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German Pages 484 [480] Year 1963
DEUTSCHE
AKADEMIE
DER
WISSENSCHAFTEN
SCHRIFTEN DER SEKTION FÜR
ZU
BERLIN
ALTERTUMSWISSENSCHAFT
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RENAISSANCE UND HUMANISMUS IN MITTEL- UND OSTEUROPA E I N E SAMMLUNG VON
MATERIALIEN
B E S O R G T VON
JOHANNESIRMSCHER
I
AKADEMIE-VERLAG • BERLIN 1962
Johannes Irmscher ist Mitglied der Sektion für Altertumswissenschaft
Redaktor der Reihe: Johannes Irmscher Redaktor dieses Bandes: Gabriele Bockisch
Erschienen im Akademie-Verlag GmbH, Berlin W8, Leipziger Str. 3 — 4 Copyright 1962 by Akademie -Verlag GmbH Lizenz-Nr. 202 • 100/98/62 Gesamtherstellung: Druckhaus „Maxim Gorki", Altenburg Bestellnummer: 2067/32/1 . ES 7 M • Preis: 7 6 , - DM
Geleitwort In der Zeit vom 3. bis 8. Juni 1959 veranstaltete das Institut für griechischrömische Altertumskunde der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin in der Lutherstadt Wittenberg mit internationaler Beteiligung eine Konferenz über das Thema , , R e n a i s s a n c e und Humanismus in Mittel- und Osteuropa". Bekanntlich hat sich in den letzten Jahrzehnten die Renaissance- und Humanismusforschung als eine spezielle Disziplin mit eigenen Problemstellungen, eigener Methodik, eigenen Zeitschriften und Schriftenreihen herausgebildet. Dabei hat naturgemäß das Augenmerk vornehmlich auf der Entwicklung in Italien und dem westlichen Europa gelegen. Dieser Umstand darf jedoch nicht übersehen lassen, welche umfangreiche gelehrte Arbeit von den übrigen Völkern Europas geleistet wurde, um die Unterschiede und Eigenarten der Rezeption in ihrer eigenen Geschichte herauszustellen. Die Konferenz hatte es sich zur Aufgabe gesetzt, von dieser wissenschaftlichen Aktivität Kenntnis zu geben, aus dem Geleisteten das Fazit zu ziehen, mit den Gegenwartsanliegen vertraut zu machen und über die Zukunftsperspektiven zu informieren. Inwieweit es gelang, dieses Ziel zu erreichen, wird die kritische Prüfung des vorliegenden Tagungsprotokolls ergeben. In dieses sind auch einige wenige Beiträge aufgenommen worden, welche für die Konferenz bestimmt waren, dann aber wegen Verhinderung ihrer Verfasser nicht persönlich vorgetragen werden konnten. 19. 8. 1960
Johannes Irmscher
Inhaltsverzeichnis BAND i A. Allgemeine
Probleme
Gerhard Harig (Leipzig) Die Aneignung des antiken Wissens auf dem Gebiet der Naturwissenschaften in der Renaissance
3
Georg Max Hartmann (Brandenburg) Das Menschliche in der Weltanschauung der Renaissance
16
Margarete Steinhoff (Berlin) Jacob Burckhardt in der Kritik Antonio Gramscis
32
Heinz Herz (Jena) Die Rezeption des römischen Rechts im Blickfeld des historischen Materialismus
. .
38
Anton Blaschka (Halle/Saale) Urkunde und Humanismus
44
Friedrich Pfister (Würzburg) Die Entdeckung Alexanders des Großen durch die Humanisten
57
Wilhelmina Lepik-Kopaczynska (Wroclaw) Das antike Inkarnat in der Überlieferung der mittelalterlichen Humanisten
76
Alois Gerlo (Bruxelles) Klassische Philologie und Neolatinität
84
B. Westeuropa
und
Deutsehland
Heinrich Alexander Stoll (Thyrow/Mark) Erasmisches und Reuchlinisches Griechisch?
89
Helmut Roob (Gotha) Humanistenhandschriften in der Gothaer Bibliothek
98
Wolfgang Altmann (Suhl/Thüringen) Die medizinische Fakultät der Universität Erfurt im Zeitalter der Spätscholastik und des Humanismus (1392—1524) 100 Helmut Wilsdorf (Freiberg/Sachsen) Die Auseinandersetzung der Humanisten mit der Antike beim Aufbau der Bergbaukunde 201
VI
Inhaltsverzeichnis
Georg Fraustadt (Dresden) Georgius Agricola und die antike Metrologie
218
Joachim Rogge (Berlin) Humanistisches Gedankengut bei Johann Agricola (Islebius)
227
Karl Jordan (Kiel) Heinrich Rantzau als Wegbereiter des Humanismus in Schleswig-Holstein
235
Heinrich L. Nickel (Halle/Saale) Die Epitaphien der Ägidienkapelle zu Schleusingen und der Jünglingskopf von Krosigk
242
Ingrid Schulze (Halle/Saale) Zum Problem der Verweltlichung religiöser Bildformen in der deutschen K u n s t des 16. Jahrhunderts und der Folgezeit 249 Heinrich Alexander Stoll (Thyrow/Mark) Winckelmann und seine Drucker
261
Berthold Häsler (Halle/Saale) John Flaxman, ein Philhellene der Goethezeit
272
C. Süd- und Osteuropa Andreas Angyal (Debrecen) Südosteuropäische Spätrenaissance
287
Andre Ojetea (Bucure^ti) Wittenberg et la Moldavie
302
George Oprescu (Bucureijti) Die Renaissance im Zuge der Kunstentwicklung der rumänischen Länder
322
Tudor Vianu (Bucure§ti) Die Rezeption der Antike in der rumänischen Literatur
328
Veselin Besevliev (Sofija) Fragmente aus der Korrespondenz eines bulgarischen Humanisten im 9. und 10. Jahrhundert 335 Ivan Dujcev (Sofija) Klassisches Altertum im mittelalterlichen Bulgarien
343
Alexander K. Burmov (Sofija) Renaissance-Elemente im mittelalterlichen Bulgarien
357
Christo Gandev (Sofija) Die antike Kultur in der Zeit der bulgarischen nationalen Wiedergeburt (1780—1877)
363
Janis Kurtis (Warszawa) L'humanisme de la poésie crétoise
372
Mihovil Abramió (Split) Griechische Funde an der adriatischen Ostküste in Jugoslawien
374
Inhaltsver zeichnis
VII
Mihovil Abramic (Split) Der Palast des Kaisers Diokletian in Split (Spalato)
375
Konrad Onasch (Halle/Saale) Theophanes der Grieche. Ein Maler der Frührenaissance in Rußland
376
Fairy von Lilienfeld (Naumburg/Saale) Vorboten und Träger des „Humanismus" im Rußland Ivans I I I
387
BAND II D. Probleme der Renaissance und des Humanismus in Ungarn Tibor Kardos (Budapest) Entwicklungsgang und osteuropäische Merkmale des ungarischen Humanismus Klara Csapodi-Gardonyi (Budapest) Bericht über neuere Forschungen auf dem Gebiet der Bibliotheca Corvina Lâszlô Gerevich (Budapest) Bemerkungen über die pannonische Renaissance Janos Balàzs (Budapest) Johannes Sylvester und der Humanismus in Mittel- und Osteuropa Henrik Becker (Jena) Balassas weltweite Verknüpfungen Antal Pirnät (Budapest) Der antitrinitarische Humanist Johann Sommer und seine Tätigkeit in Klausenburg Tibor Klaniczay (Budapest) Probleme der ungarischen Spätrenaissance Maria Berényi-Révész (Budapest) Humanistische Anregungen bei den Anfängen des ungarischen Romans E. Probleme der Renaissance und des Humanismus in Polen Kazimierz Kumaniecki (Warszawa) Die lateinische Dichtung in Polen in der Zeit der Renaissance (1460—1620) Maria Bohonos-Lewanska (Warszawa) Un aperçu de la métrique des poètes polono-latins du 16e au 17e siècle Antonina Jelicz (Warszawa) Die Dichtung des Andreas Cricius Lidia Winniczuk (Warszawa) Die lateinische Dichtung des Simon Simonides (1558—1629)
VIII
Inhaltsver zeichnis
Stanislaw Skimina (Krakow) De Mathiae Casimiri Sarbiewski, Horatii Sarmatici, artis poetioae praeoeptis Jerzy Krökowski (Wroclaw) Laurentius Corvinus und seine Beziehungen zu Polen Alodia Kawecka-Gryczowa (Warszawa) Polonia Typographica Saeculi Sedeoimi Irmina Lichonska (Wroclaw) Die handschriftliehen Grundlagen der neuen Ausgabe von Philipp Kallimachus' Schrift Historia rerum gestarum in Hungaria et contra Turcos per Vladislaum Poloniae et Hungariae regem Wladyslaw Madyda (Krakow) Johannes Longinus Dlugosz als Vorläufer des Humanismus in Polen Marie Cytowska (Warszawa) L'influence d'Erasme en Pologne au 16e siècle Alois Gerlo (Bruxelles) Copernic et Simon Stévin Karol Glombiowski (Warszawa) Über die Verbreitung der Schriften des Erasmus von Rotterdam in Schlesien im 16. Jahrhundert Kazimierz Lepszy (Krakow) Die Ergebnisse der Reformation in Polen und ihre Rolle in der europäischen Renaissance Günter Mühlpfordt (Halle/Saale) Arianische Exulanten als Vorboten der Aufklärung F. Probleme der Renaissance und des Humanismus in der Tschechoslowakei Antonin Salac (Praha) Ein zusammenhängendes Werk über die humanistische Literatur in Böhmen und Mähren Josef Hrabäk (Brno) Die Bedeutung des lateinischen Humanismus für die tschechische Literatur und seine Beziehung zur tschechischen Wirklichkeit Antonin Skarka (Praha) Komenskys Beziehungen zum nationalen Humanismus Peter Ratkos (Brno) Die Problematik des Humanismus und der Renaissance in der Slowakei Jiri Klabouch (Praha) Die humanistische Jurisprudenz und die Rechtsentwicklung in den böhmischen Ländern Antonin Salac (Praha) Zur Geschichte der Bautätigkeit Karls IV. auf der Prager Burg
A. ALLGEMEINE P R O B L E M E
Die Aneignung des antiken Wissens auf dem Gebiet der Naturwissenschaft in der Renaissance Gerhard Harig
I n seinem Meisterwerk über die K u l t u r der Renaissance in Italien entwickelt J a c o b Burckhardt einen faszinierenden Überblick über diese entscheidende Periode in der Entwicklung der menschlichen Gesellschaft. Mit einer staunenerregenden Belesenheit u n d Sachkenntnis wird der gesamte Bereich der kulturellen Lebensäußerungen dieser Zeit vom Staat über seine Bürger u n d Menschen bis zu Sitte und Religion dargestellt. Dabei werden die vielgestaltigen, widerspruchsvollen und doch einheitlichen Grundzüge einer menschlichen H a l t u n g gegenüber der N a t u r und in der Gesellschaft herausgearbeitet, die später im Liberalismus und Humanismus des Bürgertums ihren reifsten Ausdruck gefunden haben. Ohne daß es im Buch selbst ausgesprochen wird, fand sich der bürgerlich Gebildete der Mitte des 19. J a h r h u n d e r t s in seiner ungestümen, alles versprechenden Jugend vorgestellt. Unzählige Autoren haben auf dieses Werk zurückgegriffen, auch heute noch k a n n m a n nicht daran vorübergehen, ohne sich mit ihm auseinanderzusetzen . Die Zeiten haben sich allerdings geändert. Auf den Kapitalismus der freien Konkurrenz folgte der Monopol-Kapitalismus, auf den naiven Glauben an den Fortschritt die Gewißheit des Unterganges der bürgerlichen Gesellschaft, auf den bürgerlichen Humanismus des vorigen J a h r h u n d e r t s folgte der Faschismus. Auf einem weiten Territorium von Europa u n d Asien besteht heute eine sozialistische Gesellschaftsordnung mit neu gesteckten Zielen. Sie h a t die Überzeugung von dem fortschreitenden Entwicklungsprozeß der menschlichen Gesellschaft aufgenommen und arbeitet a m Aufbau einer Welt ohne Unterdrückung und Ausbeutung. Die alten orientalischen Kulturländer, von den europäischen Kolonialmächten und der europäischen K u l t u r scheinbar für immer annektiert, erwachen zu selbständigem wirtschaftlichen, politischen u n d kulturellen Leben. Die neuen, erst in der Renaissance entdeckten Kontinente befreien sich aus europäischer Vormundschaft. Das europäische Denken weicht dem Denken im Maßstab unserer ganzen Erde. Zwei Weltlager — das zum Untergehen verurteilte kapitalistische, die späte, überreife F r u c h t der in der Renaissance entstandenen Keime, und das aufsteigende sozialistische — Erbe, Umgestalter und Erneuerer der alten Gesellschaftsordnung u n d ihrer K u l t u r — stehen einander gegenüber. Ebenso bedeutend u n d einschneidend sind die Fortschritte der Wissenschaft in den 100 Jahren, die uns von dem Erscheinen der „ K u l t u r der Renaissance in 1*
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Gerhard Harig
Italien" trennen. Die Gesellschaftswissenschaft hat mit der Lehre von Marx und Engels ein neues Fundament gefunden, das uns ein weit tieferes und umfassenderes Verständnis der Gesellschaft und ihrer Geschichte vermittelt, als es Jacob Burckhardt möglich war. Die Entwicklung der Naturwissenschaft und Technik hat die Herrschaft der Menschen über die Natur bedeutend erweitert und uns damals unbekannte und kaum geahnte Möglichkeiten zur Entwicklung der Menschheit und ihrer Kultur eröffnet. Die Wissenschaft ist heute zu einem notwendigen und unentbehrlichen Bestandteil des gesellschaftlichen Lebens geworden. Ohne tägliche wissenschaftliche Arbeit würden Millionen der heute lebenden Menschen zugrunde gehen. Der Kampf geht heute darum, daß sie nicht auch zugleich mit Hilfe der Wissenschaft vernichtet und damit die entsetzlichen Vorgänge in den Gaskammern der faschistischen Konzentrationslager in weltweitem Maßstab wiederholt werden; es geht darum, daß der sterbende Kapitalismus nicht die ganze Menschheit in seinen Untergang mit hineinreißt. Es versteht sich, daß unter diesen veränderten Bedingungen auch die Renaissance und ihre Kultur heute eine andere Einschätzung und Beurteilung erfahren als vor 100 Jahren. Betrachten wir zunächst nur die Kapitelüberschriften und die Einteilung des Stoffes bei Jacob Burckhardt, so ergibt sich vom modernen Standpunkt aus, daß er in seinem Werk nur den Überbau der menschlichen Gesellschaft behandelt. Es fehlt eine Darstellung der Basis und der Klassenstruktur sowie der Klassenkämpfe in der italienischen Renaissance, obwohl auch über diese Bereiche in dem Werk selbst zahlreiche Tatsachen und Einzelheiten angegeben werden. Eine dem Stand unserer heutigen Kenntnisse entsprechende Darstellung der Renaissance und ihrer Kultur ist daher notwendig geworden, ganz abgesehen davon, daß in den vergangenen 100 Jahren die historische Einzel- und Quellenforschung eine Fülle neuen Materials erschlossen hat. Im nachfolgenden soll dazu ein kleiner Beitrag gegeben werden durch eine Betrachtung vom Standpunkt der Geschichte der Naturwissenschaft, die bei Jacob Burckhardt nur gestreift wird. Eine solche Betrachtung der Renaissance erscheint hinlänglich dadurch gerechtfertigt, daß gerade in dieser Zeit die Anfänge einer neuen Wissenschaft entstanden sind, die heute von den Naturwissenschaftlern ganz allgemein als die klassische Naturwissenschaft bezeichnet wird. In der Geschichtsschreibung der Naturwissenschaft hat sich der Ausdruck „wissenschaftliche Revolution" für dieses Geschehen durchgesetzt, so, wie man von der „industriellen Revolution" zu Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts spricht. Die Entwicklung ging auch hier von Italien aus, das noch bis Ende des 16. Jahrhunderts als wissenschaftliches Zentrum Europas bezeichnet werden kann, blieb aber keineswegs auf dieses Land beschränkt, sondern hatte Ende des 15. Jahrhunderts ganz Europa erfaßt. Die großen Entdeckungsreisen gingen von Portugal und Spanien aus, die Erneuerung der rechnenden Astronomie von
Antike Naturwissenschaft in der Renaissance
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Peuerbach und Regiomontan in Wien, Begründer der Mineralogie sowie der Bergund Hüttenkunde ist der Deutsche Georg Agricola usw. Von den drei bedeutenden Werken, die im Jahre 1543 erschienen, stammt De revolutionibus von dem polnischen Gelehrten Kopernikus, De humani corporis fahrica von dem in Italien lebenden Flamen Andreas Vesalius und die Cosmographia von Sebastian Münster aus Basel. Ihnen ist eine bedeutende wissenschaftliche Entwicklung in diesen Ländern vorausgegangen. Niemand wird ernstlich bestreiten, daß die Entwicklung der Naturwissenschaft und Technik wesentlich durch die Entwicklung der Produktion bestimmt ist. In bezug auf die Produktion aber können das 15., 16. und teilweise auch das 17. Jahrhundert als die Übergangszeit vom Handwerk zur Manufaktur bezeichnet werden. Zu Beginn dieser Periode herrscht die Handwerksproduktion noch uneingeschränkt und mit ihr das Zunftwesen, das auf dem Höhepunkt seiner Entwicklung steht. I n der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts dagegen haben sich die Manufaktur und das Verlagswesen weitgehend durchgesetzt. Die Monopolstellung der Zünfte ist durchbrochen, sie beginnen, trotz weiterer Differenzierung zu zerfallen. Diese Entwicklung ist einerseits durch die Herausbildung neuer Produktionszweige gekennzeichnet, wie etwa der Papierherstellung und des Buchdrucks, der Büchsenmacherei und der bedeutenden Erweiterung des Bergbaus, die von Anfang an nicht in Zünften organisiert waren, selbst wenn sie vorübergehend zunftähnliche Organisationsformen annahmen, und andererseits durch den Übergang alter Produktionszweige, wie etwa der Tuchmacherei und anderer Textilge werbe, zum Verlagssystem und zur Kooperierung gleichartiger Handwerksbetriebe und sogar verschiedener Handwerksbetriebe unter der Leitung eines Unternehmers. Besonders im Bergbau kommt es zur Bildung von Gesellschaften, deren Anteile als Kuxe gehandelt werden. Mit der Manufaktur erscheinen die ersten freien Lohnarbeiter. Man findet diese Entwicklung der Wirtschaft in jedem modernen Lehrbuch der Wirtschaftsgeschichte dargestellt, sie ist heute weitgehend erforscht und in vielen Einzelheiten sowohl bezüglich einzelner Produktionszweige wie bezüglich einzelner Länder bekannt. Mit und infolge dieser ökonomischen Veränderungen entstand zugleich ein neuer Mensch, der von Jacob Burckhardt und anderen Historikern in seiner kraftvollen Lebendigkeit und in seinen vielgestaltigen Lebensäußerungen begeistert geschildert worden ist. Man entdeckte in diesen Jahrhunderten den Menschen, das Individuum und die N a t u r in ihrer eigenen Gesetzmäßigkeit, man bejahte das irdische Leben, die irdischen Güter und die irdischen Freuden. Nicht von ungefähr nannten sich die Anhänger der neuen Denkweise schon im 16. Jahrhundert Humanisten — das Wort umanista stammt von Ariost (1474—1533) — und wurde gerade im 19. Jahrhundert daran anknüpfend der Ausdruck Humanismus geprägt: Das zur Macht gekommene Bürgertum erkannte in den neuen Menschen der Renaissance seine eigenen Anfänge.
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Gerhard Harig
Diese beschränkten sich keineswegs auf eine stattliche Reihe hervorragender Literaten, Künstler, Gelehrter und Politiker, sie finden ihre Anhängerschaft in einer breiten städtischen Bevölkerungsschicht, die diese neue Intelligenz und ihre Werke trägt. Die Kultur der Renaissance ist in allen Ländern eine städtische Kultur, und auch dort, wo der kleine oder große Herrscher und der Hof als geldkräftiger Förderer und Beschützer von Wissenschaft und Kunst in den Vordergrund tritt, bleibt diese Oberschicht dem städtischen Leben ökonomisch und politisch verbunden. Der alte feudale Landadel gehört nicht zu den Parteigängern der Humanisten und der Renaissance. Das aber bedeutet, daß die Wissenschaftler, Künstler und Literaten Beauftragte eben dieser neuen gesellschaftlichen Kräfte ihrer Zeit sind und ihre Schöpfungen in Kunst und Wissenschaft letzten Endes deren Bedürfnissen entsprechen und sie widerspiegeln, d. h., sie zum Ausdruck und zugleich zum Bewußtsein bringen. Dabei ist unter „letzten Endes" zu verstehen, daß auch diese gesellschaftliche Erscheinung nicht rein, sondern in Verbindung mit anderen Einflüssen zum Ausdruck kommt. Die Humanisten stehen nicht nur unter dem Einfluß der neuen gesellschaftlichen Schichten und drücken nicht nur deren Bedürfnisse aus, sondern nehmen an den Klassenkämpfen ihrer Zeit, in deren Verlauf das Bürgertum erst allmählich zur Klasse heranreift, auf verschiedenen Seiten Anteil, ihre Streitigkeiten sind selbst Ausdruck der Parteiungen und Klassenkämpfe. Der Purismus und Bildungsstolz der Literaten z. B. isoliert sie schon in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts von der breiten städtischen Bevölkerung und den praktischen Künstlern. Die wissenschaftliche Revolution vollzog sich auf dem Hintergrund entscheidender gesellschaftlicher Veränderungen und ist selbst in ihrem Ablauf Ausdruck der damit verbundenen Kämpfe und Auseinandersetzungen. Sie brachte nicht nur eine Umwälzung in den Grundlagen der Naturwissenschaft, sondern war bekanntlich auch von ideologischen und politischen Kämpfen begleitet, in die Kirche und Staat entscheidend eingegriffen haben, eben damit den gesellschaftlichen Charakter dieser Auseinandersetzungen und ihre praktische politische Bedeutung in den Klassenkämpfen jener Zeit zum Ausdruck bringend. Welche Bedeutung kommt unter diesem Aspekt der „Wiedererweckung des Altertums" zu, und welche Rolle spielt sie in der wissenschaftlichen Revolution? Die neu aufkommende bürgerliche städtische Schicht vom Bankherren und Unternehmer bis zum Baumeister, Buchdrucker und Instrumentenmacher brauchte tiefere und breitere Kenntnisse der Natur als die herrschende feudale Klasse, wenn sie sich ihr gegenüber durchsetzen und die Führung in Wirtschaft und Politik übernehmen wollte. Dieses Bedürfnis nach Kenntnissen führte von Anfang an zu einem Studium der Wirklichkeit und der Praxis, das die entscheidende und wesentliche Ursache für die Entstehimg der neuen Naturwissenschaft bildet. Die moderne Geschichtsforschung stimmt im wesentlichen darin überein, daß in der Wendung zur Praxis die Ursache zu der stürmischen Entwicklung der Naturwissenschaft liegt und hat im einzelnen nachgewiesen, wie die
Antike Naturwissenschaft in der Renaissance
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praktischen Bedürfnisse diese Entwicklung angeregt und vorangetrieben haben. Diese Wendung zur Praxis konnte sich vor allem auch deshalb fruchtbar auswirken, weil schon im 13. und 14. Jahrhundert die Entwicklung der Produktivkräfte und des Handwerks einen Stand erreicht hatte, der den früherer Jahrhunderte weit übertraf. Zugleich aber findet das allgemeine Bedürfnis nach Kenntnissen seinen Ausdruck in der Notwendigkeit, sich die bereits vorhandenen Kenntnisse von der Natur anzueignen. Diese A n e i g n u n g w i s s e n s c h a f t l i c h e r K e n n t n i s s e d u r c h e i n e n e u s i c h f o r m i e r e n d e K l a s s e scheint mir ein ganz wesentliches und bisher zu wenig beachtetes Merkmal der Renaissance, auf das deshalb etwas näher eingegangen werden soll. Sie erfolgte natürlich entsprechend den Bedürfnissen und Interessen der neuen gesellschaftlichen Kräfte, d. h. mit Auswahl und keineswegs kritiklos. Sie erfolgte auf verschiedenen Ebenen der Bildung, und sie führte schließlich zur Übernahme des Bildungsgutes in die Volkssprachen, die sich gleichzeitig zu Schriftsprachen entwickelten, in denen auch komplizierte wissenschaftliche Darstellungen möglich wurden. Die ganze neue Richtimg drapierte sich besonders im 15. Jahrhundert mit dem Gewand der Antike. Die Kardinäle wurden als Senatores, die Stadträte als Patres conscripti und selbst die christlichen Heiligen als Divus oder Deus bezeichnet und die Nonnen als Virgines Vestales1. Das gilt auch auf dem Gebiet der praktischen Künste und Wissenschaften. Jacob Burckhardt spricht geradezu von einem „Vitruvianismus" der Architekten als Parallele zum „Ciceronianismus" der Literaten 2 . In seiner Schrift „Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte" weist Karl Marx auf die „Selbsttäuschungen" hin, deren die bürgerlichen Revolutionen bedurften, „um den bürgerlich beschränkten Inhalt ihrer Kämpfe sich selbst zu verbergen und ihre Leidenschaft auf die Höhe der großen geschichtlichen Tragödie zu halten" 3 . Er sieht darin einen wesentlichen Grund „jener weltgeschichtlichen Totenbeschwörungen" 4 . Zweifellos waren diese Momente auch schon in der Renaissance gegeben und im politischen wie literarischen Bereich weit umfangreicher als die Erinnerung an die frühere nationale Größe Italiens, der Jacob Burckhardt einen wesentlichen Anteil an der „Wiedererweckung des Altertums" zuschreibt. Dazu kommt, daß damals noch mehr als zur Zeit der Großen Französischen Revolution die Überzeugung allgemein war, daß das goldene Zeitalter in der Vergangenheit, christlich gesehen vor dem Sündenfall, bereits existiert habe und wiederkommen werde. Eine solche geistige Haltung, die das Ideal in der Ver1 2
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Jacob Burckhardt, Die Kultur der Renaissance in Italien, Berlin o. J., 167. Ebd. 170. Karl Marx, Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, Berlin 1953, 13. Ebd. 12.
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Gerhard Hang
gangenheit suchte, mußte sich bei der Suche nach neuen Vorbildern auf die Vergangenheit orientieren. Damit aber erhielt der Blick in die Vergangenheit einen in die Zukunft weisenden Inhalt und konnte die Wiedererweckung des Altertums zum Ausdruck des sich anbahnenden Neuen werden. Wir finden diese eigenartige Verbindung besonders augenfällig bei Francis Bacon. Die von ihm erdachte mächtige wissenschaftliche Organisation in der utopischen Nova Atlantis nennt er das Haus Salomons und legt sich dabei eine Theorie zurecht, wonach die Menschen vor dem Sündenfalle bereits einmal die Herrschaft über die Natur besaßen, die sie durch die Entwicklung der neuen Wissenschaft zurückerobern könnten und sollten. Auf dem Gebiete der Naturerkenntnis wie der Wissenschaft im allgemeinen kommt schließlich bei der Aneignung des überlieferten Wissens als sachliches Moment hinzu, daß das reiche wissenschaftliche Erbe, welches die Antike hinterlassen hatte, im Mittelalter bei weitem nicht ausgeschöpft und in jeder Richtung ausgewertet worden war. Hier waren tatsächlich noch Schätze verborgen, die gehoben unmittelbar zu einem tieferen Verständnis und damit zu einer besseren Beherrschung der Natur beitragen konnten. Hand in Hand mit der „altehrwürdigen Verkleidung" (Marx) geht somit besonders auf wissenschaftlichem Gebiet eine echte Aneignung und Anwendung antiken Wissens und antiker Kenntnisse. Erst als die eigenen Errungenschaften die Leistungen und Kenntnisse der Antike sichtlich übertrafen, wozu insbesondere die geographischen Entdeckungen Anlaß gaben, löste man sich von diesen Vorstellungen und damit von der Überschätzung der Antike. Girolamo Cardano schrieb 1574 in seiner Selbstbiographie: „Zu den größten und allerseltsamsten Ereignissen natürlicher Art zähle ich in erster Linie dies, daß ich in dem Jahrhundert zur Welt kam, da der ganze Erdkreis entdeckt wurde, während den Alten nur wenig mehr als der dritte Teil bekannt gewesen war. . . . Gibt es Wunderbareres als die Erfindung des Pulvers, dieses Blitzes in Menschenhand, der viel verderbenbringender noch ist als der des Himmels? Und auch Dich will ich nicht vergessen, Du großer Magnet, der Du uns durch die weitesten Meere, durch finstere Nacht und fürchterliche Stürme sicher in fremde unbekannte Länder geleitest. Und als viertes sei noch genannt die Erfindung der Buchdruckerkunst. Menschenhände haben dies alles gemacht, Menschengeist erfunden, was mit des Himmels Wundern wetteifern kann! Was fehlt uns noch, daß wir den Himmel stürmen?" 1 Der Kult, den man mit der Antike getrieben hatte, erlosch, und insbesondere in der Naturlehre wurde die Kritik an den alten Autoren immer intensiver. Noch Luca Paccioli hielt die Lösung der kubischen Gleichung deshalb für unmöglich, 1
Des Girolamo Cardano von Mailand . . . eigene Lebensbeschreibung, übertragen und eineingeleitet von Hermann Hefele, Jena 1914, 138.
Antike Naturwissenschaft in der Renaissance
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weil sie von den Griechen nicht entdeckt worden war. Aber diese Haltung fand nach 1500 schon keine allgemeine Zustimmung mehr. Die Lösungsversuche wurden fortgesetzt und führten schon kaum 50 Jahre später zum Erfolg. Der Philosoph und Mathematiker Pierre de la R a m é verteidigte 1536 an der Pariser Universität erfolgreich die These: Quaequumque ab Aristotele dicta essent, commenticia esse („Alles, was von Aristoteles gesagt wurde, ist falsch"), und bei Francis Bacon, der sein Werk als Novum Organum dem des Aristoteles gegenüberstellte, findet sich der Satz: „Plato h a t die Naturphilosophie durch seine Theologie ebenso verdorben, wie Aristoteles durch seine Logik." Die Aneignung der antiken Kenntnisse in der Naturlehre und Naturerkenntnis oder, wie man damals noch ohne genaue Differenzierung zu sagen pflegte, in der „Philosophie" vollzog sich unter diesen Umständen in ständiger Auseinandersetzung mit ihr in mehreren Stufen oder Etappen entsprechend den primär wirksamen Bedürfnissen der Entwicklung von Produktion und Technik. Die wichtigsten Werke der Antike über Naturlehre und Mathematik lagen schon zu Ende des 15. Jahrhunderts in sorgfältig redigierten brauchbaren Drucken vor. Es sind dies in der Reihenfolge des Erscheinens der Editio princeps: Plinius (1469), Aristoteles (Opera omnia, lat. 1472—1474, griech. 1495—1498), Celsus (1478), Dioskorides (lat. 1478, griech. 1499), Euklid (lat. 1482, griech. 1533), Plato (lat. 1482, griech. 1513), Theophrast (lat. 1483, griech. 1497), Vitruv (1486), Galen (lat. 1490, griech. 1525), Ptolemäus (Tetrabiblos, lat. 1484, griech. 1533; Almagest, lat. 1496, griech. 1525 bzw. 1538)1. Man kann wohl das Erscheinen dieser ersten gedruckten Ausgaben als einen Ausdruck dafür werten, daß diese Werke aus dem Bereich der Klostergelehrsamkeit in den geistigen Besitz der neuen weltlichen und städtischen Schichten der Gesellschaft übergegangen waren. Mit fortschreitender eigener Entwicklung und selbständiger Forschung genügen aber diese seit dem 13. Jahrhundert bekannten Werke schon im zweiten Drittel des 16. Jahrhunderts nicht mehr. Man geht, wie oben ersichtlich, von den lateinischen Übersetzungen zu den griechischen Originalen über und greift zu Schriften und Autoren, die höheren Ansprüchen genügen und höhere Anforderungen stellen. 1543 bzw. 1544 erscheinen die ersten gedruckten Werke von Archimedes in lateinischer bzw. griechischer Sprache, 1537 bzw. 1566 die Kegelschnitte des Apollonius (die ersten vier Bücher), 1575 die Pneumatica des Heron von Alexandria und im gleichen J a h r die mathematischen Schriften von Diophant und 1588 die von Pappos. I n dem Stadium schließlich, als die Grundlagen der neuen Naturwissenschaft bereits vorlagen und die neuen Methoden bereits formuliert waren, d. h. also nach der Veröffentlichung der mechanischen Untersuchungen von Galilei und nach 1
G. Sarton, The appreciation of ancient and medieval science during the renaissance (1450 — 1600), Philadelphia 1955, ders., Introduction to the history of science I, Baltimore 1927.
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Gerhard Harig
dem Erscheinen des Novum Organum, von Francis Bacon und des „Discours de la méthode" von Descartes, um nur die bedeutendsten Werke zu nennen, endet die Aneignung der antiken Wissenschaft auf unserem Gebiet schließlich mit der Übernahme der antiken Atomlehre Epikurs und der Grundlagen des antiken Materialismus durch Pierre Gassendi, der sie gleichzeitig zu entschärfen und für die christliche Lehre annehmbar zu machen verstand. In diesem Zusammenhang möchte ich zugleich noch auf einen anderen charakteristischen Zug der Aneignung des antiken Wissens aufmerksam machen. Während die humanistischen Literaten zunächst an dem antiken Text und Autor selbst interessiert sind und sich bemühen, durch Textvergleiche und unter Ausbildung und Anwendung der Philologie einwandfreie Texte herzustellen, wendet sich ihr Interesse im 16. Jahrhundert zusehends der Praxis zu. Georg Agricola z. B., ein in Leipzig ausgebildeter Humanist, der als erstes Werk eine lateinische Grammatik geschrieben hat, sich später der Medizin zuwendete und in Venedig als Lektor und Korrektor einer Galen-Ausgabe tätig ist, fängt an, sich dafür zu interessieren, welche tatsächlich existierenden Mineralien unter den bei Galen für Heilzwecke aufgeführten zu verstehen sind und kommt von dieser Seite her zum Bergbau, dem er dann sein Hauptwerk De re metallica widmet. Noch nach seiner Rückkehr nach Deutschland hat er zunächst an einem Kommentar zu Galen über mineralische Heilmittel gearbeitet. Entsprechendes gilt für die Botanik. Einer der Beweggründe, der zum Studium der einheimischen Pflanzen führte, war der Wunsch von Anhängern des Humanismus, die bei antiken Autoren genannten und beschriebenen Pflanzen in der Natur zu identifizieren. In der bekannten Geschichte der Royal Society von Thomas Sprat aus dem Jahre 1667 findet sich folgende Stelle, die sozusagen als eine abschließende Beurteilung dieser Seite der Aneignung antiker Kenntnisse hervorgehoben zu werden verdient: „Das Erste, was unternommen wurde, war, die ausgezeichneten Werke früherer Autoren der Verborgenheit zu entreißen . . ., so daß jetzt die griechische und lateinische Sprache begehrt sind und alle die alten Autoren, die heidnischen Philosophen, die Mathematiker, Redner, Historiker und Dichter, die verschiedenen Abschriften und Übersetzungen der Bibel und der Kirchenväter hergestellt werden. Sie hatten alle durch die mehrfachen Abschriften und die Unkenntnis der Abschreiber sehr verschiedene Lesarten, und viele Teile waren ganz verloren oder durch den zeitlichen Abstand und die Änderung der Sitten unverständlich geworden. Mit ihrer Deutung, Erklärung, Ergänzung und dem Kommentieren waren fast alle ersten Denker beschäftigt. Ein Werk von großem Nutzen, für das wir uns ihnen sehr verpflichtet halten sollten, denn, wenn sie dieses Geschäft nicht für uns besorgt hätten, so hätten wir in der Gegenwart nicht so viel Zeit, wie wir sie hoffentlich heute haben, um neue Erfindungen zu verfolgen. Wenn es sie nicht gegeben hätte, müßten wir es tun, woran nicht zu zweifeln ist, wenn wir
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sehen, daß selbst heute, wo der Boden des Kritizismus fast unfruchtbar ist und kaum eine Ernte tragen wird, viele gelehrte Männer nicht umhin können, ihre ganze Zeit mit seiner Bearbeitung zu verbringen. Was würden wir getan haben, wenn alle diese Bücher unberührt in unsere Hände gekommen wären! Wir können somit die Kritiker und Philologen, deren Arbeit wir genießen, nicht im Ernst herabsetzen, sondern wir sollten ihnen vielmehr das Zeugnis ausstellen, daß sie Männer von bewundernswerter Geduld sind und daß die Sammlungen, die sie aus den Denkmälern der Alten hergestellt haben, für uns wunderbar vorteilhaft sind, wenn man den richtigen Gebrauch davon macht. . ., wenn sie benutzt werden, um uns die Wege zum Wissen zu führen, die wir in Zukunft gehen müssen, wenn sie uns, indem sie uns zeigen, was schon vollendet ist, die wahrscheinlichsten Mittel aufweisen, um zu vollenden, was dahinter liegt. Mir scheint, daß die Weisheit, die sie aus der Asche der Toten hervorgeholt haben, etwas von der gleichen Natur hat wie die Asche selbst. Wird sie in Haufen zusammengehalten, so ist sie nutzlos, wird sie aber über lebenden Boden gestreut, so wird sie ihn fruchtbarer machen für das Hervorbringen der verschiedensten Arten von Früchten" 1 . In bezug auf die anderen von mir genannten Punkte: das Bedürfnis nach Aneignung von Wissen und die zunehmende Verbreitung von Wissen auf den verschiedenen Ebenen, sei zunächst darauf hingewiesen, daß in der Renaissance in den Städten sehr viel mehr Menschen lesen, schreiben und rechnen gelernt haben und lernen mußten als früher. Überall tauchten städtische Schreib- und Rechenmeister auf, die Anfangsunterricht erteilten. Was speziell das Rechnen anbelangt, so setzten sich damals bekanntlich die arabischen Ziffern und das „Rechnen mit der Federn", d. h. das schriftliche Rechnen gegenüber dem „Rechnen auf der Linien", d. h. mit dem Rechenbrett oder auf dem Rechentisch durch, dem sowohl für das praktische Rechnen wie für die Entwicklung der Elementarmathematik eine große Bedeutung zukommt. Der Rechenmeister Adam Ries ist in Deutschland zum allgemeinen Begriff geworden. Die ersten Rechenbücher in den Nationalsprachen erschienen in Spanien 1512, in Deutschland 1514, in Italien 1515, in Portugal 1519, in England 1542, in Frankreich 1554, in Mexiko 15562. Sie erlebten vielfach mehrere Auflagen bzw. Nachdrucke. Aus den Kreisen der Rechenmeister ist ein so bedeutender Wissenschaftler und Mathematiker wie Nicolö Tartaglia hervorgegangen. Welches Interesse man ihnen entgegenbrachte und zugleich welche sozialökonomische Stellung sie einnahmen, bezeugt die Tatsache, daß in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts zwischen den Rechenmeistern öffentliche Wettkämpfe ausgetragen wurden, bei denen man sich gegenseitig Aufgaben stellte und auf ein schaulustiges Publikum rechnen konnte. 1 2
T. H. O. Sprat, The history of the Royal Society . . ., London 1667, 23—25. Vgl. G. Sarton, The appreciation . . . 152 — 156.
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Gerhard Harig
Das Bedürfnis nach wissenschaftlichen Kenntnissen machte sich von Anfang an gerade unter den praktisch tätigen Menschen geltend, und zwar vorzugsweise dort, wo die Praxis und die Produktion über das rein Zunftmäßige und Altgewohnte hinausreichte. Der „Vitruvianismus" der Architekten findet seine Ursache in der Zunahme von Pracht- und Profanbauten und neuer Befestigungen im 15. und 16. Jahrhundert. Albrecht Dürer hat bekanntlich eine Befestigungslehre geschrieben. In fast allen zeitgenössischen wissenschaftlichen Werken finden wir Hinweise darauf, daß von Praktikern wissenschaftliche Fragen aufgeworfen wurden. Vielen von ihnen verdanken wir bedeutende wissenschaftliche Leistungen. Allgemein bekannt sind die erfolgreichen Bemühungen der bildenden Künstler zur Ausbildung einer auf mathematisch-wissenschaftlicher Grundlage beruhenden Perspektive; die Entwicklung und Ausbreitung des Geschützwesens führte zur Entwicklung der Ballistik und wurde damit ein Anlaß zur Schaffung der klassischen Dynamik; die Schiffahrt verlangte die Verbreitung eines Grundwissens in der praktischen Astronomie usw. Der bildende Künstler entwickelte sich unter diesen Umständen zuerst im Italien des 15. Jahrhunderts zum Artefico und Ingegnerò, eine Bezeichnung, die erstmalig in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts auftaucht. Ich brauche nur auf Leonardo da Vinci hinzuweisen, um die ganze Breite und Fülle dieser neu erwachten Interessen und Bedürfnisse deutlich werden zu lassen. Dieses Bedürfnis wurde mit fortschreitender Entwicklung so allgemein, daß es 1563 in Florenz zur Gründung einer Kunstakademie kam, die 1571 den Rang und Titel einer Universität erhielt. Der Lehrplan umfaßte Anatomie, Mathematik, das Bauwesen, d. h. Straßen-, Kanal-, Brücken- und Festungsbau, Maschinenbau, Architektur und Perspektive. Der Unterricht wurde in italienischer Sprache erteilt. Die Professoren waren verpflichtet, an Sonn- und Feiertagen für ein breites Publikum öffentlich Vorträge über Mathematik zu halten. Diese „Accademia del Disegno", deren Geschichte m. W. bisher nur vom kunsthistorischen Standpunkt untersucht wurde, kann somit als ein Vorläufer späterer technischer Lehranstalten angesehen werden. Ebenso wurde in England 1579 auf Grund einer Stiftung von Sir Thomas Gresham, dem Gründer der Londoner Börse, ein nach ihm benanntes College gegründet als Ausbildungsstätte für Kaufleute und Seefahrer. Auch dort stand der Unterrricht in den mathematischen Wissenschaften im Vordergrund, und Englisch t r a t als Unterrichtssprache neben Latein. I m Gresham-College fanden später die ersten Zusammenkünfte der Royal Society statt. Wissenschaftliche Kenntnisse brauchten aber auch die Handelsherren und Unternehmer selbst. Agricola empfiehlt das Studium des Bergwesens ausdrücklich auch denen, die Kuxe kaufen wollen. Wie stark das Bedürfnis nach mathematischen und naturwissenschaftlichen Kenntnissen auch in den oberen Schichten der Gesellschaft war und welches Interesse man der antiken Wissenschaft entgegenbrachte, zeigt etwa die Tatsache, daß Luca Paccioli am 11. August 1508
Antike Naturwissenschaft in der Renaissance
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in der Bartholomäuskirche von Venedig vor etwa 500 Hörern einen Vortrag über euklidische Geometrie hielt. In der von ihm besorgten lateinischen Euklid-Ausgabe werden die bekanntesten unter seinen Zuhörern namentlich aufgeführt, darunter 5 hohe Staatsbeamte, 26 Professoren, 29 Ärzte, 29 Literaten, Architekten, Musiker, Kosmographen usw. In den Jahren zwischen 1472 und 1500 sind allein in Italien 214 mathematische Werke veröffentlicht worden. Das Bedürfnis nach naturwissenschaftlichen und mathematischen Kenntnissen zeigt sich somit sowohl unter den verschiedenen Schichten der werktätigen Bevölkerung wie bei der städtischen Oberschicht. Damit aber ging die Aneignung der Wissenschaft bald so in die Breite, daß das Wissen in die Vulgärsprache eindrang, womit diese Aneignung des Wissens durch die städtische Bevölkerung und durch die Nationen ihren vollen Ausdruck fand. Schon Leon Battista Alberti (1404 bis 1471) schrieb sein berühmtes Werk über Bauwesen zugleich in lateinischer und italienischer Sprache, 1472 gab Regiomontan zugleich einen lateinischen und einen deutschen Kalender heraus usw. Ich verweise ferner auf die zahlreichen Pestschriften und Berichte über geographische Entdeckungen in den Nationalsprachen. In diesem Zusammenhang verdienen vor allem die grundlegenden Untersuchungen von L. Olschki1 über die Geschichte der neusprachlichen wissenschaftlichen Literatur hervorgehoben zu werden. Von welcher großen gesellschaftlichen und kulturpolitischen Bedeutung gerade diese sprachliche Aneignung war, geht nicht nur aus der Bedeutung der Bibelübersetzungen hervor, sie tritt auch in der Naturwissenschaft deutlich in Erscheinung. Im 16. Jahrhundert ist eine ganze Reihe antiker Autoren in die Vulgärsprache übersetzt worden. Nach der Zusammenstellung von Friedrich Degen 2 sind im 16. und 17. Jahrhundert folgende antike naturwissenschaftliche Werke in deutscher Sprache gedruckt erschienen: Aristoteles (Problemata, 1492), Celsus (1531), Plinius (1543), Vitruv (1548), Euklid (1555 bzw. 1562), Apollonius (1658), Archimedes (1670). Vor der deutschen Übersetzung erschien Euklid 1543 in italienischer Sprache, nach ihr 1564 bzw. 1565 in französischer, 1570 in englischer und 1576 in spanischer Sprache3. Ebenso erschienen Plinius und Vitruv im 16. Jahrhundert außer in deutscher auch in italienischer und französischer Übersetzung. Die praxisbezogenen, enzyklopädischen Werke stehen somit auch hier an erster Stelle, während die schwierigen theoretischen Werke später folgen und zum Teil erst im 19. Jahrhundert übersetzt worden sind. 1 2
3
L. Olschki, Geschichte der neusprachlichen wissenschaftlichen Literatur I. II. III, Heidelberg 1919-1927. Johann Friedrich Degen, Versuch einer vollständigen Litteratur der deutschen Übersetzungen der Römer, Altenburg 1794; Friedrich Degen, Litteratur der deutschen Übersetzungen der Griechen I. II, Altenburg 1797/98. Vgl. G. Sarton a. a. O. 138 f.
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Gerhard Harig
Die ideologischen Auseinandersetzungen um die Kopernikanische Lehre spitzten sich erst dann besonders zu, als Galilei die neuen Ansichten in italienischer Sprache darlegte und sie damit aus dem Kreis der lateinkundigen Gelehrten in den Kreis der neuen Intelligenz und ins Volk trug. Die Sprachenfrage wurde zu einem Ausdruck des Klassenkampfes und ist es bis Thomasius und darüber hinaus geblieben. Es ging dabei nicht nur um die eine oder andere Lehre oder Ansicht, sondern um das Privileg der feudalen Kreise, insbesondere der Kirche auf Wissenschaft und Bildung. Spätestens mit der Übernahme der antiken Atomlehre durch Gassendi war die Aneignung des antiken Wissens auf dem Gebiet der Mathematik und Naturwissenschaft abgeschlossen. Man hatte eigene, neue Wege eingeschlagen, die Kenntnisse von der Natur durch eigene Studien und Entdeckungen bedeutend erweitert. Damit aber hatte sich auch die Haltung der Antike gegenüber geändert. Wie aus der früher zitierten Stelle von Thomas Sprat hervorgeht, achtete man sie nach wie vor, aber jetzt als Vorstufe und nicht mehr als Vorbild der „neuen Philosophie". Diese Wandlung läßt sich in verschiedenen Zweigen der Naturwissenschaft bereits viel früher feststellen. Immer dann, wenn die eigene Leistung vorlag, trat die Antike zurück, bis man schließlich ganz auf sie verzichtete. Während etwa Kopernikus noch bemüht ist, antike Belege für seine Ansichten anzuführen und vielleicht durch antike Quellen dazu angeregt worden ist, benutzt Kepler in seiner Astronomia nova die antiken Kenntnisse einfach als Mittel zu eigener Forschung, ebenso wie er die astronomischen Beobachtungen Tycho Brahes benutzt. In der Mechanik führt der Weg von der Übernahme der Aristotelischen Bewegungslehre über ihre Kritik und Überwindung zu völliger Ausscheidung. In den Philosophiae naturalis principia mathematica Newtons ist von Aristoteles überhaupt nicht mehr die Rede. Das Studium und die Erforschung der Antike wurde zu einem Spezialgebiet der Historiker, Philologen und Philosophen und verlor mehr und mehr seine Bindung zur Naturwissenschaft, die sich selbständig weiterentwickelte. Erst mit der Entstehung der modernen Naturwissenschaft gewinnen auch die naturphilosophischen Schriften der Antike neues Interesse bei den Naturwissenschaftlern. Während Heisenberg bei Plato eine Bestätigung seiner idealistischen Konzeptionen sucht, studieren marxistische Naturwissenschaftler und Philosophen, dem Beispiel Lenins folgend, die Ansätze tiefen dialektischen Verständnisses der Begriffe Raum, Zeit, Bewegung und Veränderungen bei Aristoteles im Zusammenhang mit den Problemstellungen der modernen Physik. Soviel über die „Wiedererweckung des Altertums" als Ausdruck der in der Renaissance infolge wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Veränderungen notwendig gewordenen Aneignung des überlieferten Wissens durch eine neu sich formierende gesellschaftliche Klasse! Das Thema ist mit den vorliegenden Ausführungen keineswegs erschöpft, sondern bedarf im Gegenteil noch weitergehender Forschung. Es kam mir hier
Antike Naturwissenschaft in der Renaissance
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darauf an, auf diese Zusammenhänge hinzuweisen, um deutlich zu machen, daß die „Wiedererweckung des Altertums" eine kulturpolitische Erscheinung ist, die sowohl mit der Entwicklung der Produktivkräfte wie mit dem Entstehen einer neuen Gesellschaftsklasse zusammenhängt. Mit der Bourgeoisie entstand zugleich ihr Gegensatz und ihr Totengräber, das Proletariat. Die Werktätigen stehen heute vor der Aufgabe, sich das kulturelle und wissenschaftliche Erbe der Vergangenheit anzueignen, kritisch zu überwinden und die Kultur und Wissenschaft weiterzuentwickeln. Die wissenschaftlichen und kulturellen Erfolge des sozialistischen Lagers lassen an der Lösung dieser historischen Aufgabe nicht mehr zweifeln. Die gegenwärtige kulturelle Revolution unterscheidet sich dabei von der Renaissance grundlegend durch die Tatsache, daß die sozialistische Gesellschaft keiner „weltgeschichtlichen Rückerinnerungen" bedarf, da ihr Inhalt ihren Zielen entspricht: „Dort" — so beschreibt Karl Marx den Unterschied zwischen der bürgerlichen und der sozialistischen Revolution — „ging die Phrase über den Inhalt, hier geht der Inhalt über die Phrase hinaus" 1 . 1
K. Marx a. a. 0 . 14.
Das Menschliche in der Weltanschauung der Renaissance Georg Max Hartmann
I. Das Problem der Renaissance im Lichte der Gegenwart „Daß die alten Römer und Griechen eine so hohe Bedeutung für alle Zeiten gehabt haben, liegt nur daran, daß sie das richtige Verhältnis der Menschen zueinander kannten und danach lebten." 1 Mit diesen Worten trifft der große Chirurg Gustav von Bergmann den Kern der Problematik, die den Geist der griechischrömischen Antike angeht. Bergmanns Ausspruch hat auch Geltung für die Stellung der Renaissance zur Antike, also auch für unsere heutige Beurteilung der Weltanschauung der Renaissance. Gleich an den Anfang meiner Betrachtungen stelle ich eine mir sehr notwendig erscheinende Überlegung über die Zeit der Entstehung jener Geistesbewegung, die wir Renaissance nennen und für deren volle Entfaltung auch schon vor Jacob Burckhardt das Cinquecento angesetzt war. Zunächst kann als längst bekannt und wohl auch als richtig gelten, daß die Kulturströmung des Cinquecento durch den Humanismus vorbereitet war und so von einer Vor- und Frührenaissance gesprochen wird. In dieser Hinsicht ist wissenschaftlich kaum etwas Neues ausfindig zu machen. Die Forschung erstreckt sich hier auf Ergänzung, Ausdeutung und Vertiefung des bisher gesammelten Materials. Anders steht es mit der Frage nach einer „Renaissance vor der Renaissance", d. h. mit der Frage, ob es berechtigt ist, etwa schon für das 12. und 13. Jahrhundert den geläufigen Begriff in Anspruch zu nehmen, der in der Bezeichnung „Renaissance" hegt. Die eben genannte Zeit müßte dann auch schon das Menschliche in ihrer Weltanschauung aufweisen können, jenes Menschliche, das in der Tat für die Renaissance in der üblichen Zeitbemessung im Mittelpunkt der Beachtung steht. Dieses Menschliche ist nur vereinzelt schon eine Erscheinung der Bewegung, die um 1200 die Wiederbelebung des Studiums der Antike angestrebt hat. Das kommt einem auch zum Bewußtsein beim Überdenken der Untersuchungsergebnisse, die uns schon im Jahre 1934 Jacques Boulenger vor Augen geführt hat. Dort finden wir die Feststellung, daß Frankreich für sich den Vorrang vor allen anderen Nationen in der Vorwegnahme der Renaissance vor der Renaissance in Anspruch nehmen darf, daß also die Renaissance nicht erst mit 1
Gustav von Bergmann, Bückschau. Geschehen und Erleben auf meiner Lebensbühne, München 1953, 33.
Das Menschliche ili der Weltanschauung der Renaissance
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dem historischen Humanismus beginnt, sondern mitten im Mittelalter eine ernste Angelegenheit der französischen Geisteswelt gewesen ist 1 . Wenn es sich nur um eine mehr oder minder enge Anlehnung an die antiken Sprachen und Literaturen handelt, so mögen wir Boulengers Ausführungen unangetastet lassen. Bieten sie uns doch im Grunde nichts wesentlich Neues! Schon für die Vorbereitung der Renaissance in Italien ist ja die mittelalterliche Beschäftigung mit der griechisch-römischen Antike wichtig und wissenschaftlich längst untersucht worden. Was jetzt zu erweisen ist, betrifft die Frage nach Umfang und Tiefe der Wirkung des durch das Studium der Antike zwar nicht ursprünglich ermittelten, aber doch bekräftigten Menschlichen auf die herrschenden Schichten der Renaissance-Gesellschaft zum Unterschied vom Mittelalter. Wie dieses Menschliche selbst zu verstehen ist, soll im Verlauf meiner Ausführungen deutlich werden. Es ist keineswegs in erster Linie oder gar einzig und allein jenes „Humane", also Menschenfreundliche, das in der Humanitätsidee des 18. Jahrhunderts und im heutigen Humanismus enthalten ist. Es ist vielmehr zunächst als das Weltliche im Gegensatz zum Kirchlichen des Mittelalters zu begreifen und als das Neue in diesem Sinne aus den wirtschaftlichen Verhältnissen des ausgehenden Mittelalters zu erkennen. Diese Verhältnisse müssen also erst näher beleuchtet werden, wenn das Menschliche in der Weltanschauung der Renaissance als etwas wesentlich Neues verstanden werden soll.
II. Die ökonomischen Verhältnisse der
Renaissance-Epoche
Die mittelalterliche Gesellschaft, deren wirtschaftlicher Schwerpunkt auf dem Lande, im Grund und Boden liegt, lebt und arbeitet in ihrer konservativen Grundhaltung, ständisch und zunftgemäß gegliedert, unter dem Einfluß ihrer traditionellen Gebundenheit an Kirche und Feudalherrschaft. Sie produziert Waren nur zum unmittelbar notwendigen Gebrauch und wird dazu angehalten, auf Gewinn und Vermögensanhäufung zu verzichten. Den Warenhandel erlaubt die Kirche allein für den Unterhalt des Handeltreibenden oder allenfalls für „Werke der Barmherzigkeit ' '. Das alles ändert sich erst nach Erschließung neuer Rohstoff- und Absatzgebiete mit der Einführung der Geldwirtschaft. Der ökonomische Schwerpunkt verlagert sich nunmehr nach der Stadt. Hier kommt es zur Entwicklung jenes neuen Bürgertums, das nach seinem Eintritt in den Welthandel die bisherige Wirtschaftsethik nicht mehr gelten lassen kann und darauf ausgeht, durch Erwerb von Reichtümern immer mehr Macht zu gewinnen. Die großen Finanz1
2
Jacques Boulenger, Le vrai siècle de la Renaissance, in: Humanisme et Renaissance 11—4, Paris 1934, 9ff. Renaissance, Band I
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Georg Max Hartmann
herren jener Zeit, die Medici, Strozzi und Guadagni in Italien, Jacques Coeur in Frankreich, die Fugger, Welser und Tucher in Deutschland, lenken ihren nicht mehr durch Jenseitsnebel getrübten Blick auf die verstandesmäßig erfaßbare und durch kaufmännisch kalkulative Bearbeitung ausschöpfbare Wirklichkeit der irdischen Welt. Dieses neue Unternehmertum bringt die Freiheit der Konkurrenz gegen die mittelalterliche Zunft- und Gewerbeordnung zur Geltung; dabei beutet es die Masse des Mittelstandes und die Arbeiterschicht zur Mehrung der eigenen Geldmacht aus, ohne diese Klassen merken zu lassen, daß es die äußerlich demokratische Stadtordnung nur als Aushängeschild weiterhin bestehen läßt. Die bürgerliche Wirtschaftsmacht bedient sich im Gegensatz zur mittelalterlich religiös organisierten politischen Macht im wesentlichen des Intellekts, für den Kirche und Staat nur Mittel zur Vermehrung und Sicherung der eigenen Macht bleiben. Für die Finanzwelt der Renaissance hat der Mensch einen neuen Sinn: Das Menschliche ist in ihren Augen das Weltliche. Mit dieser Feststellung ist ein wesentlicher Unterschied zwischen Renaissance und Mittelalter angedeutet. In diesem Zusammenhang ist aber noch etwas anderes beachtenswert, nämlich die Rückwirkung des Weltlichen auf die Einstellung der Kirche zu dem neuen Wirtschaftssystem im Ausgang des Mittelalters. Die Kurie macht sich dieses System zu eigen, um ihre weltliche Macht zu sichern. Sie beherrscht bald meisterhaft das kaufmännische Rechnen und ermöglicht so jene Prachtentfaltung, durch die gerade die Renaissance-Päpste den Unwillen der gegen die Verweltlichung der Kirche revoltierenden, mit den Unzufriedenen in den niederen Schichten des Volkes sympathisierenden Bettelmönche erregt haben. Auch die Fugger führen schon um 1500 durch ihre Faktorei in Rom die Finanzaufträge der Kurie aus, und so läßt sich z. B. der Mainzer Erzbischof Albrecht von Brandenburg von den Fuggern 10000 Dukaten vorstrecken, die er an den Papst Leo X. für das ihm übertragene Generalkommissariat des Jubelablasses für Sachsen abzuführen hat. Der Fuggersche Agent, der die vom Erzbischof ernannten Ablaßprediger begleitet, erhält von diesen den jeweiligen Erlös für die Ablaßbriefe, um schließlich die Hälfte des Ablaßgeldes zur Tilgung der erzbischöflichen Schuld dem Fuggerschen Hause zu übergeben und die andere Hälfte an die römische Kurie abgehen zu lassen. Eben dieser Ablaßhandel hat das Einschreiten Luthers veranlaßt. Nun bedeutet die durch Luthers Vorgehen eingeleitete Reformation als Gegenbewegung gegen die Verweltlichung der Renaissancekirche zugleich auch eine Gefahr für den Geist des Kapitalismus. Zur Bannung jener Gefahr bedient sich der Kapitalismus später der Gegenreformation 1 . Das sehr früh zur Geltung kommende Machtbewußtsein der Finanzgewaltigen in der Renaissance findet übrigens einen grotesken Ausdruck in der Einrichtung eines besonderen Kontos für Gott, z. B. in den Geschäftsbüchern der gegen Ende 1
Für den ganzen Abschnitt II vgl. Alfred von Martin, Soziologie der Renaissance, Stuttgart 1932.
Das Menschliche in der Weltanschauung der Renaissance
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des 14. Jahrhunderts gegründeten Handelsgesellschaft der Bardi in Florenz. Für Gott wird dort ein Konto geführt wie für die sonstigen Geschäftsteilhaber mit entsprechenden Gewinn- und Verlustrubriken. Im Verlustfalle der Gesellschaft hat Gott ebenso Pech gehabt wie alle irdischen Partner. Dividenden können dann auf diesem „Conto di Dio" nicht verbucht werden; das bedeutet, daß diesmal die Almosen für die Armen fehlen. Die Geldleute dienen Gott, wenn er ihnen hilft, Geschäfte zu machen. Diese kaufmännische Berechnung hat ihre Parallele in der humanistischen Behandlung der Gottgefälligkeit. So sagt Lorenzo Valla, dessen Kritik am Papsttum bekannt ist, wörtlich: Ne deo quidern sine spe remunerationis servire fas est.
III.
Die Vieldeutigkeit
des
Menschlichen
1. Das Weltliche im Menschlichen Das Menschliche als das Weltliche ergibt sich ungezwungen aus der Betrachtung der wirtschaftlichen Verhältnisse zur Zeit der Renaissance. Es betrifft in der Tat das Neue, durch das sich die Renaissance vom Mittelalter wesentlich unterscheidet. Auf das Weltliche ist der Sinn des Renaissancemenschen gerichtet. Das gilt nicht nur für sein Wirken im Wirtschaftsleben; es gilt auch für alle Gebiete des kulturellen Schaffens. Die verstandesmäßige Erfassung der sinnlich wahrnehmbaren Welt ist nunmehr ein Hauptanliegen der Verfechter einer neuen Weltanschauung, die im Sinne des jetzt auch neu kommentierten Aristoteles die Wirklichkeitserfahrung dem philosophischen Denken und dem naturwissenschaftlichen Forschen zugrunde legt. „Unser ganzes Wissen beruht auf Wahrnehmungen", sagt Leonardo da Vinci1, dem Aristoteles nicht unbekannt ist, und auf den Stagiriten könnte er sich berufen, wenn er eindeutig erklärt: „Die Seele hängt am Körper, weil sie ohne die organischen Werkzeuge dieses Körpers weder handeln noch empfinden kann" 2 . Die aus einer ähnlichen Feststellung sich ergebende Folgerung zieht Pietro Pomponazzi (1462—1525) in seiner Schrift: De immortalitate animae, wenn er dort behauptet, daß nach den Grundsätzen des Aristoteles der Mensch, dessen Erkenntnis ganz und gar auf sinnlich wahrnehmbare Gegenstände beschränkt sei, eben wegen dieser Gebundenheit an die Körperwelt nicht unsterblich sein könne3. Aus der italienischen Humanistenwelt, in der solche Gedanken möglich geworden sind, strahlen Anregungen zu ähnlich „menschlichem" Denken nach dem Norden aus. Der Holländer Rudolph Agricola (1442 1
2 3
Leonardo da Vinci, Tagebücher und Aufzeichnungen. Nach den italienischen Handschriften übersetzt und herausgegeben von Theodor Lücke, 2. Aufl. Leipzig 1952, 23. Ebd. 1. Paul Oskar Kristeller, Studies in Renaissance thought and letters, Rom 1956, 273.
2*
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Georg Max Hartmann
bis 1485) leistet hier beachtliche Mittlerdienste. In Italien durch den AristotelesÜbersetzer Theodoras Gazes peripatetisch geschult, bringt er den Humanismus in den mitteleuropäischen Raum. Die naturwissenschaftlichen Schriften des Aristoteles erregen sein besonderes Interesse. Gerade die Natur umfaßt im weitesten Umfange das Weltliche im Menschlichen. Die Verselbständigung des Geistes, seine Befreiung von theologischen und metaphysischen Fesseln, seine Verweltlichung bereitet auch der Averroismus seit dem „arabischen Jahrhundert" vor, wie Gravina das 13. Jahrhundert genannt hat1. Am fortschrittlichsten erscheint uns der Averroist Siger von Brabant, angesehener Lehrer an der Pariser Sorbonne, dessen Schrift De aeternitate mundi gerade heute wieder Beachtung verdient. Der auch von Dante als trefflicher Lehrer erwähnte Denker bezeichnet die Idee einer causa finalis, die lange Zeit untätig gewesen, dann plötzlich vom Nichtsein zum Sein übergegangen sei und die Geschichte der Welt ins Leben gerufen haben soll, als philosophisch absurd2. Die Verweltlichung des Denkens wird dann in der Renaissance noch reger betrieben von Pietro Pompanazzi über Bernardino Telesio bis zu Francis Bacon. Sie geht Hand in Hand mit der Entwicklung der neuen Geldwirtschaft. Sie entspricht der ganz der weltlichen Wirklichkeit zugewandten großbürgerlichen Wirtschaftsgesinnung und führt darum zur herrschenden Weltanschauung. Das „rein menschliche" Wissen um „allgemein menschliche" Wahrheiten ist der immer mehr zur Geltung kommende Ersatz des bisherigen dogmatischen Supranaturalismus durch eine „natürliche" Philosophie, die allmählich das zum „Menschlichen" schlechthin erhobene Bürgerliche ins „Weltbürgerlich"-Allgemeingültige emporsteigert 3 .
2. Das Natürliche im Menschlichen Vom Übernatürlichen in der mittelalterlichen Geisteswelt wendet sich der Renaissancemensch zum Natürlichen, d. h. zu allem, was er in sich selbst und in seiner Alltagsumwelt unmittelbar erlebt, ohne es nur als Symbol einer überirdischen Welt hinnehmen zu müssen. Die Natur selbst wird nicht erst in der Renaissance entdeckt oder erschlossen. Sie ist Gegenstand bewundernder Betrachtung oder künstlerischer Gestaltung seit den Tagen des Naturenthusiasten Francesco von Assisi (1182—1226), der den Goldvorhang der mittelalterlichen Raumvorstellung lüftet und die Blickbahn für die freie Landschaft öffnet, so daß etwa Giotto in seinem Geiste eine ganz neue Kunstentwicklung einleiten kann. Das Walten der Gesetze in der Natur erkennt aber erst der Renaissancemensch, und diese Erkenntnis ermöglicht ihm auf allen Gebieten der Natur1 2 3
G. Toffanin, Storia dell'Umanesimo, Wormerveer 1941, 11. Ebd. 17. Alfred von Martin a. a. O. 35.
Das Menschliehe in der Weltanschauung der Renaissance
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forschung zahlreiche Entdeckungen, die das Gesamtsehaffen der Menschheit in ganz neue Bahnen lenken. Was in der Auswertung der neuen Naturlehre allein Leonardo da Vinci geleistet hat, das ist uns auf der Mailänder Ausstellung seiner Werke, Pläne und Aufzeichnungen im Jahre 1939 besonders deutlich zum Bewußtsein gekommen. Was er und viele seinerZeitgenossen und unmittelbar nach ihnen, auf ihnen fußend, Kopernikus, Kepler und Galilei zustande gebracht haben, veranschaulicht überzeugend den Gegensatz zwischen der Anwendung der rein menschlichen, natürlichen, ganz irdischen Geisteskräfte in der Renaissance und ihrer bisherigen Gehemmtheit durch übernatürliche Rücksichten. Nicht nur in der Wissenschaft, sondern auch in der bildenden Kunst ist das menschlich Natürliche ein wesentlicher Grundzug der neuen Gestaltungs weise. Auch hier gilt, was ich von der Naturlehre der Renaissance gesagt habe, daß die Entdeckung der Natur und des Menschen in der Weltanschauung der Gotik bereits vollzogen ist und daß, wie auch Max Dvof&k hervorhebt, die Entdeckung der materiellen Gesetzmäßigkeit und der objektiven Kausalität als der wichtigsten Aufgabe in der Beobachtung der Körper, ihrer Funktionen und ihres räumlichen Zusammenhanges die große Tat der Begründer der Renaissancekunst war 1 . Albrecht Dürer, der sich für den Humanismus empfänglich zeigt und zweimal nach Italien geht, von der neuen Kunst der Renaissance mächtig angezogen, schreibt seine „Vier Bücher von menschlicher Proportion" (1528). Dort weist er darauf hin, daß die Wahrheit der von ihm behandelten Dinge sich in der Natur erweise: „Darum sieh sie fleißig, richte dich danach und geh nicht von der Natur in dem Gutdünken, daß du meinen willst, das Bessere aus dir selbst zu finden. Denn du wirst verführt. Denn wahrhaftig steckt die Kunst in der Natur, wer sie heraus kann reißen, der hat sie." An die Natur weist auch Leonardo da Vinci seine Schüler in seinem „Trattato della pittura". Selbstverständlich lassen sich noch weitere Zeugnisse für die gleiche Kunstauffassung anführen. Am besten veranschaulicht den Sachverhalt die Betrachtung der Kunstwerke selbst. Da wird einem die Naturwärme, der Realismus der Renaissancekunst leicht vor Augen geführt. Nicht nur die Liebe zum Gegenständlichen in der Ausmalung des Details, sondern gerade auch die immer wieder fesselnde Naturwahrheit der künstlerischen Gestaltung des Menschen ist kennzeichnend für die gesamte Renaissance von Masaccio und Andrea Mantegna bis zu Tizian und Michelangelo, von den Gebrüdern Hubert und J a n van Eyck bis zu Albrecht Dürer und Lucas Cranach. Die menschliche Natürlichkeit in der Bildniskunst aller Meister der Renaissance ist ein hervorstechender Zug des neuen Stils. Diese Natürlichkeit veranschaulicht besonders deutlich das Bildnis des Kaufmannes Georg Gisze von Hans Holbein dem Jüngeren, in allen Einzelheiten dieses an gegenständlichen Details so reichen Kunstwerks eines der größten deutschen Bildnismaler jener Epoche, der auch die 1
Max Dvorak, Geschichte der italienischen Kunst im Zeitalter der Renaissance I, München 1927, 59 f.
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Georg Max Hartmann
mitteleuropäischen Humanisten Erasmus von Rotterdam und Philipp Melanchthon mit derselben das menschlich Natürliche betonenden Meisterschaft gemalt hat. Die Natürlichkeit läßt das Bild des Einzelmenschen aus der geistlichen Atmosphäre heraustreten, in der es bisher keine Selbständigkeit gekannt hat. Das berühmte Bildnis des Nürnberger Ratsherrn Hieronymus Holzschuher von Albrecht Dürer zeigt nichts mehr von jener kirchlichen Gebundenheit, die z. B. die bekannten Stifterbilder des Mittelalters aufweisen. Wie steht der Renaissancemensch gefühlsmäßig zur Natur? Kennt er schon jenes Naturgefühl, das später Jean Jacques Rousseau im europäischen Menschen geweckt hat und das seit dem Sturm und Drang und der deutschen Romantik ein immer noch bedeutsames Erlebnis des modernen Menschen geblieben ist? Man möchte es annehmen, wenn man bedenkt, daß schon Petrarca sogar das Bergsteigen lustvoll geübt und seinen Freunden zur Nachahmung warm empfohlen hat. In Wirklichkeit finden wir aber in der Renaissance selten Äußerungen eines Naturgefühls, wie wir es kennen. Man sucht damals die Natur auf, um sich zu entspannen. Man genießt gern die Freuden ländlicher Spaziergänge zusammen mit gleichgesinnten Gefährten, mit denen man beim Hinwandeln durch die freie Natur den geistigen Faden weiterspinnt, den man in der Studierstube seiner Stadtwohnung auf die wissenschaftliche Spindel gebracht hat. Auf dem Lande hat der Großbürger seine Villa, und nach antikem Vorbilde verkehren dort bei ihm die Humanisten, die Künstler, die Poütiker seiner Zeit. Das Natürliche liegt dann in der Ungezwungenheit des ländlichen Lebens, in der Erholung, die durch diese Ungezwungenheit erreicht wird. Die Villa selbst, das Landhaus, muß diesem Verlangen nach dem menschlich Natürlichen entsprechen. Dabei steht dem Erbauer der Villa wohl auch das antike Vorbild vor Augen. Das naturgemäße Leben ist überhaupt eins der neuen Lebensideale. Die Anlehnung an den antiken Stoizismus ist auch hierbei offenkundig. Das naturgemäße Leben kennt die Regelung des Trieblebens durch die Kraft der Selbstbeherrschung. Hierin besteht die Tugend schlechthin. Das ist dann auch die Anschauung Montaignes, der die stoische Lehre von der Naturgemäßheit der Lebensweise zum wesentlichsten Bestand seiner Moral macht 1 . Auf die Natürlichkeit des Menschen an sich, d. h. des physischen Menschen ohne die Zutaten der Zivilisation und Kultur, hat der Renaissancekünstler seine Zeitgenossen wieder aufmerksam gemacht. Ihm ist der nackte Mensch moralisch ein adiätpoQov genauso wie dem Künstler der griechischen Antike. Masaccio eröffnet den Reigen der Renaissancekünstler, die den nackten Körper studieren und mit allen Mitteln der Kunst in immer neuen Auffassungen wiedergeben. Geradezu eine Verherrlichung des nackten Menschen bedeutet das Gesamtschaffen Michelangelos. Auch diese Erscheinung steht im Gegensatze zum Empfinden des 1
Wilhelm Dilthey, Weltanschauung und Analyse des Menschen seit Renaissance und Reformation, Leipzig 1940, 36.
Das Menschliche in der Weltanschauung der Renaissance
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mittelalterlichen Menschen. I m Anfang des 16. Jahrhunderts ist die Gestaltung des Nackten in der Kunst auch für die breite Öffentlichkeit kein Gegenstand des Anstoßes mehr. Als im Jahre 1506 in Rom die Laokoongruppe wiederentdeckt wird, geleitet die römische Bevölkerung mit verständnisvoller Begeisterung diesen dreifachen Hymnus auf die Nacktheit des menschlichen Körpers beim Geläute der Kirchenglocken wie auf einem Triumphzuge von der Fundstätte bis zum Belvedere des Vatikans. Damals fühlt Michelangelo angesichts des antiken Bildwerks wieder einmal, daß der Künstler der Natur folgt, wenn er in seinem Schaffen der Antike nacheifert. Das Natürliche im Menschlichen betrifft auch jene Lebenslust, die in der Renaissance neu erwacht und die für sie gerade deswegen wesentlich kennzeichnend ist, weil sie, in bewußtem Gegensatz zur asketischen Auffassung des irdischen Daseins im Mittelalter, den Menschen im Anbruch einer neuen Zeit wie ein Rausch überfällt, der zuweilen kein Maßhalten kennt. In keiner Epoche des Mittelalters ist die Daseinsfreude so rückhaltlos zum Ausdruck gekommen wie in der Renaissance. Die naive, bedenkenlose, fast kindhaft anmutende Hingabe an den Augenblick, an das Lustvolle der unmittelbar erlebten Gegenwart, ist neu und nur aus dem bisher ungeahnten, jetzt allem Weltlichen zugewandten Lebensgefühl des neuen Menschen zu erklären. Man hat noch in unserem Jahrhundert den als wissenschaftlich ausgegebenen Versuch gemacht, den Frohsinn jener großen Zeit (das Wort „Renaissance" wird dabei absichtsvoll vermieden!) mit der religiösen Wiedergeburtsidee in Verbindung zu bringen. Ich denke z. B. an die Arbeiten von R. Wernle, Karl Borinski, H. Hermelink, Carl Neumann und Giuseppe Toffanin und will nur sagen, daß der Holländer H. Schulte Nordholt ihre teilweise neuromantischen Anschauungen einer sachlichen und sehr treffenden Kritik unterzogen hat 1 . Es ist kein Zufall, daß diese neuromantische Einstellung zum Renaissanceproblem in dieselbe Zeit fällt wie die nationalistische Behandlung dieses Problems, von der noch die Rede sein wird. Man braucht davon nicht viel Aufhebens zu machen, daß mittelalterliche Mystik, scholastisches Denken und kirchliche Traditionen in der Zeit des Humanismus noch weiterwirken, ist doch das alles heute noch, vierhundert Jahre später, mehr oder minder selbstsicher am Werke. Bei näherem Zusehen erkennt man sehr klar und deutlich, daß die natürliche Lebenslust der Renaissancemenschen gerade auf das rein Weltliche bezogen ist. Man könnte hier darauf hinweisen, daß ausgerechnet in der Frührenaissance eine auffallend starke Vorhebe für das Motiv des Totentanzes in Literatur und Kunst feststellbar ist. Wäre der Totentanz eine typische Renaissanceangelegenheit, so müßte sie selbstverständlich besonders für Italien nachweisbar sein. Das 1
H. Schulte Nordholt, Het Beeld der Renaissance. Een historiografische Studie, Amsterdam 1948, 47 ff.
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Gegenteil ist aber der Fall. In Italien fehlt das bekannte Motiv. Es taucht zuerst im 14. Jahrhundert in Frankreich auf, und zwar in Klöstern und Kirchen, dann auch in England und in Deutschland, wo bekanntlich auch Hans Holbein d. J. sich der künstlerischen Behandlung dieses Motivs gewidmet hat. Schon die Ursprungsstätten der Darstellung des Totentanzes erweisen die weltanschauliche Herkunft des Sujets. Dem natürlich menschlichen Verlangen nach frohen Feierstunden bietet der wirtschaftliche Aufschwung des Bürgertums im 15. Jahrhundert reiche Erfüllung, und dieses Verlangen bleibt auch in den folgenden Krisenzeiten lebendig; es findet auch freimütigen Ausdruck in Kunst und Literatur. Der oft zitierte Refrain aus Lorenzo de Medicis Dichtung „Trionfo di Bacco e Arianna" soll auch hier als Beispiel dienen : „Quant' è bella giovinezza, Che si fugge tuttavia ! Chi vuol esser lieto, sia ; Di doman non c'è certezza"1. Das Natürliche im Menschlichen wird am besten veranschaulicht durch die Liebeslyrik jener Zeit. Wer für dieses Schaffensgebiet das vom Mittelalter wesentlich Unterschiedene, das Moderne nacherleben will, muß Johannes Secundus lesen, in dem Goethe seinen Geistesverwandten erkannt hat, wie anderseits Herder bezeichnenderweise Goethe selbst „Johannes Tertius" nennt. Ein so weltfrohes Schaffen wie das des niederländischen Dichters Johannes Secundus ist nur aus dem Glückserleben eines innerlich freien Menschen zu erklären, der sich nicht mehr durch mittelalterliche Schranken eingeengt fühlt. Die natürliche, rückhaltlose Offenheit, mit der besonders in den „Basia" die Seligkeit des Liebeserlebens offenbart wird, sind im Glanz der Morgenröte einer neuen Zeit bereits deutliche Anzeichen eines ganz neuartigen lyrischen Schaffens.
3. Das Selbstgefühl im Menschlichen Das hochgemute Selbstbewußtsein des Renaissancemenschen entspringt der endlich erreichten Verselbständigung seines menschlichen Seins, zugleich seinem neuen Kraftgefühl und der Freude über die Erfolge seines Strebens. Gegenüber der Ständegliederung der Gesellschaft und dem Zunftwesen des Mittelalters kommt jetzt der Einzelmensch, der „uomo singolare", zunächst wirtschaftlich, bald auch kulturell zu einer gewissen Unabhängigkeit, zu gesellschaftlicher oder geistiger Vormachtstellung, die ihn immer mehr in den Stand setzt, seine Individualität von allen traditionellen Bindungen zu lösen. Die Kraftmenschen als 1
Adolf Gaspary, Geschichte der italienischen Literatur II, Straßburg 1888, 248 f.
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Finanzunternehmer, als Heerführer oder als Geistesschaffende treten auf den Plan. Sie alle, gleichviel ob sie in ihrem Privatbesitz Reichtümer anhäufen oder ob sie in Wissenschaft und Kunst Ruhm gewinnen, sind sich ihrer besonderen Fähigkeiten und Leistungen stolz bewußt und bekunden dieses Selbstbewußtsein in ihrer selbstsicheren Haltung, die in zahlreichen Bildniswerken von Malern und Bildhauern auf uns heute noch einen starken Eindruck macht. Seine wirtschaftliche oder geistige Überlegenheit gewinnt der neue Mensch durch Überwindung aller Schwierigkeiten mit Hilfe der ratio und calculatio, und das glatte Aufgehen der jeweiligen Rechnung erhöht sein Selbstgefühl. Ihn schlägt ein etwaiger Mißerfolg nicht so nieder wie den mittelalterlichen Erdenpilger, der in seinem Mißgeschick eine Strafe Gottes sieht und in der Kirche Entsühnung sucht, statt aus dem Fehlschlagen eines Unternehmens fördersame Lehren für ein neues Streben zu ziehen. Das Selbstgefühl des Renaissancemenschen wird noch bestärkt durch die wissenschaftlich exakte Naturdeutung, die zur Beherrschung der Natur und damit zu immer neuen Errungenschaften der Technik führt. Die hier geprägte Medaille hat allerdings eine Kehrseite. Der Mensch, der zu stark auf seine eigene Kraft pocht, verliert sehr leicht den Sinn für die Grenzen, die seiner Kraft durch die Natur selbst gesetzt sind. Die Renaissance ist reich an gewalttätigen Individualitäten, die sich nicht nur über alle sittlichen Bedenken gewissenlos hinwegsetzen, sondern auch die von ihrem eigenen Verstände als berechtigt anerkannten Schranken, wenn die Laune sie dazu treibt, willkürlich umstoßen. Bekanntlich haben solche „Übermenschen" auf viele Gemüter unserer Zeit faszinierend gewirkt. Die Theorie vom „Willen zur Macht" ist in der Renaissance geboren. Sie kann das Selbstgefühl der erfolgreichen Tatmenschen bis zum Hochmut steigern und gereicht dann der Menschheit zum Verhängnis. Wenn die Frau ihrem Wesen nach als Gegengewicht gegen die Übersteigerung des Selbstgefühls des Mannes in der Renaissance betrachtet werden soll, so ist die Rolle, die in diesem Sinne die Frau damals gespielt hat, keineswegs eindeutig. Wir denken nicht nur an Lucrezia Borgia, wenn von der Herrschsucht der Frau jener Epoche die Rede ist. In Wirklichkeit hat der Individualismus der Renaissance allerdings Frauen genug gezeitigt, die durch geistvolle Äußerungen ihres Selbstgefühls ihre Überzeugung von ihrer Gleichberechtigung mit dem Manne erkennen lassen. Ich nenne ein Beispiel von vielen. Isabella von Este, Gattin des Markgrafen Francesco Gonzaga von Mantua, vielseitig interessierte Sammlerin von kostbaren Manuskripten und Kunstwerken, bekundet in ihrem Briefwechsel mit bedeutenden Männern ihrer Zeit ein Selbstbewußtsein, das wir im Mittelalter bei Frauen kaum finden.
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4. Das Nationalbewußtsein im Menschlichen Der neue Mensch, der sich seiner Kraft froh bewußt wird, ist sich trotz der Hinneigung der Humanisten zu einem gewissen geistigen Weltbürgertum durchaus darüber klar, daß diese seine Kraft in dem Volke wurzelt, zu dem er abstammungsgemäß gehört. Der Ruhm seines Volkes erfüllt ihn mit Stolz; Gefahren, die seinem Vaterlande drohen, bekümmern ihn tief, und er gewinnt aus dem Studium der Antike die Ausdrucksmittel, die er braucht, um seinem Nationalgefühl auch für die Wirkung auf seine Mitbürger die passende Gestalt zu geben. Man hat sich ein wenig kritiklos daran gewöhnt, in der starken Bindung des Humanismus an antike Traditionen eine Abkehr des einzelnen Humanisten von den nationalen Aufgaben seiner Zeit zu sehen, und so hat man den Patrioten der Renaissance zu wenig Beachtung geschenkt. Viel mehr als eine Ausnahme ist kaum zu nennen, und diese Ausnahme bezieht sich auf die Beschäftigung mit dem Schicksal des römischen Volkstribuns Cola di Rienzo besonders in unserem Jahrhundert. Wie die hier angeschnittene Frage zu behandeln ist, das zeigt vorbildlieh der sowjetische Kunsthistoriker J . Rotenberg. In seinem Aufsatz über Michelangelo Buonarotti stellt er die künstlerische Entwicklung dieses größten Meisters der Renaissancekunst in ihrer Ableitung aus den persönlichen Qualitäten Michelangelos als Patriot und Staatsbürger dar 1 . Bei uns in Deutschland wird das Nationalbewußtsein durch die Wiederauffindung einer Handschrift von Tacitus' Germania, die als libellus aureus von den Humanisten freudig begrüßt wird, mächtig gehoben. Das spürt man z. B. bei dem elsässischen Geschichtsschreiber Jakob Wimpheling (1436—1476), der für seine Germania aus der Schrift des Tacitus starke Anregungen erhalten hat. Bei der bekannten Vorliebe der Deutschen für alles Ausländische ist es bemerkenswert, daß der Humanismus auf deutschem Boden nicht leicht feste Wurzeln gefaßt hat. Der Deutsche bekundet auch als Humanist seine Gegnerschaft gegen das päpstliche Rom. Auch Erasmus von Rotterdam t u t das ganz offen. Nationale Gesinnung und Freiheitsdrang wirken zusammen in der Bekämpfung der Herrschaftsansprüche der Kirche. In Italien selbst empfinden die deutschen Humanisten ihre Heimatliebe ebenso stark wie etwa Enea Silvio Piccolomini auf deutscher Erde gegenüber seinem italienischen Vaterlande. Auch Albrecht Dürer ist von tiefer Sehnsucht nach seiner deutschen Heimat erfüllt, obwohl er gerade in Italien sich schmerzlich dessen bewußt wird, daß ihn zu Hause „nach der Sonnen frieren" werde und daß er in Venedig „ein Herr, daheim ein Schmarotzer" sei. Die Behandlung des Erwachens des Nationalbewußtseins in der Renaissance hat besonders vor dem ersten Weltkriege zu teilweise ganz abwegigen Frage1
J. Rotenberg, Michelangelo Buonarotti, Sowjetwissenschaft, Reihe Kunst und Literatur 4, 1956, 319-337.
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Stellungen geführt, die vom Geiste des Nationalismus diktiert waren. Auch darauf ist H . Schlüte Nordholt sehr gründlich eingegangen 1 . Für uns hier sind die Übertreibungen der nationalistischen Renaissancebetrachtung nicht mehr erörternswert. 5. Die Harmonie im Menschlichen Nicht nur im ästhetischen, sondern auch im ethischen Sinne ist die Harmonie ein Ideal, dem die Renaissancemenschen bewußt nachstreben. I n beiden Fällen entspricht die Harmonie einem Grundzuge des menschlichen Wesens, seinem Verlangen nach einem innerlichst beruhigenden Ausgleich aller Spannungen und Widersprüche, die dem Menschen in seinem Bewußtsein und in seiner Umwelt zu schaffen machen. In der Kunst und Poesie der Renaissance ist die Harmonie der Zusammenklang von Inhalt und Form oder richtiger, von Gehalt und Gestalt und in der Form der Zusammenklang der Maßverhältnisse zwischen den einzelnen Teilen innerhalb eines einheitlichen Ganzen. Das erinnert an die Maßästhetik der Antike, an den Kanon von Polyklet 2 . In der Renaissance ist aber ebenso wie in der Antike der wirkliche Mensch oder die vergleichende Betrachtung wirklicher Menschen der Ausgangspunkt jeder klassischen Kunsttheorie, auch der Behandlung der Harmonie im Menschlichen. Das ästhetische Problem ist nun nicht nur für das Kunstschaffen und die Kunstbetrachtung wichtig, sondern auch für den Einzelmenschen in seinen Beziehungen zur Umwelt, in seinem Verhalten zu anderen Menschen, in seiner öffentlichen Wirksamkeit. Die humanistische Vielseitigkeit findet Beachtung und Anerkennung nur im Hinblick auf die Harmonie der verschiedenen Kräfte, sie sich in ihr bestätigen. Ein Beispiel des ,,uomo universale", der „Vollendung der Persönlichkeit", bietet Jacob Burckhardt mit der Schilderung der Universalität des Leon Battista Alberti 3 . Die ethische Bedeutung der Harmonie liegt in der Tugend der Mäßigung, die der Renaissancemensch in Anlehnimg an den antiken Stoizismus als Ziel der Erziehung und Selbsterziehung vor Augen hat. Ihm gilt im menschlichen, also weltlichen Sinne als neues Lebensideal die Selbstbeherrschung, die anders als die mittelalterliche Askese den Lebensgenuß nicht meidet, sondern nur zügelt. Auf die durch dieses Maßhalten erreichte Harmonie darf man einen Ausdruck beziehen, der in der Renaissance zum ersten Male auftaucht und der in der heutigen Literatur über das Renaissanceproblem wieder gern verwendet wird: Gemeint ist die vis superba formae, die Johannes Secundus in seinen Basia4 wörtlich verstanden wissen will und die Goethe aus dieser Quelle zu neuem Gebrauch in die 1 2 3 4
H. Schulte Nordholt a. a. O. 71 ff. Oskar Walzel, Gehalt und Gestalt im Kunstwerk des Dichters, Berlin 1923, 155 ff. Jacob Burckhardt, Die Kultur der Renaissance in Italien, Berlin 1928, 139 ff. Johannis Secundi Hagiensis poetae elegantissimi opera quae reperiri potuerunt omnia curante atque edente Petro Scriverino, Lugduni Batavorum 1619, 93.
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Reihe seiner „Maximen und Reflexionen" aufnimmt. Diese vis superba formae darf auch weiterhin als die ästhetische Norm der Renaissanceklassik betrachtet werden; sie kann aber aus dem Bereiche der Harmonie der Klassik auch auf das ethische Gebiet übertragen werden, und nach der neuen, dem Leben zugewandten Ethik ist besonders der Künstler der durch Selbstbändigung zu einer gewissen Vollkommenheit gelangende Meister des Maßhaltens.
6. D a s H u m a n e im Menschlichen Das Menschliche im Sinne der Menschenfreundlichkeit, der Philanthropie, ist nicht eigentlich ein Wesenszug des Humanismus der Renaissance. Man neigt dazu, das Humanitätsideal der deutschen Klassik in die Renaissance zurückzuverlegen. Mit diesem Ideal läßt sich ja auch die antike humanitas nicht einwandfrei in Verbindung bringen. Schon Aulus Gellius hat im 2. Jahrhundert n. d. Z. die damals übliche Deutung der humanitas richtiggestellt, indem er seine Erklärung auch noch durch ein konkretes Beispiel näher beleuchtet. Er sagt wörtlich: Qui verba Latina fecerunt quique his probe usi sunt, 'humanitatem' non id esse voluerunt, quod volgus existimat quodque a Oraecis (piArxv&Qomitx dicitur et significat dexteritatem quandam benivolentiam erga omnis homines promiscam, sed 'humanitatem' appellaverunt id propemodum, quod Oraeci 'jzcudei/xv' vocant, nos 'eruditionem institutionemque in bonas artis' dicimus. Quas qui sinceriter percipiunt adpetuntque, hi sunt vel maxime humanissimi. Huius enim scientiae cura et disciplina ex universis animantibus uni homini datast idcircoque 'humanitas' appellata est. Sic igitur eo verbo veteres usos et comprimis M. Varronem Marcumque Tullium, omnes fere libri declarant. Quamobrem satis habui unum interim exemplum promere. Itaque verba posui Varronis e libro rerum humanarum primo, cuius principium hoc est: Praxiteles, qui propter artificium egregium nemini est paulum modo humaniori ignotus. Humaniori inquit; non vulgo dicitur, facili et tractabili et benivolo, tametsi rudis literarum sit, hoc enim cum sententia nequaquam convenit, sed eruditiori doctiorique, qui Praxitelem, quid fuerit, et ex libris et ex historia cognoverit1. Die Begriffsbestimmung des A. Gellius gilt strenggenommen auch für den Humanismus in der Renaissance. Die von Cicero im Sinne von „Bildung" verwendete Bezeichnung humanitas ist in derselben Bedeutung schon lange vor der Definition dieses Begriffes üblich, die Hermann van dem Busche in seinem Valium humanitatis (1518) gibt 2 . So finden sich in der Vorlesungsankündigung des deutschen Humanisten Peter Luder an der Heidelberger Universität vom Sommer 1456 auch die studia humanitatis, id est poetarum, oratorum ac hystoriographorum 1 2
A. Geliii Noctium Atticarum libri XX. Ex. rec. Martini Hertz, Leipzig 1861, XIII16. Max Schneidewin, Die antike Humanität, Berlin 1887, 540.
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libri1. Bei den süddeutschen Humanisten Sigismund Gossembrot und seinem Sohne Ulrich, Sigismund Meisterlin, Hermann Schedel und Lorenz Blumenau liest man neben studia humanitatis auch artes humanitatis, übrigens eigenartigerweise tua humanitas neben vir humanissime als Anrede 2 . Der Ausdruck artes humanitatis erinnert uns an die Erklärung von Busche : Studium humanitatis hoc ipsum esse proprie quod sit alias Studium liberalium artium. Jedenfalls sehen wir, daß bei der humanitas der Renaissance keineswegs in erster Linie an Menschlichkeit oder Menschenfreundlichkeit gedacht ist. Unter den Humanisten werden wohl Freundschaften geschlossen, aber nicht zum Zwecke der bewußten Pflege der Menschenliebe, sondern zugunsten der Förderung ihrer gemeinsamen Studien oder Forschungen. Die zahlreichen Schmähschriften jener Zeit lassen nicht vermuten, daß man sich gegenseitig sonderlich geschont hat. Ausnahmen, d. h. Fälle wirklicher Menschenliebe, fallen dann um so mehr auf. So berührt uns sympathisch die uneigennützige Hilfsbereitschaft des schwäbischen Humanisten Jakob Locher, der für praktische und billige Schulbücher zum G e b r a u c h seiner Schüler sorgt, die ihn ohnedies als vielseitig anregenden Lehrer und als sittlich hochstehenden Menschen verehren und heben. Ein Beweis seiner „humanen" Gesinnung ist auch seine Dankbarkeit gegenüber seinen eigenen Lehrern 3 . Es sei hier auch gleich bemerkt, daß Locher als echter Erzieher im ethisch-pädagogischen Sinne seiner Unterrichtsauffassung in der Beschäftigung mit den Alten ein Mittel zur Erlangung von Lebensweisheit und Tugendhaftigkeit sieht. So sagt er in seiner Einladung zur Lektüre des Valerius Maximus zu seinen Hörern: Discite, queso, ex Valerio Maximi luculentissimis monumentis vicium fugare, stulticiam procul abigere, honestum officium tractare, litteris vacare, et virtutes majorum pertinaci cura emulari*. Auch die anderen Humanisten zeigen oft die pädagogische Tendenz, ihren Schülern nicht nur bloße Wissenschaft zu vermitteln, sondern ihnen auch Führer auf dem Wege zu einem tugendhaften Lebenswandel zu sein. Die humanistische virttis erscheint hierbei innerlicher, tiefer als die sonst in der Renaissance Italiens so oft genannte „virtù". Auch der „uomo virtuoso", der die virtù in seiner ganzen Erscheinung, in seinem Auftreten in der Öffentlichkeit, in der Entwicklung und Auswertung seiner menschlichen Kräfte zu voller Entfaltung bringt, kennt eine sittliche Pflicht : die Wahrung der Würde des Menschen. Das „Humane" im Menschlichen ist eben diese dignitas hominis, über die Pico della Mirandola 1
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W. Wattenbach, Peter Luder, der erste humanistische Wanderlehrer in Heidelberg, Erfurt, Leipzig, Basel, Zeitschrift für Geschichte des Oberrheins 22, 1869, 99. Paul Joachimsen, Die humanistische Geschichtsschreibung in Deutschland I, Bonn 1895, 265 ff. 280. 284. Stephan Randlinger, Vorlesungs-Ankündigungen von Ingolstädter Humanisten aus dem Anfang des 16. Jahrhunderts, in: Beiträge zur Geschichte und Reformation. Joseph Schlecht zum 60. Geburtstag dargebracht von Ludwig Fischer, München 1917, 356ff. Ebd. 357.
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(1463—1494) seine von Jacob Burckhardt als „eines der edelsten Vermächtnisse jener Kulturepoche" gerühmte Oratio geschrieben hat. Ein wesentliches Merkmal dieser dignitas hominis ist nach Picos Feststellung die Freiheit der Selbstbestimmung. In dieser Überzeugung sagt er: Optimus opifex . . . hominem sie est allocutus: Nec certain sedem nec propriam fadem nec munus ullum peculiare tibi dedimus, o Adam, ut quam sedem, quam fadem, quae munera tute optaveris, ea pro voto, pro tua sententia, habeas et possideas. Definita ceteris natura intra praescriptas a nobis leges coercetur. Tu nullis angustiis coerdtus pro tuo arbitrio in cuius manu te posui tibi illam praefinies . . . Nec te caelestem neque terrenum, neque mortalem neque immortalem feeimus, ut tui ipsius . . . plastes et fictor in quam malueris tu te formam effingas. Poteris in inferiora quae sunt bruta degenerare, poteris in superiora quae sunt divina ex tui animi sententia regenerari1. Die in so freier Selbstbestimmung wurzelnde Würde des Menschen ist in der Renaissancewirklichkeit zuweilen ein nur äußerlich ehrender Mantel, der ungutes Denken und Wollen nicht einmal schamvoll verdeckt. Das darf nicht verschwiegen werden. Auch die stolze Zurückhaltung des Hofmannes, für dessen Erziehung die Schrift des Grafen Baldasarre Castiglione „II cortegiano" (1528) die nötige Anleitung bietet, erweckt leicht den Eindruck einer Scheinwürde. Der spanische „reposo" oder gar die spanische „grandeza" spielen hier schon mit. Beide Haltungen hat Casiglione als päpstlicher Gesandter am Hofe Karls V. in Spanien im Jahre 1525 beobachtet. Wollen wir uns echte menschliche Würde aus der Zeit der Renaissance vor Augen führen, so brauchen wir z. B. nur die Selbstbildnisse von Leonardo da Vinci und von Albrecht Dürer zu betrachten. Hier blickt uns reines Menschentum ernst und doch vertrauenerweckend an und läßt uns gern glauben, daß in dieser Würde des Menschen auch schon keimhaft jene Humanität spürbar ist, die seit der Renaissance die edelsten Geister aller Nationen für das verträgliche Zusammenleben der Menschen wirksam zu machen bestrebt sind. In der Tat ist diese Humanität einzelnen Renaissanceschriftstellern ebenso wenig unbekannt wie einzelnen antiken Autoren. Wer wahrhaft Mensch ist, liebt alle anderen gleichsam als Glieder eines und desselben Körpers. Diese Andeutung führt Marsilio Ficino in einem Briefe an Tommaso Minerbetti näher aus: Singuli namque homines sub una idea et in eadem specie sunt unus homo. Ob hanc ut arbitror rationem sapientes solam illam ex omni virtutum numéro homines ipsius nomine, idest humanitatem appellaverunt, quae omnes homines quodammodo ceu fratres ex uno quodam patre longo ordine natos diligit atque curat2. Dieser Humanitätsgedanke wird erst seit der Definition des Begriffs „humanité" in der Encyclopédie vom Jahre 1765 durch die gesamte europäische Literatur in den Mittelpunkt der Beachtung gerückt. E r spielt in der Aufklärung und im 1 a
Pico della Mirandola, De hominis dignitate, Heptaplus, De ente et uno, e Scritti vari. A cura di E. Garin, Florenz 1942, 104f. Marsilii Ficini opera omnia, Basileae 1576, 635.
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Neuhumanismus der deutschen Klassiker eine ausschlaggebende Rolle und kennzeichnet das innerste Wesen des heutigen Humanismus im sozialistischen Lager, der sich nicht auf die Antike beruft, wenn auch seine Begründer, Karl Marx und Friedrich Engels, von der Antike beeinflußt sind. Zu dieser neuen Bewegung hat immerhin die Renaissance dadurch den Weg gebahnt, daß sie erst einmal den Menschen von allen Fesseln einer kirchlich gebundenen Vergangenheit befreit und das rein Menschliche in ihm zu wirksamer Entfaltung und Geltung gebracht hat. Dieses „Erwachen der Selbstheit des Geistes" 1 ist nicht ohne schwere Kämpfe abgegangen, und an die Sieger in diesen Kämpfen denken wir heute mit Bewunderung und dankbarer Verehrung. Wir machen uns Conrad Ferdinand Meyers Worte aus seiner Hutten-Dichtung zu eigen: „Je schwerer sich ein Erdensohn befreit, je mächt'ger rührt er unsre Menschlichkeit" 2 . 1 2
G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, hrsg. von Michelet, 2. Aufl. Berlin 1844, 190. Conrad Ferdinand Meyer, Gesammelte Werke in vier Bänden, Leipzig o. J., 496.
Jacob Burckhardt in der Kritik Antonio Gramscis Margarete Steinhoff
In den langen Jahren seiner politischen Gefangenschaft, d. h. von 1926 bis 1937, hat sich Antonio G r a m s c i mehrfach mit den Problemen der Renaissance auseinandergesetzt. Ohne die europäische Bedeutung von B u r c k h a r d t s „Kultur der Renaissance" mindern zu wollen — Gramsci bezeichnet sie als klassisches Werk — hat er durch seine marxistische Analyse eine neue Einschätzung dieser Epoche vorgenommen, die in jeder Beziehung eine Bereicherung darstellt. Trotz des fragmentarischen Charakters der bekannten Gefängnishefte bieten sie eine Fülle von wertvollen Anregungen. Die 32 „Quaderni del carcere" umfassen etwa 3000 handgeschriebene Seiten, die 4000 maschinegeschriebenen entsprechen. Vor allem wirft Gramsci die grundsätzliche Frage auf, woher es wohl käme, daß die italienische Renaissance so zahlreiche (numerosissimi) Anhänger und Verbreiter im Ausland gefunden habe, dagegen nicht ein einziges Buch vorläge, das ein Italiener über die Gesamterscheinung verfaßt habe. Gramscis Erklärung hierfür ist folgende: Die Renaissance stellt die Kulminationsphase der internationalen Funktion dar, die die italienischen Intellektuellen und im besonderen die Humanisten in der Welt ausgeübt haben. Aus diesem Grunde fehlt ihre Wirkung auf das italienische Nationalbewußtsein, das damals von der Gegenreformation beherrscht wurde und noch heute unter ihrem Einfluß steht. In jenen Ländern also, in denen die Renaissance neue Strömungen der Kultur und des Lebens geschaffen, wo sie eine Tiefenwirkung hervorgerufen hat, ist sie im Bewußtsein lebendig geblieben, aber nicht dort, wo sie erstickt wurde und keine anderen Residuen als rhetorischer und oberflächlicher Natur hinterlassen hat, daher nur Gegenstand „reiner Gelehrsamkeit" werden konnte. Burckhardt ist als Ausländer vom Glanz der italienischen Renaissance geblendet, ohne die negativen Folgen auf der Apenninenhalbinsel zu berücksichtigen, Gramsci sieht Licht und Schatten realer und erkennt den dialektischen Zusammenhang. Wenn Gramsci über die Besonderheit der italienischen Entwicklung spricht, sagt er: Die Renaissance kann als kultureller Ausdruck eines historischen Prozesses angesehen werden, in dem sich in Italien eine neue intellektuelle Klasse von europäischer Tragweite herausbildet. Später hat Gramsci statt „Klasse" das Wort „ K a s t e " verwendet, was korrekter ist. Sie teilt sich in zwei Gruppen (Gramsci sagt: „rami"): Die Angehörigen der ersten üben in Italien eine kosmopolitische Funktion aus und stehen in Verbindung mit dem Papsttum, ihr Charakter ist reaktionär; die Angehörigen der zweiten formieren sich zusammen mit
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den politischen und religiösen Flüchtlingen im Ausland, üben eine kosmopolitischprogressive Funktion in den Ländern, in denen sie sich niederlassen, aus oder nehmen als „Spezialisten" (Gramsci spricht von „elemento tecnico") bei der Organisation der modernen Staaten, sei es im Heer, in der Politik, in der Technik usw., teil. Aus dieser Formulierung geht klar hervor, daß Gramsci „kosmopolitisch" dem Begriff „international" gleichsetzt, wobei aber das Epitheton erkennen läßt, wie er es meint. Da Gramsci das Problem der Renaissance in engstem Zusammenhang mit der neuen Kaste sieht, untersucht er die besonderen Bedingungen ihrer Entstehung. Er führt die ersten Ansätze zur Herausbildung einer kosmopolitischen Einstellung der Intellektuellen bis auf die Sklavenhalterordnung zurück. Bereits unter Julius Caesar, in der Zeit der Umwandlung des aristokratisch-korporativen Regimes, findet eine grundlegende Veränderung in der sozialen Stellung der intellektuellen Schichten statt. Caesar gewährt den Ärzten und Meistern der freien Künste das Bürgerrecht in Rom in der Absicht, mit ihrer Hilfe eine kulturelle Organisation zu schaffen. Omnesque medicinam Romae professos et liberalium artium doctores quo libentius et ipsi urbem incolerent et ceteri appeterent civitate donavit (Suetonius, Vit. Laes. 42). Damit ist die vorher beträchtliche Fluktuation beseitigt — ohne permanente Kategorie Intellektueller kann keine kulturelle Organisation aufgebaut werden — und gleichzeitig eine Anziehungskraft für die besten Köpfe des Imperiums gegeben, also ihre Zentralisation gefördert. Der demokratisch-bürokratische Charakter des neuen Regimes, d. h. des weltumspannenden Imperiums, sprengt die bisherigen sozialen und nationalen Bindungen, wie schon allein aus der Tatsache hervorgeht, daß nunmehr eine Reihe von Männern nichtrömischer Herkunft an die Macht gelangt. Dies wäre im republikanischen Rom kaum denkbar gewesen. Die von Caesar privilegierten Intellektuellen, die sich in der Hauptsache aus griechischen und orientalischen Freigelassenen zusammensetzen, werden in das neu geschaffene Staatsgebilde eingegliedert. Sie vertreten die Ziele der herrschenden Klassen entsprechend der ihnen verliehenen materiellen Vorteile, d. h., sie sind kosmopolitisch und imperialistisch gesonnen und werden zuverlässige Träger des Imperiums. Nach dem Fall des Weströmischen Reiches erfolgt für kurze Zeit eine Trennung der Interessen der romanisierten Intellektuellen und jener der germanischen Eroberer. Aber bald hat sich der Katholizismus nicht nur zu einer geistigen, sondern auch zu einer weltlichen Macht entwickelt, die den Anspruch erhebt, das Erbe des römischen Imperiums anzutreten. Dazu kommt noch der für die katholische Kirche günstige Umstand, daß sie ihren Sitz in Rom aufgeschlagen hat. Jahrhundertelang verfügen die kirchlichen Organisationen über das Monopol der kulturellen Führung und sorgen durch harte Strafen, daß keiner gegen sie rebelliert. Da es für die überwiegende Mehrheit der Intellektuellen 3
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Tradition geworden ist, sich für kosmopolitische und imperialistische Ziele einzusetzen, gelingt es der Kirche leicht, sie zu absorbieren. Diese Kategorie nennt Gramsci die „intellettuali tradizionali". Ohne aus einer einheitlichen Bevölkerungsklasse hervorgegangen zu sein, bilden die „tradizionali" doch einen einheitlichen Körper. Nicht die Herkunft ist für sie entscheidend, sondern der Charakter der Kaste gibt den Ausschlag. Die kirchliche Organisation ist dafür ein Schulbeispiel. Aber die „tradizionali" finden sich nicht nur im Klerus, auch Laien vertreten ihre Ideologie. Obwohl Burckhardt den Mangel an Nationalbewußtsein bei den Italienern nicht erklärt, so stellt er diese Tatsache fest. Wenn er zum Beispiel im Kapitel „Die Entdeckung der Welt und des Menschen" von jenen Seefahrern spricht, die in allen östlichen Häfen des Mittelmeers heimisch geworden sind, fügt er hinzu, daß es leicht geschah, daß „sich die Unternehmendsten dem grandiosen mohamedanischen Wanderleben, welches dort ausmündete, anschlössen"; Burckhardts Einschätzung von Columbus deckt sich ungefähr mit der Gramscis; aber Burckhardt geht nie so weit, zu fragen, warum sich der Genuese nicht in den Dienst einer italienischen Stadtrepublik, sondern in den der spanischen Krone begeben hat. Erst Gramsci gibt die befriedigende Erklärung: „avere una funzione europea, ecco il carattere del ,genio' italiano dal 400 alla Rivoluzione francese" 1 . Dieses Phänomen bildet Größe und zugleich Verhängnis der italienischen Geschichte. Die Neigung Burckhardts, immer wieder als Inbegriff des neuen Renaissancetyps rücksichtslose Gewaltmenschen wie Sigismondo Malatesta, Cesare Borgia, Leo X., den Aretino usw., daneben Machiavelli und als großen Einsamen Michelangelo in den Vordergrund zu stellen, die in ihrer überwiegenden Mehrheit nur die Entfaltung ihrer Persönlichkeit kennen und keine moralischen Hemmungen gelten lassen, fordert Gramscis Kritik heraus. Gramsci weist auf den verderblichen Kult hin, der nach Erscheinen des Burckhardtschen Buches (1860) in Europa, besonders aber in den nordischen Ländern aufkam und schließlich zum Übermenschen Nietzsches führte. In Italien sei eine solche Wirkung kaum zu verzeichnen gewesen: Nur wenige Italiener begeistern sich für ein ungezügeltes Leben in Schönheit, wie es die Condottieri, die Abenteurer usw. verkörpern. D'Annunzio zählt zu den Ausnahmen. Hierzu muß bemerkt werden, daß die Übersetzung des Burckhardtschen Buches ins Italienische (1876 gedruckt) einige Erweiterungen und Berichtigungen enthält, die, obwohl von Burckhardt selbst vorgenommen, erst 1930 zu den deutschen Lesern gelangen (Deutsche Verlags-Anstalt Stuttgart, Berlin und Leipzig). Darin ist z. B. die Bedeutung Benvenuto Cellinis für die moderne Welt abgeschwächt und die Zuverlässigkeit Paolo Giovios nicht mehr so angezweifelt. Abgesehen davon, hat sich das Schwergewicht des Buches auch verlagert, weil der Übersetzer Diego V a l b u s a ungeachtet seines Bemühens, dem Original gerecht 1
A. Gramsci, Gli intellettuali e l'organizzazione della cultura, Torino 1955, 59.
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zu werden, den eigenen Standpunkt nicht verleugnen kann. Valbusa setzt die Renaissance in unmittelbare Beziehung zum Risorgimento, vertritt also mehr die französische Auffassung dieser Epoche (Michelet) und weniger die Burckhardts. Es kann nicht im Rahmen dieser Betrachtung liegen, auf Einzelheiten einzugehen. Es kommt uns auf die verschiedenen Grundkonzeptionen an. Gramsci stimmt nicht mit Burckhardts Auffassung überein, daß der Humanismus von Anbeginn heidnisch, antikurial und skeptisch gewesen sei. Er pflichtet in vielen Punkten der Ansicht T o f f a n i n s bei, der in seinem Buch: Che cosa fu l'Umanesimo, Florenz 1929, die antihäretischen und antidemokratischen Tendenzen des italienischen Humanismus nachweist. Gramsci unterscheidet zwischen progressiver und regressiver Entwicklung der Renaissance in Italien. Die progressive Periode — er spricht von „Rinascimento spontaneo italiano" — beginnt schon nach dem Jahre 1000 und entfaltet sich künstlerisch nach 1200 in der Toskana zu solch einer Blüte, daß sie — so schreibt Gramsci — nur mit dem Glanz der griechischen Literatur im Altertum verglichen werden kann, die Toskana wird die Heimat des „volgare", der Volkssprache, hier sammeln sich die unabhängigen Kräfte, die den Feudalismus bekämpfen, hier verändert sich die ökonomische, politische und gesellschaftliche Struktur. Das Zeitalter des Aufblühens der Stadtkommunen steht für Gramsci an erster Stelle. In diesem Zeitabschnitt hat das Bürgertum die Fähigkeit, eine große Anzahl von Intellektuellen hervorzubringen, die ihren eigenen Zielen dienen und dem Einfluß der „tradizionali" widerstehen. Während Burckhardt verhältnismäßig wenige Seiten seines Buches dieser Geschichtsperiode widmet, sieht Gramsci in ihr den Wendepunkt und das vorwärtsstrebende Element der gesamten Folgezeit. Die freien Stadtkommunen verkörpern die wahre Abkehr vom Mittelalter, bei ihnen liegt die große Wandlung, die Europa in ihren Bann ziehen wird. Ihre literarische Widerspiegelung ist in der Volkssprache sichtbar, die eine überquellende Fülle von zarten Gefühlen und erhabenen Gedanken ausdrückt („che apparve in una irruzione di sentimenti e pensieri raffinatissimi in forme plebee"). In der Rivalität der Volkssprache mit dem Latein erkennt Gramsci die einzelnen Phasen des Klassenkampfes: einerseits die aufstrebenden bürgerlichen Kräfte der „popolari", andererseits die aristokratisch-feudalen, die sich auf die Antike berufen. Die erneute Abkehr von der Volkssprache ist in Italien unbedingt Verfallserscheinung; denn sie bringt die Entfremdung vom Volksleben: Petrarca flüchtet nach Vaucluse und in die Antike. Sie schafft eine fast unüberbrückbare K l u f t zwischen Elite und Volksmassen. Als die Bürgerschaft ihre Initiative verliert, ihr Geld statt in mutige Handelsunternehmungen in Grundrente anlegt, als die Stadtrepubliken sich in Prinzipate verwandeln, mit einem Wort, als die ökonomischen und politischen Verhältnisse sich ändern und die ganze Gesellschaft reaktionär wird, spielen die „tradizionali" wieder eine ausschlaggebende Rolle. Die Kirche begünstigt die Loslösung von der durch das Volk geschaffenen „Volgare-Kultur", die lateinische Sprache soll „heilsame" Reaktion gegen deren Undiszipliniertheit werden. In der „Volgare-Literatur" entspringt 3«
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die geistige Unabhängigkeit, in der der Sauerteig der Häresie wirksam ist. Schon hat bei den Volksmassen der Autoritätsglauben an die Kirche nachgelassen. Gramsci faßt den Humanismus nicht nur als eine Reaktion gegen die „VolgareKultur" auf, sondern als reaktionär: er ist gleichsam eine vorweggenommene Gegenreformation gegen das „Rinascimento spontaneo italiano". In Italien gibt es keine direkte Linie, die vom Humanismus zur Reformation führt. Burckhardt erwähnt im Abschnitt „Die Wiedererweckung des Altertums, der Humanismus im 14. Jahrhundert" die negative Seite des Lateinstudiums: „Mit dem stärkern Andringen des Humanismus seit 1400 sei dieser einheimische Trieb verkümmert; man habe fortan die Lösung jedes Problems nur vom Altertum erwartet und darob die Literatur in ein bloßes Zitieren aufgehen lassen; ja, der Untergang der Freiheit hänge hiermit zusammen, indem diese Erudition auf einer Knechtschaft unter der Autorität beruhte, das munizipale Recht dem römischen aufopferte und schon deshalb die Gunst der Gewaltherrscher suchte und fand. Diese Anklagen werden uns noch hier und da beschäftigen, wo dann ihr wahres Maß und der Ersatz für die Einbuße zur Sprache kommen wird. Hier ist nur vor allem festzustellen, daß die Kultur des kräftigen 14. Jahrhunderts selbst notwendig auf den völligen Sieg des Humanismus hindrängte, . . Wieviel kräftiger sind aber das 12. und 13. Jahrhundert gewesen, wieviel reicher an aufbauenden Potenzen! Burckhardt versäumt es, sie zum Vergleich heranzuziehen, er sieht nicht die regressive Entwicklung, die bereits im 14. Jahrhundert eingesetzt hat und später im 17. mit der Abschwörung Galileis ihren Höhepunkt erreicht. Dagegen präzisiert Gramsci, daß Humanismus und Renaissance als literarischer Ausdruck der europäischen Geschichte in Italien ihren Hauptsitz gehabt haben, aber daß die progressive Bewegung nach 1000, bei der die Kommunen in Italien einen großen Beitrag leisten, gerade in Italien bald in Verfall gerät und darum Humanismus und Renaissance in Italien regressiv gewesen sind, während im übrigen Europa die allgemeine Bewegung in den Nationalstaaten und schließlich in der Expansion Spaniens, Frankreichs, Englands und Portugals gipfelt. Der Nationalstaatlichkeit in diesen Ländern entspricht in Italien die Organisation des Papsttums als absolutes Staatsgebilde, wie es von Alexander VI. in die Wege geleitet worden ist, die aber gleichzeitig die Zersplitterung der anderen Teile Italiens herbeigeführt hat. Machiavelli hat verstanden, daß die Renaissance sich in der Gründung eines Nationalstaates manifestieren muß, aber er ist der Theoretiker für die Entwicklung außerhalb Italiens, nicht seiner Heimat. Entgegen Burckhardts Annahme, daß in der Renaissance Italiens der „Mensch" neugeboren wird, ist Gramsci der Ansicht, daß eine neue Kulturform entstanden ist: ein neuer Menschentyp der herrschenden Klassen. Die Intellektuellen haben 1
Jacob Burckhardt, Die Kultur der Renaissance in Italien, Berlin 1948, 110.
Jacob Burckhardt in der Kritik Antonio Gramscis
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in ihrer überwiegenden Mehrheit in Italien kosmopolitische Ziele verfolgt und sind dadurch vom italienischen Volk abgerückt. Im Brief vom 19. März 1927 kündigt Gramsci seiner Schwägerin Tatiana Schucht die Absicht an, den „spirito popolare creativo" zum Gegenstand einer längeren Untersuchung zu machen. Am besten — glaube ich — kann man „spirito popolare creativo" mit „schöpferische Kraft des Volkes" übersetzen. Im Gegensatz zu Jacob Burckhardt, der ja fast ausschließlich die sich hoch über die Menge erhebende Elite behandelt, will Gramsci die Rolle erkennen, die das Volk in jener Renaissanceperiode gespielt hat. Damals wie auch heute ist der Einfluß der „tradizionali" mächtig. Gramsci beleuchtet den historischen Verlauf von einer neuen Seite. Durch die verschiedenen Standorte Burckhardts und Gramscis ergibt sich für uns eine Vertiefung der Kenntnisse und Erkenntnisse. Kein Zufall, daß der stolze, im Grunde pessimistische Basier Gelehrte, der bei der Revolution von 1848 abseits steht und sein Leben lang einsam bleibt, sich für den Humanismus entscheidet, der als individueller Humanismus bezeichnet wird, während Gramsci mit der Tat für die Befreiung der Menschheit kämpft, an die schöpferische Kraft des Volkes glaubt und sie auch in der Vergangenheit zur Geltung bringen will! Gewiß, der individuelle Humanismus ist für Europa eine notwendige Zwischenstufe gewesen, aber Gramscis Bestreben ist auf den k o l l e k t i v e n Humanismus gerichtet, der für alle Menschen Befreiung von sozialer und geistiger Unterdrückung bedeutet.
Die Rezeption des römischen Rechts im Blickfeld des historischen Materialismus Heinz Herz
In dem Zeitabschnitt, dem die Beratungen dieser Tagung gewidmet sind, ist auf rechtsgeschichtlichem Gebiet die bedeutendste Erscheinung die Rezeption des römischen Rechts in Deutschland und einigen anderen europäischen Ländern. Es gibt in der deutschen Rechtsgeschichte zwei große Rezeptionswellen: 1. die napoleonische Gesetzgebung des Code Civil im Anfang des 19. Jahrhunderts und 2. die des römischen Rechts im Zeitalter des Humanismus. Beide stehen auf den Schultern großer revolutionärer Bewegungen. Die napoleonische Kodifikation ist adäquater gesetzgeberischer Ausdruck der Gedankenwelt der großen Französischen Revolution. Die Rezeption des römischen Rechts steht im Zusammenhang mit den Umwälzungen des 16. Jahrhunderts, die ihren politischen Ausdruck im deutschen Bauernkrieg finden. Aber gerade die Forderungen der Bauern, z. B. im Heilbronner Programm, richten sich gegen das römische Recht und seine Vertreter 1 . Unser Diskussionsbeitrag soll daher der Frage gewidmet sein: War die Rezeption eine fortschrittliche oder eine rückschrittliche Erscheinung? Wie ist sie im Blickfeld des historischen Materialismus zu werten? Das römische Recht, um das es sich handelt, hat seine Kodifikation unter Justinian im 6. Jahrhundert in Byzanz gefunden. Sie setzt den Schlußstein unter eine fast tausendjährige Rechtsentwicklung, die sich ausschließlich in der Sklavenhaltergesellschaft vollzogen hat. Zur Zeit der Justinianischen Kodifikation aber befindet sich diese Gesellschaft in voller Auflösung. Darin liegt die besondere Problematik der Fortentwicklung des römischen Rechts. Im byzantinisch-griechischen Bereich vollzieht sich von nun an eine elastische Weiterentwicklung unter Angleichung an die sich verändernden ökonomischen Verhältnisse. Wir haben hier eine reiche Novellenproduktion, besonders unter den makedonischen Kaisern. Neue Teilkodifizierungen und Kommentierungen des Justinianischen Rechts kennzeichnen hier den weiteren Weg der Entwicklung. Epanagoge, die Hexabiblos oder die Basilika, das Procheiron und schließlich der Leitfaden des sogenannten Tipukeitos sind die wichtigsten rechtgeschichtlichen Stationen. In Griechenland bestand das Justinianische Recht als geltendes Recht bis zum 1
Vgl. dazu August Kluckhohn, Ueber das Project eines Bauernparlaments zu Heilbronn und die Verfassungsentwürfe von Friedrich Weygandt und Wendel Hipler aus dem Jahre 1525, in: Nachrichten von der Königl. Gesellschaft der Wissenschaften und der Georg-AugustsUniversität zu Göttingen, Göttingen 1893, 276ff.
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Jahre 1941, natürlich durchbrochen und ergänzt durch zahlreiche einzelne Neuerungen. Anders verhielt sich die Entwicklung im katholischen und westeuropäischen Bereich. Hier wird das römische Recht zunächst durch den Germanensturm verdrängt. Es entwickelt sich ein eigenes Recht feudaler Provenienz, das entsprechend der gesellschaftlichen Struktur des Feudalismus durch starke Zersplitterung gekennzeichnet ist. Bedeutungsvoll für die Wiedererweckung des römischen Rechts ist es, daß, als in Pisa im 11. Jahrhundert die Digestenhandschrift entdeckt wird, diese als Florentina — genannt nach ihrem späteren Aufbewahrungsort — das Lehrmaterial der später in Bologna errichteten Rechtsschule wird. Diesem Recht trat man aber ganz anders gegenüber als dem römischen Recht im Osten. Da die lateinische Sprache inzwischen keine lebende Sprache im engeren Sinne mehr ist, erhält im katholischen Bereich alles Lateinische eine religiöse Sanktion. Was in lateinischer Sprache geschrieben ist, gilt schlechthin als zuverlässig, so wie der Text der Vulgata als einziger authentischer Bibeltext angesehen wird. So wird auch das römische Recht kanonisiert und dogmatisiert. Alle Widersprüche, die in ihm enthalten sind, können nur scheinbar sein, genauso, wie nach katholischtheologischer Auffassung die Bibel keine Widersprüche enthalten darf. Die Kontroversen im römischen Recht, dissensiones dominorum, müssen daher durch Interpretation überbrückt werden. Diese Aufgabe hatten schon die Glossatoren in Angriff genommen, sie wird von den Postglossatoren oder Kommentatoren weitergeführt und vollendet. Die völlige Unbrauchbarkeit des Sklavenhalterrechts für die spätfeudale Gesellschaft ließ die Rechtswissenschaft und auch die Rechtspraxis auf diese oft gewaltsamen glossatorischen Umdeutungen angewiesen sein: quidquid non agnoscit glossa, non agnoscit curia. Das so umgestaltete römische Recht wird zuerst wieder geltendes Recht in Italien, weil hier die ökonomische Entwicklung, getragen von der bürgerlichen Klasse, auch einen neuen juristischen Überbau verlangt. Daß es tatsächlich ein aus sehr viel älterer Zeit stammendes Recht war, übersah man mit der typischen Geschichtsblindheit gerade der bürgerlichen Klasse in diesem Zeitalter. Man muß aber feststellen: J e mehr Angehörige des Bürgertums in die Bildungsschicht einrücken, um so mehr bahnt sich dem römischen Recht der Weg. Anfang des 16. Jahrhunderts ist auch in Deutschland die Situation so, daß der Frühkapitalismus ein neues Recht braucht. Hierin sind sich auch die neueren bürgerlichen Rechtshistoriker (im Gegensatz zu der älteren Auffassung von Belows) einig. So stellt Heinrich Mitteis fest: „Die Schöffenjustiz versagte vor dem Problem des Frühkapitalismus" 1 . Man wollte ein ius certurn et universale. Die Rezeption fand nun freilich in Deutschland keine darauf vorbereitete juristische Intelligenz vor. Es gelingt daher nicht, eine wirkliche Einschmelzung des römischen Rechts in das bestehende Recht zu vollziehen. Anders ist die Lage in 1
Heinrich Mitteis, Deutsche Rechtsgeschichte, 4. erw. Aufl. München 1956, 160.
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Frankreich und den Niederlanden, wo das städtische Bürgertum schon weiter entwickelt war. Hier verfährt man nach dem mos gallicus. Man kodifiziert z. B. in Frankreich die coutumes, die bisherigen Gewohnheitsrechte des Feudalismus. In Deutschland dagegen huldigt man dem mos italicus, d. h., es erfolgt lediglich eine scholastsiche Reproduktion des Rechtsstoffes. Die damit befaßten Juristen sind meist Renegaten bürgerlicher Provenienz, die sich ganz in den Dienst des erstarkenden Territorialfürstentums stellen. So dient das römische Recht auch nicht der Stärkung der Reichsgewalt, was an sich naheliegend gewesen wäre, da es ja als imperiales Kaiserrecht empfunden wurde, sondern den zentrifugalen Kräften. Es wird in den Dienst der landesherrlichen Politik gestellt, wendet sich daher vor allem gegen die Bauern und sonstigen werktätigen Schichten und wird von ihnen als schlecht und ungerecht empfunden. Dabei erfolgt die Ablehnung aber nicht wegen des Rechtsstoffes, sondern aus sozialen, also Klassengründen. „Juristen sind böse Christen", sagt ein damals im Schwange stehendes Volkswort; da sich das Volk selbst als christlich empfindet, soll damit die Volksfeindlichkeit der Juristen gekennzeichnet werden. Der römisch-rechtlich geschulte Jurist gilt bis in das 19. Jahrhundert hinein in den bürgerlichen Kreisen als ein Kollaborant des feudalen Klassenfeindes. Noch das Studentenlied von der filia hospitalis sagt ihm nach: „Der Jurist besucht nur feine Kreise." Zusammenfassend stellen wir fest: Einerseits ist die Verdrängung der partikularen Rechte durch das einheitliche römische Recht die notwendige Folge der Entfaltung der Produktivkräfte durch den Frühkapitalismus und somit eine objektiv fortschrittliche Erscheinung, zum anderen ist aber dadurch, daß die soziale Revolution im Beginn des 16. Jahrhunderts in Deutschland mißlingt, das nunmehr rezipierte Recht ein Mittel in der Hand des erstarkenden Territorialfürstentums, um die gegnerischen Kräfte niederzuhalten und namentlich die Ausbeutung der Bauern noch zu steigern, deren Widerstand daher durch die Rezeption oft hervorgerufen wird. Schließlich kommt dazu, daß die für die Anwendung des fremden gelehrten Rechts jetzt erforderlichen bürgerlichen Juristen objektiv korrumpiert werden — was sie zwar zumeist subjektiv nicht empfinden — und daß sie sich der feudalen Klasse assimilieren. Übrigens werden die doctores juris utriusque in der ersten Zeit nach der Rezeption auch vielfach persönlich nobilitiert. Es ist bezeichnend, was von dieser Rezeption ausgenommen blieb: a) in territorialer Hinsicht. Hier ist in Europa vor allem England zu nennen, wo sich bereits eine bürgerliche Revolution vorbereitet, die auch für die Gesetzgebung und Rechtsprechung genügend eigene Kräfte bereithält, so daß England eines vom Feudalismus ausgehaltenen besonderen Juristenstandes entraten kann. Ferner gehört hierher die Schweiz, wo es schon vor der Reformationszeit gelungen ist, die Ansprüche der Feudalherren in ihre Schranken zu weisen und wo die Reformation ZwingliCalvinscher Prägung eine deutliche antifeudale Spitze trägt.
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b) in sachlicher Hinsicht. Hier blieben vom römischen Recht unberührt besonders das Handels-, Schifffahrts- und Bergrecht. Nicht, daß das römische Recht hier keine Vorbilder bot, ist das Entscheidende — diese Lücke hätten die Juristen durch noch so kühne Analogien leicht ausgefüllt, wie sie das auch auf anderen Gebieten getan haben —, sondern, daß im Handel, Schiffahrt und Bergbau die bürgerliche Klasse ökonomisch bereits so führend war, daß sie damit auch für diese Gebiete einen eigenen juristischen Überbau entwickelt hatte. Die Diskrepanz zwischen dem römischen Recht, wie es in der Rezeptionszeit aufgenommen worden war, und den Erfordernissen der bürgerlich-kapitalistischen Entwicklung wird erklärlicherweise immer krasser, je weiter diese Entwicklung fortschreitet. Es kommt so zu einer Vertrauenskrise gegenüber dem Recht und gegenüber den Juristen überhaupt. „Es erben sich Gesetz und Rechte wie eine ewige Krankheit f o r t . . Vernunft wird Unsinn, Wohltat Plage", läßt Goethe den in Fausts Mantel gehüllten Mephisto einem Schüler gegenüber aussprechen, der im Begriff steht, sich dem Studium des römischen Rechts zuzuwenden. Die fortschrittlichen Kreise des 18. Jahrhunderts appellieren nun — in Deutschland ist es besonders Pufendorf und sein größerer Schüler Thomasius — an ein angebliches Naturrecht, das dem positiven Recht gegenübergestellt und aus der Vernunft hergeleitet wird. Unter dem Einfluß der Naturrechtslehre entsteht eine Gesetzgebung, besonders in den Ländern des aufgeklärten Absolutismus, die sich zwar vom römischen Recht löst, sich aber in heilloser Kasuistik verliert, weil sie der scharfen Begriffsbildung des römischen Rechts ermangelt. Hierher gehört etwa das am Ende des 18. Jahrhunderts vollendete Gesetzeswerk des Allgemeinen Preußischen Landrechts (ALR), dessen Entwurf schon Friedrich II. mit der kritischen Bemerkung entgegennahm, daß es „sehr dicke" ausgefallen sei mit seinen mehreren tausend paragraphierten Bestimmungen. Unter dem Eindruck der Freiheitskriege forderte dann Justus Thibaut in Heidelberg ein auf Naturrecht gegründetes allgemeines deutsches Recht. Ihm trat bekanntlich als großer und nunmehr historisch bewußter Apologet des. römischen Rechts Savigny entgegen mit seiner berühmten Schrift „Vom Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft" (1814), in der er diesen Beruf für seine Zeit verneinen zu müssen glaubte. Inzwischen hat sich die Wissenschaft der klassischen Philologie erneuert, ist mit Niebuhrs römischer Geschichte (1811) der historisch-kritischen Methode bei der Erforschung der Antike der Weg geöffnet worden. Savigny begründet so die historische Schule der Rechtswissenschaft, die sich in der berühmten, noch heute Savignys Namen tragenden Zeitschrift ihr Organ schafft. Das römische Recht soll jetzt historisch verstanden, soll im Sinne der alten Römer interpretiert werden. Das ist ein Stimulans für die Forschung: Seit und mit Savigny wird Deutschland das führende Land der Rechtsromanistik, seitdem gibt es an allen deutschsprachigen Universitäten Lehrstühle für römisches Recht im Gegensatz zu denen für deutsches Recht. Man hat nicht mit Unrecht von einer Nachrezeption gesprochen, die mit Savigny
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zunächst in der Rechtswissenschaft eingeleitet wird und die sich auch auf die spätere Gesetzgebung, besonders das Bürgerliche Gesetzbuch von 1896, auswirkte. Freilich hat unter ihrem Mantel die nunmehr herrschend gewordene bürgerliche Klasse das römische Recht ganz nach ihren Interessen umgeformt, wobei es interessant ist, wie sich die Begriffsschemata des klassischen Rechts bei einer entsprechenden eleganten Interpretation selbst den Ansprüchen des modernen hochentwickelten Kapitalismus dienstbar machen lassen, z. B. in der Lehre vom antizipierten Besitzkonstitut. Auf Einzelheiten kann, so reizvoll es wäre, im Rahmen dieses Beitrages nicht eingegangen werden. So tritt abermals eine Vertrauenskrise gegenüber der Rechtsordnung ein, die auch jetzt wieder zu Unrecht dem römischen Recht angelastet wird. Der Nationalsozialismus — und auch das beweist seine antihumanistische Grundhaltung — hat in völliger geschichtlicher Verständnislosigkeit das aus dem Humanismus erwachsene römische Recht in Acht und Bann getan. Die „Beseitigung des römischen Rechts" war sogar ein besonderer Punkt des NS-Parteiprogramms. Nun haben freilich die 12 Jahre der faschistischen Herrschaft nichts Wesentliches an der bürgerlichen Gesetzgebung, soweit sie vom römischen Recht beeinflußt war, geändert, wohl aber hat dieses dilettantische Bestreben schwere Schäden auf dem Gebiet der Forschung angerichtet. Die juristischen Fakultäten, die sich den braunen Machthabern als besonders willfährig erwiesen haben, strichen vor deren massiven Forderungen ziemlich widerstandslos die Segel und akzeptierten eine Studienordnung, die den Unterricht im römischen Recht weitgehend beschränkte. Koschaker hat 1953 in seinem schönen Buch „Europa und das römische Recht" 1 resignierend festgestellt, daß im ganzen die romanistischen Vorlesungen an deutschen Universitäten seit 1934 zusammengebrochen sind und daß die Studenten bald erfahren hätten, daß man sich durch Unkenntnis des römischen Rechts in der Prüfung sogar auszeichnen konnte. Wenn man nun freilich gehofft hatte, daß mit dem Zusammenbruch der HitlerHerrschaft eine neue Blüte der Wissenschaft vom römischen Recht in Deutschland erfolgen würde, so sieht man sich auch in der Deutschen Demokratischen Republik etwas enttäuscht. Natürlich kann in der Universitätsausbildung das römische Recht nicht mehr den alten Platz beanspruchen, weil eine Menge ganz neuer Rechtsgebiete in der sozialistischen Gesellschaft vordringlich geworden sind und weil die Studenten von heute auch nicht die detaillierten Kenntnisse der antiken Geschichte mitbringen, die die Vorschriften des römischen Rechts allein plastisch erseheinen lassen. In der Forschung brauchten solche Rücksichten aber nicht genommen zu werden. Daher erlaube ich mir, an das gastgebende Institut für griechisch-römische Altertumskunde der Deutschen Akademie der Wissenschaften die Bitte zu richten, der Pflege der Forschungsaufgaben auf dem Gebiete der Rechtsromanistik etwas mehr Aufmerksamkeit zu widmen. Diese Bitte ent1
Paul Koschaker, Europa und das römische Recht, 2. unveränd. Aufl. München 1953.
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spricht nicht irgend einem Fachegoismus, sondern sie ergeht darum, weil an der zweieinhalb Jahrtausende dauernden Entwicklung des römischen Rechts durch die Gegenüberstellung mit den jeweiligen Wirtschafts- und Gesellschaftsformen, in denen es Anwendung fand, besonders deutlich das Verhältnis von Basis und Überbau in seiner ganzen Problematik demonstriert werden kann. Damit wird aber ein wichtiger Beitrag zur Herausarbeitung eines Kernstückes des historischen Materialismus geleistet.
Urkunde und Humanismus Anton Blaschka
Mittelalterliche Urkunden im Sinne der Diplomatik sind nach gewissen Regeln abgefaßte und beglaubigte Niederschriften rechtlichen Inhalts, nach ihrem Wortlaut vielfach von dauernder Gültigkeit. Die allgemeinste lateinische Bezeichnung ist littera oder litterae, der das Wort „Brief" in seiner zeitgenössischen Bedeutung entspricht. Um ihrer Regel- und Formelhaftigkeit willen bilden die Urkunden eine typische Quellengruppe, die über die Perpetuität hinaus in ihrer Zeit einen konservativen Faktor darstellen, wie es das Recht an sich ist als Wahrer des Bestehenden. Für den Historiker sind sie jeweils Maßstab und Markstein der Epoche, gewissermaßen das Soll, mit dem er das Ist des geschichtlichen Lebens, das er aus sonstigen Quellen erfährt, dessen Dynamik aber je länger, je stärker wirkt, unablässig vergleichen muß. Indem die Archäographie die urkundlichen Denkmäler nicht bloß synchron bearbeitet, im Querschnitt der Zeitpunkte, sondern auch diachron im Ablauf des Zeitbandes beobachtet, erlangt sie die Fähigkeit, von der statischen Beschreibung zur dynamischen Deutung fortzuschreiten und das Produkt in unzertrennlicher Beziehung zu seinem Urheber zu sehen. Die Diktatoren an den Höfen geistlicher und weltlicher Gewalten verbriefen im Auftrage ihrer Herren die Dispositionen in einer traditionsgebundenen Form, ebenso tun es die Notare in ihrem städtischen Bereich, doch im stilistischen Ausdruck bleibt ihnen auch innerhalb dieser Grenzen mancherlei Bewegungsfreiheit. Wie sich diese Entwicklung in der Übergangsepoche abzeichnet, die als Renaissance im 14. Jahrhundert in Italien begann und deren literarische Ausprägung Humanismus genannt wird, der dann nach Mitteleuropa ausstrahlte und dort zwei, ja drei Jahrhunderte gewirkt hat, wäre einer besonderen Darstellung wert. Mangels ausreichender Vorarbeiten soll hier nur an wenigen Beispielen auf die Notwendigkeit weiterer Forschungen auf diesem mißachteten Gebiet hingewiesen werden 1 ; denn die Urkunden gehören nun einmal zu den eminentesten Monumenten aus der Zeit der Schriftlichkeit. 1
Kennzeichnend ist da die Bemerkung, die Leo Santifaller, Mitteilungen des Instituts für österreichische Geschichtsforschung 67,1959,215 gemacht hat, um die Lage der Historischen Hilfswissenschaften zu verdeutlichen. Väclav Vojtisek hat es auch für nötig erachtet, im Sbornik historicky 2, 1954, das Wort zu ergreifen; hier kommen namentlich die S. 34ff. in Betracht. — Was das konkrete Anliegen anlangt, so fehlt es für diese Zeit an kritischen Urkundeneditionen, während Literaturdenkmäler besser bedacht sind; auch die Brief-
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Die Diplomatik als Wissenschaft von den Urkunden wurde erst in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts begründet. Als nächste Zielsetzung galt die Unterscheidung von Echt und Unecht. Jean Mabillon 1 hat Grundsätze für die Prüfung der Urkunden aufgestellt, was vorher nur Geheimnis der Kanzleien war, die sich aber vorwiegend auf die äußeren Merkmale beschränkten 2 , und er hat sich auch den Vorwurf gefallen lassen müssen, er habe den Fälschern Anleitung gegeben! Mabillons Warnung, nicht nach einem einzelnen Merkmal zu urteilen, sondern alle äußeren und inneren Merkmale (obwohl er diese Termini nicht gebraucht) gleichermaßen zu berücksichtigen, hat ihre Gültigkeit nicht eingebüßt. Er forderte also mit anderen Worten: Man müsse mit historischem Sinn an das Dokument herangehen. Der klassische Philologe Eduard Norden läßt seinen Ausblick auf die lateinische Literatur des Mittelalters und der Renaissance in den Schluß ausklingen, den Männern der „Eleganz" und „Eloquenz", womit er die Humanisten meint, habe der geschichtliche Sinn ganz und gar gefehlt 3 . Wie problematisch solche Maximen sind, möchte ich zunächst an unserem Thema illustrieren. Der Glanz, den die italischen Humanisten über die Welt der Antike verbreiteten, ein Bemühen, das ihnen als eine patriotische Pflicht erschien, wurde in den Händen von Zeitgenossen im Handumdrehen zu einem Instrument selbstsüchtiger Absichten in der Tagespolitik der Feudalklasse. Ein Elixier zur Umwertung aller Werte war gefunden, so meinten die einen in heller Begeisterung, so meinten die andern in pfiffiger Berechnung. Konrad Burdach hat in einem großgeplanten Sammelwerk „Vom Mittelalter zur Reformation" die Kanäle aufzudecken unternommen, durch welche die humanistischen Errungenschaften berauschend aus dem Süden nach dem Norden strömten. Im 7. Bande des weitschichtigen Unternehmens, das meiner Überzeugung nach nur den einen wesentlichen Fehler hat, daß es ein Torso geblieben ist, hat Paul Piur, der dem verbrecherischen Krieg zum Opfer gefallen ist, in feiner Kleinarbeit ein einzigartiges Denkmal erschlossen und kojnmentiert, das erst hier so recht zur Geltung kommt. Der „Vater des Humanismus", Francesco Petrarca, erscheint hier in Begegnung mit dem Großen österreichischen Freiheitsbrief und tritt mehr als dreihundert Jahre vor Ausbildung
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literatur erfreut sich größerer Beliebtheit. Das verstreute Quellenmaterial ist dementsprechend verschiedenartig behandelt. Auch an vergleichendem Anschauungsmaterial mangelt es: das neueste Werk: Hans Foerster, Urkundenlehre in Abbildungen, 3. Auflage Bern 1951, bringt kein charakteristisches Stück. (Ich biete hier Zufallsfunde.) Jean Mabillon, De re diplomatica libri VI, Paris 1681. Die Schrift von Hermann Conring, Censura diplomatis quod Ludovico imperatori fert acceptum coenobium Lindaviense, Helmstädt 1672, darf dabei nicht unberücksichtigt bleiben. Die Formel erschöpfte sich in der Feststellung etwa des Tatbestandes scripta authentica, non rupta, non abolita nec in aliqua parte vitiata. Es mag genügen, wenn ich hier ganz allgemein auf Harry Bresslau, Handbuch der Urkundenlehre für Deutschland und Italien I/II, Leipzig 1912—1931, und auf die Ausführungen von V. Vojtisek hinweise. Eduard Norden, Die römische Literatur, Leipzig 1952, 139.
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der Diplomatik als Urkundenexperte auf. Rudolf IV. von Österreich macht mit diesem Dokument dem Reiche gegenüber fast volle Souveränität geltend, und der deutsche Kaiser Karl IV., sein Schwiegervater, unterbreitet dem berühmten Humanisten, dem er um seiner literarum sciencia willen im Jahre 1357 die Würde eines kaiserlichen Pfalzgrafen verliehen hatte, den Wortlaut des Schriftstückes zur Begutachtung. Karl hat den politischen Prätentionen gegenüber schon seine feste Position bezogen, er möchte nur die wissenschaftliche Meinung Petrarcas hören. Der italische Gelehrte erledigte prompt die Anfrage und damit auch das in der Historiographie als Privilegium maius bezeichnete Dokument. Die temperamentvolle Antwort vom Jahre 1361 gibt zugleich eine ergötzliche Probe seiner humanistischen Schlagfertigkeit. Das produzierte Stück stamme bestimmt von keinem studierten Magister, sondern von einem unausgebildeten Schulbuben, der gern lügen möchte, aber die Kunst des Lügens nicht beherrscht. Was die Entrüstung Petrarcas in solchem Maße erregt hatte, war gleich die Intitulatio in den beiden Inserten, die dem Privileg besonderen Nachdruck verleihen sollten: ein Brief von Julius Caesar und ein Brief von Claudius Nero: Nos Julius Imperator, nos cesar et cultor deorum, nos swpremus terre Imperialis Augustus, nos sustentator orbis universi, Plage orientalis terre suisque incolis Romanam veniam et nostram pacem . . . Datum Rome, capitali mundi, die Veneria, regni nostri anno primo et exaccionis auri anno primo. — Desgleichen: Nos Nero, amicus deorum et fidei eorum propalator, preceptor potestatis Romani (!). Hier weist Petrarca mit Recht darauf hin, Caesar habe sich nie mit dem Plural bezeichnet: Hoc ille bos ignorabat. Quod si scisset, cautius mugisset. Die Bezeichnung „Augustus" habe erst von seinem Nachfolger den Ursprung genommen, das wisse jeder Schuljunge: preter hunc asellum importunissime nunc rudentem. Dann werde von einem auunculus Caesaris gesprochen, von dem aus keiner Quelle etwas bekannt sei. Zu guter Letzt sei orientalis plaga mit Bezug auf Österreich, von Rom aus gesehen, ganz abwegig, da wäre höchstens arthoa zutreffend. Im Datum sei weder der Monatstag noch ein Konsulname eingetragen, was sich bei einem Chronologen sehr seltsam ausnehme. Auch der Ausdruck regni sei bedenklich, da sich Caesar selbst niemals rex genannt habe, wiewohl man ihm vorgeworfen habe, daß er nach der Krone strebe (man erinnert sich unwillkürlich an die Szene in Shakespeares „Julius Cäsar"). Grotesk empfindet es Petrarca, daß sich der Götterverächter Nero Götterfreund nenne. Zusammenfassend schließt der Humanist sein Gutachten mit dem Satze: Tibi vero ridendum, Cesar, et gaudendum est, quod rebelies tui plura cupiant quam possint, atque imperium tuurn detractare seque mendacio in libertatem asserere velint potius quam sciant. Damit hat Petrarca bestimmt den Beifall des Kaisers gefunden. Auch wir können ihm unseren Beifall nicht versagen, wie er von der Sache her, in philologischer Kritik, die aus tiefer Realienkenntnis erwächst, denVersuch eines Humanistenlehrlings entlarvt, der seinem Landesherrn zur Verwirklichung hochfahrender Hausmachtpläne Hilfe leisten wollte. Petrarca hat Prüfung und Be-
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urteilung allerdings bloß auf Grund innerer Merkmale vorgenommen und sich auf die Protokolle beschränkt. Er hat die Mängel richtig erkannt und in überlegener Weise seine Schlüsse gezogen. Die Verstöße gegen die Norm waren in der Tat so ungeheuerlich, daß auch die diplomatische Forschung, die sich mit ihrer immer subtileren Methode in der Folgezeit mit dem Großen Freiheitsbriefe beschäftigt hat, zu keinem anderen Ergebnis gelangt ist 1 . Die Unbefangenheit und der Freimut, der im Gutachten zutage tritt, hätte in einem Briefe herkömmlicher Art mit seiner Ihr-Form schwerlich können angewandt werden. In der Prager Hofkanzlei wird neben dem Kaiser auch der Hofkanzler Johannes von Neumarkt bewundernd gelacht haben. Denn Petrarcas Briefe — die man sonst nicht den Urkunden im engern Sinne zurechnet — waren unerreichte Muster, und den Weg zu klassischer Natürlichkeit hatte man in Prag noch ebensowenig gefunden wie an der Donau, nur hatte man an der Moldau einen Manierismus höheren Niveaus gewonnen. Über die Anrede mit „Ihr" des Hofkanzlers hat sich Petrarca wiederholt geärgert und den Mangel an Selbstbewußtsein getadelt. Was konnten denn die „Barbaren" in der „Bärenregion" letzten Endes zustandebringen! Selbst über den Kaiser fühlte sich der Humanist hoch erhaben. Sogar eine Dichterkrönung von der Hand des Barbaren empfand er und seinesgleichen als eine den italischen Musen angetane Schmach. Die humanistisch gewandelten Diktatoren genossen aber vorerst ihr freieres Stilgefühl in buntem Ballspiel mit Briefen im engeren Sinne 2 , und die Urkundenform in ihren höchsten Bereichen blieb davon ziemlich unberührt, mochten diese Könner an den Höfen auch gesucht sein. Wer sich einmal mit diesen Erscheinungen monographisch befassen wird, wird wohl nur bestätigen können, daß man in der inneren Form der Urkunde nur zaghaft Fortschritte machte, wie sich in der äußeren Form das Leinenlumpenpapier gegen das Pergament und die humanistischen Kursive gegen die Bastarda nur allmählich durchsetzte. Es ist nur ein recht langsamer Übergang festzustellen, so daß man nicht ohne Zeitraffer auskommt, wenn man es deutlich machen will. Doch dem großen Wurf Petrarcas kann sich der zweite eines Italers — 80 Jahre später — keineswegs an die Seite stellen. Mittlerweile wurden über die Umschlagplätze Konstanz und Basel Denkmäler des klassischen Erbes aus barbarischem Depositar gewonnen. Nicolaus Cusanus hat den Vorsprung: er hat zuerst auf die Unechtheit der Donatio Constantini hingewiesen, und die Schrift von Lorenzo Valla v o m Jahre 1440: De falso credita et ementita 1
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Daß dieser österreichische Freiheitsbrief noch immer im Lichtkegel des wissenschaftlichen Interesses steht, beweist die Schrift von Alphons Lhotsky, Privilegium maius. Geschichte einer Urkunde, Wien 1957. Das damit zusammenhängende Privilegium minus ist neuerdings von Theodor Mayer, in: Festgabe zum 60jährigen Bestand des Oberösterreichischen Landesarchivs, Graz-Köln 1957 [ferner von Heinrich Fichtenau, Von der Mark zum Herzogtum, München 1958], behandelt worden. Beispiele in der genannten Sammlung: Vom Mittelalter zur Reformation. Forschungen zur Geschichte der Deutschen Bildung im Auftrage der Königl. Preuß. Akad. der Wiss. hrsg. von K. Burdach, 1 - 1 1 , Berlin 1893-1939.
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matio1 ist mehr ein rhetorisches als ein philologisches Prunkstück: Sed iarn tempus est, ne longior fiam, causae adversariorum iam concisae atque laceratae letale vulnus imprimere et uno eam iugulare ictu . . . — lila loquendi barbaries nonne testatur non saeculo Gonstantini, sed posteriori cantilenam hanc esse confictaml . . . Nunc barbari homines vulgo loquuntur et scribunt: iussi, quod deberes venire ... Um den Zufallstreffer wirklich zu begründen, war noch viel Studium nötig. Inzwischen aber hatte bereits im Jahre 1400 die italische Sonne mit mehreren gebrochenen Strahlen in Böhmen im Herzen eines Notars und Schulmannes die Begeisterung geweckt, für seinen Wirkungskreis in bescheidenen Grenzen ein Gleiches zu tun wie die Welschen zur Zeit des Friihhumanismus. Der „Ackermann" des Johannes von Sitbor-Tepla-Saaz verdankt die Meisterschaft der deutschen Sprache der lateinischen humanistischen Schule. Sein augenfälligstes Bekenntnis zum Humanismus jedoch bleibt sein Dedikationsbild im Egerer St.Hieronymus-Offizium und die eingefügte Prosalegende, die es ablehnt, jemanden wegen seines Cicero-Studiums züchtigen zu lassen 2 . Um die gleiche Zeit glauben wir ein erstes Grüßen des Humanismus in einer Königsurkunde zu verspüren. In dem Gründungsdiplom des Wenzelskollegs für die Prager Karls-Universität vom Jahre 1399 3 standen wir der Stelle in der Arenga ziemlich hilflos gegenüber, wo es heißt: Is enim in virum alterum scientia operante convertitur, dum ab eo innata ruditas depellitur et deinceps commisceri stolidis et idiotis aspernatur. Dieser aristokratische Abstand von dem unstudierten werktätigen Volk wurde in der humanistischen Erziehung betont 4 , der Gedanke könnte also wohl von einem Diktator hinzugesetzt worden sein, der mit dieser damals „modernen" Strömung vertraut geworden war und der nun mit neuer Losung werben wollte; auf Wenzel IV. scheint sie nicht zurückzugehen. Wenn dagegen zehn Jahre später in der päpstlichen Gründungsbulle für die Prager Tochteruniversität Leipzig im Sinne der Antragsteller, des Markgrafen Friedrich des Streitbaren und seines Bruders Wilhelm, im topischen Stadtlob als neu bemerkenswert hervorgehoben wird: cuius opidani atque incole sunt 1
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L. Valla, De falso credita et ementita Constantini donatione declamatio, hrsg. v. Walther Schwahn, Leipzig 1928; Ulrich von Hutten hat sie 1520 in deutscher Übersetzung herausgegeben. Ausgaben nach dem letzten Kriege: K. Spalding, Oxford 1950; M. O. C. Walshe, London 1951; L. L. Hammerich u. G. Jungbluth, Kopenhagen 1951, nur Textausgabe von denselben Heidelberg 1951; Willy Krogmann, Wiesbaden 1954. Eine 'urkundliche' Intitulatio in Kapitel XVI: „Wir Tod, herre und gewaltiger auf erden, in der luft und meres strame." — Ergänzung zur Literatur: Anton Blaschka, Der Topos scribendo solari, Wissenschaftliche Zeitschrift der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg 5, 1956, 637 ff. MonumentahistóricauniversitatisCarolo-FerdinandeaePragensisII 1,Prag 1834,Nr.XLVI, 374ff.; Anton Blaschka, Vom Sinn der Prager Hohen Schule, in: Studien zur Geschichte der Karls-Univers. zu Prag, hrsg. v. Rudolf Schreiber, Freilassing-Salzburg 1954, 69. Vgl. Giuseppe Toffanin, Geschichte des Humanismus, übersetzt von Lili Sertorius, Pantheon 1941, Abschn.: Die Pädagogik des Humanismus.
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homines civiles et in moribus bene dispositi1, so dürfte man nicht mit Unrecht vermuten, es sei die Quittung an die Stadt für ein geschenktes Kolleghaus, wenn nicht bekannt wäre, daß das aufkommende Bürgertum im Humanismus seine Ideologie erblickte und daß gerade an der von der Stadt getragenen älteren Universität Erfurt der Humanismus besondere Pflege fand, wenngleich in ihren Gründungsprivilegien der Bürgerschaft nicht gedacht worden war; wir werden daher die Leipziger Erweiterung der Laudatio urbis humanistischen Einflüssen zuschreiben. Um die Mitte des Jahrhunderts, 1442, verschmäht es ein Italer von Rang nicht mehr, von einem Barbaren zum Dichter gekrönt zu werden: am 27. Juli wird ein ehemaliger Teilnehmer des Basler Konzils, Eneas Silvius de Picolominibus Senensis, von dem deutschen König Friedrich IV. in dieser Weise begnadet. Das Diplom 2 weist in seiner Arenga unverkennbar humanistische Züge auf: Vetustissime preteritique evi tradunt historie poetarum egregiorum copiarti multis gloriose ac diuturne memorie causam fuisse, pro quo preter gloriam presentís temporis pariter et futuri, quam sibi et aliis afferebant, pro premio quodam et studiorum proprio ornamento coronam lauream merebantur. Tanto enim honore dignos illos res publica censuit, ut unum atque idem lauree decus assignandum censeret cesaribus et poetis. Ita quoque predecessores nostros divos Romanos imperatores legimus poetas habuisse carissimos, ut multi ipsorum, potissime ille divus Julius Cesar primus multas conscribens epístolas et hystorias et excellentissimus fundator imperii Octavianus Augustus, pro singulari laude et immortali sui nominis fama poete esse voluerint. Nos vero cupientes ipsorum antecessorum nostrorum gloriosa imitar i vestigia, qui poetas egregios in morem triumphantium, ut accepimus, solebant in Capitolio coronare, animadvertentes etiam, quod in disuetudinem iam abiit illa ipsa solemnitas, convertimus aciem mentis nostre in poetam eximium et preclarum E. S. de P. S. ex revolutione frequenti voluminum veterum et indagine propria, agentes gratiam deo omnipotenti, quod tempore nostro ingenia antiquis similia nostre non denegentur etati . . . magistrum poetam et historicum eximium declarantes . . . dantes eidem Enee legendi disputandi interpretandi et componendi poemata liberam ubique locorum tenore presentium facultatem. Hier perlt neuer Wein in altem Rubin. Der Empfänger unterhält von seinem Wirkungsort Wien aus auch weite persönliche Beziehungen zu Persönlichkeiten des damaligen Deutschland, nach Ungarn und nach Polen, ohne die Bindung zu seiner Heimat aufzugeben. Er kehrt im Gegenteil triumphierend dahin zurück, zuletzt als Pontifex maximus, der dann als Pius II. das Werk des Eneas auf weite Strecken desavouiert. Er hatte sich der Kanzleitradition immer stärker entzogen, und die im Norden beliebte Schreibweise war ihm ein Greuel geworden. Es ist ein Brief erhalten, den er an den Sekretär der polnischen Königin Sophie schrieb und in dem er die Lauge seines Spottes über 1 2
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Bruno Stübel, Urkundenbuch der Universität Leipzig von 1409 bis 1555, Leipzig 1879 — Codex diplomaticus Saxoniae regiae II 11. Josef Chmel, Regesta Friderici III. (r. IV.), Wien 1859, Nr. 17. Renaissance, Band I
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dessen Stil ausgoß. Er scheut dabei nicht vor persönlicher Verunglimpfung zurück, obwohl er nach dem Heilandswort (Matth. 18, 15) handeln will. Die Königin Sophia = Weisheit hätte sich einen gescheiteren Kanzler aussuchen sollen 1 . Er eigne sich dazu wie ein Schwein zum Reiten. Er möge Doctor iuris, Lizentiat oder absolvierter Artist sein: Briefe schreiben könne man nur Ciceronis et Quintiliani doctrinis, und das zu tun sei Aufgabe eines Kanzlers! Man sieht, wieder einmal werden die auctores gegen die artes ins Feld geführt. U n d anschließend wird in einem hochpolitischen Brief das zopfige Machwerk nach allen Regeln der Kritik in der Luft zerrissen. U n d wieder auf polnischem Boden war es, daß Silvios „Briefe" von fremder Hand eine Zensur viel radikalerer Art erfuhren, als er sie selbst geübt hatte 2 . Aber die Tatsache, daß seine Schöpfungen hier abgeschrieben werden konnten, ist ein augenscheinlicher Beweis für das Vordringen humanistischen Gedankengutes nach dem Norden. Für die Begegnung einer deutschen Stadt mit dem Humanismus zeuge ein Diplom aus dem Stadtarchiv Halle v o m 19. September 1455 3 , das ich Ihnen hier als Gastgeschenk in neuer Rezension 4 vorlegen möchte. Der Pfalzgraf Johannes Dapifer de Beyerrod erteilt dem Bürgermeister und Rat imperialis ciuitatis Hallensis die Comitiva minor mit der Befugnis, 50 Notare ernennen zu dürfen. Dieser Urkunde ist wie üblich das kaiserliche Privileg inseriert, kraft dessen Beyerrod von dem genannten Friedrich (als Kaiser dem III.) dd. Lateran Judica 1452 die Comitiva maior erhalten hatte. So bietet dieses Doppeldiplom zugleich 1
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Rudolf Wolkan, Der Briefwechsel des Eneas Silvius Piccolomini I I : Privatbriefe, Wien 1909, 508ff., Nr. 175 (Fontes rerum Austriacarum, Zweite Abteilung: Diplomata et acta LXI). Bin Spiel mit Personennamen auch Abwesender ist bedenklich; die Fortsetzung mutet geradezu boshaft an: cum fuit ipsa junior, pulcras vestes et aureas ex longinquis peregrinisque terris sibi aßerri jussit. vestis solum in patria videtur nec vestitus fama pairiam egreditur. littere in alienis provinciis inspiciuntur, multas rnanus incidunt, multa judicia ferunt. si sunt elegantes laudantur et mittentes et auctores; si sunt insulse, magnum dedecus est ambobus. Aus dem Zusammenhang geht aber auch deutlich hervor, daß es sich hier bei dem Worte littere nicht um Urkunden im engeren diplomatischen Sinne, sondern einfach um „Briefe" handelt. Die Auffassung von Josef Macek in seiner sonst sehr instruktiven Arbeit aus der Schule von Vaclav Vojtisek unter dem Titel: O listinach, listech a kanceläri Viadislava Jagellonskeho, in: Sbornik archivnich praci ustredniho archivu ministerstva vnitra, roc. II., Prag 1952, 56, wo von listiny die Rede ist, beruht offenkundig auf einer terminologischen Überforderung des Ausdruckes liüerae. Enea Silvio denkt dabei an keine Objekte, „deren zierliche Ausstattung auch von der Wohlhabenheit des begnadeten Empfängers abhing"; gewiß habe mancher Schreiber den Appell des Silvio immer in Erinnerung gehabt, in der Praxis jedoch könne man selten wirklich schön ausgestatteten Urkunden begegnen. Das letztere nehmen wir für die von ihm behandelte Zeitspanne vor 1490 zur Kenntnis. Anton Blaschka, Zensurierte Briefe Papst Pius II, Wissenschaftliche Zeitschrift der MartinLuther-Universität Halle-Wittenberg 7, 1957, 913f. Urk.-Nr. 227. Herrn Dr. Piechocki danke ich verbindlichst für die Einsichtnahme und die Vermittlung einer Reproduktion durch den Photographen Herrn Walter Danz. Älterer Druck bei Johann Christoph von Dreyhaupt, Pagus Neletici et Nudzici oder Ausführliche diplomatisch-historische Beschreibung des Saal-Creyses II, Halle 1755, Nr. 415.
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eine Probe einer öffentlichen und einer Privaturkunde aus der Jahrhundertmitte. In dem inserierten Kaiserdiplom folgt der Intitulatio, Inscriptio und Grußformel unmittelbar die Narratio. Hier wird in unverkennbar humanistischer Diktion die Dienstbeflissenheit und Treue Beyerrods anerkannt, um derentwillen ihm die Begnadung zuteil geworden: non immerito, ex quo Alpes transcendendo sacrarn urbem Dromonis postergata segnicie Atlantis anhelitu nostra cum majestate sicut fidelis seruus adire non erubuisti. Das Monogramm Friedrichs mit dem berühmten Vokalpentagramm A • E • I • 0 • V ist inmitten des Diploms abkopiert. Das umschließende Notariatsdiplom für Halle hat im Gegensatz zum Insert eine Arenga. Altes Diktatorenerbe als Kern derselben ist humanistisch umgeprägt und bereichert: Ex quo orbikularis mundi machina non per Phebi lustripotentis radios in omnibus climatum angulis potest irradiari, verum eciam clarissimis minorum luminum scintillacionibus Eoum Indicosque Kersonesos necnon Alpes Thauricos fulciri, quoniam prime lucis integritas1 minorati luminis detrimenta non patitur, ymmo ampliori scintillantis jubaris exspectato decore profunditur, dum in circuitu sedis auguste spectabilium comitum numerus ac commissariorum ad imperii sacri decorem feliciter adaugetur. Heinrich Fichtenau hat den Ursprung dieser Herrschafts-Arenga mit dem Sonnengleichnis, das hier durch das Sternengleichnis erweitert ist, aufgezeigt und ihre Verwendung bis in das 18. Jahrhundert in Adelsdiplomen nachgewiesen. Da aber mangels Vorarbeiten seine Dokumentation für die Renaissance-Humanismus-Periode leer ausfällt, sei hier ergänzend die Arenga-Narratio des Lüneburger Universitätsdiploms hergesetzt 2 , welches, vom 8. August 1471 datiert, ebenfalls aus der Kanzlei Friedrichs I I I . stammt, das Sonnengleichnis vollständig enthält, an Bürgermeister und Bürgerschaft adressiert ist und auf besonders augenfällige Weise älteste Tradition dem modernsten Lebensgefühl dienstbar macht. Die analogen Stellen sind angezeichnet. Sceptrigera cesaree dignitatis sublimitas sicut inferioribus potestatibus officii et dignitatis elacione prefertur, ut commissos sibi fideles optate consolationis presidio gubernet, quod thronus augustalis tanto solidetur felicius et uberiori prosperitate proficiat, quanto indesinentius sue virtutis donaria largiori benignitatis munere fuderit in subiectos. Sicut a choruscante splendore imperialis solii benignitates et munificentie alie velut a sole radii prodeuntes ita fidelium status et conditiones illustrant, // quod primeve lucis integritas minorati luminis detrimenta non patitur, 1
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Dieses Wort, das im Original beim Übergang von einer Zeile zur andern ausgefallen ist, ist einwandfrei zu ergänzen aus alten Formeln, seitdem wir die Handhabe dazu im Buch von Heinrich Fichtenau, Arenga. Spätantike und Mittelalter im Spiegel von Urkundenformeln, Graz-Köln 1957, besitzen. In Betracht kommen Arengen Nr. 33 S. 37 = MGH Constitutiones I I Nr. 261 S. 359: Privilegienentwurf Friedrichs II. v. J. 1245 für Herzog Friedrich II. von Österreich (statt revelatur ist zu lesen: relevatur) und S. 171 Anm. 13: Pfalzgrafenernennung aus der Kanzlei Karls IV. v. J. 1368. Ebenso ergibt sich die Richtigkeit der Ergänzung aus einer späteren Universitätsarenga für Lüneburg. Max Meyhöfer, Die kaiserlichen Stiftungsprivilegien der Universitäten, Archiv für Urkundenforschung IV (1912), S. 414.
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ymo amplioris undique rutilantis iubaris expectato decore profunditur, dum, in circuitu 11 throni augustalis egregiarum personarum et clarorum virorum numerus // ad imperii sacri decorem feliciter adaugetur. // Anschließend die Narratio: Sane dum odorem fame laudabilis de vobis nostra percepit serenitas progenitores vestros et vos deditos Semper fuisse et esse ad acquirendum scientiarum margaritam, quibus verum a falso et equum ab iniquo discernitur ac mortales diis pares redduntur . . . Hört man hier nicht das verführende Wort der Schlange zu Eva aus Gen. 5,3: Eritis sicut dii scientes bonum et maluml — Also eine humanistische Wendung ohne antikes Requisitar! Ein in seiner Dokumentation umgewertetes Bibelwort! Doch kehren wir wieder zu dem Halleschen Notariatsdiplom zurück, dessen Ex-quo-Arenga wir aus humanistischer Sicht analysiert, wobei wir gleich eine reiche Ausbeute erzielt haben, wenngleich sie noch nicht ganz gehoben ist, da sich die Geographen noch mit der genaueren Bestimmung der Zusammenhänge vergnügen könnten. Noch bemerkenswerter ist die Narratio Beyerrods, die inzwischen einmalig zu sein scheint, aber das Formelstudium mag auch dafür noch Vergleichsmaterial zutage fördern. Das Gefüge ist seltsam genug: Nuper . . . fuimus personaliter constitutus in ciuitate imperiali Hallensi ... et testamur dominatorem Olimpi, quod tantam policiam conspeximus, acsi in urbe Priami aut in urbe Romuli vel ipsius validissimi Themistoclis urbe necnon ipsius preclarissimi Hannibalis Karthagine rem agere autumaremus. Sed nulli mirum, si de hac Hallensi urbe excellenciora cirographice exarentur Mis, quia non tantum in politicis equipollet directionibus aut Junonis vel ipsius summi Jovis holocaustis, sed ipsius verbigene Christique vere sophie illibate denique triunibaiule1 ab inicio et ante sécula create diuinissime arche excellentissime patrone intemerate dei genitricis Marie cerimonijs cunctisque aliis diuinis culturis veteres monarchias excellit, tantam enim obedienciam suorum principum et patrum tantamque obseruanciam sabbatorum hec Hallensis urbs gerit et peragit, quod quasi aurora et nouum sidus inter alias urbes preclaras rutilat et fulgescit. Den Ausdruck imperialis mit Bezug auf Halle darf man wohl nicht überfordern; im Reiche liegt es immerhin, und das kann es eben auch heißen. Ebensowenig ist aus der Stufenfolge Troja, Rom, Athen, Karthago irgendein Schluß zu ziehen, noch aus der Fürwahl der Persönlichkeiten. Der folgende Satz hängt aber damit zusammen: Wie die öffentliche Verwaltung in Halle besser ist als an den genannten klassischen Stätten, so ist es nur natürlich, daß die Stadt Halle in Handschriften höher gepriesen wird, denn die Ehe ist hier heilig, das Recht wird gewahrt, und der Liebfrauenkult steht im Gottesdienst voran (das Wahrzeichen ist ja die einprägsame Marienkirche), man folgt den Fürsten und 1
Dieses Wort, bei Dreyhaupt I.e. in der Form triumbauile gedruckt, kann nichts anderes bedeuten als „Trägerin des Dreieinigen". Wir haben kein Wörterbuch der humanistischen Latinität, so läßt sich also sein Vorkommen nicht mit den üblichen Hilfsmitteln nachweisen. Die wissenschaftliche Forschung wird auch einmal zu einem solchen Lexikon gelangen müssen, das auch ein Onomasticon dieser Zeit enthalten muß — Personen- und Ortsnamen.
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den Vätern (in der Stadt und in der Familie) und feiert die (selbstverständlich: christlichen) Feste, so daß die Stadt gleichsam als die Morgenröte und ein neues Gestirn unter den anderen berühmten Städten leuchtet und glänzt. Doch Beyerrod fährt fort: Cum talia multa regimina virtutum et morum decorata ciuilia saluberrimaque gesta animo volueremus, quid facere et quibus honoribus tarn insignem urbern non sale neutrino solum sed sapiencie redundantem venerare possemus, onus Ethna grauius videbatur nobis assummere, sed lege diuina et humana jubente, racione suadente, equitate salutari exposcente, ex quo inter omnes principatus tocius orbis terrarum Romanum imperium tenet summum apicem, animatus quia imperator lex animata, et Hallensis ciuitas imperialibus priuilegiis, legibus et libertatibus ornata omne tale addito suo tali facit magis tale, igitur graciam et libertatem . . . ipsis dominis prothoconsulibus et consulibus prelibatis ciuitatis imperialis Hallensis impartire decreuimus . . . Humanistisch gesehen fügt sich der Überschwang dieses Stadtlobes durchaus natürlich in die Entwicklungsreihe ein: Auf mittelalterlichen Stamm sind antike und christliche Motive aufgepfropft, so daß dem Gebilde ein vielfarbiger Strauß entblüht. Mich erinnert das zierliche Kunstprodukt an die Architektur im Übergang von der Gotik zum Renaissancestil, wie ich sie im Wladislawsaal des Prager Schlosses bewundern konnte. Auf dem Gebiete der urkundlichen Kunstprosa der Wladislawschen Zeit vor 1490 sind in den Diplomen der böhmischen Hofkanzlei keinerlei humanistische Züge bemerkt worden. Die Forschungen von Josef Macek 1 , auf die ich mich hierbei stütze, reichen nicht weiter. Aber mit der Übersiedlung der Böhmischen Kanzlei nach Ungarn ändert sich das Bild. Hier sind die humanistischen Einflüsse viel rascher wirksam geworden 2 . Zum Lobe einer Stadt ihr Produkt zu nennen, ist gang und gäbe. Der Kunstgriff besteht hier nur darin, wie das materielle Gut mit dem geistigen durch eine V«riatio der Abundanzkonstruktion (bei der Grundbedeutung mit dem Ablativ, in übertragener Bedeutung mit dem Genitiv) verbunden wird und dadurch das indirekte Lob der Halloren und ihrer Repräsentanz zu erlesenem Glänze gebracht wird. Denn im Grunde ist der geläufige Titel der „Wohlweisen" aus der adjektivischen Kategorie des Epitheton ornans in die dynamischere des Verbalbezuges gehoben und reformiert. Nach der religiösen Reformation aber ist bekanntlich das „veritable Hallische Salz" ein ständiger Ruhmestitel. Im Bereiche des Rechts erfährt jede kaiserliche Begnadung durch die Tätigkeit der hallischen Bürgerschaft eine Veredlung, wodurch sie sich neuerer Begnadungen würdig macht. 1 2
Josef Macek a. a. O. 65. Eine ausgezeichnete Übersicht über die neueren ungarischen bzw. magyarischen Renaissanceforschungen bietet Andrew (Andräs) Angyal, Recent Hungarian Renaissance Scholarship, Medievalia et Humanistica 8, 1954, 71—94. Doch weder dort noch bei Fritz Schalk, Zur Interpretation des Humanismus und der Renaissance, Wissenschaftliche Annalen 6,1957,93—100, findet sich eine auf unser spezielles Gebiet bezügliche Arbeit erwähnt.
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Wladislaus, König von Ungarn und Böhmen, ließ dd. Buda am 20. Juli 1505 verkünden 1 : Ad perpetuarti rei memoriam notum facimus tenore presentitivi universis, quod quurn nichil praestabilius in rebus humanis reperiatur nihilque divinius quam animum egregiis virtutibus philosophieque potissimum studiis (morum directrix est et magistra) excolere, propter quam summi olim viri peregrinai regiones adire relictisque propriis penatibus domesticisque deliciis sese variis et terra et mari periculis exponere non dubitavere — hinc enim Platonem legimus relictis Athenis universam et Greciam et Italiam et Siciliam peragrasse postremoque etiam et Pharon penetrasse, ut Egyptia mysteria sacerdotumque illic existentium sacra perdisceret, hinc innumerabiles alios ex barbaris etiam nationibus extremaque Scythia bonarum litterarum gratia processisse magnumque humano generi fructum egregiis ipsorum inventis peperisse oc homines, qui pecuino quodam ritu vivebant, in hanc quam modo videmus vivendi formam reduxisse —, cupientes ergo et nos, qui divino munere tot regnis prefecti sumus totque gentium ac nationum trabeas ac sceptra suscepimus, subditos nobis homines prestanti hoc litterarum munere excellere, quoque administrandis rebuspublicis consilioque ac ingenio moderandis aptiores accomodatioresque essent, his rede vivendi normam quandam proponere, constituimus in animo nostro pro felici orthodoxe Christiane religionis nostre incremento, pro gloria et exaltatione regni ac corone nostre Boemie proque nostra ac divorum progenitorum nostrorum salute, vestigiis divi Caroli cesaris ac Boemie regis insistere volentes, generale litterarum gymnasium erigere, . . . idque in civitate nostra Vratislaviensi, que universe Slesie est metropolis miraque loci felicitate edificiorumque ac insignium structurarum prestantia civiumque insuper humanitate cunctas facile Oermanie urbes exsuperat... Um den lateinischen quod-Satz, der syntaktisch denkbar unhumanistisch ist, nicht übermäßig anschwellen zu lassen, haben wir die Stelle mit einem neuerlichen Relativsatz ausgelassen, wo die Fächer aufgezählt werden, die gelehrt werden sollen : Theologie, päpstliches und kaiserliches Recht, Philosophie, Medizin, Grammatik, Dialektik, Rhetorik, Poetik, Arithmetik, Geometrie, Musik und Astronomie. Wir sehen also, daß die Siebenzahl der Artes um die Poetik vermehrt worden ist, daß also die Forderung nach der Auctoreslesung durchgedrungen ist. Die Ausdrücke generale Studium, das der älteren Schicht angehört, und universitas, das in der jüngeren Schicht aufkam, die beide im Wittenberger Diplom Maximilians dem neuen humanistischen Wort gymnasium vorangehen, sind aufgegeben, und die letztere Bezeichnung ist als generale litterarum gymnasium zu Ehren gebracht — Konrad Celtis gebraucht für Wien die Neubildung archigymnasium. Dieser Purismus ist das Ergebnis vertieften Studiums der antiken Autoren, welche auch die Gestalten und Begriffe zu leibhaftigem Gebrauche leihen. Bald werden sie auch in den Statuten Wittenbergs — der Leucorea — und mit den christlichen Gestalten eine hybride Ehe eingehen: Katharina, Ivo, Cosmas und Damian, Augustinus werden zu di tutelares, der dominator Olimpi tritt für den 1
Georg Kaufmann, Die Geschichte der deutschen Universitäten II, Stuttgart 1896, 565ff.
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christlichen Gott ein. Ohne aber den damaligen Bewohnern von Breslau unrecht zu tun, darf man doch wohl das Bürgerlob im Stadtlob schon als einen eingebürgerten Topos nehmen, als ein der Universitätsstadt nach humanistischer Auffassung ohne weiteres gebührendes Epitheton ornans. Das Gesetz des lateinischen Satzgefüges hat sich der humanistische Diktator auf seine Art ausgelegt und die einzelnen Urkundenformeln, soweit man hier sehen kann, Perpetuitätsklausel, Promulgatio, Arenga, Narratio, Deliberatio, Dispositio, in ein einziges Satzgebilde zusammengezwungen. Demgemäß ist die tragende Cursus-Form der letzten mittelalterlichen Entwicklung, der Velox, völlig zurückgetreten wie bei dem Maximilianschen Privileg für Wittenberg, und man hört den Tardus, Trispondiacus, Planus und andere Nebenformen. In der lateinischen Sprache ist daher die Analyse durch die Sprechpausen an diesen Satzstellen wesentlich leichter als später in den Volkssprachen, namentlich im Deutschen, das anderen Baugesetzen gehorcht. In der Barockperiode wurde diese Manier endgültig rezipiert und mit weiteren hybriden Unarten zu einem schier unentwirrbaren Gerank und Dickicht verhäkelt, und die kaum mehr entzifferbaren Initialen waren der stilgerechte graphische Ausdruck dieses Lebensgefühls. Doch die Renaissanceurkunde hatte in fast dreihundertjährigem Zeitraum langsam, aber stetig vorgearbeitet, so ketzerisch das klingen mag. Der Grund war, daß man das Kunststück fertiggebracht hatte, vom lauten Lesen zum Augenlesen überzugehen. Das Vehikel war die Typographie. Cum, messem neglexerim, spicas colligo — möchte ich am Schlüsse meines Diskussionsbeitrages sagen. Ich denke dabei an den ,,Ackermann"-Dichter, ich denke dabei an das Milletsche Bild der Ährenleserinnen. Aber schon die wenigen Stellen aus „öffentlichen" und „privaten" Urkunden aus einem schmalen Raum haben markante Leitmotive in der Ausdrucksweise dieser Gattung historischer Quellen ergeben. Die vielfach für statisch und non-expressiv gehaltene Urkunde hat sich durch diese Sondierung über den Rechtsinhalt hinaus auch für die Zeit von Renaissance-Humanismus als aussagekräftig erwiesen, wenn man sie nicht nach dem Was, sondern nach dem Wie befragt. Selbstverständlich wird man bei einer systematischen Durchforschung auch die Fragen nach dem Wer und Was und Wem stets im Auge behalten, wenn man die Untersuchung im Rahmen der territorialen und überterritorialen Machtbereiche anstellt und auf die verschiedenen Bedürfnisse des damaligen Lebens Rücksicht nimmt, die zur Verbriefung geführt haben. Die Ereignisse der Außen- und Innenpolitik, auf deren Hintergrund das geschieht, müssen stets gegenwärtig sein. Sind aber dann in dem Zeit- und Raumnetz Richtungen erkennbar geworden, welche die Ausbreitung gewisser Erscheinungen genommen hat, so dürfte damit ein dynamischer Vorgang bestätigt werden, wenngleich mit einer Phasenverspätung, der sich aus den Ursprungsdaten von Produktion und Reproduktion originaler und rezipierter Literatur der Renaissance-Humanismus-Periode abzeichnet. Die Wege der Wellenzüge mit ihrer gegenseitigen Überlagerung werden den Wanderungen der kulturtragenden und
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kulturschaffenden Persönlichkeiten jener Tage vielfach folgen und den Zielrichtungen ihrer Briefe; als Ausstrahlungszentren werden die Universitätsstädte in erster Linie in Betracht gezogen werden müssen. Mit analogen Forschungen auf dem Gebiete des Rechts muß ständig Fühlung gehalten werden, ebenso auf dem Gebiete der Künste. Das Verdienst des einzelnen Schöpfers von damals und Forschers von heute bleibt gewahrt, wenn auch das vollständige Bild des Kulturlebens, das sich auf der materiellen Basis seiner Zeit abspielt, die Hauptsache sein muß. Kollektive Arbeit macht künftig möglich, was vorher zum Scheitern verurteilt war, weil die Mittel und Kräfte fehlten, namentlich aber die koordinierende Organisation. Gute Ansätze hat der Krieg zerschlagen — auch hier heißt es aufbauen 1 . 1
So sind das Sammelwerk „Vom Mittelalter zur Reformation" und andere bei Schalk verzeichnete Unternehmungen eingegangen, eine auf Renaissance-Studien abzielende Gesellschaft in Prag, die den Namen des bedeutendsten böhmischen Humanisten Bohuslaus Hassensteinius a Lobkowicz tragen sollte, ist nicht zustande gekommen. Dagegen ist es hocherfreulich, daß das Handbuch zur humanistischen Bio-Bibliographie mit besonderer Berücksichtigung Böhmens (Truhlar-Hrdina, Rukovet") weiter fortgesetzt wird.
Die Entdeckung Alexanders des Großen durch die Humanisten Friedrich Pfister
Das weitaus Meiste dessen, was in der Weltliteratur über Alexander den Großen berichtet wird, beruht unmittelbar oder mittelbar auf der griechischen Überlieferung. Demgegenüber sind an Umfang weit geringer die Erfindungen, die außerhalb des griechischen Schrifttums in lateinischer Sprache oder in den nationalen Sprachen des Ostens und Westens über den Makedonenkönig erwuchsen. Die ältesten uns erhaltenen literarischen Denkmäler, in denen Alexander erwähnt wird, sind der Brief des Isokrates an Alexander vom Jahr 342/41, die Rede des Aischines gegen Ktesiphon und des Demosthenes Kranzrede, die im Herbst des Jahres 330 in Athen gehalten wurden. Dazu kommt archivalisches Material („Briefe" Alexanders und seiner Zeitgenossen, die später teilweise publiziert wurden) und als erste zusammenhängende Darstellung die unvollendete und uns nur in Fragmenten erhaltene Alexandergeschichte des Kallisthenes, der bereits im Jahre 327 starb und nur etwa 6 Jahre des asiatischen Feldzuges beschrieb, und dann die anderen Bücher von Zeitgenossen, nicht nur die von Historikern, sondern auch die Publikationen anderer Teilnehmer des Zuges wie die des Nearchos, der Bematisten, der Editoren archivalischen Materials und die Schriften von Ärzten (Androkydes), Traumdeutem (Aristandros), Technikern (Chares, Diades), Dichtern und Enkomiasten (Lamachos). Von da an schwillt die griechische Überlieferung an Umfang und Inhalt immer mehr an und dringt in fast alle Literaturgattungen, auch außerhalb der Historiographie, ein, in die geographische, naturkundliche, paradoxographische, philosophische, epistolographische, enzyklopädische Literatur. Von diesem Strom der griechischen Überlieferung, der sich durch die byzantinische Zeit bis in die Neuzeit erstreckt 1 , wurden nun drei Kanäle abgezweigt. Der eine befruchtet das Abendland: Das ist der lateinische Zweig der Überlieferung, der vom 9. Jahrhundert ab auch in den nationalen Sprachen des Westens (zuerst in der angelsächsischen Übersetzung des Orosius) von Spanien bis nach Böhmen, Ungarn und Polen betreut wird. Der zweite Zweig wächst im süd- und ostslawischen Schrifttum (Bulgarien, Serbien, Rußland, dazu, mit diesem Zweig zusammenhängend, in Rumänien) weiter, der dritte im Orient. Diese drei Ein1
Über Alexander in der byzantinischen und neugriechischen Literatur: Fr. Pfister, Alexander der Große in der byzantinischen Literatur und in neugriechischen Volksbüchern, in: Probleme der neugriechischen Literatur III, Berlin 1960, 112—130.
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flußgebiete sind auch durch die Religion und ihre gesamte Kulturentwicklung voneinander geschieden : das römisch-katholische Christentum in der lateinischen Sphäre des Westens und Mitteleuropas, das griechisch-katholische im Slawentum in der Mitte und der Islam in der orientalischen Welt. Zwischen diesen drei Gruppen der Alexanderüberlieferung gibt es (wie ja auch in der Kultvirentwicklung dieser drei Räume überhaupt) Querverbindungen. So wurden noch im Mittelalter vereinzelt griechische Texte ins Lateinische übersetzt, wie dies im 10. Jahrhundert der Archipresbyter Leo in Neapel mit der von ihm in Konstantinopel erworbenen Handschrift des Pseudo-Kallisthenes außerordentlich erfolgreich tat, oder arabische Texte wurden ins Spanische und Lateinische übertragen und so im Westen verbreitet; auch die Zeit der Kreuzzüge hat die Alexanderüberlieferung des Abendlandes durch neue Stoffe aus dem Orient bereichert. Aber auch umgekehrt wurden lateinische Alexandergeschichten in den Osten, vor allem in den slawischen Raum, übertragen. Diese westliche, zunächst in lateinischer Sprache gestaltete Traditionsmasse wurde vom 9. Jahrhundert an auch in einem Dutzend nationaler Sprachen des Westens immer wieder in Prosa und Versen neu geformt. In ihr spielt die romanhafte Überlieferung (also vor allem Julius Valerius, Leo, die Epistola und die Brahmanentraktate) eine ungleich größere Rolle als die geschichtliche Darstellung, von der ja nur der schlechteste Zweig (vor allem Curtius und Iustinus) im Abendland wirken konnte. Das ist in den westlichen Weltchroniken ebenso der Fall wie in Einzeldarstellungen, die Alexander gewidmet sind, wie auch in den großen Enzyklopädien des Mittelalters. Überall hier nimmt die romanhafte Überlieferung einen weitaus größeren Raum ein als die (oft durch Orosius vermittelte) Justinische Tradition oder gar Curtius. Gewiß gibt es Ausnahmen: westliche Darstellungen im Mittelalter, die fast ausschließlich auf den Historikern beruhen. So das große lateinische Epos des Walter von Chätillon (um 1188/89 veröffentlicht), das dann auch die Vorlage für spanische, deutsche, niederländische, isländische und tschechische Bearbeitungen wurde und das im wesentlichen auf Curtius beruht 1 , oder die sogenannte Compilation of St. Albans, die schon in der Überschrift auf ihre Quellen hinweist : Incipit Ustoria regis Macedonum Philippi filiique eins Alexandri, excerpta de libris Pompeii Trogi, Orosii, Iosephi, leronimi, Solini, Augustini, Bedae et Isidori. Diese sehr umfangreiche Geschichte, von der bisher nur ein kleiner Teil publiziert ist 2 , kann wohl mit Sicherheit dem im Jahre 1151 verstorbenen Radulphus de Sancto Albano zugeschrieben werden. Sie besteht im ganzen aus ziemlich wörtlichen Auszügen aus den genannten Quellen. 1
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H. H. Bielfeldt, Die Quellen der alttschechischen Alexandreis, Berlin 1951 (Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Veröffentlichungen des Forschungsinstituts für Slawistik I) ; Raffaele de Cesare, Glosse Latine e Antico-francesi all'Alexandreis di Gautier de Chätillon, Milano 1951 (Pubblicazioni dell'Università Cattolica del Sacro Cuore, Nuova Serie XXXIX). Fr. P. Magoun, The Gests of King Alexander of Macedon, Cambridge Mass. 1929, 245ff.
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Aber eine solche historische Darstellung, wie sie im 12. Jahrhundert auftaucht, ist selten und vor allem: Sie bindet sich sklavisch an die alten Quellen ohne selbständige Verarbeitung. So will auch im folgenden Jahrhundert durchaus als Historiker gelten Rudolf von Ems in seinem Alexander-Epos, das um 1230 verfaßt ist und auf Curtius beruht, daneben aber auch die Historia de preliis und andere Quellen beizieht. Er strebt nach möglichst breiter Quellenbenutzung und nach Wahrheit, und das Dichterische kommt dabei ganz zu kurz. Aber auch er steht erst am Übergang zur neuen Zeit. Und die völlige Wandlung in der Auffassung von der Aufgabe des Historikers und zugleich eine Abwendung von der romanhaften Überlieferung setzt im Frühhumanismus ein. Jetzt schreibt P e t r a r c a als Teil seines Werkes De viris illustribus1 eine Geschichte Alexanders, die einzige Biographie, die in diesem Rahmen einem Griechen gewidmet ist, und als Quellen zitiert er im Verlauf der Darstellung mehrere Male als seine Grundlage Curtius und Iustinus, und daneben führt er gelegentlich noch Cicero (Tusc. I I I 12,21; an derselben Stelle wird auch eine Reminiszenz an Val. Max. V I I 2 ext. 11, ohne diesen zu nennen, eingeflochten), Plinius (Hist. nat. X X X 149), Livius (IX 17 ff.), Lucanus (X44f.), Seneca (Quaest. nat. VI 23) und das 1. Makkabäerbuch (l,5f.) an. Die Darstellung beginnt mit den Kämpfen gegen Darras; alles Vorausgehende wird mit dem ersten Satz abgemacht: Alexander, der Makedone, der einen berühmten Namen unter den Königen hat und als Jüngling seinen Vater rächte, zog nach Besiegung Athens und Zerstörung Thebens und nachdem er die Verhältnisse in Griechenland geordnet hatte, nach dem Osten. Petrarcas Darstellung unterscheidet sich von der mittelalterlichen Geschichtsschreibung zunächst dadurch, daß er genaue Quellenangaben macht, aber seine Quellen nicht wörtlich ausschreibt, sondern er erzählt frei auf dieser Grundlage und zieht daneben zur Ergänzung gelegentlich noch andere Zeugnisse heran, aber die romanhafte Überlieferung läßt er ganz beiseite. Dazu gibt er eigene Reflexionen über das Überlieferte und in einer Schlußbetrachtung eine allgemeine Würdigung des Königs, indem er über seine Naturanlage und über die Fortuna und über die Jugendlichkeit spricht. Alexander, so führt er aus, war nicht der Beherrscher der Welt, wie man gesagt h a t ; Rom, Italien, Germanien und die Nachbarschaft Germaniens, Britannien, Gallien, Hispanien, Afrika hat er weder selbst betreten noch durch Gesandte besuchen lassen. Nur im Orient war er, und diesen hat er besiegt. E r beabsichtigte freilich, nach Afrika, Hispanien und Gallien zu ziehen (hier ist Curtius X 1,17 berücksichtigt), aber was bei einem Zug gegen Italien geschehen wäre, ist ungewiß; und hierbei wird auf die berühmte Stelle bei Livius I X 17if. hingewiesen. So gehört Petrarca zu den Begründern einer neuen Geschichtsschreibung, die ein anderes Verhältnis zu den Quellen hat; es gilt nicht mehr, sie sklavisch weiter 1
Ausgaben von C. E. Ch. Schneider, Francisci Petrarchae De viris illustribus, Programm Breslau 1831, und in: La letteratura Italiana 7, Mailand 1955; vgl. G. Cary, Petrarcli and Alexander the Great, Italian studies 5, 1950, 43 ff.
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zugeben, sondern sie kritisch zu betrachten und sie nach ihrem Wert zu beurteilen u n d die schlechten auszuscheiden. Der mittelalterliche Autoritätsglauben den antiken Quellen gegenüber wird verworfen, ebenso auch die Meinung, daß es darauf ankomme, sie einfach — möglichst wörtlich — weiter zu tradieren. Von nun an finden wir immer mehr Alexandergeschichten, die auf den historischen Quellen fußen und den R o m a n beiseite lassen, sogar ihn ausdrücklich verwerfen. Nennen wir noch den Portugiesen V a s c o d a L u c e n a 1 , der im Auftrag des Herzogs Karl des K ü h n e n von Burgund (1467—1477) eine Alexandergeschichte in neun Büchern in französischer Sprache schrieb ! I m Vorwort, das die W i d m u n g an K a r l den K ü h n e n enthält, begründet er sein Vorhaben: Es gäbe ja viele Darstellungen der Geschichte Alexanders in französischer Sprache in Versen und in Prosa, aber sie seien verfälscht u n d voller Lügen. Demgegenüber soll sein Buch nichts von der L u f t f a h r t Alexanders, noch von seiner F a h r t in die Meerestiefe, noch von den Sonnenbäumen, noch andere Fabeleien unwissender Menschen enthalten. Sein Werk solle vielmehr der Belehrung dienen, besonders dem Adressaten, der den Makedonenkönig sich zum Vorbild nehmen soll. So bezeichnete auch der Dichter u n d Chronist am burgundischen Hof, J e a n M o l i n e t (1435—1507), seinen Herzog K a r l als zweiten Scipio, kleinen Alexander und großen Hannibal 2 . Vasco da Lucena legte die Darstellung des Curtius zugrunde, den er in einer bereits ergänzten Fassung vor sich hatte, ähnlich der, die etwa im Cod. Vat. 1869 uns erhalten ist 3 . E r gibt aber durchaus keine bloße Übersetzung des Textes; es k o m m t ihm ja ü b e r h a u p t nicht auf Curtius, sondern auf die Geschichte Alexanders an, aus der sein Fürst und alle Leser Lehren ziehen sollen. Außer Curtius nahm er noch weitere Quellen hinzu: Iustinus, Valerius Maximus (VII 2 ext. 11 ; V I I 3 ext. 4), Gellius (IX 3), Cicero (Tusc. I 43, 104), Seneca (De benef. I I 17), Quintilian (Inst. or. I 1, 9), Josephus (Ant. J u d . X I 8), aber auch den Julius Valerius (für den Briefwechsel Alexanders mit Darius), ferner auch Plutarch, von dem bereits damals die lateinische Übersetzung des Guarino von Verona vorlag. Beim Suchen nach Quellen war dem Portugiesen bei der Eroberung von Dinant im J a h r e 1466 auch eine anonyme Alexandergeschichte in die H a n d gekommen, wie sie ähnlich auch Vinzenz von Beauvais benutzt hatte, also eine Handschrift der Epitome des Iulius Valerius ; aber, so schreibt er, er h ä t t e von ihr keinen Gebrauch machen können, da sie nach F o r m u n d I n h a l t minderwertig war u n d sie auch sehr von der guten Überlieferung abwich. Seine eigene Darstellung ist seit 1
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Bis jetzt sind nur Textproben ediert; vgl. Fr. Jacobs und F. A. Ukert, Beiträge zur älteren Litteratur I. II. III, Leipzig 1835, 1371 f., III 361; P. Meyer, Alexandre le Grand II, Paris 1886,381 ff. ; H. Aubert, Bibliothèque de l'École des Chartes 70,1909,495 ff. ; Fr. Pfister, Hermes 76, 1941, 163; R. Bossuat, Bibliothèque d'Humanisme et Renaissance 8, 1946, 197ff., wo weitere Literatur verzeichnet ist. Bossuat hat S. 210ff. das Vorwort ediert. In seiner Chronik, hrsg. von G. Doutrepont und O. Jodogne I, Bruxelles 1935, 27. Bossuat 215, 4 weist darauf hin. Über diese Handschrift vgl. A. Thomas, Revue critique 2, 1880, 75ff. ; S. Dosson, Étude sur Q. Curce, Paris 1887, 322 f.
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1500 häufig gedruckt worden, so 1503, 1530, 1534, 1540, 1555, uns aber auch in vielen, zum Teil prächtig illustrierten Handschriften erhalten. Ein paar Jahre nach dem Erstdruck des Lucena erschien (Rom 1506) das enzyklopädische Werk des R a f f a e l e M a f f e i v o n V o l t e r r a 1 (1452—1522): Commentariorum rerum Urbanarum libri 38. Hier ist auch (S. 456—459 der Ausgabe von 1603) eine Geschichte Alexanders enthalten. Zu Beginn werden innumerabiles Graeci genannt, die über den Makedonenkönig berichteten, nämlich zunächst die 14 Namen, die in dem Zitatennest bei Plut., AI. 46 (anläßlich des Amazonenabenteuers) angeführt sind, dann Menaichmos von Sikyon, Nymphis von Herakleia, Potamon von Mytilene und Soterichos Oasites, die der Humanist der Suda entnahm, deren Editio princeps ja seit 1499 vorlag. Dazu treten noch Arrian und Plutarch und Antisthenes. Letzterer ist entweder aus einer Verwechslung mit Kallisthenes entstanden, den Raffael ja aus Plutarch kennen konnte, oder es lag ihm eine Handschrift des Pseudo-Kallisthenes vor, die ähnlich wie die des Leo Allatius unter dem Namen des Antisthenes ging 2 . Dann wird noch hinzugefügt : e nostris vero Q. Curtius; im folgenden wird auch noch Iustinus gelegentlich angeführt. Der Roman wird weder erwähnt noch benutzt. Auch in dem späteren Abschnitt über Indien (S. 415—418) wird die sagenhafte Alexanderüberlieferung nicht berücksichtigt, wie es doch in der griechischen und später in der mittelalterlichen Literatur der Fall war, sondern als Quellen werden hier angegeben: Strabo, Megasthenes, Onesikritos, Aristobulos u. a. Sowohl Maffei wie Lucena sind auch als Übersetzer griechischer Texte bekannt. In dieser Zeit fand auch eine mittelalterliche Weltchronik starke Beachtung, die eine ausführliche Alexandergeschichte enthielt, und in der Umgestaltung, die gerade diese innerhalb des Werkes erfuhr, spiegelt sich deutlich die Wandlung der Geschichtsauffassung wider. Es handelt sich um die wohl bedeutendste lateinische Weltchronik des Mittelalters. Sie war von F r u t o l f , dem Mönch und Prior des Klosters Michelsberg (bei Bamberg), begonnen und von der Erschaffung der Welt bis auf seine Zeit, das J a h r 1101, geführt worden. Frutolf selbst starb im J a h r e 1103. Sein Werk wurde dann von E k k e h a r d in Michelsberg und später im Kloster Aura (bei Kissingen), dessen Abt er um 1108 wurde, zum Teil umgearbeitet und fortgesetzt. Dann h a t B u r c h a r d , Probst von Ursberg (gest. 1231), diese Chronik bis zum Jahre 1229 weitergeführt und sein Nachfolger, K o n r a d v o n L i c h t e n a u (gest. 1240), das Werk zum vorläufigen Abschluß gebracht 3 . Diese 1
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Literatur über Raffael von Volterra ist mir außer: Lexikon für Theologie und Kirche 6, 1934 s. v. Maffei nicht bekannt; viele Werke von ihm (auch Übersetzungen aus dem Griechischen) sind im Katalog des Britischen Museums aufgeführt. Seine Commentarii sind oft gedruckt, so noch Paris 1511, 1515, 1526, Basel 1559. Fr. Pfister, Würzburger Jahrbücher 1, 1946, 44. H. Bresslau, Neues Archiv für ältere deutsche Geschichtskunde 21, 1896, 197 ff.; weiteres bei K. Manitius, Geschichte der lateinischen Literatur des Mittelalters III, München 1931, 350ff.; W. Wattenbach, R. Holtzmann, Deutschlands Geschichtsquellen I, 2. Aufl. Tübin-
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sogenannte Ursberger Chronik hat dann K o n r a d P e u t i n g e r , der Humanist und Erforscher des deutschen Altertums, Augsburg 1515 im Druck herausgegeben. Eine verbesserte und bis auf Karl V. (bis zum Jahre 1534) fortgeführte Auflage hat dann der lutherische Theologe C a s p a r H e d i o (gest. 1552) veranstaltet, die in der lateinischen Fassung in Straßburg 1537, in deutscher Übersetzung 1 Straßburg 1539 (dann auch Straßburg 1543, 1549, 1609) erschien. Inzwischen aber hatte sich auch M e l a n c h t h o n mit dieser Chronik beschäftigt und die Ausgabe Hedios mit einem Vorwort versehen. I m Jahre 1540 kam seine eigene Ausgabe in Straßburg heraus. Während dieser über vierhundert]ährigen Geschichte erfuhr die Frutolfsche Chronik, von den Fortsetzungen abgesehen, auch in ihrem alten Bestand viele Veränderungen, vor allem auch in ihrer Alexandergeschichte. In der ursprünglichen Fassung steht eine ausführliche Geschichte Alexanders, die in zwei Teile zerfällt. Der erste Teil (p. 62, 13—70, 27) enthält ein Exzerpt aus dem Alexanderroman des Archipresbyters Leo ( I I — I I I 6 p. 47—107 Pf.), bis dahin, wo bei Leo der Brief des Königs an Aristoteles beginnt (p. 107, 14 sqq.). Hier sind noch einige Zusätze aus Hieronymus und Orosius hineinverwoben, die beide ja die Hauptquellen der Chronik für die Geschichte des Altertums waren. Außerdem heißt es nach der Schilderung der Schlacht gegen Porus (Leo p. 106, 11): De hoc pugna alii aliter sentiunt, und es wird nun der Bericht des Orosius (III 19) und dann auch die Darstellung der Epístola ad Aristotelem (nach der Fassung, wie sie nach der Bamberger Handschrift in meinen Kleinen Texten zum Alexanderroman, Heidelberg 1910, 28, 26—29, 23 ediert ist) gegeben. Denn nach Leo wird wie auch sonst im Roman des Ps.-Kallisthenes der Inderkönig im Kampf von Alexander getötet (vgl. Rheinisches Museum 101, 1958,103f.), nach den beiden andern Quellen lebt er nach der Schlacht in Freundschaft mit seinem Besieger. W i r haben hier bei Frutolf die erste Diskussion über die zwiespältige Überlieferung über Porus 2 , die durch die Darstellung des Romans hervorgerufen wurde. An den Schluß des ersten Teils schließt die Chronik noch einiges aus Orosius (III 19, 4—11) an. Eine weitere Änderung ist noch insofern
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gen 1948, 491 ff. Den Text der Alexandergesehichte edierte G. Waitz, Monumenta Germaniae Histórica, Scriptores VI, Berlin 1844, 62—75. Diese deutsche Erstausgabe von 1539 scheint kaum bekannt zu sein. Ich besitze ein Exemplar: Caspar Hedio, Ein ausserlessne Chronick von anfang der weit bis auff das jar nach Christi unsers eynigen Heylands gepurt 1534 in vier teyl oder bücher abgeteylet, an fürnemen Historien reich und aussbündig, zu nutz und wolfart Teutscher Nation, durch Caspar Hedio Doctor auss dem Latin ins Teutsch gebracht, zusammentragen und beschriben. Hie findest du auch lieber Leser eyn nutzliche Vorred Herr Philippi Melanchthons bei dem andern Teyl diser Chronick von Frücht und Nutzbarkeyt rechter Chronickbücher, Strassburg 1539. Hier steht p. X X I I I — X X V I die Alexandergeschichte, nach Raffael von Volterra, ohne daß sein Name genannt ist; p. X X V I I I wird kurz über das Verhältnis Alexanders zu den Juden gesprochen. Auch in der weiteren Darstellung wird auf die Alexandergeschichte mehrfach Bezug genommen. Über die spätere Behandlung dieser Crux vgl. G. Cary, The medieval Alexander, Cambridge 1956, 340.
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vorgenommen worden, als die Bukephalos-Episode zusammenhängend erzählt wird: Das Stück Leo 113 p. 54, 12—20 folgt erst hinter Leo 114, wobei 115, wohl weil so kurz und unverständlich, ausgelassen wurde. Der zweite Teil der Alexandergeschichte (S. 70—75) führt die Überschrift: De mirabilibus rebus, quas Alexander vidisse dicitur. Er wird eingeleitet durch die Worte: In Ms ergo itineribus quae et quanta pertulerit et quam miranda conspexerit, ipse, ut fertur, ad matrem suam Olympiadem et magistrum suum Aristotelem scribit, de quibus aliqua ob delectationem noticiae rerum mirabilium breviando perstringimus, ceterum veritatem ipsarum rerum iudicio legentium relinquimus. Scribit itaque ad matrem suam, quia cum adhuc in Babylonia priusquam egrederetur de terra illa, erat ibi mulier quaedam, quae peperit filium etc. Er beginnt also hier mit Leo I I I 30 p. 122, welches Kapitel ganz mitgeteilt wird; daran reiht sich Leo I I I 17 I I 2—6 125, 18—127, 6, also ziemlich der ganze Brief an Olympias, worauf eine Verarbeitung der in Leo I I I 17 (Brief an Aristoteles) und in der selbständigen Bamberger Epistola erzählten Ereignisse folgt, eingeleitet durch die Worte: Postquam autem venit in Persidem et interfecit Darium regem Mense Maio, ut ipse magistro suo Aristoteli scribit, subiugavit sibi omnem terrarn illius et ponit in provinciis orientis suos honoratos. Allerdings heißt es in der von Frutolf hier zitierten Epistola (p. 22, 15): vicimus Darium! Daß Alexander den Perserkönig selbst getötet habe, entnahm er der Chronik des Hieronymus, dessen Autorität für ihn so groß war, daß er glaubte, das Selbstzeugnis Alexanders korrigieren zu dürfen (vgl. Rheinisches Museum 101, 1958, 99f.). Nach jenen angeführten Worten folgt Epist. p. 22, 15—23, 12, dann die Wunderepisode Leo I I I 17—26 und dann wieder Epist. p. 23, 14—37, 18. Für den Schluß wird wieder ein Stück aus Oros. I I I 19f. und der letzte Teil des Leo verwendet. Durch Waitz in seiner Ausgabe wurde bereits festgestellt und durch Ausfeld 1 ausführlich bewiesen, daß der Michelsberger Chronik für ihre Alexandergeschichte im ganzen dieselbe Bamberger Handschrift (E. I I I . 14) zugrunde liegt, die auch uns den Text des Leo und der Epistola liefert. Diese Handschrift befand sich also bereits um 1100 in Bamberg, und es ist eine ansprechende Vermutung Hartwigs, die von Leitschuh gebilligt wurde 2 , daß Kaiser Heinrich II., der Gründer des Bamberger Doms, sie von seinem Zug nach Unteritalien im Jahre 1022 mitgebracht und der Bamberger Bibliothek einverleibt hat. Diese Frutolfsche Alexandergeschichte, die nicht ohne Kritik ist und den „historischen" Teil von der Wunderepisode trennt, die ad delectationem beigefügt ist, hat auch, losgelöst von der Chronik als selbständiges Stück in Handschriften Verbreitung gefunden 3 , und sie wurde auch von späteren Chroniken benutzt. 1 2 3
Ad. Ausfeld, Zeitschrift für deutsche Philologie 18, 1886, 385ff. O. Hartwig, Zentralblatt für Bibliothekswesen 3, 1886, 165; Fr. Leitschuh ebd. 223. Vgl. z. B. Pertz' Archiv 7, 1839, 486ff.; Joh. Bolte, Zeitschrift für deutsche Philologie 17, 1885, 239f. Auch Melanchthon hatte eine solche Handschrift vor sich. Ebenso auch Martin Opitz bei seiner Ausgabe des Annoliedes: Poetae anonymi Teutonici rhythmus de S. Annone,
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So geht auf sie der Abschnitt über Alexander in der Chronik des O t t o v o n F r e i s i n g (1114—1158) zurück 1 , der dazu noch den Orosius beizog, und auf dessen Darstellung beruht die Erzählung der ö s t e r r e i c h i s c h e n C h r o n i k 2 (Ende des 14. Jahrhunderts). Auch die Sächsische Weltchronik des E i k e v o n R e p g o w (um 1231) f u ß t in der Alexandergeschichte auf Frutolf 3 , ebenso der Chronist J a c o b T w i n g e r v o n K ö n i g s h o f e n 4 (um 1346 — 1420). Dieser freilich läßt die Wunderepisode großenteils weg: Wer sich mit ihr bekannt machen wolle, „der lese die historie und das buch, das von Alexanders leben seit; do vindet men das alles und vil andere wunderliche ding" (S. 311). Andererseits macht er sachliche Zusätze, die sich bei Frutolf nicht finden. So gibt er die Truppen Alexanders mit 22000 Mann zu Fuß, 5500 Reitern und die Flotte mit 180 Schiffen an (S. 305), was er dem Orosius (III 16, 3) entnehmen konnte, wo die Zahlen 32000, 4500 und 180 lauten, was auch die Hist. de prel. p. 174 adn. ed. Zingerle wie Orosius bietet. Ferner erwähnt Twinger (S. 311) den Thron in Babylon: „Und do det Allexander einen güldin tron machen zu Babilonie, des gleich n ü t were in allen landen." Das ist der Hist. de prel. J 3 entnommen, wo es heißt (Münchner Museum 1, 1912, 269): Inter hec siquidem Alexander fecit in Babilone thronum aureum fabricari, cuius simile non reperiebatur in mundo. Später wurde diese Königshofer Alexandergeschichte auch in Historienbibeln eingeschoben (Zeitschrift für deutsches Altertum 79, 1942, 128). Über die Umgestaltung, die Frutolfs Werk selbst im Lauf der Zeit erfahren hat, haben wir bereits gesprochen und gesehen, wie es auch nach der ersten Drucklegung (1515) noch ein langes Nachleben führte. Freilich blieb seine Alexandergeschichte nicht unangefochten. Schon Twinger übte Kritik, ebenso Vasco da Lucena an der romanhaften Überlieferung überhaupt; Petrarca ließ sie still-
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1726, in Joh. Schilteri Thesaurus antiquitatum Teutonioarum I, Ulm 1728. Vgl. den Neudruck von W. Bulst, Editiones Heidelbergenses II 1946. Opitz gibt drei Stücke aus diesem Excerptum de vita Alexandri Magni, die dann auch G. Favre, Mélanges d'histoire litteraire II, Genève 1856, 79f. abdruckt, wobei er (S. 151f.) auf die Handschrift Basel AH 34 (Excerpta vitae Alexandri M.) als Vorlage des Opitz verweist; diese Hs. enthält aber die Historia de preliis. Auch Opitz spart nicht mit scheltenden Worten über die fabelhafte Alexanderüberlieferung, die er bei Anno findet: Quae poeta noster de ilio narrat, fabulas olere et figmenta mirum non est, cum illos ipsos, qui comites eins itineris fuerant, in gratiam regis gloriae cupidissimi multa confinxisse satis constet... Et serior aetas, quae in maius omnia extendit, haud pauca addidit risum potius quam fidern merentia. Und dann weist er auf den Presbyter Johannes, auf den Reisebericht des Johannes de Hese und auf Aethicus Ister hin, die ebenso unglaubwürdig seien. Monumenta Germaniae Historica, Scriptores X X , 1925, wo p. 154—156 das auf Alexander Bezügliche steht. Monumenta Germaniae Historica, Deutsche Chroniken VI, 1909, 22 ff. Monumenta Germaniae Historica, Deutsche Chroniken II 1, 1876, 65—258; über Frutolf vgl. Erik Wolf, Große Rechtsdenker, 2. Aufl. Tübingen 1944, lff. Sammlung der Chroniken der deutschen Städte 8, 1870, 299ff.; dazu die Einleitung Hegels 155 ff.
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schweigend beiseite. Und der bayerische Hofhistoriograph J o h a n n e s T u r m a i r 1 (genannt Aventinus, 1477—1534) sagt über Hartliebs Alexandergeschichte, die seit 1472 in vielen Drucken verbreitet war: „Der doctor hat des lateins zue wenig künt, hat vil drein gesezt und darzue von kurzweil wegen" (das ist ad delectationem, wie Frutolf sagte) „than, das nur gedichte rokenmärl sein." Unzweideutig aber ging M e l a n c h t h o n in seiner Ausgabe der Ursberger Chronik vom Jahre 1540 vor, die wir bereits nannten. Es handelte sich um eine Neuausgabe des von Peutinger 1515 veranstalteten Druckes, und da fand er statt einer Geschichte Alexanders nur die Worte: Historia Alexandri Magni alibi scribetur. Dies Versprechen wird jedoch nicht erfüllt, denn auf dem folgenden Blatt heißt es nur kurz: Alexander translato regno Persarum ad se captis Tyro et Gaza et Hieru•salern iratus festinans Jaddum et caeteros sacerdotes eum honorifice suscipientes veneratus est. Quibus post sacrificium lecto Daniele tributum VII annis dimisit. Quod Judaeis concessit, Samaritanis negavit. Decem tribus oratione sua inclusit. Cui veneno obeunti IV hic annotati successerunt in regno2. Das ist ein kurzes Exzerpt aus der Historia Scholastica des Petrus Comestor, von der es ja viele Bearbeitungen und Auszüge gab. Melanchthon sagt nun in seiner Ausgabe von 1540 p. XIII, daß dies Versprechen nicht eingehalten worden sei; er selbst aber habe in zwei Handschriften zwei Stücke gefunden: Excerptum de vita Alexandri Magni. Item de mirabilibus Alexandri Magni. Damit ist offensichtlich die in zwei Teile zerfallende Alexandergeschichte des Frutolf gemeint, die ja auch für sich handschriftlich überliefert wurde. Und über dieses Excerptum fällt er das Urteil: Quod plane erat tale, ut nemo sine risu legisset. Igitur nolui contaminare hanc utilem historiam (nämlich die Ursberger Chronik) hoc fevds7iiyQd. K v i e í í s k n e c h t v o m H o r h u r a b im M a u s o l e u m v o n S l a d t h a g e n
Abb. 6. Ägidienkapelle in Schleusingen, E p i t a p h der Elisabeth von B r a n d e n b u r g , gest. l o 5 8
Abb. 7. Epitaphien: Katharina, gest. 1400, Wilhelm IL, gest. 1444. Wilhelm III., gest. 1480
Abb. 8. D o p p e l e p i t a p h Wilhelms IV.. «est. 150!». und »einer Frau Anastasia, gest. 1534
A b b . 9. K o p f W i l h e l m s I V .
Abb. 10. Graf Poppo, gest. 1574
Abb. 11. G r a f Georg E r n s t , gest. 1583
Abb. 12. Elisabeth von Win'ltomberi;. ¿test. 1592
Abb. 13. Gräfin Sophie, gest. 1631
Zum Problem der Verweltlichung religiöser Bildformen in der deutschen Kunst des 16. Jahrhunderts und der Folgezeit Ingrid Schulze
Im dritten Jahrzehnt des 16. Jahrhunderts setzt in der deutschen Malerei und Plastik eine Krise ein, die ihren sichtbaren Ausdruck in der für den protestantischen Bereich charakteristischen Aufhebung der Bilder- und Heiligenkulte fand. Bereits in dem Jahrzehnt, das dem Bildersturm voranging, wurde aufgeklärten Vertretern des Bürgertums die innere Fragwürdigkeit jener Kulte bewußt. Die 1515 von Hans Holbein d. J . mit Randzeichnungen verzierte Schrift des Erasmus von Rotterdam „Das Lob der Torheit" läßt dies deutlich erkennen. Erasmus macht sich über diejenigen lustig, die dem Bild der Muttergottes am hellen Tage eine Kerze anstecken (Abb. 1) oder die glauben, daß der Anblick eines gemalten oder geschnitzten Christopherus vor einem plötzlichen Tod bewahren könne. Indem Holbein sich mit seinen Illustrationen dem ironischen Ton des Verfassers anzupassen versucht, distanziert er sich von dem Kult dieser Heiligen. Selbst die bildlichen Darstellungen Christi werden in die Kritik einbezogen. Erasmus hegt Zweifel daran, ob einem Bilde, auf dem Christus mit zwei ausgestreckten Fingern, wallenden Locken und einem Heiligenschein dargestellt ist, göttliche Verehrung zukomme. Holbein, an eine Zeichnung seines Vaters anknüpfend, illustriert auch diese Textstelle (Abb. 2). Die in der Albertina in Wien befindliche Studie des älteren Holbein weist eine enge Abhängigkeit von einem Spätwerk des Rogier van der Weyden, dem sogenannten Cambrai-Altar, auf, sie nimmt also einen bestimmten Platz innerhalb der christlichen Bildüberlieferung ein. Wie die Illustrationen zum „Lob der Torheit" erkennen lassen, übernimmt der jüngere Holbein diese Bildformen, schaltet aber völlig frei mit ihnen und verwendet sie schließlich im Gegensinne. So benutzt er z. B. das überlieferte Schema der Anna-Selbdritt-Gruppe, um die Torheit darzustellen, wie sie von Methe, der Tochter des Bacchus, und Apädia, der Tochter Pans, genährt wird (Abb. 3). Es muß allerdings hinzugefügt werden, daß die Anna-Selbdritt-Gruppe bereits eine Verweltlichung christlicher Bildvorstellungen im Sinne einer bürgerlichen Kunst bedeutet, spiegeln sich in ihr doch bestimmte Elemente des Familienlebens wider. Dies wird besonders deutlich bei Darstellungen der Heiligen Sippe, so vor allen Dingen auf dem 1509/10 entstandenen Altar Lukas Cranachs d. Ä. in der Akademie zu Wien, der das Selbstbildnis des Künstlers enthält. Es findet eine zunehmende Anreicherung mit weltlichen Details statt, bis der Umschlag in eine neue Qualität erfolgt. Dies bedeutet in unserem Fall, daß
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aus der Anna-Selbdritt-Gruppe zwei Nymphen werden, die die jugendliche Torheit säugen. Erasmus, der in seiner Schrift zwar die Scholastik, den Aberglauben und die Unwissenheit verurteilt, die aus der politischen und religiösen Ordnung der Feudalgesellschaft hervorgegangen waren, ließ es trotz der Schärfe seiner Satire nicht zu einem Bruch mit der katholischen Kirche kommen. Sein Ideal war eine gereinigte Kirche, innerhalb der der Kult nicht als Selbstzweck, sondern als Mittel der Läuterung der menschlichen Seele dienen soll. In dieser Hinsicht berührt er sich mit dem bürgerlichen Verlangen nach einer wohlfeilen Kirche, von dem Engels in seiner Geschichte des deutschen Bauernkrieges schrieb. Holbein hat in der Zeit um 1520 noch eine Reihe von Altargemälden geschaffen, darunter die Predella mit dem toten Christus in der öffentlichen Kunstsammlung zu Basel. Er näherte sich mit diesem 1521 geschaffenen Gemälde der Grenze des Atheismus. Mit der Aufhebung der Bilder- und Heiligenverehrung entfielen für den Künstler die kirchlichen Aufträge, und er wendete sich fast ausschließlich der Porträtmalerei zu. Im Endresultat trugen die Bilderstürmer zur Befreiung der Kunst von kirchlichen Bindungen bei und gaben einen Anstoß zur Eroberung neuer Stoffgebiete. Dies gilt vor allen Dingen für Holland, wo das Bürgertum in den Klassenkämpfen des 16. Jahrhunderts den Sieg davontrug. Wie sehr die kirchlichen Bindungen sich bereits vor den Bilderstürmen gelockert hatten, beweist das Werk Holbeins aus dem zweiten und dem beginnenden dritten Jahrzehnt des 16. Jahrhunderts. Aus den gesellschaftlichen Auseinandersetzungen des 16. Jahrhunderts in Deutschland gingen die Fürsten als Sieger hervor. Sie festigten die Positionen der überlebten Feudalkräfte der Gesellschaft. Dies wiederum verhinderte das Eindringen der neuen kapitalistischen Produktionsweise in das Wirtschaftsleben des Landes. Die bürgerlich gemäßigte lutherische Reform, die sich von der revolutionären Partei der Bauern und Plebejer distanziert hatte, führte zwangsläufig in das Lager jener weltlichen Fürsten, die sich durch die Konfiskation der geistlichen Güter zu bereichern trachteten. „Wie unter den allgemein gesellschaftlichen und politischen Verhältnissen der damaligen Zeit die Resultate jeder Veränderung notwendig den Fürsten zugute kommen und ihre Macht mehren mußten, so mußte die bürgerliche Reform, je schärfer sie sich von den plebejischen und bäuerlichen Elementen schied, immer mehr unter die Kontrolle der reformierten Fürsten geraten. Luther selbst wurde mehr und mehr Knecht, und das Volk wußte sehr gut, was es tat, wenn es sagte, er sei ein Fürstendiener geworden wie die andern, und wenn es ihn in Orlamünde mit Steinwürfen verfolgte", schrieb Engels im „Deutschen Bauernkrieg". Die Unterordnung des Bürgertums unter die landesfürstliche Gewalt spiegelt sich in den Bemühungen um ein protestantisches Altarbild wider, die wir in der Cranachwerkstatt seit dem zweiten Drittel des 16. Jahrhunderts beobachten können. Auf dem vermutlich 1547 eingeweihten Altar in der Wittenberger Stadt-
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kirche, der die drei Sakramente — Taufe, Abendmahl und Beichte — zum I n h a l t hat, t r i t t uns eine Fülle von Porträts .entgegen. Ein glaubensstolzes Bürgertum stellt hier die Behauptung auf, der legitimen Nachfolge Christi anzugehören. Die Verschwisterung zwischen Thron und Altar, zu der die gemäßigte bürgerliche Reform schließlich geführt hatte, wird auf dem Abendmahlsaltar von Lukas Cranach d. J . aus der ehemaligen Dessauer Schloßkirche offenbar. Die Apostel tragen hier die Züge der Reformatoren. Luther weist auf Fürst Georg von Anhalt hin, der, neben Christus sitzend, den Platz des Lieblingsjüngers Johannes einnimmt. I m Hintergrund stehen Mitglieder des anhaltischen Fürstenhauses als Diener zum Abendmahl bereit. Der 1565 entstandene Dessauer Altar spiegelt die Situation nach dem Augsburger Religionsfrieden von 1555 wider, in dessen Folge sich die Landesfürsten zu uneingeschränkten Alleinherrschern entwickelten. Welch einen hervorragenden Platz die protestantischen Fürsten im Cranachschen Spätwerk einnehmen, kann man weiterhin an den Stifterbildnissen auf dem Altar für die Schneeberger St.-Wolfgangs-Kirche aus dem vierten Jahrzehnt des 16. J a h r hunderts und dem Altar der Weimarer Stadtkirche, der nach dem 1553 erfolgten Tod des älteren Cranach fertiggestellt wurde, erkennen. Auf einem u m 1550 entstandenen Holzschnitt aus der Cranach Werkstatt, der die Taufe Christi im J o r d a n darstellt, geht die Fürstendienerei sogar so weit, daß Luther die kurfürstliche Familie in der Art eines mittelalterlichen Schutzheiligen behütet (Abb. 4). Durch den Sieg der feudalen Kräfte bedingt, können wir in der deutschen Malerei und Graphik des fortgeschrittenen 16. Jahrhunderts eine rückläufige Bewegung beobachten. Der oben erwähnte Holzschnitt, auf dem Luther als Schutzheiliger des protestantischen sächsischen Fürstenhauses in Erscheinung tritt, greift bewußt auf mittelalterliche Vorstellungen zurück. Diese Wendung zur mittelalterlichen K u n s t hin macht sich jedoch nicht nur in der Wahl der Motive bemerkbar. Die Arbeiten aus der Werkstatt Cranachs lassen immer mehr erkennen, wie auf die Wiedergabe eines empirisch faßbaren Raumes verzichtet wird. Das Epitaph mit dem Weinberg des Herrn, das von Lukas Cranach d. J . herrührt und sich in der Wittenberger Stadtkirche befindet, läßt dies deutlich werden (Abb. 5). Die flächenhaft mittelalterliche Darstellungsweise wird benutzt, u m einer unangenehm lehrhaften Tendenz Ausdruck zu verleihen. Während die Reformatoren den ihnen zugewiesenen Abschnitt des Weinberges pflegen, vollbringen die Päpstlichen ein Werk der Zerstörung. Sie reißen die Reben aus dem Boden und schütten den Brunnen mit Steinen zu. I n demselben Maße, in dem die Positionen der Reaktion sich festigten, begann die deutsche bürgerliche Malerei des 16. Jahrhunderts steril zu werden. I n der politischen Graphik des fortgeschrittenen 16. Jahrhunderts t r i t t uns wiederholt eine Erscheinung entgegen, die wir bereits bei den Illustrationen des jüngeren Hans Holbein zu dem „Lob der Torheit" beobachten konnten. Bildformen, die aus der sakralen K u n s t herrühren, werden in einem der ursprünglichen Bedeutung entgegengesetzten Sinne verwendet. Dies wird besonders deutlich
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bei der „Tafelrunde des Lasters", einem Holzschnitt des Matthias Gerung (um 1500—1568/70), der 1546 entstand und dem zweifellos eine Abendmahlsdarstellung zugrunde liegt (Abb. 6). Kaum zu übersehen sind die kompositionellen Übereinstimmungen mit dem etwa gleichzeitig entstandenen Wittenberger Altar des Lukas Cranach d. Ä., besonders was die Aufteilung der Tafelrunde in Zweiergruppen betrifft (Abb. 7). Auf dem Holzschnitt zählt ein an Haupt und Gliedern verletzter, einäugiger Papst, dem der Arzt ein Gefäß mit Salbe reicht, sein Geld. Über seinem Haupt schweben Kelch, Kelchschüsselchen, Keule und Ablaßbriefe, aus seinem Munde gehen schwarze Teufelchen hervor. Kaiser und König sind im Brettspiel vertieft. Das Haupt des Königs wird von Schwert, Pfeil und Dolch bedroht. Im Vordergrund beschäftigt sich ein Kardinal mit einem Knaben. Ein Bischof spielt mit einer Kurtisane Karten, und ein Mönch reicht einer Nonne, die im wahrsten Sinne des Wortes mit einem Bankert gesegnet ist, ein Glas Wein. Dieser Gruppe entspricht auf dem Cranachschen Bild die Darstellung Luthers als Junker Jörg, dem der Mundschenk den Becher reicht. Das Volk im Hintergrund wird einerseits von einem mit der päpstlichen Tiara gekrönten Löwen, einem Teufel, Bischof, Kardinal und Mönch, andererseits von einer Horde Landsknechte ins Wasser getrieben. Der Holzschnitt des Mathias Gerung läßt die Verworfenheit der wieder zur Macht gekommenen Feudalgesellschaft und die Ausweglosigkeit der unteren Volksschichten nach ihrer Niederlage in den Bauernkriegen erkennen. Er greift nicht nur den katholischen Klerus, sondern auch die Vertreter der weltlichen Macht an. In dieser Hinsicht unterscheidet er sich prinzipiell von der offiziellen protestantischen Bildkunst, die von einem dem jeweiligen Landesfürsten treu ergebenen Bürgertum getragen wird. Gerung verwendet das Kompositionsschema einer Abendmahlsdarstellung gewissermaßen in Anführungsstrichen. E r will damit deutlich machen, wie sehr die herrschende Gesellschaftsordnung dem christlichen Wunschbild widerspricht. Ein neuer Inhalt tritt an die Stelle des alten, und der Widerspruch zwischen Form und Inhalt, die in einem dialektischen Verhältnis zueinander stehen, verschärft sich. Überdies kann vermutet werden, daß der Holzschnitt einen Angriff auf die Luthersche Abendmahlslehre enthält, der Feind also auch in dieser Hinsicht mit seinen eigenen Waffen vernichtet werden soll. Eine Verbitterung, die bis an die Grenzen des Atheismus geht, wird in einem um 1620 entstandenen Flugblatt, dem „Geistlichen Rauffhandel", laut (Abb. 8). Da schlagen sich Papst, Luther und Calvin um das Wort Gottes, indes die „Einfalt" als Hirt die Schafe hütet. Der Raufhandel der drei Geistlichen läßt sich auf eine der harmonischsten Bildkompositionen der italienischen Renaissance, auf Raffaels Sposalizio, zurückführen. Der nach oben sich rundende Bildabschluß, die Dreiergruppe, bei der der Papst dem vermählenden Priester, Luther der Jungfrau Maria und Calvin dem hl. Joseph entspricht, sind dem etwa 1504 entstandenen Gemälde Raffaels in der Mailänder Brera entlehnt. Es muß hinzugefügt
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werden, daß sowohl Raffaels als auch Peruginos Sposalizio auf ein Fresko in der Domus Aurea des Nero zurückgehen, auf dem Paris und Helena von der Liebesgöttin zusammengegeben werden. Das Flugblatt verleiht der Verzweiflung vor allen Dingen der bäuerlichen Bevölkerung Ausdruck, auf deren Rücken die Religionskriege ausgetragen wurden. Wie tief der Niedergang und die allgemeine Zerrissenheit empfunden wurden, kann man an der Tatsache erkennen, daß am Anfang des 17. Jahrhunderts eine der ausgewogensten Bildlösungen der Renaissance zur Darstellung religiöser Streitigkeiten diente. Es ist eine wichtige Aufgabe, zu untersuchen, wie weit es den bäuerlichen und plebejischen Kreisen, die die Hauptträger der Bauernkriege waren, gelang, ihren revolutionären Absichten innerhalb der bildenden Kunst Ausdruck zu verleihen. I n diesem Zusammenhang kommt dem sogenannten Michelfeldter Teppich, einem Holzschnitt, dessen frühe Drucke das Datum 1526 aufweisen, eine große Bedeutung zu (Abb. 9—11). Er trägt folgende Inschrift: „Dyse Figuren / mit Iren darzu gehörigen Reymen / dye von eynem alten Tebich / vor Hundert Jaren ungeverlich gewürckt / und in dem Schloß Michelfeldt am Rheyn zu mitfasten / I m Tausent Fünffhundert und Vier und zwaintzig J a r / gefunden / abgemalet und abgemachet sind. Zaygen an / was dye alten / der yetzigen leuift halben / so sich täglich ereugen / In Irem verstandt gehabt / und heymlich bey sich behalten haben." Der aus drei Teilen bestehende Holzschnitt zeigt das Glücksrad, das von einer Frau, der „Zeit", und einem Fuchs, der die Listigkeit und Ungerechtigkeit verkörpert, gedreht wird. Mit Hilfe allegorischer Vögel wird eine verkehrte Welt dargestellt. Die Elster sitzt als Königin an oberster Stelle, Fasan und Häher nehmen die Plätze neben ihr ein, indes die edleren Tiere — Adler, Pfau und Falke — unter das Rad kommen. Der „Betrug" thront als falscher Herrscher mit dem Stab in der Hand. Ihm zu Füßen schläft ein Wickelkind, die „Frömmigkeit". Drei allegorische Frauengestalten — „Gerechtigkeit", „Wahrheit" und „Vernunft" — sitzen im Stock gefesselt. Die „Wahrheit" trägt ein Schloß vor dem Mund. Dieser Gruppe nahen von links die Vertreter der fünf Stände: Bauer, Handwerker, Adliger, Bürger und Krieger. Sie lehnen sich gegen die Herrschaft des „Betruges" auf, im Gegensatz zu dem Gelehrten und dem Geistlichen, die beide gern auf ihn hören. Den Abschluß bildet die „göttliche Vorsehung". Beigefügte Spruchbänder unterstreichen die Bildaussage. Inhaltlich in die Nähe des Michelfeldter Teppichs gehört das 1525 erstmalig bei Hans Guldenmund in Nürnberg erschienene Flugblatt „Tyrannei, Wucher und Gleisnerei im Kampfe mit dem Wort Gottes" (Abb. 12). Da muß das Volk, „der arm gemein Esel", auf seinem Rücken „Tyrannei", „Wucher" und „Gleisnerei" mit sich herumschleppen. Vom „Wucher" bei lebendigem Leibe geschunden, schlägt der Esel aus und wirft die „Gleisnerei" ab. Die „Vernunft", eine modisch gekleidete Dame, hält ihm ein Tuch vor die Augen. Die „Gerechtigkeit" kann dem Esel nicht helfen, denn sie sitzt im Bock gefesselt. Ihr zur Seite steht, Schwert und Buch in den Händen, eine weibliche Gestalt, die das Wort Gottes verkörpert.
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Der Holzschnitt wird durch einen Text von Hans Sachs erläutert. Die „Vern u n f t " erklärt dem Esel, daß er zwar die geistliche Gleisnerei abgeworfen habe, aber immer noch dem Wucher und der Tyrannei ausgesetzt sei, und die „Gerechtigkeit" weist, ihre eigene Machtlosigkeit beklagend, auf das „Wort Gottes" hin. Wir können nicht mit Sicherheit sagen, wer den sogenannten Michelfeldter Teppich, der fälschlich Dürer zugeschrieben wurde, und das bei Hans Guldenmund erschienene Flugblatt geschaffen hat. Bei dem letzteren schwankt die Kunstgeschichtsschreibung, ob sie es dem Werke Flötners zuordnen oder mehr in die Nähe von Georg Pencz rücken soll. H. Tietze und E. Tietze-Conrat sprechen meines Erachtens mit Recht Georg Pencz den Michelfeldter Teppich zu. Es ist anzunehmen, daß die Urheber, die den beiden Holzschnitten wegen ihres revolutionären Bildinhaltes eine weite Verbreitung zudachten, anonym bleiben wollten. Der Prozeß, der im Januar 1525 in Nürnberg gegen die „drei gottlosen Maler" Georg Pencz und die Brüder Hans Sebald und Barthel Beham stattfand, zeigt uns den Zusammenhang, in den die beiden Arbeiten einzuordnen sind. Während des Verhöres der drei Maler stellte sich heraus, daß sie nichts von Christus hielten, die Heilige Schrift als Menschenwerk betrachteten und die Sakramente ablehnten. Die weltliche Obrigkeit und den Rat von Nürnberg erkannten sie nicht an, vielmehr wiesen sie darauf hin, daß Gott allein der Herr sei. Wie die in den Nürnberger Ratsakten erhaltenen Prozeßprotokolle besagen, hatten die Maler aufgefordert, nicht mehr zu aibeiten, mit dem Hinweis, daß eine Zeit kommen würde, wo es ans Teilen ginge. Immer wieder wird die ablehnende Haltung der weltlichen Obrigkeit gegenüber betont. Luther, dem Lazarus Spengler das Aktenmaterial über den Nürnberger Prozeß zugeschickt hatte, schrieb am 4. 2. 1525 in diesem Zusammenhang: „Wo sie aber die weltliche Oberkeit nicht wollten bekennen und gehorchen, da ist alles verwirkt, was sie sind und haben, denn da ist gewißlich Aufruhr und Mord im Herzen, da gebührt weltliche Obrigkeit einzusehen." Die drei Maler gehörten in Nürnberg einer Bewegung an, deren geistiges Haupt der Schulmeister von St. Sebald, Hans Denck, war und die durch die Schriften Münzers und Carlstadts entscheidend beeinflußt wurde. Carlstadts Angriffe auf die Luthersche Abendmahlslehre fanden bei den Künstlern lebhaften Anklang. Thomas Münzer hielt sich Ende September und Oktober 1524 gemeinsam mit Heinrich Pfeiffer in Nürnberg auf, nachdem er Mühlhausen hatte verlassen müssen. Seine Schrift gegen Luther „Wider das geistlos sanft lebende Fleisch zu Wittenberg" wurde bei dem Nürnberger Buchdrucker Hans Hergott gedruckt, den man 1527 in Leipzig wegen Verbreitung linksradikaler Schriften hinrichtete. Auch die Schriften Carlstadts fanden trotz wiederholter Beschlagnahme den Weg in die Öffentlichkeit. Denck wurde, ebenso wie die drei Maler, im Januar 1525 aus Nürnberg verwiesen. Aus dem Nürnberger Prozeß geht hervor, daß nicht nur auf dem Lande, sondern auch in den Städten heftige Klassengegensätze ausgetragen wurden. Der
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mit der Entwicklung des Frühkapitalismus verbundene Wucher wurde von den unteren und mittleren Schichten der städtischen Bevölkerung als besonders drückend empfunden, indes die Patriziergeschlechter große Reichtümer sammelten. Dies wird deutlich, wenn man den bei Hans Guldenmund erschienenen Holzschnitt betrachtet. Nicht genug, daß der „arm gemein esel" von dem Tyrannen beherrscht wird, zieht ihm auch noch der Wucher das Fell über die Ohren. Daß die Mehrzahl aller Klassen und sozialen Gruppierungen Grund hatte, mit ihrer Lage unzufrieden zu sein, wird aus dem Michelfeldter Teppich ersichtlich, auf dem Bauer, Handwerker, Adliger, Bürger und Krieger gegen die Herrschaft des Betruges protestieren. Der Inschrift auf dem sogenannten Michelfeldter Teppich zufolge soll es sich bei dem Holzschnitt um eine Kopie nach einer damals etwa hundert Jahre alten Tapisserie aus dem am Rhein gelegenen Schloß Michelfeldt handeln. Dieses Schloß konnte nicht mit Sicherheit ausfindig gemacht werden, und die Inschrift wurde von der Kunstgeschichtsschreibung als Fiktion angesehen. Betty Kurth gelang es schließlich, an Hand zweier Fragmente aus dem späten 15. Jahrhundert nachzuweisen, daß Teppiche mit der uns bekannten Thematik existierten. Entschließt man sich, der Inschrift Glauben zu schenken, so müßte die Vorlage aus dem dritten Jahrzehnt des 15. Jahrhunderts stammen. Wir kämen damit in die Zeit der Hussitenkriege, deren wichtigste Kraft in Böhmen das bäuerlich-plebejische Lager war. Die tschechischen Ereignisse übten auf die deutsche Bauernschaft einen gewaltigen Einfluß aus, so daß es zu Beginn der dreißiger Jahre des 15. Jahrhunderts in verschiedenen Gegenden Deutschlands zu Bauernaufständen kam, die besonders in den Rheingegenden bedrohliche Ausmaße annahmen. Unter diesen Umständen muß untersucht werden, ob die Voraussetzungen für den Michelfeldter Teppich und die ihm verwandten Werke nicht im hussitischen Bereich zu suchen sind. Die nach ihrem Aufbewahrungsort in der Universitätsbibliothek in Göttingen genannte hussitische Handschrift aus dem Jahre 1464, die auf eine Vorlage aus dem dritten Jahrzehnt des 15. Jahrhunderts zurückgeführt werden kann, enthält eine Zeichnung, in der zwar nicht wie auf dem Michelfeldter Teppich „Wahrheit", „Vernunft" und „Gerechtigkeit", sondern drei Apostel in den Bock gespannt sind (Abb. 13). Ein vierter, der hl. Jakobus, ist gerade mit dem Schwert hingerichtet worden. Die Zeichnung, die künstlerisch keine Qualitäten aufweist, ist vor allen Dingen wegen des von ihr behandelten Themas interessant. Durch die Verwendung zeitgenössischer Folterinstrumente erhält die Leidensgeschichte der Apostel einen unerhört aktuellen Charakter. Angesichts des Martyriums der eigenen Leute wird auf die Jünger Christi hingewiesen und damit dokumentiert, daß die Klassenkämpfe des Mittelalters unter religiösem Vorzeichen stattfanden. Die Kunst konnte sich erst dann von der Religion lösen, nachdem eine Revolution innerhalb der sakralen Kunst stattgefunden hatte. Dies wird auch durch eine Reihe graphischer Arbeiten des 16. Jahrhunderts belegt. So schuf z. B. Georg
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Pencz, dem der Michelfeldter Teppich zugeschrieben wird, eine Kupferstichfolge der Barmherzigkeiten, in der u. a. Christus im Bock sitzend dargestellt ist. Hier scheint eine direkte Beziehung zu hussitischen Arbeiten des 15. Jahrhunderts zu bestehen (Abb. 14). Die Passion Christi als Ausdruck gesellschaftlichen Protestes tritt uns in einem vermutlich nach 1535 entstandenen Holzschnitt Peter Flötners entgegen. Dort wird Jesus von Mönchen mißhandelt und einem Kaiphas vorgeführt, der die Papstkrone auf dem Haupte trägt. Mönche und Papst vollziehen die Geißelung, die Dornenkrönung, sie kreuzigen Christus und können seine Auferstehung, die auf dem Holzschnitt mit unwiderstehlicher Gewalt erfolgt, nicht verhindern (Abb. 15-17). Die Verweltlichung religiöser Bildformen im 16. Jahrhundert ist durch die Klassenkämpfe jener Zeit bedingt. Wir können sie vor allen Dingen dort feststellen, wo im Verlaufe einer bürgerlichen Kunstentwicklung eine starke Anreicherung mit weltlichen Details stattgefunden hat. Es erfolgt dann auf einer bestimmten Stufe der Umschlag in eine neue Qualität, d. h., die alte Bildform wird zu einer neuen Aussage verwendet. Nicht umsonst erfreut sich Raffaels Sposalizio in diesem Zusammenhang einer großen Beliebtheit, läßt es sich doch auf ein höchst diesseitiges Vorbild aus der Antike zurückführen. Neben dem durch die Entwicklung des Bürgertums bedingten Säkularisationsprozeß können wir einen zweiten beobachten, der vor allen Dingen auch von den bäuerlich-plebejischen Bevölkerungsschichten getragen wird. Der christliche Bildinhalt wird zunächst revolutioniert, dann kann die Lösung der Kunst von den religiösen Bindungen erfolgen. An die Stelle der Passion Christi und der Apostel tritt das Martyrium der Wahrheit, Gerechtigkeit und Vernunft. Die Verwendung christlicher Bildformen im Gegensinne erwies sich für den politischen Graphiker als höchst vorteilhaft. Einerseits konnte er auf diese Weise den Gegner mit seinen eigenen Waffen schlagen, andererseits knüpfte er an Bildvorstellungen an, die weiten Bevölkerungsschichten vertraut waren. Es nimmt deshalb nicht wunder, wenn wir, ausgehend von der progressiven Kunst des 16. Jahrhunderts, eine Tradition feststellen können, die bis in die Gegenwart reicht und nicht nur Deutschland umfaßt. Auf einem Kupferstich von William Hogarth aus dem Jahre 1721, der unter dem Namen „Die Südseeseifenblase" bekannt ist und der einen der ersten großen Aktienschwindel der sich entwickelnden kapitalistischen Gesellschaft zum Inhalt hat, wird die an die Martersäule gefesselte allegorische Gestalt der „Honour" von der „Gemeinheit" („Vilany") gegeißelt, indes „Honesty" von dem „Eigennutz" („Self-Interest") auf das Rad geflochten wird (Abb. 18). „Honour" nimmt eine ähnliche Haltung ein wie Christus in der Geißelungsszene. Hierdurch wird vor allen Dingen das unwürdige Verhalten der auf dem Kupferstich vertretenen Geistlichen gebrandmarkt. Den beigefügten Versen zufolge waren sie, allen Glaubensstreit vergessend, herbeigeeilt, um sich zu bereichern.
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A b b . 3. H a n s Holbein 68/70), Die Tafelrunde des Lasters, Holzschnitt, 1546
Abb. 7. Lukas Cranach d. Ä. (1472 — 1553), Abendmahl, Mittelbild des Wittenberge!- Altares
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Abb. 13. Das Martyrium der Apostel, Zeichnung aus der sogenannten Göttinger Handschrift, 1464
A b b . 14. Georg Penez (um 1500 — 1550), Christus im Bock. K u p f e r s t i c h aus der Folge der . . B a r m h e r z i g k e i t e n "
Abb. 15. Peter F l ö t n e r (1490/95-154(5). Neue Passion Christi, Holzschnitt. Detail
Abb. 17. Peter Flötner (1490/95-154C), Neue Passion Christi. Holzschnitt, Detail
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Abb. 20. Ii. Puiggari, Die Auferstehung der Freiheit, Lithographie, Illustration für „ E l Tupe", 1881
Abb. 22. Fritz Cremer (geb. 1906), Ungarische Visionen, Bl. IV. Lithographie
Abb. 23. Fritz Cremer (geb. 1906), Ungarische Visionen, Bl. VI, Lithographie
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Die Kunst aus der Zeit der Großen Französischen Revolution und der darauffolgenden Jahrzehnte knüpft an die progressiven Traditionen an. Goya zeigt auf dem ersten Blatt seiner „Desastres de la Guerra", das die Unterschrift „Traurige Vorahnungen von dem, was da kommen wird" trägt, einen knienden, in Lumpen gehüllten Mann, der mit einer Gebärde der Hoffnungslosigkeit beide Arme erhebt. Ihn umgibt das Dunkel einer felsigen Wüste, in dem undeutlich erkennbare Ungeheuer spuken. Der Mann, der das spanische Volk kurz vor dem Ausbruch des Krieges verkörpert, gleicht dem Christus in einer Gethsemanedarstellung, nur daß ihm kein Engel erscheint. In einer Zeichnung von 1812 hat Goya noch einmal auf die gleiche christliche Bildform zurückgegriffen. An die Stelle des Christus am ölberg ist die ,,Divina Libertad" getreten. Auf dem Blatt herrscht, im Gegensatz zu den vorangegangenen Arbeiten, eine Stimmung jubelnden Frohlockens. Auf dem Holzschnitt des Engländers George Cruikshank „The ,Damnable Association'; or, The Infernal Inquisition of Black Friars", die er für Wilham Hönes „Facetiae and Miscellanies" (2. Aufl. London 1827) schuf, erfährt die „Freiheit" das gleiche Martyrium wie auf dem Michelfeldter Teppich „Wahrheit", „Vernunft" und „Gerechtigkeit" (Abb. 19). Sie wird von konterrevolutionären Fanatikern in den Bock gespannt. Der Holzschnitt spiegelt die Tatsache wider, daß die herrschende Gesellschaft Englands infolge der Revolution in Frankreich und der Napoleonischen Kriege von einer heftigen Furcht vor der „jakobinischen Gefahr" befallen war und die entsprechenden Gegenmaßnahmen ergriff. Wenige Jahre bevor die Illustrationen von Cruikshank entstanden, zeichnete Goya die Gefangenen der Inquisition. Während uns der Engländer das Martyrium einer allegorischen Gestalt vor Augen führt, schildert Goya die Leiden der qualvoll gefesselten Opfer der Reaktion. Er geht damit zu einer direkten Wiedergabe der Wirklichkeit über. Es ist in der Kunstgeschichtsforschung wiederholt darauf hingewiesen worden, daß die Darstellungen ermordeter Freiheitshelden im Werke von Jacques Louis David in formaler Hinsicht auf die Wiedergabe der Passion Christi zurückzuführen sind. Klaus Lankheit bezeichnet Davids „Marat" als die ins Politische transponierte ,,Beweinungs"-Darstellung der Französischen Revolution und beruft sich hierbei auf die Arbeit des Amerikaners David Lloyd Dowd, Pageant Master of the Republic: Jacques Louis David and the French Revolution, University of Nebraska 1948. Die unbestreitbar vorhandenen Übereinstimmungen mit der christlichen Kunst werden benutzt, um den angeblich pseudoreligiösen Charakter revolutionärer Bewegungen herauszustellen, etwa in dem Sinne, daß an die Stelle der alten richtigen Religion eine neue falsche, eine sogenannte Ersatzreligion, getreten ist. Diese Lehre stimmt mit der Wirklichkeit nicht überein, sie entspricht vielmehr dem Wunschbild der spätbürgerlichen Gesellschaft, die, um ihre Positionen zu wahren, gezwungen ist, die eigenen revolutionären Anfänge zu verleugnen. Wenn David in seiner Kunst vielleicht unbewußt auf diese durch das Alter 17 Renaissance, Band I
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geheiligten Formen zurückgreift, so ist das meines Erachtens so zu verstehen, daß er den Überlieferungen, die dem Überbau der Feudalgesellschaft angehören, das wahre Heldentum jener gegenüberhält, die ihr Leben für die Befreiung des Volkes einsetzten. Hinzu kommt, daß bei dem zwischen Inhalt und Form bestehenden dialektischen Widerstreit der Inhalt die vorantreibende K r a f t ist und alte Formen weiterhin benutzt werden können. Aus dem Wissen heraus, daß bestimmte Kreise des Volkes, vor allen Dingen in den ländlichen Bezirken, immer noch unter religiösem Einfluß standen, benutzten auch die französischen Karikaturisten während der revolutionären Ereignisse des 19. Jahrhunderts gelegentlich Vorwürfe aus der christlichen Bildsprache. Sie stellten die „Freiheit" oder Frankreich" als symbolische Gestalt dar, die die Qualen der Passion erleidet. Darstellungen dieser Art finden wir besonders häufig in den Jahren zwischen 1830 und 1835 in der Pariser Zeitung „La Caricature" und während der Zeit der Pariser Commune. 1871 schuf E. Courteaux unter dem Titel „La Grande Crucifiée" einen Leidensweg der Freiheit. Undenkbar ohne die entsprechenden französischen Arbeiten sind die Lithographien, die der Spanier Bi. Puiggari 1881 für die Zeitschrift „La Tupe" schuf. Eines der Blätter zeigt die „Freiheit", die aus dem Grabe aufersteht, dessen Wächter die Züge lebender Politiker tragen (Abb. 20). Mag zwischen Peter Flötners „Neuer Passion Christi" und der Lithographie Puiggaris, die etwa 350 Jahre später entstanden ist, eine große stilistische Kluft liegen, bewußtseinsmäßig ist der Schritt von der einen zu der anderen Arbeit verhältnismäßig klein, was durch die gesellschaftlichen Voraussetzungen in Spanien zu erklären ist. Die politische Malerei und Graphik des 20. Jahrhunderts in den lateinamerikanischen Ländern knüpft ebenfalls in vielen Fällen bewußt an christliche Bildvorstellungen an, die sie im Gegensinne verwendet. Dies wird besonders deutlich im Werke Diego Riveras. Ein einleuchtendes Beispiel bietet auch der Linolschnitt des Mexikaners Francisco Mora (geb. 1922) „Der Tod des Minenarbeiters". Der Tote nimmt hier die Stelle Christi ein, und die Frau, „Maria", ballt die Faust (Abb. 21). Der Protest mit Hilfe von Kreuzigungsdarstellungen ist eine Erscheinung, die wir in der Kunst des 20. Jahrhunderts häufig vorfinden. Ich erinnere nur an George Grosz, Frans Masereel und Willi Geiger. Während des faschistischen Krieges bekundeten der italienische Maler Renato Guttuso und der Bildhauer Giacomo Manzù auf diese Weise ihren Widerstand gegen die vom katholischen Klerus gesegnete Gewaltherrschaft. Diego Rivera brandmarkte in seinem Wandgemälde „Der Alpdruck des Krieges und der Traum vom Frieden" (1951) das Treiben der Kriegsbrandstifter durch die Gestalt eines gekreuzigten Arbeiters. Zum Schluß möchte ich noch auf Fritz Cremers Zyklus „Ungarische Visionen" (1956) hinweisen. Um den klerikal-faschistischen Charakter des Ungarnputsches zu veranschaulichen, benutzte auch Cremer Vorbilder aus der christlichen Bildsprache. Es gelang ihm auf diese Weise, die kirchlich-militaristische Clique bloßzustellen, welche nach der Herrschaft in Ungarn strebte. Jener Geistliche, der mit
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erhobenem Schwerte Unheil verbreitet, ist eine ins Negative gewendete Darstellung des Erzengels Michael aus dem Jüngsten Gericht (Bl. IV) (Abb. 22), und der Flüchtling, der den Versprechungen des Feindes Glauben schenkte, sitzt in der Haltung eines Schmerzensmannes auf einer Kiste, die die Aufschrift „Flüchtlingsprogramm der Vereinigten Staaten" trägt (Bl. VT) (Abb. 23). Das Problem der Verweltlichung religiöser Bildformen kann lediglich im Zusammenhang mit der Erforschung der jeweiligen Situation des Klassenkampfes gelöst werden. Es tritt überwiegend in den Zeiten revolutionärer Auseinandersetzungen in Erscheinung, so in der deutschen Kunst des 16. Jahrhunderts, in der Malerei und Graphik, die während oder im Gefolge der Französischen Revolution entstand, in der Zeit um 1830, im Zusammenhang mit der Pariser Commune und im 20. Jahrhundert. Vor allen Dingen die progressiven Kräfte, die an das Verständnis breiter Volksmassen appellieren und der herrschenden Ausbeutergesellschaft den Spiegel vor das Gesicht halten wollen, bedienen sich dieses Mittels, das seine Aktualität erst mit der Errichtung einer klassenlosen Gesellschaft einbüßen wird und das im ideologischen Kampf des Bürgertums gegen die Feudalgesellschaft erstmalig Anwendung fand. Literaturverzeichnis E. F . Bange, Peter Flötner, Leipzig 1926. J o h n Berger, Renato Guttyso, Dresden 1957. Campbell Dogson, Eine Holzschnittfolge Mathias Gerungs, J a h r b u c h der Königlich Preußischen Kunstsammlung 29, 1908, 195—216. David Lloyd Dowd, Pageant-Master of the Republic. Jacques Louis David and the French Revolution, University of Nebraska Studies 1948. Zoroslava Drobna, Die gotische Zeichnung in Böhmen, Prag 1956. Friedrich Engels, Der deutsche Bauernkrieg,in: K.Marx, F r . Engels, Werke 7, Berlin 1960,329fif. Paul Ganz, Die Handzeichnungen Hans Holbeins d. J . , Berlin 1937. Max Geisberg, Der deutsche Einblattholzschnitt in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts, München 1930. Hans Carl von Haebler, Das Bild in der evangelischen Kirche, Berlin 1957. Konrad Haemmerling, Hogath, Dresden 1950. William Hone, Facetiae and Miscellanies, 2. Aufl. London 1827. F. D. Klingender, Goya und die demokratische Tradition Spaniens, Berlin 1954. Theodor Kolde, Beiträge zur Reformationsgeschichte, 3: Zum Prozeß des Johannes Denk und „der drei gottlosen Maler von Nürnberg", in: Kirchengeschichtliche Studien Hermann Reuter zum 70. Geburtstag gewidmet, Leipzig 1888, 228—250. Theodor Kolde, H a n s Denck und die gottlosen Maler von Nürnberg, Beiträge zur bayerischen Kirchengeschichte 8, 1901, 1. 1 - 3 1 ; 2. 4 - 7 2 . Betty K u r t h , Zwei unbekannte Fragmente des Michelfeldter Bildteppichs, Die graphischen Künste N. F. 2, 1937, 2 7 - 3 1 . Klaus Lankheit, Nibelungen-Illustrationen der Romantik. Zur Säkularisierung christlicher Bildformen im 19. Jahrhundert, Zeitschrift für Kunstgeschichte 7, 1953, 95—112. 17*
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Klaus Lankheit, Das Freundschaftsbild der Romantik, Heidelberger Kunstgeschichtliche Abhandlungen N. F. 1, 1952, 6 9 - 7 1 . Heinz Lüdecke, Lukas Cranach d. Ä. Der Künstler und seine Zeit, Berlin 1953. Gabriele Mucchi, Reliefs aus den Jahren des Widerstandes, Bildende Kunst 7,1957, 463—467. Wilhelm Pinder, Holbein d. J. und das Ende der altdeutschen Kunst, Frankfurt a. M. 1951. Gerhard Pommeranz-Liedtke, Mexikanische Graphik, Berlin 1956 (Ausstellungskatalog). Gerhard Pommeranz-Liedtke, Frans Masereel. Malerei und Graphik 1917 — 1957, Berlin 1957. Alois Riegl, Das holländische Gruppenporträt, Jahrbuch der Kunsthistorischen Sammlung des Allerhöchsten Kaiserhauses 23, 1902, 71—278. Franz Roh, Zwölf Jahre. Zwanzig Zeichnungen von Willi Geiger, Wiesbaden o. J . H. Röttinger, Peter Flettners Holzschnitte, Straßburg 1916. Arnold von Salis, Antike und Renaissance, Erlenbach 1947. S. D. Skaskin, A. S. Samoilo, A. N. Tschistoswonow und A. Kosminski, Geschichte des Mittelalters I/II, Berlin 1958. H. A. Schmidt, Holbeinstudien, Zeitschrift für Kunstgeschichte 10, 1941/42, 1—39. Georg Stuhlfauth, Drei zeitgeschichtliche Flugblätter des Hans Sachs mit Holzschnitten des Georg Pencz, Zeitschrift für Bücherfreunde N. F. 10, 1919, 236—248. Oskar Thulin, Cranach-Altäre der Reformation, Berlin o. J. Hans Tietze / E. Tietze-Conrat, Neue Beiträge zur Dürerforschung, Jahrbuch der Kunsthistorischen Sammlung Wien N. F. 6, 1932, 127-135. Hans Tietze / E. Tietze-Conrat, Kritisches Verzeichnis der Werke Albrecht Dürers II, Basel 1938, Anm. 222 (dort ausführliches Literaturverzeichnis zum Michelfeldter Teppich). John Trusler, The Works of William Hogarth, London o. J. Emil Waldmann, Die Nürnberger Kleinmeister, Leipzig 1910. Hermann Wäscher, Das deutsche illustrierte Flugblatt I, Dresden 1955. El Tupe. Politico-Satirico-Ilustrado, Barcelona 1881.
Abbildungsnachweis Abb. 1—3: Paul Ganz, Die Handzeichnungen Hans Holbeins d. J., Berlin 1937. Abb. 4: Lutherhalle, Wittenberg. Abb. 5—7: Photo Zscherpel, Wittenberg. Abb. 6: Campbell Dogson, Eine Holzschnittfolge Mathias Gerungs, Jahrbuch der Königlich Preußischen Kunstsammlung 29, 1908. Abb. 8: Galerie Moritzburg, Halle, Graphisches Kabinett. Abb. 9—11: Friedrich Winkler, Dürer, Berlin o. J . Abb. 12: Max Geisberg, Der deutsche Einblattholzschnitt in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts, München 1930. Abb. 13: Zoroslawa Drobna, Die gotische Zeichnung in Böhmen, Prag 1956. Abb. 14: Emil Waldmann, Die Nürnberger Kleinmeister, Leipzig 1910. Abb. 15—17: E. F. Bange, Peter Flötner, Leipzig 1926. Abb. 18: Kunsthistorisches Institut, Halle. Abb. 19: William Hone, Facetiae and Miscellanies, 2. Aufl. London 1827. Abb. 20: El Tupe. Politico-Satirico-Ilustrado, Barcelona 1881. Abb. 21: Gerh. Pommeranz-Liedtke,Mexikanische Graphik, Berlin 1956 (Ausstellungskatalog). Abb. 22/23: Galerie Moritzburg, Halle, Graphisches Kabinett.
Winckelmann und seine Drucker1 Heinrich Alexander Stoll
1. Es ist zugleich ein kurzer und langer Weg, von dem Praeceptor Germaniae zum Praeceptor Mundi, von Wittenberg nach Rom, vom 16. ins 18. Jährhundert. Zeitlich gehört der Schuhflickerssohn aus Stendal, Johann Joachim Winckelmann, nicht in die Renaissance, nicht zu den Humanisten, denen dieser Kongreß gewidmet ist. Sachlich aber gehört er zu beiden, als der Vorbote und Gärtner der zweiten Renaissance des klassischen Altertums im Klassizismus, als Prophet einer humanitas, die seinem Zeitalter nahezu fremd geworden war, als Schutzpatron auch eines gegenwärtigen geistigen Weltgeschehens, in dem das Pendel der Ideen wieder einmal zur Antike zurückschwingt — so wie in Winckelmann selbst, der als Konrektor in Seehausen „Kindern mit grindigten Köpfen das Abc lesen" ließ, „wenn ich während dieses Zeitvertreibs sehnlich wünschte zur Kenntniß des Schönen zu gelangen, und Gleichniße aus dem Homerus betete", der als Bibliothekar des Grafen Bünau sodann „den ganzen Tag alte Urkunden und Chroniken" ausschrieb „und laß Leben der Heiligen, und des Nachts den Sophocles und dessen Gesellen" 2 . Stellen wir uns in knappsten Zügen die Zeit und die Menschen vor, in der und unter denen Winckelmann lebte und wirkte. Die Menschen, die als Reisende zu den damals erschlossenen Quellen der Antike nach Italien pilgerten, waren in der Mehrheit „wie der Wind in den Orgel-Pfeifen" 3 , „unweise, unberichtete junge Gecken . . . Störer meiner Ruhe und Räuber meiner Zeit" 4 . „Sie ziehen als Störche über die Länder" 5 , oder „sie kommen als Narren hier(her) und gehen als Esel wieder weg; dieses Geschlecht der Menschen verdienet nicht, daß man sie unterrichte und lehre" 6 . Eine Monographie des Verfassers über Winckelmann, seine Verleger und seine Drucker ist als Jahresgabe der Winckelmann-Gesellschaft 1960 erschienen, Berlin 1960. 2 J . J . Winckelmann, Briefe, in Verbindung mit H. Diepolder hrsg. von W. Rehm. Kritischhistorische Gesamtausgabe I—IV, Berlin 1952—1957, III 55 Nr. 673, Brief an H. Füssli vom 22. September 1764. 3 Ebd. IV 31. 4 Ebd. II 130f. Nr. 397. 5 Ebd. II 12 Nr. 283. • Ebd. 1235 Nr. 151. 1
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Die Zeit sodann: Die Fürsten und die Höfe begriffen nicht, „wie man Deutsch, und im Deutschen gut schreiben könne" 1 . Die Minister in Preußen, schreibt Sulzer an Gleim, waren Leute, „die niemals etwas von unserer Literatur lesen und das, was sie durch das Gerücht hören, verachten", und in der Berliner Akademie der Wissenschaften war „sogar unsere Sprache fremd und nun beynahe unbekannt" 2 . Der Adel und das Großbürgertum folgten, so gut oder schlecht sie konnten, diesem Exempel und wußten wenig oder nichts, was nicht französisch war, die Kleinbürger lasen Räuberromane, die Bauern den Kalender und die Bibel. Bei allen diesen negativen Elementen eine im Sinne des Humanismus positive Rechnung zu präsentieren ist eine Leistung, die nicht leicht zu hoch bewertet werden kann. Winckelmann hat es getan. Das im Einzelnen des Lebens, des Werks, der Lehre nachzuweisen, ist eine Aufgabe, die an anderem Orte zu lösen sein wird. Heute und hier soll nur, an Hand der Winckelmannschen Briefe, ein kleines Teilgebiet rein praktischer Art untersucht werden : Winckelmann und das Buch, Winckelmann und seine Drucker. 2. Nicht nur für den homme de lettres des 18., sondern auch für den Humanisten des 15. und 16. Jahrhunderts ist das Verhältnis zum Buch von entscheidender Bedeutung. In seiner hallischen Studentenzeit war Winckelmann mehr auf der Bibliothek zu finden als in den Vorlesungen. In der „Märteley" der Hauslehrerzeit und des Konrektortums ging er, sooft es seine Zeit erlaubte, meilenweit über Land zu den Glücklichen, die eine große Bibliothek besaßen und die ihn dadurch glücklich machten, daß sie ihm dort zu lesen gestatteten oder ihm gar Bücher liehen. Heute noch liegen in Paris, Besançon, Rom, Dresden, Hamburg Tausende von Seiten mit Exzerpten von Winckelmanns Hand. Für Kleidung und Essen gab er in seiner deutschen Zeit kaum etwas aus, aber jeder abgehungerte Taler wanderte zum Buchhändler oder zum Buchauktionator. Begreiflich also, daß der erste Versuch, die Flügel zu spannen und der Schulstube und dem Schulstaub zu entfliehen, in die große und schöne Bibliothek des Grafen Bünau führte ! Begreiflich auch, daß Bibliotheken stets eine besondere Anziehungskraft für den Freund der Bücher besaßen und ebenso die Läden der Buchhändler ! Als der nahezu achtunddreißigjährige Winckelmann aus Knechtschaft und Dienst in „das Land der Menschlichkeit" reisen darf, nach Italien und nach Rom, besucht er unterwegs überall, in Augsburg und in Regensburg, in Venedig und in Bologna die Bibliotheken, und auch in Rom atmet er zunächst nur Bibliotheksluft, bei den Kardinälen Archinto und Passionei. 1 2
Ebd. III 360 Nr. 932. Ebd. IV 135.
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Sein vordringliches Interesse gilt dabei — wie bei den eigentlichen Humanisten — den seltenen und den schönen Büchern — so wie er schon in seinen ersten Briefen aus Nöthnitz „die schönsten Editionen" in der Bünauischen Bibliothek gerühmt hatte 1 , oder auch: „Wir haben kürzlich eine sehr kostbare Edition . . . bekommen" 2 , und: „Wir haben neulich den ersten Tomum der prächtigen Wienerischen Ausgabe von Hippocrates erhalten" 3 . Von der Romreise berichtet er Bianconi über die unterwegs gesehenen Bibliotheken und hebt, aus der Palmschen in Augsburg, den Aristoteles-Kommentator Simplicius hervor, einen Inkunabeldruck 4 „avec des lettres initiales dorées et surtout bien conservé, mais pas assés estimé du Possesseur puisqu'il l'a laissé au milieu des vieux bagatelles dans la meme volume" 5 . In Rom freut er sich an einem „Homer, zu Paris von dem großen Turnebus 6 gedruckt", und an einem „schönen Catull" 7 , und von Wille, dem Empfänger dieses Briefes, erbittet er die Pariser Duodezausgabe des Catull, Tibull, Properz von 1743. „Ich wünschte es in einen sauberen Engl. Band zu haben mit einem tiefen Faltz. Denn hier bindet man schlecht" 8 . Am größten aber ist seine Freude, als der dänische Minister Graf Moltke ihm durch Prinz Georg August von Strelitz die zweibändige Glasgower Kleinfolioausgabe des Homer (1756ff.) schickt: „Ein prächtigeres Werk ist niemals im Griechischen gedruckt" 9 , und: „Wenn ich die Abschrift des Homer die Alexander der Große in einem kostbaren Kästgen legen ließ, gefunden hätte, würde mir diese Entdeckung schwerlich mehr Freude gemacht haben, als diejenige ist, die ich über den prächtigen Homerus enpfunden . . . Ich habe ein wahres kindisches Vergnügen über dieses herrliche Geschenck, und da ich daßelbe beständig vor mir Hegen habe, so belustiget sich Auge und Gemüth ohne Unterlaß, und wenn ich auch nicht Muße habe zu lesen, so schaue ich wenigstens den prächtigen Druck an. Dieser Homerus wird meine liebste Gesellschaft in meinem Alter seyn, weil ich zu demselben keine Brille nöthig habe, und das Andenken des würdigen Gebers wird allezeit mit dem Homerus vergattet bleiben, und in demselben leben" 10 . Natürlich finden wir auch das Gregenteil des schönen Buches bei Winckelmann erwähnt. Als Stosch ihn die Gedichte Rollis zu besorgen bittet, antwortet Winckel1
Ebd. I 87 Nr. 58, Brief an Uden vom 14. September 1748. Ebd. I 95 Nr. 68, Brief an Uden vom 13. Januar 1750. Ebd. 1108 Nr. 80, Brief an Uden vom 9. November 1751. 4 Winckelmann bezeichnet ihn als Mailänder Druck von etwa 1492, Graesse dagegen nennt als frühesten Druck Venedig 1499. 5 J. J. Winckelmann, Briefe III, 395 Nr. 117, ähnliches 1189 Nr. 121 und 1191 Nr. 122. 6 Ein Druck von 1554, von Adrien Turn&be, 1512—1565, dem damaligen Direktor der Königlichen Druckerei. 7 J. J. Winckelmann, Briefe I, 260 Nr. 165, Brief an Wille vom 12. Januar 1757. 8 Ebd. I 245 Nr. 159. 9 Ebd. III 138 Nr. 744. 10 Ebd. III 132 Nr. 741. 2 3
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mann ihm: „Die übrigen Gedichte . . . sind . . . zu Verona in 12° gedruckt, aber so jämmerlich, daß ich mir ein Bedenken gemacht habe, so einen Schandfleck der Welschen Druckerey zu überschicken"1. Unter diesen Voraussetzungen, die Winckelmann zur Genüge als einen vom Geiste des Humanisten geprägten Bibliophilen kennzeichnen, mußte er für seinen Verleger und für seinen Drucker ein schwieriger Autor werden, der nicht leicht zufriedenzustellen war. Hinzu kam der komplizierte Charakter Winckelmann, sein Temperament und nicht zuletzt der umständliche Postweg zwischen Rom und Sachsen. Das alles summiert macht aus den Beziehungen Winckelmanns zu seinen Verlegern und Druckern eine wahre historia calamitatum. 3. Obwohl der Briefwechsel Winckelmanns nur lückenhaft erhalten ist, könnte man allein aus dem Kapitel Drucker mühelos ein ganzes Buch machen, aufgeteilt etwa in die Sachgebiete Breitkopf, Bonducci, Lettern, Setzer, Korrektoren, Druckfehler. Aber es wäre nicht gut, jeden brieflichen Satz in Partikelchen zu zerreißen, und es wäre langweilig, Vollständigkeit zu erstreben. Deshalb wollen wir chronologisch vorgehen und nur einige wenige Beispiele auswählen, die typisch erscheinen. Schon als Winckelmann die zweite Auflage seines opus 1 erhalten hat, am 7. Juli 1756, zuckt der erste Blitzstrahl zum Verleger Walther nach Dresden: „Ist es denn nicht möglich, in Leipzig eine kleine Schrift ohne grobe Fehler zu drucken? Zu was vor einer Art von Bestien soll man einen Corrector zählen, der p. 48 anstatt Transfiguration, Kransfig. lieset? Auf der 76. Seite habe ich den Namen des Arztes in Eil ausgelassen, aber p. 78. ist er genannt, nehmlich Erasistratus: er hat die Lücke gelassen, wie er sie gefunden hat. Ich bin die Schrift nur durchgelaufen: wer weiß wie es mit den Allegatis gegangen ist!" 2 Als er dann am 15. Mai 1758 Walther die Geschichte der Kunst zum Verlag anbietet, gespenstern sofort die reichen Druckfehlermöglichkeiten durch seine Gedanken: „Ich wünschte daß es aufs beste und mit allen Fleiß übersehen und von Druckfehlern rein erscheinen möchte, ohngeachtet man auch in Leipzig in Sachen der Kunst sehr blind ist, wie der Druck meiner Schriften lehret. In Augspurg aber und in der der Schweiz" — wo andere Verlagsmöglichkeiten sich boten — „habe ich mir noch weniger zu versprechen"3. In einer Nachschrift kommt er dann noch einmal auf die Druckfehler zurück und beruhigt den Verleger: „Es ist alle fremde Gelehrsamkeit, so viel möglich ist, vermieden, also würde die Correctur desto leichter seyn" 4 . 1 2 3 4
Ebd. Ebd. Ebd. Ebd.
III 253 Nr. 844. 1238 Nr. 153. I 363 Nr. 214. I 364.
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Sehr schön spiegeln sich die bibliophilen Neigungen Winckelmanns in einem Brief an C. Füssli, den präsumptiven Verleger der Geschichte der Kunst in Zürich, vom 27. Juli 1758: „Ich werde einige nicht bemerkte Stellen, sonderlich aus dem Plato und Aristoteles griechisch in den Noten drucken laßen : ich wünschte aber daß man schöne Lettern haben könnte: dieses würde mich bewegen noch eine und die andere zuzusetzen. Es hat der gute Geschmack in dieser Art seit Robert Stephani Zeit 1 in der Welt verlohren. Es ist kein Licht und Schatten mehr in den griechischen Buchstaben. Ich werde verstanden werden weil ich mit einem Künstler rede, und gewisse Abkürzungen, Abbreviaturen gehören zur schönen Form, und geben ihnen die Runde und die Gratie. Es könnte geschehen, daß ich mit der Zeit etwas Griechisches drucken ließe2. Die Leipziger glauben ihr Constantinus Porphyrogenetus sey ein Muster eines griechischen Druckes 3 ; die in Glasgow bilden es sich auch ein 4 ; in meinen Augen ist es ein verhungerter und schäbigter Kontur von Buchstaben. Es ist eine fast unmerkliche Hebung und Senckung, Schwellung und Vertiefung, welche den Buchstaben die Gratie giebt, aber dieses wenige ist nicht jedermann begreiflich und macht in allerhand Künsten den Unterschied des Meisters. Robert Stephanus war es in der griechischen Druckerey"5. Wie der Stoschische Gemmenkatalog einen besonderen Abschnitt in Winckelmanns Leben bedeutet, so macht das technische Entstehen dieses Buches auch ein besonderes Kapitel in seinen Auffassungen vom Druck aus. Ohne weitere Kommentare kann hier ein Briefausschnitt dem anderen folgen : 4. August 1759: „Was den Druck des Catalogi in Florenz betrifft, billige ich diesen Einfall, wenn man gute Lettern und Französische Setzer hätte" 6 . 11. August 1759: „Ich freue mich daß Sie den Druck selbst besorgen wollen, aber hat man gute Lettern in Florenz? ich zweifele daran. Ich würde Buchstaben wählen wie die in Caylus seinem Wercke sind" 7 . 15. August 1759: (Einzelne Buchstaben mußten speziell für dieses Buch geschnitten werden. Das geschah in der Druckerei der Kongregation de propaganda fide unter Winckelmanns Aufsicht.) „Zum Schneiden der Wörter und Buchstaben in Holz habe ich nöthig zu wißen, was Sie vor Lettern nehmen wollen, damit die geschnittenen mit jenen übereinkommen. Schicken Sie mir ein paar gedruckte 1
2 3 4
5 6 7
Robert Estienne, 1503—1559, Humanist und königlicher Drucker in Paris, in dessen 1526 gegründeter Offizin seit 1540 auch die griechischen Autoren in berühmt schönen und genauen Drucken erschienen. Winckelmann ging lange Zeit mit dem Plan um, griechische Handschriften aus der Vaticana zu edieren. De ceremoniis aulae byzantinae Libri II, ed. J. J. Reiske, Leipzig 1751 ff., cf. Nr. 389. Rehm vermutet, daß Winckelmann an die Pindarausgabe von 1744 oder die vierbändige von 1754ff. denkt. Der Glasgower Homer kann nicht gut gemeint sein, da Winckelmann gerade ihn so lobte und liebte. J. J. Winckelmann, Briefe I, 400 Nr. 225. Ebd. II 15 Nr. 289. Französische Setzer waren erwünscht, da der Katalog französisch geschrieben war. Ebd. II 17 Nr. 292. Gemeint sind die Recueils d'Antiquité, Paris 1752ff.
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Worte, oder melden Sie mir den Namen von der Sorte Lettern, mit dem Kunstworte der Buchdrucker" 18. August 1759: „Von dem überschickten Blade wird man die Noten zum Drucke wählen müßen: das Elend ist, daß die Buchstaben stumpf und abgenutzet sind. Es ist eine Schande vor Florenz, daß die Druckerey so jämmerlich bestellet ist. Das Griechische siehet Barbarisch aus: es ist gut daß ich sehr sparsam mit demselben gewesen bin" 2 . 22. August 1759: „Ich habe zum schneiden der Buchstaben 6 gegoßene Buchstaben nöthig von denen welche Sie sich gewählet haben, und zwar den Buchstaben klein m, weil dieser der breiteste ist, denn die geschnittenen Worte müßen von gleicher Höhe seyn, sonst kann man nichts machen . . . Pagliarini 3 glaubet daß Sie niemahls mit dem Drucke in Florenz würden zufrieden seyn, theils wegen der schlechten Lettern, theils wegen des Papirs. Er glaubete Sie würden beßer fahren, es in Rom drucken laßen, auch in Absicht des Papirs, welches überhaupt beßer sey, und durch eine Begünstigung des Tesoriere ohne Gabella zu erhalten sey 4 . Ich schreibe dieses als einen bloßen Vorschlag" 5 . Anfang September mehren sich mit dem Nahen des Druckes Winckelmanns Sorgen um die Druckfehler. 5. September 1759: „Es ist sehr viel verschrieben in der Orthographie" [der Manuskript-Abschrift], „Suchen Sie doch außer dem Herrn Ab t e " [ = Abbate] „Buonaccorsi noch jemand anders der das Griechische übersiehet. Es ist mir bange dabey" 8 . 15. September 1759: „Wo ich Commata ausgestrichen ist es mit zwey Querstrichen geschehen (%) dieses muß sorgfältig beobachtet werden: denn es ist kein einziges Comma übergangen und zu übergehen. Wegen des Griechischen ist mir sehr bange, weil ich gewiß glaube daß in ganz Toscana kein einziger sey auf den man sich verlaßen können; sind doch in Rom nur zwey Personen. Sollte man Gefahr laufen was fehlerhaftes zu liefern, müßte ich von neuen alles weg streichen und ändern, und ich will es lieber thun. Wenn aber Bonducci 7 die Augen genau aufsperret, so ist das wenige Griechisch so deutlich geschrieben daß er nicht fehlen kann: man muß aber auf einen jeden Punct unter und über jeden Buchstaben Achtung geben" 8 . 29. September 1759: „Ich bin froh daß wir wegen des Griechischen gesichert sind, aber mir wird sehr angst und bange nunmehro da ich höre, daß man wirklich 1 2 3 4 5 6 7 8
Ebd. II 18 Nr. 293. Ebd. II 20 Nr. 295. Ein römischer Buchhändler und Verleger, mit Winckelmann befreundet. Es bleibt offen, wer die guten Beziehungen zum Schatzmeister hatte, der den Zoll erlassen konnte, Pagliarini oder Winckelmann; wahrscheinlicher ist, daß Pagliarini gemeint ist. J. J. Winckelmann, Briefe II 23 Nr. 297. Ebd. II 30 Nr. 304. Der Drucker des Katalogs. J. J. Winckelmann, Briefe II, 33 Nr. 306.
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an den Druck gehet. Ich wage alle meine Ehre und Schande: der Himmel gebe, daß es zum guten ausschlage" 1 . Ende September, Anfang Oktober sieht Winckelmann noch einmal die Manuskript-Hefte sorgsam durch, und Ende des Monats bekommt er den ersten Probebogen. 27. Oktober 1759: „Der Druck ist nicht der Beste, aber er ist erträglich. Es wäre zu wünschen, daß derjenige der es durchgesehen" [ = die Korrektur gelesen] „alles verstanden hätte", und es folgt eine Menge von Berichtigungen 2 . 30. Oktober 1759: „Sagen Sie doch dem Buchdrucker daß er mit seiner wenigen Gelehrsamkeit nach Pisa reise 3 , aber nicht dieselbe in dem Werke zeige. Wo ich eine edition Henrici Stephani allegiret, H. Steph. hat er gesetzet Enr. Stephani. Ich will nicht von dem ausgelassenen H sagen; dieses aber völlig auszudrucken ist ein Gebrauch der Pedanten, der Scioli und der Frati 4 , um zu zeigen daß sie dergleichen Ausgabe gesehen haben. Es wird uns nicht so viel Schande als dem Buchdrucker machen, wenn ich vielleicht ein paar Bogen Druckfehler werde hinten ansetzen; denn ich werde alles sehr genau durchsehen." 5 3. November 1759: „Weil ich sehe daß wenig Aufmerksamkeit auf das Griechische gewendet wird . . ., so werde ich genöthiget so viel als ich kann, das Griechische wegzustreichen" 8 . 21. November 1759: „Es würde alles gut gehen wenn nur der Druck richtiger wäre. Nach so vielen Erinnerungen sehen Sie nur ein einziges Griechisches Wort an pag. 96. Es sollte gedruckt seyn Hqjtjvojiwymv und stehet Efprjvonwyovi. Was wird man vor Zeug machen aus langen Stellen! Man könnte mich nicht lächerlicher in der Welt erscheinen machen. Soll ich mich in der Vorrede über die Bestialische Unwißenheit aller Florentacci beklagen? Was, wird man sagen, man würde doch einen einzigen Menschen gefunden haben, der aus Menschenliebe ein Griechisches Wort angesehen hätte und dennoch wird es uns nicht so gut. Wer kann nun wißen wie viel Druckfehler in den allegatis stecken . . . Dr. Lami wird ja wenigstens Griechisch lesen können, und mehr gebraucht es nicht: denn ich habe ja alles mit der größten Sorgfalt geschrieben und verbeßert. . . Aber ich will nicht unnützlich von Dingen reden die gar nicht zu ändern sind. Wenn noch gar keine große Griechische Stellen abgedrucket wären, und ich könnte den Text ändern, so würde ich alles Griechische wegstreichen . . . Vor dem Druck wäre es Zeit gewesen" 7 . 1
Ebd. II 35 Nr. 309. Ebd. II 41 Nr. 317. 3 Spott auf die von Winckelmann wenig geschätzten Universitäten, von denen Pisa Florenz am nächsten lag. 4 Klugscheißer und Mönche. Sachlich dürfte in diesem Falle aber der Korrektor nicht ganz so schuldig gewesen sein, denn hier kokettiert Winckelmann zu deutlich mit den Zitiermethoden der zeitgenössischen Gelehrten, die in unverständlichen Abbreviaturen einen besonderen Stolz sahen. 5 J. J. Winckelmann, Briefe II, 42 f. Nr. 318. 7 • Ebd. II 44 Nr. 320. Ebd. II 50 Nr. 326. 2
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12. Dezember 1759 : „Ich weiß nicht wie es zugehen" (konnte) „daß p. 168. n. 2. das Griechische ausgelaßen worden, und nur das Lateinische davon stehet. Ich kann mir nicht einbilden daß ich es ausgelaßen. Liegt die Schuldnicht an mich, so ist es Ihnen beyzumeßen, da Sie das geschriebene nicht genau gegen den Druck gehalten, und alsdenn zeiget es von einer großen Nachläßigkeit" 1 . 15. Dezember 1759: „Ich bitte Sie um alles was mir lieb ist, die allegata genauer anzusehen als geschiehet... Es kosten die allegata so unbeschreibliche Mühe, und sie erscheinen in dieser Schrift wahrhaftig zum ersten mahl mit völliger Richtigkeit aus den Quellen gesuchet" 2 . 22. Dezember 1759: „Ich kann nicht umhin mich sehr zu beklagen über die Übersehung des Drucks . . . Außerdem sind weder Commata noch andere Zeichen, wie ich dieselbe gesetzt gehabt, in acht genommen : Es fehlen keine Commata, aber es sind deren zu viel und sie zerreißen den Satz . . . Ich sehe daß Mr. St. Laurent 3 ein Ertzkleines Geschöpfgen von Verstände ist: er wäre gut zu gebrauchen in dem Kriege der Eselhaften Deutschen Profeßors, die sich dem Teufel und seiner Groß-Mutter ergeben über ein Wort mit oder ohne H. Ich habe von neuen die Commata mit so bestialisch dicken Strichen ausgethan daß wenn sie stehen bleiben, es ein Eselmäßiger Eigensinn scheinet"4. 29. Dez. 1759: „Der Druck bleibet voller Fehler weil man nicht Zeile vor Zeile, ja Wort vor Wort nach dem geschriebenen übersiehet, und es ist nicht genug daß M. St. Laurent diese verdrießliche Arbeit übernimmt, Sie selbst sollten alles noch einmahl eben so überlesen, und wenn noch ein dritter wäre, könnte es nicht schaden. Ich sehe daß niemahls ein Blick auf die Citationes geworfen worden, daher die erstaunende Mühe welche dergleichen Nachsuchen kostet, verlohren gehet. Sonderlich ist p. 227. ein gar zu grober Fehler begangen" [ein hebräisches Wort war verdruckt]. . . „Wenn in dem gantzen Wercke mehr Hebräische Worte wären, wär es zu verschmertzen, da es aber nur zwey sind, nemlich dieses und ein anderes vorher, welches ebenfalls unrecht ist, so kann ich es unmöglich stehen laßen, und ich bitte Sie mir den einzigen Gefallen zu erweisen, und diesen halben Bogen . . . umdrucken zu laßen. Diese Bitte können Sie mir nicht abschlagen : denn ich würde gar zu lächerlich mit meinen 2 Hebräischen Worten erscheinen . . . Ich bitte Sie hierum als um eine Sache woran mein bisgen Ehre hänget" 6 . 2. Januar 1760: „Ihr Corrector im Griechischen muß ein wahrhafter Esel seyn, denn . . ."« Kaum war der Ärger mit dem Druck des Gemmenkatalogs zu Ende, begann der Verdruß mit dem Druck der Geschichte der Kunst und gewiß nicht nur als 1 2 3 4 5 6
Ebd. II 60 Nr. 335. Ebd. II 61 Nr. 336. Mitarbeiter von Stosch und Korrektor des Katalogs. J. J. Winckelmann, Briefe II, 64 Nr. 338. Ebd. II 67 Nr. 340. Ebd. II 67 Nr. 341.
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Ärger des Autors, sondern ebenso gut als Ärger des Verlegers und des Druckers am Autor. Justi hat schon recht, wenn er sagt: „Welches Glück für den Setzer, daß zwischen Rom und Dresden die Alpen lagen!" 1 Denn ein am gleichen Orte wohnender Winckelmann hätte gewiß die gesamte Druckerei zur Verzweiflung gebracht. Und da der Verleger Walther wohl nicht versäumte, die brieflichen Forderungen und Kritiken seines empfindlichen Autors an die Offizin weiterzugeben, dürfte man dort über Winckelmann genauso unfreundlich gedacht haben wie Winckelmann über die Druckerei. Am 1. Mai 1760 hat Winckelmann erfahren, daß die ersten Hefte des Manuskripts beim Verlag angekommen sind. Sofort schreibt er ihm einen drei Druckseiten langen Brief, der, von Einleitungs- und Schlußsatz abgesehen, ausschließlich technische Anweisungen für den Druck enthält 2 . 1762 empfängt Winckelmann dann einen Probebogen und schreibt am 10. Juli an Walther: „Den 8 ten dieses habe ich den Probe-Bogen richtig erhalten und bin vollkommen wohl zufrieden, so wohl mit dem Papir als mit dem Drucke, welches alles beydes nicht schöner seyn kann, so daß ich hoffe, es werde unser Werck eins der prächtigsten werden die irgend in Deutscher Sprache erschienen sind . . . Ich habe nichts zu erinnern, als über drey Druck-Fehler auf der 4 ten Seite . . . Dieses sind Dinge, die man in Leipzig so gut, und zum theil noch beßer wißen muß als in Rom, und als jemand der wenig Deutsch zu sprechen Gelegenheit hat und suchet. Diese, des Correctors, soll ich es nennen, Nachläßigkeit oder Unwißenheit machet mich in der That bange, sonderlich wenn man wird an Dinge kommen, welche weniger bekannt sind. Warum kann man denn in Holland ohne Fehler drucken!" 3 Am 31. Juli fällt ihm dann plötzlich ein, daß das Delta in der Unterschrift der Schlußvignette nicht richtig gezeichnet sein könnte4, und am 14. August sind es wieder andere Sorgen: ,,. . . und erinnern Sie den Corrector, daß er mir die Nomina propria nicht nach Leipziger Art ändere, und anstatt Horatius, Homerus, u.s.w. wie ich geschrieben, nach heutiger Französischer Mode setzen wolle Horaz, Homer" 5 . Das endgültige Urteil über die Geschichte der Kunst fällt er am 18. April 1764: „Mit dem Drucke bin ich sehr zufrieden, die Druckfehler ausgenommen, die ich im Durchlaufen gefunden; denn ich habe nicht Zeit gehabt, das ganze Buch zu lesen; in der Vorrede hätte man in Leipzig wenigstens wißen sollen, wer Aretino war, aus welchem man einen Arentino gemacht hat. Noch mehr befremdet mich, daß ein seichter Kopf eine Erklärung einiger Kupfer zugefüget, welche ich mit Fleiß übergieng . . . Dieses wäre gut gewesen in einem Buche für Schul-Knaben, 1 2 3 1 5
Carl Justi, Winckelmann und seine Zeitgenossen III, 3. Aufl. Leipzig 1923, 296. J. J. Winckelmann, Briefe II, 221 ff. Nr. 480. Ebd. II 251 Nr. 500. Ebd. II 258 Nr. 507. Ebd. II 260 Nr. 510.
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aber nicht in einem Wercke dieser Art" 1 . Und am 30. Juni kommt er noch einmal darauf zurück: „Suchen E. HochEdelgeb. einen verständigeren Corrector zu bekommen; denn derjenige welcher sich zur Geschichte der Kunst gebrauchen lassen, außer dem daß er ziemlich ungelehrt seyn muß, verstehet seine eigene Muttersprache nicht. Es ist eine Schande, daß man auf manchen Seiten drey Druckfehler dieser Art findet. . . Dieser Esel muß ohnezweifel nicht eingesehen haben, was die Schrift zu bedeuten hat, welche ihm anvertrauet worden" 2 . Bald darauf nimmt Walther den Druck der Allegorie in Angriff, in seiner eigenen Druckerei in Dresden, und muß schon am 22. Dez. 1764 von seinem Autor hören: „Ich bin in Furcht wegen der Correctur, wegen vieler dort unbekannten Sachen und Worte, aber doch weniger als wenn es zu Leipzig gedruckt würde : denn mich deucht, an einem Orte, wo wenigstens der Schatten eines Hofes geblieben ist, sind noch eher Personen zu finden, die gewiße nicht Universitäts-Kenntnißen haben", und diesem Satze folgt dann gleich eine Menge besonderer Anweisungen für den Korrektor 3 . In der zweiten Aprilhälfte 1766 bekommt Winckelmann die ersten Exemplare seiner Allegorie, lobt den „schönen Druck" und tadelt die Druckfehler. „Die Allegata hat der Corrector, deßen Sie sich bedienet gar nicht angesehen, welches ich demselben unwidersprechlich beweisen will, und es ist ein Mensch der nicht Griechisch lesen kann, welches mir an einen Sachsen befremdet, denn sein Vaterland hat er verrathen durch Verwechselung des D und T. Es ist also alle Hoffnung verlohren Bücher ohne grobe Fehler in Deutschland zu drucken, da nicht leicht eine Handschrift deutlicher als die meinige seyn wird" 4 . Wie üblich kommt er nach ruhiger Lektüre des neuen Buches noch einmal auf sein Thema zurück, am 26. Mai: „Ich bin erstaunet über die vielen Druckfehler in der Allegorie . . . Da dieses die erste Probe Ihrer Druckerey ist preiset es nicht sehr an. Ich erinnere diese schändliche Sächsische Petit-Maître Nachläßigkeit, damit man in dem Drucke der Anmerkungen" [zur Geschichte der Kunst] „desto aufmerksamer sey. Ich bin im Stande, wenn es nicht anders seyn kann, dem Corrector ein Geschenk zu machen, um nicht verhuntzet in (der) Welt zu erscheinen" 5 . So und ähnlich geht es von Buch zu Buch. Druckfehler sind bis heute noch nicht auszurotten gewesen, ohne daß deshalb gleich alle Setzer und Korrektoren Esel sein müßten, wie Winckelmann so plastisch sagte. Sein Anliegen ist klar: mit ganzem Herzen ist er seinem Werk und mit allen Sinnen dem schönen, dem richtigen Buche zugetan, und einem Bibliophilen wie einem Hingerissenen, der seine Leser hinzureißen wünscht, wiegt nun einmal ein falsches Komma wie ein Zentner und tönt ein falscher — und gar noch sinnentstellender — Buchstabe wie eine greuliche Katzenmusik. Dieses Anliegen Winckelmanns ist das gleiche, das die 1
Ebd. III 33 Nr. 654. Ebd. III 46 Nr. 666. Ebd. III 72 f. Nr. 687. - Ebd. III 175 f. Nr. 767. 1 Ebd. III 179 Nr. 772. 2
Winckelmann und seine Drucker
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Humanisten der Renaissance beseelte, und es ist gewiß kein Zufall, daß der achtzehnjährige Reuchlin schon 1473 der ersten Offizin der Sorbonne wahrscheinlich und bestimmt später seinem Basler Freund, dem Verleger Johann Amerbach, als Korrektor zur Seite stand 1 . Iniquiores erimus, sagt ein früher Herausgeber im Vorwort zu den Elegantiae Laurentius Vallas, si omnem culparn in calcographos transferamus2. Winckelmann mußte, des weiten Weges halber, die Plage und Pflicht der eigenen Korrekturen fremden Augen überlassen, „so sehr ich wünschte die Ausbeßerung jedes gedruckten Bogens selbst zu besorgen" 3 . I m Kopf und im Reisegepäck die neue Ausgabe seiner Geschichte der Kunst, trat Winckelmann im April 1768 die Reise in den Norden an. Am Morgen des 8. Juni saß er in seiner Stube in der Triestiner Locanda Grande bei seiner letzten Arbeit, Notizen für den Drucker. „1. Die nomina propria sind mit nicht grössern Buchstaben zu drucken, weil dieses die Harmonie des Druckes unterbricht. 2. Die Register sind folgendermaßen zu ordnen . . . 3. Die allegirten Stellen sind in ihrer natürlichen Zahlordnung zu setzen und nicht einander gegen über. 4. Es darf im Texte nichts verändert werden, auch sollen keine fremden Anmerkungen hinzu kommen." (Merkwürdig testamentarisch klingt dieser vierte Punkt, als wisse der Schreiber, daß er die zweite Auflage seines Lebenswerkes nicht mehr selbst sollte besorgen können.) „5. Es soll . . ."* Der Satz wurde nie zu Ende geschrieben, denn in diesem Augenblick t r a t der Mörder ins Zimmer. 1
Max Hossfeld, Johannes Heynlin aus Stein, Basler Zeitschrift für Geschichte und Altertumskunde, Basel 1908, 92ff. 2 Laurentii Vallae viri tarn Graecae quam Latinae lingue doctissimi, Elegantiarum Libri omnes . . . Coloniae, excudebat Joannes Gymnicus anno 1530, Bl. a 2. 3 J. J. Winckelmann, Briefe II, 175 Nr. 440, Brief an Walther vom 26. September 1761. 4 Ebd. IV 47.
John Flaxman, ein Philhellene der Goethezeit Berthold Häsler
Das Jahr 1959, in dem ein Säkulum vergangen ist seit dem Erscheinen von Jacob Burckhardts „Kultur der Renaissance in Italien" 1 . in dem wir die 200.Wiederkehr von Schillers Geburtstag begehen, darf auch als Gedenkjahr der deutschen Altertumswissenschaft gelten; denn in ihm jährte sich gleichfalls zum 200. Male der Geburtstag Friedrich August Wolfs. Doch nicht ihm soll diese Betrachtung gewidmet sein, sondern einem Mann, dessen Andenken, sofern sein Name für unsere Zeit überhaupt noch einen Klang hat, gerade mit dem Werk Homers verbunden ist. Mag auch die vergleichende kunstgeschichtliche Betrachtung dem graphischen und plastischen Werk Flaxmans keinen allzu hohen Rang zuteilen, uns geht es darum, aus seinen Umrißzeichnungen zu Homers Ilias und Odyssee einige Erkenntnisse über sein Verhältnis zur Antike abzulesen und, wenn möglich, Verständnis zu erwecken für die Wirkung, die er mit eben diesen Darstellungen auf seine Zeit, zumal im Kreise Goethes, ausgeübt hat. Flaxmans Lebenszeit umspannt die Jahre 1755 bis 1826 — gewissermaßen umschlossen von der Ära Goethes, dem die Parzen je sechs Jahre mehr zu Beginn und Ende zuerteilt hatten. In Flaxmans Geburtsjahr erschien Winckelmanns Schrift „Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst", mit der er zuerst seine revolutionierenden Gedanken in die Öffentlichkeit trug. Diese Daten, nicht als bloß äußerliche Synchronismen verstanden, mögen dazu dienen, in Kürze den Kreis abzustecken, in dem sich unsere Betrachtung bewegen soll. Aus dem Lebensweg Flaxmans sei nur das Wichtigste herausgehoben: Der Vater war Gipsgießer in York und später in London, von ihm lernte der Sohn, von schwacher Gesundheit und verwachsen, zeichnen und modellieren. Für seine literarische Bildung, die er sich im wesentlichen als Autodidakt erwarb, spielte Popes Homer-Übersetzung eine entscheidende Rolle. Wie erfahren, daß Flaxman bereits im Alter von zehn Jahren Illustrationen zu Homer entwarf. Ein Wachsmodell des Neptun brachte ihm im Alter von fünfzehn Jahren die Silbermedaille der Londoner Kunstakademie ein. In den folgenden fünf Jahren hat er dort seine technischen Kenntnisse und Fähigkeiten erweitert und vervollkommnet. Die 1
Genau genommen: seit der Fertigstellung des Manuskriptes; die erste gedruckte Ausgabe trägt die Jahreszahl 1860.
John Flaxman, ein Philhellene der Goethezeit
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nächste Etappe seines Lebensweges ist mit dem Namen des Städtchens Etruria, in der Nähe von Newcastle, verbunden. I m Alter von zwanzig Jahren wurde Flaxman Mitarbeiter von Josiah Wedgwood, der, aus einer alten Töpferfamilie stammend, seit 1757 mit der Fabrikation von Steingut verschiedenster Art bedeutende geschäftliche Erfolge errungen und sich einen guten Namen gemacht hatte. Seine Erzeugnisse fanden auch am königlichen Hofe Gefallen (die sogenannte Queensware), er konnte neue Fabriken errichten (in Etruria 1769, in Chelsea 1770) und war bemüht, auch in künstlerischer Hinsicht — nicht nur im Technischen — Fortschritte zu erzielen. Bei der Jasperware, die vor allem geschätzt wurde, handelt es sich um Gefäße mit ReHefVerzierung, gewöhnlich in Weiß auf blauem Grund; auch Darstellungen in Weiß auf schwarzem Grund (Egyptian wäre) wurden in den Handel gebracht. In Flaxman fand Wedgwood den Mitarbeiter, der am meisten zum Aufschwung seiner Produktion beitrug. Für ihn hat Flaxman in den Jahren 1770 bis 1787 in der Hauptsache gearbeitet: Er zeichnete und modellierte, er entwarf Reliefs und Gefäße. Die von Flaxman geschaffenen Großplastiken, die ihm in seinem Vaterland Ruhm und Anerkennung einbrachten, setzen zwar mit dem Jahre 1780 ein, kennzeichnen aber vor allem die zweite Hälfte seines Lebens, in dessen Mitte ein achtjähriger Italienaufenthalt steht. Waren auch die Arbeiten, die Flaxman für Wedgwood leistete, vom Geist des Klassizismus geprägt, ein Klassizist aus eigener Wahl und Vorliebe wurde er erst in Italien. Dort studierte Flaxman die italienische Kunst der Renaissance und der frühen Florentiner, die ihn besonders anzogen, und suchte die Antike an den Vasenbildern zu erkennen, dort verschrieb er sich Winckelmanns Anschauungen. Sie fand er in den Darstellungen der griechischen, zumeist aus Unteritalien und Sizilien stammenden Vasen wieder, die zuerst d'Hancarville 1766/67 bekannt gemacht hatte 1 . Auch Wilhelm Tischbein trug später ein Wesentliches zu ihrer Kenntnis bei 2 . Ihren Einfluß erkennen wir in Flaxmans Umrißzeichnungen zu Homer und Aischylos. Sie waren die bemerkenswerteste Frucht seines Italienaufenthalts. Neben ihnen dürfen die plastischen Arbeiten Flaxmans aus jenen Jahren (Venus und Cupido, Aurora und Kephalus, der rasende Athamas u. a.) in den Hintergrund treten, obwohl auch sie zu den Ehrungen beitrugen, die Flaxman durch die Akademien von Florenz und Carrara erwiesen wurden. Während seines Italienaufenthaltes entstanden, von privaten Auftraggebern veranlaßt, Illustrationen zu Homer (39 Blätter zur Ilias, 34 Blätter zur Odyssee), zu Aischylos' Tragödien (31 Blätter) und ein Teil der Zeichnungen zu Dantes „Divina Commedia". Die Umrisse zu Homer erschienen, von Piroli gestochen und zu einem Buch vereinigt, noch vor Flaxmans Rückkehr nach London, im 1
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Pierre François Hugues, Chevalier d'Hancarville, Antiquités étrusques, grecques et romaines tirées du cabinet de M. Hamilton I—IV, Neapel 1766—1767. Über Wert und Bedeutung dieser Veröffentlichung vgl. Ernst Pfuhl, Malerei und Zeichnung der Griechen I (Text, erste Hälfte), München 1923, 9f. Wilhelm Tischbein, Collection of Engravings from Ancient Greek Vases, Neapel 1791 — 1795.
1 8 Renaissance, Band I
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Berthold Häsler
Jahre 1793 in R o m ; die englische Ausgabe folgte 1795, eine französische im Jahre 1803, eine deutsche — in Leipzig gedruckt — im Jahre 1804. Voraussetzung für die außerordentliche Verbreitung und tiefgehende Wirkung dieser Blätter war gewiß die Hochschätzung Homers, dessen Name gerade im 18. Jahrhundert den aller anderen antiken Autoren überstrahlte, und der Engländer Flaxman, aus dessen Heimat recht eigentlich der Anstoß zur deutschen Homer-Renaissance gekommen war, darf als einer der Wegbereiter dieser Bewegung gelten. I n England h a t t e Homer seit den Zeiten Shakespeares einen festen Platz nicht nur in der Philologie, auch in den Köpfen und Herzen breiter Schichten des Volkes. Dafür zeugen die Bemühungen u m einen Homer in englischer Sprache, die mit George Chapman im Jahre 1598 1 anheben und in der berühmten Übersetzung von Alexander Pope zwischen den Jahren 1715 und 1725 ihren Höhepunkt erreichen 2 . Demgegenüber liegt Deutschland u m mehr als einhundert J a h r e zurück. Wolfgang Schadewaldt h a t 1940 in einer Leipziger Universitätsrede, die dem Thema „Winckelmann und H o m e r " gewidmet war 3 , auf das Darniederliegen der griechischen Studien im deutschsprachigen R a u m hingewiesen und die bemerkenswerte Tatsache verzeichnet, d a ß ein Homertext zwischen 1606 und 1759 nur einmal, 1651 zu Basel, gedruckt wurde 4 . Schadewaldt h a t uns gelehrt, d a ß Winckelmann — abgesehen von seiner kaum zu überschätzenden Wirkung f ü r die Auffassung von Wesen und Sinn der antiken bildenden Kunst — „auch der Homerhebe unserer Klassiker die Bahn gebrochen" h a t 5 . In Goethes lebenslanger liebender Bemühung u m die Antike nimmt Homer die erste Stelle ein 6 ; die Namen von Bürger, Bodmer, Stolberg, Klopstock und Voß führen uns in jene beiden Jahrzehnte zwischen 1775 und 1795, in denen ein deutscher Homer geschaffen wurde 7 . So fanden in der Zeit der Auseinandersetzung mit den Prolegomena ad 1 2 3 4 6 7
Teilübersetzung der Ilias; vollständige Übersetzung beider Epen 1610/11 und 1614/15. Vgl. hierzu Georg Finaler, Homer in der Neuzeit von Dante bis Goethe, Leipzig 1912, 274f., 324-327. Wolfgang Schadewaldt, Winckelmann und Homer, Leipzig 1941 (Leipziger Universitätsreden, Heft 6). 5 Ebd. 8 f. Ebd. 66. Die Stellen, die Ernst Grumach, Goethe und die Antike. Eine Sammlung I/II, Potsdam 1949, zusammengetragen hat, füllen mehr als hundert Druckseiten. Gottfried August Bürger bereitete eine Homer-Übersetzung seit 1771 vor; nach dem Erfolg von Stoibergs Übersetzung (s. u.) gab er seine Arbeit auf. — Johann Jakob Bodmer: Gesamtübersetzung des Homer 1778 (Zürich), Proben seit 1755. — Friedrich Leopold Stolberg: Übersetzung der Ilias 1778 (Flensburg). — Friedrich Gottlieb Klopstock: Übersetzung von Teilen der Ilias in Prosa 1776. — Johann Heinrich Voß: Odyssee 1781 (zweite Fassung 1793), Ilias 1793. — Als Vorläufer und Anreger darf Johann Christoph Gottsched (Übersetzungsproben aus der Ilias 1737) nicht unerwähnt bleiben. Die ersten Versuche einer Übertragung Homers ins Deutsche von Simon Schaidenreißer (Minervius: Odyssee 1549) und Johann Spreng (Ilias 1610) sind historisch bedeutsam (vgl. Georg Finsler a. a. O. 384f., 388); für eine Wirkung in die Breite fehlten, abgesehen von ihrer Ünvollkommenheit, damals noch die Voraussetzungen.
John Flaxman, ein Philhellene der Goethezeit
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Homerum Friedrich August Wolfs, die 1795 erschienen, Flaxmans Umrisse zu Homer ein gut vorbereitetes, aufgeschlossenes Publikum in Deutschland. Als Kronzeugen dienen uns Goethe und August Wilhelm Schlegel, beide mit Äußerungen aus dem Jahre 1799, also vier Jahre nach dem Erscheinen der englischen Ausgabe der Homer-Zeichnungen Flaxmans. In Goethes Tagebüchern findet sich unter dem 30. März 1799 die Eintragung: „Ueber die Achilleis, über Flaxmanns Zeichnungen den Morgen über nachgedacht" 1 , und ebendort unter dem D a t u m des nächsten Tages: „Die Flaxmannischen Kupfer, durch R a t h Schlegel communicirt, ging ich durch und dictirte etwas darüber" 2 . Diese dem Sekretär Geist diktierten Bemerkungen Goethes mit der Überschrift „Über die Flaxmannischen Werke" blieben zu seinen Lebzeiten ungedruckt, wohl aus Rücksicht gegenüber A. W. Schlegel, dessen Hochschätzung Flaxmans Goethe keineswegs teilte. Erst 1896 wurde Goethes Rezension im 47. Bande der Weimarer Ausgabe 3 der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Sie besteht aus einer kurzen Charakteristik von Flaxmans Arbeiten, wobei zuerst aus den Dante-Illustrationen „lebhafte bewegliche Einbildungskraft", „ein Gefühl von Einfalt und Natürlichkeit" und „ein gewisser Geschmack, ich will nicht sagen seine Figuren immer zu componiren, aber artig ins Blatt zu stellen" abgelesen wird, ohne daß sich Goethe über den künstlerischen Rang Flaxmans im unklaren wäre: „Ich begreife nun recht gut, wie Flaxman der Abgott aller Dilettanten sein m u ß " 4 . Das zeigt auch deutlich der zweite, auf die Umrisse zu Homer und Aischylos bezügliche Abschnitt: „Indem er" (Flaxman) „die griechischen Gegenstände behandelt, sieht man, daß er vorzüglich den Eindruck von den Vasengemählden empfangen h a t ; in diesem Sinne hat er einige recht lobenswürdige Sachen gemacht, wenn sie anders von ihm selbst herstammen und man ihm nicht allzu entschiedene Nachahmungen oder Reminiscenzen nachweisen kann. Uebrigens gelingen ihm auch hier die naiven und herzlichen Motive am besten, wie in der kurzen Recension der verschiedenen Stücke bemerkt ist." (Goethe verweist hiermit auf die katalogartige Beschreibung der einzelnen Blätter zur Ilias, Odyssee und zu den Tragödien des Aischylos, auf die ich noch zu sprechen komme.) „ I m Heroischen ist er meistentheils schwach. Uebrigens würden sich sowohl über diese Arbeiten als bei Ge1 2 3 4
Goethes Werke, hrsg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen III 2, Weimar 1888, 240, 2—5. — Goethe schrieb den Namen häufig mit Doppel-N. Ebd. III 2, 1888, 240, 6 - 9 . Ebd. 147, 1896, 245f., 341—346. Die Niederschrift trägt das Datum des 1. 4. 1799. Dieses Urteil wiederholt Goethe in seinem Brief an Heinrich Meyer, den er am gleichen Tage niederschrieb (1. April 1799; Goethes Werke IV 14, 1893, 62, 15—24): „Durch einen günstigen Zufall habe ich die Flaxmannischen Kupfer sämmtlich gesehen und begreife recht wie er der Abgott der Dilettanten seyn kann, da seine Verdienste durchaus faßlich sind und man, um seine Mängel einzusehen und zu beurtheilen, schon mehr Kenntniß besitzen muß. Ich hätte recht sehr gewünscht diese Sammlung mit Ihnen durchzugehen, indessen habe ich sie, so gut mir möglich seyn wollte, beleuchtet und mir geschwinde manches zur Erinnerung notirt."
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legenheit derselben manche wichtige Puñete zur Sprache bringen lassen, wenn man künftig sie auf längere Zeit habhaft werden könnte; es würde sich sehr hübsch zeigen lassen, wie an diesem artigen, gefälligen und in manchem Sinne nicht unverdienstlichen Phänomen wenig Meisterhaftes sich zeige. Merkwürdig ist's, daß diese Zeichnungen dergestalt cyklisch sind, daß sich keine einzige darunter findet, die man in einem Gemähide völlig ausgeführt zu sehen wünschte." Obwohl sich der Wunsch Goethes, der Zeichnungen Flaxmans „habhaft" zu werden, einige Jahre später erfüllte — in seiner Bibliothek 1 befinden sich die 35 Blätter zur Dias und die 28 Blätter zur Odyssee, die 1804 in Leipzig publiziert wurden —, hat er zur Gesamtheit der Flaxmanschen Zeichnungen nicht noch einmal ausführlich Stellung genommen. Jedoch brachte er anläßlich der Weimarer Kunstausstellungen vom Jahre 1801 und 1803 und der damit verbundenen Preisaufgaben für das jeweils folgende Jahr sein der allgemeinen Hochschätzung Flaxmans entgegenstehendes Urteil, vor dem nur einzelne Blätter als echte künstlerische Leistung zu bestehen vermochten, erneut zum Ausdruck. Dafür nur ein Beispiel 2 : „Flaxmans Entwürfe zum Homer, Äschylus und Dante, welche eben jetzt in Deutschland mit lebhaftem Betrieb copirt und verbreitet werden, sind allerdings Producte eines Künstlers von Geist und Talenten, doch müssen wir bei aller Achtung, welche wir für dieselben hegen, beiläufig anmerken, daß, überhaupt genommen, ihnen doch etwas zu viel Ehre widerfährt. Wenn indessen eine Auswahl der besten dieser Entwürfe gemacht werden sollte, so wäre zuverlässig das Blatt, wo Odysseus dem Polyphem Wein in die Schale gießt nicht darunter begriffen. Gleichwohl wird man an demselben doch auch den vernünftigen Künstler nicht verkennen, der seinen Gegenstand von der rechten Seite anfaßt . . ." (Abb. 1). Andere Bemerkungen, in denen Goethe die fehlerhafte Zeichnung rügt und Mängel der Komposition feststellt, seien hier übergangen. In den „Tagebüchern" werden Flaxmans Zeichnungen nur im Jahre 1811 nochmals erwähnt: „Nach Tische über Hirts Baukunst, Flaxmanns Umrisse" 3 . In Goethes beschreibenden Charakteristiken der einzelnen Blätter zur Ilias und Odyssee, auf die ich mich hier beschränke 4 , haben beinahe alle Illustrationen 1
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Vgl. die mustergültige Publikation von Hans Ruppert, Goethes Bibliothek. Katalog, Weimar 1958, Nr. 2449. — Von Flaxmans Dante-Illustrationen befanden sich nur die 39 Blätter zum „Inferno" in der Londoner Ausgabe von 1821 in Goethes Besitz; vgl. Hans Ruppert a. a. O. Nr. 2450. Aus dem Jahre 1803; Goethes Werke 148, 1897, 63, 17ff. Unter dem Datum des 17. 3. 1811; Goethes Werke III 4, 1891, 191, 23f. — Eine Äußerung über Flaxmans vermutliehe Abhängigkeit von dem Schotten Hamilton, die sich in den Schriften zur Kunst' findet (Goethes Werke I 49, 1. Abt., 1898, 27, 5ff.), stammt nicht von Goethe, sondern von Heinrich Meyer. In Ernst Grumachs so sehr verdienstlicher Sammlung (vgl. S. 274 Anm. 6) sind — wohl durch ein Versehen beim Sichten und Ordnen des Materials — Goethes Beschreibungen zu den Ilias- und Odyssee-Zeichnungen fortgelassen; lediglich der auf Aischylos bezügliche Text ist auf S. 244f. abgedruckt.
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außer der Bezeichnung des dargestellten Gegenstandes auch eine knappe Beurteilung erfahren. Die Skala reicht von „artig gedacht", „gut gefühlt", „componirt gut" über „ein wenig manierirt", „zierlich aber schwächlich", „druckt nicht aus", „artig aber unbedeutend" — ich erinnere an die vielfältige Differenzierung, mit der Goethe dieses Wort zu verwenden liebte, unter Hinweis auf den Aufsatz von Hans-Joachim Mette „Bedeutend" 1 — bis zu „nicht besonders", „schwach ja schlecht", „brutal und abgeschmackt". Es wäre gewiß lohnend, diese Goetheschen Urteile an Hand der einzelnen Blätter genauer zu studieren und ihrer Verflochtenheit mit den Kunstidealen des 18. Jahrhunderts und Goethes im besonderen — nicht zuletzt auch im sprachlichen Ausdruck (artig, zierlich) — nachzugehen. Ich beschränke mich auf fünf Beispiele aus beiden Zyklen 2 ; eine notgedrungen knappe, aber doch wohl hinreichende Auswahl, um das Charakteristische, Eigenständige und teilweise Zwiespältige bei Flaxman anschaulich zu machen. Goethes Beschreibungen zu ihnen lauten: 1. (Ilias A 345ff.) „Briseis wird weggeführt, artig aber mager und kraftlos" (Abb. 2). 2. (Ilias E 825ÍF.) „Diomed und Pallas gegen Ares, componirt gut, wenn Ares ein Sterblicher wäre" (Abb. 3). 3. (Ilias T IfF.) „Achill auf Patroklos Leichnam, Thetis mit den Waffen, nicht besonders" (Abb. 4). 4. (Odyssee r¡ 144ÍF.) „Ulyß betrübt vor den Phäaken. Artig aber schwach" (Abb. 5). 5. (Odyssee w IfF.) „Hermes und die todten Freyer, will nicht viel heißen" (Abb. 6) 3 . Diese Proben lassen erkennen, was Goethe als „Vasenstyl" bezeichnete: das Flächenhafte, den Verzicht auf räumliche Tiefe, die Ausdruckskraft der Linie, die Geschlossenheit der Komposition. Dazu die Gemessenheit in Miene, Haltung und Gebärde, die freilich mehr noch von Winckelmanns viel angeführter Leitvorstellung der „edlen Einfalt und stillen Größe" 4 als lediglich vom Vorbild 1
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Hans-Joachim Mette, in: Navícula Chiloniensis. Studia philologiea Felici Jacoby Professori Chiloniensi emérito octogenario oblata, Leiden 1956, 207—215. Sämtliche Blätter der vier klassischen Zyklen (Ilias, Odyssee, Aischylos, Hesiod) enthält die von John C. L. Sparkes besorgte Ausgabe: Flaxmans Classical Outlines, London 1879. Leichter zugänglich sind sie in der Veröffentlichung des Insel-Verlages: John Flaxman's Zeichnungen zu Sagen des klassischen Altertums, hrsg. von Ernst Beutler, Leipzig 1910, dessen Vorwort ich einige wertvolle Hinweise verdanke. Den einzelnen Bildern, die auf etwa die Hälfte der Originalgröße verkleinert wurden, hat Ernst Beutler kurze Erläuterungen zum Inhalt sowie Verweise auf die Textvorlagen und auf die Behandlung in Gustav Schwabs „Sagen" beigefügt. Von Goethes Beschreibungen sind einige Proben im Vorwort S. 6f. angeführt. Die angeführten Beispiele finden sich bei Ernst Beutler a. a. O. Nr. X X X I X , XLVIII, LXVII, L X X X V I I I , CIX. Einfalt ist im Sinne des Einfachen, Eindeutigen verstanden. Wir wissen heute, daß Winckelmann mit diesen Stilbegriffen die Auffassung seines Lehrers Adam Friedrich Oeser übernahm.
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griechischer Vasen bestimmt scheint. Dennoch wäre es falsch, daneben die andersartigen, wenn man will: unantiken Elemente zu übersehen, die sich einerseits in der Darstellung der Naturgewalten, der Riesen und Ungeheuer finden (z. B. Briareus, die Winde, Polyphem, Lästrygonen, Skylla, Harpyien) (Abb. 7) 1 , wozu Goethe etwa „fratzenhaft", „abentheuerlich", „wild und gräßlich" notiert, und andererseits bei den Mitteln, die Flaxman zur Bezeichnung göttlicher Macht und Größe anwendet. Der thronende Zeus in Haltung und Gebärde des Christos Pantokrator, das Haupt von einer Glorie (Nimbus) umstrahlt, vor einem sternenbesäten Himmel (Abb. 8) 2 : Hier zeigt sich der Einfluß von Flaxmans Kunststudien in Italien, hier spricht sich auch Flaxmans Bindung an die geistigen, künstlerischen und religiösen Traditionen seiner englischen Heimat aus, Elemente, die dazu verlocken, Verbindungslinien zu den Nazarenern und Präraffaeliten zu ziehen, wobei die Dante-Illustrationen ein besonders reiches Anschauungsmaterial liefern würden. Zu untersuchen wäre ferner die Auswahl der Personen und Szenen, die Flaxmans Empfindung ansprechen, seiner idealisierenden Anschauung der Homerischen Welt sich einfügen, für die flächenhafte Darstellungsweise, die durch das von ihm gewählte künstlerische Mittel gefordert wurde, sich als geeignet erweisen. Es ist bezeichnend, daß bewegte Kampfszenen stark zurücktreten und daß Beispiele dieser Art den Eindruck des Stilisierten, des erstarrten Lebens in besonderem Maße hervorrufen3. Daß sich Darstellung der örtlichkeit oder gar der griechischen Landschaft so gut wie nirgends findet (Abb. 9) 4 , braucht kaum betont zu werden, das Zeitkolorit ist lediglich in den Attributen der handelnden und leidenden Personen (Helmen, Schilden, Panzern, Beinschienen, Waffen usw.), in ihrer Tracht und Frisur, in dem spärlichen Mobiliar gekennzeichnet, dies allerdings mit einer von gründlichem Studium der Vasenbilder zeugenden Genauigkeit und Zuverlässigkeit, die den Betrachter sachlich zu belehren und von Phantasievorstellungen zu befreien vermochte. Gerade diese Seite darf nicht unterschätzt werden, wenn Erfolg und weitdauernde Wirkung der Flaxmanschen Zeichnungen in Rede stehen. Für die große Anhängerschaft, die Flaxman vor allem in Deutschland sich erwarb, konnte bereits Goethes Zeugnis angeführt werden. Eine Bestätigung findet sich in einem kunstgeschichtlichen Werk jener Zeit, in J. De Fiorillos „Geschichte der zeichnenden Künste von ihrer Wiederauflebung bis auf die neuesten Zeiten" 5 : „Flaxman's Skizzen nach Homer, Aeschylos und Dante sind 1 2 3 1
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Ernst Beutler a. a. 0 . Abb. XL, LXXI, XC, XCI, XCVI, CV. Ebd. Abb. XLII, XLV, LXXVII. Ebd. Abb. LX, LXIX. Blatt C ebd. ist ganz singulär: Die Heimat des Eumaios, mit städtischen Bauten, Hafenanlage, Burgberg. Auf den Blättern L, LXXVIII, LXXXI begnügt sieh Flaxman mit kargen Andeutungen. J. De Fiorillo, Geschichte der zeichnenden Künste von ihrer Wiederauflebung bis auf die neuesten Zeiten V, Göttingen 1808, 852.
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in Deutschland mit größerem Beifall als in England aufgenommen worden, wo man die Küpferchen von Fuesli, Nothard, Westall usw. zum neuen Abdruck des Popischen Homer gewöhnt war." Einer der leidenschaftlichsten Verehrer von Flaxmans Kunst war August Wilhelm Schlegel, der, wie oben erwähnt, Goethe mit den Umrißzeichnungen bekannt machte und im gleichen Jahr (1799), in dem Goethe sein Urteil fixieren ließ, ohne es zu publizieren, mit einer großangelegten Studie an die Öffentlichkeit t r a t 1 : „Über Zeichnungen zu Gedichten und John Flaxman's Umrisse". Ich hebe einige wenige, besonders bezeichnende Formulierungen aus. Ich zitiere nach dem Abdruck in A. W. Schlegels „Kritischen Schriften" 2 , dem eine vier Seiten lange Anmerkung Schlegels beigefügt ist. Er beginnt diesen Zusatz mit den Worten: „Mein frühzeitig über Flaxman's Umrisse gefälltes Urtheil ist seitdem durch die Europäische Meynung bestätigt worden. Vielfältig in Nachstichen verbreitet, haben sie in Italien, England, Deutschland und Frankreich allgemeinen Beifall gefunden", er berichtet anschließend von seinem Zusammentreffen mit Flaxman in London, äußert sich weiter über dessen spätere Arbeiten — neben Plastiken die Umrisse zu Hesiod, von denen Schlegel ein signiertes Exemplar zum Geschenk erhielt — und schließt mit einem Ausblick auf die Anregungen, die von Flaxman ausgegangen seien: „Ich erwähne hier vor allem anderen die Blätter meines genialischen Freundes Cornelius zu dem Liede der Nibelungen und zum Faust." Wie hier im Nachwort der Name Cornelius fällt, so sind es in der Abhandlung Anschauungen, die mehr dem Geist der Romantik als den Idealen des Klassizismus verpflichtet sind, aus denen Schlegels Urteil erwächst. Er gibt dem bloßen Umriß den Vorzug vor der „ausgefüllten Zeichnung" und gar vor dem fertigen Gemälde 3 : „Der wesentliche Vortheil ist . . . der, daß die bildende Kunst, je mehr sie bei den ersten leichten Andeutungen stehen bleibt, auf eine der Poesie analogere Weise wirkt. Ihre Zeichen werden fast Hieroglyphen, wie die des Dichters; die Fantasie wird aufgefodert zu ergänzen, und nach der empfangenen Anregung selbständig fortzubilden, statt daß das ausgeführte Gemälde sie durch entgegen kommende Befriedigung gefangen nimmt." Er rühmt das Skizzenhafte, bloß Andeutende, das die Phantasie beflügelt: „Keine überflüssigen Striche . . . alles ist mit dem wenigsten gemacht; seine Umrisse vereinigen die bedeutsame Keckheit des ersten Gedankens mit der Sorgfalt und Zierlichkeit einer ausgeführten Behandlung." Der Hochschulprofessor Schlegel schätzt Flaxmans antiquarische Genauigkeit 4 : „Wer es noch nicht weiß, erfährt hier anschaulich: warum die Achäer die schön geschienten heißen, daß man sich die Trojaner mit phrygischen Mützen 1 2 3 4
August Wilhelm Schlegel, in: Athenäum 2, 1799, 193—246. August Wilhelm Schlegel, Kritische Schriften II, Berlin 1828, 253—305; die „Anmerkung zum neuen Abdruck" ebd. 306—309. Ebd. 265-267. Ebd. 287.
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Berthold Häsler
vorzustellen h a t ; welches die Form des Delphischen Dreifußes war; wie die Griechischen Stallknechte das Haar der Pferde auf der Stirn zusammenbanden, damit ein Ampyx daraus wurde, und dergleichen mehr; die unzähligen reizenden Formen von allerlei Hausgeräth, die Trachten und weiblichen Kopfputze nicht zu erwähnen." Und weiter 1 : „Etwas weit höheres als antiquarische Belehrung gewähren indeß diese Compositionen dem Betrachter, der ohne gelehrte Bekanntschaft mit den Alten in den Sinn ihrer Dichter eingeweiht zu werden wünscht, indem sie deren Darstellungen mit Bildern Griechischer Sitte und Kunst umgeben." Gegen die Gefahr, die Worte der griechischen Dichter zwar grammatisch zu verstehen, ihren wahren Sinn aber zu verfehlen, scheint ihm das einzige Mittel, „unsere Fantasie auf den Flügeln der alten bildenden Kunst zu ihnen emporzuheben", und daher fügt er mit Beziehung auf Flaxman hinzu: „Es ist des besten Dankes werth, wenn ein geistvoller neuerer Künstler uns hiezu hülfreiche Hand bietet 2 ." Es ist nicht verwunderlich, daß Schlegel den Umrissen zu Dante eine recht ausführliche Betrachtung widmet, und dies nicht nur wegen des religiösen Inhalts, sondern auch, weil in ihnen der Künstler „eine vollständige Gallerie aller menschlichen und göttlichen Charakter" darzustellen Gelegenheit fand 3 . Bemerkenswerter ist es, daß Schlegel den Umrissen zu Aischylos den Vorzug vor den HomerIllustrationen gab. An Aischylos konnte — eher als an den Tragödien des Sophokles — „die strenge Hoheit der idealischen Bühne der Griechen sichtbar gemacht werden" 4 . Und gerade das Heroische, Überlebensgroße der Götter, Heroen und Titanen, der „kolossalische Kothurn des Aeschylos" 8 scheint ihm auf jenen Blättern am besten zum Ausdruck gebracht. Es ist also nicht das von Winckelmanns Lehren geformte Griechenbild des Klassizismus, das Schlegel in Flaxmans Zeichnungen hätte widergespiegelt sehen können, wenn er es darin gesucht haben würde, ihm sind diese Blätter „Einladungen zum Genuß der alten Poesie" 4 , die den Betrachter einstimmen, ihn gleichsam in einem „Zauberkreis" 7 gefangennehmen und ihn hineinführen in die romantisch verklärte Welt großer antiker Dichtimg, worin der „Genius der Poesie" sich ausgesprochen hatte. Dieser Gesichtspunkt leitet Schlegel auch in der Wahl der Beispiele, an denen er Flaxmans Kunstsinn, seine den Vasenbildern entnommene antiquarische Bildung und sein tiefes Verständnis der Antike erläutert. Ich beschränke mich auf ein Beispiel, als Gegenstück zu der oben angeführten Beschreibung Goethes 8 : „Und wie herrlich führt Mercur die Seelen der Freier in die Unterwelt! Den Caduceus in der Linken auf die Schulter zurückgelehnt, die Rechte in die kurze Chlamys gewickelt, die sich dadurch an den rechten Schenkel straff anzieht, und 1 5 8
2 3 4 Ebd. 288. Ebd. 289. Ebd. 269. Ebd. 268. 6 7 Ebd. 303. Ebd. 305. Ebd. 265. Ebd. 296, zum letzten Blatt des Odyssee-Zyklus, nach « lff. (Abb. 6: Ernst Beutler a. a. O. Nr. CIX): Hermes führt die Seelen der Freier zum Hades.
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jirapcKHTe «BopijH OT IIjiHCKa, CO$HH 1937 ; vgl. II. HHKOB, H3BecTHH Ha HCTOPHNECKOTO APYWECTBO B CO$HH 1 4 / 1 5 , 1 9 3 7 , 2 3 4 — 2 3 9 .
Klassisches Altertum im mittelalterlichen Bulgarien
347
die Ursache der früheren Entstehung eines slawischen Alphabets bei den Südslawen zu suchen. Als während des 9. Jahrhunderts oder sogar früher die Südslawen das griechische oder das lateinische Alphabet als ein Mittel zum Ausdruck der eigenen Sprache zu verwenden oder mittels dieser Alphabete ein eigenes Alphabet zu schaffen suchten, geschah dies nicht nur unter dem kulturellen Einfluß von Byzanz, sondern war auch ein Nachklang der alten Schrifttradition in den Balkangebieten. Nach der Bekehrung zum Christentum im Jahre 865 gewann die byzantinische Kultureinfluß in Bulgarien noch stärker an Bedeutting. Das aber bedeutete oft mehr als das Eindringen eines rein byzantinischen Kultureinflusses in Bulgarien. So wurde auch dem Einfluß der klassischen Kultur der Weg gebahnt. Die bulgarischen Schriftsteller des Mittelalters lernten das klassische Erbe oft nur durch die Vermittlung von Byzanz und durch die byzantinischen Werke kennen. Oft bedeutet das nur, daß sie Zutritt zu byzantinischen Kompilationen oder zu byzantinischen Exzerpten aus Werken der klassischen Autoren hatten. Natürlich übernahmen die mittelalterlichen Bulgaren auf diese Weise auch die byzantinischen Anschauungen über das heidnische Altertum. Sie sahen das Altertum meistens durch die Augen des orthodoxen Byzanz. Die byzantinischen Tendenzen in Betrachtung des klassischen Altertums fanden folglich einen Nachklang bei den mittelalterlichen Bulgaren — immer aber mit gewisser Verspätung. Besonders bemerkenswert in diesem Sinne sind die Angaben, die sich im Werk eines der hervorragendsten altbulgarischen Schriftsteller aus dem Ende des 9. und Anfang des 10. Jahrhunderts — nämlich Johannes Exarchos 1 — befinden. In seiner Jugend hatte er, wie es scheint, einige Jahre in Byzanz studiert, wo er die Möglichkeit hatte, gründlich die griechische Sprache zu erlernen und die byzantinische Literatur kennenzulernen. Sein Hauptwerk — die Komplilation Hexaemeron 2 — bringt am besten seine Kenntnisse und seine Auffassungen in bezug auf das klassische Altertum zum Ausdruck. Die Nachahmung dieser in Byzanz vielverbreiteten Literaturgattung zeigt vielleicht am anschaulichsten die allgemeine Richtung seiner Ideen: Johannes Exarchos folgte vor allem den größten altchristlichen Apologeten, wie Basilios dem Großen, Theodoretos, J o hannes Chrysostomos, Severianos von Gabala usw. Dabei blieb er immer ein Mensch des Mittelalters. Seinem ganzen Werke hatte er als Ziel gesetzt, die 1
Über ihn s. besonders: M. TeHOB, HoaH EK3apx, BtJirapcKa HCTOpwiecKa 6n6jmoTeKa 4, 1, 1924, 199—207; ders., «pHTe ejiHHH", 36opHHK
pa«OßaCAH X L I X . Braam.HHCT. 4,1956,149—155; ders., Byzantionslavica 19,1958,342. Aus der reichen diesbezüglichen Literatur siehe besonders : N. A. Bees, Darstellungen altheidnischer Denker und Autoren in der Kirchenmalerei der Griechen, ByzantinischNeugriechische Jahrbücher 4, 1923, 107 — 128, 425—426; V. Grecu, Darstellungen altheidnischer Denker und Schriftsteller in der Kirchenmalerei des Morgenlandes, Académie Roumaine. Bulletin de la section historique 9, 1, 1924, 1 — 68; A. v. Premerstein, Griechisch-heidnische Weise als Verkünder christlicher Lehre in Handschriften und Kirchenmalereien, Festschrift der Nationalbibliothek in Wien, herausgegeben zur Feier des 200jährigen Bestehens des Gebäudes, Wien 1926, 647—666, grundlegende Studie, mit reicher Bibliographie und Texten; vgl. darüber noch H. Grégoire, Byzantion 2, 1926, 544—550; A. v. Premerstein, Neues zu den apokryphen Heilsprophezeiungen heidnischer Philosophen in Literatur und Kirchenkunst, Byzantinisch-Neugriechische Jahrbücher 9,1932,338—374 ; ders., Ein pseudo-athanasianischer T r a k t a t mit apokryphen Philosophensprüchen im Codex Bodleianus Roe 5, Eîç fivtffiTjv En. Adfijioov, Athen 1935, 177 — 189; L. Bréhier, La légende des sages paiens à Byzance, Mélanges L. Halphen, Paris 1951,61 —69. Die wichtige Publikation der Texte : H. Erbse, Fragmente griechischer Theosophien, Hamburg 1941.
Klassisches Altertum im mittelalterlichen Bulgarien
353
Handschriften, sondern auch eingeschoben als Exzerpte und Zitate in einigen der bekanntesten Werke der byzantinischen Zeit, wie z. B. in den Chroniken von Johannes Malalas oder von Georgios Kedrenos, zu finden. Von Byzanz aus drangen bald diese weitverbreiteten Schriftchen in die südslawische Literatur als Teile umfangreicherer Werke ein, z. B. die Malalas-Übersetzung aus dem 10. Jahrhundert oder die Lebensbeschreibung des serbischen Despoten Stephan Lazarevic von Konstantin Kostenecki aus der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts, oder als selbständige Werke, so z. B. eine Handschrift aus dem 17. Jahrhundert serbischer Redaktion, die Aussprüche über die christliche Lehre des ägyptischen Königs Thoulis sowie von Thukydides, Sophokles, der Sibylle, Josephus Flavius, Platon und Astakie (d.h. Astakis) 1 enthält, die wahrscheinlich erst gegen Ende des Mittelalters aus dem Griechischen übersetzt wurden. Aus der Literatur wurden bald diese Auffassungen von der Verkündigungsmission der heidnischen Philosophen auch in die Kunst aufgenommen. So erschienen in der Kirchenmalerei des Ostens die Darstellungen der griechischheidnischen Weisen als Verkünder des Christentums. Nach den Vorschriften der bekannten nachbyzantinischen Malbücher 2 mußte man diese heidnischen Weisen, verflochten in die „Zweige von Jesse", unterhalb der alttestamentischen Propheten darstellen. In bezug auf dieses „unentwegte Fortleben eines von Haus aus kleinen und im Lauf der Zeiten noch mehr einschrumpfenden Stockes von angeblichen Voraussagungen heidnischer Denker über den Christenglauben" bemerkte vor mehr als drei Jahrzehnten A. von Premerstein : „Man staunt über den konservativen Sinn der morgenländischen Kirche und ihrer Bekehrer, die durch fast anderthalb Jahrtausende in zäher Genügsamkeit mit diesen bescheidenen, fast dürftig zu nennenden Brocken von dem überreich besetzten Tisch der ausgehenden Antike ihr Auskommen fanden, wenn es galt, hervorragende Berühmtheiten des alten Heidentums zu dem Christentum in Beziehung zu setzen und aus den ihnen zugeschriebenen Aussprüchen Waffen zur Verteidigung seiner Lehre und Mittel zur erbaulichen Versenkung in die Glaubensgeheimnisse zu schaffen. Immer wieder, fast zum Überdruß, finden wir den gleichen Inhalt, stets von neuem überarbeitet und umgeändert, vielfach sogar verkürzt ; und auch die Formen zeigen wenig Abwechslung. Dabei hat sich die Vorstellung von den einzelnen Trägern der Weissagungen so sehr ins Wesenlose verflüchtigt, daß es den Bearbeitern völlig gleichgültig ist, welchem Weisen sie den einen oder den andern Spruch in 1
M. H. CnepaHCKHü, IlepeBOHHue cöopniiKH HspeneHHH B cJiaBHHo-pyccKOit nnctMeHHccneflOBaHHH H xeKCTH, MocKBa 1904, 103—104, ITpHJiOJKeHHe ; II. üonoBHh, KoHCTaHTHH OHJIOCCKJ) H H3peKe „Myßpiix IejiHHa", IIpHJioaii 16, 1936, 320; H. .HjitieB, KoHCTairoiH pijH h pHMHHHe, OßmecTBeH Tpyj; 1, 1868, 3, 1.
366
Christo Gandev
Antike nichts zu tun hatten; oder aber sie setzten vor ihre Bücher oder Schriften ein lateinisches oder griechisches Motto. Unter diesen Schriftstellern müßten wir an erster Stelle den revolutionären Poeten Christo Botew erwähnen, dann den Poeten Welixin und noch viele andere. Die griechische Schule auf bulgarischem Boden bezweckte, den Schülern nicht nur griechisches Nationalbewußtsein, sondern auch griechischen Patriotismus einzupflanzen; sie bemühte sich, ihren Willen zu festigen und sie dahin zu bringen, auf verschiedenste Weise an der griechischen Befreiungsbewegung teilzunehmen. Hier muß jedoch eine auf den ersten Blick paradoxe Tatsache hervorgehoben werden: Diese Propagandatätigkeit führte im allgemeinen zu umgekehrten politischen Ergebnissen. Die bulgarische Jugend mit griechischer Schulbildung erwarb sich verhältnismäßig gute historische, philosophische, politische und Literaturkenntnisse weltlicher Art, doch gleichzeitig gelangte sie, durch das Beispiel des griechischen Patriotismus angeregt, in ihrer geistigen Entwicklung zu der Überzeugung, daß ihr eigenes Volk, d. h. das bulgarische, ebenfalls das Recht hatte, um seine Unabhängigkeit zu kämpfen. Mit anderen Worten: Die bulgarischen Schüler wurden zu bulgaris chen Patrioten, sogar zu Revolutionären. Die Namen aller dieser Patrioten und Revolutionäre aufzuzählen, würde zu weit führen; denn ihrer sind außerordentlich viele. Es genügt zu sagen, daß sie je nach ihrer politischen und kulturellen Charakteristik in zwei Hauptgruppen zu teilen sind. Zu der ersten, in politischer Hinsicht konservativeren Gruppe, gehören die Kämpfer um die Unabhängigkeit der Kirche vom griechischen Patriarchat und um eine bulgarische Schule mit bulgarischer Sprache und bulgarischem Lehrmaterial an Stelle der griechischen Gymnasien in den bulgarischen Städten. Diese Vorkämpfer wurden von der sich damals heranbildenden bulgarischen Bourgeoisie aktiv unterstützt; denn diese erblickte in den griechischen Industriellen, Kaufleuten und Bankiers Rivalen, die sie an ihrer Entwicklung behinderten. Zwei der angesehensten Vertreter der ersten Gruppe waren Neofit Bosweli und der demokratischere Volksschriftsteller und Publizist Petko R. Slawejkow. Doch neben diesen hervorragenden Persönlichkeiten stehen auch noch viele andere Polemiker, die im selben Geist schrieben. Sie benutzten in ihren Werken die klassische Antike dazu, das Recht der Bulgaren auf kulturelle und politische Selbständigkeit sowohl in Hinblick auf die Türkei, wie auch in Hinblick auf Griechenland zu verteidigen. So schrieb z. B. Stefan Beron „Über die alten Griechen und Slawen in Thrakien", P. Kissimow „Über die Freundschaft zwischen den alten Hellenen und Slawen", D. Makedonski „Die Griechen in allen Epochen", und der bekannte bulgarische Wiedergeburtsdichter und Revolutionär-Demokrat Ljuben Karawelow veröffentlichte ein seiner Zeitung „Swoboda" im Jahre 1871 einen Leitartikel mit der Überschrift „Die Griechen von heute sind keine Kulturträger", der eine scharfe Polemik in bourgeois-nationalistischem Geiste darstellt1. 1
CT. „OT
P. B e p o H , CjiaBHHiie, Ilapiirpa#CKH Heno3HaTOTo" aa C T a p i r r e RTPMI
vgl. sein Buch, Zagreb 1 8 4 8 : cnaBHHHTe B TpaKHH; I I . KHCHMOB, ÜOBECTH
BecTHHK 3 , 1 8 5 3 , 1 0 9 , H
Antike Kultur zur Zeit der bulgarischen nationalen Wiedergeburt
367
Die zweite Gruppe solcher Vorkämpfer ist diejenige der Revolutionäre, die alle ihre Kräfte daransetzten, mit Hilfe anderer Staaten und Regierungen oder durch Aufruf zu einem allgemeinen Volksaufstand die Befreiung des bulgarischen Volkes vorzubereiten und seine politische Unabhängigkeit zu sichern. Der hervorragendste Vertreter dieser Gruppe ist Georgi Rakowski, der Patriarch der bulgarischen Volksrevolution. Als Sohn eines wohlhabenden Kaufmannes in der Ostbalkanstadt Kotel absolvierte er das griechische Lyzeum in Konstantinopel und setzte sich gleich darauf mit den griechischen Revolutionsorganisationen in Verbindung; später plante er die Befreiung des bulgarischen Volkes vermittels militärischer Einmischung von Griechenland, Serbien, Rumänien oder Rußland. Als unermüdlicher Diplomat, Revolutionär und Militärorganisator schuf er in den der Türkei benachbarten Ländern bulgarische Kriegsbataillone, um mit diesen in Bulgarien einzufallen und einen Volksaufstand ins Werk zu setzen; er selbst führte Freischärlergruppen im Balkangebirge an oder verhalf dazu, daß sie von Rumänien nach Bulgarien hereingelangten. Rakowski entwickelte auch eine ungeheure publizistische Tätigkeit, deren Zweck es war, zu zeigen, daß das bulgarische Volk ein historisch begründetes Recht auf politische Unabhängigkeit habe, da es das älteste Volk auf der Balkanhalbinsel sei. Im Verlaufe seiner Polemik gegen die griechische politische Propaganda verwertete er vorzüglich seine Kenntnisse der altgriechischen Schriftsteller und Historiker, um die griechischen Thesen zu widerlegen und die geschichtlichen und kulturellen Vorzüge der Bulgaren vor den Griechen zu zeigen. In seinen Werken wird die altgriechische Kultur auf eigenartige Weise mit der romantischen Verherrlichimg — ganz auf Herdersche Manier — der eigenen Nationalität vermischt; er ging darin so weit, das historische Primat der griechischen Kultur abzulehnen und an deren Stelle das slawische zu setzen. Zu solch überraschenden Resultaten führte die Wiedergeburt und die Assimilierung der antiken Kultur, wenn sie deutlich als ideologisches Mittel zur politischen Behauptimg der bourgeoisen Nation diente und dazu, deren Weltanschauung zum Ausdruck zu bringen und die feudale, weltliche und kirchliche Ideologie zu verwerfen. Wir können auch andere Beispiele der Entwicklung einzelner bulgarischer Schriftsteller oder Gelehrter unter dem Einfluß der antiken und vorwiegend der altgriechischen Kultur beobachten. Da ist der Lebensweg des bekannten bulgarischen klassischen Philologen Dr. Nikola Pikölo. 1792 in Tirnowo als Sohn einer reichen bulgarischen Kaufmannsfamilie geboren, erhielt er seine Elementarund Mittelschulbildung in der griechischen Schule in Tirnowo und dem griechischen Lyzeum in Bukarest. Danach studierte er Medizin in Italien, beendete aber sein Studium dort nicht, sondern wurde Lehrer an den griechischen Schulen cpaBHeHH«. 3 a npHHTencTBOTo Ha «peBHHTe ejimm h cjiaBHHH. üpeBOfl (OT rpmKK) H a . . . ; LJapurpafl 1853; JI. ManeAOHCKH, TpmHTe BT>B B C M K H T C enoxa, MaKeAOHHH 5, 48 vom 30. 9. 1871; JI. KapaBejiOB, flHeuiHHTe n>pijH He ca HOCHTenn Ha KyjiTypa, CBoSoaa vom 20. 2. 1871.
368
Christo Gandev
in Bukarest, auf der Insel Chios, in Odessa, auf der Insel Korfu und nahm tätigen Anteil an der griechischen revolutionären Befreiungsbewegung. Inzwischen hatte er sein Medizinstudium in Paris beendet. Nun wirkte er aufs neue in Rumänien, zur Zeit der russischen Verwaltung dieses Landes von 1830 bis 1839, als Hauptinspektor der Schulen und höchster Inspektor der Krankenhäuser. Dies scheint die Zeit gewesen zu sein, in der sich seine politische Weltanschauung allmählich wandelte. Pikolo hat sich von der griechischen Befreiungsbewegung zurückgezogen. Trotzdem ein unabhängiger griechischer Staat bereits geschaffen war, ging er nicht nach Griechenland, um dort zu arbeiten; denn offensichtlich fühlte er sich nicht als Grieche, sondern trat in Rumänien in den Dienst des Grafen Kisselew, des russischen Administrators der Walachei und Moldau, und widmete dieser Periode der Geschichte Rumäniens ein ganzes Buch, worin er die Verdienste Kisselews um die administrative und wirtschaftliche Umgestaltung des Landes hervorhebt. Mehr noch — er beteiligte sich damals an den Versuchen der bulgarischen Emigrantenkreise in Bukarest, von Rußland aus die Bildung eines autonomen bulgarischen Gebietes in der Dobrudscha zu erwirken, wo sich die während der letzten russisch-türkischen Kriege nach Rumänien emigrierten Bulgaren ansiedeln könnten. Nachdem er im Jahre 1839 Paris als endgültigen Wohnsitz gewählt hatte, wies Pikolo bis zu seinem Tode im Jahre 1865 keinerlei Interesse mehr für Griechenland auf;.er half den Bulgaren, die nach Paris gekommen waren, um diese oder jene politische Frage im Zusammenhang mit dem Schicksal des bulgarischen Volkes aufzuwerfen, förderte und beriet die jungen Bulgaren, die in Prankreichs Hauptstadt studierten. Zur Zeit der Pariser Konferenz im Jahre 1856, als die Frage der Reformen in der europäischen Türkei erörtert wurde, setzte sich Pikolo zusammen mit einem anderen bulgarischen Gelehrten in Paris, dem Philosophen Dr. Peter Beron (der ebenfalls Zögling einer griechischen Schule gewesen war), durch Artikel in Zeitschriften und Zeitungen dafür ein, daß die bulgarischen Ländergebiete, ähnlich den Fürstentümern Walachei und Moldau, Autonomie erhielten. In all seinen vielen Publikationen erwähnte er nicht ein einziges Mal, daß er dem griechischen Volke angehörte. Er besuchte mehrmals seine Heimatstadt und seine Verwandten; selbst legte er eine Grabplatte auf dem Grab seiner Eltern in Tirnowo nieder und vermachte sein gesamtes Vermögen in Höhe von 12 000 Francs der Tirnowoer Gemeindeschule — und dies war eine für die damalige Zeit hohe Summe in der Türkei. Auch der literarische Weg dieses Gelehrten ist interessant. In seiner Jugend schrieb er Dramen in neugriechischer Sprache mit antiken Sujets, z. B. über den Untergang des Demosthenes und über den Philoktet von Sophokles, die im Theater der griechischen Schule zu Odessa vor den Mitgliedern der dortigen griechischen Kolonie gespielt Wurden. Doch neben diesen Versuchen, die das patriotische und Nationalgefühl der Griechen zu Odessa zu heben bezweckten,
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Antike Kultur zur Zeit der bulgarischen nationalen Wiedergeburt
neben den antiken Reminiszenzen, ging auch ein Drama aus seiner Feder hervor, das mit der neuen Geschichte Griechenlands verbunden war: "Die Einnahme Mesolongions" 1 . N. Pikolo übersetzte ins Neugriechische altgriechische Poeten oder westeuropäische Schriftsteller wie Bernardin de Saint Pierre, Byron, Béranger, Voltaire usw. Durch diese Übersetzungen wurde er ein Mitschöpfer der neugriechischen Sprache; er zeigte wahrhafte literarische Meisterschaft und schuf treffende Wortneubildungen, die der altgriechischen Sprache fremde und im Neugriechischen fehlende reelle und abstrakte Begriffe ausdrückten. Auf diese Weise verknüpfte Pikolo die altgriechische Kultur fest mit den Ansätzen der neuen, soeben entstehenden griechischen bourgeoisen Kultur. Doch nachdem er sich 1839 endgültig in Paris niedergelassen hatte, machten seine Literaturinteressen eine Evolution durch ; sie konzentrierten sich ausschließlich auf die Fragen der klassischen Philologie. E r trat in enge Verbindung mit den bekanntesten damaligen Gelehrten auf diesem Gebiet, wie Boissonade, Müller, Dübner und mehreren anderen. Eng befreundet war er auch mit Ambroise Firmin Didot, einem Mitglied des Verlaghauses Didot, und nun begann er. die altgriechischen Autoren systematisch zu studieren und textkritische Abhandlungen zu schreiben, die fast alle unter dem Namen der Firma Didot erschienen sind. Seine philologische Methode stand auf dem höchsten damals möglichen Niveau : E r verglich Handschriften aus den Pariser Bibliotheken, erhielt Kopien solcher Handschriften, die sich in italienischen oder englischen Bibliotheken befanden, arbeitete nach dem bekannten Zettelsystem und erzielte solch gute Ergebnisse, daß seine Ausgaben in manchen Fällen ihren wissenschaftlichen Wert bis zum heutigen Tage beibehalten haben. Hier seien einige erwähnt : Nikolaus Damascenus (Paris, 1850) ; Supplément à l'Anthologie Grecque (Paris, 1853), ein textkritischer Kommentar zu der Anthobgia Graeca sowie eine Ergänzung aus nichtveröffentlichten griechischen Epigrammen, die er in italienischen Handschriftensammlungen fand; Aristoteles De animalibus historia (Paris, 1863), eine textkritische Ausgabe mit Kommentar; Longos, Daphnis und Chloe, postume Veröffentlichung, ebenfalls eine textkritische Ausgabe mit Kommentar. Pikolo schrieb auch eine Reihe spezieller Abhandlungen für die damalige französische Zeitschrift „Revue de Philologie" und nahm an der Schaffung des monumentalen Thesaurus linguae Graecae teil 2 . 1
Vgl. B.
E e u i e B J i H e B , fl-p HnKOJia C. IIHKOJIO KaTO KJIECHHK çfiMJiojior, COKFL;aHe. O r y A M , CotfiHH 1 9 3 9 ; M . CTOHHOB, E i J i r a p c K a BT.3POJKHeHCKa KHH>KHHHa. AHajMTHneH penepToap Ha 6i.jirapcKHTe KHiirn H nepHOAHHHH H3«aHHH ( 1 8 0 6 — 1 8 7 8 ) . ÜOA penaKijHHTa Ha n p o $ . A . BypMOB, CO$HH 1 9 5 7 , N r . 2 7 5 , 1 3 4 9 , 1740, 3614, 4543, 5048, 6762, 7399, 7510.
L'humanisme de la poésie crétoise Janis Kurtis
La poésie crétoise des 15e, 16e et 17e siècles occupe une remarquable position dans la littérature néo-hellénique. Beaucoup de savants grecs et étrangers ont examiné la question et écrit une série d'ouvrages, qui mettent en lumière divers côtés de cette littérature. Nous ne trouvons pourtant pas d'études sur les aspects sociaux et idéologiques de l'oeuvre des poètes crétois. Ainsi, par exemple, personne jusqu'ici ne s'est penché sur l'aspect humaniste de la littérature crétoise. E t pourtant, de tels traités seraient nécessaires. J e me propose de signaler ici quelques uns de ces aspects humanistes. Je ne peux présenter une étude analytique approfondie car la documentation dont je dispose est insuffisante . . .
La sympathie pour les hommes pauvres Prenons par exemple la tragédie de Chortadzis „Erophilie". Il montre comment les conditions sociales nées de l'injustice ont une influence catastrophique sur le bonheur des hommes. En recherchant les richesses, l'homme s'avilit ; ses sentiments dégénèrent et il n'hésite pas à commettre les plus abominables crimes. Le meurtre du roi Philogonos en est la preuve. Dans la tragédie se manifeste une vive sympathie pour ceux qui sont victimes des riches et une condamnation sans merci des hommes injustes. Au moment où les suivantes d'Erophilie tuent le cruel Philogonos, elles lui déclarent que toutes les richesses qu'il a amassées en pratiquant l'injustice ne peuvent le sauver.
Le droit de l'homme au développement de ses bons sentiments L'exaltation des bons sentiments de l'homme est une autre caractéristique de la poésie crétoise. L'amour occupe la place la plus importante. L'apologie de l'amour s'oppose à la négation des joies terrestres, prônée par les milieux obscurantistes. Nous devons ajouter que l'amour n'était pas le privilège des hautes personnalités mais qu'il étail aussi le fait des gens simples.
Le rôle de la littérature grecque ancienne L'appréciation de la culture antique répond à celle des humanistes de l'Ouest. La tragédie antique a exercé une influence non seulement sur la forme de la
L'humanisme de la poésie Cretoise
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tragédie „Erophilie", mais aussi sur le fond. On a tiré un profit des éléments qui avaient une grande valeur dans l'antiquité. Comme exemple, je citerai l'hymne à l'amour, que nous retrouvons dans „Erophilie" et qui rappelle celui de la tragédie „Antigone". Naturellement cela ne veut pas dire que ce procédé ait l'autorité d'une règle fixe, mais dans la régression culturelle qui caractérisait la Grèce à cette époque, un tel retour à l'antiquité constituait un progrès remarquable . . . Les éléments matérialistes Nous trouvons dans la poésie crétoise de splendides descriptions de la nature. Le lyrisme n'en est pas la seule caractéristique; nous y trouvons aussi des éléments matérialistes, en particulier la conception de l'autonomie des phénomènes naturels. Ainsi le soleil est, comme nous le lisons dans l'Erophilie, le créateur de la vie sur la terre; sans lui la vie serait impossible. De telles conceptions avaient une importance capitale, car elles s'opposaient à l'interprétation dogmatique qui régnait en Grèce en ce temps-là. On y trouve aussi la conception matérialiste de l'éternité de la matière. L'usage de la langue populaire Il faut signaler, parmi les traits humanistes de la poésie crétoise, le fait que cette poésie est écrite en langue populaire. Cela facilitait la propagation et la compréhension de cette belle poésie. La langue populaire aussi a remporté la victoire sur la langue des savants, si peu propice à la vulgarisation de la connaissance et de la culture . . . J'ai déjà signalé quelques faits montrant les tendances humanistes de la littérature crétoise. H reste beaucoup à faire. Il faudrait procéder à l'organisation d'études analytiques concernant les influences de l'humanisme européen, la naissance et l'évolution de l'esprit d'humanisme en Crète, les conditions sociales, les relations des Crétois avec les Vénitiens et les Hellènes de Grèce. Non seulement parce que nos connaissances sur la littérature crétoise seraient plus complètes et plus approfondies mais aussi parce que les études de la culture et la littérature humanistes ont pour notre époque une importance primordiale. Aujourd'hui, alors que dans divers pays des groupes monopolistes, pour servir leurs propres intérêts, propagent et cultivent une propagande antihumaniste, le devoir des humanistes est de mettre en lumière l'esprit humaniste et de former la conscience des hommes pour les aider à résister à la force et à seconder la politique de détente de gouvernements pacifiques.
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Renaissance, Band I
Griechische Funde an der adriatischen Ostküste in Jugoslawien1 Mihovil Abrami6
Der Vortragende bespricht zuerst die ältesten griechischen Überlieferungen über See-Dalmatien: Sage von Kadmos und Harmonia in Bouthoa (heute Budva), Hain am Timavus mit den Rossen des Diomedes. Argonauten (die Inseln Krk, Losinj und Osor mit den Gebeinen des von Medea getöteten Absyrtos). Bernsteine: Zahlreicher Bernsteinschmuck in den Hallstattgräbern vonAenona usw., Import aus Korinth von Helmen, Panzern, Beinschienen und Keramik. Dann bespricht der Vortragende die ältesten Koloniestädte Issa auf der gleichnamigen Insel (heute Vis) mit den Faktoreien in Tragurion (Trogir), Salona (Sohn) und Epetion (Stobreö). Schöne Funde in der Nekropole von Issa, deren Ausgrabung erst kürzlich eingeleitet wurde. Issa gründet zu Beginn des 3. Jahrhunderts auf der Insel Korcula die Stadt Korkyra Melaina. Wichtige griechische Inschrift, welche die Gründung und die Verteilung des Territoriums an die ersten Kolonisten regelt. Auf der Insel Hvar lag die Stadt Pharos, auf der Insel Brac (Brattia) vermutlich Herakleia bei Skrip, in Hvar selbst vermutlich die Ansiedlung AIM[AAOE]. Aus Tragurion stammt ein schönes Altärchen an die Göttin Hera, aber besonders das schöne Relief des KAIPOE, außerdem ein Grabstein einer Spinnerin, ein kleiner Marmortorso eines Herakles. Aus Salona kommt die wichtige griechische Inschrift, welche von einer Gesandtschaft der Issäer an C. Julius Caesar in Aquileia spricht. Späte griechische Inschriften stammen aus dem zweisprachigen Salona. Die schönsten griechischen Kleinfunde hat Budva (Bouthoa) ergeben, Goldmedaillen, Halsketten, Vasen und bemalte Grabstelen. Auch in den Bauten von Kotor sind bei Risanj, dem antiken Rhizonium, wichtige griechische Denkmäler zum Vorschein gekommen (Mosaike, Skulpturen, keramische Funde). Die systematische Erforschung hat noch nicht begonnen. 1
Resümee des in Wittenberg gehaltenen Vortrags.
Der Palast des Kaisers Diokletian in Split (Spalato) 1 Mihovil Abrami^
Der Palast ist zwischen 285 und 305 u. Z. in Aspalathos, 6 km von Salona entfernt, erbaut worden. Der Name Aspalathos ist von einer Blume (Ginster oder Besenstrauch) genommen. Kaiser Diokletian bezog den Palast gleich nach seiner Abdankung in Nikomedia und wohnte in ihm bis zu seinem Tode. Im Jahre 308 u. Z. weilte Diokletian an der Reichsgrenze in Carnuntum. Nach dem Tode des Kaisers diente der Palast für hohe verbannte Würdenträger (Galla Placidia mit ihrem Söhnchen, dem späteren Kaiser Valentianus III., Glykerios, Julius Nepos). Nach der Zerstörung Salonas flüchtete ein großer Teil der Salonitaner in den Palast, aus dem sich die Stadt Spalato (kroatisch Spljet, heute Split) entwickelte. Der Vortragende bespricht die Hauptwerke über den Palast: Georg Niemann, Der Palast Kaisers Diokletian in Spalato, Wien 1910; E. H6brand und J . Zeiller, Le Palais du Diocletian en Spalato, Paris 1912; kleines Handbuch von F. Bulic, Kaiser Diokletians Palast in Split, Zagreb 1929. An Hand von schönen Bildern führt der Vortragende die Befestigungsmauern, die Türme, die Tore vor; dann das Mausoleum und den Tempel. Besonders verweilt der Vortragende bei der Betrachtung der Substruktionen im nördlichen Teile des Bauwerks. Heute ist die östliche Hälfte erschlossen und wird jetzt für eine periodische Ausstellung ausgewählter Skulpturen verwendet, z. B. im Jahre 1960 eine Ausstellung ,,2000 Jahre Skulpturen". Zum Schluß verweilt der Verfasser bei den im Palast aufgestellten Kunstdenkmälern aus romanischer, gotischer, Renaissance- und Barockzeit. Das letzte Denkmal war die herrliche Bronzestatue des Bischofs von Nin von dem jetzt noch lebenden jugoslawischen Bildhauer Ivo Mestrovic, der auch den hl. Johannes den Täufer für das jetzige Baptisterium geschenkt hat. 1
Resümee des in Wittenberg gehaltenen Vortrags.
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Theophanes der Grieche Ein Maler der Frührenaissance in Rußland Konrad Onasch
Wenn Jacob Burckhardt auf einzelne Künstler der italienischen Renaissance hinweist, „welche in allen Gebieten zugleich lauter Neues und in seiner Art Vollendetes schaffen und dabei noch als Menschen den größten Eindruck machen" 1 , dann trifft dieser Satz voll und ganz auf Theophanes den Griechen zu 2 . Das wenige, was wir aus den russischen Quellen vom Ende des 14. und Anfang des 15. Jahrhunderts erfahren, zeigt uns eine alle Formen der Malerei, vom Fresko über die Ikone bis zur Miniatur genial beherrschende Künstlerpersönlichkeit, welche überdies durch ihren rein menschlichen Charme jeden, der ihr begegnete, bezaubern mußte. Mitten in der Arbeit schildert ihn der berühmte russische Vitenschreiber Epifanij der Weise: „Während er das alles darstellte oder malte, hat niemand je gesehen, daß er irgendwann auf ein Vorbild geschaut hätte, so wie es einige unserer Ikonenmaler tun . . . mit den Händen aber malt er das Fresko, selbst indessen geht er unaufhörlich hin und her, unterhält sich mit den Hinzukommenden und mit dem Verstände sinnt er nach, was höher und was geistig ist, und mit sinnlich-geistigen Augen schaut er die intelligible Schönheit". Dann aber bezeugt Epifanij jenen menschlichen Zauber, der von Feofan ausging: „Dieser wundersame und berühmte Mann hegte eine Liebe zu meiner Nichtigkeit; und ich, Nichtiger und Unvernünftiger, fand oft die große Kühnheit, mit ihm mich zu unterhalten" 3 . Der Bericht Epifanijs ist auch so ziemlich das einzige, was uns von diesem einzigartigen Genie aus dem fernen Griechenland erhalten ist, ein Genie, das seine Erfüllung und den Höhepunkt seines Ruhmes in Rußland fand. Nur noch einige wenige und zudem sehr trockene Notizen der Novgoroder und Moskauer Chronik 1 2
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J . Burckhard, Die Kultur der Renaissance in Italien, Leipzig 1926, 122. Zu Feofan Grek: B. H. JIa3apeB, HoBroponcKan JKHBOIIHCB nocJieAHett Tpe™ X I V . B . H