zur Aufarbeitung der Jenaer Universitätsgeschichte im 20. Jahrhundert, Köln / Weimar / Wien 2009, S. 23–269. Hedemann, Justus Wilhelm: Jugend und Alter. Die Folge der Generationen. Ein Blick auf unsere Zeit, Jena 1931. Hoßfeld, Uwe: Geschichte der biologischen Anthroplogie in Deutschland. Von den Anfängen bis in die Nachkriegszeit, 2Stuttgart 2016. John, Jürgen / Stutz, Rüdiger: Die Jenaer Universität 1918–1945. In: Traditionen – Brüche – Wandlungen. Die Universität Jena 1850–1995, hrsg. von der Senatskommission zur Aufarbeitung der Jenaer Universitätsgeschichte im 20. Jahrhundert, Köln / Weimar / Wien 2009, S. 270–587. Ders.: „Eine Schule – ein Lehrerstand“. Lehrerbildung, Erziehungswissenschaftliche Anstalt und Universitätsschule als Peter Petersens Jenaer Handlungsfelder 1923 bis 1933. In: Peter Petersen

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  und die Jenaplan-Pädagogik. Historische und aktuelle Perspektiven, hrsg. v. Peter Fauser, Jürgen John, Rüdiger Stutz unter Mitwirkung von Christian Faludi, Stuttgart 2012, S. 77–160. Ders.: Jenaer Studenten in den bayerischen Putschvorbereitungen 1923. In: ZfG 32 (1984), S. 314– 331. Ders.: „Land im Aufbruch“. Thüringer Demokratie- und Gestaltungspotentiale nach 1918. In: Ulbricht, Justus H. (Hrsg.): Weimar 1919. Chancen einer Republik, Köln / Weimar / Wien 2009, S. 17–46. Ders.: Zum Wirken kommunistischer Studenten in Jena 1922/23. Die kommunistische Studentengruppe an der Universität Jena und das Kartell der Deutschen Republikanischen Studentenschaft. In: ZfG 31 (1983), S. 607–625. Metzger, Wolfgang: Gestaltpsychologie – Ein Ärgernis für die Nazis. In: Psychologie heute 6 (1979), S. 84f. Meß, Friedrich: Meine Erinnerungen an Ministerialdirektor Dr. Ernst Wuttig (Ms.), Weimar 1935 Mitzenheim, Paul: Die Greilsche Schulreform in Thüringen, Jena 1966. Naumann, Tina: Mathilde Vaerting – Stieftochter der Alma Mater Jenensis. Ein ungeliebter Querkopf in der Saalestadt. In: Horn, Gisela (Hrsg.): Entwurf und Wirklichkeit. Frauen in Jena 1900 bis 1933, Rudolstadt / Jena 2001, S. 245–265. Plate, Ludwig: Feminismus unter dem Deckmantel der Wissenschaft, Darmstadt / Leipzig 1930. Prondczynsky, Andreas von: Universitätspädagogik und lokale pädagogische Kultur in Jena zwischen 1885 und 1933. In: Langewand, Alfred / Prondczynsky, Andreas von (Hg): Lokale Wissenschaftskultur in der Erziehungswissenschaft, Weinheim 1999, S. 75–187. Ratz, Katrin: Der „Fall“ Max Henkel (1870–1941). Das Dienststrafverfahren gegen den Jenaer Ordinarius der Frauenheilkunde und Geburtshilfe (1915–1918) (MS, Dissertation), Uni Jena 2002. Rauchfuß, Katja: Der Thüringer Hochschulkonflikt im Spiegel der Presse (MS, Seminararbeit), Jena 2000. Sabrow, Martin: Der Rathenaumord. Rekonstruktion einer Verschwörung gegen die Republik von Weimar, München 1994. Schaxel, Julius: Autobiographie (MS), o.O. 1953. Schröder-Auerbach, Cornelia: Eine Jugend in Jena, in John, Jürgen / Wahl, Volker (Hrsg.): Zwischen Konvention und Avantgarde. Doppelstadt Jena-Weimar, Weimar / Köln / Wien 1995, S. 1–19. Steinbach, Matthias: Das verschlossene Tor der Universität. Karl Korsch (1886–1961). In: Ders. / Ploenus, Michael (Hrsg.): Ketzer, Käuze, Querulanten. Außenseiter im universitären Milieu, Jena 2008, S. 288–299. Stier, Friedrich: Lebensskizzen der Dozenten und Professoren an der Universität Jena 1548/1558– 1958 (MS), Jena 1959.

ZUR AKADEMISCHEN MOBILITÄT IN DER WEIMARER REPUBLIK Die beiden Freiburger Professoren Ludwig Aschoff und Engelbert Krebs als Weltreisende Rebecca Schröder Am 4. Oktober 1914 wurde ein von 93 deutschen Schriftstellern, Gelehrten und Künstlern unterzeichneter Aufruf „An die Kulturwelt“ herausgegeben, in dem sich die Unterzeichner gegen den Vorwurf der Entente wandten, Deutschland habe den Ausbruch des Krieges verschuldet und die Neutralität Belgiens verletzt.1 Nur wenige Tage später erfolgte zudem die Erklärung der Hochschullehrerschaft des Deutschen Reiches, die den Weltkrieg als Verteidigungskampf der deutschen Kultur rechtfertigte.2 Die beiden Dokumente fügen sich ein in zahlreiche, von bekannten Kulturgrößen getragene Manifeste beider Seiten, die in einem „Krieg der Geister“ die öffentliche Meinung zu beeinflussen suchten.3 Als Reaktion auf die beiden Manifeste schlossen im Februar 1915 die „Académie des Inscriptions et des Belles Lettres“ sowie die „Académie des Sciences“ die Unterzeichner des Aufrufs aus ihren Reihen aus. Auch die „British Association of the advancement of science“ begann, sich verstärkt als engeren internationalen Zusammenschluss zu begreifen, der gegen die Kulturträger der Zentralmächte gerichtet sein sollte.4 Im Jahr 1916 schlossen sich diesem Vorhaben die „Royal Society of Literature“ sowie mehrere ausländische Akademien an.5 Auf der im Oktober 1918 in London tagenden Konferenz der interalliierten Akademien begann man darüber zu beratschlagen, wie die Hegemonie Deutschlands auf wissenschaftlicher Ebene dauerhaft unterbunden werden könne.6 Auf einer Folgetagung, die vom 26. November bis 1. Dezember 1918 in Paris stattfand, wurden unter Ausschluss Deutschlands neue internationale Verbände gegründet, als deren Dachgesellschaften für die Naturwissenschaften der „Conseil international des recherches“ für die „Union acádemique internationale“ für die Geisteswissenschaften bestimmt wurden. Nach deren Bestimmungen   1 2 3 4 5 6  

Vgl. Vom Bruch / Hofmeister (2002): Deutsche Geschichte in Quellen und Darstellung, S. 366–369. Vgl. Kellermann (1915): Der Krieg der Geister. Vom Bruch (2005): Geistige Kriegspropaganda, S. 393. Vgl. Rüegg (2004): Geschichte der Universität, S. 519. Vgl. Metzler (2010): Deutschland in den internationalen Wissenschaftsbeziehungen, S. 67. Vgl. Ebd.

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sollten die deutschen wissenschaftlichen Körperschaften bis in das Jahr 1931 von internationalen Zusammenschlüssen ausgeschlossen werden. Zudem wurde im Versailler Vertrag (Art.282) festgehalten, dass alle bisherigen internationalen Zusammenkünfte mit Deutschland auf dem Gebiet der Wissenschaft über den Krieg hinaus als aufgelöst zu betrachten seien.7 Die Erfahrung der Propaganda und Kulturpolitik des Ersten Weltkriegs hatte die Einstellung des Deutschen Reiches gegenüber der Auswärtigen Kulturpolitik erheblich verändert und dieser eine erhöhte Bedeutung zukommen lassen.8 Aus diesem Grund wurde innerhalb des Auswärtigen Amtes im Jahr 1920 eine kulturpolitische Abteilung gegründet, zu deren primären Aufgaben die Wiederaufnahme „geistiger Zusammenarbeit“ und die Reintegration deutscher Wissenschaft in die internationale Gelehrtengemeinschaft gehörte.9 In diesem Kontext wurden besonders deutsche Wissenschaftler gefördert, die unmittelbar nach Ende des Ersten Weltkriegs zu Vortragsreisen ins Ausland gebeten wurden, um dort ihre Forschungsergebnisse vor ausländischem Fachpublikum zu präsentieren.10 Diese Einladungen erfolgten von wissenschaftlichen Gesellschaften, die den Boykott der deutschen Wissenschaft nicht unterstützt oder sich mit der Zeit öffentlich von den Bestimmungen der internationalen Dachgesellschaften distanziert hatten.11 Unter den eingeladenen Wissenschaftlern befanden sich Vertreter aller fachlichen Disziplinen: Neben Geistes-, Sozial, Rechts- und Wirtschaftswissenschaftlern wurden Gelehrte aus den naturwissenschaftlichen Fächern, vornehmlich der Medizin eingeladen.12 In diesem wieder einsetzenden internationalen Austausch waren die verschiedenen Disziplinen unterschiedlich stark vertreten. Der Großteil der deutschen Professorenschaft stand der Weimarer Republik ablehnend gegenüber, der verlorene Krieg, die Revolution von 1918/19 und der Friedensschluss wurden als Schande für die deutsche Nation empfunden.13 Dementsprechend wurden die Vortragsreisen auch genutzt, um gegenüber den geistigen Eliten des Auslands die im Versailler Vertrag fixierte These von der Alleinschuld Deutschlands am Ausbruch des Weltkrieges zu widerlegen. Um zu verhindern, dass deutsche Professoren während ihrer Vortragsreisen allzu offensichtlich eine deutsche Propaganda verfolgten, riet ihnen die kulturpolitische Abteilung des Auswärtigen Amtes im Vorfeld zur Zurückhaltung.14 Zudem sollten die diplomatischen Vertretungen des Auslands die

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Vgl. Abelein (1968): Die Kulturpolitik, S. 24. Vgl. ebd., S. 113. Siehe auch den Beitrag von Dominik Herzner über die deutschen Auslandsschulen in Spanien im Kontext der Neuausrichtung der auswärtigen Kulturpolitik in diesem Band. Vgl. ebd., S. 23. Vgl. Metzler (2010): Deutschland in den internationalen Wissenschaftsbeziehungen, S. 79. Vgl. Aschoff (1926): Ueber die internationalen Beziehungen. Vgl. Metzler (2010): Deutschland in den internationalen Wissenschaftsbeziehungen, S. 79. Vgl. ebd., S. 70. Vgl. Schröder- Gudehus (1966): Deutsche Wissenschaft, S. 218.

Zur akademischen Mobilität in der Weimarer Republik

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deutschen Gelehrten während ihres Auslandsaufenthaltes betreuen.15 Vielmehr versprach man sich von den Vortragsreisen deutscher Wissenschaftler, dass diese „zur Schaffung und Festigung des allgemeinen Vertrauens in die deutsche Aufrichtigkeit, maßvolle Einsicht und Friedfertigkeit zu leisten im Stande waren“16. Sie sollten dazu beitragen, „im neutralen Ausland wieder Fuß zu fassen, die gegnerischen Verdächtigungen ad absurdum zu führen und selbst die geistige Elite der ehemals feindlichen Länder durch eine versöhnliche Haltung zu gewinnen“17. Trotz aller Bemühungen des Auswärtigen Amtes führte erst die Entspannungspolitik der Locarno-Ära und die Mitgliedschaft im Völkerbund zu einer allmählichen Annäherung Deutschlands an die internationale Wissenschaft.18 So lässt sich in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre nicht nur eine Zunahme der internationalen Aktivitäten deutscher Wissenschaftler beobachten, auch das akademischen Austauschwesen florierte zusehends. In diesem Kontext ist auch die Gründung des Deutschen Akademischen Austauschdienstes und der Alexander-von-Humboldt-Stiftung im Jahr 1925 zu nennen.19 Im Jahr 1931 wurde gemäß den Beschlüssen der beiden Dachgesellschaften der Boykott der deutschen Wissenschaft endgültig für beendet erklärt und der „Conseil international des recherches“ als Beratungsstelle weiter beibehalten.20 Während auf institutioneller Ebene der internationalen Wissenschaftsbeziehungen die Fronten zwischen Deutschland und den westlichen Ländern ‒noch länger als in der Außenpolitik‒verhärtet blieben, lässt sich auf informeller Ebene eine etwas anders geartete Entwicklung beobachten.21 Gerade die steigende Anzahl von Vortragsreisen innerhalb der eigentlichen „Boykottzeit“ verdeutlicht, dass Wissenschaft immer noch auf einem grenzüberschreitenden Austausch von wissenschaftlichen Erkenntnissen beruhte.22 Die Bezeichnung der Weimarer Periode als „Leidenszeit“ deutscher Wissenschaft und Universitäten, die dem Deutungsmuster von der Weimarer Republik als Krise folgt, trifft deswegen nur sehr bedingt zu.23

  15 16 17 18 19 20 21 22 23  

Vgl. ebd., S. 218. Schröder- Gudehus (1966): Deutsche Wissenschaft, S. 217. Ebd., S. 217. Vgl. Metzler (2010): Deutschland in den internationalen Wissenschaftsbeziehungen, S. 67. Vgl. ebd., S. 78. Vgl. Abelein (1968): Die Kulturpolitik, S. 24. Vgl. Metzler (2010): Deutschland in den internationalen Wissenschaftsbeziehungen, S. 79. Vgl. ebd., S. 81. John (2010): Einleitung, S. 26.

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1. DER PATHOLOGE LUDWIG ASCHOFF (1866–1942) UND DER KATHOLISCHE THEOLOGE ENGELBERT KREBS (1881–1950) – ZWEI FREIBURGER PROFESSOREN AUF WELTREISE Das Auswärtige Amt hatte den Vortragsreisen deutscher Wissenschaftler „teils unter kulturellen, teils unter propagandistischen Gesichtspunkten“ einen „außerordentlichen Wert“24 beigemessen. Dementsprechend wurden die deutschen Gelehrten aufgefordert, sowohl der kulturpolitischen Abteilung des Auswärtigen Amtes als auch den diplomatischen Vertretungen im Ausland die bevorstehenden Reisen rechtzeitig anzukündigen.25 Die Akten der Kulturabteilung des Auswärtigen Amtes geben dementsprechend einen Überblick über die akademische Mobilität während der „Boykottzeit“ von 1919 bis 1931. Eine Auswertung dieses Quellenmaterials zeigt, dass innerhalb der medizinischen Wissenschaft der Freiburger Pathologe Ludwig Aschoff (1866–1942) besonders oft zu Vortragsreisen ins Ausland gebeten wurde. Durch seine hervorragenden fachlichen Leistungen und als Vorsitzender der Deutschen Pathologischen Akademie hatte Aschoff „wissenschaftliche[n] Weltruf“26 erlangt und war auf Einladung der Russischen Pathologischen Gesellschaft im Herbst 1923 nach Russland gereist. In den darauf folgenden Jahren schlossen sich weitere Vortragsreisen u.a. nach Spanien, Ungarn und den sowjetischen Kaukasus an. Im Jahr 1924 unternahm Aschoff eine Vortragsreise nach Amerika und Japan, durch die er einen wesentlichen Beitrag zur Wiederherstellung der internationalen Anerkennung der deutschen Medizin nach dem Ersten Weltkrieg leistete. Dem Freiburger Dogmatikprofessor Engelbert Krebs (1881–1950) kann ebenfalls eine Sonderrolle zugesprochen werden, da er als einziger katholischer Theologe während des untersuchten Zeitraums zu einer Weltreise aufgebrochen war, die ihn im Jahr 1926 zu Vorträgen durch Nordamerika und Japan führte. Im Fokus des wissenschaftlichen Beitrags sollen die Vortragsreisen beider Freiburger Professoren vergleichend auf ihre politische Motivation hin untersucht werden. Dabei spielt eine erhebliche Rolle, in welchem Verhältnis die beiden Gelehrten zur neu entstehenden Weimarer Republik standen und welche Kategorie die Nation in ihrem (wissenschafts-) politischen Denken nach 1918 weiterhin spielte. Hielten sich die beiden Professoren an die vom Auswärtigem Amt in Berlin geforderte „friedlich-kulturelle Selbstdarstellung und Werbung“27 oder nutzten sie die Reise, um aktiv politische Aufklärung im Sinne Deutschlands zu betreiben? Von Interesse ist ebenfalls, wie sich die beiden Weltreisenden gegenseitig bei der Durchführung der Reise und Pflege der internationalen Kontakte unterstützen und ob die Vortragsreisen innerhalb der medizinischen und katholisch-theologischen Fakultät der Universität Freiburg gewürdigt wurden. Insgesamt soll der Aufsatz das Ziel verfolgen, zur Erforschung akademischer Mobilität innerhalb der Weimarer Republik beizutragen.   24 PAA: R64674: Schreiben des Auswärtigen Amts in Berlin (31.08.1923). 25 PAA: R64674: Schreiben des Auswärtigen Amts in Berlin (31.08.1923). 26 PAA: R64717: Schreiben von der Deutschen Botschaft in Moskau an das Auswärtige Amt (04.07.1923). 27 Bruch (1982): Weltpolitik als Kulturmission, S. 24.

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2. DIE WELTREISE DES FREIBURGER PATHOLOGEN LUDWIG ASCHOFF (1922) Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs hatte eine Politisierung der deutschen Professorenschaft bewirkt. Auch der Freiburger Pathologe Ludwig Aschoff war während des Krieges mit politischen Reden öffentlich in Erscheinung getreten und hatte von dem Führungsanspruch des deutschen Volkes unter den Nationen gesprochen.28 Als oberster beratender Armeepathologe war Aschoff zu sämtlichen Weltkriegsfronten gereist, um an Hand klinischer Sektionen von gefallenen Soldaten Rückschlüsse auf die Konstitution des deutschen Volkes im wehrfähigen Alter zu ziehen. Auf diese Weise erhoffte man sich, zur gesundheitlichen Verbesserung der „Volksgemeinschaft“ beitragen zu können.29 So manifestierte sich gerade in diesem konstitutionspathologischen Programm der Kriegspathologie, „Aschoffs Nationalismus und der Wunsch nach einer klassenübergreifenden Volksgemeinschaft“30. Wie ein Großteil der Professorenschaft hatte Aschoff den Waffenstillstandsgesuch der deutschen Regierung vom Oktober 1918 als schwere Katastrophe empfunden.31 Ein Blick auf seine politische Haltung nach 1918 offenbart, dass Aschoff von tiefen Antipathien gegenüber der Weimarer Republik geprägt war.32 Dabei unterschied Aschoff jedoch zwischen Staatsform und Regierung: So lehnte er nicht die demokratische Staatsform an sich ab, sondern hielt die einzelnen Parteien für unfähig.33 In seinem Aufsatz „Gedanken am Verfassungstag“ führte Aschoff aus: „Es ist kein Verdienst der wechselnden Regierungen, dass unser Volk sich in zehn Jahren wieder so emporgearbeitet hat, es ist vielmehr Zeichen für die in unserem Volk schlummernde Kraft, dass es sich trotz des Egoismus der Parteien so stark behauptet hat.“34 Das in der Weimarer Nationalversammlung von 1919 geschlossene Bündnis von SPD, Zentrumspartei und DDP wurde von ihm abgelehnt, da Aschoff als Teil des protestantischen Bildungsbürgertums sowohl Sozialisten als auch Katholiken als national nicht zuverlässig bewertete.35 Aschoff war seit 1918 Mitglied der DDP, die ihm allerdings „nicht früh genug den nationalen Boden wiedergewinnen“36 konnte. Stattdessen entwickelte Aschoff ein eigenes politisches Konzept, nach dem Sozialisten und Kommunisten, „die an einem neuen selbstbewussten deutschen Volke Anteil haben wollen“, in einen neu gegründeten „Jungdeutschen Ring“37 integriert werden sollten.   28 29 30 31 32 33 34 35 36 37  

Prüll (2002): Ludwig Aschoff, S. 96–97. Ebd., S. 98f. Ebd., S. 99. Ebd., S. 103. Ebd., S. 100. Buscher (1980): Die wissenschaftstheoretischen Arbeiten, S. 71. Aschoff (1929: Gedanken am Verfassungstag, S. 446–448. Prüll (2002): Ludwig Aschoff, S. 100–101. Vgl. Aschoff (1966): Ein Gelehrtenleben, S. 285. Ebd., S. 296.

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Seine deutschnationale Grundhaltung wurde auch in Aschoffs wissenschaftspolitischem Handeln nach 1918 sichtbar: So öffnete Aschoff sein Pathologisches Institut nur Medizinern derjenigen Nationen zur wissenschaftlichen Zusammenarbeit, die sich öffentlich gegen den in Paris ausgesprochenen Boykott der deutschen Wissenschaft positioniert hatten.38 Im November 1923 erhielt Aschoff eine Einladung von dem Chirurgen und Pathologen H. R. Gaylord aus Buffalo im Sommersemester 1924 eine Vortragsreise durch die Vereinigten Staaten zu unternehmen. Durch die Vermittlung seines ehemaligen Studenten, dem Pathologen der Universität Tokio, Mataro Nagayo, erreichte Aschoff auch eine Einladung der Japanisch Pathologischen Gesellschaft, im Anschluss an seine Amerikatour auch eine Vortragsreise durch Japan zu unternehmen.39 Erst nachdem das Japanisch Pathologische Institut und amerikanischen Gelehrtenkreise sich öffentlich von den Beschlüssen des Pariser „Conseil international des recherches“ distanziert hatten, nahm Aschoff die Einladungen zu Vortragsreisen an.40 Entgegen den Vorstellungen des Auswärtigen Amtes betonte Aschoff während seiner gesamten Weltreise „selbstverständlich [s]ein Deutschtum“ und forderte öffentlich eine Wiedergutmachung für „die seelische Vergewaltigung an unserem Volke, nämlich ihm allein die Schuld am Kriege zuzuschreiben“41. Wie die meisten Professoren einer deutschnationalen Gesinnung, hatte sich Aschoff dem Kampf gegen den Versailler Vertrag und die in ihm enthaltende „Kriegsschuldlüge“ verschrieben.42 Zudem versuchte Aschoff während seiner Reise, Frankreich als den eigentlichen Aggressor auf dem europäischen Parkett zu entlarven: „Nicht Deutschlands angeblicher Militarismus, sondern Frankreichs aggressives Verhalten hat seit zweihundert Jahren Europa und besonders Deutschland nicht zur Ruhe kommen lassen.“43 Während Aschoff in Japan „auf eine relativ objektive Auffassung der Verhältnisse in Deutschland traf, auch vielfach das Bedauern heraushörte, dass man sich durch England in diesen Kreisen gegen Deutschland hineintreiben ließ, welcher Japan die Vormachtstellung im Osten gekostet hat und England und Amerika zu Beherrschern des indischen und stillen Ozeans machte“, hatte Aschoff „in den Vereinigten Staaten […] nur die widersinnigsten und abfälligsten Urteile über Deutschland zu hören und zu sehen bekommen“, die zu Aschoffs Entsetzen, „von deutschstämmigen Leuten weiter getragen“ wurden. Eine Ausnahme stellten für Aschoff die deutschen Burschenschaftler in den Vereinigten Staaten dar, die „für das Deutschtum eintreten und als Führer der Unterstützerausschüsse der deutschen

  38 39 40 41 42 43  

Aschoff (1925): Meine Vortragsreise um die Welt, S. 20. Seidler / Ackermann (1986): Freiburg und die japanische Medizin, S. 19. Aschoff (1925): Meine Vortragsreise um die Welt, S. 20. Ebd., S. 24–25. Vgl. Bangert (2007): Distanz und Ablehnung, S. 229. Aschoff (1966): Ein Gelehrtenleben, S. 326.

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Wissenschaft, als Leiter der deutschen Spitäler, als Vorsitzende der deutschen Gesellschaften ihr Bestes geben“44. Aber auch die deutsch-amerikanischen Juden konnte Aschoff als „Träger des Deutschtums identifizieren: Sie waren es, die mich in New York und San Francisco am meisten nach Deutschlands Schicksal fragten, die nur deutsch mit mir sprachen, die offen Ihrer Meinung über die Schuld Amerikas Ausdruck gaben oder jedenfalls Gerechtigkeit übten, woran die übrigen Amerikaner gar nicht denken. Dass die große Hilfsaktion für unsere deutschen Universitäten und deutschen Mittelschulen in erster Linie von deutsch-amerikanischen Juden und gerade alten deutschen Burschenschaftlern gehalten und durchgeführt wird, ist ja allgemein bekannt. Ich staunte über die große Summe, viele Millionen Dollar, die allein im letzten Jahr, allein für diese Zwecke aufgebracht waren.45

Seiner nationalen Haltung entsprechend glaubte Aschoff an das internationale Sendungsbewusstsein der deutschen Wissenschaft, die für ihn ein selbstverständlicher Teil der deutschen Kultur darstellte.46 Dementsprechend nutzte er die Vortragsreise durch Nordamerika und Asien dazu, die öffentliche Gleichberechtigung deutscher Wissenschaft mit der ausländischen zu fordern. Gerade das Interesse amerikanischer und japanischer Kreise an den neueren Forschungen der deutschen Medizin während seiner Vortragsreisen bestärkten Aschoff darin, dass diese „sich ebenbürtig neben den anderen Völkern sehen lassen kann“47. Internationale wissenschaftliche Zusammenarbeit bestand für Aschoff also primär, in der „missionarische[n] Verkündigung der Werke der deutschen Kultur“48, was dem Wunsch des Auswärtigen Amtes nach einer „friedlich-kulturellen Selbstdarstellung und Werbung“49 im Ausland deutlich widersprach. In den Jahren nach seiner Ankunft in Freiburg wandte sich Aschoff endgültig gegen die Republik und setzte sich auch weiterhin vehement für die Bekämpfung der sogenannten „Kriegsschuldlüge“ ein. Aschoffs politisches Ideal stellte stattdessen eine Verbindung von altem und dem neuen Deutschland dar und fand Anlehnung an Friedrich Naumanns (1860–1919) Ideen eines „demokratischen Kaisertums“50. In einem offenen Brief an Friedrich Meinecke machte Aschoff den Vorschlag eines Dreiparteiensystems: „Keiner von uns wird die Berechtigung einer großen konservativen Staatspartei, keiner die Berechtigung einer sozialistischen Staatspartei bestreiten wollen. Aber ebenso sicher ist, dass für den Gesamtaufbau unserer Kultur eine freiheitlich denkende bürgerliche Mitte vonnöten ist.“51 An einer Gründung dieser dritten Partei lag Aschoff besonders viel, weil es ihre Aufgabe sein sollte, „die möglichst breit verankerte kulturelle Höherentwicklung unseres Volkes, die nur in geistiger Beweglichkeit bei gleichzeitiger Ehrfurcht vor dem   44 45 46 47 48 49 50 51  

Aschoff (1925): Meine Vortragsreise um die Welt, S. 24–25. Aschoff (1966): Ein Gelehrtenleben, S. 353. Prüll (2002): Ludwig Aschoff, S. 103. Aschoff (1925): Meine Vortragsreise um die Welt, S. 21. Prüll (2002): Ludwig Aschoff, S. 103. Bruch (1982): Weltpolitik als Kulturmission, S. 24. Vgl. Prüll (2002): Ludwig Aschoff, S. 101f. Aschoff (1930): Drei Staatsparteien.

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Überkommen und Volkstümlichen aufgebaut werden kann“52. Gerade Aschoffs Vorstellung von einer dritten Kraft, der von ihm weitreichende politische Kompetenzen zugestanden wurden, offenbarte Aschoffs hierarchisch-autokratisches Denken, die mit Vorstellungen einer demokratischen Staatsform kaum vereinbaren ließen. Im Jahr 1930 erwog Aschoff, in der Reichstagswahl die Deutschnationale Volkspartei und damit alte Anhänger des kaiserlichen Deutschland zu wählen.53 3. DIE WELTREISE DES KATHOLISCHEN THEOLOGEN ENGELBERT KREBS (1926) Im Frühjahr 1925 veranstaltete Aschoff eine dreiteilige Vortragsreihe über seine Weltreise in Freiburg, unter deren Zuhörern sich auch der katholische Theologe Engelbert Krebs befand. Angeregt durch Aschoffs Vortragstätigkeit in Japan und China, hatte der deutschstämmige Bischof Bonifaz Sauer OSB von Wonsan in Korea Engelbert Krebs den Vorschlag gemacht, ebenfalls eine Vortragsreise durch den Fernen Osten zu unternehmen. Durch die Vermittlung des deutschen Botschafters in Tokio hatte Krebs eine Einladung von der kaiserlich japanischen Regierung in Tokio erhalten, mehrere Vorträge an japanischen Universitäten zu halten. Dem folgten auch Einladungen zu Vorträgen in Nordamerika, sodass sich Krebs Reisevorhaben ebenfalls zu einer Weltreise ausweitete, die er im Frühjahr 1926 antrat.54 Krebs berichtete Aschoff am Abend des letzten Vortrags von seinem Reisevorhaben und so half ihm Ludwig Aschoff, indem er einen Reisekostenvoranschlag erstellte und seine internationalen Kontakte für Krebs aktivierte.55 Anders als Ludwig Aschoff war Engelbert Krebs im katholischen Zentrum aktiv, deren Politik als Ganze unter dem Leitbild der vollen Integration der katholischen Bevölkerung in das Wilhelminische Kaiserreich stand. Entscheidend für diese Integration war der Erste Weltkrieg, in dem sich Krebs von Anfang an als monarchietreuer und nationaler Kriegstheologe hervortat. In dieser Zeit war Krebs Herausgeber der „katholischen deutschen Monatsbriefe zur Verteidigung deutscher und katholischer Interessen im Weltkrieg“ und reiste in regelmäßigen Abständen an die West- und Ostfront, um sich über die dortige Lage persönlich zu informieren. Zudem versuchte sich Krebs als Verfasser religiöser Kriegs- und Erbauungsliteratur „die katholischen Interessen mit der Welle nationaler Erhebung zu verbinden“56. Auch die Katastrophe des verlorenen Kriegs, den Krebs als den Zusammenbruch aller bloß „vorletzten Ziele“ wie Kaiserthron und Fürstenhöfe deutete, konnte Krebs

  52 53 54 55 56  

Ebd. Prüll (2002): Ludwig Aschoff, S. 102. Vgl. Junghanns (1979): Der Freiburger Dogmatiker, S. 149–150. Vgl. UAF: C126/29: Tagebucheintrag vom 05.02.1925. Ruster (1997): Die verlorene Nützlichkeit, S. 312.

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in seinem nationalen Engagement nicht bremsen.57 Als Korrespondent nahm Engelbert Krebs für katholische Zeitungen an den Sitzungen des Freiburger Arbeiterund Soldatenrates teil, dessen Führung er vor einer Realisierung des sozialistischen Programmes warnte. Außerdem war Krebs Teil einer Delegation, die nach Karlsruhe reiste, um dort die Position des Zentrums zur Badischen Republik darzulegen. Einen persönlichen Anteil hatte Krebs daran, den badischen Großherzog Friedrich II. davon zu überzeugen, die Beamten von ihrem Treueeid zu entlassen, damit diese für die Etablierung der demokratischen Republik stimmen konnten.58 Zum „Heil“ der deutschen Nation forderte Krebs Mitte der 1920er Jahre von seiner Partei auch ein Bekenntnis zu einer „christlich beseelte[n] Republik“ und einem „gesamteuropäischen Solidarismus“59. Schon in seiner im Jahr 1924 publizierten Vortragsreihe über „Die Kirche und das neue Europa“60 hatte Krebs das gesellschaftsprägende und einheitsstiftende Potential der katholischen Kirche für die Nachkriegsgesellschaft betont, deren Kraft vor allem in ihrer gottgegebenen Autorität und Objektivität, in ihrem Geist der Heiligkeit, ihrer inneren Festigkeit und Ordnung gründe. In seiner Sicht hatte die katholische Kirche nun ihre Position in der Gesellschaft verändert: Während sie sich früher mit dem nationalen gesinnten Bürgertum kooperierte, hatte sie sich nun aus der Verbundenheit mit den tragenden Mächten der Gesellschaft herausgelöst und erschien nun als der „große Gegenpart des Subjektivismus“, den Krebs seiner Zeit bedauernd diagnostizierte.61 Diese Botschaft verkündete Krebs auch während seiner Vortragsreise, die ihn im Jahr 1926 durch Nordamerika und Japan führte. Diese stand ebenso unter nationalen Vorzeichen: Gegenüber dem Badischen Bildungs- und Kultusministerium hatte sich Krebs dahingehend geäußert, während seiner Weltreise „das moralische Ansehen Deutschlands fördern“62 zu wollen und auch in einem Bericht an den Rektor der Freiburger Universität betonte Krebs, dass es ihm bei seiner Vortragsreise darum gehe, „die geistige Verbindung mit unseren Antipoden zu fördern“ und die „deutschfreundliche Haltung“63 zu unterstützen. Als katholischer Priester hatte Krebs in vielen Fällen gesehen, inwiefern die von Deutschen betriebenen christlichen Missionen und Universitäten in Fernost sowie kirchliche Schulen, Klöster, Zeitungen und Vereine in den Vereinigten Staaten „für den Erhalt deutscher Sprache und Sitte […] wirksam sind und vor dem Kriege in noch höherem Maße wirksam waren“64. Weitere „Sparten deutscher Kulturarbeit“, die es von Seiten der Deutschen weiterhin auszubauen galt, fand Krebs auf Ebenen des   57 58 59 60 61 62 63 64  

Vgl. ebd., S. 313–314. Vgl. Junghanns (1979): Der Freiburger Dogmatiker, S. 82–87. Vgl. UAF: C126/29: Tagebucheintrag vom 18.11.1925. Krebs (1924): Die Kirche und das neue Europa. Vgl. Ruster (1997): Die verlorene Nützlichkeit, S. 314. Vgl. UAF: C126: Brief an das Badische Ministerium vom 03.07.1925. Vgl. UAF: C126: Personalakte Engelbert Krebs. Vgl. Krebs: Reise um die Erde, S. 31.

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Handels und der Industrie, des Presse- und Verlagswesens und des Schul-und Universitätswesens im Ausland. Krebs deutschnationale Haltung machte sich ebenfalls im wissenschaftspolitischen Kontext bemerkbar. In den romanischen Ländern – darunter auch die Vereinigten Staaten – waren in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die theologischen Fakultäten aus den Universitäten verdrängt worden, weshalb ein Großteil der katholischen Theologen an kirchlichen Seminaren ausgebildet wurde. Anders als bei der deutschen katholischen Universitätstheologie, die voll und ganz in das humboldtsche Universitätssystem integriert war und von diesem profitierte, spielten hier das individuelle Lernen, die Freiheit des Forschens, die historisch-kritische Methode und die interdisziplinären Zugänge keine Rolle.65 Dies war ein wichtiger Grund dafür, weshalb die deutsche katholische Universitätstheologie bis zum endgültigen Abbruch der internationalen Wissenschaftsbeziehungen im Nationalsozialismus ein führendes Zentrum weltweiter wissenschaftlicher Forschung und Kommunikation darstellte.66 Auch Krebs war von der Überlegenheit der deutschen theologischen Wissenschaft überzeugt, für ihn waren die „Fakultäten im Rahmen der Universitäten“ die „Hauptstätten einer wirklich betriebenen Theologie“67. Bei der Mehrheit des amerikanischen Klerus fand Krebs jedoch nicht jenes Interesse für theologische Fragen wie beim europäischen, sodass Krebs in den amerikanischen katholischen Theologenkreisen für den Besuch der deutschen katholisch theologischen Fakultäten warb.68 Nach Ankunft in Deutschland wurde Krebs zu Vorträgen in den verschiedensten Gegenden Deutschland eingeladen und verarbeitete seine Reiseerfahrungen in zahlreichen Beiträgen und in seinem 1927 publizierten Buch „Reise um die Erde“69. Als eine „wertvolle Frucht“ seiner Reise bezeichnete Krebs zum Schluss seines Kapitels die Erkenntnis, dass Europa sich wirtschaftlich und kulturell zusammenschließen müsse, um nicht von den beiden Großmächten Nordamerika und Asien erdrückt zu werden.70 Auf dem eucharistischen Kongress in Chicago war Krebs durch österreichischen Prälaten und Bundeskanzler Ignaz Seipel (1876–1932) mit der Paneuropa-Bewegung von Richard Graf Coudenhove-Kalergi in Berührung gekommen, der sich Krebs nach seiner Ankunft in Freiburg anschloss. Die Reise führte demnach zu einer Verstärkung seiner pro-europäischen Einstellung. So war Krebs der Auffassung, „dass seit Wirths mutigem Eintreten für die Erfüllungspolitik und Stresemanns Weiterführung dieser Grundrichtung die Staatsmänner Europas mit Locarno einen Anlauf zur Zusammenarbeit gemacht hätten, der allerdings noch verstärkt werden müsse.“71.   65 66 67 68 69 70 71  

Vgl. Unterburger (2013): Internationalisierung von oben, S.66. Vgl. Wischmeyer (2013): Transnationale Dimensionen, S. 31. C126/9: Unter Stichwort „Theologische Fakultäten 1–3“ Vgl. Krebs (1927): Um die Erde, S. 189. Vgl. Krebs (1928): Reise um die Erde. Vgl. ebd., S. 609. Vgl. Krebs (1928): Reise um die Erde. S. 609.

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4. DIE VERLEIHUNG DER EHRENSENATORENWÜRDE AN DEN JAPANER AIHIKO SATA (1871–1950) ALS GEMEINSAMES WISSENSCHAFTSPOLITISCHES ENGAGEMENT Ludwig Aschoff hat mit seiner Vortragsreise durch Japan einen Grundstein für „die lange Geschichte der Beziehungen der Medizinischen Fakultät der Universität Freiburg zur japanischen Heilkunde“72 gelegt. Nach ihm reiste sein Schüler und spätere Direktor des Pathologischen Instituts der Medizinischen Fakultät Franz Büchner (1895–1991) sowie der Freiburger Mediziner Theodor Axenfeld (1867–1930) nach Fernost. Dahingegen fand Krebs Weltreise innerhalb der Freiburger katholischen Fakultät keine Beachtung.73 Dies mag darauf zurückzuführen sein, dass ein Großteil der Professorenschaft seine Vortragsreisen durch die Vereinigten Staaten und Asien als rein national motivierte Unternehmung des Zentrumspolitikers Krebs deutete. Der Großteil der Professorenschaft, die dem gemäßigten ultramontanen Spektrum angehörten, wies jedoch auch eine dezidierte Distanz zum politischen Katholizismus auf. Trotz ihrer unterschiedlichen konfessionellen Zugehörigkeit und politischen Überzeugungen intensivierten sich die Beziehungen Aschoffs und Krebs in der Zeit nach 1927. Verbindend wirkte dabei ihr Bemühen um die Intensivierung der deutsch-japanischen Kultur- und Wissenschaftsbeziehungen. Während ihres Aufenthaltes in Japan hatten die beiden Freiburger Professoren den Mediziner und Vorsitzenden des deutsch-japanischen Vereins, Aihiko Sata, kennen gelernt: Dieser war im Jahr 1897 in amtlichem Auftrag seiner Schule zum Auslandsstudium nach Deutschland gesandt worden. Nach achtmonatiger Arbeit bei Rudolf Vierchow in Berlin reiste Sata im März 1998 weiter nach Freiburg, um bei Ernst Ziegler Pathologie zu studieren.74 Während seines Deutschlandaufenthaltes war Sata durch die Ideen des Leipziger Historikers und Kulturpolitikers Karl Lamprecht beeinflusst worden, der das Leipziger Institut für Kultur und Gesellschaft Japans im Jahr 1909 aufgebaut und weiter gefördert hatte. Zurück in seiner Heimat wurde Sata zu einem der bedeutendsten Wissenschaftspolitiker Mitteljapans, dem auf Grund seines Engagements auf dem Felde des deutsch-japanischen Kultur- und Wissenschaftsaustauschs ab den frühen zwanziger Jahren eine erhebliche Bedeutung zugemessen wurde: Auf seine Initiative hin entstand am 18. Dezember 1920 der Deutsch-Japanische Verein Osaka-Kobe-Kyoto, der mit einem von ihm geschaffenen kleineren Japanisch-Deutschen Institut in Osaka verbunden war. Zudem publizierte Sata seit 1923 die monatlich erscheinende Japanisch-Deutsche Zeitschrift für Wissenschaft und Technik („Nichi-Doku Gakugei“), in der neben japanischen Beiträgen auch   72 Vgl. Seidler / Ackermann (1986): Freiburg und die japanische Medizin, 3. 73 Das Promotionsprojekt mit dem derzeitigen Arbeitstitel „Engelbert Krebs (1881–1950) – ein katholischer Theologe in der Welt. Weltreisender, Wissenschaftler, Paneuropäer“ soll sich deswegen eingehender mit Krebs Weltreise von 1926 beschäftigen. 74 Sata (1941): Sata Aihiko Sensei, S. 83.  

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zahlreiche Originalveröffentlichungen führender deutscher Natur- und Geisteswissenschaftler abgedruckt wurden. Um die Kultur- und Wissenschaftsbeziehungen zwischen Deutschland und Japan nach dem Ersten Weltkrieg wieder aufzubauen, lud Aihiko Sata deutsche Gelehrte wie die beiden Nobelpreisträger Albert Einstein und Fritz Haber sowie weitere deutsche Wissenschaftler wie den Biologen und Philosophen Hans Driesch zu Vorträgen nach Tokio und Osaka ein.75 Auch Ludwig Aschoff, den Sata schon während seines Studiums in Freiburg als jungen Studenten kennen gelernt hatte, kam während seiner Japanreise nach Osaka, um die neue Klinik der dortigen medizinischen Fakultät zu besichtigen und in dem deutsch-japanischen Verein einen Vortrag zu halten und auch Krebs hatte im Osaka Club auf Veranlassung der deutsch-japanischen Gesellschaft über die „Veränderungen im Geistesleben der europäischen Völker nach dem Krieg“ gesprochen.76 Für das Frühjahr 1927 plante Sata nun selbst eine Vortragsreise durch Deutschland. Als Krebs von Satas Reiseplänen erfuhr, hatte er sofort an die Freiburger Universität geschrieben, man solle Sata auch zu Vorträgen nach Freiburg einladen.77 Auf Antrag von Ludwig Aschoff wurde vom Universitätskuratorium beschlossen, Sata zum Ehrensenator der Freiburger Universität zu ernennen – eine Auszeichnung, die einem ausländischen Gelehrten bis dato erst zum dritten Mal zuerkannt worden war. An der Feierlichkeit selbst nahmen ungefähr 3000 Personen teil, darunter waren sämtliche Professoren und Studierende der Universität, der Bürgermeister von Freiburg sowie Vertreter der badischen Regierung und der städtischen Verwaltung.78 Insgesamt betrachtet stellten die Bemühungen der beiden Freiburger Wissenschaftler um einen angemessenen Empfang des japanischen Gelehrten einen praktischen Versuch dar, seine „Deutschfreundlichkeit zu erhalten und zu bestärken“79. Dieses Ansinnen verlief durchaus erfolgreich, denn kurz nach der Rückkehr Satas nach Japan schrieb der deutsche Botschafter an das Auswärtige Amt, dass dieser „in seiner deutsch-freundlichen Gesinnung zweifellos bestärkt worden“ sei und „seine Tätigkeit in diesem Sinne wieder aufgenommen“80 habe. 5. VORTRAGSREISEN UNTER NATIONALEM VORZEICHEN Die Freiburger Professoren Ludwig Aschoff und Engelbert Krebs stehen exemplarisch für zwei Wissenschaftler, in deren (wissenschafts-) politischen Denken die Nation als Kategorie auch nach 1918 einen bedeutenden Raum einnahm: Schon während des Ersten Weltkriegs hatten beide Professoren ihre wissenschaftlichen Interessen dem Wohl der deutschen Nation untergeordnet: Aschoffs Programm der Kriegspathologie sollte dem Wohl der Volksmenge dienen und Krebs versuchte als   75 76 77 78 79 80

Vgl. Friese (1990): Kontinuität und Wandel, S. 810. Vgl. PAB: R65678: Aihiko Sata. Vgl. Engelbert Krebs: Deutsche Kulturarbeit, S. 555. Vgl. PAB: R65678: Aihiko Sata. PAB: R65678: Brief an das Auswärtige Amt vom 30.12.1926. PAB: R65678: Brief an das Auswärtige Amt vom 01.02.1928.

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Verfasser religiöser Kriegs- und Erbauungsliteratur den Krieg theologisch zu rechtfertigen. Dieser Einsatz für die deutsche Nation war für beide Professoren mit einer erhöhten Mobilität verbunden: Aschoff besuchte als oberster Armeepathologe an die verschiedenen Kriegsschauplätze und Krebs war in Sache der katholischen Monatsbriefe ebenfalls regelmäßig an West- und Ostfront gereist. Auch der „Zusammenbruch“ von 1918 konnte beide Professoren nicht an ihrem nationalen Einsatz hindern: Während Aschoff, dessen politisches Selbstverständnis eng mit dem Zweiten Deutschen Kaiserreich verknüpft war, von „tiefem Misstrauen, wenn nicht sogar Antipathien gegenüber der Republik“81 geprägt war, engagierte sich Krebs für eine „christlich beseelte Republik“, da für ihn nur diese neue Staatsform dem Wohl der deutschen Nation und der katholischen Kirche gerecht werden konnte. Trotz des unterschiedlichen Verhältnisses beider Professoren zur Weimarer Republik stellte die Sorge um das Wohl der deutschen Nation ein verbindendes Element dar. Die Vortragsreisen waren das praktische Bemühen, sich mit den „Trägern deutscher Kultur und Tradition“ und politisch Gleichdenkenden zu solidarisieren und innerhalb der ausländischen akademischen Elite politische Einflussname im Sinne Deutschlands zu betreiben. Die deutsche Wissenschaft galt beiden als Ausdruck der landeseigenen Kultur und sie waren von der Überlegenheit der deutschen Wissenschaft bzw. des deutschen Wissenschaftssystems überzeugt. Dementsprechend stellten die Vortragsreisen eine Möglichkeit dar, diese Vorstellungen der Welt zu demonstrieren und Deutschland den ihm gebührenden Platz in der Wissenschaft und damit letztlich auch im Orchester der Weltmächte zurückzugeben. QUELLEN PAB = Politisches Archiv im Auswärtigen Amt in Berlin UAF = Universitätsarchiv Freiburg

LITERATUR Abelein, Manfred: Die Kulturpolitik des Deutschen Reiches und der Bundesrepublik Deutschland. Ihre verfassungsgeschichtliche Entwicklung und ihre verfassungsrechtlichen Probleme. Köln /Opladen 1968. Aschoff, Ludwig: Brief vom 07.07.1924, In: Ludwig Aschoff. Ein Gelehrtenleben in Briefen an die Familie, Freiburg i. Br. 1966, S. 351–353. Ders.: Brief vom 22.02.1920, In: Ludwig Aschoff. Ein Gelehrtenleben in Briefen an die Familie, Freiburg i. Br. 1966. Ders.: Drei Staatspartien. Ein Brief an Friedrich Meinecke. Kölner Zeitung August 1930. Ders.: Ein Gelehrtenleben in Briefe an die Familie. Freiburg i. Br. 1966. Ders.: Gedanken am Verfassungstag. Von einem Akademiker. Die Hilfe Nr. 18 (1929), S. 446–448. Ders.: Meine Vortragsreise um die Welt. In: Die Alemannen-Zeitung, Bonn / Münster 1925, S. 20– 29.

  81 Prüll, Cay-Rüdiger (2002): Ludwig Aschoff, S. 100.

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ZWISCHEN ANSPRUCH UND WIRKLICHKEIT Die Umsetzung der Auswärtigen Kulturpolitik in den Deutschen Auslandsschulen Spaniens zwischen 1918 und 1933 Dominik Herzner Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges planten Weimars Politiker eine neue Ausrichtung der Auswärtigen Kulturpolitik, die sich von der aggressiven propagandistischen Politik des Kaiserreichs unterscheiden sollte. Jedoch konnte sie nicht im vollen Umfang umgesetzt werden. Ein Grund dafür waren die Akteure und involvierten Personen im offiziellen und halboffiziellen Bereich, die eng mit der Gestaltung kulturpolitischer Beziehungen zum Ausland verbunden waren. Sie trugen ihre politischen Maxime, Meinungen und Wertvorstellungen als Vertreter Deutschlands in die Welt,1 wobei es zu Diskrepanzen zwischen den Ansprüchen und der Wirklichkeit der Auswärtigen Kulturpolitik kommen konnte. Deutlich wird dies im Auslandsschulwesen, das ein wichtiges Instrument auswärtiger Politik, Stütze im Kampf um die Erhaltung des Deutschtums und wirtschaftspolitisches Mittel war.2 Die Basis für die kulturellen Bestrebungen bildeten private Schulvereine, die Mitglieder der deutschen Auslandsgemeinde leiteten. Nach dem Ersten Weltkrieg nahm Spanien eine Sonderrolle ein, denn die Schulen profitierten dort von der Neutralität des Landes. Durch Migrationsbewegungen, vor allem aus Frankreich und Afrika,3 stieg während des Krieges die Zahl der Gemeindemitglieder und die Schulen mussten nicht, wie in anderen Regionen, ihren Betrieb als Folge des verlorenen Krieges einstellen. Es etablierte sich daraufhin ein dichtes Netz an Institutionen mit vielschichtigen Verbindungslinien. Neben den bereits bestehenden Einrichtungen in Madrid, Barcelona, Málaga, Valencia, Santa Cruz de Tenerife und Bilbao kamen zwischen 1918 und 1933 San Sebastián, Sevilla, Las Palmas, Vigo, Gijón, Cádiz, Cartagena, Santander und Zaragoza hinzu.4 Die Schülerzahlen stiegen nach dem Krieg um rund 300 Prozent.5 Als neutraler Staat war Spanien zudem der geeignete Ort für eine neue, von machtpolitischen Interessen losgelöste Konzeption der Auswärtigen Kulturpolitik, da man dort dem Auslandsschulwesen weniger misstrauisch   1 2 3 4 5  

Vgl. Pöppinghaus (1999): Moralische Eroberungen, S. 20. Vgl. Boelitz (1929): Das deutsche Auslandsschulwesen, S. 2–3. Vgl. Deutscher Schulverein Barcelona (1994): 100 Jahre Deutsche Schule Barcelona, S. 64. Vgl. De la Hera Martínez (2002): La política cultural, S. 124–125 Vgl. Pöppinghaus (1999): Moralische Eroberungen, S. 249

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gegenüber stand als in anderen Regionen.6 Das Auswärtige Amt verfügte zwar bedingt durch die Nachkriegsinflation nur über geringe Mittel, diese wurden aber besonders dort eingesetzt, wo Strukturen vorhanden waren, auf denen man aufbauen konnte, was in Spanien durch die private Führung der Schulen der Fall war. Der politischen Bedeutung der Auslandsschulen steht ein Desinteresse in der wissenschaftlichen Betrachtung gegenüber.7 Zwar lieferte Kurt Düwell 1976 in seiner Habilitationsschrift zur Auswärtigen Kulturpolitik der Weimarer Republik einen ersten Überblick, doch seine Arbeit fokussierte sich auf die Quellenlage des Auswärtigen Amtes und bot somit eine Darstellung aus der Perspektive der deutschen politischen Verwaltung. Durch ihre Vielschichtigkeit bieten die Auslandsschulen jedoch ein weitreichenderes Quellen- und Forschungsfeld in Form von Chroniken, Jahresberichten oder anderen Publikationen, mit denen ein Blick auf die Selbstdarstellung der Schulen und auf ihre Auffassung von Auswärtiger Kulturpolitik geworfen werden kann. Die Einbeziehung dieses Quellenmaterials kann Aufschluss geben über die konkrete Umsetzung von kulturpolitischen Zielsetzungen. Der Ansatz, Beziehungen und Strukturen auf der Mikroebene zu untersuchen findet in der bisherigen Forschung zum Auslandsschulwesen kaum Anwendung. Schulleiter, Vorstandsvorsitzende, Auslandskonsulate und Lehrkräfte hatten ihre eigenen Vorstellungen von den Aufgaben der Auslandsschulen, die nicht immer deckungsgleich mit dem politischen Konzept waren. In den halbamtlichen Strukturen haben sich Kontinuitäten und ideologische Vorstellungen erhalten, so dass sich in den deutschen Auslandsgemeinden auf der Mikroebene der politischen Entscheidungen eigene Ideen von Auswärtiger Kulturpolitik entwickelten. Die Schulen wurden zum Knotenpunkt und Zentrum der Gemeinde und geben dadurch Aufschluss über die florierenden deutschen Räume, in denen Menschen multiple Subjektpositionen und dynamisch-hybride Identitäten annehmen.8 Die Aufgaben der Lehrer – Ortskräfte und aus Deutschland entsandte Kräfte – endeten nicht in der Schule, sie waren wichtige Mitglieder in der Gesellschaft und stellten sich in den Dienst der kulturpolitischen Aktivitäten Deutschlands in Spanien.9 Im Folgenden soll am Beispiel der Deutschen Schulen in Spanien ein Blick auf die Mikroebene geworfen werden, um dort die Umsetzung der Auswärtigen Kulturpolitik aufzuzeigen. Dazu wird zunächst die Situation der Auslandsschulen während des Kaiserreichs skizziert, um anschließend den Paradigmenwechsel nach 1918 darzustellen und die Umsetzung der Auswärtigen Kulturpolitik in den Auslandsschulen zu erläutern. Abschließend wird ein kurzer Ausblick auf die NS-Zeit   6 7

8 9

Vgl. Düwell, (1975): Probleme des deutschen Auslandsschulwesens S. 145. Vgl. Kuchler (2016): Deutsche Visitenkarte, S. 263: Ausnahmen für die Zeit der Weimarer Republik bilden die Arbeiten von Pöppinghaus und Düwell, welche die Auslandsschulen als untergeordnetes Kapitel in den kulturellen Beziehungen betrachten. Auf spanischer Seite ist die Arbeit von de la Hera Martínez hervorzuheben, der die Schulen auch in sein Werk über die kulturellen Beziehungen aufnimmt, dabei aber verstärkt auf das Quellenmaterial der Schulen zurückgreift. Vgl. Penny (2016): Knotenpunkte und Netzwerke, S. 281–283. Vgl. De la Hera Martínez (2002): Política cultural, S. 130.

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gegeben, um bestehende Kontinuitäten darzulegen, die prägend für die Schulen blieben. 1. DIE DEUTSCHEN SCHULEN IN SPANIEN ZUR ZEIT DES KAISERREICHS Die ersten Deutschen Schulen in Spanien entstanden 1894 in Barcelona, 1896 in Madrid und 1898 in Málaga. Maßgeblich beteiligt waren dabei die evangelischen Gemeinden, womit sich die spanischen Schulen von den staatlich gegründeten Propagandaschulen im Nahen Osten oder in China, unterschieden.10 Sowohl sprachlich, als auch national und konfessionell befanden sich die spanischen Schulgemeinden in einer Art Diasporagemeinschaft. Im Laufe der ersten Jahre lösten sich die Vereine von den evangelischen Gemeinden und bauten ihren konfessionellen Charakter ab.11 Hauptziel war von nun an die sprachliche Ausbildung der Kinder der deutschen Kolonie und die Bewahrung des Deutschtums. Germanophile Spanier, die häufig familiäre oder andere persönliche Bindungen zu Deutschland hatten, ergänzten die Schulgemeinde, die sich seit ihrer Gründung für Schüler aus dem Gastland geöffnet hatten. Die Finanzierung erfolgte durch Schulgelder, private Spenden und Zuschüsse des Auswärtigen Amtes. Erst ab 1906 wurde dort ein eigener Schulfonds eingerichtet, der die Auslandsschulen finanziell und durch die Vermittlung von Lehrkräften unterstützte.12 Die Politik erkannte zunehmend den wirtschaftlichen und politischen Nutzen der Auslandsschulen und sah in ihnen ein wirksames Werkzeug der kulturpolitischen Propaganda. In einer geheimen Denkschrift des Auswärtigen Amtes von 1914 wurden ihre Aufgaben folgendermaßen dargestellt: Als Schulen von politischer Bedeutung können [...] alle deutschen Auslandsschulen gelten, die durch die Vorbildlichkeit ihrer Einrichtung zur Erhöhung des deutschen Ansehens im Ausland beitragen, sowie insbesondere diejenigen, die auch landesangehörige Schüler aufnehmen und durch sie auf die Bevölkerung einwirken.13

Der Gedanke hinter diesen Zeilen war von expansionistischen Kulturbestrebungen geprägt. Als Musterschulen sollten sie einen bleibenden Eindruck von Deutschland im Gastland hinterlassen, was vor allem den großen Einrichtungen in Madrid und Barcelona gelang. Sie standen somit als Teil der Kulturpropaganda im Dienst machtpolitischer Interessen und sollten die politische Macht des Kaiserreichs demonstrieren.14   10 11 12 13

Vgl. Düwell (1975): Probleme des Auslandsschulwesens, S. 144. Vgl. Boelitz (1927): Die Deutsche Schule in Barcelona, S. 38–42. Vgl. Düwell (1975): Probleme des Auslandsschulwesens, S. 144. Vgl. Geheime Denkschrift, unter anderem in: PAAA 62366 oder in: Düwell (1976): Deutschlands auswärtige Kulturpolitik, S. 311. 14 Vgl. Düwell (1976): Auswärtige Kulturpolitik, S. 63–65.  

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2. DIE AUSWÄRTIGE KULTURPOLITIK DER WEIMARER REPUBLIK Die Regierung der Weimarer Republik engagierte sich als Reaktion auf den Verlust des machtpolitischen Handlungsspielraumes nach dem Ende des Ersten Weltkriegs besonders in der Auswärtigen Kulturpolitik.15 Politiker aller Parteien forderten eine Kompensation durch kulturpolitische Mittel, dem Konzept der Propagandaschule erteilten sie dabei aber eine Absage.16 Der neue Kurs war eine Abkehr von der aggressiven propagandistischen Außenpolitik des Kaiserreichs. Kultur sollte nicht mehr als politische Waffe instrumentalisiert und der machtpolitische Faktor reduziert werden. Deutschland sollte nach außen hin als friedliche Nation präsentiert werden und man sah in der Kulturpolitik nach dem Krieg eine neue Kraft des gesellschaftsübergreifenden Aufbaus, um den Staat zu repräsentieren.17 Über Parteigrenzen hinweg entstand eine kulturpolitische Aufbruchssituation. Der parteilose preußische Kulturminister Carl Heinrich Becker forderte beispielsweise in einer Denkschrift für den Verfassungsausschuss der Nationalversammlung 1919 eine Verinnerlichung der Auslandspolitik und einen Verzicht von Politik in der Kulturvermittlung,18 kurzum einen Wandel gegenüber den vorherigen Konzepten des Kaiserreichs.19 Die demokratische Komponente der Kulturpolitik betonte 1927 nochmals Außenminister Gustav Stresemann. Er wollte eine verstärkte Unterstützung der Auslandsdeutschen als Teil der Minderheitenpolitik, ohne völkische Programmatik. Durch die Gebietsverschiebungen nach 1919 ergaben sich neue Aufgaben für die Auslandsschulen, die fortan die deutsche Bevölkerung außerhalb der Reichsgrenzen stärker an die Heimat binden sollten. Das Auswärtige Amt durfte nicht reglementieren und private sowie halbamtliche Kulturverwaltungen hätten sich diesem Paradigma unterzuordnen. Düwell sieht in der Abkehr von der Geheimen Denkschrift einen Beweis, dass die neue Ausrichtung der Kulturpolitik im Auswärtigen Amt erkannt wurde, weshalb das Papier seiner Meinung nach während der Zeit der Weimarer Republik in Vergessenheit geriet.20 Doch beim ersten Treffen des Gutachterausschusses des Schulreferats wurde es 1921 als Grundlage für die Besprechungen und Planungen herangezogen.21 Der Ausschuss beschloss weiterhin eine Geheimhaltung des Dokuments legte fest, dass die Auslandsschulen als wichtiger Aktivposten der Politik und des Deutschtums zu betrachten seien. Dabei habe vor allem das System der Autonomie die Schulen über den Krieg gerettet, weshalb es beizubehalten sei.

  15 16 17 18 19 20 21  

Vgl. Düwell (1981): Die Gründung der Kulturpolitischen Abteilung, S. 46. Vgl. Düwell (1975): Probleme des Auslandsschulwesens, S. 146. Vgl. Trommler (2014): Kulturmacht ohne Kompass, S. 291. Vgl. Scholten (2000): Sprachverbreitungspolitik, S. 40. Vgl. Düwell (1975): Probleme des Auslandsschulwesens, S. 146. Vgl. ebd., S. 146. Vgl. Bericht Gutachterausschuss, 27.04.1921, in: BAL R1501/114893

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Der Kulturabteilung fehlten folglich ein neues Konzept und Richtlinien. So wurde weiterhin vor allem am Nationalismus und an der Erhaltung des Deutschtums als Komponente der Kulturpolitik festgehalten und die Umsetzung den Mittlerorganisationen, wie den Auslandsschulen, ohne stärkere Kontrolle überlassen. Die offizielle Abkehr vom Kulturkrieg des Kaiserreichs und die innenpolitische Dynamik trugen die Diplomaten nur mit wenig Bereitschaft nach außen. Die Kulturabteilung im Auswärtigen Amt wurde stiefmütterlich behandelt und war für viele verbunden mit dem beruflichen Abstellgleis.22 Das Auswärtige Amt war weiterhin ein Instrument nationaler Machtinteressen und die Kulturpolitik sorgte für eine ideologische Zerklüftung in der politischen Landschaft Weimars. Für viele Kulturpolitiker, Diplomaten und Akteure auf der Mikroebene waren die Konzepte des Kaiserreiches noch Status Quo. Sie mussten die militärische Niederlage der Monarchie verdauen, die Macht ausstrahlte und 1918 einer Republik Platz machte, die sie nicht billigten. Und um deren Anerkennung sollten sie nun werben. Die Pflege des Deutschtums als kontinuierliche Aufgabe des Auswärtigen Amtes bedingte den Erhalt nationalkonservativer Strömungen in der Kulturpolitik, die gewünschte Neuausrichtung war kaum möglich, deutlich wird dies am Beispiel Spaniens. 3. DIE DEUTSCHEN AUSLANDSSCHULEN IN SPANIEN IN DER ZEIT DER WEIMARER REPUBLIK Die Deutschen Auslandsschulen waren neben dem nationalen und sprachlichen Zentrum auch der kulturelle Mittelpunkt der deutschen Auslandsgemeinde. Sie beherbergten Zeitungssäle, boten Platz für Theaterabende und Vorträge, veranstalteten Schulfeste, Karnevalsfeiern und Weihnachtsfeste. Die Gesellschaft der Auslandsgemeinde durchmischte sich durch die Migrationsbewegung des Ersten Weltkriegs und zwischen den jüngeren und älteren Generationen kam es zu teils unterschiedlichen, mitunter sogar konträren politischen Meinungen, die durch die gemeinschaftlichen Veranstaltungen in die Gemeinde hineingetragen wurden. Die Schule wurde zu einer Plattform des politischen Meinungsaustausches und der kulturellen Bildung. Im Jahr 1929 hielt beispielsweise die Dichterin Maria Kahle einen Vortrag an der Deutschen Schule Madrid, in dem sie über das Volkstum in Not und über den deutschen Kampf berichtete.23 Häufig stammten die eingeladenen Referenten solcher Veranstaltungen aus dem völkisch-nationalen Bereich, die somit zu einer nationalkonservativen Ausstrahlung der Schule beitrugen. Diese Aura wirkte in weitere außerschulische Bereiche, die geprägt waren von einer Zuschreibung stereotyper preußischer Tugenden: Disziplin, Gehorsam, militärische Zucht und Ordnung. Der gute Ruf der deutschen Pädagogik und Erziehung machte die Schulen   22 Vgl. Trommler (2014): Kulturmacht ohne Kompass, S. 300–311. 23 Vgl. Jahresbericht Deutsche Schule Madrid 1929/1930, S. 29.  

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für die spanischen Kreise attraktiv24 und durch außerschulische Einrichtungen wirkten sie zusätzlich in die Gesellschaft des Gastlandes hinein. Der Madrider Lehrer Willy Schulz gründete beispielsweise einen Pfadfinderverein, dessen Aufgabe es war „aus Muttersöhnchen Jungens zu machen“25 und deren Credo ein ‚Gehorche ohne Widerrede’ war. Im Jahr 1928 kam es in der Gemeinde zu einem Eklat, als Schulz bei der Einweihung des neuen Pfadfinderheimes die alte schwarz-rot-weiße Reichsflagge hissen ließ.26 Er provozierte damit einen Flaggenstreit auf kleiner Ebene, denn die Diplomaten der Botschaft verließen die Veranstaltung unter Protest und das Auswärtige Amt mahnte, den Vorfall nicht in die Öffentlichkeit zu tragen. Die Schulinspektion, die zur Abnahme der Reifeprüfung in Madrid weilte, und die Botschaft rieten daraufhin von einer Weiterbeschäftigung des Lehrers ab, da er zusätzlich als Mitglied im Stahlhelm durch unangenehme nationalistische Äußerungen aufgefallen wäre.27 Umgesetzt wurde dies jedoch nicht, vielmehr wurde Schulz ein Jahr später zum Direktor ernannt und hatte bis 1934 die Leitung der Schule inne. Die gesellschaftlichen Phänomene der Weimarer Republik spiegelten sich auf der Ebene der deutschen Auslandsgemeinden. Neben dem Flaggenstreit trat beispielsweise in Bilbao der Antisemitismus offen zu Tage. Im Jahr 1924 eskalierte er bei der Finanzierung des Schulgrundstückes.28 Konsul und Schulvorstand Benito Lewin, der privat das Geld für den Kauf des Grundstückes finanzierte, weigerte sich, dieses zu den Konditionen des Schulvereins abzutreten. In der Auseinandersetzung griffen seine Gegner seine jüdische Abstammung als Argumentation auf und diffamierten den Konsul damit gegenüber dem Auswärtigen Amt. Der Schulverein vermerkte nach der Beilegung des Streits 1927 im Jahresbericht, dass es die „heilige Pflicht eines jeden echtdeutschen Mannes [sei] mitbeizutragen, dass das nachkommende Geschlecht in treudeutschem Sinne erzogen [werde].“ Die Schule gab ihrem Bildungsauftrag einen völkischen und nationalen Sinn und betonte noch einmal die rassische Komponente in der Auseinandersetzung mit dem ehemaligen Schulvorstand. Dabei berief man sich in der Selbstdarstellung immer wieder konkret auf die Zeit des Kaiserreichs, etwa als Direktor Pfisterer anlässlich eines Schulfestes berichtete, dass „manch Traenlein [floss], heimlich und offen in wehem Erinnern an Deutschlands schoene, stolze Zeit, die so kurz hinter uns liegt, und nun, ach so weit entfernt scheint.“29 Politisch stand man den Entwicklungen im Heimatland verständnislos gegenüber und lebte noch ganz auf dem „Boden der alten Zustände“.30   24 Vgl. De la Hera Martínez (2002): Política cultural, S. 138. 25 Jahresbericht Deutsche Schule Madrid 1924/25, S. 33–34. 26 Zum Flaggenstreit und auch zur Rolle der Auslandsdeutschen siehe den Beitrag von Verena Wirtz in diesem Band. 27 Vgl. Vertraulicher Bericht Deutsche Botschaft von Viellinghof an Auswärtiges Amt 3.12.1928, in: PAAA R71946 28 Vgl. Briefwechsel Botschaft von Welzeck mit Auswärtigem Amt ab 18.03.1926, in: PAAA R62796 29 Vgl. Jahresbericht Deutsche Schule Bilbao 1921/1924, S. 39. 30 Vgl. Bericht Konsul von Hassel an das Auswärtige Amt, 12.12.1921, in PAAA R60214

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Dies zeigt sich auch im Umgang mit anderen Nationen. Das Verhältnis zum Gastland und zu den anderen Kulturmächten, insbesondere England und Frankreich, war eine weitere Komponente, die aus der Zeit des Kaiserreichs erhalten blieb. In diesem Bereich zeigt sich über die Jahre hinweg ein ambivalentes Bild, denn einerseits betonten die Schulen immer wieder die Erhaltung des Deutschtums und die Abschottung nach innen, andererseits war man offen für ausländische Familien, die dem Deutschtum zugeneigt waren. Ausschlaggebendes Motiv war dabei weniger die Idee der Begegnung zweier Völker, als vielmehr finanzielle Aspekte, da nicht-deutsche Schüler den doppelten Schulgeldbetrag entrichten mussten. Der Kontakt mit dem Gastland verlief einseitig und war ein Export deutscher Kulturwerte. Im Hinblick auf Frankreich und England zeigt sich eine Weiterführung des Konkurrenzdenkens bis in die Phase der Weimarer Republik. Waren zu Beginn des Ersten Weltkriegs noch englische Schüler in der Deutschen Schule in Madrid eingeschrieben,31 stellte man 1917 erleichtert fest, dass keine Schüler aus feindlichen Nationen mehr an der Schule seien.32 Die Topoi des Feindes und des Kampfes überdauerten die Weltkriegsphase und die Auslandsschulen mussten sich vor Ort dieser ‚Gegner’ erwehren, einerseits um sich finanziell zu erhalten, aber auch um die nationale Überlegenheit zu demonstrieren. Damit erfüllte man die offiziellen Anforderungen aus Weimar nicht. Eine Formulierung der Deutschen Schule Bilbao aus dem Jahr 1920 zeigt die Verbindung dieses Konkurrenzkampfes mit dem Bildungsauftrag und der Bestrebung das Deutschtum zu erhalten: Dies [der Verkauf des Schulgebäudes] wäre ein Triumpf [sic!] unserer Gegner, welche diese Niederlage weidlich ausbeuten würden. [...] jetzt wird schon starke Kulturpropaganda der anderen Länder betrieben, mit Gastvorträgen und zahlreichen Zuschüssen. Wenn die Schule geschlossen werden muss, dann kämen die Kinder eventuell sogar in übelgesinnte Schulen und würden alles Deutschtum verlieren.33

Die Schulen führten den Kampf um die Kulturhoheit in Form von finanziellen Propagandamaßnahmen weiter. Für sie ging es dabei um den Gewinn finanzkräftiger Kreise aus der spanischen Oberschicht, welche potentiell die Schule unterstützen konnten. Mit Werbemaßnahmen versuchte man besonders in der direkten Nachkriegszeit, als die Förderung aus Deutschland geringer ausfiel oder vollständig ausblieb, Gönner und Förderer anzusprechen.34 Die privaten Spenden und Zahlungen erlaubten jedoch kaum eine Expansion des Schulbetriebs, weshalb man auf Gelder der Regierung angewiesen war. Dadurch entstand eine opportunistische Grundhaltung: die finanzielle Unterstützung wurde freudig begrüßt, der Republik hingegen stand man kritisch gegenüber. Deutlich wird dies am Beispiel der Deutschen Schule Madrid. Beim Besuch Stresemanns in Madrid 1928 begrüßte ihn Schulleiter Willy Schulz feierlich,35 nur fünf Jahre später erklärte dieser zum Anlass des politischen   31 32 33 34 35

Vgl. Jahresbericht Deutsche Schule Madrid 1914/1915, S. 61. Vgl. Jahresbericht Deutsche Schule Madrid 1917/1918, S. 21–22. Vgl. Spendenaufruf der Deutschen Schule Bilbao 15.06.1920, in: BA R57/neu 1134 Vgl. Jahresbericht Deutsche Schule Madrid 1923/1924, S. 3. Vgl. Jahresbericht Deutsche Schule Madrid 1928/1929, S. 6.

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Machtwechsels in Deutschland seine Einschätzung zur politischen Situation folgendermaßen: Die Wiedergeburt des Deutschen Reiches sah bei uns allen an der Schule wohlvorbereitete Herzen. Hatte doch gerade die Deutsche Oberrealschule zu Madrid unter einem weitblickenden Vorstand alle Versuche, parteipolitische Kulturansprüche auch auf die bedeutenden Auslandsschulen zu übertragen, in bestimmter Form und ständig abgelehnt. [...] Die Deutsche Oberrealschule zu Madrid kann heute mit Stolz bekunden, dass sie den Experimenten sogenannter neugeistiger Art während der letzten anderthalb Jahrzehnte keinen Raum gewährt hat.36

Es entsteht für die Auslandsschulen das Bild einer national gesinnten Gemeinschaft, welche zwar das politische System nicht bekämpfte, aber doch mit freudiger Genugtuung die politische Veränderung wahrnahm. Auch in Bilbao begrüßte die Schulleitung die Wahl Hitlers mit positiven Worten: Erst jetzt empfinden wir mit ganzer Begeisterung das Erlebnis, dass das ganze unteilbare Vaterland hinter uns steht. Und dies ganze Deutschland symbolisiert sich für uns in der Gestalt des Führers. [...] Wir hatten und wir haben nur einem Zweck zu leben, dem ewigen Deutschland, dessen Geistesquell wohl verschüttet, aber nicht vernichtet werden konnte. [...] mit diesem Vaterland wissen wir uns eins mehr denn je.37

Die Zielsetzung der Auswärtigen Kulturpolitik, eine von der Politik losgelöste eigenständige Kulturvermittlung zu betreiben setzten die Schulvereine nicht um, vielmehr zeigten sie sich als eigenständiger Akteur mit nationalem Sendungsbewusstsein, der Einfluss auf seine Umwelt ausüben konnte. Sich aus dem Streit politischer Tagesmeinungen herauszuhalten, wie es Boelitz 1927 forderte38, war im Alltag der Schulen kaum möglich. Die Lehrer als verantwortliche Kulturakteure transportierten ihre eigenen politischen Vorstellungen in die deutschen Auslandsgemeinden, wo sie Schülern aufnahmen und weiter verbreiteten. In der Abiturrede des Jahrgangs 1929 berichtete beispielsweise der Madrider Schüler Erwin Schneidewind von den Aufgaben, die ihnen als zukünftige Vertreter des Vaterlandes zukomme, denn Deutschland sei das Volk ohne Raum und die Deutsche Schule sei dabei ein Teil der Kolonisation und eine Brücke zwischen Heimat und Fremde.39 4. DIE DEUTSCHEN SCHULEN IN DER NS-ZEIT Die ideologische Durchdringung der NS-Außenpolitik erfasste auch die Auslandsschulen und ihren Bildungsauftrag.40 Kerngedanke war weiterhin die Erhaltung des Deutschtums und die Erziehung der Kinder nach deutschen Maßstäben. Der Bericht des Schulleiters der Deutschen Schule Madrid aus dem Jahr 1933 zeigt, dass die Schule die neue politische Weltanschauung schnell aufgenommen hat:   36 37 38 39 40  

Vgl. Jahresbericht Deutsche Schule Madrid 1932/1933, S. 16. Vgl. Jahresbericht Deutsche Schule Bilbao 1932/1933, S. 7. Vgl. Boelitz (1927): Die Deutsche Schule in Barcelona, S. 39. Vgl. Jahresbericht Deutsche Schule Madrid 1928/1929, S. 34. Vgl. dazu stellvertretend: Waibel (2010): Die Deutschen Auslandsschulen.

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Wir stehen im härtesten Kampfe um die Anerkennung unserer geistigen Einstellung auf die Erfordernisse des Umbruchs der deutschen Nation, und in diesem Kampfe bleibt der deutschen Auslandsschule eine Sonderstellung vorbehalten. [...] Wir erziehen die uns anvertrauten reichsdeutschen Kinder nach bestem Wissen und Gewissen zu mannhaften Vertretern und Vorkämpfern für das Dritte Reich. [...] Eine Weltanschauung darf nicht gedacht oder gepredigt werden, sie muss gelebt werden.41

Schulz betonte zwar in den Vorstandssitzungen immer wieder, dass er die Schule von allem Politischen trennen und die NSDAP nicht als Partei Funktionen in der Schule ausüben lassen wollte,42 dennoch kam es zu einer schnellen und widerstandslosen Eingliederung der Schulen in die NS-Auslandsorganisationen. Der Lehrplan und die Lehrmittel wurden nach den rassischen Vorstellungen ausgerichtet,43 wichtige Funktionen in der NS-Jugendorganisation erfüllten Lehrkräften der Deutschen Schule und das Schulgebäude diente als Versammlungsort für kulturelle und politische Veranstaltungen.44 In der Satzung des Jahres 1942 untersagte die Deutsche Schule Madrid jüdischen Eltern die Mitgliedschaft im Schulverein,45 ohne dass es aus Berlin eine dementsprechende Order gegeben hätte.46 Hinsichtlich der starken katholischen Prägung anderer Schulen des Gastlandes bot man, trotz nationalsozialistischer Durchdringung, eine laizistische Alternative und einen gewissen Grad an liberaler Erziehung. In den Memoiren ehemaliger Schüler finden sich immer wieder Hinweise darauf, dass es keine starke Propaganda oder Einflussmaßnahmen auf die Schüler gab.47 Ein Grund hierfür könnte sein, dass die Schulen schon vor dem Machtwechsel nationalkonservativ ausgerichtet waren, so dass ideologisch kaum eine Änderung wahrnehmbar war.48 5. ZUSAMMENFASSUNG Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die Auswertung der Quellen, die an den Auslandsschulen zugänglich sind, neue Perspektiven auf das Auslandsschulwesen und die Umsetzung der Auswärtigen Kulturpolitik zulassen. Durch den   41 Vgl. Jahresbericht der Deutschen Schule Madrid 1933/1934, S. 17–20. 42 Vgl. Handschriftliches Protokoll der Vorstandssitzung undatiert, in: Archiv der Deutschen Schule Madrid. 43 Vgl. Deutscher Schulverein Barcelona (1994): 100 Jahre, S. 89–98. 44 Vgl. stellvertretend in den Jahresberichten der Deutschen Schule Madrid die Tätigkeitsberichte des Madrider Schuldirektors Max Johs ab 1936. Johs hatte als Parteimitglied den Vorsitz der Schulleiterkonferenz auf der iberischen Halbinsel inne und war ein starker Verfechter der nationalsozialistischen Ideologie. 45 Vgl. Satzung der Deutschen Schule Madrid 24.02.1941, in: PAAA AV 34.699 46 Vgl. Aktenvermerk über die Behandlung jüdischer Schüler, vom 08.05.1941, in: BA R4901/6595 47 Vgl. dazu stellvertretend: Tusquets (2007): Habíamos ganado la guerra. 48 Vgl. De la Hera Martínez (2002): Política cultural, S. 134.  

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Blickwinkel der Schule kann die politische Mikroebene untersucht werden und Kultur- und Bildungspolitik aus der Sicht der Kulturvermittler betrachtet werden. Dabei zeigt sich, dass die Bewahrung des Deutschtums eine ideologische Konstante ist, die vom Kaiserreich bis in die NS-Zeit reicht. Sowohl in den Schulen, als auch im Auswärtigen Amt gab es keine konzeptionelle Neuausrichtung des Auslandsschulwesens. Anschaulich zu sehen in einem Zitat von Otto Boelitz, der als Schulleiter an der Deutschen Schule in Barcelona und später als Staatssekretär im Auswärtigen Amt tätig war: Die Frage des Auslandsdeutschtums ist heute zur Schicksalsfrage unseres Volkes geworden. [...] Wir mussten den Krieg verlieren, um unser Volkstum zu gewinnen. Stärkste Stütze in diesem gewaltigen Kampf um die Erhaltung des deutschen Volkstums ist die deutsche Auslandsschule. [...] Der Willensakt ihrer Begründung bedeutet [...] die bewußte Bemühung um die Erhaltung des deutschen Volkstums in der Fremde!49

Die Bewahrung von ideologischen, personellen und strukturellen Konstanten auf der Ebene der Kulturvermittler verhinderte die Neuausrichtung der Auswärtigen Kulturpolitik. Der häufig diagnostizierte Wechsel 1919/1920 muss mit Blick auf die Auslandsschulen relativiert werden. Die erfolgreiche Trennung von außen- und kulturpolitischen Zielen und der Neuansatz in der Kulturpolitik, wie sie Düwell der Weimarer Republik zuschreibt,50 sind graduiert zu betrachten, da die Auslandsschulen als politische Akteure partiell zu eigener Kulturpolitik fähig waren. Schon Scholten hat in seiner Untersuchung zur Sprachverbreitungspolitik des nationalsozialistischen Deutschlands angemerkt, dass die Stellung der Mittlerorganisationen bei der politischen Positionierung Deutschlands im Ausland höher bewertet werden muss, da Ansätze die Sphären der Politik und der Kultur zu trennen, die Realität kaschieren würden.51 Zwar ergab sich durch den hohen Grad an Eigenständigkeit der Schulvereine und den Wegfall des Konzepts der Propagandaschule eine Trennung von Auslandsschulwesen und Kulturpropaganda, eine vollständige und vor allem erfolgreiche Separierung der Kulturpolitik und Außenpolitik war jedoch nicht möglich. Als politische und ideologische Multiplikatoren konnten die Auslandsschulen ihr Bild von Weimar und von Deutschland in der Auslandsgemeinde verankern und sie waren eine direkte Verbindung zu den deutschen Minderheiten im Gastland sowie Repräsentanten des Heimatlandes.52 Ihre Vorstellung und ihre Auffassung von Politik beeinflusste die Auslandsgemeinde und ihre Mitglieder. Dabei berief man sich immer wieder auf Vorgängerkonzepte aus der Zeit des Kaiserreichs und stand der Weimarer Republik teilweise feindlich gegenüber, so dass sich ein nationalkonservativer Charakter entwickelte, der die demokratischen Werte Weimars nicht nach außen repräsentierte.   49 50 51 52  

Vgl. Boelitz (1929): Das deutsche Auslandsschulwesen, S. 2. Vgl. Düwell (1981): Die Gründung der Kulturpolitischen Abteilung, S. 48–50. Vgl. Scholten (2000): Sprachverbreitungspolitik, S. 41. Vgl. ebd, S. 41.

Auswärtige Kulturpolitik an den deutschen Auslandsschulen, 1918–1933

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QUELLEN Deutsche Auslandsschulen:53 Deutscher Schulverein Barcelona (Hrsg.): 100 Jahre Deutsche Schule Barcelona, Barcelona 1994. Jahresberichte Deutsche Schule Madrid 1914–1933 Jahresberichte Deutsche Schule Barcelona 1914–1933 Jahresberichte Deutsche Schule Bilbao 1914–1933 Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes: PAAA R71946 PAAA R62796 PAAA R60214 PAAA AV 34.699 Bundesarchiv Lichterfelde: BA R57/neu 1134 BA R4901/6595

LITERATUR Boelitz, Otto: Die Deutsche Schule in Barcelona. In: Boelitz, Otto/Schmidt, Franz (Hrsg.): Aus deutscher Bildungsarbeit im Auslande. Erlebnisse und Erfahrungen in Selbstzeugnissen aus aller Welt, Langensalza 1927, S. 37–55. Ders.: Das deutsche Auslandsschulwesen. In: Reichszentrale für Heimatdienst Nr. 180 (1929). De la Hera Martínez, Jesus: La política cultural de Alemania en España en el período de entreguerras, Madrid 2002. Düwell, Kurt: Probleme des Auslandsschulwesens in der Weimarer Republik. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 3 (1975), S. 142–154. Ders.: Deutschlands auswärtige Kulturpolitik: 1918–1932 Grundlinien und Dokumente, Köln 1976. Ders.: Die Gründung der Kulturpolitischen Abteilung im Auswärtigen Amt 1919/20 als Neuansatz. Inhaltliche und organisatorische Strukturen der Reform auswärtiger Kulturpolitik nach dem Ersten Weltkrieg. In: Düwell, Kurt/ Link, Werner (Hrsg.): Deutsche auswärtige Kulturpolitik seit 1871. Geschichte und Struktur, Köln 1981, S. 46–72. Kuchler, Christian: Deutsche Visitenkarte in der Welt. Geschichte des Auslandsschulwesens als Instrument auswärtiger Kulturpolitik. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 5/6 (2016), S. 261–271. Pöppinghaus, Ernst Wolfgang: Moralische Eroberungen. Kultur und Politik in den deutsch-spanischen Beziehungen der Jahre 1919–1933, Frankfurt am Main 1999. Penny, Glenn: Knotenpunkte und Netzwerke. Auslandsschulen in Chile 1880–1960. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 5/6 (2016), S. 281–295. Scholten, Dirk: Sprachverbreitungspolitik des nationalsozialistischen Deutschlands, Frankfurt am Main 2000. Trommler, Frank: Kulturmacht ohne Kompass. Deutsche auswärtige Kulturbeziehungen im 20. Jahrhundert, Köln 2014.

  53 Die Jahresberichte befinden sich in den Archiven der Deutschen Schulen in Spanien, in der Biblioteca Nacional in Madrid und zu Teilen in den Beständen des Bundesarchives Lichterfelde R57/neu.

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Dominik Herzner

Tusquets, Esther: Habíamos ganado la guerra, Barcelona 2007. Waibel, Jens: Die Deutschen Auslandsschulen. Materialien zur Außenpolitik des Dritten Reiches, Frankfurt/Oder 2010.

BIOLOGIE UND KLASSENKAMPF VON OBEN Wilhelm Hartnacke in der Bildungsdiskussion der Weimarer Republik Florian Heßdörfer Der Blick auf das, was unter dem Namen der Weimarer Republik firmiert, erfolgt häufig von ihrem Ende her. Unter dieser Perspektive erscheint sie in Gestalt einer beschlossenen Sache, die sich gerade in ihrer Abgeschlossenheit als Gegenstand unseres Fragens anbietet. Statt den Antworten zu lauschen, die in der Korrespondenz mit dem Vergangenen dessen Ende wiederholen und befestigen, wollen wir im Folgenden versuchen, einen Teil jener ‚Weimarer Fragen‘ zu rekonstruieren, die noch nicht an ihr Ende gekommen sind und uns als ungleichzeitige Zeitgenossen der Weimarer Republik zu erkennen geben. Dabei konzentriert sich gerade im Kontext des Bildungswesens ein ganzes Bündel von Fragen und Auseinandersetzungen und verwandelt das Reizwort ‚Schule‘ in ein Brennglas, unter dem sich die Arbeit der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse exemplarisch studieren lässt. Dieses Interesse am Exemplarischen spitzen wir zu und entwickeln die folgenden Ausführungen an einem so vergessenen wie streitbaren Akteur der Bildungstheorie und Bildungspolitik, Wilhelm Hartnacke (1878–1952). In Westfalen geboren und zur Schule gegangen, promoviert sich Hartnacke 1901 auf dem Gebiet der romanischen Philologie und wird 1910 – nach einigen Hilfs- und Privatlehreranstellungen – Schulinspektor in Bremen. Mit dem Beginn der Weimarer Republik verlagert er seinen Wohnort nach Dresden, wo er bis 1933 als Stadtschulrat wirkt. Der ‚Höhepunkt‘ seiner Karriere stellt sich erst nach dem Ende der Weimarer Republik ein, als er im Frühjahr 1933 zum sächsischen Volksbildungsminister aufsteigt – ein Amt, das er jedoch bereits zwei Jahr später aufgrund innerparteilicher – und weltanschaulicher – Rivalitäten wieder verlassen muss. Trotz der Leichtigkeit, mit der sich Wilhelm Hartnacke schon aufgrund seiner rigorosen rassenbiologischen Überzeugungen aus der Ahnengalerie der Pädagogik streichen ließe,1 wenden wir ihm nicht schlichtweg den moralisch gestärkten Rücken der Spätgeborenen zu, sondern folgen der spezifischen Rationalität, die seine Reden, Aufsätze und Bücher als Einsätze innerhalb der pädagogischen Problematik durchzieht. Gerade in der Mischung aus elitär-reaktionärem Nationalkonservatismus und der Idee einer Bildungssteuerung auf Basis (natur-)wissenschaftlicher und statistischer Expertise treffen wir auf   1

Eine Streichung, deren Logik bereits 1934 die NSDAP folgte, als sie Hartnackes gerade ein Jahr bestehende Mitgliedschaft rückwirkend für ungültig erklärte (vgl. Reichel 2016: Hartnacke).

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einige so moderne wie streitbare Elemente im Zwischenreich von Pädagogik und Regierungskunst. Es besteht der Verdacht, dass gerade der allzu leichte Vorwurf der Unvernunft jene tiefere Form der Rationalität verbirgt, die noch in unserem eigenen Denken fortdauert. Unser Augenmerk gilt dabei vier pädagogischen Elementen: Der Idee der menschlichen Vielfalt, dem Projektcharakter des Volkes, der Spannung zwischen autoritärer Führung und liberaler Regierung sowie der Technologie der Auslese. 1. DIE MENSCHLICHEN UNTERSCHIEDE Das Bekenntnis zur menschlichen Vielfalt gehört heute zur Grundausstattung der pädagogischen Moral. Nirgendwo findet sie sich besser versinnbildlicht als in jener vielfältig variierten Karikatur, welche das abstrakte Schlagwort der Heterogenität mit dem Bild einer Gruppe unterschiedlicher Tiere einfängt. Es präsentiert dem Betrachter einen Vogel, einen Affen, einen Pinguin, einen Elefanten, einen Fisch im Goldfischglas, einen Seehund sowie einen Hund, die ordentlich aufgereiht vor dem Tisch des Pädagogen stehen. Der Spott der Karikatur ergibt sich aus der Rolle des Lehrers, der seine Tier-Schüler alle mit derselben Aufgabe konfrontiert – mit der Aufgabe, einen Baum zu besteigen.2 Im milden Lachen über den Lehrer gestattet die Abbildung ihrem Betrachter die Einsicht in jenes Offensichtliche, das der Lehrer in der Abbildung nicht zu sehen scheint: ‚Die Schüler sind nicht gleich!‘ Wer bei diesem aufgeklärten Heureka der Differenz stehen bleibt und daraus die naheliegende Schlussfolgerung zieht, dass die offenbar natürlich gegebenen Unterschiede mit einer jeweils unterschiedlichen Praxis der Bildung zu beantworten seien, dem sei der zynische Hinweis auf einen einschlägigen Ort der Parole ‚Jedem das Seine‘ nicht vorenthalten: In den modernen Majuskeln des inhaftierten Bauhauskünstlers Franz Ehrlich schmückt sie das Eingangstor des Konzentrationslagers Buchenwald. In dieser Spannung wird die grundlegende Ambivalenz des pädagogischen Verhältnisses zur Vielfalt deutlich und bewahrt uns vor einer kurzschlüssigen Aufwertung des Unterschiedlichen als Wert an sich. „Mensch ist nicht gleich Mensch; schon von Natur nicht“,3 lautet Wilhelm Hartnackes Bekenntnis zu den Unterschieden, das er in einem Bildungwahn – Volkstod! betitelten Vortrag aus dem Jahr 1932 artikuliert. Bereits auf dem engen Raum dieser Formulierung deutet sich ihre rhetorische Zielrichtung an. Während in ihrer Wortwahl die humanistischaufgeklärte Kopplung von ‚Mensch‘ und ‚Gleichheit‘ anklingt, streicht sie diese schon im Auftakt wieder durch und setzt dabei die ‚Natur‘ als Operator dieser Streichung ein. Auf diese Weise können sich am 17. Februar 1932 auch Hartnackes Zuhörer, die Mitglieder der Deutschen Gesellschaft für Rassenhygiene, als entschiedene Unterstützer der These von den menschlichen Unterschieden erkennen. Die   2 3  

Vgl. Traxler (1983): Chancengleichheit, S. 25. Hartnacke (1932): Bildungswahn, S. 18.

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zentrale Sorge, die Hartnacke in zahlreichen Schriften4 zum Ausdruck bringt, besteht dabei in der angemessenen Passung der ‚natürlichen‘ Unterschiede mit der Verteilung ihrer Träger im Bildungs- und Gesellschaftssystem. Seiner Einschätzung nach hat das im Artikel 146 der Weimarer Reichsverfassung verankerte Prinzip einer anlagen- und interessensbezogenen Schulzuordnung einen gefährlichen „Bildungs- und Aufstiegswahn“5 entfesselt, der die biologischen Grundlagen der Bildung verkenne und somit eine „Gefahr für die biologische Volkszukunft“6 darstelle. Mit der Kampfvokabel des „Wahns“ attackiert Hartnacke jede Pädagogik, welche ihre Arbeit nicht auf der Einsicht in die handfeste Natur der individuellen Unterschiede gründet, sondern einer nicht durch die Natur der Dinge gesicherten Idee der Gleichheit und Gestaltbarkeit nachhängt.7 Solche irrationalen Phantasien geraten seiner Befürchtung nach in Konflikt mit den Gesetzen der ‚Volksbiologie‘ und führen zu jenem angeblichen kollektiven Niedergang, den Spengler im Untergang des Abendlandes eindrücklich vor Augen führt.8 Ich bezeichne als Bildungswahn das fruchtlose Bemühen, geistige Form da zu schaffen, wo nicht die entsprechende Bildbarkeit gegeben ist. Und dies übersteigerte Wesen will ich als verderblich erweisen, als den Volkstod bringend.9

Mit der Gewissheit der natürlichen Differenzen im Rücken setzt Hartnacke die Praxis der Auslese ins Zentrum gelingender Bildung. Im Rahmen einer Rhetorik der Zwangslage und der daraus resultierenden heroischen Durchsetzung des Unvermeidbaren erfolgt der dramatische Auftritt der Auslesepflicht: Es bleibt aber nur die Wahl zwischen zwei Übeln, der Rücksichtslosigkeit der Auslese oder dem Gehenlassen, das zur Katastrophe führt und mehr gefährdet, als Aufstieg und Bildungsrecht des Individuums.10

In der Technologie der Auslese verbinden sich zwei heterogene Elemente. Sie verknüpft die gründliche Erkenntnis der Einzelnen mit der angemessenen Verteilung der Vielen und koppelt so die Ordnung des Wissens mit der Praxis der Regierung.11 Dabei erhöht für Hartnacke gerade die Forderung der „Rücksichtslosigkeit“ die   4

Vgl. Hartnacke (1915): Problem der Auslese; Hartnacke (1932): Bildungswahn; Hartnacke/Wohlfahrt (1934): Geist und Torheit; Hartnacke (1940): Seelenkunde. 5 Hartnacke (1934): Geist und Torheit, S. 6. 6 Hartnacke (1932): Bildungswahn, S. 75. 7 Dieser Rekurs auf die Natur entspricht Michel Foucaults Analyse der neuzeitlichen ‚Gouvernementalität‘ als eines Dispositivs, „das sich also in gewisser Weise an die anerkannte, akzeptierte, weder aufgewertete noch abgewertete, einfach als Natur anerkannte Wirklichkeit anschließt“ (Foucault 2006a: Gouvernementalität I, S. 63). Auf welche Weise dieser ‚objektive‘ Wert der Natur mit Interessen kontaminiert ist, zeigt Hartnackes Variante einer ‚autoritären Natur-Politik‘ sehr deutlich. 8 Vgl. Spengler 1920, S. 1–73. 9 Hartnacke (1932): Bildungswahn, S. 9. 10 Ebd., S. 95. 11 Vgl. Foucault (2006b): Gouvernementalität II, S. 116–127.

 

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Pflicht zu einer umfassenden und wissenschaftlichen Einschätzung der Auszulesenden. Mancherorts fehle der Wille zur Auslese, weil es an einem verlässlichen Maßstab der Einschätzung und damit der gerechten Vergleichbarkeit mangele; ein verläßlicher objektiver Vergleichsmaßstab zwischen Schulen, Schulgattungen und Orten und damit der Mut zu scharfer Ausmerze fehlt, weil das Vertrauen zur einheitlichen Gerechtigkeit nicht genügend Boden hat.12

Aus diesem Grund fordert Hartnacke bereits zur Zeit des Ersten Weltkrieges eine wissenschaftlich fundierte und statistisch informierte Auslesepraxis: „Ich sehe in der richtigen Form der Auslese der Tüchtigen eine der allerdringlichsten Aufgaben, die nach dem Kriege entschlossen anzufassen sind.“13 Bei aller Bekenntnis zur Härte versteht sich seine Forderung durchaus im Einklang mit einer tradierten Figur der ‚Ganzheitlichkeit‘. Wo ausgelesen werden muss, könne sich der Praktiker nicht allein auf die nackten Daten quantifizierender Tests stützen. Die „exakte, mechanisierte Intelligenzprobe“ sei „mit großer Zurückhaltung zu bewerten“ und tauge vielleicht für die Auslese an den Rändern des Normalen, für die „Schullaufbahn normaler Kinder“14 brauche es jedoch eine weit umfassendere Einschätzung der Person als ganzer. Dieses 1915 formulierte Projekt kann Hartnacke 1933 nach seiner Ernennung zum sächsischen Volksbildungsminister in die Tat umsetzen und zeigt dabei, wie die Idee der ganzheitlichen Prüfung der Einzelnen und ihrer Unterschiede zu verstehen ist.15 In auffallender Ähnlichkeit zur heutigen Verschiebung vom ‚Wissen‘ zu den ‚Kompetenzen‘16 und den daran anschließenden nationalen ‚Kompetenztests‘17 setzt Hartnacke standardisierte und schulübergreifend koordinierte Prüfungsverfahren durch, um den Lern- und Bildungserfolg verschiedener Schulen und Schulformen zu ermitteln und auf dieser Grundlage den Zugang zu den Universitäten zu quotieren. Im 1934 erschienen Bericht darüber18 betont er das Ziel dieser Tests. Es gehe zwar auch um einen „bescheidenen Grundstock von Tatsachenwissen“ bzw. „Schulwissen“, letztlich stehe jedoch die „Fähigkeit zur Verwertung“19 desselben im Vordergrund. Dabei lässt sich die Anwendungsdimension nicht einfach in der schriftlichen Wiedergabe erfassen – auch wenn „die Bewertung der Prüfungsarbeiten stets im Hinblick auf den hinter jeder einzelnen Äußerung stehenden ganzen Menschen“20 erfolge –, sondern müsse dabei in Beziehung zum all-

  12 13 14 15 16 17 18 19 20  

Hartnacke (1932): Bildungswahn, S. 94. Hartnacke (1915a): Auslese, S. 481. Ebd., S. 491. Vgl. Wollersheim (2009): Untiefen. Vgl. Klieme/Hartig (2007): Kompetenzkonzepte. Vgl. KMK (2005): Bildungsstandards. Hartnacke/ Wohlfahrt (1934): Geist und Torheit. Ebd., S. 19. Ebd., S. 21.

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täglichen Leben und seinen Problemen stehen und damit „die Erfassung des Prüflings von verschiedenen Seiten her“21 ermöglichen. Diese verschiedenen Seiten helfen, den gesamten „Charakter des um Erkenntnis ringenden Menschen“22 zu erfassen: Die Dimensionen ‚Verantwortlichkeit‘, ‚Selbstkritik‘, ‚Unbestechlichkeit‘, ‚Willensantrieb‘, ‚Selbstständigkeit‘, ‚gesunder Menschenverstand‘, ‚Intelligenz‘, ‚Vorstellungswelt‘, ‚Überzeugungen‘, ‚Gefühls- und Wertleben‘ summieren sich in der Beschreibung Hartnackes zu einem vieldimensionalen Modell ‚ganzheitlicher‘ Prüfung.23 Dabei gehört es zum ausdrücklichen Ziel, die eigentliche Prüfungsleistung nicht als die Summe richtiger Antworten zu verstehen, sondern in dem zu finden, was man heute ‚Problemlöseverhalten‘ nennen würde. „Das Hauptgewicht liegt vielmehr auf der Fragestellung: Wie setzt sich der junge Mensch überhaupt mit der vorgelegten Aufgabe auseinander?“24 Aus diesem Grund gehören zu den in den „sächsischen Sichtungsverfahren“ verwendeten Frageformaten nicht nur klassische Definitions- und Ordnungsaufgaben, sondern auch sehr offene Fragestellungen, die Berufswahlverhalten, volksökonomische Zusammenhänge und philosophische Argumentationen betreffen, vom Prüfling verlangen, aus dargestellten Inneneinrichtungen „Rückschlüsse […] auf den Geist der Zeit zu ziehen“25 oder sich folgendes Gedankenexperiment vorzustellen: „Nehmen Sie an, daß das Wasser nur den zehnten Teil seines tatsächlichen Gewichtes hätte. Welche Folgerungen würden sich daraus ergeben?“26 So zeitgenössisch der Versuch erscheint, eine Vielfalt von Frageformaten zu konstruieren, um der Vielfalt der persönlichen Fähigkeiten gerecht zu werden, so autoritär zeigt sich zuletzt der übergeordnete Rahmen, in dem sich Hartnackes Ausleseprojekt verortet. 2. DAS VOLK ALS AUTORITÄRES PROJEKT Hartnackes vordergründige Aufwertung der ‚Gesamtpersönlichkeit‘ fußt weniger auf einem ‚Recht der Individualität‘, sondern findet ihre eigentliche Begründung stets in den Individuen übergeordneten Zusammenhängen. Der eigentliche Horizont, in dem Hartnacke sein düsteres Panorama entwirft, ist eine Zukunft, deren Subjekt nicht der Einzelne, sondern das Volksganze ist. Die Argumentation seines Vortrags über Bildungswahn – Volkstod! operiert mit zwei wesentlichen Verschiebungen: einer sozialen Verschiebung vom Einzelnen zum Kollektiv, sowie einer temporalen von der Gegenwart zur Zukunft. Gleichzeitig erfährt die Aufwertung des Kollektivs eine folgenreiche Ergänzung im Hinblick auf dessen Produktivität –   21 22 23 24 25 26  

Ebd., S. 23. Ebd. Vgl. Hartnacke / Wohlfahrt (1934): Geist und Torheit, S. 23f.; S. 100f. Ebd., S. 25. Ebd., S. 32. Ebd., S. 35.

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diese hänge weniger von den Vielen ab, sondern von jenen Wenigen, deren Führungskraft das Leben der Vielen organisiere und leite. Wenn Völker sterben, dann setzt der Tod oben ein, so, daß die vorzugsweise kulturfähigen Teile des Volkes sich der Volkszukunft versagen. Und das tritt ein, wenn sich ihre Sorge allzusehr auf ihr zivilisationsgefesseltes Ich richtet, und wenn sie daher über den Fragen des Daseins der gerade Lebenden versäumen, ihre Lebenslinie über sich hinaus in genügender Stärke fortzusetzen.27

Die Kritik am Eigensinn des Ich beklagt daher nicht nur seine Verhaftung im Gegenwärtigen, sondern zugleich seine „Opferscheu“28 – seine Abneigung gegenüber jenen ‚Opfern‘ für die Zukunft, die als tragende Elemente eines völkischen Präventionsdenkens eingeführt werden. Die Figur der Prävention als Sorge um die Zukunft der Ungeborenen führt dabei zu einer paradoxen Abwertung des Lebens im Namen des Lebens der Kommenden: „Nur losgelöst von der Rücksicht auf die Massengunst und auf das Interesse der gerade Lebenden entsteht der Wille zum Opfer für die Zukunft.“29 Der „Volkstod“ verdichtet sich so zu einer biopolitischen Mahnformel, die den Tod als Folge einer falschen Sorge um das Leben verkündet: „Ein Volk stirbt, wenn es sich seiner eigenen Zukunft versagt, wenn es nur den Lebenden lebt.“30 Im Kontext dieser Logik tritt schließlich der Genuss der Gegenwart als das Feindbild der Pflicht gegenüber der Zukunft auf: Wir sind so weit, daß bei allzu vielen der gerade Lebenden der Eigennutz die Verantwortung vor der Zukunft erstickt hat. Die Sucht nach dem Genuß der Lebensgüter gönnt dem kommenden Geschlechte nicht Leben und Dasein.31

Das so aufgebaute Katastrophenszenario dient als Rechtfertigung bildungspolitischer Forderungen. In ihrem Zentrum steht die Mahnung, das Bildungswesen entlang seiner ‚natürlichen‘ Grundlagen zu organisieren, die in zwei verschiedenen Zusammenhängen entworfen werden. Zum einen als die Naturgrundlage der ‚Anlagen‘ und ‚Begabungen‘ der Einzelnen, zum andern als die Naturgesetze des volksbiologisch konturierten Kollektivs. Im ersten Zusammenhang plädiert Hartnacke für eine erbbiologisch geläuterte Pädagogik, welche die natürlichen Grenzen ihrer Möglichkeiten und die prinzipielle Verschiedenheit der Subjekte anerkennt: Dieser ist häßlich wie ein Faun, jener schön wie Adonis. Daß solche Unterschiede so gut wie völlig auf Rechnung der Erbanlage gehen, das bezweifelt so leicht niemand.32 Jenseits der Naturgrenzen ist die Erziehung so gut wie völlig wirkungslos. Die Erziehung kann im einzelnen und in der Gesamtheit nur da etwas ausrichten, wo von Natur die Voraussetzung gegeben ist. […] Gegen Dummheit ist kein Kraut gewachsen.33

  27 28 29 30 31 32 33  

Hartnacke (1932): Bildungswahn, S. 10. Ebd., S. 100. Ebd., S. 11. Ebd., S. 14. Ebd., S. 15. Ebd., S. 18. Ebd., S. 21.

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Solche Feststellungen binden die pädagogische Arbeit an ihre Unterstützung durch entsprechende Test- und Diagnoseverfahren, welche die jeweiligen Naturgrenzen bestimmen. Zugleich sprechen sie dem Arbeitsfeld Schule Produktivität im engeren Sinne ab, da sich dieses lediglich auf Üben und Lenken der vorhandenen Möglichkeiten beschränke. Diese Zurechtweisung koppelt Hartnacke an eine zentrale volksbiologische Forderung: an die Zurücknahme der Akademisierung zahlreicher Berufsfelder, zu der auch die „falsch überhöhte Erziehungs- und Unterrichtsarbeit“34 zähle, wie etwa die universitäre Ausbildung der Volksschullehrer_innen.35 Das Übel der Akademisierung belegt Hartnacke mit diversen Statistiken, die allesamt eine Korrelation von hohem Bildungsgrad und niedriger Zeugungsbereitschaft unterstreichen. „Unser übersteigertes Vorbildungswesen ist gerade mit seinem Übergreifen auf das weibliche Geschlecht zur schlimmen Gefahr für die biologische Volkszukunft geworden.“36 „Daß vielzuviele auf die gehobenen Bildungswege gedrängt werden, führt volksbiologisch auf die Dauer zu Erschöpfung.“37 Wie die Bildbarkeit des Einzelnen ihre Grenzen in dessen Natur finde, so unterliege auch die Organisation des Volkes natürlichen Gesetzen, gegen die nur auf Kosten der Volksgesundheit verstoßen werden könne.38 So reklamiert Hartnacke eine ‚natürliche Auswahl‘ der kräftigen Naturen im ‚Überlebenskampf‘, die mit übertriebener staatlicher Fürsorge ausgehebelt worden sei und zu einem Wuchern schwacher Naturen führe: „Heute ist der eigentliche Überlebenskampf praktisch ausgeschaltet, so daß die Minderwertigkeit ins Kraut schießt und Hochwertiges in der Fortpflanzung zurückgehalten wird.“39   34 Ebd., S. 55. 35 Das hartnäckige Fortdauern dieser Argumentationsfigur der zeugungsunfreudigen Akademiker_innen findet sich kaum variiert in Thilo Sarrazins Essay „Deutschland schafft sich ab“ wieder, wo er jedoch Hartnackes Sorge noch zu steigern weiß, indem er den Geburtenverzicht der Akademikerin direkt mit der Geburtensteigerung bei der ‚Unterschicht‘ verbindet. Wo Hartnacke die studierte Volksschullehrerin befürchtet, fürchtet Sarrazin die studierte Erzieherin: „Kinderlose bzw. kinderarme akademisch ausgebildete Erzieherinnen verzichten auf eigenen, möglicherweise intelligenten Nachwuchs, um sich der frühkindlichen Erziehung von Kindern aus der deutschen Unterschicht und aus bildungsfernen migrantischen Milieus zu widmen, die im Durchschnitt weder intellektuell noch sozial das Potential mitbringen, das ihre eignen Kinder hätten haben können. Ist das die Zukunft der Bildungsrepublik Deutschland?“ (Sarrazin 2010: Deutschland, S. 245). 36 Ebd., S. 75. 37 Ebd., S. 101. 38 In diesem Sinne verweist Foucault darauf, wie nicht nur die Natur der regierten Dinge zum Maßstab des biopolitischen Handelns wird, sondern zugleich der Erfolg bzw. Misserfolg dieser ‚natursensiblen‘ Regierung die Frage ihrer Legitimität überlagert: „Wenn sie diese Natur durcheinanderbringen sollte, wenn sie sie nicht berücksichtigen oder gegen die Gesetze handeln sollte, die durch jene Natürlichkeit der Gegenstände, die sie manipuliert, festgelegt wurden, wird das unverzüglich negative Auswirkungen für sie selbst haben, anders gesagt es wird Erfolg oder Mißerfolg geben, Erfolg oder Mißerfolg, die nun das Kriterium des Regierungshandelns sind, und nicht mehr Legitimität oder Illegitimität.“ (Foucault 2006b: Gouvernementalität II, S. 34). 39 Ebd., S. 52f.  

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Hartnackes Argumentation gegen den „Wahn“ im deutschen Bildungssystem bedient sich insgesamt einer Reihe normalistischer Figuren, um die Grenzen des Normalitätsspektrums zu verhandeln.40 Ein Schwerpunkt fällt dabei auf das Problem des Wachstums. Während im Bild des natürlichen Wachsens eine stetige, konstante Zunahme die Leitlinie des Normalen figuriert, weist Hartnacke mehrfach auf nicht-normale und daher besorgniserregende Wachstumsprozesse einer „katastrophale[n] Steigerung“41 hin. Der markanteste ziert zugleich das Titelbild der Druckfassung: Zwei rote Säulen illustrieren den 500-prozentigen Zuwachs der Abiturienten von 1900 zu 1931 von 8.000 auf 40.000 Personen und werden der im selben Zeitraum halbierten Geburtenzahl zur Seite gestellt. Die Zahl der Studienberechtigten steigt nicht nur, sondern befindet sich in exponentiellen Wachstum. Um dies zu zeigen, greift Hartnacke ins Jahr 1800 aus: Um das Jahr 1800 hatten wir auf 100 000 Menschen 25 Studierende, im Jahre 1931 waren es rund 200, also im Verhältnis achtmal so viel, absolut genommen ist der Anstieg noch viel gewaltiger. 1840 studierten an deutschen Universitäten 11,5 Tausend, 1931 waren es 99,5 Tausend, wohlgemerkt an den Universitäten!42

Diese Zahlen werden schließlich in bildhaftere Formulierungen übersetzt, welche die Gruppe der nach höherer Bildung Strebenden als eine unterschiedslose aber dynamischen Masse fassen: Wenn irgendwo eine Flut anprallt, dann folgt man gewiß für Ableitung, aber zu allererst sorgt man, daß nicht noch mehr zuströmt, man stopft das Loch im Deich, und so muß die Forderung heißen: Verringert den Zustrom.“43 „In das schwindende Volk schiebt sich ein lawinenartig angeschwollener akademischer Nachwuchs, viel zu stark für ein normal wachsendes Volk, immer weniger verwendbar in einem schwindenden.44

An diese Problematik nicht-normalen, da exponentiellen Wachstums, das nach Jürgen Link „von systematischer Bedeutung für die Normalität ist – allerdings als eine der größten Bedrohungen der Normalität“,45 schließt sich die einer nicht-normalen Verteilung an. Hier greift Hartnacke auf die Verteilungsstruktur in einer zufällig zusammengestellten Gruppe von Elementen zurück, wie sie seit Alphonse Quetelet als ‚Normalverteilung‘46 gilt: Stellt man sich eine bunt zusammengewürfelte Menge vor, etwa 100 Menschen, wie sie im Adreßbuch hintereinander stehen: Kann man ernsthaft glauben, daß die ganze Breite des Unterschieds geistiger Leistung, die sich in diesen 100 Menschen zeigt, nur Folge unterschiedlicher Erziehung wäre?47

  40 41 42 43 44 45 46 47  

Vgl. Link (2013a): Normalismus. Hartnacke (1932): Bildungswahn, S. 69. Ebd. Ebd., S. 98. Ebd., S. 63. Link (2013b): Krise, S. 12. Vgl. Quetelet (1921): Soziale Physik, S. 446–462. Hartnacke (1932): Bildungswahns, S. 25.

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Während für Hartnacke eine solche Verteilung den Spiegel der natürlichen Gegebenheiten darstellt, zeigt ihm bereits ein kurzer Blick auf die differentielle Geburtenrate, wie diese die übliche Streuung von Spitzen-, Normal-, und Minderleistenden gefährdet. Er verweist auf eine zeitgenössische Statistik aus Bremen, nach der die Eltern höherer Schüler nur halb so viele Kinder hätten, wie die Eltern von sogenannten Hilfsschülern.48 Da sich solche Differenzen erst in der Zukunft in ihrer exponentiellen Durchschlagskraft bemerkbar machen, bietet Hartnacke den Lesern eine statistisch-rassistische Phantasie zur Verdeutlichung: Man stelle sich vor, daß zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges die Hälfte der Bevölkerung Deutschlands aus Negern und die Hälfte aus Weißen bestanden hätte und die Neger hätten vier Generationen im Jahrhundert, hätten also mit 25 Jahren geheiratet und vier Kinder, die Weißen hätten drei Generationen im Jahrhundert, hätten also mit 33 Jahren geheiratet und drei Kinder, dann wäre heute das Verhältnis der Bevölkerung nicht mehr 50 : 50, sondern 991 Schwarzen ständen nur 9 Weiße gegenüber.49

In diesem Beispiel verdichten sich beide Denormalisierungsvarianten: Eine kleine Abweichung der Verteilung führt innerhalb eines bestimmten Zeitraums zu einem anormalen Zuwachs der einen Bevölkerungshälfte (natürlich nur, wenn – was implizit vorausgesetzt wird – die beiden Hälften sich nicht vermischen). Die Sorgen und Ängste, die im Text über den „Bildungswahn“ aufgebaut werden, warnen jedoch nicht nur vor einem Verstoß gegen die Naturgesetze von Volk und Individuum, sondern stützen sich auf deren objektiven Geltungsanspruch, um ihre autoritäre politische Durchsetzung zu legitimieren: „Überragende Führerkenntnis muß das durchsetzen, was die Massen nie begreifen werden, daß das wertvolle Erbgut im Volke nicht ausgerottet werden darf, sondern ihm Boden und Weg bereitet werden muß.“50 Das vor-individuelle „Erbgut“ kann nur in seiner Bewahrung durch einen über-individuellen Führer zur Geltung gebracht werden. Nur wenn ein Volk seine herausragenden Begabungen erkennt und die Führungsqualitäten dieser Begabten fördert, könne es einen Weg beschreiten, für den die Historie kein Beispiel kennt. Anders als die antiken Zivilisationen könnte es sich dem natürlichen Kulturkreislauf entwinden und dem prognostizierten ‚Untergang des Abendlands‘ gerade noch von der Schippe springen. Mit Hilfe der Einsicht in seine biologischen Grundlagen und ihre genaue Erfassung am Einzelnen könnte es sich zum ersten Volk machen, das sich den Gesetzen der Biologie entwindet – zum ewigen Volk. Damit schließt Hartnacke an einen eugenischen Diskurs an, der in der Pädagogik der Jahrhundertwende keineswegs selten zu finden ist.51 Nicht erst seit 1910 die deutsche Übersetzung von Francis Galtons bereits 1869 veröffentlichtem „Hereditary Genius“ als „Genie und Vererbung“ erschien, und damit der Erfinder des Eugenik-Konzepts einem breiteren Publikum zugänglich wird, besitzt die eugenische Phantasie einige Attraktivität für das pädagogische Denken. Sie verspricht –   48 49 50 51  

Ebd., S. 48. Ebd., S. 50. Ebd., S. 100. Vgl. Brill (1994): Pädagogik im Spannungsfeld; Harten (1997): Pädagogik und Eugenik.

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und zwar auf naturwissenschaftlich exakte Weise – die Grenzen jener Möglichkeitsräume zu bestimmen, deren Anregung und Entwicklung das Geschäft der Pädagogik sind. Gleichzeitig liegt eben hier ein Dilemma, das die Allianz von Erbbiologie und Pädagogik von Anfang an problematisch macht, da die Eugenik „in gewissem Sinn ein Gegenprojekt zur Pädagogik“52 darstellt. Je mehr die Pädagogik auf die Gesetze der Vererbung und ihre Reichweite vertraut, desto mehr gibt sie die Bestimmung ihres Einflusses und ihres Aufgabenbereichs aus der Hand. Dann schwindet der aufklärerische Optimismus, dem zufolge es eben die „Erziehung“ sei, die dafür sorge, „daß die Natur einen Schritt näher zu Vollkommenheit tue“53, zugunsten einer geplanten Veränderung dieser Natur selbst. Eine markante Schnittstelle dieser Bereiche verkörpert Ellen Keys 1900 erschienene, populäre Schrift über das „Jahrhundert des Kindes“. Die darin artikulierte Sorge um die Kinder gilt häufig weniger den lebenden als den noch ungeborenen und ihren potentiellen Eltern.54 In direkter Anknüpfung an Francis Galton und Herbert Spencer weitet sie die pädagogische Sorge auf Fragen der Zucht- und Partnerwahl aus und blickt unter dem Schlagwort des Kindes auf eine eugenisch grundierte Reform von Partner- und Elternschaftsbeziehungen, in denen die freie Erotik zwar ihren Raum fordert, diese jedoch von der Fortpflanzung und ihrer Verantwortung entkoppelt wird: „Die erotische Sympathie wählt nämlich nach Motiven, die allerdings auf das Glück des Einzelnen abzielen, aber darum nicht die Veredelung der Rasse verbürgen.“55 3. DIE FÜHRUNG DES HAUSVATERS UND DIE REGIERUNG DES HAUSHALTS Die Zwiespältigkeit der Figur Wilhelm Hartnackes beruht nicht nur auf ihrer eigentümlichen Spannung zwischen den auslaufenden humanistisch-elitären Bildungsidealen und der sich durchsetzenden bildungsökonomischen Rationalität, sondern auch auf zwei unterschiedlichen Modellen der ‚Führung‘, die sein Denken durchziehen.56 Das eine lässt sich als Modell des Hausvaters beschreiben. Es imaginiert die Gemeinschaft der Menschen nach dem Modell der Familie und beruht auf der Vorstellung, die gelingende ‚Ordnung‘ dieser Gemeinschaft brauche die Autorität von Einzelnen, die aufgrund ihres überlegenen Wissens und ihrer Tüchtigkeit für ihre Führung bestimmt seien. Diese Rolle des Vaters spricht sich in Hartnackes Ar  52 Harten (1997): Pädagogik und Eugenik, S. 765. 53 Kant (1977): Über Pädagogik, S. 700. 54 Marcus Reiß (2012) ordnet diese „Imagination der Ungeborenen“ (ebd., S. 172) als Element einer sich biopolitisch neu orientierende Pädagogik ein, die er am Beispiel Ellen Keys und Maria Montessoris analysiert. 55 Key (1902): Jahrhundert, S. 19. 56 Für Hartnackes Positionierung innerhalb der sächsischen Bildungsdebatten um das höhere Schulwesen siehe Reichel (2014): Sächsische Schulreform, S. 235–257.  

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beiten mehr als deutlich aus. Auf der einen Seite übersetzt sein mahnend-anklagender Ton die Stimmlage väterlicher Sorge ins wissenschaftliche Register und unterfüttert dort ihre Autorität mit dem Hinweis auf die unverbrüchliche Evidenz biologischer und statistischer Realitäten. Neben der eigenen Sprecherposition kehrt das väterliche Moment in Hartnackes Vorstellung politischer Ordnung wieder. In seiner Sichtweise liegt politische Verantwortung nicht auf der Seite der Vielen, sondern bei jenen Wenigen, die durch ihre Einsicht in die Gesetze des Ganzen die Aufgabe auf sich nehmen, der Schwerkraft der „Massengunst“57 zu widerstehen. Damit reiht sich Hartnacke in die zeitgenössische Kritik der Masse58 ein, der er eine dreifache Ignoranz unterstellt: Sie hänge nur am Eigenen, statt ans Ganze zu denken, sie lebe für den Genuss, statt auf den Ruf der Pflicht zu hören und ihre Aufmerksamkeit beschränke sich auf den kleinen Kreis des Augenblicks, statt ihre Augen dem weiten Horizont der Zukunft zuzuwenden. Damit ist die Masse für die modernen Bedingungen von Komplexität, Konkurrenz und Fortschritt schlecht gerüstet und erkennt in ihrer beinahe kindlichen Naivität nicht die drohenden Zeichen der Zeit, welche ihre Führer in umso deutlicheren Worten erklären müssen: „Wir stehen vor der erschütternden Tatsache, daß das deutsche Volk im Begriff ist, sich selbst auszurotten, zum hämische Behagen unserer Feinde.“59 Diese Konstellation zwischen der Menge und ihren Experten veranschaulicht ein klassisches Führungsmodell, dessen Recht sich aus der Differenz der Mündigen und Unmündigen speist und dessen Ziel vor allem im Schutz und im Erhalt derer besteht, die der Führung bedürfen. Als ‚hausväterlich‘ lässt sich das Modell insofern bezeichnen, als es die Geführten zu einer begrenzten Gruppe zusammenfasst, deren Grenze sowohl den Einflusskreis des Hausvaters bestimmt als auch die fundamentale Innen-Außen-Gliederung markiert, die den Innenraum des Eigenen und Sicheren gegen das ungeregelte fremde Außen abschirmt. Auch am Gegenpol des ‚Hausvatermodells‘ dominiert das Bild des Hauses, verschiebt sich jedoch von der Ebene der Mitglieder und ihrer Führung auf die unpersönliche Figur des Haushalts. Die entscheidende Beziehung im Haushalt ist nicht mehr die zwischen dessen Mitgliedern, sondern die Beziehung der Mitglieder zu den Anteilen und Aufgaben der Haushaltung selbst. Erst hier greift die Referenz auf den griechischen Begriff des oikos und der oikonomia als der Lehre von der guten Führung des Hauses, deren Übertragung auf das Gebiet der guten Staatsführung eine reiche Tradition kennt.60 Neben der autoritären Führung durch den Haus  57 58 59 60

 

Ebd., S. 11. Vgl. Le Bon (1982): Massenpsychologie. Hartnacke (1932): Bildungswahn, S. 12. Aus dieser Überblendung von Haushalts- und Staatsführung speist sich auch die theologische Genealogie des Ökonomie-Begriffs, dessen Gegenstand zum einen das ‚Haus der Kirche‘ ist, zum anderen das im engeren Sinne ‚ökonomische‘ Dilemma, das sich aus der Konfrontation einer göttlichen Vorhersehung bzw. Regierung mit dem freien Handlungsspielraum der Menschen ergibt. Dass der Begriff der Ökonomie nirgendwo gänzlich von der Idee der Heilsökonomie zu trennen ist, zeigt Giorgio Agamben in seiner eindrücklichen Studie über Herrschaft

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vater bildet diese Rationalität der Ökonomie die zweite konzeptuelle Folie, auf deren Hintergrund in Hartnackes Arbeiten die Ordnung der Gemeinschaft und ihr Erhalt diskutiert werden. Sie schließt dabei an die Idee einer ‚Menschenökonomie‘ an, deren Begriff in Deutschland seit 1910 zum festen Vokabel nationalökonomischen Denken wurde.61 Während der Hausvater auf der Ebene wechselseitiger Bindungen und einseitigen Gehorsams operiert und im Register von Pflicht und Verpflichtung spricht, deutet sich die Rede des Ökonomen in der Konjunktur von Zahlen und Verhältnissen an. Dabei stehen die Tätigkeiten des Zählens und Verteilens im Mittelpunkt eines Regierens, das zwischen den objektiven Notwendigkeiten des Haushalts und dem subjektiven Handlungsspielraum seiner Mitglieder verläuft. Das ‚Wirtschaften‘ zwischen diese Polen kann sich daher nicht einfach an moralische Ideale ‚guter‘ oder ‚gerechter Verteilung‘ halten, sondern muss die Natur der wirtschaftlichen Güter berücksichtigen. 62 In diesem Sinne denkt Hartnacke Bildung und Bildungspolitik als eine Form der „Geistbewirtschaftung“, deren Güter jedoch keineswegs gleich verteilt seien: „Gleiche Bildungsverteilung im Sinne einer gleichen Güterverteilung kann es nicht geben. Güterbewirtschaftung und Geistbewirtschaftung haben andere Gesetze.“63 Die Gesetze des Geistes und seiner Ökonomie müssten vor allem das breite Spektrum seiner Naturen berücksichtigen, das Hartnacke als ein der Temperatur analoges Kontinuum denkt: Die äußerste Unterschiedsspanne zwischen dem bestbefähigten höheren Schüler und dem schwächsten eben noch hilfsschulfähigen ist etwa wie zwischen 30 Grad Wärme und 30 Grad Kälte. Betrachtet man 100 als den Normalpunkt bei Intelligenzprüfungen, so wäre der Beste mit einem sogenannten Intelligenzquotienten von etwa 130, der Schwächste mit 70 einzusetzen.64

Diese individuell zugeschriebenen ‚Temperaturen‘ dienen jedoch weniger als Grundlage individuell abgestimmter Bildungs- und Erziehungsmaßnahmen, sondern vor allem als Richtgrößen ihrer wirtschaftlichen Indienstnahme. Deutlich zeigt Hartnacke, dass „Geistbewirtschaftung“ nicht einfach die öffentliche Förderung von Bildungswegen meint, sondern die Neujustierung der Bildung als volkswirtschaftliche Größe betrifft. „Mehr als eine gewisse Anzahl Höherbezahlter trägt eben die Volkswirtschaft nicht“65 lautet seine Diagnose, die den Zugang zu ‚höherer Bildung‘ auch auf der Grundlage der zur Verfügung stehenden ‚höheren Einkommen‘ beschränken will. Dabei verlässt sich Hartnacke nicht darauf, dass wirtschaftliche  

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und Herrlichkeit. Zur theologischen Genealogie von Regierung und Ökonomie (Agamben 2010). Vgl. Weingart / Kroll / Bayertz (1996): Rasse, S. 254–259. Hartnackes Denken koppelt in eben jener Weise Nationalismus und ökonomische Rationalität, die Michel Foucault im Hinblick auf die Bundesrepublik Deutschland pointiert formuliert hat: „Die Geschichte hatte den deutschen Staat verneint. Künftig wird die Wirtschaft in der Lage sein, seine Selbstbehauptung zu ermöglichen. Das kontinuierliche Wirtschaftswachstum wird eine erloschene Geschichte ablösen.“ (Foucault 2006b: Gouvernementalität II, 126) . Hartnacke (1932): Bildungswahn, S. 71. Hartnacke (1931): Überfüllung, S. 4. Hartnacke (1932): Bildungswahn, S. 81.

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Mechanismen den ‚Bildungsmarkt‘ von selbst regeln, sondern reklamiert die Verantwortung der Bildungspolitik für eine wirtschaftlich ‚vernünftige‘ Ordnung der Schule. Als Fürsprecherin des ‚Geistes‘ müsse Bildungspolitik dessen Anspruch gegen die blanke Geltungsmacht des Geldes verteidigen, dessen plutokratische Tendenz die Geistes-Aristokratie der Hochbefähigten gefährdet: „Oder will man sich darauf verlassen, daß die Wirtschaftsnot eine Einschränkung bringen werde? Die ‚Auslese‘ würde dann aber einen stark plutokratischen Einschlag haben!“66 4. AUSLESE UND KLASSENKAMPF In diesem Sinne markiert Hartnackes Beharren auf der richtigen Auslese die Gelenkstelle zwischen ‚hausväterlicher‘ Führung und ökonomischer Rationalität. Auf der einen Seite gibt er sich im Festhalten an den Topoi der Persönlichkeit und der ganzheitlichen Menschenkenntnis – die Grundlage gelungener Auslese seien – als strenge aber gerechte Vaterfigur. 67 Auf der anderen Seite kündet er als Sachwalter der objektiven Notwendigkeiten von der kühlen Autorität der Zahlen – wo nicht der einzelne Mensch gilt, sondern die „absoluten Maßstäb[e]“, die das weiche pädagogische Herz zu korrigieren helfen: „Das gute Herz ist in solchen Fällen aber Sünde.“68 Diese Brückenstellung der Auslese – zwischen warmer Menschenkenntnis und kühlem Sachzwang – verwandelt sie zu einer zentralen pädagogischen Evidenz. Auch in anderen Publikationen ist viel vom „Kampf um die Schülerauslese“69 die Rede, der weniger den Ausleseimperativ selbst betrifft – „Ausgelesen muß werden!“70 – als die Verfahren seiner adäquaten Durchführung.71 Dabei zeigt sich die Technologie der Auslese als direkte Folge der sich durchsetzenden funktionalen Differenzierung und des von Luhmann so benannten „Umbau[s] des Modus der   66 Ebd., S. 96. 67 In diesem Sinne wäre das radikale Gegenbild zur ‚herzlichen‘ Führung des Hausvaters jener herzlose Vollstrecker der Auslese, den Adorno in seinen Minima Moralia (Adorno 2001 [1951]) als die inhärente Tendenz bzw. das ‚Ende‘ der Eignungslogik schildert. Für ihn führt eine direkte Linie von der Leitdifferenz der „Personalpolitik“ – geeignet/ungeeignet – zur Leitdifferenz von Ausschwitz: „Arbeitseinsatz oder Liquidation“. „Wer es einmal zu seiner Sache macht, Eignungen zu beurteilen, sieht die Beurteilten aus gewissermaßen technologischer Notwendigkeit als Zugehörige oder Außenseiter, Arteigene oder Artfremde, Helfershelfer oder Opfer. Der starr prüfende, bannende und gebannte Blick, der allen Führern des Entsetzens eigen ist, hat sein Modell im abschätzenden des Managers, der den Stellenbewerber Platznehmen heißt und sein Gesicht so beleuchtet, daß es ins Helle der Verwendbarkeit und ins dunkle, anrüchige des Unqualifizierten erbarmungslos zerfällt. Das Ende ist die medizinische Untersuchung nach der Alternative: Arbeitseinsatz oder Liquidation.“ (ebd., 244f.) 68 Hartnacke/ Wohlfahrt (1934): Geist und Torheit, S. 7. 69 Schönebeck (1924): Begabtenauslese, S. 446. 70 Ebd. 71 Vgl. o.A. (1915): Begabung an die Front; Bechtold (1916): Förderung; Neurath (1917): Das umgekehrte Taylorsystem; Schulte (1922): Beobachtungsbogen.  

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sozialen Integration von Herkunft auf Karrieren, also auf Zukunft“.72 Wenn für die Zuordnung zu Schulformen und Berufspositionen nicht mehr „wirtschaftliche und gesellschaftliche Stellung“ entscheidend sind, sondern gemäß des Textes der Weimarer Reichsverfassung „für die Aufnahme eines Kindes in eine bestimmte Schule […] seine Anlage und Neigung […] maßgebend“ sein soll, benötigt der Bruch mit der stratifikatorischen Differenzierung die flächendeckende Erfassung und Verteilung eben dieser ‚Anlagen und Neigungen‘. Daher exekutieren die Techniken der Auslese auch die Sorge um den einzelnen und in seiner Einzelheit besonderen Menschen. Der Wert, der ihm zugewiesen wird, löst sich dabei von seinen individuellen Attributen und resultiert im Profil seiner ‚Eignung‘.73 Wenn es in einer emphatischen Besprechung von Hartnackes Werken heißt, der „erste Wertposten in jeder Wirtschaft sind die Menschen“,74 zeigt sich der Wert des Einzelnen als funktionale Größe. Sein ‚menschlicher‘ Wert eignet ihm als einem wirtschaftlichen Posten, als „Träger der wertvollen Arbeit“.75 Vor diesem Hintergrund lässt sich Hartnackes pädagogische Positionierung als Beispiel für Slavoj Žižeks (Walter Benjamin zugeschriebene) These über den Faschismus lesen, der zufolge jeder Aufstieg des Faschismus von einer gescheiterten Revolution zeuge.76 So beinhaltet der Diskurs über die Auslese mindestens zwei tradierte Elemente emanzipatorischer Pädagogik: die Betonung der Individualität und den Hinweis auf die grundlegend soziale Dimension dieser Individualität. Die Art und Weise, wie Hartnacke diese Elemente aufnimmt und transformiert, deutet dabei nicht nur auf das historische Scheitern der damit verknüpften Programme hin, sondern auch auf die mehrdeutige Anschlussfähigkeit dieser Elemente. Hartnackes Drift zum Faschismus lässt sich abschließend an drei exemplarischen Verschiebungen innerhalb des Individualitätsparadigmas verdeutlichen. Zunächst verknüpft er die Feststellung individueller Differenzen mit der qualitativen Dimension ihrer Wertigkeit, die nicht nur die spezifischen Heterogenitätsdimensionen, sondern die gesamte Person betrifft.77 Immer wieder betont er, wie die Menschen an den entgegengesetzten Grenzen des Normalitätsspektrums kaum mehr vergleichbar seien und   72 73 74 75 76 77

 

Luhmann (2002): Bildungssystem, S. 70. Vgl. Gelhard (2012): Dispositiv der Eignung; Wollersheim (2014): Traditionslinien. O. A. (1939): Begabtenausfall, S. 303. Ebd. Vgl. Zizek (2016): Barbarei. Dieselbe Operation lässt sich exemplarisch an den Arbeiten Hugo Münsterbergs und ihrer Anknüpfung an die differentielle Psychologie studieren. Während Münsterberg auf der erkenntnistheoretischen Differenz zwischen Sein und Sollen beharrt, der zufolge keine gegebene Eigenschaft an sich gut oder schlecht sein könne, schließt er diese Erkenntnis an einen allgemeinen Nützlichkeitsimperativ an, der diese Nützlichkeit indirekt zum eigentlichen ‚Wert der Werte‘ erhebt. In diesem Sinne sei auch der am geringsten bemittelte Mensch von ‚ewigem Wert‘, solange er seine geringen Mittel mit dem ‚richtigen Geist‘ der Arbeit verquickt: „The humblest worker in the mill can do an absolutely ideal work if he is doing it in the right spirit. The whole social fabric of ours is only a gigantic mill and the eternal value of our work does not depend upon the question of whether the wheel which we have to turn is a small or a large

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eigentlich unterschiedlichen ‚Welten‘ zugehörten – getrennt durch „die weltenweite Spanne […], die zwischen dem Genie eines Goethe und der geistigen Verfassung eines landläufigen Hilfsschülers besteht“.78 Zu dieser Einsicht in die Differenz zwischen den ‚Guten‘ und ‚Schlechten‘ bzw. zwischen den ‚Brauchbaren‘ und ‚Unbrauchbaren‘ kommt die Aufforderung zu ihrer Verteidigung. Dabei gilt Hartnackes Angst der „Massengunst“79 als dem zentralen ‚demokratischen‘ Übel, das die besondere Natur und das besondere Recht der Besten verkenne und dadurch ihre Entfaltung verhindere – zum Nachteil aller. Erneut tritt Goethe als Gewährsmann auf, mitsamt der Warnung, dass eine Ausnahmeperson wie er heutzutage systematisch verhindert werden würde80 – ein Topos, der sich bereits in Peter Petersens Sammelband über den Aufstieg der Begabten findet.81 In diesem Kontext versteht sich Hartnackes Engagement als Kampf für die bedrohte Minderheit der Hervorragenden und trägt Züge eines Klassenkampfes von oben. Wie in der marxistischen Tradition die proletarische Klasse der Anteilslosen als eigentlicher Stellvertreter des Allgemeinen in Erscheinung tritt,82 so versteht Hartnacke allein die aristokratisch Hervorragenden – die sich in sozialdarwinistischer Manier bereits den Weg nach oben gebahnt hätten – als die Inkarnationen des Gemeinwesens; „je weniger die Führernaturen zu den größten Höhen ihrer individuellen Möglichkeiten sich entwickeln können“,83 je schlechter sei es ums Allgemeine bestellt. Schließlich stützt sich diese Verteidigung der Privilegierten auf einen erbbiologischen Überbau ‚natürlicher‘ Differenzen. Wo der entscheidende Teil der Individualität in direktem Zusammenhang mit seinen vererbten Grundlagen steht, verlängert sich die schulische Auslese zur Phantasie einer biologischen Auslese, welche die Naturgrenzen über die pädagogische Ohnmacht hinaus zu gestalten verspricht.84 Wenn „jenseits der Naturgrenzen die Erziehung so gut wie völlig wirkungslos [ist]“,85 müsse die Erziehung ihren Idealismus überdenken und ‚radikal‘ werden: an die Wurzeln ihres ‚Materials‘ gehen. „Man ist um die Natur als Schöpferin der Unterschiede sorgfältig herumgegangen. Gegen sie kann man eben keinen Klassenkampf führen.“86 Im  

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one.“ (Münsterberg 1909: Psychology and Teacher, 69) Zu exemplarischer Deutlichkeit gelangt diese Figur in folgenden Worten Georg Kerschensteiners – erneut unter Bemühung Goethes: „Der Weg zum idealen Menschen führt nur über den brauchbaren Menschen. Der brauchbare Mensch ist aber derjenige, der seine und seines Volkes Arbeit erkennt und den Willen und die Kraft besitzt, sie zu tun. Nur in dem Maß, wie ihm dieses gelingt, kann eine Nation ihn als Menschen bewerten. Dabei kann, wie Goethe sagt, der geringste Mensch komplett sein, wenn er sich innerhalb seiner Fähigkeiten und Fertigkeiten bewegt.“ (Kerschensteiner 1954 [1904]: Berufsbildung, S. 47f.) Hartnacke (1932): Bildungswahn, S. 85. Ebd., S. 11. Ebd., S. 85. Vgl. Petersen (1916): Aufstieg, S. 4f. Vgl. Ranciere (2002): Unvernehmen. Hartnacke (1932): Bildungswahn, S. 86. Vgl. Rheinberger / Müller-Wille (2009): Vererbung, S. 130–138. Ebd., S. 21. Ebd., S. 26.

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Windschatten dieser These entfaltet Hartnacke seinen eigenen Kampf: Die Version eines Klassenkampfes von oben, der sich im doppelten Bund mit der biologischen Natur der Dinge und der ökonomischen Rationalität des Staates weiß. In diesem Sinne stehen die Arbeiten Hartnackes exemplarisch für prägende Elemente der sich in der Weimarer Republik modernisierenden Pädagogik – Elemente, die von der ihm eigenen Ungleichheits- und Elitenrhetorik überblendet zu werden drohen, jedoch auch unabhängig von dieser fortdauern. Dazu gehört an erster Stelle die Logik des Tests, die uns spätestens seit der aufkommenden Kompetenzdebatte im Bildungswesen wieder verstärkt begleitet. Tests wurden begrüßt als „stichprobenartige Versuche, mit deren Hilfe das Vorhandensein oder Fehlen der gewünschten Eigenschaften festgestellt werden soll“87 – als Stichproben, die einen genauso exakten wie unabhängigen Einblick in die Grundlagen des pädagogischen Geschäfts bieten sollen und zwar jenseits des undurchsichtigen schulischen Alltags und des ‚guten Herzens‘ der Pädagogen. Damit bilden sie die Grundlage eines weiteren Elements, das Hartnacke beständig einfordert: die Erhebung statistisch verdateten Wissens über die ‚wirklichen‘ Leistungswerte der unterschiedlichen Bildungseinrichtungen. Die Einführung der sogenannten ‚sächsischen Sichtungsverfahren‘ gehört daher zu den ersten Handlungen, die Hartnacke als sächsischer Volksbildungsminister durchsetzt, um auf ihrer Basis „bittere Wahrheiten“88 über den geistigen (Tief-)Stand der Studierwilligen verkünden zu können. Schließlich finden, wie beschrieben, die Logik des Tests und die Bezugnahme auf Schulleistungsstatistiken in einem dritten Element zusammen, das sich während der Weimarer Republik fest etabliert – der Würdigung der Schule als einem entscheidenden nationalökonomischen Wertposten. Vor diesem Hintergrund bleibt auch eine Außenseiterposition wie die Wilhelm Hartnackes erinnernswert. Denn sie erinnert daran, dass jene ‚Zukunfts-Technologien‘, die uns heute als Bestandteile von Konzepten wie ‚Bildungsmonitoring‘ und ‚Educational Governance‘ begleiten, eine Vergangenheit besitzen. Eine Vergangenheit, in der ihre Modernität keineswegs mit den Großvokabeln der Emanzipation zusammenklingen musste, sondern mit ganz und gar handfesten Projekten menschlicher Ungleichwertigkeit einherging. Aus diesem Grund braucht es einen doppelten Blick auf die Gegenwart der Weimarer Republik: einen Blick, der ebenso das zu erkennen vermag, was nicht vergangen ist, weil es uns nach wie vor begleitet, als auch das sieht, was nicht vergangen ist, weil seine Versprechen nach wie vor uneingelöst sind. LITERATUR Adorno, Theodor W.: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben. Frankfurt/M. 2010, zuerst 1951. Agamben, Giorgio: Herrschaft und Herrlichkeit. Zur theologischen Genealogie von Regierung und Ökonomie. Frankfurt/M. 2010.

  87 Kraepelin (1920): Arbeitspsychologie, S. 855. 88 Hartnacke (1934): Geist und Torheit, S. 10.

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VERZEICHNIS DER AUTORINNEN UND AUTOREN Marcel Böhles studierte Mittlere und Neuere Geschichte, Deutsche Philologie und Politische Wissenschaft und promovierte 2015 mit der Dissertation „Im Gleichschritt für die Republik. Das Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold im Südwesten (1924–1933)“ an der Universität Heidelberg. Die Arbeit wurde 2016 mit einem Friederich-Ebert-Preis der Forschungsstelle Weimarer Republik und des Weimarer Republik e.V. ausgezeichnet. Marcel Böhles arbeitet gegenwärtig als wissenschaftlicher Mitarbeiter am TECHNOSEUM – Landesmuseum für Technik und Arbeit – in Mannheim. Andreas Braune studierte Politikwissenschaft, Neuere Geschichte und Romanistik. Nach seiner politiktheoretischen Dissertation über den Begriff des Zwangs in der politischen Philosophie und Theorie wurde er 2016 stellvertretender Leiter der Forschungsstelle Weimarer Republik an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Albert Dikovich studierte Philosophie, Germanistik und Romanistik und arbeitet derzeit an der Universität Wien an dem philosophiegeschichtlichen Dissertationsprojekt „Umkehr, Führung und das Problem der Gewalt. Philosophie und das politische Imaginäre in den mitteleuropäischen Revolutionen 1918/19“. Er ist Stipendiat am DFG-Graduiertenkolleg „Das Reale in der Kultur der Moderne“ an der Universität Konstanz. Michael Dreyer ist Politikwissenschaftler an der Friedrich-Schiller-Universität Jena, wo er Politische Theorie und Ideengeschichte lehrt. Frühere Positionen hatte er in Kiel und Mainz sowie am Center for European Studies der Harvard University und an der Northwestern University, Evanston, IL in den USA inne. Er ist Vorsitzender des Vereins Weimarer Republik und, zusammen mit Andreas Braune, Leiter der Forschungsstelle Weimarer Republik an der FSU Jena. Sebastian Elsbach studierte Politikwissenschaft und Neuere Geschichte und arbeitet derzeit an der Friedrich-Schiller-Universität Jena an seiner Dissertation zum Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold, das hier erstmals in seiner Gesamtheit als Träger der Weimarer Demokratie untersucht wird. Daneben ist er als Lehrbeauftragter für Politische Theorie und Ideengeschichte der Jenaer Universität tätig. Christian Faludi studierte Neuere und Neuste Geschichte, Soziologie und Politikwissenschaft. Er ist als freiberuflicher Journalist tätig und arbeitet derzeit an der FSU Jena an seinem Promotionsprojekt „Friedrich Stier (1886-1966) – Schlüsselfigur der Thüringer Hochschul-, Wissenschafts- und Kulturpolitik (1919–45) und der Jenaer Universitätsgeschichte (1947–58)“. Reiner Fenske studierte Neueste Geschichte und Soziologie und arbeitet zur Zeit an der Professur für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der TU Dresden an seinem Promotionsprojekt über „Imperiale Verbände im Deutschland der Zwischenkriegszeit im Vergleich. Die Beispiele des ‘Deutschen Ostbundes’ sowie der ‘Deutschen Kolonialgesellschaft’“.

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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

Anne Gnausch studierte Geschichtswissenschaft und Deutsche Philologie an der Freien Universität Berlin. Sie war als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Berliner Institut für Geschichte der Medizin und Ethik in der Medizin (Charité) tätig und arbeitet derzeit an ihrem Dissertationsprojekt „Selbsttötungen in der Weimarer Republik. Oded Heilbronner ist Historiker und Professor für Kulturwissenschaft am Shenkar College of Design & Art in Ramat Gan / Tel Aviv und an der Hebrew University in Jerusalem. Dominik Herzner studierte Lehramt für Gymnasien in den Fächern Deutsch, Geschichte, Sozialkunde und Deutsch als Fremdsprache. Neben seiner Dissertation über die deutschen Auslandsschulen in Spanien an der RWTH Aachen arbeitet er als Lehrbeauftragter und Sprachlernberater am Zentrum für Sprache & Kommunikation der Universität Regensburg. Florian Heßdörfer studierte Lehramt an Gymnasien in den Fächern Kunst und Deutsch. Nach seiner Promotion im Jahr 2013 über „Gründe im Sichtbaren. Subjektivierungstheoretische Sondierungen im visuellen Feld“ am Fachbereich Soziologie der Universität Freiburg wurde er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Allgemeine Pädagogik an der Universität Leipzig, wo er zur Zeit an seinem Habilitationsprojekt über „Das Dispositiv der Begabung. Zur Genealogie des begabten Subjekts“ arbeitet. Friederike Höhn studierte Europäische Kulturgeschichte, Neuere und Neueste Geschichte, Komparatistik und Kunstgeschichte an der Universität Augsburg und absolvierte den Master in Military Studies (Militärgeschichte/Militärsoziologie) an der Universität Potsdam. Sie ist freie wissenschaftliche Mitarbeiterin im Editionsprojekt „Der Bundestagsausschuss für Verteidigung und seine Vorläufer“ des Zentrums für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr (Potsdam) sowie Redakteurin der Zeitschrift „Militärgeschichte. Zeitschrift für historische Bildung“ und erarbeitet derzeit ein Dissertationsprojekt zu ehemaligen Berufsoffizieren als Abgeordnete im Weimarer Reichstag. Volker Köhler studierte Neuere und Neuste Geschichte und Europäische Ethnologie und promovierte 2015 am Fachbereich Gesellschafts- und Geschichtswissenschaften der TU Darmstadt mit der Arbeit „Die Mikropolitik der Genossen, Freunde und Junker. Zur Bedeutung personaler Verbindungen im politischen Handeln während der Weimarer Republik“, die 2016 mit einem Friederich-Ebert-Preis des Weimarer Republik e.V. und der Forschungsstelle Weimarer Republik ausgezeichnet wurde. Zur Zeit ist Volker Köhler wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Geschichte der TU Darmstadt und Redaktionsleiter der Zeitschrift „Neue Politische Literatur“. Paul Köppen studierte Geschichte und Germanistische Literaturwissenschaft und promovierte 2013 an der Universität Potsdam und der Universität Bologna mit einer Dissertation über „Die praktische Komponente deutscher Verständigungspolitik: Leopold von Hoesch in Paris 1923–1932“. Paul Köppen arbeitet in der freien Wirtschaft und ist Lehrbeauftragter am Historischen Institut der Universität Potsdam.

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

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Daniel Münzner studierte Lehramt für das Gymnasium in den Fächern Geschichte, Mathematik und Theaterpädagogik und promovierte 2014 an der Philosophischen Fakultät der Universität Rostock mit der Dissertation „Kurt Hiller. Der Intellektuelle gegen Staat und Demokratie, Staat und Demokratie gegen den Intellektuellen“, die 2016 mit einem Friederich-Ebert-Preis des Weimarer Republik e.V. und der Forschungsstelle Weimarer Republik ausgezeichnet wurde. Daniel Münzner arbeitet im Schuldienst im Land Berlin. Ronny Noak studierte Politikwissenschaft und Geschichte und arbeitet derzeit am Institut für Politikwissenschaft der Friedrich-Schiller-Universität Jena an seinem Dissertationsprojekt über „Die Schulungsarbeit der Parteien der Weimarer Republik, 1918–1933“. Dort ist er auch als Lehrbeauftragter tätig. Martin Platt studierte Neuere Geschichte und Politikwissenschaft und arbeitet gerade an einem Dissertationsprojekt über die zivil-militärische Zusammenarbeit in der deutschen Revolution 1918/19. Sebastian Schäfer Geschichte und Politikwissenschaft mit dem Schwerpunkt Politische Theorie und Ideengeschichte. Derzeit arbeitet er am Lehrstuhl für politische Theorie und Ideengeschichte der TU Chemnitz an seinem Dissertationsprojekt „Rudolf Olden (1885– 1940): Soldat – Pazifist – Radikaldemokrat“. Antonia Schilling studierte Geschichte und Kunstgeschichte. Momentan arbeitet sie am Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte der Universität Freiburg an ihrem Promotionsprojekt „Helene Weber (1881–1962) – Eine Karriere zwischen Kaiserreich und Bundesrepublik“. Rebecca Schröder studierte Geschichte und katholische Theologie und arbeitet derzeit an ihrer Dissertation „Engelbert Krebs (1881–1950) – ein katholischer Theologe in der Welt. Weltreisender, Wissenschaftler, Paneuropäer“. Thomas Schubert studierte Philosophie, Anthropologie und Ethnologie an der FU Berlin, sowie Neuere Zeitgeschichte, Kulturwissenschaft und Politikwissenschaft an der HU Berlin. Seit 2005 ist er u. a. für das Einstein-Forum in Potsdam tätig. Er promoviert zum Thema „Rudolf Bahro – Ein romantischer Revolutionär im geistigen deutschen Bürgerkrieg“. Alexander Wierzock studierte Politische Wissenschaft, Neuste Geschichte und Öffentliches Recht und arbeitet derzeit am Lehrstuhl für Europäische Geschichte des 19. Jahrhunderts an der Humboldt-Universität Berlin an seinem Promotionsvorhaben „Ferdinand Tönnies: Eine politische Biografie 1855–1936“. Seit Ende 2016 ist Alexander Wierzock wissenschaftlicher Mitarbeiter im DFG-Projekt „Die Geschichte der Deutschen Gesellschaft für Soziologie als Organisationsgeschichte 1909–1989“ des Kulturwissenschaftlichen Instituts Essen. Zudem ist er Band-Editor der Ferdinand Tönnies Gesamtausgabet Verena Wirtz studierte Geschichte, Germanistik und Bildungswissenschaften und arbeitet in der DFG-Forschungsgruppe „Semantische Transformationen im 20. Jahrhundert“ am Institut für Geschichte der Universität Koblenz-Landau an ihrem Promotionsprojekt über „Ästhetisierung. Kunst und Politik in der Zwischenkriegszeit“. Sie ist Lehrbeauftragte an den Instituten für Germanistik und Geschichte an der Universität Koblenz-Landau.

Michael Dreyer / Andreas Braune (Hg.)

Weimar als Herausforderung Die Weimarer Republik und die Demokratie im 21. Jahrhundert

Weimarer Schriften zur republik – band 1 die herauSgeber Michael Dreyer ist Professor für politische Theorie und Ideengeschichte an der Friedrich­Schiller­Universität Jena, Vorstandsvorsitzender des Weimarer Republik e.V. und Leiter der Forschungsstelle Weimarer Republik. Andreas Braune ist Politikwis­ senschaftler und stellvertreten­ der Leiter der Forschungsstelle Weimarer Republik an der Friedrich­Schiller­Universität Jena.

Die deutsche Demokratie steht im 21. Jahrhundert vor neuen und vielfältigen Herausforderungen: Sinkende Wahlbeteiligung und steigende Politikverdrossenheit, neue Parteien und Protest­ bewegungen (zum Teil mit sehr alten Ideen), Terror in der Welt und die Rückkehr des Krieges nach Europa, soziale Ungleich­ gewichte in Europa und in Deutschland – die Liste ließe sich verlängern. Soll ausgerechnet die Weimarer Republik, die „überforderte Republik“ (Ursula Büttner), Antworten auf diese Fragen parat haben? Mit dem näher rückenden Zentenarium der ersten deut­ schen Demokratie untersuchen die Autorinnen und Autoren, welche Herausforderungen „Weimar“ heute an Wissenschaft und museale Vermittlung, an politische Bildung und politische Praxis stellt – und wie „Weimar“ helfen kann, unsere Demokratie heute zu beleben. mit beiträgen von Heiko Maas, Alexander Gallus, Andreas Braune, Marcus Llanque, Tim B. Müller, Ursula Büttner, Detlef Lehnert, Christoph Gusy, Franz Josef Düwell, Walter Mühlhausen, Torsten Oppelland, Martin Sabrow, Arnulf Scriba, Alf Rößner, Thomas Schleper, Stephan Zänker, Christian Faludi, Moritz Kilger, Michael Dreyer

XVI, 310 Seiten mit 11 Fotos, 10 Abbildungen und 3 Tabellen 978-3-515-11591-9 kart. 978-3-515-11592-6 e-book

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Die Jahre von 1918/19 bis 1933 sind eine turbulente Zeit in der deutschen Geschichte. Zwischen Putschversuchen und Wirtschaftskrisen, Straßenkämpfen und einem „Staatsstreich auf Raten“ kannte die Weimarer Republik nur eine kurze Phase der Stabilität. Für die Zeitgenossen war sie aber das politische System, das das Kaiserreich abgelöst hatte und nun das politische und gesellschaftliche Leben der Bürgerinnen und Bürger prägte – und zwar vermeintlich auf Dauer. Überall deuteten sich ein neues republikanisches Selbstverständnis, neue demokratische Spielregeln und Handlungsformen an. Die Republik wurde mehr und mehr zur Normalität. Einen selbstverständlichen und unangefochtenen republikanischen Alltag gab es in der Weimarer Republik jedoch nicht. „Weimar“ war eine Transformationsgesellschaft, die nach dem Alltag der Republik suchte und um ihn rang. Die Autorinnen und Autoren dieses Bandes bieten mit den hier vereinten aktuellen Forschungen ein Kaleidoskop der Normalitäten, mit allen Anfeindungen und Erfolgen, die die Weimarer Republik kennzeichneten.

ISBN 978-3-515-11952-8

9 783515 119528

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