Repertorium : Ein Begreifbuch von höheren und niederen Lebens-Sachen

Herausgegeben von Dietrich Weber Repertorium Ein Begreifbuch von höheren und niederen Lebens-Sachen Der Plan zu di

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German Pages [285] Year 1969

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Repertorium : Ein Begreifbuch von höheren und niederen Lebens-Sachen

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HEIMITO VON DODERER

Repertorium Ein Begreifbuch von höheren und niederen Lebens-Sachen Der Plan zu diesem Buda reicht bis in die Kriegsjahre zurück. Schon 1941 be­ gann Doderer Stichworte zu sammeln und lexikalisch zu ordnen. Später pflegte er Aufzeichnungen definitorischen Charakters, wo immer sie sich er­ gaben - in Notiz- und Tagebuch, Roman und Erzählung -, besonders zu markieren und für das bereitzustellen. Obwohl er das Unter­ nehmen nicht selber bis zur Druckreife gefördert hat, hat er es bis zu seinem Tode nicht aus den Augen verloren: die letzten Repertorium-Artikel stam­ men aus dem Jahre 1966. Von A bis Z kommen in pointierter Form 5

Epischen treiben wollen... dies ist garkein Anlaß für

großes Orchester; sondern für’s genaue Gegenteil. Das

Ohr, der eigentliche Adressat aller Sprachkunst, ist ehr­ licher und unerbittlicher als die lesenden Augen, welche mit der Quantität einen Handel treiben, bei dem sie

am Ende fast allein sind. Das Ohr sagt sein Veto bald.

Ihm muß impliziert werden, man muß da geschwinde etwas hinein escamotieren.

Sie werden nach solchen tröstlichen Worten erstau­ nen und vielleicht auch erschrecken, wenn ich jetzt einen Band in Quarto zur Hand nehme, statt es bei diesem

Carnet bewenden zu lassen. Jedoch: nil terroris; nil

tremendi. Der Band in Quarto ist eigentlich eine große

Pillenschachtel, nämlich der so und so vielte Teil eines Wörterbuches. Dort steht alphabetisch geordnet alles, was ich bisher habe erfahren können. Wörterbücher

sind knapp in ihren Auskünften. Man schluckt den Arti­

kel als a ganzer hinunter, wie eine Pille. Später löst sie

sich auf; vielleicht geht sie in’s Blut. Ich möchte gerne alle Menschen dazu anregen solche Wörterbücher zu

machen: ihre wahren Portraits. Der geistige Horizont ist bei keinem kreisrund. Hier zeigt er Einbuchtungen,

dort wieder reicht er viel weiter, als er’s der Physik

nach eigentlich dürfte; würde man alle seine Grenz­ punkte dann durch eine symbolische Umrißzeichnung

verbinden, manch* seltsame Golatschen entstünde vor

unserem staunenden Auge. Jeder Mensch hat so viel Erlebnisse gehabt, als er Wörter besitzt, sagt Benedetto

Croce einmal irgendwo in der Philosophia del Spirito.

16

Wir würden hier sagen: so viel Erlebnisse, als er Arti-

kelchen in seinem Wörterbuche schon stehen hat. Hier soll nur ein Grundstock geboten werden, Reiz- und

Anregungsmittel, eben Pillen. Reizmittel auch im Sinne

von „razen“, ärgern. Das immer unfertige Werk mit tausend und mehr Artikeln wird schließlich einmal an die Freunde ausgegeben, die es alsbald überwachsen

und überwildern mit eigenen Beiträgen, so daß vom Grundstöcke kaum mehr was sichtbar bleibt. Schönster Lohn eines Schriftstellers ist es, ein Auslöser, ein déclic für den Leser oder Hörer zu sein und von ihm in

irgendeiner Weise verlassen und übertroffen zu wer­

den. Hat nun die Zahl der Wörterbücher sagen wir

einmal jo überschritten, so kann zu deren universalem Austausche übergegangen werden. Wer da vermeinte,

man würde mit diesem somptuösen Vorgang eine baby­

lonische Sprachverwirrung züchten, irrt vollends: ge­ rade das Gegenteil wäre der Fall. Denn nur durch Jedermanns höchsteigene Sprache hindurch führt der Weg zur Wiedergeburt der gemeinsamen. Das Un-

gemeine allein ist’s, was wirkliche Gemeinschaft fun­

diert; will man sie auf’s Gemeinsame gründen, artet sie

bald zur Gemeinheit aus. Auch wäre bei dem früher erwähnten Umsichgreifen der Lexikographie obendrein

jedermann leicht haftbar zu machen und zitierbar.

Etwa: „Sehen Sie einmal nach bei Antoinette Langer, Buchstabe B, Artikel,Bübereien*.**

Was nach alledem das Repertorium sein sollte, hat

Doderer ipjj anläßlich eines Vorabdrucks im Jahres17

ring' auf eine kurze Formel gebracht: „Ein Buch zum

Weiterschreiben für den Leser. Zugleich die Wörter­ wäsche eines Schriftstellers, Registrierung des gesicher­ ten sauberen Besitzes. Alles in allem: keine Aphoris-

men-Sammlungr Um das Weiterschreiben zu begün­ stigen und dem Leser ausreichend Raum für Margina­

lien und eigene Beiträge zu bieten, sah er sogar vor, das Buch nach Art mittelalterlicher Bücher mit weißem Papier durchschossen erscheinen zu lassen. In der vor­ liegenden Ausgabe wird wenigstens an den Übergängen von Buchstabe zu Buchstabe Platz gelassen für alle die­

jenigen, die den Autor beim Wort nehmen wollen. In­

dessen bleibt es dem Leser unbenommen, das Reper­ torium, das Doderer 1941 begonnen und bis zu seinem Tod im Jahr 1966 weitergeführt und dabei selbst im

Lauf der Jahre überwachsen und überwildert hat, als sein eigenes, Doderers „wahres Portrait“ anzusehen

und - trotz der griffigen Form — zugleich als ein Buch, wie es in dem Artikel ¡Lesen' anvisiert wird, als „ein heißer Topf ohne Henkel: nun trinke draus, wenn du’s

vermagst!“

Repertorium

A

Abenteurer

Der Abenteurer hat ein Leben, das am allerwenigsten darauf angelegt ist, sich selbst einzuholen: es rennt in langen, bunten Zügen vor ihm her, er wird es nie er­ reichen, mag er auch die Umwelt, die er eben gesetzt hat, so rasch wieder verlassen, daß sie noch schwankt und zittert im Vorgänge der Konkretion, zu deren

Vollendung immer auch einige Dauer gehört, die ihr

jedoch ein solches Leben niemals gewährt; denn es ist

in unausgesetzt aufeinanderfolgende dramatische Ab­

läufe atomisiert, die in ihrer Gesamtheit schon so monoton sind, wie ein steckengebliebenes episches Ge­ schehen, das um sich selbst rotiert.

195 3

Abhärtung

Was uns einst zweimal in der Woche über den Haufen

werfen konnte, das erzeugt heute nur ein leise an­ wellendes Unbehagen, welches kaum die Tagesleistung

alteriert. Unser Festigkeitsgrad wächst. Und ganz all­ mählich, will mich bedünken, wird so aus dem Men­ schen eine Art Crustacee. Er kommt nie mehr aus die­

sem Gehäus, und schon gamicht mehr aus dem Häus­ chen.

’953 21

Ablehnung, stumme

Man darf nicht von jedem Sdiusterbuben auf der Straße

sich pfeifen lassen. Kennt man einmal das eigene Ge­ wicht, dann gestatte man kein Zupfen an dessen Hen­

keln: wer es heben will, schließe um diese die Hand.

i9j6 Abreisen

Reisen, migrare, ist ein Vorbild des Todes. Auch be­ deuten Reiseträume unser Denken an den Tod. Abrei­

sen heißt, alles liegen und stehn lassen, schnittweis, integral. Abreisen ist eine sinnbildliche Darstellung der

Dezision. Man prüfe sich daran. Ob auch alles zu Ende und gleichgültig sei, was dahinten bleibt? So, daß es

uns gamicht mehr affiziert? Dann sind wir abgereist. Nur dem Heiligen ist die Ausreise aus der eigenen Biographie möglich: er allein weiß um die Nichtigkeit

des biographischen Gepäcks in toto. Wir aber sondern nur immer das und jenes Stück als ein bereits minder gewordenes aus, und treffen dabei nicht immer das richtige; ja, später schmerzt’s uns gar, daß der oder jener

Koffer fehlt, den losgeworden zu sein uns einstmals

fast ein Gefühl des Triumphs erzeugte.

>951

Affekt als Lebensflucht

Es gibt wilde Meutereien, bei denen ein garnicht vor­ handenes Bedürfnis an den Haaren herbeigezogen

22

wird - wahrlich heißt das Karl den Kahlen an den

Haaren herbeiziehen! - um jetzt als vordringliche Fah­ ne des AufStands geschwungen zu werden: einfach des­

halb im Grunde, weil wir nicht leben wollen. Aber

solche Akte des Unsinns verstricken und verfilzen uns

nur noch tiefer in des Daseins Netze; und so haben sie audi ihr Gutes. Wir werden da zerfasert und aufge­ rauht, jedoch auch, vornehmlich durch unsre eigene

Widerwärtigkeit, die gut sichtbar wird, tief erschreckt und belehrt. Ohne alledem aber würden wir vielleicht

bald allzu glatt werden, ja abgegriffen wie Türschnal­ len und ausgeschliffen wie Rinnsteine.

1953

Äffereien

Die Stützen, mit denen sich einer im Wohlbefinden

hält - wo er dann Wirkliches und Dauerndes vollbrin­ gen mag! - sind oft nur Strohhalme oder lächerliche Fischbeine eines Mieders: eine kleine Äfferei, ein be­ stimmtes Parfum, ein Stift oder eine Feder, die gefallen, oder ein Hut, oder eine Prise Arroganz, oder ein hoch­

geschlagener Mantelkragen. Aber wir sind nun einmal

vom Psycho-Physischen abhängig, und wenn es sich nicht fügt, blockiert es den Zugang zum nächsten Stock­

werk. Alle jene Hilfen sind also zu billigen. Man billige

sie sich zu und kümmere sich nicht um allzu vernünftige Menschen, die immer nur lauter gute Eigenschaften ha­

ben und sehen wollen, bei welchen dann nicht das ge­ 195 3

ringste herauskommt.

23

Ahnungen

Unser wahrer Besitz besteht in der jeweiligen Spitze unserer Ahnungen. Sie allein sind unser wirkliches

Leben. Das übrige ist zottelnder Nachtrab.

I9i i

Alkoholismus

Ich halte jeden Menschen für voll berechtigt, auf die -

von den Ingenieursgesichtern und Betriebswissenschaft­ lern herbeigeführte - derzeitige Beschaffenheit unserer

Welt mit schwerstem Alkoholismus zu reagieren, soweit er sich nur was zum Saufen beschaffen kann. Sich und

Andere auf solche Weise zu zerstören ist eine begreif­ liche und durchaus entschuldbare Reaktion. Wer nicht

säuft, setzt heutzutage schon eine beachtliche und frei­ 1966

willige Mehr-Leistung.

Allein

Man muß es wirklidi genau und jederzeit wissen, daß

man allein sei: sonst verliert man den festen Stand und kann auch demjenigen keine helfende Hand mehr bie­ ten, mit dem man vermeinte sich verschmelzen zu kön­ nen.

1959

Allgemeinbildung

Allgemeinbildung ist, so harmlos das Krankheitsbild

immer auf den ersten Blick aussehen mag, doch nur in 24

sehr vereinzelten Fällen heilbar. Das ist ganz ähnlich wie bei den sogenannten Gesinnungen.

1942

Alter Man muß den Mantel konkreter Tätigkeit im Alter

dichter um die Schultern ziehn, um bei herandringender Weltraumkälte bestehen zu können.

1965

Altern - seine Theorie

Was wir nicht kraft der punktförmig wirksamen Einsidht - die kurzen Prozeß und hinter vielem einen

Punkt macht - ein für alle Male gewinnen wollen oder können, das müssen wir auf dem langen und wenig

fruchtbaren Wege der Abschleifung und Abwetzung

erreichen, wobei sich die Erfahrungsrillen nach und nach vertiefen. Das Leben stellt uns die Wahl frei, ob wir als Philosophen ein für allemal belehrt oder als Tiere allmählich dressiert werden wollen. Im ganzen

ergibt sich aus alledem eine Art Theorie des Alterns, und zugleich die Respektlosigkeit vor diesem.

195 i

Anekdoten Alle Anekdoten sind Lügen. Entweichendes Leben, dem

man plötzlich das letzte Schwänzchen angenagelt hat: wie im Schreck erstarrte das Ganze2}

1954

Anschaulichkeit - Unanschaulichkeit

Was immer geschieht, um die Bedeckung des unmittel­

bar nächsten Lebensbedürfnisses eines einzelnen Men­ schen - liege das auf höchster oder niederster Ebene! hinauszuschieben, weil vorher noch Anderes getan

werden müsse: was immer da geschehen mag, und sei’s gleich in der Meinung und auf dem Wege, jenem Be­

dürfnis weiterhin zu entsprechen: es führt zur Unan­

schaulichkeit.

1943

Antinomie der Kontinuität Die Identität mit der Vergangenheit: das sind wir

selbst: und zugleich müssen wir jene Identität durch

Haltung und Taten widerlegen, denn, fielen wir zu­ rück, wir leugneten uns selbst, und alles wäre vergebens

gewesen. Das ist eine der Antinomien werdender Per­

son.

1933

Apparat

Wenn wir zur Intelligenz erwachen, so entleeren wir gleichsam den Raum um uns vom Ephemeren, das uns

zu nahe gerückt ist, und erwachen also zugleich zur Distanz. Daraus folgt dann, daß auch die Verrichtungen

des täglichen Daseins, vom Feuermachen bis zum Briefe­

schreiben, uns weit leichter, ja wie spielerisch ankom-

men: wir haben uns dem Apparat entfremdet, und da­

1933

her gehorcht er uns jetzt. 16

Apperception

Jede wirkliche Apperception ist konservierend. Was

man genau sehen will, wünscht man nicht geändert zu haben. Die Grundhaltung des Geistes in Bezug auf sei­ ne Objektswelt ist konservativ.

1944

Apperception - ihre verändernde Macht Jeder Sachverhalt - auch ein böser - beginnt zu zer­

fallen, wenn er gründlich und allseitig und ohne Wider­ stand appercipiert wird: man ist damit schon auf dem

Wege, ihn aus der Welt zu schaffen; dies letztere ist

nur auf indirekte Weise möglich; ich bemühe mich, das Phänomen genau zu erfassen und zu beschreiben, ganz

so wie es ist: während ich es aber recht greife, zerrinnt es, wie die aus dem Meer gefangene Qualle - und wird

am Ende das, was es gleidi hätte sein sollen: nämlich fast ein Nichts. Die Apperception vernichtet die Sache.

Ihr Gegenteil, die Deperception (das Absehen-Wollen von etwas und seine Unterdrückung) wirkt auf den

jeweiligen Gegenstand verstärkend. Er wird dabei zu­ sammengepreßt wie eine Sprungfeder.

¡957

Apperception und Sprache Die Apperception verbindet chemisch mit dem Objekt,

die Sprache trennt und befreit uns davon, wenn sie es

bewältigt.

>952

27

Assoziationen

Man muß nicht in jedes Assoziationsgeschiebe gleich

Bedeutung legen, aber man muß vor diesem unend­ lichen Plankton (das nicht geringer ist, als der Strom

der Welt) Respekt haben, denn es kann Bedeutung also ein Wink zum Deuten und für dieses - jederzeit

daraus hervorkommen.

1954

Aufdeckung wahrer Verhältnisse

Mitunter - nicht eben oft - bringen einem die Menschen ihre perfekte Unfähigkeit plötzlich ganz dick herein,

ja, sie tragen einem das steinweis in’s Zimmer, und beginnen sogleich jene Trennwand selbst zu mauern,

hinter welche wir sie längst hätten stellen sollen, als in

ein rechtes Jenseits im Diesseits. Ist’s aber so weit, dann beginnt auch der plötzlich ganz handhaft dastehende

Sachverhalt sogleich diskussionswürdig zu werden, während bisher von ihm nur diffuses Unbehagen aus­

ging.

Aufschieben

Ein wiederholtes und übermäßig zähes Zurückwei­

chen vor einer Obliegenheit zeigt an, daß wir uns vor dieser in einen deperceptiven Zustand, also hinter die

Wand zweiter Wirklichkeit zurückgezogen haben, nicht aber, daß wir bloß in harmloser Weise faul oder augen­

blicklich träge sind. Vielmehr sind wir von dort drüben, 18

wo wir jetzt in Apperceptionsverweigerung hausen,

garnicht mehr fähig, den Gegenstand, um welchen es sidi handelt, noch zu sehen. Neunmal aufgeschoben

macht blind für die Sache; und das wollten wir ja werden.

Augenblicke,

1957

produktive

Man darf nicht immer nur in produktiven Augenblik-

ken leben wollen. Hintnach gehören sie garnicht uns; aber die Pause, nach welcher sie dann eintreffen: das ist unsere Sache; und wenn wir’s da schlecht machen, wird

sie immer länger, ja, sie währt bis zum Tode, dem

unser geistlicher dann bereits vorausgegangen ist.

1957

Aura (Leben) Es kann nichts Entscheidenderes geschehen, als daß die

Aura sich wendet. Im einzelnen Leben und in der so­

genannten Geschichte. Erst ist diese Wendung, und alle

Einzelheiten interpretieren sie nur. Unser Leben ist Gleichzeitigkeit im Angrenzen von allerlei Jenseits im

Diesseits rund um uns, und Aufeinanderfolge im Wech­

1954

sel von Auren.

Aussenbild, das

eigene

Man sieht - im sehr Vergangenen - merkwürdigerweise dann und wann das eigene Gesicht, ein Außenbild, das

29

nur auf solche weiteste Distanz für uns scheint sichtbar

werden zu können. Es ist immer ein Gesicht, das von

uns schon abgefallen ist. Es enthält unseren Habitus ganz. Der Ausdruck dieses Antlitzes ist stets un-intelli­

15 ff

gent.

äusseres

Leben

Es stürzen die faktizitären und chronikalischen Ein­

dränge an uns vorbei als würde man stetig Säcke mit

ungeknackten und in alle Ecken sich verrollenden Nüs­ sen hinschütten.

1938

Autobiographie

Zunächst muß das eigene Leben' aus den Ordnungs­

rahmen fallen, die man ihm schon ganz gewohnheits­ mäßig gab, jedesmal, wenn man es ansah: dies ge­

schehen, weitet es sich sogleich enorm aus, die Rahmen

lehnen als kleine Gitterchen abseits, und dieser neue

Aspekt ist eines vor allem: erstaunlich. Damit ist eine

Autobiographie möglich geworden.

^94^43

Autobiographie

Schließlich hebt man den Deckel wie von einem Topf: und sieht in sein eigenes Leben, und hat den ganzen

Speisezettel um die Nase: was es zum Frühstück gab,

was zu Mittag, und was am Abend. In diesem Augen-



blicke aber hat man merkwürdigerweise nicht nur be­

reits gespeist, sondern auch schon - gefressen.

19s1

Autobiographie und Roman Wenn wir unsere Lebensfähigkeiten entdeckt haben, werden wir unsere Unfähigkeiten nicht mehr irgend­ wie anordnen wollen - worin für die meisten Autoren

das Romanschreiben besteht, welches aber in Wirklich­

keit jenseits des direkt Autobiographischen erst seinen Anfang hat.

1965

Autor - seine Optik

Wenn ein Autor nicht für sich selbst durchsichtig wird, kann er nichts sehen: nur der Blick durch diese mensch­

liche Linse, die er sich geschliffen hat, ermöglicht ihm,

die Dinge in ihrer Aura wahrzunehmen, welche jene ja erst sichtbar macht. Das nackte Objekt ist unsichtbar, es

zerfällt zu Staub.

*953

31

Einträge zu A

32

B

Banalitäten

Nur die Banalitäten der ersten Dinglichkeitsreihe leuch­ ten wirklich, besser: wenn sogar Banalitäten zu leuch­ ten beginnen, dann ist die Sonne der Wirklichkeit in

unserem Leben aufgegangen, wir haben Außen und

Innen vollends verschmolzen.

19 J 5

Bassesse

Irgendwo dazugehören zu wollen, ist Niedrigkeit, bas­ sesse, ein Ausdruck, den Stendhal gerne gebraucht, etwa in ,Vie de Henri Brulard*. Aber auch zu seinem eigenen Sack und Pack und Schnack, mit welchem man vom

Leben beladen worden ist wie der Esel vom Müller mit

den Mehlsäcken, sich auch noch begeistert zu bekennen, ist um nichts besser.

1933

Befangenheit

Daß wir befangen sind: wir müssen es hinnehmen, es ist eine Grundbedingung. Wir haben nicht danach zu streben, durch komplettes Wissen unsere Befangenheit,

aus der wir leben, zu sprengen. Andere Wege sind uns zugedacht, nicht gradaus, gegen die Gashülle zu, um sie

33

zu zerreißen: sondern kurvenreich innerhalb ihrer, und so nicht minder in einem unendlichen Raum.

Befinden,

2

übles

Unsere schweren verhängnisvollen Disphorien sind

unser Schatz. Alles andere täuscht. In ihnen allein zeigt

sich, wohin wir gelangt sind und wohin eben noch nicht, an welchem Punkte wir halten und wo durchaus noch nicht. Sie sind die wahre Bestandsaufnahme, der Halt

und Anhalt, das Weichen des Wassers im Bett des Lebensstromes, wodurch erst die Steine am Grunde -

jene, über die er uns noch nicht hinweggeführt hat! -

¡9i(

sichtbar werden können.

Begierden Es ist durchaus möglich, daß wir uns Begierden einbil­

den, weil wir sie gern haben möchten. Beim Hausmei­

ster, mit dem uns solche Begierden schließlich gemein­ sam sind, heißt das dann schon ,unwiderstehlicher

Zwang*.

1961

Begriff Die stillen Minuten oder Stunden sind wie aufgestellte

Schalen, in denen der wesentliche Inhalt gegenwärtiger Lebenszeit zusammenrinnt und sodann geprüft werden

kann. Hier hat er die Namen, welche er sonst am Tage 34

führte, abgelegt oder vertauscht und, ganz wie im Traume, kommt hier erst ein Wort zu seiner wahren Bedeutung, welche immer, gegenüber der begrifflichen, eine Ekstasis darstellt.

1941

Beghjffs-Reinigung

Begriffs-Wäsche, also die Reinigung von Begriffen,

macht es erforderlich, daß man diese in das Säurebad fundamentaler Skepsis werfe. Nur von dort unten wird

man sie blank wieder hervorziehen. Excepta religione, weil wir das falsche Gegensatzpaar des neunzehnten Jahrhunderts, Frömmigkeit und Intelligenz, wieder auseinandergenommen haben und es mit dem hl. An­

selm von Canterbury halten, von dem der bekannte

Satz stammt: neque enim quaero intelligere ut credam,

1946

sed credere ut intelligam.

Behagen

Das wirkliche Behagen bemerkt man nur nebenbei. Es

ist keine separate Speise an der Tafel des Lebens, son­

dern ein Beigeschmack, den gewisse Gerichte haben.

Aufs Behagen kann man nicht den Blick einstellen. Es befindet sich nie uns gegenüber im Mittelpunkte der

Aufmerksamkeit - dort ist’s unmöglich zu fixieren oder

nur in widerwärtiger und monströser Weise. Sondern es wird am Rande des Blickfeldes eben noch mit-ge-

35

sehen. Daher wohnt es in den Augenwinkeln, nie im

frontalen Blickstrahl eines Menschen: hier wäre es ab­ surd, dort kann es liebenswürdig sein.

194t

Bereitschaft

Das Leben zeigt uns allermeist den Rücken. Schon die stumme Welt um uns verhält sich so, und nicht nur die

Bücher am Regal. Jedoch müssen wir in jedem Augen­ blicke darauf gefaßt sein, daß sich irgendetwas um­

dreht und uns anschaut: dann soll uns solcher Blick

durch ein offenes Herz dringen.

1953

Bereitschaft Nichts sei, damit uns was werden könne. Keine Sprache vor der Sprache, keine Lust vor der Lust, keine Ord­

nung vor der Ordnung, kein Wissen vor dem Wissen,

keine Lehre vor der Belehrung: damit wir alles dieses zu erhalten uns fähig halten. Trifft die Lehre in vor­

bereitete Leere, dann erst entsteht die Apperception, unsere chymische Hochzeit mit dem Leben.

1960

Berufs-Schriftsteller Der Berufs-Schriftsteller macht seine Muse zur Prosti­

tuierten und wird dann ihr Strizzi.

36

1954

Besserung Es könnte einem auch leidtun um ein Laster, das einen

verläßt, einen Fehler, dessen man nicht mehr fähig wäre. Man hat sie bekämpft und darin war Spannung.

Jetzt ist da nichts mehr. Leere, Erfüllungs-Rüchstoß.

Eine Tür ist zugefallen.

1963

Bewältigung

Die Unmöglichkeit der Bewältigung: ja, sie gerade ist es, die unsere Versuche frei macht, da wir nie besorgen

müssen, an irgendeinem Rande anzustoßen. Das Nicht-

zu-Bewältigende gibt uns die Ellbogenfreiheit zum Versuche, die Bewältigung dennoch zu wagen.

1962

Beziehungen zu Menschen

Einer höheren Intelligenz ist es unwürdig, das Spinnen­ netz von Beziehungen zu anderen Menschen nicht zu

untersuchen und die Personen nicht richtig zu orten. Das allgemeinste und erste Ergebnis dabei wird wahr­

scheinlich sein, daß weniger Beziehungen vorhanden sind, als bisher schlampig angenommen wurde; daß

vielfach nicht Bezüge vorliegen, sondern nur isolierte Punkte im Raum; und wo Bezüge sich finden lassen, daß diese nicht den leisesten Zug aushalten würden, ohne zu reißen. Es sind nur Spinnenfäden. Wir haben sie gesponnen. Wir spinnen da, im ganzen Doppelsinne

des Wortes.

>933 37

Bierehrlichkeit

Wir dürfen nicht ganz grad, direkt und bierehrlidi da­ herkommen: das hieße mit dem Leben auf schlechtem Fuße stehn und dessen Mechanik nicht als eine Eigen­ schaft gewordene Erkenntnis innehaben; außerdem aber, seinen Mitmenschen jenen Grad von Intelligenz schuldig bleiben, der ihnen in jedem Sinne gebührt. Wir

müssen schon ein bißchen kalt, distanziert, konfisziert sein; sonst sieht man unsere Eingeweide, wie bei einem

Kaulquapp. Derartiges ist töricht und unanständig. i9ji

Bildung

Was man Bildung einst nannte - eine schwere Stein­ metz-Arbeit an sich selbst, den Kern herauszuhauen,

den man immer nur ahnt - das zerflattert heute in Kur­ sen und Weibergeschwätz. In die Hochschulen, deren verlorene Universalität nur in dem über allerlei Fach­

schulen gestülpten Namen noch ihr Schattendasein an­

deutet, sind Sport und Politik und Menschenmassen eingedrungen, die, was einst Gestalt und innere Span­

nung hatte, wie Treibsand verschütten.

1937

Bildung Bildung wird etwa heißen: sehr viele distinkte, kom­ plexe und einander widersprechende Erlebnisse gehabt

und genau beschrieben zu haben; oder: in eine Gesell-

38

schäft tretend, auf den meisten der besetzten Stühle schon einmal gesessen zu sein, so daß man fast mit dem

körperlichen Auge die Globen der Befangenheiten

einander berühren und sich schneiden und durchdringen sieht.

1942

Biographie - ihr heuristischer Punkt In jedem Leben suche man dessen Schwächezwang, dem es zu entgehen strebt, sei’s in welches Material immer.

Hat man diesen Punkt ertastet, so wird man alles ver­

stehen.

1961

Biographie jedermanns ,Es ist schad’ um mich* darf Jeder sprechen, aber nie so,

als hätten ihm andere Menschen oder die Umstände das Beste seines Lebens gestohlen, sondern er selber ist der Dieb; und wenn er andern diese seine wesentliche Rolle zuschiebt, kann er mir seinerseits gestohlen werden.

1954

Biographie jedermanns Unsere Biographie: ein in früher Jugend platzender Charakterkern von hoher Brisanz - das übrige waren Nachspiele, nachwehende Streifen, die immer matter

195 7

niedersanken.

39

Biographische Hauptdaten Die wesentlichen Themen eines Lebens sind nicht in

dessen Hauptsachen und deren Daten anzutreffen, son­

dern in sehr vielen kleinen ,Seitensätzen*, deren Kenn­ zeichen ist, daß sich jedesmal in ihnen der moralische

Stand unserer Person gegenüber solchen Menschen er­

zeigt, die uns nur flüchtig und oft nur ein einziges Mal ij$4

begegnen.

Brutalität Brutalität und weiterhin Grausamkeit sind die Vor­

wölbungen, durch welche der Mensch, wenn er kann,

die Basreliefs, die er sich vom Leben mußte unverwisch-

lich einpressen lassen, anderswo ausgleicht. Die Brutali­ tät weiß noch ein wenig von ihrer eigenen Herkunft

(Brutale sind oft sentimental). Die Grausamkeit aber

steht schon im Rausche des erreichten Nicht-mehrWissens.

1943

Bürger, der - als Künstler

Ich kann mir diese vorsichtigen Hausmeister schon den­ ken, die keine zwei Schritt weit weg sich wagen vom Einschlupfloch zur Höhle ihres Vorteils! Nichts Üble­

res, als wenn so einer mit seiner ganzen Käsfüßigkeit auf’s Gebiet der Kunst gerät. Seine Spur dort stinkt. 1960



Busse Buße ist: der Mensch spricht tathaft aus, daß er seinen

Schöpfer verstanden hat und dessen Willen in seinem

eigenen Leben nun durchsetzen will, daß er sich mit diesem Willen zu durchsetzen strebt, im steten Blick

auf seine Irrtümer und Anfälligkeiten, welche ihm

aber, eben durch einen solchen Akt, bis zu einem ge­ wissen Grade zu Objekten werden.

41

1953

Einträge zu B

c Chaos und Ordnung

Man soll nie glauben, daß man im reinigenden Bad des Chaos zu tief untertauchen könnte; getrost; leider ge­ trost; die uns umschließende Korkweste falscher Ord­

nung treibt uns bald wieder an die Oberfläche.

1952

Chaos und Ordnung

Chaos ist bildsam, dadurch in der Möglichkeit, frucht­ bar zu werden. Nur das konsolidierte Chaos einer

zweiten Wirklichkeit verwehrt der eindringenden

lebensgemäßen Ordnung ihre Wirkung.

1914

Charakter

Voraussetzung zum Sehen jedweden Charakters ist die

Ekstasis aus dem eigenen.

1952

Charakter

Es ist vielleicht jeder aussichtsreichere Charakter ein circulus vitiosus ineinandergreifender Defekte, ihr

perpetuum mobile: und das Anhalten solcher zyklischer 43

Bewegung der bedeutendste Effekt, den wir ver­ ursachen können, weil jener Zyklus damit als eine Figur erwiesen wird, die immer offen war und welcher eine,

nur vordem noch unentdeckte, ganz andersgeartete

Elongatur eignete.

i9J4

Charakter

Was uns am wenigsten bewußt ist, das ist uns merk­

würdigerweise am meisten verständlich, nämlich schon selbstverständlich. Dieser Kern des Charakters konsti­ tuiert unser ,Außenbild* (um mit dem psychologischen

Feldwebel Müller-Freienfels zu reden). Daher denn dieses für Andere unverständlich bleibt, sei’s nun an­

ziehend oder abstoßend.

1959

Charakter(e) Stark in seiner ersten Dinglichkeitsreihe wirkt, war

nicht außer sich sein will: es trägt seine Aura unbedeckt,

dringt schamlos mit ihr an des Fremden Nase; Unbehol­ fenheiten sind hier keine Provisorien; sie werden stän­

dig wiederholt, bilden eine Kette von Definitiven, einen starken Strang des Charakters, der so an Tag tritt, und

nie anders, sondern mit immer gleichbleibender Raum­ verdrängung von hödistem Echtheitsgrad. Man kann

hier nur beiseite treten. Am besten, man entfernt sich

I9J7

ganz. 44

Charakter - Dämonologie

Jeder Mensch, der nur seinen Charakter realisiert, ist 19p

dämonisch.

Convenü

Ein Convenü ist eine allgemein verbreitete Entspre­ chung zwischen dem Kurz-Zeichen für eine Sache und

dem Erlebnis, das man immer wieder angesichts ihrer haben kann.

1951

4J

Einträge zu C

46

D

Dämonen Das Erotische und das Grammatische (hier für das

Künstlerische schlechthin genommen) gehören irratio­ nalen und unerforschlichen Wertsystemen an. Das Dämonische garkeinem. Es steht seitwärts von jedem

Wert und tendiert gegen jeden beliebigen, der es an­

195J

zieht.

Debatten - ihr Wert in unserer Zeit ,... Auf eine Rundfrage, betreffend die Klärung gei­

stiger Widersätze durch eine Art von agonaler De­ batte in einer freien demokratischen Welt, erwiderte er,

da£ vorerst das brachiale und individuelle Vorgehen

Einzelner gegen Einzelne ermöglicht werden müsse, um die physiognomischen Klassen handhaft voneinander

zu scheiden; anders könne es zu einer Klärung der Be­

griffe nie kommen. Nach Austausch von Vor-Prügeln jedoch würde man des weiteren - wenn es etwa ge­

lungen sei, die Grenzen zwischen Literatur und NichtLiteratur auf brachiale Art tief einzuprägen - zweifel­ los mit hervorragenden Ergebnissen verhandeln .. .* >954 Dekalogisch und Ideologisch

Den Sünder trennen seine Sünden von Gott. Den Ideo47

logen auch seine Heldenwerke. Jener hat Anfälle von

dekalogischer Blindheit. Bei diesem ist sie habituell ge­

1944

worden.

Demokratie Die Demokratie ist die edelste Form, in der eine Nation

zu Grunde gehen kann; dies zeigt schon das antike Bei­ spiel Athens, und ebenso zeigen es die heutigen, dem Gesetze nach demokratischen Staaten: Begräbnisse

erster Klasse. Wir können zufrieden sein; unser Epi­ taph wird anständig aussehen: worauf’s ja zuletzt an­

1961

kommt.

Denken Jeder zu früh klar gefaßte Gedanke zersetzt wie ein

scharfkantiger Fremdkörper den schöpferischen Erßuß

in uns, und ist für den Schritt des Geistes nichts als ein Steinchen im Schuh.

19p

Denken Tief denken heißt in das Denken versinken wie in

einen Tiefschlaf: Lethe für die empirische Person. Denkschlaf. Denkend schlafen, und im Denken schla­ fen, wie der Albatros in der Luft schlummert oder die

Möwe auf dem sanft schwankenden Wasserspiegel. iSji



gibt Denk-Gewitter, welche die Atmosphäre reini. Womit nicht gesagt ist, daß man erst zu denken |at, wenn’s blitzt und kracht. Man hat vor dem schon genug zu denken gehabt.

1960

Denken des Künstlers

Der Künstler muß auch auf eine neue Art des Denkens

verfallen, das nicht auf den Legalismus der Begriffe und Definitionen versessen ist, sondern die gestalt­ weisen Essenzen gegeneinanderführt und sie kämpfen

läßt. Denn all unser Denken spielt sich ja in seinen tieferen Schichten in dieser Weise ab, und nur obenaus verfallen wir dem konventionellen Gitterwerk, durch das wir vermeinen, alles pressen zu müssen. Ganz am Rande nur möcht* ich bemerken, daß aus solchem ge­

staltweisen Denken jederzeit und fast ohne Mühe ein begriffliches abgeleitet werden kann, welches jedoch

ohne jenes Fundament gestaltweiser Dialektik ein un­ taugliches Nichts sein wird.

1953

Detail

Der Mensch will im Detail nicht das Ganze haben: son­

dern eben vor diesem in jenes flüchten; und schwer

bringt er sich zum geraden Gegenteil, worin doch sein 1961

Glück beruht.

49

Details Details sind uns gegeben, um sie als Handgriffe zu be­

nutzen: konkreter Anhalt. Ohne ihn ist keine erfolg­ reiche Bewegung des Geistes vollziehbar. Im Detail müssen Leben und Denken coagulieren und eins wer­

den, jedes vom anderen bedingt. So nur kommt das Denken zu seinem eigentlichen biologischen Wert. 196)

Diabolus

Frei steigende Deperception: so heißt die objekthafle

Anwesenheit des Teufels in der Sprache der Seelen­

schlosser. Allerdings ist dieApperceptionsverweigerung das heute von ihm am häufigsten beliebte psycho­ logische Kostüm.

1943

Dilettantismus Dilettantisch ist jedes Verhalten, welches das Material einer Kategorie - sei’s der grammatischen, der eroti­

schen, der ordnend-disziplinären - ergreifen will unter Abschluß von der Entelechie jenes Materiales, welches jetzt um sich selbst herum bewegt wird, jedoch nur

kraft des Entelechie-Restes, der sich keinesfalls daraus ganz vertreiben läßt. Der Dilettantismus der Ordnung ist zum Beispiel Pedanterie. (Angst-Evidenz.)

Der Dilettantismus der Erotik ist die Jagd nach dem

sogenannten ,Typ‘. (Amüsierbetrieb.)



Der Dilettantismus der Grammatik ist das bekannte tSich-Aussprechen*. (Mitteilungsbedürfnis jeder Art.)

Aller Dilettantismus ist phainomenal gewordenes Nichts. Daher besteht er bereits auf sich selbst. Jeder

Dilettant ist absolut unbelehrbar: aus Gründen der

Mechanik des Geistes. Danach erst aus Gründen des Selbstwert-Erlebens.

Es gibt der wirklichen Ordnung gegenüber eben­ solche pseudologische Praefixierungen, die ihr Weg und

Wirkung verlegen, wie in Bezug auf Erotik und

1952

Grammatik.

Direkt und Indirekt Alles ist Bei-Spiel. Deshalb klingt jede direkte Äuße­

rung so hohl: Marginal auf einem Blatt ohne Text. Sämtliche Lebensäußerungen eines Schriftstellers,

Werke, Rede, Brief, Haltung, Handlung, sind Bei­ spiele, Marginalia. Der Text bleibt unveröffentlicht. 1942 Direkt und Indirekt

Nie werden wir etwas erreichen, da habe es nur einige

Bedeutung, was wir auf dem direkten Wege anstreben, also antizipieren, also uneintreffend machen, weil wir es vorwegnehmend abgeschwächt haben.

1960

Diskussionen

Das Gespräch mit einem intellektuell erheblich schwä51

cheren, wenn auch existentiell entfernt verwandten

Menschen hat etwas vom Coitus an sich: man geht aus

sich heraus und in einen Anderen hinein (so benennt das Baudelaire). Beides darf nur aus einem Zustande

geschehen, dem man ganz zustimmen kann; und das zweite ist dem ersten entschieden vorzuziehen.

1942

Diskussionen

Man sagt leicht jemandem zu viel und zu Deutliches.

Plötzlich sieht man ihn gar nicht mehr, man kann nur

die vielen Einschläge der eigenen Wort-Geschosse er­

blicken, um welche herum die noch verbliebene ur­ sprüngliche Materie konziliant ausweicht; nicht immer aus Tugend der Konzilianz: sondern auch etwa einmal, weil jemand nicht ungeistig und ungebildet erscheinen will, wenn ein Schriftsteller zu ihm spricht. Jedoch,

dein mit Pfeilen wie ein Stachelschwein gespicktes Visä-Vis schüttelt sich später nur ein weniges und sie fallen

alle heraus. Du hast sozusagen auf eine Gummiplatte

194;

geschossen.

Disphorien Die Kette unsrer Disphorien ist nichts anderes als die

Rekapitulation unserer Sünden, die wir schwerlich

werden zu Ende bringen. Die Disphorie ist die Form, in welcher unsere Psycho-Physis uns selbst beichtet.

I9J2

J2

Dissonanzen

Jede in der Tatsächlichkeit auftretende Dissonanz weist zurüdt auf einen tief unter ihren Notenköpfen, in einem für unser Ohr nicht mehr vernehmlichen Basse,

stehenden Antagonismus - einen stehenden, ewigen.

Und das macht alle Dissonanzen für uns so erregend und quält uns, sie zu erforschen. Jeder kleine Streit

etwa zieht so die Metaphysik in die harmlosere Psycho­

logie hinein.

1946

Distanz

Uber die schlampig hängende Brücke einer unwahren

Nähe, die aus Wehleidigkeit gemacht ist, kann nur Übles gehatscht kommen.

19$ f

Disziplin Disziplin entblößt mit Vorteil unsere Nichtigkeit: da­

durch, daß wir sie nötig haben; und am meisten dann, wenn sie durchaus nichts zu wünschen übrig läßt, und wir doch versagen. Damit schwimmt uns eine immer

noch mögliche Ausflucht davon, und wir finden uns mit unserer Nidits-Bedeutung sauber konfrontiert.

19 i1

Disziplin Wer aus seiner biologischen Schwäche lebt und in Wort

53

und Tat ausweicht vor den Notwendigkeiten, gerät in einen gespenstischen Raum geminderter Wirklichkeit, dessen Wände wackelnde Kulissen sind, Kulissen der

Selbsttäuschung. Wenn jene mindere Sache, die wir -

lächerlicher Weise oft mit Stolz! - Disziplin nennen und mit Eigenbedeutung anreichern, überhaupt irgend­ einen Sinn haben kann, dann den, uns nicht in Räume

wie den oben angedeuteten geraten zu lassen, aus wel­

chen einer nicht leicht wieder herausfindet.

1961

Du

Man muß nur seine Wünschbarkeiten verlassen, und

seine Vorstellungen von Ordnung hinter sich werfen, wie man die haben wollte, und daß man sich bewähren

wollte vor sich selbst oder rehabilitieren vor an­ deren ... schon beginnt da die Reise zu den anderen Menschen schneller und leichter zu gehen; das muß auch so sein: es ist die weiteste Reise von allen, die wir

zurückzulegen haben.

1953

Dummheit Die Dummheit ist das Nichts, welches sich detailliert

hat, ganz nach dem Vorbilde des Lebens und bis zur Dialektik. Die Dummheit spielt Leben.

Es ist ein Schattenspiel, daher der gespenstische Ein­

druck.

1942

54

Dummheit Man mag sich Intelligenz mitunter aus dem Grunde wünschen, um endlich das größte Wunder erschauen zu

können: wie dumm nämlich die Dummköpfe wirklich sind.

1942

Dummheit

Die matrix der Dummheit, das Myzelium, auf dem sie

wächst, ist nichts anderes als eine oft und geschwind im Halbschatten des Bewußtseins vollzogene Abwen­ dung vom Leben. Die Dummheit ist der kalte Schweiß

unserer Lebensschwäche. Wer das weiß, sich wieder herumdreht und nun dennoch dem Leben entgegen­

geht, dem helfen nur Glaube und Hoffnung bei einem solchen Akt, welcher unter Umständen der Vernichtung

vor dem Nichts den Vorzug gibt.

1945

Dummheit

Dumm sein heißt, zahlreiche kleine schnelle aber durch­ aus verbrecherische Akte zu setzen, durch die einer

seine eigene Leitungsfähigkeit unterbricht. Was in der Imbecillität vorgeht, ist allerdings, wie Franz Blei sagt,

vollkommen belanglos. Fraglich bleibt dabei nur, ob eine vollständige, umschließende Imbecillität gedacht

werden könne. Die Empirie scheint solche Phänomene

Sf

darzubieten. Aber woher kommt dann, so muß hier gefragt werden, bei diesen die affektive Spannung zur

Intelligenz, die ausnahmslos (oder fast ausnahmslos) beobachtet werden kann? Stultitia - keineswegs die simplicitas - als Eigenschaft, nicht als negative Lei­

stung, würde die humanitas aufheben.

1952

Dummheit

Dummheit könnte auch kurz bezeichnet werden als

Verleugnung der analogia entis.

19p

Dummheit - Analogien der Die Umgangssprache verhält sich zur Grammatik wie

die Hurengassen-Sexualität zur Erotik, oder die eigen­ sinnige Pedanterie zur Idee der Ordnung. Bei allen drei Begriffspaaren ist das erste Glied als Phänomen

akzeptabel, als Position - wenn es sich also verhin­

dernd oder ausschließend gegen das zweite setzt - ver­ brecherisch: die Umgangssprache, wenn sie sich prae-

grammatisch, die Sexualität, wenn sie sich prae-erotisch fixieren, die Pedanterie, wenn sie als Ersatz für die

Ordnung auftreten will. In allen drei Kategorien wird da die Entelechie jedes innerhalb ihrer vorkommenden Phänomens geleugnet, die dahin gerichtete Spitze der

Erscheinung abgebrochen, diese isoliert und die Dumm­ 1951

heit statuiert. 56

Dummheit - ihr Betätigungsfeld

Es sind die Haupt-Stockwerke, die drei konstituieren­

den Ebenen des Geistes, welche der Mensch am liebsten zum Tanzboden der Dummheit macht: Sprache, Liebe,

Ordnung. Überall, in allen drei Kategorien, wird

Exorbitantes an stultitia mit einer Art von dunkler Glut geleistet.

Dummheit,

1952

reaktionäre und revolutionäre

Die reaktionäre Dummheit hält das, was sie hatte, für

ein Allheilmittel, die revolutionäre Dummheit das, was ihr fehlt, für ein allgemein brennendes Bedürfnis.

Daher beginnen die Sentenzen und Zeitungsartikel der ersteren meistens mit: ,E$ ist ein alter Erfahrungssatz,

daß.. .*, die der letzteren aber am häufigsten mit: ,Es tut not*.

Die reaktionäre Dummheit erklärt den Spatzen in ihrer Hand für einen Adler und wirft nach der Taube

auf dem Dache mit Steinen, und wär’ es gleich die

schneeweiße, welche den Frieden bedeutet. Die revolutionäre Dummheit will eine Taube braten,

die noch auf dem Dache sitzt, und sie ist ohneweiters bereit, zu diesem Zwecke das Haus anzuzünden. Aber

dem Knockabout fliegt die gebratene Taube nicht in’s Maul, sondern ungebraten davon. Das Haus ist in­

dessen abgebrannt; und auf den eingestürzten First wird sich lange kein,Vogel* mehr setzen.

37

1943

Dummheit (stultitia) - Umgang mit der

Gib der stultitia ein Stückchen ihrer selbst zu essen. Sie wird glücklich sein, es gerade von dir (dessen Fremd­

heit sie gleichwohl argwöhnisch wittert) zu erhalten,

und wird’s beruhigten Gewissens friedlich verzehren.

Laß die stultitia nie von deiner eigenen Dummheit

kosten. Sie wird dich als Revanche zu einer kannibali­ schen Mahlzeit einladen, bei der du am Ende selbst der

Gefressene werden kannst. Hüte dich also am allermeisten, deiner Dummheit

unter Dummen zu verfallen. Vor einem der Intelligentia ergebenen Menschen auszugleiten ist gefahrlos. Er wird das Bündnis mit dir hoch über deinem Lapsus hal­

ten, wie ja auch du tun mußt, wenn ein solcher ihm zu­

stößt. Stolpert die Dummheit und fällt, dann spring* ihr

nicht bei. Es ist dein gutes Recht, ruhig zuschauen zu dür­ fen, wie deine alte Urfeindin auf den Estrich hinschlägt,

sich in lächerlicher Weise dabei selbst entblößend. Be­ zwing’ dich, wenn du sie bedecken, dich davorwerfen möchtest. Schweig und tu nichts. Du solltest sie einmal ge­

sehen haben, wie sie dasteht, wenn der Geist fällt!

1941

Dummheiten

Unsere Dummheiten, die wir machen, sind unser eigent­ liches Leben, das Lebhafteste, was wir leisten. Sie sind

tiefsinniger und signifikanter als unsere besten GedanJ»

ken. Daher müssen sie immer möglich bleiben, ja, es müssen sich ihrer neue jederzeit am Horizont erheben. *953 Dummheiten - ihre Entstehung

Es gibt Tendenzen, die wir zu haben wünschen, und

Wünsche, die wir entfachen möchten, nur um dieser Lage hier und jetzt zu entfliehen; unsere Schwäche sehnt sich da ganz einfach nach einem Material, in das

sie hineinverschwinden und dessen Namen sie dann tragen könnte. Die Furcht und Flucht vor dem horror

vacui treibt alles dieses heftig an, und so entstehen die kleinsten und die größten Dummheiten in der Welt, wenn irgendeine Funktion zum Inhalte jener Flucht­

funktion wird.

1963

59

Einträge zu D

60

E Egozentrik

Man muß sein ganzes Leben auf die Zuflüssigkeit um­

stellen - sie verleiht auch einen reduktiven Blick auf so manches - um die unschöpferische Autarkie der Person praktisch zu negieren und damit freilich auch den Ego­

zentrismus, der nur ein Bein ist, das uns jener autarke

Aberglaube stellt.

i03

Ehe

Diverte Ehen, die man so sieht: ein tolles Institut. Ein

absolut Irrationales - Baudelaire sagt, es ähnle mehr einer chirurgischen Operation als einem Liebesakt! -

umbaut von lauter rationellen Anstalten, obco-vopwc. Aber das punctum nascendi der Sache und der Schwer­

punkt davon überhaupt, bleiben doch, positiv oder negativ, im Irrationalen und also auch A-Rationalen! Es kann nur schiefgehen, es ist ja bereits schief be­

1964

gonnen worden!

Ehen, schlechte

Sogenannte schlechte Ehen halten oft deshalb gut zu­ sammen, weil sie nicht selten außerordentlich aufrei­ bend sind. Den Leuten bleibt keinerlei Lust und Kraft 61

zu Seitensprüngen. Sie sind durch ihr eheliches Unglück so fest gebunden, wie andere durch ihr Eheglück; ja,

fast möchte ich die erste Art der Bindung für die noch 19 fj

festerehalten.

Ehrfurcht Die Ehrfurcht ist eine sehr zeitraubende Eigenschaft.

Sie ist keineswegs eine Neigung zu Illusionen. Diese verliert das Gleichgewicht, auf eine undeutlich gesehene

Welt zu stürzend. Jene aber, die Ehrfurcht, traut sich an die Welt noch garnicht heran. Sie ist wie ein Kind

vor dem Schaufenster: es drückt sich das Näschen platt. 1952

Eigenheiten

Man soll seine Eigenheiten nicht für Begabungen hal­ ten. Sie sind nicht einmal Begabungs-Pforten, sondern das Gegenteil: blinde Tore, vermauerte Bogen.

1963

Einfälle Jeder Einfall ist ordinär, sensationell, eine Geschwulst

im Denken, die sich von diesem gern absondert, ein Tumor, der sich dann selbst organisiert. Unser Blut muß die Kraft haben, ihn aufzulösen und rückzubilden, dann kreist er in ihm als erregendes Gift, das zu einer

neuen Stufe der Gesundheit helfen kann. 62

1942/43

Einsamkeit Man flieht in die Einsamkeit nicht so sehr vor den an­ deren Menschen, als vor dem, was aus einem selbst

wird, wenn man unter ihnen verweilt. Man flieht aus der Einsamkeit nicht so sehr zu den

anderen Menschen, als vor dem, was aus einem selbst

nicht geworden ist, während man allein verweilte. 1942

Einsamkeit - ihre Ortung Man muß endlich erkennen, daß rund um einen selbst

durchaus taubes Gestein sei; man darf sich nicht mehr dem entgegensetzen, zu wissen, daß die spirituelle Ma­

terie - denn Materie ist und bleibt sie, an ihrer Her­ kunft gemessen und agnosziert - ebenso selten ist, wie

die physische Materie im Weltraum.

1952

Einsicht und Eigenschaft Eine Einsicht muß sich immer noch schärfer, immer an­

schaulicher, immer leuchtender formulieren. Auf diese Weise bringt sie sich allmählich ins Blut, und wird zur Eigenschaft. Man bewandert nicht, so hat es Gütersloh

einmal ausgesprochen, stets neue Wege: ,von einem ge­ wissen Alter an tritt man vielmehr die eigene Spur im­

mer tiefer und sinkt schließlich als Meilenstein in die 1952

Erde*.

¿3

Einwände

Einwände werden heutzutage gewöhnlich zu früh vor­ gebracht, bevor eine Eindrucks-Welle sich ganz aus­ gelaufen hat, in uns eingedrungen und uns damit in­

wendig geworden ist. Jetzt erst geschehe der Einwand: wenn die Eindrucks-Ebbe schon beinahe von selbst hin­ ter sich weicht. Nur so kann des Lebens Brandung recht

heranlaufen, auslaufen, zurückfluten: ein harmonisches

Widerspiel von Position und Antiposition. Aber heute geschehen alle Einwände in hastiger Eindrucks-Ab­

wehr.

1961

Ende und Anfang

Wehren wir uns nicht gegen das, was ist, und am Grunde der zerfallenden Lage durch die unvorgeord­

nete Apperceptivität sichtbar wirdl Anders können wir nie davon abstoßen und loskommen. Ein Punkt,

um verlassen zu werden, muß deutlich sein, ganz so wie der hinter einem Satze: hier ist er Ende, dort ist er

i9gi

Anfang.

Enthaltung

Das Sich-Enthalten bildet ein wichtiges sekundäres

Mittel des Geistes. Man soll dieses nicht gleich gering­

schätzen, wegen seiner negativen Vorzeichnung. Von der Askese ist hier nicht die Rede. Sie kann nur auf 64

wüt höherer Ebene überhaupt in’s Auge gefaßt werden. Man muß sehr viel Enthaltung geübt haben, um die

Augen zur Möglichkeit der Askese erheben zu können. Enthaltung zum Beispiel vom Antworten auf eine

Frage (wir vergessen dieser Möglichkeit zu sehr, und

daß es schließlich auch oft in unserem Belieben steht,

einfach zu schweigen; der Herr hat im Angesicht des Todes geschwiegen, als Pontius ihn fragte; wir sind von jeder Frage gleich fasziniert und mobilisiert). Enthal­

tung vom Mitreden, weil grad eine Sache in’s Gespräch kommt, zu der man was weiß. Enthaltung von der

Konversation überhaupt, soweit die Höflichkeit es zu­ läßt (dies darf sich der Schriftsteller getrost gestatten,

es ist sein Recht). Enthaltung von unnötigen Hofierereien und Eindrudc-Machereien beim Frauenzimmer (von dessen Dummheit, Ordinärität und verräteri­

schem Wesen wir immer eine nur ganz unzulängliche und blasse Ahnung haben). Enthaltung von allen wie immer gearteten Vergnügungen der gebildeten und un­

gebildeten plebs: Zeitung, Kino, Radio, Theater, Kon­ zerte, Ausstellungen und Veranstaltungen, Geschwätz, Trunk, Zeitvergeuden, Wirtshaus-Hocken. Enthaltung von allem, was man gleich haben kann, wonach man

nur zu greifen braucht: die eigenen Kenntnisse, Mei­ nungen, Anekdota (auch die nicht erlogenen). Ferner das Schlampampen der Stimulantien, die hiedurch ihren

Wert verlieren - so daß reinigende Exzesse nicht mehr

möglich sind - sonst aber einen fast unschätzbaren Wert

haben, solange sie distinkt und solitär bleiben: Kaffee,

Tee, die Zigarette, der Alkohol. Enthaltung oder

höchst vorsichtige Wahl von Trinkgesellschaft. Man saufe allein und daheim. Enthaltung: nicht gleich nach allem greifen, was man

hat. Nicht sich einlassen. Zurückweichen. Einen Spalt von Distanz öffnen zwischen sich und der Welt. Er wird bald breiter und tiefer. Der Gewinn ist ungeheuer. I9J2

Entscheidung Jeder Entscheidung muß eine letzte, unbehebbare Schwere eignen, als ihr innerster Kern, die dunkle

Stelle, um welche ja das Wagnis geht. Und dies muß

sozusagen als Ganzes und unzerlegt geschluckt werden wie eine Pille. Es zu durchdringen ist unmöglich. Also: die Begrenztheit unseres Erkenntnisvermögens macht

überhaupt eine Entscheidung erst zu einer solchen. Da­

her diese denn auch uns in bisher unbekanntes Gebiet

zu führen vermag.

1963

Entschiedenheit

Die Dezision schießt wie ein Springbrunnen auf; aber,

ganz wie ein solcher, teilt sie sich in feinsten Wassers-

Staub und feuchtet unseren Garten und erfrischt und ermuntert ihn, vielfältige Flora an’s Licht zu treiben. Die wahre Entschiedenheit macht humorvoll und tole­ rant. Der Doktrinarismus macht humorlos und unduld­

sam. Jeder Ideologe und Weltverbesserer hält sein 66

schlechtes Gewissen nieder wie einen stummen Hund,

dem,das Halsband die Kehle sperrt*.

¡953

Entschluss Jeder wirkliche Entschluß tötet eine Möglichkeit, gegen

die er sich entscheidet. Daher tritt im Entschlüsse immer

auch Todesangst leise anwehend auf. So erweist sich die Echtheit des Vorgangs.

Im allgemeinen hat der Entschluß eine bejahende

und eine verneinende Seite: eins soll leben, ein anderes sterben.

Einzig und allein der Entschluß zum Schriftsteller

besteht aus zwei Ja-Hälften, zwischen denen nur im unmeßbar kurzen Augenblick des Vollzuges - wie der Trennungsfunke beim Unterbrechen einer elektrischen

Leitung - das Nein aufblitzt. Denn das deperceptive Leben, welches da verlassen werden mußte, sieht sich

im nächsten Augenblicke als begehrtes und reizvollstes Objekt innig vom apperceptiven Leben umarmt und

umschlossen.

1963

Entwicklung, persönliche

Das Geheimnis besteht hier darin, jenes eine Grund­

gebrechen seines Lebens-bei jedem ist’s ein anderes-so weit zu erodieren und zu unterwaschen, was nur durch Denkakte höchster Intensität erfolgen kann, bis es faß­

bar und von allen Seiten gut sichtbar wird: dann bricht 67

es bald von selbst heraus. Dies letztere und letzte aber

versudie man nicht direkt und selbst zu bewirken. Audi der Schorf muß von der Narbe abgehen, nicht abgeris­

sen werden. Und die Heilung schreitet um so besser

voran, je mehr ansonst für die Gesundheit eines Leibes gesorgt wird und nichts dagegen geschieht.

1953

Epik - heute Die Herauslockerung der eigenen ersten Dinglichkeits­

reihe so weit, daß ihre Vertauschbarkeit mit der eines anderen Menschen evident zu werden beginnt, ist die Grundlage aller prosaischen Darstellung des Lebens in unserer Zeit.

195 j

Erfolge

Niemand, und bei keinem Ziele, kann die Arbeit ver­

meiden und der notwendigen Überwindung seiner Trägheit aus dem Wege gehen; führt nun die Mühe bis

zu dem Punkt, daß man klar und offenbar sieht, der erreichte Erfolg könne ganz unmöglich aus dieser er­ klärt werden, sondern es müsse ein Drittes hinzugekom­

men sein, welches ihn erst ermöglichte, dann war die Arbeit nicht umsonst. Bleibt aber die Leistung und das fertige Werkstück im Bewußtsein ganz unser und uns zugehörig, fehlt also jenes früher angedeutete Erstau­

nen über unsre Hervorbringung als über ein uns nicht Gemäßes: dann war die Arbeit vergeblich.

68

1942

Erfolge Es gibt Schein-Erfolge; aber auch die ,wirklichen“ Er­

folge sind Schein, sind ein nur um vieles weiterer illu­ sionärer Raum, der dennoch irgendwo seine harten

faktizitären Grenzen hat, an die man anstößt.

19 j 8

Erfolg des Erfolges

Im ersten Teile unseres Lebens stellen wir uns unter unserer höchsten Leistung immer ein Ergreifen vor. Der

zweite Teil lehrt, daß die entscheidenden Leistungen

nur durch Aus-der-Hand-Lassen vollbracht werden können. Ist das Ergreifen gelungen, so muß das Ausder-Hand-Lassen geübt werden. Darin besteht zum

Beispiel die Leistung eines Künstlers in vorgerückteren

Jahren, welche die Taten seiner Jugend bei weitem an

Emst und Schwierigkeit übertrifft. Jene Leistung erst bringt ihm den Erfolg des Erfolges.

1954

Erinnerung Ich kann mich sinken lassen und nahe liegenbleiben bei

einem konkreten Stück aus den dahingegangenen Jah­ ren, und ich kann in diesen umgehen, als lebten sie

weiter, ich aber sei verstorben und erschiene auf mei­

nen alten Stätten wie ein Geist. 69

1951

Erläuterung

Jede wirkliche Erläuterung eines Sachverhalts führt über die Auffindung eines neuen Begriffes oder min­

destens einer neuen metaphorischen Definition: von da stößt die Erklärung zur Sache selbst herab; anders

wäre jene direkt und hätte die Ebene, auf welcher die zu erklärende Sache angetroffen wurde, garnicht ver­

1957

lassen.

Erotik - intensivste Apperception Sexuelle Erotik ist in allen Fällen unsere intensivste

Form der Apperception; nicht aber soll sie eine Haut sein, die wir uns selbst über die Ohren ziehen und am Ende gar als Kapuze über den ganzen Kopf, wie ein

praeputium capitis, worin dann das caput gänzlich 19J1

verschwindet.

Erotik und Sexualität Erotik kann einsam sein. Die Sexualität entartet so­

fort, wenn sie des Zweiten entbehrt: nicht des J)u*, sondern des Objekts. Auch mit diesem noch bleibt sie solipsistisch. Gemeinschaft entsteht hier nur auf Grund

des Allgemeinen. Die erotische Gemeinschaft aber be­ ruht auf dem Ungemeinen, das jeder Teil auch allein

hat. Deshalb artet sie auch nicht so bald zur Gemein­ heit aus.

19p 7”

Erotik und Sprache Entscheidend im Erotischen sind nicht die nennbaren Bestandstücke irgendeines Typs, sondern etwa eine spezifische Art den Rücken zu neigen, oder die Hand

zu bewegen, die Augenwinkel: dies alles aber geboren aus einer ganz bestimmten Situation, in welcher sich die

Erotik solcher Einzelheiten als Vehikel bemächtigt und

sich gleichsam auf sie schwingt, analog wie sich die ein­

treffende Sprache der atomisiert umherliegenden Wör­ ter bemächtigt und sie an ihre Plätze springen läßt

innerhalb jener neugefundenen Strukturformel in der

organischen Chemie der Sprache, welche ja jeder wirk­

liche Satz darstellt.

19 5 j

Erwachen

Das Erwachen als Reaktion auf eine Traum-Lage, welche das Maß des Erträglichen überschreitet, ist die

Vorformung einer Aktion, die uns im wachen Leben

obliegt, vermittels unseres Intellektes.

1953

Erwachen Wir haben Reichtum in den Träumen. Beim Erwachen machen wir bankrott, nehmen dann ganz geduldig das Leben eines armen Teufels auf uns, und vergessen, daß wir einst bessere Nächte gesehen.

71

1956

Erzählungskunst

Am Rande des Bächleins von Geschehen liegt eine, eben durch das schmale Gerinne, aufgeschlossene Landschaft.

Erzählungskunst Ein Werk der Erzählungskunst ist es um so mehr, je weniger man durch eine Inhaltsangabe davon eine Vor­

1966

stellung geben kann.

Erzählungskunst - ihre Grundbedingung Die Welt hat nur beisammen, wer den Mut aufbringt,

sie auseinanderfallen zu lassen; einschließlich der wer­ ten eigenen Person, versteht sich, und eines von uns ja garnicht erwählten Lebens.

1961

Erziehung Es ist abseitig zu vermeinen, man könne sich in vor­

geschrittenen Jahren nicht mehr selbst erziehen; und die Frage: wozu denn noch? ist schlechthin dumm.

Denn wenn Einer es da fertig brächte, auch nur eine Woche noch auf einer neuen Ebene zu leben: die Be­ mühung hätte ihren Lohn dahin, allein dadurch, daß

er auf solche Weise bewiesen hätte, endlich verstanden

zu haben, was nur durch die Tat bewiesen werden

kann. Außerdem bedarf man allermeist eines ganzen Lebens, um in den Stand gesetzt zu werden, die zer­ 72

störenden Einwirkungen von Eltern und von berufs­ mäßigen Pädagogen, welche ihre Unsinnigkeit an unse­ rer armen Jugend austobten, einigermaßen wieder gut­

zumachen.

Existenz des Nichts

Die Existenz des Nichts ist nur das Runzligwerden der

dem entschwindenden Geiste nachschwindenden Ma­ terie.

Wir sehen, infolge der Enge unseres Blickfeldes im zeitlichen Sinne, diesen gleitenden Vorgang als statisch,

als institutionell. Bewegt sich das geschichtliche Leben, wie ein geist­

reicher Franzose einmal gesagt hat, immer vom événe­ ment (Ereignis) zur institution (Einrichtung), dann

möchte ich diesen dritten Zustand mit einer freien Wortbildung als dévénement bezeichnen.

Ihm entsprechen die Untertatsächlichkeiten, die

mazerierten Konkretionen.

1942

Existenz des Nichts Ich möchte sagen: das Irreale ist jener vom Schöpfer aus Noblesse nicht ganz ausgefüllte Raum der Schöpfung, welcher zur Ermöglichung menschlicher Entscheidungen

erforderlich war: denn der Mensch vermöchte sich in einer bis in’s Letzte von Realität erfüllten Welt infolge der zu hohen Dichte des Lebens garnicht zu bewegen;

7J

auch müßte dabei ein konstanter Wirklichkeitsgrad

herrschen, was ebenfalls mit dem Leben nicht vereinbar wäre. Diesen frei gelassenen Raum jedoch einmal ge­

setzt, müssen wir ihm auch seine spezifische Anschau­

lichkeit zubilligen und damit: die Existenz des Nichts.

ij4« Exzesse

Geistesmechanisch gesehen ist jeder Exzeß jeder Art harmlos im Vergleich zu einer sprachlichen Verfehlung. Der Exzeß ist ein Diätfehler: als entliefe ein Athlet

dem Trainingsquartiere, um mit Weibern zu saufen.

Die Pseudologie und Pseudographie aber ist wider den

Bau unseres Geistes: als vollführte jener Athlet ver­ kehrte Übungen, die notwendig zu einer Zerrung oder

Sehnenscheiden-Entzündung führen müssen.

19j 1

Exzesse Nicht immer wirken Exzesse wie ein reinigendes Ge­

witter und so beinahe als Anfang einer neuen Periode: nur dann, wenn unser Leben über seinen Rand schäumt;

aber es gibt auch Ausschreitungen, die daher kommen,

daß es vom Rande zurückweicht, weil es sich auf­ geweicht, erweicht hat. Die erste Art von Exzessen

setzt Fakten, ist faktizitär, und hat daher oft peinliche

äußere Folgen. Jene zweite Art aber ist phantasmago-

risch, süchtig und lebensflüchtig; sie hat weniger oder selten äußere Folgen, sie neigt nicht eigentlich dazu;

74

jedoch die innere Aushöhlung, die sie nach sich zieht -

wenn einer dann wieder an Rand und Front des Le­ bens vor muß - ist sehr fühlbar: und die Scheu gerade

davor ist’s, welche dem Trinker immer noch ein wei­ teres Glas aufnötigt, den Wollüstling immer eine noch

aufreizendere Möglichkeit suchen läßt und - in perfek­ tester Form - den Morphinisten seine Spritze. Nur die

Exzesse der zweiten Art führen in eine zweite Wirk­

lichkeit. Die der ersten höchstens zu einer Kette von sehr faktischen Randalen und Skandalen. Dazwischen gibt es noch sozusagen neutrale und in­

signifikante Um- und Unfälle, ohne Ziehung in eine der

beiden angedeuteten Richtungen; die Tatsache, daß man etwa zu viel gesoffen hat - was nie ohne Folge­ erscheinungen zweiten und dritten Grades bleibt -

steht dann gleichsam in isolierter Unverständlichkeit da, ein Findling, ein vom niederen Himmel eines ganz gewöhnlichen Tages herabgefallener Meteorit, also ein fast ungeformter aber immerhin recht dichter Patzen

Materie.

1957

Exzesse

Exzesse sind das schlimmste nicht. Sie machen deutlich. Unsere schleichenden Übel aber nebeln allmählich ein.

1964

75

Einträge zu E

76

F

Fähigkeiten,

fremde

Fähigkeiten, die uns fehlen und fremd sind und die

keineswegs in den Riditungen unseres geringsten

Widerstandes und unserer größten Kraft liegen, müssen wir aliozentrisch ehren, nicht abwerten. Denn sie sind

eine Art Wunder des Jenseits im Diesseits.

1958

Familie In der Familie gibt es keine Abgeschlossenheit und ihrer keine Achtung. Sie ist der Persönlichkeit feind.

Denn ihr Ursprung war zwangsläufig Personsverlust:

195 5

ihr vitium orginis.

Familie Das Familienleben beruht letzten Endes nicht auf der

Blutsverwandtschaft - die ist sekundär - sondern auf

den chaotischen Vorgängen der Geschlechtswahl, wo­ durch ganze Gruppen von Leuten zusammengewürfelt

werden, die nichts miteinander zu tun haben, sich aber solches einbilden, vornehmlich, weil jetzt die Umwelt sie als zusammengehörig betrachtet. Damit erst wird

die Familie zum faktischen Zwang.

77

1961

Familie

Eine wirksame sexuelle Apperception führt selbstver­ ständlich dazu, daß man einer jeweils in Frage kom­

menden Pia Maria zahlreiche Kinder macht. Wie denn

anders sollte einer hier über den Berg kommen, den Venusberg, als durch Befahren des Tunnels unten

durch - aber eben nicht hindurch, sondern immer wie­ der zurück und immer neu hinein. So entstehen denn die Familien, das erstaunlichste, was es für mich geben

kann: einfach deshalb, weil ich eine solche Umwelt

nicht gesetzt habe. Nix getaugt, mit zwei Wörtern. Wer sich in Familie begibt, kommt darin um.

1964

Faulheit

Ein Reptil ist nicht faul, wie man angesichts seiner stundenlangen Reglosigkeit wohl vermeinen möchte;

es ist nur sparsam mit seinen Bewegungen. Das ist ein abgründiger Unterschied. Das Reptil ist im Höchstmaß

fleißig, das heißt, es betätigt sich ständig in der Kem-

funktion seines Lebens: dem Lauern. Alle Tiere sind

fleißig und ihrem Schöpfer absolut gehorsam, nicht aus Tugend, sondern weil er sie in unentrinnbarer Weise

dazu anhält. Ein Tier ist nie faul. Nur der Mensch kann von dem ihm Aufgetragenen abfallen, auf der

Seite liegen, anfaulen und endlich selbst zu Abfall werden.



p. s. Vielleicht gibt es Faulheit bei Haustieren; sie

haben bereits Teil am menschlichen Spielraum dazu. 1952

Fehler machen Rutsch* ich aus, ist’s ein Faktum, und kein importantes, solang’ ich nicht in des Rutschens Richtung eine zu

komplettierende Angelegenheit erblicken will, eine res daraus machend, statt des Ausrutschers Spur als Kratzer unfertig stehen zu lassen und mich davon abzuwenden.

1962

Feierlichkeit Feierlichkeit nennt man jenen Nebel, welchen die

Dummheit zu ihrem Schutze erzeugt, wenn sie in die Enge getrieben wird. Es entspricht dies ihrer gefähr­

lichsten Eigenschaft und Stärke: sich selbst niemals

beim Namen zu nennen; hierin besteht ihr wesentlicher Vorsprung vor der Intelligenz.

1942

Feinde Wir müßten noch genauer schauen und auch unsere

Feinde verstehen; wir lösten dann das Rätsel unseres Lebens oder, mindestens, wir umstellten es von allen

Seiten. Der plötzlich aus dem Dickicht fliegende Pfeil ist ein Instrument der Erziehung. Der Standpunkt des

Schützen, die Form gar, in welche er sich selbst faßt und wie er sich versteht, würden uns viel über uns

79

wissen lassen, per exclusionem sozusagen: weil wir da beispielhaft erfahren könnten, wer wir nicht sind. Ein Lehrgang, gewissermaßen ,enfermés à l’extérieur de

notre cage', wie Paul Valéry einmal sagt (Tel Quel).

p. s. Je unverständlicher der Feind ist und je ver­ kehrter und nur auf’s Unwesentliche gerichtet er uns

auffaßt, je weniger zu Tage liegende und gangbare Mo­

tive er dabei hat, desto mehr kann er uns lehren; desto mehr uns auch bestätigen; denn rein physiognomische Feinde hat nicht jeder X-Beliebige aufzuweisen.

1964

Feindschaften und Freundschaften

Töricht werden Zorn, Haß, Wut und Groll der Men­ schen erst dadurch, daß diese nie daran festhalten. Spä­ ter geht’s dann wieder anders herum. Das heißt: sie

haben ihre Feinde situationsgemäß gewählt, nicht aus physiognomisdiem Takte. Dieser hätte seit jeher ein

ganz anderes Bild von Feindschaften und Freundschaf­

ten gezeitigt, eines von größerer Dauer. Die Situatio­

nen aber ändern sich allemal. Nur zäher Grimm, der sie überdauert, kann diskutabel werden; nicht töricht

mehr, sondern bereits verwerflich, und also schon ein mögliches Instrument unseres Heils.

196*

Ferne und Nähe

Wenn nicht vieles fern wäre, und wir könnten alles immer gleich aus der Nähe des Raumes oder auch der

80

Zeit sehen: wir stürben - bei so enormer Oberfläche und Fassungskraft des Aug’s - an der Banalität dieser

Welt.

I9S4

Figur - ihre Erfassung Von dem Punkte, wo der Künstler die Indiskutabilität

seiner ersten Dinglichkeitsreihe erkennt und damit sich selbst dort hinten als Einen, der er nicht mehr ist,

braucht er nur den zu so großer Distanz gespannten Zirkel, der diese Entfernung mißt, aus der Vergangen­ heit hinüberschlagen in das Leben der Leute neben ihm, und er hat den Schritt aus der indiskutabel gewordenen Verfassung seines gewesenen Ich in die so vielfach un­

begreifliche Verfassung des hier und jetzt ihm anwesen­

19 53

den Du vollzogen.

Figuren Alle Figuren müssen als unansprechbar gedacht wer­

den, letzten Endes, weil sie determiniert sind. Nur wer seiner eigenen determinierten Geringfügigkeit gegen­ über nicht mehr possessiv sich verhält, ist ansprechbar.

1954

Ein solcher ist der Autor.

Fluchen,

das

Wer vermöchte zu leugnen, daß unser Leben erleichtert wird, wenn man es mit einer nicht abreißenden Kette

81

von Flüchen ausgesuchtester Art begleitet? Zu solchen

mittlerer Sorte darf man sich jedoch niemals herab­ i90

lassen.

Form

Alles muß seinen Stil haben, kann sonst gamidit bei­

sammenbleiben. ,Verzierungen* sind stärkste Konstruk­ tionsteile des Lebens, in Wahrheit, es sind bis an die Oberfläche durchgeschlagene Kristalle der innewoh­

nenden Form, welche aber den Leib einer Maschine fester zusammenhält wie stählerne Bänder, Nut und Schraube. Anima forma corporis.

1941

Fortschritt

Auf der tiefsten wie auf der höchsten Stufe des Geistes - und dies ist beiden gemeinsam! - hält man das

Seiende, das hier und jetzt so und nicht anders Seiende, für vollkommen legitim. Dort hat man noch lange

nicht begonnen, hier schon lange damit aufgehört, die

Welt verbessern zu wollen. Dazwischen liegt der dilem­ matische Fortschritt als Rückkehr zum Ursprung, ein

Weg, der schließlich in den Urwäldern unserer Groß­

städte endet.

1939

Frau - in der Ehe

Jede verheiratete Frau, sei die Ehe nun ,gut* oder

82

,schlecht*, geht irgendwo, etwa von der Gegend des Nabels abwärts, in ihren Mann über, von welchem sie sich, um bei diesem monströsen Bilde zu bleiben, nur

durch Abschnürung absetzt; sie wächst aus ihm hervor.

Die für das Zustandekommen eines lebensgemäßen, also Symbiose schaffenden Geschlechtsaktes erforder­

liche Verschmelzung wird zum weitaus überwiegenden Teil von der Frau geleistet, zum weitaus geringeren vom Manne. Verschiebt sich dies Verhältnis, dann um

den Preis einer widrigen Personsverfassung des Man­

nes. Die Ehe als Leistung ist nur der Frau möglich. Den Mann macht solche Leistung lächerlich, ja abstoßend, bis zu jenem Grade, wie es etwa der Gatte Rahel

Vamhagens gewesen ist.

1953

Frau und Künstler

Wenn einer Frau der Pegasus vorgeritten wird, ist sie

entzückt und bewundert ihn ehrlich, erst recht dann, Wenn auch Andere, oder gar weiteste Kreise, dazu ap­

plaudieren. Aber die Tatsache, daß er nur gewöhnliche

[Roßäpfel statt goldener fallen läßt, setzt ihren Respekt bedeutend herab, und bald wird sie gemütlich, ja unter

^Umständen sogar ungemütlich werden, und dem Viech Vorhalten, daß es nicht einmal einen Milchwagen zum

Markte zu ziehen vermöge ohne zu bocken; das sei doch wahrlich das mindeste, was man verlangen könne, und

■eder Karrengaul treffe es. Dem Pegasus aber wäre zu

raten, mit der Hinterhand einen kräftigen Ausschlag 83

zu tun, wenn sich Frauenspersonen von hintenherum, nämlich über die Kunstbewunderung, nahen, statt

solche Personen zur Sodomie zu verleiten; wobei wir

es dem Dafürhalten des Lesers überlassen zu entschei­

den, von welcher Seite jene Sodomie dann eigentlich

begangen würde.

19p

Frauen - Freiheit

Die, wie man’s zu nennen pflegt, passive Rolle der

Frauen hört dort auf, wo sie beginnen, sich als das starke Geschlecht zu erweisen: denn niemand wählt

unter ihnen, sondern wird erwählt, und niemand hei­ ratet eine, sondern er wird geheiratet (und nur so geht

die Sache in Ordnung). Was nicht hindert, daß eine Frau dann durchaus wird, was ein Mann, oder etwa

mehrere Männer, aus ihr machen. Aber der Initial-Akt der Wahl liegt bei ihr, und darin besteht und bleibt ihre

Freiheit, mag sie diese späterhin noch so augenschein­ lich verlieren.

Frauen - und

1964

der

Schriftsteller

Frauen gleichen sich dem Mann, den sie lieben, derart

an, daß sie auf der Ebene ihrer ersten Dinglichkeits­ reihe nicht mehr appercipiert werden können. Sie tra­

gen Tarnkappen. Der Mann läßt sich zu erhöhter

Raumverdrängung verleiten, die Möglichkeit der Apperception seiner Partnerin verschwindet vollends, er 84

spielt und spiegelt sich in ihr. So weit sollte sie aber

einen Schriftsteller nicht bringen. Wie, wenn er sich an

ihr per analogiam ein Beispiel nähme? Auch ihn sollte

man ja auf jener früher genannten Ebene garnicht mehr

erblicken können!

1957

Frauen - Umgang mit .Wenn du zum Weibe gehst, vergiß die Peitsche nicht.'

Ganz nett, aber ich möchte empfehlen, daß solche Hel­ den, bei denen das natürliche - wirklich gute und sehr

vielseitig verwendbare! - Instrumentarium derartig massiver Selbstschutz-Ergänzungen bedarf, sich für den

in Rede stehenden Anlaß zu ihrer Verteidigung gleich einen Trommelrevolver anschaffen möchten oder, was das beste wäre, überhaupt einen Strick, vorher.

1942

Freund und Feind Der Schaden, den ein Freund dir zufügt, ist manchmal fast so groß, wie der Nutzen, den ein Feind dir bringt. Aber das unmündige Volk der Gefühle, der Sympa­ thien und Antipathien, hat indessen, überall herumtol­

lend, die Namensschildchen an den richtig angewie­ senen Plätzen vertauscht. Und so ist halt diesen ver­

flixten Fratzen wieder einmal die Camouflage eines Sachverhaltes gelungen, aber auch eine Bereicherung des Lebens, auf ihre Art; wer wollte das leugnen? 194* 85

Freund und Feind

Man hat immer mehr Feinde, als man jemals auch nur zu ahnen vermag: weil alle unsere besten Freunde zeitweis dazu gehören, wenn auch nur für kleinste Strek-

ken.

Freundeskreis

Man kann nicht alle seine Freunde unter einen Hut

bringen. Manche mögen einander eben nicht. Wird dies bei einem Zusammentreffen sichtbar, das man keines­

wegs selbst herbeigeführt hat-also etwa in der Öffent­

lichkeit - so kann man doch fast etwas dem schlechten

Gewissen ähnliches empfinden, wie über einen unaus­ getragenen Gegensatz im eigenen Innern, der sich hier in einer Art von zwangsläufiger doppelter Treulosig­

keit nach außen schlägt. Aber es ist die Integralität kein Maßstab für das Komplexe des Lebens: sondern nur ein falscher Leisten, über den man jenes mitunter

doch schlagen möchte, in simplifizierenden Anwand­ lungen. Ab hier beginnt die Kristallisation des totalen

Staates.

1953

Frömmigkeit

Immer mehr, immer treffendere Pfeile der Ironie und

Heiterkeit schießen in die Blasen eigener Befangnis, die sich, heranschwebend aus dem Nichts, über unseren

Kopf ziehen wollen! Damit die trübe Flüssigkeit einer

86

darin schon wuchernden Sprache, die keine ist, aus­

rinne, und das geplatzte Blendwerk seine Natur erken­

nen lassen muß! Das etwa heißt heute: fromm sein. 1942

Frömmigkeit und Intelligenz Einen rein geistigen Akt bringt seit dem 19. Jahrhun­

dert auch der Idiot fertig: nämlich aus der Kirche aus­ zutreten. Er tut’s mit Stolz, ohne doch die außerordent­ liche Bedeutung dieses allerenden sich wiederholenden

Vorganges zu kennen. Er handelt richtig, präzise rich­ tig sogar. Denn, da die Begriffe .Frömmigkeit* und,In­

telligenz* - welche das 19. Jahrhundert durch Trübung des eigentlichen Sinnes von ,intelligentia* vorüber­

gehend antithetisch trennte - immer mehr und zu­ sehends konvergieren, ja schon bald ihre bevorstehende

Synonymität ahnden lassen, kann er sich, als zur Dummheit entschlossen, anders nicht verhalten: und ar­ beitet so, sich selbst von einem Platze verweisend, auf den er heute nicht gehört, in dankenswerter Weise an der Kirche, an der Zukunft, an der Klärung der Situa­

tion mit, so lange, bis diese letztere es wieder gestattet,

ihm und seinesgleichen sub indulgentia (indulgentia tec-

tulum stultorum - die Milde ist der Dummen Dach!) die Tore neuerlich zu öffnen, als einer jeder Form und Dialektik nun gänzlich verlustig gegangenen Menge.

Ihr mag dann gepredigt werden. 87

1942/43

Früchte des Leides

Störung der tieferen Rhythmik, Schwerbeweglichkeit der Gelenke in der Mechanik des Geistes: derartiges ist zeitweise verhängt, und es wird uns sogar den äuße­ ren Horizont verhängen. Aber was wir gerade in sol­

chen Zeiten - unseren eigentlich bedeutsamen! - an

kleinweisen Überwindungen und an Unentwegtheit zustandebringen, fällt uns erst recht und als gedoppelte und gewichtige Frucht zu, wenn in den tieferen Grün­ den das Leben wieder in seinen Rhythmus findet und

die Gelenke leichter ineinanderspielen: was uns als ebenso unbegreifliches Verhängnis zu gelten hat wie ihre frühere Steifheit. Unsere Hoch-Zeiten des Geistes

jedoch hinterlassen nicht jene Ernten und Reserven, sondern sie liegen, wenden wir uns nach ihnen um, nur

als unbegreifliche Gipfel dahinten, von denen wir her­ abgekommen sind.

i90

Früh-Aufstehen

Ich muß früh aufstehen. Meine Feinde stehen noch früher auf. Man darf sich von den Geschäftemachern

nicht in den A-B-C-Tugenden schon übertreffen lassen. 1955 Frühgeschichte

In der frühen Geschichte eines Landes liegt seine aprio­ rische Geographie und Topographie noch zu Tage, vor

88

aller Siedlungsgeschichte und vor allen Städten, die Grundstimmung, ja, schlechthin wie das Schicksal ge­

sonnen ist in diesem Lande, und zugleich die Materie dieses Schicksals, eine materia signata.

i954

Fussnoten Die Fußnote ist, vom Autor selbst gesetzt, die Bankrott-

Erklärung seines prosaischen Vermögens; anders aber nur ein Klampfel, das ihm ein Anderer angehängt hat,

etwa ein Kommentar, eine pons, die über den Spalt

zwischen zwei Sprachen oder Zeitaltern führt.

89

1949

Einträge zu F

90

G

Ganz und Halb Ganze Sachen sind immer einfach, wie die Wahrheit

selbst. Nur die halben Sachen sind kompliziert.

1965

Gebet Auch die tief geltendste und gewaltig eingreifendste

Übung des Geistes kann gewohnt werden. Sie begrenzt

sich von selbst, weil sie einen fixen Raum in uns er­

richtet. Sie ist dann kein Gang aus dem Gefängnis mehr in eine ganz unbekannte Freiheit. Das Risiko läßt nach. Die Methode erschöpft sich, sobald sie ganz Methode

1953

wird.

Gebildet - Halbgebildet - Ungebildet

Gebildet könnte man jemand nennen, der es ablehnt,

seine jeweilige Arbeitshypothese und selbstverständ­ lich auch seine Kenntnisse ernst zu nehmen.

Halbgebildet erscheint mir, wer seine Arbeitshypo­ these für eine Theorie hält. Ungebildet ist die ganze übrige akademische und

bürgerliche Bagasch, welche nicht einmal im Zimmer

und beim Essen die unappetitlichen Abwässer ihrer Kenntnisse zurückzuhalten vermag.

91

1942

Gedächtnis, schwaches Dem außerordentlich schwachen Gedächtnis vieler Zeit­ genossen hilft die Hölle sofort auf die Beine, wenn die Möglichkeit sich zeigt, Schaden zu stiften oder jemand in eine peinliche Situation zu bringen: jetzt plötzlich

hat sich Jeder Alles ganz genau gemerkt. Man mache

daher aus allem ein Geheimnis oder man habe über­ haupt keines. Das erste schützt vor Maulschuften und

Erpressern, das zweite zieht ihnen gleich den Boden

unter den Füßen weg.

19J3

Gedanken, dumme

Was immer uns antritt und besonders was sich aus innen erhebt, müssen wir bei seiner Faktizität halten. Tatsachen kann man nicht verscheuchen wie Fliegen;

und überdies: wenn wir was nicht wollen, dann gelingt

uns das Abscheiden davon sicherlich besser in Gestalt eines Abstoßens vom festen Ufer des Tatsächlichen, als die Flucht vor Nebeln, die uns doch immer noch

folgen und uns zu umgeben scheinen. Man wende sich

niemals weg von einer Dummheit, die man eben denkt: sondern man kriege sie in die Visierlinie eines auf’s Faktizitäre gerichteten Blickes: sodann drücke man ge­ trost ab. Erlegt, wird uns jene Dummheit was zu sagen haben.

1962

Gefahr Das Nicht-Appercipierte bedroht uns am meisten,

91

das, was unserer Aufmerksamkeit ganz und gar ent­

gangen ist. Es überhöht uns in furchtbarem Überhänge,

von dem herab zu uns steilstes Gefälle herrscht. Wer

alles appercipieren würde dagegen, befände sich mit der Mechanik seines Geistes auf gleicher Ebene mit je­

ner des äußeren Lebens, beide hätten auch die gleiche Dichte. So könnte die Mechanik des äußeren Lebens der des Geistes integriert, anders, die Objekte könnten

durch umfassende Apperception vernichtet und gefahr­ los gemacht werden. All* letzteres ist freilich in An­

näherungswerten nur denkbar.

1957

Gefährdung In den Augenblicken der Unter-Spannung, wo wir das für unser Leben Wichtigste nicht mit der erforderlichen

Anschaulichkeit wissen, beim Durchkreuzen dieser Tiefpunkte, sind wir evident am meisten gefährdet.

Unser Unglück ist dann am größten, wenn wir in­ wärts oder außen an Ränder und Grenzen stoßen, die

unsere Ausgeschlossenheit uns fühlen lassen, sei’s aus einer Landschaft, aus der Kühle, dem Duft und der

Stille eines alten Hauses, oder aus einer Form inneren

harmonischen Behagens, die uns früher einmal bekannt

19$»

war.

Gegenwart Alle Gegenwart ist flach: weil wir den Grad ihrer Er-

93

hebungen nicht kennen, weil uns alles platt vor die Na­

se gesetzt ist, ohne Perspektive, weil wir da garnicht er­

kennen können, was groß oder klein ist. Erst wenn sehr viele Gegenwarten wie Lamellen sich übereinan­

dergelegt haben, erkennen wir ein Größeres, daran,

daß es alle später hinzugekommenen Schichten durch­

wächst.

1953

Gegenwart

Zwischen den oft lückenhaft vergatterten Gegenwärtig­

keiten, treten die Präsenzen von einst, wie sie wirklich gewesen sind, mitunter ganz offenkundig hervor. Es

lehnen Augenblicke von einst am löchrigen Zaune des Jetzt, sie stützen sich ein wenig auf ihn, und sind jeden­ falls mehr anwesend als er selbst, dessen klapprigem

Dasein kaum ein Wesen eignet.

19B

Gegenwart und Vergangenheit

Es bedarf nur eines leichten Auf-Flaumens der Gegen­ wart - als kraulte man den Bauchflaum einer Gans -

und die Vergangenheit wird sichtbar, die unberührte, wie das reine Weiß dicht am warmen Bauche des

Vogels.

195J

Gegenwart und Vergangenheit Die Gegenwart ist nur ein kleines rennendes Lichtlein,

94

das flackert: wahre Erhellung aber kommt stetig aus

19 5 5

dem Vergangenen.

Geistesmechanische Einsichten Die geistesmechanischen Einsichten, welche du ge­

winnst, sind arcana. Bewahre sie kalt im Busen. Sie be­

freien unter anderem deine Talente. Diese, wenn’s sein muß, exerziere der Menge vor. Sie wird’s nicht ver­

übeln.

1952

Gemeinschaft Wer sich, in welcher Weise immer und mit wem immer,

gemein macht, wird unversehens dahin kommen, an einen anderen Menschen Forderungen zu stellen: ihm

wird bang, denn er sieht ein Teil seiner selbst in einer

Hand, die sich, und auch das, was sie jetzt hält, im Handumdrehen ihm entfremdet.

1952

Genetisches Denken Wenn der anhangende Bart von Wurzelfäden des Ge­

wordenseins bei irgendeinem Faktum schon abgefallen

ist: dann wird uns das Phänomen unverständlich, es kann nicht durch Rekapitulation an unser Leben an-

, geschlossen, es kann nur in einer Art von Kurzschluß ihingenommen werden. Das genetische Denken ist dem 'Menschen tief eigentümlich. Es führt dort zu Fehl-

9$

Perspektiven, wo’s rein um das Phänomen geht, wie etwa in der Kunst. Es ist zudem in den seltensten Fäl­

len noch innerhalb der Anschaulichkeit möglich; wir können uns nur einen Bruchteil der Phänomene auf

solche Art rekapitulierend aneignen: meinen aber im

Grunde, daß wir’s bei allen vermögen sollten, daß wir an alles nur auf dem Wege jener Rekapitulation heran­ kommen dürften. Das genetische Denken ist der immer

neu

unternommene

Versuch

einer

Imitation

des

Schöpfungsaktes, und damit nichts anderes als ein Reflex unserer Ebenbildlichkeit.

1952

Genuss und Gewinn

Wenn wir sagen: ah, das war einmal wirklich gut! dann suchen wir uns über die rasche Vergänglichkeit

eines Genusses zu trösten und über die verbleibende Leere hinwegzukommen, wohl wissend, daß uns ein

Gewinn, wie wir ihn da anscheinend buchen, in keiner

Weise verblieben ist.

1946

Geopolitik

Wenn ein Hausmeister oder irgendein Volksschullehrer auf der untersten Stufe der Ausgeronnenheit angekom­

men ist, dann beginnt er sich mit den großen, welt­

bewegenden Fragen zu beschäftigen, was zu imponie­ renden statistischen Kolonnen, zum Denken in großen Zusammenhängen und in umfassenden Gesichtspunk96

ten führt, kurz, zum Großraumdenken. Dieses hat be­ reits zur stillschweigenden Grundvoraussetzung, daß

die sogenannte .Geschichte' sich außerhalb des Men­ schen abspiele, so wie gewisse Teratome das Herz oder

die Eingeweide außerhalb des Körpers haben. Jedoch sind solche Mißgeburten nicht lebensfähig. Und wenn

man gleich glaubt, die Welt auf der Waage zu halten: mit Gewichten von Papiermache ist sie deshalb noch

lange nicht wägbar.

i942

Geräusche Die Stille schäumt auf, wenn man sie teilt, oder sie

wirft Falten wie ein Vorhang: das ist der stets unver­ hältnismäßig gewaltige Effekt kleiner Stimmen und

Geräusche, die in ihr auftreten.

1933

Geräusche

Geräusche haben gutes Gewissen: es sind die Kindertrqmpeten-Stimmen der unschuldigen Physik. Zudem ist, wer naiv lärmt, immer beneidenswert: er scheut

sich nicht, seinen Standort bekanntzugeben, er steht ‘wohlbefindlich in seiner Umwelt.

1959

Geruch

¡Der Geruch, der von Menschen ausgeht, ist der eigent|liehe Sammel-Ausdruck aller ihrer Eigenschaften; er

97

zeigt nämlich an, was ihnen selbstverständlich ist; und leider artet dieses ganze Elend auch noch in Überzeu­

gungen aus: wie die dann sein mögen, kann man in den meisten Fällen sich leicht durch die Nase vorstellen. 1540

Geruch Der Geruch ist unser am meisten mit Metaphysik ge­

ladener Sinn: er konkretisiert sie geradezu. Laß mich eine Prise schnuppern in deinem Zimmer, und ich weiß,

wer du bist.

1911

Geruch Schlechte Gerüche ärgern am meisten, wenn man sie,

und ihre noch schlechtere Herkunft, bereits gut kennt. 19p

Geruch und Gedächtnis

Unsere Begriffe sind in jedem einzelnen Falle ein Rest­ geschmack, den wir von drüben mitgebracht haben. Un­

ser Denken ist verzweifelt rekonstruktiv; und gerade

die Geschmacks- und Geruchs-Erinnerungen lassen sich am schwersten bewußt provozieren: doch bleiben sie immer die wesentlichste Form des Er-innerns. Hinter jedem Geruch ist uns eine platonische Idee verloren ge­

1955

gangen. 98

Geruch und Mief

Gerüche sind zu ertragen, auch die unangenehmen. Nur die Miefe sind erbärmlich und gefährlich. Es sind lauter

Unentschlossenheiten zu Gerüchen. Sie versuchen, die

Gerüche auszuschließen. Die Miefe sind vieldeutig, eine dämonische Aura. Ein rechter Schurke stinkt aus dem

Anditz schon, wenn ich’s nur ansehe. Ein Herr Doktor

aus Steyr oder Vöddabrudc, der künstlerisch tief emp­ findet, sich die Nägel trocken putzt und nach Wien

mulattieren geht, mieft. Zum Leben gehören Gerüche.

Der Mief aber negiert das Leben.

1953

Geschichte

Die Geschichte ist der sozusagen ,geometrische Ort*

aller einmaligen Punkte, welche noch durch eine inner­ halb des Vergleichbaren verlaufende Verbindung mit­ einander in Beziehung gesetzt werden können. Res gestae ineffabiles et comparabiles simul.

1946

Geschichte Das Langweilige am sogenannten geschichtlichen Leben

ist, daß auf jeden Fall immer was vorgehen muß. Da­ durch werden die Geschehnisse entwertet. Wäre dem nicht so, würde zeitweise gamidits vorgehen, so wäre,

daß wieder einmal was geschieht, schon ein Geschehnis.

So aber, wie sich’s verhält, sind die Ereignisse ein aus­ tauschbares Material geworden, in irgendeiner Form

99

der tue das besser auf irgendeine Art allein. Auch hier

wird allerdings die societas daemonum nicht ganz aus­

bleiben. Aber die Schande ist doch geringer.

I9S5

Gesindel

,Ruass‘ (Ruß) ist ein treffender Wiener Ausdruck für

Gesindel jeder Art oder Gesellschaftsschichte. Man

braucht nur im leisesten anstreifen, schon hat man einen Fleck. Hier muß ein so kurzer Prozeß gemacht werden,

daß er beendigt ist, bevor er noch begonnen hat.

1955

Gesinnungen

Gesinnungen entstehen, wenn mehrere Tröpfe auf dem

Boden falscher Sprachlichkeit in einen Tropfen zusam­

menrinnen. Deren viele höhlen zwar noch lange keinen Stein, aber sie füllen verhältnismäßig bald einen Bot­ tich, darin schon allerlei Leben ersaufen kann.

1945

Gesinnungen

Gesinnungen sind immer verletzend und wollen es sein. Es ist der Schorf geronnener Transzendenz, der

sich am andern Menschen reibt.

194$

Gespräche - heute Zerfällt die Welt pluralistisch, dann hat der Dialog

keine Chancen mehr, wenngleich man auf den ersten 102

Blick fast das Gegenteil erwarten mödite. Aber in einer

von gemeinsamer geistiger Aura und Spannung zusam­

mengehaltenen und umschlossenen Welt gibt es eine

begrenzte Zahl unendlich variationsfähiger Antithesen. Im Pluralismus dagegen eine unendliche Zahl von Antithesen, die nichts mit sich anzufangen wissen, also

ohne Variationsfähigkeit sind. Der Dialog geht heute ein durch Atomisierung des Antithetischen, durch des­

sen Zerfall in kleinste Teile: tot capita tot sensus heißt heute nicht .soviel Köpfe soviel Gesinnungen*, sondern, schlimmer: soviel Sinngebungen: jeder hat mindestens

gleich ein Weltbild gebaut. Ein Halb-Bild. Der Dialog

geht also ein an der Halb-Bildung, die vielleicht not­ wendig mit dem Pluralismus verbunden sein mag.

>959

Gewissen Eine Türe fällt fröhlich knallend. Die Physik ist allezeit in ihrem guten Gewissen. Unser schlechtes kommt wohl auch daher, daß wir uns den Institutionen des Lebens -

an deren höchster Realität und Rechtmäßigkeit wir im tiefsten Herzensgründe doch niemals zweifeln - häufig nicht adäquat fühlen. Man könnte sagen: es hängt

etwas über uns und wir stehen nicht richtig drunter;

wäre letzteres der Fall, dann könnten uns audi etwa vom Rande herabbrechende Teile und Trümmer - denn

das Leben kalbt immerfort Trümmer - nicht treffen.

Wir wissen um unseren situs im Leben, jedoch wir wis103

sen nichts Gewisses im einzelnen; nur daß dieser situs etwa bedroht ist, das wissen wir. Und eben dieses Wis­

sen wird Gewissen genannt. Es könnte in so allgemeiner

Form, wie das bei Vielen und häufig anzutreffen ist, kein schlechtes sein, wenn sich die Sache nicht so ver­

hielte, wie dargelegt worden ist. Ein .empfindliches Ge­ wissen*, wie man das zu nennen pflegt, bedarf nicht

immer eines Falles der Sachen in die Konkretion, eines Herab-und-Hereinbrechens, um sich zu regen. Es mel­

det sich lange schon vor dem einzelnen Fall.

Gewissen,

*953

das schlechte

Die letzte und geheimste Gedrücktheit des Menschen,

sein nicht auf Einzelheiten bezogenes sondern habituell schlechtes Gewissen im sublimsten Verstände, jenes, das

Jeder dem Arzte oder irgendeiner autoritären Person,

ja überhaupt dem herantretenden Leben gegenüber mehr oder weniger hat und zugleich unaufhörlich hin­ ter die eigene Fassade drängt: alles das geht zurück auf

clandestinen, im Halbdunkel begangenen ständigen Verrat am Leben, dessen Gesetze man glaubt intra

muros intimissimos aufheben und sich immer wieder eine Schnitte gratis, hintenherum und entwendend ab­

schneiden zu können. Wir haben das Leben an seiner Substanz bestohlen und deshalb ist uns, ihm gegenüber­

gestellt, nicht wohl. Denn es kommt fordern, und je­

denfalls immer mit Recht, und wir wissen das nur zu

1944/45

gut. 104

Gewohnheiten Gewohnheiten sind der Bodensatz unseres Lebens:

rührt man ihn kräftig auf, dann schäumt die Lösung und wird seltsamer Weise klar.

1953

Gewohnheiten

Man kann aus seinen Gewohnheiten springen wie ein Erschreckter aus dem Bett. Nun steht er davor, ihm ist

zunächst nur kühl und er ist verschlafen. Aber er ist

eben doch einmal aufgestanden, und weiterhin wird er

sich damit schon einrichten.

1960

Gewohntheit und Gewohnheit

Gewohntheit der Umgebung ist eine Art äußerer Er­

blindung, Gewohnheit - gute oder schlechte - eine ebensolche innere. In beiden Lagen nimmt man eben

eine Fülle bestehender anderer Möglichkeiten nicht

1954

mehr wahr.

Glatzenwatschen Eine Glatzenwatschen ist eine hochgezielte weiche

Watschen, tunlichst mit nasser Hand (Saug-Watschen).

Sie wird (ohne Angabe von Gründen) solchen alten Männern appliziert, die, bei weißem Haarkranz und

Bart, noch starke Vitalität, Temperament in ihrer Mei-

IOJ

nungsäußerung und persönliches Profil zeigen. Die

Glatzenwatschen dient vorwiegend der Dämpfung

akademischer Würdenträger.

1960

Grammatik

Grammatik ist die Wissenschaft von den in der Che­

mie der Sprache möglichen Verbindungen zwischen Wörtern, Interpunktionen und Sätzen. Jeder mögliche Satz ist so etwas wie eine neugefun­ dene Strukturformel.

Einfache Formeln, welche nur die Bestandteile an­ zeigen, kommen noch in der Wortlehre und Etymologie

1943

vor.

Grammatik Grammatik ist die Kunst des vollkommensten Aus­

drucks bei geringster Auffälligkeit.

1943

Grausamkeit

Grausamkeit kann auf Raffinement, auf Vorstellungs­ kraft und Einfühlung zurückgehen; oder auf das ge­ naue Gegenteil davon, auf Unanschaulichkeit also, wie bei den Massenmorden neuzeitlicher Diktaturen: die

veramtete Grausamkeit im minder wirklichen Raume. I9J2

106

Grenzen,

unsere

In der Jugend halten wir unsere Begabungen für gren­

zenlos und universal. Im Mannesalter ahnen wir unsere Grenzen und vermeinen auch manchmal an sie zu

stoßen. Im Greisenalter erkennen wir erst, wie vielfach wir unsere Grenzen überschritten hatten, und daß es

mit ganz unleugbarem Erfolge geschah.

1953

Grotesken

Alle grotesken Veranstaltungen sind nichts als Ver­

suche, sich wie eine Stechmücke auf den Rücken des Lebens zu setzen, wo man dessen Gewicht nicht mehr spürt und selbst so gut wie keines mehr hat.

1936

Grundgeflecht

Jeder Augenblick des Lebens, auch mit seinem Durch­

kreuztsein von sogenannten Trivialitäten im hellsten Licht des Bewußtseins und des Tages, steht auf einem

Grundgeflecht des

Sich-Beflndens,

welches

letzten

Endes allein das heuristische Prinzip abgeben kann

zum eigentlichen Erkennen der jetzt seienden Lebens­

spanne und der Situation. Jede .Peilung* muß an dieses

Grundgeflecht rühren, irgendeinen seiner Knoten zu

berühren trachten, die sich dem lotrecht unter die eige­ nen Sohlen hinabgesenkten Blick durchaus nur in der aller-henidärsten Form und in schummrigem Lichte

darbieten. Es sind ruppige Heniden, ohne Titel oder i°7

Richtungsweiser, ohne Programmatik und Ideologie, und es gehört schon was dazu, den Blick auf sie fixiert zu halten und sie für den einzigen Punkt zu erachten,

von dem her Aufschlüsse und Winke erwartet werden dürfen - wenn zugleich einem diese letzteren, von kur­ zer und bewußter Herkunft, Reflexe von allen täg­ lichen Edeen und Kanten, nur so um Nas’ und Ohren

1942

summen.

Grundgeflecht Es bestehen überall als wesentlich und grundlegend

ganz inoffizielle Beziehungen zwischen Urtem, Men­ schen, Wörtern, Dingen und Vorstellungen, welche das eigentliche Geweb’ des Lebens ausmachen, ohne wel­ ches Geweb’ wir nicht wären - aber gerade von der

diesbezüglichen Histologie will niemand was wissen,

sondern es ist uns leichter und hat mehr decor, wenn’s in den gängigen und entschuldigenden Namen ein Unterkommen findet, wonach wir ständig streben: und

wenn’s so weit ist, dann widerstehen wir nicht, son­ dern lassen alles gerne in diese Gefäße gleiten.

1942

Gut und Böse Wer Gut und Bös, Plus und Minus, Weiß und Schwarz

nicht schattiert und raffiniert, sondern vermeint, daß

sich uns beides wirklich und statisch zu fassen geben kann, dem bleiben vom verbrannten Haus (das doch 108

menschlich war) nur zwei gewinkelte Dachsparren übrig, zwischen welchen das Leben längst in die Asche

gefallen ist. Scientes bonum et malum. Wer Gut und Bös, Weiß und Schwarz über das verstattete Maß hinaus sondert, dem zerreißt die umfan­

gende Gashülle seiner Welt und durch den sich öffnen­

den Spalt stürzt das Leben als formlose Frühgeburt in die Kälte des leeren Raums.

Der Mensch wird also gezwungen, korrelative Be­ griffe in Bezug aufeinander in Sichtweite zu halten und somit als relativ, non sciens bonum et malum.

Güte - aus

1941

der Intelligenz

Man muß dieses Gebreche und Gescherbe der eigenen

Schwächlichkeit nur deutlich gesehen haben, dann stellt sich die Nachsicht gegen Andere von selbst ein und

schließlich auch die Güte, nicht aus dem nahen Depot der eigenen und nie ganz verläßlichen Gutmütigkeit rasch entnommen, sondern von weiter her geholt, näm­

lich aus der Intelligenz, welche den Scherbenberg von Unzulänglichkeiten erkennt, in welchem Jeder haust

und durch den er seine Maulwurfsgänge graben muß. 1958

109

Einträge zu G

I IO

H Haltung Haltung hat mit Vorläufigkeit nichts zu tun. Sie kann nie Vorsatz sein, nie als ein Geplantes erreicht werden.

Ihre Existential-Form ist die anschauliche Darstellung, mitten im Komplexen des Lebens. Sie ist die vollkom­ menste Synthese zwischen Eigenschaft und Überzeu­

gung, welche gedacht werden könnte.

1941

Harmlosigkeit

Es werden manche geliebt um ihrer Harmlosigkeit willen; aber wenn sie mehr und mehr ohne Gegen­ wehr zurückweichen, werden sie am Ende doch miß­ handelt, und verfallen arm ihrer eigenen Bitterkeit.

Ihre Haltung beruhte nicht auf einer Entscheidung, daher mangelte ihr die zurückdrängende Kraft, die auch ohne Waffen Achtung erzwingt.

1958

Hausmeister Der Hausmeister kann, welthistorisch gesehen, was seine eigentliche Bedeutung betrifft, erst heute in vol­ lem Umfange, wie man zu sagen pflegt (aber ich be­

haupte durchaus nicht, daß alle Hausmeister korpulent

sein müßten), erkannt werden. Er ist vor allem: Be111

Schließer (des Äons), zweitens Kenner: nämlich Einer,

der sich auskennt bei sämtlichen Parteien des Hauses,

die es in den verschiedenen Stockwerken bewohnen; drittens: Nutznießer dieser Parteien, für deren Ge­

samtheit er auch den merkwürdigen Namen .Kultur*

erfunden hat. Kultur ist hier gleichbedeutend mit Gehobenheit, was so viel heißt, als daß sie sich im ersten, zweiten, dritten etc. Stock abspielt, ohne jedoch den

Betrieb in der Portierloge zu stören (obwohl man von

allem Kenntnis hat), insbesondere aber deren Geruch

nicht andersartig zu durchkreuzen.

1942

Hausmeister - sein Begriff Der Hausmeister kann nur als einer Gemeinschaft von

Mietern insitzend gedacht werden. Es gibt allerlei mit Hausverwaltung und Hauspflege befaßte Organisatio­

nen und Organe, ganze Bureaux, und in diesen sogar

Juristen; ihnen allen eignet jedoch kein conciergischer

Charakter, weil hier das Insitzen fehlt, das allein auch die ringweise und wellenweise Ausbreitung des foetor conciergicus ermöglicht, welcher als hausmeist’risches

Centralphänomen anzusehen ist.

1964

Hausmeister - Vermehrung Viele Arten von Lebewesen niederster Stufe vermehren

sich durch einfache Spaltung. Eine metastatisch-ata­ vistische Form derselben wird auch bei Warmblütern

112

nd sogar bei einzelnen Menschenrassen, die auf troglo-

t

ytischer Stufe verblieben sind, beobachtet. Die Pari­

ser und Wiener Hausmeister etwa metastasieren bei denjenigen Mietern, die lange im Hause wohnen und

zu welchen ein amicales Verhältnis entstanden ist, in so weitgehender Weise, daß in einzelnen Wiener Zins­ häusern bei ein und derselben Hausmeisterin acht bis

zehn Paar Augen beziehungsweise Ohren festgestellt werden konnten (multiplicatio conciergica). Die Zahl

der weiblichen Individuen, welche conciergisdie Meta­ stasen zeigten, überwog dabei die der männlichen bei

1958

weitem.

Hausmeistergeruch Der Hausmeistergeruch (foetor conciergicus) wird in

Städten mit entwickeltem Hausmeisterwesen, wie etwa Paris oder Wien, in den Mietshäusern zur schlimmen

Plage, der aber wirksam nicht begegnet werden kann, solange kein Gesetz die Mieter berechtigt, im Falle des Spürbarwerdens von foetor c. gegen den Hausmeister

und seine Familie brachial vorzugehen. Zwar kann

foetor c. nicht vorsätzlich und willentlich erzeugt wer­

den. Jedoch lehrt die Erfahrung, daß bei Schockwir­ kungen, z. B. kräftigen Prügeln, die Absonderung aus­

setzt. Fast alle aus Hausmeisterfamilien stammenden Individuen erwiesen sich bei der Untersuchung als zur

Ausscheidung von foetor c. ständig disponiert. ”3

1952

Hausmeisterphilosophie Es gibt eine besonders ordinäre und billige Art, gegen

das Egozentrische Positur zu nehmen, wobei Einer, in

anscheinender Großzügigkeit und Weite des Blicks, sich in Wahrheit nur vor der Penibilität seiner eigentlichen

Pflichten seitwärts in die Büsche schlägt: ,Man darf das einzelne Leben und auch sein eigenes nicht so wichtig

und tragisch nehmen. Man denke an die Millionen von Schicksalen, an die Jahrhunderte, und daran, daß in 50 Jahren dies alles, was Einen jetzt bewegt und erregt,

vollkommen gleichgültig sein wird ... * etc. etc. Das ist

der Versuch, Götter und Menschen mit der reinen Quan­ tität zu erschlagen, vor der allein sich diese Frechheit als .Stäubchen* zu fühlen vermag, statt vor der höch­

sten, unendlichen qualitas als geschöpflich und neben­ sächlich. Die reine Quantität jedoch kann immer noch größer gedacht werden, das ist wahrlich kein Kunst­ stück; und eben darum bleibt sie ewig klein, klein selbst

im Vergleich zu mir einzelnem winzigen .Menschlein*.

1941

Heil und Wohl

Heil und Wohl sind Parallelen, die sich im Unendlichen schneiden. Nicht selten aber schlägt im Endlichen schon ein überspringender Funke zwischen beiden die Brücke

eines gnädigen Kurzschlusses.

114

1942

Heiraten

Heiraten ist der immer neue männliche Versuch, das

Unordenbare zu ordnen; bei diesem Anlasse wird der jeweils in Frage kommenden Frau noch bessere Ge­

legenheit gemacht, das ewig gleiche Chaos in’s Leben

ihres Mannes einzuschleppen; womit der Ordnungs­ versuch auf Null ausgeht.

102

Herkunft und Hinkunft

Woher Einer kommt, ist bei nahezu Allen von aller-

größester Wichtigkeit. Wohin Einer geht, ist nur bei ganz Vereinzelten von

einer die Herkunft überwiegenden Bedeutung.

i942

Herrenschneider

Ein Schriftsteller muß so sein wie die großen Herren­ schneider, welche einem Menschen mit liebevoll um­ fassendem Blick ein G’wand an den Leib dichten, das aus der Krepierlhaftigkeit des betreffenden Schlaf­

wagengent einen leicht geknickten Charme liebens­ würdigster Zerbröckelung oder aus der aufdringlichen

Lakelhaftigkeit eines oberösterreichischen Brontosaurus

so was wie gelassene Wucht macht. Aber sie selbst, diese

i’i

Meister ihres Fachs, diese erfolgreichen Ärzte an den

Gebrechen unzulänglicher Form, diese Therapeuten des

Außenbilds - sie bieten selbst bezeichnenderweise fast überhaupt keines, sie verschwinden tief in unbedeu­

tende und spießbürgerliche Anzüge hinein, der Rock

meistens von einem anderen genommen als die Hose,

und in irgendeiner zufälligen und rein aus Abnützungs-

Utilität kommenden Zusammenstellung graubraun kuttenhafter Farbe. Die äußere Brusttasche ist vom Gebrauch erweitert. Bleistift und Block oder sonst

etwas dieser Art nimmt dort den für ein luftiges Faci-

nettl gedachten Platz ein. Also der Herrenschneider in seinem Bonjourl mit dem zusammengerollten Zenti­

metermaß sei unser metaphorisches Vorbild! Er sieht

sogleich, was man aus irgendeinem Menschen machen könnte und was dieser auch wirklich aus sich machen

sollte, er sieht weit in dessen noch leere Perspektiven hinaus und tief in ihn hinein, wo die unerfüllte und

unerlöste Figur steckt: die will er herausbringen. Die

großen Schneider scheinen frenetische Verehrer der Skizzenhandschrift ihres Schöpfers zu sein: und sie

wollen diese in allen Gesellschaften und auf allen Fünf-

Uhr-Th6s ordentlich durchgearbeitet sehen. Ich würde so gerne das Geschlecht der Herrenschneider vor der

erdrückenden Übermacht Johann Nestroy’s retten, dem offenbar dasjenige an ihnen (und den Friseuren, Fai­

seuren und Schriftstellern), was man ,Die Wichtigtuerei als eine schöne Kunst betrieben* nennen könnte, auf die Nerven gegangen ist. Aber ich bin noch immer nicht 116

fähig, mich von der axiomatischen Kraft jenes Lehr­ satzes frei zu machen, der uns da sagt, das Maßneh­ men sei ein altes Vorurteil, welches noch keinen Schnei­

dermeister verhindert hat, jedes neue G’wand zu ver­ 1943

pfuschen.

Hilfe

Man kann niemandem helfen, man müßte ihn denn

ganz auseinandernehmen; da man ihn aber nicht wie­ der zusammenzusetzen vermöchte, so rückt jeder hel­

fende personelle Eingriff unter die Kategorie des gei­

stesmechanisch und lebensgemäß schlechthin Unstatt­

1957

haften.

Historische Zeiten Die Vergangenheit muß sich prall vor uns aufstellen,

wie ein geil wucherndes Gewächs, ja geradezu wie in Erektion. Das Desaveu, welches ihr später, schon im

Kostümstadium, gleich einem Faschingshut aufgesetzt worden ist, hat mit ihrer Existenz als Gegenwart nicht das mindeste zu tun und stand zu jener Zeit bloß in der

Möglichkeit, die erst heute als eine unausbleibliche Ver­

wirklichung erscheint, und uns mit ihrer Erstarrungs­ form die Sicht auf den damals durchaus noch plastischen

19 51

Zustand verstellt. 117

Höflichkeit

Unter Höflichkeit verstehe ich die Übung, mich selbst jederzeit einem Anderen aus dem Wege zu räumen.

Deshalb ist das Zurücktreten vor der Tür ein Symbol, das alle anderen Formen der Höflichkeit einschließt. IJ42

Höhe des Lebens Die Höhe eines Lebens wird nicht erreicht, damit man

sich hinaufsetzt, sondern damit man in besserer Luft 1933

weitergeht.

Hölle Eine von uns Menschen bestens gemachte Welt, die uns so unentrinnbar dann umschließen würde, wie es jetzt

die von uns nicht geschaffene tut, wäre ein Vorgebilde

der Hölle, obwohl selbst im totalen Staate das Ge­ wachsene durch das Gemachte nie ganz verdrängt wer­ den kann; beide umschließen das Leben dort in Schalen,

die jedoch so verschoben sind, daß ihre Mittelpunkte nie zusammenfallen können; immer bleibt dabei die Schale der Gewachsenheit gleichwohl die umfassendste und hinterste, welche alles Gemachte mäßigt; diese jedoch einmal weggedacht, wird das Epi-Zentrum der

Gemachtheit zum alleinigen Zentrum: und die Hölle ist perfekt.

1933

118

Hypochondrie

Der letzte Grund aller Hypochondrie ist eine in’s Medi­ zinische hinabgerutschte transzendentale Angst: näm­

lich vor dem endgültigen Verlust der physischen Voll­ kommenheit - oder wenigstens Vollständigkeit, Kom­ plettheit - als Ebenbild Gottes. Aus dieser Angst ent­ springt so eine Art kleiner Panik, in welcher sich der Betroffene mit seinem vermeintlichen Übel vom übri­

gen Leben separiert, jenes bepflegend, und nun freilich

geplagt von einer heillosen und haarspalterischen Wahrscheinlichkeitslogik, deren Assoziationen vom Hundertsten in’s Tausendste gehen, oder vielmehr be­

schleunigt fallen, weil sie durch die Präsenz des Lebens­

ganzen nicht mehr gehemmt, gebremst oder ausgewogen werden: die Hypochondrie ist eine echte Geisteskrank­

1943

heit.

119

Einträge zu H

I 20

I

Ich und Du

Ich will dich sehen so deutlich und detailliert, wie ich

mich selbst kenne, und mit der Schonung, ja Kritik­ losigkeit, die ich mir selbst vergönne. Ich will mich

selbst nicht weniger deutlich sehen, aber mit jener leichten Bereitsdiaft zu einem Todesurteil, wie ich sie dir gegenüber stets im Handgelenk habe.

1942

Ideologie

Das Ideologische ist letztlich der Meinung, sciens bonum et malum zu sein und das aus solchem scire sich ergebende Weltgericht in vereinfachtem und abgekürz­

tem Verfahren sogleich und allgemein durchführen zu müssen. Daher führt ausnahmslos jede Ideologie zur

Schlächterei; selbst eine solche von christlicher Abkunft oder Herabkunft oder eigentlich: Herabgekommenheit.

Hier zuletzt ist zwischen Calvinismus und Leninismus

kein Unterschied mehr.

1941

Ideologie

Als ideologisch erscheint in unserem Leben derjenige Teil unserer Überzeugungen, den wir nicht mehr nach

innen zurückwenden und also in Eigenschaften ver121

wandeln konnten. Waren jene Überzeugungen gegen

die Natur des Lebens selbst gerichtet, dann lag der Fall

von vornherein hoffnungslos und das Ganze blieb un­ verwandelt, uns durch sein Übergewicht aus dem eigentlich lebendigen in einen bisher ungekannten Zu­

stand geminderter Anschaulichkeit reißend, während

rückwärts am Horizont das Leben selbst zum blassen

1942

Nachbilde schwand.

Idiotische,

das

- sein Wert

Wer nicht bereit ist, alles bestechende Inventar des Geistes aufzugeben um der Einblicke willen, die man

nur vom Rande eines halbidiotischen Zustandes haben kann: dem ist die Repräsentation des Geistes wichtiger als dieser selbst, der gehört als Stammgast oder als

Redner auf die Tagungen, welche das sogenannte kul­ turelle Leben uns laufend liefert.

1953

Impotenz Dem Impotenten fehlt nicht mehr der geschlechtliche

Umgang. Sondern er vermißt in unbenannter Weise eine Quelle störender Belebung.

1965

Indirekt - auch im Genüsse

Man kann nichts genießen, worauf man geradezu seine Aufmerksamkeit richtet: eine Landschaft geht tief in 122

uns ein, wenn ganz andere Gedanken uns noch tiefer bewegen; und eine treffliche Mahlzeit genießt sich am

besten durch den Schleier angenehmer Gesellschaft und belebten Gespräches. Aber geradezu am Zipfel des Ge­ nusses etwas festhalten, das vermögen wir nicht. Es

muß zu einem Anderen hinzugegeben werden.

19 5 3

Inspiration

Man darf keineswegs vermeinen, immerzu produktiv und inspiriert sein zu können oder gar zu sollen. Ein

solcher Zustand - bei großen Genies, deren Leben rasch und kurz ablief, ist er anzutreffen - wäre kaum ein Leben zu nennen, sondern eher ein Dahintaumeln, die Faust des Gotts immerwährend im Genicke: nie könn­

ten auf solche Weise geistesmechanische Erfahrungen

gemacht, die tätige Leere geübt, das Warten und end­ liche Eintreffen erlebt werden. Gültig und beispielhaft

ist immer nur unser Verhalten vor dem Geschenk -

damit uns dieses nicht zum Gericht werde; trifft’s aber ein, so gibt es doch allemal eine Art Panik auf höherer Ebene, in welcher nur die durch Einsicht tief eingespur­

ten und bereits zu Eigenschaften gewordenen Tugen­

den - auch die technischen Tugenden solchen Grades -

noch funktionieren: sie allein versichern uns einer rei­ nen Gangart auch bei verhängten Zügeln. Anders: der Griff des Gotts bringt nur an den Tag, was einer vor­

her schon geworden ist: nämlich bereit, bereitet, gut zu­

geritten von ihm selbst, als seinem eigenen Bereiter.

i?J7 Intelligenz Das mögliche und daher geforderte Werk jedes Lebens

ist das Freikriegen der Intelligenz durch Hereinbrechen

eines Meeres von Unwissenheit, welches uns einfach in

den Blick wogt, so daß wir davon nicht absehen und

weiter unsere Mäuerchen machen können.

195$

Intelligenz und Altruismus Die Aktion einer überlegenen Intelligenz gewinnt oft

den Anschein der Selbstlosigkeit, weil sie vom wirk­ lichen Denken herkommt, welches immer uninteressiert

und also im gewöhnlichen Sinne selbstlos ist, und weil dieses Denken und jene Aktion an der ersten Dinglich­ keitsreihe ihres Trägers nicht mehr festgewachsen sind,

was sonst beim Denken und Tun fast aller Menschen der Fall ist, weil zwischen sie selbst und ihre bestimmenden

Ausgangspunkte sich niemals ein Drittes allmählich ein­ schob, das sie von ihrem ersten und schlechthin über­ nommenen Eigentume getrennt hätte.

19$;

Intelligenz - ihre Ausbreitung Die sich ausbreitende Intelligenz ist wie ein Gas. Sie

dringt zuletzt in die feinsten Ritzen der Psycho-Physis 124

und vernichtet dort unsere wanzenplatte Dummheit,

mag sich die noch so tief verschloffen haben.

1915

Intelligenz - ihr Erwerb

Das Erwerben von Intelligenz wird nicht vollzogen durdi ein Hinzu-Gewinnen, sondern wesentlich durch Aufgeben und Fallen-Lassen. Es weist dieser geistes­

mechanische Sachverhalt darauf hin, daß der Mensdi, in seiner ursprünglichen Anlage intelligent geschaffen, diesen überlagerten Kern nur freizulegen hat.

19 55

Intelligenz - ihre Verfassung

Jederzeit besuchsfähig zu sein: dies ist das comme-il19 5 3

faut der Intelligenz.

Intelligenz - Verpflichtung

zur

Wir wissen nicht, was wir wirklich wünschen, was wir

eigentlich angefangen haben, noch was wir damit letzt­ hin meinten. Gleichwohl sagten die Alten: quidquid agis prudenter agas et respice finem. Die Verpflichtung

zur Intelligenz ist dem Menschen in seine chaotische

Verfassung gelegt wie ein Demantstein in eine Schüssel voll Kraut und Rüben.

i9$i

Irdisches Leben - Abwendung davon Die sogenannte ,Abwendung vom Irdischen* bedeutet

in Wirklichkeit dessen Hypostasierung. Denn wenn

das ewige Heil oder Unheil hier auf Erden und in die­ sen wenigen Jährchen gewirkt werden soll und kann, dann wird ja in der ganzen darauf folgenden Ewigkeit

nichts mehr anzutreffen sein, was hinsichtlich der Ent­ scheidungswucht mit unserem Erdenleben vergleichbar 1953

wäre.

Ironie Die Ironie ist unser einziges Mittel, um bei Verlust der

geistigen Spannung nicht in die Dummheit auszuarten. Sie hält diese sehenden Aug’s als einen Punkt beisam­ men, in welchen sie ihre Zirkelspitze setzt und verhin­

dert so, daß jener Punkt zu einem Klecks werde, der

mit dem übrigen Leben verfließt. Die Ironie ist der allein befähigte Platzhalter des Geistes in dessen Ab­

wesenheit und also sein Kommissär in den weiten Be­ reichen unsrer Schwäche und Schwachheit.

1943

Ironie Ironie ist unser Verhalten (im Doppelsinne des Wor­ tes) dem Rest von Figur in uns gegenüber, die wir nicht

haben werden können.

196)

126

Irävege Man verriß oft das Steuer und nahm nicht, was sich

bot - weil es auf einem fälschlich beschrittenen Wege

uns begegnete. Das ist die eigentliche Bestrafung auf bösen Wegen, daß wir dort auch ein begegnendes

Gutes, das sich uns gönnen würde, nicht ergreifen kön­ nen. Wir haben plötzlich keine Hände. Und bleiben

auf diese (irgendwie an die Hölle gemahnende) Art

davor bewahrt, am Irrweg auch noch festgelegt zu werden.

1954

Einträge zu I

128

J Jenseits

Unser letztes und großes Abenteuer ist das Jenseits,

vorgeformt durch viele Jenseits im Diesseits, durch die wir schon jetzt und hier tauchen: das, und nichts an­

deres haben uns des Lebens wechselnde Sphären, Atmo­

sphären und Befangenheiten zu lehren. Also, letzten Endes: das Abschiednehmen. Wir lernen es lebenslang

und mangelhaft und darum sterben wir dann ,den schweren, schweren Tod*, wie ihn J. P. Jacobsen am

Ende von ,Niels Lyhne' nennt.

1966

Jenseits im Diesseits

Das Jenseits im Diesseits ist ein Grundprinzip allen Lebens und Sterbens; es enthält auch die Beneficien des

Enthobenwerdens.

19s6

Jetzt

Jetzt: das ist Sichtbarwerden aller Gesetze zugleich.

Die Lage ist immer legal. Sie will appercipiert, nicht

kritisiert sein; und sie wird sichtbar im Zerfall der fal­ schen Ganzheiten. Nur wer den Mut hat, jene zerfallen

zu lassen in der unvorgeordneten Apperceptivität, wird 129

den Grund jeder Lage - im doppelten Sinne - er­ 1961

blicken.

Journalist, der

Ein Journalist ist ein Mensch, der immer etwas Wichti­

geres zu tun hat und daher nie zum Wichtigen kommt. i9J3 Journalistik

Journalistik entsteht durch die Angleichung eines

Autors an die in der Sprache seines Zeitalters jeweils herrschende Art literarischer Herabgekommenheit.

1950 Jugend - ihre Aufgabe

Es kommt nur darauf an, daß man’s so weit aushält:

seine schwersten Irrtümer zu überleben nämlich. In der zeitlichen Verlängerung müßte jeder geistesmechanisch

normal Veranlagte zum Genius werden, durch Ein­ sicht; jedoch tritt hier eben die zunehmende Gleich­ gültigkeit gegen alles und jedes dazwischen, welche

dem höheren Lebensalter allmählich sich beimischt; woraus resultiert, daß wir unsere genialischen Ge­ schäfte in der Jugend abzumachen haben. Späterhin vermöchte das ein Jeder, wenn er nur nicht verblödete.

Das Genie kann man nicht ersitzen, wie die Beamten

ihre Pension.

19p

130

Jugend und Modernität

Jede Jugend eines beliebigen Zeitalters hat so weit Zu­ kunft, als bei ihrem naturgemäßen Verfallen an die

jeweilige Modernität ihrer Jahre ein davon unberühr­

ter Rest übrig bleibt. Die in einer Jugend auftretenden Frauen nehmen dabei immer die Partei des Verfallens und bilden - infolge ihrer vorbehaltslosen Zeitgemäßheit - dessen anschauliches Schwergewicht.

¡957

Einträge zu J

K Kenntnisse

Wissen ist selbstleuchtend, Fixstern, Sonne. Das Wissen geht aus Erlebnissen hervor und enthält

sie. Kenntnisse sind unter Umständen beleuchtet, Pla­

neten. Die Merkfähigkeit behält sie.

Die Hausmeister und die Techniker verwechseln die

Fixsterne mit den Planeten.

1941

Kenntnisse Wissen verhält sich zu den Kenntnissen wie der süße

Fliegenleim zu den Fliegen: seine Klebefähigkeit ist enorm und er lockt ganze Sdiwärme an.

Dies ist eines der Geheimnisse aller Universalität;

und nebenbei auch die Erklärung der Tatsache, daß jeder wirkliche Schriftsteller einen Polyhistor abgeben könnte, das heißt, daß er enorme Kenntnisse besitzt,

welche zum Teil schon vertrocknen, zum Teil noch

zappeln, zum Teil überhaupt noch in der Luft herum­ fliegen.

1942

Kinderspiele Die Kinderspiele erfassen die Essenz und euphorische

B3

Lust aller Erwachsenen-Tätigkeiten: diese sind in den Spielen gleichsam geläutert und belebt dargestellt.

Kindheit Das Unglück und das Glück der Kinderjahre besteht

gleichermaßen in nichts anderem als in ihrer Ein­

geschlossenheit: und das heißt Ausgeschlossenheit von

jeder Möglichkeit des Vergleichens.

’953

Kindheit und Tod

Am festesten gründet in uns doch die Gegend der Kind­ heit, weil dieser die größte Intensität der Appercep­

tion und damit die größte Ausführlichkeit eignete. Was dann noch hinzukam, war ein chaotisch uns begrenzen­

der Okeanos von wesentlich geringerer Dichte. Wir

schweben wie ein Saturn-Ring um unsere Kindheit, wir kreisen um sie, wie die blassen nebligen Kometen um die Sonne, immer wieder in elliptoider Bahn sich zu ihr zurückwendend. Kindheit und Tod sind die beiden Brennpunkte jedes Lebens. Sie bestimmen seine Bahn-

Elemente. Und beide Punkte stehen immer leuchtend

in dem samtenen Dunkel unseres Innern.

1953

Kitsch Kitsch ist nichts anderes als die Erfüllung einer einst

vom Geiste ausgestalteten Formenwelt mit den hinein-

’34

geschmuggelten Inhalten der Vorlieben und des Cha-

rakteriell-Determinierten, das auf solchem kurzen

Wege den Glanz einer höheren Weihe erschleichen möchte.

19 p

Klein und Gross

Wer nicht ganz klein war, der kann nie ganz groß wer­

den. Das gilt für das männliche Glied genau so wie für

die persönliche Entwicklung des Menschen.

1961

Kollektiv-Biographien

Vor dem Leben in ein Gefängnis fliehen, das ist die Biographie der meisten, und solch ein Leben reicht grad

aus, um den Kerker zu erbauen, darin es am Ende sitzt. Manche jedoch beziehen in der Jugend schon auf dem

Wege über Mord und Raub jene Zellen, die, von an­ deren gebaut, bereitstehen.

1953

Komposition Die Komposition eines Romanes muß ständig bedroht sein von Einbrüchen aus dem Ganzen des Lebens, also

von ihrer Auflösung. Dazwischen hält sich unbegreif­

licherweise dasjenige, was wir Handlung nennen: und enthält doch zugleich wieder jene Auflösung in sich. 1963

Konkretionen Da liegt’s: direkt im Griff. Konkretionen können fast

schamlos wirken, und das manifeste Leben - welches

nicht weniger rätselhaft bleibt, als das noch in der Mög­ lichkeit hangende war - schlägt uns mit dem Ahnungs­ vermögen viele unserer besten und geheimsten Kräfte

und Waffen aus der Hand, und lümmelt uns vor allem

dadurch an, daß es wohl zu verstehen gibt, wir hätten jetzt garkeine Möglichkeit mehr, uns zu entscheiden.

Und, wirklich: in allen solchen Fällen haben wir sie

19 J 5

längst verspielt.

Konzilianz Ein gut Teil unserer schwersten Fehler geschah um des

augenblicklichen lieben Friedens willen. Merke: die Konzilianz ist keine allgemein giltige Heilslehre, und

keineswegs ein Schlüssel, der zum Aufschließen jeder

Lage paßt: macht sie uns augenblicklich auch, wenn wir sie wieder einmal geleistet und erfüllt haben, ein gutes Gewissen: so kann aus ihr dermaleinst ein um so

schlechteres entstehen.

1956

Konzilianz

Einmal einen Standpunkt mit dem ganzen Sein be­ zogen: schon ist man konziliant. Die Ideologen sind

nur unduldsam, weil sie etwas meinen, was man nicht sein kann.

1964

136

Kräfte - ihre Ökonomie In der Richtung des geringsten Widerstandes sich be­

wegen heißt auch die Finger lassen von allein was man nicht kann und sich Zusammenhalten für einen Tiger­

sprung in der Richtung unserer größten Kraft.

¡964

Krankheit Die Krankheit leistet dem Geist Hilfe, wenn er sich

festgefahren hat und anders nicht mehr weiterkommt. Sie bricht alle Zellen des fest und glatt - allzuglatt,

möchte ich sagen! - geschlossenen Leibes auf (weshalb man sich auch krank, in Stückchen zerfallen, .zerbro­ chen*, ,cass£* fühlt), und aus diesen aufgebrochenen

Zellenvölkern kommen dem Geist die rauhen und heißen Kerne neuer Anschaulichkeiten, so daß er wie­

der Halt und Haft findet an Objekten, die, allzufertig, ihm das ohne die Krankheit nicht mehr gewährt hät­ ten. Jede echte Krankheit ist eine echte Geisteskrank­

heit, die zugleich das Serum hervorbringt, sich zu 1958

heilen.

Krieg Der Mensch kommt, im Kriege erlebend, nicht zu sich selbst, sondern immer wieder zu den Anderen. Die

Ernte wird innerhalb der Welt des legal-organisierten

Schreckens nicht in den Kem der Person eingebracht,

*37

sondern an’s Kollektiv zurückverteilt. Daher im

wesentlichen die besondere Neigung zu Erzählungen.

1945 Kritik Das kritische Organ im Menschen ist die Notbrücke

zwischen dem Innen und Außen, die einander ent­ fremdet wurden, über den klaffenden Spalt einer min­ deren Wirklichkeit. Dichtung wurzelt im archaischen,

Kritik im historisdien Zustand. Der Roman vereinigt 1954

beide.

Kultivierten, die

Menschen, die friedlichere Kreise um sich ründeten,

haben mit ihrem sanften Verzicht hohe Tugend be­ wiesen. Aber es verbreitet sich um solche ein da und dort schon dumpfiger Duft, und an ihrem Leibe und

Leben erscheinen die Leichenflechen des Unschöpfe­

1955

rischen.

Kulturen Das Beste, was uns die Völker zu bieten haben, ist ihre

immer wieder andere Art, wie sie die Landschaft, die

ihnen gegeben war, auf vordem nicht bekannte Weise

in ihre Lebensform einbezogen, und mit dieser zu über­

spinnen vermochten: im gleichen Raume und neben an­ deren ein Jenseits im Diesseits errichtend.

138

1959

Kunst - Kern

der

Man muß sich klar darüber sein, daß es in der Kunst

um die Erstlinge einer bis zu uns hereinreichenden höheren Vernunft geht, die freilich hienieden sich noch

ganz irrational ausnehmen.

1953

Kunst und Wissenschaft

Von der über uns verhängten Unwissenheit kann nur

der Künstler nicht getroffen werden, welcher daher am ehesten fähig sein wird (und auch dazu bereit) die Eitelkeit allen Wissens zu erkennen. Er dependiert nicht

davon. Er bewältigt die Welt auf andere, nicht sagbare,

direkte, enumerable Art, zu der auch des größten Weis­ heitslehrers Rede herabsinken muß, wenn er sich mit­

teilt. Aber ein Kunstwerk teilt sich nie mit. Ein wirk­ licher Roman ,geht‘, wie ein Uhrwerk, bewegt in sich selbst, wie ein Planetarium etwa. Er ist’s ja auch: Ab­ bild des Kosmos.

i96i

Künstler, der

Eine gewisse Krüdität, Willen und Bereitschaft sein

Material auch brutal zu bekneten, muß dem Künstler eigentümlich sein, ebenso eine Art von Sdiwindelfrei-

heit in jenen Augenblichen, wo er über dem Nichts zu hängen scheint, und brav loslassen muß, um in die

Wirklichkeit zu fallen, wie ein Trinker in die nächste Schenke einfällt.

19 $ 3

139

Künstler - Egozentrik Man beschimpft gerne den Künstler als Egozentriker. Doch fehlt hier ein Buchstabe: er ist Ergozentriker,

denn Ergon heißt das Werk. Die Anderen aber treiben’s ohne den fehlenden Buchstaben noch viel ärger. Dabei

ist ihr Zentrum unauffindbar: vacat.

1964

Künstler - Glaube

Der Mut zur eigenen Begabung ist die Glaubensform

1954

des Künstlers.

Künstler - untereinander Die Abneigung des Künstlers gegen die schöpferische

Sphäre von seinesgleichen ist analog der Abneigung

jedes gewöhnlichen Mannes gegen die Genitalsphäre eines anderen. Gebildetheiten und guter Wille, Bewun­ derung und Wohlwollen können den Sachverhalt ver­

schleiern, nie aber im Grunde verändern.

1962

Künstler - sein Wagemut

Es muß der Künstler sich zu einer gänzlichen VorausSetzungs-Losigkeit durchschlagen, da seien die Hin­

dernisse auf dem Wege zu ihr noch so lobenswerte oder

ehrwürdige: eine gewisse Krüdität des Griffes in’s

innerste Geweid ist sein durch nichts noch gerechtfertig140

tes Wagstüdc. Und wer das alles nicht wahrhaben will,

der liebe sidi seinen gehobenen Ton, über die Tonnen­ gewölbe hohler Keller schreitend, die nicht er gegraben, nicht er eingewölbt hat, die er nie auszufüllen ver­

möchte; der werde ein Fälscher und Epigone, an dem

frühzeitig die Literatur-Preise kleben bleiben, ein Ge­ förderter und Preisträger von Beruf.

1953

Kunstwerk - seine Entstehung

Aus den hauchenden Zuständlidikeiten ein festes Haus bauen, darin wir nicht wohnen werden, da es uns aus­

schließt, sobald der letzte Stein an seinem Orte sitzt: das ist die Entstehung eines Werks der Kunst.

141

1953

Einträge

142

zu K

L Lächerlichkeit Die blutigen Risse der Lächerlichkeit, die wir uns zu­ gezogen haben, heilen von all’ unseren Wunden am

schwersten: und daß sie nicht heilen, ist ein Beweis unseres geistigen Ungenügens. Wir möchten einer Art von Ungeschicklichkeit die Schuld zuschieben an sol­

chen schlechtheilenden Verletzungen. Aber dem ist nicht so; es war unser Geschick, das aus der Ungeschick­ lichkeit sprach, ja unsere Geschicklichkeit in einem bes­ seren Sinne: daß wir vermochten derlei .Krankheiten*

uns zuzufügen, die, immer wieder mahnend und uns stolpern machend, das sehr Relative der eigenen Ge­ 19 51

sundheit demonstrieren.

Landschaft

Es wird alles Landschaftliche uns entgegengehalten, als ein Teil des dichten Netzes unserer Befangenheit. Wir müssen es hinnehmen, was bleibt uns auch anderes. Aber allermeist wissen wir doch damit nichts anzufan­

gen.

I9J4

Langeweile Wenn wir ohne Spannung sind und daher auf die Ge-

>43

genstände der Außenwelt zu fallen - statt daß diese

von uns angezogen werden - dann empfinden wir Langeweile. Wer sich langweilt, der hat den eigenen

Mittelpunkt über den Rand seines Mikrokosmos hin­

aus abgleiten lassen, daher denn von ihm aus ein er­ frischendes und spannendes Gesamtbild nicht mehr wahrgenommen werden kann, sondern nur ein natur­

gemäß formloser Brodten. Langeweile ist die Welt ohne Mittelpunkt.

1941/41

Langeweile Die Langeweile ist das stillste, aber vielleicht das am

meisten die Führung prüfende Fahrwasser des Lebens. Denn hier kommt es wirklich heraus, was an einem ist und was nicht, wenn die Kügelchen der Viertelstunden

klingend in eine weite, leere Schale fallen.

1954

Lärm

An’s ferne Lärmen ist der Großstädter gewöhnt wie der Fischer an’s Brandungsgeräusch des Meeres, ebenso daran, daß alle Menschen rundum unbedenklich und

indiskret ein Geräusdi-Volumen in Anspruch nehmen, das sozusagen weit über ihre Verhältnisse geht; wie

sich denn noch keiner Gedanken gemacht hat bezüglich des Maßes seiner Raumverdrängung überhaupt, in je­

der Hinsicht und in bezug auf alle Sinnesgebiete, welche Raumverdrängung ja notwendig im lächerlich-

144

sten Mißverhältnisse zur Nichtigkeit der betreffenden

1957

Person stehen muß.

Laster

Keine Befangenheit ist pathologisch, wenn sie spontan

und unikal auftritt, ohne tendenziös gesucht worden zu sein, ein plötzlich aufschießender Geysir, der dann

wieder in die Tiefe des Lebens zurücksinkt und sich dort unten mit ihm vereinigt, in ihm verliert. Einmal ist keinmal.

Wird jedoch dieses Lebenswasser jedesmal aufgefan­ gen, bewußt und tendenziös abgeleitet, abgesondert und gespeichert, so siedelt sich darin eine pathologische

Flora an.

Laster ist die Verbindung und Aussonderung von Punkten reinster Spontaneität durch ein hier ganz un­

zuständiges Continuum.

1942

Laster

Jedem Menschen ist mit seinen besonderen Lastern und Schwächen und ihrem Hervortreten oder Zurückwei­ chen ein ziemlich genaues Meßinstrument mitgegeben,

das ihm seinen jeweiligen Stand anzeigt. Man stürze sich nicht moralisierend auf seine spezifischen Fehler, in direkter und subalterner Weise, um sie selbstgerecht

zu verbessern. Man lese vielmehr richtig von ihnen ab;

’45

und man sei sich im klaren darüber, daß man ihrer zu 19 J1

diesem Zwecke bedarf.

Laster

Keine Saufkumpane, Weiber und Lumpenbrüder! Kein Geschwätz. Die exklusiven Formen schubweisen Selbst­

mordes, allein und innerhalb der vier Wände, sind den

geselligen vorzuziehen.

1952

Leben

Leben ist eine verhältnismäßig selten erscheinende

höhere Wirklichkeitsstufe des Daseins, zugleich dessen inkommensurables aber einziges Maß.

1953

Leben

Die Befangenheit, mit der wir fest im Leben stecken wie

gesunde Zähne im Kiefer, besteht kraft der Hypostasierung, die jeder uns jeweils erfüllenden Vorstellung

jederzeit zuteil wird. Leben ist Übertreibung. In ihrer

äußersten Hypostasis aber enthält jede unserer jewei­ ligen Vorstellungen jederzeit das Ganze.

19B

Leben

Die wesentliche und schwerste Aufgabe unserer geisti­

gen Existenz ist nicht, die Rätsel des Lebens zu lösen, sondern an ihnen nicht zu ermüden. 146

1953

Leben

Im Grunde: es wird uns ein fremder Hut aufgesetzt auf einen Kopf, den wir noch garnicht haben.

19 f 3

Leben

Unser Leben: Diesseits-Gärtchen mit Blick auf den

Jenseits-Strom. Aber im Benachbartsein beider Grund­

befangenheiten liegt das schlichthin Wunderbare, wel­ ches man freilich nie sehen kann, wenn man die eine

bagatellisiert oderdieandere leugnet.

1954

Leben

Im großen und ganzen steht mir das Leben gegenüber

als eine undurchsichtige, aber nach mir bekannten, ge­ heimen und gefährlichen Gesetzen ihre Teile gegen­ einanderbewegende Irrationalität: überall ist Gelegen­ heit, zwischen und unter die Räder zu geraten.

1960

Lebensfreude

Die eigene Person kann auf die Dauer unmöglich als

Eiscr&nebecher behandelt werden, aus welchem man möglichst viel sogenannte Lebensfreude herauslöffelt,

sei’s auch in sublimerer Art. Denn erstens widersteht einem endlich die Eiscreme, und zweitens hat man sich

bei dem Vorgang schon ganz erheblich ausgehöhlt, weil 147

da immer noch ein und noch ein Löffelchen genommen

1953

wurde.

Lebensumstände Jeder setzt soviel neue Umwelt, als ihm an Intelligenz fehlte, die ursprünglich gegebene zu begreifen.

195*

Leere

Das Maß unseres Befreundetseins mit der Stille und

Leere ist das Wachstums-Maß unseres Geistes, und die

sich ausbreitenden Stumm- und Leer-Räume sind seine eigentlichen Eroberungen.

1954

Leib und geist

Bei den Leibesübungen macht man auch keine unnöti­ gen flügelmännischen Bewegungen, weder im Wenden auf der Reitschule, noch wenn man einen Pfeil ab­ schießt, oder auf den Skiern schwingt. Ebenso erfordern

die Aktionen des Geistes Ökonomie und nur sparsame, aus der Bewegung selbst hervorgehende Gestik.

19 54

Leichtinger, die Unausgesetzt wird von denen, die sich’s leicht machen,

jenen, die sich’s so schwer wie nur irgend möglich ma­ chen, irgendwas beigebracht. Dem muß eine Mission 148

innewohnen. Sie drängt uns darauf hin, keine Rück­ sicht mehr zu kennen, sondern allen diesen Leiditingem - deren Identität man auch über gelegentliche, zwischen

ihnen erscheinende Gegnerschaften hinweg, erkennen

muß - eine glatte Wand der Unzugänglichkeit entge­ genzustellen.

1955

Leistung Der Mensch kann nur als ein Seins-Typus eine Kate­

gorie ganz erfüllen; hierin liegt die Beschränkung aller die was leisten und die Überlegenheit jedes universellen

Müßiggängers.

1965

Lesen Ein wahrhaft bedeutendes Werk jenseits aller Ideo­ logie ist wie ein heißer Topf ohne Henkel: nun trinke

draus, wenn du’s vermagst! Allen der Dummheit Er­ gebenen gibt dies (die Henkellosigkeit nämlich - denn

sie sehen’s gern, wenn was ihnen Faßbares hervorragt) ein willkommenes Argument ab, ihn stehen zu lassen.

Wer jedoch auf die Intelligentia sich verpflichtet hat,

dem ist’s, seiner Natur nach, ganz apriori und unge­ zweifelt nur ein Anlaß, um die Mittel zu finden, sich an das schwer Begreifbare (auch auf die Gefahr verbrann­

ter Finger hin) heranzumachen: und er findet sie am

>942

Ende, diese Mittel. 149

Leser

Erfahrungsgemäß läuft jeder Leser vor dem, was er ,trivial* nennt, ebenso davon, wie vor einer sauberen Abstraktion, obwohl beide, das Dingliche wie das

Abstrakte, notwendige Manuale auf der Orgel des Gei­

stes sind, die, gezogen, ein genau voraus Gewußtes erklingen lassen. Jedoch der lesende Mensch liebt die Verstiegenheit in mittleren Lagen (was in seiner Spra­

che ,interessant* heißt), wenn er sich nur dessen ver­

sichert fühlen kann, daß er da nirgends wirklich hinauf oder herunter kommt, sondern gleich dort in seiner

Mittellage - erhoben wird. Ohne erhebende Momente

wollen die Deutschen überhaupt nicht lesen, sie verlan­ gen derlei spätestens auf Seite zwei bis Seite vier schon für ihr Geld gedruckt zu haben. Dann ist es das, was

sie ,ein gutes Buch* nennen. Ein solches pflegt man in Deutschland ,zur Hand zu nehmen*. Für mich bedeu­

tet ,ein gutes Buch* die perfekte Mischung aus Küchen­ geruch und sauberer Stube, worin sich dann die Keime

fundamentaler Irrtümer rasch entwickeln können, zu

Verirrungen, welche ich die achtbaren und wohlan­ ständigen nennen möchte - errores spectabiles - zum Unterschied von jenen viel harmloseren Irrtümern und

Lastern, die stets, durdi irgendeine Art von Schmutz wie mit Warnungstafeln deklariert, der allgemeinen

und eindeutigen Mißachtung mit Sicherheit verfallen (errores immundi).

1941

IJO

Liebe Man kann auch sehr starke Neigungen noch atomisie­ ren als Konglomerat von, zum Teile sogar erworbenen, Vorlieben und aus freundlichen Umständen. Der reni­ tente Rest erst heiße uns dann Erotik.

1954

Liebe

Liebe: man nimmt einer Frau die Maske vom Gesicht und stürzt mit dieser davon, ohne zu schauen was sie

verdeckt hat.

1961

Liebesglück

Das harmonische Paar als Idyll einer auch geistigen

Gemeinschaft - materiologisch ausgedrückt: die Bett­

wärme ist bis in den höheren Sprachgebrauch aufge­

1946

stiegen.

Lokalen, in

Es gibt Individuen, die in Lokalen mit entschlossener

Scheußlichkeit vor sich hin-sitzen und ihren ganzen Umkreis verpesten. Hier wäre freilich nur mehr mit

plötzlich applizierten schweren Knütteln abzuhelfen. 1955

iSi

Luftschlösser

Luftschlösser sind dann unbedenklich, wenn man recht viel Luft darunter sehen kann, weldie das Gebäude vom Erdboden trennt; sie können also garnicht hoch

genug schweben. Aber manche Luftschlösser sitzen auf irgendeiner wohlbekannten Hügelkuppe. Das sind die gefährlichsten, ihre Trümmer vermögen uns und An­ dere zu begraben.

1945

Lügen Die Lüge (Pseudologie) kann nur zustande kommen

durch Unterbrechung jener Bahnen, welche (wenn auch keineswegs auf dem kürzesten Wege) jeden Punkt im

Vorstellungsleben eines Menschen mit jedem anderen innerhalb desselben verbinden. Die in der Lüge be­

wegten Vorstellungen werden aus dem Gesamtzusam­ menhange ausgefällt, isoliert, und treten damit unter

eine eigene Gesetzlichkeit. Trifft dieser Zustand wieder­

holt dieselbe Vorstellungsgruppe, so entsteht ein eigen­ gesetzliches pseudologisches Continuum (mit patho­

logischer Flora). Die Lüge ist immer gekennzeichnet durch den eintretenden Personszerfall. (Daher zum Beispiel lügen auch alle Rauschgiftsüchtigen und Säu­ fer.)

194»

Lügen

Wenn man mit den Lügen anfängt, bekommen sie im­

mer längere Beine und am Schlüsse stolzieren sie ganz

ordentlich als Wahrheiten einher, die man selbst glaubt.

1946

Lügen

Die Wahrheit ist keineswegs ein Dornenbett. Sie ist ein

duftendes Lager. Man darf sich darauf bequem ausstrecken. Aber alle Lügen wären die rechten Gäste für Prokrustes! Entweder haben sie zu kurze Beine, oder, noch sdilimmer, zu lange: auf ihnen laufen sie dem

Lügner davon und er kann sie nie mehr einholen und zurückpfeifen. Endlich verliert er sie aus dem Gesicht und vermeint, sie nun los zu sein. Aber sie sind inzwi­

schen um das ganze Erdenrund gerannt, und zuletzt kommen sie ihrem Erzeuger geradeswegs entgegen. 19 5 J

Lügen

Realität ist nur das, was wir jeweils als unterste feste

Standfläche mit dem Fuße ertasten - geschieht es auch

im Dunklen, so ist uns doch immer genaue Kenntnis

davon verliehen - und wo wir doppelten Boden wollen, um auf ihm über der Realität zu verweilen, dort wissen wir’s auch genau, und erkennen sofort den hohlen

Klang beim Auftritte. Wir sind in solchen Fällen zu

Auftritten überhaupt geneigt, wir lieben es dann, fest

aufzutreten, was den Ton des doppelten Bodens ver­ stärkt.

i9J4

153

Einträge zu L

154

M Manierismus

Der Manierismus ist das zu einem tiefsten Bewußtsein

seiner selbst und damit zu einem guten Gewissen ge­

langte l’art pour l'art.

1962

Manierismus

Aller Manierismus ist Dichtung in einem selbsterfun­ denen Dialekt. Der Manierismus ist nur deshalb nicht provinziell, weil er sich an keine wirklich existierende

Provinz anschließt.

1962

Männer und Frauen Die Frauen sehen einander alle viel ähnlicher, als die

Mannsbilder im entferntesten vermeinen. Aber im Augenblicke, wo das männliche Genie mit seiner Fik­

tionskraft erlischt, werden diese Burschen über’s Ziel schießen und gleich dahinterkommen, daß die Weiber

nicht nur ähnlich, sondern sogar identisch sind; und dann ist es mit jenen wirklich und wirksam vorbei. 1958

Mechanik des äusseren Lebens - Menschen

Um die Beziehungen zu anderen Menschen zu regeln

"55

und diese richtig zu orten, kommt in der Mechanik des

äußeren Lebens nur mehr der Kurz-Prozeß in Frage, ein aufblitzender Schuß, der jede Scheinproblematik

niederstreckt.

195$

Meinungen

Meinungen sind so etwas ähnliches wie Hämorrhoiden des Geistes. Ein Schriftsteller hat leider manchmal auch Meinungen. Aber man zeigt solche grausliche Sachen

doch nicht unaufhörlich vor. Nur die Hausmeister sind immerfort von irgendwas überzeugt.

1939

Menschen - Umgang mit

Vor dem anderen Menschen muß man so weit zurück­

treten, daß der eigene Schatten nicht mehr in’s Bild

fällt. Erst dann kann man dieses Bild liebevoll betrach­

ten.

1933

Menschen, unmögliche

Selbst die unmöglichsten Personen mit ihren sicher indiskutabeln Verhaltungsweisen sind immerhin Konkre­ tion geworden, haben, von sich selbst aus gesehen, im­

mer recht - sobald sie daran zweifeln, sind sie eben

keine unmöglichen Personen mehr - und man muß mit Aufmerksamkeit jene anschauen, welche so un­

dankbare Rollen spielen: denn diese Rollen sind un156

entbehrlich; es ist keine Kleinigkeit, ein Scheusal oder ein böswilliger Idiot zu sein, sich im ersten Falle für schön, im zweiten Falle für einen hochgeistigen Men­

schen zu halten. Alles das muß dargestellt werden.

Einer muß es machen. Man sieht da aber auch, daß die Besetzung eines vorgesehenen üblen Punktes den Be­

setzer nicht entschuldigt: denn dieser bezieht ihn aus Affinität. Der Punkt ortet den Besetzer, und die ge­ spielte Rolle macht ihren Träger offenbar.

19 5 3

Menschen - untereinander

Jeder Mensch ist in bezug auf den anderen ein Jenseits

im Diesseits. Das muß bei der Untersuchung des Ver­ hältnisses von Menschen zueinander immer evident

bleiben. Das über-astronomische Maß dieser Entfer­ nung darf nie schwinden.

1933

Menschenerkenntnis Werde dir selbst erst befremdlich - und bald wird

nichts mehr dir fremd sein.

1954

Mitleid

Wenn wir fremdes Leid, körperliches oder seelisches, sei’s auch äußerstes, sehen, und Zeugen fremder Schocks

sind, auch der stärksten: dann erhebt sich doch zugleich

in uns eine Wand — wie die eigne Körperwand, jedoch

IJ7

größer, so daß sie als flach, als gerade erscheint, mag sie da auch irgendeine ganz schwache Krümmung haben,

so daß um sie herum zu kommen wäre auf unendlichem Wege - eine Wand, die uns, über allem Mitleid, ab­

schließt, und uns hindert, dort hinüber zu münden, dem Mitleide nachzumünden. Wäre dem jedoch nicht so: ein einz’ges Unglück irgendwo genügte, um alles

Leben in seinen Strudel und in’s Nichts zu reißen. 1942

Mitteilung Wer restlos appercipiert, will nichts mehr mitteilen.

Mitteilungsdrang ist immer so viel vorhanden, als sich

verweigerte Apperception in ihn umsetzen oder gleich­ sam umklappen will.

1941

Mitteilung Jede Mitteilung teilt, daran ist nichts zu ändern. Sie

bedeutet daher De-potenzierung, und mindert das Maß eines Wissens, das man vorher besser gehabt hat. Zu

schweigen von den Wirkungen der Mitteilung auf ihren Empfänger, die immer fragwürdig bleiben.

T9Si

Mitteilungsdrang Der Mitteilungsdrang ist, nach dem analogen Drang zum Coit, die stärkste aller zentrifugalen Kräfte des

Menschen. Bevor man ihm nachgibt, fühlt man sein i{8

eigenes Innre hohl und dunkel, rötlidi durchschum­ mert, und die Körperwand leicht gebaucht von dem

nach außen anstehenden Druck.

1942

Mitteilungsdrang

Wenn man sich mit Genuß vorstellt, was man dem oder jenem oder einigen sagen wird, und wie man es sagen

wird, wörtlich (man hört sich selbst sprechen), so ist das

schon recht lächerlich: immer noch besser aber, als wenn man es wirklich sagen würde. Und gerade das wird

durch solche einsame Spiele metaphorischer Onanie oft erspart, weil der Mitteilungsdrang dabei ausrinnt. 1942

Möglichkeiten

Das viele, ja überwältigende Nicht-Wissen unvorstell­ bar zahlloser Personen von einander und ihrer Existenz bildet das taube Gestein des Lebens und zugleich seine

Vorratskammer, die geräumiger ist als es selbst.

1958

Monogamie Jeder wird für jedes Liebesverhältnis die Ausschließ­

lichkeit, Stabilisierung, Konsolidierung wünschen. Die­

ser Wunsch ist unerfüllbar, und wo er de facto sich erfüllt, sind die Begleiterscheinungen verdächtig. Den­ noch haben wir’s alle mit der Monogamie, es treibt uns

zu ihr und ihr Gegenteil macht uns unglücklich; so stre-

IJ9

ben wir denn nach ihr und werden dabei lächerlich, wenn nicht widerwärtig.

1966

Moralismus Die Henne gackert, wenn sie ein Ei legt. Der Moralist

hat sich selbst eine Spitze angeschliffen, ein aus der

Rundung menschlichen Seins bös und häßlich hervor­ stehendes Horn. Er geht hin und stößt es Anderen

durch die anima naturaliter humana. Das ist sein Gak-

kern, das wird aus dem unschuldigen Tierlaut, wenn man ihn in’s Menschliche übersetzt.

1941

Moralität der Meisten Die Moralität fast aller ist undezidiert, sie ist ein in

labilem Gleichgewichte befindliches Sozialprodukt, sie haben das einfach geerbt. Es verhält sich damit analog wie mit ihrer Liebe (s. d.). Man muß hier nur .erwor­

bene Vorlieben* und .freundliche Umstände* durch .mangelnde Gelegenheiten*, ,Trägheit und Ängstlich­

keit* ersetzen. Die meisten bürgerlichen Menschen wer­ den nur infolge ihrer Defektheit keine Verbrecher, also

aus durchaus negativen Gründen.

1954

Musik

Für den überwiegenden Teil der Menschen ist die Musik ein angenehmes Mittel, ihre eigene Plattheit zu

pathetisieren.

>944 160

Müssiggang

Müßiggang ist aller Laster Anfang und aller entschei­

denden Fälligkeiten Ursprung, Prüfung und Lohn. 1941/42

Mut - zur eigenen Begabung

Der Mut zur eigenen Begabung mißt sich vor allem an

den nächst benachbarten steinernen Ungeheuern der Selbstverständlichkeit, und zertrümmert sie, damit ihr

kristallinischer Bruch sichtbar werde, daran die An­

schauung dann greifen kann. Wohl liegt die Wahrheit immer auf der Straße, wie die Steine: aber man muß

diese zerschlagen.

>954

Einträge zu M

162

N Nachlassen Man läßt profund nach: und schon findet irgendein

Genickschlag zu uns, dem wir dann den Namen für

unser nun konsolidiertes Leid verdanken; jedoch es ist

eine Falschmeldung. Sie tut uns wohl; aber sie ver­ deckt nur den Grund der Sache und vermeint ihn zu erklären, ja durch Namensgebung zu beschwören; irrig,

denn diese erfaßt ein Übel zweiten Grades.

1957

Namen

Es gibt Namen, die von keinem Berufe herkommen -

wie Schneider oder Müller - und doch in einem tieferen Sinne Berufen zugeordnet sind: Horak ist ein Name für Zahnärzte (Dr. Horak), Korinek dagegen ein spe­

zifischer Ingenieursname. (Als ich dies bedacht hatte,

schlug ich das Telephonbuch auf, und fand unter dem Namen Korinek keinen einzigen Ingenieur. Doch ist

das nicht mein Fehler, sondern ein solcher des Telephon­ 1952

buches.)

Nation Eine andere Art von Euphorie zu erkennen: allein das

heißt eine Nation erkennen. Wer das russische Tee-

163

trinken genossen hat, den türkischen Kèf, ein Wiener Café und ein Pariser Déjeuner: der hat Rußland, die

Türkei, Österreich und Frankreich erkannt. Denn nur

was ihnen wirklich Vergnügen macht, ist für die Men­ schen bezeichnend, nicht was sie außerdem meinen. Nur in der Freude sind wir zu uns selbst erfähigt in freier

Wahl. Das Leid drückt alle platt.

1965

Nationalismus Nationalismus - eine von Sammelnamen besoffene Welt. Daß ich zum Beispiel Österreicher bin, ist mir auch mit einer Fülle widerwärtiger Individuen gemein­

sam, so daß ich es mir verbitten möchte, lediglich mit

Hilfe jenes Begriffes bestimmt zu werden: darauf läuft’s aber bestimmt hinaus, je mehr die Anschaulich­

keit der Person in’s Unbestimmte der Nation verdun­ stet, woran nur Jene interessiert sein können, die Grund haben, vor sich selbst auf der Flucht zu sein und in einem begrifflichen Sammellager Unterschlupf zu suchen, wo Werte ausgeteilt werden, die sich Jeder leicht anheften kann wie Kotillon-Orden.

194J

Natur Wir fühlen uns der natürlichen Erhabenheit gegen­ über immer verpflichtet, was Tiefes zu empfinden, was

Besonderes zu denken. Alles das ist Unsinn. Mütter stellen keine Probleme. Aber die Pietät erfordert, daß 164

wir jede Runzel im Antlitz der Mutter kennen und die

Veränderungen darin wohl beachten.

1953

Naturalismus und Expressionismus Die vollkommene Apperception ist wort-ausführlich.

Das allein heißt mit Recht Naturalismus. Sein Erdreich

muß fest geworden und gut durchwachsen sein, bevor der erste Spatenstich der wieder aufspaltenden Dialek­

tik erfolgt. Deshalb empfiehlt Goethe, sich zuvörderst

,um’s Phänomen zu erkundigen*. Alles Denken geht mir von der Deskription aus. Sie muß so weit getrie­ ben werden, bis das Bild zerbricht. Das allein heißt dann mit Recht Expressionismus.

1943

Naturalismus und Wahrheit

Die Wahrheit - erfinden: das Geheimnis des natura­ listischen Romans. In ein erfundenes Gewand schlüpfen

und aus wirklichen Ärmeln hervorkommen. An dem

Tage, da ,Ein Mord den jeder begeht* erschienen war (Mitte Oktober 1938), ist der Schluß des Romans in

Düsseldorf wirklich passiert und die Zeitung brachte

ein Bild, das die letzte Szene meines Buchs illustrierte. 1932

Nebensachen,

entscheidende

Von der Bedeutung des zufällig, abrupt und wie eine

Nebensache Erscheinenden hab* ich eine hohe Meinung. Das Entscheidende betritt gern unser Haus dort, wo garkeine Tür war, die wir dafür hätten öffnen können;

1959

es bricht sich diese selbst.

Neigung

Neigung ist alles. Nur ihr entlang kommt der Brei des Lebens in Fluß. Hintnach kanalisiert Einer diesen Fluß in der schon eingeschlagenen Richtung und erklärt

seine Tätigkeiten als vernunftgemäß notwendig, ja als erzwungene und unvermeidliche. Und im hier gemein­ ten Sinne hat er damit ja wieder recht.

1946

Neues Die wirkliche und wirksame Bereitschaft zum Auf­

nehmen neuer Empirie kann nur haben, wem die alte keinen Vorrat für gelegentliche Selbstwert-Entnahme mehr bedeutet; ist das aber so, dann bleiben wir mit

unserem Kram behaftet, und nichts Neues kann tiefer 1953

eindringen.

NICHTINTELLEKTUELLE

Wenn man Nichtintellektuellen etwas würde sagen

wollen (quod absit!), käme man gleich darauf, daß ihnen vorher noch viel anderes müßte gesagt werden,

und man also kaum dahin gelangen dürfte, ihnen das 166

Zu sagen, was man ursprünglich wollte; ganz abgesehen davon, daß eine solche Prozedur ihre und unsere Ge­

duld weit überforderte.

1965

Nichts und Nichtigkeit

Das Nichts kommt hier - in einem jener seltenen Pätz-

ien raumerfüllender Materie, und ein solches bewoh­ nen wir - in reiner Form nicht vor; sondern nur als Nichtigkeit: auf diese Art kann es konkret werden,

und verhält sich dann zum Nichts etwa so, wie der Hellenismus zu den Hellenen oder das Rationelle zum Rationalismus. Hierher gehört eine Bemerkung, welche Bemanos in seinem ,Tagebuch eines Landpfarrers* ein­

mal macht: daß nämlich alles Böse, welches auf Erden

angetroffen wird, harmloser Dilettantismus sei im Ver­ gleich zur Bösartigkeit der Hölle.

1955

Nichts und Das Nichts

Eine Erscheinung schlechthin für nichts zu halten ist freilich eine weit geringere Schätzung, als wenn wir sie für das Nichts nehmen: damit erkennen wir ihr Be­ deutung zu.

1952

Notwendigkeit Was sein muß, muß sein.

Und was nicht sein muß?

Erst recht.

1942

167

Novelle Leben ist, dem bloßen Dasein gegenüber, notwendiger­

weise durch Seltenheit ausgezeichnet. Dieser Satz kann

die Grundlage einer Theorie der Novelle bilden: die Kunstform der Inselhaftigkeit an sich - während der

Roman die Lebens-Inseln samt dem Daseins-Meere (dem ,Fluß ohne Ufer*) dazwischen darstellt. Die Novelle ist das aufrecht bleibende Denkmal zu

Stande gekommenen Lebens, das, bald unterspült, wie­ der trümmerweis im Strom des Daseins versank. Die Engländer und Amerikaner nennen den Roman ,novel‘,

und stellen damit antinomische Ansprüche an die Kunst des Romanciers, die sich nicht von der Hand weisen lassen, weil sie zu denken geben. Zu denken nämlich: es hat im Roman das bloße Da­

sein wohl seinen Platz, und das macht den Unterschied zur Novelle; jedoch wird es - verglichen mit den

Lebens-Inseln - nicht als sinnlos aufgefaßt werden dür­ fen, sondern als deren Möglichkeit, die denn auch immer wieder auftaucht. Das Sinn-Lose aber muß im Roman

einen besonderen Ort behaupten; es ist das per se sich

konstituierende Dasein: als solches muß es also hervor­ treten, und ist dann fast ebenso frappant und erschrek-

kend wie - das Leben selbst.

1953

Nüchternheit Nüchtern ist das Chaos, die Voraussetzungslosigkeit, und nicht irgendwelche Ordnung. Berauscht sind wir

168

von dem, was wir festhalten wollen: und das ist zu­ letzt nichts als unsere eigene Berauschtheit. Betrunkene

sind eigensinnig, bezeichnend genug.

19p

Nüchternheit und Banalität

Genauer und klarer sehen heißt keineswegs banalisie­

ren. Nüchternheit hat mit Banalität nichts gemein:

diese erscheint unter dem Blicke jener vielmehr als ein benebelter Zustand.

1953

169

Einträge zu N

170

o Objekt und Figur

Objekt ist, was wir allseitig und umfassend sehn kön­ nen: das sind wir demnach nicht selbst. Es ist nirgends mehr an uns angewachsen.

In Zweifelsfällen schieße man einen Pfeil (der aber treffen muß), um zu sehen, ob im Objekte keine Ver­

letzlichkeit oder Empfindlichkeit herrscht: wenn ja,

dann sind wir’s doch noch selbst gewesen. Bei manchen Menschen gibt es Verletzlichkeiten des zum Leben nöti­

gen Selbstwert-Minimums weit außerhalb der natür­ lichen Peripherie ihrer Person: Markensammler, Feti­

schisten, Besitzer schönen Porzellans, Politiker, Rosen­

züchter, Hundeliebhaber, alle Leute außerdem, die sich in die Knechtschaft der Dinge begeben haben und denen in einem Biedermeier-Heferl, welches herunterfällt, das Herz zerbricht, weil es überraschenderweise außerhalb der Leibeshöhle, nämlich in jenem Heferl, sich auf­

gehalten hat. Für sie alle beginnt der Okeanos des Ob­ jektiven erst sehr weit draußen und zwar mit dem deutlich abgesetzten Strande ihrer absoluten Gleich­

gültigkeit, an welchem ein Schiffbrüchiger seine Wun­ der erleben kann.

Der Schriftsteller aber ist ein Mann mit minimal aus­ gedehnter Objektsbesetzung. Bei ihm kommen Ob­ jekte bereits innerhalb der natürlichen Peripherie sei­

171

ner Person vor. Er nennt sie seine Figuren. Man kann durch diese - obwohl sie Blut und Leben haben - einen

Pfeil schießen, ohne sie im mindesten zu verletzen, ohne daß sie zucken oder wanken würden. Und dieses Unheimliche ist ihnen mit den Gespenstern gemeinsam.

Es könnte sich bei den Figuren möglicherweise auch um eine Kreuzung zwischen Subjekt und Objekt handeln,

welche der Philosophie bisher entgangen ist. Denn sie treiben sich innerhalb der Subjektsgrenze herum,

haben aber Objektscharakter. Eine Figur ist das, was ihr Autor nicht mehr ist. Also

wirklich ein Abgeschiedener und Einer von den Vielen, die er war. Ist er’s doch noch, dann sieht man den Pfeil,

die Wunde und das Blut. Anders: unsaubere Arbeit, ein getroffenes Heferl, ein gebrochenes Herz.

1943

Objektivität

Es hat alles zwei Seiten. Aber erst wenn man erkennt,

daß es drei sind, erfaßt man die Sache.

1954

Objektlichkeit

Erkennen und richtig benennen: getan ist’s. Ein Ob­ jekt löst sich von uns ab. Diese Ablösung ist zur Ob-

jektwerdung notwendig. Denn jedes echte Objekt war einst ein eigner Körperteil.

’72

1966

Objektsbewältigung - in der Kunst

Um ein Objekt in der Kunst bewältigen zu können, muß man jedesmal im Grunde sein ganzes eigenes Le­

ben hingeben, ja, geringschätzen: als hätte man nichts mehr hinter den Augen, aus denen man schaut.

1952

Opfer Wem ein Opfer zu weit geht, der darf sich nicht wun­

dem, wenn er nicht weit kommt.

1952

Opfer Jedes kleinste Opfer baut uns fühlbar auf. Aus Körn­

chen wird ein Berg. Der Himmel scheint diese Körn­ chen mit äußerster Sorgfalt zu sammeln, unsere Sün­

den aber großenteils zu verschlampen. Nur so erklärt sich's, daß wir immer noch weiterleben.

195 j

Opfer

Zum Begriffe des Opfers gehört, daß es geradezu unsere Vernunft übersteige. Vernünftige Opfer gibt es nicht;

1957

sie sind disziplinäre Akte.

Opfern und Sehen

Nichts kann so sehr sichtbar werden wie das, was wir

ohne Rest geopfert haben. Opfern als Optik.

173

1961

Ordnung Die Ordnung ist nichts, als das in den Rohren, Adem

und Kapillaren steigende Lebenswasser; füllt es sie prall, so bilden sie das schönste Geäst und Geflecht.

Fällt es zurück, dann mag man sie aufbinden und glatt­

streichen wie man will, sie hangen und liegen unordent­

’941

lich ineinander.

Ordnung Wer sich auf die Ordnung als verabsolutiertes Heils­

mittel einläßt, hat gleichsam eine in’s Vertikale wei­ sende Aufgabe in’s Horizontale umgeklappt (wie es auf den Flüssen die Dampfschiffe mit ihren Schorn­

steinen tun, bevor sie unter einer Brücke durchfahren). Aber die Unendlichkeit des Beginnens ist er dabei auch

nicht losgeworden. Auf Regel und rechten Winkel be­

dacht, strebt er im Horizontalen dahin, um sich schließ­

lich in den eigenen Arsch zu beißen, wodurch ihm end­ lich und zu spät demonstriert wird, daß es im Leben nur Kurven gibt, denn die Welt ist rund und bleibt das auf

jeden Fall und more geométrico erst recht.

1944

Ordnung

Ordnung ist teuflisch, wenn sie hergestellt, himmlisch, wenn sie nebenher abgesondert wird. Im zweiten Falle

kommt sie schon mit Patina zur Welt, mit einem leuch­

tenden Rost, mit der bakteriellen Flora des Lebens be-

’74

deckt. Sie mag die kühnste und neueste sein: es sieht aus, als wär’ sie längst bekannt und im Grunde immer

1944

dagewesen.

Ordnung Am eifrigsten und am unerbittlichsten wird die Ord­

nung, wenn sie als Sendbotin des Chaos auftritt.

1954

Ordnung - der Mut zu ihr

Der Mut zur Ordnung ist der Mut zum Chaos: er macht uns jener Ordnung zugänglich, die da nicht von

uns gemacht wird.

i0°

Originale

Originale sind immer nur originell. Sie haben ihren

persönlichen Dialekt - so könnte ihr Stil benannt wer­

den - detailliert ausgebildet. Sie freuen sich daran und sind dahinter verschanzt gegen jede andere Möglich­

keit. Sie verbreiten mit der Zeit Langeweile. Das heißt,

ihr gut fassonierter Sieg über die Welt stellt sich als Scheinsieg heraus, und ihre Form, die sie damit erreicht zu haben schienen, als eine mehr und mehr verdorrende

bloße Manier, als kläglich.

1963

Originalität Originalität ist ein Zwischengebiet, wo sich das Talent

175

gerne aufhält, bevor es zur Dezision gebracht wird. Kommt es zu dieser nicht, dann kommt wohl ein Ori­ ginal zustande aber kein Autor.

1962

Orthographie Orthographie ist das Haxl, bei dem die Schullehrer

das Schreiben erwischt zu haben meinen, und es also da festhalten; es hinkt dann freilich bei ihnen auf den

drei übrigen Beinchen. Dudens deutsche Rechtschrei­

bung ist das dümmste deutsche Buch; und es gibt ihrer viel dumme. Ich würde nie einen Duden in meiner

Bibliothek dulden.

19B

Österreich

In Österreich kann man nur leben, wenn man entwe­

der Ausländer ist, so daß man nicht sekkiert werden

kann, oder gleich selbst Beamter, wobei man seinerseits

die Leut’ sekkiert. Aber wer hier als Österreicher irgendwas hervorbringen will, der wird, wenn’s geisti­

ger Art ist, erstickt, und gegen praktische Unterneh­ mungslust sind die Vernichtungs-Feldzüge der Steuer­

behörde ein probates Mittel.

194B

ÖSTERREICHER, DER

Die Furchtbarkeit des Österreichers besteht in der Rück­

wendung seiner hohen Intelligenz aus ihrer transzen-

176

deriten Elongatur in’s Behagen: und welchen Wohl­

geruch, welchen Duft, welchen bestechenden Charme er­ zeugt sie dann! Es ist gerade das, was Gütersloh, in der ,Rede über Blei*, die .interessante Schwäche* nennt. Sie

ermöglicht es, sich um sich selbst zu drehen, wie der Dreivierteltakt, oder in sich selbst zurückzulaufen, wie

die Ringstraße in Wien. Die österreichische Intelligenz kommt einer Kassierung jeder Hoffnung gleich, das heißt, sie ist tiefster Instinkt für die historische Wahr­

1954

heit.

177

Einträge zu O

178

p Pädagogen

Heute noch hallen Worte und Sprüche nach, die man in der Kindheit gehört hat. Erfaßten die Pädagogen ihre

Verantwortlichkeit wirklich: dann gäbe es gar keine

1956

solchen Leute.

Panik

Jede Panik ist im Grunde ein blitzschnelles Wechseln

des Maßes, ein Abreißen der historischen Kontinuität des Lebens. Jede Panik ist ein Kleinbild jener Verfas­

sung, in welcher etwa ein sogenannter Freigeist das jüngste Gericht erleben würde. Panik ist Treulosigkeit als Katastrophe, konzen­

triert auf ein winziges Zeitstück, darin alle nur mög­ liche Untreue eines ganzen Lebens zusammenschießt

und präsent wird. Panik ist physiologischer Personsverlust.

1943

Passivität

Der Mensch ist Fußball im Sturm und Schuß seiner

Motive. Aber nur wenn er sich wie ein Fußball ver­ hält, kommt er auch wirklich voran, und endlich in’s

Netz des Tors.

1956

179

Pathologisch

Das Pathologische ist nichts als ein ,wandernder Ak­

zent* (Gütersloh), welcher über dem Allzu-Individuellen steckengeblieben ist. Alles Abnormale kommt

auch im Normalen vor, das heißt, auf dessen Gebiet

noch gabelt es in seine Widersätze, in seinen Widersinn. Abnormal wird der Aspekt erst, wenn die Gabelung gänzlich aus dem Gesichtsfeld entschwunden ist und zwei einfach auseinander geratene Stücke und Stränge

daliegen, die nichts mehr zusammenbringt.

1942/43

Pathologisch

Alles Pathologische beruht auf einer zu weitgehenden

Intimität mit sich selbst, also dem Gegenteil der Selbst­

verleugnung.

1944

Persönlichkeiten Kaum irgendwer tut einen Schritt über seine Herkunft

hinaus. Allermeist wird nur aus den gegebenen Bau­

steinen ein originelles Puzzle zusammengesetzt. Doch geht die Sache nie mit dem letzten Stein auf, und paßt

auch nicht ganz in die Schachtel. Jener letzte Stein wird dann ein Leben lang in der Hosentasche getragen, zu klein für einen Stein des Anstoßes, zu groß für einen Stein im Schuh: dort würde er mindestens drücken, und

schließlich wüßte man sogar wo. 180

I953

Phänomen und Position

Der Schriftsteller versinkt dem Phainomenon gegen­ über (denn alles ist Begegnung!) in apperceptives Schweigen. Nach mitunter sehr langer Zeit schließt sich das Phänomen dann auf, es beginnt zu klaffen wie eine

Muschel. Der Mensch guten (aber nicht des besten!) Willens protestiert nicht selten gegen ein Phänomen.

Es öffnet sich dann nie. Die unangemessene Reaktion - als ob es sich da um eine Position handeln würde,

gegen die man dialektisch angehen könne - hinterläßt jedesmal eine unbefriedigende Lage. Wenn sich solche Rückstände Lamelle auf Lamelle summieren, dann ent­

steht die Hornhaut des Pessimisten, aus welcher im ungünstigsten Falle sogar das Horn des Weltverbesse­ rers wachsen kann (cornu cutaneum ideologicum), wo­ mit das Homtier dann jedes Phänomen angeht und

1961

aufzuspießen versucht.

Philanthropen Diese Edlen, die gleich beim Du sind, haben wahrschein­

lich mit ihrem Ich nichts anzufangen gewußt. Es hat ihnen nichts zu beißen gegeben. Jetzt haben sie die Anderen zum Fressen gern.

1952

Photographieren Alte Photographien: so formlos, lächerlich oder gerade­ zu grundhäßlich erschienen sie uns nicht, als sie neu 181

waren; sonst hätten wir manche von ihnen keineswegs aufbewahrt. Der rohe, mißverständliche Naturalismus

des Apparates riß hier ein winziges Stüde aus dem

weitschweifigen Ornament einer Lebenslinie, dessen

noch offene Seite die Zukunft meinte; von ihr will das Objektiv nichts wissen; sein Schnappschuß ist dem Bio­ graphischen und dem Porträt fremd; er sistiert das Leben. Jemand photographieren heißt beinah, ihn auf sublime Weise totschießen.

¡951

Polemische Konstruktionen

Auch falsche Windhosen können sich hochtürmend und brüllend von unserem Seelenboden erheben. Sie reißen

allen angesammeken Dust und Staub mit. Aber sie

sind hohl, wie eben alle Hosen oder auch Ärmel, in die

man ad hoc gefahren ist: als in’s Kostüm unserer je­ weiligen polemischen Konstruktionen.

1936

Politik

Das Gebiet des Politischen, seinem Wesen nach chao­ tisch-affektiv, dissimuliert diesen Sachverhalt durch

unausgesetzt vorgetragene Positionen und ContraPositionen von allen Seiten, obgleich doch evident ist, daß nur sehr wenige oder garkeine positionsfähigen

Individuen hier agieren.

ijfj

182

Pornographie Es gibt keine Porno-graphie; sie wäre Pseudo-graphie;

man setzte sich da, wie der Pseudologe sprechend neben

die Sprache, schreibend neben das Schreiben; oder wie ein der Trägheit Ergebener lebenden Leibes neben das

Leben sich setzt.

Die parteigerechte und in diesem Sinne optimistisch ▼erfaßte Literatur in den totalen Staaten ist geistes­

mechanisch der Pornographie durchaus analog.

Pornographie sowohl wie totalistische Literatur

exemplifizieren beide gleichermaßen die Sprache der zweiten Wirklichkeit. Man sollte im Schriftwesen nicht ,Schmutz und

Schund' oder ,Kitsch' sagen, sondern: ,Pseudographie*. ipji

Pornographie

Pornographische Prosa ist in einer anderen Sprache geschrieben, nur mit den unsrigen Vokabeln, wobei sol­

che gehäuft werden, die für den Autor (je nachdem) sexualbedeutend sind. Hierin liegt die auffälligste

Schwäche pornographischer Prosa und hier wird denn

auch sichtbar, daß die sprachliche Zuleitung ihr fast gänzlich abgedrosselt ist. Daher ihr brackiger Charak­ ter. Es gibt keine gute und keine schlechte pornogra­

phische Prosa, sondern nur eine die diesem oder eine die jenem sexuellen Gestimmtsein mehr oder weniger entspricht, und fast immer mangelhaft, weil, so allge­ 183

mein jene Gestimmtheiten sein mögen, so besonders ist bei jedem Einzelnen jede einzelne von ihnen ausge­

prägt. Pornographie ist nur einer der vorkommenden

Fälle von Pseudographie, und zwar eigentlich der harmloseste, weil sehr deutlich gekennzeichnet.

1960

Pose

Ein bisserl Äfferei, Geckerei, das gehört schon zum Wohlbefinden, zur guten Form: es ist ihr nicht ganz

fertig gewordener äußerster Teil, ein Schwänzchen, das

man ihr angehängt hat, weil es nimmer hat wachsen wollen: Pose ist eine Form-Prothese.

19s»

Praegrammatik Im Praegrammatischen liegt des Schriftstellers Mühe. Das Musische und das Musisch-Technische verstehen sich immer von selbst (so wie das Moralische, von

welchem Vischer das einst gesagt hat).

1954

Präsenz

Alles spricht: die Dächer der Häuser bilden eine Ge­ heimschrift, das Siegelzeichen des Lebens für diesen

1941

seienden Augenblick. 184

Präsenz Die Interpretation des eben jetzt Gegenwärtigen ist

unmöglich, ja, ein sinnloses Unterfangen, das zur Ver­ dummung führt. Alles muß vor allem einmal vergan­

gen sein. Der Gegenwart aber tut nur die Apperception genug. Atmen wir also tief ein, und machen wir’s uns

leichter in allem anderen. Später erst wird sich zeigen, was in unser Netz ging, wenn es rauschend und triefend aus dem Tief-Wasser der Vergangenheit heraufkommt:

mit braunem feinsten Schlamme, mit süß-fauligem

Duft, mit der leuchtenden Rostfarbe des Einst und mit gehöhltem Erinnern.

>954

Präsenz

In der Gegenwart leben wir dann, wenn die Dichtigkeit der Mechanik unsres Geistes sich an die Dichtigkeit der

Mechanik des äußeren Lebens heranhebt: besteht dies­ bezüglich ein Gefälle von der Außenwelt und ihrem Festigkeitsgrad herab zu unsrer jeweiligen Aufge-

weichtheit, dann sind wir im Augenblicke dem Leben nicht gewachsen, sind nicht,schicksalsgesund*.

¡957

Prätentionen

Man muß es bis zum wirklichen Zusammenbruche aller seiner Prätentionen gebracht haben, um endlich das freundliche Tiefland menschlicher Schwäche, nach ge­

fallenem Dunste, zu erblicken, mit seinen Hecken, Zäu­

nen, grünen Weiden und Bächen. Nun steigt man selbst hinab von den heroischen Klippen (innen hatten sie

süße Fülle wie Schokolade-Bonbons, Konfitüre des Selbstwerts), um endlich sich als dieses eine und letzte dort unten wandelnd zu agnoszieren: als einen ganz

gewöhnlichen Menschen. Ja, es gilt, wenn er schläfrig,

unordentlich, faul oder geil ist, es gilt, er ist es wirklich, es sind die facta seines Lebens. Er ist ein Mensch. Er hat es nur verhältnismäßig spät entdeckt.

1941/42

Prätentionen

Prätentionslos leben heißt passiv und rezeptiv leben. Unsere Prätentionen sind die abgebrochenen Spitzen

irriger Aktivität, die sich gegen uns gekehrt haben, und nun als Stachel in unserem Fleische stecken.

1957

Produktiv und Unproduktiv Es gibt im Grunde nur zwei Parteien, zwei geheime

Gesellschaften, die sich unausgesetzt bekämpfen: die

Produktiven und die Unproduktiven. Beide erkennen sich selbst und ihresgleichen auf Grund von ungeschrie­

benen aber unerbittlichen Gesetzen. Die eine Partei ist

qualitativ, die andere quantitativ unermeßlich überle­

gen. Bei Zusammenstößen hauen sie daher aneinander vorbei und hiedurch wird es ermöglicht, daß die Ge186

schichte der sogenannten Menschheit sich immer noch fortsetzt.

1946

Proletarier

Proletarier ist jeder Zeitgenosse, der seine persönliche

und seine Berufs-Ehre für das Klassenbewußtsein da­ hingegeben hat, ebenso wie sein individuelles Schicksal

für ein Klassenschicksal. Er hat sich damit restlos er­

setzbar gemacht. Nur wer ihn dies andauernd fühlen

läßt, wird ihn, der ja, nach obigem Akte, wesentlich kein Mensch mehr genannt werden kann, niederzuhal­ ten vermögen. Fehlt dies, dann tritt sogleich die eigent­ lich proletarische virtus in Erscheinung: nämlich bei

jeder Perception den Punkt vor allen anderen zu sehen, wo der Hebel einer Erpressung sich etwa ansetzen ließe.

Scharfer Rattenblick von unten.

194®

Prosa Die Prosa ist die Kunst des Außen-Stehens. Ein irgend­ wo und irgendwie Dazugehören ist mit dieser Stellung des Prosaikers unvereinbar. Er verifiziert sich nicht so

sehr durch das, was man allgemein ,die Distanz* nennt, sondern durch eine Unvoreingenommenheit, welche da­

durch entsteht, daß er in den umklammernden Ring des Tatsächlichen eine Bresdie geschlagen hat, nämlich

an der Stelle, die er selbst früher einnahm. 187

i9$o

Prosa,

erzählende

Jeder mit der erzählenden Prosa gemachte esoterische

Versuch wird sie bereichern und neu ernähren; aber sie wird immer wieder in ihre Grund-Lage zurüdcschwirren, wenn man sie aus dieser gebracht hat - und dabei

gibt sie, wie die Saite, den Ton und wie die Sehne den Schwung - in ihre Grund-Lage, welche eben zwei

Punkte verbindet: deren einer, der Leser, sei’s auch der

idealisch gedachte, sich draußen im Exoteron, im Sozi­ alen befindet. Darum konstituiert den Erzähler auch

die Konzilianz, äußerer Abglanz eines Eros, der das Objektive zu umarmen sich sehnt.

1945

Prosa-Satz, der epische

Der epische Prosa-Satz darf weder rein statisch werden, wie der Satz Güterslohs, noch rein dynamisch als ein

hochgespannter Strom von geringer Stärke, wie etwa

jener, den eine Influenz-Maschine erzeugt. Er muß dy­ namisch sein aber füllig, und auch fähig, tiefere Becken

zu bilden mit einem Tempo gleich null: doch immer Richtung bewahrend, selbst wenn er steht: so bestimmt er Bodengestaltung und Aussehen der ganzen Gegend,

durch welche der Leser geführt wird.

1966

Prostitution Die Prostitution ist nur eine Fatamorgana des Sexuel­ len für Wanderer in der Wüste der Entbehrung. 188

1965

PSEUDOGRAPHIE

Man muß geduldig abwarten, bis alle Gebilde, die man gewählt und herbeigequält, vorgestellt und zusammen­

gestellt hat, wieder geplatzt und zu nichts geworden

sind. Idi weiß aber, daß bei manchen auf diese Art Büdier entstehen, vor dem Platzen, heißt das: Pseudo-

graphien, worunter Tendenzsdireiberei und audi die Pornographie nur gut gekennzeichnete und also relativ

harmlose Sonderfälle darstellen.

1965

PSEUDOLOGIE DES LOBENS

Pseudologie des Lobens ist die Ausschmückung der ge­ lobten Person, der gelobten Personengemeinschaft, des

gelobten Zeitalters oder Zustandes immer in einer mit

den konventionell bereitliegenden Vorstellungen im Einklang befindlichen Richtung: entweder weil man da

irgendwie dazugehört und sich also selbst mitlobt; oder aber - und fast noch häufiger! - weil man so in

getarnter Weise den ja immer im Relativen liegenden

Gegenstand des Lobens durch gehäufte Qualitäten ver­ absolutieren kann. Die Pseudologie des Lobens ist ein

wichtiger Faktor bei der Entstehung des sogenannten ,Führertumes* und beim vorgeschrittenen und sich noch immer steigernden und übersteigernden Stadium

des Ruhms und Nachruhmes. Solches Loben gedeiht freilich am besten dort, wo keine Kontrolle möglich ist,

oder bereits feststehende und anerkannte Anekdota neu aufgebläht werden können. Es gibt von hier aus auch

189

eine Verbindung zur sentimentalen oder ästhetizisti­

schen Religiosität, wobei dann der Gelobte eben der Schöpfer selbst ist (Rilke/Stundenbuch).

1952

Psychologie Die wissenschaftliche Psychologie, wenn sie nicht be­

zogen wird auf die Entelechie des Menschen, kommt mir vor, wie die Betrachtung eines Pfeiles unter Ab­

sehen von der Spitze: da werden Schaft und Fiederung zu unbegreiflichen, ja fast monströsen Formen, und man gelangt am Ende vielleicht zu der Vermutung, das

Ganze sei ein Werkzeug um Schaum zu schlagen oder etwa, um sich am Rücken zu kratzen, wenn’s juckt. 1951 Punkte,

unsere schwachen

Ein Pegel sind gewisse unserer Angeschlagenheiten;

man muß solche Marken kennen. Bei Niederwasser

fällt man unter sie zurück, sie werden siditbar.

1966

Pünktlichkeit

Extreme Minutenpünktlichkeit ist eine Art von Exhi­ bitionismus aus Unterwürfigkeit vor der mathematisch­

physikalischen Zeit und läßt den Schluß zu, daß im

Hinterland eines solchen Überpünktlichen entweder Sandwüste vorherrscht oder eine profunde Unordnung,

welche dazu nötigte, die Unruhe hierüber in’s Gehäuse der Uhr zu bannen.

1946 190

Pythia,

die

Die Funktion der Pythia war nicht, mit einem .seheri­

schen* Äug’ in die Zukunft zu blicken, wobei dieses

Auge leer und nur feierlich aufgesdilagen geblieben wäre, blinkend wie Fensterglas. Sondern in’s Eingewei­

de alleranschaulichster Gegenwart hielt sie den Blick

versenkt und enthielt sich jedweden Brückenbaues aus

den dürren Brettern und Stangen des Vermeinens, diese etwa einmal so und dann wieder so gegeneinander und

übereinander stellend. Unter die eigenen Sohlen, in’s Grundgeflecht der hier und jetzt seienden Minute ver­

sank ihr Blick, wie ein Stein im Wasser versinkt. Die

Prognose jedodi rollte ihr fertig in den Schoß und als ein unerbetenes Geschenk.

1943

Einträge zu P

192

R Rätsel

Rätsel-Madien, das ist Sadie der Flachköpfe, denen

nidits rätselhaft ist. Unsereiner ist da überfragt, und mit Rätseln überlastet, bei jedem Blick in die Welt. Wozu braudi* ich Rätsel? Sie wachsen einem über den

Kopf, man hat nicht not, sie zu machen. Mein schäbiges Ich allein schon ist mir ganz rätselhaft genug. Den

Rätsel-Onkeln ihres aber kann ich mir vorstellen, und es kann mir gestohlen werden.

i952

Rechts und links (konservativ und revolutionär)

Ein profundes Appercipieren scheint wirklich alles li­ quidieren zu können: eine neue Welt geht da auf; es

ist die alte, die ewig selbe, die uns verstellt war. Das führt wirklich zu einer neuen Geburt in’s Alte. Neuge­

boren werden zu dem, was immer war: damit sind Konservativität und Revolution, rechts und links, die

Flügel und Extreme sogenannter .Gesinnungen* über­ wunden, damit ist jene Ebene betreten, auf welcher der historisch handelnde Mensch steht. Damit ist alles noch einmal gegeben; nicht zu unserer Selbstrettung, nicht,

daß wir’s neu sammelten und ordneten; sondern damit

wir’s endlich sähen, grad im aufblitzenden Scheine des 1951

Verlustes.

193

Rechtschreibung

Bei den meisten Nationen bildet die Sprache das Ge­ meinsame. Bei den Deutschen die Rechtschreibung. Da­

her das Herumreiten auf dieser. Die Deutschen sind in der Tat eine schriftsprachliche

Nation im Sinne Oswald Spenglers. Eine Nation be­ ruht - scheinbar entgegen dem Wortsinne - nicht auf

gemeinsamer Geburt sondern auf gemeinsamem Erleb­ nis: auf der zweiten Geburt also; Bei den Deutschen

ist das die Rechtschreibung gewesen. Etwas sozusagen

Planimetrisches also. Erlebnisse pflegen sonst dreidi­

mensional zu sein.

1941

Reflex-Totalismus Der Reflex-Totalismus ist die Art, wie ein in der Drei­ dimensionalität beheimateter Mensch, der sich in eine

bloß planimetrische Welt verirrt sieht, auf diese rea­

giert, jetzt selbst bereits in der hoffnungslosesten pla-

nities losrasend gegen einen Gegner, der nur aus Ver­

kommenheit und ganz beiläufig, aus Neigung aber nicht aus Entscheidung, das ist, was jener unter ihm sich

1941

vorstellt.

Reife Am Ende - und also an einem neuen Anfang - stellt

man sich als den, der man war, wie einen Wanderstab

in die Ecke; nicht, weil man sich am Ziele glaubte; son-

194

dein weil man endlich dahintergekommen ist, daß einem ja dieser Stecken ständig zwischen die Beine ge­

riet. Er war ein Steckenpferd. Das ist reiferen Jahren

denn doch nicht mehr angemessen.

195 3

Reife

Reif ist, wer auf sich selbst nicht mehr hereinfällt. Ge­

nauer: Reif ist, wer die phantasmagorischen Prämissen seines Handelns oder Verhaltens ein ganzes Leben ent­ lang erkannt hat.

1961

Reisen .Reisen* als plaisir ist wesentlich Unsinn - deshalb

treibt’s alle Welt heut gar so sehr. Man muß nicht ir­

gendwohin fahren - sondern hingelangen, das heißt ein Leben führen, das hinlänglich ist, um einen irgend­

wohin zu bringen.

1958

Revolution

Befangenheit ist für das Leben konstitutiv; Dummheit für das bloße Dasein; Irrsinn die unmögliche Flucht

aus jenem; Selbstmord die mögliche und damit der

Schlußpunkt hinter dieser ganzen Kadenz von Apperceptionsverweigerungen. Kein Wunder, wenn die Men­ schen in’s Revolutionäre abbiegen; ich vergaß es bei

währender Kadenz. Ihnen aber fällt’s noch rechtzeitig

194°

ein.

’95

Revolution

Der Revolutionär flieht vor dem, was am schwersten zu ertragen ist, vor dem nicht finalisierten Zerstreut-

Komplexen des Lebens nämlidi (aber darin gerade Spannung zu haben, macht ja die via legitima aus) in

die Richtung der Vollkommenheit, was in der Welt seiner Untertatsächlichkeiten jedoch bestenfalls Voll­

ständigkeit bedeuten könnte.

1942

Revolution

Daß die apriorische Apperceptions-Schwäche sehr bald zur ausgewachsenen Apperceptions-Verweigerung füh­

ren muß, ist klar; denn niemand bewegt sich gern in der Richtung des größten Widerstandes und des min-

dren Talents. Daher verdummen alle Revolutionen schon nach verhältnismäßig kurzer Zeit.

1942

Revolution

Wer irgendwo zu schwach ist, um in der Welt wie sie

ist zu leben, der verabsolutiert gern .idealistisch* einen Zustand, der sein soll, gegenüber dem tatsächlich seien­ den; in welcher Richtung nun immer finalisiert, wird jener Zustand doch stets ein und dasselbe Grundmerk­

mal haben: daß die Schwäche nämlich, um welche es hier jeweils geht, in ihm als Stärke werde auftreten

1942

können. 196

Revolution

Jede Revolution ist viel weniger Bauplatz der Zukunft

als Auktion der Vergangenheit.

1944

Revolution Revolution ist Lebensmüdigkeit. Man löst das Politi­

kum durch totalitäre Abschaffung der Politik, jedes

Problem durch Abschaffung der Dialektik, die ein­ gebildete oder wirkliche ,Judenfrage* durch Abschaf­

fung der Juden - und so weiter, bis zur Abschaffung des Lebens überhaupt. Die Last der Geschichte ab­ zuwälzen, indem man die Gegenwart entleert und den

Akzent von rückwärts nach vorn wirft, in eine un­

anschauliche Zukunft, um derentwillen aber jetzt und hier recht anschauliche Verbrechen begangen werden sollen: das ist die letzte Weisheit all’ dieser Dünnblüti­

gen oder überhaupt Blutarmen im Geiste ... avant tout

des fusillades massives; puis, le bonheur universel... 1950

(Valéry).

Revolutionäre Im Kerne ist jeder Revolutionär ein Reaktionär. Seine

Sterilität hindert ihn, geistige Zukunft zu sehen, hier fehlen ihm die Instinkte, er staffiert sich mit den an­

erkannten Werten der Vergangenheit aus, ist also im springenden Punkte nach rückwärts gewendet.

197

1944

Rhapsodik Rhapsodik ist eine Ausdrucks-Leistung, kein EindruckMachen. Der Schwerpunkt ihres stabilen Gleichgewich­

tes liegt unter dem Stützpunkt, und keineswegs auf der sozialen Ebene, wie bei der politischen Rhetorik (und auch die wird gut tun, ihren Schwerpunkt etwas

einzusenken). Rhapsodik bedarf des Publikums wesent­

lich nicht: sie ist monologisch. Aber ein tüchtiger Rhap­

sode wird diesen unliebenswürdigen Sachverhalt ver­ schleiern und immer ein wenig so tun, als sänge oder spielte er zu seinem Publikum hin, als spielte er wirk­

lich denen etwas vor. Und der Erzähler, wenn er rhapsodiert, wird mit Vorteil zwischen seinen eigenen Mo­ nolog und die Zuhörer eine parfümierte Wolke der Verbindlichkeit rollen: das dämpft schon alles, das schließt alle zu starken Chargierungen des Pathos aus,

das kann vielfach und streckenweise dazu führen, daß er geradezu - behaglich erzählt: nicht anders, als wär* er im Gespräch mit seinen Hörern, und jetzt grad am

I9J2

Worte.

Riechen und Denken

Ein Geruch ist unter allen Umständen ein höheres

Valeur im Spiel des Geistes als ein Gedanke. Aber die Massage des Denkens müssen wir uns doch voll appli­ zieren, sonst werden wir stumpf und am Ende un­

empfindlich für Gerüche. Das Denken ist dem Schrift­

steller nur stellvertretend für das Nichts. Denn das zer198

legungsweise Denken hat noch keine Form. ,Wo keine

Form ist, dort ist das Nichts.* Das Denken muß die Pausen unseres Riechens ausfüllen, um uns die Nase zu schärfen.

1957

Roman

Alles ist zugleich trivial und absolut wunderbar, und so muß es denn auch von diesen beiden Seiten erfaßt werden: das ist die eigentliche Kunst des Romans. Nur

darf das Triviale nicht tendiert, das Wunderbare nicht

hinein-interpretiert werden.

19 j 3

Roman Der auf empirischer Psychologie beruhende Roman (Saiko) muß, so und so oft geübt, Sinn und Antrieb verlieren, wegen der Ausdehnung einer Deskriptions­

fläche, die sich nach und nach in inflnitum addiert, und schließlich den gleichen Aspekt bietet, wie die positi­ vistischen Fachwissenschaften. Nur eine dialektische (geistesmechanische) Psychologie, welche auch die empi­

rische komplett zu dirigieren vermag, ortet nunmehr

den Roman als Gesamtkunstwerk und als ein durchaus

neu am Horizont erscheinendes Faktum der Kunst. >954

Roman Ein Roman muß herz-zerreißende Örter enthalten, 199

sei’s auch durch Süßigkeit zerreißende, nicht durch

Atrocität. Einmalige Lagen, die zu Kristall schießen: das sind seine novellistischen Akzente, die Schaum­

kronen über den langen Wellen epischer Dünung.

>954 Roman

Die Kunst des Romans besteht darin, außervernünftige

Zusammenhänge entdecken zu können, welche schließ­

lich auch das Vernünftige mit einschließen. Von da her

muß der Roman durchaus .verständlich* sein, minde­ stens aber einer großen Zahl von Lesern so erscheinen, die ihn garnicht verstehen.

1965

Roman, analytischer Die Mummerei der in’s Fleisch gefahrenen kontra­

diktorischen Ideen zu durchschauen und die hand­ gemein gewordenen und durcheinander geratenen Geg­

ner zu erkennen und zu trennen, ist der wesentliche Be­

freiungsakt, den der Schriftsteller für sich und andere zu setzen hat: eben diesen! Der umgekehrte, wobei die Ideen erst zu Fleisch kommen sollen, gilt nicht; es be­ steht auch kein Bedarf nach ihm. Nur die Konkretion

bedrängt uns in der Lebens-Enge, ihr muß die Spitze geboten werden, denn in ihr allein ist, nach Aristoteles, die Idee vorhanden. Das Ideologische aber zieht sich

von selbst immer wieder zu einer Spitze aus, die auf

200

jeden Fall abbricht an den Konkretionen, auf welche

sie trifft.

1933

Roman - Atmosphäre Zu wissen, wie man einst selbst in Befangenheiten ge­ kommen ist, und solche Befangnisse dann darzustellen

durch die Chemie der Sprache, sie artifiziell zu erzeu­

gen, sie zusammensickern zu lassen aus vielen sich ver­ bindenden Rinnsalen: dies ist das erste Fundament

allen Romanschreibens, das schafft die Atmosphäre; diese Grundlage zu gewinnen, muß einer viel gelitten haben, auch unter der leidigen, unbegreiflichen Angst. 1952

Roman - sein Ende Die Wirklichkeit setzt das Vorhandensein des Einzel­

nen voraus, der allein Innen und Außen in stets

schwankender Weise zur Deckung bringt. So auch bleibt der Roman an jenen Einzelnen gebunden. Von einem Kollektiv kann nur in der Form einer Chronik oder auch Reportage berichtet werden. Es ist geschichtslos,

und recht eigentlich eine Rückkehr hinter den Beginn

der Geschichte, zur Vorgeschichte nämlich. So scheint es der moderne Neandertaler zu wollen. Er hat genug.

Ihn erfaßt ein taedium rerum gestarum. Wer vermöchte das nicht mitzufühlen! (Aber es kann ihm sein taedium

nichts helfen. Es finalisiert nicht, sondern wird selbst wieder zum Keimboden von Einzelschicksalen in der

besonderen Tingierung unseres Zeitalters.) 201

1961

Roman und Novelle

Jede wirkliche Novelle schleust uns durch den engen Kanal einer Ausnahme, darin der reißende Fluß sich

in’s Mahlwerk der Erzählung stürzt. Danach aber münden wir und treiben langsamer, hinausgeschwemmt

in’s offene Meer mit unbestimmt sich wegwendender Küste im Sonnenglast. Der novellistische Lotse geht

von Bord, der Kapitän für große Fahrt übernimmt

unser Schiff: es ist der Romancier.

1957

Roman, realistischer

Daß wir so inhaltsbelastet sind im realistischen* Ro­ man, eben das macht diese Form so edel. Wir escapieren

nicht, wir lassen nichts hinter uns und wenden uns einem Höheren zu; sondern hier und jetzt, auf dieser uns ge­ gebenen Ebene und im dort angetroffenen Materiale

wird dem Geiste sein Recht erkämpft und sein Sieg ge­ wonnen, der ihn alles durchdringen läßt, da sei es, was

es sei.

1961

Roman, totaler

Der totale Roman ist der geometrische Ort aller Punk­ te, die sich gleich weit entfernt befinden von der Kunst,

der Wissenschaft und vom Leben tel qu’il est. Romancier,

1941

der

Ehrlich ganz von sich weg wollen, am Reiz der Objek­

tivität erwärmen - und das heißt, die Tiefe des äuße-

202

ren Lebens erkennen und die relative Seiditheit alles Psychologischen - bereit sein, aus allem Material die

Brücke in’s Jenseits im Diesseits zu schlagen: das macht unseren Mann, den Romanschreiber, der stets und wil­

lig stellvertretend für Jeden lebt.

1955

Romanschreiben

Es gibt hier nur Ausfühlungen: bis zum letzten; wie

man in einen Handschuh ganz hineinfindet und ihn dann ausfüllt.

1915

Romantik

Romantik ist die nach rückwärts gewandte revolutio­ näre Dummheit, welche in dieser Dimension sehr wert­ volle Bundesgenossen antrifft: nämlich die reaktionären

Horntiere.

1941

ROT, DER SCHLECHTE

Wir müssen unser Vorderhaus mit seiner Fassade, das wir so lange bewohnten, durch die diskreteste Hinter­

tür verlassen, die es nur geben kann. Ja, wir müssen uns an den Fenstern dort vorne recht oft noch zeigen, und sogar mit schlechter Aufführung, auf dem Balkon

mitCourtisanen sitzend und aus den Fenstern die leeren

Flaschen werfend. Die Welt hat über uns - unerbittlich

203

ihr Protokoll führend - gemäß der tatsächlich gebote­

nen Fassade längst endgültig ihr Urteil gefällt und sich so mit uns eingerichtet und zusammengelebt, sogar viel­ fach in großer, ja für uns beinah unermeßlidier Tole­ ranz. Sie kennt unsere Fassade, unsere Blende, unsere

Maske, und zwar als ,angewachsene Maske* (wie Gütersloh es nennt), was sie auch tatsächlich war. Hin­

ter diese zurüdcweichend wischen wir leise hinaus.

Wenn wir’s in unserer Zelle vermögen, die Maske mit Hut und Stock einfach beiseite zu hängen oder vor dem Ausgehen die Maske mit Hut und Stock automatisch zu

ergreifen und sie umzubinden, so geschieht das, weil

wir vor der Umwelt Respekt haben und zu bescheiden sind, sie auf den veränderten Sachverhalt aufmerksam zu machen und um eine Revision ihres Urteils zu bitten

- und vielleicht aus dem dunklen aber unabweisbaren Wissen, daß wir dort im Vorderhause immer noch ge­

nug zurückgelassen haben, um manchmal einen kleinen Sprung dahin machen zu müssen, was wir doch lieber

unter einer längst eingewirtschafteten Toleranz als

unter dem wachsamen Blick eines neuestens wieder scharf gemachten Auges tun werden ...

194»

Ruhe

Statik des Seienden - also tiefste Ruhe - ist das äußerste Gegenteil von Langeweile. Wenn die Zeit überwunden ist, braucht man sie nicht zu vertreiben.

1958

204

Rühm

Den eigenen .Erfolg* muß man sich integrieren, damit er nicht wie eine Prothese an uns hänge. Aber das darf

nicht mit dem primitiven ersten Selbstbewußtsein ge­

schehen - sofern einer noch ein solches hat - sondern durch klares Erkennen der Irrationalität des Ruhmes,

der keineswegs in der Verlängerung einer Leistung liegt (welcher er auch nicht immer folgt) sondern gleichsam

von seitwärts her, und wirklich aus dem Irrationalen herantritt: der Ruhm lohnt nicht das Werk, sondern die Gesinnung eines ganzen Lebens, auf welches seine

fahle Sonne nun fällt: und auch in ihr soll sich’s jetzt

1957

bewähren.

205

Einträge zu R

206

s Sammelnamen

Sammelnamen haben den Haß zum vernehmlichsten Ursprung und Interessenten, der sich so gegen ein Un­ anschauliches austoben kann, ohne jene Hemmung, die

vom einzelnen Menschenangesicht immer noch ausgeht. 1942

Satire

Karikatur und Satire sind die billigste Art, sich von einem Objekt zu distanzieren: man stößt es zurück,

statt daß man es apperceptiv konsumiert; denn es be­ kommt nicht. ,Difficile est satyram non scribere' be­

zeichnet die Grenzen der Leistungsfähigkeit einer schwachen Verdauung.

1960

Schauspieler

Im Schauspieler kommt, bei sonstiger dem Stande eigentümlicher geistiger Zurückgebliebenheit, die Form,

welche gleich von Anfang an seinen Gliedern, Mienen

und Gebärden beigebracht wird, zum Kurzschluß mit

dem übrigen Leben solchen Kujons, welches sie nicht, wie beim Spirituellen, erst nadi und nach durchdringen muß, um schließlich in seine Glieder, Mienen und Ge­

bärden zu sickern, anima forma corporis. Daher solche 207

Burschen eine weit über ihren Verhältnissen liegende, also übertriebene und lächerliche, Geformtheit auch in

ihrem grauslichen Privatgestus aufweisen, freilich: im

gestus nur.

193J

Scheinprobleme Wenn man sich zu nah an Menschen, Verhältnisse^ Fragen und Einzeldinge hinstellt, geht die Perspektive verloren und es entstehen Scheinprobleme, die bei ge­

wonnener größerer Distanz einfach verschwinden, da­

mit beweisend, daß sie nichts anderes waren als solche.

Und gerade sie wollen den Unwissenden stets verfüh­ ren, ihre Lösung auf der gleichen Ebene zu versuchen, auf welcher sie trügerisch sich uns stellen. Aber selbst

ein wirkliches Problem ist so nicht lösbar, und bei den Scheinproblemen gehört die Unlösbarkeit zu ihrem

1961

Wesen.

Scherz

und

Ernst in der Kunst

Es gibt in der Kunst keine Grenze zwischen Ernst und

Scherz. Wenn beide vollendet im Ausdrucke sind, kön­ nen sie fortlaufend wechselweis ineinander übergehen. Sie gehören derselben Ebene an: Stimmen im süßen

Spiele, verschiedene Segmente der Orchesterpalette, wie Streicher oder Bläser. Weiter nichts. 208

1960

Schicksal - mit und ohne

Es gibt in der Zivilisation zwei Menschen typen: solche, deren Leben eine Darstellung ihrer innewohnenden Entelechie ist, die sich verwirklicht, oder zerstört wird;

und solche, deren Leben eine Darstellung des außer­

halb ihrer liegenden Apparates ist, den sie auf sich selbst anwenden, bis sie mit ihm identisch oder durch

ihn vernichtet werden. Nur der erste Typus hat eigent­

lich Schicksal; der zweite lediglich einen Lebensverlauf, aber brauchbar für pressegerechte Fortsetzungsromane. 1952

Schrecken

Der Schrecken, der doch von außen in uns hineinzufah­ ren scheint, gelangt rasch in’s Grundwasser der Seele

und färbt es. Nun in der Mneme liegend, wird er von

allen Saugwurzeln der einzelnen psychischen Mecha­ nismen emporgesaugt und durchsetzt jetzt gleichsam von unten her erst das Bewußtsein: daher denn die Fülle seiner Metastasen in den Vorstellungen und ihren

Verbindungen, in den Gefühlen, überall. Mir kommt das so vor (freilich nur dem Mechanismus nach) wie

jene bekannte Sättigung des Bewußtseins von der ero­ genen Zone her.

1944

Schreiben

Schreiben: Über dem Abgrunde schweben, gehalten nur von der Grammatik.

1952

209

Schreiben Die letzte Wirklichkeit ist chaotisch: sie bedarf nicht

unsres Umsorgens; sie ist immer da, braut um des Autors Sessel, sieht ihm aus Augen, die ihr plötzlich hervorschwellen, über die Schulter, und hängt als eine ungeheure Birne von Dunkelheit gegengewichtig an

jedem Wort, das er schreibt.

Schreiben

und

1951

Lesen

Daß ganz gleichgültig sei, was man schreibt, sondern

wesentlich nur, daß man schreibe, ist jedem Schrift­ steller geläufig, da sein Stift sich immer erst in Bewegung

setzt, wenn die Einheit von Inhalt und Form erreicht

ist, worauf’s allein ankömmt. Jedoch ist auch vollends gleichgültig, was man liest. Ich kann durch den dümm­ sten Text auf die gescheutesten Gedanken gebracht wer­ den und wenn ich eine Buchseite für nichts anderes an­

sehe als einen Abflugplatz des Geistes (und so denke ich sie ja auch meinem Leser zu, der mich hoffentlich immer bald verlassen kann, um auf seinen eigenen Flü­

geln zu schweben) - wenn ich ein Buch also für einen

Gebrauchsgegenstand halte, dann ist seine Tauglich­ keit hiezu allein maßgebend, und ich werd’ mich bei solcher Einsicht wenig genieren, sogar das Allerdümmste

zu lesen wie zum Beispiel eines sicheren Herrn Pintscho-

vius ,Psychologische Diagnosen* samt ,Beischalte-Ver-

fahren* - solang ich’s aushalt’.

210

1945

Schriftsteller Ein Schriftsteller ist ein Mensch, dessen Sprache der

Welt entsagt hat, dessen Person in ihren Netzen ver­ stricht bleibt.

i9S9

Schriftsteller - Apperception

Die Apperception des Schriftstellers geschieht immer

sofort, gleichsam mit verhängten Zügeln, und aus­

nahmslos: das heißt, sie kennt nichts und keine Lagen,

die von ihr ausgenommen wären. Diese Apperception ist chaotisch wie das Leben selbst, und nichts gibt es,

was vor ihr und ehe sie geschieht, noch geordnet wer­

den könnte oder müßte. Sie kommt aus dem Chaos und erzeugt auch wieder dieses, da alle etwa vor ihrem Ein­ treffen noch vorhandenen Ordnungs-Örter und ihre

deperceptive Dialektik durch sie entleert und entwest

1959

werden.

Schriftsteller - Arbeit

Wenn einer sich als Schriftsteller nur am Schreibtisch verhält, so fällt seine Kunst am Ende als Fach in das

Geviert seines Arbeitszimmers und neben die übrigen

Tätigkeitsarten des Lebens. Im strengsten Sinne uni­ versal kann sie nur sein, wenn sie unaufhörlich und überall geübt wird - gleichsam schwebend wie die Teil­

chen einer Emulsion - nirgends aber wie eine Profession feststellbar ist. Das Professionelle, die Stunden, die 211

Mühe, die Schinderei mit einem Worte - von den an­ deren Menschen in bezug auf ihren Beruf gerne er­

wähnt - wird ein wirklicher Autor diskret verhüllen: als den Paradiesesfluch und das Verhaftetsein in der

Physik. Beides fälscht man nicht in eine Auszeichnung

um.

Schriftsteller -

1955

seine

Assoziationen

Jedes freie Assoziieren gebiert Ungeheuer. Jedoch ist

das kein Grund, die Ausgeburten des freien Assozi­

ierens als für uns keineswegs bezeichnend anzusehen.

Der Schriftsteller, der jenem ständigen Strome zusieht und an ihm fischt, kühl bis an’s Herz hinan, hält, was

da plötzlich und greulich hervorkommt, für kennzeich­

nender als unsere schärfsten Gedanken.

1957

Schriftsteller - seine Besuchsfähigkeit

Der Schriftsteller muß der jederzeit, Tag und Nacht, besuchsfähigste Mensch sein, der gedacht werden kann. Vor keinem empirischen Eintritte dürfen sich seine Pforten zusammenziehen oder verengen; geklopft

braucht da nicht lange zu werden. Türen und Fenster der Apperceptivität, der Begabbarkeit, klaffen auf 195 J

jeden Fall weit.

Schriftsteller - communio

Es gibt für den Schriftsteller den oder jenen Punkt, bei

212

dessen Berührung sich zeigt, daß er, um überhaupt

seiner selbstgesetzten oder verhängten Aufgabe ge­ nügen zu können, die Sdiuldmasse seines Lebens nicht

vor den Blick türmen, sondern hinter sich werfen muß. Anders: er muß an die Vergebung der Sünden wirklich glauben. Er gewinnt - und das gerade zeigt sich an jenen prüfenden Fällen - erst von der communio her

1943

seinen Standpunkt.

Schriftsteller - Existenz

Am Maße der Bewältigung von Objekten sich messen: und das über dem Abgrunde der eigenen Unwissenheit:

so ist die Existenzialformel des Schriftstellers.

1952

Schriftsteller - Formel

Percipiendo esse.

1955

Schriftsteller - sein Frieden mit

der

Welt

Die Objektsbewältigung und damit letzten Endes die indirekte Provokation des Grammatischen bilden das

tägliche Holzhacken, eine handhafte Tätigkeit, die sich ganz versöhnlich benachbart mit anderen, welche rund­ um geübt werden. Jeder Maler hält Frieden mit seinen Modellen, ja mancher steht zu ihnen in geradezu an­

rüchig guten Beziehungen. Die Deskription wird so

für den Schriftsteller ein Terrain dialektischer Ent-

1’3

Spannung. Das gestaltweise Denken führt zur univer­

sellen Zustimmung, und in eine Sphäre der Rekreation,

die dem kritischen Geiste verschlossen bleibt.

1952

Schriftsteller - seine Grundhaltung

Was den Schriftsteller unwiderruflich und entschieden von allen Gebildeten und Ungebildeten trennt, ist seine Bekehrung zur Heiligkeit der Sprache, sei’s in welcher Weise sie immer angewendet werde: schreibend (gram­ matisch), sagend (phemistisch), vortragend (rhapso­

disch), oder auch im inneren Gebraudi, also denkend, soweit in Worten gedacht wird, wie es vorwiegend

beim zerlegungsweisen Denken der Fall ist (cogitophemistisch). Hierin, in alledem, ist er außerhalb jeder

Meinung, allen Urteilens, aller Vorlieben, und allen

Kenntnisbesitzes. Er wird, anständigerweise, kaum je­ mand Positionsfähigkeit einräumen können, vielmehr

alles außerhalb der Verpflichtung zur Heiligkeit der Sprache Gesagte - und so reden Alle rund um ihn und

zum Teil noch er selbst! - als psychologisches Sym­

ptom und gewissermaßen als zugelassene Stimme der Materie sehen, und dadurch jene Milde erreichen,

welche ihr Geheimnis nicht mehr preiszugeben vermag. I9J2

Schriftsteller - seine Grundverfassung

Sehen wollen ist mehr als irgendetwas sein wollen. Der

Schriftsteller hat das erste gewählt.

214

>95i

Schriftsteller - Handschrift

Der Schriftsteller, wenn er arbeitet, ist die lautloseste

aller Kirdienmäuse: denn er madit sich dünn nicht nur für die Ohren der Anderen, sondern vor allem für’s

eigene Gehör, damit er sich nicht störe durch die Ge­ räusche seines eigenen Lebens, das er ja gerade aus dem übrigen eliminieren will. So schreibt er auch ganz klein,

allein schon deshalb, daß die Feder nicht kratzend 19 5°

plaudere.

Schriftsteller -

sein

Konservativismus

Ein Phainomenon bei sich selbst lassen - und das ist

freilich des Schriftstellers Grundgeschäft! - heißt, nach

innen umgeklappt: sich selbst unvollendet stehen lassen.

1959

Schriftsteller - Matinalität

Auf dem Dache des Lebens: so muß der Schriftsteller sitzen am Morgen, ante lucem, und dem Aufgehen des

Tags zusehen: der früheste Sommerwind gehört ihm,

der brauende, noch finstere Winternebel umgibt, und der erste Straßenbahnzug beschließt seine beste und

den Tag entscheidende Stunde.

1950

Schriftsteller - seine Notwendigkeit

In ein Jenseits im Diesseits übersiedeln, erst das macht

den Schriftsteller: in ein Jenseits aus lauter freier Apperception, ohne irgendwas, oder auch sich selbst, anders haben zu wollen, als es ist, anders benennen zu

wollen, als seiner essentia entspräche. Hier stehen

Wesen und Wort genau senkrecht übereinander, wie

ein Baum und sein Spiegelbild im Wasser. Und wächst das Wesen noch so hoch auf, so steht des Schriftstellers

Wort ebenso tief im spiegelnden Abgrund und hält es, durch die rechte Ortung. Nicht nur die materiellen Wurzeln sichern den Baum, und die Erscheinungswelt

überhaupt, so wenig wie das Brot allein den Menschen.

Schriftsteller - Profil Das Profil eines Schriftstellers reduziert sich zuletzt

auf seine Auswahl aus dem vorhandenen und seinen Beitrag zu dem entstehenden Wörterbuche.

1943

Schriftsteller - seine Sprachlosigkeit

Der Monteur schaltet den Strom aus, bevor er im Netze arbeitet. So auch muß der Schriftsteller in der praeverbialen Zone alles verrichten, um nicht vom Eigengewichte der Sprache getroffen zu werden. Aus­ fühlen, austasten, aus-schnuppem. Ist’s getan, so läuft

der ein treffende Satz über die rechte Leitung.

216

1961

Schriftsteller - seine .Stoffe'

Den Schriftsteller ernährt, was ihn nicht verzehrt hat. Nun lebt er von alledem, was er nicht geworden ist:

kein Doktor und Professor, kein Disponent und Dezer­ nent, kein Konto-Inhaber, Hausbesitzer, Sektionsrat

und Präsident, kein Vater und Erzieher. Jetzt frißt er

seine Möglichkeiten auf, deren keine ihn gefressen hat. Und gerade davon wird er prall und sehr konkret; und

schließlich sogar fähig, mit dem wenigen, was er zwi­ schendurch doch geworden, und einer Umwelt, die er

versehentlich doch gesetzt hat, fertig zu werden.

¡9i9

Schriftsteller - seine Struktur

Im Leben eines Schriftstellers kann es keine Ebene ge­

ben, die quer zur Sprache liegt. Alle ordnen sich par­ allel zu ihr und liegen unter ihr wie Stockwerke unter

einem flachen Dache. Von diesem aus sieht ein Autor herumspazierend die Welt.

1964

Schriftsteller - Übertreibung Die physiognomische Empfindlichkeit des Schriftstellers beruht auf seiner an Wahnwitz grenzenden Übertrei­

bung: er sieht in jedem Phänomen dessen Entelechie, und die fundamentalsten Gegensätze bereits dort, wo Krethi und Plethi einander noch lang in den Armen

1952

■liegen.

217

Schriftsteller - seine Undramatik Die einmal getroffene unwiderrufliche Entscheidung,

welche längst gefallen ist, macht jede andere danach

noch kommende zweitrangig, und das von vornherein. Wie weit einer ein Schriftsteller geworden ist, ließe sich in negativer Weise daraus abnehmen, inwieweit sein

Leben der dramatischen Lagen entbehrt.

Schriftsteller und

seine

1951

Vergangenheit

Zukunft

Man muß als schreibender Mensch einer nach sich selbst sein, einer, der sich selbst überlebt hat. Der einzige Ort, wo ein Schriftsteller von einiger Zukunft sich auf­

halten kann, ist seine Vergangenheit; auf die Zukunft hat er - eben weil er eine hat oder zu haben vermeint keinesfalls einen freien Blick.

i90

Schriftstellerinnen Eine Frau kann unter besonderen komplexen Bedin­

gungen in die Lage kommen, ein Schriftsteller zu sein. Für jeden Mann aber ist gerade das sein naturgemäßer Weg, von welchem er allermeist auf die verschiedenste und fruchtbarste Art dann abkommt.

195*

Schuld Es scheint, daß wir am gründlichsten vom Leben ge218

straft werden nicht im Zusammenhänge mit Inhalten,

die sich in unserem Bewußtsein befanden und mit wel­

chen wir falsch umgingen; sondern mit Beziehung auf solche, bis zu denen sich unser Bewußtsein nicht er­

streckt hat - und eben deswegen: Trägheit des Herzens,

Verweigerung der Apperception.

1946

Schutzprügel

Solche können aus Liebe verabreicht werden an jeden, der durch Physiognomie und Verhalten den Zorn der

Götter reizt. Die vorweg verhängte Buße bewahrt ihn

1962

vor Schlimmerem.

Schwäche und Leere Jede Schwäche sucht sich selbst zu entgehen, gleichgültig in welches Material. Wenn sie aber unbesorgt auf sich beharrt, dann taucht, genau ihr gegenüber, ein Gestade

aus dem Dunst, von wo ihr ganze Schiffsladungen, ja Flotten von Kräften kommen können, ungemessen: es ist der Strand der Leere, der geduldigen, apper-

1944

ceptiven.

Schweigen Schweigen ist nie Leere, sondern bis zum äußersten 19 J1

pralle Latenz.

219

Schweigsamkeit

Schweigsamkeit besteht nicht im Mundhalten sondern gerade darin, daß Einer seinen Mund garnicht mehr zn

haken nötig hat. In dem Augenblicke, wo man im Ger sprach bemerkt, daß man noch etwas sagen will und zu Wort kommen möchte, darf man durchaus garnicha mehr sagen.

1941/43

Schwerhörigkeit Das außerordentlich schwache Gehör mancher Zeit­ genossen verwandelt sich sofort in schärfste Hellhörig­

keit, wenn sie etwas wirklich interessiert, und ihr Vor­ teil ihnen gebietet, das oder jenes aufzufassen. Ein

Schwerhöriger, der seit einer Stunde sdion eine ganze Gesellschaft quält, ständig die Hand muschelförmig an’s Ohr hält, und sich alles zwei- und dreimal wieder­ holen läßt - versteht plötzlich die in einer entfernten Ecke geflüsterte Bemerkung, welche ihn angeht. Für

mich genügt das Erscheinen eines Schwerhörigen in

einem Kreise, um aus diesem sofort zu flüchten. Ins­

besondere dann, wenn dieser feinhörige Halbtaube eine

bedeutende Persönlichkeit darstellt, die niemand über­

gehen kann und um welche sich alsbald alles gruppiert. Die hinterhältige Abwehr und zugleich Übervorteilung

des Gesprächspartners, dem man’s so anstrengend wie

möglich macht, ihn solchermaßen auspumpend: dies in Verbindung mit einer genußvollen Quälerei, bei ge­

legentlichem und stets wohlbegründetem Einschalten Z2O

feinsten Gehöres: das alles zusammen übersteigt meine Toleranz. Die Schwerhörigkeit älterer Damen und

Herren ist in höchst seltenen Fällen eine echte, physio­

logische. Fast immer wird da nur eine Mauer gezogen,

an der sich alle Welt abstrampeln soll, während man behaglich hinunterblickt, oder auch plötzlich bei einem

Türchen herausschaut, dessen Vorhandensein vorher

niemand angenommen oder bemerkt hat.

1953

Sehen

Was wir vielleicht nur ein einziges Mal, und flüchtig,

und aus dem Augenwinkel gesehen haben, das haben

wir wirklich erblickt. Aber was dem Blicke ein häufiger

Gebrauch wurde, das wetzte er gleichsam ab, es ward trüb und stumpf. Schopenhauer meint, daß wir einen

Menschen nur in der Sekunde der ersten Begegnung

mit ihm in seiner Wesenheit zu erkennen vermöchten.

Mit den Dingen scheint es nicht anders zu sein. Über­ haupt erleben wir in tieferer Weise nicht das, was unse­ rem aufmerksamen Blicke gerade gegenüberliegt: son­ dern was sich in der Aura drum herum befindet, die

allerdings um so eher sidi bildet, wenn ihr ein konzen­ triertes Schauen die Mitte macht.

1953

Sehen

Das wirkliche Sehen drückt ein Objekt zusammen und damit zurück - in der Art einer Harmonika - und 221

schafft so noch mehr Distanz, zu jener hinzu, welche es

schon zur Voraussetzung hatte.

1959

Sehenswürdigkeiten Die unmittelbar gegebene äußere physische Nähe einer

Sache, sei sie gleich die bedeutendste, schafft eine der Mechanik unseres Geistes nicht angemessene Distanz.

Selten kommt da Überdeckung zwischen Innen und

Außen, also Wirklichkeit zustande. Das macht alle

Sehenswürdigkeiten dieser Welt fragwürdig. Besser wär’s, man bildete sich den David des Michelangelo, den Garda-See, den Bamberger Dom, oder den Trafal­

gar-Square nur ein. Ich wähle Notabilitäten, die ich selbst gesehen, um daran zu erkennen, daß sich auch

nachher und in der Erinnerung - auch wenn diese nicht durch Amateur-Photos, die man gemacht hat, verklei­ stert ist, verunziert also durch liegengebliebene graue

Wursthäute des Lebens! - um zu erkennen also, daß sich auch nachher und in der Erinnerung Objekten die­

ser Art gegenüber selten die rechte Distanz erstellt.

Jene fast immer ganz ungemäße Art, in welcher wir

einst auf sie stießen - gleichsam festgefahren und er­ starrt in einer geminderten Wirklichkeit - macht das

1954

anscheinend unmöglich.

Selbstbewusstsein Der Mensch ringt fast das ganze Leben hindurch um

222

sein Selbstbewußtsein: merkwürdig genug, denn erst wenn er dieses opfert und zum Objekte macht, und

zwar sowohl das Selbstbewußtsein, wie das Ringen da­ nach, erst dann wird er seiner selbst bewußt.

i942

Selbstdarstellung

Wer seine Mitmenschen nur als Spiegel für die eigene sittliche oder geistige oder sonst irgendwie stilisierte

Toilette benutzt, um zu sehen, ob der Knoten seiner

Qualitäten und Überzeugungen richtig geschlungen ist und schön in der Mitte sitzt, der wird natürlich, erstens,

von jedem hergelaufenen Lausbuben abhängig werden,

weil der doch mindestens den Spiegel ruhig halten muß, zweitens aber die Menschen, wie sie wirklich sind,

kaum jemals erschauen, während sie ihn sehr genau

kennen lernen, weil sie ja bei einem intimen Vorgang, wie die Toilette, anwesend sein dürfen, und sogar als unentbehrlich; das gibt, drittens, jedwedem Hadawachel nicht nur ein Gefühl des eigenen Wertes, son­

dern auch gleich das der Überlegenheit (bescheiden sind

ja die Leut* grad nicht) und obendrein mit einem ge­ 1942

wissen Rechte.

Selbstdarstellung

Die Menschen möblieren ihre Seele aus den Magazinen ihrer Pseudologie. Von dort wird alles hereingetragen und so aufgestellt, als käme Jeder von hinten und also

223

in diese Perspektive. Von der Weltseite her aber gibt das einen tollen Anblick: lauter Rückwände von Ka­ sten und Kredenzen, verkratzt und staubig, fehlende

Füße, gebrochene Konsolen - alles zur Schau gestellt, was verborgen werden wollte! So ein armer Mensch

wird natürlich ganz mißverstanden: die Leute begrei­

fen ihn nie richtig und fassen doch immer die Wahrheit

auf.

1949

Selbsterkenntnis

Unter dem Grundgebrechen nur - sofern es erkannt! faßt sich der Mensch einsehend zusammen, nie unter

Tugenden, die ihm hinzugegeben wurden, und immer

ein Fremdes geblieben sind.

1952

Selbsterkenntnis

Es ist auf jedem wirklichen Wege unvermeidlich, so sehr sich zu verlagern, daß schließlich ein ganzes Leben

wie verlassen und geendet dasteht: durch den Verzicht auf dessen Habitus, sei der wie er sei, auf das Habi­

tuelle: daran sieht man endlich seitwärts vorbei. Damit erst ist die eigentliche Selbsterkenntnis erreicht, wobei diesem Worte sein moralisches cachet ganz verloren

geht.

i9J4

Selbsterkenntnis - ihre Technik

Man fasse in’s Auge - und als unbekämpftes Phäno-

224

men, das nur der Deskription unterliegt - Einzelheiten aus Jahrzehnten, Details, die uns wie Spinnen über die

Haut kriechen: doch müssen wir ihnen dabei zusehen.

Anders werden wir von uns selbst keine Kenntnis er­ langen.

1957

Selbstrettung

Wenn unser erster Motor Selbstrettung war, so spurten

wir immer tiefer in geistesmechanische Fehlwege und blinde Gassen; aber eben diese Fülle der Verfahren-

heiten wird uns schließlich zum heuristischen Prinzip. Die Selbstrettung rettet uns durch ihre Widersinnig­

keit, indem sie sich selbst ad absurdum führt: die Spitze, zu der wir uns ausziehen wollten, bricht ab.

19 f 9

Selbstverständlichkeiten

Selbstverständlichkeiten sind Ungeheuer, die so reglos

und so lang schon neben uns schlafen, daß wir sie nicht

als solche mehr wahrnehmen können.

1942

Selbstwert

Wer prall im Selbstwert sitzt, ist ein strenger Richter. Aber wenn wir diese uns zusammenhaltende Wurst­

haut verlassen haben und sie von außen so leer und grauslich sehn - dann denken wir schon milder über

die Welt.

1941

Sensationen

Sensation ist Ersatz-Spannung. Sie entsteht durch Ab­ schnürung einer schlaff gewordenen Ader vom Blut­ kreisläufe des Lebens, so daß in dem isolierten Teil

jetzt unnatürlich erhöhte Kraft pocht. Sensationen sind

ein Blendwerk der Schwäche. Es sucht sie jeder Mensch, der seine eigene Leere nicht appercipieren und daher auch nicht offen halten will; welches die einzige Chance

wäre, jene wieder mit Gebilden der Spannung zu er­ füllen: durch Einfälle. (Ein-Fälle sind Meteore des

Geistes, sie ersetzen ständig unsere verbrauchte Sub­ stanz. Man muß ihnen aber die größtmögliche Fläche zum Auftreffen bieten, sonst werden sie zu selten. Dem

sensationell vergifteten und dieses Gift unaufhörlich

suchenden Menschen bleiben sie ganz aus: er hat das

*949

Erwarten verlernt.)

Sexualität -

ihr heuristischer

Wert

Alle Grundlagen der Mechanik des Geistes, ihre mög­ lichen Recht- und Fehlgänge, sind im Sexuellen zu er­

kennen wie im Modell und von ihm abzunehmen: eben darin besteht seine enorme Bedeutung, daß es uns gei­

stesmechanisches Wissen in einer sonstwo kaum mit sol­

cher ständiger Stärke wirkenden Intensität bietet und aufdrängt. Das bedeutet nun freilich nicht den Primat

des Sexuellen, wohl aber seine heuristische Erstrangig­

i90

keit. 226

Sexualität und Romanprosa

Das Sexuelle kann nicht als res beiseitegebracht wer­

den, so wenig wie das Romanschreiben. Daher kommen die Unterbringungs-Schwierigkeiten beider in unserem praktischen Leben. Beide gründen auf winzigen Apperceptionen, deren Eintreffen oder Ausbleiben keiner denkbaren Regel unterliegt und die - nur so viel läßt

sich ganz allgemein sagen-eine vorhandene und durch­ aus vorausgesetzte universale Apperceptivität über­

haupt zur ermöglichenden Grundbedingung haben. Womit wir immerhin schon wissen, wie als Schrift­ steller oder Geliebter oder beides zugleich einzig ge­

lebt werden kann.

1963

Sexualleben

Wer es praktisch verhindert, daß um den Kem seiner Persönlichkeit auch sein Sexualleben zu Kristall schieße,

hat keinen Mut zur eigenen Begabung, da mag deren

Richtung ihm noch so deutlich sich gezeigt haben. Und erst wenn ein ganz anderer Zeiger starr die Stunde

weist, welche unserm Ohr und Kopfe noch gar nicht geschlagen hat, geht die Uhr richtig.

1954

Sicherheit

Wer sein Schäfchen in’s Trockene gebracht hat, der baut dann meistens dort auf Sand. 227

1961

Sinngebung Sinngebung erfolgt vielfach, weil man zu wehleidig ist, das Sinnlose bei seinem Begriffe zu belassen. Ein ganzes Netz von Sinngebungen dient uns am Ende, die

Schrecklichkeiten des Lebens zu verschleiern.

i94r

Sinnlosigkeit Das ,absolut Sinnlose* ist ein Stück vom Leben, das

abgebrochen ist und davonschwimmt. Beim Hin-Neh­ men des Absolut-Sinnlosen geht jedesmal für uns

enorm viel Kraft lautlos verloren, sei dieses Sinnlose

nun von außen über uns hereingebrochen oder aus uns selbst gekommen. In beiden Fällen hat es den Charak­ ter der Anonymität. Es wird uns hier bei unseren stän­

digen Versuchen der Gesamt-Welt-Umarmung stumpf und gebieterisch zugleich Halt geboten.

Das Sinnlose, als ein Unkonsumierbares, wird doch konsumiert, mindestens geschluckt. Es belastet dann

die Verdauung des Geistes. So kommt es zu jenem lange andauernden und fühlbaren KraftVerlust.

1953

Skandalpresse Die Rolle einer Zeitung, welche sich in zunächst löb­

licher Weise darauf verlegt, Übelstände aufzudecken

und skandalöse Zustände des öffentlichen Lebens zu bekämpfen, muß früher oder später darauf hinaus218

taufen, daß sie vom Bösen lebt, welches sie bekämpft,

und eingestellt werden müßte, setzte es aus. Was aber würde dann jenen, die eine solche Zeitung machen, ein­ zig übrig bleiben? Sich in rankünöser Weise ein anderes

Feld ähnlicher Betätigung zu suchen, ja, am Ende das Böse um jeden Preis aufzutreiben, sei es, wo es sei, und

auch wo es garnicht ist.

1952

Sklaverei Erst der Freigelassene freilich offenbart die ganze

Gräßlichkeit der Sklavengesinnung. Aber verantwort­

lich für diese sind jene, welche die Gewissensruhe hat­ ten, Sklaven zu halten.

1962

Skurrilität

Skurrilität ist ein noch immer kontrollierter Kompro­

miß zwischen der Narrenzelle und einer apperceptivoffenen Form der Existenz.

1952

SOIGNIERTHEIT

Wohlgeruch des eignen Leibs befreit uns von diesem,

denn unsere fäkale Existenz drängt sich uns dann nicht mehr auf: dies der Sinn aller Soigniertheit: sie verleiht

eine Initial-Distanz vom Leichnam, die wir dann er­ weitern können, um endlich, auf einer gewonnenen neuen Ebene, diesen selbst mit deren Dufte zu durch-

dringen, ihn zu erobern: schon auch sehen wir ganz

anders aus.

1957

Sommer

Sommer: seine Stille ist die größte: Stille des Lebens.

Der Winter hat leicht still sein: wie sollte der Tod an­

ders sich verhalten?

19J3

Sorgen

Wenn uns eine bestimmte Sorge drückt, sich in die Mitte unseres Innern legt, von dem sie nun getragen

werden muß wie ein Stein im Tuche, der dieses nach allen Seiten in Falten zieht: so enthält dieser Zustand

doch zugleich als Erleichterung in sich die Benennbarkeit und Distinktheit seines Ausgangspunktes, seines -

sagen wir’s ruhig! - Vorwandes: Objekt und Subjekt

bleiben genügend getrennt und auf das letztere wirkt die Lage lange nicht so korrumpierend wie ein überall­ hin ergossenes kaum greifbares Obeibefinden, dessen

Veranlassung wir garnicht aufzuzeigen vermögen. Man kann geradezu Dankbarkeit empfinden, weil das Un­

glück deutlich und unterscheidbar auf einem Punkte

gleichsam außerhalb unserer selbst versammelt sitzt,

statt uns zu überschwemmen, zu durchsetzen und uns ganz und gar zu tingieren. Regel: wenn wir Sorgen haben, tragen wir sie um so leichter, je deutlicher der Vorwand ist, unter welchem wir uns jene machen. 194? 130

Sozialismus

Es wird neuerdings wichtig, noch viel plastischer als bis­

her dieses Eine zu wissen: daß der Mensch in allem

Wesentlichen des Lebens wirklich allein ist. Jede ge­ ringste Verschleierung dieses uns einmal gesetzten Sach­

verhaltes (zu schweigen von dem Verabsolutieren der

Gemeinschaft) fälscht alle Beziehungen, die zwischen

Menschen möglich sind. Das Soziale ist gesund, wenn es viele Hereinragungen aus der Einsamkeit als Stützen

hat. Aber diese Solidarität in der Zivilisation ist nur

ein Abbild der Solidarität der Einsamen. Das Funda­ ment der Gemeinschaft liegt dort, wo die Menschen

miteinander nichts mehr gemein haben; und wenn jenes

verloren geht, artet diese alsbald in Gemeinheit aus. 953 Tag und Nacht

Beherrscht der Tag die Nacht, der Tagesrest den Traum, so haben wir kein Doppelleben geführt, nicht im

einen für’s andere uns ausgeruht. Man muß beide aus­

geruht betreten, Tagwerk und Traumwerk.

1951

Tageseinteilung

Man muß den beginnenden Tag wie ein zartes Pflänzlein hegen: er kann anders beim höchsten Sonnenstände

1954

schon eingegangen sein.

Talent

Man wird durch das Talentiertsein zur Entscheidung

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berufen, welche erst das eigentliche Talent nach sich zieht. Keineswegs alle, die berufen wurden, sind aus­ erwählt, und wer sich vor der Entscheidung fragt, ob er’s sei - und ob also diese Entscheidung der Mühe wert

wäre? - der ist es bestimmt nicht.