Populäre Kalender im vorindustriellen Europa: Der 'Hinkende Bote'/'Messager boiteux': Kulturwissenschaftliche Analysen und bibliographisches Repertorium. Ein Handbuch 9783110920437, 9783110186321

This volume contains the complete bibliography of the most famous European almanac of the 18th and 19th centuries, the L

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German Pages 516 [520] Year 2006

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Table of contents :
Danksagung
Inhaltsverzeichnis
Teil I: Forschungsbeiträge
Einleitung
Der Hinkende Bote/Messager boiteux: Strukturen, Spezifika und Entwicklungen eines populären Almanachtyps
Die Bildwelt der Hinkenden Boten
Zwischen Tradition und Modernität. Die Kalenderverleger im 19. Jahrhundert
Intertextuelle Bezüge der Hinkenden Boten/ Messagers boiteux zur Presse- und Buchlandschaft des 18. und 19. Jahrhundert
Vom ,Messager Boiteux‘ zum ,Poor Richard‘: Populäre Erzählerfiguren in französischen und deutschen Volkskalendem
Die Verbreitung und Popularisierung naturwissenschaftlichen und technologischen Wissens durch die Messagers boiteux in der Zeit von 1789 bis 1848
Die Stereotypisierung nationaler Selbst- und Fremdbilder in den Almanachen des Typs Hinkender Bote/Messager boiteux
Übersetzungen in populären Printmedien des 18. Jahrhunderts – am Beispiel von Einblattdrucken und von Volksalmanachen des Gattungstyps Messager Boiteux
Sekundärbibliographie zum Thema
Geographisches Register
Teil II: Repertorium der Hinkenden Boten/ Messagers boiteux
Personen- und Sachregister
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Populäre Kalender im vorindustriellen Europa: Der 'Hinkende Bote'/'Messager boiteux': Kulturwissenschaftliche Analysen und bibliographisches Repertorium. Ein Handbuch
 9783110920437, 9783110186321

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Populäre Kalender im vorindustriellen Europa: Der >Hinkende Bote< / >Messager boiteux
Hinkende Bote< / >Messager boiteux< Kulturwissenschaftliche Analysen und bibliographisches Repertorium Ein Handbuch

Herausgegeben von Susanne Greilich York-Gothart Mix

Walter de Gruyter · Berlin · New York

© Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.

ISBN-13: 978-3-11-018632-1 ISBN-10: 3-11-018632-2 Bibliografische Information der Deutschen

Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© Copyright 2006 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Einbandgestaltung: Christopher Schneider, Berlin

Danksagung Wir danken der Volkswagen-Stiftung für die großzügige finanzielle Unterstützung des Forschungsprojektes, dessen Ergebnisse der vorliegende Band vorstellt. Den Archiven, Universitäts-, National-, Landes- und Stadtbibliotheken, deren Bestände an Hinkenden Boten und Messagers boiteux •wir eingesehen und ausgewertet haben, danken wir für ihre meist unbürokratische Hilfe und bereitwillige Unterstützung, insbesondere sei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Öffentlichen Bibliothek der Universität Basel, der Stadt- und Universitätsbibliothek Bern, der Schweizerischen Landesbibliothek Bern, der Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, der Bibliotheque Municipale Straßburg, des Loertscher-Archivs in Vevey, des Schweizerischen Landesmuseums Zürich, der Zentralbibliothek Zürich sowie der Bibliothek des Schweizerdeutschen Wörterbuchs Zürich gedankt. Ein herzlicher Dank geht auch an Nina Birkner und Carolina Kapraun für die tatkräftige Unterstützung bei der Erstellung der Druckvorlage dieses Buches. Regensburg / Marburg, im Juli 2006

Inhaltsvereeichnis Teil I: Forschungsbeiträge Einleitung

1

Susanne Greilich: Der Hinkende Bote/Messaget boiteux: Strukturen, Spezifika und Entwicklungen eines populären Almanachtyps

9

RolfReichardt / Christine Vogel Die Bildwelt der Hinkenden Boten

43

Jean-Yves Mollier Zwischen Tradition und Modernität. Die Kalenderverleger im 19. Jahrhundert

138

Susanne Greilich Intertextuelle Bezüge der Hinkenden Boten/ Messagers boiteux zur Presse- und Buchlandschaft des 18. und 19. Jahrhunderts

157

Hans-Jürgen Uisebrink / York-Gothart Mix Vom ,Messager boiteux' zum ,Poor Richard': Populäre Erzählerfiguren in Volkskalendern des 18. und 19. Jahrhunderts

178

Patricia Sovel Die Verbreitung und Popularisierung naturwissenschaftlichen und technologischen Wissens durch die Messager boiteux in der Zeit von 1789 bis 1848

202

VIII

Inhaltsverzeichnis

Susanne Greilich / York-Gothart Mix Die Stereotypisierung nationaler Selbst- und Fremdbilder in populären Almanachen und Kalendern

228

Hans-Jürgen hüsebrink Übersetzungen in populären Printmedien des 18. Jahrhunderts — am Beispiel von Einblattdrucken und von Volksalmanachen des Gattungstyps Messager boiteux

262

Nina Birkner / Carolina Kapraun Sekundärliteratur zum Thema

278

Geographisches Register

289

Teil II: Repertoire der Hinkenden Boten/ Messagers boiteux

295

Personen- und Sachregister

485

Teil 1 Forschungsbeiträge

Susanne Greilich / York-Gothart Mix

Einleitung Der Hinkende Bote im medienhistorischen Kontext Aus der Mainzer Offizin Johannes Gutenbergs sind vier Schriften nachweisbar, die man simplifizierend als Kalender klassifiziert hat. Allein für sich genommen weisen diese Publikationen allerdings nur einige der später als kalendertypisch angesehenen Spezifika auf. Erst in der Zusammenschau lassen die Mainzer Inkunabeln jene Merkmale erkennen, die später als Charakteristika des gedruckten populären Kalenders oder Almanachs galten. So beschränkte sich das älteste vollständig erhaltene und datierbare Buch, der Türkenkalender für das Jahr 1445, auf die Mitteilung der Goldenen Zahl und die Angaben der Mondphasen, der Aderlaß- und LaxierkalendervoTi 1456 markierte die zum Aderlassen als geeignet angesehenen Tage. 1457 druckte Gutenberg einen Cisianus dutsche, also einen Heiligenkalender, und 1458 erschien in Mainz ein Astronomischer Kalender für Laienastrologen zum Bestimmen der Horoskope. Für den Zeitraum von 1462 bis zum Ende der Frühdruckzeit, also der Epoche der rapiden Ausbreitung der Druckkunst, sind bereits 392 verschiedene Ausgaben von Jahreskalendern nachweisbar. Die tatsächliche Anzahl gedruckter Jahreskalender war im 15. Jahrhundert allerdings größer, da sich viele Exemplare nicht erhalten haben. In der Regel handelte es sich um Einblattdrucke, die seit dem Beginn des 17. Jahrhunderts häufiger mit der Figur eines ,Hinkenden Boten' geschmückt wurden. Der Wunsch, im Kalendarium Notizen zu vermerken, führte bereits um 1550 zu einer völlig neuen Gestaltung des Kalenders: Durch den Umbruch der Druckblöcke der Monatskolonnen und die Anordnung in einer neuen Form konnten die Kalenderbogen zu einem Quartheft zusammengefaltet und gebunden werden. Aufgrund seiner Handlichkeit verdrängte dieser Typus des Schreibkalenders vor allem in Süddeutschland bald den traditionellen Wandkalender. Längst bevor der .Hinkende Bote' zum Synonym für den Typus des populären Kalenders wurde, stand das Bild eines mit dem Stelzfuß umherziehenden Invaliden in Redensarten und als allegorische Figur für die Ungewissheiten des Zeitenlaufs und die Übermittlung wissenswerter Neuigkeiten. Die Georg Rollenhagen zugeschriebene Flugschrift Der Hincken-

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Susanne Greilich / York-Gothart Mix

de Boifr aus dem Jahr 1589 set2te bereits die Gestalt des .Hinkenden Boten' als Überbringer einer verspäteten, aber zuverlässigen Nachricht als bekannt voraus und kontrastierte sie mit dem schnelleren ,Po Streiter'. In wesentlichen Zügen glich die Titelblattillustration auf Rollenhagens Flugschrift bereits der im 17. Jahrhundert in der Schweiz, in Oberdeutschland, dem Rheinland und Ostfrankreich populär werdenden Kalenderfigur. In einer 1607 in Braunschweig bei Andreas Duncker gedruckten Zeitung wird die Bezeichnung Hinckender Botte bereits als geläufiges Synonym für die Verkündung offizieller Bekanntmachungen des Bürgermeisters und des Stadtrates gebraucht.2 Als .Hinkenden Boten' verstand man offenbar zunächst einen mit der Verbreitung amtlicher Mitteilungen betrauten Invaliden. Erst in der Folge assoziierte man mit dem Begriff den populären Kalender, den Kolporteur volkstümlicher Schriften und die literarisch stilisierte Figur des Kalendermanns. Auf patriotischen Festen und in den folkloristischen Inszenierungen des 19. und 20. Jahrhunderts präsentierte sich der ,Hinkende Bote' häufig zum Schein und in Anlehnung an die historische Überlieferung als Invalide. Unbestritten ist, dass sich gerade Kriegsversehrte als Kolporteure verdingten und Kalender, Volks- und Erbauungsschriften an Leser verkauften, die über den etablierten Buchhandel nicht zu erreichen waren. Ob die in vielen Holzschnitten durch den Stelzfuß visualisierte Invalidität auch als ostentative Distanzierung von zweifelhaften Jahrmarktsschreiern oder Bettelbetrügern3 fungierte, ist nicht eindeutig. Der Anspruch auf Glaubwürdigkeit oder Wahrhaftigkeit wurde in jedem Fall von Anfang an gegen die schneller übermittelten, aber wechselhaften Nachrichten reitender Boten ausgespielt und verselbständigte sich später in den Erzählstrategien des Kalendermachers, der darauf insistierte, .wahre Geschichten' zu erzählen. Die vom .Hinkenden Boten' ostentativ verkörperte Langsamkeit, die auch die von Jacob und Wilhelm Grimm im Deutschen Wörterbuch angeführten Quellen4 unterstreichen, wurde von vielen Zeitgenossen als Bedächtigkeit gedeutet. Das Bild der kleinen Schnecke, das unübersehbar die Titelblattillustrationen der als Hinkende Boten firmierenden Kalender zierte, symbolisierte nicht nur selbstironisch den Unterschied zur Aktualität des ab 1650 rapide expandierenden Zeitungswesens, sondern sollte auch im Sinne einer Differenzqualität verstanden werden. 1 2 3 4

Vgl. Der Hinckende Both/ schla ihn die Gicht/ Ist kamen bringt viel andern beucht/ Dann wir vorn/ u f f diese Reim/ Mit Warheit nicht berichtet sein. ANNO M. D. LXXXIX. Vgl. Hinckender Botte. TANDEM BONA CAVSA TRIVMPHAT. ANNO 1607. Vgl. Achim Hölter: Die Invaliden. Die vergessene Geschichte der Kriegskrüppel in der europäischen Literatur bis φ!» 19. Jahrhundert. Stuttgart/Weimar 1995, S. 367. Vgl. Jacob u. Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch. Bd. II u. IV.2. Leipzig 1860, Sp. 273 u. 1446.

Einleitung

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Es ist in diesem Kontext signifikant, dass sich der vom etablierten Nürnberger Verleger Johann Hoffmann 1691-1693 für drei Jahrgänge gewählte Titel Kriegs-, Siegs- und Friedens-Postreuter-Calender6 ganz im Gegensatz zur verblüffend umständlichen Bezeichnung eines wesentlich erfolgreicheren Unternehmens aus Offenbach nicht durchsetzen konnte und auch nicht wieder aufgegriffen wurde. Die weit über ein Jahrhundert existierende, in Offenbach gegründete und schließlich im benachbarten Frankfurt am Main verlegte Reihe nannte sich mit demonstrativer Weitschweifigkeit: Der Hinckend= und Stolpernd, doch eilfertige fliegend—und laufende Reichs—Bott; Das ist: Evangelisch= Verbesserter, Catholisch=Neuer und Alter Julianischer Römisch Kayserl. Europäischer allgemeiner Reichs—Staats—Kriegs=Siegs=und Geschichts— Calender. Noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurde dieser Titel zum Vorbild für eine Kalenderreihe aus Trier. Durch die Verbindung der vertrauten Figur des .Hinkenden Boten' mit einer leicht modifizierten Form des handelsüblichen Quartkalenders brachte der Buchdrucker Johann Conrad von Mechel aus Basel 1676 schließlich eine neue Variante auf den Markt, die unter dem Namen Basler Hinckender Bott schließlich zum Muster des populären Kalenders schlechthin avancierte. Noch im selben Jahr, 1676, brachte Mechels Schwager, Johann Jakob Decker, einen Colmarer Hinkenden Boten heraus, von 1697 an wurde der Hinckend— und Stolpernd, doch eilfertig=fliegend—und laufende Reichs=Bott in Offenbach verlegt und ab 1728 wurde in der „obern Druckerey" der Berner Hinckende Bott gefertigt. Mit Beginn des 18. Jahrhunderts erschienen unter dem Titel Messager boiteux außerdem französischsprachige Fassungen des Kalenders. Alle diese Titel ließen von ihrer inhaltlichen Ausrichtung, vor allem durch die Einteilung in verschiedene „Materia", den Einfluss des von Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen 1670 in Nürnberg herausgegebenen Abenteuerlichen Simpliässimi Eivigivährenden Calender erkennen. Grimmelshausens Kalender war eine mit „Discursen von der Astronomia, Astrologia, Item den Calendern/ Nativitäten" sowie kuriosen „Wunder-Geschichten" aufwartende Publikation, die zahlreiche als „Stücklein" oder „Schwänck" apostrophierte Erzähltexte offerierte, die expressis verbis an die Figur des Simplicissimus geknüpft wurden. Als sich nach Ende des Dreißigjährigen Krieges der Buchmarkt behutsam zu konsolidieren begann6 und man neue, verlässliche Käuferschichten zu erschließen versuchte, setzte bei den Nürnberger Kalender-

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Vgl. Klaus Matthäus: „Zur Geschichte des Nürnberger Kalenderwesens. Die Entwicklung der in Nürnberg gedruckten Jahreskalender in Buchform". In: Archiv fir Geschichte des Buchwesens 9 (1969), Sp. 1345. Vgl. Reinhard Wittmann: Geschichte des deutschen Buchhandtls. München 1991, S. 77, 81f.

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Susanne Greilich / York-Gothart Mix

Verlagen eine „hektische Produktion"7 ein. Einer ganzen Reihe von Unternehmungen, die das Kalenderwesen durch eine strikte thematische Orientierung zu diversifizieren suchten, war hierbei jedoch zunächst wenig Erfolg beschieden. So stieß der 1684 in Nürnberg publizierte Höfliche Junkern- und Jungengesellen Calender ebenso wenig auf Resonanz wie die im renommierten Verlagshaus von Johann Andreas Endter sei. Söhnen und Erben kurzzeitig herausgebrachten Roß-Ar£(ney-Calender oder der 1681 bis 1683 bei Johann Jonathan Felsecker und Erben erschienene MusicGespenst-und Lieder Calender:8 Auch die Praxis, oft „mehr mit Schere und Kleister als mit der eigenen Feder" zu arbeiten und „Flugblätter, offizielle Bekanntmachungen, Zeitungen",9 Messrelationen, Übersetzungen, Chroniken, Anekdotensammlungen und Romane nach geeigneten Texten zu durchsuchen, stieß auf Grenzen, wo die konzeptionelle Sorg- und Planlosigkeit zu offensichtlich wurde. „Mindestens acht" Nürnberger Kalender brachten beispielsweise innerhalb weniger Jahre Auszüge aus dem „Theatrum Tragicum des Franzosen Francis de Rosset" und auch Georg Philipp Harsdörffers „Anekdotensammlung, die Ars Apophthegmatica, wurde häufig für die JVAer^-Rftfcfl-Spalte"10 ausgeschlachtet. Kurioserweise wurde mitunter sogar das verräterische „Impressum der Vorlage" vom „unachtsamen Setzer des Kalenders mit übernommen."11 Diese Unverfrorenheit vieler Redaktoren provozierte Kaspar Stieler in seinem 1695 erschienenen Kompendium Zeitungs Lusi und Nut% zu dem apodiktischen Urteil „Kalenderschreiber Stelen aus".12 Stieler verdammte die Kalenderschreiber als besonders lästige und dreiste Konkurrenten seriöser Zeitungsherausgeber. Es fänden sich, so Stieler, überall und allezeit Plagiarien/ die man wol mit Recht Brot-Diebe verteutschen könte/ welche ihm diese einlaufende Sachen ausstelen/ verketzern und verändern/ daß es nur das Ansehen gewinne/ ob hätten sie viel gewissere Nachricht von ein- und dem andern Ort bekommen. Gemanet mich/ als wann die faule Kalenderschreiber/ die da kaum die Sonne vor dem Mond unterscheiden können/ und von des Himmels-Lauf so viel/ als Blinde von der Farbe/ verstehen/ die Kalender/ so auf Ostern oder Pfingsten ausgehen/ gegen Michaelis mit einer hochtrabenden Vorrede und gewissen Pritschmeisters Versen aber ungewissen Vorsagungen des Wetters/ des Krieges und der gleichen auszieren/ auch etwa eine Historie/ so nimmermehr geschehen/ daran hängen/ und sich also des Lauf-Spruchs: Die Welt wil betrogen seyn/ meisterlich bedienen. 13

7 8 9 10 11 12 13

Matthäus: Geschichte des Nürnberger Kalenderwesens (wie Aran. 5), Sp. 1285. Vgl. Matthäus: Geschichte des Nürnberger Kalenderwesens (wie Anm. 5), Sp. 1360,1366. Matthäus: Geschichte des Nürnberger Kalenderwesens (wie Anm. 5), Sp. 1282,1281. Matthäus: Geschichte des Nürnberger Kalenderwesens (wie Anm. 5), Sp. 1285. Matthäus: Geschichte des Nürnberger Kalenderwesens (wie Anm. 5), Sp. 1282. Kaspar Stieler: Zeitungs Lust und Nut% Hg. v. Gert Hagelweide. Bremen 1969, S. 23. Ebd., S. 23.

Einleitung

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Stielers Kritik war jedoch nicht nur unter den Vorzeichen buchhändlerischer Konkurrenz zu werten, sondern veranschaulichte auch die bis weit in das 17. Jahrhundert anhaltende Ausdifferenzierung des Wahrheitsbegriffs. Im Gegensatz zu jenen Kalendermachern, die ihr Publikum ernst nahmen und die dem Zeitrhythmus immanente höhere Wahrheit und eine lebenspraktisch orientierte Moraldidaxe literarisch exemplifizieren wollten, orientierten sich die Zeitungsschreiber zunehmend an einem intersubjektiv überprüfbaren, faktischen Wahrheitsbegriff. Mit der Unterscheidung zwischen dem auf Allegorese beruhenden Wahrheitsverständnis und einem empirisch verankerten Realitätsbegriff vollzog sich ein medienhistorisch bedeutsamer Differenzierungsprozess: Beiden Periodika wurden jetzt unterschiedliche Aufgaben zugewiesen, eine mit Rollenhagens Flugschrift oder Dunckers Zeitung noch assoziierbare intentionale Verknüpfung wurde obsolet. Das für den Zeitungsschreiber virulente Problem der Nähe und Verquickung von Gerücht, Neuigkeit und Nachricht versuchte Stieler empiristisch zu lösen: Gleichwol kan es allezeit so genau nicht abgehen/ daß nicht ein erdichtetes Wesen mit unterlaufe/ und dann ist nur darauff zu sehen/ ob die Relation wahrscheinlich sey oder nicht? Ob Zeit und Umstände übereinstimmen/ und ob das Naturell derer Personen wovon geschrieben wird/ auch also beschaffen sey/ wie die Zeitung meldet? Wonicht; so muß die Bestätigung der Märe erwartet werden: Ingleichen auch/ ob von andern glaubhaften Oertern dergleichen einläuft/ ungeachtet/ ob der Vorgang etwas später ans Licht gebracht werde. 14

Während die Sorgfaltspflicht den Zeitungsschreiber dazu zwang, „Zweifel, Einschränkungen der Gewissheit oder Widersprüche, die sich aus der Quellenlage"15 ergaben, offen zu legen, konnte der von einer höheren Warte aus kommentierende Kalendermacher seine Glaubwürdigkeit aus einem anderen Wahrheitsanspruch ableiten. Der chronikähnliche Abriss der Jahresereignisse, der neben den obligaten Schilderungen von Moritaten, Wundern und Merkwürdigkeiten integraler Bestandteil des Kalenders war, konnte sich im Gegensatz zur Messrelation, zum Aviso oder zur Neuen Zeitung auf bereits im öffentlichen Bewusstsein präsente Ereignisse beschränken. Nicht der überraschende und schwer abzuschätzende Gang der Kriegs- und Revolutionsgeschehnisse oder der Alltagsereignisse begründete den Universalitätsanspruch des Kalenders, sondern die immer wieder tradierte Erfahrung und eine anekdotisch-didaktische Intention, die in genrespezifischer Weise auf den vertrauten Vorstellungshorizont des Lesers bezogen blieb. Zum Verständnis der geschilderten Ereignisse wurde vom Kalenderpublikum auch kein besonderes Wissen vorausge14 15

Ebd., S. 32. Thomas Schröder: Die ersten Zeitungen. Textgestaltung und Nachricbtenauswahl. Tübingen 1995, S. 296.

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setzt und so war auch die Anzahl der in einem Jahrgang erwähnten Personen und Lokalitäten im Vergleich zur Zeitung oder Monatsschrift bescheiden.16 Bedeutende Personen wie der Papst, die europäischen Fürsten oder das eigene Herrscherhaus wurden dem Publikum ohnehin in alljährlich aktualisierten Regentenverzeichnissen vorgestellt. Der außerordentliche Erfolg der von den Basler Druckern mit dem Hinkenden Boten geschaffenen Synthese dokumentierte sich in der Popularität und den vielfältigen Erscheinungsformen des die Schweiz, den Osten Frankreichs, den deutschen Südwesten und das Rheinland rasch erobernden Kalendertypus: Für den Zeitraum von 1676 bis 1850 sind mehr als 80 verschiedene Hinkende Boten oder Messagers boiteux aus Basel, Beifort, Bern, Besanfon, Colmar, Epinal, Koblenz, Köln, Lahr, Montbeliard, Metz, Nancy, Neuchätel, Offenbach, Rastatt, Schaffhausen, Straßburg, Trier, Vevey und anderen Orten mit ca. 2000 erhaltenen Einzeljahrgängen nachweisbar. Der Hinkende Bote oder Messager boiteux bildete das Muster, an dem sich andere populäre Kalender zu messen hatten. Die äußere Gestaltung, die inhaltliche Strukturierung, die Art der Herstellung und die straffe Organisation der Distribution galten als nachahmenswert. Selbst Johann Peter Hebel verwies in seinem 1806 verfassten Vnabgeforderten Gutachten über eine vorteilhafte Einrichtung des Kalenders auf die außerordentliche Popularität dieses Mediums.17 Spätestens ab 1850 sind Publikationen dieses Typus, wie das Beispiel des Cinännatier hinkenden Boten zeigt, in den USA nachweisbar;18 1830 wird er ausdrücklich als Vorbild für französischsprachige Kalender aus Kanada genannt. „D'apres les almanachs allemand"19 heißt es explizit auf dem Titelblatt entsprechender frankokanadischer Publikationen. Die Stilisierung der Botenfigur und ihre Leseransprache blieben ein Spezifikum des Hinkenden Boten. Gängig waren aber nicht nur das handliche Format, der begrenzte Umfang, die einfache Papierqualität und die schlichten Holzschnittillustrationen, sondern auch der geringe Preis: pro Exemplar 3—6 Sous in Frankreich und 1-3 Batzen in der Schweiz. Die Gliederung des Kalenders in drei Teile, also in das .Prognostikon' mit den .Practica', den Textteil und das am Anfang stehende Kalendarium, erfüllte

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Vgl. Ebd., S. 264f. Vgl. Johann Peter Hebel: „Unabgefordertes Gutachten über eine vorteilhaftere Einrichtung des Kalenders (18.2.1806)". In: Johann Peter Hebe/. Die Kalendergeschichten. Hg. v. Hannelore Schlaffer u. Harald Zils. München/Wien 1999, S. 725. Vgl. Adolf Dresler: Kalender-Kunde. Eine kulturhistorische Studie. München 1972, S. 68. Hans-Jürgen Lüsebrink: „La litterature des almanachs: reflexions sur l'anthropologie du fait litteraire". In: etudes franfmses 36/3 (2000), S. 50.

Einleitung

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die von Jeroen Salman am Beispiel des holländischen Volkskalenders20 analysierten Funktionen der Information, Belehrung und Unterhaltung. Der Druck und die Distribution der Volkskalender wurden von alteingesessenen, hochspezialisierten, nicht selten über Regionen und Landesgrenzen hinweg agierenden Verlagshäusern organisiert. Wohlkalkulierte Vertriebsstrategien sollten die eigene Publikation gegen Plagiate oder Nachdrucke schützen und den Markt nicht nur für Volksalmanache, sondern auch für andere angepriesene populäre Druckschriften öffnen. Die auffallend hohen Auflagenzahlen populärer Almanache — zum Teil mehr als 100.000 Exemplare bei den Hinkenden Boten und weit über 60.000 Exemplare beim Mathieu Laensbergh genannten Almanach aus Liege — verdeutlichen, dass die Leserschaft sich aus allen alphabetisierten Bevölkerungsschichten und nicht nur aus den unteren Ständen rekrutierte. Der Appenzeller Calender wurde sogar in den schweizerischen Kantons schulen des späten 17. und beginnenden 19. Jahrhunderts für den Leseunterricht genutzt.21 Im Zeitalter der industriellen Revolution und mit der Nutzung der Schnellpressen und neuer Techniken der Nachrichtenübermittlung verlor der Volksalmanach schließlich durch die wachsende Konkurrenz der Tagespresse und der illustrierten Familienzeitschrift seinen bis dato unangefochtenen Status, seine traditionellen soziokulturellen Funktionen und einen erheblichen Teil der städtischen, sozial und regional mobilen Leserschaft. Der vorliegende Band, der aus einem interdisziplinär ausgerichteten, von der Volkswagen-Stiftung geförderten Forschungsprojekt hervorgegangen ist, das Hans-Jürgen Lüsebrink und Jean-Yves Mollier gemeinsam mit den Herausgebern und anderen Autoren dieses Buches durchgeführt haben, widmet sich den genannten Charakteristika der Hinkenden Boten und ihrer Stellung innerhalb der Presse- und Buchlandschaft der europäischen Frühmoderne in detaillierter Weise. Die Forschungsbeiträge des 1. Teils beleuchten das Text- und Bildspektrum der Messagers boiteux/ Hinkenden Boten, stellen Beispiele des intrakulturellen und interkulturellen Texttransfers in den Volkskalendern vor und analysieren die Beziehungen zwischen dem Almanach auf der einen, Zeitung, Zeitschrift und Buch auf der anderen Seite. Besonderes Augenmerk gilt ferner der Wissensvermittlung und Wirklichkeitskonstruktion im Hinkenden Boten. Neben der Funktion, die der Figur des .Hinkenden Boten' in den Erzählstrategien des Kalenders und insbesondere als Bindeglied zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit zukam, wird auch die Rolle untersucht, 20 21

Vgl. Jetoen Salman: Popular drukmerk in de Gouden Eeuw. De almanak als lectuur en handelswaar. Zutphen 1999. Vgl. Alfred Messerli: Lesen und Schreiben 1700 bis 1900. Untersuchung %ur Durchsetzung der Literalität in der Schweif Tübingen 2002, S. 284-290.

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Susanne Greilich / York-Gothart Mix

die die Messagers boiteux und Hinkenden Boten bei der Verbreitung und Popularisierung naturwissenschaftlichen und technologischen Wissens in der Volksaufklärung bzw. der französischen Spätaufklärung übernahmen. Der 1. Teil schließt mit Einzelstudien zur interkulturellen Dimension volkstümlicher Kalender: Am Beispiel der Sprach- und Modekritik der Almanache wird die Stereotypisierung nationaler Selbst- und Fremdbilder untersucht; den Aspekt des Kulturtransfers beleuchtet eine Analyse zu den deutsch-französischen Übersetzungen in den Messagers boiteux/ Hinkenden Boten. Mit dem 2. Teil stellt der Band erstmalig eine vollständige Bibliographie sämtlicher unter der Bezeichnung Hinkender Bote bzw. Messager boiteux firmierender Almanache zur Verfugung, sowie ein Gesamtverzeichnis aller noch existierender Exemplare dieses Kalendertypus an den Bibliotheken des Verbreitungsraumes, also in Deutschland, Frankreich und der Schweiz. Die bibliographischen Angaben und Standortnachweise werden ergänzt durch ein Verzeichnis der Bildbeigaben der Almanache, über das ein Zugang zur inhaltlichen Gestaltung der Hinkenden Boten, ihrer Vielfältigkeit und ihrem Wandel im Verlaufe der Jahrhunderte ermöglicht wird.

Susanne Greilich

Der Hinkende Bote/Messager boiteux: Strukturen, Spezifika und Entwicklungen eines populären Almanachtyps1 Einführung Namen und Abbildung einer bereits im 16. Jahrhundert in Deutschland bekannten Figur verwendend, 2 wurde der Almanach des Htnckenden Bolt erstmalig für das Jahr 1677 3 in Basel verlegt. Gleich nach dem Tod des Kalendermachers Augustin Rosius gab der in der Schweiz ansässige Drucker Johann Conrad von Mechel einen Kalender unter diesem Titel

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Im Unterschied zu der in der deutschen Forschungsliteratur häufig vorgenommenen, strikten begrifflichen Trennung von ,,(Schreib)Kalender" und „Almanach", nach der unter „Almanach" nur die für ein gebildetes Publikum konzipierten Produktionen mit schöngeistigem Inhalt verstanden werden, benutzen wir den Terminus „Almanach" - in Anlehnung an seine Verwendung durch die französische Forschung - für alle jährlich erschienenen Publikationen, die der Leserschaft neben einem Kalenderteil weitere Informationen und Texte offerierten. So findet sich die Figur des .Hinkenden Boten' bereits in einer Flugschrift aus dem Jahre 1589, deren mutmaßlicher Verfasser Georg Rollenhagen ist. Vgl.: Der hinckende Both: Schlahe ihn die Gicht, ist komen, bring Μ andern Bericht, dann wir %uvorn auff diese Reim, mit Warheit nicht berichtet sein. Tausent fünffhundert achtzig acht, Das ist das Jahr so ich betracht, geht in dem die Welt nicht unter, geschehen doch gros mercklich Wunder.... 1589, [S. 1]. Ein Jahr später erschien der ,Hinkende Bote' in einer anderen Flugschrift Rollenhagens an der Seite des .Postreiters': Der Post-Reutter bin ich genandt, dem htnckenden Bothen vol bekandt: dieweil er ist mein Gesell, drumb bin ich kommen auch %ur Stell, und mil euch machen offenbahr, was sich des neun und achtzig Jahr, vor Wunderferner han verlauffen, lieber lies mich und thu mich kauffen, dem Post-Reutter vor ehrt φ Danck dengrossen Willkom, machts nicht langk. 1590, [S. 1]. Zu Beginn des 17. Jahrhunderts nahm er in verschiedenen anderen Druckschriften die Rolle des Nachrichtenüberbringers und Erzählers ein, so beispielsweise in einem Flugblatt aus dem Jahre 1632: Der hinckende Bothe, so den 7. Septembris, Anno 1631 Abends halbswegs %ehen Uhr, von Halle nacher Franckfurt am Mayn abgangen. 1632, [S. 1]. Die Almanache wurden im Spätsommer bzw. im Herbst eines jeden Jahres fertig gestellt und vertrieben, damit die Leser ihr Exemplar für das kommende Jahr rechtzeitig in den Händen hielten. Der Almanach für das Jahr 1677 beispielsweise, wurde bereits 1676 hergestellt. Ist vom Gründungsdatum einzelner Serien des Hinkenden Boten die Rede, so nehmen wir Bezug auf den Zeitpunkt ihrer (erstmaligen) Produktion, ansonsten verweisen die Jahreszahlen auf das Jahr, für das die Almanache herausgegeben wurden.

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Susanne Greilich

heraus.4 Auch der Schwager Mechels, Johann Jakob Decker, begann 1676 mit dem Verlag Hinkender Boten, zunächst für die elsässische Stadt Colmar, später ebenfalls in Basel.5 Zu Beginn des 18. Jahrhunderts weiteten die Verleger Decker und Mechel ihre Geschäfte aus und begannen damit, französischsprachige Ausgaben ihrer Almanache zu verlegen. Erstmalig 1706 publizierte Decker in Basel den Veritable Messager boiteux de Basle en Suisse, das gleiche tat auch Johann Conrad von Mechel.6 In der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts7 erschien auch in Colmar ein französischsprachiger Messager boiteux-, die Witwe Deckers gab den Messager boiteux de Colmar compose et recueillipar Antoine Souci heraus, der bis 1902 erschienen ist. Vom offensichtlichen Erfolg der Messagers boiteux/Hinkenden Boten suchten bald schon andere schweizerische, deutsche und französische Druckereien zu profitieren. Konkurrenz erwuchs den Verlegerfamilien Decker und Mechel in der Schweiz aus Bern, wo Emmanuel Hortin ab 1728 in der ,obern Druckerey' einen Almanach mit dem Titel Neuer, verbesserter, vollkommener Staats-Kalender, Oder sogenannter Berner Hinckende Bott verlegte und Paul Abram Chenebie ab der Mitte des 18. Jahrhunderts den Messager boiteux de Berne herausgab, nachdem sein Vater Isaac bereits seit Beginn des Jahrhunderts den Messager boiteux de Basle seines Geschäftspart4 5

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Vgl. Johann H. Graf. Historischer Kalender oder der Hinkende Bot. Seine Entstehung und Geschichte. Ein Beitrag %ur bernischen Buchdrucker- und Kalendergeschichte. Bern 1896, S. 27. Vgl. Joseph Lefitz: „Der Colmarer Hinkende Bote. Ein Streifeug durch seine mehr als 250-jährige Geschichte". In: Annuairt de Colmar. Colmarer Jahrbuch (1936), S. 120-149, hier S. 122. Strittig ist, seit wann Decker den Hinkenden Boten in Basel herausgegeben hat. Johann Graf schreibt die ersten Ausgaben des späteren Deckerschen Hinkenden Boten von Basel Deckers scharfem Konkurrenten, Jakob Bertsche, zu. Demnach habe Bertsche 1694 die Manuskripte und Rechte am „Rosiuskalender" erworben und sie 1715 an den Drucker Friedrich Lüdin abgetreten, der sie wiederum im Jahre 1727 Johann Heinrich Decker, dem Sohn Johann Jakob Deckers, überlassen habe (Graf Historischer Kalender (wie Anm. 4), S. 27). Im Unterschied zu Graf gibt Jacques Betz Johann Jakob Decker als Drucker des ersten Jahrganges des Basler Hinkenden Boten von 1676 an (Jacques Betz: „Les imprimeurs colmariens Decker". In: Annumres de la Societe Historique et Uttertxre de Colmar. Colmar 1965-66, S. 132139). Es ist bekannt, dass Decker im Jahre 1677 aufgrund des Drucks verbotener papistischer Schriften mit der protestantischen Basier Obrigkeit erhebliche Schwierigkeiten bekam und sich deswegen kurze Zeit später ins Eisass zurückzog. Berücksichtigt man den Umstand, dass Decker im Jahr 1676 in Colmar einen Hinkenden Boten herausbrachte, so ist die These, dass Decker den ersten Jahrgang des Basler Hinkenden Boten selbst verlegt hat und sein Konkurrent Bertsche ein Jahr später die Arbeit Deckers übernahm, durchaus vertretbar. Da die frühen Ausgaben des Basler Hinkenden Boten aber verloren sind, müssen wir den Beweis fur die eine wie auch die andere These schuldig bleiben. Graf Historischer Kalender (wie Anm. 4), S. 29. Auf jeden Fall seit 1748, evtl. auch früher, nicht aber erst im Jahre 1760 wie Lefitz meint (Lefftz: „Der Colmarer Hinkende Bote" (wie Anm. 5), S. 126). Das Exemplar von 1748 ist vorhanden in der Bibliotheque Nationale de France in Paris.

Strukturen, Spezifika und Entwicklungen eines populären Almanachtyps

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ners Mechel in Vevey vertrieben hatte.8 Schon von 1697 an erschien in Offenbach, dem neben Köln und Trier wichtigsten deutschen Verlagsort Hinkender Boten, Der Hinckend- und Stolpernd- doch eilfertig Fliegend- und hauffende Reichs-Boll,9 Im 19. Jahrhundert wurde auch Straß bürg zu einem Zentrum des Verlags von Messagers boiteux und Hinkenden Boten. Seit dem 18. Jahrhundert erschien in der elsässischen Stadt der Neue und alte Schreib-Kalender [...] gestellt durch Eberhard Welpern. Der durch den Verleger Schuler herausgegebene Almanach änderte im Jahre 1801 sein Titelblatt und hieß fortan Neuer und alter Welperischer Hinkender Bott, später dann Der Welperische Straßburger Hinkende Bote,10 1798 gründete der Verleger Silbermann den Verbesserten und alten Kalender genannt Der Hinkende Bott am Rhein, vermutlich ab 181111 erschien der Rheinische Hinkende Bote von Eck. Der Straßburger Drucker Heitz gab den Großen hinkenden Boten an der III und am Rhein heraus, wie auch eine französischsprachige Ausgabe dieses Almanachs. 1807 schließlich begann der Verleger Le Roux mit der Herausgabe seines Großen Straßburger Hinkenden Boten·, wenige Jahre später erschien der Almanach unter dem Titel Le Grand Messager boiteux de Strasbourg auch auf Französisch. Eine wahrhafte Massenproduktion von Almanachen betrieb ab 1798 die aus Speyer gebürtige Verleger- und Druckerfamilie Deckherr, die sich in den siebziger Jahren des 18. Jahrhunderts in Montbeliard angesiedelt hatte.12 Jean Theophile Deckherr, der zunächst Psalmen, Choräle und verschiedene erbauliche, literarische und historische Werke verkauft hatte, begann 1798 mit der Herausgabe des Veritable Messager boiteux de Montbeliard, der bis 1811 erschien. Seine Söhne sollten bis zur Mitte des W.Jahrhunderts, als Druck und Verlag der Almanache in die Hände der Familie Barbier übergingen, in Montbeliard und Porrentruy nicht weniger als neun

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Vgl. Jean-Claude Mayor: Vie d'un Almanach. Le Messager boiteux de Berne et Vevey. Vevey 1957, S. 19-21. Auf dem Titelblatt des Messager boiteux de Basle von 1717 ist der Vertrieb durch den Buchhändler Chenebie in Vivis ausdrücklich vermerkt. Vgl. Liliane Desponds: Messager boiteux. Trois nicies d'histoire au travers du terroir. Yens 1996, S. 17. Wir schließen dies aus einem Exemplar dieses Almanachs von 1719, das in der Stadtbibliothek Mainz vorhanden ist. Auf dem Titelblatt ist vermerkt: „Der Hinckend- und Stolpernddoch eilfertig Fliegend- und Lauffende Reichs-Bott. [...] Auff das Jahr nach der Geburt unsere Herrn Jesu Christi/ 1719 [...] nun zum 22. mal an das Licht gegeben von Friedrich Wohlgemuth, genandt der Hinckende Bott [...]". Ab 1823; der Umschlagtitel schmückte sich aber schon ab 1817 mit der Bezeichnung Straßburger Hinkender Bote. Und nicht schon ab 1807 wie Lefftz vermutet. Vgl. Lefitz: „Der Colmarer Hinkende Bote" (wie Anm. 5), S. 126. Zur Geschichte der Druckerfamilie Deckherr vgl.: Dominique Lerch: „Almanachs, Bibliotheque bleue, imagerie: une familie d'editeurs de la France de l'Est, les freres Deckherr de Montbeliard". In: Bulletin de la Soaete d'emulation de Montbeliard 112 (1990), S. 194-295.

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Varianten des Messager boiteux produzieren, die sich allerdings nicht selten inhaltlich sehr stark ähnelten.13 Sogar bis in die italienische Schweiz hat der Hinkende Bote Verbreitung gefunden und in Lugano als ,Corrier zoppo' zunächst einer Monatszeitschrift, 14 später dann einem Almanach seinen Namen verliehen. 15 Die 83 verschiedenen Volkskalender, die vom 17. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts in Deutschland, Frankreich und der Schweiz unter dem Namen Messager boiteux/Hinkender Bote herausgegeben wurden, vereinte weit mehr als ihr Titel und die Abbildung des einbeinigen Kolporteurs auf dem Umschlag. Die Wahl des .Hinkenden Boten' als Figur und Namensgeber der Publikation ordnete die Almanache einem Kalendertypus mit bestimmten strukturellen und inhaltlichen Merkmalen zu, der den Verlegern als werbendes Aushängeschild und den Konsumenten als Qualitätsgarantie galt. Name und Figur des .Hinkenden Boten' standen für die Ausrichtung der Publikation auf einen bestimmten Adressatenkreis, für eine gewisse Art der Informationsaufbereitung und -vermitdung sowie für bestimmte, immerwiederkehrende inhaltliche Elemente. Hierbei waren die Almanache Deckers und Mechels aus dem letzten Drittel des 17. bzw. der 13

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Le veritable Messager boiteux de Porrentruy, Le veritable Messager boiteux de Basle en Suisse, Li veritable Messager boiteux de Berne, Le grand Messager boiteux des cinq parties du monde, Le Messager boiteux ä lagirafe, Le grand Messager boiteux algerien, Le grand Messager boiteux de France, Le grand Messager boiteux conteur sowie Le Triple conteur. 11 Corner Zoppo ο sia Mercurio storico, e politico, In cui si riseriscono ifattipiü notabili di tutte le Corti [dt]gli interessi de Principi, e quanto possa esser awenato dipiu rimarchevole, singolarmente in Europa ec. Pari!mese di... . Lugano: Nella Stamperia della Suprema superioita elvetica nelle Prefetture italiane. Vgl. P. Callisto Caldelari: Bibliografia luganese del Settecento. he edi^oni Agnelli di Lugano. Libri Perioää. Bellinzona 1999, S. 654-660. Wenn auch die Ausgaben des Almanachs gemäß Caldelari heute nicht mehr auffindbar sind, so lässt doch die Beschreibung seines Inhaltes, wie sie in der Zeitschrift Nuove mehrfach zu finden ist, den Rückschluss zu, dass es sich beim Corner Zoppo um eine Imitation der im 18. Jahrhundert bereits etablierten deutsch- und französischsprachigen Ausgaben des Hinkenden Boten/Messager boiteux handelte. So heißt es in der Ausgabe vom 11. Dezember 1786: „Da questa Stamperia Privilegiata di Lugano sono usciti alla publicca luce nella scorsa settimana Ii seguenti due Almanacchi; il primo ha per ütolo = II CORRIER ZOPPO Almanacco Sviagero Italiano per l'anno 1787. In cui si espongono Ii Santi particolari della Chiesa Ambrosiana, t di Como, le Feste levate nella Lembardia Austriaca, e le tuttora sussistenti nelti Stati Elveti, e Reti Italiani nella Diocesi di Como; la levata del Sole, e le Lunatum colle ort Italiane, efrancesi, ec. Edaüreparticolaritä, edAneddoti curiosi. [...] Nel Primo si dä una Lista de' Borgomastri, Scultetti, e Landamani Elvetici delli XIII. Lodevoli Cantoni [...]. Sieguono alcune noüzie Cronologiche, per cui ogni brevitä resta il Leggitore in forma to di quelle publicche cognizione, che non puö piacergli d'esserne al fatto. Sonosi poi descritti alcuni anedotti seguiti nel decorso del cadente anno 1786, e siccome si fa menzione della morte del Gran Federico II. Re di Prussia ec. si espongono varie notizie riguardanti la di lui vita. Terminasi poi coll'arrivo e partenza de' Corrieri, Poste dello Stato di Milano, e i nuovi Tribunali, e Tarififa delle Monete giusta le ultime Gride di Milano, e Torino ec." (Zitiert nach Caldelari, S. 658).

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ersten Dekade des 18. Jahrhunderts modellbildend und sollten allen Volkskalendern des Typs, die in der Folgezeit herausgegeben wurden, als Vorlage dienen.16

Adressatenkreis Der Almanach des Typs Hinkender Bote/Messager boiteux wandte sich an ein breites, großteils wenig alphabetisiertes Publikum. Die Ausrichtung der Publikation auf das „Volk", d.h. — einer Definition Holger Bönings zufolge — auf „den Teil der Bevölkerung, der keine höhere Bildung [...] erfahren hat" und der „keineswegs nur Bauern und unterbäuerliche ländliche Schichten [...], sondern auch de[n] durchschnittliche[n] Handwerker mit seiner Familie, die unteren Ränge in der Militär- und Verwaltungshierarchie, Dienstboten und städtische Unterschichten" umfasste,17 wird bereits auf Umschlagtitel und Titelblatt des Almanachs zum Ausdruck gebracht. So nennt beispielsweise der Basler Htnckende Bott von Mechel des Jahres 1753 den „gemeinen Mann, welcher allzu theure grössere Werck nicht kaufen kan"18 explizit als Zielgruppe der Publikation. Auch die Wahl des ,Hinkenden Boten' als Erzähler- und Titelfigur der Almanache lässt Rückschlüsse auf den Adressatenkreis zu. Ohne Zweifel spiegelt die Figur eine soziale Realität des 17. und 18. Jahrhunderts wider. So wurden Kriegsversehrte, z.B. solche aus dem Dreißigjährigen Krieg, in zahlreichen europäischen Ländern als Kolporteure beschäftigt, die mit Kiepe oder Bauchladen über Land zogen und Druckerzeugnisse verkauften.19 Neben Arm- und Beinamputierten sind aus Spanien auch blinde Kolporteure bekannt.20 Der .hinkende Bote' war also einem breiten, wenig alphabetisierten und oft (aber nicht ausschließlich) ländlichen Publikum

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Vgl. hierzu weiterführend: Susanne Greilich: Französischsprachige Volksalmanache des 18. und 19. Jahrhunderts. Strukturen, Wandlungen, intertextuelle Bezüge. Heidelberg 2004. Zugl.: Diss., Universität Saarbrücken, 2002. Holger Böning/Reinhart Siegert: Volksaufklärung. Biobibliographisches Handbuch %ur Popularisierung aufklärerischen Denkens im deutschen Sprachraum von den Anfingen bis 1850. Bd. I. Die Genese dir Volksaufklärung und ihre Entwicklung bis 1780. Stuttgart-Bad Canstatt 1990, S. IX-X. Hinckende Bott. Basel: Mechel 1753. Hierauf nimmt beispielsweise Schenda Bezug, wenn er den ,Hinkenden Boten' als „Veteran des Dreißigjährigen Krieges" bezeichnet. Vgl. Rudolf Schenda: Volk ohne Buch. Studien %ur So^ialgeschichte der populären hesestoffe. 1770-1910. München 1977 [Erstausgabe: Frankfurt/M. 1970], S. 274. Zur Geschichte des Kolportagewesens in Europa vgl.: Laurence Fontaine: Histoire du colportage en Europe, XVe-Die siecles. Paris 1993 sowie: Ciaire Krafft Pourat: Le colporteur et la merciere. Redt et enquete. Paris 1982. Vgl. Jean-Francis Botrel: „Les aveugles colporteurs d'imprimes en Espagne". In: Melanges de la Cosa de Veld^que^ IX (1973), S. 417-482 und X (1974), S. 233-271.

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aus dem Alltagsleben vertraut; in der Rolle des Erzählers diente er als Identifikationsfigur. Zahlreiche Umschlagtitel zeigen den ,Hinkenden Boten' darüber hinaus in der Situation der Nachrichtenübermittlung: Mit Lanze und Rucksack ausgerüstet überreicht er ein versiegeltes Kuvert an eine drei- bis vierköpfige Gruppe von Personen, die unterschiedlichen sozialen Schichten, wie den Bauern, dem Adel, dem Bürgertum oder dem Militär, zuzuordnen sind. Die Abbildungen auf den Umschlagtiteln der Almanache nahmen so zum einen Bezug auf den Inhalt der Volkskalender, den die Verleger als für alle gesellschaftlichen Schichten von Interesse ansahen, zum anderen auf das Zielpublikum der Hinkenden Boten/ Messagers boiteux, dessen soziale Zusammensetzung man sich so breit wie möglich wünschte.21

Informationsaufbereitung und -Vermittlung Neben dem Adressatenkreis der Publikation verwies die Figur des .Hinkenden Boten' auf die Besonderheiten hinsichtlich der Aufbereitung und Vermittlung der gegebenen Informationen. Hier ist zunächst das Verhältnis des Almanachs zu den Ereignissen, von denen er seinen Lesern berichtete, zu nennen. Anders als die Wochen- und Monatsschriften, die ihre Leserschaft — gemessen an den Verhältnissen der Zeit — umgehend über aktuelle politische und gesellschaftliche Ereignisse informierten, war der Messager boiteux mit seinen Berichten ein, manchmal auch zwei Jahre im Rückstand, „hinkte" im übertragenen Sinne also der Aktualität hinterher.22 Die Schnecke, die wir in vielen Fällen auf dem Umschlagtitel des Almanachs zu Füßen des Boten abgebildet finden, scheint die Langsamkeit des Kolporteurs und die Verspätung der von ihm übermittelten Nachrichten zusätzlich zu betonen. Der Informationsrückstand des Almanachs — den die Erzählerfigur des .Hinkenden Boten' versinnbildlicht — ist indes nicht negativ zu verstehen. Zwar lagen die Ereignisse, von denen im Almanach die Rede war, stets schon ein oder zwei Jahre zurück, doch gab die Zeitspanne zwischen dem Eintreffen der ersten Nachricht über ein Ereignis und der Publikation dieser Nachricht im Almanach den Druckern und Verlegern des 21

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Vgl. Hans-Jürgen Lüsebrink: „Du «Messager Boiteux» au «Pere Gerard»: les figures de narrateurs populaires dans les almanachs, XVIIIe-XIXe siecles (texte et iconographie)". In: Jacques Migozzi (Hg.): De l'ecrit ä l'ecran. Litteratures populains: mutations genertquts, mutations meäatiques. Limoges 2000, S. 53-71, hier S. 61. Vgl. Karl Schottenloher: Flugblatt und Zeitung. Ein Wegweiser durch das gedruckte Tagesschrifttum. Bd. I. Von den Anfangen bis ipm Jahre 1S4S. Hg. v. Johannes Binkowski. München 1985 [Nachdruck d. Erstausgabe Berlin 1922], S. 250 ff.

Strukturen, Spezifika und Entwicklungen eines populären Almanachtyps

Messager boiteux Gelegenheit, die Nachricht auf ihren Wahrheitsgehalt hin zu überprüfen bzw. abzuwarten, ob sie nicht revidiert oder korrigiert werden würde. Unsicherheit über die Zuverlässigkeit von Informationen, bedingt durch Zensur, ungenaue oder unvollständige Quellen kennzeichnet die Presseberichterstattung des 18. und 19. Jahrhunderts.23 Stets sahen sich die Gazetten gezwungen, auf diese Unsicherheit hinzuweisen, trotz vorsichtigster Formulierungen („on dit", „on croit", „il parait") mussten sie ihre Nachrichten immer wieder korrigieren und sahen sich so mit dem Vorwurf der Unglaubwürdigkeit, der Lüge, des „Romanhaften" konfrontiert.24 Die Tatsache, dass die Almanache dem Aktualitätszwang in weitaus geringerem Maße unterstanden als beispielsweise die Wochen- und Monatszeitungen und so ihre Berichte vor der Veröffentlichung noch einer Prüfung unterziehen konnten, stellte für die Messagers boiteux/Hinkenden Boten ohne Zweifel einen Vorteil dar. „Nous allons retracer dans cet Almanac le tableau des principaux evenements de l'annee precedente, avec cette neutralite et exactitude, qui depuis nombre d'annees, lui ont attire l'approbation universelle", bemerkte der Basler Messager boiteux im Jahre 1777 nicht ohne Stolz.25 Die Wahl des .Hinkenden Boten' als Erzähler und Titelfigur des Almanachs stellte also eine Abgrenzung von den Unsicherheiten und Unwahrheiten in der Berichterstattung anderer Periodika dar; der langsam humpelnde Kolporteur nahm eine Gegenposition zu anderen Figuren ein, die Zeitungen und Zeitschriften ihren Namen liehen, wie ,Postreiter' und ,Merkur'. Auch in den Flugschriften des 16. und 17. Jahrhunderts übernahm der ,Hinkende Bote' diese Rolle des wahrhaften und glaubwürdigen Nachrichtenübermittlers. So heißt es in einer Flugschrift Georg Rollenhagens aus dem Jahr 1589, der Hinkende Bote bringe „viel andern Bericht" — erzähle also etwa ganz anderes, als man zuvor gehört habe — und berichte endlich die Wahrheit: „dann wir zuvorn auff diese Reim, mit Warheit nicht berichtet sein".26 Auch Franz Callenbach hat für seine Quasi veroSchriften (1714/15) die Figur des .Hinkenden Boten' verwendet, „um der

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Vgl. Claude Labrosse: „L'incertain et le virtuel. ί'ένέηεηιεηΐ en perspectives dans les gazettes du 18e siede". In: Hans-Jürgen Lüsebrink/Jean-Yves Mollier (Hg.) en colla-boration avec Susanne Greilich: Presse et evenement: journaux, gazettes, almanacks (XVIIIe-XIXe siecles). Actes du colloque international „La perception de Fevenement dans la presse de langue allemande et fra^aise" (Universite de la Sarre, 12-14 mars 1998). Bern 2000, S. 7-25. Vgl. hierzu beispielsweise: Yannick Seite: „Le ,Roman Hebdomadaire', Fiction et information dans la gazette au XVIIIe siecle". In: Malcolm Cook/Annie Jourdan (Hg.): journalisms etfiction au 1Se siecle. Bern 1999, S. 63-74. „Avis prealable". In: Messager boiteux de Basle. Basle: Decker 1777. Der hinckendt Both: Schlahe ihn die Gicht (wie Anm. 2).

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öffentlichen Lüge die Wahrheit gegenüberzustellen".27 „O was für Grillen, was für Lügen,/ Was Praktiken, was Intrigen/ Werden jetzt für wahr verkauft!/ Bis der hinkend Bot kommt nach,/ Der wird stillen alles Prahlen,/ Mit dem Lügen sich zerfallen,/ Widerlegen alle Schmach."28 Der Bote des Almanachs präsentiert sich indes nicht nur als Überbringer der Nachrichtensammlung, sondern auch als derjenige, der die übermittelten Informationen gesammelt und verfasst hat. Er ist Redakteur und Kolporteur in einer Person. Der .Hinkende Bote' ist jener Astrologe und Historiograph Antoine Souci bzw. Antoni Sorgmann, der als Verfasser des Almanachs auf zahlreichen Titelblättern genannt wird. In seiner ihm zugeschriebenen, doppelten Eigenschaft als Astrologe bzw. Astronom und Geschichtsschreiber vermittelte die Figur Antoine Souci/Antoni Sorgmann Autorität, die die Vertrauenswürdigkeit der im Almanach enthaltenen Informationen betonen sollte. Der Erzähler stellt sich den Almanachlesern ferner als Mitbürger vor, der Kriege und Katastrophen genauso leidvoll, den Frieden ebenso glücklich erfahre wie sie. So tritt der Straßburger Hinkende Bote von 1815 an die Seite der Leser, wenn er den Russlandfeldzug Napoleons mit den folgenden Worten kommentiert: Wir haben gesehen, ja wir haben gefühlt, welche ungeheure Zurüstungen Napoleon zu dem vorhabenden Feldzuge nach Rußland gemacht hat; Wenige von uns haben nicht einen Sohn, oder einen Bruder oder sonst einen Verwandten dazu geliefert; alle haben wir Geld dazu hergegeben.29

Trotz der fachlichen Autorität, die Antoine Souci in seiner Rolle als Astronom zugeschrieben wurde, schaffte die Betonung des gleichen Erfahrungshorizontes Vertrauen und Nähe zum Leser. Souci/Sorgmann, so suggeriert bereits der Name, ist ein Mann, der die Nöte seiner Leser teilt, ihnen aber zugleich mit allerlei praktischen Ratschlägen hilfreich zur Seite steht. Als Wissenschaftler und Geschichtsschreiber auf der einen und als ,Mann aus dem Volk' auf der anderen Seite erfüllte die Erzählerfigur des 27 28

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Schottenloher: Flugblatt und Zeitung (wie Anm. 22), S. 254. Franz Callenbach: QuaH vero, der hinckende Bot! hat sich wohl: live novellae politico-morales; deren ubelgegrünete, verminte, mit falschem Anstrich schattierte betrieblich darfür ausßgegebene Wahrheit. Ein gemeiniglich nachkommender Hinckender Bott, auff öffentlicher Schaubühn φ besserer Nachricht und treumeynender Warnung aller Lacht-Glaubigen und von verführerischen Schein verblenden Welt-Kinder auffrichtig vorlegt. Heraußgegeben auß der Quasi-Welt, auf der Post zu Fuß und in Druck gebracht. 1714, [S. 1]. Zitiert nach Schottenloher: Flugblatt und Zeitung (wie Anm. 22), S. 254. Anhang zum Straßburger Hinkenden Boten für das ]ahr 1815. Straßburg: Le Roux 1815. Zur Berichterstattung über die napoleonischen Befreiungskriege in den Almanachen des Typs Messager boiteux/Hinkender Bote vgl.: Susanne Greilich/Hans-Jürgen Lüsebrink: „La representation des guerres de Liberation allemandes dans l'almanach du genre Messager Boiteux". In: Lüsebrink/Mollier (Hg.): Presse et evenement: journaux, gazettes, almanachs (XVnie-XIXe Hecks) (siehe Anm. 23), S. 173-196.

Strukturen, Spezifika und Entwicklungen eines populären Almanachtyps

,Hinkenden Boten' die Rolle eines Mittlers, der die Neuigkeiten aus Politik und Wissenschaft dem Erfahrungshorizont seiner wenig alphabetisierten Leserschaft anpasste. Insbesondere in den im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts veröffentlichten Almanachen präsentiert sich der Erzähler als ,aufgeklärter Berater', der seinen Lesern nicht nur landwirtschaftliche und veterinärmedizinische Ratschläge zuteil werden lässt, sondern ihnen vermittels anschaulicher Beispielgeschichten auch wesentliche Ideen der Aufklärung nahe bringt. In der Fiktion der Almanache ist der .Hinkende Bote' mit einer weiteren wichtigen Funktion betraut. Außer als Verfasser und Überbringer der (schriftlichen) Volkskalender tritt er als derjenige auf, der die in den Almanachen enthaltenen Nachrichten seinen (fiktiven) Zuhörern mündlich vorträgt. Abermals übernimmt der Bote also die Rolle des Mittlers; er fungiert in diesem Fall als Bindeglied zwischen schriftlicher und mündlicher Kultur. Die inhaltliche Gestaltung der Almanache verdeutlicht diesen Aspekt. Der narrativ-berichtende Textteil der Messagers boiteux/Hinkenden Boten,,Relation curieuse des evenements les plus remarquables' bzw. ,Übersicht über die denkwürdigsten Ereignisse des vergangenen Jahres' genannt, präsentiert sich nämlich wie eine Fortsetzungsgeschichte, die alljährlich wieder aufgenommen wird, wenn der Bote — als Erzähler des Volkskalenders wie auch als Kolporteur aus Fleisch und Blut — in das Dorf oder die Stadt seiner Leser zurückkehrt. Auch wenn jede Nachricht oder Geschichte der .Relation curieuse' mit einer Überschrift versehen und von den anderen gestalterisch, etwa durch Absätze, Trennlinien oder unterschiedliche Schriftarten, abgehoben ist, wird in den Messagers boiteux/Hinkenden Boten das Bemühen erkennbar, den publizierten Texten eine strukturelle Kohärenz zu geben. Mit Hilfe von umrahmenden Begrüßungs- und Abschiedsworten des ,Hinkenden Boten' sowie durch Kommentare und Überleitungen zwischen den einzelnen Artikeln soll der schriftliche Text einer mündlichen Kommunikationssituation angenähert werden, wie sie die Leser auch in der Wirklichkeit immer wieder erlebten, etwa, wenn Kolporteure oder fahrende Händler in ihre Ortschaft kamen und aus den Almanachen zu Werbezwecken deklamierten.30 Ein frühes Beispiel dafür liefert der von Mechel verlegte Messager boiteux de Bas/e des Jahres 1712. Von einem Bericht über den Tod von Kaiser Joseph I. leitet der Erzähler zu einem Artikel über das Dahinscheiden des Dauphin über; das Bindeglied bildet hierbei die gemeinsame Todesursache der beiden Adligen, die Blattern: „Je vous ai entretenu de la mort de l'Empereur, il faut presentement que je vous parle de celle du Dauphin de 30

Vgl. Lüsebrink: „Du «Messager Boiteux» au «Pere Gerard»" (wie Anm. 21), S. 53—60.

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France arrivee presqu'en meme temps, & de la meme maladie", beginnt der Messager boiteux seinen Bericht über das frühe Ende des französischen Thronfolgers.31 Ausdrücklich lässt der Almanach seinen Erzähler hier also „sprechen", ihn den Leser „unterhalten" (im Sinne von „eine Unterhaltung führen"). Mehrmals noch werden im Artikel ähnliche Formulierungen verwendet, die den Effekt eines mündlichen Berichts des Hinkenden Boten an seine Leserschaft kreieren: „j'oubliois de vous dire", „je viens de vous parier", „je ne vous dirai qu'un mot en passant" sind nur einige davon.32 Für die Messagers boiteux/Hinkenden Boten typisch ist ferner die Eröffnung der einzelnen Texte mit einem Verweis auf frühere Berichte, an die der Folgende anknüpft, bzw. mit einer kleinen Betrachtung, die die Bedeutung des mitzuteilenden Ereignisses oder die beabsichtigte Moral der Geschichte herausstellt. L'Annee derniere nous avons donne avis ä nos Lecteurs des motifs, qui ont engagez le Roi d'Espagne d'interdire ä ses sujets le Commerce avec la Ville de Hambourg & des mesures que le Senat de Hambourg prit pour se reconcilier ce Monarque; II nous reste done ä present a dire quelle a ete la fin de cette affairef,]

leitet der Messager boiteux de Basle von 1754 einen Bericht über die Wiederbelebung der Handelsbeziehungen zwischen Hamburg und Spanien ein,33 während im Jahrgang 1712 des gleichen Almanachs die Nouvelles de la Moscovie mit den Worten beginnen: On a commence la Guerre; on s'est battu; la Paix est faite. Trois jours, sans plus, ont produit cette merveille. Ne vous semble-t-il pas que ce soit un songe? Ce n'en est pourtant point un. Le fait est certain; du moins en gros, comme vous l'aprendez dans la Relation suivante, laquelle fut ecrite par Mr. le Baron de Schleinitz Envoye Extraordinaire de Sa Majeste Czarienne ä la Cour Electorale de Bronswick-Lünebourg-Hannovre, ä Monsr. de Matueof Ambassadeur de Sadite Majeste ä la Haye, & datee du 30. d'Aoüt 1711.

Die Einleitungen des Hinkenden Boten besitzen in beiden Fällen weniger die Aufgabe, die Leserschaft zu informieren als das Ziel, ihre Aufmerksamkeit zu erwecken. Sie haben - im Sinne Jakobsons — phatische Sprachfunktion.34 Auch hier ahmt der Almanach eine mündliche Kommunikationssituation nach.

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Vgl. „La Mort de Monseigneur le Dauphin, arrivee ä Meudon" und „L'Empereur Joseph I. mourut dans sa Residence ä Vienne". In: Messager boiteux de Basle. Basle: Mechel 1712. „La Mort de Monseigneur le Dauphin, arrivee ä Meudon". In: Messager boiteux de Basle. Basle: Mechel 1712. „Retablissement du Commerce d'Espagne avec la Ville de Hambourg". In: Messager boiteux de Basle. Basle: Mechel 1754. Vgl. Roman Jakobson: Poetik. Ausgewählte Aufsätze 1921-1971. Hg. v. Elmar Holenstein undTarcicius Schelbert. Frankfurt/M. 1979, S. 91.

Strukturen, Spezifika und Entwicklungen eines populären Almanachtyps

Der Kommentar der Berichte, wie sie die Erzählerfigur des ,Hinkenden Boten' in den Almanachen vornimmt, stellte in der Medienlandschaft des 18. Jahrhunderts kein Einzelphänomen dar. Ganz ähnlich in Funktion und Gestaltung ist dem ,Hinkenden Boten' der ,Mathematicus Mathieu Laensbergh', der dem Almanach de Liege als Kalender- und Erzählerfigur diente.35 Trotz ihrer überwiegend unpersönlichen Form der Berichterstattung waren auch die Gazetten von Kommentaren und Meinungen ihrer Redakteure und Herausgeber nicht frei; Kritik und Bewertung waren ebenso essentielles Mittel der literaturkritischen Zeitschriften wie der periodischen Sittenschriften. Schon zu Beginn des 18. Jahrhunderts waren in Deutschland zudem historisch-politische Zeitschriften bekannt, „die — nach Ländern geordnet — Geschichten aus dem aktuellen politischen Geschehen sammelten und mit Anmerkungen versahen".30 Auch die fiktive Verfasserschaft der Berichte durch eine Figur, die dem Periodikum ihren Namen lieh, war keineswegs einzigartig, sondern kennzeichnete insbesondere die vom englischen Vorbild beeinflussten Moralischen Wochenschriften. 37 Im Unterschied zum .Hinkenden Boten', der als Erzählerfigur mit einem äußeren Erscheinungsbild und einem Beruf ausgestattet war, die denen realer, den Lesern aus ihrem Alltagsleben vertrauter Personen, den Versehrten Kolporteuren nämlich, nahe kamen, wählten die Wochenschriften zumeist Typen als Erzählerfiguren aus, wie die Titel dieser Periodika — vom Spectator/Specta-teur und Tatler über die Vernünftigen Tadlerinnen bis hin zum Menschenfreund — belegen. Sowohl im Falle der Almanache wie auch der Moralischen Wochenschriften verwies die fiktive mündliche Kommunikation zwischen dem Erzähler und seinen Zuhörern auf eine den Lesern aus dem Alltagsleben vertraute, mündliche Kommunikationssituation. So wie den Almanachlesern der Kolporteur bekannt war, der zur Anpreisung seiner Ware aus den mitgebrachten Schriften deklamierte oder zu den zu verkaufenden Illustrationen einen passenden Bericht lieferte, so meinten die bürgerlichen, gebildeten Leser der Moralischen Wochenschriften vielleicht eine Tadlerin, einen Menschenfreund oder einen Plauderer im angeregten Gespräch mit ihren Mitmenschen wieder zu erkennen.

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37

Vgl. Greilich: Französischsprachige Volksalmanache (wie Anm. 16). So beispielsweise der Historische und politische Mercurius, der von 1694-1723 herausgegeben wurde und Die europäische Fama, welche den gegenwärtigen Zustand der vornehmsten Höfe entdecket, in der Philipp Balthasar Sinold von Schütz seiner Leserschaft „eine Mischung von Dokumenten, Hofklatsch und Berichten über Katastrophen sowie von moralisierenden Betrachtungen bot". Jürgen Wilke: Grund^iige der Medien- und Kommunikationsgeschichte. Von den Anfängen bis ins 20. Jahrhundert. Köln 2000, S. 100. Vgl. Ebd., S. 103.

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Nichtsdestotrotz nahm die mündliche Form der Informationsvermittlung im 18. Jahrhundert in den weniger gebildeten Schichten ohne Zweifel eine bedeutendere Stellung ein als im Bürgertum und gebildeten Adel. Die Gespräche in Lesegesellschaften, Salons und Clubs mochten der Ergänzung der aus Zeitungs- und Zeitschriftenlektüre gezogenen Informationen und dem Gedankenaustausch darüber dienen, für einen guten Teil der überwiegend ländlichen Bevölkerung indes war Mündlichkeit aufgrund fehlender oder nur gering vorhandener Lesekenntnisse noch immer die Basis von Information überhaupt. Zwar lagen die politischen Berichte und Nachrichten im Almanach in gedruckter Form vor, doch war das laute Vorlesen daraus eine verbreitete soziale Praxis.38 Die Erzählerfiguren der Volksalmanache sind daher — im Unterschied zu denen der Moralischen Wochenschriften beispielsweise — weniger als rein poetisches Stilmittel der Herausgeber zu betrachten, denn als Hilfestellung, die dem wenig lesenden Publikum der Almanache die Scheu vor gedrucktem Schrifttum nehmen sollte. So ist auch zu erklären, dass sich der wohl bekannteste der explizit für das Volk bestimmten Almanache der Revolutionszeit, der Almanach du Pere Gerard, einer Erzählerfigur zur Vermittlung der neuen politischen Grundideen bediente.39

Inhaltliche Gliederung der Hinkenden Boten/ Messagers boiteux Über den gesamten Erscheinungszeitraum von mehr als 200 Jahren war für die Almanache des Typs Hinkender Bote/Messager boiteux eine inhaltliche Gliederung in drei Teile charakteristisch: Neben einem 24-seitigen Kalender, der neben den Wochen- auch die Namens- und Festtage auflistete und ableitend vom Stand der Sterne sowie der Erscheinung des Mondes Vorhersagen über das Wetter traf, enthielten die Almanache einen in den französischen Ausgaben .Ephemerides' genannten Teil, der der Leserschaft eine Beschreibung der vier Jahreszeiten lieferte, die zu erwartenden Finsternisse nannte und allgemeine Betrachtungen zur Fruchtbarkeit der Erde, zu Krieg und kommenden Krankheiten anstellte. Kalender und ,Ephemerides' wurden regelmäßig weitere Texte wie Herrscherlisten, Maß- und Gewichtstabellen, Aderlasstafeln, medizinische 38

39

Vgl. zu dieser Thematik: Brigitte Schlieben-Lange: Traditionen des Sprechens. Elemente einer pragmatischen Sprachgeschichtsschreibung. Stuttgart 1983; Roger Chartier: Lectures et lecteurs dans la France d'Ancien BJgme. Paris 1987, sowie Schenda: Volk ohne Buch (wie Anm. 19). Vgl. Lüsebrink: „Du «Messager Boiteux» au «Pere Gerard»" (wie Anm. 21); sowie Lise Andries: „Almanacs: Revolutionizing a Traditional Genre". In: Robert Darnton/Daniel Roche (Hg.): Revolution in Print. The Press in France 1775-1800. Berkeley 1989, S. 203-222.

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Ratschläge und - sofern nicht bereits in die Kalenderseiten integriert eine Ubersicht über die Märkte und Messen der Region vor- oder nachgestellt. Schließlich verfügten alle Almanache des Typs über einen mehr oder minder umfangreichen, berichtend-narrativen Textteil, die sogenannte .Relation curieuse des evenements les plus remarquables' bzw. .Übersicht über die denkwürdigsten Ereignisse des vergangenen Jahres'. Wenngleich die Exemplare auch teilweise schadhaft sind, ist bereits in den ältesten der heute noch erhaltenen Hinkenden Boten, den Jahrgängen 1691, 1693, 1696, 1698 und 1700 des Basler Hinckenden Bott von Mechel, diese charakteristische Dreiteilung erkennbar. Das konstante Erscheinungsbild der Almanache mag dazu beigetragen haben, dass die Hinkenden Boten/Messagers boiteux in der Vergangenheit von verschiedenen Autoren als rückständig charakterisiert und als .rituelles Objekt' ohne jeglichen Informationswert abqualifiziert worden sind.40 Die detaillierte Analyse dieser Volkskalender über den Zeitraum von mehr als 150 Jahren 41 vermag aber zu zeigen, dass die Messagers boiteux vor allem im 18. Jahrhundert keineswegs „den Status der nichtinformierten, falsch programmierten Gesellschaft"42 förderten, sondern ihre Leser im Gegenteil primär mit den wichtigsten Informationen über das politische Weltgeschehen versorgten und sie sich — weit davon entfernt „an einer idyllischen Vergangenheit"43 zu kleben — von literarischen Moden ebenso beeinflusst zeigten wie vom Gedankengut der Aufklärung, insbesondere der schweizerisch-deutschen Volksaufklärung. Zwar blieben das Volumen des Kalenderteils wie auch sein äußeres Erscheinungsbild von der Mitte des 18. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts nahezu unverändert, doch wird auf den zweiten Blick deutlich, dass die Diskussion der Volksaufklärung und — etwas später — auch die der französischen Revolutionszeit um eine Erneuerung der Volksalmanache in den Hinkenden Boten/Messagers boiteux ihren Widerhall gefunden hat.44 40 41

42 43 44

Vgl. Schenda: Volk ohne Buch (wie Anm. 19), S. 286 f.; Desponds: Messager boiteux (wie Anm. 8), S. 56 f. und S. 84. Die vorgestellte Beschreibung der inhaltlichen Struktur der Volksalmanache des Typs Hinkender Bote/Messager boiteux beruht auf den Ergebnissen einer systematischen Auswertung zweier deutschsprachiger Almanache, des Offenbacher Hinkenden Reichs-Boten sowie des Straßburger Hinkenden Boten von Schuler, über den Zeitraum von rund 100 Jahren (d.h. von der Mitte des 18. Jahrhunderts bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts), die ergänzt wurde durch die Analyse von 400 französischsprachigen Ausgaben der Messagers boiteux über den Zeitraum von 1706-1860, die die Verfasserin im Rahmen ihrer Dissertation zum Thema „Strukturen, Wandlungen und intertextuelle Bezüge französischsprachiger Volksalmanache" durchführte. Schenda: Volk ohne Buch (wie Anm. 19), S. 287. Ebd. Zu den Diskussionen um eine Erneuerung der Volkskalender in Deutschland, Frankreich und der Schweiz vgl.: Holger Böning: Heinrich Zschokke und sein „Aufrichtiger und wohlerfahre-

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Wenn der Messager boiteux de Basle von Decker beispielsweise auch 1793 noch für jeden Monat des Jahres Angaben über den Stand der Planeten und den Einfluss der Sterne auf die im jeweiligen Stern2eichen Geborenen machte, so bekannte der Hinkende Bote ein Jahr später in der deutschen Ausgabe des Almanachs „seine Sünden" und verwarf die sogenannten „Geburtszeichen" als abergläubischen Unsinn: Irren ist menschlich, sagt man, aber im erkannten Irrthum beharren ist Sünde. Ich bin nun selbst seit langem her der irrigen Meynung gewesen, daß - unter anderm die Kalender-Zeichen einen großen Einfluß auf das Leben der Menschen hätten. Auch ich glaubte, mit vielen andern einfältigen Leuten, daß wer im Krebs gebohren sey, bey dem gehe alles verkehrt: wer im Wassermann auf die Welt komme, der laufe große Gefahr zu ertrinken u.s.w. Nun das war Irrthum und keine Sünde; allein ich habe mich überreden lassen, noch, nach Erkenntniß dieses Irrthums, denselben auszubreiten; ich habe noch eine Zeidang unter jedem Monat das dumme Ding: Kinder in diesem Zeichen gebohren, meinen Lesern aufgetischt; ich gesteh es aber, ich hab es zum Theil auch aus Besorgnis gethan, man möchte meinen Kalender fehlerhaft oder mangelhaft finden. Jezt aber kann ich, als ein alter ehrlicher Kerl, nicht länger mehr schweigen; es dünkt mich, und es muß heraus, daß ich [i]n diesem Stück ein großer Sünder bin. Ich sag es euch besonders, euch unter meinen Lesern, die ihr noch an diesen Abgeschmacktheiten hanget; die ihr noch immer, wenn euch ein Kind gebohren wird, zum Kalender greifet, das Zeichen des Tags aufmerksam nachschlagt und aufschreibt, um daraus auf das künftig glückliche oder unglückliche Schicksal der Neugebohrnen zu schließen. Euch sag ich es auch besonders, die ihr nie anders als in einem Lieblings-Zeichen schräpfen [sie!], zu aderlassen und purgieren, oder nur im Zwillinge säen, im Wassermann baden, und in der Jungfrau heurathen wollt; ja euch bekenn ich meine Sünde und erkläre hiermit, daß dies lauter Vorurtheile sind, die gar keinen Nutzen gewähren, sondern vielmehr sehr oft schädlich werden müssen. 45 Schon zwanzig Jahre früher hatte im übrigen ein anderer bekannter schweizerischer Volksalmanach, der Alte und neue große Staats-, Kriegs- und Friedens-Calender aus Trogen, die Geburtshoroskope unter dem Hinweis darauf, dass es sich dabei nur um „alte närrische nichts bedeutende und unbegründete Auslegungen" 46 handele, aus seinem Kalender entfernt.

45 46

ner Schweiqerbote". Die Volksauf klärung in der Schwaß. Bern 1983; Böning/Siegert: Volksaufklärung. Bd. I, S. XXII-IL; Andries: „Almanacs: Revolutionizing a Traditional Genre" (wie Anm. 39). Aufklärerisches Gedankengut in den deutschen Kalendern des 18. und 19. Jahrhunderts weist Gerhardt Petrat u.a. am Beispiel des Hamburgschen Historien-Calenders nach. Vgl. Gerhardt Petrat: Einem besseren Dasein zu Diensten. Die Spur der Auf klärung im Medium Kalender ^wischen 1700 und 1919. München 1991. „Der hinkende Bothe bekennt seine Sünden". In: Verbesserter und Neuer vollkommener StaatsCalendergenannt der Hinckende Bott. Basel: Decker 1794. „Hochgeneigter Leser". In: Alter und neuer großer Staats-, Kriegs- und Friedens-Calender. Trogen: Sturzenegger 1774.

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Auf der einen Seite ließen die Verleger also den deutlichen Willen zur Reform ihrer Kalender erkennen, auf der anderen Seite waren sie sich des Widerspruchs, den solche Änderungen bei der Leserschaft hervorrufen mussten, bewusst. So erklärt der Hinkende Bote seinen Lesern im obigen Beispiel, er habe die Geburtshoroskope auch nach Erkennen seines Irrtums noch in den Kalender aufgenommen und zwar „zum Theil auch aus Besorgnis [...], man möchte meinen Kalender fehlerhaft oder mangelhaft finden". Die Sorge um die Ablehnung der Leser, um schwindende Absatzzahlen und sich verringernde Gewinne scheinen auch in den Überlegungen durch, die Chenebie im Messager boiteux de Berne für das Jahr 1796 zur Reform der Almanache anstellte. Zwar stimme er den Forderungen der Revolutionszeit, die Volksalmanache von zweifelhaften Prophezeiungen zu befreien und an ihre Stelle Informationen über die Gedanken der Aufklärung und die Ideale der Französischen Revolution zu setzen, zu, doch müsse er, so der Verleger, die wirtschaftliche Unmöglichkeit dieses Vorhabens einräumen: „l'on veut que les redacteurs des Almanachs [...] se procurent ä grands fraix les matieres, pour les vendre au vil prix qu'on les vend des long-tems, & non obstant le rencherissement sensible de toutes choses".47 Dass sich trotz anfänglicher Widerstände zu Beginn des 19. Jahrhunderts schließlich auch bei breiteren Bevölkerungsschichten die Überzeugung durchgesetzt haben muss, dass astrologischen Vorhersagen und Geburtshoroskopen wenig Glauben zu schenken sei, darauf deutet neben der Tatsache, dass im 19. Jahrhundert auch die letzten Hinkenden Boten/ Messagers boiteux die Horoskope aus ihrem Kalender strichen und alle Almanache des Typs die ,Ephemerides' auf ein Viertel ihres ursprünglichen Umfangs zusammenkürzten,48 ein ganz besonderes Fundstück aus den zwanziger Jahren hin. Der kleine hinkende Bothe auf das Jahr 11, vermutlich 1824 zum Karneval in Köln verlegt,49 parodiert nämlich nicht nur die 47 48

Mtssager boiteux de Berne. Vevey: Chenebie 1796. Hatten die ,Ephemerides' des Messager boiteux de Basle von Mechel beispielsweise in den Jahren 1712 bis 1754 noch einen Umfang von 8 Seiten, so nahmen sie 1787 nur noch die Hälfte dieses Volumens ein. 1834 hatte sich die Seitenzahl abermals halbiert, die ,Ephemendes' fanden nun auf 4 Spalten Platz. Der Messager boiteux de Berne verminderte den Umfang der ,Ephemerides' von 5,5 Seiten im Jahre 1798 bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts ebenfalls auf 2 Seiten. Parallel zur Reduzierung des Umfenges wurde der prophetische Charakter der ,Ephemerides' mehr und mehr eingeschränkt. Erst in der Mitte des 19. Jahrhunderts aber waren die Prophezeiungen vollständig aus diesem Teil des Almanachs verschwunden: Die .Description des quatre Saisons' beschränkte sich auf die Nennung des Beginns der jeweiligen Jahreszeiten, von den übrigen Rubriken war nur noch die Beschreibung der Finsternisse verblieben. Vgl. Greilich: Fran^ösischsprachige Volksalmanache (wie Anm. 16), S. 83f.

49

Oer kleine hinkende Bothe auf das Jahr 11, welches ein Schaltjahr von 366 T. ist. Köln, gedruckt in diesem Jahre. Auf das Jahr 1824 als Erscheinungsdatum weist die am Ende des Almanachs

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in den Almanachen des 18. Jahrhunderts sehr vage gehaltenen Prophezeiungen über die zu erwartenden Krankheiten, Kriege und Ernteerträge, sondern auch die „Geburts-" bzw. „Kalenderzeichen". So sagt der Hinkende Bothe voraus, dass „eine Tochter im Jenner geboren" „kalt und feuchter Natur" sein werde und prophezeit jedem im April geborenen Kind „ein hohes Alter, wenn's nicht vorher stirbt". In Hinblick auf die politische Zukunft des Landes bemerkt er: Daß große Staaten, Königreiche und Fürstenthümer denen Veränderungen unterworfen, und vor dieselben eine Zeit ist, da sie wachsen, und an Hoheit zunehmen, aber auch eine Zeit da sie abnehmen, ist eine aus der Historie bekannte Sache. Alles Raisoniren der Klugen dieser Welt ist vergeblich, und der Astrolog weiß gleicher Weise nichts, was geschehen wird. Geschiehet demnach bloß aus Gewohnheit, und um der Leute Einfalt wegen, dass man dieses Capital in dem Calender beibehält.50

Was schließlich die Gesundheit angehe, so könne man allenfalls und dies auch „ohne die Aspecten zu Rathe zu ziehen" mit Sicherheit sagen, „dass es auch in diesem Jahre an Krankheiten" nicht fehlen werde.51 Die Unmöglichkeit zuverlässiger astrologischer Prophezeiungen — darauf weisen die Zitate aus dem Kleinen Hinkenden Bothen hin — war zu Beginn des 19. Jahrhunderts zu einer allgemeinen Überzeugung geworden, die es erlaubte, die letzten Narren, die Horoskopen und Weissagungen noch Glauben schenkten, im Karneval dem Spott der breiten Massen auszusetzen.

Die ,Relation curieuse' im Wandel des 18. und 19. Jahrhunderts Sehr viel ausgeprägter noch als Kalender und ,Ephemerides' unterlag der dritte Teil der Almanache des Typs Messager boiteux/Hinkender Bote im Verlauf des 17. bis 19. Jahrhunderts verschiedenen Modifizierungen. Von einem informativen, historischen Ereignisüberblick zu Beginn über einen aufklärerisch-erziehenden Leitfaden im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts entwickelte sich der im Französischen .Relation curieuse' genannte Textteil zu einer kurzweiligen Anekdoten- und Geschichtensammlung in der Mitte des 19. Jahrhunderts.

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befindliche „Genealogie der jetzt regierenden Potentaten", in der es heißt „Held Carneval der lte folgte seinem Vorgänger in der Regierung Fastnacht 1823. Großkreuz vom dülkener Windmühlen Orden, Alt=Schotte u.s.w. Verlobt seit 1824 mit: Veneria Prinzessinn von Venedig." Exemplar vorhanden in der Universitäts- und Stadtbibliothek Köln. „Von Krieg und Frieden". In: Ebd. „Von Krankheiten". In: Ebd.

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Information und Instruktion, moralische Erziehung und Unterhaltung — diesen Zielsetzungen waren die Messagers boiteux/Hinkenden Boten in ihrer langen Erscheinungsgeschichte in unterschiedlichem Maße unterworfen. Die Betonung des .Gebrauchscharakters' dieser Almanache — wie sie in der Forschungsliteratur häufig vorgenommen wurde52 — greift in jedem Fall ebenso zu kurz wie ihre Nostalgisierung. Zu den Absichten seiner Kalenderpublikationen erklärte der schweizerische Drucker und Buchhändler Chenebie 1788 in einem Vorwort an die Leser: Quelques uns de nos Lecteurs ne voudroien voir dans ce Recueil que des choses de la premiere utilite, c'est-ä-dire, qui eussent rapport ä l'agriculture ou ä l'economie domestique: ils peuvent avoir raison jusques a un certain point; mais l'homme est aussi curieux, il aime a savoir ce qui se passe, meme dans les parties du monde les plus eloignees. Un peuple compare son etat avec celui d'autres peuples, & se trouve plus heureux: on est emu, attendri au recit d'une belle action ou d'un trait de courage; les prejuges s'affoiblissent, le desir de s'instruire peut naitre en voyant tant d'hommes qui ne pensent pas comme nous, dans bien des choses & qui ont cependant les memes besoins, les memes passions, qui s'accordent avec nous sur l'importance de la morale & la beaute de la vertu: ainsi que ces choses peuvent aussi avoir leur utilite. Nous ne negligerons pas non plus, quand nous en aurons la connoissance, d'inserer dans nos relations des decouvertes curieuses ou importantes, des secrets ou des procedes d'une utilite generale, pour l'agriculture ou l'economie, & c'est tout ce que nous pouvons faire, pour nous conformer au gout general. 53

Welche Gewichtung politische und vermischte Nachrichten, Reiseberichte, praktische Unterweisungen, moralische Beispielgeschichten und Anekdoten — um nur die wesentlichen Textsorten zu nennen - im Laufe der Jahrhunderte in den Volkskalendern erfahren haben, wollen wir in den nun folgenden Abschnitten umreißen. Dominanz der Berichterstattung vom Beginn bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts Unsere Untersuchungen der vier bedeutendsten französischsprachigen Serien der Almanache des Typs Hinkender Bote/Messager boiteux - des Messager boiteux de Basle von Mechel und von Decker, des Messager boiteux de Berne von Chenebie/Lörtscher sowie des Messager boiteux de Colmar —, die durch Stichprobenanalysen anderer französischer und deutscher Almana-

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Vgl. etwa Schenda: Volk ohne Buch (wie Anm. 19), S. 286 £ „das Sammelsurium des zweiten Teils [...] versucht höchstens durch häuslich-praktische Ratschläge die Gegenwart besser zu bewältigen." Messager boiteux de Berne. Vevey: Chenebie 1788.

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che des Typs ergänzt wurden,54 haben ergeben, dass die .Relation curieuse' bis zum zweiten Drittel des 18. Jahrhunderts vor allem politische Nachrichten und Vermischtes (Berichte über Naturkatastrophen, Himmelserscheinungen, Unfälle, hohe Geburtstage, etc.) enthielt. 23 der 38 Texte der .Relation curieuse' des Basler Messager boiteux von Mechel des Jahres 1712 beispielsweise sind den politischen, 12 weitere den vermischten Nachrichten zuzurechnen. Bei einem Gesamtumfang des Textteils von 78 Spalten nehmen die politischen Nachrichten mit 60,5 Spalten 76,6%, die vermischten Nachrichten mit 13,5 Spalten 17,3% des Volumens ein. Gut ein Viertel]ahrhundert später dominierte die Ereignisberichterstattung weiterhin den Textteil der Almanache, wie die detaillierte Untersuchung der Jahrgänge 1737 und 1739 des Messager boiteux von Mechel sowie des Deckerschen Messager boiteux de Bas/e für das Jahr 1736 belegt. Die .Relation curieuse' beider Almanache Mechels besitzt einen Gesamtumfang von 76 Spalten. In der Ausgabe für das Jahr 1737 nehmen die politischen Nachrichten davon 43 Spalten bzw. 56,6%, die vermischten Nachrichten 14 Spalten bzw. 18,4% ein. Nur ein Viertel des Volumens entfällt also auf andere Texte. Die ,Relation curieuse' des Messager boiteux von 1739 besteht zu 78,8% aus politischen und zu 10,5% aus vermischten Nachrichten. 16,8% bzw. 12,75 von 76 Spalten entfallen auf andere Texte, von denen eine moralische Erzählung mit dem Titel En pratiquant la vertu, on illustre safamille den überwiegenden Platz, nämlich 12 Spalten, einnimmt. Die Dominanz der Ereignisberichterstattung ist für den Messager boiteux de Basle Deckers von 1736 ebenfalls charakteristisch. Schon in den Kalenderteil des Almanachs finden sich Nachrichten eingeschoben: Der Recueil et BJcit des Evenemens les plus remarquables berichtet der Leserschaft auf einer Gesamdänge von 12 Spalten (= 1 Spalte pro Kalenderblatt) über die denkwürdigsten Ereignisse der Monate Oktober 1734 bis einschließlich September 1735. Mit 7,75 Spalten bzw. 64,6% nehmen hierbei die politischen Nachrichten fast zwei Drittel des Volumens ein. Die Anzahl der Texte der .Relation curieuse', die einen Umfang von 20 Blatt zuzüglich eines Faltblattes besitzt, ist in diesem Jahrgang enorm: Sie beträgt 99 Stück, weswegen die einzelnen Nachrichten einen nur geringen Umfang von einer Viertel· bis zu einer ganzen Spalte besitzen. 61 der 99 Texte haben ein politisches Ereignis zum Thema, 33 der Texte sind zu den vermischten Nach-richten zu rechnen. Anders als in den Messagers boiteux Mechels haben Texte mit literarischem Charakter im Almanach Deckers in den 30er Jahren des 18. Jahrhunderts noch keinen Platz gehabt. Während der Messager boiteux Mechels seinen Lesern 1739 eine 12 Spalten lange moralische Erzählung lieferte 54

Vgl. Greilich: Frawtfsischsprachig

Volksalmanache (wie Anm. 16).

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und sie 1737 mit einem kleinen Gedicht, einer Anekdote über Kardinal Fleury sowie einer sentimentalen Geschichte unterhielt,55 beschäftigten sich die verbleibenden Texte des Messager boiteux von Decker mit dem Portrait des persischen Herrschers Kouli-Kann,50 einer Nouvelle invention ä jetter des Grenades und statistischen Zahlen.57 Auch in den 50er Jahren hatte sich an der Dominanz der Ereignisberichterstattung nichts geändert, wenn man im Messager boiteux von Mechel des Jahres 1754 auch eine Verschiebung zugunsten der vermischten Nachrichten feststellen kann. Bei einem Gesamtvolumen der .Relation curieuse' von 68 Spalten beträgt der Anteil der politischen Nachrichten 57,7%, der der vermischten hat sich auf 25,4% erhöht. Insgesamt ist der Anteil der politischen und vermischten Nachrichten am Textteil aber konstant geblieben: Er beträgt — wie in den 30er Jahren des 18. Jahrhunderts — gut 83%. 1761 begann der Messager boiteux de Basle von Mechel sogar damit — ähnlich wie die Gazetten - , die politischen und vermischten Nachrichten nach Staaten bzw. Regionen sortiert aufzuführen (Nouvelles de Turquie, Nouvelles d'Italie, etc.). Diese Struktur sollte er bis 1796 beibehalten.

Diversifizierung und Moralisierung: von den 70er Jahren bis zur Revolutionszeit Wenn die politischen und vermischten Nachrichten auf der einen Seite auch in den 70er Jahren des 18. Jahrhunderts noch die untersuchten Almanache prägten — 57,8% des Volumens der ,Relation curieuse' des Deckerschen Messager boiteux de Basle von 1770 beispielsweise sind den politischen, 17,2% den vermischten Nachrichten zuzuordnen —, so lassen sich auf der anderen Seite schon erste Anzeichen einer Entwicklung ausmachen, die man als Diversifizierung der Almanache bezeichnen kann. Die Textsorten der ,Relation curieuse' wurden vielfältiger und die Almanache sowohl zum Objekt einer zunehmenden Literarisierung und Moralisierung wie zu dem einer Verwissenschaftlichung. Anekdoten und kurze Erzählungen fanden im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts vermehrt Aufnahme in die .Relation curieuse' oder wur55

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Vgl. die Texte „Pensee outree d'un amoureux, imitee d'un Madrigal Italien"; ,,Avertissement pour moderer les passions d'un amour deregle, ou Histoire de Du Chene et de Marianne" und „Response ingenieuse du Cardinal de Fleury ä un Eveque". In: Messager boiteux de Basle. Basle: Mechel 1737. Vgl. „Veritable Portrait de Kouli-Kan, avec la note de l'extractation & origine de ce Generalissime & Regent du Royaume de Perse, suivant les differens avis, qu'on en debite". In: Messager boiteux de Basle. Basle: Decker 1736. Vgl. „Denombrement de la Jeunesse, qu'on enseigne & habille gratis dans les 3. Royaumes de la Grande Bretagne" und „Equippage & discipline des trouppes de Russie". In: Ebd.

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den vor oder in den Kalenderteil der Almanache eingeschoben. So befindet sich auf dem Verso des Umschlagtitels des Messager boiteux von 1770 die Geschichte Les deux camarades, direkt hinter die ,Ephemerides' ist eine vier Spalten lange Erzählung mit dem Titel Les vendanges platziert. Von den Texten der ,Relation curieuse', die weder zu den politischen noch zu den vermischten Nachrichten gerechnet werden können, können mindestens acht im Gesamtumfang von 10 Spalten den Erzählungen und Anekdoten zugeordnet werden.58 Sie machen 69% der ,anderen Texte' der ,Relation curieuse' aus und besitzen alle unterhaltenden oder moralisch-belehrenden, nicht-informativen Charakter. Zwar lieferte der Messager boiteux von Mechel seiner Leserschaft schon 1739 und 1754 mit En pratiquant la vertu, on illustre sa famille und Voyage merveilleux dans la Region des Gnomes je eine Erzählung beträchtlicher Länge (12 bzw. 5,5 Spalten), diese Texte sind jedoch singulär inmitten der Ereignisberichterstattung. Der Deckersche Almanach von 1770 erhöhte nicht nur die Anzahl der Geschichten, er mischte sie auch bunt mit den politischen und vermischten Nachrichten. Wie vielfältig das Repertoire des Almanachs geworden ist wird deutlich, wenn man die restlichen Texte betrachtet, die der Messager boiteux 1770 publizierte: Neben der Rezension eines Theaterstücks und der Beschreibung eines chinesischen Jahrmarktes59 finden sich zwei Texte, die über aktuelle Entwicklungen auf dem Gebiet der Wissenschaft und der Kunst berichten.60 Eine zunehmende textuelle Vielfalt prägte in den 70er und 80er Jahren des 18. Jahrhunderts auch den Berner Almanach von Chenebie. Die Durchsicht des Jahrgangs 1783 des Messager boiteux de Berne hat ergeben, dass von den 35 Texten der 86 Spalten langen .Relation curieuse' nur 9 den politischen Nachrichten zuzurechnen sind. Neben zahlreichen vermischten Nachrichten finden sich aber zwei Auszüge aus Reiseberichten, in denen zum einen die Beerdigungsfeierlichkeiten ,der Wilden', zum anderen - anlässlich ihrer Eroberung durch die Franzosen - die Stadt St. Christophe beschrieben werden.61 Des Weiteren enthält der Messager boiteux zwei demographische Statistiken über die Geburten- und Sterbera-

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Vgl. „Ziou-Zioung, ou la Robe couverte de pierreries, Reponse aux plaintes d'une jeune Auteur, Le ruse Cuisinier & sa Maitresse, Les trois avis, Journal d'un Anglois sur son Mariage, Sein trop decouvert, Le Marie par Philosophe". Alle in: Messager boiteux. Basle: Decker 1770. Vgl. „La Memoire de Gentilly", „Foire comique dans l'Empire de la Chine". In: Messager boiteux. Basle: Decker 1770. Vgl. „Moyen propose de preserver un Peuple entier de la petite Veröle", „Tables volantes, Monumens, &c.". In: Ebd. Vgl. „Oraison funebre & Funerailles des Sauvages", „Description & conquete de St. Christophe". In: Messager boiteux. Vevey: Chenebie 1783.

Strukturen, Spezifika und Entwicklungen eines populären Almanachtyps

ten in London und Paris,62 mit dem Text Secret contre la gangrene wird den Lesern ein medizinischer Ratschlag gegen die Gangräne (das Absterben von Gewebezellen in Folge von Erfrierungen) an die Hand gegeben. Der Almanach beschränkte sich also — wie der Messager boiteux de Basle — nicht mehr allein auf die Information seiner Leser über wichtige politische und denkwürdige, weil außergewöhnliche ,vermischte' Ereignisse, er klärte sie auch über neue wissenschaftliche Erkenntnisse und Entdeckungen auf. Schon 1779 hatte der Messager boiteux de Berne ein wirksames Remede contre les suites de couche veröffentlicht und den Text mit den Worten kommentiert: „Tout ce qui peut contribuer au bien de l'humanite souffrante doit avoir meritoirement une place dans notre Almanach". Die beschriebenen Entwicklungen — Erweiterung des Textsortenspektrums, Diversifizierung der gegebenen Informationen, Aufnahme fiktionaler und semi-fiktionaler Texte in die ,Relation curieuse' — setzten sich in den Messagers boiteux der 90er Jahre des 18. Jahrhunderts fort, wie die Durchsicht der entsprechenden Jahrgänge beweist. Von den mehr als 40 Texten des Deckerschen Messager boiteux de Bas/e des Revolutions)ahres 1793 beispielsweise können nur 3 Artikel bzw. 14,3% des Gesamtvolumens der politischen Ereignisberichterstattung zugeordnet werden.63 Im Messager boiteux de Berne von 1798 sind lediglich 3 von 34 Texten bzw. 9% des Gesamtvolumens politische Nachrichten. Die Änderung der Überschrift des narrativ-berichtenden Textteils von .Relation curieuse' in ,Recueil, amüsant et instructif d'anecdotes curieuses et de tours d'esprits' unterstreicht die zurückgehende Bedeutung der politischen Berichterstattung zusätzlich. Der Aufschwung der Tagespresse und die Multiplikation der Zeitungstitel vor allem im Zuge der Französischen Revolution ließ die Almanache ihre Rolle als politisches Informationsmittel im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts also offenbar nach und nach verlieren. Vor allem in den Revolutionsjahren konnte die in ihrem Umfang beschränkte und der Aktualität stets um ein bis zwei Jahre hinterher hinkende .Relation curieuse' des Messager boiteux den sich überstürzenden Ereignissen nicht gerecht werden. Wie schon 1793 verzichtete beispielsweise der Messager boiteux de Bask von Decker auch 1794 nahezu vollständig auf die Berichterstattung über politische Ereignisse, da sich die Situation — wie der Erzähler zu Beginn der,Relation curieuse' einräumt — monatlich, ja wöchentlich ändere.64 62 63

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Vgl. „Naissances et morts ä Londres", „Naissances & morts ä Paris". In: Ebd. Vgl. „Mort de Gustave III., Roi de Suede", „Supplice du regicide Ankerström, Sc sentences contre ses complices. Extrait d'une lettre de Stockholm datee du 26 Avril.", „Election d'un nouvel Empereur d'Allemagne". Alle in: Messager boiteux. Basle: Decker 1793. Vgl. „Avis aux lecteurs". In: Messager boiteux de Basle. Basle: Decker 1794: „Pour faire l'ouverture de l'almanac de cette annee, nous nous etions d'abord proposes de mettre sous

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Allerdings publizierte der Basler Messager boiteux des Jahres 1793 zusätzlich zwei Texte, die auf das aktuelle politische Geschehen in Frankreich und Europa auf eine bis dahin für die Leser ungewohnte Weise Bezug nehmen. Der Coup-d'ail leger sur la situation politique de l'Europe reflektiert die innen· und außenpolitischen Ereignisse in Europa kritisch und beleuchtet die Hintergründe; in einem anderen, mehr als vier Spalten langen Text werden die Geschichte und die Grundprinzipien der französischen Nation vorgestellt.65 Der Messager boiteux scheint hier den Forderungen neuer, in der Revolutionszeit gegründeter und explizit volkstümlicher Publikationen entgegengekommen zu sein. Der erläuternde Coup-d'ail auf die politische Situation in Europa kommt der Konzeption der Feuille villageoise gleich, die sich explizit von Almanachpublikationen wie dem Messager boiteux abgrenzen wollte und es zu ihrem Ziel erklärt hatte, der ländlichen Leserschaft die Ursachen und Konsequenzen des Weltgeschehens nahe zu bringen.66 Mit seinen Bemerkungen zur Geschichte der französischen Nation und seinem in den Kalenderteil integrierten, erläuterten Verfassungstext67 antwortete der Messager boiteux de Basle auf die Forderungen der Soäete des Amis de la Constitution, die in einem von ihr veranstalteten und vom Almanach du Pere Gerard gewonnenen Wettbewerb den Almanach zu belohnen versprochen hatte, der die Leserschaft am Besten über die Geschichte der Französischen Revolution und die Rechte und Pflichten der Franzosen aufzuklären vermochte. An die Stelle der Berichte über die wichtigsten innen- und außenpolitischen Begebenheiten der vergangenen Jahre rückten indes im Großteil der Almanache des Typs Messager boiteux/Hinkender Bote neben Auszügen aus Reiseberichten und geographischen Beschreibungen vor allem der Regionen Asiens und des Orients,68 medizinische, agrarwissenschaftliche und

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les yeux de nos lecteurs une courte mais fidele description de l'etat politique des differens pays de l'Europe; mais une experience de plusieurs annees, Sc. surtout Celles du tems actuel, nous ayant montre, combien dans l'espace d'un mois & meme d'une semaine, les choses peuvent se changer, nous avons prefere de reserver la partie politique pour la cloture de ces feuilles, persuades que de cette maniere nous pourrons en faire le tableau en meme tems plus exact, plus interessant, & plus satis faisant pour nos lecteurs." Vgl. „Origine & idee de la nation Fran^oise". In: Messager boiteux. Basle: Decker 1793. Vgl. Andries: „Almanacs: Revolutionizing a Traditional Genre" (wie Anm. 39); sowie: Melvin Allen Edelstein: La Feuille Villageoise. Communication et modernisation dans les regions rurales pendant la Revolution. Paris 1977. Vgl. „Constitution Fran$oise". In: Messager boiteux. Basle: Decker 1793. Zu den Reiseberichten und Beschreibungen der Länder des Orients vgl.: Susanne Greilich: „La representation de peuples et de cultures orientaux dans l'almanach du Messager Boiteux au siecle des Lumieres". In: Fran^oise Lotterie/Darrin McMahon (Hg.): Les Lumibes europeennes dans leur relation avec les autres grandes cultures et religions. Paris 2002, S. 191-211; sowie dies.: „Les figures de l'exotisme dans les almanachs populaires europeens aux XVIIle— XIXe siecles". In: Hans-Jürgen Lüsebrink/York-Gothart Mix/Jean-Yves Mollier/ Patricia

Strukturen, Spezifika und Entwicklungen eines populären Almanachtyps

naturkundliche Texte, die die zunehmende Tendenz der Almanache zur Rationalität und zur Ausweitung der Leserinformation auf verschiedene Wissenschaftsgebiete belegen. So wie die im Kalender enthaltenen Geburtshoroskope in der Revolutionszeit aus den Messagers boiteux/Hinkenden Boten gestrichen und für lächerlich erklärt wurden, so bemühten sich die Verleger im Textteil eine eben solche Wissenschaftlichkeit walten zu lassen. Mit Moyens de detruire les charansons und Remede curatif a

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