Humanismus und Renaissance in Augsburg: Kulturgeschichte einer Stadt zwischen Spätmittelalter und Dreißigjährigem Krieg 9783110231243, 9783110231250

The cultural history of a city between the Late Middle Ages and the Thirty Years War This book contains 19 essays on the

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German Pages 549 Year 2010

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Table of contents :
Frontmatter
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
Höflinge der Bürgerschaft – Bürger des Hofes
Zwischen Irenik und Kontroverstheologie
Humanismus und reichsstädtische Politik
Botanisches Wissen, ökonomischer Nutzen und sozialer Aufstieg im 16. Jahrhundert
Der Kaiser und die Poeten
Die Kontakte des polnischen Humanisten Johann Dantiscus mit der Firma Welser (1527–1537)
Der Humanist Lucas Geizkofler zwischen Innsbruck und Augsburg
Protestantisches Schultheater und reichsstädtische Politik
Schultheater jenseits von St. Anna
„Quod non sit honor Augustensibus si dicantur a Teucris ducere originem“
Konrad Peutinger und die Inschriften des römischen Augsburg
Von Augsburg nach Paris, von Oporin zu Cramoisy
„Als ob ich den ganzen Martial kommentiert hätte“
Historisches Interesse und Chronistik in St. Ulrich und Afra in Augsburg im Umfeld von monastischer Reform und städtischem Humanismus
Der Beitrag der Mönche zum Humanismus im spätmittelalterlichen Augsburg
„Cives vestros sine controversia habeo pro Germaniae cultissimis“
Die Korrespondenz zwischen P. Matthäus Rader SJ und Marcus Welser
„Auf welsche art, der zeit gar new erfunden“
Klöster und ihre Nachbarn – Konkurrenz im Blick?
Backmatter
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Humanismus und Renaissance in Augsburg: Kulturgeschichte einer Stadt zwischen Spätmittelalter und Dreißigjährigem Krieg
 9783110231243, 9783110231250

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Frhe Neuzeit Band 144 Studien und Dokumente zur deutschen Literatur und Kultur im europischen Kontext Herausgegeben von Achim Aurnhammer, Wilhelm Khlmann, Jan-Dirk Mller, Martin Mulsow und Friedrich Vollhardt

Humanismus und Renaissance in Augsburg Kulturgeschichte einer Stadt zwischen Sptmittelalter und Dreißigjhrigem Krieg Herausgegeben von Gernot Michael Mller

De Gruyter

ISBN 978-3-11-023124-3 e-ISBN 978-3-11-023125-0 ISSN 0934-5531 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet ber http://dnb.d-nb.de abrufbar.  2010 Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin/New York Druck: Hubert & Co., Gçttingen

¥ Gedruckt auf surefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Inhaltsverzeichnis

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

I.

1

GRUNDLAGEN: HUMANISMUS, STÄDTISCHE G ESELLSCHAFT UND KONFESSIONALISIERUNG

Caspar Hirschi Höflinge der Bürgerschaft – Bürger des Hofes. Zur Beziehung von Humanismus und städtischer Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 Klaus Unterburger Zwischen Irenik und Kontroverstheologie. Der Einfluss des Humanismus auf die Ausbildung konfessioneller Wissenskulturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61

II.

HUMANISTISCHES W ISSEN, POLITIK UND ÖKONOMIE

Wolfgang E. J. Weber Humanismus und reichsstädtische Politik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 Mark Häberlein Botanisches Wissen, ökonomischer Nutzen und sozialer Aufstieg im 16. Jahrhundert. Der Augsburger Arzt und Orientreisende Leonhard Rauwolf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101

III.

HUMANISTISCHE LITERATEN UND IHRE BEZIEHUNGEN ZU AUGSBURG

Wilhelm Kühlmann Der Kaiser und die Poeten. Augsburger Reichstage als literarisches Forum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119

VI

Inhaltsverzeichnis

Tomasz Ososiński Die Kontakte des polnischen Humanisten Johann Dantiscus mit der Firma Welser (1527–1537) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 Florian Schaffenrath Der Humanist Lucas Geizkofler zwischen Innsbruck und Augsburg. Seine Trauerrede auf Matthias Schenck . . . . . . . . . . . 157

IV.

LATEINHUMANISTISCHES UND VOLKSSPRACHLICHES SCHULDRAMA

Silvia Serena Tschopp Protestantisches Schultheater und reichsstädtische Politik. Die Dramen des Sixt Birck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 Bernhard Jahn Schultheater jenseits von St. Anna. Versuch einer Annäherung an die Theaterspielpraxis der deutschen Schulen in Augsburg am Beispiel von Sebastian Wilds Dramensammlung . . . . . . . . . . . . . . 217

V.

AUGSBURGS A LTERTUM: HUMANISTISCHE G ESCHICHTSSCHREIBUNG UND EPIGRAPHIK

Gernot Michael Müller „Quod non sit honor Augustensibus si dicantur a Teucris ducere originem.“ Humanistische Aspekte in der Cronographia Augustensium des Sigismund Meisterlin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237 Martin Ott Konrad Peutinger und die Inschriften des römischen Augsburg. Die „Romanae vetustatis fragmenta“ von 1505 im Kontext des gelehrten Wissens nördlich und südlich der Alpen . . . . . . . . . . . . 275

VI.

EDITIONSTÄTIGKEIT UND KOMMENTIERUNG: ZUR PHILOLOGISCHEN ERSCHLIEßUNG BYZANTINISCHER UND RÖMISCHER KLASSIKER ZWISCHEN INTERNATIONALEM AUSTAUSCH UND ZENSUR

Markus Völkel Von Augsburg nach Paris, von Oporin zu Cramoisy. Die reichsstädtische Byzantinistik und die europäische Respublica litteraria in der Frühen Neuzeit . . . . . . . . . . . 293

Inhaltsverzeichnis

VII

Stefan W. Römmelt „Als ob ich den ganzen Martial kommentiert hätte.“ Matthäus Rader SJ, ein problematischer Schulautor und die jesuitische Zensurpraxis in Augsburg um 1600 . . . . . . . . . . . . . . . 309

VII. KLÖSTERLICHE GELEHRSAMKEIT IM SPANNUNGSFELD VON HISTORISCHER S ELBSTVERGEWISSERUNG UND HUMANISTISCHER VERNETZUNG Wolfgang Augustyn Historisches Interesse und Chronistik in St. Ulrich und Afra in Augsburg im Umfeld von monastischer Reform und städtischem Humanismus. Wilhelm Wittwer und sein „Catalogus abbatum“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 329 Harald Müller Der Beitrag der Mönche zum Humanismus im spätmittelalterlichen Augsburg. Sigismund Meisterlin und Veit Bild im Vergleich . . . . . . 389

VIII. GELEHRTENPROFILE DES AUGSBURGER SPÄTHUMANISMUS Magnus Ulrich Ferber „Cives vestros sine controversia habeo pro Germaniae cultissimis.“ Zum Verhältnis von Späthumanismus und Konfessionalisierung am Beispiel der bikonfessionellen Reichsstadt Augsburg . . . . . . . . . . 409 Alois Schmid Die Korrespondenz zwischen P. Matthäus Rader SJ und Marcus Welser . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 421

IX.

AUGSBURG UND DIE KUNST DER RENAISSANCE

Christoph Bellot „Auf welsche art, der zeit gar new erfunden.“ Zur Augsburger Fuggerkapelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 445 Brigitte Sölch Klöster und ihre Nachbarn – Konkurrenz im Blick? Neubauprojekte und Kapellenausstattungen des 16. Jahrhunderts in Augsburg am Beispiel der Dominikanerkirche St. Magdalena . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 491

VIII

Inhaltsverzeichnis

ANHANG Register (erstellt von Mischa Grab) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 527 Bildnachweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 541

Einleitung

I. Im Spätherbst des Jahres 1531 wurde in Augsburg in den Räumen des ehemaligen Karmelitenklosters bei St. Anna ein städtisches Gymnasium eingerichtet.1 Mit dieser Gründung, durch die das kirchliche Monopol auf Schulausbildung und -aufsicht in Augsburg gebrochen wurde, zog die Freie Reichsstadt mit zahlreichen anderen oberdeutschen Städten gleich, die teilweise schon seit dem späten Mittelalter über eine entsprechende Schule verfügten.2 Die Gründung des Gymnasiums bei St. Anna erfolgte denkbar unspektakulär. 3 So schweigen sich die Augsburger Ratsprotokolle über diese ebenso aus wie in diesen jeder Hinweis fehlt, wann die Planungen dazu begonnen haben und von wem die Initiative ausgegangen ist. Der Grund hierfür dürfte in der komplexen konfessionellen Situation der Freien Reichsstadt liegen, die ein allzu offenes Engagement des Rats nicht für angezeigt erscheinen ließ. Denn anders als etwa in Nürnberg, wo die Errichtung des städtischen Ägidiengymnasiums 1526 durchaus von öffentlichen Feierlichkeiten begleitet wurde, fällt die Grün–––––––––

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Die Gründung dürfte zwischen dem 14. Oktober und dem 5. Dezember 1531 erfolgt sein. S. Karl Köberlin: Geschichte des humanistischen Gymnasiums bei St. Anna in Augsburg von 1531 bis 1931. Augsburg 1931, S. 12. – Zu Kirche und Kloster von St. Anna s. u. a. Wilhelm Schiller: Die St. Annakirche in Augsburg. Ein Beitrag zur Augsburger Kirchengeschichte. Augsburg 1938; Andreas Hahn: Die St.-Anna-Kirche in Augsburg. In: „…wider Laster und Sünde“. Augsburgs Weg in der Reformation. Katalog zur Ausstellung in St. Anna, Augsburg. 26. April bis 10. August 1997. Hg. von Josef Kirmeier, Wolfgang Jahn und Evamaria Brockhoff. Köln 1997, S. 70–82 sowie allgemein einführend Susanne Kasch: St. Anna. Eine Kirche, viele Geschichten. Augsburg 2005. Zu nennen wären etwa Nördlingen, Memmingen, Ulm oder Nürnberg. Vgl. Rolf Kießling: Humanistische Gelehrtenwelt oder politisches Instrument? Das Gymnasium St. Anna und die Bildungslandschaft Schwabens im Zeitalter der Konfessionalisierung. In: Das Gymnasium bei St. Anna in Augsburg. 475 Jahre von 1531 bis 2006. Hg. im Auftrag der Societas Annensis zum 475. Jubiläum des Gymnasiums und zum 80. Jubiläum der Societas Annensis von Karl-August Keil. Augsburg 2006, S. 11–29, hier S. 14. Zur vorreformatorischen Schullandschaft in Augsburg s. Rolf Kießling: Bürgerliche Gesellschaft und Kirche in Augsburg im Spätmittelalter. Ein Beitrag zur Strukturanalyse der oberdeutschen Reichsstadt. Augsburg 1971 (Abhandlungen zur Geschichte der Stadt Augsburg 19), S. 99–131, 240–244 sowie Martin Kintzinger: ich was auch ein schuler. Die Schulen im spätmittelalterlichen Augsburg. In: Literarisches Leben in Augsburg während des 15. Jahrhunderts. Hg. von Johannes Janota und Werner Williams-Krapp. Tübingen 1995, S. 58–81. Vgl. ferner zum überregionalen Kontext Rolf Kießling: Ansatzpunkte und Entwicklungstendenzen in den spätmittelalterlichen Schullandschaften Schwabens. In: Schullandschaften in Altbayern, Franken und Schwaben. Untersuchungen zur Ausbreitung und Typologie des Bildungswesens in Spätmittelalter und Früher Neuzeit. Hg. von Helmut Flachenecker und Rolf Kießling. München 2005 (Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte. Beiheft 26), S. 247–249. Das Folgende nach Kießling: Humanistische Gelehrtenwelt (wie Anm. 2).

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Gernot Michael Müller

dung des Gymnasiums bei St. Anna vor die Umwandlung Augsburgs in eine rein protestantische Kommune, die erst 1537 erfolgte.4 Als eindeutig reformationspolitisch zu verstehender Schritt einer seit den 1520er Jahren zunehmend protestantisch orientierten Augsburger Führungsschicht musste die Einrichtung einer städtischen Schule, die nicht weniger als die Infragestellung des überkommenen Verhältnisses zwischen Stadt und Kirche zugunsten eines unabhängigen städtischen Schulwesens markierte, daher mit entsprechender Vorsicht erfolgen. Im Schweigen der Ratsprotokolle drückt sich daher eine Zurückhaltung der politisch Verantwortlichen aus, die der politischen Brisanz des Unternehmens geschuldet ist. 5 In der Tat überließ der Rat die Initiative zur Schulgründung Persönlichkeiten, die ihm nicht angehörten, die aber gleichwohl in engem Kontakt zu ihm standen. 6 Zu diesen gehörte zuvorderst der Stadtarzt Gereon Sailer7 sowie der Prediger von St. Anna Bonifatius Wohlfahrt, 8 der wie Wolfgang Musculus9 auf Vermittlung des Straßburger Reformators Martin Bucer nach Augsburg gekommen war. 10 Damit ergab sich wie in der Politik der Freien Reichsstadt auch für die Schulgründung eine Orientierung an der elsässischen Metropole und deren spezifisch oberdeutschen Variante der Reformation. Diese lässt sich schließlich auch an den ersten Besetzungen der Rektorenstelle mit Personal, das in unterschiedlicher Weise Beziehungen nach Straßburg unterhielt, sowie an einer am dortigen Modell orientierten Schulaufsicht deutlich ablesen. Mit dem Gymnasium bei St. Anna sollte Augsburg analog zu entsprechenden Straßburger Initiativen eine Schule erhalten, die den Predigernachwuchs sowie eine protestantisch ––––––––– 4 5

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Zu diesem Ereignis zusammenfassend Rolf Kießling: Augsburg in der Reformationszeit. In: „…wider Laster und Sünde“ (wie Anm. 1), S. 17–43. Kießling: Humanistische Gelehrtenwelt (wie Anm. 2), S. 14f. Dagegen behauptete noch Köberlin: Gymnasium bei St. Anna (wie Anm. 1), S. 11, dass der „Rat keine Zeit gefunden habe, sich mit der Schulfrage zu befassen“. Zu den komplexen Bedingungen der Reformation in Augsburg s. Katharina Sieh-Burens: Oligarchie, Konfession und Politik im 16. Jahrhundert. Zur sozialen Verflechtung der Augsburger Bürgermeister und Stadtpfleger. 1518–1618. München 1986. Zu Sailer s. Mark Häberlein: Interessen, Parteien und Allianzen. Gereon Sailer als „Makler“ in der oberdeutschen Reformation. In: Historische Anstöße. Festschrift für Wolfgang Reinhard zum 65. Geburtstag am 10. April 2002. Hg. von Peter Burschel u. a. Berlin 2002, S. 14–39. S. Wolfgang Wallenta und Günter Hägele: Artikel „Wohlfahrt, Bonifatius“. In: Augsburger Stadtlexikon. 2., völlig neu bearbeitete und erheblich erweiterte Auflage. Hg. von Günther Grünsteudel, Günter Hägele und Rudolf Frankenberger. Augsburg 1998, S. 935 (mit weiterer Literatur). Zu Wolfgang Musculus s. die Beiträge im Sammelband: Wolfgang Musculus (1497–1563) und die oberdeutsche Reformation. Hg. von Rudolf Dellsperger, Rudolf Freudenberger und Wolfgang E. J. Weber. Berlin 1997 (Colloquia Augustana 6). Zu Martin Bucer s. Martin Greschat: Martin Bucer. München 1990; Martin Bucer. Strasbourg et l’Europe. Exposition à l’Occasion du 500e Anniversaire du Réformateur Strasbourgeois Martin Bucer. 1491–1991. Straßburg 1991 sowie die Beiträge im Sammelband: Martin Bucer. Reforming church and community. Hg. von David F. Wright. Cambridge 1994.

Einleitung

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geprägte Führungselite heranbilden und auf diese Weise der Reformation nachhaltig zum Erfolg verhelfen sollte. 11 Angesichts einer ungebrochen bis in die erste Hälfte des 16. Jahrhunderts zurückreichenden Tradition ist es wenig erstaunlich, dass die Feierlichkeiten zum 475. Gründungsjubiläum des Gymnasiums bei St. Anna im Jahr 2006 zu einem guten Teil dem historischen Rückblick galten. Ergebnis hiervon ist nicht zuletzt die Herausgabe eines Sammelbandes, der erstmals nach der 75 Jahre zuvor zur Vierhundertjahrfeier erschienenen Monographie von Karl Köberlin 12 die Schulgeschichte wieder ausführlich in den Blick nimmt und in ihren zentralen Etappen porträtiert. 13 Indes markiert das Datum 1531 nicht nur den Ausgang einer langen und wechselvollen Schulhistorie, in der sich die grundlegenden pädagogischen und gesellschaftlichen Entwicklungen von der Frühen Neuzeit bis zur Moderne spiegeln.14 Darüber hinaus fällt es in eine Epoche, in der Augsburg nicht nur in politischer, sondern auch in kultureller Hinsicht zu den führenden Städten im Reich gehörte, woran das Gymnasium bald selbst Anteil haben sollte.15 Denn obzwar die Beweggründe, die zu dessen Gründung führten, in erster Linie reformationspolitischer Natur waren und weniger, wie in der älteren Forschung noch angenommen, allein auf die Realisierung eines am Humanismus orientierten Bildungsideals abzielten, ist doch die Geschichte der Schule im 16. Jahrhundert von einer steten Zunahme humanistischer Elemente in deren Lehrplan geprägt. 16 Auch in Augsburg ging es dabei freilich darum, wie bereits Jakob Wimpfeling für Straßburg gefordert hatte, 17 religiöse Unterweisung und humanistische Bildung miteinander zu verbinden, um über das Quellenstudium in den drei heiligen Sprachen Hebräisch, Griechisch und Latein zu einer unverfälschten Kenntnis des christlichen Glaubens zu gelangen.18 Als prägende Ge––––––––– 11

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Vgl. Kießling: Humanistische Gelehrtenwelt (wie Anm. 2), S. 16f. Allgemein zu Straßburg s. Anton Schindling: Humanistische Hochschule und freie Reichsstadt. Gymnasium und Akademie Straßburg 1538–1621. Wiesbaden 1977; ders.: Die reichsstädtische Hochschule in Straßburg 1538–1621. In: Stadt und Universität im Mittelalter und in der frühen Neuzeit. Hg. von Erich Maschke und Jürgen Sydow. Sigmaringen 1977, S. 71–83. Vgl. Anm. 1. Keil (Hg.): Gymnasium bei St. Anna (wie Anm. 2). Vgl. hierzu die Beiträge von Rudolf Freudenberger, Thomas Felsenstein, Helmut Schmid, Renate Weggel und Werner Rehle in ebd. Für einen Überblick s. Wolfgang Zorn: Augsburg. Geschichte einer deutschen Stadt. Augsburg 1972, S. 152–212; Bernd Roeck: Geschichte Augsburgs. München 2005, S. 91–137. S. Kießling: Humanistische Gelehrtenwelt (wie Anm. 2), S. 24–28. Allgemein zum Einfluss des Humanismus auf das Bildungswesen s. Wilhelm Kühlmann: Pädagogische Konzeptionen. Kap. 1: Der deutsche Humanismus und die Kultur der Frühen Neuzeit. In: Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte. Bd. 1: 15. bis 17. Jahrhundert. Von der Renaissance und der Reformation bis zum Ende der Glaubenskämpfe. Hg. von Notker Hammerstein. München 1996, S. 153–168. Einführend zu Wimpfeling s. Dieter Mertens: Jakob Wimpfeling (1540–1528). Pädagogischer Humanismus. In: Humanismus im deutschen Südwesten. Biographische Profile. Im Auftrag der Stiftung „Humanismus heute“ des Landes Baden-Württemberg hg. von Paul Gerhard Schmidt. Sigmaringen 1993, S. 35–58. Allgemein zu diesem Zusammenhang s. den Beitrag von Klaus Unterburger in diesem Band, S. 61–84 (Zusammenfassung unten S. 10).

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Gernot Michael Müller

stalt für den ab der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts zu greifenden Aufschwung des Gymnasiums bei St. Anna, der in gewissen Grenzen auch von religiöser Toleranz in der bikonfessionellen Stadt begleitet war, hat dabei zweifelsohne Hieronymus Wolf zu gelten, der nach Stationen in Nürnberg, Wittenberg und Straßburg 1551 über Basel nach Augsburg gelangte, um zunächst als Bibliothekar und Privatsekretär Johann Jakob Fuggers zu wirken, bevor er die Leitung der Schule übernahm. 19 Mit ihm erhielt das Gymnasium bei St. Anna einen Rektor, der nicht nur mit den Bildungskonzepten eines Philipp Melanchthon20 und eines Johannes Sturm21 bestens vertraut war, sondern der auch unter die führenden Byzantinisten seiner Epoche zu rechnen ist und Augsburg für gewisse Zeit zu einem Zentrum für die Herausgabe byzantinischer Autoren machte. 22 Die kulturelle Bedeutung Augsburgs in der Epoche, in die die Gründung des Gymnasiums bei St. Anna fällt, ist hinlänglich bekannt und immer wieder betont worden. Mithin wird es zu jenen Städten nördlich der Alpen gerechnet, in denen die in Italien ab der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts entstandene Bewegung des Humanismus und die Kunst der Renaissance am frühesten und sodann am nachhaltigsten rezipiert worden sind. Entsprechend dicht fällt die Forschungsliteratur aus, die sich mit den Einflüssen von Humanismus und Renaissancekunst in Augsburg beschäftigt. Zwar erweisen sich nicht alle Felder, in denen sich diese greifen lassen, als gleich gut erschlossen und in manchen von ihnen klaffen durchaus noch beträchtliche Lücken. Dennoch können Bedingungen, Wege und Realisationsbereiche der Rezeption von Humanismus und Renaissance zwischen Lech und Wertach insgesamt als gut erschlossen gelten. Woran es bei einem Überblick über die jüngere Forschung zu Augsburg im 15. und 16. Jahrhundert indes mangelt, sind Arbeiten, die die Forschungsergebnisse ––––––––– 19

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Zu Hieronymus Wolf s. Helmut Zäh: Vom Augsburger Religionsfrieden bis zur Gründung des Annakollegs. Das Rektorat des Hieronymus Wolf (1557–1580) im Spiegel seines Briefwechsels. In: Gymnasium bei St. Anna (wie Anm. 2), S. 30–52, ferner: Hans-Georg Beck: Hieronymus Wolf (1516–1580). In: Lebensbilder aus dem Bayerischen Schwaben. Bd. 9. Hg. von Wolfgang Zorn. München 1966, S. 169–193; Hans Rudolf Velten: Das selbst geschriebene Leben. Eine Studie zur deutschen Autobiographie im 16. Jahrhundert. Heidelberg 1995 (Frankfurter Beiträge zur Germanistik 29), S. 94–102. Eine Übersetzung von Wolfs Autobiographie in: Hans-Georg Beck (Hg.): Der Vater der deutschen Byzantinistik. Das Leben des Hieronymus Wolf von ihm selbst erzählt. München 1984 (Miscellanea Byzantina Monacensia 29). S. Gerhard Müller: Philipp Melanchthon zwischen Pädagogik und Theologie. In: Humanismus im Bildungswesen des 15. und 16. Jahrhunderts. Hg. von Wolfgang Reinhard. Weinheim 1984, S. 95–106. Allgemein zur Vita Philipp Melanchthons s. Heinz Scheible: Melanchthon. Eine Biographie. München 1997. S. einführend mit weiterer Literatur: Hans-Josef Krey: Artikel „Sturm, Johannes“. In: Biographisch-bibliographisches Kirchenlexikon. Bd. 9. Hg. von Friedrich Wilhelm Bautz. Herzberg 1996, Sp. 145–149; speziell zu Sturm als humanistischen Pädagogen: Barbara Sher Tinsley: Johann Sturm’s method for humanistic pedagogy. In: Sixteenth Century Journal 20 (1989), S. 23–41. S. hierzu den Beitrag von Markus Völkel in diesem Band, S. 293–308 (Zusammenfassung unten S. 17f.) sowie Kerstin Hajdú: Griechische Autographe des Hieronymus Wolf in der Bayerischen Staatsbibliothek. In: Codices manuscripti 44/45 (2003), S. 41–67.

Einleitung

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zu den einzelnen Rezeptionsfeldern von Humanismus und Renaissance aufgreifen und zu einer Kulturgeschichte Augsburgs in den betreffenden zwei Jahrhunderten zusammenführen. Diesem Desiderat stellte sich eine interdisziplinäre Tagung, die vom 10. bis 12. Oktober 2006 in Augsburg stattfand und die sich dezidiert als Ergänzung zu den vom Gymnasium bei St. Anna selbst organisierten Feierlichkeiten zu dessen 475. Gründungsjubiläum verstand. Unterstrichen wurde dieser Zusammenhang nicht nur durch das Datum der Tagung, das mit dem Beginn des wahrscheinlichen Gründungszeitraums im Herbst 1531 korrespondierte, sondern auch durch deren Ausrichtung am historischen Ort: Veranstaltet wurde sie im von Elias Holl zu Beginn des 17. Jahrhunderts an der Stelle des ehemaligen Klosters errichteten Schulgebäude,23 das das Gymnasium bis zu seinem Umzug in einen modernen Bau am Stadtrand nach dem Zweiten Weltkrieg beherbergte und heute nach aufwendiger Renovierung der Evangelischen Stadtakademie Augsburg als Bildungszentrum dient. Die auf diese Weise mit dem Schuljubiläum verbundene Tagung verfolgte den Ansatz, den Blick von der Gründungsgeschichte des Gymnasiums zu weiten und im Sinne des oben konstatierten Forschungsdefizits deren weiteres kulturelles Umfeld zu beleuchten, dem die Schule bei allen politischen Beweggründen durchaus ihre Gründung mitzuverdanken hat und auf das sie durch Lehrprogramm und Personal – etwa durch Hieronymus Wolf – sodann selbst wieder zurückwirkte. Insofern dabei die Rezeption von Humanismus und Renaissance in Augsburg im Mittelpunkt des Erkenntnisinteresses stehen sollte, wurde der Begriff des Umfeldes in der dafür notwendigen Weite interpretiert. Gegenstand der Tagung waren die knapp zwei Jahrhunderte von den ersten Reflexen humanistischen Interesses im Augsburger Frühhumanistenkreis um den Bürgermeister Sigismund Gossembrot Mitte des 15. Jahrhunderts24 bis in die Zeit des Späthumanismus25 mit seiner Zentralfigur Marcus Welser26 an der Wende zum 17. Jahrhundert und am Vorabend des Dreißigjährigen Krieges. ––––––––– 23

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Bezogen wurde es 1615. S. Köberlin: Gymnasium bei St. Anna (wie Anm. 1), S. 123–127; Bernd Roeck: Elias Holl. Architekt einer europäischen Stadt. Regensburg 1985, S. 161– 168; ders.: Der Holl-Bau des Gymnasiums bei St. Anna: Sozial- und geistesgeschichtliche Implikationen eines Kunstwerks. In: Nachrichtenblatt der Societas Annensis 33 (1985), S. 5–22. Zum Augsburger Frühhumanistenkreis s. u. a. Friedrich Zoepfl: Der Humanismus am Hof der Fürstbischöfe von Augsburg. In: Historisches Jahrbuch 62–69 (1949), S. 671–708, hier S. 676–679; Hartmut Boockmann: Laurentius Blumenau. Fürstlicher Rat – Jurist – Humanist (ca. 1415–1484). Göttingen 1965 (Göttinger Bausteine zur Geschichtswissenschaft 37), S. 226–236; Heinz Otto Burger: Renaissance, Humanismus, Reformation. Deutsche Literatur im europäischen Kontext. Bad Homburg v. d. H., Berlin, Zürich 1969 (Frankfurter Beiträge zur Germanistik 7), S. 145–148, 171–179; unter besonderer Berücksichtigung der Imitatio italienischer Vorbilder in der Korrespondenz Augsburger Frühhumanisten Franz Josef Worstbrock: Imitatio in Augsburg. Zur Physiognomie des deutschen Frühhumanismus. In: Zeitschrift für deutsches Altertum und Literatur 129 (2000), S. 187–201. Zum Epochenbegriff des Späthumanismus s. Notker Hammerstein: Einleitung. In: Späthumanismus. Studien über das Ende einer kulturhistorischen Epoche. Hg. von dems. und Gerrit Walther. Göttingen 2000, S. 9–18.

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Gernot Michael Müller

In methodischer Hinsicht gründete das Unternehmen, die verschiedenen Forschungsfelder zur Rezeption von Humanismus und Renaissance zu bündeln und zu einer Kulturgeschichte Augsburgs zwischen Spätmittelalter und Dreißigjährigem Krieg zusammenzuführen, auf jüngeren Ansätzen zur Kulturgeschichte, 27 die im Unterschied zu traditionellen Herangehensweisen „Kultur“ nicht als einen bestimmten gesellschaftlichen Sektor neben anderen wie z. B. Politik, Wirtschaft oder Religion, sondern als die Summe jener mentalen Dispositionen begreifen, die in den verschiedensten Feldern des gesellschaftlichen Lebens in einer bestimmten Epoche wirksam werden können. 28 Ein solcher Kulturbegriff postuliert keine ganzheitliche Geschlossenheit im Sinne einer einheitlichen Kultur, sondern fragt nach den Haltungen der historischen Akteure sowie nach den Betrachtungsweisen und Wahrnehmungen, die deren Handeln bedingen. Gegenstand einer dementsprechend ausgerichteten Kulturwissenschaft kann daher keine irgendwie geartete historische Totalität sein, sondern besteht in der Erforschung der Sinnstiftungs- und Deutungshorizonte der historischen Akteure. Diese können freilich nur aus der Perspektive unterschiedlicher Fachdisziplinen erfolgreich analysiert und beschrieben werden.29 Aus diesem Grunde war Interdisziplinarität eine der unerlässlichen Voraussetzungen der Tagung. Grundlegend für die Tagung war des Weiteren ein Verständnis von Humanismus, das diesen im Gegensatz zu traditionellen Verwendungsweisen nicht mehr nur als rein sprachlich-ästhetisches oder bildungsgeschichtliches Paradigma begreift. Aktuelle Deutungen des Begriffs beschränken sich demgegenüber nicht darauf, diesen allein an der Verwendung einer an den klassischen Autoren ––––––––– 26

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Zu Marcus Welser s. neben den Beiträgen von Magnus Ulrich Ferber, Stefan W. Römmelt und Alois Schmid in diesem Band statt vieler: Hubert von Welser: Die Welser. In: Das Bayerland 57 (1955), S. 262–285; Bernd Roeck: Geschichte, Finsternis und Unkultur. Zu Leben und Werk des Marcus Welser (1558–1614). In: Archiv für Kulturgeschichte 72 (1990), S. 115–141; Markus Völkel: Das Verhältnis von religio patriae, confessio und eruditio bei Marx Welser. In: Die europäische Gelehrtenrepublik im Zeitalter des Konfessionalismus. Hg. von Herbert Jaumann. Wiesbaden 2001 (Wolfenbütteler Forschungen 96), S. 127–140; Wolfgang Kuhoff: Markus Welser als Erforscher des römischen Augsburg. In: Die Welser. Neue Forschungen zur Geschichte und Kultur des oberdeutschen Handelshauses. Hg. von Mark Häberlein und Johannes Burkhardt. Berlin 2002, S. 585–608; Magnus Ulrich Ferber: „Scio multos te amicos habere.“ Wissensvermittlung und Wissenssicherung im Späthumanismus am Beispiel des Epistolariums Marx Welsers d. J. (1558–1614). Augsburg 2008 (Documenta Augustana 19). Für einen Überblick wissenschaftlicher Basistexte zur Kulturgeschichte seit Jacob Burckhardt s. Silvia Serena Tschopp (Hg.): Kulturgeschichte. Stuttgart 2008 (Basistexte Geschichte 3). Für eine instruktive, aus den Forschungsdebatten um den Kulturbegriff entwickelte Annäherung an die „Neue Kulturgeschichte“ vgl. Silvia Serena Tschopp: Entstehung der Neuen Kulturgeschichte. In: dieselbe und W. E. J. Weber: Grundfragen der Kulturgeschichte. Darmstadt 2007 (Kontroversen um die Geschichte), S. 72–82 mit weiterführender Literatur sowie dies.: Einleitung. Begriffe, Konzepte und Perspektiven der Kulturgeschichte. In: dies. (Hg.): Kulturgeschichte (wie Anm. 27), S. 9–32. Zur Transdisziplinarität der neuen Ansätze von Kulturgeschichte vgl. exemplarisch Ute Daniel: Kompendium Kulturgeschichte. Theorien, Praxis, Schlüsselwörter. Frankfurt a. M. 2001, bes. S. 7–25.

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orientierten Latinität in Prosa und Dichtung oder aber am Bekenntnis zu einem an den septem artes liberales orientierten Bildungskonzept festzumachen, dessen Ziel in einer als komplementär verstandenen stilistischen wie moralischen Vervollkommnung des Menschen gesehen wird. Vielmehr wird Humanismus heute als umfängliches Epochenphänomen verstanden, dessen Kern zwar weiterhin in der Orientierung an einer als vorbildlich verstandenen Antike gesucht wird, das mit dieser aber potentiell alle intellektuellen wie gesellschaftlichen Bereiche zu erfassen vermag. Während humanistische Strömungen in Naturwissenschaft und Medizin bereits seit längerem in den Blick der Forschung geraten sind, 30 datiert deren systematischer Aufweis in Geschichtsverständnis und Geschichtsschreibung, Politik und politischer Theorie oder auch in Ökonomie und Verwaltung, um hier nur einige exemplarische Bezirke zu benennen, erst in jüngere Zeit. 31 Insgesamt stellt das Einwirken des Humanismus auf jene Bereiche, die traditionell nicht im Fokus der Humanismusforschung standen, eine noch weithin anzugehende Forschungsaufgabe dar, wobei insbesondere die Frage nach den Interdependenzen humanistischer Aktivitäten in den verschiedenen Feldern noch kaum systematisch gestellt worden ist. Einem solchen weit gefassten Humanismusbegriff entsprechend wird das Profil seiner Träger nicht mehr allein auf literarische Aktivitäten beschränkt, die im oben angedeuteten Sinne als humanistisch zu begreifen sind, sondern mit einer Haltung identifiziert, die die Antike als Reservoir vorbildlicher Möglichkeiten begreift, die eigene Gegenwart zu deuten und zu gestalten. Angesichts der hinlänglich beschriebenen Schwierigkeiten, Humanisten als gesellschaftliche Gruppe eindeutig zu definieren, da diese tendenziell allen sozialen Schichten entstammen können, werden diese neuerdings über ihre Zugehörigkeit zu einer Kommunikationsgemeinschaft definiert, die durch gemeinsame Themen und Interessenlagen konstituiert wird. Dass diese ein adäquates Mittel darstellt, um jene über Standesgrenzen und Berufsfelder reichende sowie in ihren inhaltlichen Schwerpunkten sehr vielgestaltige Gruppe der Humanisten zu greifen, haben gerade neuere Studien zu den Bedingungen humanistischer Aktivitäten deutlich herauszuarbeiten vermocht. 32 ––––––––– 30

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S. z. B. Helmuth Grössing: Humanistische Naturwissenschaft. Zur Geschichte der Wiener mathematischen Schule des 15. und 16. Jahrhunderts. Baden-Baden 1983 (Saecula spiritalia 8); Christoph Schöner: Mathematik und Astronomie an der Universität Ingolstadt im 15. und 16. Jahrhundert. Berlin 1994 (Ludovico Maximilianea. Forschungen 13). Zur humanistischen Geschichtsschreibung s. exemplarisch: Ulrich Muhlack: Geschichtswissenschaft im Humanismus und in der Aufklärung. Die Vorgeschichte des Historismus. München 1991; Diffusion des Humanismus. Studien zur nationalen Geschichtsschreibung europäischer Humanisten. Hg. von Johannes Helmrath, Ulrich Muhlack und Gerrit Walther. Göttingen 2002; ferner: Herfried Münkler, Hans Grünberger und Kathrin Mayer: Nationenbildung. Die Nationalisierung Europas im Diskurs humanistischer Intellektueller. Italien und Deutschland. Berlin 1998 (Politische Ideen 8). Zum Verhältnis von Humanismus und Politik s. den Beitrag von Wolfgang E. J. Weber in diesem Band (S. 87–99; Zusammenfassung S. 10f.) mit entsprechenden Literaturangaben. Vgl. hierzu die brillante Neubestimmung des Humanismusbegriffs mit weiterführenden Literaturangaben bei Harald Müller: Habit und Habitus. Mönche und Humanisten im Dialog. Tübingen 2006 (Spätmittelalter und Reformation. Neue Reihe 32), S. 11–78.

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Ein derartiges Verständnis von Humanismus und dessen Akteuren ist Voraussetzung dafür, dass Humanismus im Sinne eines oben skizzierten Kulturbegriffs als Sinnstiftungs- und Deutungshorizont untersucht werden kann, der für Handeln und Selbstbeschreibung einer Gesellschaft, in diesem Falle jener Augsburgs zwischen der Mitte des 15. bis zum Beginn des 17. Jahrhunderts, umfassende Gültigkeit besaß. Erweiterter Humanismusbegriff und kulturwissenschaftliche Perspektive erlauben es somit, die Rezeption von Humanismus und Renaissance in Augsburg als Phänomen von beachtlicher und innerhalb des nordalpinen Kontexts insgesamt selten erreichter Breite sichtbar zu machen. Freilich birgt ein solcher Ansatz auch die Gefahr einer einseitigen Betrachtungsweise in sich, die den Blick dafür verliert, dass sich Augsburger Kultur zwischen Spätmittelalter und Dreißigjährigem Krieg letztlich trotzdem als weit komplexer und vielschichtiger erweist, als dass sie sich allein auf das wenngleich bedeutsame humanistische Element reduzieren ließe. Auf diese Gefahr ist in der Forschung wiederholt hingewiesen worden.33 Insofern ging es auch der im Kontext des 475. Gründungsjubiläums des Gymnasiums bei St. Anna veranstalteten Tagung nicht darum zu negieren, dass sich die Rezeption von Humanismus und Renaissance in Augsburg in einem weiteren kulturellen Kontext vollzogen hat, in dem es Bereiche gab, die davon nicht oder nur peripher berührt blieben.34 Ihr Anliegen war es vielmehr, vor dem Hintergrund des skizzierten kulturwissenschaftlichen Ansatzes und auf der Basis des in der neueren Forschung angewandten erweiterten Humanismusbegriffs Felder aufzuzeigen, in denen sich Humanismus und Renaissance in Augsburg von der Mitte des 15. bis zum Beginn des 17. Jahrhunderts greifen lassen, ohne zu implizieren, dass Augsburger Kultur in dieser Epoche damit bereits erschöpfend beschrieben wäre. Mehr noch: Indem dabei auch nach Bedarf und Funktion der beiden Paradigmen im weiteren kulturellen Kontext der Stadt, aber auch darüber hinaus zu fragen war, wurde dieser immer wieder mitreflektiert.35 Wenngleich nicht ihr dezidiertes Thema, war die Tatsache, dass sich Rezeption und Etablierung humanistischer Ansätze und Denkweisen im steten Wechselverhältnis mit traditionellen kulturellen Deutungsmustern vollzogen und vor deren ––––––––– 33

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S. Wolfgang Zorn: Die soziale Stellung der Humanisten in Nürnberg und Augsburg. In: Die Humanisten in ihrer politischen und sozialen Umwelt. Hg. von Otto Herding und Robert Stupperich. Bonn, Boppard 1976, S. 35–49 (wieder abgedruckt in ders.: Studia Sueviae Historica. Beiträge zur Geschichte Bayerisch-Schwabens. Festgabe zum 75. Geburtstag des Verfassers. Augsburg 1997, S. 61–74) sowie Kießling: Humanistische Gelehrtenwelt (wie Anm. 2), S. 18f. Beispiele hierfür geben in diesem Band Bernhard Jahn in seinem Beitrag über das deutsche Schuldrama jenseits der humanistischen Dramatik an den Gymnasien von St. Anna und St. Salvator (S. 217–233; Zusammenfassung S. 14f.) sowie Wolfgang Augustyn in seinem Beitrag über den Catalogus abbatum Wilhelm Wittwers (S. 329–387; Zusammenfassung S. 19f.). Einen allgemeinen Überblick über Funktionen des Humanismus bieten die Beiträge im Sammelband: Funktionen des Humanismus. Studien zum Nutzen des Neuen in der humanistischen Kultur. Hg. von Thomas Maissen und Gerrit Walther. Göttingen 2006.

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Hintergrund ihren Nutzen unter Beweis stellen mussten, auf der Tagung daher stets präsent und mithin Teil ihres Ergebnisses.

II. Der vorliegende Sammelband vereint neunzehn Beiträge, die aus den Vorträgen der im Oktober 2006 veranstalteten Tagung hervorgegangen sind. Sie werden hier in neun thematisch unterschiedenen Kapiteln präsentiert. Sieben von diesen sind Aspekten humanistischer Kultur in Augsburg gewidmet. Eine – die abschließende – Sektion gilt der Kunst der Renaissance, welche zwischen Lech und Wertach bekanntlich eine ihrer frühesten Heimstätten im deutschen Kulturraum fand. Die erste Abteilung hingegen ist einleitender Natur. Sie wendet sich den Rahmenbedingungen zu, die für die Rezeption des Humanimus nördlich der Alpen generell bedeutend waren. Dementsprechend lotet sie dessen Beziehung zu den sozialen Räumen Hof und Stadt sowie zu der sich im 16. Jahrhundert herausbildenden Konfessionalisierung aus. Den Auftakt in diesem ersten Kapitel bildet der Beitrag von Caspar Hirschi mit dem Titel „Höflinge der Bürgerschaft – Bürger des Hofes. Zur Beziehung von Humanismus und städtischer Gesellschaft“ (S. 31–60). Sein Ziel ist es, auf der Basis einer grundsätzlichen Kritik an dem von Hans Baron in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts geprägten Begriff des „Bürgerhumanismus“ das Verhältnis von Humanismus und Stadt neu zu hinterfragen. Aufbauend auf einer Humanismusdefinition, die diesen weniger mit den fünf studia humanitatis Grammatik, Rhetorik, Poetik, Geschichte und Ethik gleichsetzt, sondern über die habituellen Praktiken seiner Träger, insbesondere über deren Kommunikationsverhalten, zu greifen sucht, lautet Hirschis These, dass der Humanismus zwar durchaus in der spätmittelalterlichen Stadtkultur seine Wurzeln habe, dass er dort aber einer „urbanen Verhofung“ zugearbeitet habe, die sich in der zunehmenden Orientierung der städtischen Oberschicht an adligen Verhaltensweisen und Repräsentationsformen artikuliert habe. Tatsächlich habe sich der Humanismus in der Stadt hauptsächlich im Umfeld des städtischen Patriziats, in Bischofsstädten auch des Domkapitels, mithin also in herrschaftsnahen städtischen Eliten entfalten können. Umgekehrt habe er im höfischen Umfeld bald zu jenen Kräften gehört, die einer „höfischen Verstädterung“ Vorschub geleistet hätten, und dies einmal kulturell durch ein neues Leistungs- und Bildungsethos, sodann sozial durch Hof und Stadt verbindende Netzwerke und schließlich räumlich durch eine dauerhafte Anbindung des Hofes an den städtischen Lebensraum. In diesem, den Humanismus von Anfang an prägenden spannungsreichen Spagat sieht Caspar Hirschi die Grundlage für den kulturellen Innovationsschub, der von der humanistischen Bewegung ausgegangen ist. Für die europäische Gelehrtenwelt habe dies den beschleunigten Austritt aus der institutionellen Geborgenheit von Klöstern oder Universitäten, aber längst keinen Eintritt in eine selbstbestimmte, freie Gelehrsamkeit bedeutet, wie in der älteren Forschung

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häufig idealisierend behauptet worden ist. Vielmehr habe sich ein Übergang in unbeständigere und austauschbarere Abhängigkeiten ereignet, die weniger den Nährboden für eine Autonomie der Kulturproduktion, sondern bestenfalls für die Illusion derselben gebildet habe. Daraufhin beleuchtet Klaus Unterburger in seinem Aufsatz „Zwischen Irenik und Kontroverstheologie. Der Einfluss des Humanismus auf die Ausbildung konfessioneller Wissenskulturen“ (S. 61–84) das Verhältnis von Humanismus und Konfessionalisierung. Ausgangspunkt seiner Überlegungen ist die Feststellung, dass der Humanismus auch als christliche Reformströmung zu gelten habe, die mit ihrem methodischen Rückgang ad fontes inhaltlich auf eine Erneuerung der christianitas gemäß der reinen philosophia Christi bzw. der ecclesia primitiva zielte. Deshalb habe Luther nicht zuletzt auch in Augsburg seine ersten Anhänger im Kreis der Humanisten gefunden. Freilich hätten Reformation und Humanismus bis etwa 1530 noch eine vielfach sich überschneidende und gemeinsame Reformbewegung innerhalb der einen Kirche gebildet. Erst mit der Verfestigung der konfessionellen Spaltung sei der Humanismus immer mehr in den Dienst der Kontroverstheologie als Mittel zum Nachweis der wahren Kirche Christi gestellt worden. Mussten die Protestanten die Schriftgemäßheit ihrer Verkündigung und die Depravation der römischen Kirche im Verlauf der Geschichte nachweisen, so hatten die Katholiken nicht nur für das Alter ihrer Institutionen zu argumentieren, sondern auch den Schrift- und Väterbeweis für ihre Dogmen zu führen. Die Theologen beider Konfessionen benötigten so die historische Kritik und humanistische Studien, was dem Humanismus in modifizierter Form Fortbestand und Weiterentwicklung sicherte. Zudem führte das Konkurrenzverhältnis zu zahlreichen Schul- und Universitätsgründungen, so etwa im Falle Augsburgs zur Einrichtung der Gymnasien von St. Anna und St. Salvator sowie der Universität Dillingen, die auf dem gemeinsamen Boden der sorgfältigen Ausbildung in den humaniora standen. Schließlich habe der Humanismus mit seinem Beitrag zur Ausbildung der theologia positiva und der historisch-kritischen Methode die christliche Theologie zu einer ihrer größten geistigen Leistungen der Neuzeit befähigt. Das folgende Kapitel, das als erstes die humanistische Kultur Augsburgs in den Blick nimmt, gilt dem Verhältnis von humanistischem Wissen, Politik und Ökonomie. Wolfgang E. J. Webers Überblicksartikel mit dem Titel „Humanismus und reichsstädtische Politik“ (S. 87–99) lotet dabei zunächst aus, welchen Einfluss der Humanismus auf die Entwicklung städtischer Politik und Verwaltung in Augsburg genommen hat. In Abkehr von rein ästhetischen Deutungen des Phänomens definiert Weber den Humanismus aus sozialgeschichtlicher Perspektive als eine im Kern nichtklerikale und im wesentlichen stadtbürgerliche Bewegung, deren Träger ihre Kompetenzen den etablierten Eliten des Adels und der Kirche sowie den städtischen Eliten von Handel, Bankwesen und Gewerbe zur Verfügung gestellt hätten. Diesen boten sie ein – zumeist aus der Antike abgeleitetes – Wissen, das sich in vielfältiger Weise politisch-herrschaftlich hätte nutzen lassen. So hätten sich aus der antiken Literatur Rollenmodelle, Funktionszusammenhänge, Ordnungsmuster und Problemlösungen für den po-

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litischen Zusammenhang rekonstruieren lassen. Auf Augsburg bezogene Beispiele seien in diesem Zusammenhang frühhumanistische Initiativen zur Freskierung von Hausfassaden mit Szenen aus der antiken Geschichte oder die Präsentation antiker Inschriften, die der patrizischen Reputationssteigerung dienen sollten, des Weiteren die Ausbildung einer humanistischen Diskurskultur, die auch politisch nutzbar gewesen sei und dadurch bereits vorhandene Beziehungen verstärkt habe, sowie schließlich die Bürokratisierung und Professionalisierung des Stadtregiments, die auf der Adaptation entsprechender antiker Vorbilder beruht hätten. Mit Blick auf den Späthumanismus weist Weber am Ende seines Beitrags nicht nur auf den für diesen charakteristischen Antiquarianismus sowie die Intensivierung philologischer Aktivitäten hin, die durch Kommentar und Edition einer Verfestigung der konfessionellen Grenzen zuarbeiteten. Zudem kann er nahelegen, dass die sich im Anschluss an Machiavelli entwickelnde politiktheoretische Literatur des Humanismus um 1600 auch in Augsburg rezipiert und zu Statusaufbau und Statussicherung der städtischen Eliten nach innen wie nach außen verwendet wurde. Der folgende Artikel von Mark Häberlein, der den Titel trägt: „Botanisches Wissen, ökonomischer Nutzen und sozialer Aufstieg im 16. Jahrhundert. Der Augsburger Arzt und Orientreisende Leonhard Rauwolf“ (S. 101–116), stellt mit seiner Titelfigur sodann einen Gelehrten vor, der sich nicht nur im Gegensatz zu allen anderen in diesem Band thematisierten historischen Persönlichkeiten mit medizinisch-botanischem Wissen beschäftigt hat, sondern an dem auch exemplarisch vorgeführt werden kann, wie Gelehrte des 16. Jahrhunderts ein Gespür für den kommerziellen Profit entwickelten, der sich aus ihrem Wissen ziehen ließ, und dies konsequent zum Erwerb von sozialem Kapital nutzten. Dass Rauwolf dies über seine botanischen Kenntnisse gelingen konnte, gründete im breiten Interesse Augsburger Patrizier an exotischen Pflanzen, die als Heilpflanzen Anwendung fanden und entsprechend vermarktet wurden. Aus keiner etablierten Familie stammend begann Rauwolf bereits seit seinem Studium seltene Pflanzen zu sammeln, um daraus nicht nur einen persönlichen Kompetenzgewinn zu erzielen, sondern diese auch dezidiert zur Kontaktaufnahme mit entsprechenden Interessenten in der Augsburger Oberschicht zu nutzen. Über seine Herbariensammlung gelang es ihm denn auch, nicht nur ein Netzwerk mit bedeutenden Pflanzenkundlern der Zeit zu knüpfen, sondern auch die Protektion durch Augsburger Patrizier zu erlangen. In den Jahren 1573 bis 1576 bereiste Rauwolf schließlich für die Augsburger Handelsgesellschaft „Melchior Manlich und Mitverwandte“ die bis dahin wenig bekannten syrischen und mesopotamischen Provinzen des Osmanischen Reichs und verfasste darüber einen Bericht, der die Koordinaten seiner Existenz deutlich reflektiert. In seiner Kombination aus humanistischer Gelehrsamkeit, Interesse an fremden Kulturen und einem Bewusstsein für die wirtschaftliche Verwertbarkeit der neu erworbenen botanischen Kenntnisse zeigt dieser seinen Autor, wie Häberlein an ausgewählten Passagen darlegen kann, als einen mit den antiken und arabischen Autoritäten der Medizin bestens vertrauten Gelehrten, der als Angestellter einer großen Handelsfirma sein Wissen aber auch mit einem wachen Blick für Warenströme

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und Handelsverbindungen zu verbinden weiß und dessen kommerziellen Nutzen stets mitreflektiert. Die folgende dritte Sektion des Bandes versammelt Aufsätze, die das Verhältnis humanistischer Dichter und Literaten zur Reichsstadt Augsburg zum Gegenstand haben, wobei die beiden zentralen Themen des vorherigen Kapitels – Politik und Ökonomie – erneut von Bedeutung sind. Wilhelm Kühlmanns Beitrag „Der Kaiser und die Poeten. Augsburger Reichstage als literarisches Forum“ (S. 119–141) wendet sich den vielfach in Augsburg ausgerichteten Reichstagen und deren aufwendig inszeniertem Zeremoniell zu, in dem der humanistisch gebildete Orator und Poet als eine Art Agent der Meinungsbildung im Sinne der Politik des Kaisers seinen festen Platz hatte. Die gleichsam offizielle Indienstnahme für diese Aufgabe erfolgte durch die als Wiederbelebung eines antiken Rituals verstandene Dichterkrönung. Von den ungefähr vierzig Dichtern, die unter Kaiser Maximilian I. gekrönt wurden und diesem als wortmächtige Klientel in eigener Sache dienten, stellt Kühlmann exemplarisch Ulrich von Hutten vor, der 1517 auf Vermittlung Konrad Peutingers in Augsburg zum Dichter gekrönt wurde und seine Loyalität gegenüber dem Kaiser hierauf durch antipapalistische und antifranzösische Epigramme unter Beweis stellte. Freilich habe sich Hutten mit seiner auf dem Augsburger Reichstag von 1518 allerdings nicht von ihm selbst vorgetragenen Türkenrede als Reichstagsorator disqualifiziert, indem er allzu freimütig gegen das Desinteresse der Reichsstände und den Missbrauch von Kreuzzugsgeldern durch die Kurie polemisiert habe. An seine Stelle trat der aus Perugia stammende Riccardo Bartolini, der seine Plädoyers für einen Kreuzzug intelligenter begründete, indem er die Reichsstände dabei schonte und für ein Bündnis zwischen Maximilian und dem Papst eintrat. Im zweiten Teil seines Beitrags stellt Kühlmann hierauf ein Beispiel politischer Poesie, die im Umfeld eines Augsburger Reichstags entstanden ist, ausführlich vor: die elegische Versepistel des aus Brandenburg stammenden Georg Sabinus an Eobanus Hessus, die dem Dichterfreund den Einzug Karls V. nach Augsburg anlässlich des Reichstags von 1530 schildert. Die Tradition der antikisierenden Versepistel mit intertextuell wirksamen Modellen der Reichstagspublizistik verbindend, stellt Sabinus zunächst nach einer kurzen Bestimmung der Gesprächssituation – der Freund wolle sicherlich Neuigkeiten erfahren – den Ort des Geschehens Augsburg als veritable urbs Augusta vor, die als römische Gründung als sinnträchtige Stätte römisch-deutscher Reichherrlichkeit erscheint. Entsprechend nimmt der hierauf geschilderte Einzug des Kaisers selbst Züge antiker Triumphzüge an, bevor Sabinus die Begrüßungsrede des Mainzer Erzbischofs und Reichskanzlers Albrecht von Brandenburg zu einem indirekten Panegyrikus auf den Kaiser werden lässt. Schließlich beschreibt das Gedicht den Einzug in die Stadt und ins dortige Rathaus, in dem das von Sabinus geschilderte Bildprogramm auf eine Kontinuität von Germanen- und Reichsgeschichte verweist. Die darin evozierte nationale ‚Memoria‘ konvergiert mit dem im Türkenthema gipfelnden reichspatriotischen Pathos, das im Kampf Kaiser Ottos gegen die „Hunni“ genannten Ungarn auf dem Lechfeld kulminiert, welche sich durch ihre Herkunft aus dem Lande der Skythen unmissverständlich als

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Präfiguration der aktuellen türkischen Invasion zu erkennen geben. Unter dem Druck der türkischen Bedrohung bringt Sabinus am Ort wegweisender politischer Entscheidungen somit Bilder historischer wie unmittelbar sichtbarer Kaiserherrlichkeit mit Reminiszenzen der taciteischen Germanenideologie zur Deckung. So artikuliert sich die scheinbar private Versepistel an einen Dichterfreund selbst als Formsymbol römisch-imperialer Renaissance, als Ausdruck eines vom Dichter-Vates formulierten kollektiv-nationalen Willens, mithin als eines der vielen Zeugnisse einer wahrhaft politischen Reichspoesie, zu der gerade die Reichsstadt Augsburg das passende Ambiente und den zugehörigen mentalen Erinnerungsraum anbot. Die Wiedergabe des lateinischen Textes der Versepistel samt einer deutschen Übersetzung aus Kühlmanns Feder schließen den Beitrag ab. In seinem anschließenden Beitrag stellt Tomasz Ososinski die mittelbare Beziehung eines humanistischen Dichters zu Augsburg vor, nämlich die Kontakte zwischen dem Danziger Humanisten Johann Dantiscus und der Firma Welser („Die Kontakte des polnischen Humanisten Johann Dantiscus mit der Firma Welser [1527–1537]“, S. 143–155). Nachdem Ososinski knapp die Vita des Dantiscus geschildert hat, der als Diplomat in vielfältiger Mission in Europa unterwegs gewesen ist, stellt er dessen Briefwechsel vor, in dem sich einige Schreiben des Dichers an die Firma Welser und umgekehrt finden. Gegenstand der Korrespondenz waren häufig finanzielle Fragen, später lassen sich auch wissenschaftliche Interessen erkennen. So bemühte sich Dantiscus in seinen Briefen an die Welser auch, an Informationen über die Neue Welt zu gelangen. Einem humanistischen Literaten, der in Diensten der Fugger stand, wendet sich daraufhin Florian Schaffenrath in seinem Beitrag zu („Der Humanist Lucas Geizkofler zwischen Innsbruck und Augsburg. Seine Trauerrede auf Matthias Schenck“, S. 157–184). Aus Sterzing gebürtig, wurde Geizkofler zur Schulausbildung nach Augsburg geschickt, wo er das Gymnasium bei St. Anna besuchte. Ein anschließendes Jurastudium in Straßburg führte er nicht zu Ende. Auf eine missglücke Italienreise folgte die Rückkehr nach Augsburg, wo er in den Dienst der Fugger trat und von diesen als Gesandter an das Reichskammergericht in Speyer geschickt wurde. Nach dieser biographischen Skizze stellt Florian Schaffenrath das literarische Werk Geizkoflers vor. Bekannt geworden für sein Tagebuch aus der Zeit seiner studentischen Wanderjahre sowie für die Schrift De miseriis studiosorum (1576), tat sich dieser auch als Dichter und vor allem als Redner hervor. Von besonderem Interesse für Augsburg ist dabei die Leichenrede, die Geizkofler 1571 beim Begräbnis seines Augsburger Lehrers bei St. Anna, Matthias Schenck, gehalten hat. Auf die inhaltliche und stilistische Analyse der Rede schließt der Beitrag mit Edition und Übersetzung dieses Musterstücks humanistischer Beredsamkeit. Die nachfolgende Sektion widmet sich dem Schuldrama im Augsburg des 16. Jahrhunderts. Im Zentrum des Beitrags von Silvia Serena Tschopp („Protestantisches Schultheater und reichsstädtische Politik. Die Dramen des Sixt Birck“, S. 187–215) steht die in der Forschung zwar wiederholt postulierte, jedoch bislang nicht systematisch untersuchte politische Dimension der Bühnen-

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dichtungen des Augsburger Gelehrten und Rektors des Gymnasiums bei St. Anna Sixt Birck. Nachdem die Autorin dessen dramatisches Schaffen in lateinischer und deutscher Sprache überblicksweise vorgestellt hat, erörtert sie in einem zweiten Schritt anhand von programmatischen Äußerungen Bircks und am Beispiel von dessen Judith zentrale Funktionen des protestantischen Schultheaters. Hierauf diskutiert sie Bircks Bühnenwerke und das diesen zugrunde liegende Verständnis von Schuldrama vor dem Hintergrund der spezifischen konfessionellen und politischen Verhältnisse in der Reichsstadt Augsburg. Ihre These ist dabei, dass sich der für Bircks Dramen kennzeichnende ‚Republikanismus‘ weniger als Indikator für den in der Forschung bisweilen behaupteten Einfluss der eidgenössischen Theatertradition erweist. Vielmehr stehe dieser in engstem Zusammenhang zum einen mit dem bereits von humanistisch inspirierten Reformatoren – vor allem von Martin Luther und Philipp Melanchthon – vertretenen Verständnis des Schuldramas als eines wirkungsmächtigen Instruments bürgerlicher Sozialisation und zum anderen mit der Durchsetzung der Reformation in Augsburg und den diesen Prozess leitenden Vorstellungen eines christlichen Gemeinwesens. Die Schulbühne erscheint in dieser Perspektive nicht nur als eine für die Ausbildung einer reichsstädtischen protestantischen Elite zentrale Institution, sondern auch als jener Ort, an dem das für den oberdeutschen Raum charakteristische Verständnis des Staates als einer ebenso kirchlichen wie politischen Gemeinschaft seine vielleicht anschaulichste Ausgestaltung erfährt. Der anschließende Beitrag von Bernhard Jahn („Schultheater jenseits von St. Anna. Versuch einer Annäherung an die Theaterspielpraxis der deutschen Schulen in Augsburg am Beispiel von Sebastian Wilds Dramensammlung“, S. 217– 233) versucht hierauf exemplarisch die Theaterpraxis der deutschen Schulen Augsburgs zu rekonstruieren. Dabei handelt es sich um ein durchaus schwieriges Unterfangen, da zu den Medienmonopolen, die die Tradierung der Spielpraxis im gedruckten Buch kanalisierten, nur die akademisch gebildeten Eliten oder die politische Führungsschicht Zugang hatten. Deren Interesse galt in der Regel aber eher dem humanistischen, später auch dem jesuitischen Drama. Demgegenüber hatten deutsche Schulen kaum Zugang zum Speichermedium Druck. Tatsächlich lassen sich die meisten überlieferten Augsburger Theaterstücke eindeutig mit dem Gymnasium bei St. Anna in Verbindung bringen. Bernhard Jahn vermag nun nachzuweisen, dass die deutschen Schulen dennoch eine rege Spielpraxis entfaltet haben, mithin der Überlieferungsbefund bei aller Bedeutung, die dem Gymnasium bei St. Anna und seit Ende des 16. Jahrhunderts auch dem Jesuitengymnasium für die Theaterkultur Augsburgs ohne Zweifel zukommt, nur ein verzerrtes Bild vermittelt. Hierzu stützt er sich auf die zahlreichen Spielverbote sowie auf die archivalisch überlieferten Vorzensuren und Restriktionen, aus denen sich eine Spielpraxis erschließen lässt, die sogar weit über jene des humanistischen Gymnasiums hinausgeht. Bei diesem Theater handelte es sich mitnichten um ein Unterschichtenphänomen, da die Schüler der deutschen Schulen aus dem mittleren Bürgertum, nämlich der Schicht der Handwerker und kleinen Kaufleute, stammten. Über die Aufführungsgesuche, Verbote und Erlaubnisse, die in den Akten des Augsburger Stadtarchivs überlie-

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fert sind, vermag Bernhard Jahn sogar einige Dramen zu fassen, so jene des Meistersingers Sebastian Wild, der wahrscheinlich auch Schulmeister war und zusammen mit seiner Frau eine deutsche Schule leitete. Wilds Dramen weisen nicht nur durch ihre Inhalte, sondern auch durch die in ihnen vermittelten Wissensbestände in den Kontext der deutschen Schulen. Hinsichtlich der Form repräsentieren sie einen Typus von offenem Drama, in dem die Dramentexte als Bausteine erscheinen, aus denen sich der Schulmeister sein Drama zusammenstellen konnte. Die überlieferten Drucke repräsentieren somit eine Art von Regiebuch. Auffällig dabei ist auch, dass Wild sowohl katholische als auch protestantische Fassungen seiner Dramen verfasst hat, er somit für beide konfessionellen Gruppen geschrieben hat. Das anschließende Kapitel stellt Beispiele humanistischer Initiativen vor, Anfänge und antike Geschichte Augsburgs zu klären und zu dokumentieren. Zunächst widmet sich Gernot Michael Müllers Beitrag („Quod non sit honor Augustensibus si dicantur a Teucris ducere originem. Humanistische Aspekte in der Cronographia Augustensium des Sigismund Meisterlin“, S. 237–273) der im Titel genannten Augsburger Chronik des Benediktiners aus St. Ulrich und Afra Sigismund Meisterlin, die seit den Studien Paul Joachimsohns vom Ende des 19. Jahrhunderts als erstes humanistisches Geschichtswerk nördlich der Alpen gilt. Ausgangspunkt seiner Ausführungen ist der Befund, dass die neuere Forschung zur humanistischen Historiographie zwar an Joachimsohns Bewertung festhält, in der Regel aber eine Entwicklungslinie ihres Gegenstands zeichnet, die an Meisterlins Augsburger Chronik vorbeiführt. Denn ihr Hauptaugenmerk gilt der Rezeption der einschlägigen italienischen Vorbilder, die tatsächlich erst um 1500 eine an diesen orientierte Geschichtsschreibung nördlich der Alpen anregen. Vor diesem Hintergrund stellt der Beitrag erneut die Frage nach der Zugehörigkeit der Cronographia Augustensium zum Humanismus, wobei er nicht bei Meisterlins Umgang mit dessen Vorlagen ansetzt, worin Joachimsohn zu Recht erste Ansätze humanistischer Quellenkritik erkannt hat, sondern nach anderen Belegen fragt, welche die Augsburger Chronik als Vorläuferin der ab 1500 breit einsetzenden humanistischen Geschichtsschreibung in Deutschland erweisen. Diese findet er in Meisterlins Auffassung, Augsburg weise autochthone Ursprünge auf, mit welcher sich dieser gegen konkurrierende Ansichten wandte, wonach die Stadt von trojanischen Flüchtlingen gegründet worden sei. Ein Vergleich mit der um 1500 entstehenden humanistischen Historiographie in Deutschland zeigt dabei auf, dass Meisterlin mit dieser nicht nur das Interesse an autochthonen Geschichtskonzepten teilt, sondern auch Motive und Stoßrichtung, die hinter diesem stehen. Denn analog zu Meisterlin ersetzt die Geschichtsschreibung um 1500 nicht nur die über das ganze Mittelalter weit verbreitete Gewohnheit, das eigene Herkommen auf den Untergang Trojas zurückzuführen, sondern sie begreift einen autochthonen Ursprung auch als Privileg, das die germanischen Stämme allen anderen europäischen Völkern voraushätten. Verbunden mit dieser Konstruktion einer unverwechselbaren und an einen Ort gebundenen Geschichte lässt sich schließlich noch ein weiterer Aspekt greifen, in dem die Cronographia Augustensium auf die humanistische Ge-

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schichtschreibung um 1500 vorausweist, nämlich die Vorliebe für geographische und ethnographische Beschreibung, der es darum geht, das Eigenschaftsprofil eines Volkes aus der Beschaffenheit seines Lebensraumes abzuleiten. Insofern diese Besonderheiten der humanistischen Historiographie nördlich der Alpen in der Forschung als Folge der Auseinandersetzung mit den erst nach Meisterlins Cronographia Augustensium rezipierten italienischen Vorbildern gedeutet werden, drängt sich freilich die Frage auf, woher Meisterlin die entsprechenden Impulse erhalten hat. Die Antwort hierauf findet der Beitrag abschließend in der kommunalen Historiographie Italiens, in der das auch dort weit verbreitete Trojaparadigma bereits seit dem hohen Mittelalter Konkurrenz durch autochthone Ursprungsversionen erhalten hat. Der folgende Beitrag von Martin Ott mit dem Titel „Konrad Peutinger und die Inschriften des römischen Augsburg. Die Romanae vetustatis fragmenta von 1505 im Kontext des gelehrten Wissens nördlich und südlich der Alpen“ (S. 275–289) beschäftigt sich mit der ersten Inschriftensylloge nördlich der Alpen, den Romanae vetustatis fragmenta, mit denen Konrad Peutinger, Stadtschreiber von Augsburg und einer der führenden Humanisten Süddeutschlands, im Jahre 1505 eine epigraphische Schau des antiken Augsburg und Teilen seiner Umgebung vorlegte. Sie ist ein Zeugnis für Peutingers Interesse nicht nur an der Antike im Allgemeinen, sondern auch an deren Realien, welches darüber hinaus durch dessen Sammlungen antiker Kaisermünzen sowie römischer Steininschriften bezeugt wird. Seine Vorbilder findet Peutingers epigraphisches Werk in der gelehrten Kultur des humanistischen Italien, wo sich im Laufe des 15. Jahrhunderts eine Tradition der Inschriftensylloge herausgebildet hatte, welche in Anlehnung an antike Vorbilder als historisch-topographisches Genre zur Erfassung städtischer Räume verstanden wurde. Eines der ersten hier zu nennenden Beispiele war die Sylloge, die Poggio Bracciolini vor 1431 von einerseits verlorenen und nur handschriftlich überlieferten sowie andererseits selbst wieder aufgefundenen Inschriften von Rom erstellt hatte. Ihr Charakteristikum war die Versammlung von Inschriften, die an bedeutenden Gebäuden Roms angebracht waren. Poggios Auswahl war also weniger von der Qualität der Objekte denn vielmehr von der Prominenz der Gebäude, an denen sie angebracht waren, bestimmt, ein Verfahren, dass auf die Usancen urbaner Topographie der Antike zurückreicht, in der sich Stadträume über deren herausragende Gebäude definierten. Als konkretes Modell für Peutinger legt Ott hierauf die Inschriftensylloge des römischen Gelehrten Pomponius Leto nahe, den Peutinger nach seinen Studien in Italien als einen seiner Lehrmeister bezeichnete und dessen Sammlung zur Peutingers Lebzeiten in Süddeutschland nachweisbar ist. Für die Orientierung an Letos Werk spricht überdies die gemeinsame Vorliebe, die selbst erworbenen römischen Inschriften in die Wände des eigenen Hauses zu vermauern, von denen beide in ihren epigraphischen Schriften Zeugnis ablegen. Mit dem Werk, durch das Augsburg als erste Stadt nördlich der Alpen eine Dokumentation seiner römischen Inschriften erhielt, rekurrierte Peutinger somit auf einen in Italien gängigen Texttyp, der dort bis dahin allerdings nur in handschriftlicher Form gepflegt wurde. Darüber hinaus fehlt in den italienischen

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Vorbildern die ästhetische Inszenierung der Inschriften durch die Verwendung der monumentalen Kapitalis, wie sie Peutingers Druck in äußerst ansprechender Form zeigt. Diese verherrlichende Darstellung der antiken Inschriften Augsburgs setzt Ott in den Zusammenhang einer Neubewertung der römischen Vergangenheit im süddeutschen Humanismus, in deren Folge diese nicht mehr als Epoche der Fremdherrschaft abgewertet wird. Ziel von Peutingers Sylloge ist es somit, Augsburg dezidiert als ehemals antike civitas, als Stadt mit römischer Vergangenheit wahrnehmbar zu machen. Im Vorwort an Kaiser Maximilian I. wird die politische Dimension dieses Anliegens deutlich: Antikisierend als Caesar angesprochen, solle dieser die in den Inschriften bezeugte römische Vergangenheit Augsburgs als Beleg dafür erkennen, dass die Stadt den römischen Kaisern seit der Antike bis in die Gegenwart kontinuierlich nahe stehe. Ott schließt seinen Beitrag mit einem Ausblick auf die Wirkungsgeschichte der Romanae vetustatis fragmenta, die nicht nur nördlich, sondern auch südlich der Alpen beträchtlich war. Nicht nur römische Gründungen in Deutschland wie Mainz, sondern auch die erste gedruckte Inschriftensylloge Roms, die erst 1521 erschien, nahmen sich Peutingers Verzeichnis Augsburger Inschriften zum Vorbild. Nirgends wird besser sichtbar, dass Peutingers Strategie aufging, Augsburg über seine antiken Inschriften in eine Reihe mit den vielen antiken civitates Italiens zu stellen. Die folgende Sektion stellt zwei Beispiele philologischer Unternehmungen im humanistischen Augsburg vor, die sich zwischen den Polen internationaler Vernetzung und vorauseilender Selbstzensur ansiedeln. Zunächst lotet Markus Völkel in seinem Beitrag „Von Augsburg nach Paris, von Oporin zu Cramoisy. Die reichsstädtische Byzantinistik und die europäische Respublica litteraria in der Frühen Neuzeit“ (S. 293–308) den Beitrag der Augsburger Byzantinistik des 16. und frühen 17. Jahrhunderts für die philologische Erschließung der byzantinischen Historiographie in der Frühen Neuzeit aus. Völkel beginnt seine Ausführungen mit allgemeinen Bemerkungen zur Entwicklung der Byzantinistik seit ihrem Aufkommen in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts und weist dabei auf den eigentümlichen Befund hin, dass die drei italienischen Städte Florenz, Rom und Venedig, die damals über die engsten Beziehungen zu Byzanz verfügten, keine bedeutende Byzantinistik hervorgebracht haben. Immerhin avancierte Venedig zu einem bedeutenden Umschlagplatz griechischer Manuskripte und war für eine Zeitlang auch deren vorrangiger Druckort. Nach vielversprechenden Anfängen ging das Interesse an der griechischen Literatur im Laufe des 16. Jahrhunderts indes wieder zurück, und dies insbesondere im gegenreformatorischen katholischen Europa, wo die griechische Philologie misstrauisch und als lutherisch beargwöhnt wurde. Dass die Byzantinistik demgegenüber gerade in oberdeutschen Reichsstädten wie Basel und Augsburg eine besondere Pflege erfuhr, liegt an deren Nutzen für eine erweiterte Kenntnis patristischer Autoren, die als Argumentationswaffe in der konfessionellen Auseinandersetzung von hoher Bedeutung waren. Im Lehrplan der entstehenden Bürger- und Hochschulen, die das Rüstzeug für diese bereitstellen sollten, erhielt sie daher ihren festen Platz. Bei den Editionen byzantinischer Autoren nimmt

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Augsburg als Druckort bis zum Dreißigjährigen Krieg den dritten Platz ein. Freilich kann Markus Völkel aufzeigen, dass der bekannte Ankauf von einhundert byzantinischen Handschriften vom Kaufmann Antonios Eparchos in Venedig in den Jahren 1543/44 als Grundlage für eine entsprechende Editionstätigkeit nicht ausreichte. Vielmehr waren überregionale, ja internationale und vor allen Dingen auch überkonfessionelle Kontakte nötig, um durch Leihgaben ein dafür ausreichendes Textkorpus bereitzustellen. Diese europaweite und zudem interkonfessionelle Vernetzung war denn auch verantwortlich dafür, dass das Pariser Projekt eines vollständigen Corpus Historiae Byzantinae wie selbstverständlich an die Leistungen der Augsburger wie auch der Basler Byzantinistik anknüpfte, ohne die es auch nicht möglich gewesen wäre. Diese wurde von den Verantwortlichen, allen voran dem Jesuiten Philipp Labbe und hierauf von Charles du Cange, auch nicht verleugnet. Ihr Anspruch war lediglich die systematische Überbietung ihrer Vorgänger, durch welche die wissenschaftliche Vorrangstellung Frankreichs in Europa einmal mehr bewiesen werden sollte. Doch nicht nur die ersten Byzantinen der Louvreausgabe waren Fortführungen und Neubearbeitungen der Basler und Augsburger Editionen, sondern selbst noch im Bonner Corpus scriptorum Historiae Byzantinae, das in den Jahren von 1828 bis 1897 erarbeitet worden ist, wirkten die Bemühungen der Augsburger Byzantinisten Wolf, Höschel sowie des Jesuiten Jakob Pontanus nach. Somit erweist sich die Tatsache, dass die hundert aus Venedig erworbenen byzantinischen Handschriften für die Augsburger Editionsprojekte nicht ausreichten und durch internationale Kontakte ergänzt werden mussten, letztlich als Voraussetzung für eine Wirkungsgeschichte der dortigen humanistischen Byzantinistik, die bis an die Schwelle zum 20. Jahrhundert reichte. Der folgende Aufsatz von Stefan W. Römmelt („Als ob ich den ganzen Martial kommentiert hätte. Matthäus Rader SJ, ein problematischer Schulautor und die jesuitische Zensurpraxis in Augsburg um 1600“, S. 309–326) beleuchtet am Beispiel der Selbstzensur, die der Augsburger Jesuit Matthäus Rader in seiner 1599 in Ingolstadt gedruckten Schulausgabe der Epigramme Martials sowie in einem 1602 und 1611 publizierten Kommentar zu diesen walten ließ, die problematische Beziehung zwischen der Gesellschaft Jesu und dem Humanismus. Dabei geht Stefan Römmelt sowohl auf die Mechanismen der Selbstzensur im Späthumanismus wie auch auf die Reaktion des gelehrten Publikums auf diese ein. Nach einleitenden Bemerkungen zur Geschichte der Augsburger Zensur im 16. und 17. Jahrhundert sowie zur jesuitischen Zensurpraxis um 1600 stehen im Zentrum seiner Ausführungen Korrespondenz und Vorreden Raders, an denen er zunächst aufzeigt, welcher Argumente sich der Jesuit bediente, um die Zensur des Klassikertextes gegenüber der res publica litteraria zu rechtfertigen. Ziel Raders sei es nach eigenen Angaben gewesen, die kulturelle Fremdheit und das Gefahrenpotential eines problematischen Autors zu entschärfen und dessen Metamorphose zu einem nützlichen, unterhaltsamen und moralisch unbedenklichen, quasi domestizierten Autor zu betreiben. Dass Rader 1602 sofort auf die in der römischen Ordenszentrale der Jesuiten kursierenden Gerüchte über angeblich von ihm im Martialkommentar erläuterte obszöne Epigramme reagierte,

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weist nicht zuletzt auf mögliche Sanktionen hin, die eine unterlassene Entschärfung des potentiell gefährlichen Martial hätte auslösen können. Anhand der Auseinandersetzung mit dem spanischen Juristen Lorenzo Ramirez de Prado im ersten Jahrzehnt des 17. Jahrhunderts, in der Rader polemisch seine Zensurpraxis verteidigte und somit die Grenzen eines spezifisch jesuitischen Humanismus markierte, kann Römmelt schließlich aufzeigen, dass ein Teil der philologisch interessierten Zeitgenossen mit Raders Vorgehen, erotisch bedenkliche Epigramme grundsätzlich unberücksichtigt zu lassen, keineswegs einverstanden war. Die gereizte Reaktion prominenter Vertreter der Gesellschaft Jesu wie Rader und Gretser auf solche gelehrte Kritik an der jesuitischen Zensurpraxis wirft ein bezeichnendes Licht auf die konfessionellen Grenzen des Humanismus in Augsburg und Ingolstadt um 1600. Das anschließende Kapitel misst die Spannbreite gelehrter Aktivitäten im Augsburger Benediktinerkonvent St. Ulrich und Afra aus, die vom Interesse an der Geschichte des Klosters als Akt der Selbstvergewisserung im Kontext der monastischen Reformen des 15. Jahrhunderts bis hin zum persönlichen Austausch mit den humanistischen Diskussionszirkeln in der städtischen Gesellschaft reichen. Zunächst stellt Wolfgang Augustyn in seinem Aufsatz „Historisches Interesse und Chronistik in St. Ulrich und Afra in Augsburg im Umfeld von monastischer Reform und städtischem Humanismus. Wilhelm Wittwer und sein Catalogus abbatum“ (S. 329–387) ein Werk vor – den im Titel genannten Catalogus abbatum des Wilhelm Wittwer –, das sich im Kontext jener vielfältigen neu einsetzenden wissenschaftlichen und literarischen Aktivitäten in Klöstern vor allem des deutschen Sprachgebiets ansiedelt, welche sich zum einen in der erneuerten Pflege von Schreibkunst und Buchmalerei sowie im frühen Buchdruck niederschlugen, die zum anderen aber auch zu vielfältigen Initiativen auf dem Gebiet der Geschichtsschreibung und Genealogie sowie der Astronomie und Musik führten. In der älteren Forschung wurden diese Aktivitäten pauschal als monastische Spielart des Humanismus beurteilt, während man in jüngerer Zeit das besondere Interesse an der Geschichte eher als Selbstvergewisserung im Rahmen der monastischen Reformanstrengungen des Spätmittelalters zu erklären suchte. Möglich schien dabei immerhin mindestens eine gefilterte Rezeption spezifisch humanistischer Inhalte. Einzelne humanistische Gelehrte im Kloster zogen sich jedoch schnell den Vorwurf der Normabweichung zu. Dennoch blieben ihre Interessen oft auch innerhalb ihres eigenen Konvents nicht ohne Wirkung, wurden als Quellenschriften angenommen und damit auch zu Vorbildern für andere. Als exemplarischen Ort für solche Wirkungen im späten 15. Jahrhundert stellt Wolfgang Augustyn die Benediktinerabtei St. Ulrich und Afra in Augsburg vor, die zu einem wichtigen Zentrum der von Melk ausgehenden monastischen Reform geworden war und zu deren Konvent auch Mönche gehörten, die Kontakte zu den humanistischen Zirkeln der Stadt unterhielten wie etwa Sigismund Meisterlin. Mehrere Mönche des Konvents nahmen auf dessen stadtgeschichtliche Texte Bezug, teilten aber nicht unbedingt seine humanistischen Interessen. Dies belegt beispielhaft der zwischen 1493 und 1497 verfasste Catalogus abbatum Wilhelm Wittwers. Er rezipiert ältere his-

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torische und hagiographische Traditionen und berücksichtigt dabei auch die materielle Überlieferung – Bauwerke, Ausstattungsgegenstände, Reliquien –, andererseits wurde er für den Zeitraum, an dessen Geschehnissen er Anteil hatte, entweder als Ohrenzeuge des ihm Berichteten oder als Zeitzeuge dessen, was er selbst erlebt hatte wie den Neubau der Kirche, zum Chronisten und protokollierte zum Teil sehr ausführlich Geschehnisse aus der Alltagsgeschichte des Klosters. Damit repräsentiert Wittwer zwar keinen humanistischen Gelehrten, wohl aber einen typischen Vertreter einer spätmittelalterlichen klösterlichen Kultur im Umfeld des Humanismus. Mit Sigismund Meisterlin und Veit Bild gilt der anschließende Beitrag von Harald Müller demgegenüber zwei Benediktinermönchen aus St. Ulrich und Afra, die zu unterschiedlichen Zeiten den Austausch mit den humanistischen Gesprächskreisen der Stadt suchten („Der Beitrag der Mönche zum Humanismus im spätmittelalterlichen Augsburg. Sigismund Meisterlin und Veit Bild im Vergleich“, S. 389–406). Infolgedessen geht es Müller weniger um die literarische Produktion als um die Präsenz der beiden Ordensmänner in den jeweiligen Gesprächskreisen, welche er aus deren Briefüberlieferung rekonstruiert. Obwohl das untersuchte Quellenmaterial quantitativ unterschiedlich ist – die Zahl der erhaltenen Briefe von und an Veit Bild übersteigt die der Briefe Meisterlins erheblich –, lassen sich Vergleiche ziehen. Meisterlin pflegte vor allen Dingen den Kontakt zu Sigismund Gossembrot, ist aber in den Korrespondenzen der anderen Personen, die dem frühen Augsburger Humanismus zugerechnet werden, kaum präsent. Mit seinem Weggang vom Lech enden alle Kontakte zu diesem Milieu mit Ausnahme Gossembrots, der auch in seinen Straßburger Jahren noch Korrespondent des Benediktiners bleibt. In den süddeutschen Briefzirkeln der damaligen Zeit ist Meisterlin ebenfalls nicht präsent. Ganz anders präsentiert sich Veit Bild, der zum Kreis der mathematisch-astronomisch interessierten Mönche im Donauraum zu zählen ist. Aber auch in Augsburg selbst begegnet er im Umfeld der Sodalitas Augustana. Insbesondere pflegte er ein enges Verhältnis zu Peutinger, auch wenn es eine erkennbare Phase der Entfremdung gab. Ermöglicht wurde dieses Verhältnis durch das Wohlwollen des Abtes von St. Ulrich. Auch in diesem Punkt sticht Veit Bild von Meisterlin ab, der sich eher einer feindlichen Umwelt im Kloster ausgesetzt wähnte. Es zeigt sich, dass die frühen humanistischen Zirkel Augsburgs eher fern von Kloster und Mönchen agierten, während die Haltung in St. Ulrich um die Wende zum 16. Jahrhundert der neuen Bildungsbewegung deutlich zugetaner erscheint und Veit Bild die Teilhabe am städtischen Humanistenkreis zumindest nicht verwehrte. Prägenden Einfluss auf den Augsburger Humanismus haben die Benediktiner, soweit erkennbar, in dieser Zeit allerdings wohl nicht ausgeübt. Die folgenden zwei Beiträge stellen drei spezifische Gelehrtenprofile des Augsburger Späthumanismus um 1600 vor. Der Aufsatz von Magnus Ulrich Ferber mit dem Titel „Cives vestros sine controversia habeo pro Germaniae cultissimis. Zum Verhältnis von Späthumanismus und Konfessionalisierung am Beispiel der bikonfessionellen Reichsstadt Augsburg“ (S. 409–420) porträtiert zunächst David Höschel (1556–1617), der als Lieblingsschüler des Hieronymus

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Wolf ab 1581 Lehrer und ab 1593 Rektor des Gymnasiums bei St. Anna und Stadtbibliothekar war, und zeigt an diesem auf, wie sehr Selbstverständnis und kommunikatives Netzwerk eines späthumanistischen Gelehrten von der Konfessionalisierung geprägt waren. So vermag Ferber zwar deutlich zu machen, dass sich der Protestant Höschel in religiösen Fragen neutral verhalten hat und auch sein Werk keine eindeutigen konfessionellen Festlegungen enthält. Auch ließe sich aus seiner Editionstätigkeit, die bei späthumanistischen Gelehrten häufig dazu verwendet wurde, indirekt die eigene theologische Anschauung durchblicken zu lassen, keine eindeutige Aussage ableiten, ob Höschel etwa, wie ihm vom Oberscholarchen der Stadt vorgeworfen wurde, tatsächlich dem calvinistischen Bekenntnis zugeneigt habe. An seiner Korrespondenz lässt sich indes ablesen, dass Höschel innerhalb der späthumanistischen res publica litteraria vor allen Dingen Gesprächspartner innerhalb eines entschieden protestantisch geprägten Gelehrtenmilieus war. Wenngleich Höschels Netzwerk damit bereits eindeutig konfessionell geprägt war und er damit als Beispiel einer entsprechenden Ausdifferenzierung der Gelehrtenwelt zu gelten hat, scheint er dennoch zumindest an der ideellen Einheit der res publica litteraria festgehalten zu haben, wenn in seiner Korrespondenz auch einige Briefe an gelehrte Jesuiten zu finden sind. Wie umständlich sich die Kontaktaufnahme über die Bekenntnisgrenzen jedoch gestalten konnte, zeigt Ferber am Beispiel einer schmalen indirekten Korrespondenz Höschels mit dem Jesuiten Matthäus Rader, die trotz der räumlichen Nähe über die Vermittlung des gelehrten Patriziers Marcus Welser geführt werden musste. In der Tat zeigt die Korrespondenz des Jesuiten, Ferbers zweites Fallbeispiel, dass dieser seine Gesprächspartner seinerseits fast ausschließlich in Ordenskreisen und damit im katholischen Milieu suchte. Somit repräsentieren Höschel und Rader zwei Gelehrte, die in ihrer wissenschaftlichen Tätigkeit zwar enge Beziehungen aufweisen – beide haben Editionen und Kommentare verfasst –, aber auf Grund ihrer Zugehörigkeit zu unterschiedlichen Konfessionen kaum miteinander in Kontakt traten, und dies trotz ihrer Ansässigkeit in der bikonfessionellen Stadt Augsburg. Als entschiedener Katholik über die Konfessionsgrenzen hinweg korrespondieren zu können scheint offensichtlich nur einem Patrizier und städtischen Politiker wie Marcus Welser möglich gewesen zu sein, der sowohl mit katholischen Gelehrten in Italien als auch in protestantischen Zentren wie Heidelberg oder Leiden im Austausch stand, wobei die Verbindung zu diesen seinen Augsburger Kontakten zu David Höschel geschuldet waren, er sich also bereits in seinem unmittelbaren Lebensumfeld nicht an die konfessionellen Grenzen binden ließ. Der folgende Aufsatz von Alois Schmid stellt den umfangreichen Briefwechsel des Jesuiten Matthäus Rader mit dem ebenso bereits im vorherigen Beitrag angesprochenen Augsburger Stadtpfleger Marcus Welser vor, der zurzeit von der Kommission für bayerische Landesgeschichte bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften ediert wird („Die Korrespondenz zwischen P. Matthäus Rader SJ und Marcus Welser“, S. 421–442). Mit diesem wird eine Korresponenz der wissenschaftlichen Öffentlichkeit zugänglich gemacht, deren Bedeutung weit über den persönlichen Bereich hinausreicht und aussagekräftige

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Einblicke in das Kulturleben Bayerns im Späthumanismus eröffnet. Speziell für die Gelehrtengeschichte Augsburgs in dieser Epoche ist der Briefwechsel zwischen Rader und Marcus Welser von Interesse, der innerhalb der Korrespondenz des Jesuiten nicht nur deswegen eine Sonderstellung beanspruchen kann, weil er deren unfangreichsten Bestandteil darstellt, sondern auch weil in ihm Schreiben beider Briefpartner erhalten sind. Da Rader und Welser in Augsburg in unmittelbarer Nachbarschaft lebten, werfen die Schreiben, in denen die beiden vielfältige Fragen des damaligen Wissenschaftsbetriebs auf sehr hohem Niveau abhandelten, mannigfaltige Schlaglichter auf die Realität des wissenschaftlichen Austauschs zwischen geistlichen und weltlichen Gelehrten in der paritätischen Reichsstadt. Freilich legt Raders Korrespondenz, wie Alois Schmid deutlich macht, nicht nur ein beredtes Zeugnis für den Anteil des katholischen Oberdeutschland am Wissenschaftsbetrieb des Späthumanismus ab, sondern sie präsentiert sich auch als fundamentale Quelle für die noch zu schreibende Biographie des Matthäus Rader, mithin für die Geschichte der Societas Jesu in Bayern im ersten Jahrhundert ihres Bestandes insgesamt. Doch auch Marcus Welser gewinnt in ihr deutliches Profil und erscheint einmal mehr als zentrale Gelehrtenfigur des Augsburger Späthumanismus. Infolgedessen setzt sich der Beitrag auch mit diesem gebildetsten Augsburger Patrizier seiner Zeit auseinander, der als Haupt eines späthumanistischen Gelehrtenkreises in der Reichsstadt am Lech Beziehungen weit über diese hinaus unterhielt und dabei, obgleich selbst überzeugter Katholik, Kontakte zu Gelehrten seiner Konfession und Protestanten gleichermaßen pflegte. Damit nutzte Welser das Medium Brief wie kaum ein anderer als Möglichkeit, die Barriere der unterschiedlichen Glaubensrichtungen zu überwinden und damit seine philologische Kompetenz und Autorität über alle konfessionelle Grenzen und Polemik hinweg zur Geltung zu bringen. Eine weitere Besonderheit der Korrespondenz Welsers ist es schließlich, dass er diese nicht nur auf Lateinisch, sondern auch auf Italienisch führte. Tatsächlich erstreckte sich Welsers internationale Reputation zumal auch auf die Apenninenhalbinsel, wo er geachtetes Mitglied der römischen Accademia dei Lincei ebenso wie der Accademia della Crusca in Florenz war. Die letzte Sektion des Bandes beinhaltet schließlich zwei Beiträge, die sich mit der Rezeption der Kunst der Renaissance in Augsburg auseinandersetzen und deren Funktion für Auftraggeber und innerhalb der städtischen Gesellschaft diskutieren. Zunächst äußert sich Christoph Bellot über die Grabkapelle der Augsburger Handelsfamilie Fugger an der Karmelitenklosterkirche St. Anna („Auf welsche art, der zeit gar new erfunden. Zur Augsburger Fuggerkapelle“, S. 445–490), welche er als Beispiel für den Aufschwung der Künste in Deutschland nach 1500 beschreibt, als die Wahl des ‚deutschen‘ und des ‚welschen‘ Stils, des herkömmlichen gotischen und des aus Italien rezipierten antikisierenden, noch freistand, bevor sich Letzterer dann nach kurzer Zeit durchsetzte. Augsburg war der erste Ort, an dem nach 1500 in Graphik und Malerei die neuen Formen vorkamen, die gerade als fremde einen ästhetischen Mehrwert und damit Aufwand und Modernität bedeuteten. Während diese aber hier zunächst nur als Zitat im Bereich des Dekorativen auftreten, zeigt die Fugger-

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kapelle als erstes Beispiel des Rezeptionsprozesses in der Architektur bereits die schöpferische Adaptation der modernen italienischen Ideen zu Raum, Proportion, Ausstattung und Dekoration. Damit wird die Kapelle zum frühesten Renaissancebau nördlich der Alpen, in dem das markante gotische Gewölbe nicht als Rest einer nur halbherzig abgelegten stilistischen Vergangenheit zu verstehen, sondern als eine besonders reiche nicht im Widerspruch zum Übrigen stehende Form zu deuten ist. Denn um eine ‚stilreine‘ Übernahme italienischer, hier speziell venezianischer Modelle ging es, wie Christoph Bellot aufzeigt, ohnehin nicht, sondern um eine Anverwandlung, die die Kombination mit den ‚deutschen‘ Formen einschließen konnte. Hinsichtlich der Frage nach Gründen für die Wahl des deutschen oder welschen Stils und nach den Intentionen und zeichenhaften Bedeutungen, die mit dem neuen Formenrepertoire verbunden waren, galt die Fuggerkapelle in der Forschung lange als signifikantes, aber schwer erklärbares Exempel. Dass der aus dem in allem Künstlerischen als überlegen wahrgenommenen Süden adaptierte Stil Weltoffenheit, Teilhabe am internationalen Handelsgeschehen und Anschluss an die Metropolen angezeigt hatte, schien nur eine oberflächliche Erklärung. Vielmehr wunderte man sich über den repräsentativen Bau in modernen Formen, den sich eine überaus reiche, aber nichtpatrizische Familie leistete, und nahm sogar an, Jakob Fugger als Bauherr habe mit der Kapelle kompensatorisch auf die fehlende angemessene Stellung in der Gesellschaft, auf politisches Mitbestimmungsrecht und Anerkennung verweisen wollen. Christoph Bellot behauptet demgegenüber, dass Mitgliedschaft im Patriziat kein zutreffender Gesichtspunkt sei. Denn Fugger sei kein Außenseiter gewesen, der mit dem Bau eine Rolle in der Stadt für sich forderte. Auch die angebliche Diskrepanz zwischen Bürgerstatus und großem Aufwand lässt sich auflösen, wenn man die 1508/9 geplante Kapelle in die Biographie Fuggers einordnet. Die Motive der Repräsentation und Memoria bekommen dann spezifischen Sinn. 1507 erwarben die Fugger die Grafschaft Kirchberg, womit ein neues Ziel verfolgt wurde, der Aufstieg in den höheren Adel. Diese Perspektive eröffnete sich schon vor dem Jahr der offiziellen Kapellenstiftung 1509 und spielte bereits bei der Planung eine Rolle. 1511 wurden Jakob Fugger und sein Neffe Ulrich in den erblichen Freiherrenstand, 1514 Jakob auch noch persönlich in den Grafenstand erhoben. Somit sei es Jakob um die Grundlage für die zukünftige Stellung der Familie gegangen. Nicht der Bürger, der in der städtischen Politik auch gar nicht aktiv wurde und stattdessen seine informelle Macht nutzte, bediente sich der Architektur und Kunst als Mittel der Selbstdarstellung, sondern der angehende und dann tatsächliche Adlige. Die Kapelle sollte Ausdruck des neuen Status sein. Sie gehört zur neuen Rolle der Fugger, zu ihrem Willen, international zu agieren und auch entsprechenden Habitus zu zeigen; sie ist Zeichen der angestrebten Exklusivität und der Distanz zur städtischen Gesellschaft und entspricht dem Lebensstil der Familie in exzeptioneller Position. Ihre neue Form und der materielle Aufwand korrespondierten mit dem Luxus und ihren damals auch kritisierten adelichen sitten. Die Fugger repräsentierten einen veränderten Typus des Bürgers, der sich aus der Bindung an die Stadt löst, international als Unternehmer auftritt und

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Landbesitzer wird. Mit der Kapelle als Produkt der Fugger’schen Sonderstellung und mit der Adelsambition verband sich die Memoria, die die primäre Funktion als Seelgerät überlagerte. Sie hatte hier gesteigerte Bedeutung, da das Gedenken von Herkunft und Abstammung wesentlich zu einem Adelsgeschlecht gehört. Die Kapelle mit der Grablege hatte den Adel der Stifter anzuzeigen, musste ihn aber in diesem Fall überhaupt erst schaffen. Sie zeigte einen Anspruch an und war in die Zukunft des Geschlechts gerichtet, da es die für das Gedächtnis notwendige Vergangenheit der gerade geadelten Familie noch nicht gab. Die Wahl des ‚welschen‘ Stils war dem Gedächtnis nicht ursächlich verbunden, doch war er wie Pracht und Aufwand eines der Mittel, Exklusivität zu demonstrieren. Mit der ‚Grafung‘ des Bürgers und der italienischen Manier setzten sich die Fugger am deutlichsten über die Norm hinweg – zum einen in der Kapelle, zum anderen in den Fuggerhäusern am Weinmarkt, die ein für die Zeit ungewöhnlich großer und aufwendiger privater Komplex im Stil eines italienischen Palazzo waren. Band und letzte Sektion beschließt der Aufsatz von Brigitte Sölch, die in ihrem Aufsatz der Frage nachgeht, wie Kunst und Architektur als Mittel sozialer Rangdemonstration im städtischen und sakralen Raum Augsburgs um 1500 eingesetzt wurden („Klöster und ihre Nachbarn – Konkurrenz im Blick? Neubauprojekte und Kapellenausstattungen des 16. Jahrhunderts in Augsburg am Beispiel der Dominikanerkirche St. Magdalena“, S. 491–526). Um exemplarisch den Motiven der Distinktion und Konkurrenz innerhalb der Bau- und Modernisierungswelle nachzugehen, die die Handels- und Wirtschaftsmetropole zwischen 1490 und 1530 erfasste und deren Erscheinungsbild nachhaltig veränderte, konzentriert sich der Beitrag mit der Dominikanerkirche St. Magdalena auf ein Desiderat der neueren Forschung, das erstaunlich ist angesichts der Bedeutung, die der 1515 neu errichteten Predigerkirche als Schnittstelle der Interessenverflechtung von Orden und Rat der Stadt, von Kaiser Maximilian I. und (aufsteigenden) städtischen Eliten zukam. Im Anschluss an die Neubauaktivitäten des Dominikanerordens in Augsburg wird zunächst versucht, die ursprüngliche Ausstattung und die Stiftungen der Predigerkirche im frühen 16. Jahrhundert auf den aktuellen Forschungsstand zu bringen und die bislang einzigen Monographien von H. Wiedenmann (1917) und P. Siemer (1936) einer Revision zu unterziehen. Wird die ursprüngliche Bestimmung des „Rehlingeraltars“ aus der Apt-Werkstatt für die Dominikanerkirche in Zweifel gezogen, so kommen Werke von Gregor Erhart, Leonhard Beck und Hans Holbein d. Ä. hinzu, als deren Provenienz St. Magdalena in der neueren kunsthistorischen Forschung angenommen wird. Material-, gattungs- und typgengeschichtliche Fragen stehen sodann im Zentrum der Überlegung, welche Beobachtungen sich anstellen lassen, wenn man den Blick vom sakralen Innenraum in den städtischen Außenraum richtet und auch die Stadthäuser ausgewählter Stifterfamilien in Lage, architektonischer Erscheinungsform und Fassadenbildung in den Blick nimmt. Aus Vertiefung und Erweiterung dieser vergleichenden Perspektive ließen sich, so folgert Brigitte Sölch, weitere Aufschlüsse über Kunstgeschmack und Architektursemantik, über Identitätsbildungsprozesse und Rangdemonstration aufstreben-

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der Kaufmannsfamilien erwarten, die mit und in Konkurrenz zu den Fuggern agierten und das Erscheinungsbild der Reichsstadt nachhaltig prägten. Es wäre vermessen, mit den soeben kurz skizzierten Beiträgen den Anspruch erheben zu wollen, die Rezeption von Humanismus und Kunst der Renaissance in Augsburg vom 15. bis zum beginnenden 17. Jahrhundert auch nur annähernd erschöpfend zu behandeln, geschweige denn ein vollständiges Panorama der hiervon beeinflussten Augsburger Kultur in diesen rund zweihundert Jahren zu geben. Gleichwohl beschreiben diese Felder humanistischer Interessen, Aktivitäten und Kommunikationszusammenhänge sowie rinascimentaler Kunstproduktion an Lech und Wertach, die über die Themenbereiche, nach denen die Aufsätze in diesem Band gruppiert sind, hinaus vielfältig miteinander in Beziehung stehen und damit ihre Zugehörigkeit zu einem gemeinsamen kulturellen Kontext nahelegen. Auf solche Zusammenhänge weisen zuallererst jene Protagonisten dieses Bandes, die in verschiedenen Aufsätzen aus unterschiedlichen thematischen Blickwinkeln Erwähnung finden. Sie bilden eine Gruppe von Trägern humanistischer und rinascimentaler Kultur in der städtischen Gesellschaft, deren Initiativen sich nicht auf einen Sektor einschränken lassen, sondern potientiell alle intellektuellen und gesellschaftlichen Lebensbereiche tangieren können, an denen sie partizipieren. So stellt etwa Martin Ott mit Konrad Peutinger einen Pionier humanistischer Altertumswissenschaft nördlich der Alpen vor, dem gleichzeitig auch eine führende Position innerhalb jener politischen Führungsschicht Augsburgs zukam, in welcher sich die von Wolfgang E. J. Weber angedeutete Rezeption humanistischen Gedankenguts in der städtischen Politik vollzogen hat. Dieser gehörte gegen Ende des 16. Jahrhunderts auch Marcus Welser an, der neben seinem Amt als Stadtpfleger als der führende Augsburger Späthumanist zu gelten hat. Entsprechend wird er in mehreren Aufsätzen zum Thema, in welchen er einmal mehr als lokal und international vernetzter Gelehrter erscheint, der sich in philologische wie historische Diskussionszusammenhänge einbrachte und dabei als Kontaktstifter über die Konfessionsgrenzen hinweg auftrat. Der Benediktinermönch Sigismund Meisterlin, um ein letztes Beispiel anzuführen, wird hier nicht nur als Autor der ersten humanistischen Stadtgeschichte Augsburgs vorgestellt, sondern auch in seinen Beziehungen zur Kommunikationsgemeinschaft des Augsburger Frühhumanistenkreises, durch die er trotz der Zwänge seiner monastischen Lebensform zumindest ansatzweise zum Teilhaber an einer typischen Form humanistischer Gemeinschaftsbildung werden konnte. Meisterlins Kontakt zur frühhumanistischen Sodalitas um den Ausburger Bürgermeister Gossembrot weist auf den kommunikativen Aspekt hin, den die neuere Forschung als ein wesentliches Spezifikum des Humanismus stark gemacht hat. 36 Dass dieser auch im Fall Augsburgs von zentraler Bedeutung ist, machen die vielfältigen Kommunikationsbeziehungen sichtbar, durch welche die Protagonisten dieses Bandes selbst über soziale und konfessionelle Grenzen ––––––––– 36

Vgl. nochmals Anm. 32.

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hinweg miteinander im Austausch stehen. Neben den bereits erwähnten Marcus Welser und Sigismund Meisterlin sind hier beispielsweise noch Veit Bild im Beitrag von Harald Müller sowie David Höschel zu nennen, der im Aufsatz von Magnus Ulrich Ferber thematisiert wird. Damit ergibt sich eine Verzahnung der hier vorgestellten humanistischen Betätigungsfelder nicht nur über jene Protagonisten, die an mehreren von diesen Anteil haben, sondern insbesondere auch über deren kommunikativen Austausch untereinander. Beide Phänomene belegen gleichermaßen, dass es sich bei den in diesem Band vorgestellten humanistischen Aktivitäten nicht um eine additive Reihung isolierter Einzelinitiativen handelt, sondern dass diese Ausdruck einer veritablen humanistischen Kultur in Augsburg sind, welche von den hier exemplarisch vorgestellten Personen im Bewusstsein gegenseitiger Zugehörigkeit getragen wird. Ein weiterer Aspekt, der die hier versammelten Beispiele humanistischer Tätigkeitsgebiete und Realisationsfelder rinascimentaler Kunst miteinander verbindet, sind ähnliche Funktionszusammenhänge und Interessenlagen. Hier ist zunächst auf die politische Dimension des Humanismus in Augsburg hinzuweisen, die besonders deutlich in den Beiträgen von Wilhelm Kühlmann und Martin Ott zum Vorschein kommt. Denn sowohl im Gedicht des Georg Sabinus an den Dichterfreund Eobanus Hessus wie auch in Peutingers Widmung der Romanae vetustatis fragmenta an Maximilian I. kommt zum Ausdruck, dass humanistische Artikulationsformen wie die antikisierende Versepistel und Studiengebiete wie die Recherche nach antiken Inschriften dazu beitragen sollen, Augsburg über den Rekurs auf seine antike Vergangenheit zum idealen Schauplatz für die Renaissance einer Reichsherrlichkeit zu modellieren, die ihre Ursprünge im römischen Imperium haben will. 37 Konrad Peutingers Inschriftensammlung ist zudem Zeugnis dafür, dass die Erschließung der antiken Vergangenheit Augsburgs nicht nur entsprechenden Vorbildern aus dem rinascimentalen Italien verpflichtet ist, sondern stets auch mit Blick auf dieses vollzogen wird. So haben Peutingers Bemühungen um das epigraphische Erbe zwischen Lech und Wertach eben nicht nur eine reichspolitische Dimension, sondern diese dienen dezidiert auch dazu, Augsburg über den Verweis auf dessen römische Vergangenheit dem Kreis der allesamt auf antike civitates zurückgehenden humanistischen Zentren auf der Apenninenhalbinsel beizuordnen. Hiermit vergleichbar ist Sigismund Meisterlins Bestreben, die Gründung Augsburgs auf eine autochthone Bevölkerung zurückzuführen und damit die Auffassung vom seiner Meinung nach unehrenhaften trojanischen Ursprung der Stadt zu widerlegen. Auch für dieses ist das humanistische Italien Vorbild und Bezugspunkt zugleich, wenn Meisterlin damit nicht nur einen entsprechenden Wettbewerb in der dortigen kommunalen Historiographie aufgreift, sondern seiner Heimatstadt zugleich eine privilegierte Position in diesem verschaffen will. ––––––––– 37

Im weiteren Sinne gehört in diesen Zusammenhang auch der Beitrag von Silvia Serena Tschopp über die politische Funktion des humanistischen Schuldramas.

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Mit dieser Zielsetzung bezeugt Meisterlins Geschichtswerk die Adaptation einer agonalen Mentalität, welche die jüngere Forschung neben dem kommunikativen Aspekt als weiteres zentrales Spezifikum des Humanismus begreift. 38 Dieser Befund legt einmal mehr nahe, dass die humanistischen Aktivitäten in Augsburg ihren Referenz- und Verständnisrahmen im Wesentlichen auf der Apenninenhalbinsel gesehen haben, mithin dass diese darauf zielten, die Stadt zwischen Lech und Wertach gleichsam als nördlichen Vorposten des humanistischen Italien zu empfehlen. Dass die Übernahme einer spezifisch agonalen Haltung nicht nur das Verhältnis zur italienischen Geberkultur, sondern auch das kulturelle Klima in der Stadt selbst beeinflusste, belegen in besonderem Maße die beiden kunsthistorischen Beiträge des Bandes, indem sie aufzeigen, dass zusammen mit der Rezeption der Kunst der Renaissance gleichzeitig auch deren Indienstnahme zu sozialer Konkurrenz und Distinktion übernommen wurde. Schließlich lassen sich Reflexe auf dieses agonale Prinzip auch im Zeitalter der Konfessionalisierung finden, in welchem sich ein spezifischer Wettbewerb zwischen den beiden Glaubensrichtungen im Bereich von Wissenschaft, Kunst und Bildung ausbildete, der auf Grund der besonderen bikonfessionellen Sondersituation in Augsburg auf engstem Raum ausgefochten wurde. Mit den Aspekten kommunikativer Vernetzung und Gemeinschaftsbildung, den verschiedenen Formen politischer Indienstnahme, der Tendenz, den Bezugspunkt der eigenen Aktivitäten im humanistischen Italien zu erblicken, sowie der Rezeption einer dort ausgebildeten agonalen Mentalität eröffnen die in diesem Band versammelten Beiträge Horizonte einer zukünftigen Erforschung humanistischer und rinascimentaler Kultur in Augsburg. Zweifelsohne bedarf es in diesem Zusammenhang auch einer weiteren Aufarbeitung der einzelnen Bereiche, in denen sich die Rezeption von Humanismus und Renaissance im Augsburg des 15. bis beginnenden 17. Jahrhunderts greifen lässt. Denn trotz einer breiten Forschungsliteratur ist auf diesem Gebiet noch längst nicht alles bestellt. Zu denken ist hier vor allem an den Bereich der Naturwissenschaften, der auch in diesem Band nur im Beitrag von Mark Häberlein kurz tangiert wurde. Soll es aber um mehr gehen, als die Bereiche aufzuzeigen, in denen sich humanistisches Gedankengut oder aber die Kunst der Renaissance in Augsburg greifen lassen, mithin also um den Aufweis, dass sich dort ab Mitte des 15. Jahrhunderts eine veritable humanistische Kultur etablieren konnte, die auch durch den Einzug der Konfessionalisierung nicht beendet wurde, sondern sich dadurch in spezifischer Weise weiterentwickelte, dann sollte der Blick analog zu den Tendenzen in der aktuellen Humanismus- und Renaissanceforschung insgesamt vermehrt auf jene soeben skizzierten Funktionszusammenhänge und Interessenlagen gerichtet werden, durch welche auch die Themen der hier veröffentlichten Aufsätze in mannigfacher Beziehung zueinander stehen. Hierzu

––––––––– 38

Vgl. hierfür grundlegend: Caspar Hirschi: Wettkampf der Nationen. Konstruktionen einer deutschen Ehrgemeinschaft an der Wende vom Mittelalter zur Neuzeit. Göttingen 2005, insb. S. 258–297.

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eine Anregung geliefert zu haben, ist mit eines der vorrangigen Anliegen dieses Bandes.

III. Tagung und Sammelband hätten ohne die mannigfaltige Unterstützung vieler nicht realisiert werden können. Sie sollen hier abschließend dankend Erwähnung finden. Dass die Tagung in den ansprechenden Räumen des Elias-HollBaus stattfinden konnte, ist der großzügigen Einladung durch den damaligen Leiter des Augustanaforums, Dr. Jens Colditz, zu verdanken. Er und seine Mitarbeiterin Ulrike Müller haben während der Veranstaltung zudem dafür gesorgt, dass es Teilnehmerinnen und Teilnehmern sowie Gästen an nichts gefehlt hat. Weitere organisatorische Unterstützung leistete Flemming Schock. Einen besonderen Dank hat der Veranstalter den Vertreterinnen und Vertretern der Fachschaft des Studiengangs „Europäische Kulturgeschichte“, insbesondere Frau Michaela Wurm, abzustatten, die die Referentinnen und Referenten während der Tagung betreut haben. Für die großzügige Finanzierung der Tagung sei dem Graduiertenkolleg „Wissensfelder der Neuzeit“, der Kurt und Felicitas Viermetz-Stiftung, der Gesellschaft der Freunde der Universität Augsburg sowie dem Kulturbüro Augsburg gedankt. Die Drucklegung des vorliegenden Sammelbandes hat zudem die KurtBösch-Stiftung zugunsten der Universität Augsburg finanziell unterstützt. Für Unterstützung bei Lektorat und Formatierung der Beiträge hat der Herausgeber seiner Hilfskraft Mischa Grab sowie Frau Christiane Kühn zu danken. Mischa Grab hat sich auch der beschwerlichen Arbeit der Registererstellung unterzogen. Für die Aufnahme des Bandes in die Reihe „Frühe Neuzeit“ gilt herzlicher Dank deren Herausgebern, vor allem Herrn Prof. Dr. Wilhelm Kühlmann (Heidelberg), selbst Mitautor des Bandes, und Herrn Prof. Dr. Jan-Dirk Müller (München). Ebenso herzlich hat der Herausgeber schließlich dem Max-Niemeyer-Verlag Tübingen, namentlich Frau Birgitta Zeller sowie Frau Susanne Mang, für die erneut hervorragende Zusammenarbeit und professionelle Betreuung zu danken.

Bamberg und Augsburg, im Mai 2009

Gernot Michael Müller

I.

Grundlagen: Humanismus, städtische Gesellschaft und Konfessionalisierung

Caspar Hirschi

Höflinge der Bürgerschaft – Bürger des Hofes Zur Beziehung von Humanismus und städtischer Gesellschaft

1.

Eine Dreieinigkeit von Markt, Macht und Musen? Zur Theorie des Bürgerhumanismus

Generationen von Historikern haben großes Gewicht auf die Feststellung gelegt, dass der Humanismus, gleich wie die Kunst und Architektur der Renaissance, in der europäischen Stadtkultur verwurzelt sei. Über die Grundlagen dieses Zusammenhangs entspannen sich schon früh heftige Debatten, der Zusammenhang selber aber wurde wenig in Frage gestellt, und noch weniger wurde die Motivation der Forschenden hinterfragt, ihm bei der Erklärung des Humanismus einen derart hohen Stellenwert einzuräumen. Fragwürdig ist diese Motivation durchaus, im wörtlichen und übertragenen Sinn. Mit gleichem Recht wie den Humanismus und die Renaissancekunst könnte man die Scholastik und die Gotik als Hervorbringungen der europäischen Stadt beschreiben, allein, daran waren ungleich weniger Forscher interessiert. Worum es bei der Beziehung von Humanismus und Stadt stets ging, war eine andere, attraktivere Liaison: jene zwischen Humanismus und Moderne. Durch sie wurde das Thema in einen umfassenden Erklärungszusammenhang mit hohem Aktualitätsbezug gestellt, aber auch mit einem gerüttelt Maß an Anachronismen und Werturteilen behaftet. Je nach Weltanschauung konnte daraus ein Fortschritts- oder Niedergangsmythos des Abendlandes entstehen. Hielten sich im 19. Jahrhundert positive und negative Wertungen durch das Nebeneinander romantischer und klassizistischer Geschichtsbilder noch einigermaßen die Waage, so diente die Beziehung im 20. Jahrhundert vorwiegend der Beschwörung einer – wenn auch prekären – westlichen Erfolgsgeschichte. 1 Diese Verschiebung spiegelt sich in den Vorstellungen, die sich Historiker von den Humanisten gemacht haben. Bei Jacob Burckhardt (1818–1897) verschmolzen romantische und klassizistische Motive zu einem schillernden Gesamtbild. Einerseits nahm er die Humanisten gegen jene Nostalgiker in Schutz, die in ihnen Vernichter der mittelalterlichen Mundartdichtung und Totengräber ––––––––– 1

Für kritische Kommentare und fruchtbare Anregungen danke ich Annemarie Hirschi, Sonja Tschirren, Emanuel Leugger und Andreas Hauser. Zur Rezeptionsgeschichte des Humanismus innerhalb der gesamten Renaissanceforschung vgl. Wallace K. Ferguson: The Renaissance in Historical Thought. Five Centuries of Interpretation. Cambridge (Mass.) 1948; Perdita Ladwig: Das Renaissancebild deutscher Historiker 1898–1933. Frankfurt a. M. 2004.

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der organisch gewachsenen Stadtgemeinschaft sahen, 2 andererseits verurteilte er sie als Vertreter einer neuen Wurzellosigkeit, die ihm zufolge auf dem Boden der Renaissancemetropolen entstanden und zu einem Grundübel der Moderne ausgeartet war. 3 Das Charakterprofil des idealtypischen Humanisten sah bei ihm wenig schmeichelhaft aus: „bösartiger Hochmut“, „schändliche Ausschweifungen“, „Unglauben“, kein „Gefühl des Zusammenhaltes“ und „bodenloseste Lästerung“. Friedrich von Bezold (1848–1928) goss diesen Lasterkatalog in die Form der „litterarischen Wegelagerer“, und als solche geisterten die Humanisten noch vereinzelt durch die wissenschaftliche Literatur des 20. Jahrhunderts, sei es in originaler4 oder aktualisierter Wortgestalt – als „erpresserische Revolverjournalisten“. 5 Dieses Gelehrtenfeindbild des intellektuellen Hasardeurs und Schwindlers wurde nach dem Ersten Weltkrieg von einer humanistischen Kontrastfigur verdrängt, die bei Burckhardt nicht angelegt war: dem „bodenständigen Bürgerhumanisten“. Mit ihm, dem urbanen Patrioten und freiheitsliebenden Republikaner, entwarfen Historiker bildungsbürgerlich-liberaler Couleur ein Gelehrtenvorbild in Zeiten der politischen Instabilität und totalitären Bedrohung. Ihre Aktualisierung der Vergangenheit war gewollt – als „Gegengift“ gegen den, wie es Ernst Troeltsch (1865–1923) formulierte, „extremen kulturellen und moralischen Relativismus“, der die „Krise des Historismus“ mit verursacht habe. 6 Als Erfinder des Bürgerhumanismus trat der Troeltsch-Schüler und Florenzforscher Hans Baron (1900–1988) hervor. Schon in den zwanziger Jahren stellte der dem jüdischen Bürgertum Berlins entstammende Historiker das Grundgerüst seiner Theorie auf, aber erst in den fünfziger Jahren baute er sie, nach langer, etappenreicher Flucht vor den Nationalsozialisten in den Vereinigten Staaten fertig aus. 7 ––––––––– 2 3 4

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Jacob Burckhardt: Die Kultur der Renaissance in Italien. Wien 1935 (Erstausgabe 1860), S. 113f. Ebd., S. 154. Vgl. Alfred von Martin: Soziologie der Renaissance. Physiognomik und Rhythmik einer Kultur des Bürgertums. Frankfurt a. M. 21949 (Erstausgabe 1932), S. 70; Wolfgang Zorn: Die soziale Stellung der Humanisten in Nürnberg und Augsburg. In: Die Humanisten in ihrer politischen und sozialen Umwelt. Hg. von Otto Herding und Robert Stupperich. Boppard 1976 (DFG. Kommission für Humanismusforschung. Mitteilungen 3), S. 35–49, hier S. 42. Martin: Soziologie (wie Anm. 4), S. 70. Zit. nach Fritz Ringer: Die Gelehrten. Der Niedergang der deutschen Mandarine 1890– 1933. Stuttgart 1983, S. 308–310; zur Prägung Barons durch Troeltsch vgl. auch Kay Schiller: Gelehrte Gegenwelten. Über humanistische Leitbilder im 20. Jahrhundert. Frankfurt a. M. 2000, S. 108–118. Hans Baron: Einleitung. In: Leonardo Bruni Aretino. Humanistisch-philosophische Schriften. Hg. von dems. Leipzig, Berlin 1928, S. XI–XL; ders.: The Crisis of the Early Italian Renaissance. Civic Humanism in an Age of Classicism and Tyranny. 2 Bde. Princeton 1955; zur Entstehung und Entfaltung von Barons Theorie und zu ihrem biographischen Hintergrund vgl. Schiller: Gelehrte Gegenwelten (wie Anm. 6), S. 115–144, sowie Riccardo Fubini: Renaissance Historian: The Career of Hans Baron. In: Journal of Modern History 64 (1992), S. 541–574.

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Von Beginn an machte Baron den Bürgerhumanismus an einer einzelnen Person fest, dem langjährigen Florentiner Kanzler Leonardo Bruni (1370– 1444), in dem er die vollkommene Verkörperung des republikanischen Freiheitswillens zu erkennen glaubte. 8 Losgelöst von der jenseitsorientierten Gelehrsamkeit mittelalterlicher Prägung, habe Bruni eine „politisch-bürgerliche Interessenrichtung“ eingeschlagen, wobei ihm das „wirtschaftlich und geistig aufstrebende Großbürgertum“ die Gelegenheit gegeben habe, „mit den Aufgaben und Idealen eines heimatlichen Staatswesens innerlich zu verwachsen“. 9 So sei der Humanismus in Florenz unter Brunis Regie zu einer Stütze der bürgerlichen „vita activa“ geworden, während er anderswo, vor allem an den Fürstenhöfen, einer klassizistischen „vita contemplativa“ gedient habe. Wohl aus dem Bedürfnis heraus, Brunis literarischen Heroismus ins rechte Licht zu rücken, entwarf Baron für die Geburtsstunde des Bürgerhumanismus eine ereignisgeschichtliche Dramaturgie höchster Bedrohung: den Krieg zwischen dem „tyrannisch-expansiven“ Mailand und dem „freiheitlich-defensiven“ Florenz, der 1402 mit dem Tod Gian Galeazzo Viscontis ein für Florenz glückliches Ende fand. Das ging nicht ohne Neudatierungen von Brunis Schlüsseltexten, und damit erwies Baron seiner Theorie letztlich einen Bärendienst. Seine Kritiker konnten, anstatt sich mit ihrem ideellen Gehalt beschäftigen zu müssen, auf den Nebenschauplatz der Textdatierungen ausweichen, wo sie leichteres Spiel hatten. 10 Lange bevor die Theorie des Bürgerhumanismus in der angelsächsischen Welt rezipiert und von J. G. A. Pocock zu einer Art „Tunnelgeschichte“ der republikanischen Freiheit von Italien über Holland und England bis in die USA ausgebaut wurde, 11 erhielt sie in Deutschland durch den Historiker-Soziologen und liberalen Aristokraten Alfred von Martin eine wirtschafts- und sozialge––––––––– 8

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Zu Barons Idealisierung Brunis vgl. James Hankins: The „Baron Thesis“ after Forty Years and some Recent Studies of Leonardo Bruni. In: Journal of the History of Ideas 56 (1995), S. 309–338. Baron: Einleitung (wie Anm. 7), S. XIII, XV. Schon 1931 unterzog Ludwig Bertalot (1884–1960) Barons Edition von Brunis Schriften einer vernichtenden Kritik, wobei er praktisch nur philologische Irrtümer anprangerte, und 1966 doppelte Jerrold E. Seigel in einer Rezension von Barons „Crisis“ nach, wobei er wiederum bei der Chronologie von Brunis frühen Werken ansetzte; Ludwig Bertalot: Forschungen über Leonardo Bruni Aretino. In: Archivum Romanum 15 (1931), S. 284–323, hier S. 288f., 295, 297; Jerrold E. Seigel: „Civic Humanism“ or Ciceronian Rhetoric? The Culture of Petrarch and Bruni. In: Past and Present 34 (1966), S. 3–48; zur Geschichte der frühen Kritik an Barons Theorie vgl. Schiller: Gelehrte Gegenwelten (wie Anm. 6), S. 160–168. John Greville Agard Pocock: The Machiavellian Moment. Florentine Political Thought and the Atlantic Republican Tradition. Princeton 1975. In jüngerer Zeit hat Pocock, gegen Quentin Skinners Einordnung seiner Republikanismustheorie gerichtet, die Anknüpfung an Baron kleingeredet – dies wohl nicht zuletzt deshalb, weil Barons Erklärungsansatz in der Republikanismus- wie in der Humanismusforschung nur noch wenig Kredit genießt. Zu den verschiedenen Kritikpunkten an Pococks ideengeschichtlicher „Translationslehre“ des bürgerlichen Republikanismus von Florenz über England in die Vereinigten Staaten vgl. James Hankins: Introduction. In: Renaissance Civic Humanism. Hg. von dems. Cambridge UK 2000 (Ideas in Context 57), S. 1–13, hier S. 3–5, 12f.

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schichtliche Neuausrichtung. 12 Im Zentrum des Geschehens stand weiterhin die italienische Renaissancestadt. Von Martins „Soziologie der Renaissance“ ist bis in die jüngste Zeit von Historikern auf den deutschen Humanismus übertragen worden und dies, obwohl er selber, ähnlich wie Baron, nicht über Italien, ja kaum einmal über Florenz hinausgeblickt hat. 13 Der Modernebezug wurde bei von Martin nochmals verstärkt, gestützt auf wirtschaftsgeschichtliche und sozialgeschichtliche Werke. 14 Was er entwarf, war eigentlich eine bildungsbürgerlich gewendete Ursprungslegende der modernen Entfremdung. Den Beginn der Florentiner Renaissance sah er von einer höheren Einheit aus bürgerlich-liberalem Erwerbsstreben, republikanisch-demokratischer Verfassung und bodenständig-humanistischem Gemeinschaftsdenken geprägt. Sie sei auf der „Ablehnung aller ständisch differenzierten Privilegien“ und auf dem „Ersatz einer vom Klerus getragenen Lehre von der Übernatur durch eine ‚natürliche‘ Philosophie“ gewachsen.15 Die Harmonie von Geld und Geist führte von Martin auf eine gemeinsame antiaristokratische Ethik zurück: „Arbeit ist ‚virtus‘“. 16 Dieses Leistungsprinzip habe einen urbanen Rationalisierungsschub ausgelöst, durch den die städtische Wirtschaft und Wissenschaft einen „zugleich ‚unternehmenden‘ und rechenhaften Zug“ erhalten habe. 17 Zur Entfremdung von Liberalismus, Humanismus und Republikanismus sei es in dem Moment gekommen, als die Rationalisierung nicht mehr in den Dienst der bürgerlichen Ordnung, sondern der individuellen Selbstverwirklichung gestellt worden sei. Von Martin diagnostizierte hier eine Dekadenz durch funktionale Differenzierung: Aus den „bodenständigen Bürgerhumanisten“ (Salutati, Bruni, Alberti) seien „freie Litteraten“ (Valla, Enea Silvio, Filelfo „et tutti quanti“), 18 aus den politisierenden Unternehmern marktfixierte Kapitalisten geworden. Der ––––––––– 12 13

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Martin: Soziologie (wie Anm. 4); zu von Martins Biographie und Renaissancestudien vgl. Ladwig: Das Renaissancebild (wie Anm. 1), S. 202–277. So etwa in: Herfried Münkler, Hans Grünberger und Kathrin Mayer: Nationenbildung. Die Nationalisierung Europas im Diskurs humanistischer Intellektueller. Italien und Deutschland. Berlin 1998 (Politische Ideen 8), S. 24f., 119f., 261; ein älteres, in der Forschung aber oft zitiertes Beispiel ist Zorn: Die soziale Stellung (wie Anm. 4); die jüngste kritische Würdigung der von Martin’schen Humanismustheorie in der hervorragenden Studie von Harald Müller: Habit und Habitus. Mönche und Humanisten im Dialog. Tübingen 2006 (Spätmittelalter und Reformation. Neue Reihe 32), S. 57–59. Pate standen ihm u. a. Werner Sombart (1863–1941) mit seiner „Geistesgeschichte des modernen Wirtschaftsmenschen“, Alfred Doren (1869–1934) mit seiner Darstellung des italienischen Kaufmanns als perfektem Renaissancemenschen und Karl Mannheim (1893–1947) mit seiner Theorie der „freischwebenden Intelligenz“; Werner Sombart: Der Bourgeois. Zur Geistesgeschichte des modernen Wirtschaftsmenschen. Reinbek bei Hamburg 1988 (Erstausgabe 1913); Karl Mannheim: Ideologie und Utopie. Frankfurt a. M. 1985 (Erstausgabe 1929); zu Doren vgl. Ladwig: Das Renaissancebild (wie Anm. 1), S. 34–114. Martin: Soziologie (wie Anm. 4), S. 54. Ebd., S. 66f. Ebd., S. 68f.; auf der gleichen ideellen Basis hat Christian Bec die Florentiner Humanisten als „marchands écrivains“ etikettiert; Christian Bec: Les marchands écrivains: affaires et humanisme à Florence 1375–1434. Paris 1967 (Civilisations et sociétés 9). Martin: Soziologie (wie Anm. 4), S. 90.

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Zerfall der bürgerlich-liberalen Dreieinigkeit habe jedoch von allem Anfang an als Keim in der Renaissancestadt geschlummert: Hier wirken sich die neuen Vorstellungen von Freiheit und Grenzenlosigkeit aus, die mit dem neuen Bewußtsein errungener Selbständigkeit sich durchgesetzt hatten. Wirtschaft und Wissenschaft – beide hatten sich emanzipiert: sie ließen sich nicht mehr von autoritativen Mächten leiten und gängeln.19

Von Martins „freier Litterat“ war ein Hybride aus Karl Mannheims „freischwebendem Intellektuellen“, Jacob Burckhardts wurzel- und zügellosem Wortakrobaten und Hans Barons „klassizistischem“ Humanisten. „Mit Hilfe der eloquentia“ hätten seine Repräsentanten „unter völlig skrupelloser Ausnutzung ihrer intellektuellen Begabung, innerhalb der gebildeten Schicht ‚öffentliche Meinung‘ zu machen gesucht“. 20 Im Weiteren hätten sie sich von der Politik abgewandt, einem l’art pour l’art gefrönt und Zuflucht in antikisch-romantischen Gegenwelten gesucht. Als Vorläufer und Vorbild dieser unheilvollen Spezies machte er keinen Geringeren als Petrarca aus. Warum avancierte von Martins abenteuerliche Entfremdungstheorie zu einem derart langlebigen Leitbild für das Thema „Humanismus und Stadt“? Ein Grund dürfte gewesen sein, dass sein theoretischer Eklektizismus viele Anknüpfungspunkte bot und sein Dekadenzmodell für liberalistische wie sozialistische Historiker attraktiv war, da beide die Wurzeln der Moderne im städtischen „Frühkapitalismus“ der Renaissance vermuteten. Noch wichtiger scheint aber, dass seine Form der Geschichtswissenschaft ähnlich funktionierte wie ein Historienfilm: Die eigene Gegenwart wurde in exotischer Kostümierung abgelichtet. Für die langfristige Rezeptionswirkung besonders günstig war, dass der von ihm behauptete Intellektuellendualismus auch während des Kalten Krieges aktualisierbar blieb. So erstaunt es wenig, dass Alfred von Martin 1986 in Günther Böhmes „Bildungsgeschichte des europäischen Humanismus“ auch noch Karl Popper die Hand geben durfte. 21

2.

Von unsolider Kreativität zu uninspirierter Seriosität

Die Kritik an der Theorie des Bürgerhumanismus wurde von Philologen und Ideenhistorikern dominiert. Barons einfach gestricktes Modell war dabei eine deutlich beliebtere Zielscheibe als von Martins schillernde Theorie. Die einen Kritiker verwiesen auf ältere stadtrepublikanische Denktraditionen in Italien, ––––––––– 19 20 21

Ebd., S. 71. Ebd., S. 70. Günther Böhme: Bildungsgeschichte des europäischen Humanismus. Darmstadt 1986, S. 31, 316; zur Kritik an Böhme vgl. Alfred Noe: Der Einfluß des italienischen Humanismus auf die deutsche Literatur vor 1600. Ergebnisse jüngerer Forschung und ihre Perspektiven. Tübingen 1993 (Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur. Sonderheft 5), S. 64.

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mit denen sie die epochale Bedeutung des Florentiner Humanismus stark relativierten, 22 andere argumentierten, dass es sich bei Bruni und seinen humanistischen Mitstreitern gar nicht um republikanische Ideologen, sondern um Berufsrhetoriker gehandelt habe, die im Dienst der Stadtoligarchie Propaganda betrieben hätten, 23 und in jüngerer Zeit haben Dritte die bisher wohl interessanteste Gegenthese aufgestellt, nämlich dass der Bürgerhumanismus in der Tat als eine Ideologie zu verstehen sei, freilich in der marxistischen Bedeutung des „falschen Bewusstseins“, habe doch der republikanische Diskurs innenpolitisch die Oligarchisierung der Florentiner Eliten auf Kosten des „popolo“ und außenpolitisch das Hegemoniestreben auf Kosten der toskanischen Städte verschleiert.24 So zutreffend einige dieser Kritikpunkte sind, zu einer Überwindung des umfassenden Modernisierungsparadigmas Humanismus-StadtrepublikanismusFrühkapitalismus haben sie bisher nicht gereicht. Dafür waren sie einzeln zu punktuell und zusammen zu disparat. Es kam hinzu, dass der spezifische Charakter der städtischen Wirtschaft und Gesellschaft in den Argumenten der Philologen und Ideenhistoriker eine untergeordnete Rolle spielte und Sozial- und Kulturhistoriker ihrerseits der Debatte eher auswichen. Symptomatisch für die Uninspiriertheit der heute führenden Baron-Kritiker ist der Umstand, dass sie auch dann noch am Begriff „Bürgerhumanismus“ festhalten, wenn sie ihm längst jeden heuristischen Boden entzogen haben.25 Hier lässt sich das Theoriedefizit der jüngeren Humanismusforschung kaum mehr verbergen. An die Stelle eines faszinierenden Gebäudes ohne Fundament hat sie ein solides Fundament ohne Aufbau gestellt. Es verwundert daher nicht, dass sie in der Forschungslandschaft nur noch wenig wahrgenommen wird.

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Die einflussreichste unter diesen Stimmen ist Quentin Skinner: The Foundations of Modern Political Thought. 2 Bde. Cambridge UK 1978, hier Bd. 1; noch stärker distanziert sich Skinner in jüngeren Arbeiten von Baron, etwa ders.: The Republican Idea of Liberty. In: Machiavelli and Republicanism. Hg. von Gisela Bock, Quentin Skinner und Maurizio Viroli. Cambridge UK 1990 (Ideas in Context 18), S. 293–309; zur mittelalterlichen Vorgeschichte des „Bürgerhumanismus“, vor allem unter Berücksichtigung der scholastischen Politiktheorie, vgl. James M. Blythe: „Civic Humanism“ and Medieval Political Thought. In: Renaissance Civic Humanism (wie Anm. 11), S. 30–74. So u. a. Gordon Griffiths: The Justification of Florentine Foreign Policy offered by Leonardo Bruni in his Public Letters (1428–1444), based on Documents from the Florentine and Venetian Archives. Rom 1999 (Nuovi studi storici 47), S. 24; Hankins: The „Baron Thesis“ (wie Anm. 8), S. 318, 325f. Riccardo Fubini: La rivendicazione di Firenze della sovranità statale e il contributo delle „Historiae“ di Leonardo Bruni. In: Leonardo Bruni, cancelliere della Repubblica di Firenze. Hg. von Paolo Viti. Florenz 1990, S. 29–62; Mikael Hörnqvist: The two Myths of Civic Humanism. In: Renaissance Civic Humanism (wie Anm. 11), S. 105–142; John Najemy: Civic Humanism and Florentine Politics. In: Renaissance Civic Humanism (wie Anm. 11), S. 75–104. Ein schlagendes Beispiel bietet Hankins: The „Baron Thesis“ (wie Anm. 8), S. 329f.; ähnlich verfahren mehrere Aufsätze in ders. (Hg.): Renaissance Civic Humanism (wie Anm. 11).

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3.

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Zielsetzung und Hauptthese

Einen solchen Aufbau wenigstens zu skizzieren, ist das Ziel des folgenden Beitrags. Sein geographischer Schwerpunkt liegt auf den humanistischen Kernräumen Oberitalien und Oberdeutschland, sein zeitlicher Schwerpunkt auf dem 15. und frühen 16. Jahrhundert. Es geht darum, zu möglichst generellen Aussagen zu gelangen, ohne dabei bloß Allgemeinplätze zu bemühen. Um den üblichen Umfang eines Aufsatzes nicht zu sprengen, wird auf detaillierte Quellenanalysen verzichtet; Hinweise auf Sekundärliteratur, die diese leisten, müssen genügen. Die Hauptthese lautet, dass der Humanismus durchaus in der spätmittelalterlichen Stadtkultur verwurzelt war und von der gesellschaftlichen Mobilität größerer Städte profitiert hat, dass er aber von Beginn an zu jenen Kräften gehörte, die die relative Eigenartigkeit und Eigenständigkeit, die die alte Stadt in politischer, kultureller und wirtschaftlicher Hinsicht kennzeichnete, schwächten, und zwar zugunsten einer „urbanen Verhofung“. Umgekehrt gehörte er am Hof zu jenen Kräften, die einer „höfischen Verstädterung“ Vorschub leisteten – kulturell durch ein neues Leistungs- und Bildungsethos, sozial durch Hof und Stadt verbindende Netzwerke und räumlich durch eine dauerhafte Anbindung des Hofes an den städtischen Lebensraum. 26 Dieser spannungsreiche Spagat prägte den Humanismus von Beginn an und war grundlegend für den kulturellen Innovationsschub, der von ihm ausging.27 Für die europäische Gelehrtengeschichte bedeutete er einen beschleunigten Austritt aus der institutionellen Geborgenheit von Klöstern oder Universitäten, aber längst keinen Eintritt in eine selbstbestimmte, freie Gelehrsamkeit, sondern einen Übergang in unbeständigere und austauschbarere Abhängigkeiten. Diese bildeten nicht den Nährboden für

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Zur „immer engeren sozialen Vernetzung zwischen der Gesellschaft des Hofes und jener der Stadt“ (Werner Paravicini) am Ausgang des Mittelalters vgl. die Beiträge in: Der Hof und die Stadt. Konfrontation, Koexistenz und Integration in Spätmittelalter und Früher Neuzeit. Hg. von Werner Paravicini und Jörg Wettlaufer. Ostfildern 2006 (Residenzenforschung 20). Im Gegensatz zur Tendenz der jüngeren Forschung, den frühneuzeitlichen Hof zum eigentlichen Kraftwerk innovativer Kunst, Literatur und Wissenschaft zu erklären und die Vorgeschichte der „autonomen“ Kulturproduktion der Moderne in der einseitigen, aber raffiniert verschleierten Abhängigkeit von einem großen Fürsten zu sehen, wird hier die Position vertreten, dass erst eine „distanzierte Abhängigkeit“ vom Hof, hergestellt durch parallele Beziehungen zu Universitäten, städtischen Eliten oder zu anderen Höfen, jene produktive Spannung geschaffen hat, die für die Dynamik der frühneuzeitlichen Kulturproduktion entscheidend war. In der Kunst ist dafür Tizian, in der Literatur Erasmus exemplarisch: Sie mieden einseitige Abhängigkeiten, produzierten für verschiedene Auftraggeber und schufen sich damit einen gewissen Freiraum, in welchem sie sich als Fürsten ihrer Disziplin inszenieren konnten; vgl. Martin Warnke: Hofkünstler. Zur Vorgeschichte des modernen Künstlers. Köln 1996 (Erstausgabe 1985); weiter: Mario Biagioli: Galilei, der Höfling. Entdeckungen und Etikette: Vom Aufstieg der neuen Wissenschaft. Frankfurt a. M. 1999 (engl. Originalausgabe Chicago 1993); Alain Viala: Naissance de l’écrivain. Sociologie de la littérature à l’âge classique. Paris 1985; Andreas Tönnesmann: Die Kunst der Renaissance. München 2007, S. 17f.

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eine Autonomie der Kulturproduktion, sondern höchstens für die Illusion derselben. Bevor wir zu unserem Hauptthema übergehen können, bleibt noch zu klären, was überhaupt gemeint ist, wenn wir von „Humanismus“ und „Stadt“ an der Wende vom Mittelalter zur Neuzeit sprechen.

4.

Begriffsklärungen

4. 1. Humanismus Jüngere Definitionsversuche des Humanismus greifen in der Regel auf Paul Oskar Kristellers (1905–1999) Gleichsetzung der „studia humanitatis“ mit fünf Fachgebieten aus dem Bereich der „artes liberales“ zurück: Grammatik, Rhetorik, Poetik, Geschichte und Morallehre. 28 Kristeller, der auch zu den einflussreichsten Kritikern Barons gehörte, 29 versuchte mit dieser Präzisierung, den Renaissancehumanismus vom weltanschaulichen Wildwuchs abzukoppeln, der den Humanismusbegriff im 20. Jahrhundert überwuchert hatte. Das Vorhaben gelang, zumindest in Fachkreisen, es barg aber neue Probleme, die jenen der Kritik am Bürgerhumanismus nicht unähnlich waren:30 Indem sich die Humanismusforschung Kristeller’scher Prägung über den Zusammenhang von Humanismus und Moderne weitgehend ausschwieg, hat sie das Erklärungspotential ihres Forschungsgegenstands minimiert und sich selber in eine forschungspolitische Legitimitätskrise manövriert. Indem sie von sozial- und politikgeschichtlichen Erklärungsansätzen Abstand nahm und in den sicheren Hafen der traditionellen Philologie und Ideengeschichte zurückkehrte, hat sie den Anschluss an neuere Methoden diskurs- oder kulturgeschichtlicher Ausrichtung verpasst. Und indem sie an Kristellers klarer Definition des Humanismus festhielt, hat sie sich heuristische Hindernisse aufgebaut, die ihr bis heute im Weg stehen. Das Verständnis der Humanisten als Spezialisten von fünf Disziplinen harmoniert nicht mit dem Umstand, dass sie sich als intellektuelle Generalisten verstanden und die gelehrten Spezialisten zur bevorzugten Zielscheibe ihrer Polemiken machten.31 Den von Kristeller genannten Fächerkatalog findet man in ––––––––– 28

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Kristeller wiederum berief sich dabei auf eine Definition des Humanisten Tommaso Parentucelli (1397–1455, ab 1477 Papst Nikolaus V.); Paul Oskar Kristeller: Humanismus und Renaissance. 2 Bde. Hg. von Eckhard Kessler. München 1974/76, hier Bd. 1, S. 103, 237 (Anm. 60). Schiller: Gelehrte Gegenwelten (wie Anm. 6), S. 144–149. Für eine detaillierte Erläuterung und Kritik von Kristellers Humanismusbegriff vgl. Caspar Hirschi: Wettkampf der Nationen. Konstruktionen einer deutschen Ehrgemeinschaft an der Wende vom Mittelalter zur Neuzeit. Göttingen 2005, S. 64–75. Ein paar schöne Beispiele, wie weit viele Humanisten ihre Kompetenzen definierten und wie stark sie dabei auch herrschaftliche Kompetenzen einschlossen, zählt Walter Rüegg auf in: Die Funktion des Humanismus für die Bildung politischer Eliten. In: Humanismus

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humanistischen Texten denn auch sehr selten.32 Viel häufiger hingegen nannten sich die Humanisten „poetae et oratores“, womit sie ihrem Selbstbild als vielseitige Sprachvirtuosen mit öffentlichem Redeauftrag Ausdruck gaben.33 Dass Kristellers Humanismusbegriff über Italien hinaus kaum praktikabel ist, hat ebenfalls mit seinem Konzept der fünf humanistischen Fächer zu tun. Aus ihm folgt die Trennung der Humanisten von den Philosophen, das heißt nicht nur von den scholastischen Aristotelikern, sondern auch von den Neuplatonikern. Das ist schon für Italien problematisch, weil die Florentiner Neuplatoniker trotz ihrer sporadischen Kritik der Rhetoriker dem humanistischen Stilideal eng verhaftet blieben, ganz zu schweigen von ihren philologischen Studien, Kommunikationsritualen und ihrer Kritik an Fachspezialisten. Im europäischen Kontext erübrigt sich die Unterscheidung vollends, weil der Neuplatonismus in der Rezeption des Humanismus inbegriffen war. Die ersten Humanisten in Deutschland und Frankreich bekannten sich fast ausnahmslos als glühende Anhänger des neuplatonischen „Oberpriesters“ Marsilio Ficino. Sie studierten dessen Philosophie bzw. „Theologie“ und legten davon wiederum in humanistischen Schriften Zeugnis ab. Um den Renaissancehumanismus als spezifische Ausformung der europäischen Gelehrten- und Bildungsgeschichte zu beschreiben, kann es hilfreich sein, sich von der Fixierung auf die Inhalte der humanistischen Gelehrsamkeit abund den habituellen Praktiken der Gelehrten zuzuwenden.34 Auf diesem Weg wird eine kulturgeschichtliche Präzisierung des Humanismusbegriffs möglich, ebenso wie eine historisierende Differenzierung zwischen „Humanisten“ und „humanistisch Gebildeten“. Als Leitfaden dient dabei die Frage: Wie wurde man Humanist? Um sich einen Namen als „poeta et orator“ zu machen, musste man nicht bloß ein bestimmtes Wissen erwerben und ein paar lateinische Verse schmieden, sondern eine umfassende Verhaltensschule durchlaufen.35 Da die Anerkennung als Humanist nicht über ein schulisches oder universitäres Diplom ––––––––– 32

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in Erfurt. Hg. von Gerlinde Huber-Rebenich. Rudolstadt, Jena 2002 (Acta Academiae Scientiarum 7/Humanismusstudien 1), S. 13–32, hier S. 18f. Robert Black erwähnt, um Kristellers Fächerdefinition zu untermauern, neben Parentucellis Katalogisierungsvorschlag für die Bibliothek der Medici auch Petrarcas Einteilung seiner Studiengebiete; allerdings hat Petrarca den Begriff der „studia humanitatis“ nicht auf diese Einteilung bezogen (die zudem noch die Kategorien „Scholastik“ und „Philosophie“ enthält); Robert Black: Humanism. In: The New Cambridge Medieval History. Bd. 7: ca. 1415–1500. Hg. von Christopher Allmand. Cambridge 1998, S. 243–277, hier S. 248f. Auch „philosophus“ trifft man als Selbstbezeichnung regelmäßig an! Vgl. Hanna Gray: Renaissance Humanism, the Pursuit of Eloquence. In: Journal of the History of Ideas 24 (1963), S. 497–514, hier S. 500. Einen ernsthaften Versuch in diese Richtung hat Robert Black unternommen, blieb dabei aber noch zu stark den Positionen der Kristellerschule verhaftet und verstrickte sich zudem in Zirkelschlüsse; Black: Humanism (wie Anm. 32); zur Kritik an Black vgl. Hirschi: Wettkampf der Nationen (wie Anm. 30), S. 70f.; umfassender und insgesamt überzeugender ist der Ansatz von Albert Schirrmeister: Triumph des Dichters. Gekrönte Intellektuelle im 16. Jahrhundert. Köln 2003 (Frühneuzeit-Studien. Neue Folge 4). Einen umfassenden Einblick in diese Verhaltensschule aus der Perspektive von Klostergelehrten gibt H. Müller: Habit und Habitus (wie Anm. 13).

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oder sonst einen offiziellen Akt zu gewinnen war, kam den informellen Praktiken umso größere Bedeutung zu. An erster Stelle zu nennen ist dabei die Vernetzung mit Personen, die bereits den Ruf humanistischer Gelehrter genossen, mit dem Ziel, von diesen in einer für Dritte überprüfbaren Form als Gleichgesinnter anerkannt zu werden. Wer dies nicht erreichte, kann aus der Rückschau vielleicht als humanistisch gebildet qualifiziert werden, galt jedoch in seiner Zeit nicht als Humanist. In der Regel folgte die Integration in die humanistische „res publica literaria“ einem bestimmten Muster. Häufig knüpfte man zuerst Kontakte zu den lokalen „Platzhirschen“ und nahm an deren geselligem Austausch mit Gelehrten und Gönnern teil, danach streckte man durch deren Vermittlung die Fühler zu den humanistischen Lichtgestalten der weiteren Umgebung aus. Die Phase der Tuchfühlung konnte dabei in der Heimatstadt stattfinden, sofern in ihr ein humanistischer Zirkel aktiv war, häufiger erfolgte sie aber, zumal bei deutschen Humanisten, in der Fremde, verbunden mit einem längeren Studienaufenthalt in einer Universitätsstadt. Von Beginn an war der Brief das wichtigste humanistische Integrationsmedium.36 In ihm hatte ein „Humanistenkandidat“ den Beweis zu erbringen, dass er das Rüstzeug besaß, um dazuzugehören. Neben der Einhaltung der formalen Regeln des humanistischen Briefaufbaus37 musste er Proben seiner literarischen Bildung geben, zumindest ein eifriges Bemühen um die Beherrschung des Humanistenlateins und der Humanistenhandschrift bezeugen und nicht zuletzt seine tiefe Verehrung für die „studia humanitatis“ bekunden, unter besonderer Berücksichtigung der gelehrten Beiträge des jeweiligen Adressaten.38 Allgemein lässt sich dabei sagen: Je tiefer der Rang und Stand eines Kandidaten waren, desto höheren Anforderungen musste er genügen; Ausschlusskriterien ständischer Art gab es jedoch keine. Über den Erfolg dieser informellen Kandidatur entschieden die Adressaten. Sie mussten abwägen, ob ihnen der Kandidat bei anderen Humanisten zur Ehre gereichen und für die eigenen Studien von Nutzen sein könnte. Ein Antwortschreiben war an sich schon eine gute Nachricht und konnte im besten Fall als provisorisches Eintrittsbillet in die humanistische Gelehrtenrepublik dienen. ––––––––– 36

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Es kommt daher nicht von ungefähr, dass die umfassendste sozialgeschichtliche Untersuchung zur humanistischen Gemeinschaftsbildung in Deutschland ihre 233 Akteure vorwiegend aus Briefsammlungen von Celtis, Reuchlin, Peutinger, Pirckheimer, Mutian, Cuspinian, Rhenanus und Vadian zusammengestellt hat; Christine Treml: Humanistische Gemeinschaftsbildung. Sozio-kulturelle Untersuchung zur Entstehung eines neuen Gelehrtenstandes in der frühen Neuzeit. Hildesheim, Zürich, New York 1989 (Historische Texte und Studien 12), S. 77–79; aufschlussreiche Überlegungen zum humanistischen Medium „Brief“ bei H. Müller: Habit und Habitus (wie Anm. 13), S. 358f. Vgl. zu diesem Punkt ebd., S. 77–79. Zu den beliebten Methoden, dieser Verehrung Ausdruck zu geben, gehörte das Zeugnis von den Entbehrungen und Opfern, etwa dem Verzicht auf Geld, Genuss und Gesundheit, die man für die Verfolgung der humanistischen Studien auf sich nehme, sowie die inständige Bitte um Hilfestellungen bei der Büchersuche oder beim Brechen philologischer Knacknüsse.

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Auf Dauer verriegelt blieb die Eingangspforte, wenn der Kandidat in der Korrespondenz des Adressaten mit anderen Humanisten zum Objekt des Gespötts oder der Polemik wurde. 39 Als eigentlicher Ritterschlag zum Humanisten galt indes erst ein persönlich adressierter Antwortbrief von einem Gelehrten der ersten Garde. So konnte nach 1500 kaum etwas prestigeträchtiger sein als Post von Erasmus. Wer zu den glücklichen Empfängern gehörte, ließ die „Insignie“ zirkulieren, abschreiben oder sogar drucken. Wer dagegen beim Humanistenfürst brieflich anklopfte, ohne erhört zu werden, sah seinen prekären Status in der Gelehrtenrepublik inoffiziell bestätigt. 40 Auf einen allgemeinen Nenner gebracht: Wenn die humanistische Rhetorik die „res publica literaria“ als freien Zusammenschluss von Gleichberechtigten und Gleichgesinnten beschrieb und damit einer hehren und hochzivilisierten Gegenwelt zum herrschaftlichen Machtgerangel zuordnete, beschwor sie eine kontrafaktische Ordnung, die entweder der Selbstinszenierung oder der Selbsttäuschung der Gelehrten diente.41 Denn wer dieser Republik angehören wollte, musste zuerst mehrere Schranken überwinden und danach in einem System mit beträchtlichem Machtgefälle und ungeschriebenem Kodex agieren,42 das zudem derart informell aufgebaut war, dass kaum jemand wissen konnte, wo er genau stand.43 Obwohl man einen gewissen Kredit erwerben und diesen, etwa in der Form gesammelter Briefe und ––––––––– 39 40

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Ein besonders illustratives Beispiel für solche Ausschließungspraktiken auf dem Briefweg schildert H. Müller: Habit und Habitus (wie Anm. 13), S. 71f. Vgl. dazu Ingmar Ahl: Humanistische Politik zwischen Reformation und Gegenreformation. Der Fürstenspiegel des Jakob Omphalius. Stuttgart 2004 (Frankfurter Historische Abhandlungen 44), S. 83–85. Es herrscht denn auch kein Mangel an Historikern und Philologen, die den humanistischen Gemeinschaftsdiskurs allzu sehr beim Wort genommen haben und im Humanismus ihre eigene Utopie gelehrter Geselligkeit realisiert sahen. So gelangte Karl Hartfelder über die Sodalitas Rhenana zur Einschätzung: „Trotz der zahlreichen Briefe, die uns das geheimste Treiben des Heidelberger Kreises enthüllen, begegnet uns doch nirgends ein störender Misston. Es herrscht unter diesen Männern eine gegenseitige Achtung und Verehrung, die oft fast an Vergötterung streift, wie auch verschiedene Male das Prädikat ‚göttlich‘ in den Briefen wiederkehrt, und wir sind kaum berechtigt, diese Briefe und Gedichte anders zu nehmen, als sie lauten.“ Karl Hartfelder: Konrad Celtis und der Heidelberger Humanistenkreis. In: Historische Zeitschrift 47 (1882), S. 15–36, hier S. 35; auf derselben Grundlage verklärte Martin Greschat die Sodalitäten zu egalitär-individualistischen „Schwurgenossenschaften“, womit er sie als Idealstädte im Kleinen darstellte; Martin Greschat: Humanistisches Selbstbewußtsein und reformatorische Theologie. In: L’humanisme allemand. XVIIIe Colloque International de Tours. Hg. von Ernesto Grassi. München, Paris 1979, S. 371– 386, hier S. 371–374; die Vorstellung einer hehren Freundschaft von genialen Gleichberechtigten wurde sogar von der feministischen Forschung aufgegriffen, um die Utopie einer geschlechtlichen Egalität erweitert und auf die Salons der französischen Frühaufklärung übertragen – so Dena Goodman: The Republic of Letters: A Cultural History of the French Enlightenment. London 1994, S. 83f. Zur „Gelehrtenrepublik“ als Gewaltsystem symbolischer und handfester Art vgl. die brillanten Essays von Martin Mulsow in: Die unanständige Gelehrtenrepublik. Wissen, Libertinage und Kommunikation in der Frühen Neuzeit. Stuttgart 2007. Ich spitze hier Aussagen zu, die Albert Schirrmeister auf breiter Quellengrundlage unter Anwendung von Pierre Bourdieus Gelehrtensoziologie getroffen hat; Schirrmeister: Triumph des Dichters (wie Anm. 34), S. 135f.

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Schriften, auch dokumentieren konnte, musste man seine Mitgliedschaft beständig neu erkaufen. Die regelmäßige Sondierung der eigenen Stellung in diesem virtuellen Kosmos war denn auch ein weiterer Antrieb der humanistischen Korrespondenz und Klagen über ausbleibende Antworten und langes Schweigen konnten durchaus einen existentiellen Beiklang haben. Die Vernetzung mit bereits anerkannten Humanisten ging, soweit man das rekonstruieren kann, dem Gang an die Öffentlichkeit mit eigenen Schriften voraus. Sie musste es deshalb, weil Werke von Humanisten ihr Stammpublikum in erster Linie unter Ihresgleichen suchten und fanden. Dies galt sowohl für die Zeit vor wie nach der Erfindung des Buchdrucks. Wurde ein humanistisches Manuskript in den Druck gebracht (was im 16. Jahrhundert noch keineswegs zwingend war), so hatte es häufig schon eine erste Rezeptionsgeschichte hinter sich: jene im geschützten Raum vertrauter Gelehrtenzirkel. Dem Autor bot sich dadurch nicht nur die Möglichkeit, seinem Text vor dessen unkontrollierbarem „fatum“ in der Öffentlichkeit den letzten Schliff zu geben, sondern durch die Privilegierung bestimmter Leser einen Kreis der Eingeweihten zu schaffen, die sich gegenseitig verpflichtet fühlten und durch ihr gemeinsames Mehr- bzw. Vorwissen nach außen als literarische Autoritäten auftreten konnten.44 Diese Privilegierungspraxis trug zur internen Hierarchisierung der humanistischen Netzwerke ebenso bei wie zur kollektiven Reputation der Humanisten, ließ sie doch die „res publica literaria“ als harmonische, auf wechselseitiger Hilfsbereitschaft beruhende Gemeinschaft erscheinen. Dementsprechend auffällig wurde in humanistischen Druckwerken die Nähe, ja Intimität zwischen Autor und Autorenpublikum literarisch zelebriert: in Widmungsepisteln und Grußworten, in Lobsprüchen auf literarische Heldentaten gelehrter Mitstreiter, in Anspielungen für Eingeweihte usw. Entscheidend war jedoch, dass diese Praxis der kollektiven Distinguierung keiner festen Abriegelung nach außen diente, sondern mit einem ostentativ missionarischen Anspruch verbunden wurde. Wo auch immer Humanisten das Wort erhoben, priesen sie sich als Segen für die Menschheit, als Apostel der Zivilisation und Kämpfer gegen die Barbarei. Mochte ihr hochtrabendes Selbstlob noch so oft der eigenen Eitelkeit oder der Verdrängung anderer Gelehrtengruppen gedient haben, es gehörte zu einem expansiv-universalistischen Intellektuellenhabitus, der in Europa als profanes Phänomen neu war. Dieser Habitus führte nicht nur zu humanistisch inspirierten Schulgründungen und Universitätsreformen, sondern auf lange Dauer zum Aufgehen des Humanismus in der höfischstädtischen Elitenkultur. Mit anderen Worten: Die Humanisten hielten die labile Balance zwischen „universalistischer Öffnung und partikularistischer Abschließung“45 – ein Grundprinzip der europäischen Intellektuellensozialisierung – nur ––––––––– 44

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Der Druck einer humanistischen Schrift kam daher, sowohl aus der Sicht des Autors wie des privilegierten Kreises der Manuskriptleser, stets einer Gratwanderung gleich: Was an Breitenwirkung und Prestige gewonnen wurde, ging an Kontrolle und privilegiertem Besitz des Wissens verloren. Bernhard Giesen: Die Intellektuellen und die Nation. Eine deutsche Achsenzeit. Frankfurt a. M. 1993, S. 74.

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vorübergehend aufrecht: Die Exklusivität ihres Ranges verringerte sich mit zunehmendem Erfolg ihrer Bildungspropaganda. Dieser Vorgang war im humanistischen Habitus von Anfang an angelegt und manifestierte sich vor allem im Umgang mit den Mächtigen. In ihrem Austausch mit Herrschaftsträgern beschworen Humanisten regelmäßig eine höhere Komplizenschaft von Geist und Macht, von literarischem und politischem Heroismus, und schlugen dabei einen neuen, intimeren Ton an. Schon Petrarca (1304–1374) hatte vielen ein Beispiel gegeben, indem er Papst und Kaiser in antikischer Manier duzte46 und ihnen auch sonst demonstrativ auf gleicher Augenhöhe begegnete. An Karl IV. richtete er die Worte: „Du rufst mich nach Deutschland; ich rufe Dich nach Italien! Du bist mir durch Autorität überlegen, ich Dir in der Sache.“47 Spätere Humanistengenerationen gingen dazu über, Könige, Fürsten und Stadtherren direkt ihresgleichen zuzurechnen. Conrad Celtis (1459–1508) verlieh Kaiser Maximilian I. eine Mitgliedschaft in seiner virtuellen nationalen Gelehrtensodalität, 48 seine deutschen Berufsfreunde stilisierten Karl den Großen zum humanistischen Idealgelehrten avant la lettre49 und ein italienischer poeta laureatus ließ sogar verlauten, im Altertum seien „die Lehrer der freien Künste und die Juristen alle hochgelehrte Humanisten gewesen, am allermeisten aber die Fürsten, Könige und der ganze Adel“.50 Gerade die lorbeerbekränzten Dichter und Redner51 hatten besonderen Grund, einen herrschaftlichen Status der humanistischen Studien vorzugaukeln, sahen sie doch in den seit Friedrich III. vom Kaiser vollzogenen Dichterkrönungen eine ––––––––– 46 47

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Vgl. Rüegg: Die Funktion des Humanismus (wie Anm. 31), S. 22. Tu me in Germaniam, ego in Italiam te uoco. Tu autoritate me superas, ego te causa. Petrarca an Karl IV., Padua, 18. Juli 1361. Epistolae de rebus familiaribus 23, 8. In: ders.: Aufrufe zur Errettung Italiens und des Erdkreises. Ausgewählte Briefe. Hg. und übersetzt von Berthe Widmer. Basel 2001, S. 526. Tibor Klaniczay: Die Akademie als die Organisation der intellektuellen Elite in der Renaissance. In: Sozialgeschichtliche Fragestellungen in der Renaissanceforschung. Hg. von August Buck und Tibor Klaniczay. Wiesbaden 1992 (Wolfenbütteler Abhandlungen zur Renaissanceforschung 13), S. 1–15, hier S. 13; ders.: Celtis und die Sodalitas litteraria per Germaniam. In: Respublica Guelpherbytana. Festschrift für Paul Raabe. Hg. von August Buck und Martin Bircher. Amsterdam 1987 (Chloe 6), S. 79–105; Jan-Dirk Müller: Konrad Peutinger und die Sodalitas Peutingeriana. In: Der polnische Humanismus und die europäischen Sodalitäten. Hg. von Stephan Füssel und Jan Pirożyński. Wiesbaden 1997 (Pirckheimer Jahrbuch für Renaissance- und Humanismusforschung 12), S. 167–186, hier S. 173f. Hirschi: Wettkampf der Nationen (wie Anm. 30), S. 316–319. Es handelt sich um Girolamo Amaseo aus Udine (1467–1517): li antiqui sì artisti come legisti tutti erano dotissimi humanisti et maxime li principi et re et ogni nobilità. Zit. nach Rüegg: Die Funktion des Humanismus (wie Anm. 31), S. 18f. Zu den gekrönten Dichtern im Zeitalter Friedrichs und Maximilians vgl. u. a. Dieter Mertens: Maximilians gekrönte Dichter über Krieg und Frieden. In: Krieg und Frieden im Horizont des Renaissancehumanismus. Hg. von Franz Josef Worstbrock. Weinheim 1986 (DFG. Kommission für Humanismusforschung. Mitteilungen 13), S. 105–123; ders.: „Bebelius […] patriam Sueviam […] restituit“. Der poeta laureatus zwischen Reich und Territorium. In: Zeitschrift für Württembergische Landesgeschichte 42 (1983), S. 145–173; Schirrmeister: Triumph des Dichters (wie Anm. 34).

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offizielle Anerkennung für den quasiimperialen Rang der Poesie und Redekunst.52 So angestrengt diese doppelte Integrationsrhetorik, die aus Herrschern Humanisten und aus Humanisten Herrscher machte, von der realen Machtverteilung und Distanz zwischen Schwert und Feder ablenkte, mit der Zeit schlug sie eine neue, auf profanen Pfeilern stehende Brücke zwischen der abendländischen Gelehrten- und Herrschaftskultur. Dem entsprach, dass in humanistischen Netzwerken die Grenze zwischen gelehrten und herrschaftlichen Patronen diffus blieb; Figuren wie der venezianische Patrizier und Kardinal Pietro Bembo (1470–1547) oder der kaiserliche Rat und Superintendent der Wiener Universität Johannes Cuspinian (1473–1529) konnten beide Rollen einnehmen. Wie aus wortmächtigen Humanisten sogar machtvolle Herrscher werden konnten, lebten Tommaso Parentucelli und Enea Silvio Piccolomini auf dem Papstthron vor.53 Karrieren wie ihre blieben freilich die Ausnahme und waren nur an der Kurie möglich, die für vertikale Mobilität wie keine andere bedeutende Machtinstitution offen war. Insgesamt lässt sich die langfristige Bedeutung des Brückenschlags zwischen den Rollen des Gelehrten und des Herrschers kaum überschätzen, sei es für die politische Propaganda und Machtrepräsentation, sei es für den Aufbau der europäischen Diplomatie, sei es für den Siegeszug der mathematischen Wissenschaften, 54 sei es für die Pathogenese der europäischen Intellektuellenhybris. Der humanistischen Rollenwahl des „Herrschers durch das Wort“ entsprach das allgemeine Verständnis der „studia humanitatis“ als Herrschaftswissen. Vom neuhumanistischen Ideal einer zweckfreien Bildung zur Vervollkommnung des Individuums, wie es in Deutschland zu Beginn des 19. Jahrhunderts formuliert wurde, war im Renaissance-Humanismus noch wenig vorhanden. Im Gegenteil, es herrschte weitgehender Konsens, dass die Legitimität der „studia humanitatis“ vor allem darin bestehe, instrumentelles Wissen zur Herrschaftsorganisation und Machtausübung bereitzustellen. Dieser Anspruch war direkt im Begriff der „humanitas“ verankert. Mit ihm rekurrierten die Humanisten auf ein ––––––––– 52

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Neben den Dichterkrönungen gab es auch andere, subtilere Methoden, die humanistische Tätigkeit als Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln darzustellen. Ein schönes Beispiel ist die oft zitierte Legende, der mailändische Herzog Gian Galeazzo Visconti habe im Krieg gegen Florenz geklagt, ein Brief von Coluccio Salutati schade ihm mehr als tausend florentinische Reiter. Diese Aussage wird gerne als Beleg für die politische Macht der humanistischen Sprache angeführt, nur geht dabei vergessen, dass sie von Salutati selbst kolportiert wurde, der in dieser Sache sicher nicht der vertrauenswürdigste Gewährsmann war. Nicht über den Machtbesitz, dafür aber über die Machtphantasien der Humanisten kann diese Legende Aufschluss geben; vgl. Hirschi: Wettkampf der Nationen (wie Anm. 30), S. 225. Wegen dieses Fehlens von Demarkationslinien zwischen Macht- und Gelehrtensphäre erscheint es noch etwas verfrüht, schon im Humanismus die Konstruktion des literarischen Feldes im Sinne Pierre Bourdieus anzusetzen; vgl. dazu Caspar Hirschi: Rezension zu: Schirrmeister: Triumph des Dichters (wie Anm. 34). In: H-Soz-u-Kult, 11.07.2005. Vgl. Biagioli: Galilei (wie Anm. 27); Steven Shapin: A Social History of Truth. Civility and Science in Eighteenth Century England. Chicago, London 1994; Walter E. Houghton Jr.: The English Virtuoso in the Seventeenth Century. In: Journal of the History of Ideas 3 (1942), S. 51–73.

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römisches Bildungsideal, das sie in Ciceros Schriften mustergültig dargelegt und in Ciceros Person exemplarisch vorgelebt fanden. Cicero und andere Gelehrtenpolitiker der späten Republik hatten für die römische Senatsaristokratie eine umfassende „eruditio“ (wörtlich: „Entrohung“) gefordert, die vom alten Hausbuchwissen der führenden Familien wegführte und den im römischen Senat verankerten Wissenskompetenzen das griechische Ideal der „paideia“ unterlegte. Zu diesen Kompetenzen gehörte nicht nur die Oratorik, sondern auch die Geschichtsschreibung und die politische Ethik, die ursprünglich einem der ehrwürdigsten Senatorenämter zugeordnet waren, jenem des Zensors. Der vollendete Senator selbst wurde als „orator doctus“ dargestellt, besonders bewandert in Rhetorik, Recht, Geschichte und Moralphilosophie. Seine breite Bildung qualifizierte ihn nicht nur zum guten Politiker, sondern machte ihn erst zum edlen Menschen. Sie verkörperte und verlieh „humanitas“. 55 War das römisch-antike Bildungsideal der „humanitas“ derart eng an das politische System einer parlamentarischen Oligarchie gebunden, in der die Figur des Gelehrtenpolitikers – auch als „homo novus“ – einen institutionell vorgegebenen Platz hatte, so stellt sich die Frage, wie es in der Renaissance unter gänzlich anderen Herrschaftsbedingungen überhaupt erfolgreich sein konnte. Dass der Humanismus für die Ausübung der Politik überlegene Problemlösungen zur Verfügung stellte, ist wenig wahrscheinlich; wie Robert Black treffend bemerkt hat, boten humanistische Abhandlungen „wenn überhaupt wenige Lektionen in der politischen Realität; ihre moralischen Plattitüden und Banalitäten konnten einem italienischen Politiker, der vor Entscheidungen über Krieg und Frieden, über Allianzen, Parteienkonflikte, über die Besteuerung oder Verwaltung von Untertanengebieten stand, kaum eine Hilfestellung geben“. 56 Für den Erfolg des Humanismus waren wohl kaum rationale Beweggründe verantwortlich. Am ehesten zu verstehen ist er, wenn man die Hauptinnovation des Humanismus genauer betrachtet: die Ästhetisierung der lateinischen Sprache. Sie wurde zum eigentlichen Markenzeichen humanistischer Texte, verbunden mit der impliziten oder expliziten Botschaft, dass zwischen sprachlicher Schönheit, Wahrheit, Moral und Macht ein notwendiger Zusammenhang bestehe.57 Die Abwendung von der mittelalterlichen Gelehrsamkeit ––––––––– 55

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Peter Scholz: Der Senat und die Intellektualisierung der Politik – Einige Bemerkungen zur Krise der traditionellen Erziehung in der späten römischen Republik. In: Wissen in der Krise. Institutionen des Wissens im gesellschaftlichen Wandel. Hg. von Carsten Kretschmann, Henning Pahl und Peter Scholz (Wissenskultur und gesellschaftlicher Wandel 7). Berlin 2004, S. 17–27, hier S. 21f. Black: Humanism (wie Anm. 32), S. 274. Explizit wird dieser Zusammenhang in einem Brief von Pietro Bembo an Giovanni Pico della Mirandola: „Ich glaube“, schrieb Bembo, „dass sich in Gott nicht nur eine bestimmte göttliche Form der Gerechtigkeit, der Mäßigkeit und der übrigen Tugenden, sondern auch eine bestimmte göttliche Form des vollendeten Schreibstils [recte scribendi speciem quandam divinam] findet.“ Diesen Stil hielt Bembo nicht etwa in der Sprache der Evangelien, sondern in den Texten des „göttlichen“ Cicero für perfekt imitiert; das Latein rückt hier also fast an die Stelle der vorbabylonischen Sprache, die eins war mit den Dingen, die sie

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war in erster Linie eine sprachlich-stilistische, in zweiter Linie auch eine des literarischen Kanons und der Gattungen. Diese Verschiebung war für Leser und Zuhörer, die die lateinische Sprache einigermaßen verstanden, sofort erfassbar, was zur Attraktivität humanistischer Bildung als kulturelles Kapital beitrug. Der humanistische Glaube an die Macht der Sprache fiel in eine Zeit rasant ansteigender Schriftlichkeit, die in einer ersten Phase besonders die Herrschaftspraxis und die Kultur der gesellschaftlichen Eliten veränderte.58 Es ist nahe liegend, in diesem Prozess ein Anzeichen für die Rationalisierung von Herrschaft und Verwaltung zu sehen, und auf lange Sicht trifft dies auch zu. Auf mittlere Sicht jedoch kam die Verschriftlichung auch einer Neuverzauberung gleich. So suspekt uns heute das Zusammendenken von schöner Sprache, reiner Seele und guter Herrschaft ist, so überzeugend musste es auf die Machteliten in einer semi-oralen Kultur gewirkt haben, für die rituelle Sprechakte und vor allem die zu Schrift erstarrte Sprache einen magischen Charakter hatten. Die Sprache war hier kein Schlauch, der Informationen transportierte, kein Abbild einer ihr äußerlichen Welt, sondern „ein Stigma auf den Dingen“, eine Verkörperung heiliger Traditionen und Trägerin einer Macht, die ihren eigenen Zeichen entsprang.59 Das galt im Besonderen für das Latein, die Sprache der Kirche; von ihrem sakralen Charisma floss viel in den Humanismus ein. Die Humanisten agierten in dieser Übergangskultur als verzauberte Verzauberer: Ihr eigenes Denken war auch von einem magischen Sprach- und Schriftverständnis geprägt, nicht zuletzt in ihrer Paradedisziplin der Philologie, die vom Glauben an einen reinen Ursprungstext60 und an eine Entschlüsselung der Natur im Medium des Kommentars beseelt war. Die Methode der Wissensver––––––––– 58

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beschrieb; zit. nach Lucien Febvre: Das Problem des Unglaubens im 16. Jahrhundert. Die Religion des Rabelais. Stuttgart 2002, S. 404 (franz. Originalausgabe Paris 1942). Walter Rüegg: Der Humanist als Diener Gottes und der Musen. In: ders.: Anstöße. Aufsätze und Vorträge zur dialogischen Lebensform. Frankfurt a. M. 1973, S. 152–167, hier S. 160–162. Vgl. zum Sprachverständnis der Renaissance die noch immer äußerst anregende, aus präzisen Beobachtungen und nebulösen Abstraktionen zusammengesetzte Theorie von Michel Foucault in: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften. Frankfurt a. M. 1974, S. 66–77 (franz. Erstausgabe Paris 1966). So lag dem manischen Bemühen um die reine „restitutio“ antiker Texte die Einstellung zugrunde, dass der Nimbus einer Schrift entschwinde, sobald ihr Wortlaut verändert werde; man verlangte, literarische Funde „summa cum devotione“, mit höchster Ehrfurcht, philologisch aufzubereiten. Italienische Humanisten führten sie wie Reliquien aus Deutschland und Frankreich an ihren angeblichen Herkunftsort, die „patria Italia“, zurück. Als Reliquie fungierte aber nicht das Manuskript, sondern der Text. Es handelte sich also um das Paradox einer reproduzierbaren Reliquie. Die Humanisten präsentierten sich als Entdecker und Verbreiter magischer Schätze, deren Heiligkeit die Antike verbürgte. Die Magie humanistischer Texte wirkte – und darin übertraf sie jene der Reliquie – in doppelter Weise: in der materiellen Präsenz von Prachteditionen (die zusammen mit Reliquien ausgestellt wurden) und dauerhaft durch Inkorporation mittels Lektüre. Gemessen am scholastischen Nominalismus, der zwischen sprachlichem Zeichen und Inhalt unterschied, sich aber auf theologische Themen beschränkte, resakralisierte der Humanismus die Sprache – bei gleichzeitiger Säkularisierung des Themenfeldes.

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mehrung bestand darin, „Sprache auf Sprache zu beziehen“.61 Entscheidend war, dass die Humanisten dieses Sprachverständnis auf innerweltliche Kontexte übertrugen und damit für neue Verzauberungen fruchtbar machten. Damit waren die Voraussetzungen gegeben, dass die Humanisten mit ihrer angeblichen Vollmacht zum Verherrlichen und Verdammen der Mächtigen glaubhaft wirken konnten. Was sie herrschaftlichen Protektoren versprachen, war nichts weniger als die literarische Verwandlung in und Verewigung als Helden antiker Größe. Auch hier wäre es falsch, den Herrschaftsträgern zu unterstellen, sie hätten die Humanisten bloß aus kühler Berechnung zu „Propagandaministern“ ernannt und sich um ihre Weisheiten nicht weiter gekümmert. Obwohl ihnen die humanistischen Rezepte für eine gute und erfolgreiche Politik keinen praktischen Nutzen brachten, darf man annehmen, dass bei vielen vom humanistischen Herrschaftsgedanken etwas hängen blieb. Diesen Gedanken kann man auf die Formel bringen: ohne römische Bildung keine Herrschaft und kein Ruhm von römischem Ausmaß.

4. 2. Stadt Obwohl die wissenschaftliche Literatur zur Stadtgeschichte des Mittelalters und der Frühen Neuzeit noch weit umfangreicher ist als jene zum Humanismus, bedarf es für die folgenden Betrachtungen nur einer kurzen Präzisierung. Es geht um die Mauern und Tore innerhalb der Stadtmauern und Stadttore. Aus rechtsund politikgeschichtlicher Perspektive mag es hilfreich sein, die vormoderne Stadt mit jenem Raum gleichzusetzen, in dem das Stadtrecht wirksam war, aus kulturgeschichtlicher Perspektive macht das wenig Sinn. Nicht nur in Stadtansichten, sondern auch im städtischen Leben nahmen Enklaven wie Kathedralen, Klöster, Kollegiate, Spitäler, Universitäten oder fürstliche Residenzen eine markante Stellung ein. Sie standen halb in der Stadt, halb außerhalb, waren für die Stadtobrigkeiten ein konstanter Störfaktor und für die Stadtkultur ein nie versiegender Energiespender und -empfänger. 62 Der Aufstieg des Humanismus ist dafür ein gutes Beispiel. Die anachronistischen Fehlschlüsse der Anhänger der Bürgerhumanismustheorie dürften auch auf die Unterschätzung dieser Enklaven und die vorschnelle Gleichsetzung von Stadt- und Bürgerkultur zurückzuführen sein.

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Zur immanenten „Erkenntnistheorie“ der humanistischen Kommentarkultur vgl. Foucault: Die Ordnung der Dinge (wie Anm. 59), S. 72–74; und darauf aufbauend Mulsow: Die unanständige Gelehrtenrepublik (wie Anm. 42), S. 27–66. Christopher R. Friedrichs: The Early Modern City 1450–1750. London, New York 1995, S. 31, 36.

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Der städtische Humanismus: ein trojanisches Pferd?

5. 1. Stadtadel und Kaufmannschaft In italienischen wie deutschen Städten fasste der Humanismus zuerst bei den herrschaftsnahen Eliten weltlichen und geistlichen Standes Fuß. Von den Humanisten selbst stammte nur eine Minderheit aus diesen Eliten, die Mehrheit bewegte sich also in einem Umfeld, das ihnen nicht von Kindsbeinen an vertraut war. Der Ruf der Aufsteiger begleitete daher viele von ihnen, ebenso wie der Druck, ihren Aufstieg dauernd zu legitimieren. Das taten sie unter anderem mit der Doktrin eines gelehrten Verdienstadels, einer „nobilitas animi“, mit der sie sich in die ständische Ökonomie der Ehre einzuklinken versuchten. Dieser Versuch war erfolgreich, weil die Humanisten Werte beschworen, die dem sozialen Streben der städtischen Eliten nach einer Lebensform adligen Zuschnitts mit Landsitzen, Rentenwirtschaft, Hofämtern, Gesellenstechen sowie Familienwappen und -siegeln einen soliden Unterbau gaben.63 Humanistische Verhaltensideale wie „civilitas“,64 „urbanitas“ und „aemulatio“ sowie Leitwerte wie „virtus“, „honor“, „fama“ und „laus“ waren wohl der antiken Patrizierkultur entliehen, entsprachen aber in der Renaissance weit mehr adlig-ritterlichen als stadtbürgerlichen Lebens- und Umgangsformen.65 Sie huldigten einer Leistungsethik weitab vom Feld des Kommerzes, ja besaßen eine antimerkantile und antigewerbliche Note. Für die meisten Humanisten war die Welt des Geldgeschäfts, der Güterproduktion und des Großhandels das Gegenteil jener Bühne, die sie für sich selbst aufstellten, nämlich barbarisch, geizig und ehrenrührig. Sie hielten zu ihr denn auch diskret bis demonstrativ Distanz. Christine Treml hat in den Korrespondenzen führender deutscher Humanisten zwischen 1480 und 1530 nur einen „hauptamtlichen Kaufmann“ gefunden und ist zum Schluss gekommen, dass um 1500 „kein Handelsherr als Gönner von Gelehrten“ aufgetreten sei. 66 Conrad Celtis streifte in seiner berühmten „Norimberga“ von 1502 Handel und Gewerbe nur im letzten von sechzehn Kapiteln und erlaubte sich dabei den wenig schmeichelhaften Kommentar: „So leben sie […] nicht von der ––––––––– 63 64

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Ebd., S. 186–188. So wenig „civilitas“ ein der stadtbürgerlichen Kultur eigenes Verhaltensideal bezeichnete, so wenig bezog sich „civitas“ zwingend auf eine Stadtgemeinde; Humanisten verwendeten den Begriff ebenso für fürstliche Territorien; vgl. Karl Borchardt: Humanismus in Franken. In: Franken im Mittelalter. Francia orientalis, Franconia, Land zu Franken: Raum und Geschichte. Hg. von Johannes Merz. Darmstadt 2004 (Hefte zur bayerischen Landesgeschichte 3), S. 231–246, hier S. 238f. Zu den spätmittelalterlichen Idealen einer adligen Lebensführung vgl. Otto Gerhard Oexle: Aspekte der Geschichte des Adels im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit. In: Europäischer Adel 1750–1950. Hg. von Hans-Ulrich Wehler. Göttingen 1990 (Geschichte und Gesellschaft. Sonderheft 13), S. 19–56, hier S. 21–25; Werner Paravicini: Gab es eine einheitliche Adelskultur im späten Mittelalter? In: Europa im späten Mittelalter. Politik – Gesellschaft – Kultur. Hg. von Rainer C. Schwinges, Christian Hesse und Peter Moraw. München 2006 (Historische Zeitschrift. Beihefte. Neue Folge 40), S. 401–434. Treml: Humanistische Gemeinschaftsbildung (wie Anm. 36), S. 22f.

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Erde, dem Himmel oder der Luft, sondern allein vom Geld.“67 Was der Stadt in seinen Augen hingegen höchsten Ruhm einbrachte, war ihre Funktion als Kaiserresidenz. 68 Auch bei den angeblichen Bürgerhumanisten von Florenz war es mit der viel beschworenen ideellen und sozialen Nähe zum Frühkapitalismus nicht weit her. Wie Richard Trexler konstatiert hat, waren die Florentiner Humanisten außerstande, Händler als gute Bürger anzusehen; anstatt den Handel und das Gewerbe zu adeln, spielten sie die merkantilen Wurzeln der Bürgerschaft herunter, weil sie ihnen unrein vorkamen.69 Schon Salutati investierte einen Großteil seines Vermögens in Landbesitz.70 Kultur und Kommerz fanden erst dann zusammen, wenn reiche Städter ihre Geschäftstätigkeit durch einen adligen Repräsentationsstil verschleiern wollten oder noch besser: wenn sie ihr zugunsten eines Rentnerlebens komplett entsagten. Generationenwechsel waren dafür besonders günstig. Florentiner Humanisten wie Niccolò Niccoli (1364– 1437), Giannozzo Manetti (1396–1459), Carlo Marsuppini (1399–1453), Poggio Bracciolini (1380–1459) und Matteo Palmieri (1406–1475) waren allesamt glückliche Erben, machten sich die Hände kaum mehr schmutzig, tätigten vielleicht noch gut getarnte Geldgeschäfte, nahmen aber vor allem einträgliche Regierungsämter an. 71 Falls sie sich für eine Heirat entschieden, kamen nur noch Töchter aus politisch mächtigen oder berühmten alten Familien in Frage. Wenn der Humanismus also auf die Repräsentanten des so genannten Frühkapitalismus anziehend wirkte, dann als Ausstiegshilfe aus den Niederungen des Erwerbslebens in eine scheinbar freiere und edlere Leistungsgesellschaft aristokratischen Zuschnitts. Das war in Italien nicht anders als in Deutschland. Häufig ging der Ausstieg mit einem Universitätsstudium einher, oft in Jurisprudenz oder Medizin, selten in Theologie. 72 Die humanistische Bildung allein genügte also kaum, es bedurfte noch einer solideren Form der kulturellen Kapitalakkumulation.

5. 2. Kommunale Politik und Verfassung Wie die städtische Politik organisiert war, wer an ihr teilhatte und welche Stabilität sie gewährleistete, spielte für den Erfolg des Humanismus eine untergeordnete Rolle. Die diesbezüglichen Überzeugungen der Humanisten selbst sind eher irreführend; ihre rudimentäre Kulturtheorie beruhte in der Regel auf der „augusteischen“ Doktrin, dass Wissenschaft und Literatur nur unter starker und ––––––––– 67

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Conrad Celtis: Norimberga. Nürnberg 2000 (ins Deutsche übersetzt von Gerhard Fink), Kap. 16, S. 74; der lateinische Text: De origine, situ, moribus et institutis Norimbergae libellus. In: Conrad Celtis und sein Buch über Nürnberg. Hg. von Albert Werminghoff. Freiburg i. Br. 1921, S. 99–203. Ebd., Kap. 1, S. 20f. Richard C. Trexler: Public Life in Renaissance Florence. New York 1980, S. 19–27. Lauro Martines: The Social World of the Florentine Humanists 1360–1460. Princeton 1963, S. 263. Ebd., S. 263–266. Treml: Humanistische Gemeinschaftsbildung (wie Anm. 36), S. 25–28, 36f.

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stabiler Herrschaft zum Blühen kämen. Dass politische Krisen, ja sogar konstant instabile Verhältnisse als Musen wirken könnten, war für die meisten undenkbar, obwohl ihnen die Stadt Florenz in dieser Hinsicht besten Anschauungsunterricht hätte bieten können.73 Allgemein scheint eine mobile, von Abstieg bedrohte und von Aufsteigern bedrängte Elite der Integration des Humanismus eher förderlich gewesen zu sein als eine fest im Sattel sitzende Oligarchie. In Italien ist dafür neben Florenz das zweite Zentrum des Humanismus, Rom, ein eindrückliches Beispiel, wobei hier der päpstliche Hof als produktivster Unruhestifter gewirkt hat. Umgekehrt bot die vergleichsweise stoisch in sich ruhende Republik Venedig dem Humanismus keinen ähnlich fruchtbaren Boden. Ihre wichtigste Bedeutung lag in einem relativ herrschafts- und elitefernen Bereich: dem Druckgewerbe. Dessen Unterstützung, etwa durch eine large Zensur, gab den Stadtobrigkeiten die Möglichkeit, vom Humanismus finanziell zu profitieren, ohne seinen Repräsentanten weiter verpflichtet zu sein. Ähnlich verhielt es sich mit Basel, der wichtigsten Druckerstadt nördlich der Alpen. Erasmus, der zu den wenigen gehörte, die es sich leisten konnten, von ihren humanistischen Studien zu leben,74 zog 1514 wegen der Offizin Johannes Frobens (1460–1527) hierher. Er lebte eineinhalb Jahre im Haus des Druckers, der sich am Publikationsstil des führenden venezianischen Humanistendruckers Aldus Manutius (1449–1515) orientierte, ohne zu den Stadtobrigkeiten, die sich vom Humanismus nicht sonderlich begeistern ließen, engeren Kontakt zu knüpfen. Erst als diese allmählich merkten, dass Erasmus „zu einem ökonomischen Faktor bedeutenden Ranges“ für die Stadt geworden war, bemühten sie sich verstärkt um sein Bleiben. 75 Das Druckgewerbe allein zog Humanisten selten auf Dauer in eine Stadt. Erasmus war in dieser Beziehung – wie in vielen anderen – eine Ausnahme. 76 Ohne Amt, Pfründe oder Anstellung konnten sich die wenigsten über Wasser halten und die, die es konnten, gehörten eher zu den sesshaften Humanisten. Dass Basel ohne eine wirkliche mäzenatische Elite zu einer Humanistenstadt werden konnte, hing mit der aus dem Konzil hervorgegangenen städtischen

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Auch in Deutschland herrschte diese Doktrin vor und führte etwa zur Vorstellung, dass auf die translatio imperii ad Germanos zwangsläufig eine translatio studii folgen müsse, da höchste Herrschaft und höchste Kultur unter einem Dach vereinigt sein müssten; vgl. Hirschi: Wettkampf der Nationen (wie Anm. 30), S. 285f. Zum Thema „humanism earned no one a living“ vgl. Peter Matheson: Humanism and Reform Movements. In: The Impact of Humanism on Western Europe. Hg. von Anthony Goodman und Angus Mackay. London, New York 1990, S. 23–42, hier S. 25. Beat R. Jenny: Humanismus und städtische Eliten in Basel im 16. Jahrhundert. In: Humanismus und höfisch-städtische Eliten im 16. Jahrhundert. Hg. von Klaus Malettke (Pariser historische Studien 27). Bonn 1989, S. 319–359, hier S. 320f. Zum atypischen Charakter von Erasmus’ humanistischer Lebensform und Gelehrsamkeit vgl. Dieter Mertens: Reich und Elsaß zur Zeit Maximilians I. Untersuchungen zur Ideenund Landesgeschichte im Südwesten des Reiches am Ausgang des Mittelalters. Habil. masch. Freiburg i. Br. 1977, S. 8f.; Hirschi: Wettkampf der Nationen (wie Anm. 30), S. 122f., 291–296.

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Universität zusammen. 77 Hier unterrichteten die meisten Humanisten, die länger in der Stadt weilten, wie Sebastian Brant (1458–1521), der von 1489 bis 1501 nicht nur beide Rechte, sondern auch Poesie lehrte, nachdem er schon in der Stadt studiert hatte. Nur dank seiner einigermaßen einträglichen Stellung an der Universität konnte sich Brant während dieser Zeit derart intensiv als Autor und Herausgeber für das Basler Druckgewerbe engagieren. Ein idealer Stadttyp für die Entfaltung des Humanismus lässt sich nicht rekonstruieren. Versuche deutscher Historiker, die freie Reichsstadt à la Nürnberg, Augsburg und Straßburg als beste aller möglichen Welten für den deutschen Humanismus auszuweisen, 78 waren zum Scheitern verurteilt, da sie von falschen Prämissen ausgingen: Der Humanismus konnte unter ganz unterschiedlichen Bedingungen gedeihen, ja er bedurfte gerade der spannungsreichen Einbindung in verschiedene Sozialgefüge, um seine dynamische Kraft zu entfalten. Die Kombination aus nichtidealen Bedingungen, die Absicherung nach mehreren Seiten und der Wechsel von Abhängigkeiten bildete das soziale Ferment seiner Produktivität.

5. 3. Domherren, Mönche und Pfarrer In Oberdeutschland und Österreich fasste der Humanismus etwa zeitgleich in fürstlichen Residenzstädten, Universitätsstädten und größeren Reichsstädten Fuß, wobei er innerhalb einer Stadt wiederum an mehreren Orten und Institutionen Wurzeln schlagen konnte. In Bischofsstädten wie Augsburg, Würzburg, Bamberg oder Mainz entwickelten sich die Domkapitel und die Domnebenstifte zu frühen Zentren des Humanismus.79 Die Gründe dafür liegen auf der Hand: Die meisten Domherren waren adliger oder zumindest patrizischer Abstammung, viele hatten an Universitäten in Italien oder Deutschland studiert und unterhielten als Mitglieder des hohen Klerus Beziehungen zur römischen Kurie, wodurch sie unvermeidlich mit dem Humanismus in Berührung kamen; schließlich saßen Domherren auf großzügigen Pfründen und konnten sich von allen kirchlichen Amtsträgern den wohl weltlichsten Lebensstil erlauben, so dass der Teilnahme am gesellig-gelehrten Austausch in humanistischen Sodalitäten kaum Grenzen gesetzt waren. 80 ––––––––– 77

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Jenny: Humanismus und städtische Eliten (wie Anm. 75), S. 323f.; Edgar Bonjour: Die Universität Basel von den Anfängen bis zur Gegenwart 1460–1960. Basel 21971, S. 94– 107 (Erstausgabe 1960). Wolfgang Zorn: Die politische und soziale Bedeutung des Reichsstadtbürgertums im Spätmittelalter. In: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 24 (1961), S. 460–480, hier S. 479; Ernst Walter Zeeden: Deutsche Kultur in der frühen Neuzeit. Frankfurt a. M. 1968, S. 143; auf Franken beschränkt: Andreas Kraus: Gestalten und Bildungskräfte des fränkischen Humanismus. In: Handbuch der bayerischen Geschichte III/1. Begründet von Max Spindler, neu hg. von Andreas Kraus. München 1997, S. 994–1053, hier S. 996f. Borchardt: Humanismus in Franken (wie Anm. 64), S. 238f. Treml: Humanistische Gemeinschaftsbildung (wie Anm. 36), S. 36f.

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Was das wert war, zeigt der Vergleich mit städtischen Ordensklöstern, in denen der Humanismus ebenfalls frühe, aber flüchtigere Spuren hinterlassen hat.81 In Humanistenkorrespondenzen tauchen einige Briefschreiber auf, die das Mönchsgelübde abgelegt haben, die wenigsten unter ihnen waren aber einfache Mönche;82 diesen hätte die Ordensregel die Teilhabe an der humanistischen Geselligkeit und den Freiraum für die humanistischen Studien auch arg erschwert. Wenn der Humanismus in städtischen Klöstern Eingang fand, dann eher an der Spitze ihrer Hierarchie. Auffallend ist die relativ hohe Empfänglichkeit in Benediktinerabteien,83 wobei das Kloster Sponheim unter dem Abt Johannes Trithemius (1462–1516) das bekannteste Beispiel sein dürfte.84 Benediktinischer Bildungshunger allein vermag dieses Phänomen nicht zu erklären. Entscheidende Impulse kamen wohl vielerorts von außen, gehörten doch die alten deutschen Benediktinerklöster wegen ihrer Bücherschätze schon im frühen 15. Jahrhundert zu den begehrtesten Jagdgründen italienischer Humanisten. Kontaktmöglichkeiten waren dadurch in ungleich stärkerem Maß gegeben als in anderen Abteien. Neben Domstiften und Klöstern mauserten sich auch einzelne Pfarreien zu Nischen humanistischer Gelehrsamkeit. Wenn sich Weltgeistliche im Pfarramt für humanistische Studien erwärmen konnten, dann meist in Zusammenhang mit prestigeträchtigeren Nebentätigkeiten, sei es als städtische Gesandte oder Sekretäre, als Hofprediger oder bischöfliche Räte oder als Professoren der Rhetorik.85 Eine städtische Pfarrei konnte also im besten Fall eine solide Pfründe abwerfen und wenig Aufwand abverlangen, so dass genug Zeit und Geld für humanistische Studien blieb.

5. 4. Fürstliche Residenzstädte und Kaiserhof In Residenzstädten ging die Anziehungskraft auf den Humanismus in der Regel vom Hof, nicht vom Patriziat aus. 86 Den vorreformatorischen Humanisten boten ––––––––– 81

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Zur problematischen Kategorie des „Klosterhumanismus“ vgl. die differenzierte Betrachtung bei H. Müller: Habit und Habitus, S. 39–48 (wie Anm. 13); zur Beziehung von frühhumanistischer und monastischer Kultur in Augsburg vgl. die ebenso kritische wie detaillierte Analyse von Klaus Graf: Ordensreform und Literatur in Augsburg während des 15. Jahrhunderts. In: Literarisches Leben in Augsburg während des 15. Jahrhunderts. Hg. von Johannes Janota und Werner Willams-Krapp. Tübingen 1995 (Studia Augustana 7), S. 100–159. Treml: Humanistische Gemeinschaftsbildung (wie Anm. 36), S. 37. In Tremls Korrespondenzenanalyse waren von 28 Ordensgeistlichen 13 Benediktiner; ebd. Zu Trithemius vgl. Harald Müller: Graecus et fabulator. Johannes Trithemius als Leitfigur und Zerrbild des spätmittelalterlichen „Klosterhumanisten“. In: Inquirens subtilia diversa. Dietrich Lohrmann zum 65. Geburtstag. Hg. von Horst Kranz und Ludwig Falkenstein. Aachen 2002, S. 201–223. Treml: Humanistische Gemeinschaftsbildung (wie Anm. 36), S. 36. Vgl. etwa die gründliche Analyse von Alois Schmid zur Residenzstadt München, in der sich das Patriziat im Vergleich zum Hof dem Humanismus gegenüber äußerst passiv verhielt; Alois Schmid: Stadt und Humanismus. Die bayerische Haupt- und Residenzstadt München. In: Humanismus und höfisch-städtische Eliten (wie Anm. 75), S. 239–278.

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geistliche Fürstenhöfe oft eine attraktivere Bühne als weltliche. Gründe dafür gibt es mehrere: Bischöfe und ihre Entourage wiesen um 1500 noch ein deutlich höheres Bildungsniveau auf als ihre weltlichen Pendants und kamen durch ihre weit gespannten kirchlichen Beziehungen stärker mit dem italienischen Humanismus in Berührung; zudem waren die meisten geistlichen Höfe sesshafter und durch die Ortsgebundenheit des Doms stärker mit ihrer Residenzstadt verwachsen, was den Aufbau einer humanistischen Klientel begünstigte. 87 Für die Leitfiguren der ersten zwei deutschen Humanistengenerationen, Rudolf Agricola (1444–1485) und Conrad Celtis (1459–1508), wurde das Fürstbistum Worms unter Bischof Johann von Dalberg (1455–1503) zu einem Förderzentrum ersten Ranges und später fand sogar Ulrich von Hutten (1488–1523) in der Person Albrechts von Mainz einen geistlichen Dienstherrn, dessen großzügig gewährten Freiraum er unter anderem für literarische Hetzkampagnen gegen die Kurie nutzte. 88 Unter den weltlichen Höfen im Reich stellte in den drei Jahrzehnten vor der Reformation einer alle anderen in den Schatten: der Kaiserhof.89 Friedrich III. hatte den Humanismus hoffähig gemacht, Maximilian I. den Hof humanismusfähig. Um die Bedeutung des habsburgischen Hofes für die Humanisten in den oberdeutschen Städten zu ermessen, ist die Unterscheidung zwischen „engerem“ und „weiterem“ Hof hilfreich.90 Zum engeren Hof gehörte jenes buntscheckige Personal aus Adligen, Dienstleuten und Verwaltungsspezialisten, das sich in unmittelbarer Nähe des Kaisers befand und für die tägliche Abwicklung der politischen Geschäfte, logistischen Aufgaben und gesellschaftlichen Anlässe gebraucht wurde. Hier konnten Humanisten als Prinzenerzieher,91 in der ––––––––– 87

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Jörg Wettlaufer: Zwischen Konflikt und Symbiose. Überregionale Aspekte der spannungsreichen Beziehung zwischen Fürstenhof und Stadt im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit. In: Der Hof und die Stadt (wie Anm. 26), S. 19–33, hier S. 21. Bevor Hutten in den Mainzer Hofdienst eintrat, hatte er schon enge Kontakte zu den geistlichen Höfen in Bamberg und Würzburg. Der kurfürstliche Hof zu Mainz blieb auch nach der Reformation ein Zentrum des Humanismus, wenn auch die große Schar der jungen lutherischen Humanisten wegfiel und sich vornehmlich in Wittenberg und Erfurt konzentrierte. Noch 1530 etwa ernannte Albrecht den aus dem Erfurter Humanistenkreis stammenden Crotus Rubeanus (1480–1545) zu seinem Rat; zu Huttens kritischen Reflexionen über das Verhältnis von Humanisten und Hof vgl. Dieter Mertens: Der Preis der Patronage. Humanismus und Höfe. In: Funktionen des Humanismus. Hg. von Thomas Maissen und Gerrit Walther. Göttingen 2006, S. 125–154, hier S. 139–144. Zum Humanismus am Hof Maximilians I. vgl. die hervorragenden Ausführungen ebd., S. 149–154, sowie Jan-Dirk Müller: Gedechtnus. Literatur und Hofgesellschaft um Maximilian I. München 1982 (Forschungen zur Geschichte der älteren deutschen Literatur 2). Zu dieser Unterscheidung, die schon in spätmittelalterlichen Quellen nachweisbar ist, vgl. die zurzeit wohl kompakteste Beschreibung des mittelalterlichen und neuzeitlichen Hofes bei Aloys Winterling: „Hof“. Versuch einer idealtypischen Bestimmung anhand der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Geschichte. In: Hof und Theorie. Annäherungen an ein historisches Phänomen. Hg. von Reinhardt Butz, Jan Hirschbiegel und Dietmar Willoweit. Köln, Weimar, Wien 2004 (Norm und Struktur 22), S. 77–90, hier S. 79ff. Als „praefectus studii“ wirkten Humanisten auch an anderen weltlichen Höfen: in Heidelberg etwa Reuchlin und in München Aventin; Mertens: Der Preis der Patronage (wie Anm. 88), S. 150; Treml: Humanistische Gemeinschaftsbildung (wie Anm. 36), S. 17f.

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Kanzlei oder im kaiserlichen Rat Karriere machen, wobei ein Doktorat in Jurisprudenz ihre Chancen deutlich erhöhte. Für den deutschen Humanismus weit bedeutsamer war jedoch der weitere Kaiserhof. Ihm lassen sich jene gelehrten und politischen Eliten zuordnen, die aus räumlicher Distanz – von der Universität Wien bis zu Reichsstädten königsnaher oder königsoffener Landschaften 92 – in die Herrschaftspraxis eingebunden wurden. Ihr Dienst erfolgte unabhängig vom politischen Tagesgeschäft und galt, gerade von gelehrter Seite, häufig repräsentativen Zwecken. Humanisten, die dem weiteren Kaiserhof angehörten, empfingen vom Kaiser in der Regel keine festen Pensionen und erledigten für ihn keine Routinearbeit, sondern wurden mit „Spezialaufgaben“ betraut, etwa rechtsgeschichtlichen Gutachten, Reichstagsreden, Beratungsmandaten oder diplomatischen Missionen. 93 Der notorisch von Geldsorgen geplagte Maximilian gab ihnen dafür lieber Titel und Ehre als Geld. Ihre wohl wichtigste Funktion bestand jedoch in der informellen Vermittlungstätigkeit zwischen dem Kaiserhof und den reichsstädtischen Machtträgern und Künstlern. Maximilian fand in den reichsstädtischen Humanisten wirkungsvolle Propagatoren einer im Kaisertum verankerten deutschen Nation 94 und Kunstagenten für seine ambitiösen Ruhmesprojekte95 und die Stadtregierungen nutzten sie als Fürsprecher ihrer Interessen in Zeiten der expandierenden fürstlichen Territorialherrschaft und der grassierenden kaiserlichen Schuldenwirtschaft. Ein Conrad Peutinger (1465– 1547) in Augsburg, ein Sebastian Brant (1458–1521) in Straßburg, ein Ulrich Zasius (1461–1535) in Freiburg oder ein Willibald Pirckheimer (1470–1530) in Nürnberg verdankten ihre einflussreiche Stellung in der kommunalen Politik maßgeblich den guten Beziehungen zum habsburgischen Hof, ja zu Maximilian ––––––––– 92

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Peter Moraw zählt zu den königsnahen Landschaften des spätmittelalterlichen Reichs Franken, Mittelrhein-Untermain, Teile Schwabens und „dahinschwindend“ den Saale-Mittelelbe-Raum, zu den königsoffenen Landschaften Oberrhein und oberer Niederrhein, während er ganz Norddeutschland den königsfernen Gebieten zuordnet; Peter Moraw: Von offener Verfassung zu gestalteter Verdichtung. Das Reich im späten Mittelalter 1250–1490. Berlin 1989, S. 175. Eine Sonderstellung nahmen die Humanisten am „collegium poetarum et mathematicorum“ ein, das Maximilian 1501 für Conrad Celtis gestiftet hatte und an dem dieser seine letzten sieben Lebensjahre verbrachte. Sie gehörten nicht dem engeren Hof an, waren aber im Unterschied zu den Mitgliedern des weiteren Hofes fest besoldet. Vgl. Caspar Hirschi: Vorwärts in eine neue Vergangenheit. Funktionen des humanistischen Nationalismus in Deutschland. In: Funktionen des Humanismus (wie Anm. 88), S. 362– 395, hier S. 383–389. Wie Martin Warnke gezeigt hat, wurde die Tätigkeit der Humanisten als städtische Kunstagenten für den Hof im 16. Jahrhundert zu einem verbreiteten Phänomen: „Konrad Peutinger und Willibald Pirckheimer haben in Augsburg und Nürnberg für Kaiser Maximilian fast die Funktion von Kunstagenten ausgeübt. Erasmus und Thomas Morus haben Holbein den Weg an den englischen Hof bereitet. […] Eine neue Stufe hat die humanistische Zuständigkeit in Kunstfragen mit Pietro Aretino erreicht. Seine briefliche Kunstschriftstellerei suchte ihre Zwecke über Konjunkturen einer öffentlichen Meinung bei europäischen Fürsten durchzusetzen. Aretino hat nicht nur Künstler wie Rosso Fiorentino, Sebastiano Serlio und Francesco Salviati an Franz I. nach Frankreich vermittelt und Tizian den Weg zu Karl V. geebnet, sondern er hat auch das Verfahren entwickelt, Künstler ‚aufzubauen‘.“ Warnke: Hofkünstler (wie Anm. 27), S. 111.

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selbst. 96 In politischer wie kultureller Hinsicht wirkten sie als Höflinge in der Bürgerschaft und als Bürger am Hof.

5. 5. Universitätsstädte Auch bei ihren Versuchen, sich an den Universitäten zu installieren, konnten Humanisten auf fürstliche Unterstützung zählen. Von wenigen Ausnahmen wie Basel97 und Erfurt abgesehen, wo die Universität eine kommunale Institution war, erfolgte die Einführung humanistischer Lekturen und später die Einrichtung humanistischer Lehrstühle auf landesherrliche Initiative hin. In Tübingen sorgte schon die erste landesherrliche Ordnung von 1481 „für einen, der in oratoria lyset“, 98 in Ingolstadt forderte der bayerische Herzog 1487 eine ordentliche Lektur für Poesie, die er 1494 mit Conrad Celtis99 und nach dessen Berufung nach Wien 1498 mit Jacob Locher „Philomusus“ besetzte, und in Wien richtete Maximilian 1501 speziell für Celtis das „Collegium poetarum et mathematicorum“ ein – als Zuchtstätte einer neuen Bildungselite humanistisch-platonischer Couleur. Mit der Förderung eines universitären Humanismus konnten Fürsten gleich drei Fliegen auf einen Streich schlagen: Ihre Herrschaft erhielt durch regelmäßige Lobreden einen antikischen Glanz, ihr angehendes Gesandten- und Kanzleipersonal wurde für das diplomatische Parkett gerüstet und die auf ihre Autonomie pochende Universität geriet dank der humanistischen Klientel stärker unter ihre Kontrolle. Entsprechend spannungsgeladen konnte die Integration des Humanismus innerhalb der Universitäten ablaufen, zumal viele Poeten noch ohne Universitätsabschluss, dafür mit diffusen fürstlichen Ersatztiteln zu ihrer Lehrerlaubnis gelangten und es für angebracht hielten, nach ihrer Ernennung sogleich zu polemischen Seitenhieben gegen die etablierte Professorenschaft auszuholen.100 So erstaunt es kaum, dass die wenigsten humanistischen Poeten über eine mehr geduldete als geschätzte Randstellung in der artistischen Fakultät hi––––––––– 96

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Alle vier waren von Maximilian I. zu kaiserlichen Räten ernannt worden. Brant, Peutinger und Zasius zeichneten als Stadtschreiber und Pirckheimer als städtischer Rat u. a. maßgeblich für die kommunale Außenpolitik verantwortlich; Dieter Mertens hat, einem Lapsus des Kaisers folgend, treffend von einem „Pirkinger-Effekt“ für Maximilian I. gesprochen, um die vielfältigen Dienste von reichsstädtischen Honoratioren wie Peutinger und Pirckheimer für den Kaiserhof zusammenzufassen; Mertens: Der Preis der Patronage (wie Anm. 88), S. 152. An die Universität Basel wurde schon 1464 der genuesische Frühhumanist Petrus Antonius berufen, um „in poetrye ze lesen“; Bonjour: Die Universität Basel (wie Anm. 77), S. 95. Gustav Bauch: Die Universität Erfurt im Zeitalter des Frühhumanismus. Breslau 1904, S. 22f.; Treml: Humanistische Gemeinschaftsbildung (wie Anm. 36), S. 26. Zu Celtis’ eigener ehrgeiziger Lobbyarbeit bei den bayrischen Herzögen und beim Pfalzgrafen bei Rhein für einen Universitätshumanismus vom Rang der Jurisprudenz und Theologie vgl. Hirschi: Wettkampf der Nationen (wie Anm. 30), S. 305f. Die berühmteste und brillanteste Polemik dieser Art in Deutschland stammt von Conrad Celtis: Oratio in gymnasio in Ingelstadio publice recitata. In: ders.: Panegyris ad duces Bavariae. Hg. und übersetzt von Joachim Gruber. Wiesbaden 2003 (Gratia 41), S. 16–41.

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nausgelangten. Und da die Diskrepanz zwischen Anspruch und Realität auf Dauer schwer auszuhalten war, herrschte auf den humanistischen Lekturen häufig hohe Fluktuation.

5. 6. Lehrer und Stadtschreiber Im Vergleich zu den Fürstenhöfen war das Angebot an kommunalen Ämtern karg. Für die Gründung von humanistischen Gymnasien zur Feder zu greifen galt zwar als edel und ehrenvoll,101 entschieden weniger prestigiös war es aber, an ihnen, wenn sie denn gegründet wurden, zu unterrichten. Was für Intellektuelle allgemein gilt, galt für Humanisten im Besonderen: Plädoyers für eine Popularisierung des eigenen Bildungssegens hatten in erster Linie legitimatorischen, nicht programmatischen Charakter. Zu viel populäre Betriebsamkeit hätte den Ruf des Humanismus als elitäres Kulturgut gefährdet. In den meisten deutschen Städten gab erst die Reformation den Anlass zu einer humanistischen Schulreform, mit dem Resultat, dass die humanistischen Fächer der religiösen Indoktrination untergeordnet wurden. 102 War damit für die ersten beiden Humanistengenerationen eine Anstellung an kommunalen Schulen noch kaum ein Thema, so blieb die Lehrtätigkeit für die nachfolgende Generation oft eine kurze Episode, abgelöst von einem lukrativeren und prestigeträchtigeren Engagement. 103 Unter den Humanisten, die ihr ganzes Leben als städtische Gymnasiallehrer verbrachten, durfte sich kaum einer zur ersten Garde der Gelehrten zählen. Ganz anders verhielt es sich mit dem Amt des Stadtschreibers (in Deutschland) bzw. Kanzlers (in Italien), das mit Abstand die ehrenvollste und einflussreichste Stellung war, die ein Humanist innerhalb der Kommune erreichen konnte. Wie für eine Karriere in einer fürstlichen Kanzlei galt auch hier eine fundierte juristische Bildung als notwendige Voraussetzung. Der Aufstieg des Humanismus in der Stadtverwaltung erfolgte auf den Schultern der Jurisprudenz. 104 Ursprünglich Geistlichen vorbehalten, wurde das Amt des Stadtschreibers im Verlauf des Spätmittelalters zu einer Domäne der Juristen. Der Stadtschreiber wirkte als Notar, er wurde von der Stadtregierung als Gesandter auf diplomatische Reisen geschickt und er besorgte die gesamte Schreibarbeit des Stadtrats, trat also nach innen wie nach außen als Stimme der Stadtregierung ––––––––– 101

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Vgl. etwa Jacob Wimpfeling: Germania (1501). Lat./dt. In: Staatslehre der frühen Neuzeit. Hg. von Notker Hammerstein. Frankfurt a. M. 1995 (Bibliothek der Geschichte und Politik 16/Bibliothek deutscher Klassiker 130), S. 9–95; Philipp Melanchthon: In laudem novae scholae (1526). In: Melanchthons Werke in Auswahl. Bd. 3: Humanistische Schriften. Hg. von Richard Nürnberger. Gütersloh 1961, S. 63–69. Anton Schindling: Die humanistische Bildungsreform in den Reichsstädten Straßburg, Nürnberg und Augsburg. In: Humanismus im Bildungswesen des 15. und 16. Jahrhunderts. Hg. von Wolfgang Reinhard. Weinheim 1984 (DFG. Kommission für Humanismusforschung. Mitteilungen 12), S. 107–120, hier S. 108. Treml: Humanistische Gemeinschaftsbildung (wie Anm. 36), S. 21. Friedrichs: The Early Modern City (wie Anm. 62), S. 185.

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auf. Für dieses weite Tätigkeitsfeld waren Humanisten als Meister der Briefund Redekunst eine ideale Besetzung. Florenz leuchtete dabei allen anderen Städten als Vorbild, hatten doch schon die Kanzler Coluccio Salutati und Leonardo Bruni mit ihren diplomatischen Schreiben weitherum für Furore gesorgt. An ihrer Arbeit für die Arnorepublik lässt sich auch ablesen, dass der Kanzler bzw. Stadtschreiber bei geschickter Amtsführung in der kommunalen Innenwie Außenpolitik zu einem bedeutenden Machtträger werden konnte.105 Zu Herrschaftszeiten Kaiser Maximilians I. etwa wirkten die meisten humanistischen Stadtschreiber oberdeutscher Reichsstädte in Personalunion auch als kaiserliche Räte. 106

5. 7. Die Stadt als neues Rom Was Humanisten für das Amt des Stadtschreibers besonders attraktiv machte, war ihre Fähigkeit, eine Stadt in ihren Schreiben als neues Rom erscheinen zu lassen. Damit verpassten sie der kommunalen Politik ein edleres Antlitz, glichen sie aber zugleich der fürstlichen Repräsentationskultur an. Im Mittelalter hatten sich die städtischen Eliten in ihrem Selbstverständnis als Haupt eines sakralen politischen Körpers noch vorrangig auf den Archetyp des biblischen Jerusalem berufen, während der Archetyp Rom (zumindest außerhalb Italiens) für die imperiale Kaiserherrschaft stand und damit in erster Linie Fürsten und Monarchen als Modell diente. Erst durch den Humanismus wurde Rom zum universalen politischen Vorbild und zum Legitimationsträger aller möglichen Machtgebilde. Wiederum gab dabei Florenz den Takt an. Salutati und Bruni stilisierten die Stadt zur einzig wahren Nachfolgerin Roms, beerbt mit ihrer singulären Freiheit und betraut mit ihrer imperialen Mission, und legitimierten damit die gewaltsame Hegemonialpolitik der Florentiner Regierung in der Toskana.107 Aber nicht nur nach außen, sondern auch nach innen strahlte eine von Humanisten geleitete Kanzlei römischen Glanz aus, etwa durch patriotische Aufrufe an die Opferbereitschaft der Bürger für ihre Stadt. Der Gehalt solcher Aufrufe war ähnlich dünn und realitätsfern wie jener der älteren städtischen Gemeinwohldiskurse, sie klangen aber entschieden militanter und „römischer“. Salutati schlug dabei einen martialischen Ton an, der seine römischen Vorbilder fast in den Schatten stellte: Wenn es für den Schutz oder die Vergrößerung des Vaterlandes nützlich ist, wäre es weder belastend, schwierig oder ein Verbrechen, wenn man seinem Vater mit der Axt

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Zu Salutatis teils riskanten diplomatischen Kampagnen, ihrer rhetorischen Gestaltung und ihrer Wirkung vgl. Hirschi: Wettkampf der Nationen (wie Anm. 30), S. 218–228. Vgl. oben Anm. 96. Vgl. oben Anm. 24 sowie Hirschi: Wettkampf der Nationen (wie Anm. 30), S. 228–236.

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den Schädel einschlägt, seine Brüder zerschmettert, oder aus dem Schoß der eigenen Frau das unreife Kind mit dem Schwert herausschneidet.108

Die rhetorische Heraufbeschwörung eines städtischen Patriotismus nach römischem Vorbild konnte der Mobilisierung gegen äußere Feinde oder der Überwindung bzw. Übertünchung innerer Konflikte dienen. Oft bemühten humanistische Stadtschreiber beide Bedrohungsszenarien, was den dramatischen Effekt ihrer Aufrufe erhöhte. So ermahnte Conrad Peutinger, Stadtschreiber von Augsburg, im Jahr 1525 den in der Religionsfrage gespaltenen und von den Bauernaufständen aufgeschreckten Großen Rat, dieser stat unserm vaterland dienstlich, nutzlich und furtraglich, auch abfall, verderben und zerstoren dieser stat in alwege widerstrebendt zu sein, und rief ihn zugleich auf, kein frembdt volk oder vergweltigung lassen einkomen.109 Ein erzieherischer Erfolg solcher Doppelappelle an den „amor patriae“ und die „defensio patriae“ ist wenig wahrscheinlich, umso mehr aber ein inszenatorischer Erfolg: Die kommunalen Oligarchen, an die diese Aufrufe primär gerichtet waren, durften sich im Hochgefühl römischer Patrizier sonnen. So isolationistisch und absolutistisch die patriotische Rhetorik humanistischer Stadtschreiber klang, auch sie war an Gemeinschaftsdiskurse gekoppelt, die die städtische Gesellschaft transzendierten: den humanistischen Regionalismus und Nationalismus. In diesen verschmolz das patriotische Liebes- und Verteidigungsmotiv mit dem adligen Ehr- und Wettkampfmotiv und viele Humanisten, die in kommunalen Diensten standen, betteten ihr städtisches Vaterland in ein regionales und nationales Vaterland ein. Die verschiedenen Loyalitäten explizit gegeneinander abzuwägen sahen sich dabei die wenigsten veranlasst, wähnten sie doch die Interessen von Stadt, Land und Nation in weitgehender Übereinstimmung. Daher konnten sie auch städtische und regionale Rivalitäten als zivilisierten Binnenwettbewerb zur Ehre der Nation inszenieren.110

5. 8. Das Städtelob als geistige Überwindung der Stadtmauern Das kulturelle und soziale Ausgreifen des Humanismus über den konkreten Stadtraum hinaus spiegelt sich auch in der humanistischen Gattung des Städte-

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Si pro illa tutanda augendave expediret, non videretur molestum nec grave vel facinus paterno capiti securim iniicere, fratres obterere, per uxoris uterum ferro abortum educere. Coluccio Salutati: Epistolario. Hg. von Francesco Novati. 4 Bde. Rom 1891–1911, hier Bd. 1, S. 28; zur Einordnung dieser Aussage in die spätmittelalterliche Rezeption des „patria“Begriffs vgl. Ernst H. Kantorowicz: Die zwei Körper des Königs. Eine Studie zur politischen Theologie des Mittelalters. München 1990, S. 253f. (engl. Erstausgabe Princeton 1957). Zit. nach Heinrich Lutz: Conrad Peutinger. Beiträge zu einer politischen Biographie. Augsburg 1958 (Abhandlungen zur Geschichte der Stadt Augsburg 9), S. 342–344. Zur „patria“ im städtischen, regionalen und nationalen Kontext im deutschen Humanismus vgl. Hirschi: Wettkampf der Nationen (wie Anm. 30), S. 107–123.

Höflinge der Bürgerschaft – Bürger des Hofes

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lobs bzw. der Stadtbeschreibung.111 Im Vergleich zu mittelalterlichen Lobrednern der eigenen Stadt orientierten sich die Humanisten wieder stärker an antiken Vorschriften 112 und Exemplaren der Gattung, wobei unter Letzteren auch hier den „laudes Romae“ eine spezielle Vorbildfunktion zukam. 113 Die Verschmelzung von antiker Formgebung und eigener Stadterfahrung veränderte die humanistische Sicht auf die Stadt und ihre Darstellung markant. Sie wurde nicht mehr als eine „geschlossene Welt, isoliert in ihren Schutzmauern“ präsentiert, wie sie Jean Lebeau noch in den Lobsprüchen Hans Sachs’ (1494–1576) auf Nürnberg vorgefunden hat, 114 sondern in ihr regionales Umland eingebettet, ja sogar in der nationalen und europäischen Geographie verortet, und dies unter Verweis auf die wechselseitigen Einflüsse und Beziehungen zwischen städtischer und ländlicher Welt.115 Diese geistige Überwindung der Stadtmauern erscheint noch umfassender, wenn man berücksichtigt, dass das humanistische Städtelob nicht selten von Autoren stammte,116 die sich in der betreffenden Stadt als Fremde aufhielten und ihre Fremdheit auch literarisch inszenierten, sei es um die „Objektivität“ ihres Lobes zu unterstreichen oder um ihre Darstellung in einen Vergleich mit anderen Stadtbeschreibungen zu setzen. Die Gattung des Städtelobs rückte damit in enge Nähe zu jener des Reiseberichts, was ihre literarische Transzendierung der städtischen Gesellschaft noch deutlicher hervortreten ließ.117 ––––––––– 111

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Zur Verschmelzung von „laus“ und „descriptio“ in den antiken und humanistischen Stadttraktaten vgl. Klaus Arnold: Städtelob und Stadtbeschreibung im späteren Mittelalter und in der Frühen Neuzeit. In: Städtische Geschichtsschreibung im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit. Hg. von Peter Johanek. Köln, Weimar, Wien 2000 (Städteforschung 47), S. 247–268, hier S. 250; Hartmut Kugler: Die Vorstellung der Stadt in der Literatur des deutschen Mittelalters. München 1986 (Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters 88), S. 32–36. Für den Aufbau des Städtelobs hatte der im 3./4. Jahrhundert n. Chr. lebende Menander Rhetor in seiner Theorie der Epideiktik ein Muster gegeben: 1.) die Lage der Stadt in der Landschaft, 2.) ihr historischer Ursprung, 3.) ihre Einrichtungen (Verfassung, Künste und Handwerk) und 4.) Sitten und Verhaltensformen der Bürger; vgl. Carl Joachim Classen: Die Stadt im Spiegel der Descriptiones und Laudes urbium in der antiken und mittelalterlichen Literatur bis zum Ende des zwölften Jahrhunderts. Hildesheim, Zürich, New York 1980, S. 16f., 65–67. Kugler: Die Vorstellung der Stadt (wie Anm. 111), S. 217f. Jean Lebeau: L’éloge de Nuremberg dans la tradition populaire et la littérature humaniste de 1447 à 1532. In: Hommage à Dürer. Strasbourg et Nuremberg dans la première moitié du XVIe siècle. Straßburg 1972 (Recherches et documents 1, 2), S. 15–35, hier S. 21f. Kugler: Die Vorstellung der Stadt (wie Anm. 111), S. 217–219. Zur neuen Dimension der historischen, geographischen und kulturellen Erfassung des Fremden im Humanismus vgl. Gerd Tellenbach: Eigene und fremde Geschichte. In: Landesgeschichte und Geistesgeschichte. Festschrift für Otto Herding zum 65. Geburtstag. Hg. von Kaspar Elm, Eberhard Gönner und Eugen Hillenbrand. Stuttgart 1977 (Veröffentlichungen der Kommission für Geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg 92), S. 295–316. Gerhard Fouquet: Mit dem Blick des Fremden: Stadt und Urbanität in der Wahrnehmung spätmittelalterlicher Reise- und Stadtbeschreibungen. In: Bild und Wahrnehmung der Stadt. Hg. von Ferdinand Opll. Linz 2004 (Beiträge zur Geschichte der Städte Mitteleuropas 19), S. 45–65, hier S. 58f.

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Caspar Hirschi

Mit ihren „laudes urbium“ brachten die Humanisten nicht, wie Historiker vermutet haben, die Interessen von vielgereisten und weitläufig vernetzten Kaufleuten zum Ausdruck, sondern griffen eher der neuen Lebenswelt der Patrizierfamilien vor, die sich auf dem umliegenden Land als adlige Rentner installieren und Anschluss an den höfischen Adel finden wollten, zugleich aber ein Standbein in der städtischen Gesellschaft (und Wirtschaft) zu behalten gedachten.118 Damit wirkte der Humanismus sogar in jener literarischen Gattung, die die Singularität der Stadt in sozialer, politischer und kultureller Hinsicht am deutlichsten herausstreichen sollte, als Agent der urbanen Verhofung und damit als auflösende Kraft der kommunalen Autonomie. Er tat dies jedoch nicht als trojanisches Pferd des fürstlichen Machtzugriffs, sondern als Brückenbauer zwischen der städtischen und der höfischen Elitenkultur. Dadurch wurde nicht nur die Stadt stärker an den Hof, sondern auch der Hof stärker an die Stadt gebunden. Erst im späten 17. Jahrhundert löste sich diese kulturgeschichtlich folgenreiche Verbindung, maßgeblich von Frankreich ausgehend, allmählich wieder auf.

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Dem entsprach, dass Patrizier oft, Kaufleute jedoch kaum je als Auftraggeber von humanistischen Lobschriften ihrer Städte auftraten.

Klaus Unterburger

Zwischen Irenik und Kontroverstheologie Der Einfluss des Humanismus auf die Ausbildung konfessioneller Wissenskulturen

1.

Humanismus und Christentum

In einem Origenes-Band der Bibliothek Konrad Peutingers1 findet sich der Eintrag, dass diesen ihm 1507 in seinem Augsburger Haus der venezianische Gesandte Vincenzo Querini, 2 der vir summae honestatis et eruditionis, übergeben habe. 3 1521 erwähnt Peutinger dann in Worms gegenüber Gasparo Contarini,4 dass er mit Querini in freundschaftlicher Verbindung gestanden habe.5 Für einen Augenblick scheint hier Licht zu fallen auf die enge Beziehung und die geistige Verwandtschaft, die nicht nur zwischen italienischem und deutschem Humanismus, sondern auch zwischen Humanismus und christlichem evangelismo bestanden hat. Bekanntlich hatten die großen Pioniere der Renaissance- und Humanismusforschung, Georg Voigt6 und Jacob Burckhardt, 7 im ––––––––– 1

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Konrad Peutinger (1465–1547), bei Studien in Italien Kontakte zum dortigen Humanismus, 1497–1534 politisch einflussreicher Stadtschreiber von Augsburg, dazu eng verbunden mit Kaiser Maximilian I. Humanistisch-reformerisch gesinnt, blieb er schließlich bei der alten Kirche: LThK3 8 (1999), Sp. 154 (Heribert Smolinsky). Vincenzo Quercini (Quirini) OSBCam (1479–1514), Humanist, venezianischer Gesandter, dann Eintritt bei den Kamaldulensern und Engagement für die Kirchenreform: LThK3 8 (1999), Sp. 776 (Karl Suso Frank). Heinrich Lutz: Vincenzo Querini in Augsburg 1507. In: ders.: Politik, Kultur und Religion im Werdeprozeß der frühen Neuzeit. Aufsätze und Vorträge. Hg. von Moritz Csáky u. a. Klagenfurt 1982, S. 30–38, hier S. 30. Gasparo Contarini (1483–1542), in Padua Freundschaft zu Pomponazzi, Quirini und Giustiniani. 1511 führte ihn ein inneres Gnadenerleben zum verstärkten Anschluss an die Theologie, besonders zur duplex iustitia-Lehre, seit 1518 im Dienst der Republik Venedig, 1535 als Laie Kardinal, unter Papst Paul III. eine der Schlüsselfiguren der kirchlichen Reformbestrebungen. Seine Rechtfertigungslehre half ihm, 1541 bei den Regensburger Religionsgesprächen eine Kompromissformel mit den Protestanten zu finden: LThK3 2 (1995), Sp. 1305f. (Klaus Ganzer). Vgl. Lutz: Vincenzo Querini (wie Anm. 3), S. 30. Georg Voigt: Die Wiederbelebung des classischen Alterthums oder Das erste Jahrhundert des Humanismus. Berlin 1859. – Georg Voigt (1827–1891) arbeitete in München an der Edition der Reichstagsakten, 1860 Professur in Rostock, seit 1866 für Geschichte in Leipzig. Als einer der Pioniere der Humanismusforschung (1859 von ihm erstmals als Epochenbezeichnung verwendet) deutete er diesen als ein Zurückbesinnen auf die Antike, das den Menschen zu seinem Selbst und seiner Individualität gegenüber dem mittelalterlichen

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Klaus Unterburger

Gefolge der französischen Aufklärung ein in gewisser Hinsicht einseitiges Konzept von Humanismus entworfen. Danach habe der Mensch in der Begegnung mit der heidnischen Antike wieder zu seinem eigenen Wesen gefunden.8 Der enge bzw. engherzige Blickwinkel der ultramontanen Geschichtsschreibung – für die exemplarisch Ludwig von Pastor9 steht – hat den Humanismus noch mehr als unchristliche Strömung verzeichnet. 10 Erst nach und nach ist dieses Bild korrigiert worden. Charles Trinkaus konnte in seiner klassischen Untersuchung nachweisen, dass die von den italienischen Humanisten betonte Würde des Menschen gerade in dessen Gottebenbildlichkeit bestehe. 11 Immer deutlicher wurde zudem, wie nahe viele Humanisten ––––––––– 7

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Korporativismus befreit habe; dies bedeute den Beginn der Moderne. Mario Todte: Georg Voigt (1827–1891). Pionier der historischen Humanismusforschung. Leipzig 2004. Jacob Burckhardt (1818–1891), 1845 a. o. Professor für Geschichte in Basel, 1854–58 Professor für Kunstgeschichte in Zürich, seit 1858 dann in Basel für Geschichte und Kunstgeschichte. Durch eine Italienreise angeregt beschrieb er in seinem Werk Die Cultur der Renaissance in Italien, ausgehend von den frühkapitalistischen oberitalienischen Stadtstaaten und dem griechischen Geisteseinfluss nach dem Fall Konstantinopels 1453, den Aufstieg des modernen, individuellen Menschen in seiner vorwiegend ästhetischen Formorientierung. NDB 3 (1957), S. 36–38 (Werner Kaegi). Vgl. zu seinem Renaissancebild auch die positive Würdigung bei August Buck: Die Auseinandersetzung mit Jacob Burckhardts Renaissancebegriff. In: ders.: Studien zu Humanismus und Renaissance. Gesammelte Aufsätze aus den Jahren 1981–1990. Hg. von Bodo Guthmüller, Karl Kohut und Oskar Roth. Wiesbaden 1991 (Wolfenbütteler Abhandlungen zur Renaissanceforschung 11), S. 31–59. Heinrich Lutz: Humanismus und Reformation. Alte Antworten und neue Fragen. In: ders.: Politik (wie Anm. 3), S. 3–14, hier S. 4. Ludwig (Freiherr von) Pastor (1854–1928), 1886 a. o. und 1887 o. Professor in Innsbruck, wo er sich habilitierte. 1901–1914 und ab 1919 Leiter des Österreichischen Historischen Instituts in Rom, 1921 österreichischer Gesandter beim Hl. Stuhl. Beeinflusst von seinem Frankfurter Gymnasiallehrer Johannes Janssen fasste er früh den Plan, eine Geschichte der Päpste aus katholischer Sicht zu schreiben. Seit 1886 erschien seine dezidiert ultramontane Geschichte der Päpste seit Martin V., die ihr Entstehen zahlreichen Zuarbeitern verdankte, aber dadurch auf breiter archivalischer Basis steht: LThK3 7 (1998), Sp. 1432f. (Erwin Gatz). Vgl. etwa sein Urteil über die Katholiken der Niederlande nach dem Abgang des Herzogs Alba: „In allen diesen Teilen des Landes, namentlich in Utrecht und den östlichen Gegenden, bildeten die Katholiken noch die Mehrheit; aber infolge der Nachwirkung des erasmischen Geistes waren sie wie dieser Humanist selbst unklar, unsicher und schwach; auch fehlten ihnen, da sie ihrer Bischöfe beraubt waren, die Führer. Der Geist der katholischen Reformation war noch nicht eingedrungen.“ Ludwig von Pastor: Geschichte der Päpste seit dem Ausgang des Mittelalters. Bd. 9: Gregor XIII. (1572–1585). Freiburg i. Br. 5–71925, S. 420f. Vgl. auch seine Schilderung des Lorenzo Valla und der von ihm als heidnisch und antichristlich bezeichneten Richtung der italienischen Renaissance: ders.: Geschichte der Päpste seit dem Ausgang des Mittelalters. Bd. 1: Martin V., Eugen IV., Nikolaus V., Kalixtus III. Freiburg i. Br. 8–91926, S. 16–47, 550–558. Vgl. dazu auch: August Buck: Der italienische Humanismus. In: ders.: Studia humanitatis. Gesammelte Aufsätze 1973–1980. Festgabe zum 70. Geburtstag. Hg. von Bodo Guthmüller, Karl Kohut und Oskar Roth. Wiesbaden 1981, S. 48–67, hier S. 55f. Charles Trinkaus: In Our Image and Likeness. Humanity and Divinity in Italien Humanist Thought. 2 Bde. London 1970. Vgl. auch August Buck: Überlegungen zum gegenwärtigen Stand der Renaissanceforschung. In: ders.: Studia humanitatis (wie Anm. 10), S. 68–93.

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dem seit dem Konzil von Vienne 1311/1212 immer eindringlicher erschallenden Ruf nach einer reformatio der Kirche in capite et membris standen. Damit sollen Vielschichtigkeit und Differenziertheit des Phänomens Renaissancehumanismus nicht geleugnet werden. Unter den Humanisten des 15. und 16. Jahrhunderts lässt sich freilich an wichtigen Stationen immer wieder ein Gefühl der Gemeinsamkeit nachweisen. Dieses ist methodologisch in der gemeinsam gehandhabten philologisch-literarischen Methode und Kritik (ad fontes) in Abhebung auch zur mittelalterlichen Scholastik, inhaltlich am Interesse der Wiedergeburt der als vorbildhaft-ideal angesehenen Antike gegründet. Der Mehrzahl der Humanisten schwebte dabei das Ideal der reinen und einfachen ecclesia primitiva vor, in der die Lehre Christi, die philosophia Christi, vollkommen verwirklicht sei, verbunden mit kirchlichen Reformforderungen für die Gegenwart. Ihre Vorbilder und Bundesgenossen sahen die Humanisten in den Kirchenvätern, deren Werke sie edierten und die ihnen halfen, Antike und Christentum zu verbinden.13 Diese biblisch-humanistische Sicht arbeitete vorwiegend mit den Gegensatzpaaren Geist und Fleisch, Geist und Buchstabe oder Inneres und Äußeres, um die Differenz von altem Ideal und späterer Depravation hervorzuheben. 14 ––––––––– 12

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So in dessen Umfeld Wilhelm Durandus der Jüngere. Vgl. Heribert Smolinsky: Kirchenreform als Bildungsreform im Spätmittelalter und der frühen Neuzeit. In: ders.: Im Zeichen von Kirchenreform und Reformation. Gesammelte Studien zur Kirchengeschichte in Spätmittelalter und Früher Neuzeit. Hg. von Karl-Heinz Braun, Barbara Henze und Bernhard Schneider. Münster 2005 (Reformationsgeschichtliche Studien und Texte. Supplement 5), S. 44–61, hier S. 44. Vgl.: „Jacob Burckhardts Behauptung am Beginn der modernen Renaissanceforschung, die Religiosität der Humanisten, also der Bildungsträger der Renaissance, dürfe uns ‚gleichgültig‘ sein, ist längst widerlegt worden. Man hat erkannt, daß viele Humanisten sich intensiv mit religiös-theologischen Fragen beschäftigt haben in der Absicht, auf der Grundlage ihres neuen Menschenbildes einen Ausgleich zwischen dem ‚humanum‘ und dem ‚divinum‘ zu finden, die ‚studia humanitatis‘ und die ‚studia pietatis‘ miteinander zu verbinden.“ August Buck: Christlicher Humanismus in Italien. In: Renaissance-Reformation. Gegensätze und Gemeinsamkeiten. Hg. von August Buck. Wiesbaden 1984 (Wolfenbütteler Abhandlungen zur Renaissanceforschung 5), S. 23–34, hier S. 23: „Die weltliche Grundtendenz des Humanismus in seiner Gänze schloss im Einzelfall weder die persönliche Frömmigkeit aus noch die Reflexion über die christliche Lehre. Dabei stand im Vordergrund die Frage nach dem Verhältnis von Christentum und Antike. Eine erste Antwort auf diese Frage hatten die Kirchenväter gegeben. In ihnen glaubten die Humanisten ihre Vorläufer zu entdecken, denen sie ihr eigenes Verhältnis zur Antike unterstellten, nämlich die Respektierung der antiken Autoren als Bundesgenossen. Im Lichte der klassischen Eloquenz erschienen die Kirchenväter als christliche Klassiker, fanden Eingang in die Autoren-Kataloge der humanistischen Studienprogramme, wurden als Autoritäten zitiert, interpretiert und ediert. Trotz der zahlreichen Beziehungen zwischen der Patristik und dem Humanismus sind diese bisher von der Forschung fast völlig vernachlässigt worden, wie ganz allgemein der Einfluss der Patristik auf die abendländische Kultur noch weitgehend eine ‚terra incognita‘ darstellt. Das humanistische Interesse an den Kirchenvätern spiegeln die Bestände der Bibliotheken des 14. und 15. Jahrhunderts wider.“ Ders.: Italienischer Humanismus (wie Anm. 10), S. 55. Vgl. Cornelis Augustijn: Die Stellung der Humanisten zur Glaubensspaltung 1518–1530. In: Confessio Augustana und Confutatio. Der Augsburger Reichstag 1530 und die Einheit

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Die Hauptströmung des Humanismus reiht sich so ein in die Forderungen nach einer Reform der Kirche, in die Hoffnung nach einer geistigen Wiedergeburt der christianitas, in die Sehnsucht nach reiner und aufrichtiger Frömmigkeit. Gerade der deutsche Humanismus hatte schon im 15. Jahrhundert eine stark religiöse und allgemein gesellschaftlich und kirchlich reformerische Prägung gezeigt,15 eine Tatsache, der dann in den ersten Jahrzehnten des folgenden Jahrhunderts eine überragende Bedeutung zukam. Nahezu alle Reformatoren sind durch den Humanismus geprägt, Bernd Moeller und Robert Stupperich betonen zu Recht, dass es ohne denselben keine Reformation gegeben hätte. 16

2.

Humanismus und reformatorische Bewegung in Augsburg

Als Luther17 Ende 1517 mit seinen Disputationsthesen hervortrat, fand er seine Anhänger zunächst in der Gemeinde der Humanisten, die vor allem an seinen polemischen Schriften ihre Freude fanden. 18 Als er zum Verhör vor dem päpstlichen Legaten zum Reichstag am 7. Oktober 1518 in Augsburg eintraf, stellte er zu seiner Überraschung fest, dass die Stadt schon voller Erwartung zu ihm sprach und ihm vielfach zugejubelt wurde. Fürsorge und Gastfreundschaft gewährte ihm gerade der Kreis Augsburger Humanisten, Konrad Peutinger, der Benediktiner Veit Bild,19 die Domherren Bernhard und Konrad Adelmann von Adelmannsfelden und Christoph Langenmantel. 20 –––––––––

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der Kirche. Internationales Symposion der Gesellschaft zur Herausgabe des Corpus Catholicorum in Augsburg vom 3.–7. September 1979. In Verbindung mit Barbara Hallersleben hg. von Erwin Iserloh. Münster 1980, S. 36–48 mit Diskussion S. 49–61, hier S. 41f. Vgl. Robert Stupperich: Humanismus und Reformation. In: Humanismusforschung seit 1945. Ein Bericht aus interdisziplinärer Sicht. Hg. von August Buck. Boppard 1975 (DFG. Kommission für Humanismusforschung. Mitteilungen 2), S. 41–57, hier S. 41f. Bernd Moeller: Die deutschen Humanisten und die Anfänge der Reformation. In: Zeitschrift für Kirchengeschichte 70 (1959), S. 46–61; Stupperich: Humanismus (wie Anm. 15). Martin Luther (1483–1546), lehrte (anfangs als Augustinereremit) als Theologe an der Universität Wittenberg und entwickelte, v. a. ausgehend von Paulus, in langem Ringen seine reformatorische Theologie von der gnadenhaften Rechtfertigung des Sünders allein aus Glauben; immer mehr im Gegensatz zur alten Kirche stehend wurde seine Theologie ausgehend von Kursachsen die Grundlage des sich ausbildenden Luthertums: RGG4 5 (2002), Sp. 558–600 (Karl-Heinz zur Mühlen). Moeller: Deutsche Humanisten (wie Anm. 16), S. 50f. Vgl. besonders: „Die Humanisten sind der einzige geschlossene Kreis von Menschen, der sich schon in den ersten Jahren hinter Luther stellt, und es kann keinen Zweifel darüber geben, dass sie, die damals, lauter als ihnen zukam, die öffentliche Meinung in Deutschland repräsentierten, entscheidenden Anteil daran haben, dass die reformatorische Bewegung, gegen Luthers Willen, aus der Obskurität der Winkeluniversität Wittenberg ans Licht getragen wurde. Luthers Sache wäre ohne die Zustimmung der Humanisten nicht zum Siege gekommen.“ Ebd., S. 51. Vitus Bild (1481–1529), nach Studium in Ingolstadt und Kontakten zu Humanisten 1503 Eintritt bei den Benediktinern von St. Ulrich, wo er im Auftrag des Stifts u. a. liturgische und hagiographische Werke veröffentlichte, er war Lateinlehrer der dortigen Klosterschule.

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Dieser Augsburger Humanismus war dabei damals und noch längere Zeit religiös, aber vorkonfessionell geprägt: Man sah in Luther einen der ihren, so in seiner Verwerfung der mittelalterlichen Scholastik und in seiner Neuentdeckung der Hl. Schrift als Norm eines gereinigten christlichen Glaubens.21 Bis zum Augsburger Reichstag 1530 standen die Weichen im Ringen um eine Reform der Kirche gerade in den Kreisen der führenden Humanisten im Reich noch nicht auf Kirchenspaltung.22 Lange Zeit wurden die Differenzen aufgrund der Kontroverse zwischen Luther und Erasmus um den freien Willen überbetont; de facto waren biblischer Humanismus und reformatorische Bewegung in den 1520er Jahren vielfach kaum zu scheiden.23 Der humanistischen Prägung von Melanchthons Brücken schlagender Confessio Augustana sollte nicht vorschnell bloßes Taktieren unterstellt werden. Für Augsburg charakteristisch ist etwa der Benediktiner Veit Bild aus St. Ulrich, der in seiner Bibliothek rund 150 Lutherschriften gesammelt hatte und Versuche unternahm, mit ihm persönlich in Kontakt zu treten, ohne dass er sich deshalb bis zu seinem Tod 1529 veranlasst gesehen hätte, aus dem konfessionell noch ungespalteten Konvent auszutreten.24 Auch Konrad Peutinger ist zu nennen, der rückblickend 1525 in seinen Beratungen mit den geheimen Räten der Stadt folgendes Votum zu Luther abgab: Lutter mocht vill aus der hailigen Schrift (das etlich auss neid und geitz nit leiden möchten) herfurbracht haben, und dennocht in der heiligen Geschrift gegrondt und nit zu verwerffen, daneben mocht auch etlichs nit bestendig also verwerfflich sein. 25 Zu den humanistisch gebildeten Irenikern zählte auch der in Dillingen residierende Bischof von Augsburg, Christoph von Stadion.26 Gerade der vorrefor––––––––– 20

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Bild bewunderte zeitlebens Martin Luther und stand in Austausch mit Oekolampad: BBKL 21 (2003), S. 116–121 (Franz Posset). Herbert Immenkötter: Kirche zwischen Reformation und Parität. In: Geschichte der Stadt Augsburg. 2000 Jahre von der Römerzeit bis zur Gegenwart. Hg. von Gunther Gottlieb u. a. Stuttgart 1984, S. 291–412, hier S. 392; Friedrich Zoepfl: Bernhard Adelmann v. Adelmannsfelden und seine Brüder Hans und Konrad. In: Lebensbilder aus dem Bayerischen Schwaben 11 (1976), S. 39–45. Moeller: Deutsche Humanisten (wie Anm. 16), S. 53. Vgl. Cornelis Augustijn: Stellung (wie Anm. 14). Vgl. ebd., S. 45. Vgl. BBKL 21 (2003), S. 116–121 (Franz Posset). Zitiert nach: Lutz: Humanismus (wie Anm. 8), S. 11. – Selbst der Humanist und spätere Luthergegner Johannes Faber OP urteilte anfangs positiv: „Der Dominikanerprior urteilte in seinem Eifer wohl subjektiv, indem er vorerst wenigstens den eigentlichen Grund des Vorgehens gegen Luther in der Abneigung gegen Wissenschaften und Sprachstudien sah. Darum lässt er sich zu den unerhörten, doch damals überaus verdächtigen Worten hinreißen: ‚Die Welt scheint überdies der alten, nur allzusehr mit sophistischen Spitzfindigkeiten sich beschäftigenden Theologie müde zu sein und nach den Quellen der evangelischen Wahrheit zu lechzen. Öffnet man ihr den Zugang nicht, dann bricht sie mit Gewalt durch!‘“ Thomas Aquinas Dillis: Johannes Faber OP. In: Lebensbilder aus dem Bayerischen Schwaben 5 (1956), S. 93–111, hier S. 106f. Christoph von Stadion (1478–1543), seit 1517 Bischof von Augsburg. Vgl.: Die Bischöfe des Heiligen Römischen Reiches 1448–1648. Ein biographisches Lexikon. Hg. von Erwin Gatz. Berlin 1996, S. 678f. (Peter Rummel).

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matorische Episkopat in Deutschland weist ja eine große Zahl hervorragend humanistisch gebildeter Bischofsgestalten auf.27 Stadions Reformrede am Ende seiner im Oktober 1517 abgehaltenen Bistumssynode war ganz aus dem Enchiridion militis christiani des Erasmus von Rotterdam28 geschöpft und trat für ein humanistisch gereinigtes sittenstrenges Christentum ein.29 Seit 1528 stand Stadion mit Erasmus auch in engerer persönlicher Beziehung.30 Hinter seiner eher defensiven Politik gegen die sich in seinem Bistum immer mehr ausbreitende Reformation verbarg sich nicht einfach Zaudern, sondern ein eigenes humanistisch geprägtes kirchliches Reformkonzept: Reformen seien notwendig und den Lutheranern in Dingen, die nur menschlichen Rechts seien, Zugeständnisse zu machen. 31 Anstatt Gewalt sollte ein künftiges Konzil die Einheit bringen; als dieses in Trient tatsächlich zustande kam, stellte Stadion bitter fest, es sei 20 Jahre zu spät gekommen.32 Im Gegensatz etwa zu den bayerischen Herzögen33 erkannte er klar, dass der Klerus keiner noch strengeren Mandate bedurfte, sondern vor allem einer finanziellen Aufbesserung seiner durch die schleichende Inflation geminderten Benefizialerträge, wozu er auch durch Reformen beisteuerte. 34 Das Domkapitel hatte als Domprediger Johannes Oekolampad35 und nach dessen Weggang Urban Rhegius36 als Domprediger angestellt, beides humanis––––––––– 27

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Vgl. Alois Schmid: Humanistenbischöfe. Untersuchungen zum vortridentinischen Episkopat in Deutschland. In: Römische Quartalsschrift 87 (1992), S. 159–192; Rainald Becker: Wege auf den Bischofsthron. Geistliche Karrieren in der Kirchenprovinz Salzburg in Spätmittelalter, Humanismus und konfessionellem Zeitalter. Rom, Freiburg, Wien 2006 (Römische Quartalsschrift. Supplement 59); ders.: Bildungskarrieren im Süden. Italienische Studienwege bayerischer Bischöfe in der frühen Moderne (1448–1648). In: Römische Quartalsschrift 97 (2002), S. 301–322. Desiderius Erasmus von Rotterdam (1466/67–1536) galt als führender Humanist seiner Zeit, Studien in Paris, England und Italien, 1506 Dr. theol. in Turin, 1514–1516, 1521– 1529 und ab 1535 wirkte er in Basel, 1517–1521 in Löwen und 1529–1535 in Freiburg i. Br. Er erstrebte eine Erneuerung von Theologie und Gesellschaft aus der reinen Philosophie Christi, die er aus den Evangelien und den Schriften der frühen Kirche durch philologisch exakte Forschung zu schöpfen suchte: LThK3 3 (1995), S. 735–737 (Peter Walter). Friedrich Zoepfl: Geschichte des Bistums Augsburg und seiner Bischöfe. Bd. 2: Das Bistum Augsburg im Reformationsjahrhundert. München, Augsburg 1969, S. 12f. Vgl. ebd., v. a. S. 85–87, 90–109, 114, 171. Vgl. ebd., S. 77f. Vgl. ebd., S. 136, vgl. auch unten S. 81. Vgl. Klaus Unterburger: Das bayerische Konkordat von 1583. Die Neuorientierung der päpstlichen Deutschlandpolitik nach dem Konzil von Trient und deren Konsequenzen für das Verhältnis von weltlicher und geistlicher Gewalt. Stuttgart u. a. 2006 (Münchener Kirchenhistorische Studien 11), v. a. S. 110–180. Zoepfl: Geschichte II (wie Anm. 29), S. 33. Johannes Oekolampad (Huschin, Huszschyn), Humanist und Reformator Basels, wirkte seit 1515 in Basel, dort Dr. theol., 1518–1520 Domprediger in Augsburg, wo er begann, sich für Luther einzusetzen. Zur Klärung seiner religiösen Fragen trat er (1520–1522) in das Kloster Altomünster ein, wo seine Studien weiter der Kirche der ersten Jahrhunderte galten; 1522 ließ er sich wieder in Basel nieder, lehrte an der Universität und gab Kirchenväterübersetzungen heraus. 1525 feierte er dort erstmals das evangelische Abendmahl; er

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tisch hochgebildete Kleriker, die später in der Reformation bekanntlich eine herausragende Rolle spielten, in Augsburg aber zunächst enge Kontakte mit den humanistischen Kreisen unterhielten und noch nicht originär reformatorisch dachten. 37 Rhegius war zusammen mit dem Karmeliterprior Frosch 38 von St. Anna und dem aus dem Gefängnis des Salzburger Erzbischofs entflohenen Theologen Stephan Agricola39 in den 1520er Jahren der wichtigste Propagator des Luthertums in Augsburg; alle drei Prediger hatten eine langjährige Universitätsbildung genossen. Dass in Augsburg die Reformation nicht den typischen Verlauf einer Stadtreformation40 genommen hat, dürfte vor allem in der engen Rückbindung der Augsburger Wirtschaft mit dem Haus Habsburg begründet sein und erklärt die bis 1530 zuwartende Stellung des Rates.41 Seit Mitte der 1520er Jahre gewann die oberdeutsche Reformation zwinglianischer Prägung mehr und mehr Anhänger, für die der sehr volkstümliche Prädikant am Barfüßerkloster Michael Keller42 warb. Auch täuferische Gruppen gab es, während die Altgläubigen inzwischen klar die Minderheit bildeten. 43 ––––––––– 36

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stand in enger Verbindung zur oberdeutschen Reformation: LThK3 7 (1998), Sp. 981f. (Christoph Weismann). Urban Rhegius (Rieger) (1480–1541), Humanist und reformatorischer Theologe, 1520 in Basel Dr. theol. und Nachfolger von Oeklampadius als Domprediger in Augsburg, 1521 dort seines Amtes enthoben, 1524 aber Rückkehr als Prediger an St. Anna, 1530 als Superintendent nach Braunschweig-Lüneburg berufen: LThK3 8 (1999), Sp. 1155 (Maximilian Liebmann). In seiner Summa theologica Lutherana versuchte Rhegius den Nachweis zu führen, dass Luther kein Neuerer sei, sondern nur die alte ursprüngliche Lehre erneuere. Vgl. Maximilian Liebmann: Urbanus Rhegius und die Anfänge der Reformation. Beiträge zu seinem Leben, seiner Lehre und seinem Wirken bis zum Augsburger Reichstag von 1530 mit einer Bibliographie seiner Schriften. Münster 1980 (Reformationsgeschichtliche Studien 117), S. 147–152. Johann Frosch (ca. 1480–1533) OCarm., studierte in Wittenberg, seit 1517 Prior der Augsburger Karmeliten von St. Anna, wo er Luther bei dessen Verhör beim Kardinallegaten 1518 beherbergte. Er setzte sich in der Folge für die lutherische Lehre in Augsburg ein, wurde vom Rat deshalb als Prediger angestellt, musste aber 1531 die Stadt verlassen, da die oberdeutsche Richtung die Oberhand gewann. Darauf ging er nach Nürnberg: Matthias Simon: Johann Frosch. OCarm. In: Lebensbilder aus dem Bayerischen Schwaben 2 (1953), S. 181–196. Stephan Agricola (ca. 1491–1547) OESA, 1519 Dr. theol. und Klosterlektor in Regensburg und Rattenberg, wegen evangelischer Lehre 1522 inhaftiert, 1524 Flucht, 1525 lutherischer Prediger in Augsburg, wanderte 1531 nach Hof aus, 1543 nach Sulzbach und 1545 nach Eisleben: RGG4 1 (1998), Sp. 192 (Heinz Scheible). Vgl. hierzu das viel diskutierte und weiterentwickelte Modell in: Bernd Möller: Reichsstadt und Reformation. Göttingen 1962. Vgl. Immenkötter: Kirche (wie Anm. 20), S. 398; Bernd Roeck: Geschichte Augsburgs. München 2005, S. 110f., 113. Michael Keller (vor 1500–1548), nach Studium in Leipzig Kaplan in Wasserburg am Inn; 1524 ging er nach Wittenberg, dann nach Augsburg, wo ihn Urban Rhegius zur Predigtaushilfe heranzog, bis ihn der Rat als Prädikant am Barfüßerkloster anstellte, wo er bald Haupt des Zwinglianismus wurde. Dies führte zu Spannungen und Disputationen mit den Lutheranern. Nach dem Reichstag 1530 gewann seine Richtung vorübergehend die Oberhand. 1538–1544 war er durch Krankheiten nahezu amtsunfähig, übernahm dann aber noch die

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Nach dem Reichstag zielte die städtische Politik auf reformatorische Eindeutigkeit; nicht nur war die evangelische Partei im Rat inzwischen übermächtig geworden, die integrative, humanistisch-reformerische und irenische via media schien angesichts der politischen Situation mehr und mehr anachronistisch, auch wenn sie am Niederrhein noch lange weiterwirkte44 und als Unterströmung wohl stets in gewisser Weise präsent geblieben ist. 45 Die religiöse Spaltung im Reich, letztlich politisch durch den Gegensatz zwischen der Habsburger Kaiserkonzeption und den fürstlichen Libertäten bedingt, zeichnete sich noch vor dem endgültigen Scheitern der Religionspolitik Karls V. (1500/1519–1556) mehr und mehr ab. Doch gerade die religiös-konfessionelle Spaltung führte zu einem weiteren Aufschwung humanistischer Studien und befähigte die Theologie zu wissenschaftstheoretischen Neukonzeptionen, die zu den größten Leistungen der frühneuzeitlichen europäischen Geistesgeschichte zu rechnen sind. In Augsburg gewann zunächst mit Hilfe Straßburger Prädikanten die zwinglianisch-oberdeutsche Richtung der Reformation die Oberhand, die Straßburger Kirchenordnung wurde zum Vorbild für die Einrichtung der eigenen Kirchenverfassung.46 Die Ratsmandate von 1534 und 1538 unterdrückten bis zum Interim den altgläubigen Gottesdienst. Politische Gründe zwangen freilich zur von Martin Bucer47 in Augsburg vorbereiteten Wiederannäherung an die lutherischen Schmalkaldener durch Beitritt zur Wittenberger Konkordie 1536.48 –––––––––

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Pfarrei St. Moritz und unterstützte die reformatorische Partei in Kaufbeuren. 1548 erlag er einem dritten Schlaganfall: Wolfgang Zorn: Lebensbilder aus dem Bayerischen Schwaben 7 (1959), S. 161–172. Vgl. Horst Jesse: Die Geschichte der evangelischen Kirche in Augsburg. Pfaffenhofen 1983, S. 79–93. Zur Fortexistenz, der Eigenständigkeit und den Realisierungschancen dieser humanistischen via media am Niederrhein vgl. etwa: August Franzen: Das Schicksal des Erasmianismus am Niederrhein im 16. Jahrhundert. In: Historisches Jahrbuch 83 (1964), S. 84–112; Eckehard Stöve: Via media: Humanistischer Traum oder kirchenpolitische Chance? Zur Religionspolitik der vereinigten Herzogtümer Jülich-Kleve-Berg im 16. Jahrhundert. In: Monatshefte für Evangelische Kirchengeschichte des Rheinlandes 39 (1990), S. 115–133; Heribert Smolinsky: Jülich-Kleve-Berg. In: Die Territorien des Reichs im Zeitalter der Reformation und Konfessionalisierung. Land und Konfession 1500–1650. Bd. 3: Der Nordwesten. Hg. von Anton Schindling und Walter Ziegler. Münster 1996 (Katholisches Leben und Kirchenreform im Zeitalter der Glaubensspaltung 51), S. 86–106. Für das reformierte Basel vgl. bereits Werner Kaegi: Humanistische Kontinuität im konfessionellen Zeitalter. Basel 1954; für die Universität Löwen für die Zeit nach Erasmus verschiedene Strömungen unterscheidend: Jacques Étienne: Spiritualisme érasmien et théologiens louvanistes. Un changement de problématique au début du XVIe siècle. LouvainGembloux 1956. Vgl. Gottfried Seebaß: Die Augsburger Kirchenordnung von 1537 in ihrem historischen und theologischen Zusammenhang. In: Die Augsburger Kirchenordnung von 1537 und ihr Umfeld. Wissenschaftliches Kolloquium. Hg. von Reinhold Schwarz. Gütersloh 1988 (Schriften des Vereins für Religionsgeschichte 196), S. 33–58. Martin Bucer (1491–1551), Dominikaner in Schlettstadt und Studium in Heidelberg, 1521 Ordensaustritt und Anhänger Sickingens. Nach dessen Niederlage predigte er in Straßburg, wo er allmählich in die Führung der dortigen Reformation hineinwuchs; er wirkte durch seine Bibelauslegung und wesentlich auch bei der Schaffung einer evangelischen Gottesdienstordnung mit. Ziel war die spirituell-sittliche Durchbildung der Bürgerschaft und der

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Protestantische Wissenskultur und Humanismus

Die reformatorische theologische Position wurde nicht nur von häufig humanistisch gebildeten Männern aus dem universitären Milieu getragen. Sie zeichnete sich von Anfang an durch die Radikalisierung des humanistischen Schemas von reinem Ursprung, deformatio und reformatio aus. Seitdem Luther 1518 seine 13. Disputationsthese49 für die Leipziger Diskussion mit Johannes Eck 50 aufgestellt hatte, war in nuce eine Konzeption entwickelt, für die die Differenz zwischen der lauteren Lehre des Evangeliums und der Kirchengeschichte konstitutiv war. 51 Im Luthertum war dieses radikalisierte humanistische Prinzip zunächst mit apokalyptisch-endzeitlichen Erwartungen verbunden. Hier entscheidender ist eine zwingende Implikation dieser Sichtweise. Das philologisch exakte Schriftstudium musste in das Zentrum der Theologie, deshalb aber das intensive Studium der humaniora die conditio sine qua non für das theologische Studium werden. Von Beginn an war die reformatorische Bewegung deshalb mit intensiven Bestrebungen nach einer Reform der Bildung verknüpft. Als Philipp Melanch–––––––––

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Aufbau eines anspruchsvollen Bildungswesens (1538 Gymnasium). Von Luther und Zwingli geprägt suchte er zwischen beiden zu vermitteln; er wirkte maßgeblich mit bei der Einführung der Reformation in Ulm, Württemberg und Augsburg sowie deren Ausgestaltung in der Landgrafschaft Hessen. Mit der Einführung des Interims ging er ins Exil und wurde Theologieprofessor in Cambridge, wo er auf die Reformation unter Edward VII. Einfluss gewann: RGG4 1 (1998), Sp. 1810–1912 (Bernd Moeller). Vgl. Seebaß: Augsburger Kirchenordnung (wie Anm. 46). Vgl.: Romanam Ecclesiam esse omnibus aliis superiorem, probatur ex frigidissimis Romanorum Pontificium decretis intra CCC annos natis, contra quae sunt historiae approbatae MC annorum, textus scripturae divinae et decretum Niceni Concilii omnium sacratissimi. Martin Luther: Disputatio et excusatio F. Martini Luther adversus criminationes D. Iohannis Eccii. In: ders.: WA Bd. 2, S. 158–161, hier S. 161. Johannes Eck (1486–1543), nach Studium in Tübingen und Freiburg ab 1510 Professur für Theologie an der Universität Ingolstadt, seit 1518 der wohl wichtigste kontroverstheologische Gegenspieler Martin Luthers sowie anderer reformatorischer Strömungen, dazu Berater der bayerischen Herzöge in religionspolitischer Hinsicht: LThK3 3 (1995), Sp. 441– 443 (Heribert Smolinsky); zu seinem eher äußerlich-formal gebliebenen Verhältnis zu den humanistischen Studien vgl. Heribert Smolinsky: Reformationsgeschichte als Geschichte der Kirche. Kontroverstheologie und Kirchenreform. In: ders.: Im Zeichen (wie Anm. 12), S. 82–104. Vgl. für die Argumentation mit den Kirchenvätern durch Luther und Eck bei der Leipziger Disputation, bei welcher beide extensive Quellenkenntnisse bewiesen und die zum Ergebnis führte, dass in der Primatsfrage ein Konsens nicht zu erzielen sei: Kurt-Victor Selge: Kirchenväter auf der Leipziger Disputation. In: Auctoritas patrum. Zur Rezeption der Kirchenväter im 15. und 16. Jahrhundert. Hg. von Leif Grane, Alfred Schindler und Markus Wriedt. 2 Bde. Mainz 1993/1998 (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz. Beiheft 37 und 44), hier Bd. 1, S. 197–212. Luthers später ausgearbeitete Position wird sein, dass die Kirchenväter kein formelles Erkenntnisprinzip sind, dass sie jedoch materialiter dann die Wahrheit bezeugen, wenn sie in Übereinstimmung mit der Hl. Schrift lehren. Karl-Heinz zur Mühlen: Die auctoritas patrum in Martin Luthers Schrift „Von den Konziliis und Kirchen“ (1539). In: ebd., Bd. 2, S. 141–152.

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thon52 auf Empfehlung seines Onkels Reuchlin53 auf die Griechischprofessur an die Universität Wittenberg berufen wurde, entwickelte er in seiner Antrittsrede 1518 De corrigendis adulescentiae studiis konkrete vom Humanismus geprägte Vorstellungen einer Reform des Universitätsstudiums. Mit den alten Sprachen falle sonst auch die Theologie; das öffentliche Leben sei nicht ohne klare Kenntnisse der humaniora zu regeln, während die Theologen auch noch Hebräisch benötigten, um ad fontes, an die ungetrübten Quellen durchdringen zu können.54 An den besorgten Erfurter Humanisten Eobanus Hessus55 richteten Luther und Melanchthon gemeinsam ihr Schreiben, daß die humanistischen Studien, die für zukünftige Theologen höchst notwendig sind, nicht vernachlässiget werden dürfen: Die Theologie sei unbedingt auf die Kenntnis der Sprachen angewiesen;56 dem Humanismus komme – so Luther ein Jahr später sinngemäß an die deutschen Ratsherren in seiner berühmten Aufforderung, Schulen zu gründen – eine providentielle Rolle zu. Die Missachtung der humaniora stifte der Teufel an, da sich ohne diese weder das Gemeinwesen recht leiten noch die ––––––––– 52

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Philipp Melanchthon (Schwarzerdt) (1497–1560), geprägt von der humanistischen Reformtheologie wurde er 1518 an die Universität Wittenberg als Professor für Griechisch berufen; dort lernte er Martin Luther kennen und übernahm dessen Konzeption der Wiederentdeckung des Evangeliums. An seinem theologischen Lehrbuch Loci communes arbeitete er seit 1521 in neuen Auflagen immer weiter; auch war er an der Ausbildung des evangelisch-lutherischen Bekenntnisses maßgeblich beteiligt, v. a. auch durch seine Ausformulierung der Confessio Augustana von 1530. Nach Luthers Tod wurde er von den Gnesiolutheranern des Kryptocalvinismus beschuldigt: LThK3 7 (1998), Sp. 75–77 (Siegfried Wiedenhofer). Johannes Reuchlin (1455–1522), nach Studium in Paris, Basel, Orléans und Poitiers 1483 Rat des Grafen Eberhard im Bart von Württemberg, wirkte in der Folge als Jurist in Stuttgart. Als bedeutender Humanist erwarb er sich herausragende Sprachkenntnisse in Griechisch und Hebräisch, welche er 1520–1521 an der Universität Ingolstadt und danach in Tübingen lehrte. Im Streit um die Konfiskation jüdischer Schriften nahm er in einem Gutachten und später in den satirischen Dunkelmännerbriefen für das jüdische Eigentumsrecht Stellung: RGG4 7 (2004), Sp. 466f. (Siegfried Raeder). Vgl. Philipp Melanchthon: De corrigendis adolescentiae studiis (1518). In: Melanchthons Werke in Auswahl. Bd. 3: Humanistische Schriften. Gütersloh 1961, S. 29–42. Helius Eobanus Hessus (1488–1540), wirkte seit 1504 als Humanist und 1509–1513 auch als bischöflicher Sekretär in Erfurt, 1517 dort Professor für lateinische Dichtung. Er war gefeierter Mittelpunkt des Erfurter Humanistenkreises, seit 1521 Anhänger Luthers, 1526 an das neue Gymnasium in Nürnberg berufen, 1533 wieder Professur in Erfurt, 1536 an der Universität Marburg: RGG4 3 (2000), Sp. 1792 (Heinz Scheible). Vgl.: Uebrigens sollen dich diese eure Befürchtungen in nichts bewegen, da ihr fürchtet, daß wir Deutsche ungebildeter werden, als wir jemals gewesen seien, durch den Fall der Wissenschaften durch unsere Theologie; gewisse Leute haben auch öfters ihre Befürchtungen, wo nichts zu fürchten ist. Ich bin überzeugt, daß ohne Kenntnis der Wissenschaften die lautere Theologie durchaus nicht bestehen kann, wie sie bisher, da die Wissenschaften fielen und daniederlagen, aufs elendeste gefallen ist und daniedergelegen hat. Ja, ich sehe, daß niemals eine herrliche Offenbarung des Wortes Gottes geschehen ist, es sei denn, daß er zuvor, gleichsam als vorlaufender Täufer, den Weg bereitet habe durch aufkommende und in Blüte stehende Sprachen und Wissenschaften. Luther an Eoban Hesse in Erfurt, Wittenberg, 1523 III 29. In: ders.: WA Bd. 21, S. 491–493, hier S. 492.

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Theologie recht betreiben lasse.57 Dies war zugleich eine klare Absage an die Theorie einer unmittelbaren Erleuchtung durch den Hl. Geist unabhängig von gründlichen Studien. Das Sprachstudium und insbesondere die Pflege der Beredsamkeit, so Melanchthon vorher in seinem Encomium eloquentiae, befähigten 1.) dazu, seine Gedanken klar auszudrücken, 58 und 2.) schulten sie das Urteilsvermögen des menschlichen Geistes. Früh schon ging Luthers Bestreben deshalb dahin, säkularisierte Klostergefälle und aufgehobene Stiftungen dem Schulunterricht und dem Universitätsstudium zukommen zu lassen.59 Notwendig aus diesem Konzept ergab sich die Konsequenz, Lateinschulen zu gründen, um die Schüler auf das Universitätsstudium vorzubereiten. Nach den Lateinschulen in Magdeburg und Eisleben60 war vor allem die von Philipp Melanchthon und seinem Schüler Joachim Camerarius61 organisierte Gründung der Schule von St. Ägidien in Nürnberg einflussreich. Deren anspruchsvolles Bildungsprogramm sollte unmittelbar zum Universitätsstudium (ohne zusätzlichen Privatunterricht) befähigen, war freilich bei den Schülern lange Zeit wenig populär. Die Konzeption war dabei dreistufig: Außer einem der Religion gewidmeten Tag in der Woche galt im Wesentlichen folgender Aufbau: Erst sollten Lesen und Schreiben und die Anfänge des Lateins gelernt werden, danach stand die Grammatik im Mittelpunkt, drittens dann Stilübungen und Poetik, Rhetorik ––––––––– 57

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Vgl.: Die künste und sprachen, die uns on schaden, ja grösser schmuck, nutz, ehre und frumen sind beyde zur heyligen schrifft zuverstehen und welltlich regiment zu füren, wöllen wir verachten […] Denn der teuffel roch den braten wol: wo die sprachen erfur kemen, würde seyn reich eyn sach gewynnen, das er nicht kunde leicht wider zu stopffen. Martin Luther: An die Ratherren aller Städte deutsches Lands, daß sie christliche Schulen aufrichten und erhalten sollen. In: ders.: WA Bd. 15, S. 27–53, hier S. 36. Vgl.: Primum, nemo tam vecors est, qui non videat nobis certa quadam loquendi ratione opus esse, qua dilucide explicemus animorum nostrorum sensa, quacumque de re vel publice vel privatim agendum sit. Philipp Melanchthon: Encomium Eloquentiae. In: Melanchthons Werke in Auswahl. Bd. 3: Humanistische Schriften (wie Anm. 54), S. 43–62, hier S. 44f. Vgl.: Aus den bettel klöstern ynn stedten weren gutte schulen fur knaben und meydlen zu machen, wie sie vor zeytten gewesen sind. Martin Luther: Ordnung eines gemeinen Kasten (1523). In: WA Bd. 15, S. 11–30, hier S. 15. Vgl. Gerhard Müller: Philipp Melanchthon zwischen Pädagogik und Theologie. In: Humanismus im Bildungswesen des 15. und 16. Jahrhunderts. Hg. von Wolfgang Reinhard. Weinheim 1984 (Mitteilung der Kommission für Humanismusforschung 12), S. 96–106, hier S. 100f. Zur Verbindung von eruditio und pietas in dieser Schulordnung vgl.: „Erst am Schluß dieser Ordnung wird der enge Zusammenhang von Bildung und Religion betont […] Dabei geht es ihm nicht darum, die Kinder zu Minitheologen zu machen, sondern er will sie mit echter Frömmigkeit vertraut machen, damit sie diese von falscher zu unterscheiden vermögen.“ Ebd., S. 100f. Joachim Camerarius (1500–1574) studierte in Leipzig, Erfurt und Wittenberg, wo er Freundschaft mit Melanchthon schloss. 1522 Professor für Rhetorik und 1525 für Griechisch in Wittenberg, 1526 Schulrektor in Nürnberg, 1535 Professor in Tübingen, 1541 in Leipzig. Er verfasste zahlreiche Editionen und Kommentare zu lateinischen und griechischen Klassikern; die evangelische Lehre fasste er in griechischen Katechismen zusammen: RGG4 2 (1999), Sp. 43 (Heinz Scheible).

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und Dialektik sowie die Anfänge des Griechischen.62 Eruditio und pietas gehörten für Melanchthon als Erziehungsziele zusammen;63 der Lehrer müsse nicht nur sorgfältig arbeiten, sondern sich auch für Gottesdienst und Ehre einsetzen. 64 Die Hochschätzung und Neuorganisation der humanistischen Studien im Dienste der Theologie beschränkte sich nicht nur auf das Luthertum. In Zürich griff Zwingli65 massiv über den Rat in das Schulwesen ein. Vorbereitet durch seine Programmschrift 152366 reorganisierte er den Lateinschulunterricht am Großmünster zu Unserer Lieben Frau. Auch ein Lehrer für Hebräisch und Griechisch wurde 1525 mit Jakob Ceporin67 und dann mit Konrad Pellikan 68 angestellt. Die drei Klassen gipfelten hier in einer höchsten, vierten, die die seit 1520 betriebene kursorische Bibelexegese auf eine institutionelle Basis stellte und die sog. „Züricher Prophezey“ entstehen ließ, die zur Umerziehung und Hebung der Klerikerbildung diente, ein Universitätsstudium freilich nicht ersetzen wollte. Im urchristlichen Prophetenamt kulminierten für Luther wie für Zwingli im Anschluss an 1 Kor 14, 23–36 die verantwortliche und kontrollierte Schriftauslegung, die emanzipatorisch jedem mündlichen Christen offenstand, freilich der philologisch exakten Anstrengung des Begriffs als Hilfsmittel bedurfte.69

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Vgl. Anton Schindling: Die humanistische Bildungsreform in den Reichsstädten Straßburg, Nürnberg und Augsburg. In: Humanismus im Bildungswesen (wie Anm. 60), S. 107–120, v.a. S. 109f. Vgl. Müller: Melanchthon (wie Anm. 60), S. 104f. Vgl. ebd., S. 101. Huldrych Zwingli (1484–1531), nach humanistischen und theologischen Studien 1518 Leutpriester am Großmünster in Zürich; spätestens seit dieser Zeit verwandelte sich seine Position von einer humanistischen in eine reformatorische; er wurde Anführer der reformatorischen Bewegung in Zürich, die in drei Disputationen vor dem Züricher Rat gegen die Altgläubigen und die Täufer die Oberhand gewann. In theologischer und kirchenpolitischer Hinsicht legte er die Grundlagen für die reformierte Gestalt des Protestantismus: RGG4 8 (2005), Sp. 1945–1955 (Emidio Campi). Huldrych Zwingli: Quo pacto ingenui adolescentes formandi sunt, Praescriptiones pauculae, Huldricho Zwinglio autore. In: ders.: Sämmtliche Werke. Bd. 2. Leipzig 1908 (Corpus reformatorum 89), S. 536–551. Jakob Ceporinus (Wiesendanger) (1500–1525) lehrte 1518 in Wien Jura und galt als exzellenter Gräzist, bei einem Studienaufenthalt in Ingolstadt erwarb er bei Reuchlin Hebräischkenntnisse. 1522 erhielt er auf Betreiben Zwinglis eine Lehrstelle in Zürich für diese beiden Sprachen, 1525 an der Prophezey. Christoph Riedweg: Ein Philologe an Zwinglis Seite. In: NZZ Nr. 100, Jg. 87, 29.04.2000, Beilage Literatur und Kunst, S. 1–4. Konrad Pellikan (Kürschner) (1478–1556) OFM, nach Studien in Heidelberg und Tübingen verfasste er das erste Lehrbuch des Hebräischen, das von einem Christ geschrieben war. Seit 1515 half er Erasmus von Rotterdam bei der Edition der Kirchenväter, seit 1519 Guardian in Basel, wo er sich der reformatorischen Bewegung anschloss, dort 1523 Theologieprofessor, seit 1526 an der Prophezey in Zürich: RGG4 6 (2003), Sp. 1086 (Siegfried Raeder). Vgl. Ulrich Gäbler: Huldrych Zwingli. Eine Einführung in sein Leben und sein Werk. München 1983, S. 92f.; Martin Brecht: Martin Luther. Bd. 2: Ordnung und Abgrenzung der Reformation 1521–1532. Stuttgart 1986, S. 140–143.

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Auch im Straßburg Martin Bucers wurde 1526 in den Gebäuden des ehemaligen Dominikanerklosters eine Lateinschule eingerichtet;70 bekanntlich wird die Reformation in Straßburg gerade als „humanistische Reformation“ bezeichnet.71 Straßburg war ja in den 1530er Jahren Vorbild in der Einrichtung des Augsburger Kirchen- und Schulwesens, 72 aber auch später beispielsweise für das Gymnasium in Lauingen. 73 Die Gründung der städtischen Lateinschule von St. Anna – frühere Pläne eines Gymnasiums des Humanisten und erst späten Luthergegners Johannes Faber74 scheiterten am Tode Kaiser Maximilians75 – war gerade von den zwinglischen Prädikanten gefordert worden. In der Folge dürften dann Melanchthons Ideen aber ebenfalls einen gewissen Einfluss ausgeübt haben. 76 Die mittelalterlichen Universitäten waren bekanntlich keine Stätten der Ausbildung des Seelsorgeklerus. Innerhalb weniger Jahrzehnte einen weitgehend verarmten und rein praktisch angelernten Klerus durch am Gelehrtenideal orientierte akademisch gebildete Pfarrer ersetzt zu haben, gehört zu den bedeutenden Leistungen und Spezifika der protestantischen Bekenntnisse in Deutschland.77 Die übergetretenen katholischen Geistlichen wurden zunächst durch Postillen, Katechismen und Visitationsbücher weitergebildet, das Bildungsniveau wurde durch theologische Examina schrittweise angehoben,78 so dass schließlich um ––––––––– 70 71

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Martin Greschat: Martin Bucer. Ein Reformator und seine Zeit. München 1990, S. 92. Die Geschichte des Christentums. Bd. 8: Die Zeit der Konfessionen (1530–1620/30). Hg. von Marc Venard, deutsche Ausgabe bearb. von Heribert Smolinsky. Freiburg, Basel, Wien 1992, S. 54. Vgl. Rolf Kießling: Gymnasium und Lateinschule. In: Die Universität Dillingen und ihre Nachfolger. Stationen und Aspekte einer Hochschule in Schwaben. Festschrift zum 450jährigen Gründungsjubiläum. Hg. von Rolf Kießling. Dillingen a. d. Donau 1999 (Jahrbuch des historischen Vereins Dillingen an der Donau 100), S. 251f. Vgl. ebd., S. 259–262. Wie Anm. 25. Vgl. ebd., S. 96. Vgl. Karl Köberlin: Geschichte des Hum. Gymnasiums bei St. Anna in Augsburg von 1531 bis 1931. Zur Vierhundertjahrfeier der Anstalt. Augsburg 1931; 1531–1981. 450 Jahre Gymnasium bei Sankt Anna in Augsburg. Friedberg-West 1981. Vgl.: „Während die evangelische Geistlichkeit mindestens seit Ende des 16. Jahrhunderts ihre Ausbildung an der Universität erhielt, war das für den katholischen Klerus auch nach dem Tridentinum keineswegs üblich.“ Luise Schorn-Schütte: Die Geistlichen vor der Revolution. Zur Sozialgeschichte der evangelischen Pfarrer und des katholischen Klerus am Ende des Alten Reiches. In: Deutschland und Frankreich im Zeitalter der französischen Revolution. Hg. von Helmut Berding, Etienne François und Hans-Peter Ullmann. Frankfurt a. M. 1991, S. 216–244, hier S. 225; Friedrich Roth: Der Einfluß des Humanismus und der Reformation auf das gleichzeitige Erziehungs- und Schulwesen bis in die ersten Jahrzehnte nach Melanchthons Tod. Halle 1898, S. 53. Vgl. Luise Schorn-Schütte: Evangelische Geistlichkeit in der Frühneuzeit. Deren Anteil an der Entfaltung frühmoderner Staatlichkeit und Gesellschaft. Dargestellt am Beispiel des Fürstentums Braunschweig-Wolfenbüttel, der Landgrafschaft Hessen-Kassel und der Stadt Braunschweig. Gütersloh 1996 (QFRG 62), S. 217f.; Thomas Kaufmann: Universität und lutherische Konfessionalisierung. Die Rostocker Theologieprofessoren und ihr Beitrag zur theologischen Bildung und kirchlichen Gestaltung im Herzogtum Mecklenburg zwischen 1550 und 1675. Gütersloh 1997 (QFRG 66), S. 325f.

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1600 beinahe jeder protestantische Geistliche an einer Universität studiert hatte, freilich noch ohne zwingend vorgeschriebenen akademischen Grad.79 In den Studienplänen standen neben der reformatorischen Dogmatik die exegetischen Disziplinen unter Verwendung der Originalsprachen, aber auch die Auslegung der Kirchenväter im Mittelpunkt.80 Die Universitätstheologie diente im Protestantismus der Umsetzung der im Evangelium bezeugten Heilsbotschaft. In ihr war so methodisch und inhaltlich der Humanismus in modifizierter, aber breitenwirksamer Weise lebendig geblieben. Die zumeist konfessionelle Zielsetzung erwies sich wissenschaftsgeschichtlich durchaus als innovationsfördernd. Das reformatorische sola scriptura implizierte als einzigen Weg der theologischen Wahrheitsfindung die philologisch exakte wissenschaftliche Schriftauslegung und machte neben der Kenntnis der alten Sprachen die genaue Kenntnis des Triviums erforderlich. Philipp Melanchthon wandte zur ordnenden Durchdringung der in der Hl. Schrift bezeugten Heilsbotschaft erstmals systematisch die humanistische Methode der topoi, lateinisch loci, also der Ordnung nach systematischen zentralen Allgemeinbegriffen, an, 81 die schon Erasmus von Rotterdam zur Auslegung von Texten empfohlen hatte. 82 Im Gegensatz zu profanen Texten sind die Aussagen der theologischen doctrina für ihn dabei zentral durch das Begriffspaar lex und evangelium strukturiert:83 Wird durch das Gesetz die Sünde des Menschen aufgedeckt, so durch das Evangelium die promissio gratiae oder misericordia dei,84 die im Leser timor und consolatio als affektive Antwort induzieren sollten.85 Zu diesen theologischen Zentralbegriffen wird der jeweilige Schriftbeweis geführt; die Väter kamen als Autorität hingegen nur insoweit in Frage, wie sie schriftgemäß lehrten. Hier liegen die Anfänge der wissenschaftlichen Dogmatik.86 ––––––––– 79 80 81 82 83 84

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Vgl. Kaufmann: Rostocker Theologieprofessoren (wie Anm. 78), S. 339–349; Brecht: Martin Luther. Bd. 2 (wie Anm. 69), S. 253–273. Für Rostock vgl. Kaufmann: Rostocker Theologieprofessoren (wie Anm. 78), S. 253; vgl. auch Roth: Einfluß (wie Anm. 77), S. 53–57. Heinz Scheible: Philipp Melanchthon. Eine Biographie. München 1997, S. 140–142. Vgl. Peter Walter: Theologie aus dem Geist der Rhetorik. Zur Schriftauslegung des Erasmus von Rotterdam. Mainz 1991 (STP 1), S. 189–194. Vgl. Scheible: Philipp Melanchthon (wie Anm. 81), S. 138–140. Vgl.: Sicut lex est, qua recta mandantur, qua peccatum ostenditur, ita evangelium est promissio gratiae seu misericordiae dei adeoque condonatio peccati et testimonium benevolentiae dei erga nos, quo testimonio certi animi nostri de benevolentia dei credant sibi condonatam omnem culpam et erecti ament, laudent deum, exhilarentur et exultent in deo, ut infra de vi evangelii dicemus. Melanchthon: Loci communes rerum theologicarum seu Hypotyposes theologicae, 1521. In: Melanchthons Werke. Bd. 2, 1. Gütersloh 1952, S. 1–163, hier S. 67. Vgl.: Quos ad eum modum terruit conscientia, ii haud dubie ad desperationem adigerentur, id quod in damnatis usu venit, nisi promissione gratiae ac misericordiae dei (quam evangelium dici constat) sublevarentur et erigerentur. Hic si credat afflicta conscientia promissioni gratiae in Christo, fide resuscitatur et vivificatur, id quod mirifice declarabunt exempla. Ebd., S. 82. Vgl. Peter Walter: Humanistische Einflüsse auf die Entstehung der Dogmatik? Ein Beitrag zur Vorgeschichte einer theologischen Disziplin. In: Dogma und Glaube. Bausteine für

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Aber auch die historische theologische Forschung empfing durch die Reformation entscheidende Anstöße, die auf lange Sicht zur vollständigen und lückenlosen Anwendung der historisch-kritischen Vernunft auf alle Urkunden des christlichen Glaubens führen sollte. Für das 16. Jahrhundert ist aber zunächst besonders das 1559 begonnene Großprojekt der Magdeburger Centurien zu nennen.87 Mit ihm sollte die theologische Wahrheitsfrage letztgültig entschieden werden, indem die Kontinuität des evangelischen Bekenntnisses88 mit der urchristlichen Heilsbotschaft und der Lehre der Väter ebenso nachgewiesen werden sollte wie die fortschreitende Entwicklung der Herrschaft des Antichrists über die sichtbare Kirche bis ins 16. Jahrhundert.89 Erstmals wurde die Lokalmethode, also die Gliederung nach Sachgegenständen (und nach Jahrhunderten), in die Kirchengeschichtsschreibung eingeführt.90 Die antirömische Perspektive behinderte die Arbeit dabei sicherlich teilweise, schärfte in anderen Bereichen hingegen aber durchaus den Blick.91 Die enge Verbindung von theologischem Wahrheits- und humanistischem Bildungsinteresse steht so am Beginn einer historisch-kritischen Beschäftigung mit der Geschichte der Kirche.92 –––––––––

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eine theologische Erkenntnislehre. Festschrift für Bischof Walter Kasper. Hg. von Eberhard Schockenhoff und Peter Walter. Mainz 1993, S. 50–68. – Mit der Neuauflage der einflussreichen Loci communes setzte sich v. a. Johannes Gropper in seinem Enchiridion christianae institutionis auseinander. Smolinsky: Reformationsgeschichte (wie Anm. 50), S. 93. Vgl. Heinz Scheible: Die Entstehung der Magdeburger Zenturien. Ein Beitrag zur Geschichte der historiographischen Methode. Gütersloh 1966; Pontien Polman: Flacius Illyricus, historien de l’église. In: RHE 27 (1931), S. 27–73. Vgl. ebd., S. 14–19. – Matthias Flacius suchte 1556 in seinem Werk Catalogus testium veritatis nicht nur die Wahrheit des Satzes vera ecclesia ac religio sunt perpetua zu zeigen, sondern auch nachzuweisen, dass die römische Kirche sich verändert habe, also nicht die wahre sei. Zentrales Argument ist ihm hier ebenso die auctoritas patrum. Vgl. Ekkehard Mühlenberg: Die Wahrheit erweist sich in Übereinstimmung mit den Vätern. In: Auctoritas patrum (wie Anm. 51), Bd. 2, S. 153–169. Vgl.: Ideam ecclesiae Domini nostri Iesu Christi ob oculos videre quasi in tabula depictam facilique labore complecti posse, res est per se iucunda et necessaria. Est fidei articulus: credere ecclesiam sanctam, catholicam; docet igitur historia eiusmodi ecclesiastica, quod omnibus aetatibus mirabili Dei clementia et potentia ministerio verbi divini colligatur et consistat ecclesia, in qua Deus est efficax; et quae in ea praecipue emineant, explicat et illustrat […] Ceu digito origines et incrementa errorum et corruptelarum historia ecclesiae ostendit ac regulam praebet recte diiudicandi gravissimas controversias et fundamenta ipsa simul suggerit […] In primis vero Antichristi initia, progressus et conatus improbos talis historia manifestat. Flacius: Praefatio in historiam ecclesiasticam, causas contexendae historiae et commemorationem utilitatum et denique quandam ipsius scriptionis formam atque rationem seu methodum. In: Die Anfänge der reformatorischen Geschichtsschreibung. Melanchthon, Sleidan, Flacius und die Magdeburger Zenturien. Hg. von Heinz Scheible. Gütersloh 1966 (Texte zur Kirchen- und Theologiegeschichte 2), S. 59–70, hier S. 64. Vgl. Scheible: Enstehung (wie Anm. 87), v. a. S. 19–40. Vgl. Polman: Flacius (wie Anm. 87), S. 55–64. Vgl.: „Für die Herauslösung der Kirchengeschichte aus der Welt- und Heilsgeschichte war entscheidend, daß die Kirchenspaltung zur schärferen, einschränkenden Fassung des Kirchenbegriffs führte. Die wahre, an bestimmten Kennzeichen erkennbare Kirche Christi wurde der falschen gegenübergestellt, mußte als solche aber auch historisch erwiesen, die Apostolizität ihrer Lehre, die Kontinuität ihres Lehramtes und das hohe Alter ihrer Einrich-

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Katholische Reform und katholische Wissenskultur

Natürlich wirkten diese Neuerungen auf die katholische Kirche zurück, die bis zur Jahrhundertmitte im Reich immer mehr in die Defensive geraten war. Zwei Problembereichen musste man sich stellen: 1. Argumentativ sah man sich dem mit historischen Argumenten belegten Vorwurf des Bruchs mit der reinen Lehre der Kirche gegenüber, wie sie in der Hl. Schrift und auch zu Beginn der christlichen Tradition bezeugt war. Der altgläubigen Theologie fiel so die Aufgabe zu, auf diese letztlich humanistische, aber reformatorisch verschärfte Kritik eine Antwort zu finden. 93 2. Dazu stellte sich im zweiten Drittel des Jahrhunderts immer schärfer das Problem eines akuten Priestermangels: Der Niederklerus war finanziell kaum mehr in der Lage gewesen, seinen Lebensunterhalt durch die Benefizialerträge zu bestreiten; der damit einhergehende Versuch, den finanziellen Druck an die Laien weiterzugeben, und die damit verbundene mangelnde Bildung der Mehrzahl der Landgeistlichen waren der Grund für den vielfach zu beobachtenden Antiklerikalismus, der sozialen Verachtung des Klerus, der die vielleicht entscheidendste Triebfeder zur Einführung der Reformation im Volk wurde.94 Ad 1.) Katholischerseits wurden verschiedene Strategien entwickelt, auf die humanistisch-reformatorische Kritik argumentativ zu reagieren. Wie Heribert Smolinsky gezeigt hat, war der Humanismus in der vorreformatorischen Universitätstheologie aus verschiedenen Gründen nicht recht heimisch geworden.95 Von den Reformatoren herausgefordert fanden humanistische Studien nun Eingang in die katholische Theologie, ja die katholischen Kontroverstheologen sahen sich oft in ihren Reformanliegen in einer Linie mit dem Humanismus.96 Gegen die „neue Lehre“ argumentierte man zunächst bibelhermeneutisch: Nahezu alle altgläubigen Kontroversisten waren sich von Beginn an einig, dass die Hl. Schrift nicht nur materiell insuffizient sei, da selber historisch-situativ entstanden, sondern auch zur Erhellung ihrer Stellen formaliter einer authentischen Interpretationsinstanz bedürfe,97 genannt seien hier Jean Driedos98 Werk –––––––––

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tungen auf Grund echter Quellen nachgewiesen werden. Dadurch erhielt die Kontroverstheologie von Anfang an einen traditionalistisch-historischen Einschlag.“ Handbuch der Kirchengeschichte. Hg. von Hubert Jedin. Bd. 1: Von der Urgemeinde zur frühchristlichen Großkirche. Freiburg, Basel, Wien 1965, S. 35 (Hubert Jedin). Vgl. ebd., S. 35f. Vgl. hierzu Unterburger: Bayerisches Konkordat (wie Anm. 33), S. 110–158. Vgl. Heribert Smolinsky: Der Humanismus an Theologischen Fakultäten des katholischen Deutschland. In: ders.: Im Zeichen (wie Anm. 12), S. 3–24. So etwa Georg Witzel mit Jean Gerson, Nikolaus von Clémanges, Nikolaus von Kues, Pico della Mirandola, Erasmus von Rotterdam u. a. Vgl. Smolinsky: Reformationsgeschichte (wie Anm. 50), S. 92. Vgl. zum Ganzen auch Pontien Polman: L’Élement Historique dans la Controverse religieuse du XVIe Siècle. Gembloux 1932, S. 284–309. Johannes Driedo(ens) (Johan Nys) (1480–1535), 1512 Dr. theol. in Löwen, dort mehrmals Dekan und Rektor, zeigte sich in Treue zur scholastischen Tradition für Studienreformen, besonders der Einbeziehung der biblischen Sprachen, aufgeschlossen. Seine augustinische

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De ecclesiasticis scripturis et dogmatibus, Albert Pigges99 Hierarchiae ecclesiasticae assertio oder als eine Art späterer Synthese Melchior Canos100 De locis theologicis. So kam dem Konsens der Väter eine wichtige Rolle zur Interpretation der Hl. Schrift zu: Nach Driedo können sich zwar einzelne von diesen geirrt haben und auch Irrtümer in historischen Fakten vorkommen, in ihrer Gesamtheit gehen sie aber in den essentiellen Glaubenswahrheiten nicht fehl, jedenfalls dann nicht, wenn sie als Zeugen der kirchlichen Wahrheiten gesprochen haben; sie sind so eine authentische Interpretationsinstanz der Hl. Schrift. 101 Es ist ohne weiteres klar, wie von hier aus die Herausforderung durch die Kontroverse mit den protestantischen Autoren das humanistische Studium der Kirchenväter, somit den Aufbau der theologia positiva, anregen musste. Schließlich konnte man nicht bei der Kenntnis der Väter durch Florilegien, Glossen, das kanonische Recht oder die Sentenzen des Lombardus stehen bleiben, sondern hatte die dogmengeschichtliche Kontinuität des Glaubens der katholischen Kirche mit dem des Urchristentums zu erweisen. Aus diesem kontroverstheologischen und zugleich humanistischen Impetus heraus entstanden zahlreiche Vätereditionen, edierte etwa Petrus Canisius102 die Werke von Cyrill von Alexandrien und Leo dem Großen;103 1557 sieht man ihn in der vatikanischen Bibliothek die Cyprian-Manuskripte kollationieren mit dem Ziel einer kritischen Neuausgabe.104 Für Jakobus Pamelius105 waren die Väter das Heil––––––––– 99

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Position befähigte ihn zum Dialog mit den Protestanten: LThK3 3 (1995), Sp. 374 (Peter Fabisch). Albert Pigge (Pighius) (1490–1542), katholischer Kontroverstheologe, nach Studien in Löwen und Paris zeitweilig in päpstlichem Dienst, seit 1531 in den Niederlanden tätig. Seine Theorie der duplex iustitia richtete sich gegen Calvins Prädestinationslehre; in seinem zitierten ekklesiologischen Werk vertrat er einen extremen Papalismus: LThK3 8 (1999), Sp. 294f. (Heribert Smolinsky). Melchior Cano (1509–1560) OP studierte in Salamanca bei Franciscos de Vitoria, lehrte Theologie 1533–1541 in Valladolid, 1543–1546 in Alcalá und ab 1546 in Salamanca. Sein Hauptwerk Loci communes war für die Entwicklung der theologischen Erkenntnislehre von herausragender Bedeutung. Kirchenpolitisch an der Seite der spanischen Könige bekämpfte er die Jesuiten und Bartolomé Carranza: LThK3 2 (1995), Sp. 924f. (Bernhard Körner). Bereits vortridentinisch waren die Väter eine wichtige Instanz in der Argumentation gegen die Reformatoren, vgl. Alfred Schindler: Zwinglis Gegner und die Kirchenväter. In: Auctoritas patrum (wie Anm. 51), Bd. 2, S. 187–200. Petrus Canisius (1521–1597) SJ, 1543 Eintritt in die Gesellschaft Jesu, deren Kölner Niederlassung er aus väterlichem Erbe finanzierte, wirkte als Theologieprofessor und Prediger 1549–1552 in Ingolstadt, dann bis 1556 in Wien, 1559–1566 Domprediger in Augsburg, 1556–1569 erster Jesuitenprovinzial in Süddeutschland, wirkte ab 1580 in Fribourg (Schweiz). Durch seine Reisen und seine kirchenpolitische Tätigkeit war er eine zentrale Gestalt der kirchlichen Erneuerung in Deutschland; er edierte patristische Texte und begann den Versuch der Widerlegung der Magdeburger Centurien; besonders einflussreich waren seine Katechismen, die 1555–1558 erschienen: LThK3 2 (1994), Sp. 923f. (Engelbert Maximilian Buxbaum). Vgl. Polman: L’Élement (wie Anm. 97), S. 393f. Vgl. ebd., S. 394. Jakobus Pamelius (Jacques de Joigny de Pamèle) (1536–1587), 1561 Kanoniker in Brügge, 1562 Priester in Löwen, 1578 von den Protestanten nach Douai vertrieben, 1581 Archidia-

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mittel für alle Übel der Zeit, seine Tertullian-Edition richtete sich direkt gegen interpretatorische Fehler der Centuriatoren; Tertullian sollte dazu dienen, den von Vinzenz von Lerin geforderten dreifachen Nachweis des Alters, der Universalität und der Unveränderlichkeit einer Lehre zu führen. 106 Die Notwendigkeit des aus Schrift und Tradition geführten dogmenhistorischen Kontinuitätsnachweises ist so die Geburtsstunde der erst neuzeitlichen Disziplin der Dogmatik geworden. Peter Walter hat gezeigt, wie die vormals spekulative und nur sekundär mit Autoritätsargumenten diskutierende scholastische Theologie nun zur Rezeption der positiven Theologie gezwungen war,107 so dass mit der Dogmatik sich eine Art Mittelposition an den Universitäten langfristig etablierte. 108 Letztlich haben so humanistische Einflüsse, etwa des Erasmus von Rotterdam, wesentlich zur Ausbildung dieser theologischen Disziplin beigetragen.109 Zu nennen wäre hier auch die Summa doctrinae christianae des Petrus Canisius, die sein Ordensbruder Johannes Busaeus110 zu einem drei Bände umfassenden Werk durch ausführliche Schrift- und Traditionsbeweise ausgebaut hat. 111 Seit Luthers De captivitate babylonica war vor allem die katholische Eucharistielehre eine zentrale Aufgabe für den historischen Kontinuitätsbeweis, die auch zu zahlreichen Editionen alter Liturgien führte, um das Alter des Glaubens an die Realpräsenz und die Messe als Opfer zu erhärten. Besonders die Autorität Augustinus’ und seine Terminologie von figura und signum waren hier umstritten. 112 Einen Höhepunkt dieser positiven Theologie, des Sammelns des historischen Befunds zum Nachweis der continuitas der Lehre, bot im 17. Jahrhundert der Pariser Jesuit Dionysius Petavius113 in seinem Werk Theologia –––––––––

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kon und kurz vor seinem Tod noch ernannter Bischof von St-Omer, wurde bekannt durch seine Editionen patristischer, liturgischer und mittelalterlicher Texte: LThK3 7 (1998), Sp. 1306 (Victor Saxer). Vgl. Polman: L’élement (wie Anm. 97), S. 397–401. Auch die Schule von Salamanca als Zentrum der Scholastik in Spanien hat sich dem Humanismus im Anschluss an Franciscos de Vitoria v. a. in der Person Melchior Canos geöffnet. Vgl. Karl Kohut: Die Auseinandersetzung mit dem Humanismus in der spanischen Scholastik. In: Renaissance-Reformation (wie Anm. 13), S. 77–104. Vgl.: „Aber es sind wohl noch andere Faktoren beteiligt gewesen, wie etwa das Verlangen nach einer weniger spekulativen Form von Theologie, als sie die traditionelle theologia scholastica bot, und, damit zusammenhängend, der Wunsch, diese Theologie an der Schrift und an der Tradition, vor allem den Kirchenvätern, zu orientieren. Gerade die zuletzt genannten Anliegen waren genuine Forderungen der humanistischen Theologen, die immer wieder gegen die Spitzfindigkeiten der scholastischen Theologie ihrer Zeit zu Felde zogen und für eine Rückkehr zu den Quellen plädierten.“ Walter: Humanistische Einflüsse (wie Anm. 86), S. 50. Vgl. ebd., S. 65–68. Jean Buy (Johannes Busaeus) (1547–1611) SJ lehrte seit 1589 an der Universität Mainz. Er publizierte und edierte v. a. auf dem Gebiet der Kirchengeschichte, der Kontroverstheologie und der Spiritualität: LThK3 2 (1994), Sp. 818 (Paul Begheyn). Vgl. Polman: L’Élement (wie Anm. 97), S. 402–404. Vgl. ebd., S. 441–464. Dionysius Petavius (1583–1652) SJ lehrte nach seinem Eintritt in den Jesuitenorden 1605 an verschiedenen Kollegien Rhetorik, 1621–1644 am Collège de Clermont in Paris dann

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dogmata, wobei es neben der Identität der Substanz in der Verkündigung und im Verständnis der Glaubenswahrheiten bei ihm auch eine gewisse Entwicklung geben konnte.114 Herausgefordert durch die Reformatoren entstand auch die katholische Kirchengeschichtsschreibung: Die Kontroversisten verteidigten das kanonische Recht auch durch zahlreiche humanistisch inspirierte Texteditionen, so besonders einflussreich Jacques Merlin 115 von der Sorbonne und der belgische Franziskaner Pierre Crabbe. 116 Erhebliche Mühe verwendete man besonders auf den Aufweis des Aufenthalts des Petrus in Rom und den Nachweis, dass dessen Nachfolger bereits in der Alten Kirche den päpstlichen Primat innegehabt hätten, ebenso auf die Lückenlosigkeit der katholischen successio apostolica.117 Der Nachweis der successio cathedrae dürfte auch der entscheidende Impuls für die Entstehung der ersten synthetischen neuzeitlichen historiae ecclesiasticae gewesen sein, etwa bei Reginald Pole,118 Nicholas Sanders119 und – schon

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Theologie. Er verfasste kontroverstheologische Schriften, edierte Vätertexte, versuchte aber vor allem in seinen seit 1644 erscheinenden Theologica Dogmata im Sinne der positiven Theologie die Verankertheit der kirchlichen Lehre in Schrift und Tradition nachzuweisen: LThK3 8 (1999), Sp. 81 (Michael Hofmann). Vgl.: „[…] doch trotz der Einbeziehung von Konzilien- und Häresiengeschichte bietet Petavius keine Dogmengeschichte, sondern nur Ansätze dazu. Er verbleibt also, aufs Ganze gesehen, im Rahmen der positiven Theologie […] Trotz des Wandels und trotz der Entfaltung der Theologie und der kirchlichen Lehre wurde die ‚substantia dogmatis‘ nicht geändert.“ Michael Hofmann: Dionysius Petavius – ein theologischer Neuaufbruch. In: Dogmengeschichte und katholische Theologie. Hg. von Werner Löser, Karl Lehmann und Matthias Lutz-Bachmann. Würzburg 1985, S. 168–186, hier S. 185f.; ders.: Theologie, Dogma und Dogmenentwicklung im theologischen Werk Denis Petaus’s. Mit einem biographischen und einem bibliographischen Anhang. Frankfurt a. M., München 1976 (Regensburger Studien zur Theologie 1), v. a. S. 170–193. Jacques Merlin (1480–1541), 1531/32 Generalvikar in Paris, gab die Werke von Origenes, Richard von St. Viktor u. a. heraus; als Folge seiner Kontroverstheologie edierte er auch die erste Konziliensammlung: LThK3 7 (1998), Sp. 146f. (Michael Brecht). Petrus Crabbe OFMObs. (1470–1553/54), katholischer Theologe, edierte die Akten der bisherigen Konzilien: LThK3 2 (1995), Sp. 1336 (Remigius Bäumer). Vgl. Polman: L’Élement (wie Anm. 97), S. 465–500. Reginald Pole (1500–1558), während seiner Studien in Oxford und in Italien knüpfte er Kontakte zu den jeweiligen Humanistenkreisen, in Venedig auch zum italienischen evangelismo. 1536 wurde er Kardinal, nachdem er vorher das englische Schisma abgelehnt und gegen König Heinrich VIII. die englischen Primatialrechte verteidigt hatte; mehrere päpstliche Legationen und Teilnahme am Tridentinum, schließlich auf Bitten Marias der Katholischen während der katholischen Restauration in England päpstlicher Legat und 1555 Erzbischof von Canterbury. Sein Tod ließ ihn dem vom fanatischen Papst Paul IV. (1555– 1559) gegen ihn angestrengten Häresieprozess entgehen: LThK3 8 (1999), Sp. 374f. (Klaus Ganzer). Nicholas Sanders (1530–1581) lehrte kanonisches Recht in Oxford, war 1560 Priester und Dr. theol. in Rom, 1565–1572 Professor in Löwen, 1572 Konsultor des Papstes in englischen Angelegenheiten, kämpfte seit 1573 für eine Expedition Spaniens zur Befreiung Irlands, seit 1579 päpstlicher Gesandter in Irland: LThK3 9 (2000), Sp. 6 (Reinhold Rieger). – Er schrieb De visibili monarchia ecclesiae. Löwen 1571.

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gegen die Centuriatoren – von Gilbert Génébrard OSB.120 Die Synthese dieses Materials boten dann bekanntlich die Annales ecclesiastici des Cesare Baronius. 121 Sein Ziel war es, 122 die Identität der Kirche mit der Urkirche und die Kontinuität des päpstlichen Primats herauszuarbeiten,123 seine Tendenz war papalistisch, antimachiavellistisch und antiprotestantisch; aber er wollte auch mit Hilfe der humanistischen Mittel, der Zuwendung zu den Quellen, der Kritik von deren Glaubwürdigkeit und der Verwendung der besten Editionen nach dem Vorbild des Thukydides eine möglichst genaue Rekonstruktion der Geschichte der Kirche liefern, leider unter weitgehender Vernachlässigung der Dogmengeschichte. 124 Ad 2.) Gerade die Reformkonzepte des lange verkannten Episkopats in den ersten Jahren der Reformationszeit weigerten sich, gegen die Vorstellungen der weltlichen Landesherren etwa aus den Häusern Wittelsbach und Habsburg, allein mit Kontrolle und Gewalt eine Reform des Klerus durchzusetzen, ohne ihm sozial und bildungsmäßig bessere Voraussetzungen zu ermöglichen.125 Eine zunehmende Abwanderung der Geistlichen und fehlender Nachwuchs drohten die Pastoral sonst lahmzulegen. Dem positiv korrespondierend lässt sich innerhalb der nächsten Jahrzehnte beispielsweise am Niederrhein anhand der kirchlichen Reformordnungen,126 aber auch an den Salzburger Provinzialsynoden127 ––––––––– 120

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Gilbert Génébrard OSB (1537–1597), Professor für Hebräisch am Pariser Collège Royal, 1591 Erzbischof von Aix-en-Provence, veröffentlichte Übersetzungen und rabbinische Kommentare und forderte dem Gallikanismus gemäß die Wahl des Bischofs wie in alter Zeit durch Klerus und Volk: LThK3 4 (1995), Sp. 444f. (François Laplanche). Caesar Baronius (1538–1607), Oratorianer, 1593 deren Generaloberer, 1596 Kardinal, 1597 Bibliothekar der römischen Kirche. Aus seinen kirchengeschichtlichen Vorträgen im Oratorium des Filippo Neri erwuchs sein Hauptwerk, die Annales ecclesiastici, die in annalistischer Form auf breiter Quellenbasis die katholische Kirche gegen die Magdeburger Centurien zu verteidigen suchten: LThK3 2 (1994), Sp. 31 (Klaus Ganzer). Vgl. zu ihm insbesondere: Stefano Zen: Baronio storico. Controriforma e crisi del metodo umanistico. Vivarium 1994 (La ricerca umanistica 2); vgl. Polman: L’Élement (wie Anm. 97), S. 527–538. Vgl.: „Suo compito peculiare è dimostrare la continuità storica tra la Chiesa tridentina e quella degli antichi concili, di Nicea e di Calcedonia, sulla scorta di un’ampia e varia documentazione filologica. In aperta polemica con gli storici luterani, si propone di dimostrare che il complesso delle questioni dottrinali e delle pratiche di culto sancite dal Concilio di Trento non risulta per nulla difforme da quanto era già in vigore al tempo degli apostoli. Apostolicità della dottrina cattolica e continuità nei secoli del magistero ecclesiastico sono verificate storicamente alla luce di un pensiero che circola in tutta l’opera: il rapido mutare delle vicende umane e la precarietà delle realtà temporali contrastano fortemente con l’immutabilità del papato e il perenne governo spirituale della Chiesa di Roma.“ Zen: Baronio (wie Anm. 122), S. 134f. Vgl. Polman: L’élement (wie Anm. 97), S. 531; Hubert Jedin: Kardinal Caesar Baronius. Der Anfang der katholischen Kirchengeschichtsschreibung im 16. Jahrhundert. Münster 1978 (KLK 38), S. 56. Vgl. Unterburger: Bayerisches Konkordat (wie Anm. 33), S. 110–131. Vgl. Heribert Smolinsky: „Docendus est populus“. Der Zusammenhang zwischen Bildung und Kirchenreform in Reformordnungen des 16. Jahrhunderts. In: ders.: Im Zeichen (wie Anm. 12), S. 25–43; ders.: Kirchenreform (wie Anm. 12).

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nachweisen, wie das Thema Bildung einen immer breiteren Raum eingenommen hat. In diesem Kontext steht die Gründung von humanistischem Gymnasium128 und hochstiftischer Akademie in Dillingen durch Bischof Otto Truchseß, 129 war anfangs doch explizit und ausschließlich an die Gründung eines humanistisch geprägten Kollegiums zur Ausbildung des Priesternachwuchses130 und zur Bekämpfung der Irrlehren 131 gedacht. Diese Zielsetzung wurde auch bei der bald folgenden Erhebung zur Universität beibehalten. 132 So entstand ein neuer Typus von Priesterausbildungsstätte, der wohl auch für die Ausbildung des Collegium Germanicum in Rom und somit der Jesuitenkollegien Pate gestanden haben dürfte.133 Kardinal Reginald Pole hielt sich 1553/54 in Dillingen auf und berief den dort lehrenden Dominikaner Pedro de Soto134 nach England, um dort wohl ebenfalls nach dem Dillinger Vorbild – zudem wird ihm die Schule Gian Matteo Gibertis135 in Verona vor Augen gestanden haben 136 – ein Seminar zu errichten, wiederum als Maßnahme gegen den Priestermangel. Poles Vorstellungen prägten die Beschlüsse der Londoner Provinzialsynode von 1555/56, die die unmittelbare Vorlage für das Trienter Seminardekret137 bildeten.138 ––––––––– 127 128

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Vgl. die ausführlichen Bestimmungen des Salzburger Provinzialkonzils von 1569, const. LIX–LXI. Vgl. Kießling: Gymnasium (wie Anm. 72), S. 254. – Als solches, also mit dem Humanismus als gemeinsamer Basis, wurde es auch von Johann Sturm bei seinem Besuch in Lauingen 1564 anerkannt. Vgl. Schindling: Humanistische Bildungsreform (wie Anm. 62), S. 152f. Otto Truchseß von Waldburg (1514–1573), seit 1543 Bischof von Augsburg, 1544 Kardinal, seit 1553 auch Stiftspropst von Ellwangen, residierte später als protector nationis Germanicae meist in Rom. Gatz: Bischöfe (wie Anm. 26), S. 707–710 (Peter Rummel). Vgl. Paul Berthold Rupp: Entwicklung, Bedeutung und Einfluß der Ausbildung von Geistlichen an der Universität Dillingen. In: Universität Dillingen (wie Anm. 72), S. 291–323, hier S. 293. So jedenfalls nach Ausweis der päpstlichen Bestätigungsbulle vom 22. Februar 1550. Vgl. Thomas Specht: Geschichte der ehemaligen Universität Dillingen (1549–1804) und der mit ihr verbundenen Lehr- und Erziehungsanstalten. Freiburg i. Br. 1902, S. 6f. Vgl. Rupp: Entwicklung (wie Anm. 130), S. 295–299. Vgl. ebd., S. 297. Pedro de Soto (ca. 1500–1563) OP, nach Studien in Salamanca 1542–1548 Beichtvater Karls V., 1549 Mitbegründer der Universität Dillingen, lehrte 1555/56 in Oxford, später päpstlicher Theologe auf der letzten Sitzung des Trienter Konzils. Als Kontroverstheologe setzte er sich vor allem mit Johannes Brenz auseinander: LThK3 9 (2000), Sp. 746 (Fernando Domínguez). Gian Matteo Giberti (1495–1543), Sekretär Giulios de’ Medici, erlangte unter Papst Leo X. zahlreiche Pfründen, zeitweise Datar der Kurie, 1524 Bischof von Verona. Nach dem Scheitern seiner antikaiserlichen Politik im Sacco di Roma zog er sich 1527 in sein Bistum zurück, wo er eine rege Reformtätigkeit entfaltete und sich für die Stärkung der bischöflichen Autorität einsetzte. Er war mit dem italienischen evangelismo verbunden: LThK3 4 (1995), Sp. 642f. (Klaus Ganzer). Hubert Jedin: Domschule und Kolleg. Zum Ursprung des Trienter Priesterseminars. In: ders.: Kirche des Glaubens, Kirche der Geschichte. Ausgewählte Aufsätze und Vorträge. Bd. 2: Konzil und Kirchenreform. Freiburg, Basel, Wien 1966, S. 348–359, hier S. 352– 355. Konzil von Trient, ses. 23, cap. 18 de reformatione.

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Nun ist das Trienter Seminardekret in Deutschland nur sehr spät und lückenhaft umgesetzt worden, in Ausgburg/Dillingen für wenige Alumnen 1614.139 Anstatt der bischöflichen Seminare übernahmen die Jesuitenkollegien weitgehend deren Aufgabe. Die Unterrichtsverpflichtung war nicht in den ursprünglichen Absichten des Ignatius140 gelegen und seiner Gesellschaft vielmehr durch die Zeitumstände immer mehr zugefallen; unter dem Generalat von Diego Laínez (1558–1565)141 wurde deren Zahl dann explosionsartig ausgebaut. Schließlich hatte auch Bischof Otto von Waldburg 1564 die Leitung seiner Dillinger Gründung – entgegen der Intentionen von Trient und anfangs mit mäßigem Erfolg142 – in die Hände des Ordens geben müssen. 143 Bis ins 18. Jahrhundert hinein empfing so die überwiegende Zahl der Augsburger Weltpriester ihre Formation an den Jesuitengymnasien, -fakultäten und -universitäten in Dillingen, München, Augsburg und Ingolstadt, wobei das eigentliche Universitätsstudium mit dem Erreichen akademischer Grade die Ausnahme blieb. In Augsburg konnte durch ein Vermächtnis Christoph Fuggers144 nach jahrzehntelangen Verhandlungen 1582 das Jesuitenkolleg und -gymnasium St. Salvator145 gegründet werden, das in entschiedener Konkurrenz zum Gymnasium von St. Anna stand, sich in den Unterrichtsinhalten und -methoden jedoch gar nicht so sehr von diesem unterschied.146 Von Beginn an – also mit der Gründung des Kollegs in Messina – standen diese Jesuitenkollegien ganz auf dem humanistischen Bildungsideal der Zeit unter Verwendung des modus Parisiensis, der im Gegensatz zum modus Italicus Repetitionen und Deklamationen ––––––––– 138 139

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Vgl. Jedin: Domschule (wie Anm. 136), hier S. 349. Vgl. Specht: Geschichte (wie Anm. 131), S. 447–454; Herbert Immenkötter: Universität im „Schwäbischen Rom“ – ein Zentrum katholischer Konfessionalisierung. In: Universität Dillingen (wie Anm. 72), S. 53–75, hier S. 70–74. Ignatius von Loyola (1491–1556), Gründer des 1540 bestätigten Jesuitenordens, als deren erster General er 1541 gewählt wurde: LThK3 5 (1996), Sp. 410f. (Leonhard Lehmann). Diego Laínez SJ (1512–1565) schloss sich 1533 Ignatius an, wurde 1558 zweiter Ordensgeneral der Gesellschaft Jesu, nahm während aller drei Sitzungsperioden am Trienter Konzil teil: LThK3 6 (1997), Sp. 608f. (Günter Switek). Vgl. Immenkötter: Universität (wie Anm. 139), S. 30. Vgl. Thomas Groll: Das jesuitische Studien- und Erziehungsprogramm und seine Umsetzung in der Priesterausbildung. In: Universität Dillingen (wie Anm. 72), S. 271–290, hier S. 277–280. Christoph Fugger, Herr von Kirchberg, Brandenburg und Sulmentingen (1520–1579), Sohn des Raymund Fugger; er schied 1572 nach einem Streit mit seinem Neffen Marx aus der Handelsgesellschaft aus und erhielt mehrere hunderttausend Gulden ausbezahlt; er war ein wichtiger Kreditgeber des bayerischen Herzogs Albrecht V. Aus seinem Nachlass flossen 30.000 Gulden in die Dotation des Jesuitenkollegs in Augsburg. Vgl. Mark Häberlein: Die Fugger. Geschichte einer Augsburger Familie (1367–1650). Stuttgart 2006. Vgl. Die Jesuiten und ihre Schule St. Salvator in Augsburg 1582. Ausstellung des Stadtarchivs Augsburg in Zusammenarbeit mit der Diözese Augsburg zum 400. Gründungsjubiläum des Jesuitenkollegs St. Salvator im Domkreuzgang 6.11.–12.12.1982. Hg. von Wolfram Baer. Augsburg u. a. 1982. Vgl.: „In Augsburg standen also am Ende des 16. Jahrhunderts ein evangelisches und ein katholisches Gymnasium illustre nebeneinander. Beide vermittelten ein ähnlich strukturiertes humanistisches Lehrangebot.“ Schindling: Humanistische Bildungsreform (wie Anm. 62), S. 117.

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in den Unterricht mit einbezog. Schwerpunkt war das Lateinische, auf mehrere Klassen Grammatik folgte die Humanität und die Rhetorik, bevor die Philosophie nach Aristoteles und die Theologie nach dem Aquinaten studiert werden konnten. Dem Einfluss der nördlichen Provinzen ist die schrittweise Einbeziehung auch der Kontroverstheologie zu danken.147 In einem längeren Prozess der Einholung von Entwürfen, der Begutachtung und Erprobung in den Provinzen unter dem Generalat Claudius Aquavivas148 entstand schließlich 1599 die Ratio studiorum als einheitliche Studienordnung für alle Jesuitenprovinzen mit exakten Regeln für alle irgendwie am Unterricht Beteiligten. Entschieden wurde in ihr „die humanistische Kultur für den pädagogisch-kulturellen Entwurf der Gegenreformation“ in den Dienst genommen, 149 was zu einer Erneuerung der humanistischen Bildung auf breiter Ebene in den katholischen Territorien führte.150 Großen Einfluss auf die Abfassung dieser Studienordnung hatte der 27 Jahre in Dillingen und Augsburg lehrende Jakob Spanmüller (Pontanus),151 ein bedeutender Latinist, dessen Schulbücher, v. a. seine Progymnastica latinitatis sive dialogi,152 bis ins 18. Jahrhundert immer neu aufgelegt wurden, der aber auch mehrere griechische Schriftsteller erstmals edierte.

5.

Abschließende Thesen

1. Der Humanismus ist keine heidnische, sondern eine umfassende und weitgehend als christlich zu beschreibende Erneuerungsbewegung gewesen, die auf eine Reform von Gesellschaft, Theologie und Kirche aus dem Geiste der philosophia Christi und des Urchristentums zielte.

––––––––– 147

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149

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152

Vgl. Anita Mancia: La controversia con i protestanti e i programmi degli studi teologici nella Compagnia di Gesù 1547–1599. I: fino alla ratio studiorum del anno 1586. In: AHSJ 107 (1985), S. 3–43; II: dalla ratio studiorum proposta alla ufficiale. In: AHSJ 108 (1985), S. 209–266. Claudius Aquavivas (1543–1615) SJ, seit 1581 fünfter Generaloberer der Gesellschaft Jesu. Er vollendete die gesetzlich-verfassungsmäßige Struktur des Ordens und approbierte nach langen Vorarbeiten 1599 die Ratio studiorum; er hatte sich mit den separatistischen Bestrebungen in der spanischen Provinz und den Gnadenstreitigkeiten zu befassen: LThK3 1 (1994), Sp. 897 (Josef Stierli). Gian Paolo Brizzi: „Studia humanitatis“ und Organisation des Unterrichts in den ersten italienischen Kollegien. In: Humanismus im Bildungswesen (wie Anm. 60), S. 155–170, hier S. 170. Ebd., S. 166. Jakob Pontanus (Spanmüller) (1542–1626) SJ wirkte 1570–1579 in Dillingen, seit 1582 Sprachlehrer und Rektor am Augsburger Kolleg. Seine Lehrbücher sollten durch Exempla zur Frömmigkeit und zu sozial erwünschten Verhaltensweisen erziehen: LThK3 8 (1999), Sp. 415 (Barbara Bauer). 3 Bde., Augsburg 1588–1594.

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Klaus Unterburger

2. Bis etwa 1530 können Reformation und Humanismus noch als unterschiedliche Linien einer einheitlichen Reformbewegung innerhalb der einen Kirche verstanden werden, da die konfessionelle Spaltung noch keine Selbstverständlichkeit war. 3. Die theologische Position der Reformatoren und protestantischen Kontroverstheologen setzte die humanistische Ausbildung voraus und benötigte die humanistische Kritik als argumentative Waffe; die katholischen Territorien zogen mit Schulgründungen und theologischer Verteidigung umfassend nach. Der Humanismus diente so als geistige Waffe in einer durch Konkurrenz und Gegnerschaft geprägten Situation; dies förderte jedoch nicht nur humanistische Studien. Vielmehr bildete der Humanismus auch ein einheitliches Band, insofern er gemeinsame Kriterien bereitstellte, wie man die Frage nach dem wahren Bekenntnis beantworten könne, nämlich durch die Anwendung der historisch-wissenschaftlichen Kritik auf die Quellen des Christentums. Über alle Gegensätzlichkeit hinweg konnte so im konfessionellen Zeitalter eine Res publica litteraria weiter in gelehrtem Austausch stehen. 153 4. Damit ist der theologischen Diskussion aber nicht nur der Ausbau der gymnasialen humanistischen Bildung zu verdanken, sondern auch die Initialzündung zu einer der größten geistigen Leistungen der Neuzeit: der Anwendung der streng wissenschaftlich-vernünftigen, humanistischen historischen Quellenkritik auf den gesamten Bestand der Überlieferung der überkommenen Offenbarungsreligion innerhalb der Theologie.

––––––––– 153

Vgl. Anselm Schubert: Kommunikation und Konkurrenz. Gelehrtenrepublik und Konfession im 17. Jahrhundert. In: Interkonfessionalität – Transkonfessionalität – binnenkonfessionelle Pluralität. Neue Forschungen zur Konfessionalisierungsthese. Hg. von Karspar von Greyerz u. a. Gütersloh 2003 (SVRG 201), S. 105–131.

II.

Humanistisches Wissen, Politik und Ökonomie

Wolfgang E. J. Weber

Humanismus und reichsstädtische Politik

1.

Einleitung

In welcher Weise und mit welchem Ergebnis beeinflusste der Humanismus die Politik der Reichsstadt Augsburg? Zu diesem Fragenkomplex hat die einschlägige stadt- und regionalhistorische Forschung bereits eine Fülle von Einzelbefunden erarbeitet. Was bisher fehlt, ist jedoch eine gezielte Zusammenschau dieser Ergebnisse auf der Grundlage eines differenzierten Verständnisses des Humanismus und von dessen direkten und indirekten Dimensionen politischer Relevanz und Wirkung. Unser Beitrag möchte sich an dieser Stelle ansiedeln. Er versteht sich ausdrücklich als vorläufige Synopse. Was unter Humanismus im Allgemeinen zu verstehen ist, findet in den Beiträgen dieses Bandes vielfache Formulierung. Ein aktueller Lexikonartikel beschreibt ihn als „diejenige Dimension der Renaissance […], die sich auf den Umgang mit der antiken Literatur und Geschichte bezieht.“1 Als kulturelle Bewegung sei sein „Ziel […] ein ästhetisches“ gewesen: „die Wiederherstellung der Literatur, Künste und Wissenschaften des Altertums“. Deren „Rekonstruktion werde“ – so die Einschätzung seiner Träger – „Sprache, Geschmack, Sitten und Moral ihrer eigenen Gegenwart entscheidend verbessern, ihr (Zusammen-) Leben schöner, humaner und gottgefälliger machen. […] Ohne Kirche und Religion in Frage zu stellen, zielt der H. auf die irdische Wirklichkeit, auf sittliches Handeln, säkulare Ethik und elegante Umgangsformen.“2 In dieser ästhetisierenden Perspektive werden die politischen Implikationen und Dynamiken des Humanismus nicht ohne weiteres klar. Deutlicher treten sie hervor, wenn wir (1.) zunächst die sozialgeschichtliche Dimension beachten. Die Humanisten stellten eine tendenziell eigene, neue, im Kern nichtklerikale, wesentlich stadtbürgerliche Elite dar, die ihr Wissen und ihre Kompetenzen den etablierten Eliten des Adels und der Kirche sowie den aufsteigenden städtischen Eliten des Handels, Bankwesens und Gewerbes zur Verfügung stellte, damit aber auch in deren Spannungen, Gegensätze und Rivalitäten einbezogen wurde und in diesem Gefüge zunehmend selbstbewusster ihre eigenen Interessen verfolgte. Als Helfer ihrer Mäzene und Patrone boten die Humanisten (2.) Wissen, das sich in vielfältiger Weise direkt oder indirekt politisch-herrschaftlich nutzen ließ. Mit der methodischen Rekonstruktion der ––––––––– 1 2

Gerrit Walther: Art. Humanismus. In: Enzyklopädie der Neuzeit. Hg. von Friedrich Jaeger. Bd. 5. Stuttgart 2007, Sp. 665–692, hier Sp. 666. Ebd., Sp. 665f.

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Wolfgang E. J. Weber

Literatur, Künste und Wissenschaften erst des Altertums, später, in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts, auch der Nachantike bis zur Gegenwart waren die Erarbeitung und Vermittlung wichtiger Verfahren zur Schärfung der Wahrnehmung, Einschätzung und Gestaltung auch der politischen Verhältnisse verbunden. Der Humanismus brachte so u. a. ein neues Zeitgefühl und daher neue Erkenntnisse zur Bedeutung und Gestaltung von Zeit und Geschichte in der Politik mit sich. Literatur und Künste, bereits die Verfügung über gesuchte Handschriften und Objekte, ließen sich zur Untermauerung der eigenen Reputation verwenden. Aus der antiken Literatur waren Rollenmodelle, Funktionszusammenhänge, Ordnungsmuster und Problemlösungen auch und gerade des politischen Zusammenhangs rekonstruierbar. Über humanistische Bildung konnte mithin nicht nur ästhetisch-moralisch, sondern auch politisch verwertbares höheres und spezielles Wissen vermittelt und rezipiert werden, das den Abstand der – jetzt gebildeten – Eliten zu den übrigen Schichten bzw. dem gemeinen Volk verbreiterte. Es zu erwerben und im Kontext der übrigen Errungenschaften der Renaissance einsetzen zu können war zuerst eine finanzielle Frage. Der Humanismus förderte daher vor allem den Aufstieg der Fürsten und ihrer Höfe, während sich der viel diskutierte Bürgerhumanismus etwa von Florenz bei näherem Zusehen als patrizisch-oligarchischer Republikanismus bzw. als Hintergrund sogar des Aufstiegs zum Fürstentum einzelner Familien, so schon der Medici, erweist. 3

2.

Vom Spätmittelalter bis 1555

In der Reichsstadt Augsburg setzte der Humanismus bekanntermaßen im Umfeld Bischof Peters von Schaumburg (1388–1469) und in sonstigen kirchlichen Kreisen ein. Nur kurze Zeit später wird er auch bei Sigmund Gossembrot d. J. (1417–1493) greifbar. 4 Worum es in dieser frühen Phase ging, war die Befassung mit antiken Texten, deren Erwerb, Erschließung, Lektüre, Kommentierung, Übersetzung usw. Bald schlug sich dieser Umgang mit der Antike jedoch auch im Sammeln entsprechender Objekte und der Aufnahme entsprechender Motive und Formen in der Kunst nieder, und zwar bereits auch im politischen Kontext. Denn zur gleichen Zeit ist die Geschichte der Reichsstadt bekanntermaßen durch Versuche einzelner politischer Prätendenten geprägt, eine monar––––––––– 3

4

Vgl. die Hinweise bei Walther: Humanismus (wie Anm. 1), Sp. 664 sowie Alois Riklin: Republikanismus in der italienischen Renaissance. St. Gallen 1998 sowie kritischer Alison Brown: The Medici in Florence. The Exercise and Language of Power. Florenz 1992, ferner allgemein Heinz Schilling: Gab es in Deutschland im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit einen Stadtrepublikanismus? In: Republiken und Republikanismus im Europa der Frühen Neuzeit. 15. bis frühes 17. Jahrhundert. Hg. von Helmut Koenigsberger. München 1988 (Schriften des Historischen Kollegs. Kolloquien 11), S. 101–143. Gossembrot wird jetzt als Vermittler Petrarcas hoch geschätzt, vgl. Agostino Sottili: Il Petrarca nella cultura tedesca del Quattrocento. In: Dynamique d’une expansion culturelle: Pétrarque en Europe. Hg. von Pierre Blanc. Paris 2001, S. 595–622. Auf den katholischen Humanismus in Augsburg kann ich im Folgenden nicht näher eingehen.

Humanismus und reichsstädtische Politik

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chische Stadtherrschaft aufzurichten. Diese Versuche waren zweifellos durch entsprechende italienische Vorbilder inspiriert, die hinsichtlich der Legitimitätsbeschaffung, Durchsetzungstaktik und Repräsentation bereits von Mitteln der Renaissance und des Humanismus Gebrauch machten.5 Dass kein anderer als der präsumtive Stadttyrann Peter Egen III. (1413–1452) um 1430 „durch Jörg Amman die Varusschlacht an sein Haus malen ließ“, dazu „das Bildnis der angeblich vorrömischen Stadtgöttin Cisa“, und andere Patrizier es ihm gleichtaten, das waren demnach eher keine „noch unsicheren humanistischen Bestrebungen“, sondern diese Maßnahmen dienten gezielt der Untermauerung des gesellschaftlich-politischen Anspruchs bereits im Geist von Renaissance und Humanismus. 6 Und dass im Gegenzug die Weberzunft ihre Amtsstube mit alttestamentarischen und Szenen aus dem Leben Alexanders des Großen ausschmückte und den berühmt-berüchtigten Satz – da adam hackt und eva spann, wer warn ein Edellman – mit aufnahm, unterstreicht diesen Zusammenhang. Das Engagement der großen Geschlechter beim Kirchenbau und der Kirchenausgestaltung verlief parallel. Die Aufstellung des Pyr an den Stadttoren, die Einmauerung römischer Inschriftensteine am öffentlichen Ort erfolgten auf oligarchischpatrizische Initiative. 7 Sie dienten nicht nur deren Reputationssteigerung, sondern auch der grundlegenden Neuorientierung des städtischen Geschichtsbildes und der städtischen Identität. Mit Konsequenzen, die folgerichtig noch stärker in der jetzt aufblühenden, humanistisch inspirierten und geprägten Stadtchronistik, die vor allem Ratschronistik war, zum Ausdruck kamen.8 Die Entstehung Augsburgs in den Zusammenhang mit der Zerstörung Trojas zu bringen, war spätmittelalterlich. Diesen Mythos zu überprüfen, kritisch zu hinterfragen, mittels genauerer Identifikation der historischen Epochen, Akteure und Sachverhalte einen plausiblen Kern herauszuarbeiten, ohne auf die Vorzüge der Konstruktion einer tief reichenden Stadtgeschichte und deren Ansippung an bedeutende Ereignisse und Akteure zu verzichten, das war humanistisch. Das aktuelle, spätmittelalterliche Augsburg so neu und besser zu verankern ver––––––––– 5

6 7 8

Vgl. allgemein Hartmut Boockmann: Spätmittelalterliche deutsche Stadt-Tyrannen. In: Blätter für deutsche Landesgeschichte 119 (1983), S. 75–87 und spezifischer Rolf Kießling: Städtischer Republikanismus. Regimentsformen des Bürgertums in oberschwäbischen Stadtstaaten im ausgehenden Mittelalter und der beginnenden Frühneuzeit. In: Politische Kultur in Oberschwaben. Hg. von Peter Blickle. Tübingen 1993, S. 175–205, hier S. 184ff.; Jörg Rogge: Für den gemeinen Nutzen. Politisches Handeln und Politikverständnis von Rat und Bürgerschaft in Augsburg im Spätmittelalter. Tübingen 1996 (Studia Augustana 6). Bruno Bushart: Kunst und Stadtbild. In: Geschichte der Stadt Augsburg von der Römerzeit bis zur Gegenwart. Hg. von Gunther Gottlieb u. a. Stuttgart 1984, S. 225–233, hier S. 232. Wie Anm. 6. Städtische Geschichtsschreibung im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit. Hg. von Peter Johanek (Einleitung). Köln u. a. 2000 (Städteforschung. Reihe A, 47); Rolf Kießling: Zum Augsburgbild in der Chronistik des 15. Jahrhunderts. In: Literarisches Leben in Augsburg während des 15. Jahrhunderts. Hg. von Johannes Janota und Werner WilliamsKrapp. Tübingen 1995 (Studia Augustana 7), S. 183–215; Dieter Weber: Geschichtsschreibung in Augsburg. Hektor Mülich und die reichstädtische Chronik des Spätmittelalters. Augsburg 1984 (Abhandlungen zur Geschichte der Stadt Augsburg 30).

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Wolfgang E. J. Weber

schaffte der Stadt und der städtischen Obrigkeit neue Legitimität gegenüber Bischof und Kirche und trug zur bekannten Verobrigkeitlichung der Stadtherrschaft bei, auch wenn diese naturgemäß auch mit Bezug auf den kaiserlichen Stadtherrn und das Reich erfolgte. Ferner: Die städtische humanistische Diskurskultur, die sich in verschiedenen sozialen Formen entfaltete, schuf eine auch politisch nutzbare, vorhandene Beziehungen verstärkende und neue schaffende Infrastruktur. Man könnte vermutlich auch mit dem Konzept der Urbanität arbeiten, welche der Humanismus an dieser entscheidenden Stelle hervorbrachte. Denn mit der humanistischen Arbeit verbunden waren bekanntlich auch neue, zivilisiertere Umgangsformen, durch die sich der Abstand der Gebildeten zu den Ungebildeten, hauptsächlich dem gemeinen Volk, aber auch zu den nicht beteiligten Gruppen der Oberschichten, vergrößerte. 9 Als noch wesentlicher dürfte die vom Humanismus zumindest beschleunigte, wenn nicht in bestimmten Hinsichten überhaupt erst initiierte ‚Bürokratisierung des Stadtregiments‘ dieser Phase anzusehen sein. Diese hatte ihre weitere, in manchen Hinsichten erste Wurzel bekanntermaßen im Römischen Recht. Schon vor dem Humanismus wurden Klerikerschreiber und Laienschreiber für die Stadt tätig, fanden erste entsprechende Verbesserungen, etwa der Übergang zur schriftlichen Steuerverwaltung, statt. Aber es ist doch bezeichnend, dass die damit verknüpfte Vermehrung der städtischen Ämter einerseits und deren Hierarchisierung andererseits – wobei die antikisierenden Bezeichnungen zumindest für die höchsten Ämter zu beachten sind – erst nach dem Auftreten des Humanismus mächtig einsetzt, und erst ab dann der Anteil der gebildeten Amtsinhaber deutlich zunimmt und Bildung zur Voraussetzung für die Übernahme höchster Ämter wird.10 Der Humanismus beförderte Methodenwissen, vom Lesen und Schreiben bis zum kritischen Umgang mit historischen und aktuellen Texten, Geschichten und Vorstellungen, bis zur Verbesserung der logischen Stringenz und rhetorischen Überzeugungskraft politischer Argumentation. Er reicherte damit auch das Sach- und Orientierungswissen der städtischen Oberschicht an. Wie relevant dieser Prozess bald war, zeigt der Versuch des Ulrich Schwarz 1466 und 1475/78, den maßgeblich auch durch den Humanismus gewonnenen Vorsprung des Patriziats wieder zünftisch auszugleichen. Seine Forderung, bestimmte Neuerungen wieder rückgängig zu machen, bezog sich offenkundig auch auf die Verwendung lateinischer Fachbegriffe und des Lateinischen überhaupt, mittels dessen sich die Oberschicht von der Masse abgrenzte.11 Auf die Entfaltung dieser Ansätze in der Zeit Konrad Peutingers, Stadtschreiber von 1495 bis 1534, ––––––––– 9 10

11

Eine systematische Untersuchung dieses Aspekts vor allem anhand der Chroniken fehlt bisher. Zum Gesamtzusammenhang wichtig Rolf Kießling: Das gebildete Bürgertum und die kulturelle Zentralität Augsburgs im Spätmittelalter. In: Studien zum städtischen Bildungswesen des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit. Hg. von Bernd Moeller u. a. Göttingen 1983 (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen. Phil.-Hist. Klasse. Folge 3, 137), S. 553–585. Rogge: Für den Gemeinen Nutzen (wie Anm. 5), S. 48–98.

Humanismus und reichsstädtische Politik

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bzw. Kaiser Maximilians I. und Karls V. ist hier nicht im Detail einzugehen: fortschreitende Verschriftlichung des politischen Prozesses und der Entscheidungen der Stadtpolitik; wahrscheinlich erstmalige Einführung oder zumindest konsequente Führung einer städtischen Registratur; Vorbereitung, Begleitung und Nachbereitung städtischer Beschlüsse durch consilia, Gutachten, deren historisch-rechtlicher Horizont als römisch im doppelten Sinne zu betrachten ist; Beteiligung führender städtischer Akteure an der blühenden humanistischen Textarbeit; Nutzung der bekanntermaßen gerade im deutschen Bereich besonders entwickelten Scholastik- und Kirchenkritik des Humanismus für weitere Emanzipation der Stadt von der Kirche; weitere Festigung und Perfektionierung des eigenen städtischen und patrizisch-aristokratischen Geschichtsbildes und der aristokratisch-oligarchischen Legitimation und Reputation durch demonstrative humanistische Betätigung und Aneignung antiker Repräsentationsverfahren. Wie unmittelbar humanistisches Sachwissen aktuellen Bedürfnissen zugute kommen konnte, zeigt auch Peutingers Einsatz humanistischen Medizinwissens. 12 Dass Burkhard Zink in seiner Chronik noch von Angst vor Überwältigung der Stadt durch benachbarte Fürsten befallen war, während Hektor Müich bereits den kulturellen Aufstieg und ein deutlich gewachsenes Selbstbewusstsein in der Stadt spiegelte, war nicht nur wirtschaftlich und durch den politischen Erfolg bedingt, sondern eben auch Ergebnis der humanistischen Neuorientierung.13 Grundsätzlich nicht mehr bestreitbar, wenngleich im Einzelnen noch zu erforschen, ist der bereits angesprochene Tatbestand, dass humanistisches Wissen auch an der inneren Aufrüstung und Straffung der Stadtherrschaft im ausgehenden 15. und 16. Jahrhundert beteiligt war.14 Die Einführung der Gassenhauptleute in den 1490er Jahren, die jeweils zehn Häuser beaufsichtigten, um das Bürger- und Zunftrecht zu überwachen, die Sitten zu disziplinieren und für vollständige, pünktliche Steuerzahlung zu sorgen, dürfte ebenso mit Bezugnahme auf das antike Vorbild erfolgt sein wie die damit in Zusammenhang stehende Zensur. Die wiederentdeckte altrömische Censura bildete schon in dieser Phase überhaupt einen politisch-kulturellen Komplex, dessen herrschaftlicher ––––––––– 12

13 14

Vgl. zusammenfassend die Einführung zu den beiden bisher vorliegenden Bänden der Rekonstruktion der Bibliothek Konrad Peutingers: Die Bibliothek Konrad Peutingers. Edition der historischen Kataloge und Rekonstruktion der Bestände, bearbeitet von Hans-Jörg Künast und Helmut Zäh. 2. Bde. Tübingen 2003 und 2005 (Studia Augustana 11 und 14) sowie noch immer Heinrich Lutz: Conrad Peutinger. Beiträge zu einer politischen Biographie. Augsburg 1958 (Abhandlungen zur Geschichte der Stadt Augsburg 9). Eine Analyse der Bibliothek Peutingers, unter Einschluss des noch nicht erschienenen Bandes zur Handschriftensammlung, hinsichtlich der Texte zur Gestaltung von Stadtregierung und Verwaltung dürfte noch einige vertiefte Erkenntnisse bringen. Kießling: Augsburgbild (wie Anm. 8), S. 198. Das Nachstehende in Zusammenfassung der einschlägigen Teile meines Aufsatzes Wolfgang E. J. Weber: Herrschafts- und Verwaltungswissen in oberdeutschen Reichsstädten der Frühen Neuzeit. In: Jahrbuch für Europäische Verwaltungsgeschichte 15 (2003), S. 1–28, hier besonders S. 12f., 18–23 sowie der Befunde von Rogge: Für den Gemeinen Nutzen (wie Anm. 5), besonders S. 132–245.

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Wolfgang E. J. Weber

Nutzen klar erkannt wurde. Im politischen Zusammenhang sind die nach zeitgenössischer Einschätzung antik eingeführte erste Stadtvermessung und die anschließende Erstellung des Seld-Planes der Stadt zu sehen. Um 1500 begann Augsburg die Zeremonien und Rituale beim Empfang auswärtiger Gäste und Größen neu und maßgeblich nach vorgestelltem antikem Modell zu gestalten und aufzuschreiben. Die Anlage und humanistisch-rhetorisch-logische Anreicherung allgemeiner administrativer und politischer Verfahrens- und Formelsammlungen, wie sie in den Collectaneen etwa des Konstanzer Stadtschreibers Christoph Schultheiss zum Ausdruck kommen, die sogar die Züge eines Regimentshandbuchs annahm, ist für Augsburg in dieser Phase zwar noch nicht nachzuweisen, aber nicht ausgeschlossen, sondern eher wahrscheinlich.15 Der merkwürdige, von Benedikt Mauer herausgearbeitete „Drang zur Gelehrsamkeit“, der den Ratsdiener Paul Hektor Mair (1517–1579) ergriff und dazu brachte, eine immense Sammlung städtischer Dokumente, Bücher aller Wissensgebiete sowie von Objekten anzulegen, die er teils im Turmzimmer des Rathauses, teils in seiner ebenfalls im Rathaus gelegenen Dienstwohnung unterbrachte, dieser Drang ist ohne den Humanismus kaum vorstellbar.16 Von ihm scheint ferner auch etwas später der halbliterate Chronist Georg Kölderer gepackt worden zu sein, der trotz entschieden mangelnder Kenntnisse z. B. auf die Schlüsselkompetenz des Lateinischen partout nicht verzichten wollte.17 Bis um 1550 modernisierte die Reichsstadt consilio Jacobi a Rammingen et Jacobi Sturmii opera Johannes Starkii et Conradi Peutingeri, also unter Beteiligung prominenter Humanisten, ihre zuvor eingeführte Registratur und ihr Archiv, über das bereits die römischen Kaiser mit Gewinn verfügt hätten.18 Auf das Bibliothekswesen, die Gründung und den Aufbau von Buchsammlungen sowie deren Nutzung und Erschließung nach bestimmten Methoden sei hier nur verwiesen.19 Die Leser des humanistischen Schriftguts, dessen Spannbreite hier nicht entfaltet werden kann, entnahmen diesem wie angesprochen nicht nur ästhetischliterarisches Wissen, sondern auch unmittelbar und mittelbar verwertbares Methoden-, Sach- und Orientierungswissen für die Politik, wir kommen darauf zurück. Übersehen werden darf auch nicht, dass die Aneignung und die Weiterentwicklung humanistischer Kultur die Außenbeziehungen der Stadt positiv beeinflussten. Konrad Peutingers inhaltlich und rhetorisch-sprachlich ausgefeilte ––––––––– 15 16

17

18 19

Weber: Herrschaftswissen (wie Anm. 14), S. 19. Benedikt Mauer: Sammeln und Lesen – Drucken und Schreiben. Die vier Welten des Augsburger Ratsdieners Paul Hektor Mair. In: Medien und Weltbilder im Wandel der Frühen Neuzeit. Hg. von dems. und Franz Mauelshagen. Augsburg 2000 (Documenta Augustana 5), S. 107–132, hier S. 114. Benedikt Mauer: „Gemain Geschrey“ und „teglich Reden“. Georg Kölderer – ein Augsburger Chronist des konfessionellen Zeitalters. Augsburg 2001 (Veröffentlichungen der Schwäbischen Forschungsgemeinschaft. Reihe 1, 29), S. 21 u. ö. Zusammenfassend Weber: Herrschaftswissen (wie Anm. 14), S. 22f. Vgl. im Überblick Helmut Gier u. a.: Augsburg 1. Staats- und Stadtbibliothek. In: Handbuch der historischen Buchbestände in Deutschland. Bd. 1. Hg. von Eberhard Dünninger. Hildesheim u. a. 1997, S. 63–92.

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Gutachten und diplomatische Memoranden waren nicht nur in den benachbarten Reichsstädten gefragt und festigten Augsburgs Vorrang vor dem alten Rivalen Ulm und seine Rolle als Patron der kleineren Reichsstädte. Über den Humanismus, mit seiner Hilfe verdichteten sich auch die Beziehungen der städtischen Magnaten zum Stadtherrn, dem Kaiser. Und nicht zuletzt stellte die humanistische Kompetenz Augsburgs in der gesamten Periode bis zum Dreißigjährigen Krieg das wichtigste Vehikel der Kommunikation mit dem Herzogtum Bayern bzw. dessen Hauptstadt dar. Bayern bezog das Licht der humanistischen Erleuchtung wesentlich durch Augsburg.20 Das gemeinsame humanistische Engagement, die weitgehende Übereinstimmung in der unüberhörbaren Kritik an der römischen Kirchenzentrale, taktisch weniger vernehmlich dagegen an der Augsburger Kirche, und die Enge der Beziehungen zum Kaiser bildeten bekanntlich auch das Fundament dafür, dass trotz scharfer Auseinandersetzungen und mehrfacher Radikalisierungsschübe besonders auf der protestantischen Seite am Ende die Stadtgemeinschaft in der reformatorisch-konfessionellen Zeit nicht völlig auseinanderfiel. Auch wenn natürlich die vergleichsweise noch günstige Wirtschaftslage, das gemeinsame Interesse der Herrschenden gegenüber denjenigen reformatorischen Ideen, die besonders die städtischen Massen in ihren Erwartungen und Ansprüchen stärkten, entsprechend einkalkuliert werden müssen: Den jeweiligen konfessionellen Gegner nicht plötzlich als vom Satan befallenen, deshalb um des eigenen Seelenheils willen konsequent zu vernichtenden Feind betrachten zu können, dafür hatten auch maßgeblich die gemeinsame humanistische Betätigung, die Entwicklung gemeinsamer irenisch-humanistischer Kulturverbesserungsideen und nicht zuletzt die humanistisch vermittelte historische Fremderfahrung, welches dramatische Schicksal Zwietracht allen Gemeinschaften bringen konnte, gesorgt.21 In welcher Weise und in welchem Grade derartige Wahrnehmung und Einschätzung bereits in den Frieden von 1555 eingingen, ist auch im Rahmen der unlängst erfolgten Forschungen noch nicht systematisch eruiert worden. Mir scheint, dass schon die Grundeinsicht, nur im und über Frieden könne letztendlich herausgefunden werden, wer über die christliche Wahrheit verfügt, und ––––––––– 20

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Profund, detailreich und mitreißend Helmut Gier: Augsburg–München: Ein kulturelles Beziehungsgeflecht zwischen Einfluss, Vermittlung, Symbiose und Rivalität im 16. und frühen 17. Jahrhundert. In: Grenzüberschreitungen. Die Außenbeziehungen Schwabens in Mittelalter und Neuzeit. Hg. von Wolfgang Wüst, Georg Kreuzer und David Petry. Augsburg 2008 (Zeitschrift des Historischen Vereins für Schwaben 100), S. 233–248. Der Tatbestand kultureller Förderung Münchens durch Augsburg gilt auch für den Spezialfall des Aufbaus der Münchner Hof- und späteren Bayerischen Staatsbibliothek. S. dazu demnächst Wolfgang E. J. Weber: Das Vermächtnis des Wassermanns. Johann Jakob Fugger und die Münchner Hofbibliothek. In: 450 Jahre Bayrische Staatsbibliothek. München 2009. Andreas Gößner: Konrad Peutingers „mittlerer Weg“. Bemerkungen zur Morphologie einer politischen Konzeption. In: Zeitschrift für bayerische Kirchengeschichte 67 (1998), S. 1–11; ders.: Weltliche Kirchenhoheit und reichsstädtische Reformation. Die Augsburger Ratspolitik des „milten und mitleren weges“. 1520–1534. Berlin 1999 (Colloquia Augustana 11).

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Wolfgang E. J. Weber

Kriegslärm und Kriegsgreuel ernste Wahrheitssuche verunmöglichen, eine im Kern humanistische, über den Humanismus in die Köpfe der Akteure gebrachte Erkenntnis gewesen zu sein. Als humanistisch darf man vermutlich außerdem die eigenartige Gleichzeitigkeit von politisch-rechtlicher Säkularität und verstärkter, wenngleich konfessionell ungebundener, frommer Christlichkeit ansprechen, die den Frieden und letztlich den Fortbestand der gegebenen Reichsordnung ermöglichte, sowie eben die Einschätzung, dass zur Erarbeitung oder endgültigen Feststellung der Wahrheit vor allem Zeit benötigt werde: für den geschichtsbewussten Humanisten das Schlüsselelement. Frieden war 1555 also möglich vor allem deshalb, weil die Humanisten diesen Frieden erfolgreich als einzige Möglichkeit lancierten, über die Richtigkeit der konfessionellen Alternativen zu befinden bzw. Gott selbst darüber befinden zu lassen. 22

3.

Vom Religionsfrieden bis um 1600

Man wird vor diesem Hintergrund nicht fehlgehen, die erneute Zuschärfung und Militarisierung des Konfessionskonflikts ab den 1570er Jahren weniger den Humanisten als den Betreibern der jeweiligen Konfessionen sowie der politischen Interessen, die sich mit diesen verbanden, anzulasten. Einen prominenten Schüler des irenischen Erasmus von Rotterdam oder einen Jean Matal (1517–1597) hat Augsburg in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts nicht hervorgebracht.23 Die humanistische Aktivität scheint auch hier zunächst an Dynamik verloren zu haben; zum Hauptbetätigungsfeld wurde die didaktische und schulische Beteiligung an der Aufbauarbeit der beiden großen Konfessionen. Daneben scheint eine Konzentration auf Textedition und Kommentar beobachtbar, die allerdings durchaus auch interkonfessionell veranstaltet werden konnte. Schließlich setzte eine intensive Erforschung des römischen Augsburg ein, personifiziert insbesondere durch Marcus Welser (1558–1614).24 Dass mit diesem seit 1590 im ganzen Reich auftretenden neuen Antiquarianismus auch massive politische ––––––––– 22

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Als Frieden möglich war. 450 Jahre Augsburger Religionsfrieden. Hg. von Carl A. Hoffmann u. a. Regensburg 2005; Der Augsburger Religionsfriede 1555. Ein Epochenereignis und seine regionale Verankerung. Hg. von Wolfgang Wüst u. a. Augsburg 2005 (Zeitschrift des Historischen Vereins für Schwaben 98). Die Annahme des Städteartikels und damit die Grundlegung der Augsburger Parität erfolgte bekanntlich aufgrund eines Gutachters von Hans Jakob Fugger (s. u.). Peter Arnold Heuser: Jean Matal. Humanistischer Jurist und europäischer Friedensdenker (um 1517–1597). Köln u. a. 2003. Wolfgang Kuhoff: Marcus Welser als Erforscher des römischen Augsburg. In: Die Welser. Neue Forschungen zur Geschichte und Kultur des oberdeutschen Handelshauses. Hg. von Mark Häberlein und Johannes Burkhardt. Berlin 2002 (Colloquia Augustana 16), S. 585– 608; Magnus Ulrich Ferber: „Scio multos te amicos habere.“ Wissensvermittlung und Wissenssicherung im Späthumanismus am Beispiel des Epistolariums Marx Welsers d. J. (1558–1614). Augsburg 2008 (Documenta Augustana 19). Vgl. auch die Beiträge von Magnus Ulrich Ferber und Alois Schmid in diesem Band.

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Auseinandersetzungen und Parteinahmen verbunden waren, hat zuletzt Martin Mulsow herausgearbeitet. Es ging vor allem um das Verhältnis von weltlicher und geistlicher Macht bzw. deren jeweilige Legitimierung durch Nachweis historischer Priorität und Dauer, konzentriert auf die Problematik der Reichweite der päpstlichen Gewalt. Augsburg war in das katholische Netzwerk einbezogen, dessen Mittelpunkt die Ingolstädter Universität bildete. Gerade über Welser bestanden jedoch auch Verbindungen zum calvinistischen Netzwerk, das in Heidelberg sein Zentrum hatte.25 Um die Frage bischöflicher und reichsstädtischer Macht zudem vor dem Hintergrund der konfessionellen Parität ging es im Augsburger Subdiskurs. Auch dadurch wirkten Humanisten an der neuerlichen Identitätsvertiefung der Reichsstadt, an der kulturell-politischen Erziehung und Positionsverfestigung der Stadteliten und an der Perfektionierung der reichsstädtischen Herrschaft entscheidend mit. Und ein so zentral humanistisch engagierter Mann wie Hans Jakob Fugger (1516–1575), dessen Bibliothek eine wesentliche Grundlage der bayrischen Hofbibliothek bilden sollte, spielte in der faktischen Nachfolge Peutingers die führende Rolle in der städtischen Außenpolitik.26 Schon im Umfeld der Verfassungsänderung 1548/52 hatten die Patrizier gegen den zur direkten politischen Partizipation drängenden gemeinen Pofel eingewandt, dieser verfüge nicht nur nicht über politische Einsicht und Erfahrung, sondern achte auch die Gelehrten, also den Rat der Juristen und Humanisten bzw. humanistischen Juristen, nicht.27 Es ist nicht ausgeschlossen, dass die Stadtherren bei ihrer Benutzung des Begriffs Pofel bereits auf die humanistisch vermittelte, definitiv pejorative Auffassung des populus in zahlreichen antiken Texten und in humanistischen Umsetzungen dieser Art, darunter Machiavellis Fürst und Geschichte von Florenz, rekurrierten. Dass dieses Schrifttum in der Stadt kursierte, darf angesichts der engen Beziehungen nach Italien und zum Kaiserhof mit hoher Wahrscheinlichkeit angenommen werden. 28 Damit sind wir an derjenigen Stelle im Späthumanismus angekommen, die auch im vorliegenden Rahmen eine vertiefende Betrachtung verdient. Die in ––––––––– 25

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27 28

Martin Mulsow: Netzwerke gegen Netzwerke. Polemik und Wissensproduktion im politischen Antiquarianismus um 1600. In: ders.: Die unanständige Gelehrtenrepublik. Wissen, Libertinage und Kommunikation in der Frühen Neuzeit. Stuttgart, Weimar 2007, S. 143– 190. Eine moderne Biographie zu ihm fehlt; vgl. daher noch immer Wilhelm Maasen: Hans Jakob Fugger (1516–1575). München, Freising 1922 (Historische Forschungen und Quellen 5), ferner Maximilian Lanzinner: Fürst, Räte und Landräte. Die Entstehung der Zentralbehörden in Bayern (1511–1598). Göttingen 1980 (Veröffentlichungen des Max-PlanckInstituts für Geschichte 61), S. 71ff. und 343f. sowie Hermann Kellenbenz: Hans Jakob Fugger. Handelsherr, Humanist, Diplomat (1516–1575). In: Lebensbilder aus dem Bayerischen Schwaben. Bd. 12. Weißenhorn 1980, S. 48–104. Kießling: Republikanismus (wie Anm. 5), S. 197; Weber: Herrschaftswissen (wie Anm. 14), S. 8f. Vgl. dazu Wolfgang E. J. Weber: Die moderne Theorie der (Außen-)Politik im frühneuzeitlichen Bayerisch-Schwaben. In: Wüst u. a. (Hgg.): Grenzüberschreitungen (wie Anm. 20), S. 13–26.

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Wolfgang E. J. Weber

dieser Phase aufkommende spezifisch politiktheoretische Literatur, so unsere These, hat auch Augsburg erreicht und ist in die Stadtpolitik eingedrungen. Machiavellis Errungenschaft – sein 1512/16 entstandenes Schlüsselwerk zirkulierte zunächst als Manuskript in Europa, die ersten Drucke der 1530er Jahre konnten noch frei hergestellt und verkauft werden, erst nach 1557 schlug die Zensur zu – bestand in der Konzeption der Politik erstmals als autonomer Norm- und Praxisbereich, als nicht mehr Bestandteil der allgemeinen Moral und Alltagspraxis. 29 Dieser Versuch, die Geltung der üblichen Werte für alles Handeln, das sich auf die öffentliche Ordnung und Herrschaft bezog, letztlich abzuleugnen und damit die Grundlage jeder gesellschaftlich-politischen Ordnung der Zeit, nämlich zugleich diesseitige und jenseitige Heilsgemeinschaft zu sein – zusammengefasst in der Leitprämisse der ‚christlichen Gemain‘ –, konnte in einer Epoche, die über Reformation und Konfessionalisierung gerade in den Versuch neuer, systematischer Verchristlichung eingetreten war, nicht einfach hingenommen werden. Bis weit in das 17. Jahrhundert hinein blieb die politiktheoretische Diskussion deshalb von dem Anliegen beherrscht, diesen Angriff zu widerlegen, anfangs pauschal und demonstrativ-empört, schon bald aber auch differenziert und nüchtern-abwägend. Hinsichtlich der praktischen Rezepte, die der Florentiner Beamte und Autor zwecks Bewahrung einmal erworbener Herrschaft gegen innere und auswärtige Bedrohung entwickelte, gab es von Anfang an weniger Zurückhaltung; vielmehr suchte eine Vielzahl von Herrschaftsträgern aus der Lektüre für die je eigenen Belange Hinweise und Vorschläge zu gewinnen. Im letzten Viertel des 16. Jahrhunderts, als sich die konfessionelle Auseinandersetzung zum Krieg zuspitzte, gewann dieser praktischherrschaftliche Bedarf den Vorrang. Die Folge war eine Welle entsprechender Darstellungen. 1576 erschienen erstmals Jean Bodins Six Livres de la République, also jenes Werk, welches mit der Einführung des Begriffs Souveränität die innere Ordnung jedes Staates konsequent hierarchisierte und politisch wie rechtlich festlegte, wer letztlich über die Entscheidung verfügte. Die zeitgenössischen Leser rezipierten aber auch die übrigen Teile des umfangreichen Textes, die sich in sehr nüchterner, pragmatischer Weise mit der Wahrnehmung, Einschätzung und Instrumentalisierung der Charaktereigenschaften der Untertanen, der Notwendigkeit des Aufbaus eines effizienten Beamtenapparates, der Herrschaftsstabilisierung und -intensivierung auch durch Gewährung bestimmter Grundrechte und Beibehaltung oder Eröffnung von politischen Partizipations- bzw. zumindest Willensbekundungsmöglichkeiten usw. befassen.30 1589 erschienen mit Giovanni Boteros Della Ragione di Stato und Justus Lipsius’ Politica gleich zwei systematisch angelegte Handreichungen für den praktischen Politikbedarf. ––––––––– 29

30

Vgl. im Überblick Herfried Münkler: Niccolò Machiavelli. Der Fürst (1512/32). In: Geschichte des politischen Denkens. Ein Handbuch. Hg. von Manfred Broker. Frankfurt a. M. 2007, S. 108–121 und zur Kontroverse Cornel Zwierlein und Anette Meyer: Machiavellismus. In: Enzyklopädie der Neuzeit. Bd. 7. Stuttgart, Weimar 2008, Sp. 1067–1072. Vgl. im Überblick Wolfgang E. J. Weber: Jean Bodin. Sechs Bücher über den Staat (1576). In: Geschichte (wie Anm. 29), S. 151–166.

Humanismus und reichsstädtische Politik

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Der Italiener Botero verschaffte der Autonomisierung der Politik aus einer entschieden römisch-gegenreformatorischen Perspektive ihren auch heute noch aktuellen Schlüsselbegriff und legitimierte damit das primär erfolgsbezogene, notfalls auch die Prinzipien der allgemeinen Moral brechende politische Handeln als angesichts ihres höheren Zwecks, der Statussicherung und des Statusausbaus zugunsten der allein selig machenden Religion, als nicht nur zulässig, sondern sogar gottgewollt. Darüber hinaus war er einer der ersten Autoren, der die überragende Bedeutung der Wirtschaft in den Vordergrund stellte, noch vertieft in den Cause della Grandezza e magnificenza della città, publiziert ebenfalls erstmals 1589. Der Niederländer Lipsius dagegen entwickelte ein Programm, das die als lern- und bildungsfähig eingeschätzten Eliten zur Selbstdisziplin bringen und dadurch zu verbesserter Herrschaft über die unbelehr- und undisziplinierbare Masse durchaus auch im eigenen Interesse anleiten sollte. Dazu konzipierte er den Staat sehr modern als Imperium, also Ordnung von Befehl und Gehorsam, und den am besten, aber nicht nur als monarchischen Souverän zu organisierenden obersten Herrschaftsträger als Inhaber alles überwältigender auctoritas und hoch gerüsteter Militärmacht. Im Gegensatz zu Bodin beschrieb er die maiestas des Souveräns also nicht formal und juristisch als oberste Gesetzgebungskompetenz, sondern als personale, charismatische, äußerlich wahrnehmbare und bewusst repräsentierte, gegebenenfalls auch exemplarisch exekutierte Autorität. 31 Dass diese Ansätze, insbesondere der nur auf den ersten Blick ausschließlich fürstenstaatlich ausgerichtete Entwurf des Lipsius, auch in den städtisch-aristokratisch-oligarchischen politischen Systemen wahrgenommen und genutzt wurden, belegt unmissverständlich der Schweizer Fall. Wie Frieder Walter schon 1979 herausgearbeitet hat, adaptierte z. B. die Zürcher Oligarchie die lipsianische Herrschaftslehre in Form eines chronistischhistoriographisch verkleideten sog. Regentenkränzlis. Auch sie erkannte also die Chancen, welche die neuere politiktheoretische Literatur bot, um ihre Stadtherrschaft weiter aufzurüsten.32 Lässt sich für den Augsburger Fall Ähnliches nachweisen? Von der historischen Problemlage her besteht enge Verwandtschaft. Auch die schwäbische Reichsstadt hatte eine Machtposition erreicht, die sie mit eigenem Interesse ausstattete und zu selbständigem politischen Handeln befähigte. Der Trend zur Oligarchisierung, zur Abschottung der Oberschichten bzw. der führenden Familien nach unten, zur Festigung des obrigkeitlichen Charakters der Stadtregierung, von deren Transformation zum klar erkennbaren Stadtregiment, hatte wie angesprochen längst begonnen und konnte angesichts der konfessionellen und ––––––––– 31

32

A. Enzo Baldini und Anna Maria Battista: Staatsräson, Tacitismus, Machiavellismus, Utopie. In: Die Philosophie des 17. Jahrhunderts. Hg. von Jean-Pierre Schobinger. Bd. 1. Basel 1998 (Grundriss der Geschichte der Philosophie. Begründet von Friedrich Ueberweg. Völlig neu bearbeitete Ausgabe), S. 545–568; Wolfgang E. J. Weber: Lipsianismus. In: Enzyklopädie der Neuzeit (wie Anm. 29), Sp. 924–926. Frieder Walter: Niederländische Einflüsse auf das eidgenössische Staatsdenken im späten 16. und frühen 17. Jahrhundert. Neue Aspekte der Zürcher und Berner Geschichte im Zeitalter des werdenden Absolutismus. Zürich 1979.

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Wolfgang E. J. Weber

sozialen Herausforderungen von innen wie außen noch keineswegs als abgeschlossen gelten. Mit anderen Worten, Statussicherung und Statusausbau durch Aufrüstung auf allen Ebenen waren definitiv aktuell. Dass einschlägige theoretische Entwürfe und praktische Handreichungen in Gestalt der erwähnten und einer Vielzahl weiterer Werke existierten, war in der europäischen Metropole wohl bekannt. Mehr noch, die berühmten Kataloge der späteren Staats- und Stadtbibliothek seit 1633 weisen aus, dass ein erheblicher Teil dieser Werke in der Stadt vorhanden war. Darüber hinaus ist u. a. über die Korrespondenz Marx Welsers mit Justus Lipsius nachgewiesen, dass sich der städtische Humanismus über die Bedeutung der lipsianischen Werke generell im Klaren war. 33 Um die Wahrscheinlichkeit zur Gewissheit fortzuentwickeln, bedarf es gleichwohl noch einiger Forschungsarbeit. Zu überprüfen ist beispielsweise, ob sich in den hoffentlich identifizierbaren frühesten Augsburger Exemplaren der neuen Politiktheorie entsprechende Benutzungsspuren, am besten natürlich durch Vertreter des Stadtregiments selbst, finden lassen. Zu überprüfen ist des Weiteren, ob die dann gesicherte, nachhaltige Lektüre erkennbare Spuren in Gutachten, Memoranden, Notizen, Kommentaren der städtischen Politik einerseits, in der Begründung entsprechender Beschlüsse andererseits hinterließ. Schließlich ist nochmals die konkrete Praxis des Stadtregiments in der entscheidenden Zeit mit den in der angesprochenen Literatur entwickelten Rezepturen abzugleichen. Dass die gesamten Texte der Periode entsprechend zu durchmustern sind, versteht sich ohnehin. Aber auch die Kunstgeschichte ist gefragt: Weist das städtische Bau- und Ausstattungsprogramm der Schlüsseljahre um 1600 entsprechende Bezüge und Elemente auf? Immerhin hat Bernd Roeck schon längst herausgearbeitet, dass die Deckenbilder des Goldenen Saales auf machiavellisch inspiriertes modernes politisches Denken hinweisen.34

4.

Schluss

Dass die humanistische Modernisierung der Stadtpolitik, die Aneignung, Umsetzung und entsprechende Fortentwicklung einschlägigen Methoden-, Sachund Orientierungswissens weiterging, dafür ließen sich viele Beispiele aufführen. Der erwähnte Bibliothekskatalog gehört in diesen Zusammenhang. Das Gleiche dürfte für die zeitgenössische Stadtvermessung sowie schon den neuen Stadtplan und das Stadtmodell Hans Rogels in den 1560er Jahren gelten.35 Auch die Augsburger politische Elite verschaffte sich, in ihrer Autorität mittels bodinscher und lipsianischer Rezepte massiv gestärkt, ihre Makroperspektive über die Stadt und ihre Umwelt, die sie wohl zu erstmals systematischer, in der jeweiligen Einzelentscheidung systemisch vernetzter Herrschaft befähigte, auch ––––––––– 33 34 35

Vgl. meine Zusammenfassung und die Belege in Weber: Moderne Theorie (wie Anm. 28). Bernd Roeck: Elias Holl. Architekt einer europäischen Stadt. Regensburg 1984, S. 218. Zusammenfassend Weber: Herrschaftswissen (wie Anm. 14), S. 16f.

Humanismus und reichsstädtische Politik

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und maßgeblich mittels des Humanismus bzw. bestimmter humanistischer Ansätze und Fortentwicklungen. Spätestens die Berufung Marx Welsers in eines der höchsten städtischen Ämter zeigt, dass nunmehr definitiv nicht mehr humanistisch gelehrte Berater und Zuarbeiter, sondern die Elite selbst sich dieses Wissen aneignete und entsprechend anwandte. So konnte 1620 ein entsprechend staatsräsonaler Traktat aus der Feder wahrscheinlich Paul Welsers gegen den Pfälzer Winterkönig erscheinen und so war es 1648 auch aus Augsburger Sicht selbstverständlich, dass die Beendigung des Dreißigjährigen Krieges nach staatsräsonalen Prinzipien zu erfolgen hatte. 36

––––––––– 36

Wolfgang E. J. Weber: Ein Bankrotteur berät den Winterkönig. Paul Welser (1555–1620) und die Secretissima Instructio Gallo-Britanno-Batava Friderico I. Electo regi Bohemiae data (1620). In: Welser (wie Anm. 24), S. 618–630; Secretissima Instructio – Allergeheimste Instruction Friderico V. Comiti Palatino Electo Regi Bohemiae 1620. Kommentierter lateinischer und deutscher Nachdruck. Hg. von Wolfgang E. J. Weber. Augsburg 2001 (Documenta Augustana 9); Wolfgang E. J. Weber: Staatsräson und konfessionelle Toleranz. Bemerkungen zum Beitrag des politischen Denkens zur Friedensstiftung 1648. In: Das Friedensfest. Augsburg und die Entwicklung einer neuzeitlichen Toleranz-, Friedens- und Festkultur. Hg. von Johannes Burkhardt und Stephanie Haberer. Berlin 2000 (Colloquia Augustana 13), S. 165–205.

Mark Häberlein

Botanisches Wissen, ökonomischer Nutzen und sozialer Aufstieg im 16. Jahrhundert Der Augsburger Arzt und Orientreisende Leonhard Rauwolf

Der vermutlich 1535 in Augsburg geborene und 1596 in einem Feldlager an der ungarischen Türkengrenze gestorbene Arzt Leonhard Rauwolf hat vor allem aus drei Gründen das Interesse von Kultur-, Wissenschafts- und Wirtschaftshistorikern auf sich gezogen.1 Erstens als Pflanzensammler: Das von Rauwolf angelegte Herbarium, das sich heute im Besitz der Universitätsbibliothek Leiden befindet, gehört mit 972 Pflanzen in vier stattlichen Foliobänden zu den umfangreichsten, die aus dem 16. Jahrhundert überliefert sind. Zweitens als Orientreisender: Anders als die meisten Pilger und Gesandten des 15. und 16. Jahrhunderts, deren Reiseeindrücke sich auf Konstantinopel und Palästina konzentrierten,2 bereiste Rauwolf zwischen 1573 und 1576 die im abendländischen Europa wenig bekannten syrischen und mesopotamischen Provinzen des Osmanischen Reiches, ehe er seine Reise mit einer Pilgerfahrt nach Jerusalem abschloss. In seinem 1582 in Lauingen erschienenen Reisewerk (Abb. 1) konnte er daher Städte wie Tripoli, Aleppo und Bagdad, die Ruinen von Babylon und das Kurdengebiet im Norden des heutigen Irak detailliert beschreiben. Drittens fand Rauwolf als Repräsentant eines der größten und risikofreudigsten süddeutschen Handelsunternehmen seiner Zeit Beachtung: Seine Orientreise unternahm er im Dienst der Augsburger Handelsgesellschaft „Melchior Manlich und Mitverwandte“, die seit 1571 unter Umgehung Venedigs von Marseille aus direkte ––––––––– 1

2

Die ausführlichste Darstellung von Rauwolfs Leben und Werk bietet Karl H. Dannenfeldt: Leonhard Rauwolf. Sixteenth-Century Physician, Botanist, and Traveler. Cambridge (Mass.) 1968. Vgl. auch Franz Babinger: Leonhard Rauwolf, ein Augsburger Botaniker und Orientreisender des sechzehnten Jahrhunderts. In: Archiv für die Geschichte der Naturwissenschaften und der Technik 4 (1913), S. 148–161; Fritz Junginger: Leonhard Rauwolf, ein schwäbischer Arzt, Botaniker und Entdeckungsreisender des 16. Jahrhunderts. Heidenheim 1969; Dietmar Henze: Leonhart Rauwolff. In: Leonhart Rauwolff: Aigentliche Beschreibung der Raiss inn die Morgenlaender. Graz 1971, S. V–XXXIII; Welt im Umbruch. Augsburg zwischen Renaissance und Barock (Ausstellungskatalog). 3 Bde. Augsburg 1980, Bd. 1, S. 337–339; Bd. 2, S. 479f.; Mark Häberlein: Rauwolf, Leonhard. In: Neue Deutsche Biographie. Bd. 21. Berlin 2003, S. 217f.; Augsburger Stadtlexikon. Hg. von Günther Grünsteudel u. a. Augsburg 21998, S. 738f. Vgl. Folker Reichert: Erfahrung der Welt. Reisen und Kulturbegegnung im späten Mittelalter. Stuttgart 2001, bes. S. 113–157; Almut Höfert: Den Feind beschreiben. „Türkengefahr“ und europäisches Wissen über das Osmanische Reich 1450–1600. Frankfurt a. M., New York 2003.

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Mark Häberlein

Handelsbeziehungen zu den Häfen der Levante anknüpfte. Bei diesem Versuch, das venezianische Handelsmonopol zu umgehen, übernahm sich die ManlichGesellschaft allerdings finanziell und das Unternehmen endete 1574 mit einem der spektakulärsten Firmenbankrotte im Augsburg des 16. Jahrhunderts.3 Rauwolf erscheint damit als exemplarischer Vertreter jener „doppelte[n] Expansionsbewegung“, die Renate Dürr, Gisela Engel und Johannes Süßmann unlängst als Signum der europäischen Frühen Neuzeit benannt haben: der „sich gegenseitig verstärkenden Expansion in andere geographische Räume und neue Erkenntnishorizonte“. 4

Abb. 1: Leonhard Rauwolfs Reisebericht: Titelblatt der Lauinger Ausgabe von 1583.

––––––––– 3

4

Zu Melchior Manlich und seiner Gesellschaft vgl. Friedrich Roth: Zum Bankerott der Firma Manlich in Augsburg im Jahre 1574. In: Zeitschrift des Historischen Vereins für Schwaben und Neuburg 34 (1908), S. 160–164; Jakob Strieder: Levantinische Handelsfahrten deutscher Kaufleute des 16. Jahrhunderts. In: Das reiche Augsburg. Ausgewählte Aufsätze Jakob Strieders zur Augsburger und süddeutschen Wirtschaftsgeschichte des 15. und 16. Jahrhunderts. Hg. von Heinz Friedrich Deininger. München 1938, S. 167–189; André-E. Sayous: Le commerce de Melchior Manlich et Compagnie d’Augsbourg à Marseille et dans toute la Méditerrannée entre 1571 et 1574. In: Revue historique 176 (1935), S. 389–411; Hermann Kellenbenz: Le banqueroute de Melchior Manlich en 1574 et ses répercussions en France. In: Mélanges offerts à Bernard Chevalier. Tours 1989, S. 153–159; Gerhard Seibold: Die Manlich. Geschichte einer Augsburger Kaufmannsfamilie. Sigmaringen 1995, S. 140–145 und passim; Mark Häberlein: Brüder, Freunde und Betrüger. Soziale Beziehungen, Normen und Konflikte in der Augsburger Kaufmannschaft um die Mitte des 16. Jahrhunderts. Berlin 1998 (Colloquia Augustana 9), S. 223f. und passim (s. Register). Renate Dürr, Gisela Engel, Johannes Süßmann: Einleitung. In: Expansionen in der Frühen Neuzeit. Hg. von dens. Berlin 2005 (Zeitschrift für Historische Forschung. Beiheft 34), S. 7–24, hier S. 8.

Botanisches Wissen, ökonomischer Nutzen und sozialer Aufstieg

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Obwohl es nicht an Studien zu Leben und Reisewerk Rauwolfs fehlt, hat die Frage, wie seine Tätigkeit als Pflanzensammler und Botaniker, seine Wahrnehmung und Darstellung des Orients und seine Stellung als Arzt und Angestellter einer großen süddeutschen Handelsfirma miteinander zusammenhingen, in der bisherigen Forschung kaum Berücksichtigung gefunden. Den Zusammenhängen zwischen botanischem Wissen, dem ökonomischen Nutzen, das sich aus solchem Wissen ziehen ließ, und den Möglichkeiten sozialen Aufstiegs in der reichsstädtischen Gesellschaft möchte dieser Beitrag nachgehen. Eine solche Perspektive legt die Vorrede von Rauwolfs Reisewerk durchaus nahe. Diese beginnt mit einem Vergleich der Wissenschaftler und der Kaufleute, die beide keine Mühen scheuen würden, ferne Länder und Völker zu bereisen – sei es um zuo jhrer handthierung bequemliche vnnd nutzbarliche Wahren in jhr hand [zu] bringen oder um die erkandtnuß freyer vnnd guoter Künsten zu mehren. Diesen Vergleich nimmt Rauwolf zum Ausgangspunkt, um neben topischen Legitimationsformeln – der Neugier auf fremde Weltregionen und dem Wunsch, die Länder der Bibel mit eigenen Augen zu sehen – auch einen handfesten ökonomischen Grund seiner Reise zu benennen. Er schreibt nämlich, dass ihn sein Herr Schwager […] Melchior Manlich der älter/ mit seinen Schiffarten inn die Morgenländer/ vmb erkundigung der Landen trogues, materialien, vnd anderen zuo seinem handel dienstlichen sachen zuuerraysen […] beauftragt habe. Ferner verleiht er der Hoffnung Ausdruck, dass sein Werk den Apoteckern vnd Medicis nicht unwillkommen sein werde, nachdem darin vilerlay nutzbarlicher Kreüter descriptiones zuofinden seien. 5 Die Tatsache, dass die Reichsstadt Augsburg ihren Stadtarzt während seiner immerhin dreijährigen Abwesenheit nicht nur in ihren Diensten hielt, sondern sogar sein Gehalt weiterzahlte, legt ebenfalls die Vermutung nahe, dass sich die patrizisch-merkantile Elite der Reichsstadt von der Gewährung dieses „Forschungsstipendiums“ einen konkreten Nutzen versprach. Derartigen Zusammenhängen von naturwissenschaftlichen Aktivitäten und ökonomischen Zielen hat vor allem die Wissenschaftsgeschichte der kolonialen Expansion in den letzten Jahren verstärkte Aufmerksamkeit geschenkt. Die amerikanische Wissenschaftshistorikerin Londa Schiebinger etwa hat die Sammel- und Klassifikationstätigkeit europäischer Naturforscher in überseeischen Gebieten in der Frühen Neuzeit pointiert als „Bioprospektion“ im Dienste kommerzieller und kolonialer Interessen beschrieben.6 ––––––––– 5

6

Leonharti Rauwolfen/ der Artzney Doctorn/ vnd bestelten Medici zuo Augspurg. Aigentliche beschreibung der Raiß/ so er vor diser zeit gegen Auffgang inn die Morgenländer/ fürnemlich Syriam, Iudaeam, Arabiam, Mesopotamiam, Babyloniam, Assyriam, Armeniam etc. nicht ohne geringe mühe vnnd grosse gefahr selbs volbracht: neben vermeldung etlicher mehr gar schön frembden vnd außländischen Gewächsen/ sampt jren mit angehenckten lebendigen contarfacturen/ vnnd auch anderer denckwürdiger sachen/ die alle er auff solcher erkundiget/ gesehen vnd obseruiert hat. Alles in Vier vnderschidliche Thail mit sonderem fleiß abgethailet [...] Jn costen vnd verlag Georgen Willers. Lauingen: Leonhart Reinmichel 1583, Vorrede; vgl. Dannenfeldt: Rauwolf (wie Anm. 1), S. 220f. Londa Schiebinger: Plants and Empire. Colonial Bioprospecting in the Atlantic World. Cambridge (Mass.), London 2004; dies.: Prospecting for Drugs: European Naturalists in the West Indies. In: Colonial Botany. Science, Commerce, and Politics in the Early

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Mark Häberlein

Dass sich eine Untersuchung der Verschränkung wissenschaftlicher, ökonomischer und sozialer Praktiken auch im Falle Augsburgs im Zeitalter der Renaissance als weiterführend erweisen kann, möchte der vorliegende Beitrag am Beispiel Rauwolfs aufzeigen. Er geht dazu in drei Schritten vor. In einem ersten wird die Beschäftigung von Vertretern der humanistischen und ökonomischen Eliten der Reichsstadt mit „exotischen“ Pflanzen betrachtet. Dieses botanische Interesse entsprang gleichermaßen der Wissbegier dieser Eliten und ihrem Bestreben, aus ihrem Wissen Nutzen zu ziehen. Daran anschließend wird Rauwolfs Biographie unter der Fragestellung untersucht, wie er sein naturkundliches Wissen und seine Pflanzensammlung instrumentalisierte, um seine eigene Karriere zu fördern und in der reichsstädtischen Gesellschaft sozial aufzusteigen. Im dritten und letzten Schritt versucht dieser Beitrag aufzuzeigen, wie sich naturkundliche und ökonomische Interessen in Rauwolfs Bericht über seine Orientreise überlappten und wechselseitig durchdrangen.

1.

Zwischen Neugier und Nützlichkeit: Augsburger Kaufleute und exotische Pflanzen

Augsburger Patrizier und Großkaufleute interessierten sich aus verschiedenen Gründen für seltene und exotische Pflanzen: Sie kultivierten sie als Statussymbole, schätzten sie als Heilmittel und suchten aus ihnen kommerziellen Gewinn zu ziehen. Die Gärten der Fugger erregten aufgrund ihrer zahlreichen aus dem Mittelmeerraum importierten Gewächse ebenso wie aufgrund ihrer eindrucksvollen Architektur und ausgefeilten Wasserspiele die Bewunderung auswärtiger Besucher wie Beatus Rhenanus und Michel de Montaigne. 7 Der prachtvolle Garten des zwinglianischen Zunftbürgermeisters Jakob Herbrot rief neben Staunen auch Neid hervor, der in unverhohlene Häme umschlug, als ihn kaiserliche Truppen nach dem Fürstenaufstand von 1552 mutwillig zerstörten.8 Der Patrizier Hans Heinrich Herwart pflanzte offenbar als einer der ersten Mitteleuropäer –––––––––

7 8

Modern World. Hg. von Londa Schiebinger und Claudia Swan. Philadelphia 2004, S. 119– 133; vgl. auch Marie-Noëlle Bourguet, Christophe Bonneuil (Hgg.): De l’inventaire du monde à la mise en valeur du globe. Botanique et colonization. Sonderheft der Revue française d’histoire d’outre-mer 86 (1999); Roy MacLeod (Hg.): Nature and Empire. Science and the Colonial Enterprise. Sonderheft von Osiris 15 (2000); Richard Drayton: Nature’s Government. Science, Imperial Britain, and the ‘Improvement’ of the World. New Haven, London 2000; David Philip Miller, Peter Hanns Reill (Hgg.): Visions of Empire. Voyages, Botany, and Representations of Nature. Cambridge u. a. 2000. Mark Häberlein: Die Fugger. Geschichte einer Augsburger Familie (1367–1650). Stuttgart 2006, S. 142, 145. Paul Hecker: Der Augsburger Bürgermeister Jacob Herbrot und der Sturz des zünftischen Regiments in Augsburg. In: Zeitschrift des Historischen Vereins für Schwaben und Neuburg 1 (1874), S. 34–98, hier S. 94f.; Mark Häberlein: Jakob Herbrot (1490/95–1564), Großkaufmann und Stadtpolitiker. In: Lebensbilder aus dem Bayerischen Schwaben. Bd. 15. Weißenhorn 1997, S. 69–111, hier S. 92.

Botanisches Wissen, ökonomischer Nutzen und sozialer Aufstieg

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aus dem Osmanischen Reich importierte Tulpenzwiebeln in seinem Augsburger Garten an. 9 Herwarts Garten diente Leonhard Rauwolf später als eine Art Experimentierfeld für Pflanzensamen, die er aus dem Nahen Osten mitgebracht hatte. In seinem Reisewerk beschreibt er, dass die Samen in Herwarts Garten zunächst prächtig aufgegangen, nach einiger Zeit aber verwelkt seien. 10 Angehörige der städtischen Eliten spielten im 16. Jahrhundert neben den Humanisten auch eine führende Rolle bei der Diffusion von Kenntnissen über außereuropäische Heilpflanzen. Das bekannteste Beispiel ist sicherlich das amerikanische Guajakholz, das nachweislich seit etwa 1515 von der Insel Hispaniola nach Spanien exportiert wurde und die bis dahin praktizierte Quecksilbertherapie zur Behandlung der Syphilis verdrängte. Der „Siegeszug“ der Guajakkur in der medizinischen Praxis des 16. Jahrhunderts wurde durch Traktate wie Ulrichs von Hutten De guaiaci medicina et morbo gallico (1519) ebenso gefördert wie durch die Vorbildfunktion des „Holzhauses“, das die Fugger in der von ihnen gegründeten Armensiedlung in Augsburg einrichteten. Ungeachtet des – mittlerweile widerlegten – Vorwurfs des Arztes Theophrast von Hohenheim, gen. Paracelsus, dass die Fugger die „Holzkur“ propagiert hätten, um ein vermeintliches Einfuhrmonopol auf Guajakholz auszubeuten, richtete eine Reihe mitteleuropäischer Städte „Holzhäuser“ bzw. „Franzosenhäuser“ zur Behandlung von Syphiliskranken ein. 11 In einer detaillierten Studie zur Frühgeschichte der Sarsaparillakur in Mitteleuropa konnte Peter Arnold Heuser zeigen, dass die Rezeption dieser amerikanischen Heilpflanze, die seit den 1530er Jahren an südeuropäischen Fürstenhöfen Anwendung fand, zumindest im Kölner Raum maßgeblich über die Korrespondenznetze der Humanisten erfolgte.12 Die Korrespondenz Hans Fuggers belegt, dass der Augsburger Patrizier etwa zur selben Zeit auf die amerikanische Arzneipflanze aufmerksam wurde wie die Kölner Humanisten um Georg Cassander und Jean Matal, nämlich Mitte der 1560er Jahre.13 ––––––––– 9 10 11

12

13

Gabriele von Trauchburg: Häuser und Gärten Augsburger Patrizier. Berlin 2001, S. 122. Rauwolf: Aigentliche beschreibung der Raiß (wie Anm. 5), S. 286f.; Dannenfeldt: Rauwolf (wie Anm. 1), S. 218f. Patricia Vöttiner-Pletz: Lignum sanctum. Zur therapeutischen Verwendung des Guajak vom 16. bis zum 20. Jahrhundert. Frankfurt a. M. 1990, bes. S. 30f., 44f.; Claudia Stein: Die Behandlung der Franzosenkrankheit in der Frühen Neuzeit am Beispiel Augsburgs. Stuttgart 2003 (Medizin, Geschichte und Gesellschaft. Beiheft 19); Benjamin Scheller: Memoria an der Zeitenwende. Die Stiftungen Jakob Fuggers des Reichen vor und während der Reformation (ca. 1505–1555). Berlin 2004 (Studien zur Fuggergeschichte 37/Stiftungsgeschichten 3), S. 225–230. Peter Arnold Heuser: Gicht- und Syphilistherapie in Köln um 1560. Ein Beitrag zur Frühgeschichte der Sarsaparillakur in Europa. In: Rheinisch-westfälische Zeitschrift für Volkskunde 46 (2001), S. 67–197; Vöttiner-Pletz: Lignum sanctum (wie Anm. 11), S. 85f., 117–125. Vgl. Regina Dauser: „Stainlin für grieß“ und andere Wundermittel – Hans Fuggers Korrespondenz über medizinische Exotica. In: Die Welt des Hans Fugger (1531–1598). Hg. von Johannes Burkhardt und Franz Karg. Augsburg 2007 (Materialien zur Geschichte der Fugger 1), S. 51–59.

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Im Jahre 1567 beschaffte sich Hans Fugger das Heilmittel über die Antwerpener Firmenniederlassung und in den folgenden Jahren unterzogen sich Hans und sein Bruder Marx Fugger mehrfach Sarsaparillakuren. 14 Ein Jahrzehnt später bestellte Fugger im Auftrag Herzog Wilhelms von Bayern bei dem spanischen Faktor Thomas Miller Öl aus dem orientalischen Indien, das die Spanier von wegen der gross[en] Tugent Balsamöl nennen würden und das vor allem in Sevilla erworben werden könne. Im folgenden Jahr bat Herzog Albrecht von Bayern Hans und Marx Fugger um die Wurz Mechiacan, ein mittelamerikanisches Windengewächs, das als Purgativum Verwendung fand. Hans Fugger konnte bei dem Augsburger Apotheker Kaspar Fischer eine geringe Menge des Heilmittels erstehen. Falls der Herzog mehr davon benötigte, bot Fugger an, es über die niederländischen und spanischen Kontakte der Firma zu beschaffen, und die Korrespondenz dokumentiert das Eintreffen mehrerer Lieferungen von Balsamöl und Mechocannawurzeln in Augsburg. 15 Auch die Chinawurzel wandte Hans Fugger als Heilmittel in Kuren an.16 Als ein befreundeter Adeliger ihn 1582 um die Besorgung von Sassafras ersuchte, musste Hans Fugger zunächst passen, denn dieses aus dem amerikanischen Fenchelholzbaum gewonnene Heilmittel war ihm ebenso wenig bekannt wie den Augsburger Ärzten; binnen eines Monats konnte er seinem Korrespondenzpartner jedoch mitteilen, dass er Sassafras aus Nürnberg besorgen könne.17 Andere Mitglieder der Familie teilten Hans Fuggers Interesse für seltene und exotische Pflanzen. Hans Jakob Fugger förderte den Botaniker Lorenz Gryll 18 und Philipp Eduard Fugger fertigte deutsche Auszüge aus dem Werk des Nicolás Monardes über amerikanische Heilpflanzen an.19 Der Sevillaner Arzt Monardes importierte regelmäßig Arzneipflanzen aus der Neuen Welt, verwendete sie in seiner medizinischen Praxis und beschrieb sie in der breit rezipierten Historia medicinal de las cosas que se traen de nuestras Indias Occidentales que sirven en medicina.20 Während sich die Bestellungen von Heilpflanzen, die Hans Fugger tätigte, auf den Eigengebrauch beschränkten oder im Rahmen von Gefälligkeiten erfolgten, erkundeten einige Augsburger Handelsfirmen auch die Möglichkeiten einer systematischen Ausbeutung der kommerziellen Möglichkeiten, die die ––––––––– 14

15 16 17 18 19 20

Christl Karnehm (Bearb.): Die Korrespondenz Hans Fuggers von 1566 bis 1594. Regesten der Kopierbücher aus dem Fuggerarchiv. 2 Bde. in 3 Teilbänden (Bd. 1 unter Mitarbeit von Maria Gräfin von Preysing). München 2003 (Quellen zur neueren Geschichte Bayerns. Reihe III: Privatkorrespondenzen 1–2), hier Bd. 1, Nr. 54, 60, 728; Bd. 2/1, Nr. 255, 555, 1498, 1508; Bd. 2/2, Nr. 2871. Ebd., Bd. 2/1, Nr. 1192, 1270, 1273, 1294–96, 1321, 1329, 1381, 1384, 1417, 1442. Ebd., Bd. 2/2, Nr. 2924, 2925, 2929, 2933, 2936, 2940, 2953, 2963, 2964, 3014. Ebd., Bd. 2/2, Nr. 2255, 2281. Hermann Kellenbenz: Hans Jakob Fugger (1516–1575). In: Lebensbilder aus dem Bayerischen Schwaben. Bd. 12. Weißenhorn 1981, S. 48–105, hier S. 91. Paul Lehmann: Eine Geschichte der alten Fuggerbibliotheken. 2 Bde. Tübingen 1956/60 (Studien zur Fuggergeschichte 12, 15), Bd. 1, S. 77, 222f.; Bd. 2, S. 585. Daniela Bleichmar: Books, Bodies, and Fields: Sixteenth-Century Encounters with New World Materia Medica. In: Schiebinger/Swan (Hgg.): Colonial Botany (wie Anm. 6), S. 83–99.

Botanisches Wissen, ökonomischer Nutzen und sozialer Aufstieg

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Einfuhr bislang unbekannter Pflanzen bzw. pflanzlicher Erzeugnisse bot. Die Faktorei der Gesellschaft Bartholomäus Welsers auf der Karibikinsel Santo Domingo handelte um 1530 mit dem Abführmittel Cañafistola und anderen Arzneipflanzen. Wegen der Produktion von Balsam, einer aus der Rinde des gleichnamigen Baumes hergestellten Wundheilpaste, in ihrer Provinz Venezuela gerieten die Welser in den 1530er Jahren in einen Rechtsstreit mit dem spanischen Monopolisten Antonio de Villasante. 21 Ein ebenfalls in die 1530er Jahre zu datierender Augsburger Einblattdruck (Abb. 2), in dem Balsamöl als Heilmittel gegen verschiedenste Leiden und Gebrechen beworben wurde, zeigt, dass man sich auch in der Reichsstadt aktiv um die Vermarktung dieses außereuropäischen Produkts bemühte. 22

Abb. 2: Werbung für amerikanisches Balsamöl. Einblattdruck. Augsburg ca. 1530/40.

––––––––– 21

22

Götz Simmer: Gold und Sklaven. Die Provinz Venezuela während der Welser-Verwaltung (1528–1556). Berlin 2000, S. 201–207; Jörg Denzer: Die Welser in Venezuela – Das Scheitern ihrer wirtschaftlichen Ziele. In: Die Welser. Neue Forschungen zur Geschichte und Kultur des oberdeutschen Handelshauses. Hg. von Mark Häberlein und Johannes Burkhardt. Berlin 2002 (Colloquia Augustana 16), S. 285–319, hier S. 307f.; Enrique Otte: Von Bankiers und Kaufleuten, Räten, Reedern und Piraten, Hintermännern und Strohmännern. Aufsätze zur atlantischen Expansion Spaniens. Stuttgart 2004, S. 124f., 285. Staats- und Stadtbibliothek Augsburg, 2o L.R. 204/3. Für den Hinweis auf diesen Druck danke ich Dr. Hans-Jörg Künast.

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Mark Häberlein

In diesem Zusammenhang verdient auch der Umstand Erwähnung, dass mit den Apothekern eine Gruppe von medizinischen und pflanzenkundlichen Experten in der Reichsstadt Augsburg praktizierte, die durch Konnubium und die Mitgliedschaft in den sozial exklusiven Trinkstuben der „Herren“ und der Kaufleute mit der patrizisch-merkantilen Führungsschicht eng verflochten war. Mitglieder der Apothekerfamilien Schellenberger, Wirsing/Wirsung, Sighart und Fischer waren gleichermaßen wohlhabend und angesehen; die Schellenberger wurden 1538 in das Patriziat aufgenommen. 23 Die hier zusammengestellten Indizien sprechen für ein anhaltendes Interesse der Augsburger Eliten an seltenen Pflanzen, das gleichermaßen repräsentative, naturkundliche, medizinische und ökonomische Facetten aufwies. Vor diesem Hintergrund sind auch Leonhard Rauwolfs Lebenslauf und seine Erkundungsreise in den Orient zu sehen.

2.

Pflanzensammeln und sozialer Aufstieg: Leonhard Rauwolf

Obwohl über Rauwolfs familiären Hintergrund und Jugendjahre kaum etwas bekannt ist, kann als gesichert gelten, dass er keiner etablierten Familie der Augsburger Führungsschicht angehörte, sondern ein sozialer Aufsteiger war. Dieser Aufstieg vollzog sich über ein Medizinstudium an den Universitäten Tübingen, Wittenberg und Montpellier (1554–1562), das er mit der Promotion in Valence abschloss, ferner über die 1565 erfolgte Heirat mit Regina Jung, einer Tochter des patrizischen Augsburger Stadtarztes Ambrosius Jung d. J., durch die Rauwolf den Zutritt zur Herrentrinkstube und den Status eines „Mehrers“ erlangte, sowie die Anstellung als Augsburger Stadtphysicus mit einem Jahresgehalt von 100 Gulden im Jahre 1571.24 Für die Argumentation dieses Beitrags ist vor allem der Umstand von Bedeutung, dass Rauwolf bereits während seiner Studienzeit in Montpellier systematisch Pflanzen zu sammeln begann – und dass er dies offenbar nicht nur aus Wissbegier und Liebhaberei tat, sondern die Ergebnisse seiner Sammeltätigkeit gezielt einsetzte, um seine wissenschaftliche Reputation aufzubauen und soziales Kapital zu erwerben. Gemeinsam mit seinem Augsburger Studienkollegen Jeremias Merz trug er seit 1560 auf Erkundungsreisen durch Südfrankreich 443 verschiedene Pflanzen zusammen. Nach der Promotion in Valence 1562 reiste ––––––––– 23

24

Gerhard Gensthaler: Das Medizinalwesen der Freien Reichsstadt Augsburg bis zum 16. Jahrhundert mit Berücksichtigung der ersten Pharmakopöe von 1564 und ihrer weiteren Ausgaben. Augsburg 1973 (Abhandlungen zur Geschichte der Stadt Augsburg 21), bes. S. 60–69; Augsburger Eliten des 16. Jahrhunderts. Prosopographie wirtschaftlicher und politischer Führungsgruppen. Hg. von Wolfgang Reinhard. Berlin 1996, S. 126f. (Nr. 220: Kaspar I Fischer und Nr. 221: Kaspar II Fischer), S. 732 (Nr. 1120: Matthäus Schellenberger), S. 778f. (Nr. 1211: Georg Sighart und Nr. 1212: Hans Georg Sighart), 974 (Nr. 1485: Christoph Wirsing). Dannenfeldt: Rauwolf (wie Anm. 1), S. 13–30; Henze: Rauwolff (wie Anm. 1), S. VII– VIII; Josef Fleischmann: Die Ärztefamilie Jung. In: Lebensbilder aus dem Bayerischen Schwaben. Bd. 4. München 1955, S. 14–43, hier S. 40.

Botanisches Wissen, ökonomischer Nutzen und sozialer Aufstieg

109

er über Oberitalien und die Schweiz nach Süddeutschland zurück und erweiterte dabei seine Pflanzensammlung um rund 200 Exemplare. Bevor er mit drei stattlichen Herbarienbänden im Gepäck nach Augsburg zurückkehrte, machte er 1563 bei dem Zürcher Gelehrten Conrad Gesner (1516–1565) und bei dem Tübinger Naturforscher Leonhart Fuchs (1501–1566) Station. Eingehende Vergleiche von Rauwolfs Herbarium mit Fuchs’ in Wien verwahrtem „Kräuterbuch“ haben ergeben, dass der damals bereits hoch angesehene Botaniker der Sammlung des jungen Augsburger Arztes großes Interesse entgegenbrachte. Fuchs lieh sich dessen Herbarienbände aus, ließ über 40 Pflanzen durch den Künstler Jerg Ziegler abzeichnen und kommentierte Rauwolfs Bezeichnungen der gesammelten Arten.25 Im Jahr nach seiner Rückkehr nach Augsburg gewährte Rauwolf auch dem flämischen Gelehrten Charles de L’Ecluse (Carolus Clusius, 1526–1609), der nach Augsburg gekommen war, um Anton Fuggers Sohn Jakob auf einer Bildungsreise nach Spanien zu begleiten, Einblick in sein Herbarium. 26 Durch die Beachtung, die Gesner, Fuchs und Clusius seiner Sammlung schenkten, war Rauwolf in der Fachwelt schlagartig bekannt geworden, und die Kontakte dieser Gelehrten zur Augsburger Führungsschicht27 dürften auch seine Reputation in seiner Heimatstadt gefördert haben. In der Folgezeit baute Rauwolf sein Netzwerk gelehrter Bekannter zielstrebig aus: So knüpfte er während seines Aufenthalts in Marseille 1573 Kontakte zu dortigen Ärzten und Apothekern und besichtigte eingehend den botanischen Garten und das Herbarium von Jacques Raynaudet, einem Hocherfarnen Mann/ vnd liebhaber der Kreütter. 28 Nach seiner Rückkehr aus dem Orient erhielt er unter anderem Besuch von dem Heidelberger Mediziner Joachim Camerarius d. J. (1534–1598) und dem Wiener „Titularhofmedicus“ und Anatomieprofessor Johann Aicholtz (1520–1588), die seinen botanischen Garten inspizierten und sein Herbarium konsultierten. Nach dem Erscheinen von Rauwolfs Reisebericht gehörten Camerarius, Aicholtz und Clusius zu seinen ersten Lesern. Außerdem tauschten Rauwolf und ––––––––– 25

26

27

28

Dannenfeldt: Rauwolf (wie Anm. 1), S. 27f., 30, 228; K. Ganzinger: Rauwolf und Fuchs. Ein Beitrag zur Geschichte der Botanik im 16. Jahrhundert. In: Veröffentlichungen der Internationalen Gesellschaft für Geschichte der Pharmazie N. F. 22 (1963), S. 23–42; Siegmund Seybold: Luca Ghini, Leonhard Rauwolff und Leonhart Fuchs. Über die Herkunft der Aquarelle im Wiener Kräutermanuskriptbuch von Fuchs. In: Jahreshefte der Gesellschaft für Naturkunde in Württemberg 145 (1990), S. 239–264, bes. S. 251–254. Dannenfeldt: Rauwolf (wie Anm. 1), S. 30. Zu Clusius vgl. F. W. T. Hunger: Charles de l’Ecluse (Carolus Clusius). 2 Bde. s’ Gravenhage 1927/43; Carolus Clusius und seine Zeit. Symposium in Güssing 1973 (Vorträge). Hg. vom Burgenländischen Landesmuseum Eisenstadt. Eisenstadt 1974 (Wissenschaftliche Arbeiten aus dem Burgenland. Heft 54). Conrad Gesner hatte während seines Aufenthalts in Augsburg 1559 unter anderem den Garten Hans Heinrich Herwarts in Augenschein genommen: Trauchburg: Häuser und Gärten (wie Anm. 9), S. 122. Der aus Schlesien stammende Apotheker Georg Sighart war 1563 offenbar auf Empfehlung Gesners an die Augsburger Stadtärzte Lukas Stenglin und Achilles Pirmin Gasser in die Reichsstadt gekommen: Gensthaler: Medizinalwesen (wie Anm. 23), S. 68. Rauwolf: Aigentliche beschreibung der Raiß (wie Anm. 5), S. 9; Dannenfeldt: Rauwolf (wie Anm. 1), S. 35.

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Clusius Pflanzensamen aus, und Clusius’ lateinische Übersetzung von Garcia da Ortas Beschreibung der Pflanzenwelt Indiens, die 1567 in Antwerpen erschien, diente Rauwolf zur Identifikation orientalischer Gewächse.29 Der bereits erwähnte Umstand, dass Rauwolf Pflanzensamen, die er von seiner Reise mitgebracht hatte, im Garten des evangelischen Patriziers Hans Heinrich Herwart zog, der auch zu den Bekannten Conrad Gesners gehörte, deutet überdies darauf hin, dass er sich der Protektion von Angehörigen der reichsstädtischen Führungsschicht erfreute. 30 Seinen Reisebericht widmete Rauwolf den Augsburger Fernhandelskaufleuten Hans Widholz, Christoph Christel und Nikolaus Pemer, die ihm vilfaltige […] freundtschafften vnd guotthaten erwiesen hätten. Pemer, Christel und Widholz traten um dieselbe Zeit auch bei der Gründung des evangelischen Kollegs bei St. Anna als Förderer und Organisatoren hervor. 31 Im Jahre 1584 schließlich entschloss sich Rauwolf, aus seiner botanischen Sammlung nochmals Kapital zu schlagen – indem er sie zum Verkauf anbot. In einem Brief an Clusius äußerte er, dass er nach einem fürstlichen Käufer Ausschau halte, und einige Jahre später ging das Herbarium in den Besitz des bayerischen Herzogshauses über.32

Abb. 3: Kali Arabum oder Schinan-Pflanze, die einen Grundstoff für die Produktion von Seife und Pottasche lieferte (aus: L. Rauwolf: Aigentliche beschreibung der Raiß […]. Lauingen 1583. 4. Teil, unpaginiert).

––––––––– 29 30 31

32

Dannenfeldt: Rauwolf (wie Anm. 1), S. 218–221, 223, 227. Rauwolf: Aigentliche beschreibung der Raiß (wie Anm. 5), S. 286; Dannenfeldt: Rauwolf (wie Anm. 1), S. 218f. Rauwolf: Aigentliche beschreibung der Raiß (wie Anm. 5), Vorrede; Dannenfeldt: Rauwolf (wie Anm. 1), S. 220. Vgl. zu den genannten Kaufleuten die Informationen bei Reinhard (Hg.): Augsburger Eliten (wie Anm. 23), S. 86f. (Nr. 146), 615f. (Nr. 929), 964f. (Nr. 1465) sowie Christina Dalhede: Augsburg und Schweden in der Frühen Neuzeit. Europäische Beziehungen und soziale Verflechtungen. Studien zu Konfession, Handel und Bergbau. 2 Bde. St. Katharinen 1998. Dannenfeldt: Rauwolf (wie Anm. 1), S. 229f.

Botanisches Wissen, ökonomischer Nutzen und sozialer Aufstieg

3.

111

Rauwolfs Orientreise zwischen naturkundlichem Interesse und ökonomischer Prospektion

Obwohl Rauwolf auch Städte und Landschaften eingehend beschrieb und sich als aufmerksamer Beobachter der kulturellen und religiösen Vielfalt der osmanischen Provinzen erwies, galt sein besonderes Augenmerk der Botanik; eine Reihe orientalischer Pflanzenarten wurde von ihm erstmals beschrieben. Bei seinen Beschreibungen griff er einerseits auf antike und arabische Autoritäten wie Dioskurides, Theophrastus, Plinius d. Ä., Avicenna, Rhazes und Serapion, andererseits auf Analogien und Vergleiche mit mitteleuropäischen Gewächsen zurück. Als gläubiger Protestant vergaß er auch nicht, auf Erwähnungen bestimmter Pflanzen in der Bibel hinzuweisen. 33 In seinen botanischen Beschreibungen überlagern sich also gelehrte, religiöse und ökonomische Diskurse; welche Rolle der ökonomische Nützlichkeitsdiskurs dabei spielte, soll im Folgenden verdeutlicht werden. Als Grundlage dafür dient die 1583 in Lauingen erschienene dritte Auflage von Rauwolfs Reisewerk, da diese im Gegensatz zu den ersten beiden Auflagen einen zusätzlichen, 42 Pflanzendarstellungen umfassenden Abbildungsteil enthält. Gleich am Beginn dieses Abbildungsteils finden sich zwei Gattungen einer Pflanze, die im Osmanischen Reich eine hohe wirtschaftliche Bedeutung hatte. Auf den Märkten von Tripoli fiel Rauwolf neben dem florierenden Seidenhandel die große Zahl der Händler auf, die ausschließlich Seife bzw. die Pottasche, aus der diese hergestellt wurde, führten. Von diesen beiden Produkten würden gantze geladne Schiff vol/ nach Venedig verfüret und in den dortigen Glasmanufakturen und Seifensiedereien weiterverarbeitet. Die Asche wurde Rauwolf zufolge aus einem Gewächs hergestellt, das die Araber Schinan nannten (Abb. 3). Rauwolf hatte beide Gattungen vnder andere meine frembde Kreüter auffgeleimbdt, sie also in sein Herbarium eingeklebt, und er beschrieb Aussehen und Vorkommen der Pflanze sowie die Methode der Aschegewinnung und Seifenherstellung.34 Da die Firma Melchior Manlichs von Marseille aus in unmittelbare Konkurrenz zum venezianischen Levantehandel getreten war, dürften diese Informationen über einen wichtigen und offensichtlich lukrativen Zweig des Handels zwischen Syrien und Venedig von unmittelbarem ökonomischem Interesse gewesen sein. Augsburger Handelshäuser investierten im 16. Jahrhundert auch in die großbetriebliche Seifenherstellung; die Welsergesellschaft hatte ––––––––– 33 34

Ebd., S. 19–24. Rauwolf: Aigentliche beschreibung der Raiß (wie Anm. 5), S. 37f.: Dise bayde Kreüter/ werden nit weit von dannen gefunden/ vnd auff den hohen bergen herumb zuo äschen gebrandt/ in welcher sich zuo vnderst am boden ein ölige faißte findet/ mit dero sich die äschen vermischet/ vnd wanns erkaltet/ so hart wirt/ das es gar nahe einem stain zuuergleichen: oben gleichwol bleibt ein thail der äschn vnuermischt/ welche rüriger/ vnd deßhalben nit so guot wie die ander. Dise äschen bringen die Moren auff Camelen von bergen herab inn die Statt/ etlichen Kauffleüten zuo/ die grosse gewerb damit treyben […]. Vgl. Dannenfeldt: Rauwolf (wie Anm. 1), S. 51f.

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zwischen 1529 und 1541 eine große Seifensiederei im spanischen Sevilla gepachtet, die sie mit der Arbeitskraft schwarzer Sklaven betrieb. 35 Da Rauwolf sich fürnemlich frembden Gewächsen vnd Kreütern […] mit fleiß nachzustellen vorgenommen hatte,36 folgt im Anschluss an seine Schilderung der Hafenstadt Tripoli ein Kapitel über Vorkommen, Kultivierung und Verwendung von Pflanzen in der Stadt und ihrer Umgebung. Neben dem Zuckerrohr erregte insbesondere die Hennapflanze als bedeutendes Handelsgut seine Aufmerksamkeit (Abb. 4). Das zum Färben verwendete Hennapulver sei im Osmanischen Reich so weit verbreitet, dass allenthalben in jhren Batzaren oder Kauffheüsern vor den Kramerläden gantz auffgehauffte seck vol stehn zuuerkauffen/ das kompt auß AEgypten und Africa, vnnd werden von dannen gantze Schiff vol durch die Türckey auß verfürt/ […] das also der Türck järlich an Zöllen ein grosses einkommen vnd guoten nutzen hat. 37 Rauwolf erscheint in solchen Passagen seines Reiseberichts weniger als Mediziner und Botaniker denn als Vertreter einer Fernhandelsgesellschaft mit einem ausgeprägten Gespür für ökonomische Kategorien wie „Einkommen“ und „Nutzen“. Auch im weiteren Verlauf der Reise behielt der Augsburger Arzt die kommerzielle Verwendbarkeit der Pflanzen bzw. pflanzlichen Produkte, die er kennen lernte, stets im Auge. Auf dem Weg von Tripoli durch Aleppo etwa kam er durch Wälder von Pistazienbäumen, deren Früchte eingesamlet/ auff Tripoli gebracht/ vndt endtlich den Kauffleüten zu vns herauß zufüren verkaufft werden.38 In Aleppo durchstöberte er die Läden und Basare nach Heilpflanzen und Gewürzen und entdeckte dort neben Importen aus Asien wie Pfeffer, Kardamom, Muskat, Chinawurzel und Rhabarber39 auch einheimische Produkte von offensichtlicher ökonomischer Bedeutung. So fiel ihm ein zartes wolriechendes kreütlein mit langen weißen Wurzeln und Blättern auf, die denen des Korianders glichen. Die Wurzeln dieser Pflanze würden von den Einheimischen in solchen Mengen gesammelt, das sie järlich gantze kisten vol in Persiam hinein verschicken/ da dann deren/ wie ich bericht worden/ in ruckenwehe vnd andern dergleichen schmertzlichen zufällen/ gar vil verbraucht werden.40 Rauwolfs berühmte Beschreibung des Kaffeetrinkens in Aleppo – die erste eines abendländischen Reisenden überhaupt – betont ebenfalls die vermeintliche medizinische Wirkung des Getränks. Der Kaffee sei gar nahe wie Dinten so schwartz/ ––––––––– 35 36 37 38 39 40

Francisco Morales Padrón: Historia de Sevilla. Bd. 3: La Ciudad del Quinientos. 3. rev. Auflage. Sevilla 1992, S. 151f. Rauwolf: Aigentliche Beschreibung der Raiß (wie Anm. 5), S. 53. Ebd., S. 55f. (Zuckerrohr), S. 61 (Henna). Ebd., S. 67. Ebd., S. 96; Dannenfeldt: Rauwolf (wie Anm. 1), S. 62–64. Rauwolf: Aigentliche Beschreibung der Raiß (wie Anm. 5), S. 116f.; weitere Erwähnung S. 146. Vgl. auch S. 114: Sonst hab ich bey den Krämern/ wol Kestenbraune hülsen vnder dem namen Cardem zuuerkauffen gefunden/ […] solche werden fast auß AEgypten gebracht/ vnd von etlichen für die der rechten Acaliae Diosc: gehalten […]. S. 126: Ferner wirt […] sonderlich deß gesaffts Scammonij, so noch gar waich/ vil vom land hinein inn Secklein gebracht/ vnnd vnseren Kauffleüten in jhre Fondiques vnd wonungen zuuerkauffen herumb getragen.

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vnnd in gebresten/ sonderlich des Magens/ gar dienstlich. 41 Ferner entdeckte er auf dem Basar Opium, dessen Konsum und Wirkung er anschaulich beschrieb, und eine schwarzrote Algenart, welche zuom ferben gantz dienstlich sei. Dass sich Rauwolf nicht nur von spontanen Eindrücken leiten ließ, sondern gezielt nach Handelsgütern Ausschau hielt, von denen er gehört oder gelesen hatte, zeigt das folgende Zitat: Zuo letst hab ich […] auch nach dem Amomo gefragt/ vnd gedacht/ weil sie nahe in Grentzen Armeniae ligen/ vnd also solches leichtlich bey den Carouanen/ so täglich von den enden vnd orten dahin kommen/ haben könden/ dester belder zuobekommen: so hab ich gleichwol dem lang nachgehn müssen/ biß ich endtlich nur ein stengelein daruon bey den Krämern […] gefunden.42

Abb. 4: Hennastrauch (aus: L. Rauwolf: Aigentliche beschreibung der Raiß […]. Lauingen 1583. 4. Teil, unpaginiert).

Besonders in der Gegend von Aleppo, berichtet Rauwolf, habe er sich des Öfteren mit etlichen guoten bekandten vnd freunden/ nit ohne grosse gefahr vnder die Türcken vnd Moren hinauß begeben/ solcher gewächs etliche mehr zuerlangen vnd einzuotragen. 43 Die Funde wurden sorgfältig auf Papier aufgeklebt und füllten schließlich den gesamten vierten Band des Herbariums. Die Schilderung ––––––––– 41

42 43

Ebd., S. 102f.; Dannenfeldt: Rauwolf (wie Anm. 1), S. 71f.; vgl. Annerose Menninger: Genuss im kulturellen Wandel. Tabak, Kaffee, Tee und Schokolade in Europa (16.–19. Jahrhundert). Stuttgart 2004 (Beiträge zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte 102), S. 150f. Rauwolf: Aigentliche Beschreibung der Raiß (wie Anm. 5), S. 126–128. Ebd., S. 110f.; vgl. auch S. 116: Diese kreüter alle/ hab ich sampt vil anderen mehr frembden eingelegt/ vnnd auffs Papir mit sonderem fleiß geleimet/ das also die in jren natürlichen farben so aigentlich alß werens noch grün/zuosehen seind.

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des bewaffneten Angriffs eines angeblich betrunkenen Türken in der Umgebung von Aleppo, wo Rauwolf gerade damit beschäftigt war, eine ihm unbekannte Pflanze auszugraben, illustriert einerseits exemplarisch die Gefahren des Botanisierens, sie deutet andererseits aber auch an, dass die systematische Sammeltätigkeit des Augsburger Arztes von manchen Einheimischen mit Argwohn betrachtet wurde. 44

Abb. 5: Lycium (Bocksdorn) (aus: L. Rauwolf: Aigentliche beschreibung der Raiß […]. Lauingen 1583. 4. Teil, unpaginiert).

Die Reise durch Mesopotamien sowie die Aufenthalte im Libanongebirge und in Palästina erwiesen sich für die Suche nach nützlichen Gewächsen insgesamt als weniger ergiebig. In Bagdad beobachtete Rauwolf zwar die Ankunft einer mit Spezereien und anderen Waren aus Indien beladenen Flotille von Flussbooten, er monierte aber auch, dass es dort keine gerüste Apoteckee gäbe und man sich daher die benötigten Arzneimittel erst hin vnd wider bey den Krämeren het müssen suochen/ vnnd zuosamen tragen. Zudem sei bei den Krämern, abgesehen von einer wohlschmeckenden Art von Nüssen, nichts sonders zuofinden gewest. 45 Im Libanon und im Heiligen Land entdeckte er ein frembde stauden ––––––––– 44 45

Ebd., S. 121–123; Dannenfeldt: Rauwolf (wie Anm. 1), S. 76f. Rauwolf: Aigentliche Beschreibung der Raiß (wie Anm. 5), S. 214f., 227f. (Zitat); Dannenfeldt: Rauwolf (wie Anm. 1), S. 121, 129.

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namens Lycium, die auch zuo zeiten in vnsern Apotecken gefunden werde (Abb. 5).46

Abb. 6: Orientalisches Weidengewächs (aus: L. Rauwolf: Aigentliche beschreibung der Raiß […]. Lauingen 1583. 4. Teil, unpaginiert).

Auf dem Weg von Aleppo nach Bagdad allerdings notierte Rauwolf gleich zweimal ein frembdes geschlecht der Weyden, das die Einheimischen unter dem Namen Garb kennen würden (Abb. 6). Die Bedeutung, die diese Baumart hatte, erschließt sich erst durch Rauwolfs Beschreibung zweier Mühlen in der Stadt Haditha: Auff den zwayen Mülin wirt (wie ich berichtet worden) vil schießpuluers für den Türckischen Kayser gemachet/ vnnd jhme in Carouanen mit anderen Wahren durch das gebiet deß König Arabiae zugefüret. Dieses Pulver, erläuterte Rauwolf weiter, wirt nit auß dem Salpetter, wie das vnser gemachet/ sonder auß einem anderen gesafft/ welchen sie mehr von bäumen nemmen/ die für ein geschlecht der Weyden zuohalten/ vnnd den Persianern vnder dem namen Fer, den Arabern aber Garb […] bekandt seind. 47 Die Kenntnis der morgenländischen Flora diente also nicht nur der Akkumulation gelehrten Wissens und der Erzielung kommerziellen Profits: Sie erlaubte es sogar, die militärischen Ressourcen des Feindes der Christenheit genauer zu taxieren. Rauwolfs Bemerkungen zum Nutzen orientalischer Pflanzen und Pflanzenprodukte bedeuten freilich nicht, dass sein Reisewerk als bloßes Kaufmannsbre––––––––– 46 47

Rauwolf: Aigentliche Beschreibung der Raiß (wie Anm. 5), S. 285, 460 (Zitat). Ebd., S. 160, 183, 201; Dannenfeldt: Rauwolf (wie Anm. 1), S. 106f.

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vier zu lesen sei. Vielmehr verweisen sie auf die Vielschichtigkeit eines Textes, der die humanistische Gelehrsamkeit seines Autors ebenso widerspiegelt wie seine Religiosität und sein Interesse an fremden Kulturen. Rauwolf bereiste den Orient als akademisch geschulter Mediziner, der mit den Schriften der antiken und arabischen Autoritäten ebenso vertraut war wie mit den Werken zeitgenössischer Naturforscher. Er betrachtete – wie ich an anderer Stelle gezeigt habe – die Vielfalt der Kulturen und Religionen im Osmanischen Reich aus der konfessionellen Perspektive des gläubigen Protestanten.48 Und er durchquerte Syrien und Mesopotamien als Angestellter einer großen Handelsfirma mit einem aufmerksamen Blick für Warenströme und Handelsverbindungen und einem ausgeprägten Gespür für kommerziellen Profit.

––––––––– 48

Mark Häberlein: Mehrerlay Secten vnnd Religionen. Der Augsburger Arzt Leonhard Rauwolf und die Erfahrung religiöser Vielfalt im 16. Jahrhundert. In: Geschichte in Räumen. Festschrift für Rolf Kießling zum 65. Geburtstag. Hg. von Johannes Burkhardt, Thomas Max Safley und Sabine Ullmann. Konstanz 2006, S. 225–240.

III. Humanistische Literaten und ihre Beziehungen zu Augsburg

Wilhelm Kühlmann

Der Kaiser und die Poeten Augsburger Reichstage als literarisches Forum

I. Augsburg war in der Frühen Neuzeit nicht nur die Stadt des Handels und Gewerbes, der Schulen, Kirchen und Druckereien, der Gelehrten, ihrer Sodalitäten und ihrer patrizischen Mäzene, sondern immer wieder auch Ort und – im wahrsten Sinne – ‚Schauplatz‘ des Reichstags: Von den 35 zwischen 1500 und 1600 abgehaltenen Reichstagen fanden hier nicht weniger als zwölf statt, darunter bekanntlich die für die deutsche Geschichte maßgeblichen Versammlungen der Jahre 1530 (Confessio Augustana) und 1555 (Augsburger Religionsfrieden).1 Was von ‚Kaiser und Reich‘ beschlossen wurde, verkündeten die Reichstagsabschiede. Die mittlerweile zum Teil erforschten Reichstagsakten werfen Schlaglichter auf die meist zähen Verhandlungen, in deren Mittelpunkt zwischen 1500 und 1600 zwei interdependente Problemkomplexe standen: der außenpolitische vor allem in Gestalt der osmanischen Expansion, der innenpolitische im Blick auf die drohende Glaubensspaltung. Politische Beratungen und Entscheidungen vollzogen sich dabei in einem Ensemble multimedialer und zeremonieller, d. h. ästhetischer Repräsentationsakte, in denen die Gliederung des Reichskörpers und der diversen Stände auch dem gemeinen Mann als hierarchisch gestaffelte Selbstinszenierung der weltlichen und geistlichen Mächte sichtbar vor Augen trat. 2 Letzte literarische Reflexe dieser repräsentativen, alle Sinne in Anspruch nehmenden Öffentlichkeit finden wir in Goethes Erinnerungen an die Krönung Josephs II. in Frankfurt (1776) oder in manchen Strophen von Schillers Ballade Der Graf von Habsburg. 3 Die Zeitgenossen des 16. Jahrhunderts wurden über das Geschehen durch – oftmals bebilderte – ––––––––– 1

2

3

So Rosemarie Aulinger: Augsburg und die Reichstage des 16. Jahrhunderts. In: Welt im Umbruch. Augsburg zwischen Renaissance und Barock. Bd. 3: Beiträge. Hg. von den Städtischen Kunstsammlungen Augsburg und dem Zentralinstitut für Kunstgeschichte in München. Augsburg 1981, S. 9–24. Zu Organisation und Ablauf der Reichstage s. Gottfried G. Krodel: Law, Order, and the Almighty Taler: The Empire in Action at the Diet of Augsburg. In: Sixteenth Century Journal 12 (1982), S. 75–106. Dazu Wilhelm Kühlmann: Poetische Legitimität und legitimierte Poesie. Betrachtungen zu Schillers Ballade „Der Graf von Habsburg“ und ihrem literarischen Umkreis. In: Schiller und die höfische Welt. Hg. von Achim Aurnhammer, Klaus Manger und Friedrich Strack. Tübingen 1990, S. 282–297.

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Flugschriften, Flugblätter und Relationen unterrichtet, 4 unter ihnen beispielsweise die des Reichsherolds Caspar Sturm,5 in denen der äußere Aufzug der namentlich genannten Potentaten und ihres Gefolges besonderes Interesse fand. Bedeutsame Ereignisse der Reichstage bildeten manchmal auch Anlass und Gegenstand aktueller Liedpublizistik, die sich in die Typen des Zeitungsliedes und des historischen Ereignisliedes differenzieren läßt.6 Jenes verarbeitete und kommentierte abgeschlossene Vorgänge und wahrte dazu eine gewisse Distanz, dieses lebte von der Aktualität, wollte in einem Konflikt parteilich Stellung nehmen. Manche dieser Lieder setzten sich appellativ, kritisch kommentierend und warnend mit den Verhandlungen der Reichstage auseinander. So beispielsweise ein als Flugblatt verbreitetes Lied des ostpreußischen Reformators Paulus Speratus (1484–1551). Speratus beklagt, dass der Augsburger Reichstag von 1530 ohne Ergebnisse beendet worden sei:7 Es ist der Reichstag für und nichts beschloßen, was wil sich hinfurt machen doch? der weg und rechte thür ist ganz verlaßen, so ghört ja vil zur sachen noch, die man wil fahen an und rüst sich yder man, got walts und steh uns bei, so sei wyr unerschrocken; der teufel wil sie locken, also geht gots gericht und urtel frei und hat wol gschlagen einer dreimal drei.

Jenseits solcher ins Reich wirkenden Berichte und Kommentare, also der regen publizistischen Vor- und Nachbereitung der Reichstage, jenseits auch der Kabinett- und Geheimdiplomatie lassen sich deren Abläufe selbst als Miteinander ritualisierter, mehr und mehr auch institutionalisierter, teils mündlicher, teils schriftlicher Kommunikationsformen in der Spannweite geistlicher und weltlicher Rede beschreiben. Feierliche Predigten bildeten das Pendant zu diversen Spielarten der profanen Oratorie: den Reden der Gesandten, den Begrüßungsund Huldigungsansprachen, schließlich auch den vor dem Plenum gehaltenen ––––––––– 4

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Grundlegend, auch zu den diversen Quellengruppen, Friedrich Hermann Schubert: Die deutschen Reichstage in der Staatslehre der frühen Neuzeit. Göttingen 1966 (Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften 7); zusammenfassender Überblick über die Quellen auch bei Rosemarie Aulinger: Das Bild des Reichstages im 16. Jahrhundert. Beiträge zu einer typologischen Analyse schriftlicher und bildlicher Quellen. Göttingen 1980 (Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften 18). Zu Sturm s. ebd., S. 62–64. Grundlegend Rolf Wilhelm Brednich: Die Liedpublizistik im Flugblatt des 15. bis 17. Jahrhunderts. 2 Bde. Baden-Baden 1974/75 (Bibliotheca Bibliographica Aureliana 55 und 60). Ein lied, mit klagendem herzen, durch D. Paulum Speratum, bischof zu Pomezan zu einer getrewen warnung gesungen dem kaiser und fürsten, dass sie sich die bischof nicht verfüren laßen und damit sich selber und ganz Deutschland yn eitel blut baden und gar daryn ersaufen. Hier die erste Strophe zitiert nach dem Abdruck in: Die historischen Volkslieder der Deutschen vom 13. bis 16. Jahrhundert. Gesammelt und erläutert von R. v. Liliencron. Bd. 4. Leipzig 1869, S. 6–10 (Nr. 422), hier S. 6f.; vgl. auch im Folgenden Nr. 423, S. 10–15: Ain kurtzer begriff und inhalt des richstags zu Augsburg.

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Redeakten. Neuere Untersuchungen haben mehr als 270 Ansprachen bei Reichstagen nachweisen können, von denen mehr als siebzig vor dem Plenum gehalten wurden und in den weiteren Kreis der gelehrten ‚Politikberatung‘ gehören.8 Nicht alle Reden sind schriftlich überliefert, auch lassen sich zeitliche Schwerpunkte ausmachen: nämlich das Jahrzehnt des Basler Konzils (1438– 1446) und dann die nach dem Fall Konstantinopels einsetzende Reihe der Türkenreichstage (zuerst 1454/55), die sich über die aetas Maximilianea bis in die Zeit Karls V. fortsetzten.9 Diese waren auch das Forum des humanistisch gebildeten Orator. Als Prototyp des modernen, in pragmatischer Literarizität geübten, in Wort und Schrift vielseitig verwendbaren Intellektuellen hatte er zwar keinen Anteil an den machtpolitischen Entscheidungen, wurde aber von den Mächtigen durchaus als prestigeträchtiger Agent der Meinungsbildung in Dienst genommen. Zu den offiziösen Formen dieser Indienstnahme gehörte die öffentliche Dichterkrönung. „Der Kaiser, der einen Dichter krönte, nahm von diesem ‚ceremoniis solitis‘, in einer geregelten Zeremonie, Eid und Handgang entgegen, gab ihm Lorbeerkranz, Ring und Kuss und stellte ihm eine Urkunde aus.“10 Vorbild dieser symbolischen Allianz von hoher Politik, dynastischer, ––––––––– 8

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Zur überwiegend lateinischen Reichstagsrede s. die reichhaltigen neueren Studien (auf die ich mich hier stütze; dort auch die ältere Literatur) von Dieter Mertens: Die Rede als institutionalisierte Kommunikation im Zeitalter des Humanismus. In: Im Spannungsfeld von Recht und Ritual. Soziale Kommunikation in Mittelalter und Früher Neuzeit. Hg. von Heinz Duchardt und Gert Melville. Köln u. a. 1997, S. 401–421; Johannes Helmrath: Rhetorik und ‚Akademisierung‘ auf den deutschen Reichstagen im 15. und 16. Jahrhundert. In: ebd., S. 423–446; Dieter Mertens: Der Reichstag und die Künste. In: Mediävistische Komparatistik. Festschrift für Franz Josef Worstbrock zum 60. Geburtstag. Hg. von Wolfgang Harms und Jan-Dirk Müller. Stuttgart, Leipzig 1997, S. 296–314. Speziell zur Türkenoratorie im Kontext s. Dieter Mertens: Europäischer Friede und Türkenkrieg im Spätmittelalter. In: Zwischenstaatliche Friedenswahrung in Mittelalter und Früher Neuzeit. Hg. von Heinz Duchardt. Köln, Wien 1991, S. 45–90; ders.: „Europa, id est patria, domus propria, sedes nostra…“ Zu Funktionen und Überlieferung lateinischer Türkenreden im 15. Jahrhundert. In: Europa und die osmanische Expansion im ausgehenden Mittelalter. Hg. von Franz-Reiner Erkens. Berlin 1997 (Zeitschrift für historische Forschung. Beiheft 20), S. 39–57, hier S. 42–45 auch zu Nikolaus Reusners vierbändiger Sammlung (1595/96) mit Türkenreden in Form von Reichstagsreden, Kurienreden und Hofreden; ders.: Claromontani passagii exemplum. Papst Urban II. und der erste Kreuzzug in der Türkenkriegspropaganda des Renaissance-Humanismus. In: Europa und die Türken in der Renaissance. Hg. von Bodo Guthmüller und Wilhelm Kühlmann. Tübingen 2000 (Frühe Neuzeit 54), S. 65–78 sowie Johannes Helmrath: Pius II. und die Türken. In: ebd., S. 79–138; vgl. auch Kühlmann: Der Poet und das Reich (wie Anm. 33), S. 210–213. Dieter Mertens: Maximilians gekrönte Dichter über Krieg und Frieden. In: Krieg und Frieden im Horizont des Renaissancehumanismus. Hg. von Franz Josef Worstbrock. Weinheim 1986 (Mitteilungen der Kommission für Humanismusforschung der DFG 13), S. 105–123, hier S. 106f.; eine vorläufige Auflistung der gekrönten Poeten bietet Alois Schmid: „Poeta et orator a Caesare laureatus.“ Die Dichterkrönungen Kaiser Maximilians I. In: Historisches Jahrbuch 109 (1989), S. 56–108; auch zum Grundsätzlichen weiter wichtig Dieter Mertens: „Bebelius…patriam Sueviam…restituit.“ Der poeta laureatus zwischen Reich und Territorium. In: Zeitschrift für Württembergische Landesgeschichte 42 (1983), S. 145–173; ders.: Zu Sozialgeschichte und Funktion des poeta laureatus im Zeitalter Maximilians I. In: Gelehrte im Reich. Zur Sozial- und Wirkungsgeschichte akademischer Eliten des 14. bis 16. Jahrhunderts. Hg. von Rainer Christoph Schwinges. Berlin 1991, S. 327–348. Nicht

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auch persönlicher Ruhmespflege und literarischer Artikulation präsumtiver Reichsinteressen war die Krönung, die Friedrich III. 1487 in Nürnberg Konrad Celtis, dem deutschen ‚Erzhumanisten‘, hatte angedeihen lassen.11 Allianzen dieser Art wurden als Wiederkehr des Augusteischen Zeitalters gefeiert. Über die Territorien zerstreut, bildeten die gekrönten Dichter – zur Zeit Maximilians etwa vierzig an der Zahl12 – eine wortmächtige Klientel, die sich dem Kaiser, damit auch dem Hause Habsburg und dem darin verkörperten Reichspatriotismus, verbunden fühlten oder verbunden fühlen sollten. Panegyrische und appellative Dichtungen entsprachen der in den Krönungsurkunden erwünschten Wirkung auf die Leser. Diese humanistisch-lateinischen Produktionen in Vers und Prosa, auf die ich mich hier exemplarisch beschränke, gehörten zum weiteren Umkreis der auch in anderen Medien und Formen zu Glanz und Geltung kommenden Reichstagskultur. Man denke an Theateraufführungen, an üppige Darbietungen der Vokal- und Instrumentalmusik, darunter die häufig zu lateinischen Texten komponierten ‚Staatsmotetten‘, oder auch den weiten Bereich der Bildkünste, darunter die Porträtmalerei (zum Beispiel die Bilder eines Tizian). Zu den drei Nürnberger Gesandten auf dem Augsburger Reichstag von 1518 gehörte auch Albrecht Dürer. 13 Als gewiss prominentester der in Augsburg gekrönten Dichter darf der Reichsritter Ulrich von Hutten (1488–1523) gelten.14 Da er angesichts seines bislang ––––––––– 11

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mehr benutzt werden konnte hier John L. Flood: Poets Laureate in the Holy Roman Empire. Berlin, New York 2006. Das Dankgedicht an Friedrich III. am Anfang der celtisschen Odensammlung ist mit deutscher Übersetzung und folgendem Kommentar abgedruckt in: Humanistische Lyrik des 16. Jahrhunderts. Lateinisch-deutsch […]. Hg. von Wilhelm Kühlmann, Robert Seidel und Hermann Wiegand. Frankfurt a. M. 1997 (Bibliothek der Frühen Neuzeit 5. Bibliothek deutscher Klassiker), S. 12–15, Kommentar S. 934–936; zum kulturpolitischen Kontext und Programm s. Jörg Robert: Konrad Celtis und das Projekt der deutschen Dichtung. Studien zur humanistischen Konstitution von Poetik, Philosophie, Nation und Ich. Tübingen 2003 (Frühe Neuzeit 76), S. 23f. und passim. So Mertens: Maximilians gekrönte Dichter (wie Anm. 10), S. 105. Zur Rolle der Musik und der bildenden Künste s. im Einzelnen Mertens: Reichstag (wie Anm. 8); zu Tizians Aufenthalten in Augsburg 1548 und 1550 s. Aulinger: Das Bild des Reichstages (wie Anm. 4), S. 141–143 sowie ebd., S. 74–98 zu den bildlichen Quellen insgesamt. Biographie und Bibliographie mit einer Auswahl seiner Versdichtungen samt Übersetzungen und Kommentar in: Humanistische Lyrik (wie Anm. 11), S. 159–201, Kommentar S. 1033–1064; aus der üppigen Huttenliteratur besonders instruktiv der Ausstellungskatalog: Ulrich von Hutten. Ritter, Humanist, Publizist 1488–1523, bearbeitet von Peter Laub. Hg. vom Land Hessen in Zusammenarbeit mit dem Germanischen Nationalmuseum o. O. und J. [1988], hier zu Huttens Aufenthalt 1517 und 1518 in Augsburg bes. S. 180–184 (Heiko Wulfert); grundlegend für alle Einzelheiten nach wie vor David Friedrich Strauß: Ulrich von Hutten. 2 Teile. Leipzig 1858, hier 1. Teil, S. 277f. (zur Dichterkrönung) und S. 294–330 („Hutten in Augsburg während und nach dem Reichstage“); zu Huttens Reichstagsoratorie s. Schubert: Die deutschen Reichstage (wie Anm. 4), bes. S. 203–207; zu Huttens problematischer Selbstverständigung in einem der in Augsburg 1518 geschriebenen Briefe (25. Oktober) s. Wilhelm Kühlmann: Edelmann – Höfling – Humanist: Zur Behandlung epochaler Rollenprobleme in Ulrich von Huttens Dialog „Aula“ und in seinem Brief

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höchst wechselvollen Lebenslaufes wohl mit diversen Schriften, kaum aber als Person ins Blickfeld Maximilians getreten war, bedurfte er wie seine gekrönten Vorgänger einflussreicher Empfehlungen, in denen seine literarischen Leistungen dem Reichsoberhaupt nahegebracht wurden. Hutten fand diesen Förderer in dem bekannten Augsburger Juristen, Humanisten, Stadtschreiber und Kaiserlichen Rat Konrad Peutinger (1465–1547), in dessen Haus er 1517 bei der Rückreise aus Italien abstieg. Auf Peutingers Betreiben hin wurde Hutten am 12. Juli 1517 (Datum der Urkunde) zum Dichter gekrönt. Wie sich der Gekrönte in einem – recht späten – Dankbrief vom 25. Mai 1518 erinnerte, ließ Peutinger seine Tochter Konstanze den Lorbeerkranz flechten, der von Maximilian bei der Zeremonie verwendet wurde, und strich in einer Rede vor dem Kaiser und seiner vornehmen Umgebung Huttens Reisen durch Europa heraus, bei denen er sich in Wort und Faust als Vorkämpfer der Reichsmacht profiliert habe. Aus dem Brief geht auch hervor, dass es Peutinger war, der den Text der Krönungsurkunde verfasst hatte:15 Tu vero desine aliquid ingratitudinis suspicari: non sic memoria excidit, quanta tu nuper diligentia quantoque studio redeuntem ex Italia me commendaveris Maximiliano caesari, qui tum tua gravi oratione in consessu amplissimorum virorum de meis studiis deque illa aerumnosa per Europam peregrinatione, simul de quadam mea feliciter illi pugnata pugna persuasus esset, ut me honoraret, quos tu non magnificos titulos, quae non celebria nomina, quas immunitates, quae privilegia non protulisti, ut ingratissimus sim omnium qui usquam vivunt mortalium, nisi te valde amem ac reverenter colam. Proinde continuo oculis meis observatur, qua me primum hospitalitate in tuam domum accepisti; deinde qua praedicatione quibus amicis commendasti; postremo qua pompa ad caesarem adduxisti; ut ille tuo instinctu ad se amsisit, ut coronam poeticam imposuit, illam aio coronam, illam lauream, quam tu ante domi tuae, accurate contexente et adornante filia tua Constantia, omnium quae istic sunt puellarum et forma et moribus praestantissima, apparaveras. Hör bitte auf, irgendetwas von Undankbarkeit bei mir zu vermuten! Keinesfalls habe ich vergessen, mit welcher Sorgfalt und mit welchem Eifer du mich, als ich aus Italien zurückkehrte, vor kurzem Kaiser Maximilian empfohlen hast, der du ihn damals durch deine gewichtige Rede im Beisein hochansehnlicher Männer über meine Studien und meine mühevolle Reise durch Europa, zugleich über meinen für jenen glücklich gefochtenen Kampf dazu bewogen hast, mich zu ehren. Welche großartigen Titel, welch feierliche Namen, welche Begünstigungen und Privilegien hast du nicht vorgetragen [leicht ironische Anspielung auf den Text der Krönungsurkunde], so dass ich der Undankbarste aller Sterblichen wäre, die jemals leben, wenn ich dich nicht dafür sehr lieben und respektvoll verehren würde. Daher steht mir ständig vor Augen, mit welcher Gastfreundschaft du mich anfangs in dein Haus aufgenommen hast, dann, mit welcher Lobrede du mich welchen Freunden empfohlen hast, schließlich, mit welcher Feierlichkeit du mich zum Kaiser

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an Willibald Pirckheimer. In: Höfischer Humanismus. Hg. von August Buck. Weinheim 1989 (Mitteilung XVI der Kommission für Humanismusforschung der DFG), S. 161–182. Konrad Peutingers Briefwechsel. Gesammelt, hg. und erläutert von Erich König. München 1923 (Veröffentlichungen der Kommission für Erforschung der Geschichte der Reformation und Gegenreformation. Humanistenbriefe 1), S. 301–303, spez. S. 302. Abgedruckt in: Ulrichs von Hutten Schriften. Bd. 1–5. Hg. von Eduard Böcking. Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1859–1861 (ND Aalen 1963), hier Bd. 1, S. 173f.; vgl. ebd. die Urkunde der Dichterkrönung und Huttens Dankverse an Maximilian (S. 143–145); ferner Klaus Arnold: poeta laureatus – Die Dichterkrönung Ulrichs von Hutten. In: Katalog Ulrich von Hutten (wie Anm. 14), S. 237–247.

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geführt hast, so dass sich jener auf dein Betreiben hin dazu herabließ, mir den Poetenkranz aufzusetzen, jenen Lorbeerkranz, sage ich, den du zuvor zuhause vorbereitet hattest, indem ihn deine Tochter Konstanze, die unter allen dort ansässigen Mädchen an Schönheit und Betragen hervorragt, sorgfältig flocht und schmückte.

In der Tat unterstützten manche der poetischen „exhortationes“ Huttens schon seit Jahren die Italienpolitik Maximilians. Nun wurde in Augsburg Huttens bissige Epigrammsammlung zum Druck (1519) vorbereitet, die ihre witzigaggressiven Spitzen gegen die Ränke der Kurie, gegen die Franzosen und gegen die widerspenstigen Venezianer richtete. Hutten widmete sie Maximilian und ließ es an Bekundungen der Loyalität zum Kaiser nicht fehlen – wie etwa in folgenden Versen:16 AD CAES[AREM]. MAXIMILIANVM. Si tua corruptum moueat clementia mundum. Vt constet, rebus non inhietque nouis, Si te propositas Caesar comitemur ad Arteis, Si coeant votis omnia vota tuis, Maior Roma fuit nunquam contendere possim, Siquis ad hanc veteres ducat Olympiadas. Nunc nostris trahimur vitijs. nobisque perimus. Quos tu quam malles heu tua iussa sequi. Verte animum Caesar. Non te mitemque bonumque Non te clementem tempora nostra volunt. An Kaiser Maximilian. Wenn deine Milde die verdorbene Welt bewegen könnte, Halt zu gewinnen und nicht nach Umsturz zu lechzen, wenn wir dir, Kaiser, auf dem Weg zu dem uns vor Auge gestellten rechten Verhalten folgen könnten, wenn die Wünsche aller den deinen entsprechen könnten, dann könnte ich wohl behaupten: „Niemals war Rom mächtiger“, wenn jemand die vergangenen Zeiten unserer Zeit vergleichen wollte. Doch jetzt werden wir von unseren Lastern fortgerissen, und uns selbst zu gefallen gehen wir ins Verderben. Ach, wie viel lieber würdest du es sehen, dass wir deinen Befehlen gehorchten! Ändere, Kaiser, deine Gesinnung! Unsere Zeiten wollen dich nicht sanft und gütig, wollen dich nicht milde.

Dem korrespondieren umgekehrt höhnisch-satirische Angriffe gegen die Reichsfeinde, nicht nur gegen die Franzosen, sondern auch, ja mehr noch gegen die Venezianer: DE BELLO VENETO Quid faciunt Veneti? Pugnant. Quo milite? Ranis. Quo duce? mentitus praecipit arma Leo. Tum quibus auxilijs? Gallorum. In quo hoste morantur? Caesare. Quid praedae quaeritur? Italia. Quid gessere igitur? Quosdam exciuere tumultus, Quod fortasse duces terruit Italicos. Quid factum interea? Mouit Iouis armiger alas. Quid Veneti? Rebus consuluere fuga.

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Die folgenden Epigramme hier zitiert nach: Humanistische Lyrik (wie Anm. 11), S. 178f. bzw.188f.; die Widmungsvorrede zur Epigrammsammlung in Ed. Böcking (wie Anm. 15), S. 234f.

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Quem finem sperare licet? Regina volucrum Et rostro, & saeuis vnguibus arma geret. Desinet esse Leo spolio Dux victus adempto. Fractaque in Adriaca Rana latebit aqua. Vom Krieg gegen Venedig. Was tun die Venezianer? Sie kämpfen. Mit welchen Soldaten? Mit Fröschen. Unter welchem Führer? Dem Heer gebietet ein falscher Löwe. Mit was für Hilfstruppen denn? Franzosen. Gegen welchen Feind geht es? Den Kaiser. Nach welcher Beute greifen sie? Italien. Was haben sie also erreicht? Sie erregten einige Tumulte, und das hat vielleicht die italienischen Fürsten erschreckt. Was geschah dann? Jupiters Waffenträger regte die Schwingen. Was taten die Venezianer? Sie suchten ihr Heil in der Flucht. Welches Ende darf man erhoffen? Der König der Vögel wird mit seinem Schnabel und den schrecklichen Klauen Krieg führen. Der Doge wird kein Löwe mehr sein, besiegt und seines Felles beraubt; und der gedemütigte Frosch wird sich im Wasser der Adria verstecken.

Die Urkunde, die Huttens Dichterkrönung beglaubigte, wich vom gewohnten Formular ab, da Huttens Adelswürde herauszuheben war. Ihr gegenüber besaß die Poetenwürde deutlich geringeren Prestigewert. So präsentierte sich Hutten zwar in Porträts mit dem Lorbeerkranz, 17 ließ sich auf den Titelblättern seiner Werke aber nicht als „poeta laureatus“ benennen.18 Ein Brief an den meißnischen Domherrn Julius Pflug (21. August 1518) bietet Impressionen vom äußeren Glanz des Reichstags und lässt erkennen, welche patriotischen Hoffnungen Hutten damit verband: 19 Certe iucundissimum hoc omnibus spectaculum ab oculos versatur: tot Principes iuventa simul et corporis specie praestantes, tanta Comitum ac Equitum multitudo, flos scilicet Germaniae nobilitatis, ut qui hos intueatur, formidandos magnopere Turcas non putet. Quodsi hodie tantum cerebri est Germanis, quantum virium, ausim orbi terrarum minari iugum. Faxit deus opt. max., ut sibi consulant hi, a quorum consiliis omnia pendent: quid aliud optare enim debemus, quam ut nunc maxime agnoscat se Germania? Das gewiss angenehmste Schauspiel bietet sich hier Aller Augen dar. So viele Fürsten, ausgezeichnet durch Jugend und Wohlgestalt, eine so große Menge von Grafen und Rittern, die Blüthe des deutschen Adels: wer sie anschaut, dem können die Türken nicht sehr furchtbar erscheinen. Wenn heute die Deutschen so viel Hirn als Kraft haben, möchte ich der Welt mit Unterjochung drohen. Gebe Gott, daß Diejenigen wohl berathen, von deren Rath alles abhängt. Denn was Anders müssen wir wünschen, als daß jetzt eben Deutschland sich erkennen möge (Übers. von D. F. Strauß).

So leistete Hutten selbstverständlich auch seinen Beitrag zur lateinischen Publizistik und zum gelehrten Rederitual des 1518 schließlich zusammentretenden Reichstags – und dies obwohl er sich gleichzeitig wegen seines Syphilisleidens einer anstrengenden Guajak-Kur unterziehen musste. 20 Maximilian, dem Kaiser, ––––––––– 17 18 19 20

S. die Abbildung des bekannten Porträts in: Katalog Ulrich von Hutten (wie Anm. 14), S 8. Zur Vernachlässigung der rangniedrigeren Poetenwürde beim Adel und den Angehörigen der höheren Fakultäten s. Mertens: Zur Sozialgeschichte (wie Anm. 10), bes. S. 340f. Ed. Böcking (wie Anm. 15), Bd. 1, S. 184–187, hier S. 185. Es war übrigens der Augsburger Domherr Johann von Wirsberg, der Hutten in seinem übelriechenden Krankenzimmer aufsuchte und ihn durch Gespräche und Erzählungen aufheiterte: s. zum Gesamtkomplex der Krankheit und der dazugehörigen Werke und

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ging es nicht nur darum, die Nachfolgefrage für seinen Enkel Karl zu regeln, sondern auch um den aktuellen Plan eines umfassenden Türkenkreuzzugs, zu dem sich nun scheinbar günstige Voraussetzungen im Zusammenspiel der europäischen Mächte boten. Brennende Fragen nach Ursachen und Folgen der osmanischen Machtentfaltung in Erinnerung an den Fall von Konstantinopel (1453) standen für Maximilian, das weltliche Oberhaupt des ‚nomen Christianum‘, seit langem ganz oben auf der Tagesordnung.21 Freilich wurden seine Pläne nicht nur durch seinen Tod, sondern auch wegen des Misstrauens und der mangelnden Unterstützung durch die Reichsstände vereitelt. Erst die spätere Erstürmung der Johanniterhochburg Rhodos (1522), die Niederlage des Christenheeres bei Mohacs (1526), wobei der ungarische König Ludwig II. den Tod fand, dann der spektakuläre Vorstoß der Türken bis vor die Tore Wiens (1529) machten den zögernden Potentaten den Ernst der Lage klar. Zahlreiche Reichstagsreden namhafter Würdenträger – etwa von Enea Silvio (Frankfurt 1454), Kardinal Bessarion (Nürnberg 1460) oder Giannantonio Campano (Regensburg 1471) als Teil eines bis zum Jahrhundertende anwachsenden und dann auch publizierten Corpus von Türkenreden – hatten bereits früher die Gefahren beschworen. 22 Nun wurden in Augsburg – neben kleineren Ansprachen – nicht weniger als sieben große Orationes, darunter die des Kardinallegaten Cajetan, an die illustre Versammlung gerichtet. Hutten konnte zwar seine [Oratio] Exhortatoria an die deutschen Fürsten Ut bellum in Turcas concorditer suscipiant noch mit einer Widmung an Peutinger 1518 in Augsburg drucken lassen,23 kam allerdings zu seinem Leidwesen nicht selbst zu Wort. Er wusste wohl, dass er zu ‚freimütig‘ formuliert hatte.24 Der Misserfolg hing damit zusammen, dass der Tenor seiner leidenschaftlichen Rede insofern inopportun erschien, als Hutten mit nationalem Pathos das Desinteresse der Reichsstände geißelte und sich scharf – mit sarkastischer Ironie – gegen die Kurie wandte: Sie treibe Missbrauch mit den Kreuzzugsgeldern. Der Kaiser brauche sich dem Papst nicht unterzuordnen. Hutten erinnerte sogar an die Fälschung der sog. Konstantinischen Schenkung und sprach davon, dass Deutschland vom –––––––––

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Äußerungen Strauß: Ulrich von Hutten (wie Anm. 14), 1. Teil, Kap. 11, S. 331–350, hier S. 340; vgl. Michael Peschke: Ulrich von Hutten und die Syphilis. In: Katalog Ulrich von Hutten (wie Anm. 14), S. 309–319. Dazu Jan-Dirk Müller: Gedechtnus. Literatur und Hofgesellschaft um Maximilian I. München 1982 (Forschungen zur Geschichte der älteren deutschen Literatur 2), hier bes. S. 109ff.; Georg Wagner: Der letzte Türkenkreuzzugsplan Kaiser Maximilians I. aus dem Jahre 1517. In: Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichte 77 (1969), S. 314–353. Dazu im Einzelnen die oben angegebene Literatur (Anm. 4, 9 und 10); zusammenfassend: Winfried Schulze: Reich und Türkengefahr im späten 16. Jahrhundert. Studien zu den politischen und gesellschaftlichen Auswirkungen einer äußeren Bedrohung. München 1978. Die Rede ist mit der Widmung abgedruckt in der Ausgabe von Böcking (wie Anm. 15), Bd. 5, S. 99–134; in diesem Band auch andere Reden samt den dazugehörigen Reichstagsdokumenten. So in dem zitierten Brief an Pflug (wie Anm. 19), S. 185 (noch in der fälschlichen Annahme, die Rede werde nicht gedruckt): Mea ad principes exhortatio non editur in lucem, quod insunt quaedam liberiora quam ferat haec aetas.

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Papst „ausgeplündert“ werde. 25 Bald darauf setzte er seine Angriffe gegen Rom in seinen von Lukian inspirierten Dialogen, namentlich in den 1520 herausgebrachten Inspicientes, fort. Angesichts des hinter den Kulissen – auch mit viel Geld – ausgetragenen Ringens um Maximilians Nachfolge war auch Huttens ‚innenpolitische‘ Suada irgendwie fehl am Platze. Die Reichsfürsten seien befangen in einem falschen Freiheitsverständnis: „Das Reich nicht anerkennen, dem Kaiser nicht gehorchen, alles straflos wagen und tun.“26 Überdies beklagte Hutten die allzu lange Dauer der Reichstage. Dabei werde oft mehr den Vergnügungen und Trinkgelagen gehuldigt als ernster Arbeit und mit der Achtung der Fürsten vor der Mühe und Kompetenz ihrer gelehrten Räte sei es oft nicht weit her. Mit diesem Affront nach allen Seiten war Maximilians Plänen gar nicht gedient. So trat der aus Perugia stammende, 1517 zum Dichter gekrönte Riccardo Bartholini (ca. 1470–1529), der sich in groß angelegten Versepen (darunter die Austrias in zwölf Büchern, 1516) wie auch in elaborierten Carmina als einer der fruchtbarsten und ständig präsenten Lobredner und Memorialdichter der Habsburger bewährte, 27 an die Stelle Huttens und setzte so die stattliche Reihe der ––––––––– 25

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Wie Anm. 23, S. 103f. (§ 13–14 und 17–18): vera est enim, principes, fama quae de Turcarum apparatu nuntiatur; vera inquam, nec huiusmodi ut cum inanibus ante summorum pontificum fabulis conferri debeat: nam illi quoties in mentem venisset pecuniam a Germanis exugere, hoc capiebant consilium, ut aliquem mitterent qui magno terrore clamaret adventare Turcas ac prope in ipso iam urbis prospectu hostem esse. Id quod non semel utiliter illis cessit, vestra culpa: quid enim passi estis Germaniam compilari? Aut si etiam verus fuisset Italis aliunde metus, ob id in nos exactiones fieri oportuit, quos si re ipsa, ut inani nomine imperium Romanum teneremus, ab Italis ista accipere conveniebat, non Romam ingentem pecuniarum vim quotannis mittere, atque illis mittere qui iam ipsi nimis multa possident? […] ac illud ad me quid attinet dicere quibus moribus qui homines Romae vivant? Cum me facile contineam ibi, ac patienter feram, quae huius Maximiliani principis cura esse debet, ad summi pontificis nutum Caesares legi horumque capitibus illorum a pedibus tiaram imperialem apponi; et magnopere sollicitus non sim quid oporteat hoc modo diadema sumpturum Imperatorem Pontifici largiri, in quae verba iurare, quas leges, praescribente illo accipere, in quam servitudinem sese addicere: nam de Constantini donatione non audemus ne mutire quidem: quanquam animo sim impatientissimo, iniuria fortasse, sed tamen patriae studio, ubi video mille excogitatis modis Germaniam expilari […]. Ebd. S. 128 (§ 172–173): at quis non posset [sc. parere, W. K.] imperatori benefico, liberali, iusto, clementi, et quocunque virtutum respicias egregio, qualis est Maximilianus. Qui annos triginta amplius patriomonii sui fructibus imperii onera sustinet. Omnibus interim curis agitatus, in nulla constitutus quiete? […] Quos ille si quando ex officio corripit, tum vero iugum exclamamus ac servitudinem interpretamur; deinde quasi iam illud excutiamus iugum ac ab illa nos vindicemus servitudine; libertatem vocamus imperium non agnoscere, imperatori non parere, omnia impune audere ac facere. Zu Leben und Werk s. Stephan Füssel: Riccardus Bartholinus Perusinus. Humanistische Panegyrik am Hofe Kaiser Maximilians I. Baden-Baden 1987 (Saecula spiritalia 16); Müller: Gedechtnus (wie Anm. 21), passim (s. Register); zuletzt Elisabeth Klecker: Mit Vergil im Seesturm: Parodie und Panegyrik bei Riccardo Bartholini. In: ‚Parodia‘ und Parodie – Aspekte intertextuellen Schreibens in der lateinischen Literatur der Frühen Neuzeit. Hg. von Reinhold F. Glei und Robert Seidel. Tübingen 2006 (Frühe Neuzeit 120), S. 287–320.

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italienischen Reichstagsoratoren fort. Der Hofkaplan des Matthäus Lang, des Erzbischofs von Salzburg, setzte anders als Hutten – bei aller analogen antiosmanischen Adhortatorik – die gewünschten Akzente. In seiner Oratio contra Turcas, mit einer Widmung an Peutinger ebenfalls noch 1518 in Augsburg zum Druck gebracht, schonte er die Reichsstände, enthielt sich harscher Polemik gegen Rom und plädierte stattdessen für ein Bündnis zwischen Maximilian und Leo X., damit aber für die Einigung der gesamten Christenheit.28 Von Bartholini stammt auch eine großangelegte Prosabeschreibung des Augsburger Reichstags, die – ebenfalls bereits im Jahr 1518 – von dem Augsburger Kanonikus Konrad Adelmann von Adelmannsfelden herausgegeben wurde.29 Bartholini benutzt Protokolle, Briefe und sonst nicht erhaltene Dokumente, hebt die türkische Bedrohung als Zentralthema der Versammlung hervor, verschweigt nicht die gravamina der deutschen Stände und die römischen Missstände, beschreibt den Ablauf des Geschehens und widmete sich dabei auch Einzelfragen des Zeremoniells (Rangfragen, Sitzungsordnungen und Sitzordnungen, Ankunft der prominenten Teilnehmer).

II. Neben dem Werk Bartholinis ist für die Geschichte der Reichstagsliteratur – schon Hermann Schubert hat darauf hingewiesen 30 – gleichermaßen das Versund Prosaœuvre eines herausragenden deutschen Dichterhumanisten, des aus Brandenburg stammenden Georg Sabinus (1508–1560), namhaft zu machen. Als Student, bald auch Schwiegersohn Melanchthons, schließlich als Universitätsprofessor und nicht selten als ‚Orator‘ in diplomatischen Diensten, bald auch als poetische Leitfigur einer nicht kleinen Schar von Schülern und Anhängern, erfreute er sich überregionaler Anerkennung.31 An seinem Schaffen, wenn ––––––––– 28 29 30 31

Abgedruckt in: Ed. Böcking (wie Anm. 23), Bd. 5, S. 249–263; dazu im Kontext unter anderen Schubert: Die deutschen Reichstage (wie Anm. 4), S. 193–201. Vgl. Ed. Böcking (wie Anm. 23), Bd. 5, S. 264–279. Schubert: Die deutschen Reichstage (wie Anm. 4), S. 209f. Zu Sabinus s. die zweisprachige Auswahl der Lyrica mit Bio- und Bibliographie sowie Kommentar in: Humanistische Lyrik (wie Anm. 11), S. 499–539; 1240–1270; nach wie vor ist heranzuziehen Max Töppen: Die Gründung der Universität zu Königsberg und das Leben ihres ersten Rectors Georg Sabinus. Königsberg 1844; eine biographische Skizze stammt von Heinz Scheible: Georg Sabinus (1508–1560). Ein Poet als Gründungsrektor. In: Die Albertus-Universität zu Königsberg und ihre Professoren […]. Hg. von Dietrich Rauschning und Donata von Nerée. Berlin 1995 (Jahrbuch der Albertus-Universität zu Königsberg/Pr. 29, 1994), S. 17–31; zu Sabinus’ Lyrik immer noch nützlich der Überblick bei Georg Ellinger: Geschichte der neulateinischen Literatur Deutschlands im sechzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Die neulateinische Lyrik in der ersten Hälfte des sechzehnten Jahrhunderts. Berlin, Leipzig 1929, S. 67–75; zur Position in der humanistischen Literatur Ostpreußens s. Wilhelm Kühlmann und Werner Straube: Zur Historie und Pragmatik humanistischer Lyrik im alten Preußen: Von Konrad Celtis über Eobanus Hessus zu Georg Sabinus. In: Zur Kulturgeschichte Ostpreußens in der Frühen Neuzeit. Hg. von Klaus Garber, Manfred Komorowski und Axel E. Walter. Tübingen 2001 (Frühe Neuzeit 56), S. 657–736.

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auch keinesfalls nicht nur an seinem, lassen sich hartnäckige Missverständnisse korrigieren, die irrige Meinung nämlich, als trete die deutsche Literatur mit dem Fortschritt der konfessionellen Spaltung in die vom Religionsstreit bewirkte ‚lutherische Pause‘ ein, oder die gleichfalls haltlose Sichtweise, nach der sich ausgerechnet die an die Herrschaftseliten adressierte neulateinische Dichtung kaum aus dem lastenden Schulstaub erhoben habe. Gerade die politische Poesie des Sabinus hielt sich von konfessioneller Polemik fern, konstituierte sich stattdessen in der Schnittzone dreier kulturpolitischer Anforderungsprofile, zunächst und vor allem (erstens) der in seinen Vers- und Prosawerken propagierten Kontinuität der Reichshistorie und imperialen Protreptik, mithin in der mit allem Nachdruck fortgeschriebenen Erinnerung an den praesumptiven reichspolitischen Konsens der aetas Maximilianea. Sabinus beschrieb den Frankfurter Wahltag von 1519, brachte in Merkversen eine Kaisergeschichte heraus, die von Karl. d. Gr. bis Ferdinand I. reichte, und veröffentlichte 1551, also nach dem bestürzenden Zusammenprall des Schmalkaldischen Krieges, im mahnenden Rückblick gerade auf den vorreformatorischen Reichstag des Jahres 1518, seine Narratio deliberationis Maximiliani imperatoris Romanorum de bello Turcico et brevis historia temporum eorum, quibus haec suscepta fuit. Solche Erinnerung an die vergangene Reichsherrlichkeit durchdrang auch Gedichte, in denen Sabinus den wenig erfolgreichen Ungarnfeldzug seines späteren Dienstherren, des Markgrafen Joachim II. von Brandenburg, behandelte und verteidigte. Diese Werke signieren (zweitens) poetische Dienstleistungen für das Territorialfürstentum, in diesem Fall die brandenburgischen Hohenzollern, denen sich Sabinus nicht nur durch seinen Geburtsort, sondern auch durch seine Professur für Rhetorik und Dichtkunst in Frankfurt/Oder (seit 1538, dann wieder seit 1555) und anschließend als Rector perpetuus der neu gegründeten Universität Königsberg (dort seit 1544) besonders verpflichtet fühlte. Dazu kam bei Sabinus (drittens) die Balance zwischen diesen beiden politisch-dynastischen Direktiven und der vor allem infolge seiner Kontakte mit dem italienischen Humanisten (seit 1539 auch Kardinal) Pietro Bembo (1470–1547) an ihn herangetragenen Vermittlung antiosmanischer Allianzpolitik und damit auch – tentativ ins Werk gesetzter – protestantisch-katholischer Ausgleichsbemühungen. An der Seite Melanchthons besuchte Sabinus die Reichstage von Speyer (1529) und Augsburg (1530), schließlich im Gefolge des Joachim II. von Brandenburg (reg. seit 1535) auch den Reichstag von Regensburg. Wie sich das innenpolitische Problem des religiösen Schismas fast unauflöslich mit den Fragen der Türkenabwehr verschlang, muss Sabinus genau beobachtet haben. In der spannungsreichen Option zwischen dem kosmopolitischen Moralismus eines Erasmus von Rotterdam und der namentlich durch Ulrich von Hutten nicht selten aggressiv aktualisierten Germanenideologie hatte sich Sabinus’ Generation literaturpolitisch bereits vor dem Horizont des drohenden deutschen Bürgerkriegs zu orientieren. Was humanistische Poeten, in ihrer Mehrzahl

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zwischen den sich bildenden Fronten den Vermittlungsversuchen Melanchthons anhängend, in solcher Lage bewirken konnten, war nicht viel, war aber doch immerhin ein Beitrag zur irenischen Besinnung und Bewusstseinsgeschichte, war Sensibilisierung der Mächtigen, war Sympathielenkung, Steuerung der Phantasie und der Emotionen. Anders als später Melanchthon, der in einer Briefelegie vom Regensburger Reichstag aus seiner Skepsis gegenüber den Aporien der Machtpolitik keinen Hehl mehr machte,32 repräsentiert eine Versepistel, die Sabinus 1530 vom Augsburger Reichstag an den berühmten Dichterfreund Eobanus Hessus (1488–1540) richtete, das in zahlreichen Zeugnissen dokumentierte Maß an Hoffnung, das dem von Italien anreisenden und – nach dem Frieden von Cambrai (1529) und nach der Kaiserkrönung (24. Februar 1530 in Bologna) – zur Ordnung der deutschen Affären entschlossenen Karl V. entgegengebracht wurde. Das Gedicht, das ich im Folgenden kurz und abschließend ins Gedächtnis rufen möchte, 33 gehört ohne Zweifel zu den ehrgeizigen Glanzstücken der Reichstagspoesie. Wer bedenken und würdigen möchte, was hier in lateinischer Sprache geleistet wurde, mag sich den Stand der damaligen deutschsprachigen Lyrik am Beispiel des oben zitierten Paulus Speratus vergegenwärtigen. Im Gestus des Berichts, aber auch im amplifizierten Briefgenus selbst verknüpft das Gedicht zum Einzug des Kaisers Traditionen der antikisierenden Versepistel mit intertextuell wirksamen Modellen der Reichstagspublizistik: Flugschriften, Reportagen z. B. des Reichsherolds Caspar Sturm und Beschreibungen des Zeremoniells, die sich – exemplarisch in einer Holzschnittserie des Augsburger Malers und Graphikers Jörg Breu d. Ä. (ca. 1475–1537) – auch der Bildmedien bedienten. 34 Die Elegie beginnt mit einer Bestimmung der Kommunikations––––––––– 32

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S. den Neudruck mit Kommentar in: Humanistische Lyrik (wie Anm. 11), S. 346–350 (Epistola de conventu Ratisponensi ad Iohannem Caesarium Anno 1541) und S. 1150– 1152. Melanchthon wendet sich gegen die Machenschaften der Fürsten und Adeligen (Centauri) und der ränkeschmiedenden Theologen (Sophistae), welche die Gefahr des Bürgerkrieges heraufbeschwören. Abgedruckt im abschließenden Textanhang. Ich stütze mich hier auf meine Einleitung und meinen Kommentar zum Abdruck in: Humanistische Lyrik (s. unten zum Textanhang) sowie auf meine Behandlung des Gedichts im größeren und anderen Zusammenhang; s. Willhelm Kühlmann: Der Poet und das Reich – Politische, kontextuelle und ästhetische Dimensionen der humanistischen Türkenlyrik in Deutschland. In: Europa und die Türken in der Renaissance (wie Anm. 9), S. 193–248, abgedruckt in: Wilhelm Kühlmann: Vom Humanismus zur Spätaufklärung. Ästhetische und kulturgeschichtliche Dimensionen der frühneuzeitlichen Lyrik und Verspublizistik in Deutschland. Hg. von Joachim Telle, Friedrich Vollhardt und Hermann Wiegand. Tübingen 2006, S. 104–152. Zum Augsburger Reichstag s. Helmut Neuhaus: Der Augsburger Reichstag des Jahres 1530. Ein Forschungsbericht. In: Zeitschrift für historische Forschung 9 (1982), S. 167–211; Johanna Loehr: War der Augsburger Reichstag von 1530 eine Komödie? Zur Verwendung dramentheoretischer Begriffe in den Briefen Luthers und Melanchthons. In: Archiv für Reformationsgeschichte 91 (2000), S. 47–86. Vgl. im Einzelnen Aulinger: Das Bild des Reichstages (wie Anm. 4), S. 328–339: vergleichende Zusammenstellung der bildlichen Darstellungen und schriftlichen Berichte. Zum Anlass vgl. Winfried Dotzauer: Die Ankunft des Herrschers. Der fürstliche „Einzug“ in die

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situation. Vorausgesetzt wird das Interesse des Freundes an wichtigen Neuigkeiten (V. 5–8). Der „Würde“ des Gegenstandes (V. 8: digna res) entsprechen die gewählte Stillage, der rhetorische ‚ornatus‘ und die astralmythologische Gelehrsamkeit der periphrastischen Zeitangabe (V. 9–14). Berührt werden die Vorbereitungen des Reichstags (V. 15–28). Es folgt die Beschreibung des den Kaiser ehrenden Empfangsrituals vor den Mauern Augsburgs – das Lokal präsentiert in einer knappen Ekphrasis (V. 29–32) – mit der Begrüßung des Kaisers durch die entgegenreitenden Fürsten (am 15. Juni 1530 gegen 16 Uhr). Im römisch-lateinischen Idiom ist Augsburg nicht nur die deutsche Reichsstadt, sondern vrbs Augusta, römische Gründung und somit sinnträchtige Stätte römisch-deutscher, damit aber auch deutsch-italienischer Reichsherrlichkeit. Der Einzug des Kaisers nimmt ausdrücklich die Form des altrömischen Triumphzuges an (V. 21ff.). Erinnerungen an die Trionfodarstellungen der europäischen Renaissancekunst drängen sich auf, hier nicht nur zur Verherrlichung dynastischen Glanzes und zur ‚Distinktion‘ der Herrschaftsrollen, sondern auch als momenthaftes Bild einer politischen Harmonie assoziiert, das die Fürsten, den Adel und auch die Bürger bis hin zu den Handwerkerzünften vereinigt. Indem Sabinus die Begrüßungsrede des Mainzer Erzbischofs und Reichskanzlers Albrecht von Brandenburg referiert (V. 37–78), wandelt sich das Gedicht zum panegyrischen Katalog der kaiserlichen Taten, nicht (wie schon bei Celtis) ohne glückverheißende Erinnerung an die im deutschen Imperium versprochene Wiedergeburt augusteischer Zeiten (V. 42). Entgegen den historischen Quellen ist von der konfessionellen Konfliktlage mit keinem Wort die Rede. Stattdessen wird das Thema der osmanischen Bedrohung so an den italienischen Siegeszug des Kaisers angeschlossen, dass von da aus Hoffnung auch auf einen Sieg gegen die impia manus (V. 72) des Türken ausstrahlt (V. 65–72). In ähnlicher Weise wie später erneut Altrömisches imaginiert wird, etwa die Vorstellung des Forums, auf dem einst Cicero sprach (V. 81f.: fast also die Vorstellung einer quasirepublikanischen Akklamation), verschmilzt kontrastiv das Bild des Türken – analog zu vielen zeitgenössischen Gedichten – mit dem Begriff der Barbaren, der Geten (V. 70), denen sich einst Ovid in seinem Exil an der äußersten Peripherie der römischen Herrschaftssphäre konfrontiert sah. Nicht die Theorien eines gerechten Krieges interessieren Sabinus, sondern die im herrschaftssymbolischen Augenblick zu beschwörende Teleologie der Reichsgeschichte, in der Karl V. 35 das unerfüllte Vermächtnis seines Großvaters –––––––––

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Stadt (bis zum Ende des alten Reiches). In: Archiv für Kulturgeschichte 55 (1973), S. 245– 288. Zur ästhetischen wie sozialgeschichtlichen Seite des Zeremoniells und des dazugehörigen weitläufigen Schrifttums grundlegend: Zeremoniell als höfische Ästhetik in Spätmittelalter und Früher Neuzeit. Hg. von Jörg Jochen Berns und Thomas Rahn. Tübingen 1995 (Frühe Neuzeit 25). Sabinus’ Stellung zu Karls V. Politik bedürfte im Detail weiterer Untersuchungen; dazu (gerade im Blick auf den Italienfeldzug) wäre heranzuziehen die große Elegie über den sog. sacco di Roma (El. V 1; Poemata. Leipzig 1581, S. 126–142): Roma a Caesare Carolo V. capta.

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Maximilian (V. 62) antritt, damit auch jene mittelalterlichen Kreuzzugsprojekte revitalisiert, die hier in intertextueller Verschränkung mit den umlaufenden Kaiserprophetien artikuliert werden (V. 73–76). Von der Prognostik eines Johannes Lichtenberger (ca. 1440–1503), die Luther 1527 mit einer Vorrede publizierte, spannt sich hier plötzlich – aus heutiger Sicht – ein weiter literarischer Bogen bis zu jener Reprise verjährter Pläne der Reichsreform, wie sie ein Jahrhundert später in der Jupiterepisode (III, 3–6) des grimmelshausenschen Simplicissimus nur noch mit sarkastischer Ironie kommentiert werden. 36 Sabinus legt dem Reichskanzler Prophezeiungen ungenannter fatidici senes (V. 74–76) in den Mund, nach denen der Kaiser einst „sein Lager vor Jerusalem aufschlagen und den Barbarenhals unter das kaiserliche Joch beugen wird“. Der Begrüßung des Kaisers vor der Stadt folgt der ‚introitus‘ in die Stadt (V. 93–128). Aufzug und Gefolge werden sorgfältigst beschrieben – ganz ohne Spitzen gegen die Altgläubigen und gegen die Vertreter der Kurie erneut ganz auf die Sozialsymbolik des Zeremoniells abgestellt. Wiederum mit einer ortsbezogenen Ekphrasis wendet sich schließlich der Blick zum Rathaus (V. 130). Nicht die Gebäude, vielmehr bildnerische Darstellungen des Innenraums37 sind hervorgehoben (V. 131–140), die ikonographisch eine Kontinuität von Germanengeschichte und Reichsgeschichte suggerieren (V. 131). Nationale ‚Memoria‘, gipfelnd in dem durch Hutten literarisch begründeten Arminiusmythos, konvergiert mit dem im Türkenthema gipfelnden reichspatriotischen Pathos und ohne historische Skrupel schließt Sabinus die Serie germanischer Siege über die Römer (V. 132–138) an den Kampf Kaiser Ottos gegen die Ungarn auf dem Lechfeld an (V. 139f.), die hier wie auch sonst sehr oft „Hunni“ genannt werden, aus dem Lande der Skythen aufgebrochen sind und sich so unmissverständlich als Präfiguration der aktuellen türkischen Invasion zu erkennen geben. Die Schilderung des abschließenden kirchlichen Zeremoniells (V. 141–148) verschweigt Vorbehalte des Protestanten. Allenfalls die vorhergehende Evokation des Sieges der Germanen über die Römer im Zeichen der ‚Freiheit‘ erinnert an die einst von Hutten angefachten antirömischen Aggressionen und damit an die konfessionspolitischen Kollisionen, die auf dem Reichstag zu verhandeln waren. Unter dem Druck der türkischen Bedrohung bringt Sabinus am Ort wegweisender politischer Entscheidungen Bilder historischer wie unmittelbar sichtbarer ––––––––– 36

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Zu Lichtenberger vgl. den Artikel von Barbara Bauer (sub verbo). In: Literatur-Lexikon. Hg. von Walther Killy. Bd. 7. Gütersloh, München 1990, S. 266f.; zur Wirkung bis ins 17. Jahrhundert s. Frank Ganseuer: „Teutscher Held“ und „Teutsche Nation“. Die Ironisierung der Kaiserprophetie in der Jupiter-Episode von Grimmelshausens Abenteuerlichem Simplicissimus Teutsch. In: Simpliciana 10 (1988), S. 149–177. Sabinus beschreibt Bildnisse im Inneren des (alten) Rathauses, also nicht die 1516 erneuerte Fassadenmalerei; falls Sabinus Gesehenes referiert, kommt dem Gedicht kunsthistorischer und lokalgeschichtlicher Quellenwert zu; vgl. dazu die Hinweise im Kommentar zum Abdruck in: Humanistische Lyrik (wie Anm. 11), bes. S. 1254.

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Kaiserherrlichkeit mit den adhortativen Reminiszenzen der taciteischen Germanenideologie zur Deckung. So artikuliert sich die scheinbar private Versepistel an einen Dichterfreund selbst als Formsymbol römisch-imperialer Renaissance, als Ausdruck eines vom Dichter-Vates formulierten kollektiv-nationalen Willens, mithin als eines der vielen Zeugnisse einer selbst republikanische Allusionen nicht scheuenden wahrhaft politischen Reichspoesie, zu der gerade die Reichsstadt Augsburg das passenden Ambiente und den zugehörigen mentalen Erinnerungsraum anbot.

III.

Textanhang

Vorlage: Poemata Georgii Sabini Brandenburgensis V. Cl. et numero librorum et aliis additis aucta, et emendatius denuo edita. Leipzig 1581 (Nachdruck der Ausgabe 1563), S. 3–9 (Elegie I, 2). Textaufnahme und Übersetzung hier nach dem zweisprachigen Abdruck in: Humanistische Lyrik (wie Anm. 11), S. 504– 513, hier auch eine komplette deutsche Übersetzung; in den Zeilenkommentaren ebd., S. 1246–1255 findet der Leser ergänzende Hinweise.

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Ad Eobanvm Hessvm de adventv Caroli V. Caesaris.

Quod legis Augusta tibi mittit ab vrbe Sabinus Carmen, amicitiae deditus Hesse tuae. Hinc, vbi vicinos Lycus irrigat Alpibus agros, Sueuaque Boiorum separat arua solo. Accipe, si qua tenet rerum te cura nouarum, Quae fuit hîc isto pompa peracta die. Carolus Ausonijs quo venit CAESAR ab oris: Digna quidem res est cognitione tua. Concaua siderei quo tempore brachia Cancri Coeperat adductis vtere Phoebus equis, Arctabatque dies noctis longissimus vmbras, Sole Lycaonio iam propiore polo: Et noua maturis instabat fructibus aestas, Actaque purpurei tempora veris erant: CAESAR ab Italia per Norica iugera tendens, Moenibus huc nostris approperabat iter. Uix bene contigerat praemissus nuncius vrbem, Certaque Principibus fama relata fuit: Mox coit imperij cum nobilitate Senatus, Omnis in occursum turbaque laeta ruit. Haud secus, ac victis cum dicitur hostibus olim Excepisse suos obuia Roma Duces. Mille bis electi iuuenes è ciuibus ibant, Nota quibus saeui praelia Martis erant. Hi patriae solito frameas de more gerebant, Transuerso cincti militis ense latus. Caetera cornipedum pars terga premebat equorum, Ordine qua ciues pone secuta fuit. Urbs stat in excelso procul edita vertice montis, Incola Fridburgum nomine turba vocat. Campus odoratis nitidissimus adiacet herbis Mollis & aprico gramine terra viret: Obuius hic factus cum CAESAR euntibus esset, Omnes, quotquot erant, desiluêre Duces. Tunc, tuus excipiens illum Moguntia praesul, Haec dedit ornatis verba diserta modis: Felix ille dies, nostris quo redditus oris, Hesperio incolumis CAESAR ab orbe venis: Quo repetita tuos iterum Germania vultus Conspicit, & fruitur numine laeta tuo, Tantus es inuicto qui pectore, tantus & armis; Quantus ab Augusti tempore nemo fuit.

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An Eobanus Hessus über die Ankunft Kaiser Karls V.

Das Gedicht, welches du liest, sendet aus Augsburg dir Sabinus, der dir ganz in Freundschaft ergeben ist, mein Hessus, von dem Ort, wo der Lech die den Alpen benachbarten Felder bewässert und das schwäbische Land vom Gebiet der Bayern trennt. Vernimm, wenn du dich für Neuigkeiten interessierst, welch ein festlicher Zug hier an dem Tage aufgeführt wurde, an dem Kaiser Karl von den fernen Gefilden Italiens kam; ist doch die Sache es wert, dass du sie erfährst. Zu der Zeit, da Phoebus begonnen hatte, mit straff gezügelten Rossen die gekrümmten Scheren des Sternbildes Krebs zu versengen, [10] und der längste Tag das Dunkel der Nacht verkürzte, während die Sonne schon dem lycaonischen Pol näher gerückt war und ein neuer Sommer mit reifen Früchten bevorstand und die Zeiten des purpurfarbenen Frühlings vergangen waren, da eilte der Kaiser, der von Italien über das norische Gebirge seinen Weg nahm, hierher zu unseren Mauern. Kaum war der vorausgesandte Bote glücklich in der Stadt angelangt und den Fürsten genaue Kunde übermittelt worden, als der Rat mit dem Adel des Reiches zusammentrat und das ganze Volk frohgestimmt zum Empfang eilte, [20] nicht anders, als einst Rom seinen Feldherren nach Überwindung der Feinde entgegengezogen sein und sie empfangen haben soll. Zweitausend aus der Bürgerschaft erlesene Jünglinge zogen aus, denen die Kämpfe des wilden Krieges vertraut waren. Sie trugen nach dem überkommenen Brauch ihrer Vaterstadt Spieße und waren gegürtet mit dem schräg herabhängenden Soldatenschwert. Die übrige Mannschaft saß auf dem Rücken hufetragender Rosse und folgte in rechter Ordnung unmittelbar den Bürgern nach. Eine Stadt erhebt sich hoch auf dem ragenden Gipfel eines Berges, die Einwohner nennen sie Friedberg. [30] Ein herrliches Feld mit duftenden Kräutern liegt nahebei, und die weiche Erde ist grün von sonnenbeschienenem Rasen. Als der Kaiser hier auf die ihm Entgegenziehenden traf, sprangen alle Fürsten, die in großer Zahl anwesend waren, (von ihren Pferden) ab. Dein Bischof, Mainz, begrüßte ihn und sprach in geschmückter Rede gewandt die folgenden Worte: „Glücklich der Tag, an dem du, unserem Lande wiedergegeben, unversehrt, mein Kaiser, aus hesperischem Gebiet kommst, an dem Deutschland, das du wiederum aufsuchst, erneut dein Antlitz erblickt und sich deiner Majestät erfreut, [40] der du so groß bist mit deinem unbezwingbaren Mut, so groß auch mit deiner Kriegsmacht, wie es keiner seit der Zeit des Augustus gewesen ist.

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Nam mihi si rerum percurrere gesta tuarum, Si licet hoc coram te memorare loco: Insignes omni superas virtute Monarchas, Quos dedit, aut vnquam Teutonis ora dabit. Quae toties Aquilas iniustis terruit armis, Concidit ante tuos GALLIA victa pedes: Captiuumque pati conspexit vincula Regem, Qui summus nostri nominis hostis erat. Debellata tuis accessit ROMA triumphis, Iniussu quanquam capta sit illa tuo: Quique suis orbem Tiberinus subdidit vndis, Te dominum domitis esse fatetur aquis. Paret, & Adriacus stabili leo foedere iunctus, Caesareas rapidis vnguibus horret aues, Qui pelago terraque potens, hostilibus armis Acriter imperio restitit ante tuo. Sentit adhuc obsessa tuas Florentia vires, Iamque tibi victas porrigit illa manus. Ergo tot aduersos cum debellaueris hostes, Cognite laudato CAROLE maior auo, Nos tibi gratamur reduci, superosque precamur, Tempora quo vitae sint diuturna tuae: Uictor vt à nostro depellas limine Turcas, Teutona qui valido milite regna petunt. Moestaque dant saevo grassantes funera ferro, Pannoniae miseros dum populantur agros. Quod nisi crudeles tua dextera vicerit hostes, Nos sumus infestis praeda futura Getis. At nisi me veterum fallunt oracula vatum, Sentiet vltrices impia turba manus. Tempus enim Solymam quo castra locabis ad vrbem Affore, fatidici praecinuere senes: Quoque Saracenum coges victricibus armis, Subdere Caesareo barbara colla iugo. Hanc vtinam nobis optato Lucifer ortu Prouocet, hanc roseo mox vehat axe diem. Talia facundo postquam dedit ore: secutum Ultima sermonis murmur equestre fuit. Audijt vt quando Ciceronem Roma loquentem, Clamoso fremuit concio tota foro. Principibus vero paucis pro tempore verbis, Ipse suo grates nomine Caesar agit. Et quia se prono condebat lumine Titan, Ocyus inceptum carpere pergit iter.

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Denn wenn es mir erlaubt ist, kurz deine Taten durchzugehen und an sie vor dir an diesem Orte zu erinnern: Du übertriffst an jeglicher Tugend die bedeutenden Herrscher, die Deutschlands Erde jemals hervorbrachte oder hervorbringen wird. Frankreich, das so oft die Adler mit ungerechten Kriegen in Schrecken versetzte, fiel bezwungen dir zu Füßen und musste mitansehen, dass sein König, der der schlimmste Feind unserer Nation war, [50] gefangen Fesseln erduldete. Bezwungen kam auch Rom zu deinen Triumphen hinzu, obgleich es ohne deinen Befehl eingenommen wurde, und der Tiber, der seinen Wogen den Erdkreis untertan gemacht hat, bekennt mit bezwungenem Strome, dass du sein Herr bist. Auch der Löwe der Adria gehorcht, nunmehr in unverbrüchlichem Vertrage verbunden; er schaudert vor den Vögeln des Kaisers mit ihren reißenden Krallen zurück, er, der, zu Meer und zu Lande mächtig, zuvor mit feindlichen Waffen deiner Herrschaft heftig Widerstand leistete. Noch immer bekommt das belagerte Florenz deine Kräfte zu spüren, und schon streckt es dir besiegt seine Hände entgegen. [60] Da du so viele widersetzliche Feinde gänzlich bezwungen hast, Karl, der du als größer erkannt bist als dein gepriesener Großvater, beglückwünschen wir dich zu deiner Rückkehr und bitten die Himmlischen, dass deine Lebenszeit lange dauern möge, so dass du von unserer Grenze siegreich die Türken vertreiben kannst, die mit starker Heeresmacht das Deutsche Reich heimsuchen, grausam mit blutiger Gewalt vorgehen und schlimmen Tod bringen, während sie die unglücklichen Fluren Pannoniens verwüsten. Sollte aber deine Rechte die grausamen Feinde nicht besiegen können, werden wir künftig den feindseligen Türken zur Beute. [70] Wenn mich indessen die Wahrsagungen der alten Seher nicht trügen, wird die gottlose Schar deine rächende Hand fühlen. Denn schicksalskundige Greise haben vorausgesagt, es werde eine Zeit kommen, da du dein Lager vor Jerusalem aufschlagen und mit siegreichen Waffen die Sarazenen zwingen werdest, ihren Barbarenhals unter das kaiserliche Joch zu beugen. Möge uns der Morgenstern doch mit ersehntem Aufgang diesen Tag erscheinen lassen und ihn mit seinem rosenfarbigen Gefährt bald heraufführen!“ Nachdem er solchermaßen mit beredtem Mund gesprochen hatte, folgte seinen letzten Worten beifälliges Gemurmel der Reiter, [80] so wie einst, als Rom der Rede Ciceros lauschte, die ganze Versammlung auf dem lärmenden Forum zustimmte. Der Kürze der Zeit entsprechend, dankte der Kaiser indessen den Fürsten mit wenigen Worten persönlich. Und da sich Titan mit sinkendem Licht verbarg, setzte er den begonnenen Weg rascher fort.

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Iamque propinquantes vt moenia celsa subibant, Pulsa sub aërijs turribus aera sonant: Intonat ex altis & machina bellica muris, Sulphureo rapidos quae iacit igne globos. Compita spectantis populi stant plena viarum, Augustumque frequens turba coarctat iter. Saxoniae proceres intrabant ordine primi, Proximus his socios Marchio iunxit equos. Pone sequebantur, latis quibus Hessia terris, Imposuitque suis nomina Rhenus aquis. Quique colunt patrijs flauentem sedibus Istrum, Quique tenent Francis edita rura iugis. Praeterea celebri quos alluit amne Uisurgis, Uuestphala coeruleis qui rigat arua vadis. Quid tibi commemorem, qui nobile nomen Iberi, Diuitis & ripas deseruere Tagi? Incomperta mihi quorum nec nomina constant, His neque conueniunt versibus apta meis. Innumeri iuuenes misto clangore tubarum, Quassabant agili tympana pulsa manu. Binaque Caesarei gestabant sceptra ministri, Imperij summos qui praeiere Duces: E quibus auratum Septemuir praetulit ensem, Saxoniam placida qui modo pace regit. Hac igitur longa procerum stipante caterua, Atque Ducum tanta concomitante manu. Ipse figurata picti sub imagine coeli, Inuectus niueo CAROLVS ibat equo. Omnis in hunc oculos defixos turba tenebat, Omnibus his populis solus in ore fuit. Inde Bohemorum qui regna vetusta gubernat, Proximus à Diuo Caesare frater erat. Ultimus Orator Romani praesulis ibat, Nomine Campeium se vocat ille suo. Insignis Tyrio quem murice mula vehebat, Mos vt in Hesperijs vrbibus esse solet. Tempora puniceus cingebat operta galerus, Cardinei qualem nominis ordo gerit. Tunc iter Austriaci proceres Heduique secuti, Atque Tridentinus continuabat eques. Uindelicique suo redeuntes agmine ciues, Qui prius egressi moenibus vrbis erant. Ardua sublimi spectatur culmine turris, Hîc vbi stat medio curia iuncta foro,

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Als sie sich nunmehr den hohen Mauern näherten, tönen gegeneinandergeschlagene Becken am Fuß der himmelragenden Türme, und von den hohen Mauern dröhnt Kriegsgerät, das mit schwefligem Feuer blitzschnelle Kugeln verschießt. [90] Die Kreuzungen der Wege sind gefüllt von schaulustigem Volk, und zahlreiche Zuschauer engen den Weg des Kaisers ein. Der Ordnung gemäß betraten als erste Sachsens Vornehme die Stadt, und als nächster reihte der Markgraf von Brandenburg seine Pferde an. Ihm folgten die auf dem Fuß, denen Hessen mit seinen weiten Fluren, und die, denen der Rhein mit seinen Wogen den Namen gab; danach die, die in ihren ererbten Sitzen am Ufer der gelblichen Donau wohnen und die auf Frankens Bergen hoch gelegene Felder innehaben, dazu die, die an den Ufern des berühmten Weserstroms wohnen, welcher mit blauen Wassern die Flure Westfalens benetzt. [100] Was soll ich die erwähnen, die den berühmten Ebro und die Ufer des reichen Tejo verlassen haben? Ihre Namen konnte ich nicht sicher in Erfahrung bringen, und sie fügen sich nicht passend in meine Verse hier. Zahllose Jünglinge schlugen gewandt mit den Händen die Trommeln zum Klang der Trompeten, und Diener des Kaisers, die vor den höchsten Fürsten des Reichs schritten, hielten die beiden Szepter. Aus ihrer Mitte trug der Kurfürst, der jetzt in sanftem Frieden Sachsen regiert, das vergoldete Schwert voran. [110] Umdrängt von einer so langen Reihe von Vornehmen also und von einer so großen Schar von Fürsten begleitet, ritt unter einem Baldachin, der den Himmel darstellte, hoch auf einem schneeweißen Rosse Karl selbst. Alles Volk hielt unverwandt die Augen auf ihn gerichtet, alle diese Menschen sprachen nur über ihn. Darauf folgte er, der das alte Reich der Böhmen regiert, der Bruder, als nächster dem erhabenen Kaiser. Als letzter kam der Gesandte des römischen Bischofs, er nennt sich Campeggio mit Namen. [120] Ihn trug ein Maultier, geschmückt mit tyrischem Purpur, wie es in den Städten Hesperiens gewöhnlich der Brauch ist. Seine Schläfen umgab eine purpurfarbene Kappe, wie sie der Stand der Kardinäle trägt. Darauf folgten die Edlen aus Österreich und Burgund. Der Ritter aus Trient schloss sich an sowie die Schar der zurückkehrenden Bürger Augsburgs, die zuvor aus den Mauern der Stadt gezogen waren. Man kann einen steilragenden Turm mit hoher Spitze sehen, wo mitten auf dem Markt, ihm verbunden, das Rathaus steht.

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Wilhelm Kühlmann

Quae Germanorum veteres ex ordine Reges, Pictaque clarorum continet acta Ducum. Hîc fera robusti miscent vbi praelia Cimbri, Attonito pauidos milite Carbo fugit. Nexa gerit Scaurus captiuo vincula collo, Caesus & hostili Manlius ense cadit, Impiger Arminius Romanos exuit armis, Quo duce libertas nostra redemta fuit. Parte alia Scythicis egressum finibus Hunnum, Primus Otho forti pectore victor agit. Multus ad hanc turrim longo stetit ordine clerus, Caesare contigua praetereunte via. Omnibus abraso detonsi vertice crines, Omnibus ex humeris candida vestis erat. Inde sacram diuae subeuntes virginis aedem, Carmine solenni concinuêre preces. Arboreis stabant decoratae frondibus arae, Sparsaque iactatis templa fuêre rosis. Interea toto subducta crepuscula coelo, Ortaque roriferae tempora noctis erant. Dimissis igitur Ducibus, cum fratre subibat CAROLVS hospitij tecta propinqua sui. Atque ita, quàm celebri res tota sit acta triumpho, Omnia descriptis ordine rebus habes. Caetera praesenti coram sermone loquemur, Tempore quo repetam moenia vestra: Vale.

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[130] Es enthält die alten Könige der Deutschen der Reihe nach und in Gemälden die Taten der berühmten Fürsten. Hier, wo die kräftigen Kimbern den willden Kampf eröffnen, flieht Carbo mit seinen bestürzten Soldaten vor den Schreckenerregenden. Scaurus trägt Fesseln um seinen gefangenen Hals, und getroffen von feindlichem Schwert, fällt Manlius. Unermüdlich beraubt Arminius die Römer der Waffen, unter dessen Führung wir unsere Freiheit wiedererlangten. An anderer Stelle vertreibt Otto I. den aus dem Gebiet Skythiens aufgebrochenen Hunnen siegreich mit tapferem Mute. [140] Viele Kleriker standen in langer Reihe bei diesem Turm, als der Kaiser auf der angrenzenden Straße vorüberging. Allen waren ihre Haare auf glatt geschorenem Scheitel entfernt, allen fiel ein weißes Gewand von den Schultern herab. Darauf betraten sie die der Heiligen Jungfrau geweihten Kirche und sangen Fürbitten in feierlichem Lied. Mit Laub von Bäumen waren die Altäre geschmückt, und die Kirche war übersäht von hingestreuten Rosen. Unterdessen war die Abenddämmerung ganz vom Himmel verschwunden, und die Zeiten der Tau bringenden Nacht waren angebrochen. [150] Karl entließ also die Fürsten und zog sich mit seinem Bruder in die benachbarte, ihm bestimmte Herberge zurück. Und somit hast du die Beschreibung aller Geschehnisse, wie sie beim feierlichen Einzug stattfanden, nach der Reihenfolge. Das übrige werden wir miteinander persönlich besprechen, wenn ich eure Mauern wieder aufsuchen werde. Leb wohl!

Tomasz Ososiński

Die Kontakte des polnischen Humanisten Johann Dantiscus mit der Firma Welser (1527–1537)

1.

Lebenslauf

Johann Dantiscus (1485–1548), polnischer Diplomat und Dichter, war eine der wichtigsten Figuren in der polnischen Außenpolitik mit Deutschland in der 1. Hälfte des 16 Jahrhinderts.1 Er stammte aus Danzig. Seine Eltern, die ihn für den geistlichen Stand bestimmt hatten, schickten ihn 1492 auf die bedeutendste Schule im damaligen Preußen in Kulm, die zuvor u. a. auch von Kopernikus besucht worden war. Seine Ausbildung setzte Dantiscus sodann in Graudenz fort, wo er Gelegenheit hatte, seine Kenntnis der polnischen Sprache zu verbessern. Danach studierte er in Greifswald und in Krakau. Seine Karriere am Hof begann früh: 1503 wurde er mit 18 Jahren königlicher Sekretär, später u. a. königlicher Legat für die Beziehungen zu Preußen und mit vielen diplomatischen Aufgaben betraut. 1505 erhielt er von König Alexander ein Stipendium, das ihm ein Studium in Italien ermöglichen sollte. Er reiste zunächst nach Venedig. Statt sich aber an einer der italienischen Universitäten zu immatrikulieren, unternahm er eine Reise nach Palästina, wo er das Heilige Grab besuchte. Erst zwei Jahre später kehrte er über Italien wieder nach Polen zurück. In den Jahren 1507 bis ––––––––– 1

Die grundlegenden Monographien zu Dantiscus sind: Zbigniew Nowak: Jan Dantyszek. Portret renesansowego humanisty [Johann Dantiscus. Ein Bildnis des Humanisten der Renaissance]. 1982; Inge Brigitte Müller-Blessing: Johannes Dantiscus von Höfen. Ein Diplomat und Bischof zwischen Humanismus und Reformation (1458–1548). In: ZGAE 31/32 (1968), S. 59–238; Henry De Vocht: John Dantiscus and his Netherlandish friends: as revealed by their correspondence, 1522–1546. Löwen 1961; Joannes Dantiscus (1485– 1548) Polish Ambassador and Humanist. Proceedings of the International Colloquium Brussels, May 22–23, 1995. Hg. von J. Ijsewijn und W. Bracke. Brüssel 1996 (Studia Europaea Bd. 2); Leon Ciliński: Krótki rys życia i działalnosci literackiej J. Dantyszka. Stanisławów 1910; Leon Czaplicki: De vita et carminibus Joannis de Curiis Dantisci. Breslau 1855; Marian A. Kurpiel: Jan Dantyszek, życie i działalność, Teil 1. (1486–1519) (eine Anfang des 20. Jh. entstandene, bis jetzt aber im Manuskript verbliebene Monographie). Die Handschriften der Briefe befinden sich in der Czartoryski-Bibliothek in Krakau (BCK) und im Archiv der Erzdiözese Ermland in Olsztyn (AAWO). Der Briefwechsel von Dantiscus wird zurzeit am Institut für Interdisziplinäre Studien an der Universität Warschau (IBI UW) gesammelt und herausgegeben. Von der auf sechzehn Bände angelegten Edition erschienen bis jetzt zwei: Ioannes Dantiscus’ Latin Letters, 1537. Transcription from manuscript, commentary and annotations by Anna Skolimowska. Warschau, Krakau 2004 und Inventory of Ioannes Dantiscus’ German-language Correspondence. Compiled by Tomasz Ososiński. Warschau, Krakau 2004. Der dritte, den Briefwechsel zwischen Dantiscus und Sigmund von Herberstein umfassende Band ist gerade im Erscheinen.

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1515 stand er in Diensten des polnischen Königs und vertrat ihn öfters auf den preußischen Landtagen. 2 Seine internationale politische Karriere begann 1515 beim Treffen zwischen Sigismund I. von Polen, Władysław II. Jagiellon, König von Ungarn und Böhmen, und dem römischen Kaiser Maximilian I. auf dem Wiener Kongress. Dort wurden Entscheidungen getroffen, die die Zukunft des gesamten osteuropäischen Raumes bestimmen sollten: Verhandelt wurde der Verzicht auf das 1514 geschlossene Abkommen zwischen Maximilian I. und Wasilij III., die Zukunft des Ordensstaates in Preußen und vor allem die Sukzession in Ungarn und Böhmen, wo damals die Jagiellonen herrschten. Im Verlauf des Treffens verzichtete Maximilian I. auf das Bündnis mit Wasilij III. und Albrecht von Hohenzollern. Im Gegenzug verpflichteten sich die Jagiellonen im Falle, dass Ludwig II. kinderlos sterben würde, den Thron von Ungarn und Böhmen an die Habsburger abzutreten. Um das Abkommen zu untermauern, plante man zwei Ehen: Ludwig II., Władysławs Sohn, heiratete Maria von Habsburg, die Enkelin des Kaisers, und Anna Jagiellon, die Schwester Ludwigs II., heiratete den Enkel des Kaisers, den späteren Kaiser Ferdinand I. Auf dem Kongress knüpfte Dantiscus viele Kontakte mit prominenten Persönlichkeiten des kaiserlichen Hofes3 sowie mit Kaufleuten und Humanisten aus der Umgebung des Kaisers. Nach dem Treffen in Wien blieb er zusammen mit zwei anderen polnischen Gesandten – Rafał Leszczyński und Maciej Drzewicki – bei Kaiser Maximilian, um die Realisierung der Artikel des Abkommens zu überwachen (vor allem, was die preußische Angelegenheit anging). Die drei polnischen Gesandten sowie Bohusz Bohwitynowicz, der Litauen vertrat, wurden vom Kaiser aber auch mit einer diplomatischen Aufgabe betraut: Sie wurden nach Venedig gesandt, um über den Frieden zu verhandeln. Mit Hilfe der polnischen Gesandtschaft versuchte Maximilian, Druck auf Venedig auszuüben: Als ein von den Osmanen direkt bedrohtes Land sollte Polen Venedig für eine antiosmanische Koalition gewinnen und dieses dabei auch davon überzeugen, mit Maximilian Frieden zu schließen. Die venezianische Mission scheiterte und die Gesandten kehrten nach Polen zurück.4 Dantiscus jedoch blieb als Einziger aus der Gesandtschaft beim Kaiser. Einerseits diente er als ständiger diplomatischer Agent des polnischen Königs, andererseits bediente sich Maximilian seiner in verschiedenen Angelegenheiten, in denen Dantiscus als Vertreter des polnischen Königs einen positiven Einfluss ausüben konnte. Er wurde zuerst noch zweimal nach Venedig gesandt (im Februar und Juli 1516), wo er vor dem Rat der Zehn wegen des Friedens mit Ma––––––––– 2

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Zu dieser frühen Periode von Dantiscus’ diplomatischer Tätigkeit vgl. Nowak (wie Anm. 1), S. 39–101; De Vocht (wie Anm. 1), S. 1–30; Marian Biskup: Polska a Zakon Krzyżacki w Prusach w początkach XVI w. Olsztyn 1983, S. 332–337, 460–465, 562–564. Vgl. Krzysztof J. Baczkowski: Zjazd wiedeński 1515. Geneza, przebieg i znaczenie. Warschau 1975; Manfred Holleger: Maximilian I. 1459–1519. Stuttgart 2005, S. 214–219. Zu Dantiscus’ damaligen Gesandschaften vgl. Ludwig Finkel: Poselstwa Jana Dantyszka. Lemberg 1879.

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ximilian vorsprach. 5 In seinem autobiographischen Gedicht berichtete er später über das Geschehen und gab an, zu dem etwa zeitgleich geschlossenen Frieden beigetragen zu haben: Nuntius in castris fueram, ter missus ad illos fueram / Et certa pacem conditione dedi.6 Danach verhandelte er in Heiratsangelegenheiten der Enkelin Maximilians, Eleonore von Burgund. Ende des Jahres 1516, als Dantiscus zusammen mit dem Kaiser in Augsburg weilte, starb Königin Barbara, die Frau des polnischen Königs, und Maximilian plante, den König mit Eleonore zu verheiraten. Anfang 1517 schickte er Dantiscus zusammen mit Wilhelm von Roggendorf in die Niederlande, um Eleonore für die Heirat zu gewinnen. Die Mission hatte keinen Erfolg. Die nächste von Maximilian I. gewählte Kandidatin war Bona Sforza: Ihre Heirat mit Sigismund kam nicht zuletzt dank Dantiscus zustande. 7 Der Aufenthalt am kaiserlichen Hof brachte Dantiscus viele Auszeichnungen: Er wurde von Maximilian zum poeta laureatus gekrönt8 und geadelt. Durch ihn konnte Dantiscus auch viele Bekanntschaften machen und Freundschaften knüpfen, die er dann sein Leben lang pflegte, u. a. mit Joachim Vadianus, Jakob Bannissius und Sigmund von Herberstein. Auf dem Wiener Kongress lernte er auch seinen späteren Freund, den Dichter Eobanus Hessus, kennen, mit dem er in den folgenden Jahren in Form poetischer Briefe korrespondierte. 9 1517 wurde Dantiscus nach Polen zurückgerufen. Inzwischen hatte er sich aber einen Namen als Diplomat gemacht und war für die Kontakte mit dem Kaiserhof zuständig geworden, so dass er schon 1518, nach dem Tod von Johanna IV., der Tante von Isabella d’Aragona, der Mutter der Königin Bona, wiederum zum Kaiser gesandt wurde, um das Erbe für Isabella zu sichern. Von Österreich aus, wo er Maximilian I. getroffen hatte, reiste er dann nach Spanien an den Hof Karls I., in dessen Händen die Entscheidungsgewalt in der Sache lag. Mit verschiedenen Mitteln versuchte er Karl I. zu beeinflussen und eine positive Entscheidung in der Erbschaftsangelegenheit u. a. dadurch zu erwirken, dass er dem König polnische Unterstützung in der Kaiserwahl versprach.10 Dieser erste Aufenthalt in Spanien dauerte bis September 1519,11 Dantiscus verbrachte dort also fast ein Jahr. Trotzdem ist es ihm nicht gelungen, das Erbe ––––––––– 5

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Venezia, Archivio di Stato, Consiglio dei X, Deliberazioni miste, registri, Bd. 40 (1516), S. 96v–97r. Zu den damaligen Aufgaben, die Dantiscus für Maximilian I. erledigte, vgl. Nowak (wie Anm. 1), S. 81ff. Ioannis Dantisci Carmina, Nr. XLIX: Vita Ioannis Dantisci, S. 296, Z. 27f. Zygmunt Wojciechowski: Zygmunt Stary (1506–1548). Warschau 1979, S. 131–153. Zu der poetischen Tätigkeit von Dantiscus vgl. Stanisław Skimina: Twórczość poetycka Jana Dantyszka. Krakau 1948. S. Skimina besorgte auch die bisher umfangreichste Edition von Dantiscus’ Gedichten: Ioannis Dantisci Carmina. Krakau 1950. De Vocht (wie Anm. 1), S. 61f. Zu den diplomatischen Aufgaben, die Dantiscus während dieser Reise realisierte, vgl. Władysław Pociecha: Polska wobec elekcji cesarza Karola V. w roku 1519. Wrocław 1947; Nowak (wie Anm. 1), S. 112–116. Zu Dantiscus’ Aufenthalten in Spanien vgl. Españoles y Polacos en la Corte de Carlos V. Cartas del embajador Juan Dantisco. Hg. von Antonio Fontan, Jerzy Axer, Isabel Velázquez und Jerzy Mańkowski. Madrid 1994; Antonio Paz y Melia: El embajador polaco Juan Dantisco en la Corte de Carlos V. In: Boletin de la Real Academia Espanola 11 (1924),

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Johannas IV. für Isabella zu sichern, und bald bedurfte es in dieser Sache weiterer diplomatischer Initiativen. 1522 wurde Dantiscus zum zweiten Mal nach Spanien geschickt. Außer der Erledigung der Erbschaftsangelegenheiten wurde er mit der Aufgabe betraut, die Möglichkeiten eines gemeinsamen Kreuzzugs gegen die Osmanen auszuloten, den Provokationen des mit Polen verfeindeten Deutschen Ordens entgegenzuwirken und die Ansprüche des Reichskammergerichts auf Danzig und Elbing abzuwehren. In Spanien verbrachte er diesmal ein halbes Jahr. In der Erbschaftsangelegenheit erwirke er wenig, auch die Sache des gemeinsamen Kreuzzugs konnte er nicht vorantreiben, weil der Kaiser damals in den Krieg mit Frankreich verwickelt war und nicht daran dachte, dem polnischen König militärische Hilfe im Kampf gegen die Türken zu leisten.12 Lediglich die preußische Sache trieb er voran: Der Kaiser versprach, die zwischen Sigismund I. und Albrecht von Hohenzollern vermittelten Schiedsrichter zu instruieren, sich an die Bestimmungen des Thorner Abkommens zu halten, woran dem polnischen König gelegen war. Dantiscus gelang es auch, beim Kaiser die Verurteilung des Gesandten des Deutschen Ordens, Dietrich von Schönberg, durchzusetzen. Auf dem Weg nach Spanien besuchte er u. a. England, wo er Heinrich VIII. für den gemeinsamen antiosmanischen Kreuzzug zu gewinnen suchte. 13 Auf dem Rückweg nach Polen machte er Halt in den Niederlanden, wo er Christian II. von Dänemark traf und mit vielen Persönlichkeiten aus dessen Umgebung Verbindungen knüpfte, u. a. mit Cornelis de Schepper und Johann Weeze, dem Bischof von Lund. Ein weiteres wichtiges Ereignis auf seinem Rückweg nach Polen war sein Treffen mit Luther in Wittenberg. Das vierstündige Gespräch bezeugt ein Brief an Piotr Tomicki, in dem Dantiscus das ganze Treffen beschrieb und eine Charakterisierung Luthers lieferte. Die dritte und zugleich längste Reise nach Spanien trat Dantiscus schon acht Monate nach seiner Rückkehr an. Auch diesmal ging es vor allen Dingen um die Erbschaftsangelegenheiten der polnischen Königin. Im Februar 1524 starb Isabella d’Aragona, Herzogin von Bari und Rossano, die Mutter von Königin Bona, wodurch das ganze Erbe an diese als Isabellas einziges noch am Leben befindliches Kind fiel. Schon im März verließ Dantiscus zusammen mit seinem Gefolge Krakau und reiste zuerst nach Venedig, dann nach Bari, wo er und Ludovico Alifio eine offizielle Übernahme des Herzogtums durch die neue Herrscherin in die Wege leiteten. Alifio blieb danach in Bari als Verwalter und Dantiscus begab sich auf den Rückweg nach Spanien. Die Ziele seiner Gesandtschaft unterschieden sich nicht sehr von den Zielen der früheren Reisen: Außer den mit Bari verbundenen Angelegenheiten betrafen diese den antiosmanischen Kreuzzug und die Konflikte mit Albrecht von Hohenzollern, der sich nicht an die Entscheidungen des Thorner Abkommens halten wollte. Nach der vorläufi––––––––– 12 13

S. 54–69, 305–320, 427–444, 586–600; Bd. 12 (1925), S. 72–93; Ryszard Skowron: Dyplomaci polscy w Hiszpanii w XVI i XVII wieku. Krakau 1997. Wojciechowski (wie Anm. 7), S. 205–210. Hanna Świderska: Jan Dantyszek, a Polish Diplomat in England. In: Oxford Slavonic Papers 10 (1962), S. 38–45.

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gen Erledigung der causa Barensis blieb Dantiscus am Hof, um die Exekution der Erbbestimmungen zu überwachen. Dies erwies sich insofern als notwendig, als die Einnahme der Burg von Bari immer wieder auf Schwierigkeiten stieß, die vor allem durch den damaligen Vizekönig von Neapel, Charles de Lannoy, verursacht wurden. Nach der Einnahme ergab sich eine andere Schwierigkeit: Königin Bona wurde zur Zahlung der Kriegssteuer (adoha) verpflichtet, obwohl Personen königlichen Blutes steuerfrei waren. 14 Am spanischen Hof befasste sich Dantiscus hauptsächlich mit der preußischen Frage. Er erreichte vom Kaiser die von diesem auf dem Wiener Kongress versprochene Unterstützung für den polnischen König in seinem Konflikt mit Albrecht von Hohenzollern. Der Streit mit dem Hohenzollern und die italienischen Erbschaftsangelegenheiten der Königin Bona waren die zwei wichtigsten Probleme in den damaligen Beziehungen zwischen dem Kaiser und Polen. Hierbei handelte es sich um zwei Probleme, die Dantiscus bereits bestens bekannt waren, war er doch einerseits Teilnehmer des Wiener Kongresses gewesen, wo man über die Zukunft von Preußen verhandelt hatte, und hatte er andererseits die Vorbereitungen für Bonas Hochzeit getroffen, mit der das politische Engagement Polens auf der Apenninenhalbinsel begann. Zu erwähnen ist auch eine Episode aus Dantiscus’ Privatleben, da sie später in seiner Korrespondenz mit den welserschen Faktoren eine bedeutende Rolle spielen sollte. Während seiner spanischen Mission führte er eine Beziehung mit einer Spanierin namens Isabel Delgada, die ihm einen Sohn (1525) und eine Tochter namens Juana (1527) gebar. Der Sohn verstarb früh, während die Tochter im Haus der Mutter aufwuchs und später den spanischen Humanisten und kaiserlichen Sekretär Diego Gracian de Alderete heiratete. Bevor die Heirat zustande kam, war die Tochter zum Gegenstand weitreichender Pläne von Dantiscus geworden, von denen auch in seiner Korrespondenz mit den Welsern die Rede ist, weil er sich bei deren Realisierung der Hilfe der Welser bedienen wollte. 15 Als Dantiscus 1529 im Begriff war, Spanien zu verlassen, wurde er vom Kaiser verpflichtet, diesem nach Bologna zu seiner Krönung zu folgen, da er ihn bei seinen Gesprächen mit dem Papst gebrauchen zu können glaubte. Während seines Aufenthaltes 1530 in Italien bekam er endlich vom polnischen König das ersehnte Bistum Kulm übertragen. Von Karl V. bekam er indes trotz oftmaliger Versprechungen keine vergleichbare Auszeichnung, obwohl man es ihm oft versprochen hatte. Erst in den 1540er Jahren wollte ihn Karl mit der Kardinalswürde ehren, Dantiscus lehnte diese aber auf Grund von gesundheitlichen Problemen ab. Zwei weitere Jahre war er dem Kaiser verpflichtet, während derer er mit diesem von Bologna auf den Reichstag zu Augsburg, dann in die ––––––––– 14

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Vgl. Władysław Pociecha: Królowa Bona. Poznań 1949–1958, Bd. II, S. 211–296; De Vocht (wie Anm. 1), S. 30–47. Die entsprechende Korrespondenz zwischen Dantiscus und Sigismund I sowie Königin Bona wurde u. a. von J. Starnawski ausgewertet: Jerzy Starnawski: O listach Jana Dantyszka do królewskiej pary z lat 1526–28 i z 1538r. In: Libri Gedanenses 11/12 (1995), S. 17–29. En torno a Dantisco. Hg. von A. Skolimowska und T. Rodriguez Lillo. Warschau 2001.

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Niederlande und 1532 schließlich auf den Reichstag zu Regensburg reiste, wo er sich weiter um die mit Bari verbundenen Angelegenheiten und um die Zurücknahme der Reichsacht kümmerte, die gegen Herzog Albrecht von Preußen ausgesprochen worden war. 16 Erst nach dem Reichstag bekam er die Erlaubnis, den Kaiser zu verlassen und nach Polen zu reisen. So kehrte er nach acht Jahren Abwesenheit wieder nach Polen zurück. Damit begann die sesshafte Periode seiner Karriere: Er übernahm das Bistum Kulm, das er später (1537) gegen das Bistum Ermland tauschte. Er widmete sich der lokalen Politik, unterhielt einen regen Briefwechsel mit Herzog Albrecht und preußischen Würdenträgern wie Johann von Werden, Achatius Zehmen u. a.17 In der Außenpolitik wurde er nur noch einmal tätig, als er 1538 in Breslau zusammen mit Janusz Latalski bei der Heirat zwischen Sigismund August und Elisabeth von Habsburg vermittelte.18

2.

Kontakte mit der Firma Welser

Die wichtigsten Informationen über Dantiscus’ Kontakte mit den Welsern stammen aus seinem eigenen Briefwechsel. 19 Als Diplomat und Humanist führte er eine reiche Korrespondenz, von der sich bis auf den heutigen Tag über 6.000 Briefe erhalten haben, hauptsächlich auf Lateinisch und Deutsch, vor allem aus der Periode zwischen 1515 und 1548. Nur wenige Briefe sind indes erhalten, die aus der Zeit vor seinem 30. Lebensjahr stammen. Die Korrespondenz wurde bis heute nur zum Teil ediert, einzelne Briefe von oder an Dantiscus findet man u. a. in den Acta Tomiciana oder in den vom Geheimen Staatsarchiv in Berlin herausgegebenen Regesten. Die Mehrheit der Briefe harrt noch einer Veröffentlichung. Dies betrifft vor allem die über zweitausend deutschsprachigen Briefe, unter denen sich auch die gesamte Korrespondenz mit den Welsern und ihrer Umgebung findet. Die Briefe dokumentieren Dantiscus’ Kontakte zu vielen be––––––––– 16

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Jacek Wijaczka: Stosunki dyplomatyczne Polski z Rzeszą Niemiecką (1519–1556). Kielce 1998, S. 49–71; Joseph Kolberg: Die Tätigkeit des J. Dantiscus für das Herzogtum Preußen auf dem Reichstage zu Augsburg 1530. In: Historisches Jahrbuch 33 (1912), S. 550–567. Zu dieser Periode von Dantiscus’ Tätigkeit vgl. Teresa Borawska: Tiedemann Giese (1480–1550) w życiu wewnętrznym Warmii i Prus Królewskich. Olsztyn 1984; Janusz Małłek: Dwie części Prus. Studia z dziejów Prus Książęcych i Prus Królewskich w XVI i XVII wieku. Olsztyn 1987, S. 75–76; Janusz Małłek: Prusy Książęce a Prusy Królewskie w latach 1525–1548. Warschau 1976; die gesammte Korrespondenz zwischen Dantiscus und Herzog Albrecht, die sich heute im Geheimen Staatsarchiv Berlin-Dahlem befindet, wurde in Form von Regesten von Stefan Hartmann: Herzog Albrecht von Preußen und das Bistum Ermland (1525–1550). Regesten aus dem Herzoglichen Briefarchiv und den Ostpreußischen Folianten. Köln, Weimar, Wien 1991 und Ursula Benninghoven: Die Herzöge in Preußen und das Bistum Kulm (1525–1691). Regesten aus dem Herzoglichen Briefarchiv und den Ostpreußischen Folianten. Köln, Weimar, Wien 1993 publiziert. Wojciechowski (wie Anm. 7), S. 378–381. Einiges zu diesen Kontakten gibt es in: Hermann Kellenbenz: Die Fugger in Spanien und Portugal bis 1560. München 1990, S. 235–238, 254–255; Españoles y Polacos (wie Anm. 11).

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kannten Humanisten und Staatsmännern damaliger Zeit. Bekannt ist etwa seine Korrespondenz mit Erasmus von Rotterdam, Hernán Cortés, 20 Janus Secundus, Philip Melanchthon, Johann Cochläus, Juan und Alfonso de Valdes, Lazaro Bonamico, Georg Sabinus, Gemma Frisius u. a. Unter den erhaltenen Briefen befinden sich auch drei Briefe von Bartholomäus Welser d. Ä. an Dantiscus und ein Brief von diesem an Welser. Die Briefe von Welser wurden alle in Augsburg aufgegeben, im Februar und Juli 1533 sowie im Juni 1536, der Brief von Dantiscus wurde in Löbau (heute: Lubawa) im Januar 1534 abgeschickt und stellt vermutlich die Antwort auf den bekannten Juli-Brief von Welser dar. Die Briefe sind nicht umfangreich. In ihnen finden sich vor allem Spuren der übermittelten Korrespondenz aus Deutschland, als Dantiscus noch in Spanien war, und Neuigkeiten. Wir erfahren auch, dass Dantiscus seine Geldverpflichtungen gegenüber den Welsern, die sich daraus ergeben hatten, dass die welserschen Faktoren Ulrich Ehinger und Albrecht Cuon seiner in Spanien verbliebenen Familie nach einem Einbruch in deren Haus finanziell geholfen hatten, 1533 schon nicht mehr unmittelbar, sondern durch die Fugger erledigen ließ.21 In den Briefen finden wir auch Zeugnisse dafür, dass Dantiscus manchmal seinen Bekannten aus Preußen Verbindungen zu den Welsern verschaffte, so z. B. Hans von der Gablenz, Hauptmann zu Gilgenburg. Schließlich schickte Welser 1536 Dantiscus die nicht bezahlten Rechnungen für Wein, den er von diesem aus Spanien erhaltenen hatte. 22 Neben den Welsern selbst korrespondierte Dantiscus auch mit den welserschen Faktoren in Spanien Albrecht Cuon, Hieronymus Sailer und Ulrich Ehinger. Was Albrecht Cuon angeht, so kennen wir insgesamt elf seiner Briefe an Dantiscus, die in den Jahren zwischen 1529 und 1535 in Toledo, Madrid, Ocaña, Avila, Medina del Campo, Barcelona und Valladolid geschrieben wurden, sowie zwei Briefe von Dantiscus an ihn, geschrieben in Löbau in den Jahren 1534 und 1537. Von Sailer an Dantiscus sind neun Briefe aus den Jahren 1530 bis 1534 bekannt – Sailer schrieb zuerst aus Spanien und ab 1532 aus Augsburg – und eine Antwort von Dantiscus, die in den Januar 1534 datiert. Von Ehinger an Dantiscus sind acht Briefe erhalten, die in den Jahren 1532 bis 1537 in Köln, Augsburg, Valladolid und Barcelona geschrieben wurden. Daneben sind zwei Briefe Dantiscus’ an Ehinger bekannt, die 1537 in Löbau geschrieben worden sind. Bekannt ist darüber hinaus ein an Dantiscus gerichteter Brief aus dem Jahr 1527, der in Palencia von einem unbekannten Diener der welserschen Gesellschaft verfasst wurde. ––––––––– 20

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Janusz Tazbir: Polscy przyjaciele i wrogowie konkwistadorów. In: Odrodzenie i Reformacja w Polsce 12 (1967), S. 117–134; Ryszard Tomicki: Wczesne źródła wiedzy o Ameryce w Polsce: Jan Dantyszek i „Dekady Nowego świata (1516)“. In: Etnografia polska 39 (1995), Heft 1–2, S. 77–107. Von Bartholomäus Welser, Augsburg, 26. Februar 1533 (BCK, Ms. 1595, S. 509r–v). Bartholomäus Welser an Dantiscus, Augsburg, 14. Juni 1536 (AAWO AB, D. 93, S. 46r– 47v).

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Tomasz Ososiński

In den Korrespondenzen nehmen die Angelegenheiten der in Spanien verbliebenen Familie Dantiscus’ den wichtigsten Platz ein. Nachdem Dantiscus 1532 nach Polen zurückgekehrt war und sein Bistum übernommen hatte, wollte er zuerst seine Geliebte mit der Tochter23 und dann die Tochter allein nach Polen kommen lassen. 24 Er wollte sich zu diesem Zweck seiner Freunde in Spanien bedienen, vor allem der genannten Faktoren. Sie sollten die Tochter zuerst nach Antwerpen schicken, wo ein anderer Freund Dantiscus’, Franz Werner, sie in Empfang nehmen und nach Danzig schicken sollte. Dantiscus plante diese Reise sorgfältig, doch verwarf er die Pläne wegen der übermäßigen Geldforderungen der Mutter wieder. Diese gab sich mit der versprochenen jährlichen Pension von 25 Dukaten nicht zufrieden und wollte die Tochter weglassen, es sei denn, Dantiscus zahle ihr zuerst 200 Dukaten oder sage ihr eine Pension auf einem Landgut zu. Dantiscus, der die Pension nur unter der Bedingung versprach, dass Isabella ihre Lebensweise ändere und entweder heirate oder ins Kloster eintrete, war mit diesen Forderungen nicht einverstanden, so dass er seinen Plan, wie es scheint, aufgab. Die ganze Angelegenheit nimmt in der Korrespondenz breiten Raum ein: Dantiscus wurde von Isabella mit Hilfe von Sailer und Cuon mehrmals um Geld gebeten, und dies manchmal unter ganz oberflächlichen Vorwänden, beispielsweise dass die Tochter nicht in die Schule gehen möchte, es sei denn, man kaufe ihr neue Kleider. 25 In der Zwischenzeit unterließ es Delgada nicht, Dantiscus über die Erziehung der Tochter zu berichten. Erhalten ist auch ein Brief mit einem beigegebenen Bündel Blondhaar der Tochter, das Delgada Dantiscus übersandte – wahrscheinlich um ihn von seiner Vaterschaft zu überzeugen. Später heiratete Juana ohne Dantiscus’ Erlaubnis den Spanier Gracian Alderete, was wiederum Anlass für Briefverkehr war: Dantiscus erkundigte sich bei seinen Freunden oft nach seinem Schwiegersohn. Das Schicksal der Tochter Juana war das Hauptthema der Korrespondenz, wobei die spätesten bekannten Briefe aus dem Jahr 1537 und damit aus dem Jahr stammten, in dem Juana heiratete. Vielleicht ist dies kein Zufall: Möglicherweise gab es keine weiteren Briefe oder Dantiscus gab die unmittelbaren Kontakte mit den Faktoren der Welser in Spanien um 1537 tatsächlich auf. ––––––––– 23 24 25

Cuon an Dantiscus, 19. Mai 1531 (AAWO AB, D. 67, S. 68r–v). Cuon an Dantiscus, 5. November 1533 (AAWO AB, D. 67, S. 148r–149v). Hiemit schick ich Ewer Gnaden noch ain brief, so si mir 2 tag darvor hergesant het, vnd biss her mangel halben an potschafft hie bliben, darin si Ewer Gnaden sonder zweifel wirt anzaigen den vnfall ir vergangen tag zu gestanden ist, das ir am grönen dornstag, wie si in die staciones gangen ist, ir durch ir magt schier alles, das si hat, gestollen worden. Vnd fur war mir laid vmm si, demnach si darvmm so trawrig ist vnd mit geschefften beladen, der magt nach zu folgen, hat die da nocht in gefencknus brocht, wiel aber das nit bekenen, also das ich sorg wird ir leben lang miessen otr bleiben. Hab Ewer Gnaden da nocht soll ichs auch wollen, vnd aus jerer bitt anzaigen, darmit wen Ewer Gnaden etwan wider ain hilf vmm andre clayder zu machen thon wilt, daran gedencken dan man ir darvnder schier der tochter clayder alle gnomen hat, vnd wirt von nöten sein dasselb zum minsten remedieren, dan als ich verstand, so wiel die tochter nit zu schuol gon, si siye dan so woll als andre beclait. Ewer Gnaden mag ain claine hilf wenig schaden extraordinarion zethon (Albrecht Cuon an Dantiscus, 25. April 1532: AAWO AB, D. 90, S. 107r–v).

Johann Dantiscus und die Firma Welser (1527–1537)

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Der erste bekannte Brief aus dieser Korrespondenz wurde 1527 verfasst. Die Kontakte mit der Umgebung der Welser unterhielt Dantiscus jedoch schon früher. Wir erfahren davon aus der Korrespondenz zwischen Dantiscus und seinen Krakauer Freunden. Möglicherweise wurden die Kontakte mit den deutschen Bankiers durch die Krakauer Finanzwelt vermittelt. Dantiscus war seit seiner Studienzeit mit vielen Krakauer Kaufleuten, u. a. auch mit Jost Ludwig Dietz, befreundet, der ihm, wie es scheint, 1522 bei der Kontaktaufnahme mit den Fuggern behilflich war. 26 Spätestens seit 1522 bediente sich Dantiscus der Fugger nicht mehr nur als Vermittler, sondern auch als Kreditgeber. Sein Gehalt, das anfänglich 70 Dukaten pro Monat betrug, erhielt er aus Krakau durch den dortigen Fugger-Faktor Georg Hegel;27 ebenfalls durch Hegel bekam er Unterstützung von seinem Freund Piotr Tomicki, Bischof von Krakau.28 Wir wissen aber auch, dass der polnische König seinem Schatzmeister Johann Boner Ende des Jahres 1522 Dantiscus’ Schulden bei den Fuggern (50 Rheinische Floren) bezahlen ließ. 29 Da sich Dantiscus während seines dritten Aufenthalts in Spanien vor allem mit den das Herzogtum Bari betreffenden Angelegenheiten, also mit den Angelegenheiten der Königin Bona, befasste, begann auch diese sich an der Finanzierung seiner Botschaft zu beteiligen. Möglicherweise übernahm sie diese auch ganz. 1525 befahl sie, dass Dantiscus aus Neapel (höchstwahrscheinlich von Bari aus) ein Gehalt von 70 Gulden monatlich bekommen sollte.30 Bei der Geldüberweisung bediente sich Bona wahrscheinlich ihrer Verbindungen zu den Welsern. Somit wären Dantiscus’ erste Kontakte mit den Welsern wahrscheinlich bereits in das Jahr 1525 zu datieren. Als die Gelder, die er von Bonas Schatzmeister in Bari bekam, 1527 wegen des Krieges in Italien verspätet einzutreffen begannen und auch nicht mehr ausreichten, begann Dantiscus, auch von den Welsern Geld zu leihen. Für diese für Bona nicht sehr erfreuliche Maßnahme entschuldigte er sich u. a. in einem Brief an diese vom 12. Oktober 1528.31 Die Wechsel stellte er dann auf den Schatzmeister von Bari aus. Aus den übrig gebliebenen Rechnungen der Welser-Gesellschaft32 erfahren wir von ––––––––– 26 27

28 29 30

31 32

Vgl. Acta Tomiciana [AT], Bd. VI, Nr. 87. Georg Hegel (gest. 1547) war Faktor der Fugger spätestens seit 1521. Dantiscus hat mittels Hegels Boten seine Briefe nach Venedig, Wien, Nürnberg und Augsburg geschickt. Nach Hegels Tod 1547 gaben die Fugger ihre Faktorei in Krakau auf (Polski Słownik Biograficzny. Bd. IX, S. 336). AT, Bd. VII/a. 1524, Nr. 147; AT, Bd. VII/a. 1525, Nr. 30. AT, Bd. VI, Nr. 173; Kellenbenz (wie Anm. 19), S. 170. Dantiscus wurde darüber im Juni 1525 von Piotr Tomicki, Bischof von Krakau, benachrichtigt: Verum est, quod reginalis maiestas dicit, se ordinasse ex Neapoli, quod habiturus sis illinc provisionem LXX aureorum pro quolibet mense; ubi tamen illa tempori tibi non solveretur, accipias apud Fuggaros aut alios trapesitas, quam tum necessitas tua postulabit (AT, Bd. VII, S. 274f.). AT, Bd. X, Nr. 420. Welserarchiv Neunhof: Handelsbuchfragmente 1528, folio A/1 + H/1, [13 = rechte Seite]; folio L/1 + F/1, [27 = rechte Seite]; Studienbibliothek Dillingen: Welserfragmente 26, folio 11 a, [4 = linke Seite]. Die Abschriften der Rechnungen wurden mir freundlicherweise von Mark Häberlein und Peter Geffcken zur Verfügung gestellt.

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Tomasz Ososiński

drei solchen Darlehen: 300 Dukaten geliehen am 2. Februar 1527 in Valladolid (Rückzahlung: Bari); 600 Dukaten geliehen am 15. Dezember 1527 (in Burgos?) (Rückzahlung: Bari); 200 Dukaten geliehen von Ulrich Ehinger am 13. April 1529 in Zaragoza (Rückzahlung: Neapel). Wir wissen aber, dass es noch weitere solcher Darlehen gab (das erhaltene Journal der welserschen Zentrale reicht nur bis 1528 und enthält somit nicht alle Angaben). In dem Brief an Bona vom 19. November 1528 sah sich Dantiscus gezwungen, für seine Rückkehr mindestens 500 Dukaten von den Welsern zu leihen. 33 Dass diese tatsächlich verliehen wurden, bezeugt ein Brief Bonas an Dantiscus vom 13. Juli 1529, in dem diese beteuert, dass der Schatzmeister in Bari die 500 Dukaten an die Welser zurückzahlen werde, sobald sie den entsprechenden Brief von Dantiscus erhalten habe. 34 Bei den Rückzahlungen in Bari gab es aber mit der Zeit immer mehr Schwierigkeiten, nicht zuletzt auch deswegen, weil die Beamten in Bari sich allmählich Bonas Kontrolle entzogen. 35 Am 15. Mai 1530 schreibt der Faktor der Welser in Bari, Johann Viol, dass der Schatzmeister Affatati ihm nicht einmal einen alten Wechsel von Dantiscus aus dem Jahr 1527 oder 1528 bezahlen wollte. 36 Daraufhin verweigerten ihm die Welser weitere Darlehen.37 Dantiscus geriet dadurch in schwerwiegende Geldnöte. Von Bona bekam er gar kein Geld mehr. Auch Jan Lewicki, ein anderer Gesandter Bonas, der damals aus Bari nach Bologna kam, brachte kein Geld mit sich. So musste sich Dantiscus mit Hilfe seiner Freunde, u. a. von Cornelis de Schepper, über Wasser halten. Dantiscus’ ganzer Aufenthalt in Italien 1530 war von ständigen finanziellen Schwierigkeiten geprägt. 38 Am 17. März 1530 entsandte Dantiscus aus Bologna seinen Bruder Bernhard mit Briefen nach Polen. Außerdem sollte Bernhard der Königin Bona Dantiscus’ finanzielle Lage schildern und um Geld bitten. Als er Mitte April nach Krakau kam, wurde die Königin mit Hilfe von Dantiscus’ Freunden in Krakau, u. a. von Piotr Tomicki und Jan Solfa, dazu gedrängt, die Frage von Dantiscus’ Gehalt zu klären. Laut der Erklärung der Königin sollte der Schatzmeister von Bari den alten Wechsel von 300 Dukaten dem Welser-Faktor in Bari, Johann Viol, endlich genehmigen sowie Dantiscus’ Gehalt von 100 Dukaten monatlich noch bis 1. Mai 1530 auszahlen. Ab 1. Mai sollte Dantiscus dann vom König unterhalten werden und sein Gehalt vom königlichen Bankier Seweryn Boner bekommen, der ihm das Geld nicht mehr durch die Welser, sondern durch die Fugger überwies. Damit hing auch Bonas Weisung in einem Brief von 1531 zu––––––––– 33 34 35 36 37 38

AT, Bd. X, Nr. 449. Pociecha (wie Anm. 14), Bd. IV, S. 319. Die Lage in Bari schildert u. a. Johann Lewicki in seinen Briefen an Dantiscus: Universitätsbibliothek in Uppsala, H. 154, S. 21–27, 31–33, 36–38. Pociecha (wie Anm. 14), Bd. IV, S. 235. Ebd., S. 237. Ebd., S. 235.

Johann Dantiscus und die Firma Welser (1527–1537)

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sammen, Dantiscus solle sich Geld notfalls nicht mehr von den Welsern, sondern von den Fuggern leihen. Das Geld von den Welsern zu leihen unterließ Dantiscus jedoch nicht, was mit den Geldnöten zusammenhing, in denen er damals steckte. So erreichten seine Schulden im Januar 1532 zweitausend Dukaten. Am 27. Januar 1531 schrieb Bonas Sekretär Ludovico Alifio aus Bari an Dantiscus, der sich zu dieser Zeit mit dem Kaiser in Brüssel aufhielt, dass der Faktor der Welser in Bari Johann Viol dem Alifio einen neuen Wechsel für Dantiscus von 600 Dukaten vorgelegt habe. Diesen hatte Alifio unter der Bedingung akzeptiert, dass die Königin binnen zwei Monaten ihre Einwilligung schicke. Am 17. Juli schrieb Alifio dann aus Bari an Dantiscus, dass der Schatzmeister Affatati auf Bonas Geheiß dem Johann Viol den Wechsel von 600 Dukaten bezahlt hatte. Als Bona aber von den nächsten 600 Dukaten erfuhr, schrieb sie am 14. August 1531 an Dantiscus, 39 dass er ihre Befehle missachtet habe und sie somit nicht beabsichtige, seine Schulden zu bezahlen; er möge sie mit dem Einkommen seines Bistums decken. Später stellte sich übrigens heraus, dass die ganze Sache auf einem Irrtum beruhte, denn die Welser hatten aus Versehen dem Schatzmeister in Bari zum zweiten Mal denselben Wechsel präsentiert. 40 An die Welser wandte sich Dantiscus nicht nur in Geldangelegenheiten, sondern auch, um seine Post abzuschicken. Schon am 16. Juni 1526 schreibt Königin Bona an Dantiscus, 41 dass er nur die wichtigsten Briefe mit eigenen Boten versenden solle, während er sich bei den regulären der neapolitanischen Post,42 also der welserschen, bedienen möge. Mehrmals bat ihn Bona, dass er seine Briefe über die Welser schickte (z. B. im Brief vom 11. Oktober 1529). Sie selber verspricht (z. B. am 13. Juli 1529), dass sie ihre Briefe via Welser und Fugger senden werde. 43 Auf vielen Briefen von Bona an Dantiscus findet man von diesem eigenhändig vermerkt, dass er sie durch die Welser empfangen habe. 44 Wenn es um die Finanzierung von Dantiscus’ Botschaft geht, bildet das Jahr 1531 auf jeden Fall eine Grenze: Seitdem erledigte Dantiscus seine finanziellen Angelegenheiten im Ausland nicht mehr durch die Welser, sondern fast ausschließlich durch die Fugger und deren Faktoren. Er bediente sich der fuggerschen Faktoren in Danzig (Johann Breden), 45 Thorn (in den 1530er Jah-

––––––––– 39 40 41 42

43 44 45

AT, Bd. XIII, Nr. 290. Pociecha (wie Anm. 14), Bd. IV, S. 255. Ebd., Bd. II, S. 437–42. Anhand dieser Stelle vermutet Pociecha (wie Anm. 14), Bd. II, S. 266, dass ein Vertrag zwischen Bona und den Welsern bestanden haben musste, welche eine reguläre Postverbindung zwischen Neapel und Venedig unterhielten. Pociecha (wie Anm. 14), Bd. IV 317. So z. B. die Briefe vom 3. Januar 1527 (BCK, Ms. 3465, S. 101–106) und vom 6. Februar 1527 (BCK, Ms. 3465, S. 111–113). Johann Breden wurde von Dantiscus als Vermittler spätestens seit 1534 eingesetzt; es zeugt davon der Brief von Franz Werner an Dantiscus, geschrieben in Antwerpen am 22. Juni 1534 (AAWO, AB D. 91, S. 147v), in dem auch von Breden die Rede ist.

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ren Jacob Ludwig Dietz, 46 dann Wolf Rupricht)47 und Krakau (Georg Hegel). Die Angelegenheiten in den Niederlanden und Spanien erledigte Dantiscus über Danzig, die in Italien, Ungarn und Deutschland über Krakau oder Thorn. Mit allen Faktoren stand er im regen Briefwechsel, vor allem mit Dietz und Georg Hegel (mit Hegel erhielt sich auch eine reiche Korrespondenz, die etwa 100 Briefe umfasst). 48 Eine Ausnahme bildet hier nur Johann Breden, auf dessen Vermittlung in finanziellen Angelegenheiten Dantiscus schnell verzichtete, nachdem er ihn, wie er selbst schrieb, als einen harpagator erkannt hatte. 49 Seine Kontakte mit den Niederlanden hielt er seitdem durch seine Danziger Freunde aufrecht (vor allem durch Mathias Platen). 50 Ab und zu nahm er mit den fuggerschen Faktoren in Leipzig (Johann Dernschwam)51 oder in Antwerpen (Wolf Haller, Franz Werner, Veit Hörl und Lazarus Tucher, 52 die er hauptsächlich noch aus der Zeit seiner Botschaft in Spanien kannte)53 unmittelbaren Kontakt auf. Im Gegenzug für empfangene Gefallen erwies Dantiscus den Fuggern auch Gegendienste. Als 1525 der ungarische König die fuggerschen Unternehmen in Ungarn bedrohte, wandte sich Dantiscus an den polnischen König mit der Bitte, sich für die Fugger beim König von Ungarn einzusetzen.54 Der polnische König nahm sich der Sache an und mit der entsprechenden Mission nach Ungarn wurde ein enger Freund von Dantiscus, Nikolaus Nibschitz, betraut.55 ––––––––– 46

47 48 49

50 51 52 53 54 55

Es geht um den Bruder des bekannten Kaufmanns und Humanisten Jost Ludwig Dietz (Decius). Die Briefe von Jakob Dietz, mit dem Dantiscus in den Jahren 1536–1538 korrespondierte, befinden sich in AAWO AB, D. 5, D. 93–4 und BCK, Ms. 1595 und 1597. Die Briefe von Rupricht befinden sich u. a. in AAWO AB, D. 70 und D. 97. Die Briefe befinden sich heute in AAWO, vor allem in den Kodizes AB D. 90–96. Von der Angelegenheit lesen wir in der Korrespondenz zwischen Dantiscus und Tiedemann Giese. Am 24. November 1537 schreibt Dantiscus an Giese: De Ioanne Brede sic res habet, ut scribit Dominatio Vestra Reverendissima, ubi quid istiusmodi factorculi harpagare possunt, non omittunt (Skolimowska [wie Anm. 1], S. 358). Am 28. November antwortet darauf Giese: De harpagatore Brede volui indicare tantum id, quod Reverendissima Dominatio Vestra sentit, non ut reposcerem sumptum tantillum, quem si refuderit iam, rubore me suffundet (AAWO AB, D. 2, S. 74r). Vgl. auch: Teresa Borawska: Tiedemann Giese (1480–1550). Olsztyn 1984, S. 214 (wo Breden unter dem Namen Jan Breda erscheint). Dementsprechend gab es wahrscheinlich nur wenig Korrespondenz zwischen Breden und Dantiscus. Von Breden hat sich nur ein Brief an Dantiscus erhalten: AAWO AB, D. 93, S. 98r–v; an Breden von Dantiscus nur ein Entwurf: AAWO AB, D. 7, S. 32v (Mitte der Seite). Beide Briefe stammen aus dem Jahr 1536. Dass Dantiscus aber noch 1545 Breden als Vermittler benutzte, bezeugt sein Brief an Lazarus Tucher, geschrieben in Heilsberg am 11. April 1545, in dem wir lesen: Es sein vns II bslagen kasten von demm erbarnn ernfesten herr Wolff Haller, der durchlauchtigen hochgebornn konigin Marien irer maiestet hoffmeister durch Euch an Hans Preden geschickt, zukomenn (AAWO AB, D. 7, S. 58r). Zahlreiche Korrespondenz mit Platen befindet sich in AAWO AB, D. 5, D. 68, D. 94–95. Der einzige bekannte Brief von Johann Dernschwam an Dantiscus, geschrieben aus Leipzig am 4. September 1536, befindet sich in AAWO AB, D. 93, S. 79r–v. Ihre Korrespondenzen an Dantiscus befinden sich in AAWO AB, D. 90–97. Vgl. AT, Bd. VII, S. 323. Kellenbenz (wie Anm. 19), S. 170f. AT, Bd. VIII, S. 325f.

Johann Dantiscus und die Firma Welser (1527–1537)

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Dantiscus’ unmittelbare finanzielle Verbindung mit den Welsern endete 1531, die freundschaftlichen Beziehungen brachen aber danach – wie die erhaltene Korrespondenz bezeugt – nicht ab. In Spanien freundete sich Dantiscus mit mehreren Mitarbeitern der Welser an: außer den genannten Albrecht Cuon, Hieronymus Sailer und Ulrich Ehinger mit Hugo Angelo und Philip von Hutten, von denen wir jeweils einen Brief an Dantiscus kennen. Die Gründe, warum Dantiscus mit den Welsern briefliche Kontakte nach 1531 unterhielt, waren verschiedener Natur. Es war einerseits die Hoffnung auf Hilfe in den Angelegenheiten, die seine Tochter betrafen, andererseits aber auch sein reges Interesse an dem Amerika-Unternehmen der Welser. Dantiscus interessierte sich für die amerikanischen Entdeckungen, was am Anfang nicht zuletzt aus der Unsicherheit seiner persönlichen Lage resultieren mochte. In den Jahren 1515 bis 1530 wurde ihm mehrmals sowohl seitens des Kaisers wie auch des polnischen Königs für seine Verdienste ein Bistum versprochen. Da das Versprechen aber nicht in Erfüllung gehen wollte, äußerte er seine Enttäuschung und hegte wahrscheinlich den Gedanken, die Verbindungen mit Cortés und mit den Welsern zu nutzen und sein Glück in der Neuen Welt zu suchen.56 Das Interesse an der Neuen Welt hatte aber sicherlich auch wissenschaftlichen Charakter. Wie viele damalige Humanisten interessierte sich Dantiscus für die Entdeckungen57 und benutzte seine Verbindungen, um Informationen über diese zu bekommen. Somit ist es nicht sehr wahrscheinlich, dass er 1537 alle Kontakte mit den Welsern abbrach. Möglicherweise dauerte die Korrespondenz noch weiter – die Briefe aus der späteren Zeit sind jedoch nicht bekannt.

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57

Solche Hypothesen stellte Jerzy Axer auf: Jan Dantyszek – dyplomata, mąż, ojciec, biskup warmiński: granice (nie)lojalności. In: Panorama lojalności. Hg. von Jerzy Axer. Warschau 2001, S. 66–72, hier S. 69. Dantiscus korrespondierte mit vielen Kartographen, u. a. Bernhard Wapowski und Olaus Magnus.

Florian Schaffenrath

Der Humanist Lucas Geizkofler zwischen Innsbruck und Augsburg Seine Trauerrede auf Matthias Schenck

An der Universität Innsbruck läuft seit einigen Jahren das Forschungsprojekt „Geschichte der lateinischen Literatur in Tirol“, 1 in dessen Rahmen zahlreiche Texte oft neu entdeckt und erforscht werden, die u. a. die engen literarischen Beziehungen zwischen Augsburg und Tirol im 16. Jahrhundert dokumentieren. Dass es eine enge wirtschaftliche Verflechtung gab, zeigt u. a., dass die Fugger seit 1487 den Tiroler Silberhandel kontrollierten. Auch ein anderes Gebiet ist gut erforscht, die Verbindungen, die sich zwischen Oberitalien, Tirol und Augsburg durch Ärzte wie Francesco Partini (1500–1569) oder Michael Schütz (alias Toxites, 1515–1582) ergaben. Es gab auch eine Reihe kleinerer Verbindungslinien, von denen eine im Folgenden behandelt werden soll: der aus Sterzing gebürtige und nach Augsburg ausgewanderte Lucas Geizkofler (1550–1620).

1.

Leben

Die Quellenlage, um Lucas Geizkoflers Biographie zu fassen, ist äußerst günstig: Er selbst hat uns eine Autobiographie hinterlassen, die heute im Tiroler Landesmuseum Ferdinandeum aufbewahrt wird 2 und sein Leben bis zu seiner ––––––––– 1

2

Dieses Projekt hat sich zum Ziel gesetzt, eine Literaturgeschichte vorzulegen, um die in Tirol entstandene lateinische Literatur vom Mittelalter bis heute einer ersten Überblicksdarstellung zuzuführen, vgl. Karlheinz Töchterle und Martin Korenjak: Geschichte der lateinischen Literatur in Tirol. Ein Projekt am Institut für Sprachen und Literaturen der Universität Innsbruck, in: Neulateinisches Jahrbuch 4 (2002), S. 274–279. Gewissermaßen als parerga wurden immer wieder wichtige Texte ediert, meist in der Reihe Tirolensia Latina (Universitätsverlag Wagner, Innsbruck). Das Autograph des Werkes mit der Signatur Dip. 1117 trägt den Titel „historia und beschreibung Lucasen Geizkoflers von Reiffenegg Tyrolensis herkommen, geburt, leben, studieren, raisen, dienste, fürnembliche verrichtung, thuen und wesen bis auf seine in Augspurg anno 1590 beschehene verheuratung und folgendes weiter bis auf das 1609. Jar“. Leider steht die Veröffentlichung der Dissertation von Manfred Linsbauer (Lucas Geizkofler und seine Selbstbiographie. Diss. Wien 1978; mit einer neuen Edition des Werkes) noch aus, weswegen als Edition der geizkoflerschen Autobiographie immer noch Adam Wolf: Lucas Geizkofler und seine Selbstbiographie 1550–1620. Wien 1873 zu benutzen ist. Der

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Florian Schaffenrath

endgültigen Ansiedlung in Augsburg umfasst. Über seine Studentenjahre erfahren wir einiges aus seiner Schrift de miseriis studiosorum declamatio aus dem Jahr 1576 (s. u.). Lucas Geizkofler wurde am 18. März 1550 in Sterzing geboren,3 wo er in der städtischen Lateinschule mit den Grundlagen der lateinischen Grammatik vertraut wurde. Das Haus Geizkofler, allen voran Vater Hans, war in Religionsfragen sehr modern und reformbewusst eingestellt. Wenn auch nicht alle Familienmitglieder zum Luthertum übertraten, so waren doch alle mit den Missständen in der katholischen Kirche und den drängenden Fragen der Zeit vertraut, selbst der kleine Lucas Geizkofler, das jüngste von immerhin 16 Kindern. Lucas musste die Strafe für diese Einstellung am eigenen Leib spüren: Für die Übertretung des am Freitag gebotenen Fastens wurde er vom Kaplan, der in der Schule für die religiöse Ausbildung zuständig war, mit einem Seil festgebunden und mit Ruten geprügelt. Um solche Strafen in Zukunft zu vermeiden, wurde Lucas Geizkofler zu seinem älteren Bruder Michael nach Augsburg geschickt und dort in der Schule zu St. Anna bei Oberschulmeister Matthias Schenck (zu ihm s. u.) einquartiert. Er wurde in die zweite Klasse eingestuft und besuchte die Schule insgesamt sechs Jahre, zuletzt auch das auditorium publicum des Hieronymus Wolf (1516–1580). Von Augsburg aus wurde Geizkofler sodann nach Straßburg geschickt, wo er sein Rechtsstudium aufnahm, welches er dann ab 1572 in Orléans fortsetzen wollte. Zunächst reiste er aber mit mehreren deutschen Studenten nach Paris, um dort der Hochzeit von Heinrich von Navarra (1553–1610) und Margaretha von Valois (1553–1615), der Schwester König Karls IX., beizuwohnen. Die politische Situation in Frankreich war bekanntlich sehr unsicher und diese Heirat sollte den Frieden zwischen Katholiken und Hugenotten zusätzlich besiegeln. Einige deutsche Studenten ließen sich von ihren Reiseplänen wieder abbringen, nicht so jedoch Lucas Geizkofler, der sich in Paris bei dem katholischen Geistlichen Monsieur Blandis einquartierte. Am 24. August 1572 wurde er Zeuge der Bluttaten der sog. Bartholomäusnacht, deren Darstellung in seiner Autobiographie großen Raum einnimmt. Erst Ende Oktober, also zwei Monate ––––––––– 3

entscheidende Nachteil der Ausgabe von Wolf ist, dass die im Original lateinischen Passagen des Werkes nur in Übersetzung geboten werden. Zu Lucas Geizkoflers Biographie vgl. Vincenz Gasser: Erstes biographisch-literarisches Schriftsteller-Lexicon von Tirol. 4 Bde. hs. 1896 (Tiroler Landesmuseum Ferdinandeum, Sig.: W 5522–5525), II 27; Wolf: Geizkofler (wie Anm. 2); Hyacinth Holland: Lucas Geizkofler. In: ADB 8 (1878), S. 529; Alois Schweizer: Lucas Geizkofler (1550–1620). Bildungsweg, Berufstätigkeit und soziale Umwelt eines Augsburger Juristen und Späthumanisten. Diss. Tübingen 1976; Wolfgang Pfaundler: Tiroler Jungbürgerbuch. Innsbruck 1982, S. 440; Ralph Frenken: Kindheit und Autobiographie vom 14. bis 17. Jahrhundert. 2 Bde. Kiel 1999, Bd. 2, S. 567–573; Hans Rudolf Velten: Das selbst geschriebene Leben. Heidelberg 1995, S. 130–136; Harald Tersch: Melancholie in österreichischen Selbstzeugnissen des Späthumanismus. Ein Beitrag zur Historischen Anthropologie. In: MIÖG 105 (1997), S. 130–155; ders.: Österreichische Selbstzeugnisse des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit (1400–1650). Wien, Köln, Weimar 1998, S. 404–422.

Lucas Geizkofler zwischen Innsbruck und Augsburg

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später, konnte Geizkofler Paris verlassen. An Studien war in dieser Situation nicht mehr zu denken, und so kehrte er nach Augsburg zurück. Bald jedoch zog es ihn wieder in die Ferne und er ging nach Dôle, wo er von 1573 bis 1574 sein Rechtsstudium fortsetzte. Weil er jedoch krank wurde, zog es ihn (unter großen Abenteuern) wieder in die Heimat zurück. Von hier aus brach er bald zusammen mit seinem Neffen Zacharias Geizkofler zu einer Italienreise auf, die sich zu einem Desaster entwickeln sollte: Über Salzburg und Innsbruck kam er in seine Heimatstadt Sterzing. Von dort wollte er weiter nach Venedig, musste jedoch vor Trient umkehren, da dort die Pest grassierte. Zudem wurde er noch von seinem Pferd getreten, weswegen er lange in Padua Station machen musste, bis er wieder ganz geheilt war. In der Zwischenzeit hatten die Tiroler jedoch die Grenzen geschlossen, um sich vor der nun in ganz Oberitalien wütenden Pest zu schützen, was Geizkofler lange die Rückkehr nach Sterzing verwehrte. In dieser Zeit des Wartens entstand der bereits erwähnte Traktat de miseriis studiosorum declamatio. Nach Augsburg zurückgekehrt, ermunterten ihn die Fugger, ans Reichskammergericht nach Speyer zu gehen, wo sie ihn als Hilfskraft für den schon betagten Advokaten Matthäus Laymann in ihre Dienste nehmen wollten. Man nahm ihn in Speyer sehr wohlwollend auf, legte ihm aber nahe, möglichst rasch zu promovieren, was ihn wiederum nach Dôle führte. In der Folge nahm Geizkofler seine Tätigkeit bei Gericht auf. Später endgültig in die Dienste der Fugger getreten, führten ihn seine Aufgaben auch ins Ausland. Als Lohn für seine Mühen bekam er mit Katharina Hörmann eine gute Braut aus hervorragender Familie. Über die Hochzeitsfeierlichkeiten am 3. März 1590 sind wir recht gut informiert: So wurden etwa zum Festschmaus 355 Pfund Rindfleisch aufgetragen, 205 Pfund Kalbfleisch, drei Pfund Karpfen, 345 Vögel, sieben Hasen, 20 Rebhühner und Haselhühner, zwei Fasanen, sieben Pfauen, Kuchen, Backwerk und Käse aller Art. Getrunken wurden ein Fass Rotwein, sieben Fass gewöhnlicher Wein, 14 Maß Malvasier und ein Fass Bier.4 Sowohl Vater als auch Mutter der Braut waren fromme Leute, die ihren Glauben an ihre Kinder weitergaben. Mit seiner Gattin Katharina lebte Lucas Geizkofler 22 Jahre lang in glücklicher Ehe. Katharina, die fünf Kinder zur Welt gebracht hatte, starb 1612. Im Alter von 70 Jahren starb auch Lucas Geizkofler acht Jahre später und wurde am Friedhof bei St. Anna in Augsburg beigesetzt.

2.

Werk

Was berechtigt uns nun, bei Lucas Geizkofler, wie im Titel des Beitrages vorgeschlagen, von einem „Humanisten“ zu sprechen? Ohne hier umfassend in etwai––––––––– 4

Die Passage stammt aus Geizkoflers Autobiographie (s. o.), die handschriftlich am Tiroler Landesmuseum Ferdinandeum liegt (Signatur: Dip. 1117, Bl. 475ff.). Sie wurde zitiert bei Wolf: Geizkofler (wie Anm. 2), S. 149.

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ge Definitionsdebatten einzugreifen, wird es für unsere Zwecke genügen festzuhalten, dass Lucas Geizkofler nicht nur im Zeitalter des Humanismus lebte, sondern sich auch durch seine Werke unmittelbar in die Tradition antiker Texte stellte. Werfen wir hierzu einen Blick auf sein schriftstellerisches Œuvre. Zunächst sind uns einige Werke aus seinem unmittelbaren Wirkungsbereich als Jurist überliefert. Folgendes Werk gehört noch seiner Studienzeit an: In Padua wurde 1576 seine ratio referendi in camera Spirensi gedruckt, eine Abhandlung über das Prozessrecht des Reichskammergerichts in Speyer. 5 Geizkofler beschäftigte sich also bereits damals intensiv mit der Materie seiner späteren Wirkungsstätte. Aus seiner aktiven Zeit stammt dann die causae hereditatis Georgii de Freundsberg baronis in Mindelhaim […] ex interpretatione testamenti eius in camera imperiali inter personas illustres controversiae […] defensio. 6 Dabei handelt es sich um einen Erbschaftsprozess: Georg von Freundsberg hatte als seine Erben seinen Vetter Wolf Veit von Maxlrein und seine Nichte Maria von Schwartzenberg eingesetzt. Weil die Erben jedoch noch minderjährig waren, traten ihre Eltern das Erbe an. Als sich Maria von Schwartzenberg weigerte, von Maxlrein zu heiraten, beanspruchte sein Vater das ganze Erbe mit der Behauptung, die Erbeinsetzung habe unter der Bedingung der Heirat gestanden. Geizkofler führte den Prozess für Christoph Fugger, den Ehemann der Beklagten. Ebenfalls juristischen Inhalt hat ein Brief, den Geizkofler an den bereits erwähnten Matthäus Laymann schrieb: Epistola ad dominum doctorem Matthaeum Laymannum de Hanoldinae causae defensione ab eo publicata,7 eine Reaktion auf Laymanns Schrift defensio nobilis causae Honoldinae (Ingolstadt 1580). Die poetischen Werke können allesamt Geizkoflers früher Lebensphase zugeordnet werden. Zunächst sind Verse zu nennen, die sich auf Aristoteles’ politische und ethische Schriften beziehen: carmina, quibus argumentum octo librorum politicorum Aristotelis comprehenditur, quos Argentinae audivit publice explicari, 8 und ganz ähnlich summa eorum, quae singulis Aristotelis libris ethicorum continentur argumenta. ––––––––– 5 6 7 8

Ein Exemplar konnte nachgewiesen werden im Stadtarchiv Ludwigsburg (Signatur: Bü 569 Nr. VIII). Der Text ist erhalten im Tiroler Landesmuseum Ferdinandeum, Signatur: Dip. 847/3. Der Text ist erhalten im Tiroler Landesmuseum Ferdinandeum, Signatur: Dip. 1117, Bl. 389–394. Der Text, erhalten im Tiroler Landesmuseum Ferdinandeum, Signatur: 1117, Bl. 172–173, beginnt mit einer kurzen Vorrede: Si quis Aristotelis cupit argumenta librorum / noscere scriptorum de ratione polis, / is legat hos versus et de cuiusque futurus / materia libri postea certus erit. Es schließen sich zu allen acht Büchern der Politik jeweils zwei Verse an: I Ergo civium opes primus complectitur, atque / principium poleos, membraque prima docet. II Post qui maiorum politias narret, et una / cum pravis notet hinc recta, secundus adest. III Distinctas species politiae tertius affert, / regis et unius sceptra verenda probat. IV Has species quarto deinceps liber ordine quartus / percenset docto persequiturque stylo. V Quicquid corrumpit politias, quicquid easdem / conservat quinto monstrat Aristoteles. VI Inde status verias leges popularis acute / perpendit sextus commemoratque liber. VII Septi-

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Beim nächsten Werk handelt es sich um Geizkoflers größten poetischen Wurf, ein aus 254 Versen bestehendes Gedicht in elegischen Distichen über seine Familie, das in der Handschrift des Tiroler Landesmuseums Ferdinandeum den Titel Ioannis Geizkofleri et Barbarae Kuglerin, eius uxoris, progenies trägt.9 Bisher wurde öfters darauf hingewiesen, dass Geizkoflers lateinische Gedichte „leblos und versteinert“10 oder auch „äußerst dürftig“11 seien. Vor kurzem hat der Verfasser das Gedicht näher untersucht und ist zu einer anderen Würdigung gelangt.12 Thema des Gedichts sind die einzelnen Mitglieder der Familie Geizkofler. Die Ursprünge der Familie13 in Sterzing lassen sich bis ins 13. Jahrhundert zurückverfolgen. Von Generation zu Generation erhielten die Mitglieder der Familie mehr Einfluss in der Stadt, bis Hans Geizkofler (1498– 1563), der Vater unseres Lucas, zum Bürgermeister gewählt wurde. Hans hatte nicht nur in der Politik, sondern auch in Heiratssachen eine glückliche Hand: Er ehelichte Barbara, die Tochter des Kaiserlichen Rates und obersten Zeugmeisters Hans Kugler von Hohenfirnberg. Aus dieser Ehe gingen, wie schon erwähnt, 16 Kinder hervor, von denen elf Söhne in hohe Ämter kamen. Ihnen allen, selbst den noch im Kindsbett Verstorbenen, ist hier ein dichterisches Denkmal gesetzt. Im September 1576 wurde eines von Lucas Geizkoflers Gedichten in Speyer sogar gedruckt: Epithalamium in honorem clarissimi viri, ingenio doctrina dignitate virtute praestantissimi domini Nicolai Ruof, iuris utriusque doctoris et sancti tribunalis imperatorii assessoris etc. et honestissimae virginis Mariae, filiae clarissimi iureconsulti, domini Chiliani Guntheri iuris utriusque licentiati, reverendissimi et illustrissimi principis ac domini domini Ioannis episcopi Argentoratensium, Landtgravii, Alsatiae etc. consiliatii dignissimi. In einer beherzten Aufforderung an seine Verse (ite leves elegi, 2r) schickt Geizkofler diese ins Haus des berühmten Richters Nikolaus Ruof, der seine Hochzeit feiert. In diesen Rahmen eingelegt ist die poetische Rede, die die Verse dort vortragen sollen. Mit einem Zitat aus Ovids Fasten (salve laeta dies, fast. 1, 87) hebt die Beschreibung der Freude an, die die ganze Stadt Speyer und v. a. das Reichskammergericht über die Hochzeit fühlt. Die Vorzüge der Braut und des Bräutigams werden geschildert und zuletzt sollen die Verse noch verkünden, wem das Brautpaar dieses dichterische Geschenk zu verdanken hat: haec optat Lucas tibi Geizkoflerus (3v). Einiges Material ist dem Bereich ‚autobiographische Schriften‘ zuzuordnen. Am bekanntesten ist hier wohl der Traktat, den Geizkofler verfasste, als er 1576 ––––––––– 9 10 11 12 13

mus instituit polin, et praecepta scienter / publica curandi commoda, quaeque refert. VIII Musica commendans laudat liber ultimus, utque / exercenda siet gnava iuventa, monet. Tiroler Landesmuseum Ferdinandeum, Dip. 1117, Bl. 369–374. Wolf: Geizkofler (wie Anm. 2), S. 160. Linsbauer: Geizkofler (wie Anm. 2), S. 23. Vgl. Florian Schaffenrath: Lucas Geizkoflers poetisches Schaffen. In: Der Schlern 81/9 (2007), S. 4–15. Für allgemeine biographische Informationen zur Familie Geizkofler vgl. NDB 6 (1964), S. 166–168.

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in Oberitalien festsaß und nicht mehr weiter nach Norden reisen konnte, weil die Grenzen wegen der grassierenden Pest geschlossen worden waren: de miseriis studiosorium declamatio. Obwohl dieses Werk nur handschriftlich überliefert ist, 14 war es dennoch Inhalt eines Colloquium Latinum, das Fidel Rädle im Sommersemester 1998 in Göttingen abgehalten hat. Darin stellt Geizkofler sehr drastisch die Nöte und Unannehmlichkeiten im Studienbetrieb des 16. Jahrhunderts vor Augen. Er rechnet hart mit bestimmten Exzessen des Studentenlebens seiner Zeit ab, fordert auf der anderen Seite aber umso bestimmter, dass den ordentlichen Studenten, die sich redlich um höhere Bildung bemühen, größerer Respekt gezollt werde. Immerhin sei für eine funktionierende Gesellschaft nichts wichtiger als eine humanistisch ausgebildete Elite. Diese Schrift wurde schon mehrfach behandelt15 und ist Thema einer laufenden Dissertation an der Universität Innsbruck. 16 In einer Abschrift von Geizkoflers Neffen Zacharias ist uns eine ausführliche Autobiographie von Lucas Geizkofler erhalten, die folgenden Titel trägt: Historia und Beschreibung Lucasen Geizkoflers von Reiffenegg Tyrolensis, herkomen, geburt, leben, studieren, raisen, diensten, fürnembliche verrichtung thuen und wesen, bis auf sein in Augspurg anno 1590 beschehene verheuratung und folgends weiter, bis auf das 1600.17 Tatsächlich werden aber Ereignisse bis ins Jahr 1609 beschrieben. Es handelt sich um 172 einspaltig in deutscher Sprache beschriebene Blätter, in die jedoch eine kurze lateinische Passage (Bl. 79– 85) eingelegt wurde, die den Titel trägt: Extractus ex Lucae Geitzkofleri Tyrolensis diario Parisiensi, in quo continetur summa tragoediae et comoediae atque aliorum ludorum, quorum ipsemet spectator fuit in collegio Navarraeo et aliis partibus academiae vel universitatis Lutetiae de caede et internecione Hugenotharum anno 1572 partim instituta et partim facta. Die für die allgemeine Kulturgeschichte wohl wichtigste Passage dieser Lebensbeschreibung, die Darstellung der Pariser Bartholomäusnacht 1572, wurde hier herausgegriffen und in lateinischer Sprache separat dargestellt. Dieser lateinische Text wurde von Willhelm Creizenach herausgegeben. 18

3.

Rede für Matthias Schenck

Als letztes Werk ist eine Rede zu nennen, auf die in diesem Zusammenhang etwas näher eingegangen werden soll. Es handelt sich um die Trauerrede, die Lucas Geizkofler 1571 auf seinen verstorbenen Förderer und Lehrer am Augs––––––––– 14 15 16 17 18

Tiroler Landesmuseum Ferdinandeum, Dip. 1117, Bl. 337–368. Ausführlich ist die Darstellung bei Schweizer: Geizkofler (wie Anm. 3), S. 62–82. Lukas Oberrauch bereitet eine Edition mit Übersetzung der Schrift vor. Erhalten ist der Text im Tiroler Landesmuseum Ferdinandeum, Signatur: Dip. 1117. Die Edition der deutschen Partien legte Wolf: Geizkofler (wie Anm. 2) vor. Wilhelm Creizenach: Ein Bericht über Festaufführungen zu Ehren der Bartholomäusnacht. In: Studien zur vergleichenden Literaturgeschichte 7 (1907), S. 1–10.

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burger St.-Anna-Gymnasium, Matthias Schenck, hielt: oratio in obitum sui praeceptoris domini Matthiae Schenck, die handschriftlich im Tiroler Landesmuseum Ferdinandeum (Signatur: Dip. 1117, Bl. 377–387) erhalten ist. Eine Edition der Rede findet sich im Anhang an diesen Beitrag; auf diese Edition der oratio beziehen sich auch die im Folgenden mit or. abgekürzten Stellenzitate. Matthias Schenck wurde 1517 als Sohn armer Eltern 19 in Konstanz geboren.20 In der heimatlichen Lateinschule tat er sich derart hervor, dass es ihm Wohltäter 1535 ermöglichten, an der Universität Straßburg sein Studium aufzunehmen. 1539 und 1540 ging er weiter nach Marburg und Wittenberg, wo er Luther und Melanchthon hörte. Ein kurzer Aufenthalt in Isny ist bezeugt, wo sich Schenck Grundlagen des Hebräischen erwarb. 21 Nach seinen Studien kehrte er in seine Heimatstadt Konstanz zurück, wo er nun die Leitung der Lateinschule übernahm. Seine Tätigkeit als Lehrer und Erzieher hatte großen Erfolg, bis der Schmalkaldische Krieg ausbrach und die Schule aus Schülermangel beinahe ruiniert war. Als der Tübinger Professor für Rhetorik, Johannes Benignus, von seiner Lage erfuhr, leitete er es in die Wege, dass Schenck als Nachfolger des Augsburger Schuldirektors Sixt Birck (1501–1554) bestellt wurde. Zusammen mit seiner Frau und seinen sieben Kindern übersiedelte Schenck 1553 nach Augsburg.22 Hier setzte er sich bald dafür ein, dass Hieronymus Wolf in den Schuldienst berufen werde. Eine Nichte Wolfs heiratete später Schencks Sohn Johannes, später Stadtphysikus in Nürnberg, während eine Tochter Schencks an den Schreibmeister Kaspar Brinner vergeben wurde. 23 Als großer Schriftsteller ist Matthias Schenck nicht hervorgetreten, dazu ließen ihm, wie er selbst sagt, 24 seine Verpflichtungen für die Schule keinen ––––––––– 19

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Geizkofler überspielt dieses Detail in der biographischen Skizze, die er in die Trauerrede einbaut: Einmal spricht er davon, wie aufrichtig Schencks Eltern waren (or. 19), dann begründet er den Umstand, dass Schenck für seine Studien in Straßburg durch ein Stipendium der Heimatstadt unterstützt werden musste, damit, dass die früh verstorbenen Eltern allzu freigiebig waren und ihm kein großes Erbe hinterließen (or. 33). Zur Biographie Schencks vgl. Karl Köberlin: Geschichte des Hum. Gymnasiums bei St. Anna in Augsburg von 1531 bis 1931. Augsburg 1931, S. 42–50. Kurze biographische Notizen finden sich in Stadtarchiv Augsburg, Evangelisches Wesensarchiv, Nr. 1041, Tom. 1, 4, Bl. 4r. In seiner gereimten Schulchronik kommt auch Bernhard Heupold (In Reimen verfaßte Beschreibung der deß Heiligen Römischen Reichs Hochlöblichen Statt Augspurg Berümbten Lateinischen Schul bey S. Anna. Augsburg 1623) auf Schenck zu sprechen: Nach ihm kam bald Matthias Schenck / Von Costnitz / daß ich sein gedenck / In Ehren / Primarius auch war / Achtzehen Jahr / glert fleissig zwar / Fünfzehenhundertsiebentzig ein / Jar nach Christi Geburt gemain / Hewmone der ein und zweintzigst Tag / Sich erlischen Ich euch jetzt sag / Da gmelter Schenck ins Todtbeth kam / Ein endts zeitlichen Lebens nam. Vgl. hierzu generell Hans-Jörg Künast: Hebräisch-jüdischer Buchdruck in Schwaben in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts. In: Landjudentum im deutschen Südwesten während der Frühen Neuzeit. Hg. von Rolf Kießling und Sabine Ullmann. Berlin 1999, S. 277–303. Das Dokument seiner Aufnahme in die Bürgerschaft 1564 ist erhalten (Stadtarchiv Augsburg, Bürgeraufnahme Nr. 14, Fasc. 4, Nr. 14). Davon berichtet Geizkofler, or. 86. Köberlin: Geschichte (wie Anm. 20), S. 44.

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Raum. Den breitesten Widerhall fand wohl eine Rede, die Schenck auf Aufforderung zahlreicher deutscher Fürsten am Reichstag von Augsburg vor dem Kaiser und den Kurfürsten hielt und in der er forderte, seine Heimatstadt Konstanz, die nach den Ereignissen des Schmalkaldischen Krieges schwer zu leiden hatte, zu schonen.25 Davon abgesehen gibt es einige Werke für den Schulgebrauch zu nennen. So gab er die institutiones grammaticae des Johannes Rivius (1500–1553) neu heraus, 26 ebenso den nomenclator des Hadrianus Junius (1511/12–1575).27 Die bei Köberlin: Geschichte (wie Anm. 20), S. 45 zitierten Elementa literarum et pietatum konnten nicht mehr nachgewiesen werden. Von Schencks unermüdlichem Wirken für seine Schule bis zu seinem Tod 157128 zeugt die lateinische Schulchronik, die er führte. 29 Die von Lucas Geizkofler verfasste Trauerrede auf Schenck ist nun keineswegs in lateinischen Distichen gehalten, wie Schweizer meint,30 sondern in bester Humanistenprosa. Gehalten wurde sie offenbar vor der versammelten Schulgemeinschaft, die um ihren geschätzten Lehrer trauerte, wie die immer wieder in den Text eingeschobenen Anreden an Mitschüler u. Ä. zeigen. 31 Dass bei den Anreden an die Schüler immer wieder das Adjektiv humanissimus benutzt wird, ist indirekt wieder als Lob und Anerkennung für Schencks Arbeit als Lehrer zu verstehen. Die Rede ist folgendermaßen aufgebaut: Geizkofler fragt sich, wie die Schüler angemessen über den Tod ihres Lehrers trauern könnten, dem sie doch all ––––––––– 25 26 27

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Rede bezeugt bei Geizkofler, or. 83. Institutionum grammaticarum Ioannis Rivii Atthendoriensis libri VIII. Augsburg (Ulhard) 1558. Nomenclator Hadriani Junii Medici, ad scholarum usum accomodatus a Matthia Schenkkio. Augsburg (Manger) 1571. Dieses Werk liegt in einem Nachdruck in der Reihe „Documenta linguistica“ (Hildesheim 1982) vor und wurde von F. Claes mit einer neuen Einleitung versehen. Zu seinem Tod verfasste sein Schüler Rudolph Brivius aus Memmingen ein Gedicht „Lachrymae scholae Augustanae in funere clarissimi viri ingenio, consilio, et virtutum omni laude praestantissimi domini Matthiae Schenckii Constantiensis rectoris ibidem dignissimi etc. qui in Christo salutari nostro felicissime obiit 12. Calend. Augusti Anno MDLXXI“, gedruckt in Leipzig bei Johannes Rhamba (Exemplar eingesehen in Stadtarchiv Augsburg, Evangelisches Wesensarchiv, Nr. 1041, Tom. 1, 6). Es besteht aus 75 Hexametern. Brivius wird in der Schulgeschichte Schencks (Stadtarchiv Augsburg, Evangelisches Wesensarchiv, Nr. 1041, Tom. 2) im Jahr 1563 erwähnt: Eadem illa 16. Ianuarii die Nicolaus Stampfrogkius et Rudolphus Brifius Memingensis stipendio impetrato alumnis August. reipub. annumerantur (S. 91). Die Handschrift ist erhalten im Stadtarchiv Augsburg, Evangelisches Wesensarchiv Nr. 1041, Tom. 2, trägt den Titel „Matthiae Schenckii Gymnasii ad D. Annam Aug. Vind. Primarii historia scholae Augustanae“ und umfasst den Zeitraum 1562–1565. Aus einigen eingestreuten Notizen kann man erkennen, dass Schenck die Chronik erst 1565 aus der Rückschau verfasst hat (etwa S. 82 anno videlicet 1565 quo haec scribo). Vgl. Notiz in Stadtarchiv Augsburg, Evangelisches Wesensarchiv, Nr. 1041, Tom. 1, 1. Schweizer: Geizkofler (wie Anm. 3), S. 42: „die in lateinischen Distichen verfaßte Trauerrede“. Einige Beispiele seien genannt: condiscipuli ceterique auditores humanissimi 2; auditores 10; auditores humanissimi 16; carissimi commilitones 76; humanissimi commilitones 103; nos, huius alumni 105; carissimi commilitones 114; humanissimi commilitones 118.

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ihre Bildung verdanken (or. 1–7). Er begründet, warum gerade er es auf sich genommen hat, Schenck zu würdigen, gibt aber zu bedenken, dass ihm seine Trauer die Sicht auf die angemessene ratio dicendi verklärt (or. 7–11). Jeder, der mit Schenck zu tun hatte, ist in tiefer Trauer befangen (or. 12–17). Nun beginnt die Darstellung von Schencks Biographie: Er stammt ursprünglich aus Konstanz, das er jedoch aus religiösen Gründen verlassen musste, da er bei der prisca religio bleiben wollte (or. 18–22). Geizkofler setzt ab und fragt, wer in dieser traurigen Situation wohl eine gute Rede halten könnte (or. 23–26). Schencks Bildungsweg bis zur Berufung nach Augsburg wird nachgezeichnet (or. 27–59). Seine Qualitäten als Schulleiter bestanden darin, dass er zu seinen Zöglingen wie ein Vater war und hervorragende Männer für Kirche, Staat und Wissenschaft heranzog (or. 60–71). Wieder bricht Geizkofler ab und klagt über den allzu großen Verlust (or. 72–79). Schenck hatte ein erfülltes Leben, es gebe also keinen Grund, ihn zu beklagen. Er diente immer höheren Zielen, was auch aus seinen Schriften hervorgehe (or. 80–84). Auch seine Kinder seien tüchtig und vielversprechend (or. 85–88). Beinahe stoisch habe sich Schenck auf sein Lebensende und seinen Tod vorbereitet, nun habe er das ewige Leben erreicht (or. 89–100). Dennoch trauerten die Zurückgebliebenen über den Verlust, der ihnen bereitet wurde (or. 101–112). Schenck verdiene sich ein Denkmal, für das bereits eine Inschrift32 vorgeschlagen wird (or. 113–122). Am Ende der Rede entschuldigt sich Geizkofler für die Unzulänglichkeiten (or. 123–125) und schließt mit einem Gebet für die Zurückgebliebenen (or. 126–129). Im umfangreichen Schriftenkorpus des Lucas Geizkofler ist auch ein Brief an den oben genannten Hieronymus Wolf erhalten,33 in dem er diesen bittet, die Rede durchzusehen und Korrekturen anzubringen. Wolfs Antwortschreiben ist nicht erhalten, wohl aber eine Notiz darüber, was seine Hauptkritikpunkte waren: (1) An der Diktion sei noch zu feilen. (2) Die historischen Fakten müssten klarer zum Ausdruck kommen. (3) Überflüssige Wiederholungen seien zu streichen. (4) Die Übertreibungen sollten etwas zurückgenommen werden. 34 Nun ist es auffällig, dass in den Text der Handschrift des Tiroler Landesmuseums Ferdinandeum Korrekturen von zweiter Hand eingetragen wurden. Es ist ––––––––– 32

33

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Ein von Lucas Geizkofler verfasstes Epitaphium wird zitiert in Stadtarchiv Augsburg, Evangelisches Wesensarchiv Nr. 1041, Tom. 1: Vid. epitaph. honor. a Luc. Geizkoflero illi positum apud Prasch, Epit. Aug. P. I p. 211 et p. 210 propositum exhibet. Gemeint ist hier Daniel Prasch: Epitaphia Augustana Vindelica. 3 Bde. Augsburg 1624–1626. Mit Hieronymus Wolfs Korrespondenz hat sich immer wieder Helmut Zäh beschäftigt, vgl. etwa: Vom Augsburger Religionsfrieden bis zur Gründung des Annakollegs: das Rektorat des Hieronymus Wolf (1557–1580) im Spiegel seines Briefwechsels. In: Das Gymnasium bei St. Anna in Augsburg. Augsburg 2006, S. 30–52. Tiroler Landesmuseum Ferdinandeum, Dip. 1117, Bl. 387r: Oratio haec postulare videtur 1. limam accuratiorem in dictione, 2. cognitionem historiae certiorem, 3. repetitionum supervaceanarum resectionem, 4. amplificationum moderationem.

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möglich, dass diese Korrekturen von Wolf persönlich stammen. Wenn dem so ist, sei ein süffisantes Detail berichtet: An einer Stelle spricht Geizkofler von Schencks didaktischem Geschick und von seiner unangefochtenen Autorität als Lehrer: Non enim illa sola in eo, qui alios utiliter docere velit, requiruntur, ars atque authoritas, quae quidem tanta in ipso fuere, quanta in multis huius gymnasii magistris, quos aut legimus aut audivimus, non fuerunt (Geizkofler, or. 61, Hervorhebungen FS). Derjenige, der andere mit Gewinn unterrichten möchte, muss nicht nur Können und Autorität mitbringen. Schenck besaß diese Eigenschaften jedoch in so hohem Maß, wie sie viele Lehrer dieses Gymnasiums, von denen wir gelesen oder gehört haben, nicht besaßen.

Ursprünglich stand im Text in reliquis […] magistris, also „bei den restlichen Lehrern dieses Gymnasiums“, doch reliquis wurde zu multis verbessert. Könnte dies damit zusammenhängen, dass Wolf selbst angesehener Lehrer der Anstalt war und sich durch diese Aussage gekränkt fühlte? Schweizer35 liest die Rede als Zeugnis für die Wirkung des nachreformatorischen Bildungsprogramms auf junge Leute, indem er v. a. die darin angesprochenen und vermittelten Werte herausarbeitet. Die für einen Menschen wichtigsten Güter, virtus und humanitas, habe Schenck seinen Schülern im Unterricht durch das Training von Verstand (ingenium), Bildung (eruditio) und Redekunst (exercitatio dicendi) vermittelt. Schencks eigene humanistische Bildung habe zudem vorbildlich gewirkt. Wichtig für einen christlichen Humanisten sei weiters das Hinzutreten von religio und pietas in den Wertekanon. Da Geizkofler Schenck in der Rede als Prototyp des christlichen Humanisten, als idealen Menschen schlechthin zeichne, sei die oratio nicht nur Ausdruck von Geizkoflers Trauer über den Verlust, sondern auch Zeugnis des ewigen Ruhmes, den sich Schenck bei der Nachwelt verdient habe. Eine formale Raffinesse der Rede verdient zudem unsere Aufmerksamkeit: Ein immer wiederkehrendes Motiv ist der Verweis auf die Trauer verschiedener Institutionen (Kirche, staatliche Verwaltung, Universitäten), denen nun nach dem Ableben Schencks keine geeigneten Funktionäre mehr zugeführt werden (Bsp.: or. 48, 66–69, 119). Ein Beweis dafür, dass nach Schencks Ableben nichts mehr so funktioniert, wie es sollte, ist die Rede selbst, die an mehreren Stellen ihr eigenes Scheitern eingestehen muss: Zunächst findet Geizkofler keinen rechten Einstieg (quonam modo luctum […] declarabimus, or. 2) und muss sich bei seinem Publikum für seine Unzulänglichkeit entschuldigen (or. 10). Schuld an seinem Versagen ist, dass Schenck nicht mehr da ist. Geizkofler beginnt dann doch damit, Schencks Lebensweg nachzuzeichnen, muss aber bald wieder abbrechen und fragen, wer wohl eine dieser Trauerstunde angemessene Rede halten könnte (or. 24–26); er jedenfalls habe versagt. Erneut rafft er sich auf, ein Stück aus Schencks Biographie abzuarbeiten, und thematisiert auch, welch große Mühe ihm das Reden bereitet (maxime laboran––––––––– 35

Vgl. Schweizer: Geizkofler (wie Anm. 3), S. 42f.

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dum nobis esse, or. 31). Er kommt nun recht weit voran und bittet in der Mitte dieses Blocks (or. 60) – mit einer Musenanrufung im Epos vergleichbar – Gott selbst, er möge ihm helfen und eingeben, wie Schenck sein Amt als Schulleiter versehen habe. Die göttliche Hilfe trifft ein, aber schon bald verlässt ihn der Antrieb wieder. Er lässt ab und klagt über sein eigenes Elend (nos igitur o miseros, or. 74). Ihre positive Wendung nimmt die Rede schließlich erst mit or. 80 und dem Gedanken, dass Schenck nicht tot ist, sondern ins ewige Leben hinübergegangen ist. Von da an läuft die Rede rund und glatt ohne Unterbrechungen bis zum Gebet an Jesus Christus am Ende.

4.

Anhang

Die folgende Edition der oben besprochenen Rede stützt sich auf den einzigen Zeugen, die Handschrift des Tiroler Landesmuseums Ferdinandeum Dip. 1117, deren Blattzählung hier in eckigen Klammern angegeben ist. Im kritischen Apparat bezeichnet „hs.“ die Lesart der Handschrift, wenn eine Konjektur von unserer Seite nötig war. Um auch die Korrekturen (s. o.) deutlich zu machen, wird mit „G“ die ursprüngliche und mit „W“ die korrigierte Version bezeichnet.

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In obitum Mathiae Schenckii, Augustanae scholae ad divam Annam moderatoris, oratio authore Luca Geitzkoflero, eius discipulo [378r] (1) Ergone Mathiam Schenckium, virum maximum, praeceptorem fidelissimum, amisimus? (2) Quonam igitur modo luctum nostrum ex eius obitu declarabimus, condiscipuli ceterique auditores humanissimi? (3) Certe, siquid est in nobis ingenii et eruditionis, aut siqua exercitatio dicendi, earum rerum vel imprimis ipsi fructus tribui merito debet. (4) Quicquid enim in optimarum artium studiis et disciplina possumus, id eius potissimum beneficio. (5) Postquam a Deo discessum est, nos posse oportet confiteri. (6) Quod si vox nostra huius hortatu praeceptisque conformata cuiuspiam funus aliquando pie prosecuta est, a quo id accepimus, quo ceteris amorem officiumque nostrum significaremus, huius profecto ipsius, quantum Christiana ratio patitur, mortem deplorare et lamentari debemus. (7) Ac ne quis me hoc mihi soli sumpsisse forte existimet, quod primus ex eius discipulis ad funebrem contionem aggressus sim, cum alii complures id perinde atque ego et debeant et possint. (8) Decet enim omnes eos, qui a tanto viro beneficia acceperunt, certatim suam erga eum pietatem declarasse, ita ut qui in hac re anteverterit, reprehendendus haud quaquam videatur. (9) Utinam autem ipsum adhuc salvum atque incolumem haberemus, ne id pietatis genus, gratum quidem, verum minime iucundum, ei nos praestare conveniret. (10) Nunc quia natura et divina providentia ita tulit, cui repugnare velle stultum atque impium foret, faciendum nobis erit, ut quoniam vivo (proh dolor!) amplius non possumus, mortuo officia nostra praestemus; quod si forte vobis videbor, auditores, eius interitum hac oratione minus lamentari, quam [378v] summa ipsius virtus summaque erga nos et hanc scholam merita requirunt, quaeso obtestorque, ne dolorem verbis et actione potius, quam aegritudine et animi perturbatione metiendum arbitremini. (11) Qua profecto tanta sum affectus, ut prae ea iudicare satis non possim, quam rationem dicendi instituam.36 (12) Quis enim est ex vobis tam levis et facilis aut durus et plane ferreus, qui praeceptoris nostri, viri optimi et doctissimi, obitu non usque adeo commoveatur, ut quid dicat, cogitare aut alii rei quam dolori vacare queat? (13) Et quid sine lamentis consulto proferri a nobis potest eo homine orbatis, cuius in nos beneficiorum tanta magnitudo est, ut difficillimum sit, eam ornando complecti? (13) Qui nostras animas ad humanitatem formavit, educatione et doctrina instituit, ea nobis adiumenta attulit, ut absque his si esset, ad veram laudem pervenire haud sane possemus. (14) Quod si parentes carissimos37 habere debemus, quod ab iis vitam accepimus et patrimonium, caduca nimis atque mobilia, quanto magis sunt amandi praeceptores, a quibus res aeterna nobis ipsa virtus traditur, qua nihil fructuosius atque iucundius? (15) Et si eorum obitum molestissime ferimus, qui nos victu recreare et cibo pascere, qui corpus vestire, qui opibus ornare soliti sunt, eos nobis morte ereptos esse gravissime dolemus, existimari facile potest, quanta affici tristitia debeamus, postquam eiusmodi virum amisimus, qui nos nectare Pierio, qui philosophia enutriebat, qui mentes nostras variis bonis exornabat. (16) Cum neque maius sit corpus curare quam animum, nec aequius habere eos, qui illud, quam qui hoc faciunt, cariores, itaque, auditores humanissimi, nemo sane dubitabit, quin mors Mathiae Schenckii,

––––––––– 36 37

instituam] Instituam G parentes carissimos] carissimos parentes G

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Rede zum Tod von Matthias Schenck, Direktor des Augsburger St.-AnnenGymnasiums von seinem Schüler Lucas Geizkofler (1) Haben wir nun also Matthias Schenck, den größten Mann, den zuverlässigsten Lehrer verloren? (2) Wie sollen wir also unserer Trauer über seinen Tod Ausdruck verleihen, liebe Mitschüler und ihr übrigen gebildetsten Zuhörer? (3) Sicherlich, wenn wir etwas an Begabung und Bildung oder auch an rhetorischem Können haben, muss unser Erfolg in diesen Dingen zurecht vor allem ihm zugeschrieben werden. (4) Was immer wir nämlich in den Studien und in der Lehre der schönsten Künste vermögen, verdanken wir vor allem seiner Wohltat. (5) Nachdem er nun in Gott von uns geschieden ist, müssen wir uns eingestehen, dass wir all das nur durch ihn vermögen. (6) Wenn unsere Redeweise, die durch seine Vorschriften und Anweisungen geschult wurde, einmal bei einem Begräbnis einem Mann fromme Worte nachrufen konnte, so müssen wir, natürlich nur soweit es unsere christliche Vernunft erlaubt, den Tod des Mannes ganz besonders betrauern und beweinen, von dem wir diese Gabe empfangen haben, die es uns erlaubt, den anderen gegenüber unsere Liebe und unser Pflichtbewusstsein zum Ausdruck zu bringen. (7) Es soll nun keiner glauben, ich hätte es mir allein herausgenommen, als erster unter Schencks Schülern seine Leichenrede zu halten, während doch mehrere andere dies in gleicher Weise müssten und auch könnten! (8) Es schickt sich, dass alle, die von diesem großen Mann Wohltaten empfangen haben, im Wettstreit ihre Verbundenheit zu ihm ausdrücken, sodass wer dabei den ersten Schritt tut, kein Unrecht zu begehen scheint. (9) Hätten wir Schenck doch noch heil und gesund unter uns, dass wir ihm diesen zwar angemessenen, aber keineswegs erfreulichen Dienst nicht erweisen müssten! (10) Weil es nun aber die Natur und Gottes Vorsehung so eingerichtet haben – sich dagegen auflehnen zu wollen, wäre töricht und ein Frevel – müssen wir wohl unseren Dienst – ach weh – weil wir es dem Lebenden nicht mehr können, dem Toten erweisen; wenn ich euch aber, ihr Zuhörer, Schencks Tod in dieser Rede weniger heftig zu beklagen scheine, als es seine große Tugend und seine großartigen Verdienste an uns und dieser Schule erfordern, bitte ich euch inständig, nicht zu glauben, Schmerz müsse mehr an Worten und Taten, als an Trauer und geistiger Verwirrung gemessen werden. (11) Ich bin nämlich in der Tat so verwirrt, dass ich mir vor Verwirrung gar nicht klar werde, wie ich meine Rede anlegen soll. (12) Wer von euch ist so oberflächlich und unbeschwert oder so hart und gänzlich eisern, dass er durch den Tod unseres Lehrers, dieses besten und gelehrtesten Mannes, nicht so sehr bewegt wird, dass er nicht mehr weiß, was er sagt, oder nur mehr an seinen Schmerz denken kann? Was können wir ohne Tränen vorbringen, die wir eines so bedeutenden Mannes beraubt sind, der sich um uns dermaßen verdient gemacht hat, dass es ungemein schwer ist, die Menge seiner Wohltaten in einer Lobrede zu umfassen? (13) Er hat unseren Charakter gebildet, hat uns erzogen und belehrt und hat uns all die Hilfsmittel gegeben, ohne die wir mit Sicherheit nicht zu wahrem Lob kommen würden. (14) Wenn wir unsere Eltern am meisten lieben müssen, weil wir von ihnen das Leben bekommen haben und das Erbe, allzu vergängliche und unstete Dinge, um wieviel mehr müssen wir dann unsere Lehrer lieben, von denen wir ein ewiges Gut, die Tugend, vermittelt bekommen, im Vergleich zu der nichts fruchtbringender oder erfreulicher sein kann? (15) Wenn wir über den Tod der Menschen sehr betrübt sind, die es gewohnt waren, uns zu Essen und zu Trinken zu geben, unseren Körper zu bekleiden und uns auszustatten, und größten Schmerz darüber empfinden, wenn der Tod sie uns entrissen hat, kann man sich leicht vorstellen, wir traurig wir erst sein müssen, wenn wir einen solchen Mann verloren haben, der uns mit pierischem Nektar und Philosophie nährte, der unseren Geist mit verschiedenen Vorzügen ausstattete. (16) Wenn es nun nicht mehr bedeutet, sich um den Körper als um den Geist zu kümmern, und es nicht gerechter ist, diejenigen, die dies machen, mehr zu lieben als jene, dann wird sicherlich keiner, meine gebildetsten Zuhörer, daran zweifeln, dass uns der Tod des Matthias Schenck,

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praeceptoris nostri, summo dolore nos affecerit. (17) Nam per Deum immortalem (nisi [379r] forte frustra eum appellamus, cuius animum a nobis abhorrere his temporibus et hominum moribus quis non videt?) perque fortunam huius gymnasii, quae licet ei nunc admodum infesta est, fuit aliquando propitia et, ut non desperamus, futura est, quis tam inhumanus, quis huic scholae et sacris sedibus usque adeo est inimicus, ut mortem tanti viri, tam religiosi, tam docti, tam bene de re litteraria meriti aut non possit aut nolit dolere? (18) Nam ut de eius virtute, doctrina et institutione singillatim dicam, quid hac illius pietate et religione erga Deum potuit esse illustrius, cuius causa etiam natale solum, quantumvis dulce, reliquit? (19) Patria enim ipsius Constantia (nam ibi natus erat parentibus honestissimis) antiqua imperii urbs bello Schmacaldico infeliciter suscepto, cogebatur ab iis (in quorum potestatem nescio qua culpa38 pervenerat) magis impuram atque novam, quam Dei timore praedita et in liberalitate Christiana educata civitas pati poterat, religionem admittere, sinceris verbi divini praeconibus renunciare, fucatos recipere, Romanum pontificem ecclesiae caput agnoscere, eius quaecumque decreta sequi, vituperandos in templo abusus agnoscere39 et superstitiones observare contaminatas. (20) Hanc calamitatem et miserias cum aspicere sine summo conscientiae dolore non posset, ex eo loco in alium a prisca religione non alienum migrare constituit et potius conditionem, qua tum apud Constantienses fruebatur, haud contemnendam repudiare, quam videri avaritia et vana dignitatis ambitione corruptus dissimulator et idololatra esse, non absque magno aeternae mortis periculo. (21) Unde facile intelligitur, quam sanctus et religiosus ipse fuerit; omitto cetera tempora, quibus quo animo erga Deum esset, plenissime declaravit, cum aliis tum maxime nobis, qui cum eius non modo discipuli, sed etiam convictores et domestici essemus, nihil impium, nihil homine [379v] Christiano indignum ab eo fieri vidimus. (22) Etenim quia is demum vere Christum amare existimandus est, qui proximum amat, id ipse profecto adeo diligenter praestitit, ut nemo umquam esset, qui eum non in viris optimis atque sanctissimis vellet haberi. (23) Quis enim illius bonitatem, quis liberalitatem, quis innumerabiles ab eo et prope infinitos pro re litteraria susceptos labores, humanitatem etiam facilitatemque digne potest laudare? (24) Et quis nostrum est, qui parem eius virtuti orationem invenire se posse existimet? (25) Tantum virum amisisse nos, ah, qui possumus satis umquam condolere? (26) Quibus verbis aut quo motu maximum luctum ex eius, qui omnibus carissimus fuit et esse debuit, interitu declarabimus? (27) Iam vero eruditione quam praeclara fuerit praeditus Schenckius noster, vel hinc manifeste apparet, quod cum senatus Augustanus de eius consilio migrandi Constantia commode audivisset, decretum fecit ornatissimum, ut per litteras (quae quidem adhuc extant) in Xysti Betulei valetudinarii locum invitaretur. (28) An vero credibile est eum hoc facturum fuisse, nisi credidisset ipsum Schenckium talem virum esse atque in omni genere doctrinarum ita excellentem, ut non immerito primarius Augustani gymnasii moderator eligeretur? (29) Nam quid ego alias civitates, quae eum expetiverunt non paucae, commemorem? (30) Usque adeo nimirum celebris ipsius virtus atque doctrina fuit, ut a pluribus magnopere desideraretur, et nos huius hominis mortem non gravissime lugebimus? (31) Atque hic vir tam egregius, tam doctus quomodo evaserit, etsi quivis facile existimare potest, tamen quod ipse partim ex ipso Schenckio, partim ex aliis fide dignis audivi, id a me in dicendo [380r] praetereundum non est, ut quarum laudum gloriam adamare debemus, quibus rebus eas laudes Schenckius comparavit, in iis maxime laborandum nobis esse existimemus. (32) Quamquam enim eiusmodi in eo

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qua culpa] qua de causa G Romanum ... agnoscere] W

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unseres Lehrers, größte Schmerzen zufügt. (17) Beim ewigen Gott (wenn wir nicht etwa den vergeblich anrufen, dessen Geist in diesen Tagen, bei den heutigen Sitten der Menschen vor uns zurückschreckt, wie jeder sieht) und beim Schicksal dieses Gymnasiums, das, wenn es ihm im Moment auch feindlich ist, einst sein eigen war und es auch, solange wir nicht verzweifeln, wieder sein wird, wer ist so ungebildet, wer hasst diese Schule und diese heilige Stätte so sehr, dass er den Tod dieses so großen, so frommen, so gelehrten, um die Bildung so verdienten Mannes nicht beklagen kann oder will? (18) Ich will nun im einzelnen von seiner Begabung, seiner Bildung und seiner Gelehrsamkeit reden; was konnte bekannter sein als seine fromme Gottesfurcht, die ja auch der Grund war, warum er seine Heimat, die ihm doch so lieb war, verließ? (19) Seine Heimat war Konstanz (dort wurde er als Sohn sehr anständiger Eltern geboren), eine alte Reichsstadt, die nach dem unglücklichen Ausgang des Schmalkaldischen Krieges von den neuen Herren, unter deren Herrschaft sie aus unbekannter Ursache gekommen war, gezwungen wurde, eine Religion zuzulassen, die neu und viel schändlicher war, als dass sie eine Stadt, die gottergeben und in christlicher Freiheit erzogen war, dulden konnte. Weiters war man gezwungen, den wahren Verkündern des Wortes Gottes abzuschwören, die Jesuiten wieder aufzunehmen, den Papst in Rom als Haupt der Kirche anzuerkennen, all seine Erlässe zu befolgen, schändlichen Missbrauch in der Kirche anzuerkennen und verseuchten Aberglauben zu bewahren. (20) Weil Matthias Schenck diese Schmach und dieses Elend nicht ohne größte Gewissensbisse mitansehen konnte, beschloss er, von hier an einen Ort auszuwandern, der der wahren Religion nicht abgeneigt sei, und eher die nicht zu verachtenden Bedingungen, die er damals in Konstanz genoss, zurückzulassen, als offensichtlich ein von Geiz und eitlem Ehrgeiz korrumpierter Lügner und Götzendiener zu werden – all dies nicht ohne große Gefahr ewigen Todes. (21) Aus dieser Geschichte erkennt man leicht, wie religiös und fromm Schenck war. Ich übergehe jetzt die restlichen Gelegenheiten, an denen er deutlich seine Einstellung Gott gegenüber zeigte, sowohl anderen Menschen, als auch besonders uns, die wir, seine Schüler, Zöglinge und Hausgenossen, nichts Unfrommes und nichts eines christlichen Mannes Unwürdiges bei ihm gesehen haben. (22) Es liebt offensichtlich nur der Christus wirklich, der seinen Nächsten liebt; Schenck hat dies so sorgfältig eingehalten, dass es nie jemanden geben könnte, der ihn nicht unter die besten und frömmsten Männer einreihen möchte. (23) Denn wer könnte seine Güte angemessen loben, wer seine Freigiebigkeit, wer die unzähligen und unendlichen Mühen, die er für die gebildete Welt auf sich genommen hat? (24) Und wer von uns glaubt, er könnte sich eine Rede ausdenken, die Schencks Tugend gerecht wird? (25) Ach, wie können wir jemals ausreichend darüber klagen, dass wir einen so großen Mann verloren haben? (26) Mit welchen Worten oder mit welcher Bewegung sollen wir die große Trauer beschreiben, die uns der Tod des Mannes, der uns allen am liebsten war und es auch sein musste, bereitet? (27) Wie vortrefflich gebildet unser Matthias Schenck war, geht auch daraus klar hervor, dass der Rat von Augsburg, als er von Schencks Plan, aus Konstanz wegzuziehen, erfahren hatte, den schönsten Beschluss fasste, Schenck durch einen Brief (der noch erhalten ist) auf den Posten des kranken Sixt Birck zu berufen. (28) Oder ist es etwa vorstellbar, der Rat hätte so gehandelt, wenn er nicht der Meinung gewesen wäre, Schenck sei ein so bedeutender und auf allen Gebieten so hervorragender Mann, dass er nicht zu unrecht zum Direktor des Augsburger Gymnasiums bestellt werden könnte? (29) Und was soll ich die vielen anderen Städte erwähnen, die ihn auch haben wollten? (30) Seine Tugend und Gelehrsamkeit waren so bekannt, dass er von verschiedener Seite eindringlich umworben wurde – und da sollen wir den Tod dieses Mannes nicht heftigst beweinen? (31) Wie dieser Mann so herausragend und so gelehrt wurde, habe ich, auch wenn man sich das leicht denken kann, teils von Schenck selbst, teils von anderen zuverlässigen Personen gehört; ich darf es jetzt in meiner Rede nicht übergehen, damit wir einsehen, dass wir uns besonders in den Dingen anstrengen müssen, mit denen sich Schenck sein Lob erworben hat – ein Lob, dessen Ruhm wir lieben müssen. (32) Denn obwohl aus ihm schon von

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etiam puero ingenium elucere videbatur, quod etiamsi doctrina et industria minus aleretur, valere suis viribus potuisset, tamen in id semper incubuit, ut sapientiae doctoribus maximis et celeberrimis uteretur. (33) Itaque cum ipse quidem patre, qui monetarius fuerat, et matre admodum immature privatus minus lautum ab iis, utpote ab omni avaritia alienissimis patrimonium accepisset, unde se sustentare commode non posset, a suis autem civibus sumptus ad studia necessarios consecutus esset, adolescens cognitis grammaticae praeceptis et fundamento reliquarum artium posito ad Argentoratenses sese contulit. (34) Ea enim urbs tum eruditissimis hominibus liberalissimisque studiis affluebat, inter quos primum locum occupabant Bucerus, Capito, Sturmius,40 Hedio, Andernacus, Schleidanus, Bedrotus, Sapidus Dassipodius, Herlinus, viri litterarum laudibus usque adeo abundantes, ut non tantum inferioris status homines, sed etiam nobili et illustri familia nati complures non solum ex Germania et vicinis regionibus, verum etiam ex remotissimis locis ipsorum causa Argentoratum advenerint. (35) Nactus igitur praeceptores eiusmodi Schenckius, quorum nonnulli sacras litteras, nonnulli philosophiae studia quam eruditissime tractabant, tam diligenter eos coluit atque audivit, ut diligentia, si non omnibus, at plerisque suis condiscipulis antecelleret. (36) Mox Petrus Dasypodius cum eius ingenium atque studium per[380v]spexisset, eum in familiaritatem recepit. (37) Hoc enim humanitatis ipsius fuit, ut adolescentem imprimis ingeniosum et optimis moribus praeditum amplecteretur. (38) Erat is occupatus illo tempore in dictionario, quod in puerorum manibus hodie versatur, componendo, cui cum praeclaram operam navasset Schenckius, non exiguam ab eo gratiam reportavit. (39) Neque vero unico Dasypodio carus atque iucundus erat, sed ipsi etiam Sturmio, academiae rectori,41 ceterisque viris doctissimis, quod non solum ab iis amabatur, qui eius diligentiam cognitam habebant,42 verum etiam si qui forte minus eum novissent, quando quidem bona indoles et frons pudica vel primo aspectu benevolentiam conciliat, etiam ignotum. (40) Postea satis diu Argentorati commoratus, cum Wittenbergensium quoque academia imprimis celebraretur, venit Wittenbergam. (41) Quae cum esset civitas doctissimis viris atque laudatissimis instructa, aliquamdiu etiam in ea civitate manere et divum Martinum et magnum Philippum, summos doctores, audire voluit. (42) Quorum tanta erat praestantia atque auctoritas, ut nemo esset, qui eos non summopere admiraretur, nunc licet mortui, constanti tamen fama atque omnium sermone praedicantur. (43) Cum illic aliquot annos in optimarum artium studiis sese exercuisset Schenckius, eius assiduitas et eruditio adeo innotuit, ut multi eum adhortarentur, vellet aliorum exemplo iis honoribus, qui in magisterio et in doctoratu, ut sic loquar, consistunt, decorari. (44) At ipse hoc semper recusavit, quod videret istos titulos etiam minus dignis tribui solere nec semper in iis decernendis vitam, mores atque [381r] eruditionem spectari. (45) Porro autem quoniam aliarum etiam scholarum celebriorum rationem cognoscere cupiebat, Marpurgum, Lypsiam, Haidelbergam, Tybingam profectus est, in quibus academiis cum gravi iudicio crebras in litteris exercitationes adhibuisset, eo iam se venisse animadvertit, ut patriae inservire plurimum posset. (45) Idcirco Constantiam reversus, postquam suis civibus, quorum liberalitate bonas artes didicerat, se non sine magna grati animi laude obtulit, ab iis iuventuti instituendae praefecto stipendium in annos singulos perquam honorificum decerni placuit. (46) Quaeret43 hic fortasse aliquis, cur Schenckius, vir ingenio et doctrina praestans et ampliore conditione dignus, munus susceperit scholasticum, cum id a plerisque despicatui ducatur, idiotis credo et insulsis hominibus. (47) At vero litterati

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Sturmius] Sturemius, Calvinus G academiae rectori] W habebant] habebat hs. Quaeret] quaret hs.

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Kindheit an ein solches Genie hervorzuleuchten schien, das, selbst wenn es durch Lehre und Fleiß weniger genährt worden wäre, auch aus eigenen Kräften stark geworden wäre, hat er sich dennoch stets Mühe gegeben, von den größten und bekanntesten Lehrern der Weisheit zu lernen. (33) Er hat seinen Vater, der Münzpräger war, und seine Mutter schon früh verloren und von ihnen, weil der Geiz bei ihnen keine Heimstatt hatte, ein nicht allzu üppiges Erbe bekommen, von dem er sich nicht erhalten konnte. Doch von seinen Mitbürgern hat er die für sein Studium nötigen Mittel bekommen. So ging er als junger Mann, nachdem er die Grammatik und die Grundlagen der restlichen schönen Künste gelernt hatte, nach Straßburg. (34) In dieser Stadt tummelten sich damals die gebildetsten und gelehrtesten Männer, unter denen allen voran Martin Bucer, Wolfgang Fabricius Köpfel, Johannes von Sturm, Kaspar Hedio, Johannes Winter von Andernach, Johannes Sleidanus, Jakob Bedrotus, Johannes Sapidus, Peter Hasenfuß und Christian Herlinus zu nennen sind, Männer, die so berühmt für ihre Bildung waren, dass nicht nur Menschen des unteren Standes, sondern auch mehrere Adelige, nicht nur aus Deutschland und den benachbarten Ländern, sondern auch aus den entferntesten Orten, um ihretwillen nach Straßburg kamen. (35) So bekam Schenck Lehrer, von denen manche sehr gelehrt die Heilige Schrift, andere wieder Philosophie behandelten. Er folgte ihnen und lernte so willig von ihnen, dass er an Sorgfalt, wenn nicht alle, so doch die meisten seiner Mitschüler übertraf. (36) Bald hat ihn Peter Hasenfuß, der sein Talent und seinen Fleiß erkannt hatte, in seine Hausgenossenschaft aufgenommen. (37) Denn auch das war ein Zeichen von Hasenfuß’ Bildung, dass er einen jungen Mann, besonders wenn er talentiert und von besten Sitten war, bei sich aufnahm. (38) Er war damals mit der Arbeit an dem Lexikon beschäftigt, das die jungen Leute auch heute noch benutzen; weil Schenck ihm bei dieser Arbeit zur Hand ging, hat ihm das keine geringe Dankbarkeit eingebracht. (39) Schenck war aber nicht nur Hasenfuß allein lieb und willkommen, sondern auch Johannes von Sturm, dem Rektor der Universität, und den restlichen Gelehrten; und er wurde nicht nur von denen geschätzt, die seine Sorgfalt bereits erkannt hatten, sondern auch, wenn einer ihn vielleicht noch nicht so gut kannte; denn sein guter Charakter und sein ordentliches Gesicht erzeugten vom ersten Augenblick an Wohlwollen, selbst bei einem Unbekannten. (40) Nachdem Schenck sich einige Zeit in Straßburg aufgehalten hatte, ging er nach Wittenberg, weil sich die Universität dort auch eines guten Rufes erfreute. (41) In dieser Stadt gab es äußerst gelehrte und hochanständige Männer, weswegen er einige Zeit dort bleiben und den heiligen Martin Luther und den großen Philipp Melanchthon, die großen Doktoren, hören wollte. (42) Deren Ruhm und Autorität waren so groß, dass es niemanden gab, der sie nicht über alles bewunderte; jetzt freilich sind sie schon tot, doch sie werden mit ewigem Ruhm gefeiert und bleiben in aller Munde. (43) Nachdem sich Schenck dort einige Jahre um das Studium der artes bemüht hatte, wurden seine Ausdauer und seine Bildung so bekannt, dass ihn viele aufforderten, er wolle sich doch nach dem Vorbild anderer mit den Ehren des Magisteriums oder des Doktorates schmücken. (44) Er aber hat dies immer abgelehnt, weil er sah, dass diese Titel auch Unwürdigen verliehen werden und dass bei der Verleihung nicht immer auf die Lebensführung, den Charakter und die Bildung geachtet werde. (45) Weil Schenck aber auch andere berühmte Schulen kennenlernen wollte, ging er nach Marburg, Leipzig, Heidelberg und Tübingen. Nachdem er an diesen Universitäten viele Kurse mit schweren Prüfungen abgeschlossen hatte, erkannte er, dass er nun soweit war, dass er seiner Heimat von Nutzen sein konnte. (45) Deshalb kehrte er nach Konstanz zurück und stellte sich seinen Mitbürgern, durch deren Freigiebigkeit er studieren konnte und die ihn jetzt lobten und ihm sehr dankbar waren, zur Verfügung. Sie beschlossen für ihn als Schuldirektor ein ehrenvolles Jahresgehalt. (46) Nun wird sich vielleicht jemand fragen, warum Schenck, dieser Mann von großer Begabung und Gelehrsamkeit, der einer höheren Stellung würdig gewesen wäre, die Tätigkeit in der Schule annahm, während dies doch von den meisten gering geachtet wird – freilich von Dummköpfen und ungebildeten Menschen. (47) Gebildete Menschen

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nihil eo honestius atque praeclarius esse iudicant, et44 recte quidem. (48) Quomodo enim suppetere nobis possent, qui ecclesiam, qui curiam gubernarent, in tanta hominum barbarie nisi extarent, qui eorum animos doctrina excolerent, aut qui societas posset consistere, nisi essent, a quibus ipsi ad humanitatem informarentur? (49) Quare si magistratus, si rei publicae gubernatores, si pacis conservatores, uti aequum est, maximi fiunt, quis tandem praeceptores, ex quorum ludo illi progrediuntur, contemnat aut quis eorum munus non magnae dignitatis esse arbitretur? (50) Atque hoc tamen Schenckius in suscipiendo docendi officio non magnopere spectavit, quod id externis et privatis etiam commodis conduceret, sed quia huius muneris functione quam maxime Deo (qui iis, qui docent, maius ceteris [381v] omnibus praemium dare pollicitus est) placere et patriae commodare45 se posse credebat. (51) Ideo a suis civibus praeesse iussus adolescentiae in sacris litteris et bonis artibus erudiendae, id non modo non invitus faciebat, sed eo maxime etiam delectabatur, in hunc scilicet unicum intentus scopum, ut Dei amans et patriae ab omnibus videretur. (52) Quamobrem vero ex ea tandem migraverit, iam ante diximus; cur enim istud non fecisset, cum conscientiae suae illic tuto inservire non posset?46 (53) Nempe id facere cum suis civibus prohibitus ab iis, quorum dominatu urbs non plane invita tenebatur;47 et quis illic maneat, ubi iam non evangelio et antiquae fidei,48 sed omnino vanis49 et impiis superstitionibus est locus? (54) Non profecto quisquam potest Christiani et boni viri nomen tueri, qui nolit quovis loco etiam patrio religionis ergo summa voluntate cedere. (55) Quare Schenckius noster cum apud suos puram de rebus divinis doctrinam iuventuti tradere haud tuto posset, alio migrandi causam longe iustissimam habuit Dei ipsius testimonio approbatam pollicentis se illis, qui propter eius nomen vel domum vel fratres vel patriam reliquerint, aeternam vitam esse donaturum. (56) Commodum igitur invitatus amplissimae huius rei publicae litteris, ut primarius Anneae50 scholae praefectus esset, cum civitatem patriam (cuius quidem casum tam miserabilem, tam repentinum pro eo, ac debuit, lugere numquam desiit) oculis lacrimantibus valere iussisset, cum uxore Elisabetha Lobhartnia, probatissima femina, et liberis ex ea pluribus Augustam non sine magna animi alacritate advenit, ubi sciret salva conscientia et maiore quam alibi iuventutis com[382r]modo se posse consistere. (57) Quam gratus et optatus populo Augustano ipsius adventus fuerit, a nobis dici vix potest. (58) Hoc certe constat hanc civitatem, in qua ipsa humanitas videtur habitare, pro suo erga liberatos homines amore nihil umquam praetermisisse, quod ad cohonestandum ipsum Schenckium eiusque officia remuneranda pertineret. (59) Etenim praeclarum de eo iudicium Augustani cives semper habebant, cui ipse quidem ita respondere studuit, ut hominum exspectationem non modo facile tueretur, sed etiam vinceret. (60) Quanam (Deus bone!) qua fide scholae praefuit, qua cura suo functus est munere, quanta utilitate tum Augustanorum, tum peregrinorum sobolem instituit? (61) Non enim illa sola in eo, qui alios utiliter docere velit, requiruntur, ars atque authoritas, quae quidem tanta in ipso fuere, quanta in multis51 huius gymnasii magistris, quos aut legimus aut audivimus, non fuerunt. (62) Quin etiam diligentia in omnibus rebus ut plurimum valet, haec nimirum colenda est, haec semper adhibenda tum praeceptoribus, tum discipulis, sine qua omnino nihil expetendum consequi possumus. (63) Hac igitur virtute ceterisque praeditus Mathias Schenckius ita accurate, qui ei erant commendati, tractavit, ut eorum non praeceptor, sed quasi pater esse videretur. (64) Sic enim persuasum habebat

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et] W commodare] inservire G conscientiae … posset] verum Deo cultum illic praestare non posset G non … tenebatur] erat occupata G antiquae fidei] Augustanae, quam vocant, confessioni G vanis] papatui G Anneae] Annae G multis] reliquis G

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sind natürlich der Meinung, dass es nichts Ehrenvolleres und Vortrefflicheres gibt, und sie haben Recht damit. (48) Wie würden wir denn Leute bekommen, die die Kirche oder den Staat leiten, wenn es unter so vielen ungebildeten Menschen nicht welche gäbe, die den Verstand der anderen mit Gelehrsamkeit nährten? Welche Gesellschaft könnte bestehen, wenn es nicht Menschen gäbe, die sie zur Bildung hinführen würden? (49) Wenn daher die Beamten, wenn die Lenker des Staates, wenn die Bewahrer des Friedens, wie es gerecht ist, das höchste Ansehen genießen, wer könnte dann die Lehrer, aus deren Schule diese Menschen hervorgegangen sind, geringschätzen? Wer könnte glauben, dass ihre Arbeit kein großes Lob verdient? (50) Als nun Schenck diese Aufgabe in der Schule übernahm, hat er nicht besonders darauf geachtet, zu welchen äußeren und privaten Vorteilen ihm dies gereichen würde; vielmehr glaubte er, durch die Übernahme dieses Amtes besonders Gott (der ja versprochen hat, den Lehrern einen größeren Lohn als allen anderen zukommen zu lassen) zu gefallen und seiner Heimat zu nützen. (51) Deshalb bekam er von seinen Mitbürgern den Auftrag, die Erziehung der Jugend in der Heiligen Schrift und in den artes zu leiten; das übernahm er nicht nur nicht ungern, sondern freute sich sehr darüber, wobei er das eine Ziel hatte, dass alle seine Gottes- und Vaterlandsliebe erkannten. (52) Warum Schenck Konstanz verlassen musste, haben wir bereits erwähnt. Warum hätte er das auch nicht machen sollen, wenn er den Aufenthalt dort nicht mehr mit seinem Gewissen vereinbaren konnte? (53) Daran wurde er nämlich zusammen mit seinen Mitbürgern durch die gehindert, die die Stadt nicht gänzlich gegen ihren Willen unter ihrer Gewalt hatten. Und wer könnte wohl dort bleiben, wo nicht mehr das Evangelium und der alte Glaube, sondern eitler und frevelhafter Aberglaube Platz findet? (54) Keiner kann den Namen eines guten christlichen Mannes bewahren, wenn er nicht von jedem beliebigen Platz, selbst aus der Heimat, freiwillig um des Glaubens willen weicht. (55) Weil unser Matthias Schenck also in seiner Heimat die reine theologische Lehre der Jugend nicht ohne Gefahr weitergeben konnte, hatte er als weithin gerechtesten Grund für sein Auswandern das Zeugnis Gottes, der versprochen hatte, er werde denen, die um seines Namens willen ihr Haus, die Brüder oder die Heimat verlassen, das ewige Leben schenken. (56) Es traf sich gut, dass er durch einen Brief von dieser vortrefflichen Stadt eingeladen wurde, als Direktor dem St.-Annen-Gymnasium vorzustehen, nachdem er mit weinenden Augen seiner Heimatstadt Lebwohl sagen musste; den elenden und so plötzlichen Schicksalschlag für seine Heimat hat er niemals aufgehört angemessen zu betrauern. So kam er mit seiner Gattin Elisabeth Lobhart, einer vortrefflichen Frau, und den zahlreichen Kindern, die sie ihm geschenkt hatte, mit großer Vorfreude nach Augsburg; hier wusste er, dass er sich reinen Gewissens und zum größeren Nutzen der Jugend als anderswo niederlassen konnte. (57) Wie überaus willkommen seine Ankunft dem Volk von Augsburg war, vermögen wir kaum zu sagen. (58) Es steht fest, dass diese Stadt, in der die Bildung selbst zu wohnen scheint, mit ihrer Liebe zu gebildeten Menschen nichts jemals ausgelassen hat, um Schenck zu ehren und seine Dienste zu belohnen. (59) Bei den Bürgern von Augsburg stand er nämlich immer in hohem Ansehen; er selbst bemühte sich, diesem Anspruch gerecht zu werden, indem er die Erwartungen der Menschen nicht nur leicht erfüllte, sondern sie sogar noch übertraf. (60) Guter Gott, wie zuverlässig leitete er die Schule, wie sorgfältig erfüllte er seine Aufgabe, wie nützlich bildete er die Sprösslinge von Augsburgern und Fremden aus! (61) Derjenige, der andere mit Gewinn unterrichten möchte, muss nicht nur Können und Autorität mitbringen. Schenck besaß diese Eigenschaften jedoch in so hohem Maß, wie sie viele Lehrer dieses Gymnasiums, von denen wir gelesen oder gehört haben, nicht besaßen. (62) Weil Sorgfalt in allen Dingen immer am wichtigsten ist, muss man auf sie besonderen Wert legen, muss sie sowohl von Lehrern, wie auch von Schülern stets gepflegt werden; denn ohne sie können wir nichts Erstrebenswertes erreichen. (63) Matthias Schenck, der mit dieser und den restlichen Tugenden ausgestattet war, hat die Schüler, die ihm anvertraut waren, so sorgsam behandelt, dass er nicht ihr Lehrer, sondern vielmehr ihr Vater zu sein schien. (64) Er war nämlich davon überzeugt,

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non fieri posse, ut doctores suo satisfaciant officio, nisi meminerint se parentum personam sustinere. (65) Itaque Schenckius pro sua in discipulos caritate fidelissime atque diligentissime eos erudivit in sacris litteris, in Latina, Graeca, Hebraica, linguis utilissimis in vera et falsa diiudicandi scientia, in commode dicendi [382v] ratione ita studiose exercuit, ut ex eius disciplina tamquam ex equo Troiano multi ad res gerendas apti prodirent. (66) Testis est ecclesia, quae huius beneficio pios et doctos theologos partim habuit, partim adhuc habet non paucos. (67) Testis est curia, quam plures ex eius officina progressi prudentissime gubernant. (68) Testes sunt varia gymnasia atque academiae, in quibus ab eo praeclare docti atque instituti alios magna cum laude instituunt. (69) Testes multae domus, quas ille ipse vigilantibus piis atque providis patribus familias instruxit. (70) Testes vero iam plures52 loci Christianae rei publicae, in quibus Schenckiani fructus et ediderunt et quotidie edunt uberrimos. (71) Fuit haec Schenckii singularis virtus, doctrina, diligentia et in docendo felicitas. (72) Atque utinam longior ipsi vita contigisset, ut nos ab eo diutius instituti ad eum finem, ad quem antecessores nostri, facilius pervenire et publicam utilitatem adiuvare potuissemus! (73) Nunc (proh dolor!) alienissimo nostro et florescentis iuventutis tempore nobis ereptus est atque ea aetate, qua summam talium virorum paucitatem esse videmus. (74) Nos igitur o miseros atque infelices, quantum damni ipsius intempestivo interitu nostra studia et res litterariae fecerunt! (75) O calamitosam et afflictam iuventutem, quae tam praeclarum amisit vivendi et agendi magistrum, o tristem tanti talisque viri morte rem publicam! (76) Nos, carissimi commilitones, fidelissimo praeceptore vel potius parente orbati sumus, nos animorum nostrorum altorem, nos moderatorem optimum perdidimus, qui praecipuum huius scholae columen et assiduus bonae disciplinae [383r] defensor, qui maximum Musarum53 dignitatis praesidium et strenuus54 litterarum propagator extiterat, huius e vita discessum an non dolentius deplorabimus? (77) Unde supeditabantur, qui ad sacra evangelii mysteria explicanda idonei, hominum animos curare, magistratus gerere, in foro et in aulis regum versari, toti denique civili societati, quam maxime possint, prodesse. (78) Eheu, talis viri occasus, quantum omnibus bonis attulit doloris! (79) Eum dolet iuventus, maeret gymnasium, lugent ea, quae abs scholis consistere non possunt: templa, curia atque adeo tota res publica, tam doctum, tam diligentem, tam ad litteras docendas aptum, tam excellentem hominem desiderant. (80) Nos quidem ipsius vicem non est, quod doleamus, etenim si non nobis, at certe ipse sibi satis vixisse existimandus est. (81) Quas nam laudes iis virtutibus religione, pietate, constantia, diligentia praeditus, humanitate, gravitate, prudentia suis erga rem litterariam beneficiis comparavit? (82) Ille Deum vera fide venerabatur, ille et sanguine coniunctis et amicis cultum tribuebat diligentem, ille in optimis rebus constans erat et sui perpetuo similis, in omni officio sedulus, erga pauperes comis, potentibus non infensus, bonis omnibus fautor, viris vero amplissimis patriciis Augustanis scholarchis consilio semper et opera et omni fide atque amore coniunctus et consentiens. (83) Ille omnia sua cogitata et actiones eo potissimum conferebat, ut ex hoc gymnasio, cui praefectus erat, maximus fructus ad universam civitatem perveniret eiusque honos et auctoritas magna apud omnes haberetur, id quod vel ex scriptis illius et nunc cognoscitur et posteritas omnis intelliget, quae Schenckius propter eorum, qui in dicendi artibus versantur, cognoscendis, utilitates in publicum [383v] edidit, scripta quidem eiusmodi, ut sicut hactenus, ita deinceps quoque nemini doctorum non placitura credantur, sed suos semper inventura lectores, et debitum ab iis praeconium, ut illa etiam oratio, quam ipse

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plures] omnes G Musarum] musarum G strenuus] strenus G

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dass Lehrer ihre Aufgabe nicht erfüllen können, wenn sie nicht daran denken, dass sie die Rolle der Eltern übernehmen müssen. (65) Weil Schenck seine Schüler liebte, hat er sie zuverlässigst und sorgfältigst in der Heiligen Schrift, in den Sprachen Latein, Griechisch und Hebräisch, die bei der Aufgabe, Wahres von Falschem zu unterscheiden, sehr nützlich sind, ausgebildet; auch in der Rhetorik hat er sie so eifrig trainiert, dass aus seiner Schule wie aus dem Trojanischen Pferd viele hervorgegangen sind, die für Leitungspositionen geeignet sind. (66) Bezeugt wird es von der Kirche, die aufgrund seines heilsamen Wirkens fromme und gelehrte Theologen in großer Zahl hatte und immer noch hat. (67) Bezeugt wird es vom Stadtrat, den viele, die aus seinem Unterricht hervorgegangen sind, mit größter Klugheit lenken. (68) Bezeugt wird es durch die Gymnasien und Universitäten, an denen Leute, die von ihm so klar unterwiesen und belehrt wurden, wiederum andere mit größtem Lob unterrichten. (69) Bezeugt wird es durch viele Haushalte, die er selbst mit umsichtigen, frommen und wachsamen Familienvätern versehen konnte. (70) Bezeugt wird es durch viele Orte christlichen Glaubens, an denen Schencks Jünger reichste Frucht getragen haben und täglich noch tragen. (71) Darin bestand Schencks einzigartige Tugend, Gelehrsamkeit, Sorgfalt und sein Geschick in der Lehre. (72) Hätte er doch länger gelebt, damit wir seinen Unterricht länger genießen, leichter zum selben Ziel wie unsere Vorgänger gelangen und der Öffentlichkeit nützen hätten könnten! (73) Nun aber – welcher Schmerz – ist er uns zur Unzeit, da unsere Jugend noch blüht, zu einem Zeitpunkt entrissen worden, da wir sehen müssen, dass es nur wenige Männer wie ihn gibt. (74) Ach, wir Armen und Unglücklichen! Welchen Schaden haben unsere Studien und die Bildung überhaupt durch seinen unerwarteten Tod genommen! (75) O elende und schwer getroffene Jugend, die einen so vortrefflichen Lehrer im Leben und Handeln verloren hat! O trauriger Staat, der den Tod eines so großen und bedeutenden Mannes betrauern muss! (76) Wir, geschätzteste Mitschüler, wurden des zuverlässigsten Lehrers oder vielmehr Vaters beraubt, wir haben den Nährer unseres Geistes, den besten Ratgeber verloren, der die feste Stütze dieser Schule und der unablässige Verteidiger der guten Lehre war, der der beste Schutz der Würde der Musen und ein entschlossener Verfechter der Bildung war. Sollen wir sein Ableben nicht noch schmerzhafter beweinen? (77) Woher werden nun die Leute kommen, die befähigt sind, die heiligen Geheimnisse der Frohbotschaft zu erklären, sich um das Heil der Menschen zu sorgen, den Staat zu verwalten, vor Gericht und bei Hofe aufzutreten, und schließlich der ganzen Gesellschaft, so gut sie können, zu nützen? (78) Wehe, wieviel Schmerz bereitet der Tod dieses Mannes allen gut Gesinnten! (79) Ihn beklagt die Jugend, es weint das Gymnasium, um ihn trauern die Einrichtungen, die ohne die Schulen nicht bestehen können: die Kirchen, die Rathäuser und der gesamte Staat. Denn sie sehnen sich nach einem so gelehrten, so sorgfältigen, so zur Lehre befähigten und so hervorragenden Mann. (80) Wir haben aber eigentlich keinen Grund, sein Schicksal zu betrauern, weil wir ja davon ausgehen müssen, dass er, wenn auch nicht für uns, doch für sich selbst lange genug gelebt hat. (81) Denn welches Lob hat er sich durch seine Tugenden erworben, durch seine Frömmigkeit, Beständigkeit, Sorgfalt, Bildung, seinen Ernst, seine Klugheit und seine Wohltaten gegenüber der Wissenschaft? (82) Er hat Gott in wahrem Glauben verehrt, hat sich um seine Verwandten und Freunde gekümmert, er war in den besten Dingen stets beständig und sich selbst treu, war bei jeder Aufgabe ausdauernd, war den Armen gegenüber freundlich, den Mächtigen nicht verhasst, hat alle Guten gefördert; den Patriziern von Augsburg, die das Scholarchat innehatten, stand er stets mit Rat und Tat zur Seite, war ihnen in Loyalität und Liebe verbunden und arbeitete harmonisch mit ihnen zusammen. (83) All sein Denken und Handeln richtete er darauf, dass aus diesem Gymnasium, dem er vorstand, der größte Nutzen für die gesamte Bürgerschaft hervorgehe und dass alle erkennen, wie ehrenvoll und einflussreich es ist; dies ersieht man jetzt noch aus seinen Schriften, und das wird auch noch die Nachwelt erkennen: Schenck hat sie zum Nutzen derer, die sich mit Didaktik beschäftigen, herausgegeben, und so wie jetzt werden sie auch sicherlich später keinem Gelehrten missfallen, sondern immer ihre Leser und das verdiente Lob finden; dazu gehört jene Rede, die er selbst

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monitus a nonnullis Germaniae principibus proxime hic celebratis comitiis ad optimum maximum imperatorem nostrum et illustrissimos electores ceterosque sacrosancti imperii ordines scripsit, imprimis doctam, politam atque gravem, pro Constantia in pristinum statum restituenda. (84) Unde praeter singulare ingenium ipsius amor erga patriam summus, qui perspicitur, ab omnibus mirifice praedicari nunquam desinet. (85) Quare praeceptor noster pia memoria dignissimus, cum mortuus tantam gloriae materiam reliquerit, non immerito ipsius vicem dolere non debemus, quod si illa etiam spectantur, ut certe debent, quibus ipsis quoque adduceremur, ut illum sibi satis vixisse dicamus: nullius umquam liberi simul omnes tam bene educati, tam morati quam Mathiae Schenckii frequentes evaserunt. (86) Duos ipse filios, Ioannem et Mathiam, alterum clarissimum virum medicinae doctorem et amplissimae rei publicae Norinbergensis physicum, reliquit, alterum puerum spe et ingenii et animi excellentem, filias vero omnino plures laude pudicitiae et rei familiaris administrandae scientia ita praeclaras, ut quaedam viris honestissimis iam nupserint. (87) De ceteris similiter nemini dubium esse debeat, quin optimis adeptura sint martitos. (88) Itaque non est, cur eius vicem lugeamus, satis enim diu vixit, qui gloriose vixit et suos ingenue et liberaliter educatos reliquit. (89) Iam vero ipsius Schenckii vita, quam prope ad quinquagesimum quintum annum perduxerat, ut honestissima fuit, ita probatissimum habuit exitum. (90) Neque enim diuturno morbo [384r] conflictatus decubuit, sed cum vix decem dies febricula quadam pestilenti aegrotasset, extinctus leviter nudius tertius (qui fuit duodecimus dies Kalendas Augusti, nobis quidem, proh dolor, infelicissimus) lucis hanc usuram amisit, maxime pie in Christo mortuus, cum ut sic mori posset, se diligentissime praeparasset. (91) Tametsi enim semper hoc modo instructus erat, ne ullo tempore imparatus offenderetur a morte, tamen hoc anno gravissimo, quo hinc sibi discedendum esse quodam modo praevidebat, magis omnino quam antea ex huius vitae laqueis se expedire studuit et depositis humanarum rerum cogitationibus ad caelestia mentem conferre, tum nos discipulos et domesticos suos assidue et paterne hortabatur ad ea, quae ipse ante oculos posita diligenter habebat, ad horam mortis considerandam, ad novissimi diei, ad perpetuae laetitiae, ad sempiterni cruciatus meditationem et propterea ad vitam secundum Dei mandata recte instituendam admonebat. (92) Necessaria igitur praeparatione ad moriendum adhibita non tamquam impius, sed ut verissimus Christianus decessit Schenckius, ita ut nulla sit causa, cur eius vicem maereamus, atque eo etiam minus, quod mortuo funus factum est amplissimum totius scholae ac omnium bonorum praesentia cohonestatum. (93) Quo quidem ipsi defuncto nihil esse potuisset honestius atque gloriosius. (94) O mortem igitur praeceptoris nostri praeclaram atque ei nullo modo malam! (95) Non es55 extinctus neque occidisti, Mathia Schencki, sed liberatus humanae vitae miseriis et compagibus corporis, ianua caeli per lethum56 tibi patefacta, in illas beatissimas oras migrasti, quo neque mors neque dolor neque vis [384v] ulla morbi aut calamitatis aspirat, ubi placidissima quies, dulcissima pax et vita sempiterna vigent. (96) In his tu locis confidenter illum diem exspectas, quo filius Dei, Iesus Christus, venturus est ad dignam de vivis et mortuis sententiam ferendam. (97) Vivit optima anima tua, vivit una cum aliis sanctis et castis animis, quibus maximus ille omnium rerum creator et dominus ex abundantissimo sui numinis fonte aeternas voluptates, laetitias, iucunditates profundit. (98) Non contaminavit nomen tuum falsa religio, non erga parentes atque patriam impietas, non erga externos inhumanitas, non officii tui negligentia, non a mente et recta ratione defectio, non animi demissio, immo verum omnis posteritas iustitiam tuam, prudentiam, modestiam, fortitudinem praedicabit. (99) Quas quidem virtutes, utinam Deo placuisset, ut diutius exercere huius scholae et publicae utilitatis causa

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es] est hs. lethum] laethum hs.

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auf Aufforderung einiger deutscher Fürsten auf dem vor kurzem hier abgehaltenen Reichstag an unseren Kaiser, die Kurfürsten und die übrigen unantastbaren Reichsstände gehalten hat. Sie ist besonders gelehrt, ausgefeilt und ernst; es geht darum, Konstanz wieder in seinen alten Zustand zurückzuversetzen. (84) Neben Schencks einzigartiger Begabung werden alle niemals aufhören, seine große Liebe zur Heimat, die man aus dieser Rede erkennt, außerordentlich zu preisen. (85) Weil nun unser Lehrer, der frommen Angedenkens würdigst ist, im Tod so viel Stoff für Ehrenbezeugungen zurückgelassen hat, dürfen wir sein Los mit Recht nicht betrauern, vor allem wenn wir uns ansehen – und wir müssen das ansehen – was uns zu der Behauptung führt, dass Schenck für sich lange genug gelebt hat: Keines Mannes Kinder waren jemals alle so gut erzogen und so gesittet, wie die vielen, die er hatte. (86) Er hatte zwei Söhne, Johannes und Matthias: Der eine ist ein berühmter Doktor der Medizin und Stadtphysikus in Nürnberg, der andere ist noch ein Knabe, dessen Begabung und Geist auf Großes hoffen lassen. Schenck hatte auch mehrere Töchter, die sich durch ihre lobenswerte Keuschheit und durch das Wissen um die Haushaltsführung so auszeichneten, dass manche schon sehr ehrenwerte Männer geheiratet haben. (87) Auch bei den restlichen kann es keinen Zweifel geben, dass sie nur die besten Ehemänner bekommen werden. (88) Also haben wir keinen Grund, über sein Schicksal zu weinen, denn lange genug hat gelebt, wer ehrenvoll gelebt und gut und freigiebig erzogene Kinder hinterlassen hat. (89) Wie Schencks Leben, das fast 55 Jahre gedauert hatte, das anständigste war, so hatte er auch den schönsten Tod. (90) Er lag nämlich nicht im Kampf gegen eine langwierige Krankheit darnieder, sondern entschlummerte sanft, nachdem er kaum zehn Tage an einem unheilvollen Fieber erkrankt war, und sieht seit vorgestern (den 23. Juli, für uns, ach weh, ein Unglückstag) das Licht der Welt nicht mehr; er verschied fromm in Christus, weil er sich sorgfältigst auf seinen Tod vorbereitet hatte. (91) Obwohl er sich immer so eingerichtet hatte, dass ihn der Tod zu keiner Zeit unvorbereitet traf, hat er dennoch in diesem Jahr, für das er irgendwie seinen Tod vorhergesehen hatte, mehr als je zuvor versucht, sich von den Fesseln dieses Lebens freizumachen, vom Denken an Irdisches abzulassen und seine Gedanken auf den Himmel zu richten; uns Schüler und Hausgenossen hat er beständig und väterlich dazu aufgefordert, was er selbst sich immer sorgfältig vor Augen stellte: zum Nachdenken über die Stunde unseres Todes, über den Jüngsten Tag, über die ewige Freude, über immerwährende Qual. Deshalb ermahnte er uns, unser Leben richtig nach den Geboten auszurichten. (92) Mit dieser notwendigen Vorbereitung auf den Tod starb Schenck nicht wie ein Sünder, sondern wie ein wahrer Christ, so dass es keinen Grund gibt, warum wir seinen Tod betrauern sollten, noch weniger, da dem Toten ein Ehrenbegräbnis in Anwesenheit der ganzen Schule und aller Guten bereitet wurde. (93) Für den Verstorbenen konnte es nichts Anständigeres und Ehrenvolleres geben. (94) O berühmter Tod unseres Lehrers, der ihm keinesfalls lästig war! (95) Du wurdest nicht ausgelöscht, bist nicht zugrunde gegangen, Matthias Schenck, sondern wurdest vom Elend des menschlichen Lebens und den Fesseln des Körpers befreit; durch den Tod ist dir das Tor zum Himmel geöffnet; du bist in jene seligsten Gefilde hinübergegangen, wohin weder Tod noch Schmerz noch irgendeine schlimme Krankheit oder Leid gelangen können, wo sanfteste Ruhe, süßester Friede und ewiges Leben herrschen. (96) An diesem Ort wartest du zuversichtlich auf jenen Tag, an dem Jesus Christus, Gottes Sohn, kommen wird, um zu richten die Lebenden und die Toten. (97) Deine vortreffliche Seele lebt, sie lebt zusammen mit den anderen heiligen und reinen Seelen, denen der größte Schöpfer und Gebieter aller Dinge aus der nie versiegenden Quelle seines Namens ewige Lust, Freude und Behaglichkeiten zuströmen lässt. (98) Nicht hat deinen Namen die falsche Religion beschmutzt, nicht Undankbarkeit gegenüber Eltern oder Heimat, nicht Unfreundlichkeit gegenüber Fremden, nicht Nachlässigkeit in deiner Pflicht, nicht Dummheit oder Unvernunft, nicht Wahnsinn; vielmehr wird jede Nachwelt deine Gerechtigkeit, deine Klugheit, Mäßigung und Tapferkeit preisen. (99) Hätte es Gott doch gefallen, dass du diese Tugenden länger für den Nutzen dieser Schule und der Gemeinde

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potuisses! (100) Nunc vero non sane famam illorum (quae summa est et futura perpetuo), sed quasi usum fructum scholae, civitatis et rei publicae negavit dissolutio naturae et occupatio mortis, qua Deus tibi non vitam eripuit, sed dedit, non ad interitum praecipitavit, sed exitio liberavit, non ad infernos cruciatus detrusit, sed ex hoc malorum et miseriarum pelago in portum omnium Christianorum tandem transtulit, sedem paradisi beatissimam. (101) Quod cum ita sit, haudquaquam tuam nos vicem dolemus, praeceptor carissime! (102) Neque enim tu id fieri vis neque Christianae religionis ratio patitur, ut eos, qui laudabiliter vixerunt pieque mortui sunt et quorum memoriam homines cum summa gloria retinent, lugeamus. [385r] (103) Fortunam potius nostram, humanissimi commilitones, nostram inquam fortunam et huius gymnasii calamitatem, rei publicae dolorem maeremus. (104) Hanc in summa maestitia versari, propterea quod eum amisit, cuius institutione idonei fierent homines, quibus ipsa regenda et adiuvanda recte committeretur, tristissimam esse scholam videmus, quae tali orbata est viro, qui vitae studiosus honestissimae, excellens doctrina et sapientia erat, maxime aptus ad docendum, in officio diligens et fidelis semper extiterat. (105) Et nos, huius alumni, quo tandem animo, quanto maerore sumus afflicti? (106) Quid enim nos amplius delectare potest eo mortuo, cui nihil erat gratum, nisi quod civitati dignitatem, huic loco gloriam, nobis vero †utilitatem† cum maxima utilitate coniunctum afferret? (107) Perdidimus, humanissimi auditores, omnem delectationis causam, perdidimus qui Mathiam Schenckium, qui virum optimum, qui hominem doctissimum et praeceptorem fidelissimum, qui nostrorum animorum educatorem, vitae moderatorem, otii, fortunae salutisque nostrae amantissimum amisimus! (108) Nam quomodo deinceps vivemus aut quam metam aetas nostra et florescens iuventus pertinget ipsius virtutis fructu, amore, fide, sapientissimis consiliis, utilissimis praeceptis, vultu, ore, oculis, consuetudine suavissima iucundissimaque sublata? (109) O magnam doloris nostri atque lamentationis causam! (110) An vero maior et molestior his temporibus in tanta talium virorum penuria et hac vitiorum frequentia accidere nobis potuisset? (111) Nos profecto quandoquidem magis optamus, quam speramus, alium Schenckio virtute, eruditione, diligentia similem [385v] esse successurum. (112) At nobis ea tamen semper sunt grave dolenda, quo minus resarciri posse videantur. (113) Itaque nimirum luctus noster longe iustissimus est atque maximus. (114) Cuius quidem ut non obscuram significationem et iis, qui nunc sunt, demus et posteris relinquamus, utque grati erga talem virum tam bene de nobis, de hac schola et tota re publica57 meritum omnibus videamur, sic censeo, carissimi commilitones, ut mortuo praeceptori nostro monumentum cum debito elogio quam amplissimum nostris plurimorum sumptibus statuatur. (115) Etsi enim non dubito, quin scholarchae, viri sapientissimi, et civitas ipsa Schenckii sepulchrum imprimis honorifice sit exornatura pro eo, ac eius virtus et merita postulant. (116) Nec praeterea ipsius coniunx, liberi generique pro suo erga maritum amore, erga parentem caritate, erga socerum observantia sint commissuri, ut eum non hoc extremo officio maesti prosequantur eiusque tumulum omni honore cohonestent, tamen nos nihilo secius nostro ipsi nomine debita ornamenta honoris laudisque insignia collocabimus, sicuti Socratis, Platonis, Aristotelis et aliorum discipuli suis praeceptoribus fecisse mortuis feruntur. (117) Quemadmodum enim eorum pietas et grati animi studium etiam hodie non desinit praedicari, ita nostrum pulcherrimum consilium perpetuis laudibus efferetur nec umquam de nobis hominum gratissimus sermo conticescet. (118) Fiat igitur, humanissimi commilitones, fiat praeceptori nostro pro suis summis erga nos beneficiis monumentum, nostra et parentum cognatorumque nostrorum pecunia, qui hanc

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re publica] Resp. hs.

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einsetzen hättest können! (100) Nun aber hat die natürliche Auflösung und Einnahme durch den Tod nicht den Ruhm dieser Tugenden (der riesig ist und ewig halten wird), wohl aber deren Nutzen für die Schule, die Stadt und den Staat unterbunden; dadurch hat dir Gott nicht das Leben entrissen, sondern gegeben, er hat dich nicht ins Verderben gestürzt, sondern hat dich vor dem Tod bewahrt, hat dich nicht in die Höllenqualen hinabgestürzt, sondern aus diesem Meer der Übel und des Elends in den Hafen aller Christen geführt, in den seligsten Sitz des Paradieses. (101) Weil das so ist, betrauern wir dein Schicksal nicht, liebster Lehrer! (102) Denn weder wünschst du, noch gestattet es die christliche Religion, dass wir diejenigen betrauern, die lobenswert gelebt haben, fromm entschlafen sind und deren Andenken die Menschen hoch in Ehren halten. (103) Unser Schicksal, gebildetste Mitschüler, unser Schicksal, sage ich, und den Verlust für dieses Gymnasium, den Schmerz für den Staat betrauern wir. (104) Wir sehen, dass der Staat trauert, weil er den Mann verloren hat, aus dessen Schule Männer hervorgegangen sind, denen er sich für die rechte Verwaltung und Lenkung anvertrauen konnte; und wir sehen, dass die Schule trauert, der ein solcher Mann geraubt wurde, der sich um ein äußerst ehrenwertes Leben bemühte, von vortrefflicher Gelehrsamkeit und Bildung war, eine besondere Eignung zur Lehre hatte, in seinen Aufgaben sorgfältig und stets zuverlässig war. (105) Und wir, seine Schüler, wie fühlen wir uns, welche Trauer befällt uns? (106) Was kann uns jetzt noch erfreuen, da Schenck tot ist, dem doch nichts willkommen war, außer der Stadt Würde, dieser Schule Ehre, uns aber Bildung mit größtem Nutzen bringen zu können? (107) Gebildetste Zuhörer, wir haben jeden Grund zur Freude verloren, da wir Matthias Schenck verloren haben, den besten Mann, den gebildetsten Menschen, den zuverlässigsten Lehrer, die wir den Erzieher unseres Charakters, den Bändiger unseres Lebens verloren haben, der unsere Muße, unser Los und unser Heil geliebt hat. (108) Denn wie werden wir jetzt leben, zu welchem Ziel werden unsere Altersgenossen und die blühende Jugend gelangen, nachdem uns die Frucht seiner Tugend, seine Liebe, seine Treue, seine klugen Ratschläge, seine nützlichen Vorschriften, sein Antlitz, sein Gesicht, seine Augen, seine angenehmen und erfreulichen Gewohnheiten genommen sind? (109) O großer Anlass für unsere Trauer und unser Weinen! (110) Oder hätte es noch einen größeren und schlimmeren Grund in diesen Zeiten der Armut an bedeutenden Männern und der vielen Laster geben können? (111) Wir freilich wünschen uns mehr, als dass wir es hoffen, dass ein Mann, der Schenck an Tugend, Bildung und Sorgfalt vergleichbar ist, ihm nachfolgen wird. (112) Denn wir trauern immer besonders über etwas, je weniger es scheint, dass es sich ersetzen lässt. (113) Deshalb ist unsere übergroße Trauer zu Recht so groß. (114) Um aber kein dunkles Zeugnis für unsere Trauer bei den Leuten von heute und bei der Nachwelt zu hinterlassen, und um uns einem so großen Mann, der sich um uns, um diese Schule und um den ganzen Staat verdient gemacht hat, dankbar zu erweisen, glaube ich, liebste Mitschüler, sollte unserem toten Lehrer ein möglichst großes Denkmal mit einer gebührenden Inschrift hauptsächlich auf unsere Kosten errichtet werden. (115) Ich zweifle freilich nicht daran, dass die Scholarchen, äußerst verständige Männer, und die Stadt Augsburg selbst Schencks Grabmal besonders ehrenvoll schmücken werden, wie es seine Tugend und seine Verdienste fordern; (116) außerdem werden es seine Frau, seine Kinder und Schwiegerkinder wegen ihrer Liebe zu ihrem Ehemann, Vater und Schwiegervater nicht zulassen, dass sie ihm diesen letzten Dienst nicht traurig erweisen und sein Grab mit jeder Ehre bedenken. Dennoch sollten wir auch in unserem Namen die gebührenden Ehrenbezeugungen und Lobesbekundungen abgeben, wie es auch Sokrates’, Platons, Aristoteles’ und anderer Männer Schüler ihren Lehrern erwiesen haben sollen. (117) Denn wie die Frömmigkeit und der geistige Eifer dieser Männer auch heute noch gepriesen wird, so wird auch unser schönster Plan stets gelobt werden, und niemals wird die Dankbarkeit der Menschen uns gegenüber verstummen. (118) Es entstehe also, gebildetste Mitschüler, es entstehe für unseren Lehrer, der uns so große Wohltaten erwiesen hat, ein Denkmal, auf unsere und unserer Eltern und Verwandten Kosten, die diesen

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suorum voluntatem sine dubio [386r] libenter adiuvabunt, ut exstet ad memoriam posteritatis sempiternam, ad virtutem optimi viri, ad doctrinam hominis clarissimi, ad praeceptoris fidelissimi merita in rem litterariam maxima, ad eius discipulorum huiusque lycei pietatem, utque hoc opus, quicumque viderint, de nobis quam gloriosissime loquantur hos doctoris nostri titulos in marmore incisos conspicati: (119) D O M MATHIAE SCHENCKIO CONSTANTIENSI VIRO OPTIMO, HOMINI AD DOCENDUM APTISSIMO, MODERATORI AUGUSTANI GYMNASII AD D. ANNAM SAPIENTISSIMO PRAECEPTORI FIDELISSIMO PIE QUIDEM, SED NON SINE MAXIMO TAMEN SUORUM, ECCLESIAE, SCHOLAE, REI PUBLICAE ATQUE ADEO BONORUM OMNIUM LUCTU MORTUO DISCIPULI MAESTI MONUMENTUM HOC NON MEMORIAE, QUAM IPSE SIBI IMMORTALEM, SUA VIRTUTE, DOCTRINA, SUMMIS ERGA REM LITERARIAM BENEFICIIS COMPARAVIT, SED DEBITAE PIETATIS ERGO F F ANNO ETC.

(120) Hoc factum, carissimi commilitones, quam nos decere et quantam nobis gloriam allaturum existimatis? (121) Utinam igitur mox appareat, ego quidem ad eam rem operam dabo, quam possum. (122) Nec vero [386v] de vestra voluntate dubito, quos si suspicarer me minus diligentes esse officii atque laudis honestae minusque cupidos grati animi erga Schenckium praeceptorem nostrum declarandi, plura in hanc sententiam necessario proferrem. (123) Nunc tandem finem dicendi faciam! (124) Quamquam longiorem omnino et diligentiorem orationem tanti homines laudes et noster ex eius obitu luctus desiderant, sed nos quo diutius de ipsius praestantia loquimur, eo graviore non affici dolore non possumus, quo maiorem nobisque utiliorem virum amisisse meminimus. (125) At vero qui gravius sibi quem hominem morte ereptum lugent, quia videntur non tam caelesti creatori quam eius operibus confidere, ne nos contra religionem salutemque nostram facere videamur, ideo nimirum nostro dolori declarando et lamentationi modum statuere debebimus Deumque potius rogare, ut quod fecimus damnum, clementer reficiat et pro nostra quisque parte in id incumbere, ut ipsius iustam erga nos iram cum veneratione et cultu precibusque nostris tum disciplinae studio et honestis actionibus avertere vel mitigare saltem possimus. (126) Te igitur, Iesu Christe, per misericordiam tuam erga genus humanum etiam atque etiam rogamus, ne desinas tueri scholas atque bonas disciplinas, sine quibus nec ecclesia nec salutaris evangelii tui praecones conservari possunt nec res publica iustis et sapientibus gubernatoribus constitui, ne respicias peccata nostra et animum ingratum, sed tuam potius clementiam. (127) Custodi, orna, amplifica nos ad perpetuam nominis tui [387r] gloriam et nostrae animae salutem. (128) Largire nobis sanctum spiritum tuum et viros doctos, qui summo studio nos ad veram religionem informent, animos nostros excolant et viam recte vivendi demonstrent, et quoniam nunc eiusmodi virum studiis nostris et huic scholae necessarium tempore imprimis necessario amisimus, suppedita nobis, o Christe, alium in mortui locum aeque ideneum et hoc gymnasium ceteraque virtutum et bonarum artium domicilia ab omni calamitate conserva! (129) Hoc te ex animo oramus atque obtestamur, clementissime Deus, cui sit laus, honor, gloria in aeternum. Amen.

Lucas Geizkofler zwischen Innsbruck und Augsburg

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Wunsch ihrer Kinder ohne Zweifel gerne unterstützen werden, damit zur ewigen Erinnerung bei der Nachwelt für die Tugend des besten Mannes, für die Bildung des bekanntesten Menschen, für die Verdienste des zuverlässigsten Lehrers der gelehrten Welt gegenüber, für die Frömmigkeit seiner Schüler und dieses Gymnasiums ein Denkmal entstehe; wer immer dieses Denkmal sieht, soll möglichst ehrerbietig über uns sprechen, wenn er folgende in Marmor gehauene Inschrift auf unseren Lehrer gesehen hat: (119) Gott, dem besten, dem größten! Für Matthias Schenck aus Konstanz, den besten Mann, der zur Lehre äußerst befähigt war, den weisesten Direktor des Augsburger St.-Annen-Gymnasiums, den zuverlässigsten Lehrer, haben fromm und nicht ohne die größte Trauer seiner Freunde, der Kirche, der Schule, des Staates und aller Guten überhaupt bei seinem Tod die traurigen Schüler dieses Denkmal nicht der Erinnerung – denn diese hat er sich selbst durch seine Tugend, seine Gelehrsamheit und die größten Verdienste um die gelehrte Welt verschafft – sondern der verdienten Frömmigkeit errichten lassen im Jahr u.s.w. (120) Was glaubt ihr, liebste Mitschüler, wie gut uns diese Tat anstehen würde und welche Ehre sie uns einbringen könnte? (121) Möge sie bald verwirklicht werden! Ich jedenfalls werde mich nach Kräften darum bemühen. (122) Und auch an eurem Willen zweifle ich nicht; denn wenn ich den Verdacht hegte, dass euch dieser Dienst und dieses ehrenvolle Lob weniger am Herzen läge als mir und dass ihr weniger begierig wäret, eure Dankbarkeit unserem Lehrer Schenck gegenüber auszudrücken, würde ich notwendigerweise noch mehr Argumente für diese Sache vorbringen. (123) Nun aber will ich zum Ende meiner Rede kommen! (124) Freilich würde das Lob eines so bedeutenden Mannes und unsere Trauer über seinen Tod eine noch längere und sorgfältiger ausgearbeitete Rede erfordern; aber wir können, je länger wir über seine Vorzüge reden, nicht anders, als noch größeren Schmerz zu verspüren, je mehr wir uns daran erinnern, dass wir einen großen und uns so nützlichen Mann verloren haben. (125) Weil nun aber diejenigen, die allzu sehr darüber trauern, wenn ihnen ein Mensch durch den Tod entrissen wurde, nicht so sehr dem himmlischen Schöpfer als seinen Werken zu vertrauen scheinen, werden wir, um nicht den Anschein zu erwecken, gegen die Religion und unser Heil zu handeln, uns im Zeigen unseres Schmerzes einbremsen und vielmehr Gott bitten müssen, dass er den Schaden, den wir erlitten haben, mild ausgleiche; jeder von uns muss sich nach Kräften anstrengen, dass er Gottes gerechten Zorn auf uns sowohl durch Verehrung und Gebete als auch durch gelehriges Studium und ehrenhafte Taten abwende oder zumindest milder mache. (126) Dich also, Jesus Christus, flehen wir bei deinem Erbarmen mit dem Menschengeschlecht immer wieder an, dass du nicht aufhörst, die Schulen und die gute Bildung zu beschützen, ohne die weder die Kirche, noch die Künder deiner Heilsbotschaft erhalten, noch der Staat von gerechten und verständigen Lenkern eingerichtet werden kann. Schau nicht auf unsere Sünden und unsere Undankbarkeit, sondern auf deine Milde! (127) Bewache uns, schmücke uns und mache uns fähig zum ewigen Ruhm deines Namens und zum Heil unserer Seele! (128) Schenke uns deinen heiligen Geist und gelehrte Männer, die uns mit größtem Eifer zur wahren Religion bringen, sich um unsere Seelen kümmern und den Weg für das richtige Leben zeigen! Weil wir nun einen solchen Mann, der für unsere Studien und für diese Schule notwendig ist, in einer sehr heiklen Zeit verloren haben, schenke uns, o Christus, einen Nachfolger für den Verstorbenen, der ähnlich geeignet ist, und bewahre dieses Gymnasium und die restlichen Heimstätten der Tugenden

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Florian Schaffenrath

und der artes vor jedem Unheil! (129) Darum bitten wir dich, darum flehen wir dich von Herzen an, gütigster Gott, dem Lob, Ehre und Ruhm sei in Ewigkeit. Amen.

IV. Lateinhumanistisches und volkssprachliches Schuldrama

Silvia Serena Tschopp

Protestantisches Schultheater und reichsstädtische Politik Die Dramen des Sixt Birck

Als der Augsburger Magistrat im Jahre 1536 Sixt Birck als Primarius, d. h. Rektor des 1531 gegründeten Gymnasiums St. Anna berief, tat er dies wohl nicht zuletzt deshalb, weil der ursprünglich aus der schwäbischen Reichsstadt stammende Gelehrte in Basel, wo er seit 1523 lebte, bereits Erfahrungen als Schulmeister gesammelt hatte. 1530 war Birck als Lehrer an die St.-Theodor-Schule berufen worden, 1534 hatte er die Leitung des im ehemaligen Dominikanerkloster eingerichteten Pädagogiums übernommen.1 In seiner Heimatstadt, die er ungeachtet eines Rufs an die Universität Tübingen nicht mehr verließ, versah er während sechzehn Jahren das Amt des Rektors von St. Anna, bevor er 1552 seine Unterrichtstätigkeit aus gesundheitlichen Gründen aufgeben musste. Ungeachtet seiner langjährigen und von den Zeitgenossen wiederholt gelobten schulischen Arbeit verdankt Birck seinen Nachruhm allerdings weniger seinem pädagogischen Engagement, sondern vielmehr seinem Wirken als Gelehrter und vor allem seiner Tätigkeit als Dramatiker. Als Magister der Universität Basel, der in Erfurt, u. a. bei Eobanus Hessus und Euricius Cordus, studiert, in Tübingen den Titel eines Bakkalaureus erworben und schließlich in Basel, u. a. bei Heinrich Glarean, Konrad Pellikan und Johannes Oekolampad, Vorlesungen in Latein, Griechisch, Hebräisch, Mathematik, Jurisprudenz, Philosophie und Theologie besucht hatte, verfügte er über eine umfassende humanistische Bildung; eine Konkordanz zum griechischen Neuen Testament, Editionen und Kommentare griechischer und römischer Texte, darunter als seine bedeutendste wissenschaftliche Leistung die 1563 postum erschienene kommentierte Ausgabe der Werke des Kirchenvaters Laktanz, weisen ihn als versierten Philologen aus. Nachhaltiger noch als die Wirkung seiner gelehrten Schriften war diejenige seiner deutschen und lateinischen Dramen, die ihm bis heute einen festen Platz in den Literaturgeschichten des deutschsprachigen Raums gesichert haben. In Wilhelm Creizenachs monumentaler Geschichte des neueren Dramas wird Birck als „früheste[r] und einflussreichste[r] Vertreter“ einer Richtung gewürdigt, deren Anliegen darin bestanden habe, „die überlieferte mittelalterliche Form [des Dramas, A. d. V.] zu einem neuen, protestantisch-humanistischen ––––––––– 1

Zur Biographie Sixt Bircks vgl. Ernst Messerschmid: Sixtus Birk (1500–1554). Ein Augs-

burger Humanist und Schulmeister zur Zeit der Reformation. Ein Beitrag zur Geschichte des höheren Schulwesens im Zeitalter der Reformation. Diss. masch. Erlangen 1922, III. 1–28.

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Silvia Serena Tschopp

Stil umzubilden;“2 in Wolfgang F. Michaels Monographie Das deutsche Drama der Reformationszeit erscheint Birck als Begründer eines neuen Dramentypus’, des humanistisch geprägten protestantischen Bibeldramas.3 Birck gehört außerdem zum überschaubaren Kreis jener deutschen Dramatiker des 16. Jahrhunderts, deren für die Bühne bestimmte Werke nicht nur durch Aufsätze, sondern auch durch monographische Studien erschlossen wurden und mittlerweile in einer historisch-kritischen Ausgabe vorliegen. 4 Dennoch wird man nicht behaupten können, Bircks dramatisches Schaffen sei gut erforscht. Wie die lateinischen und volkssprachlichen Bühnendichtungen des 16. Jahrhunderts generell sind auch Bircks Dramen noch kaum systematisch analysiert worden; ebenso unbefriedigend wie die bislang vorliegenden Werkdeutungen ist der Forschungsstand zu den spezifischen bildungsgeschichtlichen, konfessionellen und politischen Voraussetzungen ihrer Entstehung oder den Modi ihrer Präsentation und Rezeption. Beschränkt sich Josef Franz Schöberls Dissertation aus dem Jahre 1919 in gut positivistischer Manier auf den Nachweis der Vulgata als biblischer Quelle der birckschen Dramen,5 gelangen die meisten anderen Darstellungen nicht über eine Paraphrase einzelner Stücke oder die Reformulierung bereits früher veröffentlichter Befunde hinaus. Zwar vermittelt Helene Levingers durch Sorgfalt im Umgang mit dem archivalischen und gedruckten Quellenmaterial und scharfsinnige Argumentation beeindruckende Dissertation über das Augsburger Schultheater unter Sixt Birck ein präziseres Bild der Form und Funktion der birckschen Bühnenwerke6 und durch Jean Lebeaus knappe Überlegungen zu Sixt Bircks „Judith“ (1539), Erasmus und der Türkenkrieg dürfte deutlich geworden sein, dass es durchaus lohnend sein kann, Bircks Dramen von einer spezifischen Problemstellung ausgehend zu beleuchten, 7 dennoch bleibt das Meiste noch zu tun. Dies gilt nicht nur für Bircks lateinische, sondern auch für seine deutschsprachigen Bühnendichtungen, die nur selten den Gegenstand germanistischer Forschungsbemühungen bildeten. So oberflächlich die Behandlung der birckschen Dramen in den meisten Publikationen zum Reformationsdrama auch anmutet, so wenig ist den Autoren offenbar entgangen, dass Bircks literarischem Schaffen eine politische Dimension eignet, die es von den poetischen Elaboraten anderer protestantischer Schuldramatiker des 16. Jahrhunderts unterscheidet. Der bereits erwähnte Creizenach ––––––––– 2 3 4

5 6 7

Wilhelm Creizenach: Geschichte des neueren Dramas. 3 Bde. Halle 1893–1923, hier Bd. 3 (21923), S. 232. Wolfgang F. Michael: Das deutsche Drama der Reformationszeit. Bern u. a. 1984, S. 208– 215. Bircks deutschsprachige und lateinische Dramen liegen in einer mehrbändigen Ausgabe vor: Sixt Birck: Sämtliche Dramen. Hg. von Manfred Brauneck. 3 Bde. Berlin, New York 1969–1980 (Ausgaben deutscher Literatur des XV. bis XVIII. Jahrhunderts), im Folgenden zitiert als BSD. Die Zitatnachweise beziehen sich auf die genannte Edition. Josef Franz Schöberl: Über die Quellen des Sixtus Birck. Diss. München 1919. Helene Levinger: Augsburger Schultheater unter Sixt Birck (1536–1554). Diss. Erlangen 1931. Jean Lebeau: Sixt Bircks „Judith“ (1539), Erasmus und der Türkenkrieg. In: Daphnis 9 (1980), S. 679–698.

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etwa beobachtet, dass in Bircks Theaterstücken „den moralischen Lehren so viel wie möglich ein Bezug auf die Verwaltung des Staats gegeben wird“;8 Heinz Kindermann betont in seiner Theatergeschichte Europas, Bircks Denken kreise konsequent „um den Staat und seinen [!] Regenten“, 9 und Herbert Walz stellt in seinem Überblick über die Deutsche Literatur der Reformationszeit Bircks „Neigung, biblische Themen im staatsbürgerlichen Sinne zu aktualisieren“, 10 heraus. Zuletzt hat James Parente in seiner Studie über das geistliche Drama und die humanistische Tradition auf den engen und zugleich widersprüchlichen Nexus zwischen religiös fundierter Moral und politischer Didaxe in Bircks Dramen hingewiesen. 11 Der offenkundig politische Charakter der meisten birckschen Dramen ist demnach erkannt worden; in welcher Form und mit welcher Funktion Politik zur Sprache kommt, bleibt in den genannten Darstellungen allerdings offen. Die hier zunächst nur angedeutete, in der wissenschaftlichen Diskussion wiederholt behauptete, jedoch noch kaum untersuchte politische Dimension der birckschen Dramen soll im Zentrum meiner nun folgenden Ausführungen stehen. Gilt es zunächst, in Form eines knappen Überblicks die Bühnenproduktion des Augsburger Gelehrten und Pädagogen zu umreißen, so sollen in einem zweiten Schritt anhand programmatischer Äußerungen Bircks und am Beispiel seiner Judith zentrale Funktionen des protestantischen Schuldramas erörtert werden. In einem dritten Schritt schließlich wird es darum gehen, Bircks Bühnenwerke und die ihnen zugrunde liegende Auffassung des Schultheaters vor dem Hintergrund der spezifischen konfessionellen und politischen Verhältnisse in der Reichsstadt Augsburg zu diskutieren. Der für so gut wie alle Dramen Bircks konstitutive ‚Republikanismus‘ erweist sich dann, so viel sei hier vorweggenommen, nicht so sehr als Indikator für den in der Forschung bisweilen postulierten Einfluss der eidgenössischen Theatertradition, sondern steht vielmehr in engstem Zusammenhang zum einen mit der bereits von humanistisch inspirierten Reformatoren, hier vor allem Martin Luther und Philipp Melanchthon, postulierten Auffassung des Schuldramas als eines wirkungsmächtigen Instruments bürgerlicher Sozialisation und zum anderen mit der Durchsetzung der Reformation in Augsburg und den diesen Prozess leitenden Vorstellungen eines christlichen Gemeinwesens. Die Schulbühne erscheint in dieser Perspektive als jener Ort, an dem das für den oberdeutschen Raum charakteristische Verständnis des Staates als einer gleichermaßen kirchlichen und politischen Gemeinschaft eine anschauliche Ausgestaltung erfährt und von den Akteuren, aber auch vom Publikum immer neu verinnerlicht werden kann. ––––––––– 8 9 10 11

Creizenach: Geschichte, Bd. 3 (wie Anm. 2), S. 234. Heinz Kindermann: Theatergeschichte Europas. Bd. 2: Das Theater der Renaissance. Salzburg 21959, S. 317. Herbert Walz: Deutsche Literatur der Reformationszeit. Eine Einführung. Darmstadt 1988, S. 137. James A. Parente Jr.: Religious Drama and the Humanist Tradition. Christian Theater in Germany and in the Netherlands 1500–1680. Leiden u. a. 1987 (Studies in the History of Christian Thought 39), S. 91ff.

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Silvia Serena Tschopp

I. Da Sixt Birck so gut wie alle seine Dramen erst nach seiner Rückkehr aus Basel in den Druck gab, bedurfte es gründlicherer Nachforschungen, um die Genese und Chronologie seines dramatischen Œuvres zu erhellen. 12 Als früheste Werke Bircks gelten dessen zu Beginn der 1530er Jahre in Basel entstandene Dramen Ezechias (1530) und Zorobabel (1531). 1532 erscheint in der Basler Offizin Wolff Bircks wohl erfolgreichstes Stück, Susanna, ein Jahr später dürfte Joseph entstanden sein; die Niederschrift der Judith wird auf 1534 datiert. Damit sind die frühen, noch in Basel entstandenen deutschsprachigen Dramen Bircks vollständig erfasst, will man Levinger folgen, die einen 1535 anonym veröffentlichten und aufgrund eines späteren, unter Bircks Namen erschienenen, Drucks in der älteren Forschung dem Augsburger Gelehrten zugeschriebenen Beel als Werk des in Basel tätigen Johannes Kolross ausweist.13 Aus der Tatsache, dass der Beginn von Bircks Bühnenschaffen mit der Berufung an die St.-TheodorSchule zusammenfällt, lässt sich schließen, dass bereits die in Basel verfassten Dramen im Kontext von Bircks pädagogischer Tätigkeit gesehen werden müssen. Mit Ausnahme der Susanna wurden dessen deutschsprachige Dramen allerdings erst in Augsburg gedruckt. 1538 erschien bei Philipp Ulhart ein Druck des Zorobabel; ein Jahr später veröffentlichte derselbe Ulhart Bircks Ezechias, Joseph und Judith. Bereits im Jahr seiner Übersiedlung nach Augsburg hatte Birck damit begonnen, einige seiner in der Volkssprache verfassten Dramen ins Lateinische zu übertragen. Die überarbeiteten und hinsichtlich ihres Textumfangs erheblich erweiterten lateinischen Fassungen seiner frühen Bühnenwerke sind in den Jahren 1537 (Susanna) und 1538 (Judith) wiederum bei Philipp Ulhart erstmals veröffentlicht worden. Aus Ulharts Offizin stammt auch der früheste Druck des Prosadialogs De vera nobilitate (1538), eines von insgesamt drei lateinischen Dramen, die Birck in seiner Augsburger Zeit verfasste und für die es, soweit bekannt, keine volkssprachlichen Vorläufer aus seiner Feder gibt. Die beiden anderen lateinischen Bühnendichtungen, Eva und Sapientia Salomonis, finden sich in einer 1547 bei Johann Oporin in Basel gedruckten Sammlung mit dem Titel Dramata Sacra, die neben den genannten Dramen Bircks auch dessen Susanna und Judith, eine einem Schüler Bircks zu verdankende lateinische Bearbeitung des Zorobabel sowie eine ebenfalls durch einen Schüler Bircks verfertigte lateinische Übersetzung des als Werk Bircks ausgegebenen Beel enthält. 14 Bircks dramatische Produktion gliedert sich demnach in zwei Phasen: In seine Basler Zeit fallen die deutschsprachigen Werke; als Rektor von St. Anna hat Birck nur noch lateinische Dramen verfasst. Bemerkenswert ist immerhin, dass er seine deutschsprachigen Bühnendichtungen nicht im Manuskript beließ, ––––––––– 12 13 14

Zur Chronologie der deutschsprachigen Dramen Bircks vgl. Levinger: Augsburger Schultheater (wie Anm. 6), S. 10–21. Vgl. Levinger: Augsburger Schultheater (wie Anm. 6), S. 18–21. Zum Inhalt der in zwei Bänden erschienenen Dramata Sacra vgl. BSD II: 515f. sowie BSD III: 287.

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sondern sie in Augsburg zum Druck beförderte. Inwiefern er sie dabei einer Überarbeitung unterzogen hat, dürfte angesichts fehlender Quellen kaum zu klären sein. Immerhin hat Birck jene volkssprachlichen Dramen, die er später in Druck gab, zumindest sprachlich redigiert: Zeigt die Textgestalt des 1532 in Basel veröffentlichten Drucks der Susanna noch deutlich den Einfluss der alemannischen Schriftsprache, so folgen die bei Ulhart erschienenen deutschsprachigen Bühnendichtungen der Augsburger Druckersprache.15 Die Entstehung der lateinischen Dramen Bircks steht in engstem Zusammenhang mit dessen beruflicher Position: Als Primarius eines Gymnasiums, in dem, wie übrigens in vielen protestantischen Gymnasien in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts, die Aufführung von Theaterstücken einen konstitutiven Bestandteil des Curriculums bildete, gehörte es zu seinen Pflichten, Dramen zu verfassen und sie mit seinen Schülern auf die Bühne zu bringen. Dabei hat Birck selbst wesentlich dazu beigetragen, dass dem Schultheater in St. Anna besondere Bedeutung zukam, und wusste sich dabei in Einklang mit all jenen Reformatoren, welche in der Bühne eine geeignete Plattform für die Vermittlung der neuen Lehre erkannten, allen voran Martin Luther. Luther hat nicht nur in Briefen an befreundete Theologen, sondern auch im Gespräch wiederholt seine positive Einschätzung des Schultheaters bekundet.16 Berühmtheit erlangt hat eine Stelle in Luthers Tischreden, in der es heißt: Comödien zu spielen soll man um der Knaben in der Schule willen nicht wehren, sondern gestatten und zulassen, erstlich, daß sie sich uben in der lateinischen Sprache; zum Andern, daß in Comödien fein künstlich erdichtet, abgemalet und fürgestellt werden solche Personen, dadurch die Leute unterrichtet, und ein Jglicher seines Amts und Standes erinnert und vermahnet werde, was einem Knecht, Herrn, jungen Gesellen und Alten gebühre, wol anstehe und was er thun soll, ja, es wird darinnen furgehalten und fur die Augen gestellt aller Dignitäten Grad, Aemter und Gebühre, wie sich ein Jglicher in seinem Stande halten soll im äußerlichen Wandel, wie in einem Spiegel. Zudem werden darinnen beschrieben und angezeigt die listigen Anschläge und Betrug der bösen Bälge; desgleichen, was der Eltern und jungen Knaben Amt sey, wie sie ihre Kinder und junge Leute zum Ehestande ziehen und halten, wenn es Zeit mit ihnen ist, und wie die Kindern den Eltern gehorsam seyn, und freien sollen etc. Solchs wird in Comödien furgehalten, welchs denn sehr nütz und wol zu wissen ist. Denn zum Regiment kann man nicht kommen, mag auch dasselbige nicht erhalten, denn durch den Ehestand. Und Christen sollen Comödien nicht ganz und gar fliehen, drum, daß bisweilen grobe Zoten und Bühlerey darinnen seyen, da man doch um derselben willen auch die Bibel nicht dürfte lesen. Darum ists nichts, daß sie solchs

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Vgl. Hellmut Thomke: Kommentar zu Sixt Bircks Judith. In: ders.: Deutsche Spiele und Dramen des 15. und 16. Jahrhunderts. Frankfurt a. M. 1996 (Bibliothek der Frühen Neuzeit I/2), S. 1043–1054, hier S. 1048. Zu Luthers Stellung zum Drama vgl. Hugo Holstein: Die Reformation im Spiegelbilde der dramatischen Litteratur des sechzehnten Jahrhunderts. Halle 1886 (Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte 14), S. 18–25; Thomas I. Bacon: Martin Luther and the Drama. Amsterdam 1976 (Amsterdamer Publikationen zur Sprache und Literatur 25), Parente: Religious Drama (wie Anm. 11), S. 26f. und 77–81 et passim sowie Glenn Ehrstine: Theater, Culture, and Community in Reformation Bern, 1523–1555. Leiden, Boston, Köln 2002 (Studies in Medieval and Reformation Thought 85), S. 21–26.

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furwenden und um der Ursache willen verbieten wollen, daß ein Christe nicht sollte Comödien mögen lesen und spielen.17

Luthers Haltung ist repräsentativ für die Auffassung all jener Humanisten, die mit Blick auf den gymnasialen Unterricht die Aufführung lateinischer und, seltener, griechischer Dramen empfahlen, weil sie sich davon eine Verbesserung der rhetorischen und moralischen Kompetenz der Adepten versprachen. 18 Als Vorbild dienten dabei neben den antiken Tragödien eines Euripides oder Seneca die römischen Komödien des Plautus und vor allem des Terenz, dessen Bühnendichtungen 1470 in Straßburg erstmals im Druck erschienen waren und in der Folge eine intensive Rezeption erfuhren. Sie galten den Verfechtern des Schultheaters nicht nur als in rhetorischer Hinsicht modellhaft, sondern boten darüber hinaus eine breite Palette menschlicher Verhaltensmuster, führten nachzuahmende oder zu vermeidende Handlungsweisen vor Augen und leisteten damit einen Beitrag zur sittlichen Bildung der Schüler. Es sind denn auch eine größere Zahl von Schulaufführungen antiker Bühnenwerke bezeugt; zugleich jedoch entstehen seit den 1520er Jahren vermehrt neulateinische Dramen, in denen eine christliche Überformung aus der Antike tradierter paganer Vorbilder angestrebt wird. Die mit reformatorischen Postulaten sympathisierenden Theologen und Pädagogen begnügen sich nämlich in der Regel nicht damit, Aufführungen lateinischer oder griechischer Komödien zu fördern, sondern postulieren zugleich eine neuartige Form dramatischer Dichtung, in der die ästhetische Ordnung des antiken Dramas und die moralische Ordnung eines evangelisch begründeten Christentums zur Synthese gelangen sollten. Als Ergebnis diesbezüglicher Bemühungen entsteht das protestantische Schuldrama, das, der Maxime ‚sacra ex prophanis‘ verpflichtet, das Formeninventar der römischen Komödie mit biblischen Inhalten amalgamiert. Zwar hat Luther, möglicherweise unter dem Einfluss Philipp Melanchthons, der sich nicht nur ausdrücklich für die Aufführung antiker Dramen ausgesprochen hat, sondern mit seinen Schülern auch eine größere Zahl griechischer und römischer Tragödien und Komödien auf die Bühne brachte, 19 die Werke des Terenz gegen Kritiker verteidigt,20 dennoch galt auch sein primäres Interesse einem in reformatorischem Sinne erneuerten geistlichen Drama und er hat denn auch nichts unversucht gelassen, dessen Legitimität dadurch zu belegen, dass er auf den biblischen Ursprung theatralischer Praktiken hinwies. Aufschlussreich sind in diesem Zusammenhang Luthers Vorreden zu den apokryphen Schriften des Alten Testaments. So hält Luther mit Blick auf das Buch Judith fest:

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D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe. Tischreden 1. Band. Weimar 1912, S. 431f., Nr. 867. Zur humanistischen Auffassung des Schultheaters vgl. Parente: Religious Drama (wie Anm. 11), S. 9–60. Vgl. Holstein: Reformation (wie Anm. 16), S. 25–31 sowie Parente: Religious Drama (wie Anm. 11), S. 20–26. Vgl. ebd., S. 26f.

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Vnd mag sein, das sie solch geticht gespielet haben, wie man bey vns die Passio spielet, vnd ander heiligen geschicht, Damit sie jr volck vnd die jugent lereten, als jnn einem gemeinen bilde odder spiel, Gott vertrawen, from sein, vnd alle hülff vnd trost von Gott hoffen, jnn allen nöten widder alle feinde etc.,21

und in der Vorrede zum Buch Tobias betont er: WAs von dem Buch Judith gesagt ist, das mag man auch von diesem Buch Tobia sagen, Jsts ein geschicht, so ists ein fein heilig geschicht, Jsts aber ein geticht, so ists warlich auch ein recht schön, heilsam, nützlich geticht vnd spiel, eins geistreichen Poeten, Vnd ist zuuermuten, das solcher schöner geticht vnd spiel, bey den Jüden viel gewest sind, darinn sie sich auff jre Feste vnd Sabbath geübt, vnd der jugent also mit lust, Gottes wort vnd werck eingebildet haben, sonderlich da sie jnn gutem friede vnd regiment gesessen sind, Denn sie haben gar treffliche leute gehabt, als Propheten, senger, tichter vnd der gleichen, die Gottes wort vleissig, vnd allerley weise getrieben haben, Vnd Gott gebe, das die Griechen jre weise, Comedien vnd Tragedien zu spielen, von den Jüden genomen haben, Wie auch viel ander Weisheit vnd Gottes dienst etc. Denn Judith gibt eine gute, ernste, dapffere Tragedien, So gibt Tobias eine feine liebliche, Gottselige Comedien, Denn gleich wie das Buch Judith anzeigt, wie es land vnd leuten offt elendiglich gehet, vnd wie die Tyrannen erstlich hoffertiglich toben, vnd zu letzt schendlich zu boden gehen, Also zeigt das Buch Tobias an, wie es einem fromen Baur odder Bürger auch vbel gehet, vnd viel leidens im Ehestand sey, Aber Gott jmer gnediglich helffe, vnd zu letzt das ende mit freuden beschliesse.22

Dass die Wittenberger Reformatoren Schulaufführungen antiker und in humanistischem Geist verfasster Dramen empfahlen, ist in der germanistischen Forschung immer wieder herausgestellt worden.23 Weit weniger hat die Frage beschäftigt, welche Haltung jene Geistlichen und Erzieher dem Drama gegenüber an den Tag legten, die der reformierten Konfession zuneigten. Angesichts der gerade in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts bemerkenswert lebendigen, von den städtischen Obrigkeiten gezielt geförderten Theaterkultur der Eidgenossenschaft und des süddeutschen sowie elsässischen Raums ist anzunehmen, dass auch die Exponenten der oberdeutschen Reformation dem Schultheater prinzipiell wohlwollend gegenüberstanden. 24 In der Tat war der Zürcher Reformator Huldrich Zwingli an Theateraufführungen beteiligt25 und seine Nachfolger, ––––––––– 21 22 23

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D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe. Die Deutsche Bibel. 12. Bd. Weimar 1961, S. 6. Ebd., S. 108. Zuletzt etwa Fidel Rädle: Theatralische Formen der Wertekontrastierung im lateinischen Drama der Frühen Neuzeit. In: Das Theater des Mittelalters und der Frühen Neuzeit als Ort und Medium sozialer und symbolischer Kommunikation. Hg. von Christel Meier, Heinz Meyer und Claudia Spanily. Münster 2004, S. 265–288 (Martin Luther) oder Bernd Roling: Exemplarische Erkenntnis: Erziehung durch Literatur im Werk Philipp Melanchthons. In: ebd., S. 289–365. Auf die städtische Trägerschaft eidgenössischer Theaterpraxis weist etwa Stefan Schöbi hin (Stefan Schöbi: Der Ludius auf Zürichs Bühne. In: Jakob Ruf, ein Zürcher Stadtchirurg und Theatermacher im 16. Jahrhundert. Hg. von Hildegard Elisabeth Keller. Unter Mitarbeit von Andrea Kauer und Stefan Schöbi. Zürich 2006 [Jakob Ruf. Leben, Werk und Studien 1], S. 143–159, hier S. 148f.). Vgl. Jakob Bächtold: Geschichte der Deutschen Literatur in der Schweiz. Frauenfeld 1892, S. 250. Für eine Aufführung von Aristophanes’ Plutos hat Zwingli Chorlieder komponiert

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Heinrich Bullinger und Rudolf Gwalther, Schwiegersohn Zwinglis und seit 1575 Antistes der Zürcher Kirche, sind als Dramatiker in Erscheinung getreten.26 Erwähnenswert sind in diesem Zusammenhang außerdem Martin Bucer und seine äußerst positive Beurteilung reformatorischer Schauspiele27 sowie der wegen seiner Sympathien für den reformierten Glauben schließlich abgesetzte Gründungsrektor des Straßburger Gymnasiums, Johannes Sturm, der zu den besonders eifrigen Verteidigern des Schuldramas gehörte.28 Die hohe Akzeptanz des Schultheaters sowohl unter lutherischen als auch unter reformierten Theologen und Pädagogen manifestiert sich nicht nur in deren theatralischen Bemühungen, sondern auch darin, dass in zahlreichen Schulordnungen im deutschsprachigen Raum die Einübung lateinischer und deutschsprachiger Dramen als wichtiges pädagogisches Instrument ausdrücklich vorgeschrieben wird.29 Die Gründe für die positive Einschätzung des Schultheaters liegen zunächst und vor allem in dessen bereits von den Humanisten ausführlich begründetem didaktischen Nutzen. 30 Zum einen bot das Studium (neu)lateinischer Dramen eine Möglichkeit, die Gymnasiasten in der lateinischen Sprache zu schulen, sie mit jenen rhetorischen Konventionen vertraut zu machen, deren Beherrschung für Gelehrte, Theologen oder Juristen als unerlässlich galt. Die Aufführung lateinischer Dramen diente außerdem der Steigerung der Gedächtnisleistung und war vor allem eine hilfreiche Deklamationsübung, verlangte sie doch von den Akteuren Souveränität im Umgang nicht nur mit dem schriftlich fixierten, sondern auch mit dem gesprochenen lateinischen Idiom. Prägnant äußert sich hierzu die Breslauer Schulordnung von 1570: Wir sehen auch vor gut an, das die Knaben dieses Ordinis den Terentium, als jhren fürnemen vnd gantz eigenen Authorem außwendig lernen, also das man die Personas der Jugend, deren Comoedien so sie zum ende gehöret haben, außteile, vnd sie wochentlich nach Tische eine stunde oder zwo recitiren lasse, vnd sie also in der Pronunciation vnd Action vbe.31

Der erzieherische Wert des Dramas ergibt sich jedoch nicht nur aus der durch dessen performativen Charakter begünstigten Einübung der lateinischen –––––––––

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(Ehrstine: Theater, Culture, and Community [wie Anm. 16], S. 27), der Aufführung selbst habe er, wie ein Zeitgenosse in seinem Diarium berichtet, zu Tränen gerührt, beigewohnt (Schöbi: Theater [wie Anm. 24], S. 238f., hier S. 238). Von Heinrich Bullinger stammt das Drama Lucretia (1533), Rudolf Gwalther ist der Verfasser des Nabal (1549). Vgl. Ehrstine: Theater, Culture, and Community (wie Anm. 16), S. 28–31. Vgl. Holstein: Reformation (wie Anm. 16), S. 42. Vgl. ebd., S. 31–44. Vgl. dazu Joseph E. Gillet: Über den Zweck des Schuldramas in Deutschland im 16. und 17. Jahrhundert. In: The Journal of English and Germanic Philology 17 (1918), S. 69–78; Johannes Maassen: Drama und Theater der Humanistenschulen in Deutschland. Augsburg 1929 (Schriften zur deutschen Literatur 13), S. 38–54 und vor allem Christel Meier: Die Inszenierung humanistischer Werte im Drama der Frühen Neuzeit. In: Meier [u. a.]: Theater des Mittelalters und der Frühen Neuzeit (wie Anm. 23), S. 249–264. Reinhold Vormbaum (Hg.): Evangelische Schulordnungen. Bd. 1: Die evangelischen Schulordnungen des sechzehnten Jahrhunderts. Gütersloh 1860, S. 198f.

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Sprache, er resultiert in nicht geringerem Maße aus den moralischen Lehren, die es bereithält. Die Schüler, so die nicht nur von Luther selbst, sondern auch von vielen seiner Zeitgenossen immer wieder formulierte Überzeugung, würden durch das Drama aufgefordert, sich mit vorbildlichen Denk- und Handlungsweisen zu identifizieren bzw. verwerfliche Gesinnungen und Taten zu verurteilen. Die Vermittlung individual- und sozialethischer Normen wird dabei von den Befürwortern eines protestantischen Schuldramas durchaus in konfessionsspezifischer Weise gedeutet. So weist Luther in seinen vorgängig zitierten programmatischen Äußerungen nicht nur auf die ständische Ordnung hin, die den Schülern mit Hilfe des Schultheaters nahegebracht werden könne, sondern betont in diesem Zusammenhang auch und vor allem die Bedeutung, die der Vermittlung eines richtigen Eheverständnisses auf der Bühne zukomme. Nicht zufällig gehört das protestantische Schuldrama neben den in großer Zahl gedruckten Hochzeitspredigten 32 denn auch zu den wichtigsten Promotoren der lutherischen Ehelehre. 33 Wenn Luther auf die im Drama exemplarisch dargestellten Modi sozialer Interaktion abhebt, verweist er zugleich auf eine dritte Funktion des Schuldramas: Die Auseinandersetzung mit dem Text soll nicht nur die individuelle Bildung der Zöglinge fördern, sie soll sie außerdem dazu befähigen, dem Gemeinwesen von Nutzen zu sein. Schon in der von Philipp Melanchthon verfassten, ältesten überlieferten Schulordnung, der kursächsischen Schulordnung von 1528, wird der Überzeugung Ausdruck verliehen, dass es nicht allein zu der kirchen, sondern auch zu dem weltlichen regiment gut ausgebildeter Männer bedürfe, 34 und in der kursächsischen Schulordnung von 1580 wird erneut betont, wie wichtig es für wohlgeordnete Staatswesen sei, dass durch geeignete pädagogische Institutionen viel Jahr erst die Ingenia mit großer Mühe und Arbeit abgerichtet und erzogen werden, welche der Allmächtige vor andern mit Zuneigung und Geschicklichkeit zu dem Studiren begabet, daß mit der Zeit aus ihnen weise, gelehrte, verständige Männer gezogen, welche alsdann der Kirche Gottes nützlich dienen und zu denen Regimenten gebrauchet werden mögen.35

Zu den Aufgaben des Schuldramas gehört demnach auch die Vorbereitung der Schüler auf kirchliche und staatliche Betätigungsfelder; als zukünftige Funktionselite gilt es für die Adepten, jene Werte zu verinnerlichen und jene Praktiken zu erlernen, die es ihnen erlauben, öffentliche Ämter zu bekleiden. Erreicht werden soll dieses Ziel einerseits durch die Darstellung kirchlicher und staatlicher Institutionen auf der Bühne und andererseits durch die Propagierung ––––––––– 32

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Vgl. dazu Erik Margraf: Die Hochzeitspredigt der Frühen Neuzeit. Mit einer Bibliographie der selbstständig erschienenen Hochzeitspredigtdrucke der Herzog-August-Bibliothek Wolfenbüttel, der Staats- und Stadtbibliothek Augsburg und der Universitätsbibliothek Augsburg. München 2007. Zur Darstellung der Ehe im protestantischen Schuldrama vgl. Petra Schrand: Frau und Ehe im biblischen Drama der Reformationszeit. [Diss. masch.] Osnabrück 1992. Vormbaum (Hg.): Schulordnungen I (wie Anm. 31), S. 4. Ebd., S. 231.

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für die Sicherung des Gemeinwohls als notwendig erachteter normativer Setzungen und Handlungsoptionen. Letztere nun lassen sich im Verständnis der Zeit nicht losgelöst von theologischen Begründungszusammenhängen denken und so erscheint das Schuldrama seinen Apologeten auch als wichtiges Medium der Vermittlung von Glaubenswahrheiten und der Förderung jener ‚pietas‘, die einen konstitutiven Bestandteil der Argumentation zugunsten des Schuldramas als Erziehungsmittel bildet. Schauspiele seien, so hatte Luther in den bereits zitierten Vorreden zu den Büchern Judith und Tobias postuliert, geeignet, der jugent also mit lust, Gottes wort vnd werck vor Augen zu führen, die Akteure auf der Bühne und deren Publikum Gott vertrawen, from sein, vnd alle hülff vnd trost von Gott hoffen, jnn allen nöten widder alle feinde zu lehren. In der Folge wird die religiöse Dimension des neulateinischen Dramas denn auch immer wieder hervorgehoben: Den Verfechtern eines protestantischen Schultheaters erscheint die Inszenierung biblischer Stoffe als besonders wirkungsmächtiger Katalysator evangelischer Frömmigkeit; immer wieder weisen sie darauf hin, in welchem Maße die Bühne als Kanzel zu fungieren in der Lage sei.36 Was hier zunächst allgemein formuliert wurde, lässt sich mit Blick auf Bircks Auffassung des Schultheaters konkretisieren. Als aufschlussreich erweist sich in diesem Zusammenhang die Widmungsvorrede zur lateinischen Fassung der Susanna.37 In einem ausführlichen, an den Rat der Stadt Augsburg gerichteten Dedikationsschreiben, das er seiner Comœdia tragica voranstellt, entwirft der Rektor von St. Anna ein Konzept gymnasialer Ausbildung, das in Einklang steht mit den pädagogischen Intentionen, denen die Schule ihre Entstehung verdankt und das zugleich repräsentativ sein dürfte für die meisten frühen protestantischen Schulgründungen im oberdeutschen Raum. 38 Im Rückgriff auf Aristoteles begründet Birck die Notwendigkeit einer bereits in der Kindheit einsetzenden Erziehung, welche die jungen Männer befähigen soll, sich als nützliche Glieder des Gemeinwesens zu profilieren. Nicht erst als Erwachsene (non modo in virili aetate; BSD II: 170, 21f.), sondern bereits in jugendlichem Alter (in ipsa pueritia; BSD II: 170, 22) seien die zu Erziehenden Teil des Staatswesens; dieses handle in ureigenstem Interesse, wenn es dafür sorge, dass die in ––––––––– 36

37 38

Zur Auffassung der Bühne als Kanzel im frühneuzeitlichen Drama vgl. Fidel Rädle: Theater als Predigt. Formen religiöser Unterweisung in lateinischen Dramen der Reformation und Gegenreformation. In: Rottenburger Jahrbuch für Kirchengeschichte 16 (1997), S. 41– 60 sowie Wolfram Washof: Drama als Gottesdienst. Homiletisch-katechetische Funktionen und liturgische Elemente des protestantischen Bibeldramas der Reformationszeit. In: Meier [u. a.]: Theater des Mittelalters und der Frühen Neuzeit (wie Anm. 23), S. 159–170. Vgl. BSD II: 170–176 (Widmungsvorrede zu Susanna) und 276–278 (Widmungsvorrede zu Judith). Eine Analyse der Bedeutung, die der Gründung und dem Ausbau des Gymnasiums St. Anna im Kontext der konfessionellen und politischen Entwicklungen der 1530er Jahre zukommt, und eine differenzierte Darstellung der die Konzeption der Institution bestimmenden pädagogischen Programmatik bietet Rolf Kießling: Humanistische Gelehrtenwelt oder politisches Instrument? Das Gymnasium St. Anna und die Bildungslandschaft Schwaben im Zeitalter der Konfessionalisierung. In: Das Gymnasium bei St. Anna in Augsburg. 475 Jahre von 1531 bis 2006. Hg. von Karl-August Keil. Augsburg 2006, S. 11–29.

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seiner Mitte Geborenen eine humanistische Ausbildung zu erwerben in der Lage seien, die sie auf ihr zukünftiges Amt vorbereite. 39 Das Postulat einer zugleich gelehrten und auf die Bedürfnisse der Respublica ausgerichteten Erziehung verbindet Birck mit einer Kritik am katholischen Schulwesen, dem er vorwirft, nur dem Klerus jene wissenschaftlich fundierte Ausbildung zuzugestehen, die Birck auch für Angehörige der weltlichen Eliten fordert. Das Drama nun, das er dem Rat seiner Heimatstadt widmet, steht im Dienste jenes Bildungsziels, das Birck in der Vorrede zur Susanna beschreibt: Es soll die Schüler lehren, die auf der Bühne dargestellten intrikaten Angelegenheiten adäquat zu beurteilen (si de perplexis causis per lusum disceret decernere; BSD II: 176, 12f.) und ihnen das Studium der Rechte schmackhaft machen (Porrò quo inconsulta iuventus aliqua civilium studiorum delectatione caperetur, quantum argumenti Hebraici ratio admisit, generalia quaedam Iuris C suis passim locis aspersimus; BSD II: 176, 14–17). Wenn Birck in seiner Rede an den Rat auch die unzureichende finanzielle Ausstattung des Gymnasiums St. Anna und die schwierigen Bedingungen, unter denen er als Schulmeister seine Arbeit zu verrichten habe, beklagt,40 gibt dies Anlass zur Vermutung, Bircks Insistieren auf dem Wert des humanistischen Studiums und der staatspolitischen Bedeutung gymnasialen Unterrichts diene in erster Linie dazu, seinen Status als Gelehrter und Pädagoge zu verbessern. Bircks Argumentation als rein interessegeleiteten Appell an seine Arbeitgeber zu deuten, greift allerdings zu kurz. Zu deutlich geht aus seinen verstreuten Äußerungen zum Schultheater hervor, welch große Bedeutung er der Aufführung lateinischer Dramen als Instrument einer zeitgemäßen Pädagogik beimaß: Sie dient der philologischen und rhetorischen Schulung, der Birck als humanistischer Gelehrter einen besonderen Stellenwert einräumt, sie lehrt die Schüler, komplexe Sachverhalte zu verstehen und in ethischem Sinne richtig zu beurteilen, und sie führt sie an jene Ämter heran, die das Funktionieren des frühmodernen Staates gewährleisten. Dass eloquentia im Sinne einer ausgezeichneten mündlichen Beherrschung der lateinischen Sprache zu Bircks pädagogischen Zielen gehörte, zeigen die von ihm wiederholt veranstalteten öffentlichen Deklamationsübungen, an denen als Schüler auch der Sohn des Augsburger Stadtarztes Benedikt Fröschel, Hieronymus Fröschel, teilnahm, wie er im September 1542 in seiner Hauschronik berichtet: Jnn disem Monat hab ich bey S. Anna ein Lateinische Oration memoriter recitirt cuius Thema, Quod absque graecarum literarum cognitione nulla ex liberalibus artibus maiorum gentium disciplinis recte addisci possit, fast eine Stunde lang, darzu viel gelehrter Theologen auch andere Herren und Burger beruffen worden […] Opifex ist der Herr Praeceptor [Sixt Birck, A. d. V.] selb gewest. 41 Darüber hinaus hat Birck Disputationen organisiert und ––––––––– 39 40 41

Vgl. etwa folgende Stelle: […] Remp nempe tantum florere, quantum praesidium sapientia precioso literarum succo imbuta est (BSD II: 171, 33f.). Vgl. die Ausführungen ebd. S. 173. Zitiert nach Levinger: Augsburger Schultheater (wie Anm. 6), S. 26. Zur Chronik des Hieronymus Fröschel vgl. Friedrich Roth: Der Augsburger Jurist Dr. Hieronymus Fröschel

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regelmäßig Aufführungen lateinischer Dramen einstudiert, 42 obwohl er sich, wie er 1544 dem Konstanzer Reformator Ambrosius Blarer klagt, damit nicht nur Freunde schaffte: „Manche meiner Widersacher sehen die Dramen, nicht nur des Terenz, sondern auch religiöse, als nachteilig für die Studien und die Sitten der Jugend an und würden sie gerne verhindern, wenn sie Beistand fänden.“ Immerhin weist er im selben Zusammenhang auch darauf hin, dass Behörden und Volk mindestens eine Aufführung pro Jahr wünschten, denn „das Volk“ sehe „darin eine gute Übung in der Sprache und Gewöhnung an die Öffentlichkeit, von anderem zu schweigen.“43 Bircks Vorliebe für die Bühne erklärt sich allerdings nicht nur daraus, dass sie eine ‚Schule der Beredsamkeit‘ darstellt, sondern auch aus ihrem moralischen Nutzen. Wie auch Luther, der denjenigen Kritikern, die den Komödien des Terenz die Darstellung moralisch verwerflicher Verhaltensweisen vorwarfen, mit dem Hinweis auf die Bibel, in der ebenfalls sündige Taten geschildert würden, geantwortet hatte, verweist Birck im Prolog zu seiner lateinischen Susanna auf die ethische Dimension der Schulbühne.44 Nicht nur indem es gute Taten vor Augen führe, sondern auch indem es vor bösen Taten warne, bewirke das Drama Selbsterkenntnis und ermutige zu einem moralisch einwandfreien Lebenswandel. Als sacra comoedia (BSD II: 180, 41f.) bilde es darüber hinaus eine Plattform, die der anschaulichen Verkündigung des wahren Glaubens dient und damit zu einer Vertiefung jener ‚pietas‘ beiträgt, die Birck, wie die meisten seiner humanistisch gebildeten Kollegen, als Telos des Schultheaters bestimmt und die er u. a. in der Widmungsvorrede zu seiner Judith anmahnt (Quid autem utilius, quàm teneros animos studio pietatis et amore patriae imbui?; BSD II: 277f., 35–1). Wenn nun allerdings im selben Zusammenhang nicht nur von ‚pietas‘, sondern auch von ‚amor patriae‘ die Rede ist, wird deutlich, worin der pädagogische Wert des lateinischen Dramas außerdem besteht: Es weckt die Liebe zum Vaterland und vermittelt den Zöglingen das Bewusstsein für die Bedeutung des Staates und seiner Institutionen. Damit erfüllt es, was Birck in der Widmungsvorrede zur lateinischen Judith als den vom Augsburger Rat für das Gymnasium St. Anna definierten Bildungsauftrag beschrieben hatte: Nam laudatissimae nostrae Reipublicae magistratus, cum in patriam me dulcem ad scholasticam vocasset functionem, mihi futurae Reipublicae seminarium commendans, unicè hoc mandabat, ut iuventuti unà cum literis pietatem et amorem patriae optima cum fide inculcarem (BSD II: 277, 6–10).

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und seine Hauschronik von 1528–1600. In: Zeitschrift des Historischen Vereins für Schwaben und Neuburg 38 (1912), S. 1–82. Helene Levinger geht in ihrer sorgfältigen Rekonstruktion der von Birck veranstalteten Theateraufführungen von jährlichen Aufführungen aus, die erst 1550, möglicherweise bedingt durch den sich verschlechternden Gesundheitszustand Bircks, ein Ende fanden (vgl. Levinger: Augsburger Schultheater [wie Anm. 6], S. 41–44). Briefwechsel der Brüder Ambrosius und Thomas Blaurer [i. e. Blarer, A. d. V.] 1509– 1548. Hg. von der Badischen Historischen Kommission bearb. von Traugott Schieß. Bd. II. Freiburg i. Br. 1910, S. 302f., Brief Nr. 1128. Vgl. BSD II: 179f.

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Welche Relevanz der Respublica christiana als Gravitationszentrum von Bircks dramatischen Bemühungen zukommt, erhellt sich nicht nur aus dessen programmatischen Äußerungen, sondern auch aus der Konfiguration seiner Dramen. So gut wie alle seine Bühnendichtungen kreisen zentral um die Frage des guten Regiments. In seinem frühen Drama Ezechias führt Birck das Ideal eines gottesfürchtigen und deshalb letztlich siegreichen Königs vor Augen; in Sapientia Solomonis gestaltet er den Typus des weisen, gerechten und frommen Königs (Regis typum sapientis, et iusti et pii; BSD III: 149, 996). Im Zentrum von Bircks Dramen stehen allerdings nicht nur kluge und gottgefällige Fürsten, sondern auch und vor allem weise Ratgeber. So geht es in Zorobabel weniger um die Notwendigkeit einer in Einklang mit göttlichem Gesetz befindlichen fürstlichen Herrschaft als vielmehr um die Bedingungen ihrer Verwirklichung. Wer regiert, bedürfe der Unterstützung durch moralisch integre und mit Weisheit begabte Diener, wie Birck in der kurzen, an den „Christenlichen leser“ gerichteten Vorrede zu Zorobabel festhält: WIe Joseph unnd Daniel / also auch dise Histori / zaiget wie fürstendig es sey / allen Oberkaiten / doch fürnämlich ainem Fürsten / so sein Regiment Gottsäligklichen will anrichten /das er recht Got weiß männer hab / durch welliche er solliches verrichte (BSD I: 31, 1–5).

Nicht nur Zorobabel, der beim persischen König Darius die Rückkehr der Juden aus der babylonischen Gefangenschaft erwirkt, auch der Prophet Daniel, der in der Susanna die verblendeten Richter eines Besseren belehrt, und der von seinen Brüdern verkaufte und von der Frau seines Dienstherrn zu Unrecht beschuldigte Joseph, der in Bircks gleichnamigem Drama den Traum des ägyptischen Pharao zu deuten vermag, stellen Exempel des klugen Ratgebers dar, dem es gelingt, eine fehlgeleitete Obrigkeit zu gottgewolltem Handeln zu bewegen.45 Obrigkeit erscheint in Bircks Dramen allerdings nicht nur im Fürsten personifiziert; sie konstituiert sich aus all jenen Individuen, die an politischer Entscheidungsfindung beteiligt sind. Die auf der Bühne agierenden Potentaten treten denn auch nicht als isolierte Machthaber auf, sondern als in ein Netz von Hofbeamten eingebundene Regenten. Nicht zufällig nehmen außerdem Gerichtsszenen oder Ratssitzungen in Bircks Bühnenwerken einen prominenten Platz ein. Sie indizieren ein kollektives Verständnis von Regiment und verschieben die Perspektive hin zum politischen Ordnungsmodell der Republik, dem Birck aufgrund seiner reichsstädtischen Erfahrung zweifelsohne den Vorzug gab und das er in Judith entfaltet: Auf dem Titelholzschnitt seines neulateinischen „Drama comicotragicvm“ bezeichnet er dieses als Exemplum Reipublicae rectè institutæ und impliziert damit eine Lesart, für die sich im Text eine Vielzahl von Belegstellen finden lassen. Man kann, wie dies Jean Lebeau getan hat, die ebenfalls im Titel der Judith geäußerte Intention zu zeigen, wie man sich der Türken erwehren soll (quomodo arma contra Turcam sint capienda), als Deutungsper––––––––– 45

Zu Bircks Joseph als Darstellung republikanischer Tugenden vgl. Jean Lebeau: Salvator Mundi. L’ ‘exemple’ de Joseph dans le théâtre allemand au XVIe siècle. Bd. 1. Nieuwkoop 1977 (Bibliotheca humanistica & reformatorica 20/1), S. 411–416.

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spektive privilegieren und die auf die Respublica bezogenen Passagen dem Ziel einer Stärkung der Christenheit im Kampf gegen die osmanische Bedrohung unterordnen;46 der Intention des Dramas angemessener scheint mir zu fragen, was die Darstellung politischer Institutionen und Prozesse in Judith über Bircks Staatsverständnis verrät und inwiefern dieses Staatsverständnis dem spezifischen Kontext, in dem das Drama verfasst und veröffentlicht wurde, geschuldet ist. Ohne Zweifel ist die osmanische Bedrohung auf dem Gebiet des Heiligen Römischen Reichs deutscher Nation spätestens seit der ersten Belagerung Wiens im Jahre 1529 im Bewusstsein breiterer Bevölkerungsschichten präsent;47 die Türkenkriege, namentlich das in der Vorrede zur lateinischen Judith erwähnte Bündnis zwischen dem französischen König Franz I. und dem Sultan Suleiman I. (‚der Prächtige‘)48 oder die Offensive der Seerepublik Venedig, die ihre politische und ökonomische Vorherrschaft im östlichen Mittelmeer in Gefahr sah, im unmittelbaren Vorfeld der Drucklegung der lateinischen Fassung der Judith dürften außerdem nicht ohne Wirkung geblieben sein, dennoch zielt Bircks Judith nur sekundär auf die gerade in reformatorischen Kreisen vieldiskutierte Frage, ob ein militärischer Feldzug gegen die Türken wünschenswert sei. Das in der Widmungsvorrede sowie im Pro- und Epilog exponierte Thema des Kriegs gegen die Türken tritt in der dramatischen Handlung denn auch in auffälliger Weise in den Hintergrund, während die innenpolitischen Auseinandersetzungen, welche die Belagerung und die Befreiung der Stadt Bethulia begleiten, breiten Raum einnehmen. Als Akteure dieser Auseinandersetzung treten die politischen Institutionen der Kommune, Stadtoberhaupt, Rat und Bürgerschaft in Erscheinung, im bewussten Rückgriff auf das Vorbild der Römischen Republik als ‚Consul‘, ‚Senatus‘ und ‚Populus‘ bezeichnet. 49 Aufschlussreich ist nun, wie die verschiedenen Institutionen und deren Interaktion inszeniert werden. Zunächst fällt auf, dass der als cor Rei publicae (BSD II: 403, 2665), patriae pater und caput urbis (BSD II: 324, 934f.) apostrophierte Ozias die oberste Macht im Staat nicht alleine verkörpert, sondern durch den ‚summus sacerdos‘ Ioachim als Träger der geistlichen Gewalt sekundiert wird. Als sacer Dei Antistes (BSD II: 296, 374f.) vertritt dieser die Kirche und das in ihr verkörperte göttliche Gesetz, und so überrascht es nicht, wenn das Drama damit beginnt, dass Ozias sich mit Ioachim berät. Als oberster Entscheidungsträger ist Ozias allerdings nicht nur dem Kirchenvorsteher, sondern auch dem Senat und der Bürgerschaft gegenüber verantwortlich. Er beruft den Rat ein und sorgt dafür, dass die vom Rat getroffenen Beschlüsse dem Volk vorgelegt werden (Nunc quid Senatus his in rebus censeat, Id concioni paucis indicabimus; BSD ––––––––– 46 47

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Lebeau: Judith (wie Anm. 7). Vgl. Winfried Schulze: Reich und Türkengefahr im späten 16. Jahrhundert. Studien zu den politischen und gesellschaftlichen Auswirkungen einer äußeren Bedrohung. München 1978. Vgl. BSD II: 276, 14–17: Quid deplorandum magis, quàm Christianissimum (scilicet) regem contra Christianum nomen conspirare cum eo hoste, qui hoc unum agit, ut Christianum nomen ex orbe terrarum deleatur? BSD II: 292.

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II: 339, 1374f.). Seinem wiederholt mit dem Begriff des Tyrannen assoziierten Antagonisten Holofernes50 gegenüber betont Ozias, er sei nicht der Herrscher über seine Untertanen, sondern der Diener seines Volks und Vaterlands (Quia vero minister ego Patriae populique mei, dominus Vero minime sum; BSD II: 328, 1034ff.), und verweist in diesem Zusammenhang auf die Entscheidungsbefugnis von Rat und Bürgerschaft (Sed quid populo Visum fuerit, scibis. Quoniam Pro more Senatus cum populo Iam iam statuet, Responsa dabit“; BSD II: 328, 1037–1040). Dass nicht nur der Auffassung des Rats, sondern auch dem Willen der Bürgerschaft Gewicht beigemessen wird, belegen sowohl der Vorschlag eines der Ratsmitglieder, durch eine Volksbefragung entscheiden zu lassen, wie angesichts der feindlichen Belagerung zu verfahren sei,51 als auch die Tatsache, dass der Rat die Klagen der darbenden und verängstigten Bevölkerung zum Anlass nimmt, den ursprünglich gefassten Beschluss, Holofernes und seinem Heer Widerstand zu leisten, zu revidieren. Noch deutlicher ist hier die deutschsprachige Fassung, in der Ozias sich direkt an die murrende Stadtbevölkerung wendet mit den Worten: Ir Burger guot verstond mich recht ich bin nit Herr / ich bin ewr knecht Ich habs nit auß mir selbs gethan des mögend ir guot wissen han Ich hab thon was ain gantzer Rhat ainhelligklich beschlossen hat Dem will ich ewr klag zaigen an das ir mögend ain antwort han (BSD II: 103, 1119–1126).

Wenn nun allerdings die von Holofernes ausgehende Gefahr nicht durch die vereinten Anstrengungen der Regierung und Bürgerschaft Bethulias gebannt wird, sondern durch das Eingreifen der Witwe Judith, indiziert dies eine grundlegende Störung innerhalb der kommunalen Ordnung. Weil die Bürgerschaft den Beschluss des Rats ablehnt und dieser daraufhin eine Entscheidung trifft, die nicht in Einklang mit dem Willen Gottes steht, bedarf es des Skandalons, das Judiths Vorgehen darstellt, 52 um die Stadt zu retten und jenen Zustand der ‚concordia‘ wiederherzustellen, der im Drama als unerlässliche Bedingung eines funktionierenden Gemeinwesens vielfältig thematisiert wird: Hatte das geistliche Oberhaupt Bethulias, Ioachim, bereits im den das Bühnengeschehen eröffnenden Dialog mit Ozias die Bedeutung der Eintracht hervorgehoben (Multum interest […] si sit concordia Inter patres, plebemque. Tum respublica Floret, vigetque. Si vero è contrario Discordia est, nil salvum ibi relinquitur; BSD II: 289, 187–190), wird im Epilog noch einmal betont, quod sit urbi nil praeclarius, Salubriúsve quàm dulcis concordia: Discordiaque nil perniciosius (BSD II: 430, 3193ff.). Auf das harmonische Zusammenspiel der verschiedenen, die Respublica konstituierenden Kräfte und weniger auf die heroische Tat der ––––––––– 50 51 52

Vgl. etwa BSD II: 330, 1088 und 1096 oder BSD II: 333, 1187. Vgl. das Votum des Melchiel: BSD II: 312, 752f. Wie anstößig Judiths Plan, den gegnerischen General zu verführen und zu töten, ist, wird nicht zuletzt daraus ersichtlich, dass die Protagonistin des Dramas gleich bei ihrem ersten Auftritt von den Ratsherren Chabri und Charmi als aus guter Familie stammend und moralisch über jeden Zweifel erhaben beschrieben wird (z. B. candida es, Quovisque honore digna; BSD II: 363, 1892f.).

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Judith richtet sich demnach der Fokus; das in der jüdischen Witwe verkörperte unerhörte Ereignis verstellt nie den Blick auf das, worauf es dem Verfasser vor allem ankommt: die idealtypische Evokation jener christlichen Respublica, die das erzieherische Telos seiner pädagogischen und dramatischen Tätigkeit darstellt. Im Epilog werden denn auch noch einmal die Institutionen des Staates und die Aufgaben der mit öffentlichen Ämtern und Verantwortung für das Gemeinwesen betrauten politischen Akteure in Erinnerung gerufen, an erster Stelle die Geistlichen, die durch Ermahnung und Gebet den religiösen Rückhalt des Staates sichern sollen, dann das in Ozias auf exemplarische Weise personifizierte Stadtoberhaupt, dann der Rat, der aufgefordert wird, sich um Unabhängigkeit und Konsens zu bemühen, und schließlich die zu Standhaftigkeit und Eintracht ermahnte Bürgerschaft (BSD II: 429f.).

II. Die vom Autor suggerierte Deutung der Judith als ‚Exemplum Reipublicae rectè institutæ‘ führt uns zurück zum eingangs angedeuteten politischen Charakter von Bircks Dramen, der – ich habe bereits darauf hingewiesen – in der germanistischen Forschung früh bemerkt wurde. Erklärt wurde die offenkundige Vorliebe des Augsburger Gelehrten und Schulmeisters für ein republikanisch verfasstes Gemeinwesen in der Regel mit dessen Aufenthalt in Basel, der ihn mit den spezifischen politischen Verhältnissen in der Eidgenossenschaft konfrontiert habe. So erkennt etwa Jean Lebeau in der in Judith exponierten Auffassung politischer Interaktion das helvetische Muster des Stadtstaates […], so wie es Birck im Laufe seines langen Basler Aufenthaltes erlebt und bewundert hat: Eine kleine Republik, in der die persönliche Freiheit durch das oligarchische Wahlsystem und die Einrichtung des Magistrats gesichert wird. Eine res publica, die nach der Einführung der Reformation zu einer Art Theokratie wurde, wo Obrigkeit und Priesterschaft in enger Gemeinschaft regieren.53

Nun trifft es zwar zu, dass die Jahre in Basel nicht ohne Folgen für Bircks konfessionelle und politische Haltung geblieben sind, wie nicht zuletzt dessen Hinwendung zur Reformation Zwinglis belegt; was Lebeau als eidgenössisches Spezifikum beschreibt, weist allerdings eine derartige Ähnlichkeit mit den politischen Strukturen, wie Birck sie bei der Rückkehr nach Augsburg in seiner Geburtsstadt vorfand, auf, dass es nicht notwendig scheint, das schweizerische Vorbild zu bemühen. Dass Bircks deutschsprachige Bühnendichtungen in hohem Maße durch die durchaus eigenständige eidgenössische Theatertradition, die man mit gutem Grund als Reflex eines besonders ausgeprägten republikanischen Bewusstseins auf dem Gebiet der Eidgenossenschaft interpretiert hat, geprägt wurden, darf ––––––––– 53

Lebeau: Judith (wie Anm. 7), S. 692.

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immerhin angenommen werden. Von Interesse sind in unserem Zusammenhang insbesondere jene auf eidgenössische und antike Historie rekurrierenden Bühnendichtungen, welche vaterländische Stoffe und Anliegen gestalten.54 Als frühestes überliefertes Drama, welches die um den mythischen Helden Wilhelm Tell zentrierte schweizerische Befreiungstradition thematisiert, ist das 1512/13 aufgeführte, jedoch erst um 1540 gedruckte Urner Tellenspiel zu nennen, das den Beginn eines äußerst lebendigen, im frühneuzeitlichen Sinne als ‚national‘ zu definierenden Theaterschaffens markiert. Um 1514 sind das Balthasar Spross zugeschriebene Spiel von den alten und jungen Eidgenossen und Pamphilus Gengenbachs Der alt Eidgnoss aufgeführt worden, 1517 Gengenbachs Der Nollhart. Die den Zusammenhalt des eidgenössischen Bündnisses gefährdende Reformation bildet hinsichtlich der Bühnenproduktion insofern eine Zäsur, als sie die Entstehung konfessionell ausdifferenzierter dramatischer Traditionen ––––––––– 54

Die Rolle des vaterländischen Spiels als Promotor eidgenössischen Bewusstseins ist noch keinesfalls hinreichend erforscht, dank mehrerer Texteditionen ist es jedoch möglich geworden, Umfang und Bedeutung der älteren eidgenössischen Theaterproduktion zu umreißen: Eine noch aus dem 19. Jahrhundert stammende Edition schweizerischer Spiele aus der Frühen Neuzeit verdanken wir Jakob Bächtold (Schweizerische Schauspiele des sechzehnten Jahrhunderts. Hg. von Jakob Bächtold. 3 Bde. Zürich, Frauenfeld 1890–1893). Sowohl Jakob Rufs Neues Tellenspiel (Bd. III) als auch Valentin Boltz’ Der welt spiegel (Bd. II) sind dort abgedruckt. Das Urner Tellenspiel liegt in einer von Max Wehrli besorgten Ausgabe vor (Quellenwerk zur Entstehung der Schweizerischen Eidgenossenschaft. Abt. 3: Chroniken und Dichtungen. Bd. II/1: Das Lied von der Entstehung der Eidgenossenschaft /Das Urner Tellenspiel. Hg. von Max Wehrli. Aarau 1952). Das Spiel von den alten und jungen Eidgenossen hat Friederike Christ-Kutter herausgegeben (Das Spiel von den alten und jungen Eidgenossen. Hg. von Friederike Christ-Kutter. Bern 1963 [Altdeutsche Übungstexte 18]); es wurde auch in die von Hellmut Thomke herausgegebene Anthologie Deutsche Spiele und Dramen des 15. und 16. Jahrhunderts (wie Anm. 15), S. 57–91 aufgenommen (vgl. dort den Kommentar S. 938–962). Gengenbachs Spiele liegen ebenfalls in einer Edition vor (Pamphilus Gengenbach. Hg. von Karl Goedeke. Hannover 1856); vgl. auch Pamphilus Gengenbach: Der Nollhart. Hg. von Violanta Uffer. Bern, Stuttgart 1977 (Schweizer Texte 1). Eine historisch-kritische Edition von Johann Mahlers Bruder-Klausen-Spiel hat Christiane Oppikofer-Dedie vorgelegt (Johannes Mahlers Bruder KlausenSpiel [um 1624]. Hg. von Christiane Oppikofer-Dedie. Aarau, Frankfurt a. M., Salzburg 1993 [Aus der Aargauischen Kantonalbibliothek. Quellen – Kataloge – Darstellungen 4]). Zu den Ausprägungen vaterländischen Bewusstseins im schweizerischen Drama des 16. Jahrhunderts vgl. v. a. Stephan Schmidlin: Frumm byderb lüt. Ästhetische Form und politische Perspektive im Schweizer Schauspiel der Reformationszeit. Bern, Frankfurt a. M., New York 1983 (Europäische Hochschulschriften I/747); Katrin Gut: Das vaterländische Schauspiel der Schweiz. Geschichte und Erscheinungsformen. Freiburg i. Ü. 1996 (Seges N. F. 16); Silvia Serena Tschopp: Frühneuzeitliche Medienvielfalt. Wege der Popularisierung und Instrumentalisierung eines historisch begründeten gesamtschweizerischen Bewusstseins im 16. und 17. Jahrhundert. In: Wahrnehmungsgeschichte und Wissensdiskurs im illustrierten Flugblatt der Frühen Neuzeit (1450–1700). Hg. von Wolfgang Harms und Alfred Messerli in Verbindung mit Frieder von Ammon und Nikola von Merveldt. Basel 2002, S. 415–442, hier S. 419–422 et passim und Hildegard E. Keller: God’s Plan for the Swiss Confederation. Heinrich Bullinger, Jakob Ruf and their Uses of Historical Myth in Reformation Zürich. In: Orthodoxies and Heterodoxies in Early Modern German Culture. Order and Creativity. Hg. von Randolph C. Head und Daniel Christensen. Leiden, Boston 2007, S. 139–167.

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begünstigt,55 welche eidgenössisches Bewusstsein in den Dienst theologischer Auseinandersetzung stellen; sie bedeutet jedoch keinesfalls das Ende national ausgerichteter Bühnenwerke, wie die nicht geringe Zahl im 16. und 17. Jahrhundert entstandener vaterländischer Schauspiele belegt. Reformierten Ursprungs sind beispielsweise Jakob Rufs Spil vom wol und übelstand eyner loblichen eydgnosschafft (1538) sowie dessen sogenanntes Neues Tellenspiel (1545)56 oder Valentin Boltz’ Der welt spiegel (1550); gegenreformatorisches Gedankengut transportieren hingegen die in den katholischen Orten der Eidgenossenschaft beliebten Heiligenspiele, die, wie insbesondere Johann Mahlers Historische Beschreibung deß Läbens deß Frommen [...] Einsidel und Eidtgnoßen Niclaus von der Flüe (um 1624), in reichem Maße Elemente aus dem vaterländischen Spiel integrieren. Gemeinsam ist den genannten Dramen die kritische Auseinandersetzung mit politischen Tendenzen ihrer Gegenwart, einer Gegenwart, die als Perversion eines ursprünglichen modellhaften schweizerischen Selbstverständnisses erscheint. Neben der früheidgenössischen Historie bildet die Antike den zweiten Referenzbereich des vaterländischen Schauspiels.57 Der gerade im frühneuzeitlichen Drama schweizerischer Autoren auffallend häufige Rekurs auf die römische Geschichte dient einer Analogiebildung zwischen antikem und modernem republikanischen Bewusstsein, wie sie Heinrich Bullingers Lucretia (1533) beispielhaft vor Augen führt. 58 Unabhängig davon, ob man Levingers These eines direkten Einflusses von Bullingers Drama auf Bircks Judith59 für plausibel hält oder nicht,60 ist davon auszugehen, dass es nicht zuletzt die dezidiert politisch argumentierenden schweizerischen Dramen waren, die Bircks Auffassung des Schauspiels als Spiegel politischer Verhältnisse geprägt haben. Den für Bircks Bühnendichtung konstitutiven Republikanismus allein auf die eidgenössische Theatertradition zurückführen zu wollen, greift allerdings zu kurz. Zum einen dürften die bisherigen Ausführungen deutlich gemacht haben, dass auch die deutschen Apologeten eines humanistische und reformatorische Anliegen amalgamierenden ––––––––– 55 56 57 58

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Zur Konfessionalisierung des schweizerischen Dramas im 16. Jahrhundert vgl. Gut: Vaterländisches Schauspiel (wie Anm. 54), S. 55–91. Zu Jakob Ruf vgl.: Jakob Ruf, ein Zürcher Stadtchirurg und Theatermacher im 16. Jahrhundert (wie Anm. 24). Max Büsser: Die Römerdramen in der Theatergeschichte der deutschen Schweiz (1500– 1800). Luzern 1938 (Schriften der Gesellschaft für Schweizerische Theaterkultur 4). In seinem Vergleich zwischen Hans Sachs’ und Heinrich Bullingers Lucretia hat Horst Hartmann den Unterschied zwischen dem Drama des Nürnberger Dichters, das den moralischen Vorbildcharakter Lucretias in den Mittelpunkt der Darstellung rückt, und demjenigen des Zürcher Geistlichen, das den Fokus auf die politische Dimension des Geschehens, die Gründung der Römischen Republik, richtet, herausgestellt (Horst Hartmann: Zwei deutsche Lucretia-Dramen des 16. Jahrhunderts. Ein Vergleich. In: Weimarer Beiträge 14 [1968], S. 1303–1319). Levinger: Augsburger Schultheater (wie Anm. 6), S. 14–17. Wolfgang F. Michael hält es für wahrscheinlicher, dass Bircks deutschsprachige Bibeldramen durch Wilhelm Gnapheus’ Acolastus beeinflusst wurden (vgl. Wolfgang F. Michael: Ein Forschungsbericht. Das deutsche Drama in der Reformationszeit. Bern, Frankfurt a. M., New York u. a. 1989, S. 72).

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Dramas die staatsbürgerliche Erziehung als einen wichtigen Effekt des Schultheaters herausgestellt haben; zum anderen scheint mir die Tatsache bedeutsam, dass Birck seine in Basel entstandenen deutschsprachigen Bühnenwerke Jahre später einem Augsburger Publikum zugänglich machte, dem er sich zunächst durch lateinische Schulkomödien empfohlen hatte. Merkwürdigerweise hat bislang noch niemand die Frage gestellt, was Birck dazu bewogen haben könnte, seine frühen Bühnendichtungen nicht nur zu latinisieren, sondern sie darüber hinaus in volkssprachlichen Ausgaben zu veröffentlichen, die sich, angesichts der vielfältigen Aufgaben, mit denen Birck als Rektor von St. Anna betraut war, und der schnellen Kadenz, mit der seine Dramen in Augsburg erschienen, nicht allzu sehr von der in Basel entstandenen Urfassung unterschieden haben dürften.61 Der in der bereits 1532 in Basel gedruckten Susanna sich artikulierende republikanische Impetus erscheint dabei nicht etwa abgeschwächt, er bildet, wie ich vorgängig darzulegen versucht habe, im Gegenteil ein konstitutives Element sowohl der volkssprachlichen als auch der neulateinischen Dramen Bircks. Es gilt also, den offenkundig politischen Charakter von Bircks Dramen und insbesondere von Judith neu und anders zu begründen, und dazu ist es unerlässlich, deren Publikations- und Rezeptionskontext genauer in den Blick zu nehmen. Es kann im Folgenden nicht darum gehen, ein differenziertes Bild der konfessionellen und politischen Verhältnisse im Augsburg der 1530er Jahre zu entwerfen. Einige knappe Hinweise müssen genügen, um deutlich werden zu lassen, innerhalb welcher historischer Geschehenszusammenhänge Bircks Dramen ihre Wirkung entfaltet haben. Als eine der um 1500 in demographischer, ökonomischer und politischer Hinsicht bedeutendsten Reichsstädte verfügte Augsburg seit 1368 über eine Verfassung, die den Zünften zwar erhebliche Partizipationsrechte garantierte, jedoch nicht hatte verhindern können, dass die politischen Institutionen der Kommune seit dem 15. Jahrhundert unter den Einfluss oligarchisch-obrigkeitlicher Tendenzen gerieten. Einem Rat, der in zunehmendem Maße als Instrument patrizischer Interessen in Erscheinung trat, stand eine Bürgerschaft gegenüber, die sich, der Vorstellung einer genossenschaftlich strukturierten ‚Gemeinde‘ verpflichtet, als wichtiger politischer Akteur verstand.62 Der Rat sah sich aller––––––––– 61

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Dafür, dass Birck seine deutschsprachigen Bühnenwerke ohne wesentliche inhaltliche Veränderungen in Druck gegeben hat, spricht auch die Tatsache, dass er keine Neuausgabe der bereits in Basel gedruckten Susanna veranstaltet hat. Die 1532 in der wolffschen Offizin gedruckte Fassung galt ihm offenbar nicht als überholt; eine Anpassung an Augsburger Verhältnisse schien ihm nicht notwendig. Aus der reichhaltigen Literatur zur Geschichte Augsburgs während der Reformationszeit sollen hier nur einige wenige Publikationen erwähnt werden. Sehr ausführlich informiert Friedrich Roths vierbändige Reformationsgeschichte Augsburgs über das Geschehen in der Reichsstadt vom Ausbruch der Reformation bis zum Augsburger Religionsfrieden 1555 (Friedrich Roth: Augsburgs Reformationsgeschichte. 4 Bde. München 1901–1911 [Nachdruck 1974]). Meine Ausführungen folgen Rolf Kießling: Augsburg in der Reformationszeit. In: „…wider Laster und Sünde“. Augsburgs Weg in der Reformation. Katalog zur Ausstellung in St. Anna, Augsburg 26. April bis 10. August 1997. Hg. von Josef Kirmeier,

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dings nicht nur einer auf ihren Mitbestimmungsrechten beharrenden Bürgerschaft gegenüber, sondern auch – Augsburg war Bischofsstadt – der als eigenständiger Rechtsbereich organisierten kirchlichen Machtsphäre. Das Ineinander und bisweilen Gegeneinander von Rat und Bürgerschaft, von weltlicher und geistlicher Stadt und nicht zuletzt von Nutznießern und Verlierern der wirtschaftlichen Dynamik, der Augsburg sich zu Beginn des 16. Jahrhunderts ausgesetzt sah, bilden einige jener „Strukturelemente“,63 welche den Status der schwäbischen Reichsstadt innerhalb des Reformationsgeschehens determinierten. Reformatorische Positionen fanden in Augsburg bereits früh zahlreiche Anhänger, nicht nur unter den Handwerkern, von denen viele zu vehementen Verfechtern der neuen Lehre wurden, sondern auch unter den Angehörigen der städtischen Führungselite. Dass der Augsburger Rat es zunächst dennoch vermied, die Reformation einzuführen und sich den protestierenden Ständen anzuschließen, hängt mit den für die schwäbische Reichsstadt kennzeichnenden ökonomischen und politischen Konstellationen zusammen. Angesichts der engen wirtschaftlichen Verflechtung Augsburgs mit dem katholischen Umland, angesichts der Schwierigkeiten, die Institutionen und Träger der katholischen Kirche – Klöster, Stifte und Bistum – zu integrieren, angesichts schließlich einer durch traditionelle Verbundenheit und enge finanzielle Beziehungen zum Hause Habsburg genährten Loyalität gegenüber dem Kaiser als oberstem Stadtherrn entschieden sich sowohl die evangelischen als auch die katholischen Ratsmitglieder für einen ‚mittleren Weg‘, der den neuen Glauben zuließ und zugleich die politischen und ökonomischen Interessen der Reichsstadt im Auge behielt. Zusätzlich kompliziert wurde die Situation in Augsburg durch die für die Frühphase der Reformation allerdings keinesfalls atypische Vielfalt der religiösen Auffassungen. In der zweiten Hälfte der 1520er Jahre war Augsburg vorübergehend zu einem Zentrum der süddeutschen Täuferbewegung avanciert, in den frühen 1530er Jahren machte sich außerdem der Einfluss spiritualistischer Strömungen bemerkbar, insbesondere, nachdem Caspar Schwenckfeld 1533/34 für kurze Zeit in Augsburg gewirkt hatte, und vor allem begann seit Beginn der 1530er Jahre die oberdeutsch-reformierte Ausformung des Glaubensbekenntnisses die zunächst dominierende lutherische Richtung zu verdrängen. Nicht vergessen werden sollte die katholische Minderheit, die, obwohl zahlenmäßig unbedeutend, weiterhin ein gewichtiges Wort mitzureden hatte, gehörten ihr doch einige der einflussreichsten Familien Augsburgs an. Dennoch setzte sich schließlich auch im Rat jene Position durch, die in der Bürgerschaft längst die Mehrheitsmeinung bildete; der Weg zur Einführung der Reformation war frei: In einem ersten Schritt übernahm der Rat am 22. Juli 1534 formal die Kirchenhoheit und schränkte den katholischen Gottesdienst ein; am 17. Januar 1537 wurden die noch in der Stadt verbliebenen Klöster aufgelöst und deren Besitz eingezogen, die Geistlichen vor die Wahl gestellt, eingebürgert zu ––––––––– 63

Wolfgang Jahn und Evamaria Brockhoff. Augsburg, Köln 1997, S. 17–43 (dort weitere Literatur). Ebd., S. 17.

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werden oder die Stadt zu verlassen, und die katholische Messe verboten. Die Entscheidung des Augsburger Rates, die Reformation einzuführen, brachte eine konsequente Neugestaltung der innerstädtischen Ordnung mit sich. Die erste Augsburger Kirchenordnung von 1537, ein Feiertagsmandat sowie eine Zuchtund Polizeiordnung aus dem selben Jahr, die Einrichtung eines Ehegerichts und einer Zensurbehörde oder die 1538 erfolgte Patriziervermehrung, durch welche die Zusammensetzung des Rates verändert wurde, sie alle dienten einer Reorganisation der städtischen Institutionen in reformatorischem Sinne. Reorganisiert wurde 1537 auch das Schulwesen, das neu durch sogenannten Scholarchen beaufsichtigt wurde und damit städtischer Kontrolle unterlag. Bircks Rückkehr nach Augsburg fand demnach in einem Moment fundamentaler Umwälzungen statt, Umwälzungen, denen sie sich zugleich verdankte. Vermutlich war es nämlich der Prediger von St. Anna, Bonifacius Wolfart, der sich erfolgreich dafür eingesetzt hatte, dass der mit ihm befreundete Birck als Primarius an das Gymnasium St. Anna berufen wurde. 64 Wie auch Birck war Wolfart Zwinglianer und bildete eine wichtige Figur innerhalb eines reformierten Netzwerks, dem zahlreiche Inhaber öffentlicher Funktionen angehörten, so etwa, neben Prädikanten der städtischen Hauptkirchen, Ärzte wie Gereon Sailer, einflussreiche Juristen, Bürgermeister, etwa Simprecht Hoser, dem Birck seinen Joseph gewidmet hat, und nicht zuletzt eine größere Zahl von Ratsmitgliedern. Sie alle pflegten enge Beziehungen zu Gleichgesinnten in anderen oberdeutschen Städten, insbesondere Straßburg, sowie zu den protestantischen Orten der Eidgenossenschaft. Für Birck bedeutete der Wechsel von Basel nach Augsburg demnach nicht die Konfrontation mit einem völlig andersgearteten konfessionellen und politischen Umfeld; er fand in seiner Heimatstadt im Gegenteil eine Konstellation vor, die seinen eigenen, durch die Basler Erfahrungen geprägten Überzeugungen affin war, wie ich abschließend – wiederum in bewusst knapper Form – darlegen werde. Prägnant lässt sich die hier postulierte These an drei für die in Bircks Dramen zutage tretende Auffassung der Respublica zentralen Aspekten erläutern: erstens dem für nicht wenige oberdeutsche Reichsstädte symptomatischen Verständnis des Staates als einer zugleich geistlichen und weltlichen Gemeinschaft, zweitens der Art und Weise, wie das Verhältnis zwischen Rat und Bürgerschaft konzeptionalisiert wird, und drittens den der Legitimation öffentlichen Handelns dienenden politischen Leitwerten. Die historische Forschung hat längst herausgearbeitet, welche Bedeutung im oberdeutschen Raum dem Konzept der Kommune als Gemeinde zukommt. 65 Obwohl der Begriff ‚Gemeinde‘ auf unterschiedlich verfasste Gemeinwesen bezogen worden ist und damit zur Unschärfe tendiert,66 bezeichnet er als politi––––––––– 64 65 66

Vgl. Levinger: Augsburger Schultheater (wie Anm. 6), S. 23. So etwa Peter Blickle: Gemeindereformation. Die Menschen des 16. Jahrhunderts auf dem Weg zum Heil. Studienausgabe. München 1987. Vgl. Rolf Kießling: Städtischer Republikanismus. Regimentsformen des Bürgertums in oberschwäbischen Stadtstaaten im ausgehenden Mittelalter und der beginnenden Frühneuzeit. In: Politische Kultur in Oberschwaben. Hg. von Peter Blickle. Tübingen 1993, S. 175–205, hier S. 182f.

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scher Terminus in der Regel die Gesamtheit der Bürgerschaft einer Kommune. Zugleich findet er Verwendung als kirchlich-religiöser Begriff, steht er doch auch für die Pfarrgemeinde, d. h. einen institutionell abgesicherten Zusammenschluss der Gläubigen. Es ist diese doppelte, politische und geistliche, Dimension des Begriffs ‚Gemeinde‘, die gerade im Südwesten des Reichs und in der Eidgenossenschaft das protestantische Verständnis des Staates charakterisiert. Leitend ist das Modell einer christlichen Republik, in der sacerdotium und imperium nicht antagonistische Machtsphären bezeichnen, sondern sich in einer zugleich religiösen und säkularen Ordnung vereinen. Zwar hat auch Luther das Verhältnis von Kirche und Staat im Sinne einer Konvergenz geistlicher und staatlicher Gewalt neu definiert; es sind jedoch vor allem die oberdeutschen und eidgenössischen Reformatoren, allen voran Zwingli, welche die ecclesia Christi in einer idealtypischen Ordnung verkörpert sahen, in der Evangelium und Respublica zur Deckung gelangen. So betont Zwingli ausdrücklich urb[s] Christian[a] nihil quam ecclesiam Christianam [est]67 und verweist damit auf die Kongruenz von Kirche und Staat. Die Konsequenz aus dieser Prämisse hat Thomas A. Brady als „Kommunalisierung der Religion“ beschrieben.68 Die Engführung von geistlicher und politischer Gemeinde führte zwar einerseits dazu, dass als normative Basis auch staatlichen Handelns ein biblisch fundiertes Wertesystem institutionalisiert werden konnte, sie begründete jedoch andererseits den obrigkeitlichen Zugriff auf die Kirche. Die Gemeinde, verstanden als religiöse Entität, wird in der Folge in zunehmendem Maße der Kontrolle städtischer Gremien unterstellt; Geistliche verwalten ihr Amt in enger Abstimmung mit den kommunalen Organen, etwa dem Rat. Wenn also in der deutschsprachigen Fassung von Bircks Judith der Priester Eliakim gleich zu Beginn in ainem geseßnen Rhat das gemain anligen denen von Bethulien anzaigt. Und sy zuo standthafftigkait/ und zum bett ermanet69 bzw. in der ersten Szene des ersten Akts der lateinischen Fassung der ‚Consul‘ Ozias und der ‚Summus Sacerdos‘ Ioachim die Bedrohungslage erörtern 70 und in beiden Fassungen das Drama damit endet, dass Ozias den aus Jerusalem angereisten Hohepriester samt einer Delegation von Geistlichen empfängt,71 steht dies in Einklang mit einer Auffassung des Gemeinwesens als christlicher Respublica, wie sie sich auch im Augsburg der 1530er Jahre Bahn gebrochen hatte. Wiederholt erinnert Ozias im Lauf des Geschehens denn auch an die Ermahnungen der Kirchenvorsteher und Prädikan––––––––– 67

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Das vollständige Zitat lautet: Christianum hominem nihil aliud esse quam fidelem ac bonum civem, urbem Christianam nihil quam ecclesiam Christianam esse. Vgl. Huldreich Zwinglis sämtliche Werke. Unter Mitwirkung des Zwingli-Vereins in Zürich herausgegeben von E. Egli et alii (Corpus Reformatorum CI). Bd. XIV. Zürich 1982 (Nachdruck der Ausgabe Zürich 1956), S. 424, 20ff. Thomas A. Brady, Jr.: Göttliche Republiken: die Domestizierung der Religion in der deutschen Stadtreformation. In: Zwingli und Europa. Referate und Protokoll des Internationalen Kongresses aus Anlass des 500. Geburtstages von Huldrych Zwingli vom 26. bis 30. März 1984. Zürich 1985, S. 109–136, hier S. 119. BSD II: 62 [Regieanweisung]. BSD II: 287ff. Vgl. BSD II: 157–162 bzw. BSD II: 422–428.

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ten, denen er als Exegeten und Verkünder des göttlichen Willens eine zentrale Rolle zuweist, 72 und macht dadurch deutlich, welch enges Band zwischen kirchlicher und weltlicher Obrigkeit besteht. Noch offenkundiger sind die Parallelen zwischen der geschichtlichen und der im Drama inszenierten literarischen Welt, wenn man den Blick auf die Art und Weise richtet, wie Birck das Verhältnis zwischen städtischer Obrigkeit und Bürgerschaft gestaltet. Ein Merkmal der Augsburger Verhältnisse ist die bereits angesprochene Spannung zwischen einem durch die bis gegen die Mitte des 16. Jahrhunderts geltende Zunftverfassung präjudizierten partizipatorischen Modell staatlicher Organisation und den Interessen einer städtischen Oligarchie, die in den politischen Gremien ihre Machtbasis besaß. 73 Vor allem dem Rat als kollegialem Organ kam eine zentrale Rolle zu, zugleich jedoch blieb, zumindest programmatisch, die Bürgerschaft ein wesentlicher Akteur reichsstädtischer Politik. Mit dem Großen Rat, dem, wie Rolf Kießling betont hat, „wichtigsten Träger der Integration der Gesamtbürgerschaft“, 74 verfügte Letztere über ein Instrument zur Durchsetzung des Anspruchs auf politische Teilhabe, zugleich jedoch verstand sich der Augsburger Rat seit dem 15. Jahrhundert immer stärker als von Gott legitimierte Obrigkeit mit umfassendem Herrschaftsanspruch. Die Reformation brachte keine Klärung des Verhältnisses zwischen Rat und Bürgerschaft, bot sie doch sowohl den Verfechtern einer partizipatorischen Auffassung städtischen Regiments als auch den Repräsentanten der politischen Elite eine Handhabe zur Durchsetzung der je eigenen Position. Die sich daraus ergebenden Ambivalenzen und Konfliktpotentiale bildet Bircks Judith mit bemerkenswerter Präzision ab. Wiederholt wird der Wert eines frommen und klugen Regiments beschworen, etwa wenn die frumme Oberhand (BSD II: 61, 87) ermahnt wird, das vatter land hand[zu]halten (BSD II: 61, 88), oder Ozias sich mit folgenden Worten an den Rat richtet: VIri Bethulienses, Patres Optimi, Patriae salus iubet rem forti pectore Gerere, atque consilio, fide et prudentia Opus est. Patres Conscripti. Quî Respublica Salva esse possit, hic nunc consultabimus (BSD II: 329f., 1062–1066). Die Verantwortung für die politischen Geschicke der Stadt liegt demnach primär beim Rat, gegen dessen Autorität sich aufzulehnen den Bürgern nicht zugestanden wird. Dass die Bürger Bethuliens den Beschluss des Rates, Holofernes Widerstand zu leisten, ablehnen und den Rat zu einer Revision seiner ursprünglich getroffenen Entscheidung bewegen, wird denn auch durchwegs kritisch vermerkt. Statt auf Gott zu vertrauen, verzagen die Bürger vor angsten schier (BSD II: 101, 1060); sie erscheinen ungeduldig,75 misstrauen und drohen dem Rat, wie Chambri Judith berichtet: Die gmain wolt uns vertrawen nitt mit tröwen was vermengt ir bitt Wir müsten bsorgen grösser schaden darmit wir laider seind beladen Die undult steckt im ––––––––– 72 73 74 75

Vgl. etwa BSD II: 296, 373ff.: Viri Bethuliensis cives optimi, Audistis haec quae Princeps, et sacer Dei Antistes hic pro concione dixerit. Vgl. dazu Kießling: Städtischer Republikanismus (wie Anm. 66). Ebd., S. 183. Vgl. etwa BSD II: 103, 1129f.: Ir sehend wie der gmaine man mag gar kain Patientz nit han.

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gmainen man den selben niemandt stillen kann (BSD II: 110, 1305–1310). Ungeachtet der Tatsache, dass nicht nur der eben zitierte Ratsherr den Bürgern Bethuliens den politischen Weitblick abspricht, stellt die in der deutschsprachigen Judith wiederholt apostrophierte ‚Gemeinde‘76 einen wichtigen Protagonisten städtischer Politik dar. Sie wird im Drama mehrmals einberufen und über die aktuellen Entwicklungen sowie die diesbezüglichen Beschlüsse des Rates informiert, sie lässt ihre Anliegen durch Ratsmitglieder vortragen und findet Gehör, sie erscheint als diejenige, die das Vaterland zu verteidigen in der Lage ist.77 Gmain und rhat (BSD II: 69, 265), ‚populus‘ und ‚senatus‘ bilden demnach gemeinsam die Konstituenten politischer Ordnung, nur wenn, so die wiederholte Mahnung in Judith, zwischen Bürgerschaft und Rat Einigkeit besteht, kann die Respublica gedeihen. Der in Judith unüberhörbare Ruf nach Einigkeit rückt jenes Normensystem ins Blickfeld, das der ideologischen Begründung reichsstädtischer Politik diente und das auch Birck als Richtschnur adäquaten politischen Handelns inszeniert. Von zentraler Bedeutung für das Funktionieren frühneuzeitlicher Gemeinwesen, so hat schon Hans-Christoph Rublack dargelegt, 78 waren der Auffassung der politischen Eliten gemäß insbesondere Friede und Recht als Bedingungen jenes ‚Gemeinen Nutzens‘, der in reichsstädtischen Zusammenhängen immer wieder als oberstes Ziel eines Regiments bemüht wird. Primäre Aufgabe des Rates ist es demzufolge, das Wohlergehen der Bewohner einer Kommune zu gewährleisten, indem Rechtssicherheit garantiert und der äußere und innere Friede bewahrt werden. Nicht zufällig also erscheint der Begriff der ‚concordia‘ in Bircks Judith als zentraler Wert. So wendet sich etwa der Priester Eliakim mit den Worten: Wa Rhat und gmaind zuosamen sagt da darff man sein gantz nit verzagt So aber die seind gar zertrent die sach wirt haben kain guot end (BSD II: 65, 179–182) an den Rat der Stadt Bethulia und beendet seine Rede mit dem Satz zum gmainen nutz staht all mein muot (BSD II: 65, 196). Dass das vatterland in allem friden sei (BSD II: 155, 2388f.), ist auch das Anliegen des jungen Promptulus, und der Rat setzt in der lateinischen Fassung der Judith alles daran, die durch Holofernes ausgelöste innenpolitische discordia (BSD II: 355, 1723) zu überwinden. Dabei führt er modellhaft vor, wie unterschiedliche Auffassungen politisch integriert und damit entschärft werden können. Die zahlreichen, in Bircks Judith mit bisweilen ermüdender Ausführlichkeit dargestellten Ratssitzungen vermitteln das Bild einer Kollegialbehörde, in der divergierende Positionen formuliert, durch Mehrheitsbeschluss verabschiedet und als obrigkeitlicher Konsens öffentlich kommuniziert werden. Der Begriff der ‚concordia‘ bezeichnet in Judith demnach ein Doppeltes: Er steht zum einen für die Art und Weise, ––––––––– 76 77 78

Vgl. etwa BSD II: 64, 169, BSD II: 69, 265 oder BSD II: 81, 546. Zu Letzterem vgl. BSD II: 82, 551–554: Wolauff ir Burger bey dem aid nach dem ain yeder hat sein bschaid Wolauff all mit gewerter hand streyttend für ewer vatterland. Hans-Christoph Rublack: Grundwerte in der Reichsstadt im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit. In: Literatur in der Stadt. Bedingungen und Beispiele städtischer Literatur des 15. bis 17. Jahrhunderts. Hg. von Horst Brunner. Göppingen 1982 (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 343), S. 9–36.

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wie politische Entscheidungen zustande kommen, und verweist zugleich auf ein harmonisches Verhältnis zwischen Rat und Bürgerschaft. Gemeinsam mit dem in Bircks Susanna verhandelten Begriff des Rechts bildet Eintracht die Voraussetzung jenes gemeinen Nutzens, der auch in Judith als Telos politischen Handelns bestimmt wird. Jörg Rogge hat überzeugend dargelegt, dass sich mit dem Begriff des ‚Gemeinen Nutzens‘ durchaus unterschiedliche Vorstellungen politischer Praxis verbinden konnten.79 Er diente, in der Verfügungsgewalt der städtischen politischen Elite, einerseits als Legitimationsbasis von Herrschaft und als ökonomisches und soziales Regulativ und fungierte zugleich als „zentraler Begriff bei der ständischen und genossenschaftlichen Forderung nach Teilhabe.“80 Als Konzept, zu dem alle städtischen Gruppen in einer funktionalen Beziehung standen, kam ihm die Rolle eines ‚Integrationsmodells‘ zu, das divergierende Interessen zumindest diskursiv zu versöhnen vermochte. Ähnliches ließe sich mit Blick auf die in den Dramen Bircks immer wieder bemühte Respublica festhalten. Der Begriff ‚Respublica‘ bezeichnet dort nämlich keine semantisch feste Größe, sondern demonstriert durch die Vielzahl der mit ihm in Beziehung gesetzten Konnotationen seine Eignung als synthetisierende Formel für unterschiedliche Auffassungen kollektiver Organisation: Wird die Respublica in der lateinischen Widmungsvorrede zur Susanna mit der patriarchal strukturierten Familie in Verbindung gebracht (Sic Magistratus communis totius civitatis pater hanc cum primis sibi sumet curam, ne sua familia, tota nimirum civitas, quicquam detrimenti vel in ipsa herba capiat; BSD II: 171, 1–3), so erscheint sie an anderer Stelle als auserwähltes Volk Gottes, das unter dem besonderen Schutz des Höchsten steht,81 und trägt außerdem immer wieder Züge einer urchristlichen Gemeinde. Sie steht für das nach dem Modell frühneuzeitlicher Kommunen gestaltete Gemeinwesen und verschmilzt zugleich mit für das protestantische Selbstverständnis zentralen Konzepten sozialer und religiöser Interaktion. Es ist der tendenziell opake Charakter des Terminus ‚Respublica‘, der diesen zu einem wirkungsmächtigen Schlagwort innerhalb des politischen Diskurses prädestiniert. Im für die Augsburger Verhältnisse charakteristischen komplexen Gefüge partiell widerstreitender Interessen bietet er eine Verständigungsbasis, einen Ort, an dem die je verschiedenen Vorstellungen staatlicher Ordnung zu konvergieren scheinen.

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Vgl. dazu Jörg Rogge: Für den Gemeinen Nutzen. Politisches Handeln und Politikverständnis von Rat und Bürgerschaft in Augsburg im Spätmittelalter. Tübingen 1996 (Studia Augustana 6). Ebd., S. 287. Vgl. BSD II: 85, 629–636: Wir hond ain Gott / wir hond ain land darein seind wir von Gott gesandt Das er uns selbs versprochen hatt uns geben bund und diese statt Dieweil der unser Gott will sin so mögend ir wol ziehen hin Er würt die seinen nit verlon den seinen würt er starck beyston.

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III. Bircks Dramen stehen, dies dürften meine Ausführungen verdeutlicht haben, in engstem Zusammenhang mit den zeitgenössischen politischen, konfessionellen und sozio-ökonomischen Konstellationen in Augsburg. Die mit der Einführung der Reformation verbundenen, alle wesentlichen Bereiche städtischen Lebens umfassenden Reorganisationsbestrebungen des Rats und die dadurch bewirkten Umwälzungen; die konfessionellen Bruchlinien und das gleichzeitige Bemühen, die politische Stabilität bedrohende Konflikte zwischen Reformierten, Lutheranern und Katholiken zu verhindern; die Konfrontation zwischen den meist wirtschaftlich erfolgreichen Angehörigen einer städtischen Oligarchie und den von ökonomischen Krisenerscheinungen betroffenen Handwerkern und Unterschichten82 – es sind diese Erfahrungen, auf die der Rektor von St. Anna zu antworten sucht, indem er in seinen Bühnendichtungen die den Zusammenhalt und das Gedeihen des Staates auf die Probe stellenden Herausforderungen am Beispiel biblischer Vorbilder vor Augen führt und zugleich auf idealtypische Weise Frieden und Gerechtigkeit begünstigende Handlungsweisen inszeniert. Die ihn dabei leitende Auffassung des Gemeinwesens ist, auch das habe ich zu zeigen versucht, einem spezifisch oberdeutschen Verständnis kommunaler Ordnung verpflichtet, das er im Medium des Theaters seinen Schülern als zukünftiger Funktionselite zu vermitteln bemüht ist. Angesichts der engen Beziehung zwischen den für Augsburg in den ersten Dezennien der Reformation konstitutiven historischen Umbrüchen und der im Medium des Dramas vermittelten politischen Programmatik überrascht es kaum, dass Bircks Bühnendichtungen nicht ausschließlich der Erziehung einer begrenzten reichsstädtischen Elite dienen sollten, sondern mit einer breiteren Rezeption rechneten. Wer, wie dies Wolfgang F. Michael getan hat, 83 die Dramen Bircks als gymnasiale Übungen ohne Bezug zu einer außerschulischen Öffentlichkeit wertet, wird weder ihrer Intention noch ihrer Wirkung gerecht. Wenn Misael in der lateinischen Fassung der Judith mit Blick auf die heroische Tat der Protagonistin festhält: Pueri sumus teneres aetate, et parvuli, Sed ex tenella aetate nascitur nova Respublica, et qui praesunt functionibus In urbe passim per tribus nunc publicis. Pueri fuêre et

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Die Unterschiede zwischen Reichen und Armen werden in Bircks Judith mehrfach thematisiert, so etwa, wenn Hydrophila die durch die Belagerung der Stadt Bethulia entstehende Wasserknappheit mit den Worten kommentiert: Es ist nur umb die armen zthon die reichen kommen wol darvon (BSD II: 100, 1045f.). Die nach dem Sieg über Holofernes anfallende Beute soll, wie Ozias betont; allen zugute kommen: Wir haben reiche beüt erholt […] Die wend wir allsand tailen gleich darmit kain vortail hab der reich (BSD II: 153, 2343–2346). Vgl. Wolfgang F. Michaels Behauptung, die Aufführungen der birckschen Dramen in Augsburg seien „eine interne Angelegenheit im Hofe der Schule“ (Michael: Drama der Reformationszeit [wie Anm. 3], S. 208).

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ipsi. Si tempus feret, Fungamur ut nos publico quoque munere, Habebimus paradigma splendidissimum Rei gerendae (BSD II: 420, 2956–2963)84

ist dies zwar ohne Zweifel als Appell an die jungen Akteure auf der Bühne zu verstehen, sich die Bildungsziele der Institution, der Birck als Rektor vorsteht, zu eigen zu machen. Das Drama zielt jedoch zugleich auf einen Adressatenkreis, der über den engen Bereich des Gymnasiums St. Anna hinausgreift und jenen lebensweltlichen Erfahrungsraum verkörpert, in dem sich die Schüler als Erwachsene zu bewähren hatten. Aufschlussreich sind in diesem Zusammenhang die die Handlung der Judith rahmenden Ansprachen an das Publikum und hier insbesondere der Epilog.85 Indem sowohl geistliche Würdenträger, das Stadtoberhaupt, die Mitglieder des Rats als auch jene Bürger, die, ohne eine öffentliche Funktion zu bekleiden, dennoch wesentlich zum Erhalt der staatlichen Ordnung beitragen – der ‚pater domesticus‘, die ‚foeminae‘, die ‚famuli‘ und der ‚miles‘ – direkt angesprochen werden, offenbart der Autor, dass er sich mit seinem Drama an die gesamte Bürgerschaft Augsburgs richtet. Die Aufführung von lateinischen Dramen war demnach auch und gerade im Falle des Gymnasiums St. Anna ein öffentlicher Akt, dem städtische Honoratioren, Ratsherren, Gönner des Schule, Scholarchen, Gelehrte und Angehörige der meist aus angesehenen Familien stammenden Schüler beiwohnten. In seiner Geschichte des Gymnasii zu St. Anna in Augsburg (1740) betont Philipp Jakob Crophius denn auch, schon Sixt Bircks erster Biograph, Johannes Nysaeus, bezeuge, daß er [Birck, A. d. V.] zu solchen Schulschauspielen die vornehmsten der Stadt und gelehrtesten Leute hat einladen lassen, und sodann ihnen seine Schüler nach Verdiensten recommendirt, dadurch aber der Schule und seinen Zuhörern sehr viele Patronen zuwege gebracht habe. 86 Indem Birck dafür sorgte, dass Vertreter der politischen, kirchlichen und kulturellen Eliten zu seinem Publikum zählten, befolgte er den Rat jener Schulordnungen, welche im Hinblick auf gymnasiale Aufführungen die Anwesenheit von Ratsmitgliedern, Geistlichen und Gelehrten empfahlen, 87 und nutzte zugleich die Möglichkeit, die Leistungen seiner Schule und seiner Schüler publik zu machen. Die allein schon aus pragmatischen Gründen sinnvolle Präsentation schulischen Erfolgs ist jedoch nicht die einzige und auch nicht die zentrale Ursache für die von Birck angestrebte Breitenwirkung seiner dramatischen Tätigkeit. Wie die der Druckfassung seiner deutschsprachigen und lateinischen Dramen vorangestellten Widmungsvorreden belegen, verstand er das Schultheater als wichtiges Moment umfassender ––––––––– 84

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Die entsprechende Stelle lautet in der deutschsprachigen Fassung der Judith: wir seind noch all baid kind Auß kinden werden aber leüt es wirt noch kommen wol die zeyt Das wirt der gwalt und Regiment noch kommen auch in unser hend So mög wir ain exempel han wie man die sach soll greiffen an (BSD II: 155, 2396–2402). In der lateinischen Fassung der Judith BSD II: 428–431, in der deutschsprachigen Fassung BSD II: 162–165. Philipp Jakob Crophius: Geschichte des Gymnasii zu St. Anna in Augsburg. Hg. von Monika Prams-Rauner. Augsburg 1999 (Nachdruck der Ausgabe von 1740), S. 14f. Vgl. etwa die Brandenburger Schulordnung von 1564, in der es heißt: Et satis erit, semel atque iterum agere et exhibere Comoediam coram Senatu, ministris verbi et civibus doctis (vgl. Vormbaum [Hg.]: Schulordnungen I [wie Anm. 31], S. 541).

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gesellschaftlicher Interaktion, als einen Ort, an dem politische, konfessionelle, soziale oder ökonomische Entwicklungen reflektiert und Handlungsoptionen verworfen oder vermittelt werden konnten. Nicht allein um die rhetorische und moralische Bildung seiner Zöglinge ging es ihm; sein dramatisches Schaffen stellt auch den Versuch dar, den ihm auferlegten pädagogischen Auftrag auf die gesamte Bürgerschaft seiner Heimatstadt auszudehnen. Wenn wir Bircks Schuldramen als auf eine breite Wahrnehmung zielende Medien der Propagierung religiöser, politischer sowie sozial- und individualethischer Normen verstehen, finden wir auch eine Erklärung für die bemerkenswerte Tatsache, dass der Rektor von St. Anna seine in Basel verfassten deutschsprachigen Dramen in Augsburg drucken ließ. Obwohl, wie Helene Levinger nachgewiesen hat, 88 die Aufführungen von Bircks Dramen im Schulhof von St. Anna stattfanden und damit Raum auch für ein größeres Publikum zur Verfügung stand, wandten sich die Inszenierungen lateinischer Schauspiele an einen zahlenmäßig begrenzten, sich durch Stand, Amt und Bildung auszeichnenden Kreis von Zuschauern. Wenn Birck all jene des Lateins Unkundigen, die er in seinen Bühnendichtungen ebenfalls anspricht, erreichen wollte, bedurfte es demnach eines wirkungsmächtigen Popularisierungsinstruments. Erst der systematische Vergleich zwischen den volkssprachlichen und den lateinischen Fassungen seiner Dramen – der hier nicht geleistet werden kann – erlaubt es, deren je spezifische Funktion präzise zu bestimmen; dennoch spricht einiges dafür, dass die deutschen Drucke in erster Linie dazu dienten, Leserinnen und Leser unter jenen Individuen und Gruppen anzusprechen, die aufgrund ihrer sozialen Zugehörigkeit und/oder ihrer Bildungsvoraussetzungen nicht in der Lage waren, einer lateinischen Aufführung zu folgen. Dies konnten durchaus auch Angehörige der Oberschicht sein, die keine humanistische Erziehung genossen hatten; es war jedoch vor allem jener ‚gemeine Mann‘, den auch andere Autoren protestantischer Bibeldramen als primären Adressaten benennen,89 der durch die gedruckten deutschen Fassungen der birckschen Dramen die Möglichkeit erhalten sollte, sich mit den darin postulierten Normen moralisch adäquaten Verhaltens vertraut zu machen. 90 Bircks Wirken als Schuldramatiker sprengt demnach den Rahmen jener gymnasialen Institution, für die er seine Bühnendichtungen verfasste bzw. adaptierte. Seine Theaterstücke wenden sich an einen tendenziell breiten, Stand, Geschlecht und Generationen übergreifenden Rezipientenkreis, ––––––––– 88 89

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Levinger: Augsburger Schultheater (wie Anm. 6), S. 74. Vgl. etwa Joachim Greff, der laut eigenem Bekunden seine Stücke so verfasste, dass sie vom gemeinen man / verstanden / gelesen und angehört möchten werden (zitiert nach Joseph E. Gillet: Über den Zweck des Dramas in Deutschland im 16. und 17. Jahrhundert. In: Publications of the Modern Language Association of America 32 (1917), S. 454–467, hier S. 454). Zur Relevanz und zu den möglichen Funktionen gedruckter reformatorischer Dramen vgl. Bernhard Jahn: Druck und Drama: Zur Rolle des Buchdrucks bei der Aufführung und Rezeption frühneuzeitlicher Dramen am Beispiel der Magdeburger Drucke bis 1631. In: Prolegomena zur Kultur- und Literaturgeschichte des Magdeburger Raumes. Hg. von Gunter Schandera und Michael Schilling. Magdeburg 1999 (Forschungen zur Kultur- und Literaturgeschichte Sachsen-Anhalts 1), S. 129–150.

Protestantisches Schultheater und reichsstädtische Politik

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dem sie grundlegende Maximen einer protestantisch gefärbten Sozialethik vermitteln wollen, und ordnen sich ein in das politische und konfessionelle Gefüge einer sich im Umbruch befindenden oberdeutschen Reichsstadt. In diesem Kontext nun avanciert Bircks dramatisches Wirken zum Medium städtischer Politik. Was Johanna Thali jüngst am Beispiel Luzerns veranschaulicht hat, in welchem Maße nämlich öffentliche Inszenierungen als Akte städtischer Selbstvergewisserung und Selbstdarstellung fungieren konnten,91 gilt demnach nicht nur für den eidgenössischen Raum, sondern auch für den Stadtstaat Augsburg und der für diesen charakteristischen Praxis protestantischen Schultheaters. Im Sinne Letzterer erscheinen Bircks Bühnendichtungen als hochpolitisch: mit ihrer Privilegierung jener Stoffe, die besonders geeignet scheinen, Probleme der Respublica zu erörtern, mit ihrer auf die Propagierung im oberdeutschen Raum dominierender Konzepte religiöser, politischer und sozialer Ordnung gerichteten literarischen Konfiguration und mit ihrer auf Öffentlichkeit zielenden Gestaltung und Vermittlung erweisen sie sich als wichtige Konstituenten reichsstädtischer Kommunikation und Repräsentation.

––––––––– 91

Vgl. Johanna Thali: Text und Bild – Spiel und Politik. Überlegungen zum Verhältnis von Theater und Malerei am Beispiel Luzerns. In: Meier [u. a.]: Theater des Mittelalters und der Frühen Neuzeit (wie Anm. 23), S. 171–203.

Bernhard Jahn

Schultheater jenseits von St. Anna Versuch einer Annäherung an die Theaterspielpraxis der deutschen Schulen in Augsburg am Beispiel von Sebastian Wilds Dramensammlung

Zweifellos bildeten die Aktivitäten des Gymnasiums bei St. Anna einen wichtigen Bestandteil im Rahmen des Augsburger Theaterlebens während des 16. Jahrhunderts. Bis zum Beginn der jesuitischen Spielpraxis1 im Jahre 1583 gingen die Impulse für Theaterauführungen immer wieder von dieser Institution aus. Sixt Birck als Rektor des Gymnasiums von 1536 bis 1554 lieferte mit seinen lateinischen Dramen Modelle für das lateinische Schultheater2 und etablierte eine Aufführungstradition, die, von Unterbrechungen abgesehen, bis ins 18. Jahrhundert reichte. 3 Steht die Bedeutung des humanistischen Gymnasiums für die Augsburger Theatertradition auch außer Frage, so ergeben sich aufgrund der zentralen institutionellen Stellung des Gymnasiums und aufgrund der Nähe von humanistischer Gelehrsamkeit und Verlagswesen bestimmte Verzerrungen, wenn man die Augsburger Theaterpraxis des 16. Jahrhunderts rekonstruieren möchte. Da dem Theater als Präsenzmedium ein eigenes Speichersystem fehlt, vergeht die Aufführung mit der Aufführung. Soll etwas von der Aufführung bleiben, muss eine Transformation in ein anderes, dauerhafteres Medium erfolgen. In der Frühen Neuzeit fungierte hauptsächlich das gedruckte Buch als Speichermedium für das Theater. Aber nicht alle Aufführungen wurden durch Drucke dokumentiert. Dies liegt zunächst auch daran, dass die Dramendrucke im 16. Jahrhundert ––––––––– 1

2 3

Das am 16. Oktober 1582 eröffnete Gymnasium St. Salvator führte ab 1583 regelmäßig zwei Dramen pro Jahr auf, beginnend mit einem Josephsdrama von Jakob Pontanus. Zumindest bis in die dreißiger Jahre des 17. Jahrhunderts wurden alle jesuitischen Dramatiker von Rang auf der Augsburger Bühne präsentiert. Neben Bidermann mit seinem Cenodoxus (1602) und Cassianus (1602) wären hier der schon erwähnte Pontanus, Jeremias Drexel oder Kaspar Rhey zu nennen. Vgl. den Überblick in: Die Jesuiten und ihre Schule St. Salvator in Augsburg 1582. Hg. von Wolfram Baer und Hans Joachim Hecker. München 1982, S. 69ff. Zu Birck vgl. den Aufsatz von Silvia Serena Tschopp in diesem Band mit weiterführender Literatur. Ein Überblick über die Theatertradition des Gymnasiums bei St. Anna steht noch aus. Bausteine für eine solche Geschichte enthält Karl Köberlin: Geschichte des humanistischen Gymnasiums bei St. Anna in Augsburg 1531–1931. Augsburg 1931 sowie der Band: Eine Augsburger Schule im Wandel der Zeit. Das Gymnasium bei St. Anna. Begleitbuch zur gleichnamigen Ausstellung vom 8. 11. 2000–7. 12. 2000. Hg. vom Gymnasium bei St. Anna. Augsburg 2000.

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weniger der Dokumentation einer Aufführung dienten, sondern als Lesedramen unterhalten, moralisch erbauen oder als Instrumente politischer und religiöser Agitation Wirkung entfalten sollten. Zudem konnten sich die Dramendrucke als Vorstufe einer zu realisierenden Aufführung verstehen oder konnten sogar bei einer Aufführung mitgelesen werden, um das Textverständnis zu sichern. 4 Das Fehlen von Dramendrucken für einen Großteil der Dramen hängt aber vor allem auch damit zusammen, dass im 16. und noch mehr im 17. Jahrhundert Medienmonopole bestanden, die die Tradierung der Theaterpraxis kanalisierten. Nicht jeder Spielleiter hatte in gleichem Maße Zugang zum Druck als dem wichtigsten Speichermedium. Für die Theaterpraxis bedeutete dies, dass hauptsächlich Dramen von Autoren gedruckt wurden, die einen Zugang zum Druckmonopol besaßen, und das war in erster Linie die akademisch gebildete Elite, sodann außerdem Vertreter der politischen Führungsschicht, kaum jedoch Vertreter von Gruppen, die diesen Eliten fernstanden. Für die Nachwelt ergibt sich dadurch ein stark verzerrtes Bild der Theatersituation, das sich aber so ohne weiteres nicht entzerren lässt. Denn stellt man sich einmal die Frage, wie sich die gedruckten (und in geringerem Maße auch handschriftlich überlieferten) Dramen zur frühneuzeitlichen Aufführungspraxis verhielten, dann lässt sich diese Frage meist gar nicht hinreichend beantworten. Die ältere Forschung vom 19. Jahrhundert an bis etwa 1945 hatte es hier leichter – oder sie machte es sich leichter, indem sie a priori von einer regen Volkskultur ausging, von der auch das Theaterleben gespeist wurde. Aber was ist Volkskultur? Entkleidet man diesen Begriff seiner romantischen, auf Herder zurückgehenden Implikationen und versucht, ihn streng sozialgeschichtlich zu reformulieren, dann gerät man unweigerlich ins Vage. 5 Schon aufgrund des vagen Volksbegriffes konnte volkstümliches Theater schwerlich historisch verifiziert werden.6 Sollte man darunter ein nicht-christliches Theater verstehen? Einer solchen Auffassung waren dann germanische Kultspiele schnell zur Hand. Oder handelte es sich um ein derbes Theater mit einem hohen Anteil obszöner Elemente? Grobianismen und Obszönitäten lassen sich auch im humanistischen Drama als wohlkalkuliert eingesetzte Mittel finden. Handelte es sich um ein latent subversives Theater, das bestehende Ordnungsstrukturen in Frage stellte? Letztlich projizierte hier jede Forschungsrich––––––––– 4

5

6

Vgl. meine Analyse der Magdeburger Theaterpraxis des 16. Jahrhunderts: Bernhard Jahn: Druck und Drama – Zur Rolle des Buchdrucks bei der Aufführung und Rezeption frühneuzeitlicher Dramen am Beispiel der Magdeburger Drucke bis 1631. In: Prolegomena zur Kultur- und Literaturgeschichte des Magdeburger Raumes. Hg. von Gunter Schandera und Michael Schilling. Magdeburg 1999, S. 129–150. Zur Volkskultur in der Frühen Neuzeit vgl. Literatur und Volk im 17. Jahrhundert. Probleme populärer Kultur in Deutschland. Hg. von Wolfgang Brückner, Peter Blickle und Dieter Breuer. 2 Bde. Wiesbaden 1985 (Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung 13), hier besonders der einleitende Aufsatz von Wolfgang Brückner: Begriff und Theorie von Volkskultur für das 17. Jahrhundert, Bd. 1, S. 3–21. Noch die Arbeit von Fritz Schnell: Zur Geschichte der Augsburger Meistersingerschule. Augsburg 1958 (Abhandlungen zur Geschichte der Stadt Augsburg 11), S. 23f. argumentiert unreflektiert mit dem „Volkstümlichen“.

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tung ihre politischen Wunschvorstellungen in das Phänomen hinein. Noch bei Bachtin lässt sich dies gut beobachten. 7 Die nach 1945 einsetzende Gegenbewegung in der Literaturwissenschaft betonte demgegenüber sehr stark die gelehrten Traditionen, und das meinte vor allem den Bezug zur antiken Kultur und zum antiken Theater. Theater wurde nun unter der Hand zu einem gelehrten Phänomen, zu einem Text, bei dem es darum ging, die Bezüge zu Terenz und Seneca, bei späteren Dramentexten dann auch zu den griechischen Theaterautoren aufzuweisen. An den Herkunftstheorien der Commedia dell’arte lässt sich dieser Paradigmenwandel gut verdeutlichen. Galt die Commedia dell’arte zunächst als ein aus dem Volk heraus entstandenes Theater, so wurde sie nun als Transformation der lateinischen Komödie für den höfischen Gebrauch gedeutet. 8 Die Auffassung des Theaters als eines gelehrten, im Kontext des Humanismus neu entstehenden Phänomens9 hat einiges für sich, vor allem die Quellenlage. Während man das volkstümliche Theater mehr postulieren musste als belegen konnte, lässt sich das humanistische Theater und das in der Tradition des Humanismus stehende Reformationstheater gut dokumentieren. Gleichwohl soll in diesem Aufsatz der Versuch unternommen werden, am Beispiel der deutschen Schulen Augsburgs die Spielpraxis jenseits des humanistischen (wie auch des jesuitischen) Gymnasiums zu rekonstruieren, ein Versuch, der möglichst ohne Rekurs auf den Volksbegriff auskommen möchte. Zunächst wird der institutionengeschichtliche Rahmen zu rekonstruieren sein, aus dem heraus das Theater der deutschen Schulen, das ein eher nichthumanistisches Theater war, entstand (I.). In einem zweiten Schritt soll dann am Beispiel der Dramen von Sebastian Wild auf den spezifischen dramaturgischen Zuschnitt dieses Theaters und auf dessen konfessionelle Ambivalenzen eingegangen werden. Dabei wird auch nach der besonderen Art von Wissensvermittlung durch die aufgeführten Stücke zu fragen sein (II.).

I. Die Arbeiten von Ludwig Greiff10 und Max Radlkofer11 über die deutschen Schulen in Augsburg aus dem 19. Jahrhundert, auf die sich die folgende institutionengeschichtliche Rekonstruktion hauptsächlich stützt, verzeichnen für ––––––––– 7 8 9

10 11

Dies betrifft vor allem Bachtins Karnevalskonzept. Vgl. Wolfram Krömer: Die italienische Commedia dell’arte. Darmstadt 1976 (Erträge der Forschung 62). Vgl. Cora Dietl: Die Dramen Jacob Lochers und die frühe Humanistenbühne im süddeutschen Raum. Berlin 2005 (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 37). Ludwig Greiff: Beiträge zur Geschichte der deutschen Schulen Augsburgs. Aus urkundlichen Quellen gesammelt. Augsburg 1858. Ferner auch Schnell: Geschichte (wie Anm. 6). Max Radlkofer: Die schriftstellerische Tätigkeit der Augsburger Volksschullehrer im Jahrhundert der Reformation. Augsburg 1903.

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das Jahr 1543 24 deutsche Knaben- und 9 Mädchenschulen, 12 für das Jahr 1568 dann 23 Knaben- und 15 Mädchenschulen.13 Die meisten dieser Schulen hatten nur einen einzigen Lehrer, den sogenannten Schulmeister, bei den Mädchenschulen kam gelegentlich noch eine Lehrerin hinzu. Obwohl sie in der Regel nur von einer Lehrkraft betreut wurden, konnten diese Schulen teilweise recht groß sein. Der Augsburger Konrad Schwarz (d. J.) berichtet etwa in seiner Lebensbeschreibung, dass er 1551 als Schüler auf eine Schule kam, die von 110 Knaben besucht wurde. 14 Der Schulstoff bestand vor der Jahrhundertmitte hauptsächlich aus dem Katechismus und dem Lesenlernen. Schreib- und Rechenübungen setzten sich erst nach der Jahrhundertmitte als Standard durch. Wie die Bezeichnung „deutsche Schule“ schon nahelegt, wurde auf diesen Schulen ausschließlich die deutsche Sprache unterrichtet. Sollte ein Kind das Anna-Gymnasium oder das jesuitische Salvator-Gymnasium besuchen, musste es zuvor keine der deutschen Schulen besuchen, sondern konnte als Propaedeuticum entweder von einem Privatlehrer im Lateinischen unterrichtet werden oder eine Lateinschule besuchen. Über das Einschulungsalter heißt es in der Schulordnung von 1551: Die eltern lassen etwan die kinder vergebens vmblaufen, bis sy neun oder zehen jar alt werden. Das kumpt den knaben zu nachteil. […] Zwischen fünnf vnd sechs oder zum lengsten zwischen sechs vnd siben iaren, ist die recht zeit anzufahen zu lernen.15

Über den Schulaustritt schweigen sich die Quellen aus. Vermutlich war er dem Belieben anheimgestellt. Es gab, anders als an den Gymnasien, nur eine Einheitsklasse, die die Schüler Jahr für Jahr wiederholten. Während das Gymnasium bei St. Anna, wie es in der Schulordnung von 1551 heißt, dahin gerichtet [sei], das ein knab von kindhait auff bis er achtzehen oder zwanzig iar oder noch mer alt wirde [...] hie studieren mag, 16 dürfte der Aufenthalt auf einer deutschen Schule, wenn der Schüler mit 10/11 Jahren eingeschult wurde, mit 14/15 beendet worden sein. Für das deutsche Schultheater bedeutet dies, dass man es hier mit wesentlich jüngeren Schülern zu tun hatte als beim gymnasialen Schultheater. Obwohl sich dem heutigen Betrachter angesichts der beschriebenen Schulverhältnisse an den deutschen Schulen der Eindruck aufdrängt, dass an solchen Schulen kaum Unterricht, geschweige denn Theateraufführungen möglich gewesen sein konnten, muss eine rege Theatertradition bestanden haben. Diese spielfreudige Praxis lässt sich allerdings zu einem Großteil nur noch ex negativo, aus den Spielverboten rekonstruieren. Während die Theateraufführungen der protestantischen Gymnasien in der Regel erwünscht waren und vom Rat der Stadt gefördert wurden – theaterfeindliche Stimmen bildeten im 16. Jahrhundert ––––––––– 12 13 14 15 16

Greiff: Beiträge (wie Anm. 10), S. 10. Ebd., S. 18. Ebd., S. 8. Ebd., S. 21. Ebd., S. 22.

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eher die Ausnahme17 – unterlagen die Theateraufführungen außerhalb dieses Rahmens strengen Auflagen, die sich zum 17. Jahrhundert hin immer mehr verschärften. Markus Paul hat diese Praxis für das Nürnberg des späten 16. und frühen 17. Jahrhunderts beschrieben. 18 Die Verhältnisse in Augsburg lagen ähnlich. Schultheateraufführungen der deutschen Schulen werden erstmals in der Schulordnung von 1575 erwähnt. In § 9 heißt es: Es soll kain Schuelmayster sich Ainige Comoediae offentlich oder Inn heüsern zu halten vnderstehen, Er habs dann zuvor den verordnetten Ober SchuelHerren vbergeben vnd Bewilligung von Inen erlangt [...].19

§ 10 legt fest, dass ein Schulmeister nur seine eigenen Schüler für die Aufführungen verwenden darf, und § 11 verbietet, dass Mädchen Theater spielen. Die Schulordnung von 1575 insistiert auf einer strikten Vorzensur und versucht, die Dimensionen des Spiels auf die jeweilige Schule zu begrenzen. Geht man davon aus, dass die Notwendigkeit von Verboten nur dann gegeben war, wenn die Phänomene, die sie zu verhindern beabsichtigten, vorher massiv in Erscheinung getreten waren, dann muss von einer regen Spielkultur ausgegangen werden, an der immerhin vor 1575 auch Mädchen aktiv teilnahmen. Der Verbotscharakter wird noch deutlicher in einem Zusatz zur Schulordnung von 1575, der 1581 abgefasst worden ist. Unter § 38 heißt es: Es sollen hinfüro vnder den teutschen Schuelmaistern Järlich nit mer als drey Comödien zu halten zugelassen werden, vnnd damit hierin kainer vor dem andern vervorthailt, sollen sy durchainander Ein frei vnpartheiisch Loß ergehn lassen, vnd welche drey das loß bethrifft, derselbigen Comoedien, Sollen von den Ober Schuelherren besichtiget vnnd zu Jhrem wolgefallen alsdann vergont werden.20

Zusätzlich zur Vorzensur kam demnach ab 1581 als weitere Restriktion eine Beschränkung auf drei Aufführungen pro Jahr. Schließt man wieder ex negativo auf den Zustand vor 1581, so kann man als Maximum von einer Aufführung pro Schule und Jahr ausgehen und man käme angesichts der Zahl der deutschen Schulen auf durchschnittlich 20 bis 25 Aufführungen pro Jahr für Augsburg. ––––––––– 17

18 19 20

Protestantische Theaterfeindlichkeit gab es im 16. Jahrhundert nur vereinzelt, da Luther und Melanchthon den Nutzen des Theaters betont und Aufführungen explizit gefordert hatten. Vgl. Hugo Holstein: Die Reformation im Spiegelbilde der dramatischen Litteratur des 16. Jahrhunderts. Halle 1886 (Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte 14), S. 18ff. Zu den ersten protestantischen Protesten gegen das Theater (durch Severinus Star in Dessau) vgl. ebd., S. 22ff. Zu Melanchthon und dem Theater vgl. Robert Seidel: Praeceptor comoedorum. Philipp Melanchthons Schultheaterpädagogik im Spiegel seiner Prologgedichte zur Aufführung antiker Dramen. In: Werk und Rezeption Philipp Melanchthons in Universität und Schule bis ins 18. Jahrhundert. Hg. von Günther Wartenberg unter Mitarbeit von Markus Hein. Leipzig 1999 (Herbergen der Christenheit. Sonderband 2), S. 99–122. Markus Paul: Reichsstadt und Schauspiel. Theatrale Kunst im Nürnberg des 17. Jahrhunderts. Tübingen 2002 (Frühe Neuzeit 69), S. 580ff. Greiff: Beiträge (wie Anm. 10), S. 36. Ebd., S. 39.

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Rein quantitativ betrachtet bedeutet dies immerhin das Zehnfache der gymnasialen Aufführungen. Diese Zahlen sollte man im Kopf behalten, wenn man sich mit der Dominanz des humanistischen Schultheaters im 16. Jahrhundert beschäftigt. Sieht man zunächst einmal von der Qualität ab, dann kann von einer quantitativen Dominanz des humanistischen Schultheaters keine Rede sein. Allerdings werden die institutionellen und medialen Mechanismen deutlich, die dem humanistischen Theater seine Aufmerksamkeit und (Wirkungs-)Macht sichern. Schon auf der Ebene der Theaterpraxis und nicht erst auf der Ebene der Dramendrucke lässt sich eine massive Bevorzugung des humanistischen Gymnasiums feststellen. Die als Aufsichtsbehörde fungierenden „Obern Schuelherrn“, von denen die deutschen Schulordnungen sprechen, bestand aus Gelehrten und Geistlichen beider Konfessionen, die die Interessen ihrer Gymnasien vertraten.21 Aufgrund der Restriktionen durch die städtischen Verwaltungsbehörden könnte die Vermutung naheliegen, es handele sich bei dem Theater der deutschen Schulen um eine Art Unterschichtenphänomen, das mit einem subversiven Potential gegenüber den städtischen Ordnungsbemühungen einhergehe. Zwar deuten einige Passagen gerade in den frühen Schulordnungen darauf hin, dass in deutschen Schulen einiges im Argen lag. So scheint es 1568 notwendig gewesen zu sein, explizit darauf hinzuweisen, dass ein Schulmeister nicht mit zwei Frauen zusammenleben dürfe22 und auch mit Prostituierten keinen Umgang pflegen solle, aber dennoch handelte es sich bei den deutschen Schulen nicht um einen Schultyp für die Unterschichten, nicht um eine Schule also, die nur von denjenigen besucht wurde, denen das Gymnasium aus finanziellen oder intellektuellen Gründen verwehrt war, sondern eher um eine Schule für die städtische Mittelschicht, die vor allem Handwerker und die kleineren Kaufleute umfasste. Weil auch für die deutschen Schulen Schulgeld bezahlt werden musste, war der Besuch ohnehin nur für Kinder möglich, deren Eltern über ein gewisses Einkommen verfügten.

II. Da die deutschen Schulen kaum Zugang zum zentralen Speichermedium Druck besaßen, ist ihre Spielpraxis nur schwer zu rekonstruieren. Für das Fehlen dieser Verbindung zum Druck- und Verlagswesen dürften verschiedene Gründe verantwortlich gewesen sein. Ob dies lediglich auf finanzielle Aspekte zurückzuführen ist oder ob hier zusätzlich auch noch vom Stadtregiment Verbote ausgingen, ob die Schulmeister kein Interesse an der Drucklegung hatten oder ob kein Publikumsinteresse bestand, all dies muss offenbleiben. Es existiert jedenfalls kein einziger Augsburger Dramendruck, der explizit auf dem Titelblatt ––––––––– 21 22

Greiff: Beiträge (wie Anm. 10), S. 21. Ebd., S. 17.

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oder in der Vorrede sagt, dass das betreffende Drama an einer deutschen Schule aufgeführt worden sei, eine Praxis, die bei den gymnasialen Theateraufführungen üblich war. Es fehlen aber auch, wie wir es im Zusammenhang mit dem Jesuitentheater kennen, gedruckte Periochen oder Einladungsschriften. Und es fehlen schließlich, anders als bei den Jesuiten, spezielle Chroniken, die wenigstens die Aufführungen und die Titel der gespielten Stücke verzeichnen würden. Die deutschen Schulen führten keine Schulchroniken, da ihnen der Status einer transpersonalen Institution fehlte, was auch bedeutete, dass es keine institutionalisierten Speichermedien gab. Wenn der Schulmeister gestorben war oder aus der Stadt wegzog, schloss die betreffende Schule. Spuren der Theaterspielpraxis der deutschen Schulen finden sich allerdings dennoch in den Akten des Augsburger Stadtarchivs. Diese Akten sind von Max Radlkofer und Fritz Schnell ausgewertet worden.23 Sie enthalten Verbote, Gesuche um Aufführungserlaubnisse und Hinweise auf tatsächliche Aufführungen. Legt man diese Liste zugrunde, so ergeben sich für die zweite Hälfte des 16. Jahrhunderts folgende tatsächliche Aufführungen sowie Aufführungsgesuche für die deutschen Schulen:

1549:

Christoph Brunnenmaier: „Comedy von der Susanne“

1551:

Johann Rogel: „Comedy von den zehn Altern“ (Aufführungsgesuch)

1552:

Narcis Ranninger: „Comedy“

1554:

Narcis Ranninger: „Comedy“ (Aufführungsgesuch); Narcis Ranninger: Tragödie von Johannes des Täufers Enthauptung (Aufführungsgesuch)

1558:

Narcis Ranninger: Tragödie von Johannes des Täufers Enthauptung; Johann Schweigger: Auferstehung Christi

1560:

Stephan Schlecht: Komödie von Isaaks Opferung

1563:

Johann Schallhaimer: „Schöne Lustige Tragedi von Zerstörung der Stadt Troya“ (Aufführungsgesuch)

1566:

Hanns Schweickher/Jakob Haller: „Bibelische Comedy aus der appostelgeschicht von der verstainiggung Steffani“ (Aufführungsgesuch)

1569:

Georg Mair: Tobias; Jörg Kirchdorffer: Tobias

1587:

Heinrich Herrmann/Hans Wüst: Komödien

1588:

David Abel: Passionsgeschichte

1589:

Heinrich Herrmann/Hans Wüst/Georg Fischer: „Tragödie von Aeneas und Dido“; „Comödie von Olivier und Artus“; „Comödie von des Darius ungehorsamer Tochter“;

––––––––– 23

Radlkofer: Volksschullehrer (wie Anm. 11), S. 47; Schnell: Geschichte (wie Anm. 6), S. 112ff.

224

Bernhard Jahn Abraham Schädlin: „Comödie von den sieben leiblichen Werken der Barmherzigkeit“

1590:

Johann Vogt/Hans Koch/Hans Schreyer: „Tragödie von Regina der Hl. Martren“; „Tragödie von Siegfrieden, dem streitbaren Helden“; „Tragödie von Octaviano, dem Röm. Kaiser und seinen zwei Söhnen“ (Aufführungsgesuch)

1591:

Heinrich Herrmann: Comödie von Heinrich Julius von Braunschweig; kurzweiliges Nachspiel von der Göttin Pomona; Heinrich Herrmann/Martin Kaufmann: Herzog Herpin und Ritter Leu

1596:

Abraham Schädlin/Martin Kaufmann: Komödie Valentin und Orsus; Komödie vom Leben und Sterben des Apostels Andreas

1598:

Abraham Schädlin: „wie Japhet der Sohn Noe [...] die Stadt Augsburg erbaut“; Martin Kauffmann: Tragödie von Herzog Wilhelm von Österreich

1599:

Martin Kauffmann: König Apolum [Apollonius von Tyrus?]; Herzog Herpin und Ritter Leo

Stellt man dieser Liste nun ein Verzeichnis der in Augsburg um die Mitte des 16. Jahrhunderts gedruckten (bzw. auch handschriftlich überlieferten) Dramen gegenüber, so wird deutlich, dass es kaum Berührungspunkte gibt zwischen der Spielpraxis der deutschen Schulen und der mit dem Anna-Gymnasium in Verbindung zu bringenden Druckpraxis.24 In der folgenden Liste sind die eindeutig dem humanistischen Kontext des Anna-Gymnasiums zuzuordnenden Dramendrucke links, die Zweifelsfälle rechts aufgelistet.

Dramendrucke und Hs. in Augsburg, Mitte des 16. Jahrhunderts 1537:

Sixt Birck: Susanna (lat.)

1520:

Christoph Wirsung: Celestina (dt.)

1538:

Sixt Birck: De vera nobilitate (lat.); Sixt Birck: Ezechias (dt.); Sixt Birck: Zorobabel (dt.); Johannes Reuchlin: Sergius (dt.)

1552:

Hans Rogel: Die zehn Alter (dt., hs., verloren)

Sixt Birck: Joseph (lat.); Sixt Birck: Judith (lat.); Sixt Birck: Beel (dt.); Cornelius Crocus: Joseph (lat.); Thomas Naogeorg: Pammachius (lat.); Thomas Naogeorg: Pammachius (dt.)

1566:

Sebastian Wild: Schöner Comedien vnd Tragedien zwölff

1576:

Daniel Holzmann: Hochzeit zu Kana (dt. hs. cgm 4061)

1539:

1540:

v. 1557: Caspar Bruschius: Sieben Weisen aus Griechenland (dt.)

Sixt Birck: De vera nobilitate (lat.)

––––––––– 24

Als Quellen diente neben den einschlägigen OPAC-Recherchen Helene Levinger: Augsburger Schultheater. Berlin 1931 (Theater und Drama 2), S. 90f.; ferner Wolfgang F. Michael: Das deutsche Drama der Reformationszeit. Bern u. a. 1984, S. 208ff.

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c. 1540: anonym: Susanna (dt.) 1541:

Sixt Birck: Susanna (lat.)

1543:

Hieronymus Ziegler: Protoplastus (lat.); Ziegler: Immolatio Isaac (lat.); Ziegler: Heli sive Paedonethia (lat.)

1544:

Andreas Diether: Joseph (lat.); Ziegler: Immolatio Isaac (dt.)

1545:

Ziegler: Protoplastus (lat.)

1547:

Ziegler: Cyrus maior (lat.); Ziegler: Regales nuptiae (lat.)

1556:

Nichol. Grimoaldus: Christus redivivus (lat.); Martin Balticus: Adelphopolae (lat.)

1558:

Balticus: Daniel (lat.)

Wie aus der Liste deutlich wird, sind die allermeisten der gedruckten Dramen mit dem Anna-Gymnasium in Verbindung zu bringen, selbst wenn sie dort nicht aufgeführt worden sein sollten. Sie sind von Lehrkräften des Anna-Gymnasiums wie Birck oder Ziegler verfasst worden oder stehen jedenfalls im humanistischen Kontext der Schule. Es bleiben, zieht man die Gruppe der im Umkreis des Anna-Gymnasiums entstandenen Dramen einmal ab, nur noch einige wenige Dramen übrig, die nicht direkt einem Aufführungsort und Anlass zugeordnet werden können. Da ist zunächst das von Cristoph Wirsung aus dem Italienischen übersetzte Prosadrama Celestina, das in zwei Fassungen erschien. Obwohl das Drama wohl nicht für eine Schulaufführung bestimmt war, gehörte der hauptsächlich als Übersetzer medizinischer Schriften tätige Wirsung zum Umkreis des Gymnasiums, später auch zum Scholarchat. 25 Ähnlich liegt der Fall von Kaspar Bruschius’ fastnachtspielartigem New Spil von den sieben Weysen aus Kriechenlandt, das wohl in den vierziger Jahren in Augsburg gedruckt und zwei Augsburger Patriziern gewidmet wurde. Brusch ist als neulateinischer Lyriker, Historiker und Autor von geographischen Texten hervorgetreten, er arbeitete sicher nicht als Übersetzer von Dramen für deutsche Schulen. Es bleiben noch drei Dramen bzw. Dramencorpora von Augsburger Meistersingern: Hans Rogels Die zehen Alter, die nur handschritflich überlieferte ––––––––– 25

Vgl. das Vorwort zum Reprint der Celestina-Ausgabe: Kathleen V. Kish: Die CelestinaÜbersetzungen von Christof Wirsung „ain hipsche tragedia“ (Augsburg 1520); „ainn recht liepliches Buechlin“ (Augsburg 1534). Hildesheim 1984.

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Hochzeit zu Kana von Daniel Holzmann und Sebastian Wilds Dramensammlung von 1566 Schöner Comedien vnd tragedien zwölff. Auch den Meistersingern darf man zunächst nicht unterstellen, dass sie ihre Dramen für deutsche Schulen verfasst haben, sondern sie werden ihre Werke vor allem im Hinblick auf eigene Veranstaltungen konzipiert haben. Die Belege für die Theateraufführungen durch die Meistersinger in Augsburg sind von Fritz Schnell zusammengestellt worden. 26 Neben etlichen Dramen von Hans Sachs wird hier in den Jahren 1565, 1566, 1569 und 1575 das in Wilds Sammlung enthaltene Weihnachtsspiel im Rahmen einer Meistersingerveranstaltung aufgeführt sowie 1565 dessen dort ebenfalls gedrucktes Passionsspiel. Passionsspiel wie Weihnachtsgeschichte sind also schon vor der Drucklegung 1566 in Augsburg auf der Meistersingerbühne im „Dantzhaus“ präsentiert worden.27 Zwischen der Theaterpraxis der Meistersinger und der der deutschen Schulmeister ergeben sich, auch wenn es sich zunächst um zwei getrennte Aufführungskontexte handelt, dann allerdings doch zahlreiche Überschneidungen. Während man in Bezug auf die Übernahmen aus dem Spielrepertoire von St. Anna auf Vermutungen angewiesen bleibt – bei Brunnenmaiers Susanna von 1549 könnte es sich um die deutsche Fassung von Bircks Susanna gehandelt haben, bei Stephan Schlechts Komödie von Isaaks Opferung um die deutsche Fasung von Zieglers Immolatio Isaac –, weist Sebastian Wilds Dramendruck von 156628 doch eine erhebliche strukturelle und inhaltliche Nähe zum Repertoire der deutschen Schulen auf. Dieser Spur sei im Folgenden nachgegangen. In der Person Wilds vereinen sich die meistersingerliche und die schulmeisterliche Tradition, denn Sebastian Wild war nicht nur Meistersinger29 und als solcher überaus angesehen, sondern wohl auch Schulmeister einer deutschen Schule, möglicherweise zusammen mit seiner Frau. Seine Frau, nicht aber er, wird explizit unter denjenigen protestantischen Lehrern genannt, die sich am 31. August 1551 weigern, das Interim zu unterschreiben, das von ihnen einen Unterricht nach katholischer Façon verlangt, und die daraufhin Berufsverbot erhalten. 30 Wild, der von Beruf eigentlich Schneider war, hat dann, als er seine Frau heiratete, möglicherweise den Beruf gewechselt und ist Schulmeister geworden. Das geht allerdings, anders als in der Forschung zu lesen, aus keiner Quelle hervor. Die Quellenlage ist insofern etwas undurchsichtig, als der Schul––––––––– 26 27 28

29

30

Schnell: Geschichte (wie Anm. 6), S. 111f. Zu den Spielorten vgl. ebd., S. 28ff. Sebastian Wild: Schöner Comedien vnd Tragedien zwölff. Auß heiliger Göttlicher Schrifft / vnd auch auß etlichen Historien gezogen [...] Auffs new in Truck verfertigt Durch Sebastian Wilden. Augsburg 1566. Seine Meisterlieder sind verzeichnet in: Repertorium der Sangsprüche und Meisterlieder des 12. bis 18. Jahrhunderts. Bd. 13: Katalog der Texte. Jüngerer Teil W–Z. Hg. von Horst Brunner und Burghart Wachinger. Tübingen 1989, S. 354–366. Vgl. Greiff: Beiträge (wie Anm. 10), S. 14; Radlkofer: Volksschullehrer (wie Anm. 11), S. 6ff. Zu Wilds Dramensammlung vgl. Willy Brandl: Sebastian Wild, ein Augsburger Meistersinger. Weimar 1914 (Forschungen zur neueren Literaturgeschichte 48). Ferner Michael: Drama der Reformationszeit (wie Anm. 24), S. 281ff.

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meister den Vornamen Leonhard trägt. Die von der Forschung unterstellte Identität von Leonhard Wild mit Sebastian Wild ist zwar möglich, aber nicht belegt. In der Vorrede zu seinem Dramenband äußert sich Wild explizit zur Funktion seiner Dramen. Sie seien sonderlich für die Jugent / sich darinnen zu üben / vnnd zu kurtzweylen / darauß eine gute Memorij / oder gedächtnuß / vnnd auffmercken / volget / mit sprechen vnnd geberten sich gegeneinander zuerzeygen (3r).

So topisch sich dieses Argument im Rahmen einer Dramenvorrede zunächst auch ausnimmt, es gewinnt Bedeutung, wenn man berücksichtigt, dass Wild in der Vorrede kein Wort über die Aufführung seiner Dramen im Kontext der Augsburger Meistersinger verliert. Dabei sind, wie oben erwähnt, zumindest das Weihnachspiel und die Passionsgeschichte von den Meistersingern in Augsburg vor 1566 aufgeführt worden. Da die Meistersinger in Augsburg in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts noch in hohem Ansehen standen, ist kein Grund erkennbar, warum Wild den ja tatsächlich gegebenen Meistersingerkontext hätte verschweigen sollen. Vielmehr muss davon ausgegangen werden, dass Wild seine Dramensammlung für den Bedarf der deutschen Schulen konzipiert hatte. Dass dies Aufführungen im Rahmen des Meistersingertheaters nicht ausschloss, dürfte sich von selbst verstehen, da Dramendrucke in der Frühen Neuzeit schon aus verkaufsstrategischen Gründen immer polyfunktional konzipiert waren. Für eine Funktion als Aufführungsvorlage für das Schultheater spricht auch der Hinweis auf die Pratikabilität des Druckes als Regiebuch: Auch seind die ein vnd außgeng fleissig vnder schriben / das sich ein jeder wol darauß verrichten vnd darein schicken kann [...] (3r).

Noch deutlicher wird die Nähe von Wilds Sammlung zum deutschen Schultheater, wenn man die Dramenstoffe Wilds mit der oben rekonstruierten Spielpraxis der deutschen Schulen vergleicht. Der fast tausend Seiten umfassende Sammelband Wilds enthält folgende zwölf Dramen:31 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.

Erstlich die Geburt Christi Die versteinigung Stephani Der Passion vnnd die Aufferstehung Christi Der Belial fürt ein recht mit Christus Der Junger gefengknuß Der Nabott im 3. Buch Regum am 21. Das Gesetz Mose / vnnd vom guldin Kalb [...]

Historien. 1. Vom krancken Keyser Thito 2. Vom Keyser Octaviano 3. Die siben weysen Maister

––––––––– 31

Eine ausführliche Beschreibung des Inhalts der Dramen findet sich bei Brandl: Sebastian Wild (wie Anm. 30), S. 15ff.

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4. Die schön Magelona / vnnd Ritter Peter 5. Der Doctor mit dem Esel / vnnd Spiegel der Welt

Zum Teil lassen sich direkte Übernahmen zwischen Wilds Sammlung und der Spielpraxis in Augsburg vermuten. So könnte es sich bei der im Aufführungsgesuch von 1566 erwähnten Bibelische[n] Comedy aus der appostelgeschicht von der verstainiggung Steffani um Wilds Die versteinigung Stephani handeln. Doch überzeugender als die letztlich nicht zu belegenden Vermutungen sind die strukturellen Parallelen zwischen Wilds Druck und dem Theaterrepertoire der deutschen Schulen. Das Repertoire enthält geistliche Stoffe aus der Bibel sowie aus der Legendentradition. Den Kernbereich bildet die Passions- und Ostergeschichte. Beide Themenbereiche werden durch Wilds Sammlung abgedeckt. Bei den weltlichen Stoffen dominieren Dramatisierungen von Prosaerzählungen, wie sie in Augsburg in großer Zahl gedruckt worden sind.32 Hierunter fallen die 1563 erwähnte schöne Lustige Tragedi von Zerstörung der Stadt Troya, die Comödie von Olivier und Artus von 1589, Herpin und Ritter Leu von 1591, Valentin und Orsus33 von 1596 oder 1597 die Tragödie von Herzog Wilhelm von Österreich. Um eine direkte Übernahme aus Wilds Sammlung könnte es sich bei dem 1590 aufgeführten Octaviano handeln. Der zweite Teil von Wilds Sammlung präsentiert ebenfalls, sieht man von der das Buch beschließenden Fabelbearbeitung Der Doctor mit dem Esel ab, drei Bearbeitungen von Prosaromanen.34 Wilds Dramensammlung orientiert sich demnach genau am Programm, das an den deutschen Schulen Augsburgs gespielt worden ist. Aufgrund der strukturellen Nähe von Wilds Sammlung und dem Spielplan der Augsburger deutschen Schulen kann im Folgenden der Versuch unternommen werden, Wilds Theaterstücke unter der Prämisse zu betrachten, es handele sich um Theater für die deutschen Schulen. Das Inhaltsverzeichnis präsentiert die Dramen in der Reihenfolge, wie sie in der Tabelle oben angegeben worden ist. Im Haupttext selbst sind eine Reihe von Vertauschungen vorgenommen worden. Vor allem die Historia von dem kranken Kaiser Thito ist nach vorn in den ersten Teil gerückt worden. Bei dieser Historia handelt es sich um eine Legende, in der berichtet wird, wie der schwer erkrankte römische Kaiser Titus vergeblich bei den Ärzten um Rat nachsucht. Er wird schließlich auf Christus verwiesen, doch als seine Boten das Hl. Land erreichen, ist Christus schon gekreuzigt worden. Der nun wieder gesundete Titus beschließt daraufhin, Jerusalem zu zerstören. Durch die Verlagerung der Titusgeschichte in den ersten Teil ergibt sich eine klare Gliederung der Sammlung in geistliche und weltliche Stoffe. Der erste Teil folgt dabei zunächst den Perikopen: Weihnachten, der Stephanus-Tag, ––––––––– 32

33 34

Vgl. Jan-Dirk Müller: Augsburger Drucke von Prosaromanen im 15. und 16. Jahrhundert. In: Augsburger Buchdruck und Verlagswesen. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Hg. von Helmut Gier und Johannes Janota. Wiesbaden 1997, S. 337–352. Die beiden in Augsburg dramatisierten Prosaromane von Wilhelm Ziely Valentin und Orsus sowie Olivier und Artus sind allerdings in Augsburg nicht gedruckt worden. Kaiser Octavian, die sieben weisen Meister und die schöne Magelone.

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dessen Fest am 2. Weihnachtsfeiertag gefeiert wird, die Passionsgeschichte, der auch der ausgelagerte Belialsprozess zuzurechnen ist, dann die Titus-Historia, schließlich eine Episode aus der Apostelgeschichte ergeben einen Kursus durch das Kirchenjahr, der durch zwei alttestamentarische Stoffe ergänzt wird. Der zweite Teil von Wilds Dramensammlung erhält die Dramatisierung dreier in Augsburg häufig gedruckter Prosaromane sowie einer Fabel des Äsop. Die Sammlung bietet dabei sowohl kürzere Spiele für wenige Personen (11 Spieler für Der Junger gefengknuß), als auch ausladender konzipierte Stücke mit einer Maximalanforderung von 47 Personen für die Passionsgeschichte. Vergegenwärtigt man sich noch einmal die Schülerzahlen der deutschen Schulen (mit bis zu 110 pro Schule), dann wären auch die großen Stücke durchaus von der Schülerzahl her von je einer einzigen deutschen Schule zu bewältigen gewesen. Ein strukturelles Moment im Aufbau der Stücke ist zudem geeignet, die These vom Schultheaterrepertoire für deutsche Schulen zu stützen. Wilds Stücke tendieren zu einer ausgesprochen offenen Dramenform. Dies wurde von der älteren Forschung durchgängig als dramatisches Unvermögen aufgefasst.35 Die ältere Forschung bemaß die Qualität eines Dramas nach der Geschlossenheit des dramatischen Aufbaus. In diesem Punkt hat Wild nichts zu bieten und seine Dramen können nicht mit einer Terenzkomödie oder gar einer antiken Tragödie verglichen werden. Der Aufbau der Stücke ist reihend, oft den vorreformatorischen Revuespielen entsprechend: Man kann einzelne Episoden weglassen oder umgruppieren, ohne dass dies dem Stück schadet. Doch ist dies lediglich dem dramaturgischen Unvermögen Wilds geschuldet? Eher scheint hier ein bewusster Wille zu einem offenen Theater vorzuliegen. Oder anders formuliert: Wild betrachtet seine Dramentexte als Bausteine, aus denen sich der Schulmeister je nach Bedarf sein Drama zusammenbasteln kann. Einige Beispiele aus dem Weihnachtsspiel mögen dies verdeutlichen: Nach dem bethlehemitischen Kindermord und der Klage der Mütter heißt es: Hie mag das Spil beschlossen werden / will mans aber weyter füren / biß Christus zwölff Jar allt wirt / so gehen drey Mörder ein / der erst spricht (35v). Das Weihnachtsspiel ist also von der Konzeption her schon so angelegt, dass der Spielleiter sich für eine kürzere oder eine längere Version entscheiden kann. Diese Wahlmöglichkeiten betreffen auch die musikalische Seite der Aufführung. An mehreren Stellen schaltet Wild Meistergesänge ein, die sich durch kompliziertere strophische Formen und eine Melodie vom Knittelvers abheben. Für den Fall, dass die Schauspieler nicht in der Lage sind, die relativ anspruchsvollen Meistertöne zu singen, bietet Wild jeweils eine Alternativversion in Knittelversen an, die dann gesprochen vorgetragen werden kann. Die Zweiteilung des Weihnachtsspiels weist nun neben den genannten spielpragmatischen Aspekten noch eine besondere konfessionelle Pointe auf. Sebastian Wild war Lutheraner und brachte seine Glaubensüberzeugung in einigen ––––––––– 35

Dieses Urteil durchzieht die Dissertation von Willy Brandl, findet sich aber auch noch bei Michael: Drama der Reformationszeit (wie Anm. 24), S. 283.

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seiner Meisterlieder durchaus mit polemischen Tönen zum Ausdruck.36 Seine Frau erhielt wegen ihres Glaubens zeitweise Berufsverbot. Der Dramendruck selbst ist Melchior Linck, einem protestantischen Augsburger Geschäftsmann, gewidmet. 37 Umso irritierender ist es, dass Wilds Weihnachtsspiel (wie auch seine Passionsgeschichte) ausgesprochen katholische Züge trägt, katholische Züge, die sich vor allem in den legendarischen und apokryphen Mirakelerzählungen manifestieren, die mit der Reise der Hl. Familie nach Ägypten verknüpft werden, etwa die apokryphe Geschichte von drei Mördern, die die heilige Familie zunächst ausrauben wollen, dann aber bekehrt werden und die Familie sicher durch die Wüste führen. 38 Es muss wohl kaum betont werden, dass die zahlreichen protestantischen Weihnachtsspiele des 16. Jahrhunderts diese Mirakelgeschichten allesamt nicht enthalten, selbst wenn sie die Handlungsvorgabe der Evangelien freier ausgestalten, was vor allem die Teufelsszenen betrifft.39 Nicht selten findet sich auch Konfessionspolemik, wie etwa in Christoph Lasius’ 1549 in Spandau aufgeführtem Trostspiel Von der Geburt Christi, in dem Herodes mit Kaiser Karl V. gleichgesetzt wird. 40 Dass konfessionelle Polemik bei Wild fehlt, kann angesichts der Situation der Konfessionen in Augsburg um die Jahrhundertmitte nicht überraschen. So ist etwa das 1555 in Ingolstadt gedruckte Weihnachtsspiel Infanticidium des Katholiken Hieronymus Ziegler, das wohl ursprünglich für das zunächst bikonfessionell ausgerichtete Anna-Gymnasium konzipiert worden war, weitgehend konfessionsneutral angelegt. Ziegler hält sich an die Evangelienberichte und seine Ausschmückungen, etwa was die drei Weisen aus dem Morgenland betrifft, finden sich auch in protestantischen Dramen. Die Teufelsszenen fehlen gänzlich. Ziegler vermeidet weitgehend apokryphe und legendarische Elemente, vor allem die extensiven Wunderberichte und Präfigurationen Wilds. Versucht Ziegler, sein Weihnachtsspiel konfessionsneutral zu halten, indem er alle konfessionsspezifischen Elemente weitgehend tilgt, so verfolgt Wild eine andere Strategie. Wenig an Wilds Weihnachtsspiel erscheint auf den ersten Blick genuin protestantisch. Lediglich die Schlussverse sind in ihrer Vagheit vielleicht in diesem Sinne deutbar: Dann das Geschlecht so Christo ver- | ––––––––– 36 37

38 39

40

Vgl. Brunner, Wachinger: Repertorium (wie Anm. 29), S. 354ff. Das unter Nr. 1 angeführte Meisterlied stellt eine Parodie auf das Ablasswesen der katholischen Kirche dar. Zu Melchior Linck vgl. Augsburger Eliten des 16. Jahrhunderts. Prosopographie wirtschaftlicher und politischer Führungsgruppen 1500–1620. Hg. von Wolfgang Reinhard. Berlin 1996, S. 473. Zu den Quellen vgl. Brandl: Sebastian Wild (wie Anm. 30), S. 34ff. Zu den Weihnachtsspielen der Frühen Neuzeit vgl. Johannes Bolte: Ein Spandauer Weihnachtsspiel. 1549. In: Märkische Forschungen 18 (1881), S. 109–222. Dieser Aufsatz enthält ab S. 211 ein umfangreiches kommentiertes Verzeichnis der Weihnachtsspiele im deutschsprachigen Raum. Das Spiel ist ediert in Johannes Bolte: Drei märkische Weihnachtspiele des 16. Jahrhunderts […] nebst einem süddeutschen Spiel von 1693. Berlin 1926 (Berlinische Forschungen 1), S. 81–140. Die Herodes-Kaiser-Parallele wird im Prolog gezogen: S. 84.

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Volget lebet noch / Gott der Herr | Mache ein end des geschlechts vnmildt | Das wünscht Sebastian Wildt (51r). Doch gerade der Schluss insgesamt spricht gegen konfessionelle Polemik. Ein Herold tritt auf und referiert dem Publikum weitere Mirakel, die sich bei Christi Geburt begeben haben: Ein Tempel in Rom stürzt ein, ein Lamm in Ägypten beginnt zu sprechen, sodomitische Sünder sterben, einer armlosen Magd wachsen Arme usw. Es gibt keine innerdramatische Notwendigkeit, den Herold diese Wunderaufzählung am Schluss des Stücks sprechen zu lassen. Die Tatsache, dass Wild hier, wie Willy Brandl 1914 in einer Untersuchung nachwies, streng seiner Vorlage, einer 1503 in Augsburg gedruckten Kindheit Christi folgt, erklärt nichts. 41 Betrachtet man nun unter konfessionellen Gesichtspunkten nochmals den Vorschlag Wilds, das Drama mit der Klage der Rachel zu beenden, dann fällt auf, dass dieses Ende des Weihnachtsspiels dem Schluss der meisten protestantischen Weihnachtsspiele des 16. Jahrhunderts entspricht, etwa dem von Christoph Lasius oder dem von Hans Sachs, an dem Wild sich orientiert haben dürfte.42 Wild hält die Gestaltung der Weihnachtsgeschichte bis zur Klage der Rachel frei von apokryphen und legendarischen Elementen. Sie entspricht weitgehend der Norm eines protestantischen Weihnachtsspiels. Erst durch den zweiten Teil wird das Spiel zu einem dezidiert katholischen Weihnachtsspiel. So kann man sagen, dass Wild eine protestantische und eine katholische Fassung der Weihnachtsgeschichte in seiner Dramensammlung präsentiert, und dies vielleicht auch wieder aus schultheaterpragmatischen Gründen: Eine katholische deutsche Schule in Augsburg konnte so die katholische Fassung mit den Mirakeln des Ägyptenteils, eine protestantische die protestantische Fassung bis zur Klage der Mütter spielen. Dass dieses überkonfessionelle Angebot tatsächlich auch genutzt worden ist, sieht man an Wilds Passionsspiel, von dem im 17. Jahrhundert Teile in das katholische Oberammergauer Passionsspiel übernommen worden sind.43 Das bausteinartige Strukturprinzip, das sich beim Weihnachtsspiel feststellen lässt, findet sich auch in den Historien, am deutlichsten vielleicht in Ein schöne Tragedj / auß dem Buch der siben weysen Maister gezogen. Die Struktur einer Novellensammlung, die der Prosaroman aufweist, ist von Wild in das Drama übernommen worden. 44 Das in zwölf (!) Akte eingeteilte Stück trägt deutlich antiaristotelische Züge. Die vom fünften bis zum elften Akt eingebauten Erzählungen können vertauscht oder auch weggelassen werden, ohne dass sich am dramatischen Grundgerüst etwas ändert. Aus der Perspektive eines Spielleiters betrachtet handelt es sich um ein praktikables Stück, denn es kann ––––––––– 41 42

43 44

Brandl: Sebastian Wild (wie Anm. 30), S. 34ff. Hans Sachs: Comedia mit 24 personen, die entpfengnuß unnd geburdt Johannis und Christi, und hat 9 actus. In: Hans Sachs. Hg. von Adelbert von Keller. Bd. 11. Stuttgart 1878 (Bibliothek des litterarischen Vereins Stuttgart 136), S. 162–197. Vgl. August Hartmann: Das Oberammergauer Passionsspiel in seiner ältesten Gestalt. Leipzig 1880. Brandl: Sebastian Wild (wie Anm. 30), S. 94ff.

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ohne Schwierigkeiten den spieltechnischen Möglichkeiten einer Schule angepasst werden. Neben dem strukturellen Aufbau der Stücke aus Wilds Dramensammlung sind es aber auch die in den Stücken vermittelten Wissensbestände, die dem Profil der deutschen Schulen entsprachen. Dabei dominiert das katechetische Wissen, das aber, wie das Beispiel des Weihnachtsspiels schon andeutet, keinen homogenen Wissensbestand darstellt, sondern auf die beiden Konfessionen zugeschnitten präsentiert wird. Sieht man einmal von der Latinität ab, die an den deutschen Schulen natürlich nicht vermittelt wurde, so unterscheiden sich die katechetischen Funktionen der geistlichen Spiele Wilds nicht grundsätzlich von denen in einem Spiel von Sixt Birck oder Hieronymus Ziegler. Darüber hinaus ist die pädagogische Absicht, wie Wild in der Vorrede betont, ja ähnlich: Die Schüler sollen durch die Aufführungen ihr Gedächtnis trainieren und sich in der actio üben, dem freien Vortrag der Rede mit den dazu passenden Gebärden. Wild geht es beim Verfertigen seiner Dramen nicht um die Vermittlung gelehrter Diskurse, sondern um die Einübung sozialer Praktiken. Dies wird besonders deutlich im Drama über den Prozess Belials Der Belial fürt ein recht mit Christus. Dieses aus heutiger Sicht wohl interessanteste Drama Wilds schildert einen Prozess des Teufels gegen Christus. Durch seine Höllenfahrt hatte Christus die Seelen der alttestamentarischen Patriarchen aus dem Limbus befreit, den Teufel gefangen genommen und dadurch die Hölle massiv geschädigt. Die Teufel strengen daraufhin einen Prozess an, der streng nach kanonischem Recht durchgeführt wird. 45 Die Vorlage zu diesem Drama stammte ursprünglich von dem italienischen Kanoniker Jacobus de Theramo, der 1382 den Prozess des Teufels gegen Christus als juristisches Fallbeispiel konzipiert hatte.46 Wild griff auf eine der zahlreichen volkssprachlichen Drucke zurück, die in Augsburg ab 1472 erschienen waren. 47 War das lateinische Werk als Exemplum für Juristen bestimmt, so änderte sich die Gebrauchsfunktion der deutschen Übersetzung, wie Norbert H. Ott gezeigt hat.48 In der volkssprachlichen Übersetzung geht es eher darum, Laien den Ablauf eines nach römischem Recht geführten Prozesses deutlich zu machen. Diese Gebrauchsfunktion dürfte auch für die Dramenfassung zentral sein. Durch Rollenspiele konnten die Schüler lernen, wie ein Gerichtsprozess ablief. Das römische Recht begann sich im 16. Jahrhundert auch außerhalb der katholischen Kirche durchzusetzen, so dass das Schultheater seinen Schülern, ––––––––– 45 46

47 48

Ebd., S. 68ff. Vgl. Norbert H. Ott: Rechtspraxis und Heilsgeschichte. Zu Überlieferung, Ikonographie und Gebrauchssituation des deutschen ‚Belial‘. München, Zürich 1983 (Münchener Texte und Untersuchungen zur Deutschen Literatur des Mittelalters 80), S. 16. Vgl. das Verzeichnis der Drucke bei Ott: Rechtspraxis (wie Anm. 46), S. 340ff. Ebd., S. 29ff. Vgl. Barbara Weinmayer: Studien zur Gebrauchssituation früher deutscher Druckprosa. Literarische Öffentlichkeit in Vorreden zu Augsburger Frühdrucken. München, Zürich 1982 (Münchener Texte und Untersuchungen zur Deutschen Literatur des Mittelalters 77), S. 52ff.

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die nicht die Universität besuchen würden, lebenspraktisches Wissen vermittelte. Der hier für Augsburg unternommene Versuch einer Rekonstruktion des Theaterrepertoires der deutschen Schulen müsste in einen größeren Kontext gestellt werden, etwa durch einen Vergleich mit der Theaterpraxis in anderen Städten. Für Nürnberg beispielsweise sind mit Leonhard Culmann und Salomon Newber, für Lübeck mit Matthaeus Forchem deutsche Schulmeister belegt, die zum Teil noch erhaltene Dramen für ihre Schulen verfasst haben.49 Bringt man Wilds Dramensammlung mit dem Schultheater der deutschen Schulen in Augsburg in Zusammenhang, dann verlieren seine Dramen viel von der angeblichen dramaturgischen Unbeholfenheit. Sie erweisen sich vielmehr als auf ihre spezifische Gebrauchssituation hin zugeschnitten. Sie sind eher als Bausteine zu betrachten, aus denen sich die Schulmeister den jeweiligen Aufführungstext zusammenstellen können und müssen. Ihr Textstatus entspricht damit dem von Texten für das moderne Regietheater, 50 während die Dramentexte der Gymnasien eher zu einem festen Text tendieren. So gesehen erweist sich Wild dann sogar als moderner Dramatiker.

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Vgl. Michael: Drama der Reformationszeit (wie Anm. 24), S. 310–318. Paradigmatisch für diesen Umgang mit Dramentexten ist das Beispiel Erwin Piscators. Dazu Klaus Schwind: Die Entgrenzung des Raum- und Zeiterlebnisses im „vierdimensionalen Theater“. Plurimediale Bewegungsrhythmen in Piscators Inszenierung von Hoppla, wir leben (1927). In: TheaterAvantgarde. Wahrnehmung – Körper – Sprache. Hg. von Erika Fischer-Lichte. Tübingen, Basel 1995, S. 58–88.

V.

Augsburgs Altertum: Humanistische Geschichtsschreibung und Epigraphik

Gernot Michael Müller

„Quod non sit honor Augustensibus si dicantur a Teucris ducere originem“ Humanistische Aspekte in der Cronographia Augustensium des Sigismund Meisterlin

I. Die im Jahre 1456 im Auftrag des Augsburger Patriziers Sigismund Gossembrot1 entstandene Cronographia Augustensium2 des gelehrten Benediktiner––––––––– 1

2

Zur Biographie Gossembrots s. Franz Josef Worstbrock: Art. Gossembrot, Sigismund. In: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. 2., völlig neu bearbeitete Auflage. Hg. von Kurt Ruh zusammen mit Gundolf Keil, Werner Schröder, Burghart Wachinger und Franz Josef Worstbrock (fortan zitiert als 2VL). Bd. 3. Berlin, New York 1983, Sp. 105–108; des Weiteren Wilhelm Wattenbach: Sigismund Gossembrot als Vorkämpfer der Humanisten und seine Gegner. In: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins 25 (1873), S. 36–69; Paul Joachimsohn: Aus der Bibliothek Sigismund Gossembrots. In: Centralblatt für Bibliothekswesen 6 (1884), S. 249–268, 298–307, hier S. 249–253; ders.: Frühhumanismus in Schwaben. In: Württembergische Vierteljahreshefte für Landesgeschichte N. F. 5 (1896), S. 63–126, 257–291; Karl Schädle: Sigmund Gossenbrot, ein Augsburger Kaufmann, Patrizier und Frühhumanist. Augsburg 1938 sowie Brigitte Ristow: Untersuchungen zu Sigismund Meisterlins Widmungsbriefen an Sigismund Gossembrot. In: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 85 (1963), S. 206–252, hier S. 207. Diesen Titel empfiehlt Meisterlin dem Auftraggeber Gossembrot in der ersten Fassung seines Widmungsbriefs. S. Ristow: Meisterlins Widmungsbriefe (wie Anm. 1), S. 218: Titulum tamen si placet hunc adice suppresso nomine auctore Cronographia Augustensium, ut muta pagina loquatur materiam, non loquatur nomen. Meisterlins Widmungsbrief an Gossembrot liegt in zwei Fassungen vor, die beide auf den 20. Juni 1456 datieren. Die zweite, stark erweiterte Version ist aber sicherlich erst nach Meisterlins Studienaufenthalt in Padua Anfang der 1460er Jahre entstanden. Beide Fassungen sind ediert in: Ristow: Meisterlins Widmungsbriefe (wie Anm. 1), S. 217f. (erste Fassung), S. 219–222 (zweite Fassung), Interpretation der beiden Versionen mit deutscher Paraphrase: S. 223–252; für eine kritische Auseinandersetzung mit den Ergebnissen Ristows vgl. Harald Müller: Habit und Habitus. Mönche und Humanisten im Dialog. Tübingen 2006 (Spätmittelalter und Reformation. Neue Reihe 32), S. 148–160; die zweite Fassung ist bereits ediert bei Paul Joachimsohn: Die Humanistische Geschichtschreibung in Deutschland. Heft 1: Die Anfänge. Sigismund Meisterlin. Bonn 1895, S. 281–284, Nr. 19. – Die Rolle Gossembrots als Initiator des Unternehmens tritt u. a. dadurch zum Vorschein, dass Meisterlin das Werk in seinem Widmungsbrief (Fassung 1) als historia nostra bezeichnet (Ristow: Meisterlins Widmungsbriefe [wie Anm. 1], S. 217); sie kommt auch dadurch zum Ausdruck, dass es Gossembrot war, der die Chronik zusammen mit einem auf den 1. Januar 1457 datierenden Widmungsschreiben an den Bischof von Augsburg Kardinal Peter von Schaumberg übersandte. Edition des Briefes bei Ristow: Meisterlins Widmungsbriefe (wie Anm. 1), S. 279f. Vgl.

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mönchs von St. Ulrich und Afra Sigismund Meisterlin 3 hat von Paul Joachimsohn, dem die grundlegenden Arbeiten zur Geschichte der humanistischen Historiographie in Deutschland zu verdanken sind,4 das Privileg verliehen bekommen, deren frühestes Beispiel zu sein. 5 Grundlage für diese Standortbestimmung war Joachimsohns Überzeugung, in Meisterlins Chronik erstmals nördlich der Alpen Reflexe humanistischer Quellenkritik erkennen zu können.6 Tatsächlich schreibt Meisterlin nicht einfach eine ihm vorliegende Tradition fort, sondern er ist über weite Strecken bemüht, aus den ihm zuhandenen Quellen eine eigenständige Fassung der Geschichte Augsburgs zu erarbeiten. Zwar schränkte Joachimsohn sein Urteil dahingehend wieder ein, dass er Meisterlins Vorgehen, seinen Gewährsleuten in der Regel wörtlich zu folgen, als mittelalterliche Verfahrensweise bewertete;7 auch musste er konzedieren, dass das vierte Buch der Augsburger Chronik, das die Geschichte Augsburgs zwischen der Völkerwanderung und Meisterlins Gegenwart behandelt, eine weitgehend unkritische Kompilation vorgängiger chronikaler Überlieferung darstellt.8 Doch war ihm die umsichtige Auswertung verschiedener und dabei immer wieder auch antiker Zeugnisse in jenen Büchern, die Ursprung und Geschichte Augsburgs bis zum Ausgang des Altertums schildern, Beleg genug, um Meisterlins

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ebd., S. 211; Joachimsohn: Meisterlin (wie oben), S. 65f. und H. Müller: Habit und Habitus (wie oben), S. 160–163. Offensichtlich war es Gossembrot, der für die Verbreitung des Werks sorgte. Sigismund Meisterlin ist wohl um 1435 in Augsburg geboren und trat mit 15 Jahren in die Benediktinerabtei von St. Ulrich und Afra ein. Zur Biographie Meisterlins s. Katharina Colberg: Art. Meisterlin, Sigismund. In: 2VL, Bd. 6. Berlin, New York 1987, Sp. 356–366; Korrekturen in: ebd., Bd. 11 (2004), Sp. 988; ferner: Ristow: Meisterlins Widmungsbriefe (wie Anm. 1), S. 206–214; Josef Bellot: Das Benediktinerstift St. Ulrich und Afra in Augsburg und der Humanismus. In: Studien und Mitteilungen zur Geschichte des BenediktinerOrdens und seiner Zweige 84 (1973), S. 394–406, hier S. 395f.; Constance Proksch: Klosterreform und Geschichtsschreibung im Spätmittelalter. Köln, Weimar, Wien 1994 (Kollektive Einstellungen und sozialer Wandel im Mittelalter N. F. 2), S. 41–43; Georg Kreuzer: Art. Meisterlin, Sigismund OSB. In: Lexikon für Theologie und Kirche. Bd. 7. Freiburg, Basel, Rom, Wien 1998, Sp. 74; Ulrich Andermann: Historiographie und Interesse. Rezeptionsverhalten, Quellenkritik und Patriotismus im Zeitalter des Humanismus. In: Das Mittelalter 5 (2000), S. 87–104, hier S. 98 sowie jetzt H. Müller: Habit und Habitus (wie Anm. 2), S. 138–174 passim. – Den Eintritt ins Kloster mit 15 Jahren bezeugt Meisterlin selbst in seiner Nürnberger Chronik. Vgl. Die Chroniken der deutschen Städte vom 14. bis ins 16. Jahrhundert. Bd. 3: Nürnberg. Leipzig 1864, S. 310, Nr. 4. S. vor allem Paul Joachimsen [= Joachimsohn]: Geschichtsauffassung und Geschichtschreibung in Deutschland unter dem Einfluß des Humanismus. 1. [= einziger] Teil. Leipzig 1910; ferner die Aufsätze in: ders.: Gesammelte Aufsätze. Beiträge zu Renaissance, Humanismus und Reformation, zur Historiographie und zum deutschen Staatsdenken. Ausgewählt und eingeleitet von Notker Hammerstein. Aalen 1970. Joachimsohn: Meisterlin (wie Anm. 2), S. 23–63 passim sowie ders.: Geschichtsauffassung (wie Anm. 4), S. 42–44. Vgl. die Untersuchung ebd., S. 26–56. Ebd., S. 29f. Vgl. ebd., S. 50.

„Quod non sit honor Augustensibus si dicantur a Teucris ducere originem“

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Chronik insgesamt als frühhumanistisches Geschichtswerk und damit als erstes Beispiel seiner Art in Deutschland zu bewerten.9 Die neuere Forschung ist in der Regel Joachimsohns Einschätzung gefolgt und verbucht die Cronographia Augustensium als das erste vom Humanismus beeinflusste Geschichtswerk Deutschlands.10 Dabei ist es allerdings auch geblieben; seit Joachimsohns grundlegender Studie, deren Erscheinen inzwischen weit über einhundert Jahre zurückliegt, ist eine weiterführende Beschäftigung mit dem Werk nicht zu verzeichnen. Dieses eigentümliche Desinteresse an Meisterlins Chronik ist umso erstaunlicher, als die Frühneuzeitforschung sowohl historischer wie auch philologisch-literaturwissenschaftlicher Provenienz die humanistische Geschichtsschreibung nördlich der Alpen inzwischen als Gegenstand entdeckt hat und die von Joachimsohn Anfang des 20. Jahrhunderts auf diesem Gebiet geschaffenen Grundlagen sukzessive ausbaut und vertieft.11 Die Ursache, dass die Cronographia Augustensium von diesem Aufschwung nicht profitieren konnte, liegt vor allem darin, dass die Forschung zur humanistischen Historiographie eine Entwicklungslinie ihres Gegenstands etabliert hat, die an Meisterlins Werk konsequent vorbeiführt.12 Humanistische Geschichts––––––––– 9

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Zum historiographischen Kontext in Augsburg s. Peter Johanek: Geschichtsschreibung und Geschichtsüberlieferung in Augsburg am Ausgang des Mittelalters. In: Literarisches Leben in Augsburg während des 15. Jahrhunderts. Hg. von Johannes Janota und Werner Williams-Krapp. Tübingen 1995 (Studia Augustana 7), S. 160–182. Vgl. Colberg: Meisterlin (wie Anm. 3), Sp. 359 sowie als Beispiel Karl Schnith: Mittelalterliche Augsburger Gründungslegenden. In: Fälschungen im Mittelalter. Internationaler Kongress der Monumenta Germaniae Historica. München, 16.–19. September 1986. Teil I: Kongressdaten und Festvorträge. Literatur und Fälschung. Hannover 1988 (Monumenta Germaniae Historica. Schriften 33, 1), S. 497–517, hier S. 508f. Vgl. Ulrich Muhlack: Die humanistische Historiographie. In: Deutsche Landesgeschichtsschreibung im Zeichen des Humanismus. Hg. von Franz Brendle, Dieter Mertens, Anton Schindling und Walter Ziegler. Stuttgart 2001 (Contubernium 56), S. 3–18. Johannes Helmrath: Die Umprägung von Geschichtsbildern in der Historiographie des europäischen Humanismus. In: Von Fakten und Fiktionen. Mittelalterliche Geschichtsdarstellungen und ihre kritische Aufarbeitung. Hg. von Johannes Laudage. Köln, Weimar, Wien 2003 (Europäische Geschichtsdarstellungen 1), S. 323–352 sowie den instruktiven Überblick über die humanistische Historiographie nördlich der Alpen mit einer Fülle neuerer Literaturbelege von dems.: Probleme und Formen nationaler und regionaler Historiographie des deutschen und europäischen Humanismus um 1500. In: Spätmittelalterliches Landesbewusstsein in Deutschland. Hg. von Matthias Werner. Ostfildern 2005 (Vorträge und Forschungen 61), S. 333–392; ferner die Beiträge des Sammelbandes: Diffusion des Humanismus. Studien zur nationalen Geschichtsschreibung europäischer Humanisten. Hg. von Johannes Helmrath, Ulrich Muhlack und Gerrit Walther. Göttingen 2002. Vgl. auch Ulrich Muhlack: Geschichtswissenschaft im Humanismus und in der Aufklärung. Die Vorgeschichte des Historismus. München 1991, S. 199–219. Die Arbeiten, die sich mit der humanistischen Historiographie beschäftigen, stehen in der Regel im Kontext der Erforschung eines spezifischen frühneuzeitlichen Nationalismus, der ausgehend von Italien alle europäischen Länder erfasst und die Beschäftigung mit der jeweils eigenen Geschichte angeregt hat. S. Jacques Ridé: L’image du Germain dans la pensée et la littérature allemandes de la redécouverte de Tacite à la fin du XVIième siècle. Contribution à l’étude de la genèse d’un mythe. 3 Bde. Lille, Paris 1977; Ludwig Krapf: Germanenmythus und Reichsideologie. Frühhumanistische Rezeptionsweisen der taciteischen „Germania“. Tübingen 1979 (Studien zur deutschen Literatur 59); Herfried Münkler, Hans

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schreibung nördlich der Alpen, so ließe sich auf Grundlage der einschlägigen Studien in aller Kürze formulieren, 13 steht in der Nachfolge der historischen und geographischen Schriften des Kuriensekretärs Flavio Biondo, insbesondere seiner Historiarum ab inclinatione Romanorum imperii decades, 14 und der Italia illustrata15 sowie der Arbeiten Enea Silvio Piccolominis, die Biondos historische und landeskundliche Methoden auf Deutschland übertragen.16 Ausgehend von deren Rezeption entsteht in den letzten Jahrzehnten des 15. Jahrhunderts auch nördlich der Alpen ein Interesse an einem aus diesen gewonnenen Programm historisch-antiquarischer Erschließung der eigenen Heimat, das sich von Anfang an durch das spezifische Nebeneinander von historischer und geographischer Fragestellung charakterisiert und zunächst in Conrad Celtis’ Projekt der Germania illustrata kulminiert. 17 Wiewohl als Schrift selbst immer –––––––––

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Grünberger und Kathrin Mayer: Nationenbildung. Die Nationalisierung Europas im Diskurs humanistischer Intellektueller. Italien und Deutschland. Berlin 1998 (Politische Ideen 8); Caspar Hirschi: Wettkampf der Nationen. Konstruktionen einer deutschen Ehrgemeinschaft an der Wende vom Mittelalter zur Neuzeit. Göttingen 2005; vgl. auch ders.: Vorwärts in neue Vergangenheiten. Funktionen des humanistischen Nationalismus in Deutschland. In: Funktionen des Humanismus. Studien zum Nutzen des Neuen in der humanistischen Kultur. Hg. von Thomas Maissen und Gerrit Walther. Göttingen 2006, S. 362–395; für eine Definition des frühneuzeitlichen Nationalismus in Abgrenzung zu dessen neuzeitlichen und modernen Spielarten s. ders.: Das humanistische Nationskonstrukt vor dem Hintergrund modernistischer Nationalismustheorien. In: Historisches Jahrbuch 122 (2002), S. 355–396 sowie ders.: Wettkampf der Nationen (wie oben), S. 17–75. Für einen Überblick sei nochmals auf Helmrath: Regionale Historiographie (wie Anm. 11), vor allem S. 333–339 verwiesen. Vgl. Eric Cochrane: Historians and Historiography in the Italian Renaissance. Chicago 1981, S. 34–40. Einlässliche Studien zu diesem Basiswerk humanistischer Geschichtsschreibung fehlen. Grundlegend zur Italia illustrata: Ottavio Clavuot: Biondos „Italia illustrata“ – Summa oder Neuschöpfung? Über die Arbeitsmethoden eines Humanisten. Tübingen 1990 (Bibliothek des Deutschen Historischen Instituts in Rom 69); s. auch ders.: Flavio Biondos Italia illustrata. Porträt und historisch-geographische Legitimation der humanistischen Elite Italiens. In: Helmrath, Muhlack, Walther (Hgg.): Diffusion des Humanismus (wie Anm. 11), S. 55–76. Zu Enea Silvio Piccolomini s. unten S. 256f. mit den entsprechenden Anmerkungen. Zu Vorbildern, Konzept und Geschichte von Celtis’ Projekt einer Germania illustrata s. Joachimsohn: Geschichtsauffassung (wie Anm. 4), S. 155–167; Muhlack: Geschichtswissenschaft (wie Anm. 11), S. 210–217; ders.: Das Projekt der Germania illustrata. In: Helmrath, Muhlack, Walther (Hgg.): Diffusion des Humanismus (wie Anm. 11), S. 142– 158; Gernot Michael Müller: Die „Germania generalis“ des Conrad Celtis. Studien mit Edition, Übersetzung und Kommentar. Tübingen 2001 (Frühe Neuzeit 67), S. 187–483; ders.: „Germania illustrata, quae in manibus est.“ Spurensuche nach einem nie realisierten Werk des Konrad Celtis. In: Amor als Topograph. 500 Jahre Amores des Conrad Celtis. Ein Manifest des deutschen Humanismus. Kabinettausstellung, 7. April–30. Juni 2002. Hg. von Claudia Wiener, Jörg Robert, Günter und Ursula Hess. Schweinfurt 2002 (Bibliothek Otto Schäfer. Ausstellungskataloge 18), S. 137–149; vgl. auch Ridé: L’image du Germain (wie Anm. 12), S. 99ff.; ders.: Un grand projet patriotique: Germania illustrata. In: L’humanisme allemand (1480–1540). 18. Colloque international de Tours. München 1979 (Humanistische Bibliothek 1, 38), S. 99–111; Krapf: Germanenmythus (wie Anm. 12), S. 99– 101; Jörg Robert: Konrad Celtis und das Projekt der deutschen Dichtung. Studien zur hu-

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Desiderat geblieben, hat Celtis mit ihrer Planung ein Arbeitsfeld historischer und geographischer Erschließung Deutschlands definiert, das sich hierauf zu einem der zentralen Betätigungsgebiete des Humanismus nördlich der Alpen entwickelte. 18 Wird von der Forschung ein Gelehrtenkreis als Schnittstelle in den Blick genommen, über den der Transfer humanistischer Geschichtsschreibung samt ihrer Methoden und Inhalte von der Apenninenhalbinsel über die Alpen erstmals vollzogen wird, ist dies das Umfeld Hartmann Schedels in Nürnberg,19 dessen 1493 gedruckte Weltchronik die ersten Reflexe des neuen Paradigmas innerhalb überkommener Form zeigt.20 Der Augsburger Frühhumanistenkreis um den Patrizier Sigismund Gossembrot d. Ä., in dessen Umfeld Meisterlins Cronographia Augustensium entstanden ist, spielt demgegenüber keine Rolle. 21 ––––––––– 18

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manistischen Konstitution von Poetik, Philosophie, Nation und Ich. Tübingen 2003 (Frühe Neuzeit 76), S. 345–439. Zur Geschichte der Germania illustrata-Idee nach Celtis’ Tod s. die Skizze in G. M. Müller: „Germania generalis“ (wie Anm. 17), S. 472–483 sowie am Beispiel von Johannes Cochlaeus ders.: Quod si Chunradi Celtis ‚Illustrata Germania‘ nobis obtingere potuisset, fuisset profecto susceptus iste labor et certior et facilior. Johannes Cochlaeus’ Brevis Germaniae descriptio und die Bedeutung des Conrad Celtis für die humanistische Landeskunde in Deutschland. In: Konrad Celtis und Nürnberg. Akten des interdisziplinären Symposions vom 8. und 9. November 2002 im Caritas-Pirckheimer-Haus in Nürnberg. Hg. von Franz Fuchs. Wiesbaden 2004 (Pirckheimer-Jahrbuch für Renaissance- und Humanismusforschung 19), S. 140–181. Zum Nürnberger Humanistenkreis s. Reinhard Stauber: Hartmann Schedel, der Nürnberger Humanistenkreis und die ‚Erweiterung der deutschen Nation‘. In: Helmrath, Muhlack, Walther (Hgg.): Diffusion des Humanismus (wie Anm. 11), S. 159–185. Zum Beitrag Nürnberger Humanisten am Projekt der Germania illustrata s. Nine Miedema: Die Nürnberger Humanisten und die „Germania illustrata“. Tradition und Innovation im Bereich der Geographie um 1500. In: Tradition and Innovation in an Era of Change/Tradition und Innovation im Übergang zur Frühen Neuzeit. Hg. von Rudolf Suntrup und Jan R. Veenstra. Frankfurt a. M. u. a. 2001 (Medieval to Early Modern Culture 1), S. 51–74. Vgl. Muhlack: Geschichtswissenschaft (wie Anm. 11), S. 208–210; Hartmut Kugler: Nürnberg auf Blatt 100. Das verstädterte Geschichtsbild der Schedelschen Weltchronik. In: Stadt-Ansichten. Hg. von Jürgen Lehmann und Eckart Liebau. Würzburg 2000 (Bibliotheca academica 1), S. 103–123; G. M. Müller: „Germania generalis“ (wie Anm. 17), S. 286– 293. Zum Augsburger Frühhumanistenkreis um Sigismund Gossembrot zählen neben Sigismund Meisterlin Hermann Schedel, der Jurist Valentin Eber, seit 1454 Stadtschreiber, der Theologe Thomas Ödenhofer, Leonhard Gressel, der von 1444 bis 1447 und wahrscheinlich von 1449 bis 1459 Generalvikar war, Heinrich Lur, seit 1491 bischöflicher Sekretär, sowie die Auswärtigen Laurentius Blumenau, Ludwig Rad und Hieronymus Rothenpeck, die freilich nur lockere Beziehungen zu dem Kreis unterhielten. Zum Augsburger Frühhumanistenkreis s. Schädle: Gossenbrot (wie Anm. 1), S. 37–52; Friedrich Zoepfl: Der Humanismus am Hof der Fürstbischöfe von Augsburg. In: Historisches Jahrbuch 62–69 (1949), S. 671–708, hier S. 676–679; Hartmut Boockmann: Laurentius Blumenau. Fürstlicher Rat – Jurist – Humanist (ca. 1415–1484). Göttingen 1965 (Göttinger Bausteine zur Geschichtswissenschaft 37), S. 226–236; Heinz Otto Burger: Renaissance, Humanismus, Reformation. Deutsche Literatur im europäischen Kontext. Bad Homburg v. d. H., Berlin, Zürich 1969 (Frankfurter Beiträge zur Germanistik 7), S. 145–148, 171–179; unter besonderer Berücksichtigung der Imitatio italienischer Vorbilder in der Korrespondenz Augsburger Frühhumanisten Franz Josef Worstbrock: Imitatio in Augsburg. Zur Physiognomie

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Indem sie die Cronographia Augustensium somit außerhalb der chronologischen und kommunikativen Zusammenhänge entstanden sein lässt, über die humanistische Geschichtsschreibung nach Meinung der neueren Forschung in Deutschland Eingang gefunden habe, zieht die neuere Humanismusforschung das von Joachimsohn ansonsten bereitwillig übernommene Plädoyer, in Meisterlins Augsburger Chronik das erste humanistische Geschichtswerk nördlich der Alpen zu sehen, eher in Zweifel, als dass sie es bestätigte. Es gilt daher, historischen Ort und Epochenzugehörigkeit der Cronographia Augustensium erneut zu hinterfragen. Konkret gilt es zu klären, ob diese lediglich durch die von Joachimsohn überzeugend herausgearbeiteten Reflexe kritischen Quellenstudiums und damit eher allgemein auf die um 1500 breit entstehende humanistische Geschichtsschreibung Deutschlands vorausweist oder ob sich in ihr weitere Aspekte greifen lassen, durch die sie als deren Vorläuferin erwiesen werden kann. Aus diesem Grunde soll es im Folgenden nicht darum gehen, die von Joachimsohn zusammengetragenen Exempla für Meisterlins Umgang mit den ihm zuhandenen Quellen zu ergänzen und weitere Belege für eine Arbeitsmethode beizubringen, die dieser als frühhumanistisch taxiert hat. Deren systematische Aufarbeitung wird ohnehin erst eine kommentierte Edition der Cronographia Augustensium leisten können, die bis heute Desiderat ist. Vielmehr soll dargelegt werden, dass es vor allem das dahinter erkennbare Grundanliegen Meisterlins sowie die daraus abgeleitete Version von Ursprung und antiker Geschichte Augsburgs sind, welche die Augsburger Chronik mit der humanistischen Historiographie um 1500 verbinden und damit zu ihrem frühen Beispiel machen. 22 Zu zeigen wird also sein, dass das Humanistische an der Augsburger –––––––––

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des deutschen Frühhumanismus. In: Zeitschrift für deutsches Altertum und Literatur 129 (2000), S. 187–201. Vgl. ferner Herrad Spilling: Handschriften des Augsburger Humanistenkreises. In: Renaissance- und Humanistenhandschriften. Hg. von Johanne Autenrieth unter Mitarbeit von Ulrich Eigler. München 1988 (Schriften des Historischen Kollegs. Kolloquien 13), S. 71–84. Zur bürgerlichen Gesellschaft im Augsburg des 14. und 15. Jahrhunderts s. Rolf Kießling: Bürgerliche Gesellschaft und Kirche in Augsburg im Spätmittelalter. Ein Beitrag zur Strukturanalyse der oberdeutschen Reichsstadt. Augsburg 1971 (Abhandlungen zur Geschichte der Stadt Augsburg 19); ders.: Das Augsburger Bürgertum im 15. Jahrhundert. Ein Versuch zur Bestimmung spezifischer Verhaltensweisen gegenüber der Kirche und ihrem Wertsystem. In: Die mittelalterliche Stadt in Bayern. Hg. von Karl Bosl. München 1974 (Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte. Beiheft Reihe B, 6), S. 163–186. Für eine allgemeine Darstellung des Frühhumanismus in Deutschland s. Franz Josef Worstbrock: Frühhumanismus in Deutschland. In: Von der Augsburger Bibelhandschrift zu Bertolt Brecht. Zeugnisse der deutschen Literatur aus der Staats- und Stadtbibliothek und der Universitätsbibliothek Augsburg. Ausstellung der Staats- und Stadtbibliothek Augsburg in Zusammenarbeit mit der Universität Augsburg anlässlich des Deutschen Germanistentages 1991 Augsburg. 4. Oktober bis 10. November 1991. Katalog. Hg. von Helmut Gier und Johannes Janota. Weißenhorn 1991, S. 166–174. Für die einzelnen Mitglieder des Augsburger Humanistenkreises sei zudem auf die einschlägigen Personenartikel in 2VL verwiesen. – Für den monastischen Kontext, in dem Meisterlins Augsburger Chronik entstanden ist, vgl. Klaus Graf: Ordensreform und Literatur in Augsburg während des 15. Jahrhunderts. In: Janota, Williams-Krapp (Hgg.): Literarisches Leben (wie Anm. 9), S. 100–159. Erste Hinweise hierzu bei G. M. Müller: „Germania generalis“ (wie Anm. 17), S. 341–343.

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Chronik weniger nur in einer Methode liegt, die diese ohnehin erst in Ansätzen zeigt, als vielmehr in den Motiven, die Meisterlin zu Konsultation und kritischer Überprüfung der ihm zuhandenen Quellentexte veranlasst haben, sowie in bestimmten Aspekten seiner Geschichtsdarstellung, die sich auf diese zurückführen lassen. Hierzu gliedern sich die folgenden Ausführungen in drei Teile: Zunächst sollen anhand einer kursorischen Lektüre der ersten drei Bücher Anlass und Zielsetzung der Cronographia Augustensium skizziert und Meisterlins Ansicht, wie sich Gründung und Frühgeschichte Augsburgs bis in augusteische Zeit vollzogen haben, dargelegt werden. Sodann soll ein Vergleich mit der humanistischen Historiographie um 1500 sichtbar machen, dass Meisterlins Werk in beiden Aspekten deutliche Gemeinsamkeiten mit dieser aufweist. Ein letzter Abschnitt will schließlich andeuten, woher Meisterlin die Impulse für Anliegen und historischen Ansatz seiner Schrift bezogen haben dürfte. Diese werden wie bei der späteren Geschichtsschreibung nördlich der Alpen auf die Apenninenhalbinsel führen.

II. Unmittelbar auffällig an der Cronographia Augustensium ist die Ausführlichkeit, mit der sich Meisterlin den Ursprüngen Augsburgs zuwendet.23 Rund eineinhalb der insgesamt vier Bücher und damit gut ein Drittel des Werks sind diesem Gegenstand gewidmet. Ursache hierfür ist, dass Meisterlin nicht nur seine Auffassung, wie Augsburg entstanden sei, ausführlich darlegt und begründet, sondern diese als Ersatz für eine in der Stadt kursierende Gründungsgeschichte präsentiert, die er und sein Auftraggeber für unglaubwürdig erachteten. Infolgedessen gilt das erste Buch in weiten Teilen deren Widerlegung, wobei sich Meisterlin vor allen Dingen mit einer nicht lange vor seinem Werk entstandenen Verschriftlichung dieser Ursprungsversion auseinandersetzt, die deren Bekannt––––––––– 23

Grundlage der folgenden Untersuchung ist die Handschrift 20 cod. Aug. 56 der Staats- und Stadtbibliothek Augsburg. Zitate aus dieser sind in der Orthographie maßvoll an den heutigen Gebrauch angepasst. So sind Eigennamen und Wörter am Satzanfang großgeschrieben; auch die Zeichensetzung entspricht modernen Usancen. – Zur Überlieferung der Cronographia Augustensium s. Colberg: Meisterlin (wie Anm. 3), Sp. 358f. – Unmittelbar nach Fertigstellung der lateinischen Fassung beauftragte Gossembrot Meisterlin, eine deutsche Übersetzung der Augsburger Chronik für den Rat der Stadt zu verfassen. Diese war am 4. Januar 1457 vollendet, welches Datum der Widmungsbrief Meisterlins an den Rat trägt (vgl. die Abb. auf S. 245). Vgl. Joachimsohn: Meisterlin (wie Anm. 2), S. 66; Ristow: Meisterlins Widmungsbriefe (wie Anm. 1), S. 211. Von der deutschen Fassung existiert eine gekürzte Druckausgabe, die 1522 bei Melchior Ramminger in Augsburg erschienen ist. Faksimileedition und Abschrift liegen von einer Kärntner Handschrift vor, die eine deutsche Fassung der Cronographia Augustensium überliefert: Hans Gröchening: Sigismund Meisterlin, Cronographia Augustensium. Cronik der Augspurger. Nach der Handschrift 158/4 in St. Paul in Kärnten. Abbildung des deutschen Textes. Klagenfurt 1998 (Armarium 13, 1).

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heit in Augsburg maßgeblich befördert zu haben scheint. 24 Die Rede ist von der Reimchronik des Küchlin, die dieser nicht eindeutig zu identifizierende Kleriker25 wohl zwischen 1437 und 1442 verfasst hat.26 Ihr Entstehen ist auf den Augsburger Patrizier Peter Egen zurückzuführen und steht in Zusammenhang mit dessen Auftrag an den Maler Jörg Amman, den Innenhof seines Hauses am Weinmarkt mit einem Freskenzyklus zu versehen, der Motive aus der Geschichte Augsburgs darstellen sollte.27 Hierzu habe Egen dem Küchlin, so berichtet dieser im Proömium seiner Chronik, eine lateinische Darstellung der Gründung Augsburgs durch den Maler zusenden lassen, die ihm als Vorlage für seine Darstellung in deutschen Versen gedient habe.28 ––––––––– 24

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Vgl. Dieter Weber: Geschichtsschreibung in Augsburg. Hektor Mülich und die reichsstädtische Chronistik des Spätmittelalters. Augsburg 1984 (Abhandlungen zur Geschichte der Stadt Augsburg 30), S. 34–37. Hinter diesem Namen könnte sich entweder Johannes Küchlin, der sich 1443 an der Universität Heidelberg immatrikulierte, oder Geiso/Gyso Küchlin verbergen, der 1453 als Chorvikar des Augsburger Kollegiatstifts St. Moritz belegt ist. S. Clarissa Altschäffel: Art. Küchlin. In: 2VL, Bd. 5. Berlin, New York 1985, Sp. 407–409; Georg Kreuzer: Art. Küchlin. In: Augsburger Stadtlexikon. 2., völlig neu bearbeitete und erheblich erweiterte Auflage. Hg. von Günther Grünsteudel, Günter Hägele und Rudolf Frankenberger. Augsburg 1998, S. 585. Meisterlin bezeichnet ihn lediglich als sacerdos, ohne seinen Namen zu nennen (vgl. das Zitat unten in Anm. 28). Zur Datierung der Reimchronik des Küchlin s. Altschäffel: Art. Küchlin (wie Anm. 25), Sp. 407. Peter Egen III (ca. 1413–1452) war seit 1428 der reichste Bürger Augsburgs. Von 1436 bis 1450 bekleidete er achtmal das Amt des Stadtpflegers. 1446 trat er als Vermittler zwischen Zürich und den Eidgenossen auf. 1431 beherbergte er Kaiser Sigismund, 1442 Kaiser Friedrich III. in seinem Haus, der ihn im gleichen Jahr in den Adelsstand erhob und ihm den Namen von Argon gab. S. Peter Geffcken: Artikel Egen (von Argon). In: Augsburger Stadtlexikon (wie Anm. 25), S. 371f., hier S. 372; ferner Paul von Stetten: Geschichte der adelichen Geschlechter in der freyen Reichsstadt Augsburg sowohl in Ansehung ihres besondern Standes als auch in Ansehung einer jeden einzlen Familie. Unveränderter Nachdruck der Ausgabe Augsburg 1762. Neustadt a. d. Aisch 1999, S. 57–60; Peter Rummel: Katholisches Leben in der Reichsstadt Augsburg (1650–1806). In: Jahrbuch des Vereins für Augsburger Bistumsgeschichte 18 (1984), S. 9–161, hier S. 138; Hartmut Boockmann: Spätmittelalterliche deutsche Stadttyrannen. In: Blätter für deutsche Landesgeschichte 119 (1983), S. 73–91, hier S. 75–87; ders.: Fürsten, Bürger, Edelleute. München 1994, S. 57– 80; Rolf Kießling: Städtischer Republikanismus. Regimentsformen des Bürgertums in oberschwäbischen Stadtstaaten im ausgehenden Mittelalter und der beginnenden Neuzeit. In: Politische Kultur in Oberschwaben. Hg. von Peter Blickle. Tübingen 1993, S. 175–205, hier S. 184f.; Friedrich Peter Geffcken: Soziale Schichtung in Augsburg 1396–1521. München 1995, S. 142, 196, Anhang S. 6–197; zu den Wandmalereien des Jörg Amman in Egens Anwesen am Weinmarkt s. Johannes Wilhelm: Augsburger Wandmalerei 1368– 1530. Künstler, Handwerker und Zunft. Augsburg 1983 (Abhandlungen zur Geschichte der Stadt Augsburg 29), S. 32–34, 398–401. Zu dieser Beauftragung vgl. die Vorrede des Küchlin in den V. 1–28: Ein gewaltig man in der stat / zuo Augspurg mich gar ernstlich bat / durch einen maler, der was kluog, / ein kleines buechlin der maler truog / das was geschriben alt schrift latin, / er sprach, es wer des herren sin, / das ich von anfang an das end / wölt überlesen das buoch behend, / und was ich darinn geschriben fünd, / daruß man werlich gelernen künd, / wie die wirdig stat wer komen her, / das ich des machte ein schrift gewer, / man fund gemeld und darzuo wort / gemalt und geschriben hie und dort, / von den alten kurz abbreviert, / darinn die jungen

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Sigismund Meisterlin überreicht die deutsche Ausgabe seiner Cronographia Augustensium dem Augsburger Rat (Sigismund Meisterlin: Chronik von Augsburg, 1479–1481. Bayerische Staatsbibliothek München, cgm 213, Bl. 12v)

––––––––– wern verirrt / und würden des unglich underwist. / ich sprach: die sach unmüglich ist / mir einfeltigen manne ze sagen, / der her ist komen in kurtzen tagen; / doch gaben mir die buecher trost, / die ich han gezeugt in miner kost / und sagen von alten dingen, / darumb ich gedacht, mir mag gelingen, / und nam die arbeit über mich. / der maler der vast fröwet sich, / das er sölt sagen dem gewaltigen man, / ich wölt im darinn zuo willen stan. Vgl. auch die nachredung und beschließung des Gedichts, in dem Küchlin sich selbst, Peter Egen und den Maler Jörg Amman beim Namen nennt (V. 367–384): Der gewaltig man, dem das geticht / ist gemacht, sol sin verswigen nicht: / Peter Egen der jung ist er genant, / burgermeister zuo der zit erkant, / der tichter heist der Küchlin, / und hat es genomen von latin / und in tütsch also verkert, / etwa geminnert, etwa gemert / nach tichter kunst und orden, / das nichts gefelscht ist worden. / meister Jörg heist der maler kluog, / der im das buechlin zuo truog / und tet es auch nit gar umbsust, / im stuond darzuo sin eigen lust, / das er daruß wolt figuriren / und mit gemeld gar schon ziren / dem gewaltigen man sin hus und wend / damit sol haben die red ein end. Diese und die folgenden Zitate entstammen der Edition in: Die Chroniken der schwäbischen Städte. Augsburg. Bd. 1. Hg. von Karl Hegel, bearbeitet von Ferdinand Frensdorff. 2., unveränderte Auflage. Göttingen 1965 (Die Chroniken der deutschen Städte vom 14. bis ins 16. Jahrhundert 4), S. 343–356. Auf die Beauftragung des Küchlin durch Peter Egen spielt auch Meisterlin an, als er sich im vierten Kapitel des ersten Buches ausführlich mit dessen Gründungsversion auseinandersetzt: Primo ergo quidam sacerdos narrat se ob petitiones cuiusdam civis Augustensis, qui nuper, cum saeva fortuna novercaret circa eum, per mortem subtractus est, hos rithmos composuisse (Cronographia Augustensium, B. 1, Kap. 4, S. 14). Zur Reimchronik Küchlins und dessen Beauftragung durch Peter Egen s. Schnith: Gründungslegenden (wie Anm. 10), S. 505f. sowie Johanek: Geschichtsschreibung (wie Anm. 9), S. 166–169.

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In dieser schildert Küchlin eine Ursprungsgeschichte Augsburgs, die ihren Beginn beim Untergang von Troja nimmt.29 Auf der Flucht aus der brennenden Stadt sei Aeneas vom Enkel des Priamus mit gleichem Namen begleitet worden,30 der sich aber nicht mit diesem an der Tibermündung habe niederlassen wollen. Stattdessen sei er mit seiner Gefolgschaft über die Alpen bis an den Rhein gezogen, wo er zunächst die gallische Bevölkerung vertrieben habe, um sich schließlich in der Stadt Trier niederzulassen. 31 Dort hätten sie ihren lateinischen Namen „Germani“ erhalten, und zwar deswegen, weil sich Aeneas in seinen Briefen an Priamus stets der Anrede „germanus“, Neffe, bedient habe. 32 Ihre Ehefrauen hätten sich die Trojaner sodann aus Köln geholt und mit diesen eine reiche Nachkommenschaft gezeugt.33 Auf diese Weise habe sich die Bevölkerung Triers in kurzer Zeit so stark vermehrt, dass sich ein Teil der Trojaabkömmlinge auf die Suche nach neuen Wohnsitzen gemacht habe. Am Zusammenfluss von Lech und Wertach seien sie fündig geworden und hätten dort eine Stadt errichtet, die sie zu Ehren ihrer Göttin Zisa Zisaris genannt hätten. 34 Dies sei ungefähr zur Zeit der Gründung Roms gewesen. 35 Unter Kaiser Augustus sei die Stadt nach langem Widerstand schließlich von den Römern erobert und zu dessen Ehren in Augusta umbenannt worden. Mit diesem Ereignis endet Küchlins Bericht.36 ––––––––– 29 30

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Vgl. Schnith: Gründungslegenden (wie Anm. 10), S. 506f. Reimchronik des Küchlin, V. 71–84: doch bleib des geslechts ein sam / des kunigs enklin mit sinem nam / Priamus der junger genant, / zuo dem noch einer was bekannt, / Eneas, desselben stams ein helt; / und hetten vil ritterschaft erwelt, / damit sie zugen uß dem land, / das sie daheim vermitten schand. / durch Affricam der weg sie truog, / da was ze bliben nicht ir fuog / und zugen fürbas in welsche land, / das noch Italia ist genant, / da bleib Eneas ritterlich / und macht daselbst ein kunigrich. Ebd., V. 85–95: der jung Priamus da fürbas zoch / durch das gepirg eng und hoch, / bis er anschawet den Rinstram, / hinüber er den weg nam / und by des Rines tamgemerk / vertraib er mit siner macht und sterk / in dem nehern land ze Gallia, / wer da was geseßen verr und na / bis an die alten stat gen Trier, / mit den wart er geeint gar schier, / das er da hin und wesen saß. Ebd., V. 105–115: Eneas der schreibe Priamo / in allen brieven germano, / darumb das sie von einem samen / geboren waren mit kuniges namen; / die schrift die schal durch das lant, / das die edeln würden alle genant / Germani, und was sie hetten inn / oder hernach möchten land gewinn, / die hießen nach in Germania, / das sind teutsche land, verr und na, / die gemeinlich den namen tragen. Ebd., V. 98–104. Ebd., V. 116–138: Also will ich nu von Augspurg sagen. / Do dem adel an dem Rin ward eng / ir vil sich teilten uß dem getreng / hin über Rin in ander land, / davon dem Rieß ward not bekannt, / und als sie komen her an das end / und die zwei waßer gar behend, / Lech und Wertach in einander rinnen, / sie wurden gar weislich besinnen / umb das die land da scheiden sich, / es wer land und lüten troestlich, / das sie hetten zuo der wer, / ein stat und sichern zuo ker; / also ward von in daselbst gemacht / die stat, aun mur, sust wol besacht / mit einem tüll und guoten graben / das taten die Germani und Swaben. / sie bauten einen tempel groß darin / zuo eren Zise der abgöttin, / die sie nach heidnischem sitten / anbetten zuo denselben ziten; / die stat ward genent auch Zisaris / nach der abgöttin, das was der pris. Ebd., V. 145–172. Ebd., V. 317–366 (mit abschließendem Hinweis auf das Martyrium der hl. Afra).

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Wenngleich sich in der ausschließlichen Konzentration auf Ursprung und Frühgeschichte Augsburgs ein besonderes Interesse für diese Epoche der Stadtgeschichte artikuliert, wie es im Kontext der Augsburger Chronistik des Spätmittelalters ohne Parallele ist, erweist sich Küchlin mit der von ihm präsentierten Version keinesfalls als originell. Vielmehr rekurriert er mit der Behauptung, die Gründung Augsburgs gehe in letzter Konsequenz auf den Untergang Trojas zurück, auf ein über das gesamte Mittelalter hinweg beliebtes Muster, um das eigene Herkommen zu erklären. 37 Dessen Anfänge liegen in der fränkischen Geschichtsschreibung des Frühmittelalters und den beiden für diese grundlegenden Werken, der wohl um 660 von einem burgundischen Verfasser in Metz geschriebenen Chronik Fredegars und den anonymen Gesta regum Francorum aus den Jahren 726/737, die beide von einer trojanischen Abstammung der Franken berichten. Diese würden nämlich auf die Trojaflüchtlinge Antentor und den auch bei Küchlin erwähnten Priamus zurückgehen, die anders als Aeneas nicht über das Mittelmeer, sondern auf dem Landweg in die Mäotischen Sümpfe geflohen seien, wo sie eine Stadt namens Sicambria gegründet hätten. Nachdem sie den Römern im Kampf unterlegen seien, seien sie schließlich nach Germanien geflohen, wo sie sich zwischen Rhein und Donau niedergelassen hätten.38 Ihr Entstehen verdankt diese Abstammungsgeschichte dem Bestreben der Franken, eine Herkunft für sich beanspruchen zu können, die eine Parallele zu den Ursprüngen Roms aufweist. Dabei sollte die Herleitung aus Troja, auf dessen Untergang auch die Hauptstadt des römischen Weltreichs ihren Beginn zurückführte, als historisch-genealogische Begründung für deren Anspruch dienen, legitime Erben und Nachfolger des imperium Romanum zu sein.39 Für all jene Geschlechter, die sich im weiteren Verlauf des Mittelalters als Fortsetzer der über die fränkische Translatio imperii auf die Deutschen übergegangenen Herrschaft des Römischen Reichs empfahlen, 40 entstand daraus die implizite Verpflichtung, sich ihrerseits über eine genealogische Angliederung an Troja dafür zu legitimieren. 41 Bedeutendstes Beispiel hierfür sind im Spätmittelalter ––––––––– 37 38

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Vgl. Schnith: Gründungslegenden (wie Anm. 10), S. 499f. Zur Chronik des Fredegar und den Gesta regum Francorum unter Einbeziehung ihres Vorläufers Gregor von Tours s. Hans Hubert Anton: Troja. Herkunft, origo gentis und frühe Verfaßtheit der Franken in der gallisch-fränkischen Tradition des 5. bis 8. Jahrhunderts. In: Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 108 (2000), S. 1–30 (unter umsichtiger Auswertung der älteren Literatur). Vgl. Jörn Garber: Trojaner – Römer – Franken – Deutsche. „Nationale“ Abstammungstheorien im Vorfeld der Nationalstaatsbildung. In: Nation und Literatur im Europa der Frühen Neuzeit. Akten des I. Internationalen Osnabrücker Kongresses zur Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit. Hg. von Klaus Garber. Tübingen 1989 (Frühe Neuzeit 1), S. 108–163, hier S. 125–137. Zum Konzept der Translatio imperii immer noch grundlegend Werner Goez: Translatio imperii. Ein Beitrag zur Geschichte des Geschichtsdenkens und der politischen Theorie im Mittelalter und in der frühen Neuzeit. Tübingen 1958. Die Forschungsliteratur zum Trojaparadigma ist breit. Exemplarisch seien hier genannt: Frantisek Graus: Lebendige Vergangenheit. Überlieferung im Mittelalter und in den Vorstellungen vom Mittelalter. Köln, Wien 1975; ders.: Troja und trojanische Herkunftssage im Mittelalter: In: Kontinuität und Transformation der Antike im Mittelalter. Veröffentli-

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und damit in jener Epoche, in die Meisterlins Cronographia Augustensium datiert, die Habsburger. Nachdem dieses erst spät zur Bedeutung gelangte Adelsgeschlecht seine Berechtigung auf die Kaiserwürde zunächst dadurch beweisen wollte, 42 dass es eine Herkunft direkt aus Rom behauptete, wandte insbesondere Maximilian I. seine Anstrengungen darauf, sich und sein Geschlecht als Nachfahren der Trojaner zu erweisen.43 Indem eine Abkunft aus Troja somit zu einer Art Befähigungsurkunde für die Herrschaft über das römische Reich avancierte, erlangte diese ein derartiges Prestige, dass ihre Beliebtheit im Laufe des Mittelalters immer weitere Kreise zog und zunehmend auch Adelsgeschlechter geringerer Bedeutung bemüht waren, die eigenen Ursprünge an der kleinasiatischen Mittelmeerküste zu verorten. Reflex auf eine solche Entwicklung ist die Bemerkung des Küchlin in seiner Reimchronik, dass der Adel insgesamt aus Troja abstamme. 44 Als Letzte in dieser Reihe begannen Städte, ihre Herkunft aus Troja zu behaupten. Deren seit dem hohen Mittelalter zu beobachtender Aufstieg zumal im Norden der Apenninenhalbinsel schlug sich somit auch im Streben nieder, Argumente für einen Ursprung beizubringen, der bis dahin allein der Legitimation in Adelskreisen

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chungen der Kongreßakten zum Freiburger Symposium des Mediävistenverbandes. Hg. von Willi Erzgräber. Sigmaringen 1989, S. 25–43; Gert Melville: Troja: Die integrative Wiege europäischer Mächte im ausgehenden Mittelalter. In: Europa 1500. Integrationsprozesse im Widerstreit: Staaten, Regionen, Personenverbände, Christenheit. Hg. von Ferdinand Seibt und Winfried Eberhard. Stuttgart 1987, S. 415–432; Garber: Trojaner (wie Anm. 39); Michael Borgolte: Europas Geschichten und Troja. Der Mythos im Mittelalter. In: Troja. Traum und Wirklichkeit. Ausstellungskatalog. Hg. vom Archäologischen Landesmuseum Baden-Württemberg u. a. Darmstadt 2001, S. 190–203; zusammenfassend G. M. Müller: „Germania generalis“ (wie Anm. 17), S. 335–341. Beispiel aus dem 15. Jahrhundert ist die Chronica Austriae des Thomas Ebendorfer. S. hierzu Alphons Lhotsky: Apis Colonna. Fabeln und Theorien über die Abkunft der Habsburger. Ein Exkurs zur Chronica Austriae des Thomas Ebendorfer. In: Mitteilungen des Instituts für Geschichtsforschung und Archivwissenschaft in Wien 55 (1944), S. 171–245. Ansätze hierfür können bis um 1300 zurückverfolgt werden; diese fanden aber insgesamt wenig Beachtung. Vgl. ebd., S. 205ff. und Anna Coreth: Dynastisch-politische Ideen Maximilians I. In: Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 3 (1950), S. 81–105. Vgl. des Weiteren Marie Tanner: The Last Descendants of Aeneas. The Hapsburgs and the Mythic Image of the Emperor. New Haven, London 1993, passim. – Maximilians genealogische Forschungen kulminierten in den Genealogien des habsburgischen Hofhistoriographen Jacob Mennel von 1518 sowie im Bildprogramm der so genannten Ehrenpforte. S. Jan-Dirk Müller: Gedechtnus. Literatur und Hofgesellschaft um Maximilian I. München 1982 (Forschungen zur Geschichte der älteren deutschen Literatur 2). Die Reimchronik des Küchlin (wie Anm. 28), V. 58–60: es was ein großer künig zu Troy / geseßen, der hieß Priamus, / davon der adel kompt alsus. S. zu dieser Entwicklung: Gert Melville: Vorfahren und Vorgänger. Spätmittelalterliche Genealogien als dynastische Legitimation zur Herrschaft. In: Die Familie als sozialer und historischer Verband. Untersuchungen zum Spätmittelalter und zur frühen Neuzeit. Hg. von Peter-Johannes Schuler. Sigmaringen 1987, S. 203–209; ders.: Troja. Die integrative Wiege europäischer Mächte im ausgehenden Mittelalter (wie Anm. 41); Borgolte: Europas Geschichten (wie Anm. 41), S. 192–195.

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gedient hatte. 45 In diesem Kontext ist die Reimchronik des Küchlin zu verorten. Indem sie Augsburg in den Kreis jener Adelsgeschlechter und Gemeinwesen integriert, die ihren Ursprung auf Troja zurückführten, zielt sie darauf, der Stadt Anteil an dem damit verbundenen Ansehen zu verschaffen. Meisterlin scheint indes eine dezidiert andere Meinung vom Wert einer trojanischen Abkunft gehabt zu haben.46 Jedenfalls sind ihm die zahlreichen chronologischen und sachlichen Widersprüche, die er an Küchlins Reimchronik akribisch aufdeckt, 47 nur ein Argument, um eine Gründung Augsburgs durch Nachkommen der Trojaflüchtlinge abzulehnen. Ein weiterer und nicht minder wichtiger Grund liegt für ihn darin, dass eine solche Herkunft den Augsburgern nicht zur Ehre gereiche. 48 Ursache hierfür sei, wie Meisterlin im dritten Kapitel des ersten Buches ausführt, dass es sich bei diesen um Einwanderer handele, Augsburg nach dieser Version also von Landflüchtigen gegründet worden sei, die zudem noch als Vaterlandsverräter anzusprechen seien.49 Angesichts dieser zweifachen Kritik an der Reimchronik des Küchlin erstaunt es nicht, wenn Meisterlin in seiner Gründungsgeschichte Augsburgs nicht nur um größere chronologische und sachliche Kohärenz bemüht ist, sondern diese auch gänzlich frei vom Aspekt der Migration hält. Bei ihm verdankt die Stadt ihre Existenz einer autochthonen Bevölkerung, die seit jeher am Zusammenfluss von Lech und Wertach ansässig ist.50 Um diese ethnische Kontinuität von alters her aufzuzeigen, muss Meisterlin freilich weit ausholen. Tatsächlich beginnt er seine Version vom Ursprung Augsburgs mit der alttestamentarischen Geschichte von der Wiederbesiedlung der Welt nach der Sintflut durch die drei Noahsöhne Sem, Cham und Japhet. 51 Denn zu den Nachkommen des Letzteren, dem die Wiederbesiedlung Europas zu verdanken sei, hätten auch die Schwaben gehört, von denen sich ein Teil zwischen Lech und Wertach niedergelassen habe. Aus einem gemeinsamen Schutzbedürfnis heraus hätten diese dort bald ––––––––– 45

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S. Jörg W. Busch: Die vorhumanistischen Laiengeschichtsschreiber in den oberitalienischen Kommunen und ihre Vorstellung vom Ursprung der eigenen Heimat. In: Helmrath, Muhlack, Walther (Hgg.): Diffusion des Humanismus (wie Anm. 11), S. 35–54, hier S. 48–50. Vgl. Johanek: Geschichtsschreibung (wie Anm. 9), S. 169–171. Hierzu ausführlich Joachimsohn: Meisterlin (wie Anm. 2), S. 26–31. Vgl. ebd., S. 29 sowie S. 32 mit Parallelen bei Johannes Aventin. Cronographia Augustensium, B. 1, Kap. 3, S. 10 (Titel): Quod non sit honor Augustensibus, si dicantur a Teucris ducere originem, et quod non sit consonum veritati (daraus das Zitat im Titel des Aufsatzes) sowie ebd., S. 10f.: Quod si ita est, rursus opinio illorum, qui a Troianis ortam Augustam asserunt, vacillat. Quamvis ego, ut pace aliorum dicam, parum aestimem honoris attribuere posse inde Augustensibus, si ortum ducere dicantur ab Enea, qui ex Frigia in Italiam navibus transvectus est, vel ab Anthenore. Quorum prior iuxta Virgilium profugus et vir fortis, ut ipse adulatur, quippe Octavianum ab eo processisse asserere nititur, ut vero traditur ab aliis patriae proditore ac necromantico, utpote qui etiam propriam uxorem diis suis immolavit Creusam videlicet. Denique et Titus Livius testatur eos prodidisse Troiam. Vgl. hierzu Joachimsohn: Meisterlin (wie Anm. 2), S. 29. Ebd., S. 34. S. Cronographia Augustensium, B. 1, Kap. 10 (Quod a Japhet sit possessa Europa, et de proprietatibus diversarum gentium, et deploratio moderni temporis, S. 32–35). Hierzu und zum Folgenden vgl. Schnith: Gründungslegenden (wie Anm 10), S. 497f.

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eine Stadt gegründet, die sie nach den beiden Flüssen, zwischen denen sie diese errichtet hätten, „Vindelica“ genannt hätten. Davon hätten sie später ihren lateinischen Namen „Vindelici“ abgeleitet, der nach und nach auf die ganze umliegende Bevölkerung bis an den Alpenrand ausgedehnt worden sei:52 De Japhet vero descendentes, ut diximus, obtinuerunt Europam totam. De ijsdem autem tribubus egressa est gens Suevorum, qui nunc Suevi dicuntur, gens inculta moribus quidem sed fortitudine corporali praedita ac animi magnitudine caeteris praestantior, quae magnam partem Alemanniae possedit […] De cuius etiam gentis stirpe una pars obtinuit ea loca, quae inter Vindam et Licum fluvios sunt. Qui cum viderent exemplo effectuque utilitatis discerent tueri se debere humanum genus mutua cohabitatione, perspicere ceperunt loca apta, ubi civitates fundarent. Sic ergo qui (ut diximus) inter Vindam et Licum habitabant Suevi in concursu duorum fluminum invenientes locum aptum idoneumque, quo et beneficio fluviorum potuerunt facilius defendi, aerque ubi salubris, aqua fontium optima irriguusque locus defensioni circumiacentium peroportunus, construere coeperunt aedificareque domus eumque incolere […] Ipsam tamen civitatem a Vinda et Lico Vindelicam appellavere. Vicini vero habitatores usque ad Alpes a Vindelica civitate dicabantur Vindelici, quod multi auctorum testantur, ut infra parebit.

Diese Stadt sei nach einer gewissen Zeit von den Amazonen angegriffen und belagert worden. Nachdem die Bewohner den kriegerischen Frauen nicht mehr hätten standhalten können, hätten sie sich zur Flucht in die nahen Alpentäler entschlossen. 53 Taliter ergo Asia potiti [sic!] mox Europam invadunt [sc. Amazones], totamque usque Rhecios devastant Suevosque tunc iam quidem bellicosos multidtudine ac insuetis armis opprimunt ceduntque […] Amazones vero securibus utebantur, unde Vindelici licet audaciter congressi securibus tamen cesi fugierunt, ac ab ipsis pulsi provincia ad Alpes se contulerunt, fugam suam montibus commiserunt.

Dieses einschneidende Ereignis in der Frühphase der Stadtgeschichte hat Meisterlin aus einer Ode des Horaz und den dazugehörigen Erläuterungen des spätantiken Horazkommentators Porphyrio erschlossen. Denn auf die Bemerkung des Horaz in dessen carmen 4, 4, dass die Vindeliker mit Äxten gekämpft hätten, die jenen ähnlich gewesen seien, die den mythischen Amazonen zugeschrieben würden, 54 weiß Porphyrio von einer Schlacht der Amazonen mit den Vindelikern zu berichten, in deren Folge diese die typischen Amazonenwaffen übernommen hätten. Auch den Rückzug der Vindeliker in die Alpen fand Meisterlin bei dem spätantiken Kommentator,55 den er als einer der ersten nördlich der Alpen wieder in Händen halten konnte, vorgeprägt. 56 ––––––––– 52 53 54

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Cronographia Augustensium, B. 2, Kap. 1, S. 37–39 (mit Auslassungen). Ebd., B. 2, Kap. 3, S. 42. Horaz: carmen 4, 4, 17–25a: videre Raeti bella sub Alpibus / Drusum gerentem Vindelici; quibus / mos unde deductus per omne / tempus Amazonia securi / dextras obarmet, quaerere distuli, / nec scire fas est omnia – sed diu / lateque victrices catervae / consiliis iuvenis revictae / sensere (Q. Horatius Flaccus: Opera: Hg. von D. R. Shackleton Bailey. Stuttgart 1985). Hi Vindelici sedibus ab Amazonibus eiecti in exilium se contulisse Alpiumque loca insedisse dicuntur, et, quod potentissima in se tela secures Amazonum experti fuissent, ipsos quo-

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Auch wenn die Rekonstruktion dieses Ereignisses aus seinen Quellen einigen Platz beansprucht, ist die Ausführlichkeit, mit der sich Meisterlin nicht nur diesem selbst zuwendet, sondern zuvor bereits Herkunft und Geschichte der Amazonen bis zu Belagerung und Zerstörung Vindelicas in den Blick nimmt, dennoch auffällig.57 Erklärbar wird sie durch die Bedeutung, die der Amazonenepisode innerhalb der Frühgeschichte der Stadt zukommt. Mit ihr meint Meisterlin nämlich deren erstes datierbares Ereignis beibringen zu können. Denn während er den exakten Zeitpunkt der Stadtgründung im Dunkeln lassen muss, erlaubt ihm eine seiner Hauptquellen, die Weltchronik des Ekkehard von Aura, zu folgern,58 dass die bei Porphyrio erwähnte Schlacht 550 Jahre vor Gründung Roms und damit auch vor der Zerstörung Trojas stattgefunden haben muss. 59 Damit ist die Amazonenepisode nicht nur als erstes quellenmäßig zu bezeugendes Ereignis von Relevanz, sondern sie erhält zudem zentrale Bedeutung für Meisterlins Bestreben, eine Gründung Augsburgs durch Nachfahren der Trojaflüchtlinge zurückzuweisen.60 Relictum inde video ut, quo tempore Augusta Vindelica sit condita, edicam […] Stetit ergo Augusta Vindelica ad minus ante Romanam urbem quingentos quinquaginta an-

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que usum earum in bello accepisse (Pomponi Porphyrionis commentum in Horatium Flaccum. Hg. von Alfred Holder. Innsbruck 1894, S. 143: Kommentar zu Horaz: carmen 4, 4, 18–21). Über seine Quelle Horaz und seine Benutzung des Pomponius Porphyrio berichtet Meisterlin im Anschluss an die oben zitierte Stelle in Cronographia Augustensium, B. 2, Kap. 3, S. 42f.: Testis huius mei dicti est Horatius ita inquiens in oda in Drusum: videre Rheti bella sub Alpibus Drusum gerentem Vindelici quibus mos unde productus per omne tempus Amazonia securi dextras obarment, quaerere distuli, nec scire fas est omnia, sed diu lateque victrices caterva Rhetorum consiliis iuvenis revicta sensere quid mens rite quid indoles nutrita faustis sub penetralibus posset, quid Augusti paternus. Quorum versuum dum studiosius quaererem intelligentiam plenam, perlegi comentum, quod testabatur a Suevis Quintilium Varrum cum tribus legionibus victum, qui Suevi videntes se pulsos securibus e patria secures in uso habere ceperunt. Ego vero adhuc dubitans interrogavi egregium virum Eneam Asculanum, qui nuper ob poetarum monumenta quaerenda ab amplifico Nicolao erat in Alemannia missus. Qui respondit dictum pro certo stare, si Porphyrius antiquus Horatij comentator assentiret. Sequenti die cum essemus in quadam bibliotheca Beatae scilicet Virginis in Ecclesia Cathedrali Augustae, idem comentum, cum quosque libros per se revolveret, in manus eius venit, mihi quoque mox ostendit. Quo puncto quaesito ita reperi: Vindelici ab Amazonibus de sedibus suis pulsi sunt, et quia securibus Amazonum sunt separati, ipsas acceperunt in usum belli. Zu diesem Bericht s. Joachimsohn: Meisterlin (wie Anm. 2), S. 33f. Mit dem im Text genannten Eneas Asculanus ist Enoch von Ascoli ge– meint, der 1451 von Papst Nikolaus V. nach Norden gesandt worden war, um nach Handschriften antiker Autoren zu suchen. Die Begegnung zwischen Meisterlin und Enoch in Augsburg lässt sich zwischen 1453 und Anfang 1455 eingrenzen (s. ebd., S. 34, Anm. 3). Herkunft und Geschichte der Amazonen ist das gesamte zweite Kapitel im zweiten Buch der Cronographia Augustensium gewidmet. Vgl. S. 39, Titel: De origine bellorum regnorumque in terra, et unde Amazones originem duxerint, et crudelitate earum. Diesen nennt Meisterlin wie bereits vor ihm Hermann von Reichenau und Otto von Freising Eusebius. Vgl. Joachimsohn: Geschichtsauffassung (wie Anm. 4), S. 26 m. Anm. 4. Zu Meisterlins Lektüre des Ekkehard von Aura s. Joachimsohn: Meisterlin (wie Anm. 2), S. 34f. Cronographia Augustensium, B. 2, Kap. 4, S. 45f. (mit Auslassungen).

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nos, quod sic patet: Roma condita est post destructionem Troiae, quae facta est sub Abdon iudice populi Israhel anno eius tertio. Porro iste Abdon proximus fuit ante Samsonem, qui, quia nimis fortis erat, a gentibus putatus est Hercules, cuius tempore Homerus claruit. Porro a tempore Abdon usque ad Achas regem in Israhel patrem Ezechiae computantur anni quatringenti quinquaginta quatuor. Annis si addas plus centum annos, quibus Amazones regnaverunt ante Troiae destructionem, invenies plus quam quingentos et quinquaginta annos. Quamdiu vero ante Amazones fuerit Augusta Vindelica aedificata, supersedeo computare, ne incredulum lectorem nimis fatigem. Earum tamen ante tempora Amazonum stetisse nullus ambiget et quidam longe.

Nach dem Abzug der kriegerischen Frauen seien die Vindeliker schnell zurückgekehrt und hätten die von diesen zerstörte Stadt am gleichen Ort prächtiger als zuvor wieder errichtet. Daraufhin habe sich diese zu einem Zentrum nicht nur der Schwaben, sondern ganz Süddeutschlands entwickelt. Ursache hierfür sei eine beständig wachsende Bevölkerung gewesen, in der sich die besten Kämpfer nördlich der Alpen befunden hätten, welche Schutz und Verteidigung hätten garantieren können.61 Ihren Ruf als stärkster Stamm der Germanen hätten sie sich hierauf durch eine Reihe von Schlachten erworben. So glaubt Meisterlin belegen zu können, dass die Schwaben die Gallier begleitet hätten, als diese mit ihrem Anführer Brennus, den Meisterlin selbst für einen Schwaben hält, über die Alpen gezogen seien und den Römern Angst und Schrecken eingejagt hätten.62 Als Caesar nach der Eroberung Galliens bemüht gewesen sei, Germanien zu besiegen, hätten dies auch die Schwaben verhindert.63 Im Bewusstsein, dass er die Schwaben ––––––––– 61

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Ebd., B. 2, Kap. 4, S. 44: Suevi igitur pulsi non occisi dimittentes suas terras similiter Vindelicam praedae muliebri subiacuere, cedentes satis pro tempore in Alpibus se continuerunt. Amazones vero omnibus direptis cum Marsepia regina in Asiam regressae, cuius regnum per magnum tempus tenuerunt […] Mox tamen, ut ipsae egressae sunt Rheciam, Suevi Vindelicique repatriaverunt restaurantes diruta tantoque firmiora praesidia aedificarunt, quanto experti fuerunt priora minus hostili impetu sufficientia, Vindelicam, ut prius incoluerunt, eamque florentissimam fecere conventu tam Germanorum quam Suevorum quamque Noricorum. Pollebat ergo et frequentia et nobilitate, ut diximus, Suevorum, quia erat salubris aere, iocunda fluminibus, fecunda terris, arboribus huic inde nemorosa ac situ aptissima. Procreabantur etiam inibi viri bellicosi ingentibus viribus fulti, corporibusque immanibus […]. Ebd., B. 2, Kap. 8, S. 56f.: Nam anno ab urbe condita tricentesimo quinquagesimo quinto Galli Senones cum duce Brenno, qui ut multi tradunt Suevus fuit, Italiam intraverunt omnia vastantes. Quos cum Fabius consul obviam exciperet, ab eis occisus est. Quanta vero clades Romanorum facta sit, testis est Allia fluuius nec hic finis miseriae Romanorum fuit. Urbem Romanam decem annis obsident eamque finaliter ingressi tam ipsam incendio flagrari quam senes eius in domibus sedentes et in modum simulachrorum rigentes ruina domus sepelire non timuerunt. Iuvenes etiam, qui mille tantum remanserunt in Capitolium, fugientes persequuntur nec antea ab eius in pugnatione cessare voluerunt, donec accepta mille talentorum auri pactione recederent. Pene enim Capitolium ascenderant, sed voce anseris excitatus Manlius eis restitit ac post pactionem auri eos insecutus vicit ac ex hoc secundus est Romulus appellatus quasi et urbis conditor. Haec idcirco retuli ut perpendamus ex his et quae erga Caesarem Julium sunt gesta, quod gens Suevorum, ut facile possumus conijcere, una cum duce Brenno ac magno exercitu Gallorum, cui in adiutorium Suevi erant, Romanos etiam non lacessiti inquietaverunt. Vgl. Schnith: Gründungslegenden (wie Anm. 10), S. 509f.

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nicht besiegen könne, habe Caesar diese hierauf kurzerhand zu seinen Verbündeten gemacht. Hinfort hätten die Schwaben den Römern bei ihren Schlachten als Hilfstruppen geholfen.64 Dieses Zweckbündnis mit Caesar hätte aber nichts daran geändert, dass Vindelica schließlich von den Römern erobert worden sei. Von diesem zweiten einschneidenden Ereignis der Stadtgeschichte nach der Zerstörung durch die Amazonen, das Meisterlin mit seinen Quellen in das Jahr 16 v. Chr. setzt, berichtet er bereits im dritten Buch der Cronographia Augustensium. 65 Zuvor sei es den Bewohnern der Stadt zusammen mit der umliegenden Bevölkerung allerdings noch einmal gelungen, sich der nach Norden drängenden römischen Übermacht zu erwehren, indem sie dem Heer unter der Führung des Varus eine vernichtende Niederlage beigebracht hätten.66 Der anschließende Rachefeldzug des Tiberius und des Drusus habe dann allerdings die Entscheidung gebracht. 67 Die Stadt sei römisch und Augustus zu Ehren in „Augusta Vindelicum“ umbenannt worden.68 Ihre Bewohner hätten sich mit der Niederlage schnell arrangiert und dem römischen Reich hinfort treu gedient.

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Cronographia Augustensium, B. 2, Kap. 9 (Quae et qualia Julius Caesar gessit in Germania, et de Suevorum Vindelicorum fortitudine et quomodo Julius muneribus vicit), S. 61–65 (mit Auslassungen): Denique et maiorem famam acquirere tentatus fabricato ponte Rhenum transiit [sc. Caesar] et ut Suevos, quorum ferocitas tunc cunctis formidulosa erat, lacessiret bello […] Et licet Julius Caesar ex omni Gallia aggregasset milites, tamen victoriam de Suevis obtinere non potuit […] Julius vero exercitum suum per Sueviam cepit ducere omnibus modis agens, quomodo provinciam possit obtinere. Finitimae vero gentes dixerunt Julio, quatenus benevolentia muneribusque aggrederetur potius quam armis, quia per vim oppressi vix permanerent sub imperio post discessum eius. Ipse vero electis legatis misit ad principes eorum pro dictis constituendis. Treugis igitur compositis aggressus est eos Julius Caesar muneribus ac benevolentia, quibus animos eorum sibi devinxit, ita ut et sibi de cetero fideles nec Romanis rebelles esse velint, acceptisque hinc inde sacramentis auxilio ei fuerunt […] Ex hinc etiam licet Romani cum rerum summa potirentur, res magnas numquam sine Germanis et Suevis auxiliatoribus egerunt. Quorum tanta in bello virtus, tanta in pace fides fuit, ut Caesari corporis custos cohors ex Germanis potissime lectam. Zu den Quellen der betreffenden Kapitel s. Joachimsohn: Meisterlin (wie Anm. 2), S. 41– 49; vgl. auch knapp Schnith: Gründungslegenden (wie Anm. 10), S. 510. Vgl. Joachimsohn: Meisterlin (wie Anm. 2), S. 41–43; ders.: Geschichtsauffassung (wie Anm. 4), S. 43 sowie Schnith: Gründungslegenden (wie Anm. 10), S. 503–505. Diese Vorgänge werden in Cronographia Augustensium, B. 3, Kap. 1–5 beschrieben. Ebd., B. 3, Kap. 6, S. 88f.: Drusus frater eius Vindelicam Zizarim hactenus dictam […] instauravit, cum prius fundasset Moguntiam in Gallia. Muros etiam pro vallo fecit, turribus munivit ac ampliavit mirabiliter et quia auspiciis Augusti victa erat et ut altera velut Roma esset, […] ita hanc ut caput Germaniae Octaviani Augusti insignitam voluerunt esse vocabulo Augustam appellavere, quia ea ad imperium translata auctum esset. Utque illud insigne nomen imperialis esset apicis, ita hoc excelsi culminis indicationis maiestas haec et quasi quoddam culmen honoris Vindelicae accessit, ut, quae fuerat augusta in resistendis, fieret augustior in adiuvandis, dicta est ergo Augusta, ut ex ipso suo vocabulo ostenderet, quid Augusto id est Romano Imperatori deberet, quod et fecit sedula. Nam rebellante saepius Germania Suevisque, qui magnam partem ut diximus Germaniae occupant, ipsa semper fidelis et stabilis permansit nec defecit, ut infra patebit.

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Mit der Eroberung durch Augustus ist Meisterlin nach zweieinhalb Büchern somit dort angelangt, wo die Reimchronik des Küchlin ihr Ende fand, um für den Rest seines Werks die in jener nicht mehr behandelte Geschichte Augsburgs von dessen Eroberung durch die Römer bis in die Gegenwart darzustellen.69 Seine Version von Gründung und Geschichte der Stadt bis in römische Zeit präsentiert sich dabei als adäquate Antwort auf all jene Kritikpunkte, die ihn zur Ablehnung der Küchlinschen Ursprungsgeschichte bewogen haben. Um dem von ihm als unehrenhaft empfundenen Aspekt der Migration zu entgehen und frei von sachlichen und chronologischen Widersprüchen zu bleiben, rekonstruiert Meisterlin aus seinen Quellen freilich eine Gründungs- und Frühgeschichte Augsburgs, die anders als jene Küchlins keinem etablierten Herkunftsschema verpflichtet ist. Während der Autor der Reimchronik es für Augsburg offensichtlich als vorteilhaft erachtet hat, dieses in jenen großen Kreis von Adelsgeschlechtern und Gemeinwesen einzugliedern, die ihren Ursprung in Troja sehen wollten, scheint Meisterlin gerade im Gegenteil in einer gänzlich eigenen und unverwechselbaren Geschichte eine Auszeichnung für die Stadt gesehen zu haben. Mit einer solchen Auffassung steht Meisterlin in seinem zeitgenössischen Kontext alleine dar. Bei einem Vergleich der Cronographia Augustensium mit der humanistischen Geschichtsschreibung um 1500 verändert sich dieses Bild jedoch deutlich. So weist er mit seiner quellenkritischen Rekonstruktion einer unabhängigen, auf autochthone Ursprünge zurückgehenden Geschichte Augsburgs deutlich auf eines von deren zentralen Anliegen voraus.70 Dabei geht es dieser ebenfalls um die programmatische Abkehr von Ursprungsversionen, die eine von möglichst vielen beanspruchte Herkunft aus fernen Orten postulieren und die von dieser analog zu Meisterlin wegen des Aspekts der Migration als unehrenhaft abgelehnt werden. Um diese grundlegenden Gemeinsamkeiten zwischen Meisterlins Augsburger Chronik und der späteren humanistischen Historiographie deutlich zu machen, gilt es im Folgenden einen Überblick über Ursachen, Entwicklung und die verschiedenen Ausprägungen dieser Neuausrichtung in der humanistischen Historiographie nördlich der Alpen zu geben. ––––––––– 69

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Im Hinblick auf die Varusschlacht bei Augsburg, die für die Römer eine vernichtende Niederlage bedeutete, die anschließende Eroberung durch Drusus und die Umbenennung der Stadt von Vindelica in Augusta gleicht Meisterlins Darstellung dem Gedicht des Küchlin. Vgl. Die Reimchronik des Küchlin (wie Anm. 28), V. 173–348. – Meisterlins ursprüngliche Intention scheint es gewesen zu sein, wie Küchlin nur die Gründungsgeschichte Augsburgs bis in die Römerzeit darzustellen. Die Fortsetzung bis in die eigene Gegenwart, die das umfangreiche vierte Buch beinhaltet, beruht hingegen erst auf einem späteren Plan. In diesem Zusammenhang will er auch die Darstellung der Ursprungsgeschichte zur vorliegenden Gestalt ausgebaut haben. Vgl. Joachimsohn: Meisterlin (wie Anm. 2), S. 25. Zu Inhalt und Quellen des vierten Buches s. ebd., S. 49–56. Demgegenüber nennt Joachimsohn: Geschichtsauffassung (wie Anm. 4), S. 42f. die von Meisterlin vorgeschlagene Gründungsgeschichte Augsburgs eine mittelalterliche Fabelei, die auf einer Ebene mit der Trojaversion anzusiedeln sei. – Zum Autochthoniediskurs im europäischen Humanismus insgesamt (mit Hinweisen zur Literatur) Helmrath: Regionale Historiographie (wie Anm. 11), S. 381–384.

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Dieser wird den Blick schließlich noch auf einen weiteren damit in Zusammenhang stehenden Aspekt lenken, mit dem die Cronographia Augustensium die Geschichtsschreibung um 1500 antizipiert.

III. Die Gründe dafür, dass sich die humanistische Geschichtsschreibung nördlich der Alpen vom trojanischen Herkunftsmodell abwendet und stattdessen auf autochthone Ursprungsversionen setzt, sind vielschichtig.71 Zunächst führte dessen zunehmende Verbreitung im Spätmittelalter zu einer Entwertung seiner ursprünglichen Funktion, ein exklusives Recht auf die römische Kaiserwürde zu begründen. Von besonderer Bedeutung war in diesem Zusammenhang, dass gegen Ende des 15. Jahrhunderts die Historiographie in Frankreich damit begann, die Herkunft aus Troja programmatisch für das eigene Volk zu reklamieren. Damit zielte sie darauf, eine französische Geschichte jenseits des traditionellen Dualismus von Papsttum und Reich zu konstituieren, aus der sich ein gleichberechtigter Anspruch auf die römische Kaiserkrone ableiten ließ. Dieser Angriff auf das deutsche Selbstverständnis, durch die Translatio imperii die Herrschaft über das römische Reich dauerhaft geerbt zu haben, fällt in eine Zeit, als dieses im Kreise der deutschen Humanisten wieder besonders propagiert wurde. Indem Autoren wie Robert Gaguin auf die Herkunft der Franzosen aus Troja verwiesen, um den Nachbarn im Osten das alleinige Anrecht auf das römische Kaisertum streitig zu machen, galt es andere historische Strategien zu entwickeln, um dieses erfolgreich zu verteidigen.72 Dass sich die Humanisten nördlich der Alpen hierzu auf autochthone Ursprungsversionen verlegten, hängt mit dem Geschichtskonzept des humanistischen Italien zusammen, das die deutsche Auffassung, Nachfolger des Römischen Reichs zu sein, auf anderem Wege, aber dafür noch wirksamer in Zweifel zog.73 Die nicht zuletzt über die räumliche Identität mit dem Zentrum des einstigen Imperium begründete Behauptung, selbst das alleinige Anrecht auf dessen Erbe zu besitzen, war bei den Humanisten der Apenninenhalbinsel von Anfang an mit dem offensiv vertretenen Bewusstsein kultureller Überlegenheit verbunden, aus dem heraus alle anderen Völker, aber vor allen Dingen die Deutschen als Barbaren abqualifiziert wurden. 74 Dass sich die Hauptstoßrichtung dieses Verdikts gegen die nordalpinen Nachbarn richtete, speist sich dabei zu einem guten Teil aus der Ansicht, dass diesen der Untergang des Römischen Reichs anzulasten sei, woraufhin deren rund tausendjährige Fremdherrschaft gefolgt ––––––––– 71 72 73 74

S. Garber: Trojaner (wie Anm. 39), S. 145–163. Vgl. G. M. Müller: „Germania generalis“ (wie Anm. 17), S. 338–341. Ridé: L’image du Germain (wie Anm. 12), S. 115–120. Vgl. hierzu grundlegend Peter Amelung: Das Bild der Deutschen in der Literatur der italienischen Renaissance (1400–1559). München 1964 (Münchener Romanistische Arbeiten 20) sowie Hirschi: Wettkampf der Nationen (wie Anm. 12), S. 243–249.

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sei. Als seit jeher kulturlose Barbaren ohne Entwicklungspotential hätten es diese zu verantworten, dass auf das Ende des Imperium Romanum ein Äon der Unkultur gefolgt sei, welches die italienischen Humanisten nun unter programmatischer Rückbesinnung auf die einstige Größe Roms abzuschütteln begännen, um dieser zumindest kulturell wieder zu ihrem Durchbruch zu verhelfen. 75 Dieses zu den nördlich der Alpen verbreiteten Vorstellungen diametral konträre Geschichtsbild begriffen die dortigen Humanisten bald als Herausforderung, der sie sich offensiv stellten. Zur Entkräftung des von den Gelehrten Italiens behaupteten Dualismus einer eigenen kulturell wie politisch stolzen Vergangenheit, an die es nach langer barbarischer Dominanz nun wieder anzuknüpfen gelte, und einer kulturlosen Vorzeit auf Seiten der als Fremdherrscher wahrgenommenen Deutschen, an der sich bis in die Gegenwart nichts geändert habe, erweiterten die Humanisten nördlich der Alpen den bis dahin auf genealogische Fragen beschränkten Blick auf die eigene Vergangenheit. Statt ihr Interesse allein auf die Herkunft zu beschränken, befleißigten sie sich erstmals einer als ethnographisch zu bezeichnenden Betrachtungsweise, durch die sie sich ihr eigenes Bild von Kultur und Lebensbedingungen ihrer Vorfahren machen wollten. Um auf diese Weise Anhaltspunkte zu gewinnen, durch die sich die auf der Apenninenhalbinsel etablierten Vorurteile entkräften ließen, konzentrierten sie sich auf dieselben antiken Autoren, aus deren Schriften diese gespeist wurden. 76 Im Wesentlichen wandten sich die deutschen Humanisten gegen die in Italien verbreitete Gewohnheit, die Schilderungen der antiken Ethnographen auch für die Gegenwart in Anspruch zu nehmen und daraus ein ungebrochenes Barbarentum der Deutschen abzuleiten.77 Gewährsmann für eine Entkräftung dieser Sichtweise war freilich selbst ein Italiener, nämlich Enea Silvio Piccolomini, der im zweiten Buch seines Brieftraktats an den Sekretär des Mainzer Bischofs Martin Mayer die erste humanistische Landesbeschreibung Deutschlands vorgelegt hat.78 Um die Kurie von dem Vorwurf zu entlasten, sie lasse Deutschland ––––––––– 75 76 77 78

S. ebd., S. 236–242 sowie im größeren historischen Zusammenhang seit dem Hochmittelalter ebd., S. 175ff. Vgl. Frank L. Borchardt: German Antiquity in Renaissance Myth. Baltimore 1971. S. Münkler, Grünberger, Mayer: Nationenbildung (wie Anm. 12), S. 130–138, 164; Hirschi: Wettkampf der Nationen (wie Anm. 12), S. 244f. Die Schrift dürfte zwischen Ende 1457 und Februar 1458 entstanden sein. Ihr gingen zwei Briefe an Mayer vom 8. August und vom 20. September 1457 voraus. Dessen Brief mit den Anschuldigungen an die Kurie ist nicht überliefert, dürfte aber in den Sommer 1457 datieren. Zur Entstehung der so genannten Germania Enea Silvio Piccolominis s. Adolf Schmidt: Einleitung. In: Deutschland. Der Brieftraktat an Martin Mayer und Jakob Wimpfelings „Antworten und Einwendungen gegen Enea Silvio“. Übersetzt und erläutert von Adolf Schmidt. Köln, Graz 1962 (Die Geschichtsschreiber der deutschen Vorzeit. Dritte Gesamtausgabe 104), S. 9–13 sowie Klaus Voigt: Italienische Berichte aus dem spätmittelalterlichen Deutschland. Von Francesco Petrarca zu Andrea de’ Franceschi (1333–1492). Stuttgart 1973 (Kieler historische Studien 17), S. 127–129. Vgl. auch Cochrane: Historians (wie Anm. 14), S. 44–47. Allgemein zur Bedeutung Enea Silvio Piccolominis als Vermittler des Humanismus über die Alpen s. Johannes Helmrath: Vestigia Aeneae imitari. Enea Silvio Piccolomini als „Apostel“ des Humanismus. Formen und Wege seiner Diffusion. In: Helmrath, Muhlack, Walther (Hgg.): Diffusion des Humanismus (wie Anm. 11), S. 99–141

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durch ihre überzogenen Geldforderungen verarmen, führt er in dieser den eindrücklichen Nachweis, dass das Land nördlich der Alpen im Laufe seiner Geschichte einen Entwicklungsprozess von der Barbarei zur Hochkultur durchlaufen habe, wofür er den Einfluss des Christentums und daher der römischen Kirche verantwortlich machte.79 Von ihm lernten die deutschen Humanisten folglich, ein Bild vom gegenwärtigen Zustand Deutschlands zu entwerfen, das in diametralem Gegensatz zu den in Italien ansonsten verbreiteten Vorstellungen vom nordalpinen Nachbarn stand.80 Doch bemühten sie sich durchaus auch, die dunkle Vorstellung der Germanen als rohe und kulturlose Barbaren zumindest in einzelnen Aspekten zu korrigieren. So fanden sie Hinweise darauf, dass es sich bei diesen trotz nicht zu verleugnender Unkultur und mangelnder Zivilisation immerhin um ein moralisch integres, treues, zähes und tapferes Volk gehandelt habe. 81 Diesem Eigenschaftsprofil ihrer Vorfahren stellten sie sodann die Auffassung eines im Laufe der Zeit immer dekadenteren und verweichlichteren römischen Volkes gegenüber, das aus diesem Grunde zunehmend weniger in der Lage gewesen sei, das von ihm geschaffene Reich zu erhalten und gegen auswärtige Bedrohungen zu verteidigen. 82 Daraus leiteten sie schließlich einen gleichsam zwangsläufigen Bedarf zur Translatio imperii auf die Deutschen ab, weil diese durch ihre auf eine besondere militärische Begabung verweisenden Wesensmerkmale schließlich besser geeignet gewesen seien, die Herrschaft über das Römische Reich fortzuführen. 83 Diese Interpretation der politischen Geschichte kombinierten sie schließlich mit Enea Silvios kulturgeschichtlicher Argumentation und konstru–––––––––

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sowie in Bezug auf die Rezeption seiner Werke Paul Weinig: Aeneam suscipite, Pium recipite. Aeneas Silvius Piccolomini. Studien zur Rezeption eines humanistischen Schriftstellers im Deutschland des 15. Jahrhunderts. Wiesbaden 1998 (Gratia 33). Edition der Germania Enea Silvio Piccolominis bei Adolf Schmidt (Hg.): Aeneas Silvius: Germania, und Jakob Wimpfeling: „Responsa et replicae ad Eneam Silvium“. Köln und Graz 1962; deutsche Übersetzung in Schmidt: Deutschland (wie Anm. 78); zu Inhalt, Funktion und Methode der Germania s. Ridé: L’image du Germain (wie Anm. 12), S. 169– 182; Krapf: Germanenmythus (wie Anm. 12), S. 49–53; Muhlack: Geschichtswissenschaft (wie Anm. 11), S. 202–205; Münkler, Grünberger, Mayer: Nationenbildung (wie Anm. 12), S. 166f.; G. M. Müller: „Germania generalis“ (wie Anm. 17), S. 250–257; Miedema: Nürnberger Humanisten (wie Anm. 19), S. 54–56; Helmrath: Umprägung von Geschichtsbildern (wie Anm. 11), S. 343f. sowie Christopher B. Krebs: Negotiatio Germaniae. Tacitus’ Germania und Enea Silvio Piccolomini, Giannantonio Campano, Conrad Celtis und Heinricht Bebel. Göttingen 2005 (Hypomnemata 158), S. 138–155. Erstes Zeugnis einer solchen produktiven Rezeption der Germania des Enea Silvio Piccolomini sind zwei kleine Deutschlandbeschreibungen, die der Nürnberger Hartmann Schedel im Rahmen seiner Weltchronik veröffentlicht hat. Diese dienen dort als Einleitungen zu einem Exzerpt der Europa des Eneas Silvio Piccolomini sowie zu einer Europakarte, die das Chronikwerk abschließt. Vgl. G. M. Müller: „Germania generalis“ (wie Anm. 17), S. 289–293. Vgl. Ridé: L’image du Germain (wie Anm. 12), S. 245–254; Robert: Konrad Celtis (wie Anm. 17), S. 422–434; Krebs: Negotiatio Germaniae (wie Anm. 79), S. 211–225, 243–249. Vgl. Hirschi: Wettkampf der Nationen (wie Anm. 12), S. 280–282, 310–347. Ebd., S. 270–277 sowie Münkler, Grünberger, Mayer: Nationenbildung (wie Anm. 12), S. 191–195.

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ierten daraus eine Vorstellung von deutscher Geschichte, in welcher der Herrschaftsantritt Karls des Großen zum zentralen Ereignis modelliert wurde, in dem Translatio imperii und Vollendung jenes von Enea Silvio geschilderten kulturellen Entwicklungsprozesses zusammenfielen. 84 Hinweise auf jene positiven Aspekte, die ihren Vorfahren das Erbe des römischen Reichs eingebracht hätten, konnten die deutschen Humanisten aus all jenen antiken Quellen erschließen, die Informationen zu Kultur und Lebensweise der Germanen enthielten, so aus Caesar, der Naturgeschichte des Plinius sowie aus Strabons Geographika, die, um 1400 in Italien wieder bekannt geworden, in der lateinischen Übersetzung des Guarino Veronese weite Verbreitung fanden.85 Letzteres Werk ist Indiz für die zunehmende Erweiterung geographischen und ethnographischen Wissens aus der Antike durch die Wiederauffindung bis dahin verschollener Werke, die gleichermaßen als Konsequenz wie auch Beförderung jenes neuen humanistischen Interesses an der jeweils eigenen Geschichte anzusehen ist. 86 Besondere Impulse erhielt die Beschäftigung mit dem germanischen Altertum freilich durch die Wiederauffindung der taciteischen Germania im Jahr 1455.87 Zunächst in Italien publik gemacht88 und hierauf in den 1470er Jahren erstmals auch in Deutschland gedruckt,89 gewährte sie einen Einblick in ––––––––– 84 85

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Am Beispiel von Conrad Celtis dargelegt bei G. M. Müller: „Germania generalis“ (wie Anm. 17), S. 430–436. Das Werk wurde auf dem Florentiner Unionskonzil von 1439/40 von Georgios Gemisthos Plethon wieder in Umlauf gebracht. S. Antoine De Smet: L’évolution de la cartographie au moyen âge et jusqu’à la 2e moitié du XVIe siècle. In: Land- und Seekarten im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit. Hg. von Cornelis Koeman. München 1980 (Wolfenbütteler Forschungen 7), S. 69–89, hier S. 77. Zu Plethon s. Georgios Gemisthos Plethon. Politik, Philosophie und Rhetorik im spätbyzantinischen Reich (1355–1452). Übersetzt und erläutert von Wilhelm Blum. Stuttgart 1988, S. 1–91, Christopher M. Woodhouse: Georgios Gemisthos Plethon. The last of the Hellenes. Oxford 1986. Zur Übersetzung der Geographika durch Guarino Veronese s. Remigio Sabbadini: La tradizione Guariniana di Strabone. In: Il libro e la stampa 3 (1900), S. 5–16. Zusammenfassend G. M. Müller: „Germania generalis“ (wie Anm. 17), S. 263–267. S. Paul Joachimsohn: Tacitus im deutschen Humanismus. In: ders.: Gesammelte Aufsätze. Beiträge zu Renaissance, Humanismus und Reformation, zur Historiographie und zum deutschen Staatsdenken. Ausgewählt und eingeleitet von Notker Hammerstein. Aalen 1970, S. 275–295; Remigio Sabbadini: Storia e critica di testi latini. Padua 21971 (Medioevo e Umanesimo 11), S. 194–211; Ludwig Pralle: Die Wiederentdeckung des Tacitus. Fulda 1952; Krapf: Germanenmythus (wie Anm. 12), S. 11–42; Ridé: L’image du Germain (wie Anm. 12), S. 130–136; Ulrich Muhlack: Die Germania im deutschen Nationalbewußtsein vor dem 19. Jahrhundert. In: Beiträge zum Verständnis der Germania des Tacitus. Bericht über die Kolloquien der Kommission für Altertumskunde Nord- und Mitteleuropas im Jahr 1986. Bd. 2. Hg. von Herbert Jankuhn. Göttingen 1992 (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen. Phil.-Hist. Klasse 3, 175), S. 128–154 sowie Münkler, Grünberger, Mayer: Nationenbildung (wie Anm. 12), S. 163f. Zur Wirkungsgeschichte der taciteischen Germania im romanischen Kulturraum s. Jürgen von Stackelberg: Tacitus in der Romania. Studien zur literarischen Rezeption des Tacitus in Italien und Frankreich. Tübingen 1960 (zur Wiederentdeckung der Germania ebd., S. 44–55). Die erste Germania-Edition nördlich der Alpen datiert wohl in das Jahr 1473 und ist wahrscheinlich bei Friedrich Kreußner in Nürnberg gedruckt worden (Hain 15224).

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Stammesvielfalt und geographische Ausdehnung Germaniens sowie in die Lebensformen seiner Bevölkerung, wie er sich aus den einschlägigen Schriften, die bis dahin bekannt waren, so nicht rekonstruieren ließ.90 Besondere Aufmerksamkeit erweckte dabei Tacitus’ Auffassung, dass die Germanen die Urbevölkerung des von ihnen besiedelten Gebiets darstellten und nie eine Verbindung mit einem anderen Volk eingegangen seien.91 Auch wenn der römische Autor seine Ansicht mit der Unwirtlichkeit der Lebensbedingungen in Germanien begründete, die einen freiwilligen Zuzug dorthin für ihn unvorstellbar machte, und damit auf einen klimatischen Befund zurückführte, der der vorgestellten Region eigentlich wenig zum Vorteil gereichte,92 wurde diese von seinen deutschen Rezipienten durchweg positiv rezipiert. Grund hierfür war, dass sich eine eigene, von römischen Einflüssen unabhängige und mit dieser keine Berührungspunkte aufweisende Geschichte über Tacitus’ Behauptung des Indigenats noch überzeugender konstruieren ließ. Zudem erlaubte dessen Meinung, die Germanen seien nie eine Verbindung mit einem anderen Volk eingegangen, das aus den antiken Autoren erschlossene Charakterprofil, das den Deutschen die Translatio imperii eingebracht haben soll, als ebenso indigenes wie über die Zeiten hinweg konstantes Merkmal zu betrachten, dessen positive Konnotationen damit gleichermaßen überzeitliche Geltung beanspruchen durften.93 Erstmals programmatisch rezipiert wurde das taciteische Diktum vom Indigenat der Germanen nördlich der Alpen in der Germania generalis des Conrad Celtis, einem Lehrgedicht über Ursprung und Wesensart der Deutschen sowie über die Geographie ihres Landes, das, als Ergänzung zu einer von ihm besorgten Edition der taciteischen Germania um 1500 entstanden und 1502 ein weiteres Mal ediert, den ersten umfassenden Beitrag eines deutschen Humanisten zum sich neu formierenden Diskurs um Geschichte und Geographie der deut––––––––– 90

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Vgl. Joachimsohn: Tacitus im deutschen Humanismus (wie Anm. 87); Hans Tiedemann: Tacitus und das Nationalbewußtsein der deutschen Humanisten Ende des 15. und Anfang des 16. Jahrhunderts. Berlin 1913; Hans Kloft: Die ‚Germania‘ des Tacitus und das Problem eines deutschen Nationalbewußtseins. In: Archiv für Kulturgeschichte 72 (1990), S. 93–114. Vgl. Tacitus: Germania 2, 1: Ipsos Germanos indigenas crediderim minimeque aliarum gentium adventibus et hospitiis mixtos. Vgl. auch ebd., 4, 1: Ipse eorum opinionibus accedo qui Germaniae populos nullis aliis aliarum nationum conubiis infectos propriam et sinceram et tantum sui similem gentem extitisse arbitrantur. Zur Rezeption dieser Stelle bei den deutschen Humanisten s. Münkler, Grünberger, Mayer: Nationenbildung (wie Anm. 12), S. 235–242. Tacitus: Germania 2, 1: Quis porro, praeter periculum horridi et ignoti maris, Asia aut Africa aut Italia relicta Germaniam peteret, informem terris, asperam caelo, tristem cultu aspectuque nisi si patria sit? Vgl. Herfried Münkler und Hans Grünberger: Nationale Identität im Diskurs der Deutschen Humanisten. In: Nationales Bewußtsein und kollektive Identität. Hg. von Helmut Berding. Frankfurt a. M. 1994 (Studien zur Entwicklung des kollektiven Bewußtseins in der Neuzeit 2), S. 211–248, hier S. 225–231 (mit einer Übersicht der einschlägigen Autoren).

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schen Nation darstellt. 94 In ihm beschränkt sich Celtis nicht darauf, die taciteische Behauptung vom autochthonen Ursprung der Germanen zu wiederholen. Vielmehr bindet er diese in einen selbst konstruierten Weltentstehungsmythos ein, in dem der antike Göttervater zusammen mit der Welt auch die Germanen erschafft und diese sogleich in das für sie vorbestimmte Land setzt.95 Das sich darin artikulierende Bestreben, das von Tacitus selbst nur vermutete Indigenat der Germanen dadurch abzusichern, dass er deren Ursprünge konsequenterweise mit der Erschaffung der Welt zusammenfallen lässt, findet sich in ähnlicher Form auch bei Celtis’ Nachfolgern. Statt sich wie dieser auf einen antik gewandeten Mythos zu verlegen, in dem Weltentstehung und Ethnogenese der Germanen zusammenfallen, verbinden diese das Indigenat der Germanen jedoch in der Regel mit der biblischen Geschichte und führen es auf die Neubesiedlung der Welt nach der Sintflut zurück, wie sie das alttestamentarische Buch Genesis berichtet. 96 Ihr Bezugstext sind die 1498 erschienenen Antiquitates variae des Annius von Viterbo, 97 eine Sammlung virtuos gefälschter Geschichtstexte, 98 deren einer – die angebliche Chronik eines chaldäischen Priester namens Berosus99 – eine Verbindung zwischen der alttestamentarischen Erzählung von der Wiederbesiedlung der Welt nach der Sintflut und den taciteischen Thesen über den Ursprung der Germanen herstellt, indem er diese direkt von ––––––––– 94

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S. G. M. Müller: „Germania generalis“ (wie Anm. 17); vgl. auch Joachimsohn: Geschichtsauffassung (wie Anm. 4), S. 159–161; Ridé: L’image du Germain (wie Anm. 12), S. 228f.; Miedema: Nürnberger Humanisten (wie Anm. 19), S. 58–66; Robert: Konrad Celtis (wie Anm. 17), S. 373–378; Krebs: Negotiatio Germaniae (wie Anm. 79), S. 200– 210. Vgl. Celtis: Germania generalis, V. 1–55 (G. M. Müller: „Germania generalis“ [wie Anm. 17], S. 90–95 [Text und Übersetzung], S. 114–122 [Kommentar]). Zur Interpretation dieser Passage ebd., S. 303–334. S. Münkler, Grünberger: Nationale Identität (wie Anm. 93), S. 211–248, hier S. 236ff. Giovanni Nanni (1432–1502), der sich latinisiert und nach seiner Herkunft Annius von Viterbo nannte, war Bibliothekar am Hofe Papst Alexanders VI. und ist außer durch die Antiquitates variae nicht weiter hervorgetreten. Eine ausführliche Biographie zu ihm fehlt. Vgl. aber Roberto Weiss: Traccia per una biografia di Annio da Viterbo. In: Italia medioevale e umanistica 5 (1962), S. 425–441. Die Antiquitates variae veröffentlichte Annius von Viterbo im Jahre 1498 zweimal, und zwar in Venedig in einer unkommentierten und in Rom in einer Ausgabe mit seinen Erläuterungen. In ihnen inszeniert sich Annius von Viterbo als Herausgeber bis dahin unbekannter Quellen zu Ursprung und Geschichte der bekannten Völker auf der Erde. Zu den Antiquitates variae s. Anthony Grafton: Defenders of the Text. The Tradition of Scholarship in an Age of Science. 1450–1800. Cambridge (Mass.), London 1991, S. 76–103, ders.: Fälscher und Kritiker. Der Betrug in der Wissenschaft. Frankfurt a. M. 1995 (Fischer Wissenschaft 12772), S. 41–68; Münkler, Grünberger: Nationale Identität (wie Anm. 93), S. 232–241; Münkler, Grünberger, Mayer: Nationenbildung (wie Anm. 12), S. 243f. Eine exemplarische Analyse von Annius’ historischer Methode gibt E. Fumagalli: Un falso tardo-quattrocentesco: Lo pseudo-Catone di Annio da Viterbo. In: Vestigia. Studi in onore di Giuseppe Billanovich. Bd. 1. Hg. von Rino Avesani u. a. Rom 1984 (Raccolta di studi e testi 162), S. 337–363. Der reale Titelgeber für Annius’ Chronik stammt aus dem 4. Jh. v. Chr. Kenntnis von ihm erhielt dieser vor allen Dingen aus Flavius Josephus. Vgl. Arnaldo Momigliano: The Classical Foundations of Modern History. Berkeley, London 1990, S. 88–102.

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Noah abstammen lässt. 100 Durch diese Verbindung war der Sammlung insbesondere in Deutschland eine beträchtliche Fortune beschieden, der zunächst auch deren Falsifizierung durch Beatus Rhenanus nichts anhaben konnte.101 Indem er eine Gründung Augsburgs durch die Nachfahren trojanischer Einwanderer widerlegt und diese stattdessen auf die autochthonen Schwaben zurückführt, die von Japhet bei der Neubesiedlung Europas erschaffen und unter anderem in der Gegend zwischen Lech und Wertach angesiedelt worden seien, erweist sich Meisterlin in Anliegen und dessen inhaltlicher Bewältigung somit als veritabler Vorläufer eines Diskurses, der nördlich der Alpen eigentlich erst um 1500 deutliche Konturen gewinnt und in dem das von Tacitus übernommene Indigenat der germanischen Stämme abgesehen von der aparten Version des ––––––––– 100

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Die Verbindung zwischen dem alttestamentarischen Bericht von der Wiederbesiedlung der Welt durch die Nachkommen Noahs und der taciteischen These vom Indigenat der Germanen gelingt ihm über die Bemerkung des römischen Autors, die Germanen verehrten als ihren Stammvater eine chthonische Gottheit namens Tuisto (vgl. Tacitus: Germania 2, 2: Celebrant carminibus antiquis, quod unum apud illos memoriae et annalium genus est, Tuistonem deum terra editum). Diesen macht Annius in seinem Berosus zu einem Nachkommen Noahs neben dessen in der Bibel überlieferten Söhnen Sem, Cham und Japhet. Von Noah in die Gegend des späteren Germanien geschickt, habe Tuisto dort die germanischen Stämme begründet, die sich seitdem nicht mehr von dort wegbewegt hätten. Als Gott sei er von den Germanen verehrt worden, weil er direkt von Noah und damit vom zweiten Begründer der Menschheit abstamme. Vgl. Krapf: Germanenmythus (wie Anm. 12), S. 61– 67; Münkler, Grünberger, Mayer: Nationenbildung (wie Anm. 12), S. 244–249; G. M. Müller: „Germania generalis“ (wie Anm. 17), S. 343–348 sowie Helmrath: Umprägung von Geschichtsbildern (wie Anm. 11), S. 330–334. Bis 1551 sind in Italien, Frankreich, den Niederlanden und nicht zuletzt in Deutschland 25 Ausgaben der Antiquitates variae erschienen. Vgl. Werner Goez: Die Anfänge der historischen Methoden-Reflexion im italienischen Humanismus. In: Geschichte in der Gegenwart. Festschrift für Kurt Kluxen. Hg. von Ernst Heinen und Hans Julius Schoeps. Paderborn 1972, S. 3–21, hier S. 12. Zur Wirkung des Ps.-Berosus auf die humanistische Historiographie in Deutschland s. Münkler, Grünberger: Nationale Identität (wie Anm. 93), S. 241–248; Münkler, Grünberger, Mayer: Nationenbildung (wie Anm. 12), S. 249–261; G. M. Müller: „Germania generalis“ (wie Anm. 17), S. 354–358. Dass die Wirkung des Annius in Deutschland noch jene des Tacitus übertroffen habe, wird angedeutet in: Alios Schmid: Die historische Methode des Johannes Aventinus. In: Blätter für deutsche Landesgeschichte 113 (1977), S. 339–395, hier S. 355; vgl. des Weiteren: Harald Bollbuck: Geschichts- und Raummodelle bei Albert Krantz (um 1448–1517) und David Chytraeus (1530–1600). Transformationen des historischen Diskurses im 16. Jahrhundert. Frankfurt a. M. 2006 (Imaginatio Borealis 8), S. 100–108. Den Nachweis, dass es sich bei den Antiquitates variae des Annius von Viterbo um Fälschungen handelt, führte Beatus Rhenanus in seinen Rerum Germanicarum libri tres. Vgl. neben anderen die Bemerkung im ersten Buch: Sed omnium ineptissimus est Annius quidam in Berosum, autoris fabulosi fabulosior interpres; die Widerlegung erfolgt dann ausführlich im dritten Buch. S. Felix Mundt: Beatus Rhenanus, Rerum Germanicarum libri tres (1531). Ausgabe, Übersetzung, Studien. Tübingen 2008 (Frühe Neuzeit 127), Zitat S. 100, Widerlegung S. 408–413 (Text und Übersetzung). Allgemein zu Beatus Rhenanus als Philologe und Kritiker s. Joachimsohn: Geschichtsauffassung (wie Anm. 4), S. 138–145; John F. D’Amico: Theory and Practice in Renaissance Textual Criticism. Beatus Rhenanus between Coniecture and History. Berkeley, London 1988, S. 197ff. sowie Muhlack: Geschichtswissenschaft (wie Anm. 11), S. 354–356.

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Celtis ebenso mit den Folgen der biblischen Sintflut erklärt wird.102 Denn worauf Meisterlin mit seiner Version der Augsburger Urgeschichte abzielt, besteht ebenso darin, der Stadt von ihren Ursprüngen an eine eigenständige und unabhängige Geschichte zu verschaffen. An dieses auf die humanistische Historiographie um und nach 1500 vorausweisende Anliegen schließt sich noch ein weiterer Aspekt an, in dem Meisterlins Cronographia Augustensium diese antizipiert und der dort in enger Verbindung mit dem Konzept einer autochthonen Geschichte steht, nämlich die Vorliebe für ausführliche geographische Beschreibungen.103 Diese zeugt vom Bestreben, den Lebensraum, in dem sich die Geschichte der Deutschen und ihrer germanischen Vorfahren seit dessen Ursprüngen vollzogen hat, in Ausdehnung und physischer Beschaffenheit zu erfassen. Hierbei verschaffen wiederum die antiken Quellen erste Orientierung, welche sodann in Bezug auf ihren Aussagegehalt für die topographische Realität der Gegenwart überprüft und durch Hinzuziehung autoptischer Informationen gegebenenfalls korrigiert werden. Das Interesse für die geographische Beschreibung steht zudem in engem Zusammenhang mit dem ethnographischen Interesse der humanistischen Historiographie, insofern diese in der Regel einen Zusammenhang zwischen der topographischen Beschaffenheit eines Landes und den Wesensmerkmalen der dort lebenden Bevölkerung herstellt und diese aus jener ableitet. Nicht selten werden diese sogar an kosmologische Befunde zurückgebunden und mit charakteristischen stellaren Konstellationen, die sich am Himmel des jeweiligen Lebensraumes zeigen, begründet.104 Die methodischen und konzeptionellen Impulse für die geographische Erfassung von Räumen, bei denen es eigentlich um deren Geschichte geht, leiten sich erneut aus Italien her, wo der aus Forlì stammende Kuriensekretär Flavio Biondo mit seiner Italia illustrata die erste humanistische Landesbeschreibung geschaffen hat. Das in den Jahren 1448–1453 entstandene Werk,105 das richtungsweisend für die gesamte humanistische Geographie war, beschreibt die geographische Beschaffenheit der Apenninenhalbinsel, deren administrative Gliederung in der römischen Kaiserzeit sowie deren damalige Siedlungsstruktur auf der Grundlage einer umfassenden Exegese der antiken Quellen und geht schließlich Region für Region auch auf die Veränderungen ein, die sich zwischen Antike und Gegenwart in diesen ereignet haben.106 Anlass für dieses komplexe Programm topographischer und kulturgeographischer Beschreibung war Biondos Skepsis, dass Wandlungen in der Siedlungsstruktur und bei den geographischen Namen die Ereignisse, die er in seinen zuvor verfassten Historiarum decades, der ersten Geschichte Italiens vom Ausgang der Antike bis zur ––––––––– 102 103 104 105 106

Vgl. G. M. Müller: „Germania generalis“ (wie Anm. 17), S. 341–343. Grundsätzlich reflektiert bei Helmrath: Regionale Historiographie (wie Anm. 11), S. 344f., 354–358. Am Beispiel von Conrad Celtis vorgeführt bei G. M. Müller: „Germania generalis“ (wie Anm. 17), S. 359–370, 415–418. Clavuot: „Italia illustrata“ (wie Anm. 15), S. 44–55. Ebd., S. 55–137; G. M. Müller: „Germania generalis“ (wie Anm. 17), S. 243–246.

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Gegenwart, beschrieben hat, nicht ohne weit reichende Erklärungen als Geschichte Italiens kenntlich gemacht werden könnten.107 Biondo weist der Geographie somit einen zentralen Platz in der Geschichtsschreibung zu, weil er in der Kenntnis des geographischen Raumes, in dem sich Geschichte vollzieht, eine wichtige Voraussetzung für deren Verständnis erkennt und er sich hierzu der methodischen Herausforderung stellt, dass dieser selbst Gegenstand historischer Veränderung ist. Neben der intensiven Rezeption der Italia illustrata unter den deutschen Humanisten ist als Vermittler dieser aus historischem Interesse gepflegten humanistischen Geographie erneut auf Enea Silvio Piccolomini zu verweisen, dem es mit seiner Deutschlandbeschreibung innerhalb seines Brieftraktats an Martin Mayer auch darum ging, den Lebensraum als Teil des Entwicklungsprozesses herauszustellen, den er zwischen den Deutschen und ihren germanischen Vorfahren konstatieren zu können glaubte. Bei ihm wird der von Biondo als methodisches Problem reflektierte historische Wandel geographischer Räume somit zum dezidiert positiv besetzten Merkmal der Kulturgeschichte Deutschlands weiterentwickelt, woran Enea Silvios deutsche Nachfolger bereitwillig anschließen. 108 In der Tat wird der Aufweis, dass das aktuelle Deutschland nichts mehr mit dem bei Tacitus beschriebenen unwirtlichen Land im Norden des Römischen Reichs gemein hat, sondern sich zu einer der Apenninenhalbinsel in Nichts nachstehenden Kulturlandschaft gewandelt hat, zu einem zentralen Kapitel humanistischer Geschichtsschreibung nördlich der Alpen.109 Meisterlin ist in seiner Cronographia Augustensium weit davon entfernt, einen vergleichbaren Entwurf einer Kulturgeschichte jener Region vorzulegen, in der die autochthonen Schwaben einst Vindelica und damit das spätere Augsburg gegründet hätten. Auch fehlt bei ihm jeder Hinweis auf etwaige Veränderungen, die die Umgebung der Stadt im Laufe ihrer Geschichte erfahren hat. Dennoch zeigt sich Meisterlin interessiert an Ausdehnung und topographischer Beschaffenheit des Landes. So hält er bei seiner Darstellung der Frühgeschichte Augsburgs bisweilen inne und holt zur geographischen Beschreibung des größeren geographischen Umfelds der Stadt aus, dabei sogar ganz Deutschland in den Blick nehmend. 110 In diesem Zusammenhang ist ihm auch eine ethnogra––––––––– 107 108 109 110

Clavuot: „Italia illustrata“ (wie Anm. 15), S. 21–44; Muhlack: Geschichtswissenschaft (wie Anm. 11), S. 188–202. G. M. Müller: „Germania generalis“ (wie Anm. 17), S. 250–264. Ebd., S. 403–408. In Cronographia Augustensium, B. 1, Kap. 7, S. 24f. gibt Meisterlin eine kurze Beschreibung Deutschlands (aus Isidor mit Informationen aus Lucan, Vergil, Claudian, Caesar, Sallust; zu den Quellen dieses Abschnitts s. Joachimsohn: Meisterlin [wie Anm. 2], S. 28): Duo sunt Germaniae, superior iuxta septentrionalem oceanum, inferior circa Rhenum. Et alias quidem Germania dicta quia plena germine. Frugifera est enim, sed, ut Isidorus Ethimologiarum nono libro capitulo secundo inquit, Germaniae gentes dictae sunt, quod habebant immania corpora immanesque nationes saevissimis duratae frigoribus, qui mores ex ipso caeli rigore traxerunt feroces, animis indomiti raptu venatuque viventes. Horum plurimae gentes varioque armis discordes habitu, linguis, dissonae et origine vocabulorum incerto […] A Danubio usque ad Alpes est Germania superior, quae a Germanarich

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phische Perspektive nicht fremd, um welche die deutschen Humanisten um und nach 1500 ihre Beschäftigung mit dem Lebensraum der Deutschen und ihrer Vorfahren erweitern, um deren überzeitliche Wesensmerkmale zu rekonstruieren und hierauf mit dem geographischen Befund in Beziehung zu setzen. So kommt er am Ende des ersten Buches, nachdem er die Besiedlung Europas durch die Nachfahren Japhets beschrieben hat, auf die unterschiedlichen Eigenschaften der einzelnen Völker zu sprechen.111 –––––––––

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populos dicitur, versus occasum Rheno, versus aquilonem Albia fluvio terminatur. In hac est regio Suevia et Alemannia, quae et Rhetia dicta. In hac Danubius nascitur et sexaginta praecipuis fluviis augetur et in septem ostia ut Nilus divisus Ponticum mare ingreditur. Et scias Danubius olim Histrum nuncupasse ac rarius in antiquis Danubius, sed saepius Hister inveniri […] De Rheno vero etiam auctores diversi scribunt et quidem Lucanus ita: Rhenique feroces deseritis ripas, et rursus et indomitum Rheni caput. Noveris tamen a Horatio Rhenum positum in neutro genere, similiter et a Salustio in historia unde aut flumen Rhenum aut pluvius describitur arcus. De ambobus fluviis Rheno videlicet et Danubio ita ait Claudius: Confinis Rheciae silvae quae se Danubij iactat, Rhenique parentem […] Prima fronte breves, alto mox gurgite regnat et fluvios cogunt unda coeunte minores in nomine transire suum. Est in ea Noricum, quae et Boioaria, in qua est civitas Ratisbona. Est et orientalis Francia, cui coniungitur Thuringia, quam sequitur Saxonia. Inferior vero Germania est ab Albia, quae versus Aquilonem occeano excipitur. Inde est Dacia et Norvegia a Danubio. Die Ausmaße Europas benennt Meisterlin zusammen mit einer knappen Aufzählung der sich darin befindlichen Länder, nachdem er die Wiederbesiedlung Europas durch Japhet beschrieben hat (Cronographia Augustensium, B. 1, Kap. 10, S. 35: Europa incipit a montibus Ripheis ac flumine Thanai Meothidisque paludibus, quae sunt ad meridiem per ripas septentrionis oceani, usque ad Galliam belgicam et flumen Rhenum. In hac est Germania, Alemannia, Graecia, Thracia, Illiricum, Pannonia, Italia, Gallia, Hispania, ubi plurimam partem Suevi tenent. In qua et civitas olim Vindelica dicta nunc Augusta Vindelica. Ebd., B. 2, Kap. 7, S. 52f.: Volo hic unum inserere, quare Germani dicti sint bellicosi. In partibus ergo Germaniae fuerunt ac sunt meliores bellatores orbis, quod sic patet. In partibus propinquis soli non sunt eligendi bellatores, quia in eis deficit strenuitas et animositas bellandi, ut ait philosophus septimo Politicorum. Ratio autem huius assignatur a Vegetio primo libro de re militari capitulo secundo, ubi dicitur, quod nationes, quae vicinae sunt soli, sunt nimio calore siccati. Amplius quidem sapiunt, sed modicum abundant in sanguine ac propterea non habent pugnandi constantiam neque fiduciam, quia naturaliter metuunt vulnera. Nam cum naturaliter habeant modicum sanguinis, amissionem eius multum timent. Non ergo sunt prompti ad bella nec ad percussiones. Rursus in partibus nimis septentrionalibus et nimis a sole remotis non sunt eligendi bellantes, quia etsi in illis sit sanguinis copia et vulnera non metuant, tamen propter sanguinis abundantiam et impetum sunt quasi furibundi et imprudentes. Ideo omnino non sunt utiles operibus bellicis, quia consilium et prudentia non est modicum utile in dimicatione, sed et ingenium plurimum valet. Experimento enim videmus et plane vult hoc philosophus septimo Politicorum, quod gentes nimis propinquae soli abundant sagacitate et industria, sed deficiunt animositate. Gentes vero a sole remotae e contrario prudentia deficiunt et animositate abundant. Quare si tam animositas quam industria necessaria est in bellis, ex neutris partibus sunt eligendi bellatores. Sed ex media regione nec omnino a sole remota nec omnino soli propinqua scilicet in Germania. Cuius magnam partem Suevi occupant, qui tam prudentia quam animositate vigere dinoscuntur et licet hoc sit verum ut communiter tamen sciendum quod in qualibet regione boni aliqui inveniuntur natura ergo climatum magnitudinem quoque corporum arridente. Erant Suevi semper saevi bellatores, Vindelicique prontissimi semper extraneos fines ad invadendos semperque parati esse aliarum provinciarum gentiumque

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Folglich ist bereits bei Meisterlin in Ansätzen jene Verbindung von autochthoner Geschichtskonzeption und geographisch-ethnographischer Beschreibung angelegt, die für die humanistische Historiographie um und nach 1500 so charakteristisch sein wird. Kann die Cronographia Augustensium daher auch in dieser Hinsicht als frühhumanistisches Geschichtswerk gelten, ohne dass ihr Autor auf die dafür richtungsweisenden antiken und italienischen Werke zurückgreifen konnte, stellt sich die Frage, woher dieser die entsprechenden Impulse erhalten hat. Um diese zu beantworten, gilt es den Blick wie bei der humanistischen Geschichtsschreibung um und nach 1500 auf die Apenninenhalbinsel zu richten, wobei es im Falle Meisterlins kommunale Kontexte sind, aus denen dieser die Anregung zur Abkehr von einer auf Migration basierenden Ursprungsgeschichte Augsburgs zugunsten einer autochthonen Variante erhalten haben dürfte. Diese Zusammenhänge soll das letzte Kapitel dieses Beitrages beleuchten. Aus ihnen werden sich schließlich Hinweise auf die Beweggründe ableiten lassen, die Meisterlin zu seiner autochthonen Konzeption der Augsburger Ursprungsgeschichte geführt haben.

IV. In Meisterlins Auffassung, dass es unehrenhaft für die Augsburger sei, wenn sich diese als Nachfahren der Trojaflüchtlinge verstünden, deutet sich ein Bewusstsein von Konkurrenz und Wettbewerb an, in dem sich das Prestige eines Gemeinwesens über die Art seines Ursprungs definiert. 112 Und in der Tat lassen sich ab 1500 zahlreiche Stimmen vernehmen, welche die von Tacitus behaupteten autochthonen Ursprünge der germanischen Stämme als Privileg ansehen, das deren deutsche Nachfahren ihren französischen und italienischen Nachbarn voraushaben. Hervorragendes Beispiel hierfür ist die kleine Schrift Germani sunt indigenae des Tübinger Rhetorikprofessors Heinrich Bebel,113 die bereits durch ihren Titel programmatisch an die entsprechende Äußerung des Tacitus ––––––––– 112 113

hospites nullos tamen in suos terminus alios terminos admittere volebant. Si qui vero advenire ausi fuerunt, duris ictibus percussi effugere studuerunt. Zum agonalen Prinzip des humanistischen Nationendiskurses s. grundlegend Hirschi: Wettkampf der Nationen (wie Anm. 12), bes. S. 251–379. Allgemein zu Heinrich Bebel s. Ridé: L’image du Germain (wie Anm. 12), S. 407–424; Dieter Mertens: „Bebelius […] patriam Sueviam […] restituit“. Der poeta laureatus zwischen Reich und Territorium. In: Zeitschrift für Württembergische Landesgeschichte 42 (1983), S. 145–173; Klaus Graf: Heinrich Bebel (1472–1518). Wider ein barbarisches Latein. In: Humanismus im deutschen Südwesten. Biographische Profile. Hg. von Paul Gerhard Schmidt. Sigmaringen 1993, S. 179–194; ders.: Heinrich Bebel. In: Deutsche Dichter der frühen Neuzeit (1450–1600). Ihr Leben und Werk. Berlin 1993, S. 281–295; Carl Joachim Classen: Zu Heinrich Bebels Leben und Schriften. Göttingen 1997 (Nachrichten der Akademie der Wissenschaften in Göttingen 1997/1); vgl. auch Krapf: Germanenmythus (wie Anm. 12), S. 105–109.

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im ersten Kapitel der Germania anknüpft.114 In ihr führt er aus, dass allein die Deutschen und ihre germanischen Vorfahren als indigenes Volk anzusprechen seien, ein Befund, den er explizit als Auszeichnung für diese verstanden wissen will.115 Demgegenüber müssten Italiener116 und Franzosen 117 ihre Herkunft von Einwanderern ableiten und verfügten damit über weit unrühmlichere Anfänge. So stelle sich Italien in Bebels Gegenwart als Heimat von Nachkommen der Vandalen, Goten und Langobarden dar, die während der Völkerwanderung dem römischen Reich endgültig den Untergang gebracht hätten; die Franzosen wiederum stammten von den autochthonen Franken ab. Indigenität und Ursprung aus der Fremde werden von Bebel somit als zwei Möglichkeiten der Herkunft nebeneinandergestellt und eindeutig zugunsten der ersteren hierarchisiert.118 Profit ziehen aus dieser Bewertung freilich allein die Deutschen, indem sie die Einzigen auf dem Erdkreis seien, die einen autochthonen Ursprung für sich beanspruchen könnten. Aus Bebels Perspektive hätten sie daher unanfechtbar als vornehmstes Volk des Erdkreises zu gelten. Obwohl die Cronographia Augustensium weit vor den Kontroversen entstanden ist, die sich im Hintergrund von Bebels kleiner Schrift ausmachen lassen, scheint dem Ersatz einer von Migration gekennzeichneten Ursprungsgeschichte Augsburgs durch eine Stadtgründung, die auf eine autochthone Bevölkerung zurückgeführt wird, eine ähnliche agonale Motivation zugrunde zu liegen. Nahegelegt wird dies durch den Beginn jenes dritten Kapitels im ersten Buch, in dem Meisterlin seine Ansicht kundtut, dass eine Herkunft aus Troja den Augsburgern nicht zur Ehre gereiche. Denn dort wendet er sich zunächst den Stadtgründungen des Antenor zu, der bei seiner Flucht den Weg über den Balkan genommen habe, und klärt, dass sich hinter dem in seinen Quellen er––––––––– 114 115

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Vgl. oben Anm. 91. Vgl. Heinrich Bebel: Germani sunt indigenae. An: ders.: Oratio ad regem Maximilianum de laudibus atque amplitudine Germaniae. Pforzheim: Thomas Anselm, 1504, dv–ev, hier d iiv: Soli igitur pene sumus ex omnibus terrarum nationes, qui sine aduenarum mixtura regnauimus et a conditis monumentis sine iugo seruitutis externorum late regnauimus atque vicinis circumquaque imperitauimus. S. auch ebd.: Soli Germani (in quo singulariter gloriari possumus) a nullis nationibus pulsi patria nullis cedentes nullius exteri dominium passi nullum occupatorem sustinentes semper regnauimus. – Zur Interpretation der kleinen Schrift s. Hedwig Reiss: Motive des patriotischen Stolzes bei den deutschen Humanisten. Freiburg i. Br. 1934, S. 15–20; Münkler, Grünberger: Nationale Identität (wie Anm. 93), S. 227; Münkler, Grünberger, Mayer: Nationenbildung (wie Anm. 12), S. 238–242; G. M. Müller: „Germania generalis“ (wie Anm. 17), S. 350–353 und Krebs: Negotiatio Germaniae (wie Anm. 79), S. 243–249. Bebel: Germani sunt indigenae (wie Anm. 115), d iiv: Romani quondam domini dominorum, hodie serui et serui seruorum sunt subiecti totaque cum illis Italia Vandalorum, Gotthorum, Langobardorum et ceterorum, qui Italiam ingressi sunt, quasi posteritas. Ebd., d iijv–d iiijr: Apud historicos Germaniae nunc uero Francia vocatur inde Franci non Francones dicendum: Hii autem, qui in Gallia consederunt, non Franci, sed Francigenae potius essent nuncupandi […] Dimissis igitur fabulis Blondo Flauio assentior, homini non Germano, sed Italo, qui dicit (sicut et plerique alij) Francos, Vandalos, Burgundiones omnes vetustam originem habere ex Germania. Vgl. dazu nochmals ebd., c ijr: Quippe non aduenae neque passim collecta populi colluuies originem Germanis dedit.

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scheinenden Patavium keine andere Stadt als Padua verberge, wo dieser bis in die Gegenwart stolz als Gründer der Stadt verehrt werde.119 Bevor er sich anschickt, eine Abkunft aus Troja als unehrenhaft zu erweisen und für Augsburg zu widerlegen, war es Meisterlin also wichtig, ausdrücklich auf die trojanischen Ursprünge der oberitalienischen Stadt hinzuweisen und diese zu bestätigen. Mit Padua verpflichtet er jedoch nicht nur jene Stadt auf eine aus seiner Sicht unrühmliche Herkunft, die sich selbst als prominenteste trojanische Gründung auf italienischem Boden neben Rom betrachtete, 120 sondern insbesondere auch jene, in der die meisten Deutschen des 15. Jahrhunderts und infolgedessen auch die Mitglieder des Augsburger Humanistenkreises um Sigismund Gossembrot ihre erste Berührung mit dem Humanismus erfuhren. Zwar hat Meisterlins Auftraggeber Italien nie besucht, doch hat er seine beiden Söhne zum Studium neben Ferrara auch dorthin geschickt.121 Andere Sodalen wie Hermann Schedel, Heinrich Lur und Laurentius Blumenau haben selbst dort studiert.122 Das Entstehen der kleinen frühhumanistischen congregatio in Augsburg123 dürfte somit

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Cronographia Augustensium, B. 1, Kap. 3, S. 10: Galliam etiam quosdam Troianorum non negaverim intrasse, praesertim cum quidam illud Virgilianum pro se velit esse Anthenor potuit mediis elapsus Achivis Illiricos penetrare sinus. Atque ultima tutus regna Liburnorum et fontem superare Timavi et infra. Hic tamen urbem Patavi sedesque locavit et illud Lucani Patavique truces, quod aliqui de Galliarum urbe Patavis exponunt, alij de Patavia Boioariorum urbe, nonnulli de Padua, quae et Patavium Venetorum urbe, quod et verisimilius est, et sensu Virgilij accomodatius, secundum Servium. Unde et adhuc quasi recens gestum incola testantur. Sepulchrumque Anthenoris inibi ostendunt. S. Busch: Vorhumanistische Laiengeschichtsschreiber (wie Anm. 45), S. 35–54, hier S. 48. Zu den antiken Vorstellungen bezüglich der trojanischen Herkunft Paduas s. Lorenzo Braccesi: La leggenda di Antenore da Troia a Padova. Padua 1984 (Il mito e la storia 1). Vgl. hierzu etwa die auf Paduas Gründung durch Antenor zurückgeführte Formulierung Padua quasi secunda Roma in der Chronik des Paduaner Laiennotars Rolandinus. Vgl. Rolandini Patavini Chronica facta Prologus. Hg. von Philipp Jaffé. In: Monumenta Germaniae Historica. Scriptores. Bd. 19. Hannover 1866, S. 38–147, hier S. 137: Numquid Padua condam est ab Antenore constituta, egresso civitatem Troianam eadem hora cum Enea conditore Romano? Numquid passa est multas tribulaciones et werras, ut ipsa Roma? Numquid in suis civibus est offensa crudeliter, turribus et palatiis, domibus et decoribus suis dirutis et prostratis? Nempe, si michi parcat Romana curia, iam Padua dici potest quasi secunda Roma. S. Wattenbach: Gossembrot (wie Anm. 1), S. 36; Joachimsohn: Meisterlin (wie Anm. 2), S. 145. S. Boockmann: Blumenau (wie Anm. 21), S. 30, 32; Agostino Sottili: Ehemalige Studenten italienischer Renaissance-Universitäten: ihre Karrieren und ihre soziale Rolle. In: Gelehrte im Reich. Zur Sozial- und Wirkungsgeschichte akademischer Eliten des 14. bis 16. Jahrhunderts. Hg. von Rainer Christoph Schwinges. Berlin 1996 (Zeitschrift für historische Forschung. Beiheft 18), S. 41–74, hier S. 45, 48–74. Die Bezeichnung congregatio für den Augsburger Humanistenkreis stammt von Laurentius Blumenau, der in einem Brief an Hermann Schedel vom 11. Januar 1461 Grüße an die nostre congregacionis socii, fratres et sorores ausrichten lässt. Vgl. Worstbrock: Imitatio in Augsburg (wie Anm. 21), S. 188 m. Anm. 5.

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eng mit den Erfahrungen zusammenhängen, die deren Mitglieder an der Universität in Padua gemacht haben.124 Vor dem Hintergrund dieser engen Beziehungen zwischen dem Augsburger Humanistenkreis und der oberitalienischen Universitätsstadt deutet sich an, dass Meisterlin mit dem für seine Zwecke eigentlich redundanten Hinweis auf deren trojanische Ursprünge das Anliegen verfolgte, seinem anschließenden Nachweis einer autochthonen Gründung Augsburgs eine konkrete Stoßrichtung zu verleihen. Offensichtlich zielte er mit diesem darauf, seiner Heimatstadt einen Ursprung zu verschaffen, der sich dezidiert von jenem Paduas unterscheidet und diesem an Prestige überlegen ist. Mit der Cronographia Augustensium sollte der Augsburger Humanistenkreis somit eine Geschichte seiner Stadt erhalten, durch die diese eine vornehmere Herkunft zugesprochen bekam als jene, die für ihn Brücke ins humanistische Italien war und damit als Ursprung des eigenen intellektuellen Selbstverständnisses zu gelten hatte. Freilich griffe es zu kurz, in der Herabsetzung Paduas durch Meisterlin einen Hinweis darauf erkennen zu wollen, dass die Frühhumanisten in Augsburg die Wurzeln ihrer humanistischen Identität hochmütig zu verleugnen trachteten. Vielmehr schlagen sich in dieser Rezeption und Anschluss an einen Diskurs nieder, der auf der Apenninenhalbinsel bereits längst im Gange war. Denn weit bevor sich um 1500 unter den europäischen Humanisten eine Diskussion um Wert und Ansehen der eigenen Nation herausbildete, war südlich der Alpen eine vergleichbare Konkurrenzsituation unter den vor allen Dingen oberitalienischen Städten entstanden, in dem die Herkunft ebenso ein wichtiges Argument darstellte. Wenn Meisterlin Augsburg mit einem Ursprung aufwarten lässt, durch den es sich Padua als überlegen erweist, zielt er also nicht auf Abgrenzung vom humanistischen Italien, wie dies bei den deutschen Humanisten von Conrad Celtis an der Fall sein wird, 125 sondern er sucht im Gegenteil den Anschluss an den Wettbewerb der italienischen Kommunen und ist bestrebt, Augsburg auf der Basis der in diesem geltenden Spielregeln eine privilegierte Position in diesem zu verschaffen. Vorbilder für Meisterlins Strategie, diese über den Nachweis einer autochthonen Gründung Augsburgs zu erzielen, finden sich auf der Apenninenhalbinsel etwa in der Geschichtsschreibung Mailands, die sich bereits im 13. Jahrhundert vom Versuch, die eigene Herkunft aus Troja herzuleiten, abwendet und für einen autochthonen Ursprung der Stadt plädiert.126 So wusste der Notar Giovanni da Cermenate in seiner Historia zu berichten, dass Mailand von einem ––––––––– 124

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Boockmann: Blumenau (wie Anm. 21), S. 32f. Meisterlin selbst ist freilich erst nach Abfassung der Cronographia Augustensium zum Studium nach Padua aufgebrochen. Vgl. H. Müller: Habit und Habitus (wie Anm. 2), S. 138–148. S. G. M. Müller: „Germania generalis“ (wie Anm. 17), S. 207–223. Vgl. Jörg W. Busch: Die Mailänder Geschichtsschreibung zwischen Arnulf und Galvaneus Flamma. Die Beschäftigung mit der Vergangenheit im Umfeld einer oberitalienischen Kommune vom späten 11. bis zum frühen 14. Jahrhundert. München 1997 (Münstersche Mittelalter-Schriften 72), S. 184–233; ders.: Vorhumanistische Laiengeschichtsschreiber (wie Anm. 45), S. 50–52.

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gewissen Subres, einem Urenkel Noahs, in frühbiblischer Zeit gegründet worden sei und die Anfänge seiner Heimatstadt damit weit vor jenen Roms lägen.127 Diese Ursprungsversion fand über die großen Geschichtsenzyklopädien des Galvano Fiamma bis ins 15. Jahrhundert weite Verbreitung.128 Doch nicht nur eine gegenüber Rom erheblich ältere und von der Tiberstadt gänzlich unabhängige Frühgeschichte hatte Mailand nach dem Ausweis seiner lokalen Historiographie vorzuweisen. Zudem vereinnahmte sie den Gallier Brennus für sich, der im 4. Jh. v. Chr. Rom beinahe vernichtet hatte, und nahm dies zum Beleg dafür, dass Mailand zunächst sogar stärker als Rom gewesen sei und dieses das Fürchten hätte lehren können.129 Reflex auf diese frühe Überlegenheit sei es schließlich gewesen, dass die Lombarden nach der Eroberung durch die Römer mit diesen einen Friedensvertrag geschlossen hätten, der ihnen die alte Eigenständigkeit auch innerhalb des Römischen Reichs gesichert hätte.130 Die Ähnlichkeiten zwischen dieser Vergangenheitskonstruktion und jener Sigismund Meisterlins sind frappant. Nicht nur, dass Mailand in dieser Version von einem Nachkommen Noahs abstammt und seine Geschichte damit bis an die Wiederbegründung der Menschheit nach der biblischen Sintflut zurückführen kann; nicht nur, dass es damit wie Meisterlins Vindelica auf einen erheblich längeren Bestand zurückblicken kann als Rom; auch die Vorgeschichte seiner Eroberung durch die Römer hat Mailand mit der Stadt zwischen Lech und Wertach gemeinsam. Denn beide Städte können sich zunächst erfolgreich der römischen Angriffe erwehren, mehr noch: sie vermögen sich den Aggressoren vom Tiber als ebenbürtige Gegner zu präsentieren, die diesen Angst und Respekt abnötigen. Schließlich gehen die Ähnlichkeiten so weit, dass beide Geschichtskonstruktionen den Gallier Brennus und mit diesem die Leistung für sich beanspruchen, Rom beinahe selbst vernichtet zu haben. 131 Konsequenz für beide Städte ist mithin eine gewisse Eigenständigkeit, die bei Meisterlin in der ethnischen Kontinuität der Schwaben über die römische Epoche hinaus mündet. Der prominenteste in das zeitliche Umfeld von Meisterlins Cronographia Augustensium datierende Versuch, sich zumindest partiell eine von Rom unabhängige Geschichte zu geben, liegt freilich in Leonardo Brunis Historia Floren-

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S. Iohannis de Cermenate notarii Mediolanensis Historia de situ Ambrosianae urbis et cultoribus ipsius et circumstantium locorum ab initio et per tempora successive et gestis imperatoris Heinrici VII, et de his quae gesta sunt post eius adventum in Italia, praecipue per Mediolanenses. Hg. von Luigi Alberto Ferrai. Rom 1889, S. 5f., 14 (Kap. 1 und 5). Zur Genese des mythischen Gründers von Mailand Subres aus der Beschäftigung mit der biblischen Völkergenealogie s. Busch: Mailänder Geschichtsschreibung (wie Anm. 126), S. 199–203. Die Kodizes der historischen Enzyklopädien Galvano Fiammas datieren in das Jahr 1396. S. Busch: Mailänder Geschichtsschreibung (wie Anm. 126), S. 229f. (zur handschriftlichen Überlieferung ebd., S. 210, Anm. 138). Busch: Vorhumanistische Laiengeschichtsschreiber (wie Anm. 45), S. 50. Ebd., S. 51. Zu den entsprechenden Passagen bei Meisterlin s. oben S. 252f.

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tini populi vor.132 Zwar leugnet Bruni keinesfalls, dass Florenz eine römische Gründung sei, die er auf die Ansiedlung sullanischer Veteranen in Etrurien zurückführt.133 Dennoch begnügt er sich zu Beginn seiner Florentiner Geschichte nicht damit, die Errichtung der bald zur prächtigen Stadt ausgebauten Siedlung zwischen Arno und Mugnone zu schildern,134 sondern er setzt weit früher bei der Besiedlung Etruriens und des Arnotals durch die Etrusker an.135 Brunis Ziel dabei ist es, Florenz eine etruskische Vorgeschichte zu geben, die ihrerseits erheblich älter als Rom ist und in der Arnostadt trotz ihrer römischen Wurzeln weitergelebt hat. Zwar hätten sich die Etrusker im 1. Jh. v. Chr. endgültig den Römern ergeben müssen, doch hätten die Sieger zahlreiche Bräuche und Institutionen von ihren neuen Untertanen übernommen. 136 Dieser Transferprozess, der bereits vor der Eroberung eingesetzt habe und durch diese nur eine neue ––––––––– 132

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Zu Leonardo Bruni als Historiograph s. Donald J. Wilcox: The Development of Florentine Humanist Historiography in the Fifteenth Century. Cambridge (Mass.) 1969, S. 32–98; Giovanni Cipriani: Il mito etrusco nel rinascimento fiorentino. Florenz 1980, S. 5–12; Cochrane: Historians (wie Anm. 14), S. 3–9; Gary Ianziti: Leonardo Bruni, first modern Historian? In: Parergon 14 (1997), S. 85–99; ders.: Bruni in Writing History. In: Renaissance Quarterly 51 (1998), S. 367–391; Muhlack: Geschichtswissenschaft (wie Anm. 11), S. 219–221; ders.: Humanistische Historiographie (wie Anm. 11), S. 6f.; Helmrath: Umprägung von Geschichtsbildern (wie Anm. 11), S. 337–341; ders.: Regionale Historiographie (wie Anm. 11), S. 387–392. – Allgemein zu den Herkunftsvorstellungen in der florentinischen Chronistik des Hochmittelalters s. Münkler, Grünberger, Mayer: Nationenbildung (wie Anm. 12), S. 79–97. Leonardo Bruni: History of the Florentine People. Bd. 1: Books I–IV. Hg. und übersetzt von James Hankins. Cambridge (Mass.), London 2001 (The I Tatti Renaissance Library 3), B. 1, Kap. 1–3. Für einen Überblick über Entstehung und Inhalt der Historia Florentini populi s. Ursula Jaitner-Hahner: Leonardo Bruni (1370–1444). Historiarum Florentini populi libri XII. In: Hauptwerke der Geschichtsschreibung. Hg. von Volker Reinhardt. Stuttgart 1997, S. 65–68. Bruni: History (wie Anm. 133), Kap. 4f. Ebd., Kap. 11ff. Ebd., B. 1, Kap. 20: Constat autem Romanos praetextam et trabeas phalerasque et annulos, togas quoque pictas et palmatas tunicas, currus insuper aureos triumpho decoros, fasces denique et lictores et tubas et sellam curulem ac cetera omnia regum magistratuumque insignia ab Etruscis sumpsisse. Nam quod duodecim lictores apparebant regibus consulibusque romanis, id quoque inde sumptum traditur, quod cum ex duodecim populis Etrusci constarent, singulos singuli lictores regi dabant. Inde ab Romanis res accepta, nec numerus quidem imminutus est. Haec omnia, ne quis forte nosmet nobis blandiri existimet, graeci romanique vetustissimi scriptores tradidere. Nec imperii tantum insignia ceterumque augustiorem habitum sumpserunt ab Etruscis, verum etiam litteras disciplinamque. Auctores habere se Livius scribit, ut postea Romanos pueros graecis, ita prius etruscis litteris vulgo erudiri solitos. Nam caerimonias quidem ac religionem et cultum deorum, qua in arte Etrusci prae ceteris gentibus excelluisse traduntur, Romani sic ab illis susceperunt, ut tamen priores partes relictas penes auctores ipsos faterentur. Simul atque gravius quidquam rei publicae imminebat, in quo deum numina placandum censerent, vates et haruspices ex Etruria vocabantur. Denique omnis harum rerum cognitio etrusca disciplina apud Romanos vocitata est. Haec et huiusmodi inde sumpta probare mihi videntur, Romanos etruscam gentem cum observantia quadam admiratos, a qua et ornamenta imperii et deorum cultum ac disciplinam litterarum, tria maxima ac praestantissima, sibi publice privatimque imitanda receperint.

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Dynamik erfahren habe, dient ihm als Nachweis, dass die Römer zwar die Etrusker militärisch bezwungen hätten, dass diese aber in kultureller Hinsicht die Überlegenen gewesen und auch geblieben seien. 137 Dieser über die römische Expansion nach Etrurien hinaus verlaufende Rezeptionsprozess lässt Bruni schließlich zu der Gewissheit einer ethnischen Kontinuität der Etrusker gelangen, der die Eroberung durch die Römer letztlich nichts anhaben konnte. Wenngleich Florenz eine römische Gründung sei und sullanische Veteranen dort ihre neue Heimat gefunden hätten, habe sich diese, so die These Brunis, doch in einem weiterhin vitalen etruskischen Umfeld vollzogen, das für die Stadt selbst im Folgenden nicht nur prägend geworden sei, sondern zu dessen Zentrum es sich hierauf auch entwickelt habe. 138 Brunis Konzept einer in der römischen Gründung Florenz fortlebenden etruskischen Kultur, 139 von der die Römer mannigfaltige Impulse erhalten hätten und die sich auf diese Weise über die römische Eroberung hinaus als diesen überlegen gezeigt habe, stellt sich im Vergleich zu Meisterlins Geschichtskonstruktion ohne Zweifel als erheblich komplexer dar. 140 Dennoch verbinden beide gewisse Ähnlichkeiten, die über das Bestreben hinausgehen, für ihre Städte ein erheblich höheres Alter als Rom zu behaupten. Diese betreffen wie bei der Mailänder Geschichtsschreibung die Vorgeschichten der beiden Völker vor ihrer römischen Eroberung. So weiß auch Bruni von den Etruskern zu berichten, dass diese bereits lange vor ihrer Eroberung immer wieder von den Römern bedrängt worden seien, sie ihren Aggressoren aber stets erfolgreich widerstanden hätten. 141 Übereinstimmend mit Meisterlin in Bezug auf die Schwaben hebt auch er hervor, dass die außergewöhnliche Wehrfähigkeit der Etrusker dazu geführt habe, dass die Römer zunächst von ihren Plänen abgelassen und diese erfolgreich zu ihren Kampfgenossen gemacht hätten.142 Die spätere Unterwerfung der Etrusker erscheint somit analog zu Meisterlins Schilderung als Ergebnis eines bewussten erneuten Anlaufs von Seiten der Römer nach einer Phase gemeinsamer Allianz, dessen Ergebnis wie bei diesem als äußerst hart erkämpfter und nur mit Mühe erzielter Sieg bewertet wird.143 Weitere Affinitäten lassen sich schließlich zu Brunis Konzeption eines von den Römern in seiner Existenz ––––––––– 137 138

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Vgl. Helmrath: Regionale Historiographie (wie Anm. 11), S. 389f. Zur Verdichtung dieses Konzepts einer Verbindung von Etrusker- und Römertum in Brunis Totenrede auf den Florentiner Feldherren Nanni Strozzi s. ebd., S. 390. Zur Begründung einer Florentiner republikanischen Tradition durch die Behauptung einer Gründung von Florenz in der römischen Republik und dem Fortleben einer etruskischen republikanischen Städtekultur s. ebd., S. 389. Für den größeren historischen Zusammenhang s. Cipriani: Mito etrusco (wie Anm. 132). Eine Parallele zur Abkunft der Gründer Augsburgs von Noah findet sich in der florentinischen Historiographie freilich in der Chronik des Giovanni Villani. Vgl. Münkler, Grünberger, Mayer: Nationenbildung (wie Anm. 12), S. 84 m. Anm. 30. Zur anhaltenden Beliebtheit Villanis bis ins 16. Jahrhundert s. ebd., S. 84, Anm. 27. Bruni: History (wie Anm. 133), B. 1, Kap. 21–26. Vgl. hierzu Helmrath: Regionale Historiographie (wie Anm. 11), S. 389. Vgl. etwa Bruni: History (wie Anm. 133), Kap. 26. Der Siegeszug der Römer beginnt mit dem Krieg gegen Veji und endet 283 v. Chr. mit der Unterwerfung ganz Etruriens: ebd., Kap. 27–35.

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nicht in Frage gestellten Etruskertums ausmachen. 144 Analog dazu findet auch bei Meisterlin die Geschichte der Schwaben als Volksstamm durch die römische Eroberung kein wirkliches Ende, sondern diese setzt sich danach als Teil der römischen Geschichte und stets in gewisser Eigenständigkeit von dieser fort. Auf ihren ethnischen Fortbestand hat die römische Domination somit keinen Einfluss. Die Frage, ob Meisterlin bei der Konzeption seiner Cronographia Augustensium tatsächlich eines der genannten Beispiele kommunaler Geschichtsschreibung aus Italien rezipiert oder sogar direkt auf Brunis Historia Florentini populi zurückgegriffen hat, lässt sich hier nicht weiterverfolgen. Sie muss zukünftigen Detailstudien zu den Vorlagen der Augsburger Chronik vorbehalten bleiben, die das von Joachimsohn zusammengetragene Quellenmaterial entsprechend ergänzen und dabei auch den Rezeptionswegen nachgehen, über die Meisterlin mit entsprechenden Geschichtswerken bekannt geworden sein könnte.145 So viel deutet sich indes an, dass Meisterlin die Anregung, nach autochthonen und der Gründung Roms weit vorausliegenden Ursprüngen seiner Heimatstadt zu fahnden, von der Apenninenhalbinsel bezogen haben dürfte, wo das Trojaparadigma bereits seit dem 13. Jahrhundert Konkurrenz durch vergleichbare Herkunftsmodelle erhalten hat. Jedenfalls weisen die hier knapp vorgestellten Mailänder Historiographien eines Giovanni da Cermenate oder eines Galvano Fiamma sowie Brunis Geschichte von Florenz auf einen gemeinsamen inhaltlichen Kern solcher alternativen Ursprungsversionen, der sich so auch in Meisterlins Augsburger Geschichte greifen lässt. Dieser umfasst die Gründung weit vor den Anfängen Roms sowie noch vor der Zerstörung Trojas, die Existenz einer Phase des Kräftemessens mit der aufstrebenden Tiberstadt, in der sich diese aber in unterschiedlicher Weise noch als die schwächere Partei erweist, sowie schließlich die Eroberung durch diese, welche aber nicht zu einem Ende der ethnischen Identität führt. Der Kontext, in dem sich die Cronographia Augustensium situiert, weist folglich in zweifacher Weise nach Italien. Zum einen hat Meisterlin auch die Ursprünge Paduas im Blick, wenn er es als unehrenhaft verwirft, die Gründung Augsburgs mit dem Untergang Trojas zu verbinden. Zum anderen findet die Alternative, die er für seine Heimatstadt erschließt, ihre Vorprägung ebenfalls südlich der Alpen in kommunalen Geschichtswerken, die für die Städte, in denen sie entstanden sind, Anfänge jenseits einer Herkunft aus Troja zu erschließen suchen. Wiewohl sie die Geschichte einer Stadt nördlich der Alpen darstellt und sich als Korrektur einer dort in Umlauf befindlichen Gründungsversion begreift, ist der Verständnishorizont der Cronographia Augustensium damit die kommunale Geschichtsschreibung Italiens mit ihren konkurrierenden Her––––––––– 144

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Vgl. etwa folgende Bemerkung von Bruni: History (wie Anm. 133), B. 1, Kap. 35: Romani quamvis armis subactos Etruscos, tamen, postquam se suaque in potestatem populi romani dedidere, honesto vocabulo socios appellarunt. In der Bibliothek seines Auftraggebers Sigismund Gossembrot findet sich, soweit sie bis heute bekannt ist, beispielsweise kein Exemplar von Brunis Historia Florentini populi. Vgl. den Katalog bei Joachimsohn: Bibliothek (wie Anm. 1), S. 258–268.

„Quod non sit honor Augustensibus si dicantur a Teucris ducere originem“

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kunftsmodellen. Der explizite Hinweis, dass sich Padua eines Ursprungs rühme, welchen Meisterlin für seine Heimatstadt als unehrenhaft ablehnt, weist darauf hin, dass es ihm mit seinem Nachweis autochthoner und von den Ursprüngen Roms unabhängiger Anfänge Augsburgs nicht nur darum ging, ein auf der Apenninenhalbinsel gebräuchliches und seiner Meinung nach attraktiveres Ursprungsmodell zu rezipieren und für eine überzeugendere Gründungsgeschichte Augsburgs produktiv zu machen, sondern dass er zudem darauf zielte, die Stadt zwischen Lech und Wertach der italienischen Stadtlandschaft beizuordnen und ihr in dieser eine ehrenhafte Position zu verschaffen. Damit eignet der Cronographia Augustensium letztlich eine weiterreichende Funktion, als nur überzeugenderer Ersatz für die Ursprungsversion des Küchlin zu sein. Vielmehr machte sie Sigismund Gossembrot und dessen frühhumanistische congregatio mit einer Geschichte ihrer Stadt bekannt, die sie mit einer Gruppe von Städten auf der Apenninenhalbinsel vergleichbar machte, welche ihre Ursprünge ebenfalls jenseits von Troja zu finden vermochten. Als Stadt, deren Gründung weit vor Rom lag, die dessen expansivem Drang hierauf Widerstand zu leisten vermochte und nach ihrer Eroberung durch die Römer eine gewisse ethnische Eigenständigkeit bewahren konnte, ließ sich Augsburg somit historisch auf eine Ebene mit den im Hinblick auf ihre Ursprungsvorstellungen innovativen Kommunen jenes Kulturraums stellen, der für die frühhumanistische Gemeinde am Lech Vorbild und Referenzraum des eigenen intellektuellen Selbstverständnisses war. Auf der anderen Seite ließ es sich gegenüber jener italienischen Stadt als überlegen erweisen, in der die Augsburger Frühhumanisten ihre erste Begegnung mit dem neuen humanistischen Paradigma hatten. Mit seiner Cronographia Augustensium schuf Sigismund Meisterlin also nicht weniger als eine Geschichte Augsburgs, aus der die humanistische Sodalität zwischen Lech und Wertach die Gewissheit ableiten konnte, dass ihre Heimatstadt historisch alle Voraussetzungen habe, um sich zu einem bedeutenden Zentrum des Humanismus zu entwickeln und dabei ihren Initiationsort Padua auch noch zu übertreffen.

Martin Ott

Konrad Peutinger und die Inschriften des römischen Augsburg Die „Romanae vetustatis fragmenta“ von 1505 im Kontext des gelehrten Wissens nördlich und südlich der Alpen

Im Jahr 1505 erschien im Verlag des Erhardt Ratdolt in Augsburg ein dünner Band im Druck. Er umfasste nur sieben, allerdings aufwendig gestaltete Blätter. Die ästhetisch ansprechende Capitalis antiker Inschriften bestimmt das Erscheinungsbild der großformatigen Seiten (s. Abb. 1, S. 277). Kurze Ortsangaben, deutlich kleiner gedruckt, geben Auskunft darüber, wo die insgesamt 23 römischen Steininschriften – denn um solche handelt es sich – zu finden waren: Sie stammten größtenteils aus der Stadt Augsburg, zum geringeren Teil aus dem Augsburger Umland, aus Lauingen, Kaufbeuren, Neuburg und Kempten. Es handelt sich also um eine epigraphische Schau des antiken Augsburg, publiziert unter dem Titel Romanae vetustatis fragmenta in Augusta Vindelicorum et eius dioecesi, auf Deutsch etwa „Bruchstücke des römischen Altertums in Augsburg und seiner Diözese“. 1 Urheber des Werkes ist Konrad Peutinger (1465–1547), zu dieser Zeit Augsburger Stadtschreiber und bereits eng verbunden mit König Maximilian I. 2 Peutinger war politischer Kopf auf kommunaler wie auf reichspolitischer Ebene und zählte unbestritten zu den Häuptern der humanistisch geprägten Gelehrtenrepublik in Süddeutschland. Er stand im Zentrum der Sodalitas Augustana oder Peutingeriana und war überregional mit bedeutenden Humanisten dieser Zeit vernetzt. 3 Sein Netzwerk war elitär; manch einem Gelehr––––––––– 1

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Konrad Peutinger: Romanae vetustatis fragmenta in Augusta Vindelicorum et eius dioecesi. Augsburg 1505. Digital in den Digitalen Sammlungen der Bayerischen Staatsbibliothek München: http://mdz10.bib-bvb.de/~db/bsb00005801/images/ sowie auf den Seiten der Herzog-August-Bibliothek Wolfenbüttel im Rahmen des Projekts „Archäologische Funde in der Frühen Neuzeit“: http://diglib.hab.de/drucke/288-hist-2f-4/start.htm. Neuere Forschung zu den Romanae vetustatis fragmenta: Johann Ramminger: The Roman inscriptions of Augsburg published by Conrad Peutinger. In: Studi umanistici piceni 12 (1992), S. 197– 210; Christoper S. Wood: Early archaeology and the book trade: The case of Peutinger’s Romanae vetustatis fragmenta (1505). In: Journal of Medieval and Early Modern Studies 28 (1998), S. 83–118; Martin Ott: Die Entdeckung des Altertums. Der Umgang mit der römischen Vergangenheit Süddeutschlands im 16. Jahrhundert. Kallmünz 2002 (Münchener Historische Studien. Abteilung Bayerische Geschichte 17). Zur Biographie ausführlich: Heinrich Lutz: Conrad Peutinger. Beiträge zu einer politischen Biographie. Augsburg 1958 (Abhandlungen zur Geschichte der Stadt Augsburg 9); Erich König: Peutingerstudien. Freiburg 1914 (Studien und Darstellungen aus dem Gebiet der Geschichte 9). Dazu etwa Ramminger: Roman inscriptions (wie Anm. 1); Jan-Dirk Müller: Konrad Peutinger und die Sodalitas Peutingeriana. In: Der polnische Humanismus und die europäi-

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ten, wie etwa dem bayerischen Historiographen Johannes Aventinus, blieb der Zugang zumindest zeitweise verwehrt. 4 Peutingers weit gefächerte Interessen zeigen sich nicht zuletzt aus seiner umfangreichen, in jüngster Zeit wieder erschlossenen Bibliothek. 5 Die Orientierung an der klassischen Antike war für einen Humanisten selbstverständlich; Peutinger befasste sich aber sehr früh auch mit den Realien des Altertums: Für ein Kaiserbuch, das von den Caesaren des Altertums bis in seine Gegenwart reichen sollte, sammelte er antike Kaisermünzen.6 In seinem Anwesen nahe dem Dom, das er 1515 erwarb, trug er im Lauf seines Lebens historische Steininschriften zumeist aus der römischen Antike zusammen und ließ sie gleich Spolien in die Mauern ein. 7 Nur wenige Schriften hat er tatsächlich publiziert, vor allem sein Kaiserbuch blieb unvollendet. Damit tritt in seinem Werk die Inschriftensammlung von 1505 (und eine Neuausgabe von 1520)8 in den Vordergrund. Der Druck von 1505 wirkt auf den ersten Blick unscheinbar und die Praxis, antike Monumente auf diese Weise, nahezu empirisch darzustellen, aus neuzeitlicher Perspektive erwartbar. Bei näherer Analyse und im Kontext des beginnenden 16. Jahrhunderts erweist sich das kleine Werk als innovatives Schlüsseldokument der süddeutschen Renaissancekultur, als ein Bindeglied zwischen dem süddeutschen Humanismus dieser Zeit und seinem italienischen Vorbild. Um dies zu zeigen, werden die Romanae vetustatis fragmenta zunächst auf der Grundlage einer Analyse von Aufbau und Inhalt im Kontext humanistischer Schriftlichkeit verortet. Dabei geht es um die literarische Tradition der Inschriftensylloge, die sich im Verlauf des 15. Jahrhunderts in der gelehrten Kultur Ita–––––––––

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schen Sodalitäten. Akten des polnisch-deutschen Symposions vom 15. bis 19. Mai 1996 im Collegium Maius der Universität Krakau. Hg. von Stephan Füssel. Wiesbaden 1997 (Pirckheimer-Jahrbuch für Renaissance- und Humanismusforschung 12), S. 167–186. Darauf deutet ein Brief Peutingers an Aventinus hin, publiziert in: Konrad Peutingers Briefwechsel. Hg. von Erich König. München 1923 (Veröffentlichungen der Kommission für Erforschung der Geschichte der Reformation und Gegenreformation. Humanistenbriefe 1), Nr. 114 (7. April 1513). Peutinger entschuldigt sich hier in einem kurzen Schreiben unverbindlich dafür, bislang auf zwei Briefe Aventins aus Zeitmangel nicht geantwortet zu haben. Die Bibliothek Konrad Peutingers. Edition der historischen Kataloge und Rekonstruktion der Bestände. Bd. 1: Die autographen Kataloge Peutingers. Der nicht-juristische Bibliotheksteil. Bd. 2: Die autographen Kataloge Konrad Peutingers. Der juristische Bibliotheksteil. Bearb. von Hans-Jörg Künast und Helmut Zäh. Tübingen 2003/2005; ders. und Helmut Zäh: Die Bibliothek von Konrad Peutinger: Geschichte, Rekonstruktion, Forschungsperspektiven. In: Bibliothek und Wissenschaft 39 (2006), S. 43–71. Siehe dazu Paul Joachimsen: Geschichtsauffassung und Geschichtschreibung in Deutschland unter dem Einfluß des Humanismus. Leipzig, Berlin 1910, S. 205–209; Renate von Busch: Studien zu deutschen Antikensammlungen des 16. Jahrhunderts. Tübingen 1973, S. 6f. Die heute noch in Vestibül und Hof des Peutingerhauses sichtbaren Inschriftensteine wurden allerdings zum Teil auch von Konrad Peutingers Nachfahren dort vermauert; die genaue Anordnung der Steine zur Zeit Peutingers ist nicht erschließbar. Zu dieser außergewöhnlichen Antikensammlung s. Busch: Studien (wie Anm. 6), S. 11f. S. unten S. 288 mit Anm. 59.

Konrad Peutinger und die Inschriften des römischen Augsburg

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liens herausgebildet hat. Diese Inschriftensylloge, und das kommt im nächsten Schritt zur Sprache, ist von der Zielrichtung her eben nicht einfach ein archäologisches oder epigraphisches Inventar. In Anlehnung an vermeintliche Vorbilder aus der Antike konzipiert, muss die Sylloge als historisch-topographisches Genre zur Erfassung städtischer Räume verstanden werden. Vor diesem Hintergrund lässt sich dann in einem dritten Schritt Peutingers Schrift in der gelehrten Kultur des 16. Jahrhunderts verorten.

Abb. 1: Konrad Peutinger: Romanae vetustatis fragmenta in Augusta Vindelicorum et euis dioecesi. Augsburg 1505, Bl. 2v–3r

Peutingers geradezu verherrlichende Darstellung antiker Inschriften aus Augsburg kennzeichnet einen Wandel in der Bewertung der römischen Zeit, die nun nicht mehr negativ, als Epoche der Fremdherrschaft in Süddeutschland, dargestellt wird. Peutinger streicht diese positive Umdeutung noch heraus. Er leitet die Inschriftensammlung mit einer Dedikation an den König – Peutinger spricht ihn als „Caesar“ an – ein. 9 In diesem Text geht es um die Wertschätzung für antike Monumente. An das Ende des Werkes setzt er eine acclamatio, ebenfalls an Maximilian I. gerichtet, die er seiner dreijährigen Tochter Juliana in den Mund legt: Demnach stand Augsburg seit den Tagen des Augustus den römischen Kaisern nahe, und diese Tradition reichte bis in die Gegenwart, bis zu Maximilian selbst. Die Zielrichtung ist klar: Augsburg sollte mit Blick auf die politische Konstellation im beginnenden 16. Jh. eine Stadt mit gerade römischer Ver––––––––– 9

Dies und die folgenden Textbelege aus Peutinger: Romanae vetustatis fragmenta (wie Anm. 1).

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gangenheit sein. Die Nähe der „Augusta“ zum Haupt des Imperium Romanum gewinnt so eine historische Tiefendimension, sie wird zurückgeführt bis an den Beginn des römischen Kaisertums, bis auf Augustus selbst. Dabei liegt es nicht von vornherein auf der Hand, dass Peutinger diese Botschaft gerade in Form einer Inschriftensammlung vermittelt, geben die publizierten Inschriften selbst doch keinerlei Hinweis auf die Ereignisgeschichte im römischen Augsburg, zumal in augusteischer Zeit. Vielmehr präsentiert Peutinger in scheinbar unsystematischer Folge Weihinschriften an pagane Gottheiten, Grabsteine für ansonsten unbekannte Bewohner der römischen Provinz, auch einmal einen Meilenstein. Hinzu kommt, dass Peutinger auf jeglichen Kommentar verzichtet: Weder werden die allfälligen Abkürzungen aufgelöst noch die immerhin authentischen Texte aus dem Altertum erläutert, interpretiert oder gar historiographisch ausgewertet. Worum ging es Peutinger also? Vordergründig scheint die besondere Ästhetik des Antiken bestimmend. Die Schrift wäre dann eine Folge prachtvoll inszenierter Inschriften des Augsburger Altertums, jede mit einer knappen Textzeile in Stadt oder Umland verortet. Aber gerade diese lakonisch kurzen, lateinischen Verortungen der Inschriftensteine, die das Werk rhythmisieren, öffnen der Interpretation einen anderen Weg: Die Romanae vetustatis fragmenta wurden bewusst als eine Folge von verorteten Inschriften gestaltet: Es beginnt mit der Lokalisierung Aput Aedem Sacrae maioris Ecclesiae Augustensis supra Coemiterium, es folgt eine Grabinschrift, die in Zweitverwendung im Dom verbaut wurde. Die nächste Lokalisierung verweist auf St. Ulrich, es folgt die Inschrift. So geht es weiter. Finden sich an ein und demselben Bauwerk mehrere Inschriften, so wird das zweite oder dritte Objekt mit der Lokalisierung in eodem loco angefügt – der Rhythmus des Werkes bleibt erhalten. Ganz ohne System sind die Inschriften freilich nicht angeordnet: Die ersten sieben von ihnen werden an geistlichen Institutionen in Augsburg verortet, vom Dom bis zur Heiligkreuzkirche. Es folgen acht Inschriften, die sich an profanen Orten in der Stadt befinden, beginnend mit einem Stein am Roten Tor. In dieser Reihe erscheinen zwei Steine aus Peutingers eigenem Haus und weiterer Bürgerhäuser. Den Abschluss bilden die acht Objekte aus dem Augsburger Umland. Entscheidend für die Struktur des Werkes sind also keineswegs die graphisch so herausstechenden Inschriften selbst, sondern die Verortungen der römischen Monumente in der Stadt und in der Umgebung von Augsburg. Diese spezielle Anordnung römischer Inschriften ist weder unbedacht gewählt noch wurde sie von Konrad Peutinger neu konzipiert. Vielmehr greift Peutinger auf ein Formular zurück, das zwar im deutschsprachigen Raum neu, in Italien jedoch seit Jahrzehnten gängig war. So hat etwa der Humanist und Architekt Fra Giovanni Giocondo aus Verona seit dem späten 15. Jahrhundert bis zu seinem Tod 1515 eine Reihe von Manuskripten anfertigen lassen, in denen er antike Inschriften dokumentierte. 10 Genauso wie bei Peutinger bestehen ––––––––– 10

Aufstellungen bei: James Wardrop: The script of Humanism. Oxford 1963, S. 27–29 mit Tafeln 22–25; Michael Koortbojian: Fra Giovanni Giocondo and his epigraphic methods.

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seine Syllogen stets aus einer Folge von Lokalisierung und Inschrift – mit einem Unterschied: Peutingers Druck besticht durch die antike Capitalis der Inschriftentexte. Die Lokalisierungen treten deutlich zurück. Giocondo hingegen setzt fast seinen gesamten Text, und dabei stets die Inschriften, in unauffällige Minuskeln: Wie Peutinger verwendet er rote Farbe für die Lokalisierungszeilen – ansonsten sind Verortung und Inschriftentext gleichrangig gestaltet.11 Die Inschrift tritt nicht als Objekt hervor, wie bei Peutinger, sondern ausschließlich als Text. Genau dieses Formular ist typisch für Inschriftensammlungen des 15. und frühen 16. Jahrhunderts aus Italien. Diese italienischen Syllogen liegen in überraschend großer Zahl vor – einen Zugang bieten die Bände des Corpus Inscriptionum Latinarum aus dem 19. Jahrhundert und aus jüngerer Zeit die digitale Version von Paul Oskar Kristellers Iter Italicum. 12 Regelmäßig sind diese Syllogen als rhythmisierte Listen gestaltet. Der Inschriftentext wird weder kommentiert noch interpretiert. Manche Syllogen geben die antiken Inschriften einzelner, fast immer italienischer Städte wieder. Andere, umfangreichere Sammlungen wie die Giovanni Giocondos sind topographisch, nach Städten gegliedert. Auch Inschriften aus dem ländlichen Raum sind stets einer Stadt zugeordnet. Die urbane Zugehörigkeit bestimmt stets die Lokalisierung der Objekte. Konrad Peutinger hielt sich also weitgehend an das übliche Formular der italienischen Inschriftensylloge des 15. Jahrhunderts, mit zwei bemerkenswerten Ausnahmen: Zum einen stellte er die Inschriften als graphisch ansprechende Objekte dar, zum anderen war er der erste, der eine Sylloge im Druck vorlegte. Allerdings besaßen auch viele handschriftliche Syllogen aus Italien den Charakter eines eigenständigen Werkes – von Giocondo etwa ist eine Widmung einer solchen Sammlung an Lorenzo de’ Medici überliefert. 13 Damit lässt sich festhalten: Die Romanae vetustatis fragmenta stehen im Kontext jener kulturellen Beziehungen zwischen Italien und Mitteleuropa an der Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert, in deren Rahmen sich Renaissance und Humanismus auch nördlich der Alpen fest etablierten. In der Tat zählte Konrad Peutinger ja zu jenen Gelehrten, die ihre humanistische Bildung in Italien erwarben. Von 1482 bis 1488 studierte er römisches Recht in Padua und Bologna.14 Wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass er sich auch auf den römischen Gelehrten Pomponio Leto als einen seiner Lehrmeister beruft.15 Von Pomponio Leto ist eine Inschriftensylloge zur Stadt Rom und der näheren –––––––––

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Notes on Biblioteca Marciana, MS Lat. XIV, 171. In: Kölner Jahrbuch 26 (1993), S. 49– 55; Ott: Entdeckung des Altertums (wie Anm. 1), S. 155, Anm. 558. Forschungsstand zu Giocondo: ebd., S. 108 mit Anm. 367. Hier wurden vor allem die Handschriften BAV Cod. Vat. lat. 5326 und BAV Cod. Borg. lat. 336 herangezogen, weitere Handschriften zur Kontrolle eingesehen. Digital unter www.itergateway.org/italicum, gesehen am 31.3.2008. S. auch Roberto Weiss: The Renaissance Discovery of Classical Antiquity. Oxford ²1988, S. 145–166. So in BAV, Cod. Borg. lat. 336, fol. 24r–26r und fol. 254r–257v. Dazu Koortbojian: Fra Giovanni Giocondo (wie Anm. 10), S. 49. Zum Bildungsgang: Die Bibliothek Konrad Peutingers I (wie Anm. 5), S. 9–12. Dazu Ott: Entdeckung des Altertums (wie Anm. 1), S. 107 mit Anm. 362.

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Umgebung überliefert, die auch in Süddeutschland nachweisbar ist.16 Diese Sammlung weist eine Reihe von Ähnlichkeiten zu den Romanae vetustatis fragmenta Konrad Peutingers auf. Das betrifft den regionalen Umfang – eine Stadt mit ihrem Umland –, das formale Gliederungsprinzip, aber auch die Verortung einzelner Inschriften im Wohnhaus des Autors. Lange vor Peutinger hatte nämlich auch Pomponio Leto antike Inschriften in seinem eigenen Haus in Rom vermauert und dies in seiner Sylloge vermerkt.17 Damit kommt die Sylloge des Pomponio Leto als unmittelbares Vorbild für Peutingers Werk in Betracht. Aber nicht nur Peutinger, auch der Drucker der Romanae vetustatis fragmenta, Erhardt Ratdolt, war eng mit der italienischen Kultur verbunden, hatte er doch jahrzehntelang in Venedig gewirkt. 18 Mit Konrad Peutingers Romanae vetustatis fragmenta wurde Augsburg also die erste Stadt nördlich der Alpen, deren antike Inschriften nach italienischer Manier in einer Sylloge dokumentiert und in der gelehrten Welt verbreitet wurden. Zu zeigen ist nun, was eine Inschriftensylloge aussagen soll. Auch die italienischen Gelehrten haben sich ja auf eine unkommentierte Folge von Lokalisierungen und Inschriftentexten beschränkt. Von der systematischen Erfassung antiker Realien, wie sie etwa bereits vor 1460 einem Flavio Biondo in seinem Werk Roma triumphans möglich war, 19 blieben gerade die epigraphischen Zeugnisse bis weit ins 16. Jahrhundert hinein ausgeschlossen. Als archäologisch-epigraphisches Inventar, als Quellensammlung für historische Auswertungen war eine Inschriftensylloge also nicht angelegt. Um die intendierte Aussage einer Sylloge zu erfassen, ist die genaue Betrachtung einer der frühesten bekannten Inschriftensammlungen des Humanismus hilfreich. Verfasser ist der Florentiner Humanist Poggio Bracciolini, der zu Beginn des 15. Jahrhunderts nach Rom kam und dort sicher vor 1431 eine Inschriftensylloge zur Stadt Rom erstellte. 20 Diese Schrift ist in zwei Abschnitte gegliedert. Nur der zweite Abschnitt enthält ausschließlich antike Inschriften, ––––––––– 16 17 18 19

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Württembergische Landesbibliothek Stuttgart, Cod. Hist. 80 25 in der Sammlung des Thomas Sclaricinus. Württembergische Landesbibliothek Stuttgart, Cod. Hist. 80 25, fol. 58v–59r: „in aedibus Pomponii“. S. dazu Ott: Entdeckung des Altertums (wie Anm. 1), S. 111f. Christoph Reske: Erhardt Ratdolts Wirken in Venedig und Augsburg. In: PirckheimerJahrbuch für Renaissance- und Humanismusforschung 18 (2003), S. 25–43. Zitiert wird gewöhnlich die Ausgabe: Flavius Blondus [= Flavio Biondo]: Roma triumphans. Basel 1531. Zu Flavio Biondo zuletzt – im Zusammenhang mit Editionsprojekten – Anne Raffarin-Dupuis: Introduction. In: Flavio Biondo: Rome restaurée. Roma instaurata. Tome 1, Livre 1 – Liber I. Édition, traduction, présentation et notes par Anne Raffarin-Dupuis. Paris 2005 (Les Classiques des Humanisme), S. IX–CXIX und Biondo Flavio: Italy Illuminated. Vol. I: Books I–IV. Hg. von Jeffrey A. White. Cambridge (Mass.), London 2005 (The I Tatti Renaissance Library 20). Die Datierung der Sylloge folgt Peter Spring: The topographical and archaeological study of the City of Rome. 1420–1447. Edinburgh 1972, S. 32 und Iiro Kajanto: Poggio Bracciolini and Classical Epigraphy. In: Arctos 19 (1985), S. 19–40, hier S. 32. Die folgende These ausführlich bei Ott: Entdeckung des Altertums (wie Anm. 1), S. 134–151. Zur Textüberlieferung der Sylloge Poggiana: ebd., S. 136.

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die im 15. Jahrhundert noch sichtbar waren.21 Der erste Abschnitt hingegen gibt vor allem Inskriptionen wieder, die zu dieser Zeit längst verloren waren und die Poggio Bracciolini aus einer weit älteren Handschrift kopierte, wie noch zu zeigen sein wird. Das Formular des zweiten Abschnitts, das ist Poggios eigenständige Sammlung, die eigentliche Sylloge Poggiana, entspricht dem der späteren Syllogen. In der Sylloge Poggiana wurden gezielt solche Inschriften versammelt, die an herausragenden antiken Gebäuden der Stadt Rom angebracht waren oder mit solchen in Verbindung standen, so das Kapitol und einige Bauwerke in dessen Umgebung, der Vatikanische Obelisk, Stadttore, Aquaedukte, Triumphbögen.22 Aus der Fülle der epigraphischen Zeugnisse, die im Rom des 15. Jahrhunderts noch sichtbar waren, hat Poggio Bracciolini also eine gezielte Auswahl vorgenommen, die sich nicht primär an der Qualität der Inschriften selbst orientierte, sondern vor allem von der Prominenz der Orte bestimmt war, an denen sich die Steine befunden haben. Dieser Auswahlmodus findet sich auch im ersten Teil von Poggios Schrift, eben jenem, den er nicht nach eigenem Augenschein gestaltet haben kann, weil die Inschriften größtenteils im 15. Jahrhundert nicht mehr sichtbar waren. Poggio Bracciolini hat hier, das ist in der altertumskundlichen Forschung seit langem bekannt, von der Forschung zu Renaissance und Humanismus aber bis in die jüngste Zeit nicht beachtet und weitergedacht worden, die bis heute einzige bekannte Sammlung antiker Inschriften abgeschrieben – und ihre Struktur auf seine eigene Sylloge übertragen –, die noch weit vor die Zeit der Humanisten zurückreicht. Es handelt sich um eine Inschriftensylloge zur Stadt Rom, die heute aus dem sogenannten Codex Einsidlensis aus dem Schweizer Kloster Einsiedeln bekannt ist. 23 Der Codex 326 der Einsiedler Klosterbibliothek beinhaltet drei Texte zur Topographie der Stadt Rom, die alle in der Zeit um 800 niedergeschrieben wurden. 24 Am Beginn steht eben jene Inschriftensylloge, die Poggio Bracciolini wieder aufgegriffen hat. Es folgen Itinerare, also Wegbeschreibungen, durch das Stadtgebiet sowie zuletzt eine Beschreibung der Stadtmauer Roms. Auffallend ist dabei zweierlei: Zum einen liegt die Einsiedler Inschriftensammlung in ihrer frühmittelalterlichen Niederschrift bereits in genau dem Formular vor, das mehr als ein halbes Jahrtausend später für die Humanisten verbindlich wurde. Auch im Codex Einsidlensis folgen stets rubrizierte Lokalisierungen und Inschriftentexte aufeinander. Zum anderen steht die Inschriftensammlung in einem topographischen Kontext: Die stadtrömischen Itinerare und ––––––––– 21

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So bereits Wilhelm Henzen und Giovan Battista De Rossi: Index Auctorum. In: Inscriptiones Urbis Romae Latinae. Hg. von Eugen Bormann und Wilhelm Henzen. Berlin 1876 (Corpus Inscriptionum Latinarum VI, 1), S. IX–LXVI, hier S. IX. Zum Aufbau der Sylloge Poggiana zuletzt Kajanto: Poggio Bracciolini (wie Anm. 20), S. 22f. Henzen, De Rossi: Index Auctorum (wie Anm. 21), S. IX. Zum Codex Einsidlensis grundlegend Franz Alto Bauer: Das Bild der Stadt Rom in karolingischer Zeit. Der Anonymus Einsidlensis. In: Römische Quartalschrift 92 (1997), S. 190–228. Edition: Die Einsiedler Inschriftensammlung und der Pilgerführer durch Rom (Codex Einsidlensis 326). Facsimile, Umschrift, Übersetzung und Kommentar. Hg. von Gerold Walser. Stuttgart 1987 (Historia Einzelschriften 53).

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die Stadtmauerbeschreibung, mit denen sie verknüpft ist, sind typisches topographisches Schrifttum des römischen Altertums – für die Einsiedler Itinerare hat das Franz Alto Bauer schlüssig belegt.25 Insgesamt ist ja davon auszugehen, dass antike Raumerfassung, dass die Darstellung von Städten und Landschaften im Altertum weniger in Karten und Plänen, sondern vielmehr in topographischen Texten und da gerade in Listen unterschiedlicher Gestaltung ausgeführt wurde. Der Althistoriker Kai Brodersen hat diesen Sachverhalt in den 1990er Jahren nachgewiesen. 26 Entsprechend dicht ist die Überlieferung an solchem topographischen Schrifttum, wenn auch in mittelalterlicher Transformation, etwa als typischer Bestandteil der Mirabilienliteratur. Den Humanisten des 15. Jahrhunderts waren derlei topographische Schriften keineswegs unbekannt.27 Ganz analog zu Poggios eigener Sylloge bringt auch die Einsiedler Sammlung nur Inschriften an bedeutenden Bauten: der Vatikanische Obelisk (diese Inschrift wiederholt Poggio in seiner eigenen Sylloge), die Via Appia, der Circus Maximus, das Septizodium und andere. 28 Das alles ergibt genau dann einen Sinn, wenn die Sammlungen genau andersherum zu lesen sind: nicht als Zusammenstellung von Inschriften, die an verschiedenen Orten lokalisiert sind, sondern als Folge bedeutender Monumente, an denen sich Inschriften befinden. Damit stehen sowohl die Einsiedler Inschriftensammlung als auch die Sylloge Poggiana in einer Tradition urbaner Topographie, die den Stadtraum über die herausragenden Bauten definiert. Diese Tradition wurzelt im Altertum und wirkte in Rom zumindest bis ins 15. Jahrhundert fort, mehr noch: Die Aufzählung oder auch bildliche Darstellung herausragender Monumente war in der Frührenaissance noch gängige Praxis der Rombeschreibung.29 Damit lässt sich der Entstehungsprozess der Inschriftensylloge nachvollziehen: Poggio Bracciolini sah die Einsiedler Inschriftensammlung als singuläres Exemplar einer literarischen Gattung des Altertums an, die im Kontext der urbanen Topographie stand, sich also zur Deskription antiker Stadträume eignete. Wie in der humanistischen Praxis gängig, imitierte er das vermeintlich antike Vorbild – indem er das Formular der Einsiedler Inschriftensammlung übernahm – und supplementierte die Vorlage mit einer eigenen Ergänzung, eben der Sylloge Poggiana mit Inschriften, die er selbst an bedeutenden Monumenten Roms vorfand. Die humanistisch geprägte Inschriftensylloge ist folglich eine literarische Tradition mit topographischer Zielrichtung. Sie stellt eine Verbindung her zwischen einer Stadt und ihrer römisch-antiken Vergangenheit und erfüllt so eine Brückenfunktion zwischen den Epochen. Die Augsburger Inschriftensylloge Konrad Peutingers beschreibt mithin die Stadt Augsburg in einem Darstellungsmodus, der sie als antike civitas aus––––––––– 25 26 27 28 29

Bauer: Bild der Stadt Rom (wie Anm. 24). Kai Brodersen: Terra cognita. Studien zur römischen Raumerfassung. Hildesheim u. a. 1995 (Spudasmata 59). Ott: Entdeckung des Altertums (wie Anm. 1), S. 146–148. Ebd., S. 149. Ebd., S. 150f. und S. 161–163.

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weist.30 Die römischen Inschriften verankern die – zumeist ja bedeutenden – Bauwerke, in oder an denen sie zu sehen sind, in einer als Text gefassten Stadtkarte im vermeintlich antiken Gewand. So verstanden ergibt nun auch die Anordnung der Objekte mit zunächst den geistlichen, dann den profanen Bauwerken einen Sinn: Gerade die systematische Gliederung nach bestimmten Typen von Bauten ist ja in den antiken Topographien der Regelfall.31 Zuletzt gewinnt die Inschriftensylloge der Romanae vetustatis fragmenta, wird sie als Topographie interpretiert, auch den Anschluss an das Nachwort, an die acclamatio der kleinen Juliana für den König. Denn auch dort geht es ja darum, Augsburg als Stadt der römischen Antike zu präsentieren. Selbst die Ausweitung des Beobachtungsraumes auf das Augsburger Umland passt in dieses Bild: In den italienischen Syllogen des 15. Jahrhunderts finden sich vielfach im Anhang zu einer Sammlung städtischer Inschriften auch Objekte, die in agro, im Landgebiet, lokalisiert werden, das der Stadt zugeordnet ist. Seit dem Altertum bestand ja die mediterrane civitas nicht nur aus dem eigentlich urbanen Raum, sondern schloss immer auch das umliegende Landgebiet mit ein. Da Augsburg nicht mit einem adäquaten Territorium aufwarten konnte, insofern also dem italienisch-antiken Vorbild einer civitas nicht gerecht wurde, setzte Peutinger, um die Vorgaben des Modells zu erfüllen, an dieser Stelle das kirchliche Äquivalent ein und verortete etwa Kempten in Aug. Dioeces., in der Diözese Augsburg.32 Damit war dem Formular Genüge getan und Augsburg als vollständige civitas des Altertums beschrieben. Adolfo Tura hat jüngst eine Beziehung zwischen Romanae vetustatis fragmenta und einem um zwei Jahre älteren Druck aufgedeckt, einer Mailänder Ausgabe von P. Victoris de regionibus urbis Romae libellus aureus von 1503 aus dem Verlag des Giovann’Angelo Scinzenzeller. 33 Die beiden Werke vereint neben einem ähnlichen Umfang und gewissen formalen Übereinstimmungen auch der Sachverhalt, dass einige wenige Auszeichnungsexemplare auf Pergament gedruckt wurden. Es ist nicht auszuschließen, dass dieser Mailänder Druck einer Regionenbeschreibung Roms den Anstoß gegeben hat, auch für Augsburg eine entsprechende antike Topographie vorzulegen – in Ermangelung einschlägiger antiker Schriftquellen in der Gestalt einer Inschriftensylloge als Genre der historischen Topographie. Welche Wirksamkeit hatte Peutingers Sylloge im 16. Jahrhundert? Wie ist sie in der gelehrten Kultur zu verorten? Diese Fragen lassen sich auf drei Ebenen diskutieren. Da ist zum einen die intendierte Aussage der Schrift: Wie hat sich die Sylloge selbst, wie haben sich die römischen Inschriften Augsburgs und ––––––––– 30 31 32

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Ebd., S. 165–168 (auch zum Folgenden). Ebd., S. 146–148. Peutinger: Romanae vetustatis fragmenta (wie Anm. 1), fol. 7v. Beispiele für Beschreibungen des Umlandes in humanistischen Städtedarstellungen bei Gernot Michael Müller: Die ‚Germania generalis‘ des Conrad Celtis. Studien mit Edition, Übersetzung und Kommentar. Tübingen 2001 (Frühe Neuzeit 67), S. 294–299. Adolfo Tura: L’esemplare parigino Rés. Vélins 718 dei „Romanae vetustatis fragmenta“ di Conrad Peutinger. In: Gutenberg-Jahrbuch 82 (2007), S. 111–114.

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die Qualität der Stadt als römische civitas verbreitet? Hier spielte das Medium des Drucks eine entscheidende Rolle. Die Verbreitung war nicht allein an das aufwendige Kopieren einer Handschrift gebunden, das gedruckte Werk ist ästhetisch ansprechend, und es blieb als Druck in seinem Zusammenhang intakt. Die beiden Ausgaben von Peutingers Sylloge von 1505 und von 1520 finden sich noch heute in einer Vielzahl europäischer Bibliotheken, zum Teil unter den regulären Druckschriften, 34 zum Teil aber auch in Gelehrtennachlässen des 16. Jahrhunderts, oft inmitten handschriftlicher Inschriftensyllogen.35 Damit liegt nahe, dass Peutingers Sylloge benutzt wurde und als Autorität anerkannt war. Sogleich nach dem Erscheinen 1505 wurden die Romanae vetustatis fragmenta zudem von bedeutenden Gelehrten der Zeit rezipiert und in ihre eigenen Werke integriert. Giovanni Giocondo hat die Augsburger Sylloge unter dem Titel „Augustae“ gleichrangig in seine Sammlung mediterraner Inschriften eingearbeitet. 36 Besser ließ sich Peutingers Intention nicht realisieren: Bei Giocondo steht Augsburg als römische civitas neben den vielen civitates Italiens, deren römisch-antikes Vorleben ja nicht im Zweifel stand. Ganz anders ist der Befund im Werk des Nürnberger Gelehrten Hartmann Schedel, dessen Interesse sowohl an Inschriften als auch an Geographie wohlbekannt ist.37 Schedels epigraphische Aufzeichnungen – die sich allerdings nicht auf die Antike beschränken, sondern auch jüngere Inschriften einschließen – reichen bis in die 1460er Jahre zurück, er gilt mithin als frühester Sammler und Dokumentar von Inschriften in Deutschland.38 Wie Peutinger fand Schedel seine Inspiration im Kontakt mit der italienischen Gelehrsamkeit, hatte er doch mehrere Jahre in Padua studiert. 39 Auch Schedel übernahm einen Großteil der Augsburger Sylloge Konrad Peutingers vermutlich unmittelbar nach ihrer Publikation in sein eigenes Werk: Sie erscheinen im bekannten Liber antiquitatum cum epigrammatibus, einer prunkvollen Handschrift, Quintessenz der historiographischen Bestrebungen des ––––––––– 34 35

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Die besonders aufwendig auf Pergament gedruckten Exemplare nennt Tura ebd., S. 111. Beide Ausgaben von Peutingers Sylloge finden sich etwa in BAV, Cod. Vat. lat. 5237, einem überwiegend handschriftlichen Codex mit antiken Inschriften aus dem Nachlass des epigraphisch interessierten Gelehrten Aldo Manuzio d. J., s. dazu Ott: Entdeckung des Altertums (wie Anm. 1), S. 215f. Ott: Entdeckung des Altertums (wie Anm. 1), S. 109–111. Zu Schedels historisch-geographischen Interessen zuletzt G. M. Müller: ‚Germania generalis‘ (wie Anm. 32), S. 283–285. Franz Josef Worstbrock: Hartmann Schedels ‚Liber antiquitatum cum epitaphiis et epigrammatibus‘. Zur Begründung und Erschließung des historischen Gedächtnisses im deutschen Humanismus. In: Erkennen und Erinnern in Kunst und Literatur. Kolloquium Reisensburg, 4.–7. Januar 1996. Hg. von Dietmar Peil u. a. Tübingen 1998, S. 215–243, Nachdruck in: Franz Josef Worstbrock: Ausgewählte Schriften. Hg. von Susanne Köbele und Andreas Kraß. Bd. 2: Schriften zur Literatur des Humanismus. Stuttgart 2005, S. 311–338. Für die vorliegende Studie wurde der Nachdruck von 2005 herangezogen. Francesca Parisi: Contributi per il soggiorno Padovano di Hartmann Schedel. Una silloge epigrafica del codice latino Monacense 716. In: Quaderni per la storia dell’Università di Padova 32 (1999), S. 1–76, hier S. 1–9 mit Dokumentation des Forschungsstandes.

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Gelehrten und in den Jahren 1502 bis 1505 in einzelnen Teilen vollendet.40 Der topographisch strukturierte Band behandelt die Stadt Rom, weitere italienische Städte41 und Städte des nordalpinen Raumes. Peutingers Inschriftensammlung war Schedel offenbar erst nach der Fertigstellung des Werkes 1505 zugänglich; die Inschriften wurden nachträglich in das fertige Manuskript eingefügt.42 Schedel brachte den Großteil der Augsburger Inschriften ergänzend in eine kurze Stadtgeschichte Augsburgs im hinteren, dem nordalpinen Raum gewidmeten Teil des Buches ein.43 Die übrigen Inschriften der Romanae vetustatis fragmenta wurden an verschiedenen Stellen im vorderen Teil des Liber antiquitatum inmitten eines italienisch-mediterranen Kontexts verzeichnet.44 Anders als Giovanni Giocondo bildete Schedel also den Werkcharakter, den inneren Zusammenhang der Augsburger Inschriftensammlung nicht ab, ihm ging es letztlich nur darum, die einzelnen Inschriften aus den Romanae vetustatis fragmenta vollständig aufzunehmen. Die Inschriften aus Peutingers Sylloge, die in die Stadtgeschichte Augsburgs eingefügt sind, stehen dort mitsamt ihren Lokalisierungen jeweils an den oberen und unteren Rändern der Seiten, ohne dass Schedels Text auf sie eingeht, ohne nähere Erläuterung, von der Abfolge her inkonsequent, die nachträgliche Einfügung wird nicht verborgen. Damit wurde die Geschichte Augsburgs aus der Folge der historischen Städtebiographien dieses Abschnitts herausgehoben. Ansonsten griff Schedel nämlich beliebig auf unterschiedlichstes epigraphisches Material aus diesen Städten zurück, zumeist auf mittelalterliche Inschriften. 45 Solche „modernen“ Inskriptionen finden sich in ––––––––– 40

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BSB München, Clm 716. Maßgeblich dazu: Worstbrock: ‚Liber Antiquitatum‘ (wie Anm. 38), S. 327f.; Parisi: Soggiorno Padovano (wie Anm. 39), S. 7–25. Zusammenfassend zuletzt Wolfgang-Valentin Ikas: Liber Antiquitatum cum Epitaphiis et Epigrammatibus. In: Kulturkosmos der Renaissance. Die Gründung der Bayerischen Staatsbibliothek. Hg. von der Bayerischen Staatsbibliothek. Wiesbaden 2008, S. 182f. Edition des Abschnitts zu Padua, „De antiquitate urbis Patavine…“: Parisi: Soggiorno Padovano (wie Anm. 39), S. 26–76. Der Abschnitt ist nicht unbedingt repräsentativ, da Schedel seinem ehemaligen Studienort besondere Aufmerksamkeit zukommen ließ. Das stellt Worstbrock: ‚Liber Antiquitatum‘ (wie Anm. 38), S. 320, Anm. 31 für fol. 30v fest. BSB München, Clm 716, fol. 315r–317r. Der nordalpine Raum erscheint im zweiten, nach Worstbrock im Jahr 1505 fertiggestellten Teil des Werkes, „Opus de antiquitatibus cum epigrammatibus inclite Germanie“, BSB Müchen, Clm 716, fol. 298r–344v. Worstbrock: ‚Liber Antiquitatum‘ (wie Anm. 38), S. 324 und 335–337. BSB München, Clm 716, fol. 30v und fol. 66v–68v, dabei auf fol. 67r unten bis fol. 68r oben unterbrochen von nachantiken bzw. griechischen Inschriften, die mit Peutingers Sylloge nicht im Zusammenhang stehen. So auch im edierten Abschnitt zu Padua im ersten Teil von Schedels ‚Liber antiquitatum‘: Parisi: Soggiorno Padovano (wie Anm. 39), S. 26–76. Parisis Charakterisierung dieses Abschnitts als „silloge epigrafica“ im Titel ihres Aufsatzes enspricht insofern nicht dem hier vorgeschlagenen Gebrauch des Begriffs „Sylloge“; auch die formale Gestaltung des Abschnitts mit längeren erzählenden Textteilen weicht von der Norm der Sylloge ab. Für den nordalpinen Raum dokumentiert ein jüngst edierter Ausschnitt des Kapitels zur Stadt Nürnberg, dass Schedel sogar zeitgenössische Inschriften aufgenommen hat, hier ein Epitaph für den Abt des Nürnberger Klosters St. Egidien: Francesca Parisi: L’abate Johannes Radenecker (1441–1504) nel ‚Liber de antiquitatibus‘ di Hartmann Schedel. In: Margarita

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den italienischen Syllogen des 15. Jh. äußerst selten, passten sie doch nicht in das Konzept dieser literarischen Tradition. Dieser Befund zieht sich durch Schedels Liber antiquitatum. Immer wieder stehen antike, römische und griechische Inschriften neben hebräischen und lateinischen aus dem Mittelalter. Schedel hat die epigraphische Notation der gelehrten Kultur Italiens, die topographische Sylloge nicht durchgängig angewandt. In diese Richtung weisen auch weitere Handschriften, in denen er sein epigraphisches Material ursprünglich zusammengestellt hatte. 46 So entsprechen die epigraphischen Zusammenstellungen im Münchener Codex Clm 369 nur scheinbar den Regeln einer rhythmisierten Sylloge antiker Inskriptionen nach italienischem Vorbild:47 Die Inschriften gehen überwiegend auf das Mittelalter zurück. An die Stelle von formal korrekten Lokalisierungen treten vielfach freie Erläuterungen, die zum Teil auf den Inhalt der Inschrift rekurrieren, etwa wird angegeben, um wessen Grabstein es sich handelt. Die Syntax dieser Überschriften stimmt nur ausnahmsweise mit dem Formular der Sylloge überein; in der Anordnung der Objekte ist keine topographische Logik erkennbar. Schedels epigraphische Praxis steht also nicht in der Tradition der humanistischen Inschriftensylloge Italiens, von der er sich allenfalls inspirieren ließ. Der Vergleich zwischen Peutingers intentional klarer und formal einwandfreier Sammlung und Schedels epigraphischem Schaffen erbringt klare Unterschiede: Der Augsburger Humanist stand dem italienischen Vorbild deutlich näher als der Nürnberger Gelehrte. Für Schedel entspricht das dem Befund Gernot Michael Müllers zu Hartman Schedels berühmter Weltchronik von 1493: Auch hier hatte Schedel den italienischen Vorbildern seiner Konzeption, in diesem Fall etwa der Italia illustrata Flavio Biondos, nur unzureichend entsprechen können, indem die intendierte Verbindung zwischen Geographie und chronikalisch vorgetragener Geschichte misslang; bereits fünf Monate nach dem Erscheinen der Weltchronik übernahm Conrad Celtis – hinter dem Rücken Schedels – den Auftrag zu einer überarbeiteten Neuauflage (die dann unvollendet blieb).48 Für Augsburg und den bayerisch-schwäbischen Raum hingegen war Peutingers Sylloge geradezu eine Initialzündung für die Entdeckung der provinzialrömischen Antike. Im Augsburg benachbarten Herzogtum Bayern griff der spätere Landeshistoriograph Johannes Aventinus – der ja später vergeblich Briefkontakt zu Peutinger suchen sollte – rasch nach dem Erscheinen der Romanae vetustatis fragmenta die Ideen Konrad Peutingers auf und begann damit, römerzeitliche Inschriften innerhalb der bayerischen Grenzen zu verzeichnen.49 Auch Aventinus ging es dabei um die historische Raumerfassung: In seinen Werken zur Geschichte Bayerns präsentierte er die Sammlung in einem Kapitel zur To––––––––– 46 47 48 49

amicorum. Studi di cultura europea per Agostino Sottili. Hg. von Fabio Forner u. a. Bd. 2. Mailand 2005 (Biblioteca erudita 26, 2), S. 847–856, hier S. 855f. Aufstellung bei Worstbrock: ‚Liber Antiquitatum‘ (wie Anm. 38), S. 327, Anm. 53. BSB München, Clm 369, fol. 96r–103v, 107r–110v. G. M. Müller: ‚Germania generalis‘ (wie Anm. 32), S. 286–289. Ott: Entdeckung des Altertums (wie Anm. 1), S. 117–122.

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pographie des römerzeitlichen Bayern. Der fortlaufende Text ist immer wieder von kurzen, dabei im Formular korrekten Inschriftensyllogen unterbrochen. Hatte Peutinger die Deskription des antiken Stadtraumes anhand seiner Inschriften im Sinn, so zielte Aventin darauf ab, eine ganze historische Landschaft der Antike in ihren epigraphischen Zeugnissen darzustellen.50 An diese Idee knüpften in den 1530er Jahren zwei Gelehrte der Universität Ingolstadt an, Bartholomäus Amantius51 und der Mathematiker und Kosmograph Petrus Apianus. 52 Ihre Inscriptiones sacrosanctae vetustatis non illae quidem Romanae sed totius fere orbis, 53 gedruckt 1534, sind der erste Versuch, sämtliche bekannten Inschriften des Altertums in einem einzigen Werk zu vereinen. Konrad Peutinger stand dem Werk als Mentor zur Seite. Auf 512 Seiten fassten Amantius und Apianus eine Vielzahl von Inschriftensammlungen verschiedener Autoren zu einer übergreifenden Sylloge zusammen. Auf diese Weise konnten sie das römische Weltreich weitgehend über die Inschriften erfassen – selbst Afrika und Asien sind durch einige wenige Stücke vertreten. Die Inschriftensylloge wächst so zur Kosmographie. 54 Einen besonderen Akzent für die Auseinandersetzung mit den antiken Inschriften der Stadt Augsburg setzte am Ende des 16. Jahrhunderts der Augsburger Gelehrte Marcus Welser. In seinen Antiqua quae Augustae Vindelicorum extant Monumenta, die Welser 1594 seiner Geschichte Augsburgs beigab,55 erweiterte er nicht nur Peutingers Sammlungen Augsburger Inschriften, sondern machte nun auch die epigraphischen Texte selbst – in Anlehnung an die epigraphische Forschung Italiens und der Niederlande seit der Mitte des 16. Jahrhunderts – für die Forschung zur Augsburger Stadtgeschichte nutzbar (s. Abb. 2, S. 289). Hatte bereits Johannes Aventinus in seinem Spätwerk damit begonnen, Inschriftentexte als Schriftquellen zu nutzen,56 so vervollkommnete Welser nun die historiographische Verwendung dieser Zeugnisse. Er erschloss die Kulturgeschichte des römerzeitlichen Augsburg aus diesem Material. Welsers reich kommentierte Inschriftensammlung ist keineswegs mehr topographische Sylloge, sondern eine modern anmutende Quellensammlung, ein erstes archäologisches Inventar der Stadt Augsburg. 57 Mit Peutingers Sammlung gemeinsam ist ––––––––– 50 51

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Ebd., S. 173f. Zur Biographie: Gernot Ludwig: Bartholomäus Amantius (1505–1555). Ein gelehrter Jurist des 16. Jahrhunderts. In: Jahrbuch des Historischen Vereins Dillingen an der Donau 103 (2002), S. 127–135. Zur Biographie noch immer einschlägig: Siegmund Günther: Peter und Philipp Apian. Zwei deutsche Mathematiker und Kartographen. Osnabrück 1985 (Nachdruck der Ausgabe Prag 1882). Petrus Apianus und Bartholomäus Amantius: Inscriptiones sacrosanctae vetustatis non illae quidem romanae sed totius fere orbis. Ingolstadt 1534. Zu diesem Werk: Ott: Entdeckung des Altertums (wie Anm. 1), S. 174–179. Marcus Welser: Antiqua quae Augustae Vindelicorum extant Monumenta. In: Marcus Welser: Rerum Augustanarum Vindelicarum libri octo. Venedig 1594, S. 199–274. Alois Schmid: Johannes Aventinus und die Realienkunde. In: Neue Wege der Ideengeschichte. Festschrift für Kurt Kluxen zum 85. Geburtstag. Hg. von Frank-Lothar Kroll. Paderborn u. a. 1997, S. 81–101, hier S. 96–98. Ott: Entdeckung des Altertums (wie Anm. 1), S. 223–229.

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Welsers Werk die herausgehobene Stellung in der zeitgenössischen europäischen Wissenschaftslandschaft.58 Augsburg und Süddeutschland wurden, und das ist die dritte Ebene, auf der Peutingers Sylloge wirksam war, für ein ganzes Jahrhundert zu einer der europaweit führenden Regionen im Umgang mit antiken Inschriften. Das ist eine nicht zu unterschätzende Qualität in einem kulturellen Umfeld, das nach wie vor von Antikebegeisterung bestimmt war. Peutingers Romanae vetustatis fragmenta waren hier an so unterschiedlichen Orten wie Mainz und Rom prägend: In Mainz erschien 1520 die noch prachtvollere und um einige Inschriften erweiterte Neuausgabe von Peutingers Sammlung unter dem Titel Inscriptiones vetustae Romanae et earum fragmenta in Augusta Vindelicorum et eius dioecesi. 59 Die genaue Zeichnung der Inschriftensteine in dieser Ausgabe wirkt bis heute bestechend. Im gleichen Jahr legte Johannes Huttich eine gleichartige Sylloge für die Stadt Mainz vor – damit trat das Rheinland erstmals mit epigraphischen Drucken in Erscheinung.60 Erst um diese Zeit, im Jahr 1521, erschien auch für die Stadt Rom eine Inschriftensammlung im Druck. Die von Jacopo Mazzocchi ausgeführten Epigrammata Antiquae Urbis, eine Inschriftensylloge zur Stadt Rom, ist vielleicht die erste gedruckte Sammlung in Italien überhaupt. Die Sylloge wurde analog zu den nordalpinen Vorbildern des epigraphischen Publizierens gestaltet, ohne dabei die Präzision von Peutingers Werken zu erreichen.61 Die ursprüngliche Richtung des kulturellen Einflusses, von Italien in Richtung Norden, hat sich also in diesem spezifischen Aspekt der Renaissancekultur gedreht. Obwohl die Objekte, um die es ging, also die Überreste aus dem klassischen Altertum, nördlich der Alpen längst nicht in gleichem Umfang und in der gleichen Qualität gegeben waren wie in Italien, so setzte hier doch der Norden entscheidende Akzente und Italien folgte nach. Für den Umgang mit den Relikten aus der römischen Antike kann diese enge Verbindung mit der gelehrten Kultur Italiens als Proprium des bayerisch-ostschwäbischen Humanismus um die Zentren Augsburg und Ingolstadt gelten – ––––––––– 58

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Zu Welsers herausragender Rolle in der epigraphisch arbeitenden Altertumsforschung des 16. Jahrhunderts jetzt grundlegend: William Stenhouse: Reading inscriptions and writing Ancient History. Historical scholarship in the late Renaissance. London 2005 (Bulletin of the Institute of Classical Studies. Supplement 86), S. 140–148. Konrad Peutinger: Inscriptiones vetustae Romanae et earum fragmenta in Augusta Vindelicorum et eius dioecesi, cura et diligencia Chuonradi Peutinger Augustani iurisconsulti antea impressae, nunc denuo revisae castigatae simul et auctae. Mainz 1520. S. dazu Ott: Entdeckung des Altertums (wie Anm. 1), S. 103f. Johannes Huttich: Collectanea antiquitatum urbe, atque agro Moguntino repertarum. Mainz 1520. ND Mainz 1977 mit Beiheft: Walburg Boppert: Johann Huttich, Leben und Werk; dazu Busch: Studien (wie Anm. 6), S. 2. Iacobus Mazochius: Epigrammata antiquae urbis. Rom 1521. Dazu: Archäologie der Antike. Aus den Beständen der Herzog-August-Bibliothek, 1500–1700. Ausstellung im Zeughaus der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel vom 16. Juli bis 2. Oktober 1994. Ausstellungskatalog. Hg. von Margaret Daly Davies. Wiesbaden 1994 (Ausstellungskataloge der Herzog August Bibliothek 71), S. 86; Weiss: Renaissance Discovery (wie Anm. 12), S. 158f.

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zumindest im Vergleich mit Hartmann Schedel als Vertreter des Nürnberger Humanismus. Im Unterschied zu Schedel verankerte sich Peutinger mit den Romanae vetustatis fragmenta unmittelbar in einem gelehrten Diskurs der italienischen Renaissancekultur. Peutinger suchte auf diesem Weg für Augsburg Anschluss an die transnationale Ökumene des antiken Imperium Romanum. Seine Bezugsebene war das kaiserliche Reich, sowohl das historische als auch das zeitgenössische. Das Fortleben von Peutingers Ideen im 16. Jahrhundert gerade in Augsburg und in der Region zwischen Alpen und Donau lässt für diesen Raum eine Unentschiedenheit vermuten, wo die eigene Tradition wurzeln sollte und wohin man gehörte: zur Germania, die ja nach den Schriften der Alten von Norden her ohnehin nur bis an die Donau reichte,62 oder zur mediterranen Zivilisation des alten Imperium Romanum, das von Konrad Peutingers Werk als fester und nun positiv bewerter Aspekt des historischen Bewusstseins in Augsburg etabliert wurde? Mit den Romanae vetustatis fragmenta rückte Augsburg ein ganzes Stück näher an Italien heran.

Abb. 2: Konrad Peutinger: Inscriptiones vetustae Romanae et earum fragmenta in Augusta Vindelicorum et eius dioecesi, cura et diligencia Chuonradi Peutinger Augustani iuris consulti antea impressae, nunc denuo revisae castigatae simul et auctae. Mainz 1520, Bl. 6v–7r

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Zum Problem der Südgrenze der Germania in der Historiographie des 15. und frühen 16. Jahrhunderts zusammenfassend Harald Bollbuck: Geschichts- und Raummodelle bei Albert Krantz (um 1448–1517) und David Chytraeus (1530–1600). Frankfurt a. M. 2006 (Imago Borealis 9), S. 97 mit Anm. 358.

VI. Editionstätigkeit und Kommentierung: Zur philologischen Erschließung byzantinischer und römischer Klassiker zwischen internationalem Austausch und Zensur

Markus Völkel

Von Augsburg nach Paris, von Oporin zu Cramoisy Die reichsstädtische Byzantinistik und die europäische Respublica litteraria in der Frühen Neuzeit

1.

Die ältere Byzantinistik und Augsburg

Bei Lichte betrachtet gibt es nur drei Städte im westlichen Europa, von denen man sagen könnte, dass sie ein natürliches Verhältnis zu Byzanz und seinem literarischen Erbe pflegen konnten: Rom, Florenz und Venedig.1 Rom hatte bis zum Jahre 1000 intensivste Beziehungen zum östlichen Imperium. Unter den Päpsten Nikolaus V. und Pius II. wurde im Vatikan eine umfangreiche Übersetzungstätigkeit vom Griechischen ins Lateinische gefördert. Florenz erlebte 1439 das Vereinigungskonzil mit den Griechen, worauf die städtischen Intellektuellen mit einer Hinwendung zum Platonismus reagierten. Venedig dominierte lange Zeit den Handel im östlichen Mittelmeer und war seit dem 14. Jahrhundert ein Hauptsammelplatz und Verteilungsort byzantinischer Manuskripte. Trotzdem sind alle drei Orte nur in beschränkter Form und für kurze Zeit Hauptschauplätze der Byzantinistik geworden. Florenz wurde vom Einmarsch der französischen Armee 1494 hart getroffen, Rom vom Sacco 1527. In Venedig gingen die Editionsvorhaben nach dem Tode von Aldus Manutius (1450– 1515) beständig zurück. Dabei hätte Venedig, als Erbin von Kardinal Bessarions Bibliothek, einen großartigen Stützpunkt für eine systematische Weiterarbeit abgeben können. Die Gründe, warum die venezianischen Manuskripte zwar beständig Bezugspunkte der griechischen Editionstätigkeit blieben, de facto aber Basel, Augsburg und Paris Italien als gelehrte Zentren ablösten, können hier nicht detailliert erörtert werden. 2 Venedig jedenfalls wandelte sich zu einem Handelsplatz für byzantinische Manuskripte. Hier verkaufte Antonios Eparchos (1491–1571) seine 300 aus Korfu geretteten Handschriften sowohl an François I. von Frank-

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Vgl. Nigel Guy Wilson: From Byzantium to Italy. Greek Studies in the Italian Renaissance. Baltimore 1992; Deno John Geanakoplos: Interaction of the ‘Sibling’ Byzantine and Western Cultures in the Middle Ages and Italian Renaissance (330–1600). New Haven, London 1976. Mehr dazu im Vorwort von Frank Hieronymus zum Katalog: Griechischer Geist aus Basler Pressen. Basel 1992, S. I–XXVII. Seit 2003 wird dieser Katalog online unter dem gleichen Titel fortgeführt.

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reich (Grecs de Fontainebleau)3 als auch 1543/44 an die Stadt Augsburg. In Venedig stockte Diego Hurtado de Mendoza (1503–1575), Botschafter von 1539 bis 1546, seine berühmte, heute im Escorial aufbewahrte Sammlung von 256 griechischen Manuskripten auf. 4 Mendozas zeitweiliger Sekretär Arnoldus Arlenius (1510–1582) sollte später einige dieser Manuskripte, etwa Josephus, in Basel drucken lassen. Fast überflüssig mag es erscheinen, dass auch verschiedene Mitglieder der Familie Fugger in Venedig griechische Manuskripte sowohl kauften als auch abschreiben ließen; nicht wenig davon ist 1571 nach München gelangt.5 An dieser Stelle genügt es darauf zu verweisen, dass die alt- und mittelgriechische Philologie vom gegenreformatorischen katholischen Europa zunehmend misstrauisch behandelt wurde. Übermäßige ‚griechische Interessen‘ galten als ‚lutheranisch‘, ebenso die kritische Zuwendung zu den griechischen Kirchenvätern. Kurzum, die ‚griechischen Musen‘ wanderten, allerdings bereits in geschwächter Verfassung, nach Norden aus, nach Basel und Heidelberg, nach Paris und ins neu gegründete Leiden.6 Das Interesse für das Griechische wies schon in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts längst nicht mehr die Intensität auf, die sich die byzantinischen Humanisten und ihre italienischen Schüler gewünscht hatten. Noch viel geringer war das Interesse an den mittelgriechischen Autoren, die zudem, von wenigen Ausnahmen abgesehen, nur in einer extrem schmalen Handschriftenüberlieferung fortlebten. Wenn man nach Gründen sucht, weshalb dennoch eine stabile Gruppe an der Wiedergewinnung der Literatur Ostroms arbeitete, dann lassen sich dafür drei Gründe finden: 1. Die patristische Literatur, besonders die des Ostens, wurde durch den konfessionellen Streit schnell zu einer überaus wichtigen Argumentationsebene, vor allem beim griechischen Kirchenrecht; 2. das Osmanische Reich bedrängte Europa, und um es zu verstehen und überhaupt Einblick in die östliche Christenheit zu behalten, musste man schrittweise den historiographischen Weg zurück bis zu Kaiser ––––––––– 3

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Aus 37 griechischen Manuskripten in Fontainebleau waren im Jahr 1550 mehr als 700 geworden, vgl. den Katalog: Byzance retrouvée. Érudits et voyageurs français [XVIe– XVIIIe siècles]. Paris 2001, S. 17. Die Druckerfamilie der Estienne (Stephanus) begann ihren Siegeszug 1541 mit der Einführung der griechischen Garamond in Paris. Nach der Flucht von Robert Estienne 1550 nach Genf setzte sein Sohn Henri dort den griechischen Druck erfolgreich fort. Freilich blieb die Pariser Konkurrenz mit Adrien Turnebe, Guillaume Morel und Michael Vascosan bis etwa 1575 bedeutend. Alle diese Drucker wurden direkt von Charles IX. privilegiert. Zum Genfer griechischen Buchdruck vgl. Olivier Reverdin: Impressions grecques en Suisse aux XVIe et XVIIe siècles. Athen 1991. Vgl. Anthony Hobson: Renaissance Book Collecting. Jean Grolier and Diego Hurtado de Mendoza. Cambridge 1999. So etwa die 180 griechischen Manuskripte des Johann Jakob Fugger, vgl. Otto Hartig: Die Gründung der Münchener Hofbibliothek durch Albrecht V. und Johann Jakob Fugger. München 1917, S. 193–276 (Abhandlungen der Königlichen Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Philsoph., philolol. u. hist. Klasse 28, 3). Weitere Hinweise zu den Augsburger griechischen Manuskripten bei Hieronymus Wolf: Commentariolus de vita sua. Hg. von Helmut Zäh. Donauwörth 1998. Vgl. den Katalog: Graecogermania. Griechischstudien deutscher Humanisten. Die Editionstätigkeit der Griechen in der italienischen Renaissance (1469–1523). Weinheim 1989.

Von Augsburg nach Paris, von Oporin zu Cramoisy

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Konstantin gehen.7 Um 1550 war zwar noch kein Gelehrter in der Lage, ein Werk vom Horizont von Edward Gibbons History of the Decline and Fall of the Roman Empire (1776–1788) zu schreiben, aber das Erkenntnisinteresse, so lässt sich provozierend sagen, war dafür im Grunde schon vorhanden; 3., und diesen Aspekt sollte man besonders herausstellen, das Byzantinische Reich konnte attraktive imperiale Traditionen bereitstellen, und es gab dafür einen bevorzugten Abnehmer: die französischen Könige.8 Sie fühlten sich vom 15. bis zum 17. Jahrhundert noch voller Überzeugung als Nachfolger jenes unseligen Baudouin II., der 1261 als letzter lateinischer Kaiser Konstantinopel räumen musste.9 Schließlich hatte Baudouins Enkelin 1302 den französischen Königssohn Charles von Valois (1270–1325) geheiratet! Es gab also gute Gründe, sich mit byzantinischen Geschichtsschreibern zu beschäftigen, wobei diese Gründe für oberdeutsche Reichsstädte wie Augsburg und Basel oder das kurpfälzische Heidelberg andere waren als für die im Mittelmeer expansive französische Monarchie. Hier ging es vor allem um den Aufbau konkurrenzfähiger Bürger- und Hochschulen für den Kampf der Konfessionen. Dabei kam ein integrales humanistisches Bildungskonzept zum Einsatz, das die ‚Griechen‘ zumindest als ‚Tiefendimension‘ der theologischen und staatskirchlichen Argumentationen für unverzichtbar hielt. Für einen Zeitraum von etwa 60 Jahren wurde Augsburg, genauer gesagt das Umfeld der Stadtbibliothek und die beiden Rektoren des Annagymnasiums Hieronymus Wolf (1516–1580) und David Hoeschel (1556–1617), ein Zentrum dieser Forschungstätigkeit. Wolf musste seine griechischen Werke noch in Basel drucken lassen, Hoeschel stand ab 1595 der welsersche Hausverlag zur Verfügung. Begrenzt wird diese rühmliche Epoche vom Schmalkaldischen und vom Dreißigjährigen Krieg. Dabei war es wohl ein glücklicher Zufall, dass der Ankauf der berühmten Eparchus-Manuskripte noch 1543/44, d. h. kurz vor Ausbruch der Kampfhandlungen, erfolgen konnte. Schon wenige Monate später hatte die Reichsstadt ganz andere Sorgen, als griechische Handschriften zu erwerben.

1. 1. Der augsburgisch-süddeutsche Anteil an den Editionen der byzantinischen Historiker Bevor der Augsburger byzantinistische Kontext stärker beleuchtet wird, soll kurz ein chronologisches Schema vom ‚Corpus‘ der byzantinischen Historiker ––––––––– 7

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Hierzu diente vor allem die Lektüre von Eusebius’ Konstantinsvita. Vgl. Marilena Amerisa: Il battesimo di Costantino il Grande. Storia di una scomoda ereditá. Stuttgart 2005 (Hermes Einzelschriften 95). Vgl. Alexandre Y. Haran: Le Lys et le Globe. Messianisme dynastique et rêve impérial en France aux XVe et XVIIe siècles. Seyssel 2000. Die Geschichte des ‚Byzantinismus‘ in Frankreich ist bis heute noch nicht geschrieben worden. Vgl. Charles Du Fresne Du Cange: Histoire de l’empire de Constantinople sous les Empereurs Français jusqu’à la conquête des Turcs. Hg. von J. A. Buchon. Paris 1825.

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vorgestellt werden, so wie es sich seit 1967 im aktuellen CFHB, d. h. im Corpus Fontium Historiae Byzantinae, abbildet.

Auswahl von Erstausgaben byzantinischer Historiker Prokopios von Kaisareis (ca. 500–nach 542), (Bella), ed. princeps: D. Hoeschel, Augsburg 1607 (erste Gesamtausgabe Paris 1661–1663). Prokopios (Anecdota-Geheimgeschichte), ed. princeps: N. Alamanni, Lyon 1623. Malalas, Johannes († 577 n. Chr.), (Chronik, bis 565), ed. princeps: E. Chilmeadus, Oxford 1691. Agathias (ca. 536–582 n. Chr.) (5 Bücher der Geschichte Justianians), ed. princeps: B. Vulcanius, Leiden 1595. Theophylaktos Simokattes (6./7. Jh.), (Historien 582–602), ed. princeps: J. Pontanus, Ingolstadt 1604 – enhält: Georgios Sphrantzes (1401–1478), (Chronicorum de ultimis orientalis imperii temporibus […] libri III.). Theophanes Confessor (ca. 750–818), (Chronik 284–813), ed. princeps: Jacques Goar u. F. Combefis, Paris 1655. Photios (Patriarch, 858–876, 877–886), (Myrobiblion-Bibliothek), ed. princeps: D. Hoeschel, Augsburg 1601, lat. 1606 (ed. A. Schott SJ). Konstantinos VII, Porphyrogenetos (905–959), (Eclogae legationum Dexippi Atheniensis), ed. princeps: D. Hoeschel, Augsburg 1603. Psellos, Michael (1018–1097), (Chronographie), ed. princeps: K. Sathas, Venedig 1874. Skylitzes, Johannes (2. Hälfte 11. Jh.), (Historiae 811–1057), ed. princeps: I. Bekker, Bonn 1839. Komnena, Anna (1083–1145), (Alexiados Libri VIII, 1069–1118), ed. princeps: D. Hoeschel, Augsburg 1610 (bzw. P. Possin, Paris 1649). Zonaras, Johannes (1. Hälfte 12. Jh.), (Chronik bis 1118), ed. princeps: H. Wolf, Basel 1557. Manasses, Konstantinos (ca. 1187), (Chronik bis 1081), ed. princeps: J. Meursius, Leiden 1616. Glykas, Michael (gest. 1200), (Weltchronik bis 1118), ed. princeps: Ph. Labbe, Paris 1660. Kinnamos, Joannes (gest. 1203), (Historie 1118–1176), ed. princeps: C. Tollius Utrecht 1652. Choniates, Niketas (ca. 1150–1213), (Historie 1118–1206), ed. princeps: H. Wolf, Basel 1557. Akropolites, Georgios, 1217–1282, (Geschichte von 1203–1261), ed. princeps: L. Allatius, Paris 1651. Pachymeres, Georgios (1242–1310), (Historien 1261–1308), ed. princeps: P. Possin, Rom 1666–1669.

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Kantakuzenos, Johannes VI. (1295–1383), (Zeitgeschichte 1320–1356), ed. princeps: Ch. A. Fabrot, Paris 1645. Gregoras, Nikephoros (ca. 1290–1360), (Römische Geschichte 1204–1359), ed. princeps (1–11): H. Wolf, Basel 1562. Laonikos, Chalkondyles (ca. 1430–1490), (Darstellung der Geschichte), ed. princeps: Genf 1616.

Überblickt man diese Editionstätigkeit, dann wird deutlich, dass Augsburg innerhalb der europäischen Editions- und Verlagsorte damals einen ehrenvollen dritten Platz einnahm. 10 Fragen wir uns warum. Als Argument wird immer wieder angeführt, dass nach 1537 die Klosterbibliotheken in der neuen Stadtbibliothek konzentriert, dass ein Ankaufsetat eingerichtet wurde und erstrangige Gelehrte berufen wurden. Das ist alles richtig, gibt aber erst dann eine ausreichende Erklärung ab, sobald man den privaten Sektor heranzieht: Der private Sektor ist noch im ganzen langen 16. Jahrhundert bis zum Dreißigjährigen Krieg wichtiger gewesen als der ‚öffentliche‘ Sektor. Erstens gehört dazu Welsers Unternehmen einer Wissenschaftsdruckerei Ad insigne Pinus (1595–1619), zweitens, und das lässt sich im Bezug auf die Augsburger ‚Byzantinen‘ minutiös belegen, wären alle Augsburger Gelehrten, Hoeschel und Wolf allen voran, ohne die großen Mäzene unter den Welsern und Fuggern nicht weit gekommen. Ohne Wolf hätte Johannes Oporin (1507–1568) in Basel sein erstes Corpus historiae Byzantinae von 1557 nicht drucken können, aber ohne das persönliche Interesse und den finanziellen Einsatz von Anton Fugger (1493–1560) wären beide nicht zum Zuge gekommen.11 Anton Fugger wiederum hätte seine Manuskripte ohne die inständigen Appelle des alten Erziehers seiner Söhne, Ludwig Kiel (Carinus) (1496–1569) in Basel, kaum so großzügig ausgeliehen. Mit dieser Aussage sollte man vor allem die Bedeutung des so oft erwähnten Kaufs der 100 griechischen Handschriften des Kaufmanns Antonios Eparchus relativieren. 12 Mit diesen Handschriften allein, 1575 kam der Katalog heraus, war jedenfalls noch keine ernsthafte Editionstätigkeit möglich. Dazu ein Beispiel: 1557 konnte Hieronymus Wolf den Johannes Zonaras zusammen mit dessen Fortsetzer Nicetas Choniates und 1562 noch den Nicephoros Gregoras als ein frühes Corpus historiae Byzantinae herausgeben (zweisprachig und zweispaltig). Dafür ließ er sich sowohl ein kaiserliches als auch ein königlich fran––––––––– 10

11

12

Vgl. dazu das Verlagsverzeichnis von Ad insigne pinus bei Leonhard Lenk: Augsburger Bürgertum im Späthumanismus und Frühbarock 1580–1700. Augsburg 1968, S. 211–224. Neuere Forschungen zu diesem einzigartigen Verlagsunternehmen fehlen leider. Vgl. Fritz Husner: Die Editio princeps des „Corpus historiae Byzantinae“. Johannes Oporin, Hieronymus Wolf und die Fugger. In: Festschrift Karl Schwarber. Beiträge zur schweizerischen Bibliotheks-, Buch und Gelehrtengeschichte. Basel 1949, S. 143–162. Husner betont den entscheidenden finanziellen Beitrag der Fugger, der allerdings durch die spanische Finanzkrise nach 1560 fast noch unterblieben wäre. Vgl. Helmut Zäh: Wolfgang Musculus und der Ankauf griechischer Handschriften für die Augsburger Stadtbibliothek 1543/44. In: Wolfgang Musculus (1497–1563) und die oberdeutsche Reformation. Hg. von Rudolf Dellsperger, Rudolf Freudenberger und Wolfgang E. J. Weber. Berlin 1997 (Colloquia Augustana 6), S. 226–245.

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zösisches Druckprivileg geben! Wolf war von 1551–1557 Sekretär und Bibliothekar von Johann Jakob Fugger, ehe er 1567 Leiter von St. Anna wurde. Zonaras ist wichtig, weil er wertvolle spätantike Quellenabschnitte (Dion Cassius) überliefert. 13 Seinen Zonaras in drei Bänden redigierte Wolf nun wie folgt:14 ein Manuskript von Johann Dernschwam (1494–1567), dem böhmischen Humanisten, Bergmann, Orientreisenden und Fuggerfaktor, das dieser 1554 in Galata von Antonius Kantakuzenos gekauft habe;15 den zweiten Band erwarb er persönlich von Alexander Chartophylax; eine dritte Handschrift habe er abschreiben lassen; die vierte Handschrift, d. h. Band 3, stellte ihm die Bibliothek von Johann Jakob Fugger (1516–1575) zur Verfügung. Das fünfte Manuskript besorgte der kaiserliche ‚Bücherrat‘ Kaspar Niedbruck (1525–1557), der damals auch diskret die Magdeburger Centurionen belieferte. Für den Text des Gregoras stellte dann Anton Fugger (1493–1560) die Handschrift bereit. Man sieht, allein aus dem Etat der Stadtbibliothek waren solche Ausgaben nicht zu erstellen. Noch komplexer fiel die Textgrundlage bei der wohl umstrittensten und berühmtesten Augsburger ‚Byzantine‘ aus, bei David Hoeschels Bibliotheca. Librorum quos legit Photius von 1601. Im Vorwort zu dieser Ausgabe deckt Hoeschel zumindest teilweise seine Karten auf; ganz, was Luciano Canfora unlängst herausgefunden hat, aus guten Gründen nicht. Zunächst das Erstaunliche: Hoeschel hatte gar kein Augsburger Manuskript, von dem aus er Photius’ Bibliotheca hätte edieren können. Er musste also alles von außerhalb besorgen, d. h., es gab eine Figur im Hintergrund, die ihm dabei wertvollste Dienste leistete. Textgrundlage sind nach Hoeschel: 1. Ottob. Gr. 19/20 (ein Codex von Kardinalbibliothekar Sirleto, nun im Privatbesitz von Kardinal Ascanio Colonna); 2. Vat. gr. 1189 (eine vatikanische Kopie des Bessarion Codex von Photius, genauer dem besten Mss. Marc. 450); 3. Vat. Pal. 421/422, den ihm kein Geringerer als der berühmte Jesuit Andreas Schott aus Antwerpen (1553–1629) aushändigte; 4. durch Johann Georg Herwart (1553–1622) das Ms. Monacensis Graecus 30; 5. ein Codex des in Venedig ansässigen Griechen Maximos Margounios, Suppl. Grec. 471 und schließlich 6. das Manuskript, mit dem der 1598 plötzlich verstorbene Humanist und Hausdrucker der Fugger, Henri Estienne (1528–1598) schon einmal eine Teilausgabe versucht hatte (Harley 5591/3). Luciano Canfora hat aus einer genauen Analyse der äußerst verwickelten Editionsgeschichte den Schluss gezogen, dass der eigentliche Anreger der berühmten Photiusedition der Jesuit Andreas Schott gewesen sei,16 und weiterhin, dass Hoeschel eigentlich keine wirkliche Edition angefertigt habe, sondern eine Art ‚editio editionum‘, sprich, mehrere seiner Handschriften wären selbst schon ––––––––– 13

14 15 16

Vgl. Hans-Georg Beck: Die Überlieferungsgeschichte der byzantinischen Literatur. In: Die Textüberlieferung der antiken Literatur und der Bibel. Hg. von Herbert Hunger u. a. München 21988, S. 423–510, 440. Vgl. Griechischer Geist (wie Anm. 2), S. 386. Mehr hierzu bei Paul Lehmann: Eine Geschichte der alten Fuggerbibliotheken. I. T. Tübingen 1956, S. 28–33. Luciano Canfora: Il Fozio ritrovato. Bari 2001, S. 123.

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kollationierte Voreditionen gewesen, keinesfalls aber reine Handschriftenfassungen.17 Besonders wichtig aber war für Hoeschel die Verbindung nach Paris, denn über Paris, d. h. die Fürsprache von Henri Estiennes Schwiegersohn Isaac Casaubon (1559–1614), kam Hoeschel zu dessen Druckvorlage und wohl zugleich auch zu dem königlich französischen Druckprivileg. In Paris, mit dem besonderen Interesse, das man dort bei Hofe aber auch in Parlement-Kreisen für byzantinische Historiker hatte, soll diese Untersuchung später ihre Fortsetzung finden.

1. 2. Konfessionelle Spannung und Ausgleich in der Augsburger Byzantinistik Aus der Buchhaltung des Anton Fugger geht hervor, dass er Hieronymus Wolf nicht unerhebliche Summen für seine lateinischen Übersetzungen des Zonaras und Choniates zukommen ließ.18 Es ging den Mäzenen also nicht nur um gelehrte Repräsentation, sondern auch um den persönlichen Gebrauch der von ihnen geförderten Editionen. In ihrer lateinischen Fassung erreichten die byzantinischen Historiker freilich auch die Augsburger literarische Öffentlichkeit und mussten somit den Argwohn der Jesuiten erregen.19 Den stilistischen Führungsanspruch für die Historiographie vertrat seit 1580 im Orden Jacob Pontanus am neuen Kolleg von Sankt Salvator. Er gehörte, seine Gutachten zur Ratio studiorum von 1599 beweisen dies, zu den wenigen vorwiegend humanistisch orientierten Jesuiten. Dies bedeutet freilich auch, dass bei ihm Fragen der Stilistik und der Editionstechnik durchaus mit konfessioneller Tendenz aufgeladen sein konnten. Wie sehr das der Fall war, zeigen seine Ausgaben des Kantakuzenos (1603) und des Theophylaktos Simokattes (1604) in Ingolstadt. In beiden Fällen weist Pontanus auf den Münchener Ursprung des Manuskriptes hin und bedankt sich ausdrücklich bei Herzog Maximilian, ihm diese (ursprünglich Fugger’schen) Schätze zur Verfügung gestellt zu haben. Während er bei Theophylaktos auch den griechischen Text bringt, beschränkt er sich bei den ‚Memoiren‘ von Kaiser Kantakuzenos auf die eigene lateinische Übersetzung, d. h. ‚zensiert‘ ihn gewissermaßen. Dies geschieht in dreifacher Form: erstens durch die Übersetzung selbst, deren enorme Schwierigkeit er nicht verschweigt, zweitens durch die stilistischen Anforderungen, die Pontanus an eine gelungene historia stellt, und drittens, daran anschließend, durch die moralisch-religiösen Bedingungen, ––––––––– 17 18 19

Ebd., S. 137. Vgl. Lehmann: Fuggerbibliotheken (wie Anm. 15), S. 32 (F. A. 1, 2, 1 ½ fol. v no. 15). Es waren allein die lateinischen Übersetzungen, die den zweisprachigen Druck z. B. von Wolfs Corpus historiae Byzantinae trugen, vgl. Hieronymus Wolf an seinen Verleger Oporin (28. 8. 1556): Nam si pauca exempla graeca impresseris, sumptum non ferrent. Si multa, vix distrahes. Nam triplo plures latinum exemplum volent. Nur jeder dritte Leser verlangte also nach einer griechischen Urfassung! Zitiert nach Husner: Editio princeps (wie Anm. 11), S. 150 (= Basel, Ms. Frey-Gryn I ii, f. 197). Als dann 1566/67 in Frankfurt und 1568 in Paris Nachdrucke allein der lateinischen Fassungen des Wolf’schen Corpus erschienen, war der Bankrott von Oporin besiegelt.

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denen die Textlektüre unterworfen wird. In beiden Vorworten lässt sich Pontanus dazu ausführlich vernehmen. Dabei greift er gezielt auf die seit 1601 in Hoeschels Augsburger Ausgabe vorliegende Bibliotheca des Photius zurück. Bald macht er deren Autor zum Kronzeugen der Kritik an Theophylaktos, bald nützt er die Gelegenheit, den gefährlichen Patriarchen seinerseits literarisch-religiös zu zensieren.20 In der rein lateinischen Ausgabe der Memoiren von Kaiser Johannes VI. Kantakuzenos (geb. 1295/94, reg. 1347–1354, gest. 1383) trieb Pontanus die literarisch-konfessionelle Polemik in seiner traktatförmigen Praefatio von 1603 noch sehr viel weiter. Für ihn stellen sich der Kaiser und sein Werk fast als Idealtypen dar, geeignet, den schismatischen Charakter der griechischen Kirche und ihrer zeitgenössischen protestantischen Bewunderer hinlänglich zu erweisen. 21 Für die protestantischen Editoren Wolf und Hoeschel war es hingegen schwieriger, das byzantinische Erbe ostentativ für den konfessionellen Zweck zu nutzen. Ihre Gönner Anton Fugger und Marcus Welser waren Katholiken und nicht geneigt, offene Kritik an der römischen Kirche zu dulden. Anton Fugger war es schon peinlich genug, mit Oporin den Drucker der Magdeburger Centurien zu beschäftigen. Hoeschel musste sich deshalb in der Widmung der Alexias an Welser damit begnügen, auf die Gegensätze zwischen den Päpsten Gregor VII., Urban II. und Kaiser Alexios hinzuweisen. 22 Wolf beschränkte sich in der Einleitung zu Choniates auf die Kreuzzugspolitik der deutschen Kaiser, bei Zonaras auf die tragikomischen Züge von dessen Geschichte.23 Rücksichten mussten die Augsburger schließlich auch auf ihre griechischen Freunde in Venedig nehmen. Eine Persönlichkeit wie der Kreter Maximos Margounios (1549–1602), dort seit 1585 Professor für Griechisch und Latein, war mit der gesamten Augsburger Gelehrtenwelt, auch mit ihrer Dependance in Ingolstadt, verflochten. 24 Hoeschel schickte ihm nach Italien seltene Werke und ––––––––– 20

21 22 23

24

Jacob Pontanus: Praefatio ad lectorem. In: Theophylacti Simocattae Historiarum libri octo. Hg. von Immanuel Bekker. Bonn 1824, S. XI (Photius zum Stil des Theophylaktos): dictio eius lepore ac venustate non caret. Verumtantum modificatarum vocum et allegoricorum sensuum nimis crebra ursurpatione, cum fastidio legentium, tandem friget et iuveniliter oratio; sodann ebd., S. XIII (Zu den misslungenen Synopsen des Photius): Iam vero Photius, qui in iudicio de historia ferendo acutum se praebuit, sin synopsibus seu argumentis […], alienum laborem pro suo nobis obtrusit et fucum fecit. Jacob Pontanus: Praefatio. In: Ioannis Cantacuzeni Eximperatoris Historiarum libri IV. Graece et latine. Hg. von Ludwig Schopen. Bonn 1828, S. X–XII, bes. S. XXf. Vgl. David Hoeschel: Preafatio. In: Annae Comnenae Alexiadis libri XV. Hg. von Ludwig Schopen. Bonn 1839, S. XLIV. Hieronymus Wolf: Praefatio. In: Nicetae Choniatae Historia. Hg. von Immanuel Bekker. Bonn 1835, S. XIII und ders.: Praefatio. In: Ioannis Zonarae Annales. Hg. von Moritz Pinder. Bonn 1841, S. XXXV: […] tamen nescio quo modo lectione historiarum magis animus commovetur et ad considerandam vitae humanae sive comicotragoediam sive tragicocomoediam et miseriam simul et vanitate impellitur. Vgl. P. Enepekides: Maximos Margunios an deutsche und italienische Humanisten. In: Jahrbuch der Österreichischen Byzantinischen Gesellschaft 10 (1961), S. 94–145. Vgl.

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gab seine Poemata sacra heraus.25 Umgekehrt half Margounios Hoeschel bei der Herausgabe von Phothius’ Bibliotheca und einiger Abhandlungen von Maximos Confessor. Obwohl Margounios’ irenische Neigungen gegenüber der römischen Kirche von dieser enttäuscht wurden, führte dies nicht dazu, sich gänzlich von den Protestanten vereinnahmen zu lassen. Seine Abhandlung zum verfänglichen Thema des Hervorgangs des Hl. Geistes druckte schließlich Jakob Gretser 1598 in Ingolstadt.26 Es waren Verflechtungen dieser Art, die am Ende des 16. Jahrhunderts die konfessionellen Spannungen in der Augsburger Gelehrtenwelt noch niedrig hielten und sie gleichzeitig international konkurrenzfähig machten.27 Erst Kontroversen wie die zwischen Jakob Gretser und Melchior Goldast (1578–1635) über die Rolle der Päpste in der Reichsgeschichte mit ihren scharfen persönlichen Angriffen machten dieser Zusammenarbeit gegensätzlicher Lager ein Ende.28 Die frühe Byzantinistik lag noch unterhalb der Schwelle für die ganz großen konfessionellen Zerwürfnisse.

2.

Rom, Paris und Byzanz

Überfliegt man die Äußerungen zur Entstehung eines alle überlieferten Autoren enthaltenden Corpus historiae Byzantinae, dann ist nicht ganz klar, wer zuerst diese Idee hatte und wer sie zuerst umsetzte. Hieronymus Wolf scheint die Konzeption eines ‚Corpus‘ mit seiner ‚catena‘ von Autoren von der Gründung Konstantinopels (Zonaras) bis zu seinem Untergang (Chalkondylas Laonikos) für erfüllt gehalten zu haben. Seine Zeitgenossen müssen anderer Meinung gewesen sein. So konnte der Melanchthonschüler Johannes Löwenklau (1533/40– 1593/94) in Basel auf Manuskripte des ungarischen Hofhistoriographen Johannes Sambucus (1531–1584) zurückgreifen und dort der Reihe nach Glycas (1572), Manasses (1573), das Basilikōn (1575) und Zosimos (1576) zweisprachig edieren. In Rom gab es unter den Päpsten Gregor XIII. (1572–1585) und Urban VIII. (1623–1644) große Pläne zu orientalischen Drucken. Es wurden entsprechende Typen angeschafft und Pressen im Vatikan aufgestellt, aber die weltliche und besonders die historische Literatur der Byzantiner war kein Ge––––––––– 25 26 27

28

auch den Geleitbrief des Margounios, den Hoeschel seiner Photiusausgabe beigab. Mit italienischer Übersetzung abgedruckt in: Canfora: Il Fozio (wie Anm. 16), S. 258–261. Maximi Margunii, episcopi Cytherensis Poemata aliquot sacra: Graece nunc primum pubblicata studio et opera D. Hoeschelii. Lyon 1592. Gedruckt als Disputatio Theologica de sacrosanctae trinitatis mysterio / Jacobus Gretsero [Präses]. Ingolstadt 1598. Vgl. Markus Völkel: Das Verhältnis von religio patriae, confessio und eruditio bei Marx Welser. In: Die Europäische Gelehrtenrepublik im Zeitalter des Konfessionalismus. Hg. von Herbert Jaumann. Wiesbaden 2002 (Wolfenbütteler Forschungen 96), S. 127–140. Vgl. Stefan Benz: Zwischen Tradition und Kritik. Katholische Geschichtsschreibung im barocken Heiligen Römischen Reich. Husum 2003 (Historische Studien 473), S. 79–113.

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biet, von dem sich die päpstliche Auffassung vom christlichen Orient viel versprechen konnte.29 Von Rom, aus der Umgebung der Barberinifamiliaren François-Marie Suarés (1599–1677) und Leo Allacci (1586–1667), seit 1661 Präfekt der Vatikanischen Bibliothek, gab es Verbindungen nach Paris.30 In Paris hatte die Gräzistik mit Ianos Laskaris (1445–1534) und Guillaume Budé (1468–1540) feste Grundlagen bekommen. Auf ihnen konnten dann Jesuiten wie Jacques Sirmond (1559–1651), Denis Petau (1583–1653), Philippe Labbe (1607–1667) und Louis Maimbourg (1610–1686) aufbauen und gleichzeitig mit den Ergebnissen der Ingolstädter Ordensbrüder weiterarbeiten. Vorschläge zu einem Corpuswerk liegen überdies auf der Linie der damaligen Wissenschaftspolitik der Jesuiten. Starkes Interesse an Byzanz war also in Paris stets vorhanden. In der Vorrede zu seiner Photiusausgabe von 1601 druckte David Hoeschel nicht zufällig einen langen Brief von Isaac Casaubon (27. Mai 1600) ab, in dem dieser ihm von der großen Aufregung berichtete, die Photius unter den Pariser Intellektuellen ausgelöst hatte. Casaubon bemühte sich sofort um Einsicht in ein Parallelmanuskript bei François Pithou (1543–1621) und erzählte vom lebhaften Interesse des Parlamentspräsidenten Jacques-Auguste de Thou (1553–1617) an dem Projekt. Das können aber keinesfalls alle Pariser Beteiligten gewesen sein, auch der Großsiegelbewahrer Guillaume du Vair (1556–1621) hat dazugehört. Alle diese Intellektuellen waren Anhänger einer französischen Eigenkirche, d. h. Gallikaner, und brachten dem Staatskirchensystem in Byzanz ein ‚natürliches Interesse‘ entgegen. Obwohl also mächtige Patrone hinter der Sache standen, geschah zunächst einmal gar nichts. Der Jurist Charles-Annibal Fabrot (1580–1659) verwirklichte seine monumentale Ausgabe der Basilisken, der griechischen Fassung des Corpus Juris, 1647 auf eigene Faust und widmete sie dem mächtigen Kanzler Séguier. Wichtig aber ist hier der Drucker, der niemand Geringerer als Sébastien Cramoisy (1585–1669) ist, der Großunternehmer und Monopolist unter den Pariser privilegierten Druckern. Cramoisy verfügte damals schon über die Druckerei im Louvre, seit 1630 betreute er die Pariser Ausgabe der Kirchenväter, seit 1640 war er Chef der Imprimerie nationale. Dieser Großmogul unter den Druckern gewann also Geschmack an einem ‚byzantinischen Projekt‘ und mitten in den Wirren der Fronde entwarf der Jesuit Philippe Labbe einen gewaltigen Editionsplan für 32 Foliobände, die zweisprachig und kommentiert erscheinen sollten. Byzanz erschien geeignet, die Vorrangstellung der französischen Wissenschaft in Europa zu etablieren und gleichzeitig die Kapazitäten der seit 1640 im Louvre befindlichen Druckerei auszuschöpfen. Weiterhin befand sich in Paris eine kompetente Schar von Gräzisten, die um das jesuitische Collè––––––––– 29 30

Vgl. Katalog: Exotische Typen. Buchdruck im Orient – Orient im Buchdruck. Berlin 2006, S. 170–181. H. Ogmont: La collection byzantine de Labbe et le projet de Joseph-Marie Suarés. In: Révue des Études grecs 17 (1904), S. 18–32 und ders.: Du Cange et la Collection byzantine du Louvre. In: ebd., S. 33f.; weiter Louis Bréhier: Byzantines. In: Dictionnaire d’histoire et de géographie ecclésiastiques. Bd. 10. Paris 1938, Sp. 1512–1518.

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ge de Clermont angesiedelt waren. Als Philippe Labbe 1667 starb, folgte ihm in der Projektleitung der große Charles du Cange (1610–1688) nach. In diese neue Gesamtausgabe wurde nun die bisherige Editionstätigkeit, allen voran die Augsburger, hineingezogen. Versuchen wir zunächst einen Überblick über die auf Wolf, Hoeschel, Pontanus und Löwenklau beruhenden Bände der Louvreausgabe zu gewinnen:

Augsburger bzw. Vorarbeiten aus dem Hl. Röm. Reich für die ‚Byzantines du Louvre‘ Kantakuzenos: Historiarum libri IV, lat. Übersetzung von J. Pontanus (Ingolstadt 1603). Paris 1645. Georgios Kedrenos: Compendium historiarum, ed. Jacques Goar, unter Verwendung der lat. Übersetzung von Wilhelm Holzmann (Guillelmus Xylander 1532–1576). Paris 1647. Niketas Choniates: Historia, ed. Annibal Fabrot, unter Verwendung der lat. Übersetzung von H. Wolf. Basel 1557, Paris 1647. Theopylaktes Simokattes: Historiarum libri VIII, ed. A. Fabrot, unter Verwendung der lat. Übersetzung von J. Pontanus. Ingolstadt 1604, Paris 1647. Excerpta de legationibus, ed. D. Hoeschel, übersetzt von Ch. de Chanteclair († 1620). Paris 1648. Pseudo-G. Codinus: De officiis magnae Ecclesiae et aulae Constantinopolitanae, ed. J. Gretser u. J. Goar (Paris 1625). Paris 1648. Laonikos Chalkokondyles: Historiarum libri decem, übers. von C. Clausner (1520– 1611) und J. Löwenklau (1541–1590), ed. Ch.-A. Fabrot. Paris 1650. Anna Komnena: Alexias. Ex bibliotheca Barberina nunc primum editi, übersetzt von P. Possin SJ, mit den Vorwörtern und Notae von D. Hoeschel. Constantin Manasses: Breviarium historicum, aus der Rezension von Johannes Löwenklau, Übersetzung J. Löwenklau, überarbeitet von L. Allaci und Ch.-A. Fabrot. Paris 1655. Michael Glycas: Annales, übersetzt von J. Löwenklau, griech. Text von Ph. Labbe. Paris 1660. Agathias: De rebus gestis Juistiniani, Edition und Übersetzung von B. Vulcanius und J. Scalinger. Leyden 1594, Neuausgabe Paris 1660. Zonaras: Annales, Überarbeitung von H. Wolfs Ausgabe von 1557 durch Ch. du Cange. Paris 1686/7 (starke Überarbeitung und Neurezension). Nicephoros Gregoras: Byzantina Historia, Überarbeitung von H. Wolf 1562, durch Ch. du Cange und C. Capperonnier. Paris 1702.

Diese Auswahl zeigt, dass ein guter Teil der anfangs 32 Byzantines du Louvre nichts anderes sind als Fortführungen und Neubearbeitungen der Basler und Augsburger Ausgaben, zu denen man indirekt auch die Ingolstädter Editionen

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von Jakob Gretser SJ31 und Jacob Pontanus SJ rechnen muss.32 Ohne ihre Vorarbeit, ohne die Ausgaben von Löwenklau, dem Westfalen, der in Basel bei Oporin arbeitete, ohne Wolf und Hoeschel wäre, trotz sehr viel besserer Arbeitsbedingungen in Paris, das französische Corpus nicht zustande gekommen. Viele Ausgaben, das muss man zugeben, sind den alten überlegen, weil auf mehr Codices aufgebaut und mit neuen Kommentaren versehen, aber in vieler Hinsicht ist die philologische Substanz doch noch die gleiche. War dies den französischen Neubearbeitern bewusst? Sicher ist, dass sie das Verhältnis zu ihren Vorgängern genau reflektierten. Philippe Labbe gab 1648 in seiner ‚Einführung‘ zum geplanten Corpus, dem ПРОТРЕПТІΚΟΝ von 1648, sowohl einen Grundriss der kommenden Werke als auch ihre Genealogie, und zwar in doppelter Hinsicht nach der Herkunft der Codices als auch nach ihren Bearbeitern und Vermittlern. 33 Labbe war so großzügig, die europäischen Dimensionen des Projekts und seine Wurzeln im 16. Jahrhundert ohne Einschränkung abzubilden und gleichzeitig die zentrale Rolle der Pariser Bibliotheken bei den geplanten Neukollationierungen hervorzuheben. Deren Manuskripte bildeten den nationalen ‚Triumphbogen‘ für den wissenschaftlichen Fortschritt der Ausgabe; für eine Monopolstellung reichten sie freilich nicht aus. Den bisherigen Editionen stand Labbe distanziert, aber doch wohlwollend gegenüber. Er sparte sich die Einzelkritik, vielmehr griff er die inhomogene Struktur des bisherigen ‚Corpus byzantinischer Schriftsteller‘ an und stellte mit dem neuen Pariser Corpus weniger eine Revolution in der mittelgriechischen Philologie in Aussicht als eine Summe nach gleichen Prinzipien überarbeiteter und zusammenhängend kommentierter Ausgaben mit einem einheitlichen typographischen Erscheinungsbild.34 Dazu waren Transferleistungen aus ganz Euro––––––––– 31 32

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Jakob Gretser (Markdorf 1562–Ingolstadt 1625, seit 1588 Prof. in Ingolstadt). Jakob Spannmüller (Brüx 1542–Augsburg 1626), genannt Pontanus, war 27 Jahre Professor an den Gymnasien in Dillingen und Augsburg; er edierte griechische Autoren, u. a. den Kyrillios von Alexandrien, Autor vieler Schuldramen und Lehrbücher. Vgl. Barbara Bauer: Jacob Pontanus SJ, ein oberdeutscher Lipsius. Ein Augsburger Schulmann zwischen italienischer Renaissancegelehrsamkeit und jesuitischer Dichtungstradition. In: ZBLG 47 (1984), S. 77–120. Philippe Labbe: De byzantinae historiae scriptoribus, sub felicissimis Ludovici XIV. […] auspiciis. […] Ad omnes per Europam eruditos. ПРОТРЕПТІΚΟΝ. Paris 1648. Im Katalog Byzance retrouvée (vgl. Anm. 3), S. 72–80 versuchen die Herausgeber diesen Grundriss, leider ohne die wichtigen Genealogien, neu aufzulegen. Labbe: De byzantinae historia scriptoribus (wie Anm. 33), unpag. Einleitung: Cum enim maxima pars nobilium illorum Historicorum cum blattis adhuc tineisque luctetur in pulvere et situ Manuscriptorum Codicum; qui vero hactenus publicati sunt, vel Latine tantum, vel Graece tantum apparuerint, et si qui Graece simul ac Latine excusi sunt, dispari admodum forma, charactere dissimili, diversis dissitisque a se invicem locis temporibusque prodierint; inde factum est magno litterarum incommodo, dicam, et litteratorum damno, in tanta penuria, quaeque indidem orta est, talium mercium caritate maxima, ut beatus ille merito censendus sit, non qui omnes, sed qui quamplurimos eosque deformes et mancos, quovis pretio, summaque diligentia potuerit sibi comparare. Eam ob causam, pluresque alias, quas quivis facile conjicere poterit, cum Regiis Typis, eademque omnino voluminis forma, omnes, quotquot uspiam gentium hactenus editi sunt, et in Bibliothecis Vaticana, Regia, Barberina, Mazarina, Seguieriana, Memmiana, Thuana, Puteana, Petaviana, Col-

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pa erfordert, aus Madrid, Wien und vor allem aus den römischen Bibliotheken, deren Leiter Kardinal Francesco Barberini (1597–1679) und sein deutscher Adlatus Lucas Holstenius (1596–1661) bei jeder Edition im Detail gewürdigt wurden. An der Notiz zum Georgios Monachos, einem Chronisten des 9. Jahrhunderts, wird dies besonders deutlich, denn auch der Kopist Gabriel Naudé (1600– 1653), Bibliothekar der Mazarine, war Barberinifamiliar gewesen.35 Die Augsburger Editionen gehen ganz selbstverständlich in diesen Arbeitsprozess ein und werden mit zeitgemäßen Methoden überschrieben. Dies lässt sich bei Wolfs Zonarasausgabe wie folgt an: 36 Joannis Zonarae, ex Drungario et Primo a secretis Monachi doctissimi, Historia universalis ab origine rerum usque ad annum 1118. quo Alexius Comnenus obiit, Graeco-latine in tres tomos seu partes distributa Basileae, prodiit anno 1557 cum versione et Notis Hieronymi Wolfii Oetingensis. Nos eandem Regiis typis brevi subjiciemus denuo collatam cum pluribus MSS. Codicibus Biblioth. Regiae necnon Eminentissimi Cardinalis Julii Mazarini, et aliarum, studio R.P. Jacobi Goar Ordinis Praedicatorum, qui Wolfii castigatione fideliorem reddet versionem, et Notas solitamque diligentiam non denegabit. Suam hic quoque symbolam coneret P. Philippus Labbe, in comparanda tertia parte, quae sola Byzantinam describit Historiam, cum Graeco MS. Bibliothcae Claramontanae, in ea etiam, non secus in Regia, habentur eiusdem Joannis Zonarae epistolae 46. cum quibusdam aliis ad Mathematicas disciplinas spectantibus.

Als problematisch stellt sich der Prozess des Fortschreibens der alten Ausgaben allein bei den Übersetzungen dar. Umso besser, wenn ihr Urheber zugleich noch Protestant ist und mit ihrem Ersatz auch noch die gesamte gegnerische Traditionslinie beenden kann. So jedenfalls rechtfertigte der Jesuit Claude Maltrait (1621–1674) 1662/63 seine neue Prokopübersetzung:37 Hos multo auctiores Hoeschelius cum Historia Bellorum Graece edidit Augustae Vindelicorum, anno Christi 1607. Exinde in scriptoris huius Interpretes virorum eruditorum querela increbuit. Nam versione cum Graeco textu collata, incredibilem perversitatem videbant, dolebantque quod Historia nobilissima tam male in Italia fuisset habita, ubi olim ipsus pater nihil damni a Gotthis, quamvis hostibus, accepisset. Obtabant vero ut ingenii praestantissmi soboles conditione quam fieri posset optima Latio donaretur. Instante Jose-

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legii Parisiensis Societatis Jesu, aliisque quamplurimis privatis publicisque nostro doctorum virorum studio reperiri potuerunt, publicam in lucem emittere decreverimus, […]. Labbe: De byzantinae historia scriptoribus (wie Anm. 33), S. 2 VI: Georgius Monachus, Tarasii Patriarchae Syncellus, scripsit Excerpta Chronologica a primo ortu ad Maximianum et Maximinum tyrannos, hactenus inedita. Graecum textum toties alias a Josepho Scaligero, ut patet ex eius epistolis, expetitum, e codice MS. Bibliothecae Regiae a Clarissimis Puteanis fratribus humanissime communicatum exhibebimus, collatum cum pluribus aliis MSS. Bibliothecae Mazarinae, quorum copiam fecit pro sua singulari comitte Vir doctissimus Gabriel Naudaeus, eoque praecipue apographo, quod ex codice Vaticano descriptum Eminentissimus Cardinalis Franciscus Barberinus opera Lucae Holstenii Viri clariss. Roma mittendum curavit. Interpretationem vero eam adhibebimus, quam alias a Joanne Baptista Hautino Consiliario Regio elaboratam Johannes Baptista Hautinus filius eius in Praefectura Parisiensi Consiliarius recensuit. Ebd., S. 3. XII. Claude Maltrait: unpag. Praefatio zu Zonaras. In: De Byzantinae historiae scriptoribus. Editio secunda ad luparaeam fideliter expressa sub felicissimis Philippi V. Hispaniarum ac Indiarum Regis Catholici auspiciis. Venedig 1729 (Corpus Byzantinae historiae 1), S. 220.

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pho Scaligero, id tentavit Bonaventura Vulcanius: deinde incoepto desistit, senio confectus. Negotium in se ultro receperat Daniel Heinsius, tum iuvenis, in quo diligentia, Scaligero teste, cum eruditione certabat. At illum alia studia averterunt, ut promissi munus haud comparverit. Nec postea extitere libri quatuor de Bello Gotthico, ab Hugone Grotio, ut fama erat, in Latinum conversi: quos numquam profecto vidi. Cum igitur provincia ab omnibus relicta vacua videretur, eam ego suscepi, iis auctoribus, quibus nihil negare poteram.

Hier war also dem Orden gelungen, woran eine wahrlich erlauchte Abfolge protestantischer Gelehrter gescheitert war. Freilich bleiben solche Seitenhiebe rar und das argumentative Hauptargument der Herausgeber zielt darauf, den Topos der ‚systematischen Überbietung‘ der Tradition, wie sie Philippe Labbe 1648 ankündigte, auch tatsächlich einzulösen. Niemand gelang dies besser als dem Nachfolger Labbes in der Leitung der Edition, dem großen Charles du Fresne du Cange (1610–1688). Im Vorwort zu seiner Neuausgabe des Zonaras brachte er alle relevanten Probleme der Edition eines byzantinischen Historikers in sozusagen logische Bezüge. Zunächst definiert er Zonaras Arbeit als Annales, die, weil sie zerstreute Informationen in ein neues Ganzes umformen, keines Kommentars bedürften. Man muss also diese Kompilation nicht wieder in ihre Bestandteile zerlegen. Aber einer Art innerer Kommentierung bedürfe die Erzählung selbst, weiter gewisse Personen und Orte und Fakten, deren Echtheit zweifelhaft sei. Somit sollten seine eigenen Anmerkungen vornehmlich der Erhellung der byzantinischen Geschichte dienen. Erläutern wolle er vor allem da, wo die Quellenkompetenz des Autors nachlasse. Drittens weist du Cange darauf hin, dass er bereits indirekt zwei Kommentare zur byzantinischen Gesamtgeschichte geliefert habe, 1. eine Genealogie der byzantinischen Kaiserfamilien und 2. sein mittelgriechisches Wörterbuch. Variae lectiones, und hier kommen die Aufzeichnungen von Wolf ins Spiel, werden nur dort noch eingesetzt, wo ein Restbedarf bei den Begriffen bestünde. Versucht man diese Äußerungen zu synthetisieren, dann schlägt du Cange als richtige Lesart eines byzantinischen Autors die Integration in das durch Hilfsmittel ergänzte Corpus vor. Es entsteht ein Verbund, der es erlaubt, die Einzelkommentierung eng zu fassen, sie an der Gattung, der Quellenbenutzung und am historischen Sprachstand zu bemessen. „Bei Lichte besehen ist das Corpus selbst, der Kommentar und das Einzelwerk nur im Zusammenhang eines mühsam rekonstruierten literarischen Traditionszusammenhanges lesbar.“38 Welche Rolle fällt dabei den Vorgängern, genauer gesagt Bayerisch-Schwaben zu? Die Kommentare der Erstherausgeber, so du Cange, ‚stotterten‘ eigentlich, sie hätten noch keinen kompletten Apparat erarbeiten können; nur wenige byzantinische Historiker seien ediert und nur wenige Gelehrte hätten zu diesen Studien beigetragen. Aber, so darf man sagen, in der Gesamtsynthese des Corpus, wie sie du Cange vorschwebte, ist das ‚Stottern‘, gleichsam aufgehoben, überblendet, sozusagen als Rauschen beseitigt, durch kollaterales und korrigie––––––––– 38

Markus Völkel: Der Kommentar zu Historikern im 16. und 17. Jh. In: Der Kommentar in der frühen Neuzeit. Hg. von Ralph Häfner und Markus Völkel. Tübingen 2006, S. 181– 208, hier S. 200.

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rendes Wissen: ein insgesamt sehr sanfter Umgang der Pariser mit der älteren Schule. 39

3.

Schlussüberlegungen

Eine Editionsarbeit wie die an byzantinischen Historikern war im 16. und 17. Jahrhundert nur im überlokalen, übernationalen und – ganz wichtig – überkonfessionellen Zusammenhang zu bewältigen. Wer hier erfolgreich sein wollte, der musste etwaige melancholische Anwandlungen wie Wolf oder konfessionelle Wutausbrüche wie Gretser tunlichst vermeiden. Für Augsburg heißt das zu akzeptieren, dass der Ankauf der Bibliothek des Antonios Eparchus 1543/44 und die Vermehrung der Stadtbibliothek eine notwendige, nicht aber eine hinreichende Grundlage für die Editionen darstellten. Es mussten erst die einheimischen Patrizierbibliotheken, die Hofbibliothek in München und schließlich auch die Pariser Manuskriptschätze beteiligt werden, um eine so prestigiöse Ausgabe wie Photius’ Bibliotheca zu realisieren. Eine Augsburger Leistung war das genau in dem Maße, in dem Wolf und Hoeschel – mit Augsburger Geld – in den großen Netzen der damaligen Respublica litteraria arbeiteten. Im Klartext heißt das: Das Lokalkolorit des an Byzanz interessierten Späthumanismus ist relativ gering. Es kommt oft genug nur darauf an, wer zahlt und druckt, und dann kann auch einmal ein spanisch geprägter Jesuit wie Andreas Schott SJ mit einer sensationellen Handschrift vorbeikommen. Auf der anderen Seite bedeutet diese innere Vernetzungsstruktur, der kollektive Diskurscharakter einer Edition auch, dass sie haltbar war und für Jahrhunderte außerhalb des Entstehungszusammenhanges noch eine anerkannte Rolle spielen konnte. Ein systematisches Corpus, wie du Cange es sich vorstellte, konnte die Tradition organisch in sich aufnehmen. Dabei funktionierte die homogene Corpusstruktur wie eine Art elektrischer ‚Gleichrichter‘, der alle unterschiedlichen Teile auf die gleiche Wellenlänge brachte. Das große Aufräumen mit der ‚oberdeutschen Byzantinistik‘ des langen 16. Jahrhunderts fand also im Paris von Ludwig XIV. nicht statt und, überraschenderweise, auch nicht im nächsten, dem Bonner Corpus Scriptorum Historiae Byzantinae (1828– 1897). Ihr Promotor, der gestrenge Berliner Altphilologe August Immanuel Bekker (1785–1871), kritisierte in seinen lakonischen Vorworten zwar regelmäßig die Augsburger Vorläufer Wolf, Pontanus und Hoeschel, aber er druckte ––––––––– 39

Einen ähnlich ökumenischen Umgang mit diesem Erbe pflegte auch die bedeutendste deutsche Begutachtung der byzantinischen Historiker des späten 17. Jahrhunderts. Vgl. Martin Hanke: De Byzantinarum rerum scriptoribus Graecis liber. Leipzig 1677. Hanke (1633– 1709), Gymnasialprofessor bei St. Elisabeth in Breslau, machte sich einen Auszug aus dem (unbezahlbaren) französischen Corpus, eine Art ‚Konstantinopolitaner Literaturgeschichte‘, in die er die Autorenbeurteilungen (iudicia) der älteren Tradition unterschiedslos übernahm.

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Markus Völkel

ihre ‚unmöglichen Übersetzungen‘ anstandslos wieder ab.40 Erst mit dem heutigen, international dezentralen Corpus Fontium Historiae Byzantinae scheint die unmittelbare Wirkungsgeschichte der Augsburger Ausgaben abgeschlossen zu sein. Aber auch dieser Eindruck kann täuschen. Es wäre eine Aufgabe der nächsten Byzantinistengeneration, einmal zu überprüfen, was die modernen Editionen den jeweiligen Erstausgaben noch philologisch verdanken.

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Immanuel Bekker: Praefatio. In. Theophylacti Simocattae Historiarum libri octo. Bonn 1836, S. VI: Pontani quoque reccidi annotationes quippe pueris scriptis. Eiusdem versionem Latinam non dubitavi recingere, sicubi aut a sententiae veritate aut a sermonis puritate longius videretur declinare.

Stefan W. Römmelt

„Als ob ich den ganzen Martial kommentiert hätte“ Matthäus Rader SJ, ein problematischer Schulautor und die jesuitische Zensurpraxis in Augsburg um 1600

Die obscoenitas des römischen Dichters M. Valerius Martialis,1 der im Späthumanismus2 intensiv rezipierten 3 und neben Catull4 maßgeblichen auctoritas des lateinischen Epigramms, 5 konnte um 1600 seriösen Philologen im Klerikerge-

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Als Textgrundlage wurde herangezogen: W. M. Lindsay (Hg.): M. Val. Martialis Epigrammata. 2. Auflage des 13. Nachdrucks. Oxford 1989. Zur obscoenitas bei Martial vgl. John Patrick Sullivan: Martial: the unexpected classic. A literary and historical study. Cambridge u. a. 1991, S. 64–72, 185–210; Niklas Holzberg: Martial und das antike Epigramm. Darmstadt 2002, S. 109–119. Zum gleichfalls problematischen Herrscherlob Martials vgl. jetzt Jens Leberl: Domitian und die Dichter. Poesie als Medium der Herrschaftsdarstellung. Göttingen 2004. Zum Späthumanismus vgl. Erich Trunz: Der deutsche Späthumanismus um 1600 als Standeskultur. In: ders.: Deutsche Literatur zwischen Späthumanismus und Barock. Acht Studien. München 1995, S. 7–82; Wilhelm Kühlmann: Gelehrtenrepublik und Fürstenstaat. Entwicklung und Kritik des deutschen Späthumanismus in der Literatur des Barockzeitalters. Tübingen 1982 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 3); Notker Hammerstein und Gerrit Walther (Hgg.): Späthumanismus. Studien über das Ende einer kulturhistorischen Epoche. Göttingen 2000, hier besonders die Einleitung. So erschienen in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts und gehäuft um 1600 zahlreiche Martialeditionen und -kommentare: Simon Colinaeus: Martialis epigrammaton libri XIIII summa diligentia castigati. Paris 1553; Hadrianus Junius: M. VAL. MARTIALIS EPIGRAMMATON LIBRI XII […]. Antwerpen 1579; Justus Lipsius: Martialis epigrammata expurgate. Verona 1597; Matthäus Rader: Martialis epigrammata omni obscoenitate sublata. Ingolstadt 1599; Didier Hérault: Animadversiones ad libros XII epigrammaton M. Val. Martialis. Paris 1600; Domizio Calderino und Giorgio Merula: M. VALERII MARTIALIS EPIGRAMMATVM LIBRI XIV […]. Paris 1601; Matthäus Rader: M. VALERII MARTIALIS EPIGRAMMATON LIBRI OMNES, NOVIS COMMENTARIIS, MVLTA CVRA, STVDIOQVE, CONFECTIS […]. Ingolstadt 1602; Janus Gruter: Martialis epigrammaton libri XV […] correcti atque emendati a Jano Grutero. Frankfurt a. M. 1602; Lorenzo Ramirez de Prado: M. VALERII MARTIALIS EPIGRAMMATVM LIBRI XV […]. Paris 1607; Matthäus Rader: Ad M. Valerii Martialis Epiprammaton Libros Omnes, Plenis Commentariis […] Curae secundae. Ingolstadt 1611. Vgl. hierzu Sullivan: Martial (wie Anm. 1), S. 291–295, besonders S. 294f. (Rader). Zur changierenden Bewertung Martials und seines „Konkurrenten“ Catull als Meister des Epigramms vgl. Bruce W. Swann: Martial’s Catullus. The Reception of an Epigrammatic Rival. Hildesheim u. a. 1994 (Spudasmata. Studien zur Klassischen Philologie und ihren Grenzgebieten 54), S. 82–139. Zu Martials Einfluss auf das antike Epigramm vgl. Holzberg: Martial (wie Anm. 1), S. 19– 62. Zu Martial und dem Epigramm im (Spät-)Humanismus vgl. Sullivan: Martial (wie Anm. 1), S. 267–291.

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Stefan W. Römmelt

wand Schwierigkeiten 6 bereiten. Dies belegt ein Brief des Augsburger Jesuiten Matthäus Rader (1561–1634)7 an den Stadtpfleger Marcus Welser (1558–1614)8 aus dem Jahr 1602. In diesem beklagt sich der Kleriker über ein in der römischen Ordenszentrale kursierendes Gerücht, sein im selben Jahr erschienener Martialkommentar behandle den ganzen Martial, also auch obszöne Gedichte: Als ob ich den ganzen Martial, und zwar weder gereinigt noch kastriert, kommentiert hätte. 9 Auch wenn der Vorwurf nicht der Wirklichkeit entsprach, sah sich Rader zu sofortigem Handeln gezwungen und schickte ein Exemplar des ins Zwielicht der obscoenitas geratenen Opus an die Ordenszentrale. Ansonsten hätte der Eindruck entstehen können, das ordensinterne Zensursystem auf Provinzebene hätte versagt.

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Ebd., S. 293 formuliert das widersprüchliche Verhältnis der Jesuiten zu Martial folgendermaßen: “They were attracted, on the one hand, by the wit and logic of Martial and his ancillary value for the art of Latin verse composition, but, on the other, they had serious moral reservations about his blatant obscenity.” Zu Rader vgl. Alois Schmid (Hg.): P. Matthäus Rader SJ. Band I: 1595–1612. Bearbeitet von Helmut Zäh und Silvia Strodel. München 1995 (Bayerische Gelehrtenkorrespondenz 1), hier bes. S. XXIII–XLVI; ders.: Die Vita Petri Canisii des P. Matthäus Rader SJ. In: Petrus Canisius. Reformer der Kirche. Festschrift zum 400. Todestag des zweiten Apostels Deutschlands. Hg. von Julius Oswald und Peter Rummel. Augsburg 1996 (Jahrbuch des Vereins für Augsburger Bistumsgeschichte 30), S. 223–243; ders.: Der Briefwechsel des P. Matthäus Rader SJ. Eine neue Quelle zur Kulturgeschichte Bayerns im 17. Jahrhundert. In: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 60 (1997), S. 1109–1140; ders.: Die „Bavaria sancta et pia“ des P. Matthäus Rader SJ. In: Les princes et l'histoire du XIVe au XVIIIe siècle. Actes du colloque organisé par l’Université de Versailles-Saint Quentin et l’Institut Historique Allemand, Paris-Versailles, 13–16 mars 1996. Hg. von Chantal Grell, Werner Paravicini und Jürgen Voss. Bonn 1998 (Pariser Historische Studien 47), S. 499–522; Stefan Benz: Zwischen Tradition und Kritik. Katholische Geschichtsschreibung im barocken Heiligen Römischen Reich. Husum 2003 (Historische Studien 473), S. 480f. u. ö.; Alois Schmid: Wissenschaftliches Leben im Jesuitenkolleg St. Salvator zu Augsburg. Der Briefwechsel des P. Matthäus Rader. In: Jakob Bidermann und sein „Cenodoxus“. Der bedeutendste Dramatiker aus dem Jesuitenorden und sein erfolgreichstes Stück. Hg. von Helmut Gier. Regensburg 2005 (Jesuitica. Quellen und Studien zu Geschichte, Kunst und Literatur der Gesellschaft Jesu im deutschsprachigen Raum 8 = Schwäbische Geschichtsquellen und Forschungen 25), S. 61–78; ders.: P. Matthäus Rader SJ und Justus Lipsius. Aus ihrem Briefwechsel. In: Geschichte in Räumen. Festschrift für Rolf Kießling zum 65. Geburtstag. Hg. von Johannes Burkhardt, Thomas Max Safley und Sabine Ullmann. Konstanz 2007, S. 261–277; ders. (Hg.): P. Matthäus Rader SJ. Bd. 2: Die Korrespondenz mit Marcus Welser. Bearbeitet von Rita Haub und Stefan W. Römmelt (Bayerische Gelehrtenkorrespondenz 3; in Druckvorbereitung). Zu Welser s. Magnus Ulrich Ferber: „Scio multos te amicos habere“. Wissensvermittlung und Wissenssicherung im Späthumanismus am Beispiel des Epistolariums Marx Welsers d. J. (1558–1614). Augsburg 2008 und die Literaturangaben im Beitrag von Alois Schmid, S. 421, Anm. 1. Quasi integrum Martialem nec purgatum nec castratum enarrassem (Archiv der deutschen Provinz der Jesuiten [= ADPSJ] Abt. 42, Nr. 2, 2, Nr. 222).

„Als ob ich den ganzen Martial kommentiert hätte“

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Mit der Zensurpraxis10 der Gesellschaft Jesu 11 um 1600 beschäftigt sich der vorliegende Beitrag. Das Beispiel der bikonfessionellen Reichsstadt Augsburg12 bietet sich zur „Probebohrung“ in Sachen Zensur13 an: Die schwäbische Metropole bildete um 1600 mit den am 1582 gegründeten Kolleg St. Salvator14 wirkenden Jesuiten Jacob Pontanus (1542–1626)15 und Matthäus Rader, David Hoeschel (1556–1617),16 dem lutheranischen Direktor des Gymnasiums bei St.

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Zu frühneuzeitlichen „Zensurlehren“ vgl. jetzt Lucia Bianchin: Dove non arriva la legge. Dottrine della censura nella prima età moderna. Bologna 2005 (Annali dell’Istituto storico italo-germanico. Monografie 41). Eine Studie über die jesuitische Zensurpraxis fehlt. Erste Überlegungen hierzu bei Karl Theodor von Heigel: Zur Geschichte des Censurwesens in der Gesellschaft Jesu. In: Archiv für Geschichte des Deutschen Buchhandels 6 (1881), S. 162–167. Zu Augsburg um 1600 vgl. Bernd Roeck: Eine Stadt in Krieg und Frieden. Studien zur Geschichte der Reichsstadt Augsburg zwischen Kalenderstreit und Parität. 2 Bde. Göttingen 1989 (Schriften der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften 37). Zur Geschichte der frühneuzeitlichen Zensur in Augsburg vgl. Georg Costa: Die Rechtseinrichtung der Zensur in der Reichsstadt Augsburg. In: Zeitschrift des Historischen Vereins für Schwaben 42 (1916), S. 1–82; Volker Büchler: Die Zensur im frühneuzeitlichen Augsburg 1515–1806. In: Zeitschrift des Historischen Vereins für Schwaben 84 (1991), S. 69–128; Wolfgang Wüst: Censur und Censurkollegium im frühmodernen Konfessionsstaat. In: Augsburger Buchdruck und Verlagswesen. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Hg. von Helmut Gier und Johannes Janota. Wiesbaden 1997, S. 569–586; Wolfgang Wüst: Censur als Stütze von Staat und Kirche in der Frühmoderne. Augsburg, Bayern, Kurmainz und Württemberg im Vergleich. München 1998 (Schriften der Philosophischen Fakultäten der Universität Augsburg 57); Wolfgang Wüst: Zensur und Konfession in den Stadtrepubliken Oberdeutschlands. In: Zensur im Jahrhundert der Aufklärung. Geschichte – Theorie – Praxis. Hg. von Wilhelm Haefs und York-Gothart Mix. Göttingen 2006, S. 275–303. Zum Jesuitenkolleg St. Salvator vgl. Annales Augustani Collegii S. J. 1559–1619 (Bibliothèque Cantonale et Univérsitaire Fribourg; benutzt wurde eine im Besitz der Universität Augsburg befindliche Kopie); Wolfram Baer (Hg.): Die Jesuiten und ihre Schule St. Salvator in Augsburg 1582. München, Augsburg 1982; Paul B. Rupp: Die Schüler des Augsburger Jesuitengymnasiums 1582–1614. Augsburg 1994 (Materialien zur Geschichte des Bayerischen Schwaben 20). Zu Pontanus vgl. Barbara Mahlmann-Bauer: Jacob Pontanus SJ, ein oberdeutscher Lipsius. Ein Augsburger Schulmann zwischen italienischer Renaissancegelehrsamkeit und jesuitischer Dichtungstradition. In: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 47 (1984), S. 77– 120; dies.: Jesuitische „ars rhetorica“ im Zeitalter der Glaubenskämpfe. Frankfurt a. M., Bern, New York 1986 (Mikrokosmos 18); dies.: Jacob Pontanus in Augsburg. Seine Schülergespräche, seine Poetik und sein Drama „Opferung Isaaks“. In: Gier (Hg.): Bidermann (wie Anm. 7), S. 61–78. Zu Hoeschel vgl. Richard Schmidbauer: Die Augsburger Stadtbibliothekare durch vier Jahrhunderte (1537–1952). Augsburg 1963 (Abhandlungen zur Geschichte der Stadt Augsburg 10); Siegfried Spring: David Hoeschel 1556–1617. Rektor am Gymnasium bei St. Anna in Augsburg und Gräzist. In: Lebensbilder aus dem Bayerischen Schwaben. Bd. 14. Hg. von Wolfgang Haberl. Weißenhorn 1993, S. 85–121; Hans Eideneier: Von der Handschrift zum Druck. Martin Crusius und David Hoeschel als Sammler griechischer Venezianer Volksdrucke des 16. Jahrhunderts. In: Graeca recentiora in Germania. Deutsch-griechische Kulturbeziehungen vom 15. bis 19. Jahrhundert. Hg. von dems. Wiesbaden 1994 (Wolfenbütteler Forschungen 59), S. 27–45.

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Anna17 und Stadtbibliothekar, und dem offiziell auf konfessionellen Ausgleich bedachten, dabei dezidiert katholischen Stadtpfleger Marcus Welser, 18 Initiator des auf lateinische und griechische Drucke spezialisierten Verlages Ad insigne pinus,19 ein Zentrum der späthumanistischen Wissenschaftspflege und -vermittlung. In unserem Zusammenhang interessieren nicht Raders Arbeit am Martialtext und eine Analyse seiner Kommentierungstätigkeit, sondern das Phänomen der Vorzensur am Beispiel eines problematischen „Klassikers“ der lateinischen Literatur: Wie funktionierten die Mechanismen der (Selbst-)Zensur20 im Späthumanismus? Wie thematisierte Rader das Problem in Korrespondenzen und Vorreden? In welcher Form reagierte das gelehrte Publikum auf die Zensur und welcher Argumente bediente sich Rader in der Arena der Res publica litteraria, um die Zensur des Klassikertextes zu rechtfertigen? Als Fallbeispiele dienen neben einschlägigen Briefen aus der Raderkorrespondenz drei Paratexte Raders, die Vorrede der 1599 in Ingolstadt erschienenen ersten Auflage der für den Schulgebrauch bestimmten Martialausgabe21 und die Praefationes der ersten 22 und zweiten 23 Auflage des Martialkommentars, die 1602 und 1611 ebenfalls in Ingolstadt gedruckt wurden.

1.

Zur Geschichte der Augsburger Zensur im 16. und 17. Jahrhundert

Doch zuerst einige kurze Bemerkungen zur Geschichte der reichsstädtischen Zensur im Augsburg des 16. und frühen 17. Jahrhunderts, um das Umfeld der jesuitischen Zensur zu skizzieren. Maßgeblich für die Zensur im Heiligen Römischen Reich24 waren die Mandate der Reichstage: Nach der Einführung der

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Zur Geschichte des Gymnasiums bei St. Anna vgl. Karl Köberlin: Geschichte des Humanistischen Gymnasiums bei St. Anna in Augsburg von 1531 bis 1931. Augsburg 1931. Pointiert könnte man auch von einem „Welserkreis“ sprechen. Josef Bellot: „Ad insigne pinus“. Kulturgeschichte der Reichsstadt Augsburg im Spiegel eines Verlags an der Wende des 16./17. Jahrhunderts. In: Buchhandelsgeschichte 14. Beilage zum Börsenblatt für den deutschen Buchhandel 1978, Nr. 36, S. B 697–709; ders.: Humanismus – Bildungswesen – Buchdruck und Verlagsgeschichte. In: Geschichte der Stadt Augsburg von der Römerzeit bis zur Gegenwart. Hg. von Gunter Gottlieb, Wolfram Baer, Josef Becker, Josef Bellot, Karl Filser, Pankraz Fried, Wolfgang Reinhard und Bernhard Schimmelpfennig. Stuttgart 1984, S. 343–357, hier S. 352–354. Für das angrenzende Herzogtum/Kurfürstentum Bayern vgl. Dieter Breuer: Zensur und Literaturpolitik in den deutschen Territorialstaaten des 17. Jahrhunderts am Beispiel Bayerns. In: Stadt – Schule – Universität – Buchwesen und die deutsche Literatur im 17. Jahrhundert. Vorlagen und Diskussionen eines Barock-Symposions der Deutschen Forschungsgemeinschaft 1974 in Wolfenbüttel. Hg. von Albrecht Schöne. München 1976, S. 470–492. Rader: Martial 1599 (wie Anm. 3). Rader: Martialkommentar 1602 (wie Anm. 3). Rader: Martialkommentar 1611 (wie Anm. 3). Zur Geschichte der Zensur im Heiligen Römischen Reich vgl. Dieter Breuer: Geschichte der literarischen Zensur in Deutschland. Heidelberg 1982.

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Vorzensur auf dem Wormser Reichstag von 1521 und dem Nürnberger Reichsabschied von 1524, der die Territorien des Reiches zur Kontrolle des Druckwesens verpflichtete, bündelte der Abschied des Augsburger Reichstages von 1530 die bisher verabschiedeten Zensurvorschriften.25 In Augsburg, einer der wichtigsten Städte des Reiches und einem Zentrum des Druckwesens, hatte der Rat schon im zweiten Jahrzehnt des 16. Jahrhunderts erstmals Zensurvorschriften erlassen. Die erste erhaltene Druckzensurverordnung für die Reichsstadt Augsburg datiert aus dem Jahr 1515,26 fünf Jahre später, 1520, verpflichteten sich die Buchdrucker, nichts in schmach und verletzung der eren sachen, also Famosschriften, zu drucken, ohne vorher den Rat darüber informiert zu haben. Sieben Jahre später, im Jahre 1537, lässt sich erstmals eine Institutionalisierung der Zensur in Augsburg feststellen, die den Schulherren, den Scholarchen, übertragen wurde.27 Dass auch die Jesuiten ihre in Augsburg zu druckenden Opera der reichsstädtischen Zensur vorlegen mussten, belegt eine Bemerkung Raders im Zusammenhang mit der Publikation eines Weihegedichts für den Augsburger Fürstbischof Heinrich von Knöringen28 im Jahr 1599.29 Erst im Laufe des 17. und 18. Jahrhunderts etablierte sich das nach 1648 formal paritätisch besetzte Zensuramt, ein Ehrenamt, das nach den Bestimmungen eines reichsstädtischen Dekrets, das auf die Wahrung des öffentlichen und interkonfessionellen Friedens nach der Maßgabe der Grundgesetze des Reiches größten Wert legte, aus vier Deputierten, zwei Ratsherren als Vertretern des Patriziats und zwei bürgerlichen Ratskonsulenten, bestand. Da das Zensuramt von sich aus keine Sanktionen verhängen konnte, sondern auf die Unterstützung des Rates angewiesen war, kam es gelegentlich zu Konflikten zwischen Zensoren und Rat. Letzterer verurteilte sogar die Zensoren 1632 zu einer Geldstrafe, da sie als geweste censores […] in allen rechten, reichstagsabschieden und policeyordnungen hochverpotene famosschriften druckhen lassen.30 Offensichtlich vermochten die Zensoren nur bedingt die Publikation von Pamphleten und Spottgedichten zu verhindern.

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Zur Geschichte der Zensur im Reich des 16. Jahrhunderts vgl. Ulrich Eisenhardt: Die kaiserliche Aufsicht über Buchdruck, Buchhandel und Presse im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation (1496–1806). Ein Beitrag zur Geschichte der Bücher- und Pressezensur. Karlsruhe 1970; Reinhard Wittmann: Geschichte des deutschen Buchhandels. 2., durchges. Auflage. München 1999, S. 58–60. Zur Druckzensurverordnung von 1515 vgl. Adolf Buff: Die ältesten Augsburger Censuranordnungen. In: Archiv für Geschichte des deutschen Buchhandels 6 (1881), S. 251f. Zur Übertragung der Zensur an die Scholarchen vgl. Wüst: Zensur und Konfession (wie Anm. 13), S. 285f. [Matthäus Rader]: Henrico Pontifici Augustano confirmato consecrato, principi imperii ben. Mer. Collegivm Societatis Iesv Avgvstanvm observantiae caussa, lib. mer. scribebat. DD. Idibvs Ivnii Avgvstae Vindelicorvm. Augsburg 1600. Vgl. ADPSJ Abt. 42, Nr. 2, 2, Nr. 299: Mitto simul poema Reverendissimo dedicandum et Augustae apud Praetorium excudendum si tamen, quibus censendum ex lege, et mea voluntate offerro, uobis probatum erit. cupio abs te mitti caeteris censoribus cum officiosissima salute. Zitiert bei Wüst: Censur (wie Anm. 13), S. 18.

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2.

Stefan W. Römmelt

Die Korrespondenz des Matthäus Rader SJ und die jesuitische Zensurpraxis um 1600

Anders als die reichsstädtische Zensur verfügte die Gesellschaft Jesu über das entsprechende Instrumentarium, um eine effiziente Kontrolle der literarischen und wissenschaftlichen Publikationen aus jesuitischer Feder zu gewährleisten. Um die Kontrolle wissenschaftlicher Literatur aus jesuitischer Feder und antiker Literatur im Augsburg um 1600, d. h. die jesuitische Selbstzensur, ein bisher wenig beachtetes Thema, soll es im Folgenden gehen. Ein wichtiges Quellencorpus für die Augsburger Zensurgeschichte um 1600 liefert der bereits erwähnte Briefwechsel des aus Südtirol stammenden Jesuiten Matthäus Rader, der von 1591 bis 1612 in Augsburg als Rhetoriklehrer am Gymnasium des Jesuitenkollegs St. Salvator wirkte. Das umfangreiche Œuvre Raders an philologischen und historiographischen Arbeiten unterlag der ordensinternen Vorzensur auf der Ebene der oberdeutschen Provinz der Gesellschaft Jesu. An der Vorzensur waren drei verschiedene Ebenen beteiligt: Das Augsburger Kolleg bildete in diesem Fall nur die unterste Ebene, während die oberdeutsche Provinz, die römische Ordensleitung und in Extremfällen auch die römische Kurie die Publikation wissenschaftlicher Literatur verzögern oder gar verhindern konnte. Zugleich liefen in Augsburg zahlreiche Informationen über den jesuitischen Wissenschaftsbetrieb zusammen, so dass das Kolleg von St. Salvator stets ausgezeichnet über die Projekte oder Neuerscheinungen in der oberdeutschen Provinz informiert war. Anders als man es vielleicht vermuten könnte, waren die Namen der jeweiligen Zensoren dem Autor durchaus bekannt und die Zensoren traten auch mit Rader durch Briefe direkt in Kontakt. Gelegentlich konnte die Kritik durchaus scharf ausfallen, wenn etwa der Ingolstädter Jesuit Rudolf Mattmann einzelne Stellen im Manuskript der zweiten Auflage des Martialkommentars beanstandete. 31 Zur Vorzensur gehörte das Korrekturlesen; im Fall der Martialausgabe war der Ingolstädter Jesuit Jacob Keller an der Durchsicht des Manuskripts beteiligt.32 Der Briefwechsel erhellt, wie sorgfältig die Jesuiten darauf bedacht waren, erstklassige Bücher auf den Markt zu bringen, und deswegen großen Wert auf die Korrektur ihrer wissenschaftlichen und literarischen Werke legten. Klagen über fehlerhafte Manuskripte, die von des Lateinischen nur bedingt kundigen Gymnasiasten abgeschrieben wurden, finden sich häufig. An dieser Stelle sei nur auf die bereits angesprochene Entstehungsgeschichte von Raders AfraDrama33 verwiesen, das 1600 in Augsburg uraufgeführt wurde. So wies Marcus Welser Rader auf mehrfache Wiederholungen und eine zum Teil archaisierende Wortwahl hin, die der Jesuit mit dem Hinweis auf die von längeren Pausen un-

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Vgl. den Brief Rudolf Mattmanns an Rader vom 27. 3. 1611 (Schmid [Hg.]: Rader I [wie Anm. 7], Nr. 267). Vgl. das Schreiben Jacob Kellers an Rader vom 4. 5. [1599] (ebd., Nr. 37). Zur Entstehung der Afra vgl. ADPSJ Abt. 42, Nr. 2, 2, Nr. 296, Nr. 270; Nr. 2, 1, Nr. 274; Nr. 2, 2, Nr. 288; Nr. 2, 1, Nr. 286; Nr. 2, 2, Nr. 271, Nr. 287; Nr. 2, 1, Nr. 223; Nr. 2, 2, Nr. 278, 279, 219, 216.

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terbrochene Arbeit an der Afra entschuldigte34 – dass ein Jesuitendrama „inoffiziell“ von einem Nichtordensmitglied „zensiert“ wurde, dürfte wohl nicht nur im Augsburger Kolleg, sondern in der oberdeutschen Provinz die absolute Ausnahme gewesen sein. Ansonsten übernahmen ein oder mehrere35 Ordensbrüder, wie der Regensburger Wolfgang Schönsleder im Fall der Martialausgabe von 1599, im Auftrag des Provinzials die Vorzensur;36 der Autor besaß offensichtlich das Recht, potentielle Zensoren zu benennen. Auch mit der Vorzensur des 1602 publizierten Martialkommentars wurden zwei Ordensmitglieder, Leonhard Hönigler und Rudolf Mattmann, betraut,37 die Rader bereits während der Abfassung seines Manuskripts unterstützt und so in das Projekt Einblick gewonnen hatten. Die Raderkorrespondenz ermöglicht auch weitere Blicke in die gelegentlich Jahre dauernde ordensinterne Vorzensur: So musste der Mainzer Jesuit Nicolaus Serarius mehrere Jahre auf das Ergebnis der römischen Zensur zu seinen Kommentaren zu mehreren Büchern des Alten Testaments warten, erhielt aber letztlich dennoch die Genehmigung zur 1599 erfolgten Publikation seines Werkes. 38 Gelegentlich kam es auch vor, dass Publikationen aus inhaltlichen Gründen als unzureichend eingestuft wurden und deswegen ganz ungedruckt blieben. Hier sei auf das Beispiel einer Ausgabe des byzantinischen Historikers Theophylaktos Simokates verwiesen, in dessen Zensur laut Ausweis der Korrespondenz zwischen Rader und Welser auch Marcus Welser eingebunden wurde. Nachdem Qualitätsmängel der Arbeit deutlich geworden waren, ging das Manuskript an den Autor zurück; von einer Publikation oder der Begutachtung einer überarbeiteten Fassung ist nichts überliefert – ein Opfer der jesuitischen Vorzensur. 39 Ein weiteres, prominentes Beispiel für ein ungedruckt gebliebenes wissenschaftliches Werk stellt die Velificatio des Johannes Decker dar, die in Raders Korrespondenz mehrfach thematisiert wird. Der Grazer Jesuit hatte sich intensiv mit antiker und biblischer Chronologie beschäftigt und war im Rahmen seiner

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Vgl. ADPSJ Abt. 42, NR. 2, 1, Nr. 223 (Sed ut uideas quam ego aduersus te candidè, Dixi P. Gregorio, quid ex prologo tollendum censeam, Et P. Pontanum hodie monui, antiquarias dictiones […] paullo frequentiores recurrere) und ADPSJ Abt. 42, Nr. 2, 2, Nr. 278 (Rectè notasti iterata verba antiquiora). Gelegentlich übernahmen vier Zensoren wie im Fall der 1600 in Ingolstadt erschienenen Abhandlung De Cruce Christi Jacob Gretsers die Durchsicht des Manuskripts; vgl. Schmid (Hg.): Rader I (wie Anm. 7), Nr. 45. Vgl. die Schreiben des Provinzials Otto Eisenreich vom 12. 12. 1598 (ebd., Nr. 25) und Wolfgang Schönsleders vom 21. 12. [1598] (ebd., Nr. 26) an Rader. Vgl. den Brief Leonhard Höniglers an Rader vom 5. 1. 1601 (ebd., Nr. 95). Vgl. die Briefe des Serarius an Rader vom 4. 2. [1598] und 11. 6. [1598] (abgedruckt in ebd., Nr. 14; Nr. 21). Vgl. hierzu Raders Schreiben ADPSJ Abt. 42, Nr. 2, 2, Nr. 278 (Accepi per hosce dies P. Hagelij Simocatam quem hic terni censemus) und Welsers Antwort ADPSJ Abt. 42, Nr. 2, 1, Nr. 301 (Simocatum […] cuperem inspicere, si per leges tamen uestras Censoria liceat, ante recensum cuiquam ostendere. Quod moram uerearis non est, statim hanc sitim, et primo quodammodo haustu extinguam, codicem cras summo mane remittam).

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Studien zu einer von den Annales Ecclesiastici des Kardinals Caesar Baronius abweichenden Datierung des Geburtsjahres Christi gelangt. Während eine erste Schrift Deckers 1605 noch ohne größere Schwierigkeiten erscheinen konnte, traf die zweite, umfassende Studie des Jesuiten das Verdikt des empfindlichen Kardinals, der für Kritik nur bedingt aufgeschlossen war, was zur Folge hatte, dass Papst Paul V. die Publikation der Studie Deckers untersagte. In diesem Falle halfen auch mehrere Anstrengungen der römischen Ordenszentrale nichts, eine Änderung der päpstlichen Entscheidung zu erreichen – Deckers Werk blieb ungedruckt.40 Der Vorzensur fiel auch die Erstfassung einer hagiographischen Abhandlung Raders zum Opfer – die Rede ist von der ersten Vita des für die katholische Konfessionalisierung Oberdeutschlands bedeutenden Jesuiten Petrus Canisius, eines Zeitgenossen Raders. Der Jesuit hatte sein Werk 1611 zur Begutachtung an die römische Ordenszentrale gesandt, die der Vita aber aus unbekannten Gründen ihr Placet versagte, und so verwahrt heute die römische Biblioteca Nazionale Centrale Raders Autograph der ersten Fassung der Vita. Notgedrungen verfasste Rader dann eine zweite Vita, die dann auch das Imprimatur der römischen Zentrale erhielt und 1614 in München gedruckt wurde.41 Doch auch die intensive jesuitische Vorzensur vermochte nicht jeden Druckfehler zu tilgen. Im Falle der raderschen Martialausgabe, auf die im Folgenden eingegangen wird, beklagte sich wohl Ende 1599 Jacob Bidermann,42 ein Meisterschüler Raders und nachmaliger Zensor in der römischen Ordenszentrale, in einem Brief über die große Menge der Druckfehler, die in der bereits zum Teil gedruckten Martialausgabe stehen geblieben waren: Mir sind viele Fehler im schon gedruckten Martial aufgefallen, und mit mir anderen, und zwar nicht als meine und auch nicht die des Buchdruckers, sondern als deine […]. 43 Offensichtlich konnte auch die ordensinterne Zensur der Gesellschaft Jesu nicht verhindern, dass sich mitunter Druckfehler in Manuskripte einschlichen. Dies hatte allerdings nicht zur Folge, dass die entsprechenden Publikationen zurückgezogen wurden.

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Vgl. hierzu die Schreiben Deckers an Rader vom 12. 8. 1604, 21. 10. 1604, Jahreswende 1604/05, 22. 1. 1605, 16. 2. 1605, 17. 3. 1605, 16. 6. 1605 (abgedruckt in: Schmid [Hg.]: Rader I [wie Anm. 7], Nr. 147, 155, 158, 159, 163, 164, 167). Vgl. hierzu ebd., Nr. 216, Anm. 10; Schmid: Vita Petri Canisii (wie Anm. 7), S. 225–228. Zu Bidermann vgl. Hans Pörnbacher: Jacob Bidermann. In: Lebensbilder aus dem Bayeri– schen Schwaben. Bd. 10. Weißenhorn 1973, S. 128–150 und neuerdings Gier: Bidermann (wie Anm. 7). Multos ego errores in Martiale iam impresso uideo, uident mecum alij, non meos, non typographicos, sed […] tuos (abgedruckt in: Schmid [Hg.]: Rader I [wie Anm. 7], Nr. 42, S. 89).

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3.

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Zwei Fallbeispiele für Zensur in Augsburg um 1600: die Martialausgabe und der Martialkommentar Matthäus Raders SJ

Während bei theologischen Werken das Problem allzu großer „Weltlichkeit“ und die obscoenitas im Allgemeinen keine Rolle spielten, galt dies nicht für die literarischen Werke der griechischen und römischen Literatur. Die Texte der antiken Klassiker wie Cicero, Vergil, Horaz und Martial gehörten zum Kanon der 1599 verabschiedeten Ratio Studiorum.44 Dies bedeutete aber nicht, dass die ordensinterne (Selbst-)Zensur vor Eingriffen in die Texte zurückgeschreckt hätte. Sie folgte damit dem späthumanistischen Mainstream. Dass die Philologen des 16. Jahrhunderts Martial als ergiebigen, aber auch gefährlichen Autor betrachteten, zeigen die zahlreichen, großteils purgierten Martialausgaben und -kommentare, die in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts in ganz Europa publiziert wurden.45 So hatte auch Justus Lipsius (1557– 1606),46 der späthumanistische Meistergelehrte, 1597 eine purgierte Martialausgabe auf den Markt gebracht. Im Zweifelsfall dichteten die Philologen obszöne Epigramme um oder ließen heikle Texte wie ein panegyrisches Gedicht aus dem Liber spectaculorum, das die Paarung einer zum Tode verurteilten Verbrecherin mit einem Stier beschreibt und dabei auf den Coitus der Pasiphae mit einem Stier anspielt, kommentarlos weg, so auch Rader. In der Übersetzung von Harry C. Schnur lautet das entsprechende, je nach Zählung fünfte oder sechste Epigramm: Glaubt, dass sich Pasiphae dem Stier von Kreta verbunden: / haben die Sage wir doch nunmehr bestätigt gesehn. / Caesar, es brüste sich nicht legendenumwobene Urzeit, / denn was die Fabel erzählt, bietet dein Zirkus dir dar. / Nicht genug, dass dir Mars, der waffengewaltige Kriegsheld / dient, den keiner bezwingt – Venus selbst dient dir getreu.47

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Georg Pachtler (Hg.): Ratio studiorum et institutiones scholasticae Societatis Jesu per Germaniam olim vigentes II. Berlin 1887 (Monumenta Germaniae Paedagogica 5). Vgl. Sullivan: Martial (wie Anm. 1), S. 291–295. Zu Lipsius vgl. die in Belgien und den Niederlanden publizierten Sammelbände: Alois Gerlo (Hg.): Juste Lipse (1547–1606). Colloque international tenu en mars 1987. Brüssel 1988 (Travaux de l’Institut Interuniversitaire pour les études de la Renaissance et de l’Humanisme 9); Karl Enenkel und Chris Heesekkers (Hgg.): Lipsius in Leiden. Studies in the Life and Works of a great Humanist on the occasion of his 450th anniversary. Voorthuizen 1997; Marc Laureys (Hg.): The World of Justus Lipsius: A Contribution Towards His Intellectual Biography. Proceedings of a colloquium held under the auspices of the Belgian Historical Institute in Rome (Rome, 22–24 May 1997). Brüssel 1998; Gilbert Tournoy u. a. (Hgg.): IUSTUS LIPSIUS EUROPAE LUMEN ET COLUMEN. Proceedings of the International Colloquium Leuven 17–19 September 1997. Löwen 1999 (Supplementa Humanistica Lovaniensia 15). Martial: Epigramme. Ausgewählt, übersetzt und erläutert von Harry C. Schnur. Stuttgart 1996, S. 15.

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Andere Kommentatoren wie Theodor Marcilius in seinem 1593 erschienenen Kommentar zum Liber spectaculorum druckten das Epigramm zwar ab, verzichteten aber auf eine intensivere Kommentierung.48 Die Initiative zu Raders Martialausgabe und dem Kommentar war von den Augsburger Buchhändlern Willer49 ausgegangen, wie ein Brief des Dillinger Jesuiten Rudolf Mattmann vom 26. Februar 1597 bezeugt. Man fragt sich, wieso ausgerechnet Rader mit dieser Aufgabe betraut wurde. Der Grund liegt wohl darin, dass Rader eine Sammlung von Epigrammen verfasst hatte, die mehrfach in seiner Korrespondenz erwähnt werden, aber bis auf ein Epigramm auf die hl. Afra, das möglicherweise in diesen Kontext gehört, verloren sind.50 Rader hatte sich so als Epigrammspezialist profiliert, dem die Edition der Martialepigramme unbedenklich anvertraut werden konnte. Wie Rader mehrfach, so in einem Brief an Justus Lipsius und in der Vorrede der Martialausgabe, betonte, sollte der Martial im Schulunterricht zum Einsatz gelangen, was besondere Vorsicht im Umgang mit der obscoenitas Martials erforderte. Das Werk schritt in den Jahren 1597 bis 1599 laut Ausweis der Raderkorrespondenz51 zügig voran. Insbesondere der intensive wissenschaftliche Austausch mit Marcus Welser52 diente der wissenschaftlichen Absicherung des Wortlautes und der Klärung von Sachfragen, so etwa der Abmessungen der Pyramiden oder der Bedeutung unklarer lateinischer Begriffe. Was die problematischen, obszönen Epigramme anbelangte, traf Rader wohl selbst die Entscheidung, welche Gedichte zu ersetzen waren. Zumindest ist in der Korrespondenz zwischen Rader und Welser kein Schreiben überliefert, das sich mit der obscoenitas befasste. Im Schreiben Raders an Justus Lipsius vom 27. Juli 1597 spricht der Augsburger Jesuit die obscoenitas-Problematik allerdings an. So heißt es dort: Ich habe nach dem Willen meiner Oberen einen Kommentar zu den Epigrammen des Martial verfasst, der unseren Schulen nützen soll, und zwar mit dem Ziel, dass man den reinen und lauteren Martial im Unterricht behandelt, nachdem die obszönen Passagen getilgt worden und auch nicht durch meine oder die Epigramme anderer ersetzt worden sind. Dies funktioniert bei einem Epigrammbuch ohne Probleme, da ein Epigramm nicht von dem anderen abhängt. Getilgt habe ich, um die Jugend nicht zu verderben oder sie in Versuchung zu führen, denn wenn man ein Kind ist, soll man tadellose Dinge lernen. Auf eine Ersetzung habe ich verzichtet, damit wir weder eige-

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Zu Theodor Marcilius vgl. Sullivan: Martial (wie Anm. 1), S. 292. Zu den Buchhändlern Willer vgl. Hans-Jörg Künast: Dokumentation: Augsburger Buchdrucker und Verleger. In: Augsburger Buchdruck und Verlagswesen. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Hg. von Helmut Gier und Johannes Janota. Wiesbaden 1997, S. 1205– 1240, hier S. 1232. Zu der verlorenen Epigrammsammlung Raders vgl. Schmid (Hg.): Rader I (wie Anm. 7), Nr. 2, 6, 38, 40. Vgl. ebd., Nr. 4, 5, 6, 7, 9, 12, 14, 15, 16, 18, 20, 24, 25, 26, 27, 31, 37, 38, 42, 43, 49. Vgl. die entsprechenden Briefe im ADPSJ (Signatur: Abt. 42, Nr. 2, 1, Nr. 222; Nr. 2, 2, Nr. 398; Nr. 2, 1, Nr. 226; Nr. 2, 2, Nr. 394; Nr. 2, 2, Nr. 392; Nr. 2, 2, Nr. 405; Nr. 2, 1, Nr. 292; Nr. 2, 2, Nr. 276; Nr. 2, 1, Nr. 228; Nr. 2, 2, Nr. 296; Nr: 2, 2, Nr. 295; Nr. 2, 1, Nr. 283; Nr. 2, 2, Nr. 299; Nr. 2, 2, Nr. 289; Nr. 2, 1, Nr. 266; Nr. 2, 2, Nr. 291; Nr. 2, 1, Nr. 288).

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ne Epigramme für fremde ausgeben noch uns ohne Aussicht auf Erfolg mit dem Genie des Dichters messen, es frieren nämlich meistens fremde, wenn man sie bemerkt, besonders wenn ihre Einstellung und ihr Stil sich deutlich von dem des eigentlichen Autors unterscheiden.53

Rader hatte sich also bereits im Sommer 1597 für eine radikale Lösung entschieden, da er einerseits auf die obszönen Epigramme verzichten wollte, zugleich aber auch davon absah, die entsprechenden Lücken in den Epigrammbüchern mit eigenen Epigrammata zu füllen. Sein Vorgehen begründete er mit der honestas iuuentutis, also mit der sittlichen Verantwortung für die Moral der heranwachsenden Gymnasiasten, und der eigenen beschränkten literarischen Begabung, die einem Vergleich mit Martials Epigrammen nicht standhalten könne. Wie dem Brief im Weiteren zu entnehmen ist, hatte Raders prominenter Antwerpener Ordensbruder Andreas Schott54 dem Vorgehen in Sachen Martial zugestimmt, den er in dieser Frage konsultiert hatte. In grundsätzlichen Fragen versicherte man sich so auch des Urteils eines Jesuiten, der nicht der eigenen Ordensprovinz angehörte, aber als Fachmann zu Rate gezogen wurde.

3. 1. Die Vorrede der Martialausgabe als Manifest jesuitischer Klassikerzensur in Augsburg um 1600 Schon das Titelblatt der raderschen Martialausgabe von 1599 informiert den Leser auf einen Blick über die Grundsätze der Edition: OMNI RERVM ET VERBORVM OBSCEnitate sublata, mendisque plurimis ad optimorum auctorum et exemplarium fidem, ex fide castigatis. Es handelt sich also um eine inhaltlich und im Wortlaut gereinigte Ausgabe, die sich um den bestmöglichen Text auf der Basis der zuverlässigsten Quellen bemüht. Dass der Leser nicht mit dem authentischen Martial konfrontiert wird, bringt ein Paratext Raders unmissverständlich zum Ausdruck: Das vorangestellte Widmungsgedicht aus der Feder des Jesuiten preist den neu-alten Martial hymnisch und umkreist die Feinsinnigkeit des aus einer Metamorphose hervorge-

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Institui, uoluntate maiorum meorum, commentari aliquid ad Martialis epigrammata, quod in usum sit gymnasiorum nostrorum, ea ratione, ut obscaenis detractis, nec meis uel alienis repositis (quod in epigrammatario facillimum est, cum epigramma non pendeat ab epigrammate) purus putus Martialis praelegatur. Illud, ne iuuentutis honestas uioletur aut offendatur, nam παῖδ’ ἔτ’ ἐόντα χρεὼν δὴ καλὰ διδασκάμεν ἔργα. Hoc, ne uel nostra pro alienis uenditemus, uel parum feliciter ingenio poetae respondeamus, frigent enim plerunque aliena sensa, praesertim distorta à mente et sententia ipsius auctoris. Abgedruckt in: Schmid (Hg.): Rader I (wie Anm. 7), Nr. 9, S. 17. Vgl. neuerdings Schmid: Rader und Lipsius (wie Anm. 7). Zu Andreas Schott SJ und der 1606 in Augsburg gedruckten griechisch-lateinischen Edition der Bibliothek des Photios, an deren Vorzensur Matthäus Rader und Jacob Gretser mitwirkten, vgl. neuerdings Luciano Canfora: Il Fozio ritrovato. Juan de Mariana e André Schott con l’inedita Epitome della Biblioteca di Fozio ed una raccolta di documenti a cura di Giuseppe Solaro. Appendici di Renata Roncali, Niccolò Zorzi, Margherita Losacco, Luciano Canfora. Bari 2001.

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gangenen Vates in 26 Elfsilblern. Nach einem Lob der Stärken Martials, des Lesevergnügens55 und des Scharfsinns, 56 das seine Texte vermitteln, beschreibt Rader die Verwandlung seines alten Autors mit dem Bild einer Umfärbung,57 an deren Ende aus dem alten Martial der reine poeata vates, der Dichter-Seher geworden ist, 58 der unbestrittene Meister des Scharfsinns.59 Während das Gedicht die radersche Martialausgabe prägnant poetologisch rechtfertigt, stellt das Vorwort60 der Martialausgabe, in dem Rader Rechenschaft über die Gründe und Grundsätze der von ihm veranstalteten Martialausgabe ablegt, ein Manifest der jesuitischen Klassikerzensur um 1600 dar und bietet auf neun Seiten Einblick in Möglichkeiten und Grenzen der jesuitischen Spielart des Späthumanismus. Rader bettet die Martialausgabe in den weiteren Kontext der jesuitischen Klassikerpflege, der Beschäftigung mit den DISCIPLINAS LIBERAles ein:61 Sei schon die Vermittlung der artes liberales durch die Gesellschaft Jesu an sich vernünftig, gelte dies umso mehr für – den gezähmten – Martial, dessen Witz auch die ermüdeten Schüler wieder aus ihrem Schlaf wecken könne: Wir sind aber der Meinung gewesen, dass Martial, und zwar nicht der schamlose, sondern der moralische, ehrfurchtsvolle und bescheidene, in die heiligen Tempel der Musen wegen seiner herausragenden Begabung und seiner Nützlichkeit für die meisten Fächer aufgenommen werden solle, damit er mit Salz, Pfeffer, Honig und auch mit Essig die Vorlesungen befruchtet und die ermüdeten und vom Schlaf erschlafften oder auch von der Wärme gebrochenen Geister der Jugendlichen zum scharfen Nachdenken und zur Heiterkeit anstachelt.62

Im Folgenden entfaltet der Augsburger Jesuit in ciceronianischer Breite den Kosmos der martialschen Gedichte, deren antiquarischen Wert er mit langen Aufzählungen belegt. Martials Epigramme fungieren so als universale kulturhistorische Quelle ersten Ranges, der Rader zubilligt, große Teile der antiken Welt abzubilden: Was sieht, spricht, kämpft man im Theater, dem Circus, dem Amphitheater und den Naumachien, in der Orchestra, auf den Plätzen der Ritter und des Volkes, was Martial nicht berührte? Was führt man Krieg, was tut und erzählt man am Hof, was außerhalb und innerhalb Roms, was auf dem Forum, in den Heiligtümern, Privathäusern,

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Iucundissimus ille Martialis (Rader: Martial 1599 [wie Anm. 3], S. 9). Argutissimus ille Martialis (ebd., S. 10). vetus ille Martialis, Qvi nunc virgineo pudore tinctus (ebd, S. 15f.). Eluto sacer exit ore Vates (ebd., S. 20f.). rex et pater omnium leporum (ebd., S. 24). Ebd., S. 1–8. Ebd., S. 1. Martialem autem (non effrontem illum, sed iam ad omnem honestatem, verecundiam, et modestiam compositum) in sacra Musarum templa […] ob insigne ingenium plurimasque […] studiorum vtilitates adsciscendum putauimus, qui […] sale, pipere, melle, felle etiam acetoque praelectiones imbueret […] et fatigatos iuuenum animos, somnoue languidos, vel calore fractos ad alacritatem hilaritatemque excitaret […] (ebd., S. 1f.).

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Gärten, Vorstädten, Thermen, was zu Hause und auf dem Land, was in Italien, Spanien, Germanien, Italien und Skythien, worüber Martial schwiege?63

Sogar in die kulinarische Welt der Gastmähler entführt der Cocus und Gleiches gilt auch für die staatliche und gesellschaftliche Ordnung. Zusammenfassend konstatiert Rader, dass Martial aus diesen antiquarisch-enzyklopädischen Gründen unbedingt am Gymnasium unterrichtet werden müsse: Schließlich gibt es fast keinen Bereich des Altertums, den Martial unberührt überginge, so dass er allein schon aus diesem einen Grund von den Lehrstühlen der Lehrer und den Ohren der Schüler nicht auszuschließen ist.64

Hinzu kommen der martialsche Witz, dessen moralische Haltung und sein artistisches Schreiben, dessen Technik für die Verfasser von Epigrammen unersetzbar ist: Potuitne vel artificiosius, vel ingeniosius hominum labes et vitiositates emendare? 65 Eine rhetorische Frage. Rader wendet nun sein Augenmerk der je nach Gelegenheit differenzierten Schreibtechnik seines Helden zu, deren stimulierende und entlarvende Kraft er nicht müde wird zu preisen. Die zwei Hauptschwächen Martials aus jesuitischer Sicht, die panegyrischen, an die Adresse Domitians gerichteten Schmeicheleien und die obszönen Gedichte, erwähnt Rader ebenfalls: Ich entschuldige nicht seine Schmeicheleien, obwohl diese die Zwangssituation und seine Armut ausdrückt, und ich klage auch seine Schlüpfrigkeiten an, ja ich lösche und radiere sie gänzlich aus.66

Obwohl er die Abfassung der panegyrischen Gedichte zumindest mit dem Hinweis auf die Bedürftigkeit des Autors erklärt, bringt er für die freizügigen Epigramme kein Verständnis auf. Diese fallen dann auch der Zensur zum Opfer, für die Rader die recht gewaltsam anmutenden Verba expungere und eradere wählt – ein im wahrsten Sinne des Wortes radikaler Akt der Auslöschung. Nach diesem Exkurs in die aus jesuitischer Sicht zu entschärfenden Felder der Dichtungen Martials stellt Rader stilkritische Überlegungen über die Bedeutung der Sprache Martials an und verweist auf dessen reiches Vokabular, das er mit einem Füllhorn vergleicht. Als Schulmann betont der Jesuit die gedankliche Schärfe und Präzision Martials, dessen Gedichte auch für die eigene

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Quid in Theatro, Circo, Amphitheatro, Naumachiis, Orchestra, Equestribus, Popularibus spectatur, dicitur, pugnatur, quod non tangat Martialis? Quid in aula, quid extra, quid in vrbe, quid extra vrbem, quid in foro, fanis, aedibus, hortis, suburbiis, thermis, quid domi, ruriue, quid in Italia, Hispania, Germania, Dacia, Scythia, Sarmatia bellatur, geritur, narratur, quod taceat Martialis? (ebd., S. 2f.). Nulle denique fere antiquitatis pars est, quam intactam praetereat Martialis, vt vel hoc uno nomine a magistrorum cathedris, et discipulorum auribus non sit excludendus (ebd., S. 3f.). Ebd., S. 4. Adulationes non excuso, quamuis eas improba necessitas expresserit, et egestas, lasciva etiam accuso, immo penitus expungo atque erado (ebd., S. 4).

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Stefan W. Römmelt

Zeit als Stilmuster für die um 1600 geschätzten Gelegenheitsdichtungen verschiedenster Art dienen können und somit konkreten praktischen Wert besitzen: Zum Schreibgebrauch und zum Geist unserer Zeiten, weil er lange Worte abkürzt, kurze, scharfsinnige und gepfefferte Ausdrücke sogar am meisten schätzt […] Du hast hier, was heute häufig gefragt ist, Geburtstagsgedichte, Grabinschriften, Grußworte, Glückwünsche, Lobreden, Bittschriften, Scherze, Lachen, scharfsinnige Aphorismen und was auch immer du fast an jeder Art von Inhalt ersehnen kannst.67

Mit diesen Ausführungen hofft Rader begründet zu haben, wieso Martial in den Lehrplan der Gymnasien des Jesuitenordens Eingang fand. Zugleich betont er nochmals die aus seiner Sicht unumgängliche Zensur Martials, um die Jugend vor verderblichen Einflüssen zu schützen: All dies habe ich zugegebenermaßen ziemlich ausführlich erörtert, um verständlich zu machen, warum wir diesen Dichter in unseren Schulen öffentlich erklären lassen, und warum wir seine Ausdrucksweise, wo sie zu anmaßend war, gezüchtigt haben, weil er unsere Jugend nur dann beflügeln kann, wenn er zuvor gelernt hat, ziemlich tadellos sich einer achtsamen Sprache zu befleißigen.68

Bevor Martial das Rederecht im Lateinunterricht erhält, muss er so gewissermaßen ein zweites Mal das Sprechen lernen – ein prägnantes Bild für den jesuitischen Eingriff in die Literatur und deren Entschärfung durch Zensur. Besonders hart traf es die Bücher 3, 6, 9 und 11. Es blieben übrig: 56 von 100, 67 von 94, 83 von 103 und 54 von 108 Gedichten. Wahrlich ein purgierter Martial. Buch

Martial

Rader

Epigrammaton liber Epigrammaton liber I Epigrammaton liber II Epigrammaton liber III Epigrammaton liber IV Epigrammaton liber V Epigrammaton liber VI Epigrammaton liber VII Epigrammaton liber VIII Epigrammaton liber IX Epigrammaton liber X Epigrammaton liber XI

36 119 93 100 89 84 94 99 82 103 104 108

27 96 65 56 75 81 67 83 76 83 85 54

–––––––– 67

68

Ad vsum […] scribendi, nostrorumque temporum ingenium, quod longos logos fastidit, brevia, acuta, piperata dicta, vel maxime amat […] Habes hic (quae hodie frequentantur) natalicia […] epitaphia, salutationes, gratulationes, laudes, petitiones, iocos, risus, sales et quidquid in vllo fere argumenti genere desiderari possis (ebd., S. 5). Quae quidem omnia disputaui copiosius, vt intelligeretur, cur hunc poetam in gymnasiis nostris exponendum publice susceperimus, eiusque linguam, vbi petulantior, castigauerimus, quod alias ad iuuentutem nostram aspirare non posset, nisi disceret ante verecundo sanctius ore loqui (ebd., S. 5).

323

„Als ob ich den ganzen Martial kommentiert hätte“

Epigrammaton liber XII Epigrammaton liber XIII Epigrammaton liber XIV

98 127 223

86 122 193

3. 2. Die Vorreden der ersten (1602) und zweiten Auflage (1611) des Martialkommentars als Orte des Zensurdiskurses Auch in der Korrespondenz zwischen Rader und Welser69 spielt die Entstehung des Martialkommentars eine wichtige Rolle. Schlägt man die erste Auflage des voluminösen Martialkommentars von 160270 auf, die 892 Seiten umfasst, stößt man auf eine panegyrische Widmungsrede auf die Familie Welser, 71 die das Problem der obscoenitas umgeht, was in diesem Kontext nicht verwundert. Die Praefatio ad Lectorem72 begründet den ausführlichen Kommentar nicht mit der schwer verständlichen Ausdrucksweise, sondern der historischen Distanz des zeitgenössischen Lesers um 1600 zur Epoche Martials und den hieraus resultierenden Interpretationsproblemen: Wir selbst tragen die Dunkelheit mit uns an seine Lektüre heran, da wir nur unzureichend in den Belangen des Altertums und der Vergangenheit bewandert sind. 73 Im Folgenden betont Rader die positiven, stilistischen und bildenden Werte des gereinigten Martial – die Rede ist von der Kraft, Spitzfindigkeit und Schärfe des Epigramms. 74 Mit der öffentlichen Sittsamkeit begründet der Jesuit die Streichung allzu gewollter Wendungen und lasziver Verse. 75 Konkret ist hiermit der Einsatz im Literaturunterricht an den jesuitischen Gymnasien gemeint, 76 der

–––––––– 69

70 71 72 73 74 75 76

ADPSJ Abt. 42, Nr. 2, 2, Nr. 243; Nr. 2, 1, Nr. 277; Nr. 2, 2, Nr. 327; Nr. 2, 2, Nr. 286; Nr. 2, 2, Nr. 304; Nr. 2, 2, Nr. 273; Nr. 2, 2, Nr. 326; Nr: 2, 2, Nr. 287; Nr. 2, 1, Nr. 223; Nr. 2, 2, Nr. 396; Nr. 2, 1, Nr. 237; Nr. 2, 2, Nr. 279; Nr. 2, 1, Nr. 329; Nr. 2, 2, Nr. 220; Nr. 2, 2, Nr. 254; Nr: 2, 2, Nr. 403; Nr. 2, 1, Nr. 224; Nr. 2, 1, Nr. 229; Nr. 2, 2, Nr. 282; Nr. 2, 1, Nr. 347; Nr. 2, 2, Nr. 345; Nr. 2, 1, Nr. 239; Nr. 2, 1, Nr. 269; Nr. 2, 2, Nr. 260; Nr. 2, 2, Nr. 219; Nr. 2, 2, Nr. 252; Nr. 2, 1, Nr. 281; Nr: 2, 2, Nr. 216; Nr. 2, 2, Nr. 218; Nr. 2, 2, Nr. 406; Nr. 2, 2, Nr. 221; Nr. 2, 2, Nr. 275; Nr. 2, 1, Nr. 285; Nr. 2, 2, Nr. 256; Nr. 2, 2, Nr. 268; Nr. 2, 1, Nr. 276; Nr. 2, 2, Nr. 255; Nr. 2, 2, Nr. 244; Nr. 2, 1, Nr. 303; Nr. 2, 2, Nr. 215; Nr. 2, 1, Nr. 262; Nr. 2, 2, Nr. 245; Nr. 2, 1, Nr. 227; Nr. 2, 2, Nr. 259; Nr. 2, 1, Nr. 235; Nr. 2, 2, Nr. 269; Nr. 2, 2, Nr. 267; Nr. 2, 1, Nr. 279; Nr. 2, 2, Nr. 262; Nr. 2, 1, Nr. 267; Nr. 2, 1, Nr. 233; Nr. 2, 2, Nr. 242; Nr. 2, 1, Nr. 282; Nr. 2, 2, Nr. 257; Nr. 2, 2, Nr. 264; Nr. 2, 2, Nr. 228; Nr. 2, 1, Nr. 236; Nr. 2, 2, Nr. 222. Rader: Martialkommentar 1602 (wie Anm. 3). Ebd., S. *2r/v. Ebd., S. *3r/v. Nos ipsi non satis ab antquitatis, et veteris memoriae rebus parati obscuritatem nobiscum ad illius lectionem adferamus (ebd., S. *3r). vim, argutiam, et acumen epgrammatis (ebd., S. *3r). Res praeterea communis, et publica honestas als Begründung für praetextata verba, et molliores versiculos praeteriremus […] (ebd., S. *3r). Quod omnis labor noster Gymnasiis publicis, et iuuentutis vsibus consecrandus esset (ebd., S. *3r).

324

Stefan W. Römmelt

zum Jugendschutz die Entfernung der schändlichen Leidenschaften erfordert. 77 In einer im Stil des genus grande formulierten Phrase beschwört Rader die moralische Integrität des Gymnasiums und warnt eindringlich vor dem Verlust der Unschuld: Nur das Keusche, Heilige, Unberührte allein soll diese Tempel und Heiligtümer der Weisheit betreten, damit die Jugend, wenn sie nach Wissen sucht, nicht ihre Unschuld verlieren möge.78

Am Ende hat der Leser den reinen und lauteren Martial, den purus putus Martialis,79 in Händen, der durch die Zensur seinen verderblichen Charakter verloren hat. Neun Jahre später verteidigte Rader seine Zensurpraxis ein drittes Mal in erheblich größerem Umfang in der Vorrede der zweiten Auflage des Martialkommentars von 1611, der nunmehr 1.078 Seiten umfasste. Vorausgegangen war eine literarische Kontroverse zwischen dem spanischen Juristen Lorenzo Ramirez de Prado 80 und Matthäus Rader. Wie die Vorrede erhellt, hatte der Spanier 1607 an der ersten Auflage des Martialkommentars scharf die Zensur „unmoralischer“ Gedichte und deren Tilgung aus dem Text kritisiert, zugleich aber auch weite Teile des raderschen Kommentars plagiiert. Rader benutzte nun die zweite Auflage des Martialkommentars als Forum, um seine Zensurpraxis zu rechtfertigen und im Gegenzug den lepidissimus adolescens Ramirez vor den verderblichen Folgen der Beschäftigung mit dem ganzen, schmutzigen Martial zu warnen. Doch hören wir Raders Ausführungen einen Moment zu, der in einem fiktiven Dialog auf die Vorwürfe des Ramirez eingeht. Dieser hatte Rader vorgehalten, es wäre besser gewesen, wenn er auf eine Purgierung des Martial verzichtet hätte, da er so saubere Hände behalten und diese nicht beschmutzt hätte – eine recht boshafte Bemerkung.81 Rader antwortet hierauf in ciceronianischer Breite, unter anderem mit einem Hinweis auf das oben bereits erwähnte, von ihm bewusst übergangene Epigramm, das die Paarung der Pasiphae mit dem Stier zum Thema hat. Nicht nur die zivilisierte Welt, sogar Barbaren und Tiere empfänden das Gedicht als absolut unerträglich und unmoralisch: Das fünfte Epigramm im Liber spectaculorum über Pasiphae habe ich ganz bewusst übergangen; es ist nämlich dergestalt, dass nicht nur die Ohren von Christen verletzt, sondern auch barbarische Geister und Völker sich abwenden, und selbst die Tiere es nicht ertrügen, wenn sie es verstünden.82

–––––––– 77 78 79 80 81

82

Propter improbum Cupidinem emandamus ad eos, qui proscriptum dolent fremuntque (ebd., S. *3r). Nihil ad haec templa et sacraria sapientiae nisi castum, sanctum, integrumque aspiret; ne iuuentus dum scientiam quaerit, perdat innocentiam (ebd., S. *3r). Ebd., S. *3v. Vgl. Sullivan: Martial (wie Anm. 1), S. 293. Satis fuisset sanctissime vir, vt totum Martialem intactum reliquisses, ne […] purissimae manus deligendis epigrammatibus et interpretandis inquinarentur (Rader: Martialkommentar 1611 [wie Anm. 3], S. A3v) Quintum epigramma in libro spectaculorum de Pasiphae sciens volens […] praeterij; est enim huiusmodi, quod non modo Christianae aures execrentur, sed quamvis barbarae mentes et gentes aversentur, ipsaeque ferae adeo non ferant, si sentiant (ebd., S. A3v).

„Als ob ich den ganzen Martial kommentiert hätte“

325

An dieser Stelle gibt Rader nochmals Rechenschaft über die Grundsätze seiner Zensurpraxis, die er als Trennung der Edelsteine von Geröll beschreibt, um eine nützliche, gefahrlose Lektüre zu ermöglichen: Ich habe den ganzen Martial gelesen, aber auch aus dem ganzen Martial die moralisch unbedenklichen Passagen aus den verdorbenen herausgenommen; denn dies war der einzige Weg, die Edelsteine aus dem Mist zu klauben. Und die frivolen Schriftsteller wurden gezüchtigt, damit wir sie gefahrlos im Unterricht einsetzen können.83

Offensichtlich war Raders Vertrauen in die moralische Standfestigkeit und Souveränität seines Publikums nicht allzu stark ausgeprägt, ja man meint, so etwas wie Angst vor der bedrohlichen Kraft der Literatur zu spüren. Rader beschränkt sich aber nicht auf die ethische Vernichtung des entsprechenden Martialepigramms und die Rechtfertigung seiner Zensur. Vielmehr geht er zum Gegenangriff über, indem er Ramirez als Person außerhalb der menschlichen Gemeinschaft sieht, ihm jegliche Integrität und Moralität abspricht, ja als moralisch ebenso verwerflich wie die martialschen Gedichte einstuft: Aber du bist wie außerhalb des Menschengeschlechts […] dorthin an Wahnsinn herabgestiegen, dass du glaubst, du wohnst in jener Kloake im Goldenen Haus des Nero. 84 Ramirez lebt also in einer Scheinwelt, deren wahren Charakter er nicht erkennt, ja die Abwasserleitung vielmehr als luxuriösen Palast wahrnimmt. Tiefer kann man wohl nicht sinken. Dennoch bietet Rader im Anschluss an seine „Vernichtung“ des Zensurgegners Ramirez noch so unterschiedliche Persönlichkeiten wie Marcus Welser, den bereits erwähnten Meistergelehrten Justus Lipsius, den Ingolstädter Jesuiten Jacob Gretser und Roberto Titi als Zeugen für die Richtigkeit seines Vorgehens auf. Für unsere Fragestellung ist die in der Vorrede zitierte Passage aus Gretsers Zensurrechtfertigung85 relevant. Diese trägt den für sich sprechenden Titel De jure prohibendi malos libros – Über das Recht, das Erscheinen unmoralischer Bücher zu verhindern. Der gewaltsame Charakter der jesuitischen Zensurpraxis, wie er auch in Augsburg um 1600 bei problematischen Autoren wie Martial zum Ausdruck kam, lässt sich an diesem Beispiel prägnant aufzeigen. Letztlich streben die jesuitischen Editoren explizit einen neuen Martial an, dessen Charakter sich grundsätzlich von dem antiken, „schmutzigen“ Autor unterscheidet: Nachdem er auch einen umfangreichen Kommentar angefügt hat, in dem er treffend nicht jenen alten, schamlosen und freizügigen, sondern den neuen Martial, der sich einer reinen und keuschen Sprache bedient, erklärt.86

–––––––– 83

84 85 86

Martialem tum legi totum, cum ex toto pura ab impuris selegi, nec enim alia via poteram gemmas e fimo secernere, et huic fini castigati sunt lascivi scriptores, ut usu nobis eorum periculoso interdiceremus, securo frueremur (ebd., S. A4v). Sed tu velut extra sortem humani generis […] eo descendisti insaniae, ut in ipsa cloaca te existimes in aureo Neronis domicilio habitare (ebd., S. A4v). Titel von Gretsers Manifest pro Zensur : De IVRE ET MORE PROHIBENDI, EXPVRGANDI ET ABOLENDI LIBROS HAERETICOS ET NOXIOS […]. Ingolstadt 1603. Addito etiam copioso commentario, quo non veterem illum impuri et liberi oris, sed nouum purae et pudicae linguae Martialem feliciter interpretatur.

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Stefan W. Römmelt

Letztlich kann man hier wohl kaum mehr von Humanismus sprechen, da die jesuitischen Zensoren im Falle der purgierten Martialausgaben bewusst der Intention Martials zuwiderhandelten, ja diesem Gewalt antun, hatte der Epigrammatiker sich doch in einem Elfsilbler gegen eine Zensur seiner Epigramme gewandt, die er als Kastration bezeichnete: Quare deposita severitate / Parcas lusibus et ioci, rogamus, / Nec castrare velis meos libellos.87 Gretser hatte für den Wunsch Martials nach Unversehrtheit nur die Bemerkung übrig, dass man ihn verdientermaßen überhöre: Cuius precibus meritissimo occluduntur aures.88

4.

Rader, ein problematischer Schulautor und die jesuitische Zensurpraxis

Mit einer Warnung an Ramirez, die eigene Jugend nicht durch einen dreckigen Griffel zu beschmutzen, beendet Rader die Zensurpolemik in der Vorrede, welche die Grenzen des jesuitischen Späthumanismus deutlich absteckt. Fassen wir die vorläufigen Ergebnisse nochmals kurz zusammen. Ziel der „Kastration“ ist die Entschärfung des problematischen Autors Martial und dessen Metamorphose zu einem nützlichen, unterhaltsamen und moralisch unbedenklichen, quasi domestizierten Autor, dem purus et putus Martialis, dessen kulturelle Fremdheit die Zensur beseitigt. Dass ein Teil der philologisch interessierten Zeitgenossen mit dieser Vorgehensweise keineswegs einverstanden war, belegt die Ramirezkontroverse, in der Rader selbst äußerst polemisch seine Zensurpraxis verteidigte. Die Reaktion prominenter Vertreter der Gesellschaft Jesu wie Rader und Gretser wirft ein bezeichnendes Licht auf die Grenzen des Humanismus in Augsburg und auch in Ingolstadt um 1600. Kehren wir zum Anfang und Raders Brief an Marcus Welser aus dem Jahre 1602 zurück: Dass Rader sofort auf die in Rom kursierenden Gerüchte über angeblich von ihm im Martialkommentar erläuterte obszöne Epigramme reagierte, weist nicht zuletzt auf mögliche Sanktionen hin, die eine unterlassene Entschärfung des potentiell gefährlichen Martial hätte auslösen können. Ob es sich um eine Rettung oder Kastrierung des Autors handelte, sei dahingestellt. Für Martial selbst war laut Epigrammaton liber I, 35 der Sachverhalt klar: Eine Kastrierung seiner Gedichte war ein Monster sondersgleichen.

–––––––– 87 88

Martial: Epigramme I, 35. Gretser: De iure prohibendi malos libros (wie Anm. 85), zitiert bei Rader: Martial 1611 (wie Anm. 3), S. [A5v].

VII. Klösterliche Gelehrsamkeit im Spannungsfeld von historischer Selbstvergewisserung und humanistischer Vernetzung

Wolfgang Augustyn

Historisches Interesse und Chronistik in St. Ulrich und Afra in Augsburg im Umfeld von monastischer Reform und städtischem Humanismus Wilhelm Wittwer und sein „Catalogus abbatum“

1.

Zum Problem

Viele Quellenzeugnisse aus dem Spätmittelalter belegen neu einsetzende wissenschaftliche und literarische Aktivitäten in Klöstern vor allem des deutschen Sprachgebiets, die sich einerseits in der erneuerten Pflege von Schreibkunst und Buchmalerei sowie im frühen Buchdruck niederschlugen, andererseits zu vielfältigen Initiativen auf dem Gebiet der Geschichtsschreibung und Genealogie sowie der Astronomie und Musik führten. Dies betraf Mönche aus den alten Orden, besonders der Benediktiner, jedoch auch Angehörige der vor allem in den Städten seelsorglich tätigen Bettelorden, die – soweit ihre Lebensform dies gestattete – an den vielfältigen humanistischen Zirkeln des gelehrten Gesprächs beteiligt waren, vor allem jedoch durch ausgedehnte Korrespondenz. In der Forschung wurde dieser Austausch immer wieder beschrieben, wenn auch mit verschiedenen Akzentuierungen, seine Wirkungen – etwa in der Verhältnisbestimmung von Humanismus und den monastischen Reformen des Spätmittelalters1 – unterschiedlich beurteilt. Gleichwohl signalisierte schon der lange Zeit dafür gebräuchliche Begriff des „Klosterhumanismus“, 2 dass die Verknüpfung von ––––––––– 1

2

Vgl. zur Kontroverse über diese Frage ausführlich und mit der älteren Literatur: Harald Müller: Habit und Habitus. Mönche und Humanisten im Dialog. Tübingen 2006 (Spätmittelalter und Reformation; Neue Reihe 32), bes. S. 17–30. Vgl. zum Gebrauch des in der Regel nicht definierten Begriffs u. a.: Franz Machilek: Klosterhumanismus in Nürnberg um 1500. In: Mitteilungen des Vereins für Geschichte der Stadt Nürnberg 64 (1977), S. 10–45, bes. S. 12; Rolf Schmidt: Reichenau und St. Gallen. Ihre literarische Überlieferung zur Zeit des Klosterhumanismus. Sigmaringen 1985 (Vorträge und Forschungen. Sonderband 33), bes. S. 15–19; Dennis D. Martin: The Via moderna. Humanism and the Hermeneutics of the Late Medieval Monastic Life. In: Journal of the history of ideas 51 (1997), S. 179–197; Alois Schmid: Klosterhumanismus im Augustiner-Chorherrenstift Polling. In: Kloster und Bibliothek. Zur Geschichte des Bibliothekswesens der Augustiner-Chorherren in der Frühen Neuzeit. Hg. von Helmut Grünke. Paring 2000 (Publikationen der Akademie der Augustiner-Chorherren von Windesheim 2), S. 79– 108. – Kritisch zur Verwendung des Begriffs: Klaus Graf: Ordensreform und Literatur in Augsburg während des 15. Jahrhunderts. In: Literarisches Leben in Augsburg während des 15. Jahrhunderts. Hg. von Johannes Janota und Werner Williams-Krapp. Tübingen 1995 (Studia Augustana 7), S. 100–159; Harald Müller und Anne-Katrin Ziesak: Der Augsbur-

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Wolfgang Augustyn

klösterlichem Leben und neuer Wissenschaftspflege in der Zeit zwischen 1460 und 1520 nach einer differenzierteren Sichtweise verlangt: Kleriker in den verschiedenen Orden nahmen zwar Anteil an jener neuartigen Kultur philologischantiquarischer Gelehrsamkeit, oft auch an der Spurensuche nach den aus der Antike überkommenen Denkmälern von Literatur und Archäologie, waren aber dennoch in erster Linie bestimmt durch ihre klösterliche Lebensform mit den spezifischen Verpflichtungen ihres geistlichen Standes und geprägt durch die Regularien spätmittelalterlicher Frömmigkeit, religiöser Bildung und Theologie.3 Die vielerorts zu konstatierenden Bildungsbestrebungen zielten wie z. B. in Melk und den von dort aus reformierten Klöstern vorrangig auf Bibelexegese, auf einen verbesserten Text der Benediktsregel, auf vornehmlich theologische Literatur des Hoch- und Spätmittelalters, ohne dass über die artes liberales hinaus ein besonderes Interesse für humanistische Inhalte – für antike Autoren, Kirchenväter, antike Altertümer – dabei erkennbar würde. 4 Auch das in vielen Klöstern zu konstatierende besondere Interesse an der Vergangenheit ist häufig nicht mit entsprechenden humanistischen Anregungen,5 sondern öfter wohl als Selbstvergewisserung im Rahmen der monastischen Reformanstrengungen des Spätmittelalters zu erklären.6 Ihre Auswirkung auf die neue und rege literarische Auseinandersetzung mit der Geschichte innerhalb der Klöster benannte Klaus Graf deshalb als „monastischen Historismus“. 7 Möglich schien dabei immerhin mindestens eine „gefilterte Rezeption spezifisch humanistischer Inhalte“. 8 Dies –––––––––

3

4 5

6

7

8

ger Benediktiner Veit Bild und der Humanismus. Eine Projektskizze. In: Zeitschrift des Historischen Vereins für Schwaben 95 (2002), S. 27–51, bes. S. 28–33 und 33–38; Harald Müller: Graecus et fabulator. Johannes Trithemius als Leitfigur und Zerrbild des spätmittelalterlichen „Klosterhumanismus“. In: Inquirens subtilia diversa. Dietrich Lohrmann zum 65. Geburtstag. Hg. von Horst Kranz und Ludwig Falkenstein. Aachen 2002, S. 201–223; H. Müller: Habit und Habitus (wie Anm. 1), S. 3–10, 17–23 und 48–55. Vgl. Winfried Müller: Die Anfänge der Humanismusrezeption im Kloster Tegernsee. In: Studien und Mitteilungen zur Geschichte des Benediktiner-Ordens und seiner Zweige 92 (1981), S. 28–90, bes. S. 34; H. Müller, Ziesak: Veit Bild (wie Anm. 2), S. 30f. H. Müller: Habit und Habitus (wie Anm. 1), S. 91–97. Vgl. zu diesen u. a. Rüdiger Landfester: Historia magistra vitae. Untersuchungen zur humanistischen Geschichtstheorie des 14. bis 16. Jahrhunderts. Genf 1972 (Travaux d’humanisme et renaissance 123). Klaus Schreiner: Erneuerung durch Erinnerung. Reformstreben, Geschichtsbewußtsein und Geschichtsschreibung an der Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert. In: Historiographie am Oberrhein im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit. Hg. von Kurt Andermann. Sigmaringen 1988 (Oberrheinische Studien 7), S. 35–87. Vgl. Graf: Ordensreform (wie Anm. 2); zur Rolle der klösterlichen Historiographie ferner: Schreiner: Erneuerung (wie Anm. 6); Klaus Arnold: Johannes Trithemius (1462–1516). 2., bibliographisch und überlieferungsgeschichtlich neu bearbeitete Auflage Würzburg 1991 (Quellen und Forschungen zur Geschichte des Bistums und Hochstifts Würzburg 23), S. 144–179; Constance Proksch: Klosterreform und Geschichtsschreibung im Spätmittelalter. Köln, Weimar, Wien 1994 (Kollektive Einstellungen und sozialer Wandel im Mittelalter N. F. 2); vgl. dazu auch die Rezension von Klaus Graf in: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins 145 (1997), S. 612–622. H. Müller, Ziesak: Veit Bild (wie Anm. 2), S. 31. Müller erinnerte an Klaus Elm (Monastische Reformen zwischen Humanismus und Reformation. In: 900 Jahre Bursfelde. Reden

Historisches Interesse und Chronistik in St. Ulrich und Afra

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geschah freilich immer nur durch einzelne Mönche in diesen Klöstern. Auf sie konnte im Einzelfall zutreffen, was man als Kriterium für die Zugehörigkeit zu den humanistischen Zirkeln zu definieren versucht hat: Als „Humanist“ dürfte vor allem der gegolten haben, den andere, die am weit gespannten Netz von Gesprächs- und Korrespondenzbeziehungen humanistisch ausgerichteter Gelehrter teilhatten, als Gesprächs- und Briefpartner akzeptierten und ihrer Gruppe zurechneten. 9 Sie alle bildeten „eine Konsensgemeinschaft, deren Akteure (sprach-)ästhetische Werte und historisches Interesse ebenso teilten wie methodische Standards“. 10 Dessen ungeachtet blieb die Verfolgung humanistischer Interessen im Kloster immer abhängig von den äußeren Bedingungen, begrenzt durch die Anforderungen der Gemeinschaft an den einzelnen Mönch, abhängig von Duldung oder Förderung solcher Interessen durch den Abt. Humanistische Gelehrte im Kloster – im Spannungsfeld von „Konformität und Rollenkonflikten“, 11 zwischen „Habitus und Habit“ (Harald Müller) – zogen sich schnell den Vorwurf der Normabweichung, der „singularitas“, zu. 12 Dennoch blieben ihre Interessen und deren in Texten fassbarer literarischer Niederschlag oft auch innerhalb ihres eigenen Konvents nicht ohne Wirkung, wurden als Quellenschriften angenommen und damit auch zu Vorbildern für andere.

2.

Die Abtei St. Ulrich und Afra

Ein beispielhafter Ort für solche Wirkungen war im späten 15. Jahrhundert die Benediktinerabtei St. Ulrich und Afra in Augsburg,13 die zu einem wichtigen ––––––––– 9 10 11 12 13

und Vorträge zum Jubiläum 1993. Hg. von Abt Lothar Perlitt. Göttingen 1994, S. 59–111); weitere Literatur bei H. Müller, Ziesak, S. 31, Anm. 13. Dazu ausführlich: H. Müller: Habit und Habitus (wie Anm. 1), S. 7. Ebd., S. 7. Ebd., S. 72. Ebd., S. 72–75; vgl. dazu auch die Einzelstudien zu Sigismund Meisterlin und Albrecht von Bonstetten, zu Johannes Trithemius sowie Nikolaus Ellenbog: ebd., S. 137–293. Zur Geschichte des Klosters: Josef Hemmerle: Die Benediktinerklöster in Bayern. Augsburg 1970 (Germania Benedictina 2), S. 45–50; Wilhelm Liebhart: Die Reichsabtei St. Ulrich und Afra zu Augsburg. Studien zu Besitz und Herrschaft (1006–1803). München 1982 (Historischer Atlas von Bayern. 2. Teil, Reihe 2, H. 2), bes. S. 145–159; ders.: „in spiritualibus ac temporalibus“. Klosterreform, Wirtschaft und Herrschaft am Beispiel von St. Ulrich und Afra. In: Miscellanea Suevica Augustana. Der Stadt Augsburg dargebracht zur 2000-Jahrfeier 1985. Hg. von Pankraz Fried. Sigmaringen 1985 (Augsburger Beiträge zur Landesgeschichte Bayerisch-Schwabens 3), S. 43–49; Joachim Seiler: Die Abtei St. Ulrich und Afra in Augsburg im Mittelalter. In: Münchener theologische Zeitschrift 46 (1995), S. 37–68; Wilhelm Liebhart: St. Ulrich und Afra. In: Die Benediktinerklöster in Bayern, 2. Auflage (Germania Benedictina 2) (in Vorb.). Ich danke Wilhelm Liebhart für die freundliche Mitteilung seines Manuskripts. – Anstelle der Kanoniker, die die Grabeskirche der beiden Bistumspatrone Afra, einer Märtyrerin aus der Zeit der diokletianischen Christenverfolgung, und Ulrich, Bischof von Augsburg von 923 bis 973 betreut hatten, übernahmen auf Wunsch des Augsburger Bischofs Brun, des Bruders von Kaiser Heinrich II. (spätestens) um 1012 Benediktiner aus Tegernsee das Kloster. Zu dem möglicherweise schon

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Wolfgang Augustyn

Zentrum der von Melk ausgehenden monastischen Reform geworden war und zu deren Konvent auch Mönche gehörten, die Kontakte zu den humanistischen Zirkeln der Stadt unterhielten. Öfter wurde auf die starke Verankerung der Abtei im Leben der Reichsstadt gerade seit dem 14. und 15. Jahrhundert hingewiesen und auf die dadurch notwendigen häufigen Kontakte zum Bürgertum der Stadt;14 oft zitiert wurde auch die Begründung für die Verlegung der Bibliothek innerhalb des Klosters: Die vielen Besucher und die damit verbundene Unruhe wurden als Störung der Klausur empfunden und veranlassten zur Änderung der bestehenden Verhältnisse;15 zahlreiche Nachrichten belegen Kontakte einzelner Mönche, nicht zuletzt wegen des Austauschs von Handschriften und Drucken, 16 ohne dass man jedoch die Wirksamkeit humanistischer Anregungen innerhalb des Konvents überbewerten dürfte. 17 Als der gelehrte Augsburger Offizial und Dillinger Stadtpfarrer Heinrich Lur 1473 an Abt Melchior von Stamheim mit der Idee herantrat, eigene Studienhäuser für die Benediktiner zu errichten, lehnte der Abt dieses Ansuchen ab und begründete seinen Widerstand mit dem Hinweis, Bildungsstreben und monastisches Leben seien unvereinbar. Dabei war er sich des (humanistischen) Anspruchs an die Kunst der Epistolographie zwar offenbar durchaus bewusst, aber seines persönlichen Stils unsicher und bat in einem Brief Hermann Schedel in Nürnberg, für ihn eine entsprechende Absage an Lur aufzusetzen. 18 Der im Lauf der beiden nächsten Jahrzehnte vollzogene –––––––––

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um die Jahrtausendwende erfolgten Wechsel: Norbert Hörberg: Libri sanctae Afrae. St. Ulrich und Afra zu Augsburg im 11. und 12. Jahrhundert. Göttingen 1983 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 74; Studien zur Germania Sacra 15), S. 185–212; ders.: Die geistesgeschichtliche Bedeutung von St. Ulrich und Afra im 11. und 12. Jahrhundert. In: Miscellanea Suevica Augustana (wie oben), S. 52–60, hier S. 52–54. So übernahm u. a. die Reichsstadt im kaiserlichen Auftrag und an Kaisers Statt den Schutz über das Kloster und die Verteidigung von dessen Privilegien. Dies wurde 1417 erstmals verfügt und im 15. Jahrhundert mehrmals erneuert. Die Abtei bezahlte der Stadt für die Ausübung des Schutzes jährlich 100 fl., der Rat nahm 1433 den Abt erstmals ins Bürgerrecht auf, was ebenfalls mehrmals erneuert wurde: Rudolf Kießling: Bürgerliche Gesellschaft und Kirche in Augsburg im Spätmittelalter. Augsburg 1971 (Abhandlungen zur Geschichte der Stadt Augsburg 19), S. 151–153, ferner ebd., S. 286. Zu dieser bei Wilhelm Wittwer überlieferten Nachricht s. hier Anm. 199. Vgl. Alfred Schröder: Der Humanist Veit Bild, Mönch bei St. Ulrich. Sein Leben und sein Briefwechsel. In: Zeitschrift des Historischen Vereins für Schwaben und Neuburg 20 (1893), S. 173–227, bes. S. 191–218. Vgl. dazu Josef Bellot: Das Benediktinerstift St. Ulrich und Afra in Augsburg und der Humanismus. In: Studien und Mitteilungen zur Geschichte des Benediktiner-Ordens und seiner Zweige 84 (1973), S. 394–406, hier S. 395; dass St. Ulrich und Afra „im süddeutschen Klosterhumanismus von 1460–1520 einen führenden Platz“ eingenommen habe – so Liebhart: Reichsabtei (wie Anm. 13), S. 145; weniger entschieden auch Seiler: St. Ulrich und Afra (wie Anm. 13), S. 58–60 – dürfte wohl zu euphemistisch geurteilt sein. H. Müller und Ziesak erinnerten daran, dass man zu dieser Zeit in St. Ulrich und Afra keine Scheu hatte, ältere Pergamenthandschriften mit Texten antiker Dichtung zu makulieren und die Fragmente als Verstärkung neuer Bucheinbände zu gebrauchen (Müller und Zeisak: Weit Bild [wie Anm. 2]. S. 39; vgl. Schmidt: Reichenau und St. Gallen [wie Anm. 2], S. 56, Anm. 5, und S. 83). Epistula pro gymnasii erectione (Bernhard Pez: Thesaurus anecdotorum novissimus. Bd. 6. Augsburg 1792, S. 404–410; Placidus Braun: Notitia historico-literaria de codicibus manu-

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Wandel wird daran deutlich, dass 1496 der Tegernseer Abt mit anderen Äbten – auch jenem von St. Ulrich und Afra – beschloss, man werde künftig aus jeder Abtei zwei Mönche zum Studium nach Ingolstadt entsenden, ein Beschluss, den dauerhaft zu verwirklichen nicht gelang. 19 Humanistisch ausgerichtet waren einzelne Konventsmitglieder, deren ausgeprägte Interessen im Kloster nicht immer zu verwirklichen waren und auf Widerstand stießen: Sigismund Meisterlin bescheinigten die Visitatoren 1457, er lasse Sinn für regeltreue Disziplin vermissen. Meisterlin verließ bald darauf sein Heimatkloster, an das er sich allerdings auch in der Ferne durchaus gebunden gefühlt zu haben scheint und mit dem er in Kontakt blieb.20 Während Meisterlin zum frühhumanistischen Kreis um den Augsburger Patrizier Sigismund Gossembrot (1417–1493)21 zählte und später Veit Bild zu den Augsburger –––––––––

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scriptis in bibliotheca liberi ac imperialis monasterii ad ss. Udalricum et Afram Augustae extantibus. 6 Bde. Augsburg 1791–1796, hier Bd. 5 [1794], S. 160–166 [Nr. 17]); H. Müller: Habit und Habitus (wie Anm. 1), S. 171 mit Anm. 103. Zu Lur (mit der älteren Literatur) Franz Josef Worstbrock: Lur, Heinrich. In: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. 2., völlig neu bearbeitete Aufl. (fortan zitiert als 2VL). Bd. 5. Berlin, New York 1985, Sp. 1078–1082; Korrekturen in: ebd., Bd. 11. Berlin, New York 2004, Sp. 941. – Zum Brief an Schedel: Paul Joachimsohn: Hermann Schedels Briefwechsel (1452–1478). Tübingen 1893 (Bibliothek des Litterarischen Vereins Stuttgart 196), S. 198–200, Nr. 97. Dazu hier Anm. 271. Katharina Colberg: Meisterlin, Sigismund. In: 2VL. Bd. 6. Berlin, New York 1987, Sp. 356–366; siehe auch hier S. 335, 344f., 350, 352–356. 364 und 370. Über die Anfänge des Augsburger Humanismus um die Mitte des 15. Jahrhunderts und den Kreis um Gossembrot, dem Valentin Eber (um 1420–1496), Lorenz Blumenau (1434– 1484) und während seiner Tätigkeit in Augsburg in den Jahre von 1455 bis 1567 auch Hermann Schedel (1410–1485) angehörten, vgl. Wilhelm Wattenbach: Sigismund Gossembrot als Vorkämpfer der Humanisten und seine Gegner. In: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins 25 (1873), S. 36–69; Paul Joachimsohn: Die humanistische Geschichtschreibung in Deutschland. Heft 1: Die Anfänge. Sigismund Meisterlin. Bonn 1895; ders.: Frühhumanismus in Schwaben. In: Württembergische Vierteljahreshefte für Landesgeschichte N. F. 5 (1896), S. 63–126 und 257–291; Karl Schädle: Sigmund Gossenbrot, ein Augsburger Kaufmann, Patrizier und Frühhumanist. Diss. phil. München 1938. Augsburg 1938; Anton Uhl: Peter von Schaumberg, Kardinal und Bischof von Augsburg 1424–1469. Ein Beitrag zur Geschichte des Reiches, Schwabens und Augsburgs im 15. Jahrhundert. Diss. phil. München 1940. Speyer 1940, S. 181–187; ders.: Kardinal Peter von Schaumburg. In: Lebensbilder aus dem Bayerischen Schwaben. Bd. 3. München 1953, S. 37–80; Brigitte Ristow: Untersuchungen zu Sigismund Meisterlins Widmungsbriefen an Sigismund Gossembrot. In: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 85 (1963), S. 206–253; Friedrich Blendinger: Gossembrot. In: Neue Deutsche Biographie. Bd. 6. Berlin 1964, S. 648f.; Hartmut Boockmann: Laurentius Blumenau: Fürstlicher Rat – Jurist – Humanist (ca. 1415–1484). Göttingen 22001 (11965) (Göttinger Bausteine zur Geschichtswissenschaft 37); Heinz Otto Burger: Renaissance – Humanismus – Reformation. Deutsche Literatur im europäischen Kontext. Bad Homburg v. d. H., Berlin, Zürich 1969 (Frankfurter Beiträge zur Germanistik 7), S. 145–148 und 171–179; Kießling: Gesellschaft (wie Anm. 14); ders.: Das Augsburger Bürgertum im 15. Jahrhundert. Ein Versuch zur Bestimmung spezifischer Verhaltensweisen gegenüber der Kirche und ihrem Wertsystem. In: Die mittelalterliche Stadt in Bayern. Hg. von Karl Bosl. München 1974, S. 163–186; Bernhard Schnell: Arzt und Literat. Zum Anteil der Ärzte am spätmittelalterlichen Literaturbetrieb. In: Sudhoffs Archiv 75 (1991), S. 44–57; Franz Josef Worstbrock: Frühhumanis-

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Humanisten um Konrad Peutinger22 und auswärtigen Gelehrten Kontakte unterhielt,23 zitierte Abt Johannes von Giltlingen (1482–1496)24 zumindest humanistisches Verhalten, 25 und sein Nachfolger Konrad Mörlin (1452–1510) gehörte der sodalitas Peutingers an und korrespondierte mehrmals mit Celtis. 26 –––––––––

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mus in Deutschland. In: [Ausstellungskatalog] Von der Augsburger Bibelhandschrift zu Bertolt Brecht. Zeugnisse der deutschen Literatur aus der Staats- und Stadtbibliothek und der Universitätsbibliothek Augsburg, 4. Oktober bis 10. November 1991. Hg. von Helmut Gier und Johannes Janota. Augsburg 1991, S. 166–174; ders.: Imitatio in Augsburg. Zur Physiognomie des deutschen Frühhumanismus. In: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 129 (2000), S. 187–201. Die Literatur zu den Augsburger Humanisten der zweiten Generation ist umfangreich. Vgl. zusammenfassend: Josef Bellot: Humanismus – Bildungswesen – Buchdruck und Verlagsgeschichte. In: Geschichte der Stadt Augsburg von der Römerzeit bis zur Gegenwart. Hg. von Gunther Gottlieb u. a. Stuttgart 21985, S. 343–357. Die bedeutendste Figur des Augsburger Humanismus in dieser Zeit war sicher Konrad Peutinger: Paul Joachimsohn: Geschichtsauffassung und Geschichtschreibung in Deutschland unter dem Einfluß des Humanismus. Leipzig 1910; Erich König: Peutingerstudien. Freiburg 1914 (Studien und Darstellungen aus dem Gebiet der Geschichte 9, 1–2); Konrad Peutingers Briefwechsel. Gesammelt, hg. und erläutert von Erich König. München 1923; Rudolf Pfeiffer: Peutinger und die humanistische Welt. In: Augusta 955–1555. München 1955, S. 179–186; Heinrich Lutz: Conrad Peutinger. Beiträge zu einer politischen Biographie. Augsburg 22001 (11958) (Abhandlungen zur Geschichte der Stadt Augsburg 9); Jan-Dirk Müller: Gedechtnus. Literatur und Hofgesellschaft um Maximilian I. München 1982 (Forschungen zur Geschichte der älteren deutschen Literatur 2); Heinrich Lutz: Die Sodalitäten im oberdeutschen Humanismus des späten 15. und 16. Jahrhunderts. In: Humanismus im Bildungswesen des 15. und 16. Jahrhunderts. Hg. von Wolfgang Reinhard. Weinheim 1984 (Deutsche Forschungsgemeinschaft. Kommission für Humanismusforschung; Mitteilung 12), S. 45–60. – Genannt sei ferner: H. A. Lier: Der Augsburger Humanistenkreis mit besonderer Berücksichtigung Bernhard Adelmann’s von Adelmannsfelden. In: Zeitschrift des Historischen Vereins für Schwaben und Neuburg 7 (1880), S. 68–108; Friedrich Zoepfl: Der Humanismus am Hof der Fürstbischöfe von Augsburg. In: Historisches Jahrbuch 62–69 (1942– 1949), S. 671–708; ders.: Bernhard Adelmann von Adelmannsfelden und seine Brüder Hans und Konrad. In: Lebensbilder aus dem Bayerischen Schwaben. Bd. 11. Weißenhorn 1976, S. 39–45; Wolfgang Zorn: Die soziale Stellung der Humanisten in Nürnberg und Augsburg. In: Die Humanisten in ihrer politischen und sozialen Umwelt. Hg. von Otto Herding und Robert Stupperich. Boppard 1976 (Deutsche Forschungsgemeinschaft. Kommission für Humanismusforschung. Mitteilungen 3), S. 35–49 (wieder in: ders.: Studia Sueviae Historica. Beiträge zur Geschichte Bayerisch-Schwabens. Augsburg 1997 [Veröffentlichungen der Schwäbischen Forschungsgemeinschaft R. I, 24], S. 61–73). Vgl. die im Briefwechsel Veit Bilds überlieferten Nachrichten dazu: Schröder: Veit Bild (wie Anm. 16), S. 191–218; zu Veit Bild: H. Müller, Ziesak: Veit Bild (wie Anm. 2). Vgl. Liebhart: Reichsabtei (wie Anm. 13), S. 153–156. Vgl. etwa das griechische τέλως (!) am Ende der Inschrift auf dem Ulrichskreuz von 1494 (zu diesem s. unten S. 375); vgl. Wolfgang Augustyn: Das Ulrichskreuz und die Ulrichskreuze. In: Jahrbuch des Vereins für Augsburger Bistumsgeschichte 26/27 (1993), S. 267–315, hier S. 271 (die dort bei der Transkription der Inschrift unvollständige Jahreszahl korrigiert bei: Melanie Thierbach. In: Gold und Silber. Augsburgs glänzende Exportwaren. Katalog zur Sonderausstellung im Diözesanmuseum St. Afra, Augsburg, 3. Mai–27. Juli 2003. Hg. von ders. Augsburg 2003, S. 141–145, hier S. 143, Anm. 9); zur Verwendung des griechischen Worts als humanistisches „Erkennungszeichen“ bei Veit Bild: Schmidt: Reichenau und St. Gallen (wie Anm. 2), S. 140, Anm. 4; Graf: Ordensreform (wie Anm. 2), S. 111, Anm. 53.

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Doch blieben dies Einzelfälle. Mehrere Mönche des Konvents seit dem späteren 15. Jahrhundert sind als Verfasser historischer Werke bekannt.27 Sie schrieben Welt- und Stadtchroniken oder stellten Kompilationen mit historiographischem Anspruch zusammen, die sie oft bis in ihre jeweilige Gegenwart fortsetzten und die deswegen hohen Quellenwert besitzen: Sigismund Meisterlin (um 1435–nach 1497),28 Johannes Frank (Konventuale von St. Ulrich und Afra 1451–1472),29 Wilhelm Wittwer (1449–1512) und Clemens Sender (1475– 1537).30 Die Autoren nach Meisterlin nahmen auf dessen stadtgeschichtliche Texte Bezug, teilten aber nicht unbedingt seine humanistischen Interessen, ––––––––– 26

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Liebhart: Reichsabtei (wie Anm. 13), S. 156–161; Markus Ries: Konrad Mörlin. In: Neue Deutsche Biographie. Bd. 17. Berlin 1994, Sp. 680f.; H. Müller: Habit und Habitus (wie Anm. 1), S. 316 mit Anm. 78. Vgl. dazu Nonnosus Bühler OSB: Die Schriftsteller und Schreiber des Benediktinerstiftes St. Ulrich und Afra in Augsburg während des Mittelalters. Diss. phil. München 1916. Borna, Leipzig 1916, S. 44–64; Bellot: Humanismus (wie Anm. 17); nun auch besonders den Beitrag von Harald Müller im vorliegenden Band. Zu Meisterlin: Joachimsohn: Humanistische Geschichtschreibung (wie Anm. 21); Colberg: Meisterlin (wie Anm. 20); zu Meisterlins Augsburger Chronik vgl. den Beitrag von Gernot Michael Müller im vorliegenden Band; zur Bildausstattung des Textes: Norbert H. Ott: Zum Ausstattungsanspruch illustrierter Städtechroniken. Sigismund Meisterlin und die Schweizer Chronistik als Beispiele. In: Poesis et Pictura. Studien zum Verhältnis von Text und Bild in Handschriften und alten Drucken. Festschrift für Dieter Wuttke zum 60. Geburtstag. Hg. von Stephan Füssel und Joachim Knape. Baden-Baden 1989, S. 77–106; ders.: Von der Handschrift zum Druck und retour: Sigismund Meisterlins Chronik der Stadt Augsburg in der Handschriften- und Druck-Illustration. In: Augsburg, die Bilderfabrik Europas. Essays zur Augsburger Druckgraphik der Frühen Neuzeit. Hg. von John Roger Paas. Augsburg 2001 (Schwäbische Geschichtsquellen und Forschungen 21), S. 21–29. Augsburg, Archiv des Bistums, Hs. 79 (Collectanea Wilhelmi Wittwer), fol. 237r–257r; im Druck veröffentlicht: Fr. Johannes Frank’s Augsburger Annalen. In: Archiv für die Geschichte des Bisthums Augsburg. Bd. 2. Augsburg 1859, S. 78–122; zitiert im Folgenden nach: Die Chroniken der schwäbischen Städte: Augsburg. Bd. 5. Bearb. von Ferdinand Frensdorff, Matthias Lexer und Friedrich Roth. Leipzig 1896 (Die Chroniken der deutschen Städte vom 14. bis ins 16. Jahrhundert 25), S. 283–340; zu Frank: Bühler: Schriftsteller (wie Anm. 27), S. 49; Bellot: Humanismus (wie Anm. 17), S. 397; Wolfram Schmitt: Frank, Johannes. In: 2VL. Bd. 4. Berlin, New York 1980, Sp. 800; Bd. 11. Berlin, New York 2004, Sp. 451f. Clemens Sender, geb. 1475 in Lauingen, trat 1496 in die Abtei ein, wo er 1497 Profess ablegte. Im Jahr 1501 wurde er zum Priester geweiht. Nach einem längeren Aufenthalt in der Abtei Irsee (1517– wohl 1524) wurde er in seinem Heimatkloster 1527 zum Prior bestellt. Neben kanonistischen und theologischen Werken schrieb er zwischen 1523 und 1534 eine mehrbändige lateinische Weltchronik (Chronographia) und auf deren Grundlage eine Chronik Augsburgs (Chronicon Augustanum, 1528), die auch in zwei deutschen, erweiterten Fassungen überliefert ist: Die Chronik von Clemens Sender von den ältesten Zeiten der Stadt bis zum Jahre 1536. Hg. v. Friedrich Roth. 2. Aufl. Göttingen 1966 (Die Chroniken der deutschen Städte vom 14. bis ins 16. Jahrhundert 23), S. 1–404. Vgl. Wilhelm Vogt: Des Clemens Sender Chronicum Augustanum, eine Wolfenbütteler Handschrift. In: Zeitschrift des Historischen Vereins für Schwaben und Neuburg 6 (1879), S. 83–88; ders.: Die Augsburger Chronik des Clemens Sender. In: ebd., Bd. 21 (1894), S. 149–164; Carla Kramer-Schlette: Vier Augsburger Chronisten der Reformationszeit. Die Behandlung und Deutung der Zeitgeschichte bei Clemens Sender, Wilhelm Rem, Georg Preu und Paul Hektor Mair. Lübeck, Hamburg 1970 (Historische Studien 421).

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folgten weder seiner literarischen Ausrichtung auf antike Autoren und deren Phraseologie noch übernahmen sie die besondere Topik humanistischer Autoren.31 Dies belegen beispielhaft die Aufzeichnungen Wilhelm Wittwers. Dieser hinterließ ein zwischen 1493 und 1497 verfasstes historisches Werk, das er als Catalogus abbatum betitelte (Fr[atris]. Guilelmi Wittwer Catalogus Abbatum nostri Monasterii quem scripsit et possidit anno Domini 1493). Der autographe Codex blieb erhalten, weil ihn P. Placidus Braun, der letzte Archivar der Reichsabtei,32 in der Säkularisationszeit retten konnte, und gelangte zusammen mit anderen Stücken aus der Bibliothek des Klosters in Brauns Nachlass an die Bibliothek des bischöflichen Ordinariats. Heute wird der Codex im Archiv des Bistums Augsburg als Hs. 78 verwahrt.33 Es handelt sich dabei um eine Papierhandschrift mit 327 meist beidseitig beschriebenen Blättern in einem zeitgenössischen Lederband, dessen Beschläge erhalten sind; die Schließen fehlen. Wittwers Text blieb in seinem Kloster bekannt, denn spätere Mönche der Abtei stützten sich ausdrücklich bei ihren Darstellungen der Klostergeschichte immer wieder auf seine Angaben, so im 17. Jahrhundert Bernhard Hertfelder, 34 ––––––––– 31

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Dennoch scheint ein Autor wie Wittwer (ähnlich wie Melchior von Stamheim: s. oben, S. 332) den Anspruch, der sich mit den veränderten Konventionen ergab, durchaus ernst genommen zu haben, wenn er – wie auch andere Konventsmitglieder – Veit Bild für die Ausführung eines Briefs heranzog (s. S. 341, Anm. 54). Zu P. Placidus Braun vgl. August Lindner (später: [P.] Pirmin Lindner [OSB]): Die Schriftsteller und die um Wissenschaft und Kunst verdienten Mitglieder des BenediktinerOrdens im heutigen Königreich Bayern vom Jahre 1750 bis zur Gegenwart. Bd. 1. Regensburg 1880, S. 124–131; ders.: Memoriale San-Ulricanum sive Compendium vitae et mortis Religiosorum Ord. S. Benedicti liberi et imperialis monasterii ad S. S. Udalricum et Afram Augustae Vindel[icorum]., qui ab a. 1610–1857 in domino obierunt additis eorum laboribus litterariis. Sectio II. Labores litterarii. In: Diözesan=Archiv von Schwaben 16 (1898), S. 25f.; zuletzt (mit weiterer Literatur) Erwin Naimer: Placidus Braun OSB (1756–1829). In: Jahrbuch des Vereins für Augsburger Bistumsgeschichte 39 (2005), S. 265–276; Walter Ansbacher: Stationen der Augsburger Bistumsgeschichtsschreibung. Ein Rückblick zum 250. Geburtstag von P. Placidus Braun (1756–1829). In: Jahrbuch des Vereins für Augsburger Bistumsgeschichte 40 (2006), S. 161–194, bes. S. 165–172 und zum Nachlass S. 190–194. Bei der Neuordnung und Katalogisierung der Bibliotheksbestände der Reichsabtei trug P. Placidus Braun sie unter der Signatur E 78 ein, vermerkte aber ihr Fehlen am Standort (Augsburg, Stadtarchiv, Ms. G 39: Placidus Braun, Catalogus Codicum Manuscriptorum Bibliothecae Benedictinorum L[iberi]. ac I[mperialis]. Monasterii SS. Udalrici et Afra Augustae Vindel[icorum]. a[nno]. d[omini]. 1786). Nachdem sie wieder aufgefunden war, veröffentlichte Placidus Braun eine erste ausführliche Beschreibung der Handschrift: Notitia (wie Anm. 18). Bd. 3. Augsburg 1793, S. 1–34); vgl. auch Benedikt Kraft: Die frühund hochmittelalterlichen Handschriften der Bischöflichen Ordinariatsbibliothek in Augsburg. In: Das Schwäbische Museum. Zeitschrift für Kultur, Kunst und Geschichte Schwabens 5 (1929), S. 120–149, und 6 (1930), S. 97–112, hier ebd., S. 110; Krafts Aufsätze erschienen überarbeitet (und um ein Gesamtverzeichnis der Handschriften vermehrt mit Angaben zur Kodikologie von Eduard Gebele) als Separatdruck: Die Handschriften der Bischöfl[ichen]. Ordinariatsbibliothek in Augsburg. Augsburg 1934, hier S. 46 und 92; zum Nachlass Brauns ebd., S. 35–53. Bernhard Hertfelder OSB: Basilica SS. Vdalrici et Afrae Augustae Vindelicorum Historice descripta atq[ue]. aeneis figuris illustrata […]. Augsburg 1627 (und mit geringfügig geändertem Titel, aber identischer Abfolge der Tafeln: 2. Aufl. 1653); zum Verfasser: Pirmin

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im frühen 18. Jahrhundert Corbinian Khamm35 und 1817 Placidus Braun.36 Letzterer hatte davor schon Auszüge des Textes in seinem Werk zur Handschriftenüberlieferung seines Klosters (Notitia historico-litteraria de codicibus manuscriptis in bibliotheca liberi ac imperialis monasterii ordinis S. Benedicti ad Ss. Udalricum et Afram. Bd. 3. Augsburg 1793) und 1812 in den Monumenta Boica publiziert;37 der Kirchenhistoriker und spätere Münchener Erzbischof Antonius von Steichele veröffentlichte 1860 im dritten Teil des von ihm herausgegebenen „Archiv für die Geschichte des Bisthums Augsburg“ den größten Teil von Wittwers Text, wenngleich mit einigen Auslassungen (u. a. der Liste der Prioren und Subprioren auf fol. 324rv und 327r) und einigen Verlesungen, aber eben doch nahezu vollständig: eine Ausgabe, die im Druck 421 Seiten lateinischen Textes umfasst; dennoch bleibt der Blick aufs Original weiterhin unverzichtbar. 38 Seit der Veröffentlichung durch Steichele zitierten viele Autoren den lateinischen Text dieses Werks; einzelne Passagen daraus bot in deutscher Übersetzung Johannes Bühler in seinem 1921 erstmals und seitdem in vielen Auflagen erschienenen Buch „Klosterleben im Mittelalter“, 39 der (damals noch ––––––––– 35

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Lindner: Memoriale San-Ulricanum […], I. In: Diözesan=Archiv von Schwaben 8 (1891), S. 30. Corbinian Khamm OSB: Hierarchia Augustana chronologica tripartita in partem cathedralem, collegialem, et regularem […]. Pars III. Augsburg 1719, S. 1–208; vgl. Lindner: Memoriale (wie Anm. 32), S. 14. Placidus Braun: Geschichte der Kirche und des Stiftes der hl. Ulrich und Afra in Augsburg aus aechten Quellen zusammengetragen. Augsburg 1817, S. 9, 12, 14, 19, 21, 299, 305, 380 und 383. Monumenta Boica. Bd. 22: Monumenta San-Ulricana. München 1814, S. I–XXIV; die in Wittwers Catalogus auf fol. 48v–66v stehenden Texte zu Uodalscalcus (Abt 1126–1151), De Eginone et Herimanno (Egino war Abt von 1109 bis 1118/1120; Herimann Bischof von 1096 bis 1133) wurden abgedruckt in: Monumenta Germaniae Historica. Scriptores. Bd. 12: Historiae aevi Salici. Hg. von Georg Heinrich Pertz. Hannover 1856 (Nachdruck 1995), S. 429–448, hier S. 431. Fr[atris] Wilhelmi Wittwer Catalogus Abbatum monasterii SS. Udalrici et Afrae Augustensis, Teil I und II. In: Archiv für die Geschichte des Bisthums Augsburg. Bd. 3. Augsburg 1860, S. 10–211 und 212–437 (fortan zitiert nach der Ausgabe von Steichele mit Seitenangabe; wenn die autographe Handschrift zitiert wird, nach Hs. 78 im Archiv des Bistums Augsburg mit Folioangabe); zu Steichele: Friedrich Zoepfl: Antonius von Steichele. In: Lebensbilder aus Bayerisch-Schwaben. Bd. 3. Augsburg 1954, S. 406–418; Engelbert Maximilian Buxbaum: Antonius von Steichele (1816–1889). Erzbischof von München und Freising (1878–1889) – Eine Lebensskizze. In: [Deutingers Beiträge.] Beiträge zur altbayerischen Kirchengeschichte 32 (1979), S. 85–120, bes. S. 106; Anton Landersdorfer: Antonius von Steichele (1816–1889). In: Jahrbuch des Vereins für Augsburger Bistumsgeschichte 39 (2005), S. 323–338; Erwin Gatz: Steichele, Antonius von. In: Die Bischöfe der deutschsprachigen Länder 1785/1803 bis 1945. Ein biographisches Lexikon. Hg. von Erwin Gatz. Berlin 1983, S. 732–734; Peter Rummel: Antonius von Steichele. Zum 100. Todestag des Augsburger Bistumshistorikers und Erzbischofs von München und Freising. In: Jahrbuch des Vereins für Augsburger Bistumsgeschichte 23 (1989), S. 9–26; Ansbacher: Stationen (wie Anm. 32), S. 173–179. Johannes Bühler: Klosterleben im Mittelalter. Nach zeitgenössischen Quellen […] Hg. von Georg A. Narziß. Frankfurt am Main, Leipzig 1989 (Insel Taschenbuch 1135), S. 230–239: Auszüge aus den Texten über die Äbte Melchior Stamheim, Heinrich Frieß und Johannes von Giltlingen. Zur Entstehungsgeschichte dieses Buchs vgl. die Vorworte des Verfassers

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als Benediktinermönch von Ettal) schon in seiner von Paul Lehmann angeregten und betreuten Münchener Dissertation von 1916 Wittwers Catalogus behandelt hatte. 40 Die ungewöhnlich breite Wirkung beruht wohl auf der durch die Publikation Steicheles gewährleisteten Erreichbarkeit des Textes, aber auch auf dem hohen Zeugniswert des Werks als der ausführlichsten spätmittelalterlichen Quelle zur Klostergeschichte, vor allem im letzten, oft auch stark anekdotisch angereicherten Teil: Einerseits rezipierte Wittwer vielfältige ältere historische und hagiographische Überlieferungen und berücksichtigte dabei auch die materielle Überlieferung – Bauwerke, Ausstattungsgegenstände, Reliquien –, andererseits wurde er für den Zeitraum, an dessen Geschehnissen er Anteil hatte, entweder als Ohrenzeuge des ihm Berichteten (einige Male liest man, er habe diese Kenntnis durch ältere Mitbrüder erfahren, die dieses oder jenes noch gesehen oder erlebt hätten)41 oder als Zeitzeuge dessen, was er selbst erlebt hatte, zum Chronisten und – dies unterscheidet Wittwers Text von den älteren Werken Sigismund Meisterlins oder Johannes Franks – protokollierte viel mehr als jene und zum Teil sehr ausführlich Geschehnisse aus der Alltagsgeschichte des Klosters. Liest man Wittwers Text, gewinnt man den Eindruck eines im Geist der Reform konservativ gestimmten Mönchs mit Bildung (wenn auch kaum den eines Intellektuellen), der in seinen Urteilen wesentlich bestimmt wurde von der geistlichen Rhetorik der monastischen Reform und damit auch deren literarischer Topik, nicht zuletzt im Hinblick auf sein Geschichtsverständnis.42 Josef Bellot tat ihm deswegen in seinem 1973 gedruckten Vortrag über St. Ulrich und Afra und den Humanismus wohl kaum Unrecht, wenn er sagte, Wittwer sei kein großer Geist gewesen und habe auch seine Quellen nicht immer gut ausgewertet noch Widersprüche vermieden, aber seine Annalen seien wegen ihres Zeugniswerts eine „Geschichtsquelle von eigentümlichem Reiz“. 43 So ist es verständlich, dass zahlreiche Autoren, die sich zu St. Ulrich und Afra,44 zur Geschichte von Stadt –––––––––

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zur ersten (1921) und zweiten Auflage (1923; wieder abgedruckt in der Ausgabe von 1989, S. 15–17); dazu auch in der Ausgabe von 1989: Georg A. Narziß: Vorbemerkung des Herausgebers, S. 13–14. Bühler: Klosterleben (wie Anm. 39), S. 58–64 u. ö. Zur Biographie Johannes Bühlers (1884–1967): Kürschners Deutscher Gelehrten-Kalender 1966. Hg. von Werner Schuder, Berlin 1966, S. 302; Narziß: Vorbemerkung (wie Anm. 39). […] ut audivi a senioribus huius loci (Wittwer: Catalogus [wie Anm. 38], S. 182. Vgl. dazu Schreiner: Erneuerung (wie Anm. 6); zum Zeitbegriff grundsätzlich Jean Leclercq OSB: Zeiterfahrung und Zeitbegriff im Spätmittelalter. In: Antiqui und Moderni. Traditionsbewußtsein und Fortschrittsbewußtsein im späten Mittelalter. Hg. von Albert Zimmermann u. a. Berlin, New York 1974 (Miscellanea Mediaevalia 9), S. 1–20; Klaus Schreiner: „Diversitas temporum“. Zeiterfahrung und Epochengliederung im Mittelalter. In: Epochenschwelle und Epochenbewußtsein. Hg. von Reinhart Herzog und Reinhart Koselleck. München 1987 (Poetik und Hermeneutik 12), S. 381–428. Bellot: Humanismus (wie Anm. 17), S. 398. Vgl. u. a. Michael Hartig: Das Benediktiner-Reichsstift St. Ulrich und Afra in Augsburg (1012–1802). Augsburg 1923; Hermann Endrös: Die Reichsunmittelbarkeit und Schutzverhältnisse des Benediktinerstifts St. Ulrich und Afra in Augsburg vom XI. bis XVII. Jahr-

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und Bistum oder zur Wirkungsweise der Melker Reform in Süddeutschland äußerten, 45 auf Wittwer zurückgriffen, mindestens auf ihn verwiesen. Dies taten ebenso viele Kunsthistoriker und Philologen, die dankbar Gebrauch von seinem Text machten, um Wittwers Angaben über Kirche und Kloster vor dem völligen Neubau der Kirche im späten 15. Jahrhundert und den baulichen Erweiterungen der Klosteranlage im 17. Jahrhundert zu zitieren oder jene Nachrichten auszuschöpfen, die Wittwer als Zeitgenosse in seinen Aufzeichnungen zu Baufortgang und Ausstattung der neuen Klosterkirche St. Ulrich und Afra oder zum Kirchenschatz, zur Anschaffung von Vasa sacra und kostbaren Behältnissen für Reliquien niedergelegt hatte. 46 Gerade zu den Ereignissen, die er als Zeitzeuge erlebte oder mit geringem zeitlichen Abstand notieren (und kommentieren) konnte, bleibt sein Text eine höchst wichtige Quelle, weil, abgesehen von Dokumenten zur Besitzgeschichte, die archivalische Überlieferung zur Geschichte des Konvents, zu dessen Sozialgeschichte, zum monastischen Alltag und zu den Reformbestrebungen im 15. Jahrhundert mit der Säkularisation nahezu völlig verloren ging. Diese Teile des Klosterarchivs erschienen den Exekutoren der Säkularisation und den Archivbeamten des frühen 19. Jahrhunderts offenbar ebenso entbehrlich wie die Abrechnungen zum Neubau von Turm und Kirche (1467–1526 und 1560–1612) oder zur Ausstattung von Kirche und Kloster. 47

3.

Der Autor: Wilhelm Wittwer

Was man über den Verfasser weiß und was spätere Autoren wie Placidus Braun und Franz Anton Veith48 wiederholten, geht auf verstreute Angaben im Catalogus und eine umfangreichere autobiographische Notiz in einem zweiten Codex, einen Sammelband mit zahlreichen autographen Einträgen Wittwers, ––––––––– 45

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hundert. Diss. phil. München 1934. Augsburg 1934; Liebhart: Reichsabtei (wie Anm. 13); Hörberg: Libri (wie Anm. 13). Vgl. etwa Joseph Zeller: Beiträge zur Geschichte der Melker Reform im Bistum Augsburg. In: Archiv für die Geschichte des Hochstifts Augsburg 4 (1912/1915), S. 165–182, hier S. 176; Franz-Xaver Thoma: Petrus v. Rosenheim O.S.B.: Ein Beitrag zur Melker Reformbewegung. In: Studien und Mitteilungen des Benediktiner-Ordens und seiner Zweige 45 (1927), S. 94–222, hier S. 167–194; Proksch: Klosterreform (wie Anm. 7). Vgl. zu Letzterem etwa: Die Heiltumskammer. Der mittelalterliche Reliquienschatz von St. Ulrich und Afra in Augsburg. Redigiert von Christof Metzger und Christian Thöner. München, Berlin 2004. Vgl. dazu Barnabas Schroeder OSB: Die Aufhebung des Benediktiner-Reichsstiftes St. Ulrich und Afra in Augsburg 1802–1806. München 1929 (Studien und Mitteilungen aus der Geschichte des Benediktiner-Ordens und seiner Zweige. 3. Ergänzungsheft), S. 126; Richard Hipper (Bearb.): Die Urkunden des Reichsstiftes St. Ulrich und Afra in Augsburg 1023–1440. Augsburg 1956 (Schwäbische Forschungsgemeinschaft bei der Kommission für bayerische Landesgeschichte. Reihe 2a, 4), S. XV; Peter Fleischmann: Das Archiv des Reichsstifts St. Ulrich und Afra. In: Jahrbuch des Vereins für Augsburger Bistumsgeschichte 36 (2002), S. 398–417, hier S. 417. Franz Anton Veith: Bibliotheca Augustana […]. Bd. 1. Augsburg 1785, S. 214–220.

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zurück. Demnach wurde er 1449 als Kind einer Bauernfamilie in Höchstädt geboren. Im Alter von sechs Jahren übergaben ihn die Eltern einem angesehenen Mann, damit dieser den Knaben in der christlichen Lehre und der Wissenschaft unterrichte. 49 Man weiß, dass Wittwer dann die Schule des Benediktinerklosters Saalfeld in Thüringen besuchte – ohne dass bekannt wäre, wie er dorthin gekommen war –, um danach weitere sechs Jahre lang in Zerbst wohl an der bekannten Schule der Franziskaner50 zu verbringen. Wittwer schilderte 1493 die Begegnung mit einem alten Schulfreund aus dieser Zeit: Als in diesem Jahr Kurfürst Friedrich von Sachsen bei seiner Wallfahrt ins Heilige Land auch durch Augsburg kam und die Abtei St. Ulrich und Afra besuchte, um in der Sakristei die Reliquien des Klosters zu sehen, begleitete den Herzog dessen Leibarzt Dr. Martin Pollich von Mellrichstadt, 51 der einst sechs Jahre lang mit Wittwer die Stube geteilt hatte und ihn nach fast dreißig Jahren wiedererkannte ([…] qui habuit secum quendam doctorem de Mellerstat Martinus Polick dictus (!) […] et idem doctor fuit socius meus individuus et carissimus tempore juventutis mee, scilicet quando stetimus simul in scolis particularibus et in vna bursa ad sex annos in ciuitate Czerbst […]). 52 Ein anderer Mitschüler in Zerbst war ein Augsburger namens Nikolaus, der später in seiner Heimatstadt als Buchbinder tätig wurde, regelmäßig auch für die Abtei.53 Aus dieser Zeit rührte wohl auch Wittwers Bekanntschaft mit Dr. Johann Lang aus Brüssel, den Wittwer anlässlich seines Besuchs in Augsburg im Mai 1510 ins Kloster zum Mittagessen einlud, um die alte Freundschaft zu erneuern.54 Wittwer selbst war 1469 nach Schwaben zurückgekehrt und bat im Oktober dieses Jahres Abt Melchior von Stamheim um Aufnahme in St. Ulrich und Afra. Am 19. November ––––––––– 49 50 51

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Augsburg, Archiv des Bistums, Hs. 79 (Collectanea Wilhelmi Wittwer), fol. 49v–57r; vgl. Kraft: Handschriften (wie Anm. 33), S. 93. Vgl. dazu Reinhold Specht: Geschichte der Stadt Zerbst. Bd. 1. Dessau, Zerbst 1988, S. 62f. und 168–170. Martin Pollich hatte von 1470 an in Leipzig studiert, wo er 1475 zum Magister und Doktor der Philosophie promoviert wurde, 1480 (wohl in Mainz) auch zum Doktor der Medizin. Seit 1482 ist er als Leibarzt des Kurfürsten Friedrich III. von Sachsen bezeugt, seit 1490 war er auch Mitglied der Sodalitas litteraria Rhenana des Konrad Celtis. Den sächsischen Kurfürsten begleitete Pollich bei dessen Pilgerfahrt nach Jerusalem vom Februar bis in den November 1493, die von Torgau aus über Nürnberg und Augsburg (3. April) weiter nach Innsbruck führte. Im Jahr 1502 wurde Pollich Gründungsrektor der Universität Wittenberg, deren ständiger Vizekanzler er bis zu seinem Tod 1513 blieb. Vgl. Helmut Schlereth: Pollich, Martin. In: Neue Deutsche Biographie. Bd. 20. Berlin 2001, S. 605f.; ders.: Martin Pollich von Mellrichstadt (geb. um 1455, gest. 1513) und sein Streit mit Simon Pistoris über den Ursprung der „Syphilis“. Würzburg 2001 (Würzburger medizinhistorische Forschungen 73); zur Reise nach Jerusalem ebd., S. 55–63. Wittwer: Catalogus (wie Anm. 38), S. 366. Aus Wittwers Aufzeichnungen geht hervor, dass Abt Johannes von Giltlingen zwischen 1490 und 1494 fürs Binden und Restaurieren von Büchern bei Nikolaus insgesamt 63 fl. zahlte. Dieser habe allein 1494 350 Bücher größeren und kleineren Formats gebunden: Wittwer: Catalogus (wie Anm. 38), S. 369. Vgl. den Einladungsbrief, den sich Wittwer von Veit Bild für diesen Anlass schreiben ließ: Schröder: Veit Bild (wie Anm. 16), Nr. 26: 20. Mai 1510 (für Fr. Wilhelm Wittwer an Dr. theol. Johann Lang von Brüssel).

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wurde er eingekleidet und in das Noviziat aufgenommen, Novizenmeister war damals der spätere Abt Johannes von Giltlingen. 55 Im Oktober 1470 legte er die Profess ab, am 13. April 1471, dem Karsamstag, erteilte ihm der Augsburger Bischof Johannes Graf von Werdenberg (1469–1486)56 im Dom die niederen Weihen, im Juni empfing er in Dillingen die Subdiakonenweihe, im August die Weihe zum Diakon und am 22. Februar 1472 wurde er in St. Stephan in Augsburg vom Weihbischof57 zum Priester geweiht. Im Lauf seines Lebens wurden ihm im Kloster verschiedene Ämter übertragen, 1472 wurde er Kastner, 1473 Subprior, 1484 Custos der Klosterkirche, 1489 Cellerar, Infirmar und Vestiar und war damit für die Finanzen, für die Versorgung der Kranken und für die Kleiderkammer des Klosters zuständig. Von 1502 bis 1506 schließlich war er Prior und damit der Stellvertreter des Abtes im Kloster. 58 Er hat in dieser Zeit auch den Klostereintritt seines Höchstätter Landsmannes Veit Bild59 erlebt. Im Jahr 1512 starb Wittwer im Alter von 63 Jahren.60 Steichele kannte noch den ––––––––– 55 56 57

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Vgl. Liebhart: Reichsabtei (wie Anm. 13), S. 153–155. Friedrich Zoepfl: Das Bistum Augsburg und seine Bischöfe im Mittelalter. Bd. 1. Augsburg 1955, S. 452–482. Jakob Goffredi, von 1471 bis zu seinem Tod 1473 Titularbischof von Adramyttium und Weihbischof von Augsburg: Peter Rummel: Goffredi, Jakob. In: Die Bischöfe des Heiligen Römischen Reiches 1448 bis 1648. Ein biographisches Lexikon. Hg. von Erwin Gatz. Berlin 1996, S. 232. Vgl. Augsburg, Archiv des Bistums, Hs. 79, fol. 49v–53r. Veit Bild (1481–1529), der nach dem Studium in Ingolstadt 1499–1500 Schreiber bei St. Ulrich und Afra und an der bischöflichen Kurie geworden war, wurde 1503 zum Subdiakon geweiht und trat 1503 in St. Ulrich und Afra ein. Dort konnte er sich zeitlebens seinen vielseitigen gelehrten Interessen widmen, unterrichtete zeitweilig an der Klosterschule Latein, hielt sich 1511/12 für ein ganzes Jahr in Melk auf und verfasste zahlreiche historische, theologische und poetische Werke, aber auch mathematische, astronomische und musiktheoretische Schriften, hinterließ einen Briefwechsel von über 600 Briefen und sympathisierte bis zum Abendmahlsstreit mit Luther, dessen Schriften er gelesen hatte, brach aber dann seine freundschaftlichen Kontakte mit einigen ihm bekannten reformatorischen Theologen ab. Mindestens zeitweise gehörte Bild dem Kreis um Konrad Peutinger an. Vgl. Schröder: Veit Bild (wie Anm. 16); Bellot: Humanismus (wie Anm. 17), S. 400–402; Schmidt: Reichenau und St. Gallen (wie Anm. 2), S. 53, 66–70 u. ö.; Graf: Ordensreform (wie Anm. 2), S. 110f., 122 und 138; Thomas Röder und Theodor Wohnhaas: Die Stella musicae des Benediktiners Veit Bild. Eine spätmittelalterliche Musiklehre aus Augsburg. In: Jahrbuch des Vereins für Augsburger Bistumsgeschichte 32 (1998), S. 305–325; H. Müller, Ziesak: Veit Bild (wie Anm. 2); Franz Posset: The Benedictine Humanist Vitus Bild (1480–1529). In: The American Benedictine Review 55 (2004), S. 372–394; ders.: Jack-of-all-trades: Vitus Bild Acropolitanus, Monk of Saints Ulrich and Afra in Augsburg. In: ders.: Renaissance Monks. Monastic Humanism in Six Biographical Sketches. Leiden, Boston 2005 (Studies in Medieval and Reformation Traditions 108), S. 133–154; AnneKatrin Ziesak: Bild, Veit. In: Deutscher Humanismus 1480–1520. Verfasserlexikon. Hg. von Franz Josef Worstbrock. Bd. 1, Lieferung 1. Berlin 2005, Sp. 190–204; H. Müller: Habit und Habitus (wie Anm. 1), S. 321–324. Veit Bild schrieb am 14. Mai 1512 an Fr. Paul in St. Emmeram in Regensburg, um dem Regensburger Konvent, mit dem eine Gebetsverbrüderung bestand, den Tod Wittwers am 30. April 1512 mitzuteilen, und bat ihn gleichzeitig, den mit St. Ulrich und Afra ebenfalls verbrüderten Abteien Reichenbach, Mallersdorf und Metten davon Nachricht zu geben: Schröder: Veit Bild (wie Anm. 16), Nr. 40.

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Grabstein in dem im Zweiten Weltkrieg großenteils zerstörten und in seinem Rest durch die kirchliche Denkmalpflege der 1970er Jahre endgültig preisgegebenen Kreuzgang von St. Ulrich und überlieferte auch die auf dem Stein angebrachte Inschrift. 61 Wilhelm Wittwer schrieb im Lauf seines Lebens außer den Collectanea und dem Catalogus noch mehrere Handschriften für den eigenen Gebrauch, Nachschriften hagiographischer Literatur und Kompilationen liturgischer Texte, die – trotz ihres Quellenwerts für die Liturgie der Abtei zur Zeit der Melker Reform – bisher noch nicht untersucht sind.62 Dies gilt besonders für das 1478 von ihm selbst geschriebene Brevier (Rom, Bibl. Apost. Vaticana, cod. Pal. lat. 517). 63 Wittwers vorhumanistisches Latein lässt seine gediegene Schulbildung erkennen, wenngleich er wenig literarische Lichter setzte, ein Zitat aus den Georgica des Vergil, ein (sicher aus zweiter Hand bezogenes) Orosiuszitat zu Zypern als Herkunftsland der hl. Afra64 und nur Weniges an Etymologie; eher unbeholfen als prätentiös wirkt seine Erklärung zu einem Familiennamen: Curialis cervus id est in wulgari Stolczhyrs. 65 Rhetorisches ist selten und bestimmt Momente, in denen der Verfasser seine Betroffenheit ausdrücken mochte, etwa wenn er zu ––––––––– 61 62

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Wittwer: Catalogus (wie Anm. 38), S. 12 mit Anm. 4: Anno dni. 1512 obiit Fr. Wilhelmus Wittwer presbiter et monachus, pridie kal. Maji. cuius anima requiescat in pace. Es handelt sich um einen Band Meditationes et orationes (Augsburg, Staats- und Stadtbibliothek, 8° Cod. 3: Bühler: Schriftsteller [wie Anm. 27], S. 62), ein Caeremoniale monasticum mit den Constitutiones Mellicenses (Augsburg, Staats- und Stadtbibliothek, 8° Cod. 4: Bühler: Schriftsteller [wie Anm. 27], S. 62; Schmidt: Reichenau und St. Gallen [wie Anm. 2], S. 114, Anm. 66) und eine Handschrift mit verschiedenen hagiographischen Texten, u. a. einer 1493 datierten Abschrift der Narcissuslegende (Bühler [wie Anm. 27], S. 62). Das von ihm nach eigenen Angaben 1488 geschriebene Missale ist verloren oder bisher nicht identifiziert. Wittwer erhielt vom Abt das dafür erforderliche Pergament, das mehrere private Stifter für ihn bezahlten (Eodem anno [sc. 1488] idem pater at abbas ex sua innata pietate dedit michi Wilhelmo Wittwer pergamenum ad scribendum pro usu meo librum missale, et hoc per quendam sacerdotem secularem nomine Jeorius Zikel, sed peccuniam congregavi a diversis personis utriusque status michi inclinatis ac notis, similiter utriusque sexus: Wittwer: Catalogus [wie Anm. 38], S. 344). Wittwer erwähnte dies im Catalogus, vergaß aber nicht festzuhalten, dass ihm Abt Heinrich Frieß den persönlichen Gebrauch ausdrücklich gestattet habe, unter Hintanstellung der Sorge, es handle sich dabei um (unerlaubten) Privatbesitz, denn dieser Besitz bleibe ja dauerhaft der Abtei erhalten, und schloss den Wunsch an, dass dies für immer so sein möge: Anno Domini 1478 ego fr. Wilhelmus Wittwer scripsi michi breviarium sive librum horarum canonicarum […] Cui concessus est iste liber ad usum ab abbate suo Hainrico Fryess, de cuius licentia scripsit remoto scrupulo proprietatis, quia ipsa proprietas penes ipsum monasterium permanet, vtinam feliciter et in evum! (Wittwer: Catalogus [wie Anm. 38], S. 300). Paul Lehmann (1884–1964) hatte die Handschrift während seiner Handschriftenstudien in der Biblioteca Vaticana gesehen, deren Provenienz erkannt und seinem Schüler gegenüber erwähnt: Bühler: Schriftsteller (wie Anm. 27), S. 62 mit Anm. 3. Zur Handschrift: Codices Palatini Latini Bibliothecae Vaticanae. Rec. Henricus Stevenson. Bd. 1. Rom 1886, S. 170f.; Hugo Ehrensberger: Libri liturgici bibliothecae apostolicae Vaticanae manu scripti. Freiburg im Breisgau 1897, S. 215–217. Spätere Ergänzungen gibt es u. a. noch aus dem Jahr 1496. S. auch unten S. 346, 362 und 385. Wittwer: Catalogus (wie Anm. 38), S. 25. Ebd., S. 161.

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den Exequien des um die Reform verdienten Augsburger Bischofs und Kardinals Peter von Schaumberg notierte: Ach jacet ille pater, cleri dux, mi frater ora!66 Bei seinen Bemerkungen zum Leben des mehr als zwei Jahrzehnte zuvor Verstorbenen stützte sich Wittwer auf einen Brief des bischöflichen Pönitentiars Magnus Pirgmann, 67 der den Verstorbenen persönlich gekannt und für Wittwer eine ausführliche Charakterisierung verfasst hatte. Wittwer verarbeitete den Brief in seinem Text, zitierte seinen Gewährsmann zu den Verdiensten des Bischofs in der Regierung des Hochstifts und bei seiner Würdigung des Kardinals als eines um politischen Frieden bemühten Reichsfürsten und Gesandten des Kaisers. In dieser Funktion, so endet Pirgmanns Bericht in Wittwers Paraphrase, habe Peter von Schaumberg beim Baseler Konzil in der Liturgie der Weihnachtsnacht, das Reichsschwert in der ausgestreckten Hand, das Evangelium (Exiit edictum a Caesare Augusto […]) gesungen und alle Anwesenden tief beeindruckt.68 Wittwer, der in den frühere Zeiten behandelnden Teilen des Catalogus ganz selbstverständlich ältere Textstücke und Fremdzitate seinem Text kompilatorisch integrierte, 69 berief sich etliche Male auch auf Quellen, 70 folgte, was Vorkommnisse betrifft, deren mittelbarer oder unmittelbarer Zeuge er gewesen war, seiner Erinnerung, gestand aber gelegentlich auch ein, sich dieser – nach einer Zeitspanne von Jahren oder Jahrzehnten – nicht mehr ganz sicher zu sein. 71 Die Gründe, die Wittwer zum Schreiben veranlasst hatten, benannte er am Ende seiner Textpassage über den Afrachor: Er habe keinen literarischen Ehrgeiz verfolgt (wörtlich: nicht wie eine Krähe eingeschätzt werden wollen, die sich mit Pfauenfedern schmückt), 72 ihm werde es genügen, die Dinge ordentlich zusammengestellt zu haben, wie sie sich wahrhaft ereignet haben (Nec me cornicem pennis texisse pauonicis aliquis estimet […] Michi sufficiat, res vere gestas texuisse in ordinem). 73 Damit bekannte er sich programmatisch zu einem Prinzip der monastischen Reform, das mit der Formel „Erneuerung durch Erin––––––––– 66 67

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Ebd., S. 217. Zu Magister Magnus Pirgmann, Pfarrer in Pfronten, der unter den Bischöfen Johann Graf von Werdenberg und Friedrich Graf von Zollern als Pönitentiar und Visitator tätig war: Zoepfl: Bistum Augsburg (wie Anm. 56), S. 479, 517, 526 und 529. Wittwer: Catalogus (wie Anm. 38), S. 272; vgl. Uhl: Peter von Schaumberg (wie Anm. 21), S. 202, mit Hinweis auf Wittwer. S. dazu S. 347–349. S. dazu S. 349. So schränkte er seine Aussagen über die Neuausstattung des Kapitelsaals in den siebziger Jahren des 15. Jahrhunderts ein, damals seien neue Wandvertäfelungen und Figuren aus Eichenholz angebracht worden, nur was die Vertäfelungen betrifft, sei er sich dessen nicht mehr sicher: Wittwer: Catalogus (wie Anm. 38), S. 235. Zu dem hier verwendeten Bild von den fremden Federn, das ebenso als Sprichwort gebräuchlich wie aus der Überlieferung bekannt ist: Thesaurus proverbiorum medii aevi. Lexikon der Sprichwörter des romanisch-germanischen Mittelalters. Bd. 3. Berlin 1996, S. 188; Gerd Dicke und Klaus Grubmüller (Hgg.): Die Fabeln des Mittelalters und der frühen Neuzeit. Ein Katalog der deutschen Versionen und ihrer lateinischen Entsprechungen. München 1987 (Münstersche Mittelalter-Schriften 60), S. 553–560 (Nr. 470). Wittwer: Catalogus (wie Anm. 38), S. 48.

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nerung“ (Klaus Schreiner) beschrieben wurde, um damit den erkennbaren Zusammenhang von Reformstreben, Geschichtsbewusstsein und Geschichtsschreibung zu charakterisieren: Selbstbehauptung gegen stets drohenden Kontinuitätsverlust durch Rückbesinnung auf die eigene Geschichte. Im Jahr 1481 hatte – ein oft zitierter Beleg 74 – Gunther von Nordhausen als Abt des Erfurter Petersklosters an das Kapitel der Bursfelder Union die Bitte gerichtet, jeder Abt möge dazu verpflichtet werden, in seinem Kloster durch Jahrbücher oder eine Chronik die Geschichte des eigenen Hauses darzustellen, gegebenenfalls sich dabei durch einen auswärtigen Mönch helfen zu lassen, wenn im eigenen Kloster niemand dazu in der Lage sei. Geschichtlichkeit galt ihm als eines der konstituierenden Prinzipien menschlichen Lebens, der Welt und des sich in der Geschichte vollziehenden göttlichen Heils. Dies anzuerkennen, unterscheide den Menschen vom Tier. Die Aufzeichnung von Geschichte gereiche Gott zu größerer Ehre, unterrichte, erfreue die jetzige Generation und deren künftige Nachfahren und entspreche überdies den Intentionen des hl. Benedikt.75 Ähnliches bewog auch Mönche in den Klöstern der Melker Reform, sich auf die eigene Geschichte zu besinnen. In St. Ulrich und Afra – in dessen Druckerei man u. a. 1472 auch die Chronik Burkhards von Ursberg gedruckt hatte76 – besorgte dies auf Geheiß seines Abtes Johannes von Giltlingen Wittwers älterer Mitbruder Sigismund Meisterlin: Dieser hatte nach seiner im Auftrag Sigismund Gossembrots verfassten Darstellung der Gründungsumstände und der Frühgeschichte Augsburgs (Chronographia Augustensium)77 zunächst das als Ergänzung der Augsburger Geschichte konzipierte Chronicon ecclesiasticum verfasst,78 das ––––––––– 74 75

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Vgl. z. B. Schreiner: Erneuerung (wie Anm. 6), S. 43. Vgl. Barbara Frank: Das Erfurter Peterskloster im 15. Jahrhundert. Studien zur Geschichte der Klosterreform in der Bursfelder Union. Göttingen 1973 (Veröffentlichung des MaxPlanck-Instituts für Geschichte 34. Studien zur Germania Sacra 11), S. 382–387, hier S. 384. GW 5737. Dass außerdem solche Literatur in Augsburg zu dieser Zeit auf großes Interesse stieß, belegen die im letzten Viertel des Jahrhunderts hier verlegten historischen Werke wie die Historia ecclesiastica tripartita Cassiodors (Johann Schüßler, 1472: GW 6164–6167), die Historia scholastica des Petrus Comestor (Günter Zainer, 1473: Hain 5529), die Andechser Chronik Von dem Ursprung und Anfang des heiligen Bergs zu Andechs (Johann Bämler, 1473: GW 1638–1641), die Weltchronik des Twinger von Königshofen Von allen Kaisern und Königen (Johann Bämler, 1474: Hain 9791–9794), die Trojanerchronik Historia destructionis Troiae des Guido de Columna (Johann Bämler, 1475: GW 7224), die bei Bämler 1476 verlegte Weltchronik Chronik von allen Kaisern, Königen und Päpsten (GW 3163), die Chronik der Kaiser, Könige und Päpste (Johann Blaubirer, 1480: GW 6687), die Augsburger Chronik Ursprung und Anfang Augsburgs (Johann Bämler, 1483: GW 2860), die sog. Gmünder Chronik (Conrad Dinckmut, 1486: Hain 10116–10118) und schließlich 1488 die Chronica Hungarorum des Johannes de Thurocz (Hain 15516): AnnaDorothea von den Brincken: Die Rezeption mittelalterlicher Historiographie durch den Inkunabeldruck. In: Geschichtsschreibung und Geschichtsbewußtsein im späten Mittelalter. Hg. von Hans Patze. Sigmaringen 1987 (Vorträge und Forschungen 31), S. 215–236. Zur Überlieferung der lateinischen (1456) und der deutschen (1457) Fassung: Colberg: Meisterlin (wie Anm. 20), Sp. 358–360. Vgl. ebd., Sp. 361f. Den autographen Text enthält 2° Cod. Aug. 320 der Staats- und Stadtbibliothek in Augsburg; gedruckt in: Johann Pistorius: Rerum Germanicarum […] Scrip–

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ausführliche Angaben zu neu gefundenen Inschriften und zur Klosterbibliothek enthält, dem Abt aber nicht ausreichte. Deshalb verfasste Meisterlin anschließend, vom Juli 1483 bis zum Oktober 1484, eine neue, auf einer umfangreichen Sammlung von Material beruhende historische Darstellung der Klostergeschichte, den Index monasterii Ss. Udalrici et Afrae. 79 Dieses Werk war für den Hausgebrauch in St. Ulrich und Afra gedacht – Vitus Bild ergänzte das Werk 1516 noch um ein Kapitel über die Regierungszeit Abt Konrad Mörlins und die Wahl seines Nachfolgers (1496–1510)80 – und wurde offensichtlich auch bei Tisch im Refektorium vorgelesen. 81 Auch dies war programmatisch: Die im Zeichen der Reform erneuerte Tischlesung in den Klöstern 82 bot Anlass, memoriale Traditionen und die Pflege historischer Überlieferung gleichermaßen zu beleben. Man las lateinische Texte aus der Bibel und Heiligenleben, aber eben auch historische Texte, etwa zur Gründung eines Klosters. Wittwer war mit diesem Text vertraut. Was aber erfährt man aus Wittwers Aufzeichnungen? Im Folgenden soll der Catalogus näher betrachtet werden, wobei keine wesentlich neuen Forschungsergebnisse präsentiert werden können, sondern ein kommentierter Überblick über dessen Inhalt und die Forschungsgeschichte dazu geboten werden sollen. Die Urteile verschiedener Autoren spiegeln disparate Standpunkte aufgrund der jeweiligen Einschätzung des Quellenwerts und aufgrund unterschiedlicher Sensibilität für die komplexen redaktionsgeschichtlichen Probleme, die dieser Text aufgibt. Je länger man sich mit ihm beschäftigt, um so deutlicher ist zu erkennen, wie notwendig eine kritische kommentierte Neuedition des Textes wäre, um über die 1894 und 1916 publizierten Forschungen Paul Joachimsohns hinaus gleichermaßen in der Lage zu sein, den Quellenwert einzelner Textpassagen besser einschätzen zu können wie die Überlieferungsgeschichte der klösterlichen Geschichtspflege in St. Ulrich und Afra im Spätmittelalter zu präzisieren. –––––––––

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tores. Bd. 6. Frankfurt a. M. 1607, S. 589–614. Einen korrigierten Text enthält offenbar die von Meisterlin an Hartmann Schedel gesandte Abschrift in München, Bayerische Staatsbibliothek, clm 23877. Vgl. ausführlich dazu: Paul Joachimsohn: Zur städtischen und klösterlichen Geschichtschreibung Augsburgs im fünfzehnten Jahrhundert. In: Alemannia 22 (1894), S. 1–32 und 123–159; ders.: Humanistische Geschichtschreibung (wie Anm. 21). Der – immer noch (bis auf Auszüge) unveröffentlichte – Text ist in mehreren Handschriften überliefert, u. a. Augsburg, Staats- und Stadtbibliothek, cod. Aug. 320 (Autograph); Augsburg, Archiv des Bistums, Hs. 50 (Abschrift von 1516); München, Bayerische Staatsbibliothek, clm 1009 (Abschrift von Leonhard Wagner, 1516); clm 1211; clm 22104: Colberg: Meisterlin (wie Anm. 20), Sp. 362. München, Bayerische Staatsbibliothek, clm 1009, fol. 148v–149v: Ziesak: Bild (wie Anm. 59), Sp. 197. Joachimsohn: Humanistische Geschichtschreibung (wie Anm. 21), S. 141. Vgl. Hermann Hauke: Die Tischlesung im Kloster Tegernsee im 15. Jahrhundert nach dem Zeugnis seiner Handschriften. In: Studien und Mitteilungen aus der Geschichte des Benediktiner-Ordens und seiner Zweige 83 (1972), S. 220–228; Meta Niederkorn-Bruck: Die Melker Reform im Spiegel der Visitationen. Wien 1994 (Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung. Ergänzungsband 30), S. 163f.

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4.

Wolfgang Augustyn

Zur Geschichte von Bistum, Stadt und Kloster: Wittwers kompilatorische Methode und seine Quellen

Wittwers Text enthält – deutlich erkennbar – etliche aus unterschiedlichen Zeiten stammende Textstücke, die er übernahm. Wohl um den Catalogus vorzubereiten, hatte er in einem anderen Band (Collectanea) verschiedene Dokumente zum Kirchenneubau ab 1467 gesammelt, ebenso eine ausführlichere Beschreibung der 1474 eingestürzten Kirche und die Abschrift der Chronik Johannes Franks. 83 Der Catalogus besteht aus einer Art zusammenfassendem Überblick und zwei größeren Teilen. Die Handschrift beginnt mit dem Summarium, einer kurzen Abtreihe von 1012 bis 1496 mit einem knappen Eintrag zu jedem Abt, dem jüngsten Teil des Textes.84 Einzelne Passagen sind, wie aus dem Text hervorgeht, schon 1494 und noch früher geschrieben, doch die eigentliche Geschichte der Abtei bis zum 1458 beginnenden Abbatiat Melchiors vom Stamheim scheint der Verfasser erst in der Zeit um etwa 1495 zusammengestellt zu haben.85 Als erster von zwei Teilen schließt die Frühgeschichte an mit Angaben zu den Klosterheiligen und zu den Anfängen einer klösterlichen Gemeinschaft an dieser Stelle bis zur Übernahme durch die Benediktiner. 86 Wittwer fasste hier alles ihm Erreichbare an hagiographischen Traditionen zur hl. Afra, der Patronin von Kloster und Bistum, zusammen, schrieb u. a. ältere Lorcher Texte nach, nahm die Passio der Heiligen und ihrer Gefährtin, der hl. Hilaria, auf, schloss eine Beschreibung von Lage und Aussehen des alten Chors an, in dem das Grab Afras gelegen hatte, und erörterte die nach der Bestattung des hl. Ulrich geschehene Namenserweiterung von Kirche und Kloster.87 Von fol. 38r an geht es um die Anfänge einer geistlichen Kommunität an diesem Ort, wobei der Verfasser ––––––––– 83

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Zu Frank s. Anm. 29. In der Brevier-Handschrift in der Biblioteca Vaticana, cod. Pal. lat. 517 (wie Anm. 63) findet sich auf fol. 532v der nicht von Wittwer selbst geschriebene Text einer Klage über die bei dem Einsturz zu Tode gekommenen: Carmen Elegiacu[m] de ruina templi sanctoru[m] Udalrici Afræ et Hilariæ. qua Venerabiles uiri / magister hieronymus leiber in decretis licentiat[us] et ibidem plebani necnon Thomas Eber cum aliis utriusq[ue] sexus duo et triginta oppressi sunt. Wittwer: Catalogus (wie Anm. 38), S. 15–24. Vgl. dazu Joachimsohn: Städtische Geschichtschreibung (wie Anm. 79), S. 125. Wittwer: Catalogus (wie Anm. 38), S. 25–72. Zu Text und Überlieferung der Afravita: Erhard Dorn: Der sündige Heilige in der Legende des Mittelalters. München 1967 (Medium Aevum 10), S. 67–71; Walter Berschin: Die älteste erreichbare Textgestalt der Passio S. Afrae. In: Bayerische Vorgeschichtsblätter 46 (1981), S. 217–224 (wieder in: ders.: Mittellateinische Studien. Heidelberg 2005, S. 29– 38); ders.: Am Grab der heiligen Afra. Alter, Bedeutung und Wahrheit der Passio S. Afrae. In: Jahrbuch des Vereins für Augsburger Bistumsgeschichte 16 (1982), S. 108–121; ders.: Biographie und Epochenstil im lateinischen Mittelalter. Bd. 2. Stuttgart 1988 (Quellen und Untersuchungen zur lateinischen Philologie des Mittelalters 9), S. 82–87; ders.: Die frühe Verehrung der heiligen Afra. Von Venantius Fortunatus bis St. Ulrich. In: Jahrbuch des Vereins für Augsburger Bistumsgeschichte 38 (2004), S. 34–41; Manfred Weitlauff: Sankt Afra, ihr früher Kult und die Anfänge des Bistums Augsburg. In: ebd. 40 (2006), S. 3–38; Hymni de sancta Afra. Ed. Monika Prams-Rauner. Augsburg 2006.

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hier mit kritischen Aussagen über das unzulängliche geistliche Leben der Kanoniker nicht sparte und sich dabei auf eine in Kreisen der monastischen Reform im 15. Jahrhundert eingespielte Topik stützen konnte.88 Es folgt dann als zweiter und wesentlich umfangreicherer Teil der (aufgrund der herangezogenen Quellen nicht konsequent) chronologisch geordnete Durchgang durch die Geschichte der Abtei, gegliedert durch die aufeinander folgenden Amtszeiten der Äbte. 89 Da ihm über die ersten Äbte nach der Übernahme des Klosters durch Benediktiner aus Tegernsee im frühen 11. Jahrhundert nur wenig bekannt war, begnügte er sich oft mit eher formelhaften Aussagen, während er später, was etwa Abt Uodalschalk im 12. Jahrhundert oder das 14. und 15. Jahrhundert betraf, auf die Werke klösterlicher Autoren zurückgreifen konnte wie etwa den Prior Adilbert zugeschriebenen Abtskatalog von 1234 (?) oder das 1493 vollendete Congestum monachorum Petrus Wagners sowie die Annalen Johannes Franks für das mittlere 15. Jahrhundert.90 Grundsätzlich lobte Wittwer Äbte, die sich um die Vermehrung des Bücherbesitzes verdient gemacht haben, selbst dann und erst recht, wenn er ihnen sonst wenig Gutes nachsagen mochte. Abt Heinrich von Maysach im 12. Jahrhundert etwa verdankte die Abtei ein später verlorenes Exemplar des Glossarium Salomonis, das im späten 15. Jahrhundert Grundlage des vom Kloster verantworteten Frühdrucks war. 91 Auch Abt Konrad Winkler wurde die Bemühung um Grundbesitz und Bibliothek gutgeschrieben.92 Während seiner Amtszeit erbat 1354 Kaiser Karl IV. Reliquien des hl. Ulrich und schenkte dem Kloster im Gegenzug dafür eine goldene Büste mit einer Reliquie des hl. Dionysius, die in ein Büstenreliquiar eingeschlossen wur––––––––– 88 89 90

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Wittwer: Catalogus (wie Anm. 38), S. 63–72; vgl. auch Proksch: Klosterreform (wie Anm. 7), S. 108. Wittwer: Catalogus (wie Anm. 38), S. 73–437. Wittwer übernahm immer wieder Formulierungen aus der Historia sanctorum Udalrici et Afrae cum catalogo abbatum sancti Udalrici (Augsburg, Archiv des Bistums, Hs. 80, fol. 1r–19v), die dem nach 1240 verstorbenen Ulrikaner Sakristan, Leiter der Schule und Prior Adilbert (Albertus?) zugeschrieben wird; zu diesem vgl. Max Manitius: Geschichte der lateinischen Literatur des Mittelalters. Bd. 3. München 1923 (Handbuch der Altertumswissenschaft 9, 2, 3), S. 517; Bühler: Schriftsteller (wie Anm. 27), S. 29–34; Karl-Ernst Geith: Adilbert von Augsburg. In: 2VL. Bd. 1. Berlin, New York 1978, Sp. 63f.; ders.: Albertus von Augsburg. In: ebd., Sp. 114–116. – Wittwers Text über Abt Uodalschalk (zu diesem vgl. Anm. 132) – Wittwer: Catalogus (wie Anm. 38), S. 95–100 – ist eine Kompilation aus dem Index Meisterlins und dem Werk Petrus Wagners (Augsburg, Staats- und Stadtbibliothek, cod. 205; vgl. dazu Braun: Notitia [wie Anm. 18], Bd. 6, S. 42; Joachimsohn: Städtische Geschichtschreibung [wie Anm. 79], S. 129. Auf Wittwer selbst geht aber offenbar das in der späteren Überlieferung der Klostergeschichte gleichsam kanonisch gewordene, angebliche Gründungsjahr 1012 zurück: Wittwer: Catalogus (wie Anm. 38), S. 62; vgl. Die Regesten der Bischöfe und des Domkapitels von Augsburg. Bearb. von Wilhelm Volkert. Bd. 1. Augsburg [1955–]1985 (Veröffentlichungen der Schwäbischen Forschungsgemeinschaft bei der Kommission für bayerische Landesgeschichte. Reihe 2b, 1), S. 132, Nr. 225 (mit der Datierung vor 1013); vgl. auch Anm. 13. – Zu den Annalen Johannes Franks vgl. Anm. 29. S. unten S. 386. Vgl. Hörberg: Libri (wie Anm. 13), S. 25.

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de und die 1493 Jörg Seld neu vergoldete.93 Mit Ausnahme des aus Ottobeuren gekommenen Abtes Johannes Kissinger (1404–1428), der 1410 auch das Privileg der Pontifikalien für die Äbte des Klosters erreichte, fällt die Beurteilung Wittwers – entsprechend der Rhetorik der Reform94 – denkbar ungünstig aus, wenn auch wieder fallweise die Vermehrung von Grundbesitz und Bibliothek anerkennend konstatiert ist. Dazwischen sind immer wieder Bezugspunkte genannt, die die Geschichte des Klosters in einen größeren historischen Rahmen einfügen, wobei Wittwer sich hier einmal wohl auf die Schedelsche Chronik als Quelle bezog, 95 in vielen Fällen auf ältere Werke wie das (nur mehr deswegen bezeugte) Werk Abt Uodalschalks aus dem 12. Jahrhundert De Eginone et Herimanno,96 das Annalenwerk der beiden Brüder Welling aus dem 14. Jahrhundert97 und auf die Chroniken Meisterlins oder Johannes Franks zurückgriff und diesen Texten gelegentlich auch Hinweise entnahm auf Ereignisse in der Reichsstadt, im Bistum, in der universalen Kirche, im Reich.98 Erwähnt wird nicht nur das Testament des Ulrikaner Priors Adilbert im Jahr 1235, sondern eben auch der Augsburger Stadtbrand im späten 13. Jahrhundert, die Königswahl Rudolfs von Habsburg 1273, der angebliche Ritualmord an Werner von Bacharach, oder einzelne Verse aus den Annales Altahenses anlässlich der Ermordung König Albrechts.99 Wie gut Wittwer mit Meisterlins Chronicon ecclesiasticum und dem Index vertraut war, zeigen die zahlreichen Übernahmen von Meisterlin, die er freilich nur selten in seinem Text vermerkte, 100 im Gegensatz dazu berief er sich durchaus immer wieder auch auf Pergamente in der Bibliothek der Abtei (inuenimus om––––––––– 93

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Wittwer: Catalogus (wie Anm. 38), S. 181 und 363; das Reliquiar fiel zwar der Säkularisation zum Opfer, ist aber u. a. im Zustand des 17. Jahrhunderts durch eine der großen Jubiläumspublikationen der Abtei, im Buch des späteren Abts Bernhard Hertfelder (1587– 1664), bezeugt. Vgl. Hertfelder: Basilica (wie Anm. 34), S. 71 (Taf. IV); Neuausgabe von Romanus Kistler OSB: Basilica, dass ist Herrliche Kirchen des Frey=Reichs Klosters St. Ulrich und Afra in Augspurg sambt den Heiligthumber Altär, und silbern Bildnussen, so in selber noch aufbehalten werden, in Kupffer vorgestellt […]. Augsburg 1712. Teil 3, Bl. 4r (Taf. IV); dazu auch Wolfgang Augustyn: Ein unbekanntes Inventar des Kirchenschatzes von St. Ulrich und Afra in Augsburg aus dem Jahr 1736. In: Zeitschrift des Historischen Vereins für Schwaben 88 (1995), S. 165–231, hier S. 197. Vgl. Proksch: Klosterreform (wie Anm. 7), S. 43–45 und 145–153; zu Kissinger, der von 1400 bis 1404 Abt von Ottobeuren gewesen war: Liebhart: Reichsabtei (wie Anm. 13), S. 133f. Cetera vide in cronico Neurenbergensi (Wittwer: Catalogus [wie Anm. 38], S. 70). Walter Berschin: Uodalscalc von St. Ulrich und Afra OSB. In: 2VL. Bd. 10. Berlin, New York 1999, Sp. 109–113. Zu den Annales sanctorum Udalrici et Afrae Augustenses der Brüder Ulrich und Conrad Welling, Mönche in St. Ulrich und Afra in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts: Hörberg: Libri (wie Anm. 13), S. 18; der Text der Annales für die Jahre von 1106 bis 1334 ist gedruckt in: Annales aevi Suevici. Hg. von Georg Heinrich Pertz. Hannover 1861 (Monumenta Germaniae Historica. Scriptores 16), S. 428–436 (Nachdruck 1990). Vgl. Joachimsohn: Städtische Geschichtschreibung (wie Anm. 79), S. 126, Anm. 4. Wittwer: Catalogus (wie Anm. 38), S. 155–163. Ebd., S. 183; an einer Stelle steht ein Hinweis auf Meisterlin offenbar als Ersatz für eine Textpassage, die Wittwer von Meisterlin abzuschreiben versäumt hatte: ebd., S. 35.

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nia in libris antiquissimis […] in liberaria huius cenobij sancte Affre)101 oder die Sammlung der klösterlichen Privilegien, sogar Urkunden aus anderen Klöstern.102 Hinzu kamen das Verzeichnis der sog. „servicia“, die der Custos an den Gedenktagen der Klosterwohltäter dem Konvent zu leisten hatte,103 das Verzeichnis der gestifteten Seelenmessen (Liber oblagii),104 das Buch der Schenkungen ans Kloster (Liber fundi)105 und einmal die Klosterannalen (Annales libri).106 Das kompilatorische Prinzip Wittwers, aufgrund dessen er Textstücke aus seinen Vorlagen exzerpierte oder gänzlich übernahm, wobei er sie häufig ungeschickt, mindestens ohne literarischen Anspruch, seinem eigenen Text inserierte, verhinderte eine stärkere redaktionelle Durchdringung seines Textes. Schon Steichele hatte in der Vorbemerkung zu seiner Druckausgabe den Verfasser einerseits als verdienten Geschichtsschreiber charakterisiert,107 andererseits den Wert des ersten Teils deutlich relativiert, hier habe Wittwer „häufig lediglich seine Phantasie spielen“ lassen; „quellenmässig und höchst interessant“ sei jedoch seine Abtsgeschichte des 15. Jahrhunderts, weil darin eine „Masse selbst erlebter oder von Zeugen beglaubigter geschichtlicher Daten speciellster Natur“ bewahrt geblieben sei. 108 Diese Gewichtung entspricht auch dem Urteil Paul Joachimsohns: Wittwers „historische Kunst“ stehe „auf einer sehr niedrigen Stufe“, da dieser große Teile aus dem Index des Sigismund Meisterlin einfach abgeschrieben habe. 109 Steichele hatte einige der von Wittwer benutzten Quellen nennen können, 110 Joachimsohn wies ausführlich nach, wie sehr Wittwers Text von Meisterlin abhängig war, 111 wobei er in seinem Aufsatz von 1894 den Quellenwert jener Teile, die mit dem Abbatiat Melchiors von Stamheim 1458 einsetzen, zwar noch zu würdigen bemüht war, aber die Beurteilung, die er im Jahr darauf in der Zusammenfassung in seinem Buch über Meisterlin gab, noch wesentlich nachteiliger ausfallen ließ. Sein Hauptvorwurf bestand darin, Wittwer habe Meisterlins Texte weitgehend abgeschrieben, ohne zu erwähnen, woher er seine Kenntnisse bezogen habe. Besonders bei der Geschichte der Klosterheiligen und der Geschichte des Klosters bis zur Übernahme durch die ––––––––– 101 102 103 104 105 106 107

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Wittwer: Catalogus (wie Anm. 38), S. 44. Die Sammlung der Privilegien ist erwähnt bei Wittwer: Catalogus (wie Anm. 38), S. 83, 84, 131, 151 und 190. Ebd., S. 153, 168 und 181. Ebd., S. 58, 188, 191, 201f. Ebd., S. 306, 344 und 424. Ebd., S. 268. „Es ist ein hohes Verdienst des ehrwürdigen Benediktiner-Stiftes St. Ulrich und Afra in Augsburg, dass es unter seinen vielen gelehrten Mitgliedern zu allen Zeiten Männer zählte, welche der Erforschung der Vergangenheit […] ihre Thätigkeit zuwendeten […]. Unter ihnen steht als einer der hervorragendsten Wilhelm Wittwer“: Wittwer: Catalogus (wie Anm. 38), S. 10. Ebd., S. 14. Joachimsohn: Humanistische Geschichtschreibung (wie Anm. 21), S. 127. Wittwer: Catalogus (wie Anm. 38), S. 14. Joachimsohn: Städtische Geschichtschreibung (wie Anm. 79), S. 123–139; ders.: Humanistische Geschichtschreibung (wie Anm. 21), S. 127f.

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Benediktiner trifft dies wohl zu, ebenso bei seiner aus dem Index Meisterlins übernommenen, nur geringfügig erweiterten Beschreibung der Kirche.112 Hörberg versuchte, die eigenständige Leistung Wittwers zu würdigen, und hob die gegenüber Meisterlin andere Gliederung des Stoffs hervor, erinnerte daran, dass Wittwer die Mitteilungen Meisterlins nicht um Belanglosigkeiten ergänzte, sondern durchaus um Präzisierung bemüht war, sich u. a. bei der Berechnung der Regierungszeit Kaiser Diokletians auf andere Referenzautoren berief als Meisterlin. 113 Letztlich sind jedoch beide Texte nicht wirklich vergleichbar. An den von Joachimsohn kritisierten Mängeln an redaktioneller Durcharbeitung und lateinischem Stilgefühl, die er Wittwer anlastete, wird der Unterschied offenbar: Während der Humanist Meisterlin seine historiographischen Werke, sowohl das Chronicon als auch den Index, ganz selbstverständlich seinem hohen literarischen Anspruch unterwarf, ging es dem nur vom Interesse an der eigenen Geschichte geleiteten Kompilator Wittwer ausschließlich ums Sammeln historischer Überlieferung, wobei er dabei nicht selten – etwa bei der Verschränkung von einander ergänzenden Auszügen von Meisterlins Index und Chronicon – um der Fülle willen auch Wiederholungen, Inkonsequenzen u. Ä. in Kauf zu nehmen bereit war. 114 Wohl nach dem Vorbild Meisterlins notierte er – sowohl aus bereits vorliegenden Sammlungen schöpfend als auch nach dem Augenschein – Tituli, Inschriften, vor allem Grabinschriften im Kloster, jedoch auch die Hexameter einer Inschrift, die der Arzt des Klosters, der Humanist Adolf (I.) Occo (1477–1503) im Auftrag von Abt Heinrich Frieß für ein Gemälde im Refektorium verfasst hatte. 115 ––––––––– 112

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Vgl. Joachimsohn: Städtische Geschichtschreibung (wie Anm. 79), S. 126–131 und 155– 159 (Meisterlins Beschreibung der Kirche und Wittwers geringfügige Ergänzungen); zum Inhalt unten S. 352–356. Hatte Meisterlin Eusebius, Hieronymus, Beda und Helinandus genannt, gab Wittwer als Quellen Eusebius, Beda, Orosius, Eutropius und Otto von Freising an; vgl. Hörberg: Libri (wie Anm. 13), S. 173–184, hier S. 177. Zwar hatte auch Meisterlin Otto von Freising zitiert, es lässt sich aber nachweisen, dass Wittwer Ottos Chronik selbständig verwendete. Daraus stammen viele Angaben zur angeblichen Privilegierung des Klosters im Frühmittelalter: Brigitte Schürmann: Die Rezeption der Werke Ottos von Freising im 15. und frühen 16. Jahrhundert. Wiesbaden, Stuttgart 1986 (Historische Forschungen 12), S. 37–46. Auch das Kapitel über die Bautätigkeit und die Erwerbungen unter Abt Konrad Winkler (1334–1335) – Wittwer: Catalogus (wie Anm. 38), S. 170–180 – zählen zu diesen Inseraten. Da Wittwer auch die zu seinem Text nicht passende Einleitung abschrieb, dürfte es sich wahrscheinlich um einen Text des 14. Jahrhunderts handeln: Joachimsohn: Städtische Geschichtschreibung (wie Anm. 79), S. 134f.; vgl. auch S. 356f. – Joachimsohn suchte zu zeigen, wie „unselbständig Wittwer überhaupt im Ausdruck ist“, indem er darauf hinwies, dieser habe die Subscriptio des von ihm 1478 abgeschriebenen Breviers mitgeteilt (Wittwer: Catalogus [wie Anm. 38], S. 300): „Sie ist etwas länger als gewöhnlich und zeigt hübsch den frommen Sinn des Schreibers“, aber „Wenige Seiten später“ (Wittwer: Catalogus [wie Anm. 38], S. 319) „erwähnt er den Tod des berühmten Schönschreibers Heinrich Pittinger und teilt dabei die Subscriptio eines Breviers mit, das dieser 1461 schrieb – wir sehen, dass er dieselbe 1478 wörtlich abgeschrieben hat“: Joachimsohn: Städtische Geschichtschreibung (wie Anm. 79), S. 130. Wittwer: Catalogus (wie Anm. 38), S. 282; zum Gemälde s. S. 373. Zu dem mit Konrad Peutinger und Konrad Celtis befreundeten Arzt Adolph Occo, der im Augsburger Dom-

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Zur Baugeschichte und künstlerischen Ausstattung von Kloster und Kirche vor dem spätgotischen Neubau: Wittwer als Zeuge?

Wittwers Catalogus enthält das allermeiste, was über die mittelalterliche Bauund Kunstgeschichte von Kirche und Kloster vor dem Neubau der Kirche und vor der Erneuerung der Klostergebäude bekannt ist.116 Durch die Veröffentlichung des Textes durch Steichele und durch oftmalige Zitate117 ist der Text Wittwers in der kunsthistorischen Fachliteratur seit Langem als Quelle geläufig, die meisten Autoren erkennen seinen Angaben zu Bau und Ausstattung von Kloster und Kirche vor den Neubauten des späten 15. Jahrhunderts stillschweigend oder sogar ausdrücklich hohe, vermeintlich sogar durch Autopsie gesicherte Authentizität zu.118 Doch blieb vielen von ihnen verborgen, dass ungeachtet hohen Zeugniswerts, an dem kein Zweifel besteht, viele Angaben, min–––––––––

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kreuzgang bestattet wurde, vgl. Max Radlkofer: Die humanistischen Bestrebungen der Augsburger Ärzte im 16. Jahrhundert. In: Zeitschrift des Historischen Vereins für Schwaben und Neuburg 20 (1893), S. 25–52, hier S. 26–28; Otto Nübel: Pompejus Occo (1483– 1537) Fuggerfaktor in Amsterdam. Tübingen 1972 (Schwäbische Forschungsgemeinschaft bei der Kommission für bayerische Landesgeschichte. Reihe 4, 15; Studien zur Fuggergeschichte 24), S. 32f.; ders.: Das Geschlecht Occo. In: Lebensbilder aus dem Bayerischen Schwaben. Bd. 10. Weißenhorn 1973, S. 77–113, hier S. 77–83. Zu dem Gregor Erhart zugeschriebenen Epitaph im Augsburger Domkreuzgang und seiner renommistischen (heute nicht mehr leserlichen) Inschrift, deren Distichen in verschiedenen Abschriften, u. a. von Konrad Peutinger, überliefert sind, vgl. Karl Kosel: Der Augsburger Domkreuzgang und seine Denkmäler. Sigmaringen 1991, S. 135, Nr. 62; Peter Luh: Kaiser Maximilian gewidmet. Die unvollendete Werkausgabe des Conrad Celtis und ihre Holzschnitte. Frankfurt a. M. u. a. 2001 (Europäische Hochschulschriften. Reihe 28, 377), S. 304–306 und Abb. 53b. – Der ambitiösen Grabinschrift entspricht der Eindruck, den Occo auf manche Zeitgenossen gemacht zu haben scheint: Erhalten ist ein Brief, den Willibald Pirckheimer wohl im März 1503 an Celtis schrieb, aber nicht absandte. Pirckheimer schrieb darin, Celtis habe ihn mit Occo bekannt gemacht, jedoch lege er auf Freundschaft mit diesem keinen Wert, nehme auch das Angebot, mit jenem Briefe in griechischer Sprache zu wechseln, nicht an, da an Occo nichts liebenswert sei außer seinen Briefen: Konrad Celtis: Briefwechsel. Gesammelt, hg. und erläutert von Hans Rupprich. München 1934 (Veröffentlichungen der Kommission zur Erforschung der Geschichte der Reformation und Gegenreformation. Humanistenbriefe 3), Nr. 359 (ähnlich in einem zweiten Brief nach Occo Tod: ebd., Nr. 302). Vgl. die diesbezüglichen Auszüge aus Wittwers Catalogus bei Wilhelm Volkert: Schriftquellen zur Baugeschichte von St. Ulrich und Afra vom 8. Jahrhundert bis zum Jahr 1467. In: Die Ausgrabungen in St. Ulrich und Afra in Augsburg 1961–1968. Hg. von Joachim Werner. Bd. 1. München 1977, S. 91–139 passim. Vgl. u. a. Henrik Cornell: Biblia pauperum. Stockholm 1925, S. 136–139; Otto LehmannBrockhaus: Schriftquellen zur Kunstgeschichte des 11. und 12. Jahrhunderts für Deutschland, Lothringen und Italien. Berlin 1938, S. 579–607 (Nr. 2757–2603); in deutscher Übersetzung: Arwed Arnulf (Hg.): Kunstliteratur in Antike und Mittelalter. Eine kommentierte Anthologie. Darmstadt 2008 (Quellen zur Theorie und Geschichte der Kunstgeschichte [1]), S. 179–182. Dies gilt auch noch für die Charakterisierung von Wittwers Text bei Arwed Arnulf als Dokumentation: ebd., S. 178. Arnulf kündigt hier eine eingehende kunsthistorische Analyse des Catalogus an (ebd., S. 182); vgl. ähnlich auch ders.: Architektur- und Kunstbeschreibungen von der Antike bis zum 16. Jahrhundert. München, Berlin 2004, S. 550–553.

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destens jene zur Kirche, auf älteren schriftlichen Quellen beruhen dürften, nicht mehr auf dem Augenschein. Joachimsohn wies darauf hin, dass Wittwer aus Meisterlins Index nicht nur dessen Mitteilungen zu den Klosterheiligen und der frühen Geschichte des Klosters übernommen hatte, sondern auch die Beschreibung der romanischen Kirche und des Einsturzes im Jahr 1474 (und sogar noch die Charakteristik des Abtes Johannes von Giltlingen, obwohl Wittwer selbst an anderer Stelle, anlässlich dessen Todes, ein weitaus weniger freundliches Bild des Abts zeichnete).119 Die Umbaumaßnahmen setzten 1467 ein, vor dem Einsturz des Kirchenschiffs 1474 hatte Wittwer erst fünf Jahre im Kloster gelebt; als er 1493 daranging, seine Aufzeichnungen zusammenzustellen, lag seine persönliche Erinnerung an den Vorgängerbau und dessen wandfeste Ausstattung zwei Jahrzehnte zurück. Aufgrund der Beschreibung der Kirche bei Meisterlin, die Wittwer wörtlich übernahm, an etlichen Stellen ergänzte und zu präzisieren bestrebt war, 120 versuchte Joseph Anton Endres, ein Regensburger Kirchenhistoriker, in den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts eine Rekonstruktion des Grundrisses der Abteikirche vor dem spätmittelalterlichen Neubau. Die 1977 publizierten Ergebnisse der Grabungen zwischen 1961 und 1968 haben diese Rekonstruktion und damit auch die ihr zugrunde liegenden Beschreibungen im Wesentlichen bestätigt:121 Anstelle eines älteren Baus auf dem seit spätantiker Zeit überbauten Areal war unter Bischof Embriko 1064–1071 die alte Klosterkirche mit der angefügten Grabstätte des hl. Ulrich neu errichtet worden, wobei zwei eng nebeneinandergelegene, miteinander verbundene Kirchenräume entstanden.122 Wahrscheinlich hatten die beiden Kirchen, in denen die hll. Afra und Ulrich bestattet waren, eine gemeinsame Westwand. Dass die beiden Chöre voneinander getrennt waren, ist bekannt; ob diese Trennung sich über die ganze Länge der Kirche erstreckte, weiß man jedoch nicht. Vielleicht waren die beiden Kirchenräume durch große Arkaden im Langhaus zueinander hin geöffnet, vielleicht gab es Türen. Im Jahr 1183 wurden beide Kirchen Opfer eines Großbrandes. Beim romanischen Wiederaufbau im 12. Jahrhundert fasste man die beiden vorher hier stehenden Kirchen zu einem einzigen Baukörper zusammen, einer zweischiffigen romanischen Hallenkirche, die damals wegen ihrer Breite und der vielleicht schon vom Vorgängerbau übernommenen Zweischiffigkeit mehr als ungewöhnlich gewirkt haben muss, auch die von Wittwer zitierte Beschrei––––––––– 119 120

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Joachimsohn: Humanistische Geschichtschreibung (wie Anm. 21), S. 127. Vgl. die Synopse beider Texte bei Joachimsohn: Städtische Geschichtschreibung (wie Anm. 79), S. 155–159; Volkert: Schriftquellen (wie Anm. 116), S. 136–138 (Nr. 104); zur Charakterisierung des meisterlinschen Textes auch Joachimsohn: Humanistische Geschichtschreibung (wie Anm. 21), S. 65–69; Arnulf: Architektur- und Kunstbeschreibungen (wie Anm. 118), S. 290f. Josef Endres: Die Kirche der Heiligen Ulrich und Afra zu Augsburg. Beitrag zu ihrer Geschichte hauptsächlich während der romanischen Kunstperiode. In: Zeitschrift des Historischen Vereins für Schwaben und Neuburg 22 (1895), S. 161–211; vgl. dazu Walter Haas: Die Vorgängerbauten der Klosterkirche St. Ulrich und Afra. In: Ausgrabungen (wie Anm. 116), S. 52–90, hier S. 80–88. Ebd., S. 76–80.

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bung Meisterlins lässt dessen ästhetisches Unbehagen am romanischen Bau der Abteikirche durchaus erkennen. 123 Der Psallierchor, in dem der Konvent das Stundengebet verrichtete, war der Chor von St. Afra. Hier, im nördlichen Schiff der Kirche, lag das Afragrab, im Langhaus das Grab der übrigen Martyrer, d. h. all derer, die keinen eigenen Begräbnisplatz zugewiesen bekommen hatten. Im südlichen Schiff, an das der Kreuzgang anschloss, lagen im Chor das Grab des hl. Ulrich und im Langhaus, offenbar in Wandnischen, die Grabmäler der später als Heilige verehrten Bischöfe Adalbero († 909), Nidgar († 830),124 Wikterp († vor 772)125 und Sintpert/Simpert († 807).126 Einige Gräber waren schon bei den Bauarbeiten zwischen 1064 und 1071 gefunden, die Gebeine Wikterps sicher erst nach 1120/21 hierher überführt worden;127 sie alle waren beim Brand 1183 unversehrt geblieben.128 Quer hinter dem Hauptaltar der Afraseite in der nördlichen Apsis stand seit 1455 der Sarkophag mit den Gebeinen der Digna, der bis 1454 seitlich im Afrachor aufgestellt gewesen war. 129 Die in Meisterlins und Wittwers Beschreibung erwähnte Quermauer, die das Langhaus beider Schiffe von beiden Chören trennte, wurde durch Grabungsbefunde einer gotischen Lettneranlage mit durchgehender Lettnerbühne (wohl anstelle der ursprünglichen romanischen Chorschranke) 1961 und 1971 bestätigt.130 Zwei Durchgänge führten in jeden Chor, wobei für die Pilger das Grab des hl. Ulrich frei zugänglich war, während der im Norden gelegene Afrachor als Psallierchor Klausurbereich der Mönche blieb. Da der Konvent vom Claustrum her den südlichen (Ulrichs-) Chor passieren musste, um in den nördlichen (Afra-)Chor zur Verrichtung des ––––––––– 123

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Eine Illustration mit der Predigt des römischen Missionars Lucius zum Text der deutschen Übersetzung der Stadtchronik von Meisterlin in der Abschrift von Hektor Mülich aus dem Jahr 1457 (Augsburg, Staats- und Stadtbibliothek, 2° Cod. H. 1) zeigt das Weichbild der spätmittelalterlichen Stadt mit beiden Schiffen und Chorturm: Augsburg. Geschichte in Bilddokumenten. Hg. von Friedrich Blendinger und Wolfgang Zorn […]. München 1976, Abb. 94. Zu Adalbero: Acta Sanctorum. Oct. IV, S. 1046–1054; Regesten (wie Anm. 90), S. 44–59; zu Nidger (Neodegarius, Nitgar, Nitker) ebd., S. 33–35. Zu Wikterp: Acta Sanctorum. Apr. II, S. 547–557; Regesten (wie Anm. 90), S. 13–20 (Nr. 1). Zu Sintpert/Simpert: ebd., S. 20–30; Friedrich Prinz: Einige genealogische Anmerkungen zu Bischof Sintpert von Augsburg. In: Ausgrabungen (wie Anm. 116), S. 391–395 (geringfügig verändert wieder in: Jahrbuch des Vereins für Augsburger Bistumsgeschichte 12 [1978], S. 15–21); Peter Rummel: St. Simpert, Bischof von Augsburg. In: Jahrbuch des Vereins für Augsburger Bistumsgeschichte 12 (1978), S. 9–14. Vgl. Karl Schmid: Bischof Wikterp in Epfach. Eine Studie über Bischof und Bischofssitz im 8. Jahrhundert. In: Studien zu Abodiacum-Epfach. München 1964 (Münchner Beiträge zur Vor- und Frühgeschichte 7), S. 99–139, hier S. 105, Anm. 39. In der Formulierung Wittwers: Hiis ita dispositis erant parve testudines in latere ecclesie versus monasterium sive ad meridiem, sub quibus sepulta erant anctorum episcoporum corpora, scilicet Augustensium Adelberonis, Nidgarij, Wicterpi et Simperti (Wittwer: Catalogus [Anm. 38], S. 35); vgl. auch Peter Rummel: Zur Verehrungsgeschichte des heiligen Simpert. In: Jahrbuch des Vereins für Augsburger Bistumsgeschichte 12 (1978), S. 22–49, hier S. 23. Wittwer: Catalogus (wie Anm. 38), S. 43–48 und 215f. Haas: Vorgängerbauten (wie Anm. 121), S. 87.

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Chorgebets zu gelangen, trennte eine mannshohe Mauer den Apsisbereich des Ulrichschors vom Grab, so dass ein schmaler Durchgang vom Kreuzgang her in den Afrachor bestand: eine ungewöhnliche Disposition, die den überkommenen baulichen Verhältnissen geschuldet war. 131 In beiden Chören gab es wandfeste Ausstattung mit Malerei, jedoch auch Glasfenster, Wandteppiche und Chorgestühle, deren Bildschmuck und Inschriften nicht bei Meisterlin in dessen Index, wohl aber bei Wittwer beschrieben sind: Er übernahm den Anfang aus einem Text des mittleren 13. Jahrhunderts, der dem Ulrikaner Prior Adilbert (Albertus?) zugeschrieben wird, der Historia sanctorum Udalrici et Afrae cum catalogo abbatum sancti Udalrici, und schloss dann eine ausführliche Beschreibung der Wandmalereien in Apsis und Chorgewölbe sowie der Wandteppiche an, zunächst jener des Afrachors, dann des Ulrichschors mit dessen Apsisbild und der Weiheinschrift von 1187.132 Joachimsohn wies darauf hin, dass schon Meisterlin im Chronicon an die vielen Verse erinnert hatte, die Abt Uodalschalk, ein bedeutender gelehrter Abt des Hochmittelalters, der diesem Kloster von 1127 bis 1149 (nach älteren Katalogen bis 1150 oder 1152) vorgestanden hatte,133 überall im Kloster hatte anbringen lassen, und beklagt habe, dass er, Meisterlin, nicht in jener Zeit gelebt hatte, um ––––––––– 131 132

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Ebd., S. 87f. Wittwer: Catalogus (wie Anm. 38), S. 102–124 (Uodalschalks Verse), 124–130 (Ulrichschor), 132–140 (Fastentuch); Lehmann-Brockhaus: Schriftquellen (wie Anm. 117), S. 579–607 (Nr. 2575–2602); vgl. Volkert: Schriftquellen (wie Anm. 116), S. 113 (Nr. 37). Zum ikonographischen Programm der verschiedenen Darstellungen und Inschriften mit z. T. seltenen und ungewöhnlichen Themen: Cornell: Biblia pauperum (wie Anm. 117); Karl Haupt: Die Ulrichsvita in der mittelalterlichen Malerei. In: Zeitschrift des Historischen Vereins für Schwaben 61 (1955), S. 1–120, hier S. 26–33; Walter Pötzl: Die Ulrichsverehrung in Augsburg während der Stauferzeit. In: Jahrbuch des Vereins für Augsburger Bistumsgeschichte 8 (1974), S. 66–84, hier S. 72–75; Johannes H. Emminghaus: Fastentuch. In: Reallexikon zur deutschen Kunstgeschichte. Bd. 7. München 1981, Sp. 826– 848, hier S. 834f.; Madeline Harrison Caviness: The Windows of Christ Church Cathedral Canterbury. London 1981 (Corpus Vitrearum Medii Aevi. Great Britain 2), S. 131f. (zu einer Darstellung der Parabel vom Guten Hirten in typologischem Zusammenhang); Ulrich Kuder: Das Fastentuch des Abtes Udalscalc mit Ulrichs- und Afraszenen. In: pinxit / sculpsit / fecit. Kunsthistorische Studien. Festschrift für Bruno Bushart. Hg. von Bärbel Hamacher und Christl Karnehm. München 1994, S. 9–23; Berthold Kress: Noah, Daniel and Job – The three righteous men of Ezekiel 14.14 in medieval art. In: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 67 (2004), S. 259–267, hier S. 265f. Vgl. Walter Berschin: Uodalscalcs Vita S. Konradi im hagiographischen Hausbuch der Abtei St. Ulrich und Afra. In: Freiburger Diözesan-Archiv 95, 3. F. 27 (1975), S. 82–106 und 107–128; Hörberg: Libri (wie Anm. 13), S. 236–242; ders.: Bedeutung (wie Anm. 13), S. 51–60; Walter Berschin: Uodalscalc-Studien III: Historia S. Uodalrici. In: Tradition und Wertung. Festschrift für Franz Brunhölzl. Hg. von Günter Bernt, Fidel Rädle und Gabriel Silagi. Sigmaringen 1989, S. 155–164; Robert Müntefering: Die Traditionen und das älteste Urbar des Klosters St. Ulrich und Afra in Augsburg. München 1986 (Quellen und Erörterungen zur bayerischen Geschichte N. F. 35), S. 74*f.; Seiler: St. Ulrich und Afra (wie Anm. 13), S. 50–52; Berschin: Biographie und Epochenstil (wie Anm. 87), S. 82–87: ders.: Uodalscalc (wie Anm. 96); Michael Buhlmann: Das Kloster St. Georgen und der magnus conventus in Konstanz im Jahr 1123. St. Georgen 2005 (Vertex Alemanniae 17).

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diese Verse unversehrt zu lesen; nun, nachdem die alte Schönheit zerstört sei, seien sie nur mehr teilweise zu lesen. 134 Vielleicht gehen die Angaben zu den Bildthemen und Tituli der Bildteppiche im Afrachor bei Wittwer auf eine Sammlung Meisterlins zurück.135 Wittwer ließ diese Texte den Versen Uodalschalks folgen, fügte aber eine erklärende Bemerkung hinzu, diese Verse stammten nicht aus der Zeit Abt Uodalschalks, sondern aus der Zeit Abt Heinrichs oder seines Nachfolgers Erkanbald, von dem im Text erwähnt sei, dass er diese Malerei restauriert habe:136 ein Hinweis darauf, dass Wittwer hier den in seinem Textverlauf unpassenden Anschluss überbrücken musste, als er aus seiner Vorlage zwei aufeinander folgende Textstücke abschrieb?137 Joachimsohn erschien es außerdem mehr als fraglich, ob in den neunziger Jahren die Malereien im Ulrichschor, der vom Einsturz 1474 nicht betroffen war, aber längst Teil der von Burkhard Engelberg geführten Großbaustelle, noch zu sehen waren.138 In Meisterlins Index heißt es, viele der Verse seien aufgrund ihres Alters und wegen der Nachlässigkeit der Klosterinsassen zerstört, anderes aber sei „durch uns kopiert und in alten Büchern an deren Ende eingetragen“ worden. 139 Joachimsohn schloss daraus auf (im Original verlorene) Aufzeichnungen Meisterlins in der Art wie eine ähnliche Sammlung, die er bei seinem Aufenthalt in der elsässischen Abtei Murbach angelegt hatte,140 die Wittwer bei seiner Mitteilung der Verse verwendet haben könnte.141 Wittwer übernahm diese Textpassage Meisterlins zwar, veränderte sie aber signifikant: Statt des de nos, das Meisterlin auf sich bezogen hatte, schrieb Wittwer, die Verse seien von anderen (per alios) kopiert worden in alten Büchern, – d. h. auf den leeren Seiten – am Anfang und Ende einer Handschrift der Moralia Gregors des Großen.142 Da diese Handschrift nicht mehr bekannt ist, womöglich nicht erhalten blieb, sind die Aufzeichnungen Wittwers, unabhängig davon, ob er sie nach Meisterlins Vorlage übernahm, 143 das einzige erhaltene Quellenzeugnis für ––––––––– 134

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Meisterlin: Chronicon (wie Anm. 78): Utinam eo tempore natus essem quo vel praetacta haec legere valuissem […] reliqua vetustae abolita, licet hodie partim videantur […] (Pistorius: Rerum Germanicarum scriptores [wie Anm. 78], S. 605). Vgl. dazu Joachimsohn: Humanistische Geschichtschreibung (wie Anm. 21), S. 129. Wittwer: Catalogus (wie Anm. 38), S. 126. Joachimsohn: Humanistische Geschichtschreibung (wie Anm. 21), S. 129. Ebd. Meisterlin: Index (wie Anm. 79): Augsburg, Staats- und Stadtbibliothek, 2° cod. Aug. 320, fol. 172v: Certa de suis vetustate ac negligentia incolarum abolita sunt, aliqua per nos transcopiata, certa in libris aliquibus in fine inserta. Epistola de tapeciis antiquis in monasterio Morbacensi, Brief vom 7. Juni 1464 an Abt Bartolomäus von Murbach (Colmar, Archives Départementales du Haut-Rhin): Colberg: Meisterlin (wie Anm. 20), Sp. 360. Joachimsohn: Humanistische Geschichtschreibung (wie Anm. 21), S. 126–128. […] Certa de suis scriptis uetustate ac negligencia incolarum abolita sunt, aliqua per alios transcopiata, certa in libris aliquibus, praecipue moralibus beati Gregorij pape in principio et fine inserta sunt (Wittwer: Catalogus [wie Anm. 38], S. 98). Wittwer datierte wohl nur die Sammlung der Verse – andere Teile des Catalogus waren noch nicht begonnen – (Catalogus [wie Anm. 38], S. 124: Explicit per Fr. Wilhelmum Wittwer ipsa die S. Siluestri pape anno Domini 1493), gab aber in seiner Vita des Abts Uodalschalk eine Kompilation aus Angaben in Meisterlins Index und einem 1493 fertiggestellten

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diese Verse und überdies ein bemerkenswerter Beleg, zeigt er doch, dass ein humanistisches Interesse an epigraphischen Altertümern, wie es für Meisterlin gesichert ist, in seinem Kloster Nachahmung fand.144 Zu den auf Uodalschalk zurückgehenden Versen gehörten auch Darstellungen und Verse in der Klausur, ein Wandbild mit der Darstellung des Mikro- und Makrokosmos145 und das Ausstattungsprogramm des Kapitelsaals mit den Wiedergaben von Personifikationen der Zehn Gebote, der evangelischen Räte, der Gaben des Hl. Geistes, verschiedener Tugenden sowie von Propheten und Heiligen, ferner Darstellungen von Kirche und Himmlischem Jerusalem, Maria und Ecclesia-Sponsa sowie Benedikt und Maurus. 146 Zu den durch Wittwer überlieferten Nachrichten zu Bau und Ausstattung der Abteikirche gehört auch ein längeres Stück über Baumaßnahmen unter Abt Konrad Winkler (1334–1355), von dem Joachimsohn vermutete, es sei unter Abt Konrad selbst oder kurz nach dessen Tod unter seinem Nachfolger Johannes von Fischach zusammengestellt worden.147 Wittwer schrieb die (nicht passende) Einleitung ab, übernahm den Text offenbar mehr oder weniger wörtlich, erweiterte ihn aber um baugeschichtliche Angaben sowie Details zu Glasfenstern und Chorgestühlen, die er aus eigener Anschauung beitragen konnte. Joachimsohn bezweifelte, dass Wittwer solche Details in den neunziger Jahren während der Abfassung seines Textes noch an Ort und Stelle – damals seit zwanzig Jahren Großbaustelle – hätte überprüfen können, 148 berücksichtigte aber nicht, dass die nach der Grundsteinlegung des Kirchenneubaus 1467 einsetzenden Abbrucharbeiten und die Fundamentierung des Langhauses erfolgten, –––––––––

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Text seines Mitbruders Petrus Wagner (Congestum monachorum: s. Anm. 90), die Joachimsohn als zusätzliches Indiz für seine Zweifel an der Urheberschaft Wittwers an der Sammlung der Verse ins Feld führte: Joachimsohn: Humanistische Geschichtschreibung (wie Anm. 21), S. 128. Zu Meisterlins Murbacher Sammlung s. Anm. 140. Augsburgs bekanntes Beispiel für das Sammeln von Inschriften ist Konrad Peutinger; zu seinen Bemühungen um Inschriften aus der römischen Vergangenheit der Reichsstadt vgl. den Beitrag von Martin Ott im vorliegenden Band; zu erinnern wäre in diesem Zusammenhang auch an den Augsburger Humanisten Adolph Occo (vgl. Anm. 115), der ein weithin beachtetes Inventar seiner Besitztümer aus der Antike zusammenstellte; es galt noch im 17. Jahrhundert als beispielhaft: Dietrich Boschung: Die Sammlung antiker Skulpturen des Nicolaes Rockox in Antwerpen. In: Münchner Jahrbuch der bildenden Kunst 3. F. 56 (2005), S. 7–39, hier S. 35, Anm. 23. Vgl. Walter Berschin: Uodalscalc-Studien IV: Mikrokosmos und Makrokosmos bei Uodalscalc von St. Ulrich und Afra (um 1124–1150) […]. In: Poetry and Philosophy in the Middle Ages. Festschrift für Peter Dronke. Hg. von John Marenbon. Leiden, Boston 2001 (Mittellateinische Studien und Texte 29), S. 19–27. Wittwer: Catalogus (wie Anm. 38), S. 102–104; vgl. dazu Heidrun Stein-Kecks: Der Kapitelsaal in der mittelalterlichen Klosterbaukunst. Studien zu den Bildprogrammen. München, Berlin 2004 (Italienische Forschungen des Kunsthistorischen Instituts in Florenz. Max-Planck-Institut 4. F. 4), S. 209–216. Wittwer: Catalogus (wie Anm. 38), S. 170–180; Volkert: Schriftquellen (wie Anm. 116), S. 127f. (Nr. 80); vgl. Joachimsohn: Städtische Geschichtschreibung (wie Anm. 79), S.134f.; zu Konrad Winkler: Liebhart: Reichsabtei (wie Anm. 13), S. 106f. Joachimsohn: Städtische Geschichtschreibung (wie Anm. 79), S. 134.

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während die beiden romanischen Chöre stehen geblieben und auch beim Einsturz des Nordturms offenbar nicht beschädigt worden waren.149 Auch beim Einsturz des neu gebauten, aber noch nicht eingewölbten Langhauses in Folge eines Orkans am Fest der hll. Peter und Paul 1474150 wurden die romanischen Chöre mit dem Chorturm nur wenig in Mitleidenschaft gezogen, in Wittwers Text ist nur von einer Neuweihe des beschädigten Altars im Afrachor im Februar 1475 die Rede.151 Wittwers Aussagen zur Ausstattung der beiden romanischen Chöre sind demnach wohl tatsächlich nicht nur Zitat.

6.

Zur Melker Reform in St. Ulrich und Afra: Wittwer als Historiker und als Zeitzeuge (I)

Der mit dem Abbatiat Melchiors von Stamheim einsetzende Teil von Wittwers Catalogus enthält viele Informationen zur inneren Geschichte des Klosters und seiner Konventualen, zur Wirtschafts- und Kulturgeschichte des Klosters, manches zur Verbreitung der Melker Reform in Süddeutschland – vornehmlich in den Benediktinerklöstern im Bistum Augsburg, woran St. Ulrich und Afra in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts maßgeblichen Anteil hatte – und wenig zu den Reformbestrebungen der zu einem Provinzialkapitel zusammengeschlossenen Benediktinerklöster in den Bistümern der Kirchenprovinz Mainz und im Bistum Bamberg.152 Wittwer stützte sich auch hier, soweit diese Ereignisse eine Generation oder noch länger zurücklagen, auf die schriftliche Überlieferung in der Abtei, vor allem die Texte Sigismund Meisterlins und die Annalen Johannes Franks, wobei er meistens darauf verzichtete, die Herkunft seiner Auskünfte anzugeben und Eigenarten des einen oder anderen Referenzautors zu kaschieren. Anderes wiederum hatte er von älteren Mitbrüdern als Zeitzeugen gehört, ––––––––– 149

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Vgl. die einschlägigen Nachrichten in den Chroniken des 15. Jahrhunderts (Burkhard Zink, Johannes Frank u. a.), ausgewertet bei: Franz Bischoff: Burkhard Engelberg: „Der vilkunstreiche Architector und der Statt Augspurg Wercke Meister“. Burkhard Engelberg und die süddeutsche Architektur um 1500. Anmerkungen zur sozialen Stellung und Arbeitsweise spätgotischer Steinmetzen und Werkmeister. Augsburg 1999 (Schwäbische Geschichtsquellen und Forschungen 18), S. 214–217. Vgl. Wittwer: Catalogus (wie Anm. 38), S. 288; zu den Beschädigungen im Langhausbereich ausführlich ebd., S. 285; vgl. ferner Bischoff: Burkhard Engelberg (wie Anm. 149), S. 217f.; auch der Holzschnitt mit der Ansicht des eingestürzten Langhauses in dem 1483 in Augsburg bei Johann Bämler erschienenen Buch Ursprung und Anfang Augsburgs (GW 2860), abgebildet u. a. in: Augsburg. Geschichte in Bilddokumenten (wie Anm. 123), Abb. 100 zeigt die neu gebauten, großenteils zerstörten Langhausmauern und die intakte ältere Chorpartie. […] consecratum est altare beatissime martiris Affre propter fraccionem ejusdem altaris: Wittwer: Catalogus (wie Anm. 38), S. 290; Bischoff: Burkhard Engelberg (wie Anm. 149), S. 220. Zur Melker Reform vgl. Ulrich Faust: Die Prälatenorden im Spätmittelalter. In: Handbuch der Bayerischen Kirchengeschichte. Bd. 1, 2. St. Ottilien 1999, S. 535–555 (zur Melker Reform S. 544–552).

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die ihm von den Ereignissen jener Jahre erzählt hätten. Zum Konvent gehörten zu Wittwers Zeiten z. B. noch Matthias Umhofer (den Hans Holbein 1513 noch als Achtzigjährigen zeichnete, ebenso wie andere Mitbrüder Wittwers aus dem letzten Viertel des 15. Jahrhunderts, deren Namen Wittwer öfter nannte und deren Todestage er verzeichnete, so Heinrich Grimm oder Heinrich Griesherr). 153 Anderes konnte Wittwer jedoch nun aus eigener Erinnerung berichten, auf die er sich selbst erstmals bei der Schilderung von Ereignissen des Jahres 1474 berief. 154 Soweit archivalische Zeugnisse oder Briefe überkommen sind oder Einträge in Handschriften Zeugnis davon geben, stimmen seine sachlichen Angaben damit überein. Das letzte Viertel des Jahrhunderts hatte Wittwer selbst erlebt als einer der vier Seniores, einer Art Ältestenrat im Konvent; als Custos, als Cellerar und von 1502 bis 1506 als Prior war er an wichtigen Entscheidungen beteiligt: Der Leser erfährt hier vieles aus dem Alltag des Klosters, liest von einstürzenden Gartenmauern ebenso 155 wie vom Besuch von vier äthiopischen Mönchen auf ihrer Pilgerfahrt nach Compostela, die wegen ihrer „negritudo“ den Spott der Bevölkerung auf sich gezogen hatten, die Wittwer aber wegen ihrer großen Frömmigkeit sehr zu loben wusste. 156 Der – im Gegensatz zu den Passagen über ältere Zeiten – stärker kommentierende Ton macht den Catalogus in diesem Teil zu einer lebendigen Schilderung des damaligen Klosterlebens. Neben wichtigen Ereignissen in der Abtei und Veränderungen in den Abläufen des monastischen Lebens sind jedoch auch noch ausführlicher als bis dahin Veränderungen des Besitzstands, bemerkenswerte Stiftungen an Grundbesitz, an Paramenten, an Büchern oder an Vasa sacra verzeichnet. Wenn Wittwer davon Kenntnis hatte oder sich zu Schätzungen in der Lage sah, teilte er auch deren Geldwert mit oder notierte eine charakterisierende Bemerkung (z. B. zu der neuen Mitra preciosa 1495157). Nicht selten ließ Wittwer seine eigene Meinung dazu erkennen, etwa wenn er zum Grabmal für Abt Heinrich Frieß schrieb, es zeige sein Bildnis sehr ähnlich, soweit es Gesicht und die Nase betreffe (excisus cum ymagine sibi similis quoad faciem et nasum)158 oder wenn er anlässlich der kostspieligen Amtsführung des in seiner Spätzeit sehr auf Repräsentation bedachten Abts Johannes von Giltlingen nach ––––––––– 153

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Zu Holbeins Zeichnungen von Mönchen aus St. Ulrich und Afra: Norbert Lieb und Alfred Stange: Hans Holbein. München 1969, S. 94–98, Nr. 178: Leonhard Wagner (Abb. 255f. und 265–267); nicht bezeichneter Mönch (Abb. 257); Hans Griesherr und Abt Johannes Schrott (Abb. 258, 276–279); Abt Johannes Schrott (Abb. 259); Heinrich Grim (Abb. 260– 262); Clemens Sender (Abb. 268f.); Hans Griesherr (Nr. 272f., 275; 274, 275 [?]); Benediktiner mit Kapuze (Abb. 264); Abt Petrus Wagner von Thierhaupten (Abb. 281); Abt Konrad Mörlin (Abb. 282); Jörg Winter (Abb. 270); Hans […] zu St. Ulrich (Abb. 271); Matthias Umhofer (Abb. 285); Katharina Krause: Hans Holbein der Ältere. München, Berlin 2002 (Kunstwissenschaftliche Studien 101), S. 282–283. […] sicut ego fr. Wilhelmus Witwer sepius expertus sum et vidi (Wittwer: Catalogus [wie Anm. 38], S. 278). Ebd., S. 371. Ebd., S. 396–398. Ebd., S. 387f. Ebd., S. 312.

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dessen Tod dessen bescheidenere Anfänge lobte, die Veränderungen aber lakonisch mit dem lateinischen Sprichwort erklärte, Ehren verdürben die Sitten: Sed honores mutant mores. 159 Die Aufzeichnungen Wittwers belegen die jahrzehntelangen Bemühungen und Auseinandersetzungen um die Erneuerung des monastischen Lebens im Zuge der Reform sowie deren unmittelbare Auswirkungen in den Jahrzehnten, die er selbst erlebt hatte. Die bei den Reformkonzilien von Konstanz (1414–1418) und Basel/Ferrara/Florenz (1431–1449) gefassten Beschlüsse zur Erneuerung des kirchlichen Lebens hatten Bestrebungen zur Erneuerung des Ordenslebens angestoßen und dazu geführt, dass Herzog Albrecht von Österreich aus Bayern und Österreich stammende Benediktinermönche der italienischen Abtei Subiaco 1418 nach Melk berief, um die strengeren Lebensgewohnheiten aus Subiaco dort einzuführen. 160 Hauptsächliche Anliegen der in der Folgezeit von Melk ausgehenden Reformbewegung, der sich zahlreiche Benediktinerklöster vor allem in Bayern, Schwaben und Österreich anschlossen, war die strikte Einhaltung der Regel des hl. Benedikt sowie eine durchgreifende Erneuerung der klösterlichen Lebensordnung und Liturgie.161 Abt Johannes Kissinger hatte zwar ––––––––– 159 160

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Ebd., S. 396; zum Sprichwort vgl. Hans Walther: Carmina medii aevi posterioris latina II, 2: Proverbia sententiae latinitatis medii aevi […]. Bd. 2. Göttingen 1964, S. 350, Nr. 25. Aus der umfangreichen Literatur seien nur einige grundlegende Untersuchungen genannt: Virgil Redlich: Tegernsee und die deutsche Geistesgeschichte im 15. Jahrhundert. München 1931 (Schriftenreihe zur Bayerischen Landesgeschichte 9); Joachim Angerer OSB: Die Bräuche der Abtei Tegernsee unter Abt Kaspar Ayndorffer (1426–1461) […]. Ottobeuren 1968 (Studien und Mitteilungen zur Geschichte des Benediktiner-Ordens und seiner Zweige. 18. Ergänzungsband); Albert Groiß: Spätmittelalterliche Lebensformen der Benediktiner von der Melker Observanz vor dem Hintergrund ihrer Bräuche. Ein darstellender Kommentar zum Caeremoniale Mellicense des Jahres 1460. Münster 1999 (Beiträge zur Geschichte des alten Mönchtums 46); Meta Niederkorn-Bruck: Ein Briefbuch als Quelle für die Geschichte der ersten Melker Reform. In: Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 100 (1992), S. 268–282; Joachim Angerer: Reform von Melk. In: Die Reformverbände und Kongregationen der Benediktiner im deutschen Sprachraum. Bearb. von Ulrich Faust OSB und Franz Quarthal. St. Ottilien 1999 (Germania Benedictina 1), S. 271–313. Vgl. zum Problem grundsätzlich auch Joachim F. Angerer: Zur Problematik der Begriffe: Regula – Consuetudo – Observanz. In: Studien und Mitteilungen zur Geschichte des Benediktiner-Ordens und seiner Zweige 88 (1977), S. 312–323; eine allgemeine Charakterisierung bei Dieter Mertens: Monastische Reformbewegungen des 15. Jahrhunderts. Ideen – Ziele – Resultate. In: Reform von Kirche und Reich zur Zeit der Konzilien von Konstanz (1414–1418) und Basel (1431–1449). Hg. von Ivan Hlavacek und Alexander Patschovsky. Konstanz 1996, S. 157–181. Vgl. Joachim Angerer: Die liturgisch-musikalische Erneuerung der Melker Reform. Studien zur Erforschung der Musikpraxis in den Benediktinerklöstern des 15. Jahrhunderts. Wien 1974 (Sitzungsberichte der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Phil.Hist. Klasse 287/5); ders.: Lateinische und deutsche Gesänge aus der Zeit der Melker Reform. Probleme der Notation und des Rhythmus, bezogen auf den historischen Hintergrund und verbunden mit einer Edition der wichtigsten, durch die Reform eingeführten Melodien. Wien 1979 (Forschungen zur älteren Musikgeschichte 2); ders.: Klösterliches Musikleben unter besonderer Berücksichtigung der Einflüsse der Melker Reform. In: Klösterliche Sachkultur des Spätmittelalters. Internationaler Kongress Krems an der Donau, 18. bis 21. September 1978. Wien 1980 (Sitzungsberichte der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Phil.-Hist. Klasse 367. Veröffentlichungen des Instituts für mittelalter-

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beim Konstanzer Konzil die Bemühungen um das Zustandekommen eines Zusammenschlusses unterstützt und 1417 das Provinzialkapitel in Petershausen besucht, 162 wieweit der bei Kaiser Sigismund und Herzog Stephan von Bayern bekannte und offenbar geschätzte Abt sich die Anliegen der Reform tatsächlich zu eigen gemacht hatte, bleibt unklar. Obwohl es bereits seit den zwanziger Jahren Kontakte zu Melk gab163 und Abt Heinrich Heuter (1428–1437) mit den Melker Consuetudines vertraut war, kamen erst 1441 drei Mönche aus Melk für ein Jahr nach Augsburg, die hier die strengeren Lebensgewohnheiten der Reform bekannt machen sollten.164 Die eher moderate, durchaus nicht reformfeindliche Haltung von Abt und Konvent entsprach nicht den klaren Vorstellungen des Bischofs. Wittwer folgte in seiner vierzig Jahre später geschriebenen Darstellung jener Ereignisse den literarischen Mustern der von der Reform geprägten klösterlichen Geschichtsschreibung, wonach alles, was vor der Reform gegolten hatte, nur als Mangel an Frömmigkeit und klösterlicher Disziplin verstanden werden konnte, als jene dunkle Zeit, die durch das um so strahlendere klösterliche Leben unter den Richtlinien der Reform abgelöst worden war. Das monastische Leben vor der Reform musste deswegen grundsätzlich zweifelhaft erscheinen, als eine Lebensform, in der nur der Verfall der Sitten herrschte. 165 So beurteilte Wittwer den offenbar nicht zur Reform entschlossenen Heuter, trotz seiner Verdienste um Besitzstand und Privilegien der Abtei, denkbar –––––––––

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liche Realienkunde Österreichs 3), S. 279–303; ders. (Hg.): Caeremoniae regularis observantiae sanctissimi patris nostri Benedicti ex ipsius regula sumptae, secundum quod in sacris locis, scilicet Specu et monasterio Sublacensi practicantur. Siegburg 1985 (Corpus Consuetudinum Monasticarum 11, 1–2). Papst Benedikt XII. (1334–1342) hatte sich die Reform der Orden zum Ziel gesetzt und die Benediktinerklöster nach Kirchenprovinzen zu vier großen Verbänden zusammengeschlossen: Magdeburg-Bremen, Köln-Trier, Salzburg und Mainz-Bamberg, deren Äbte oder Prioren sich regelmäßig zu Provinzialkapiteln treffen mussten, um Angelegenheiten der Reform zu besprechen. Die Äbte der Klöster aus den Bistümern der Kirchenprovinz Mainz, wozu auch Augsburg gehörte, und im Bistum Bamberg trafen sich von 1417 bis 1524 insgesamt zu 38 Sitzungen: P[eter] Maier: Die Epoche der General- und Provinzialkapitel. In: Reformverbände (wie Anm. 160), S. 195–224. Abt Johannes Kissinger war 1418 in Mainz einer der Vorsitzenden des Kapitels, 1432 fand die Versammlung erstmals in St. Ulrich und Afra statt: ebd., S. 212f.; vgl. ferner Gisela Möncke: Gedruckte Rezesse des Provinzialkapitels der Benediktinerprovinz Mainz-Bamberg aus den Jahren 1482 bis 1524. In: Studien und Mitteilungen aus der Geschichte des Benediktiner-Ordens und seiner Zweige 114 (2003), S. 21–57. Das Verzeichnis der Gäste in Melk belegt längere Aufenthalte für Mönche aus St. Ulrich und Afra, so ein ganzes Jahr für Heinrich Schöffel, Prior und Custos in St. Ulrich 1421– 1422, der später (1423) seine Profess auf Melk übertrug, einen halbjährigen Aufenthalt von Heinrich Huter (Heuter) 1427, der im Jahr darauf in Augsburg zum Abt gewählt wurde, sowie einen Aufenthalt von unbekannter Dauer für Heinrich Schübel 1430: Zeller: Beiträge (wie Anm. 45), S. 176; Angerer: Bräuche (wie Anm. 160), S. 20 und 24, Anm. 9. Zu Abt Heinrich Heuter vgl. Liebhart: Reichsabtei (wie Anm. 13), S. 137f. Zur Einführung der Melker Reform in St. Ulrich vgl. Redlich: Tegernsee (wie Anm. 160), S. 164f.; Liebhart: Reichsabtei (wie Anm. 13), S. 139–142; Proksch: Klosterreform (wie Anm. 7), S. 143–153; Graf: Ordensreform (wie Anm. 2), S. 108f. Vgl. Graf: Ordensreform (wie Anm. 2), S. 115f.; Proksch: Klosterreform (wie Anm. 7), S. 206.

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schlecht, dieser habe die bestehende Ordnung verwirrt und verdorben (confudit ordinem corrupitque) und alles „zu Bosheit, Habgier und Begierde“ (omnia ad maliciam, avariciam sive voluptatem) verkehrt. 166 Bischof und Rat waren sich über die Notwendigkeit der Reform einig, wenn auch nicht über die Verfahrensweise: Bereits 1440 hatte sich die Reichsstadt, die sich dabei auf das seit 1433 bestehende Bürgerrechtsverhältnis der Abtei berief, an den Abt von Wiblingen gewandt und darum gebeten, einen Wiblinger Mönch dem Augsburger Konvent einzugliedern, 167 und ein Jahr später, nachdem im Januar 1441 der Bischof den Abt von Melk um die Entsendung von Mönchen gebeten hatte, die die Reform in St. Ulrich und Afra einführen sollten, bat im Juni der Rat Abt Christian von Melk um weitere Brüder zur fürdrunge […] des heiligen gotzdinstes mit der Erlaubnis zur Aufnahme in das Kloster, um die Reformen zu garantieren, da dardurch dem gantzen orden auch vnserer Stat vnd dem gantzen lannde vil gelückes vnd hailes wachssen vnd entspringen werde.168 Aus Melk kamen zunächst drei Mönche, unter ihnen auch Johannes Schlitpacher (1403–1482),169 einer der bedeutendsten Theologen der Reform, seit 1436 Professmönch von Melk, der im Lauf seines Lebens an viele Orte berufen wurde, um dort – meist als Prior – die Reform durchzuführen, nicht nur in St. Ulrich und Afra in Augsburg (1441–1442), sondern auch in Ettal (1442), Klein-Mariazell (1446) sowie vor 1475 in Formbach, Göttweig und Ebersberg.170 Zusammen mit Johannes Schlitpacher kamen Konrad von Geisenfeld (um 1400–1460)171 und Johannes von Ulm nach Augsburg, die dann im Jahr ––––––––– 166 167 168 169

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Wittwer: Catalogus (wie Anm. 38), S. 193; vgl. auch Meisterlin: Chronicon (wie Anm. 78), S. 677f. Kießling: Gesellschaft (wie Anm. 14), S. 297. Zitiert nach ebd. Vgl. (mit der älteren Literatur) F[ranz] J[osef] Worstbrock: Schlitpacher, Johannes. In: ²VL. Bd. 8. Berlin, New York 1992, Sp. 727–748. Schlitpacher war später auch Mitglied der für die Verbreitung des Reformgedankens so bedeutsamen, unter Nicolaus Cusanus als päpstlichem Legaten zwischen Februar und November 1451 durchgeführten Visitation von 52 Benediktinerklöstern der Salzburger Kirchenprovinz: Ignaz Zibermayer: Johann Schlitpachers Aufzeichnungen als Visitator der Benediktiner-Klöster in der Salzburger Kirchenprovinz. Ein Beitrag zur Geschichte der Cusanischen Klosterreformen (1451–1452). In: Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 30 (1909), S. 258–279; ders.: Die Legation des Kardinals Nikolaus Cusanus und die Ordensreform in der Kirchenprovinz Salzburg. Münster i. W. 1914 (Reformationsgeschichtliche Studien und Texte 29), S. 49–57, hier S. 41; Meta Bruck: Studien zu einem Profeßbuch des Stiftes Melk 1418– 1452. In: Stift Melk. Geschichte und Gegenwart 4 (1985), S. 77–202, hier S. 161–177; dies. [Meta Niederkorn-Bruck]: Melker Reform (wie Anm. 82), S. 64–68. Groiß: Lebensformen (wie Anm. 160), S. 293f.; Angerer: Reform (wie Anm. 160), S. 291; Niederkorn-Bruck: Melker Reform (wie Anm. 82), S. 222–229. Konrad von Geisenfeld hatte wie Schlitpacher in Wien studiert und war 1432 in Melk eingetreten, wo er 1434 Profess ablegte und von 1434 bis 1435 Prior war. In Augsburg schrieb er einige Texte ab (Bernhard von Clairvaux: Meditatio super lectione evangelica; Hugo von St-Victor: Qualiter virtus […] seu de instructione novitiorum), in Tegernsee war er dort, nachdem er 1445 seine Professgelübde auf Tegernsee übertragen hatte, 1446–1452 Prior, später Bibliothekar; mit Schlitpacher blieb er in reger brieflicher Verbindung, vor allem über theologische Fragen. Vgl. Redlich: Tegernsee (wie Anm. 160); Hans-Jürgen Stahl: Konrad von Geisenfeld. In: ²VL. Bd. 5. Berlin, New York 1985, Sp. 176–179.

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darauf zur Einführung der Reform nach Ettal gesandt wurden. Zwei weitere, vielleicht schon 1442 aus Melk nach Augsburg gekommene Mönche, die Zwillingsbrüder Johann und Heinrich de Carniola, blieben in St. Ulrich und Afra und waren dort bis zu beider Tod im Jahr 1456 Prior und Subprior.172 Die Reform zielte auf konsequente Erneuerung des klösterlichen Lebens und betraf ebenso den Konvent als Gemeinschaft wie den einzelnen Mönch: Gehorsam, Armut als strikter Verzicht auf Privatbesitz, Einheitlichkeit der Kleidung, Abstinenz von Fleischgenuss, Keuschheit, Ortsbeständigkeit und strikte Einhaltung der Klausur. Eine herausragende Bedeutung kam dem officium divinum zu, regelmäßige Messfeier und regelmäßige Teilnahme am (vereinheitlichten) Chorgebet waren erklärte Ziele der Reform. Neu geregelt wurden aber auch andere Fragen (Amtsführung des Abts, Präsenz des Abts beim Chorgebet, Ernennung der klösterlichen Ämter, Schuldkapitel, Tischlesung, Klosterpfarreien u. Ä.).173 Instrumente, die Reform durchzusetzen, waren vor allem Visitationen,174 der zeitweilige Austausch von Mönchen – Mönche aus Reformklöstern kamen in das zu reformierende Kloster, wo sie oft als Prioren die Reform betrieben, Konventualen eines zu reformierenden Klosters lebten zeitweilig in Melk oder einem bereits reformierten Kloster –, aber auch die Sorge um einheitliche Texte sowohl der Regula Benedicti als auch der liturgischen Texte. 175 Solche Reformbemühungen stießen im Konvent nicht auf ungeteilte Zustimmung:176 Ein Mönch der älteren Generation in St. Ulrich und Afra wie Johannes Frank kommentierte die Eingriffe des Bischofs, der als Visitator die geistlichen Anliegen der Reform nachdrücklich durchzusetzen bestrebt war, gleichzeitig sich aber auch um die Sicherung der Einflussnahme der Bischöfe auf die Abtei bemühte: Frank konzedierte, es sei zwar die tägliche Messe wieder eingeführt ––––––––– 172

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Der Name weist auf ihren Geburtsort Reifnitz in Kärnten. Nach dem Studium der artes liberales waren sie 1423 bzw. 1425 in Melk eingetreten. Heinrich schrieb in Augsburg 1453 ein aszetisches Werk (Dispositorium moriendi), wurde 1453 aus unbekannten Gründen abgesetzt, für zwei Wochen eingekerkert, aber bald darauf rehabilitiert. Johannes starb am 28. April, Heinrich am 11. Mai 1456; man bestattete sie in einem gemeinsamen Grab im Kreuzgang von St. Ulrich. Vgl. Frank: Annalen (wie Anm. 29), S. 301 und 310. Wittwer verzeichnete auch in seiner eigenhändigen Brevier-Handschrift in der Biblioteca Vaticana, cod. Pal. lat. 517 (wie Anm. 63) auf fol. 534v die Grabinschrift, die man den beiden Brüdern setzte, ebenso im Catalogus: Wittwer: Catalogus (wie Anm. 38), S. 273f. Vgl. Niederkorn-Bruck: Melker Reform (wie Anm. 82), S. 70–80 und 131–174. Ebd., S. 37–40; Faust: Prälatenorden (wie Anm. 152), S. 547f. (zum Ablauf). Vgl. zusammenfassend Klaus Schreiner: Benediktinische Klosterreform als zeitgebundene Auslegung der Regel. Geistige, religiöse und soziale Erneuerung in spätmittelalterlichen Klöstern Südwestdeutschlands im Zeichen der Kastler, Melker und Bursfelder Reform. In: Blätter für württembergische Kirchengeschichte 86 (1986), S. 105–195; Burkhard Ellegast OSB: Die Anfänge einer Textkritik zur Regel des hl. Benedikt in den Kreisen der Melker Reform (15. Jh.). In: Stift Melk. Geschichte und Gegenwart 3 (1983), S. 8–91. Zu den Regelhandschriften in St. Ulrich und Afra, darunter auch eine verlorene von Jean Mabillon OSB beschriebene karolingische Handschrift, aber auch ein von Johannes Schlitpacher besorgter Text: Schmidt: Reichenau und St. Gallen (wie Anm. 2), S. 105f. Vgl. zum Problem Dieter Mertens: Klosterreform als Kommunikationsereignis. In: Formen und Funktionen öffentlicher Kommunikation im Mittelalter. Hg. von Gerd Althoff. Stuttgart 2001 (Vorträge und Forschungen 51), S. 397–420, hier S. 413.

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worden, aber die Visitatoren hätten eher Verwirrung im Kloster gestiftet: item sie schuoffen zuo sant Uolrich mer übels dan guotz mit irem visitieren, als vor all visitierer hetten getan.177 Der um etliches jüngere Wittwer dagegen schildert ausführlich die Anstrengungen, die Reform durchzusetzen, und hebt voller Anerkennung die Veränderungen hervor, die sich mit den Visitationen von 1443,178 1445179 und 1457180 ergaben. In St. Ulrich führten sie, wie Wittwer beschrieb, zur Revision des Stundengebets,181 zum Ausschluss der Klosterschüler vom Chorgebet der Mönche, an dem sie bis dahin aktiv teilgenommen hatten,182 zur Einschränkung des Prozessionswesens usw. Die Melker Mönche in St. Ulrich bemühten sich gegen Widerstände im Konvent183 um die Erneuerung; wiederum in der Rhetorik der Reform beschrieb Wittwer (aus der Distanz mehrerer Jahrzehnte) ihre Erfolge: Messbesuch und Frömmigkeit hätten zugenommen, im Dormitorium habe wieder die Reinheit der Sitten geherrscht, im Refektorium Sparsamkeit, in der Klausur Ruhe – im Sinne des von den Melkern geforderten monastischen silentium –184 und die „Krankheit des Privateigentums“ (lepra proprietatis) sei weiter bekämpft worden.185 Bei der Visitation, die die Äbte von St. Ägidien in Nürnberg, Hl. Kreuz in Donauwörth und Kastl, alle drei aus Klöstern der Kastler Reform,186 1430 im Sinne der in St. Ulrich beachteten Melker Consuetudines durchgeführt hatten, waren dennoch Mängel beanstandet worden, 187 bei der nächsten, die der Bischof 1445 selbst vornahm, griff er nachhaltig in die Verwaltung des Klosters ein, lud aber einige Jahre später, offenbar immer noch unzufrieden mit dem Voranschreiten der Reformbemühungen, 1457 die beiden bayerischen Äbte Kaspar Ayndorffer von Tegernsee und Willhelm Kienberger von Scheyern ein, das Kloster zu visitieren, und erhoffte sich ––––––––– 177

Frank: Annalen (wie Anm. 29), S. 307. Liebhart: Reichsabtei (wie Anm. 13), S. 140. 179 Vgl. zur Carta visitationis für St. Ulrich vom 18. August 1445: Braun: Notitia (wie Anm. 18), hier Bd. 5, S. 167f.; Liebhart: Reichsabtei (wie Anm. 13), S. 140f. 180 Vgl. Carta visitationis mon[a]sterii S. Udalrici in Augusta (München, Bayerische Staatsbibliothek, clm 19670). 181 Vgl. Wittwer: Catalogus (wie Anm. 38), S. 197f.; vgl. dazu auch Robert Klugseder: Quellen des Gregorianischen Chorals für das Offizium aus dem Kloster St. Ulrich und Afra Augsburg. Tutzing 2008 (Regensburger Studien zur Musikgeschichte 5), S. 111–137. 182 Wittwer: Catalogus (wie Anm. 38), S. 205f., vgl. auch Frank: Annalen (wie Anm. 29), S. 313 (zu 1456); dies war eine alte, immer wieder eingeforderte Änderung, die dazu dienen sollte, die Chordisziplin der Mönche zu heben, d. h. ihre regelmäßige Teilnahme am Chorgebet zu erreichen. Ähnliches wurde auch andernorts bei entsprechenden Visitationen verlangt: 1419 in Kremsmünster (Altmann Kellner: Musikgeschichte des Stiftes Kremsmünster. Kassel 1956, S. 98f.) oder 1452 in St. Emmeram in Regensburg (Benedikt Braunmüller: Zur Reformgeschichte der Klöster im fünfzehnten Jahrhunderte. In: Studien und Mittheilungen aus dem Benedictiner-Orden 3 [1882], S. 311–321) u. ö. 183 Vgl. dazu Thoma: Petrus von Rosenheim (wie Anm. 45), S. 169. 184 Vgl. Consuetudines Tegernseenses 54: Angerer: Bräuche (wie Anm. 160), S. 172–174. 185 Wittwer: Catalogus (wie Anm. 38), S. 196; vgl. als Quelle: Meisterlin: Chronicon Augustanum (Pistorius: Rerum Germanicarum scriptores [wie Anm. 78]), S. 607). 186 Vgl. P[eter] Maier: Die Reform von Kastl. In: Reformverbände (wie Anm. 160), S. 225– 269, hier S. 249–255. 187 Vgl. Liebhart: Reichsabtei (wie Anm. 13), S. 140. 178

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gegen den Abt Johannes Hohensteiner (1438–1458, gest. 1478) eine Stärkung der Reform. Wittwer bescheinigte diesem, er habe das Kloster in zeitlichen Dingen lobenswert (in temporalibus laudabiliter),188 in geistlichen jedoch nachlässig (in spiritualibus negligenter) geführt. Die Visitatoren, zu denen auch der als theologischer Autor bekannte Tegernseer Prior Bernhard von Waging in Vertretung seines Abtes gehörte, 189 kritisierten manche Lebensgewohnheiten, die nicht im Einklang mit den disziplinären Prinzipien der Reform standen: die laxe Handhabung der Klausur, das Auftreten einzelner Mönche auch in der Reichsstadt, monierten u. a. auch, Frater Sigismund Meisterlin habe sich über die klösterliche Disziplin nicht sonderlich unterrichtet gezeigt (in regulari disciplina est minus instructus). 190 Bischof Peter von Schaumberg bemühte sich um eine dauerhafte Lösung der Probleme in St. Ulrich und Afra, die jedoch nur mit einem für die Reform aufgeschlossenen Abt und nicht ohne dessen nachhaltige Unterstützung zu erreichen war. Schließlich drängte der Kardinal den seit 1439 regierenden Abt zur Resignation und den Konvent zum diesmaligen Verzicht auf seine Wahlfreiheit, so dass der Bischof einen auswärtigen Kandidaten auswählen und berufen konnte.191 Dieser, Melchior von Stamheim (1458–1474), ehedem Mönch in ––––––––– 188 189

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Wittwer: Catalogus (wie Anm. 38), S. 195; vgl. als Quelle Meisterlin: Chronicon (Pistorius: Rerum Germanicarum scriptores [wie Anm. 78], S. 607). Vgl. Redlich: Tegernsee (wie Anm. 160), S. 64f.; Angerer: Bräuche (wie Anm. 160), S. 56; Niederkorn-Bruck: Melker Reform (wie Anm. 82), S. 35; zur Person: Werner Höver: Bernhard von Waging. In: 2VL. Bd. 1. Berlin, New York 1978, Sp. 779–789. Vgl. den Visitationsrezess (München, Bayerische Staatsbibliothek, clm 19460, fol. 142r– 145v); Joachimsohn: Humanistische Geschichtschreibung (wie Anm. 21), S. 94f.; Liebhart: Reichsabtei (wie Anm. 13), S. 140f. Die klösterlichen Chronisten Johannes Frank und Sigismund Meisterlin behandelten diese Ereignisse mit großer Diskretion; auch Wittwer, der in seiner Darstellung der Geschehnisse von 1441 ebenso Meisterlins Index folgte wie bei seinem Bericht über die Wahl Abt Melchiors (Joachimsohn: Städtische Geschichtschreibung [wie Anm. 79], S. 129), hielt sich mit einer Beurteilung dieser Ereignisse zurück, zumal der resignierte Abt noch bis 1478 lebte, von 1461 an in einem Haus in Augsburg, das von der Abtei unterhalten wurde. Frank notierte nur den Umstand der Resignation, die Zusicherung, dass der Wahlverzicht des Konvents zugunsten der Bestellung des Abts durch den Bischof dem Konvent künftig keinen Schaden bringen dürfe, d. h. Ausnahme bleiben müsse. Der Bischof präsentierte dem Konvent seinen Kandidatenvorschlag. Nach der Zustimmung des Konvents und der Zustimmung des Wiblinger Abts und des Kandidaten selbst wurde der neue Abt von Prior, Custos und Konvent unter Glockengeläut und Absingen des Tedeum in die Abteikirche geführt und dort – offenbar um die Postulierung durch den Bischof sichtbar zu vergültigen – auf den Hochaltar gesetzt, bevor an den folgenden Tagen Bestätigung, Benediktion und am Karfreitag die erste Pontifikalfunktion des neu Gewählten folgten (Frank: Annalen [wie Anm. 29], S. 316), ein in St. Ulrich sonst nicht bezeugter Brauch. Zur Tradition der Altarsetzung vgl. Reinhard Schneider: Bischöfliche Thron- und Altarsetzungen. In: Papstgeschichte und Landesgeschichte. Festschrift für Hermann Jakobs zum 65. Geburtstag. Hg. von Joachim Dahlhaus u. a. Köln 1995 (Beihefte zum Archiv für Kulturgeschichte 39), S. 1–15; Michail A. Bojcov: Warum pflegten deutsche Könige auf Altären zu sitzen? In: Bilder der Macht in Mittelalter und Neuzeit. Byzanz – Okzident – Rußland. Hg. von Otto Gerhard Oexle und Michail A. Bojcov. Göttingen 2007, S. 243–314 (mit der älteren Literatur), bes. S. 269–273 zu Altarsetzungen von Äbten und Äbtissinnen seit dem

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Melk, zum Zeitpunkt seiner Postulierung durch den Bischof Prior in Wiblingen, wurde zu einem der bedeutendsten Repräsentanten der Melker Reform. 192 Er berief Mönche aus Melk, die ihn bei der Durchsetzung der Reform unterstützen sollten, da die beiden aus Melk nach Augsburg gekommenen Mönche, die Brüder Heinrich und Johannes de Carniola, 1456 gestorben waren: als Prior Thomas von Padua, als Subprior Georg Somerfeld und einen Laienbruder, Johannes Pellifex. 193 Die notwendigen liturgischen Bücher für den Chor wurden 1459 erneuert, 194 der Austausch mit anderen Klöstern der Reform, etwa Melk oder Tegernsee, wurde wiederbelebt, auswärtige Mönche waren zeitweilig in Augsburg, Augsburger Konventualen hielten sich in auswärtigen Klöstern auf, um sich mit der dortigen Lebensweise vertraut zu machen,195 und wurden bald auch in andere Klöster entsandt, um dort an der Einführung der Reform mitzuwirken. Aus Wittwers Bericht ist ein recht detailliertes Bild der klösterlichen Welt jener Jahre zu gewinnen: Abt Melchior ordnete – gegen alle Versuche bischöflicher Einflussnahme – die Verwaltung der wirtschaftlichen Belange neu und ließ 1468 den von seinem Vorgänger unter dem Refektorium angelegten Vorratskeller, 1469 den Weinkeller und die Dächer der Stallungen ausbessern und ein eigenes Badehaus errichten.196 Im Jahr darauf wurden das Refektorium und der Dormitoriumsbau erweitert, das Küchendach erneuert und ein neues Gästehaus gebaut.197 Der Abt ließ neue Zellen für die Mönche einrichten, ordnete die neue Vertäfelung des Kapitelsaals an 198 und den Umbau der Bibliothek, die vom Dormitoriumsbau über mehrere Stufen nahe bei der Zelle des Priors lag. Man verlegte die Bibliothek innerhalb des Klosters, weil der Zustrom von Besuchern aus der Stadt in die Bibliothek der Abtei auch nach der Komplet, die – wie Wittwer verärgert kommentierte – „weder das klösterliche silentium wahren wollten noch den Unterschied zwischen einem gewöhnlichen Haus und einem Kloster zu kennen schienen“,199 mit so viel Lärm verbunden war, dass man in––––––––– 192

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13. Jahrhundert. Zu den näheren Umständen von Resignation und Neuwahl: Liebhart: Reichsabtei (wie Anm. 13), S. 141f. Vgl. zur Person: Thoma: Petrus von Rosenheim (wie Anm. 45), S. 171–177; Liebhart: Reichsabtei (wie Anm. 13), S. 144–151; Proksch: Klosterreform (wie Anm. 7), S. 147– 150; Franz Machilek: Die Klöster Blaubeuren, Wiblingen, Elchingen und die Melker Reform. In: Jahrbuch des Vereins für Augsburger Bistumsgeschichte 36 (2002), S. 255–279, hier S. 268f. Wittwer: Catalogus (wie Anm. 38), S. 213; vgl. Niederkorn-Bruck: Melker Reform (wie Anm. 82), S. 210. S. dazu S. 377f. Ein Verzeichnis der Gäste in Melk enthält nach den in den zwanziger Jahren und 1430 in Melk nachweisbaren Konventualen aus St. Ulrich und Afra – vgl. Anm. 122 – zwischen 1465 und 1527 sechsmal Aufenthalte von Augsburger Mönchen in Melk, die meistens für ein ganzes Jahr dort blieben, bevor sie in ihr Heimatkloster zurückkehrten: Zeller: Beiträge (wie Anm. 45), S. 177. Vgl. Wittwer: Catalogus (wie Anm. 38), S. 235f., 242f. und 262; zur Neuordnung der klösterlichen Wirtschaftsverwaltung Liebhart: Reichsabtei (wie Anm. 13), S. 149f. Wittwer: Catalogus (wie Anm. 38), S. 261–263. Ebd. […] introitus liberarie fuit in dormitorio ascendendo per gradus circa cellam Prioris […] et tales inquietudinies et strepitus sepius facte sunt tempore inconsweto, ut post completo-

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nerhalb des Konvents die Beeinträchtigungen des klösterlichen Lebens nicht länger hinzunehmen bereit war. Der Abt ließ die Bibliothek neu katalogisieren, neue Bücher schreiben und illuminieren und sorgte für die Einrichtung einer Druckerei. 200 Abt Melchior von Stamheim gehörte mehrmals dem Präsidium der Benediktinerklöster der Mainzer Kirchenprovinz an und war u. a. im Auftrag des Augsburger Bischofs mit unterschiedlichem Erfolg an der Einführung der Reform in zahlreichen benediktinischen Männer- und Frauenklöstern beteiligt.201 Wittwer berichtete über die Visitationen 1468 in Thierhaupten, 1471 in Fultenbach und 1471 sowie 1477 in Ottobeuren. Hier erreichte Abt Melchior von Stamheim die Einführung der Melker Consuetudines mit Hilfe mehrerer Mönche aus St. Ulrich, die zwischen 1477 und 1482 in Ottobeuren blieben.202 Zu den von ihm reformierten Frauenklöstern gehörten Kühbach (1467) und Holzen (1469), ferner in Augsburg St. Nikolaus, das bis 1487 bzw. 1499 mit St. Ulrich und Afra –––––––––

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rium sive horam leccionis aut dormicionis, que omnia erant fratribus gravamina maxima, quia audierunt clamores secularium, qui nesciunt servare silencium nec norunt differencias locorum religiosorum: ebd., S. 236; vgl. Wolfgang Augustyn: Zur Gleichzeitigkeit von Handschrift und Buchdruck in Deutschland – Versuch einer Skizze aus kunsthistorischer Sicht. In: Die Gleichzeitigkeit von Handschrift und Buchdruck. Hg. von Gerd Dicke und Klaus Grubmüller. Wiesbaden 2003 (Wolfenbütteler Mittelalter-Studien 16), S. 5–47, hier S. 8; vgl. auch Schmidt: Reichenau und St. Gallen (wie Anm. 2), S. 52f. zu Raum und Ordnung der Bibliothek; anfangs gab es einen freilich bald überholten Tafelkatalog (P. F. Obbema: Der Augsburger Tafelkatalog vom Jahre 1474. In: Scriptorium 33 [1977], S. 98–102). Der Andechser Mönch Georg Polster verfasste Tituli für die Bibliothek, die Petrus Wagner durch Zitate aus den Kirchenvätern ergänzte, die aber schon wenige Jahre später wohl durch Veit Bild in besseres Latein geändert wurden: Schmidt: Reichenau und St. Gallen (wie Anm. 2), S. 53. S. dazu S. 395f. Vgl. Zeller: Beiträge (wie Anm. 45); Thoma: Petrus von Rosenheim (wie Anm. 45), S. 172f.; Liebhart: Reichsabtei (wie Anm. 13), S. 147; Niederkorn-Bruck: Melker Reform (wie Anm. 82), S. 200–211. Zu Thierhaupten Wittwer: Catalogus (wie Anm. 38), S. 225–227; mehrere Mönche aus St. Ulrich wurden zum Abt in Thierhaupten postuliert wie Thomas Gertzen (1457–1463) oder dort als Abt eingesetzt wie Heinrich Hotz (1468–1478) oder zum Abt gewählt wie Peter Wagner (1502–1511): Nikolaus Debler: Geschichte des Klosters Thierhaupten. Hg. von Johannes Traber. Donauwörth 1980–1912, S. 15–25; Niederkorn-Bruck: Melker Reform (wie Anm. 82), S. 209. – Zu Fultenbach Wittwer: Catalogus (wie Anm. 38), S. 218– 221; die beiden ersten Äbte der Reform kamen aus St. Ulrich: Gregor Heffter (1471–1503) und Jakob Bocham (1503–1513): Liebhart: Reichsabtei (wie Anm. 13), S. 147. – Zu Ottobeuren: Wittwer: Catalogus (wie Anm. 38), S. 221–223; über Weingarten gelangte ein Diurnale de tempore aus Ottobeuren aus der Zeit nach 1471 nach Stuttgart, das am Beginn ausdrücklich die Einrichtung der Tagzeiten offenbar für die aus Augsburg gekommenen Mönche nach den Rubriken der Melker und nach dem in der Abtei St. Ulrich und Afra geübten Brauch anzeigt: Stuttgart, Württembergische Landesbibliothek, cod. HB I 94, fol. 78r–189r, hier 78r: Inc. Diurnale secundum rubricam Malicensium et consuetudinem monasterii sanctorum Afre et Vodalrici in Augusta ciuitate (Die Handschriften der Württembergischen Landesbibliothek Stuttgart. 2. Reihe: Die Handschriften der ehemaligen kgl. Hofbibliothek. Bd. 1: Codices ascetici. Beschrieben von Johanne Autenrieth und Virgil Ernst Fiala unter Mitarbeit von Wolfgang Irtenkauf. Wiesbaden 1968, S. 126–128).

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vereinigt war und von dort aus auch seelsorglich betreut wurde.203 Dass diese Visitationen oft nur gegen Widerstände durchzusetzen waren, belegen die von Wittwer überlieferten, häufig zitierten Vorfälle bei der Visitation, die Abt Melchior auf Wunsch der Grafen von Öttingen in Deggingen durchführte. Dort hatte er u. a. beanstandet, dass Abt und Mönche keine Tonsur trugen, und angekündigt, er wolle das Kloster nicht eher verlassen, bis diese die langen Haare abgeschnitten hätten und ihnen ein Haarkranz geschoren wäre, wie ihn die reformierten Benediktinermönche hätten, was auch geschah, und alle gehorchten, wenngleich unter Murren.204 Die Mönche beschlossen jedoch, sich an Abt Melchior zu rächen: Nachdem sich der Abt vor der Abreise vom einwandfreien Zustand des Wagens überzeugt hatte, ging er zurück, um einen Imbiss einzunehmen. Währenddessen zogen böse Menschen (falsi homines) die Nägel aus der Achse des Wagens. Und als der Abt, nachdem er sich von Abt und Mönchen in Freundschaft und mit seinem Segen verabschiedet hatte, dem Kutscher bei der Abfahrt zurief, Bocz plater far hin, man haut unser genug und dieser seine Pferde anfeuerte In nomine Domini, hüsta, hott, hain, fugs, räplin, fielen die Räder kurz vor dem Tor vom Wagen. Darüber wurde der Abt sehr aufgeregt und war zunächst verwirrt, entschied sich aber dann zu keiner Vergeltung, weil er das, was er (als Visitator) getan habe, nicht zu seinen eigenen Ehren, sondern zur Ehre Gottes und des Benediktinerordens getan habe.205 Wittwer berichtete auch von den guten politischen Beziehungen Abt Melchiors, der sich die Wertschätzung Herzog Ludwigs des Reichen in Landshut erworben hatte. Dieser verlängerte 1455 den Schutzbrief des Klosters und wurde dafür in die Gebetsverbrüderung des Klosters aufgenommen. Er schonte während des Ansbacher Kriegs 1462 das Kloster und – so kolportierte es Wittwer – soll gesagt haben, wenn er gegen die Türken kämpfen müsse, wolle er auf einem Wagen Abt Melchior mitnehmen, ohne Waffen, nur mit dem Ulrichskreuz bewaffnet, und so den Feind aus dem Land treiben. 206 Kaum etwas erfährt man hingegen über die intensiven Bemühungen des Abtes um eine Einigung der verschiedenen Observanzen, vor allem jene von Burs––––––––– 203

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Vgl. ebd.; Niederkorn-Bruck: Melker Reform (wie Anm. 82), S. 200. Es sind zwei Handschriften bekannt, die in St. Ulrich für St. Nikolaus geschrieben wurden: München, Bayerische Staatsbibliothek, cgm 823 (Regula; Pierre d’Ailly, Ps.-Augustinus), dat. 1481; clm 1033 (Regula; Nekrolog), 15. Jahrhundert; vgl. Florian Sepp, Bettina Wagner und Stephan Kellner: Handschriften und Inkunabeln aus süddeutschen Frauenklöstern in der Bayerischen Staatsbibliothek München. In: Nonnen, Kanonissen und Mystikerinnen […]. Hg. von Eva Schlotheuber, Helmut Flachenecker und Ingrid Gardill. Göttingen 2008 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 235; Studien zur Germania Sacra 31), S. 317–372, hier S. 341. […] dicens, se nolle recedere ab eis, nisi tam ipse abbas quam subditi sui abscinderent longos crines et tonderentur corone capitum omnium, sicut haberent monachi reformati ordinis sancti Benedicti; quod et factum est et omnes obedierunt licet cum murmure: Wittwer: Catalogus (wie Anm. 38), S. 241. Ebd., S. 242; vgl. Bühler: Klosterleben (wie Anm. 39), S. 231f.; Thoma: Petrus von Rosenheim (wie Anm. 45), S. 147. Wittwer: Catalogus (wie Anm. 38), S. 233.

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felde und Melk, wohl aber klingen die unüberbrückbaren Differenzen in der Regelauslegung zwischen den Klöstern der Melker und der strengeren Bursfelder Reform207 an, wenn Wittwer über den Ulrikaner Mönch Ulrich Flechsenhauer berichtete, der in den neunziger Jahren nach der Rückkehr aus dem zum Verband von Bursfelde gehörenden Schottenkloster in Würzburg über die dort ihm abverlangte harte körperliche Arbeit und den dort üblichen Konsum von Bier statt Weins klagte.208 Auch unter dem Nachfolger Melchiors von Stammheim, Abt Heinrich Frieß (1474–1482), blieb St. Ulrich ein Zentrum der Reform. Wittwer, den der neue Abt zu seinem Kaplan machte, hatte diesen auf seinen Reisen zu begleiten und erinnerte sich an das enge, vertrauensvolle Verhältnis zwischen ihm und dem Abt. Für Wittwer verkörperte Heinrich Frieß das Ideal, wie ein Abt der Reform sein sollte: fromm, gütig, freundlich, heiter, maßvoll und sparsam. 209 So sehr der Abt jedoch um das geistliche Leben des Konvents bemüht war, die wirtschaftlichen Schwierigkeiten nahmen zu, erst recht nach dem Einsturz des neu gebauten Langhauses, und hinderten ihn an der Vermehrung des Grundbesitzes, was Wittwer aber nicht mit wirtschaftlichen Problemen begründete, sondern was er als Beleg der auf Armut zielenden Reformgesinnung wertete. 210 Über den Nachfolger, Johannes von Giltlingen (1482–1496), der ursprünglich Professmönch von Hirsau gewesen war, aber seit vielen Jahren in der Augsburger Abtei lebte, 211 schrieb Wittwer zunächst die positive Charakterisierung Meisterlins für die Anfangszeit des Abtes ab, die seine Frömmigkeit, Regeldisziplin, aber auch sein Ansehen in der Wissenschaft außerhalb des Klosters pries:212 eine Einschätzung, der Wittwer an späterer Stelle eine sehr viel kritischere, eigene folgen ließ, gleichwohl seine Verdienste um die Abtei würdigte. 213 Bei der Wahl 1482 war es zu Unstimmigkeiten gekommen, über die Wittwer, der den neuen Abt kritisch beurteilte, ausführlich berichtete: Der damalige Prior Johannes Mickel214 (der möglicherweise selbst gehofft hatte, zum Abt gewählt zu ––––––––– 207

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Zu dieser vgl. W[alter] Ziegler: Die Bursfelder Kongregtion. In: Faust und Quarthal: Reformverbände (wie Anm. 160), S. 315–407; F[riedrich] Herrmann: Versuche zur Gründung einer allgemeinen deutschen Benediktinerkongregation. In: ebd., S. 419–432, hier 420f. – Trotz intensiver Bemühungen gelang der Zusammenschluss der Klöster der Bursfelder und der Melker Reform nicht, Verhandlungen 1491 und 1502 in Nürnberg scheiterten an unüberwindlichen Gegensätzen zwischen den Klöstern der Bursfelder Reform, die ihre strengeren Lebensgewohnheiten nicht zugunsten der von ihnen als nachlässiger eingeschätzten Melker aufgeben wollten. Vgl. Niederkorn-Bruck: Melker Reform (wie Anm. 82), S. 36. Wittwer: Catalogus (wie Anm. 38), S. 369f. Vgl. ebd., S. 276–312; Proksch: Klosterreform (wie Anm. 7), S. 150f. Wittwer: Catalogus (wie Anm 38), S. 312. S. oben S. 334, 341, 352 und 359. Wittwer: Catalogus (wie Anm. 38), S. 313; vgl. Meisterlin: Chronicon (Pistorius: Rerum Germanicarum scriptores [wie Anm. 78], S. 679. Wittwer: Catalogus (wie Anm. 38), S. 396. Johannes Mickel stammte aus Augsburg, wurde 1460 an der Universität Leipzig immatrikuliert, schloss seine Studien 1465/66 mit dem Bakkalaureat ab und trat dann in St. Ulrich und Afra ein, wo er erstmals schon 1470 als Prior bezeugt ist; er muss demnach bereits

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werden), bat noch beim feierlichen Gottesdienst nach der Abtswahl, bei dem die Mönche dem neuen Abt Gehorsam versprachen, den bischöflichen Vikar um die Erlaubnis, die Abtei verlassen und in die Kartause Buxheim eintreten zu dürfen. Wittwer schilderte ihn als ungestüm, unvernünftig: Mickel habe als Prior Mitbrüder, darunter auch den neuen Abt, mehrmals übereifrig angeklagt und nun Vergeltung gefürchtet. Er sei ein eigensinniger Dickkopf (homo capitosus et singularis), den Abt Heinrich Frieß wegen seiner Schroffheit, seiner Eigenwilligkeiten und seiner Unruhe mehr gefürchtet habe als dieser ihn.215 Dass Mickel mindestens einmal Prior und mehrmals Subprior gewesen war, bestätigt seine Qualitäten, auch scheint er sich schon in St. Ulrich und Afra persönlich um strengere Askese bemüht zu haben. 216 Obwohl sein Entschluss vornehmlich aus persönlichen Gründen erfolgte und obwohl es durchaus immer wieder Beziehungen zwischen den Kartäusern und den Benediktinern der Reform gab, 217 belegen diese Auseinandersetzungen wohl auch das Nachlassen der Reformgesinnung im Konvent, wie es bei den Visitationen in den Jahren 1486 und 1488 offenbar wurde. Wittwer bemerkte dazu nur, über die Visitationen und über den Zustand des Klosters sei es besser zu schweigen als zu sprechen. 218 Neuerlich kamen auf Bitten des Abts Mönche aus Melk, gleichzeitig –––––––––

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zuvor feierliche Profess abgelegt haben und zum Priester geweiht worden sein. Mickel war dann in die Kartause Buxheim übergetreten, wo er 1495 Prior wurde, sein Amt aus Krankheitsgründen jedoch bald niederlegte. Er starb 1508 in der Kartause Güterstein: Herrad Spilling: Johannes Mickel – Kartäuser oder Benediktiner? In: Bücher, Bibliotheken und Schriftkultur der Kartäuser. Festgabe zum 65. Geburtstag von Edward Potkowski. Hg. von Sönke Lorenz. Stuttgart 2002 (Contubernium 59), S. 39–64; dies.: Johannes Mickels Beschäftigung mit Wissenschaft und Literatur. In: ebd., S. 325–381; zur Biographie bes. S. 45–47. Wittwer: Catalogus (wie Anm. 38), S. 316; auf den Druckfehler bei Steichele – captiosus statt capitosus (so Hs., fol. 208v) – wies Spilling: Johannes Mickel – Kartäuser oder Benediktiner? (wie Anm. 214), S. 45, Anm. 29 hin. Aus Buxheim korrespondierte Mickel weiterhin mit Mönchen in St. Ulrich, auch dem Abt, der ihm offenbar verpflichtet war. Man bezahlte ihm von dort aus die Reparatur seines Ofens und schickte im Leihgaben aus der Bibliothek: ebd., S. 50–58; dies.: Johannes Mickels Beschäftigung (wie Anm. 214), S. 331–370. Spilling: Johannes Mickel – Kartäuser oder Benediktiner? (wie Anm. 214), S. 47. Vgl. zu den Beziehungen zwischen Klöstern und Mönchen der Melker Reform und Angehörigen des Kartäuserordens, deren Lebensform immer wieder starke Faszination auf einzelne Benediktiner ausübte: Groiß: Lebensformen (wie Anm. 160), S. 48–55. Auch der Mickel freundschaftlich verbundene, aus Augsburg stammende Konrad Mörlin, der spätere Abt, hatte nach seiner Profess 1473 in St. Ulrich den Übertritt in die Kartause erwogen und war nach Buxheim gegangen, um dort ein Probejahr zu absolvieren, brach aber wegen seiner angegriffenen Gesundheit ab und kehrte, da ihm Abt Johannes von Giltlingen den Übertritt nach Fultenbach verweigerte, wo der aus St. Ulrich stammende Georg Helfter Abt war, nach St. Ulrich und Afra zurück; dort wurde er 1485 Prior, schließlich Abt: Wittwer: Catalogus (wie Anm. 38), S. 409f.; Liebhart: Reichsabtei (wie Anm. 13), S. 157; Spilling: Mickel – Kartäuser oder Benediktiner? (wie Anm. 214), S. 48; zu Mörlin s. auch S. 334, 372–377. […] de quorum visitacione et nostra deposicione melius est silere quam loqui (Wittwer: Catalogus [wie Anm. 38], S. 334).

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erbat der Augsburger Bischof Friedrich von Zollern Mönche aus St. Ulrich für die Einführung der Reform in Neresheim. 219 Im Jahr 1491 erhob man die Gebeine des hl. Simpert, im Jahr darauf fand die Translation in seine neue Grabstätte statt.220 Wittwer berichtete im Catalogus immer wieder über das Anliegen der seit 1450 durch den Augsburger Bischof und Kardinal Peter von Schaumberg betriebenen Heiligsprechung von dessen frühmittelalterlichem Amtsvorgänger Simpert, der in St. Ulrich bestattet war. 1454 erteilte Papst Nikolaus V. die Erlaubnis, dass man innerhalb der vier wend der kirchen zuo sant Volrich dorst singen von sant Simprecht als von ainem andern hailigen.221 Man erinnerte sich in der Abtei der im 13. Jahrhundert entstandenen Vita S. Simperti des Priors Adilbert aus dem 13. Jahrhundert,222 die im 15. Jahrhundert von Johannes Knus abgeschrieben und von dem Mönch Johannes Klesatel 1454 ins Deutsche übersetzt wurde. 223 Zur Kanonisation kam es dann 1468.224 Sigismund Meisterlin verfasste für den Prior Konrad Agst 1473 einen Liber miraculorum St. Simperti zu den zwischen 1465 und 1471 aufgezeichneten Wunderprotokollen, nachdem er während seines Aufenthalts in der elsässischen Abtei Murbach (1463/64) entdeckt hatte, dass Simpert auch Abt von Murbach gewesen war. 225 Vor allem der prunkliebende Abt Johannes von Giltlingen trug zur Förderung der Simpertsverehrung bei und beauftragte den Mönch und späteren Abt des Klosters Konrad Mörlin, die Verehrung des hl. Simpert zu propagieren. Die Translation der Reliquien in Anwesenheit Kaiser Maximilians sowie zahlreicher geistlicher und weltlicher Würdenträger schließlich war ein besonders herausragendes Ereignis der Klostergeschichte, das Wittwer nicht zu erwähnen vergaß. 226 Zu diesem Zeitpunkt hatte die Abtei aber längst das größte Projekt ihrer Geschichte im Spätmittelalter begonnen: den Neubau der Klosterkirche, zu dessen Unterstützung schon Abt ––––––––– 219 220

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Ebd., S. 428f. Vgl. Rummel: Verehrungsgeschichte (wie Anm. 128), S. 30–36; Derick Dreher: Die Maximilians-Darstellungen in der Basilika St. Ulrich und Afra. Historismus in der Augsburger Malerei des Frühbarock. In: Jahrbuch des Vereins für Augsburger Bistumsgeschichte 31 (1997), S. 86–104. Frank: Annalen (wie Anm. 29), S. 301. Acta Sanctorum. Oct. VI, S. 245–250; Werner Williams-Krapp: Die deutschen und niederländischen Legendare des Mittelalters. Tübingen 1986 (Texte und Textgeschichte. Würzburger Forschungen 20), S. 460 (Simpertus 1); Ulrike Bodemann: 51. Heiligenleben. In: Katalog der deutschsprachigen illustrierten Handschriften des Mittelalters. Bd. 6, Lfg. 3/4. München 2005, S. 171f. und 308f. (Nr. 51. 30. 1); vgl. Rummel: Verehrungsgeschichte (wie Anm. 128), S. 24–27. München, Bayerische Staatsbibliothek, cgm 751; Bühler: Schriftsteller (wie Anm. 27), S. 53. Vgl. Rummel: Verehrungsgeschichte (wie Anm. 128), S. 28–30. Zu Meisterlins Text: Colberg: Meisterlin (wie Anm. 20), Sp. 357 und 361; Joachimsohn: Humanistische Geschichtschreibung (wie Anm. 21), S. 110–112; vgl. ferner Walter Pötzl: Die Miracula sancti Simperti. In: Jahrbuch des Vereins für Augsburger Bistumsgeschichte 12 (1978), S. 117–150, hier S. 123–128. Wittwer: Catalogus (wie Anm. 38), S. 355.

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Melchior von Stamheim 1468 der Ulrichsbruderschaft neue Statuten gegeben hatte. 227

7.

Neubau der Abteikirche und Kunstpflege: Wittwer als Zeitzeuge (II)

Wittwer, der seit 1484 als Custos der Kirche, seit 1489 als für die Finanzen zuständiger Cellerar des Klosters mit dem Bauvorhaben aufs engste vertraut war, hatte sich bei seiner Vorbereitung auch eine Abschrift des Rechnungsbuchs von 1467 besorgt und seinen Collectanea einverleibt.228 Wittwer berichtete über den Baufortgang vom Baubeginn 1467 bis zum Einsturz des neu errichteten Langhauses 1474 und der Berufung Burkhard Engelbergs 1477, der zunächst als Palier, später als verantwortlicher Baumeister tätig war und dessen scientia und industria Wittwer hervorhob.229 Bei den Ausschachtungsarbeiten für die Fundamente des Langhauses stieß man wieder auf das Simpertsgrab, im Baufortgang fand man dann auch die Gräber der seit dem 12. Jahrhundert in Augsburg als Heilige verehrten Bischöfe Nidgar (Nidger, Nitker) und Wikterp und barg deren Gebeine. Wittwer notierte diese Ereignisse für das Jahr 1489.230 Am Ostermontag 1492 wurden die Reliquien des hl. Simpert im Beisein Kaiser Maxi––––––––– 227

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Die St.-Ulrichs-Bruderschaft war 1440 gegründet worden, erlangte größere Bedeutung jedoch erst, nachdem sie 1468 die neuen Statuten erhalten hatte. Durch die den Mitgliedern vorgeschriebenen geistlichen Übungen und die materielle Unterstützung des Kirchenneubaus erlangten diese besondere Ablässe. Zu den Mitgliedern zählten nicht nur Augsburger Bürger, sondern auch Kaiser Friedrich III. und Maximilian I., die Herzöge Otto und Christoph von Bayern, ferner viele Angehörige des schwäbischen und bayerischen Adels: Albert Hämmerle: St. Ulrichsbruderschaft Augsburg. Mitgliederverzeichnis 1466 bis 1521. Augsburg 1949; Kießling: Gesellschaft (wie Anm. 14), S. 292. Augsburg, Archiv des Bistums, Hs. 79, fol. 225r–236v: In disem buoch wirdet vermerckt Einname[n] vnd ausgaben des Bawes der Kirchen sant Volrichs und sant afren zuo augspurg; zur Handschrift vgl. Anm. 29. Wittwer berichtet über eine Konsultation, bei der es um die Wiedererichtung eines eingestürzten Pfeilers ging. Man sah schließlich den Fleiß Engelbergs und seine überzeugende Kenntnis: […] (Hs., fol. 175v: Idem) videntes ejusdem Burchardi […] suam edificandi industriam […] cujus perswasu scienciaque inclinati sua in integrum restauravere maxima (in discrimine positi) edificia […] (Wittwer: Catalogus [wie Anm. 38], S. 289f.); vgl. Franz Bischoff: Burkhard Engelberg: „Der vilkunstreiche Architector und der Statt Augspurg Wercke Meister“. Burkhard Engelberg und die süddeutsche Architektur um 1500. Anmerkungen zur sozialen Stellung und Arbeitsweise spätgotischer Steinmetzen und Werkmeister. Augsburg 1999 (Schwäbische Geschichtsquellen und Forschungen 18). Acta sunt hec de istis duobus sanctis episcopis [i. e. Nidker und Simpert] anno Domini 1489, feria secunda ante festum Annuncciacionis Marie (Wittwer: Catalogus [wie Anm. 38], S. 348). Spätere Historiker der Abtei – u. a. Karl Stengel: Commentarius rerum Augustan[ae] Vindelic[orum] ab urbe condita ad nostra usque tempora. Ingolstadt 1647; Placidus Braun: Geschichte der Bischöfe von Augsburg. Bd. 3. Augsburg 1814, S. 115 – stützen sich auf den anonymen Bericht von 1491, abgedruckt bei Pez: Thesaurus (wie Anm. 18), Bd. 2, Teil 3, S. 432 und nahmen als Datum für die Auffindung 1491 an, das seitdem regelmäßig dafür angegebene Jahr; richtiggestellt bei Rummel: Verehrungsgeschichte (wie Anm. 128), S. 31.

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milians feierlich beigesetzt. 231 Den Reliquien gab man einen ausführlichen Mirakelbericht bei, den der Schriftkünstler Leonhard Wagner aus St. Ulrich und Afra dafür geschrieben hatte. 232 Wohl zu diesem Anlass wurde die ebenfalls von Leonhard Wagner geschriebene Handschrift mit der Vita des Heiligen angefertigt, die Kaiser Maximilian als Geschenk erhalten sollte. 233 Bei der Beisetzung der Reliquien wurde das Haupt nicht mit den übrigen Skelettresten bestattet, sondern in eine silberne Reliquienbüste von Jörg Seld eingeschlossen. 234 Im Jahr 1496 wurde die Simpertskapelle mit ihrem Gewölbe fertiggestellt. Wittwers Aufzeichnungen spiegeln die jahrzehntelangen Bemühungen, Neubau und Kloster angemessen auszustatten. Er berichtete von den im Auftrag von Abt Heinrich Frieß angefertigten Holzrahmen mit „runden“ Scheiben (circulis vitreis; Butzenscheiben?), in die verschiedene figürliche Darstellungen (Englischer Gruß, Ulrich und Afra u. a.) eingesetzt wurden, 235 aber auch von Aufträgen an verschiedene Künstler unter den beiden nachfolgenden Äbten, die beide in großem Umfang Altarretabel, Altargerät und Reliquienbehältnisse anschafften. Wittwers Text bezeugt Aufträge an den Bildhauer Michel Erhart für ein (verlorenes) steinernes Kruzifix, für die erhaltene Marienfigur und für ein großes hölzernes Kruzifix, zu dessen Anschaffung der damalige Prior Konrad Mörlin die Zechpfleger der Pfarrei geradezu mit einer Kriegslist gewinnen konnte.236 Als Künstler häufig genannt sind Gumpolt Giltlinger (gestorben 1522), der zusammen mit Hans Holbein d. Ä. zahlreiche Glasgemälde ausführte und von St. Ulrich immer wieder Aufträge für Retabel erhielt. 237 Holbein selbst ––––––––– 231 232

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S. oben S. 370. Bei der Öffnung des Schreins von 1492 im Jahr 1977 wurde der Mirakelbericht darin gefunden: Hilda Thumerer: Der Reliquienschrein des heiligen Simpert. In: Jahrbuch des Vereins für Augsburger Bistumsgeschichte 12 (1978), S. 151–159, bes. S. 158 und Abb. 47. München, Bayerische Staatsbibliothek, clm 30044: Otto Pächt: Vita Sancti Simperti. Eine Handschrift für Maximilian I. Berlin 1964; zur Urheberschaft der beiden Bilder der Handschrift auch: Krause: Hans Holbein der Ältere (wie Anm. 153), S. 76–79; ferner: Ulrich Merkl: Buchmalerei in Bayern in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts. Spätblüte und Endzeit einer Gattung. Regensburg 1999, S. 33 (Nr. 17). Witter: Catalogus (wie Anm. 38), S. 359–363; Augustyn: Inventar (wie Anm. 93), S. 192, Anm. 103. Die besondere Verbundenheit Kaiser Maximilians mit der Abtei gründete in der Überzeugung des Kaisers, mit dem hl. Ulrich verwandt zu sein, der aus der Familie der Grafen von Dillingen und Kyburg stammte und dessen Geschlecht zu den Vorfahren des Kaisers mütterlicherseits gezählt wurde (zu den genealogischen Interessen des Kaisers im Dienst dynastischer Repräsentation: Jan-Dirk Müller: Gedechtnus [wie Anm. 22]; zu den historischen Voraussetzungen: Marie-Louise Heckmann: Die Ulrichstradition der Dillinger und Kyburger. In: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 59 [1996], S. 807–834). Wittwer: Catalogus (wie Anm. 38), S. 310; vgl. dazu Elgin Vaassen: Ulrichsdarstellungen in der Glasmalerei vom 15.–20. Jahrhundert. In: Jahrbuch des Vereins für Augsburger Bistumsgeschichte 26/27 (1993), S. 671–695, hier 674f. Wittwer: Catalogus (wie Anm. 38), S. 392f.; vgl. Anja Broschek: Michel Erhart. Ein Beitrag zur schwäbischen Plastik der Spätgotik. Berlin, New York 1973 (Beiträge zur Kunstgeschichte 8), S. 30 und 207f. (Nr. XVI). Vgl. R[ichard] Hoffmann: Der Maler Gumpolt Gültlinger. In: Zeitschrift des Historischen Vereins für Schwaben und Neuburg 1 (1874), S. 115–122 (dort ist erstmals der wittwersche Text dazu ausgewertet); Grete Ring: Giltlinger, Gumpolt. In: Allgemeines Lexikon der bildenden Künstler von der Antike bis zur Gegenwart. Begründet von Ulrich Thieme

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war im Kloster seit 1492 bekannt und hatte noch um 1510 immer wieder Kontakt zu den Mitgliedern des Konvents, was die Porträtzeichnungen aus seinen Skizzenbüchern und die „Verwendung“ des Gesichts von Leonhard Wagner auf einer der Tafeln des Retabels aus dem Katharinenkloster von 1512 belegen.238 Wittwer berichtete mehrmals von den Arbeiten, die Giltlinger seit 1493 für die Abtei ausführte, so über ein Retabel in der auf Kosten der Fugger erbauten Dionysiuskapelle, an dem auch Michel Erhart beteiligt war, 239 und im selben Jahr ein Retabel für die Marienkapelle als Stiftung der Familie Stammler.240 Im Jahr 1495 malte Giltlinger an die Westwand des Refektoriums das Weichbild der Stadt Jerusalem und andere Orte des Heiligen Landes, an denen Christus mit seinen Jüngern wandelte.241 Wittwer stiftete dafür einen halben Gulden, den er als zweckgebundene Spende erhalten hatte, und erwirkte vom damaligen Prior Konrad Mörlin, der von verschiedenen Personen Geld dafür erbettelte, dass aufgrund dieser Stiftung in das Bild auch ein junger Bauer mit Holzschuhen gemalt wurde: Das sei Wittwers Bruder gewesen, von dem man lange und trostreiche Geschichten erzählen könne.242 Im Jahr darauf wurde in der dem hl. Johannes dem Täufer und Johannes dem Evangelisten geweihten Abtskapelle über der Simpertskapelle ein Retabel aufgestellt, das Wittwer ausführlich beschrieb: In der Mitte sehe man die Mutter Gottes im Licht der Sonne, flankiert auf beiden Seiten von einem Engel, unterhalb das kleine Bildwerk des hl. Hieronymus, den Abt Konrad Mörlin wegen seiner Verehrung dieses Heiligen hinzufügen habe lassen, im unteren Teil innen die Darstellungen Johannes des Täufers mit dem Lamm und des Evangelisten Johannes mit dem Kelch. Auf den Flügelinnenseiten der Tafel seien Darstellungen der hll. Petrus und Paulus, Andreas und Simpert gemalt. Außen im oberen –––––––––

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und Felix Becker […]. Bd. 14. Leipzig 1921, S. 53–55; Christian Beutler und Gunther Thiem: Hans Holbein d. Ä. Die spätgotische Altar- und Glasmalerei. Augsburg 1960 (Abhandlungen zur Geschichte der Stadt Augsburg 13), S. 163–169; Tilman Falk: Notizen zur Augsburger Malerwerkstatt des Älteren Holbein. In: Zeitschrift des Deutschen Vereins für Kunstwissenschaft 30 (1976), S. 1–20, hier S. 4–11; Krause: Hans Holbein der Ältere (wie Anm. 153), S. 32, 39, 115–117, 167, 188, 192, 222, 228, 231, 325 und 360, Anm. 8 sowie S. 369, Anm. 165. Zu Holbeins Zeichnungen s. Anm. 153; zum Retabel für das Katharinenkloster (Augsburg, Staatsgalerie): Krause: Hans Holbein der Ältere (wie Anm. 153), S. 237–241, Abb. 156. Wittwer: Catalogus (wie Anm. 38), S. 342; Broschek: Michel Erhart (wie Anm. 236), S. 27 und 206f. (Nr. VIII–X). Wittwer: Catalogus (wie Anm. 38), S. 34. Ebd., S. 388. […] civitas sancta Iherusalem cum alijs sanctis locis terre sancte in refectorio in pariete versus occidentem […]. Insuper mendicavit hinc inde a diversis personis peccuniam, ut solveret pictorem scilicet Gunpoldum Giltlingen a latere etc., de quorum numero ego fr. Wilhelmus Wittwer vnus fui, quia restitui eidem Priori medium florenum, quem michi obtulit dominus Vdalricus Schmid decanus in Höchsteten cum licentia superiorum meorum sub illa condicione, ut cum voluntate superiorum meorum potuissem michi aliquam ymaginem comparare ad cellam remota proprietate, sed ad usum incertum. Et sic pecij a patre Priore Conrado Mörlin, vt depingeret vnum rusticum juvenem euntem super collopides, quod et factum est. Et idem fuit frater meus, de quo esset dicenda longa et solaciosa hystoria (ebd., S. 393).

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Teil der Tafel gebe es folgende Bilder: Misericordia Domini, die hl. Afra, Ulrich, Benedikt und Scholastika, auf den äußeren Flügeln seien die hll. Katharina, Barbara, Margarete und Dorothea dargestellt. In der Predella sei das Bild des Antlitzes unseres Herrn Jesus Christus gemalt, gemeinhin das Bild der Veronika genannt, mit zwei Engeln auf der linken und rechten Seite, außerdem rechts außen das Bild des Abtes und auf der linken Seite dessen Wappen.243 Als achtsamer Cellerar verzichtete er nicht auf den Hinweis, dass das Bild von Abt Johannes von Giltlingen und dessen Wappen nur aus Respekt auf der Tafel angebracht worden seien, weil dieser das Retabel zwar bestellt, aber es zu bezahlen seinem Nachfolger überlassen habe, der 100 Gulden dafür aufwenden musste.244 Da Wittwers Aufzeichnungen nicht übers Jahr 1497 hinausreichen, erfährt der Leser nur noch von einem Werk Giltlingers, dem in diesem Jahr vollendeten Retabel der Simpertskapelle, für dessen Gemälde Giltlinger 230 Gulden, der Bildhauer Adam (wohl eine Verschreibung für Adolph, den Bildhauer Adolph Daucher) aber 70 Gulden erhielt.245 Aus diesem Grund gibt es auch keine Aufzeichnungen Wittwers zur Aufstellung des Retabels für den Frühmessaltar, für das Adolf Daucher 1493 vertraglich verpflichtet wurde und für das er nach der Aufstellung 1498 350 fl. erhielt.246 Mittelfigur des Retabels war wohl die in St. Ulrich erhaltene Figur der Muttergottes von Gregor Erhart. 247 ––––––––– 243

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Sunt autem hec ymagines in eadem tabula: ymago beatae Virginis in sole habens in utroque latere vnum angelum, sub pedibus ejus parva ymago S. Jeronimi, quam d[omi]n[u]s Conradus Mörlin abb[as] ob dileccionem et reuerenciam s[ancti] Jeronimi addidit et jussit fieri; deinde in interiori parte et inferiori ymagines ss. Johannis Bap[tis]te cum agno et Johannis Ew[an]g[elis]te et ap[osto]li cum calice. In alis interioribus ejusdem tabule depicte sunt ymagines ss. Petri et Pauli app., Andree et Simperti. In exteriori et superiori parte tabule sunt hee ymagines: Misericordia Domini, Affre, Vdalrici, Benedicti, Scolastice, Sed in aliis exterioribus sunt hee ymagines: ss. Katharine, Barbare, Margarethe, Dorothee. In medio pedis tabule est depicta ymago faciei Domini nostri Jhesu Christi Salvatoris que communiter nominatur ymago Veronice, cum duobus angelis a dextris et sinistris; deinde ymago abbatis in dextro latere et in sinistro latere arma ejus, sed injuste et non suis meritis, sed ex gracia, quia non solvit eandem tabulam neque in minimo, sed reliquit debitum successori suo […] (Wittwer: Catalogus [wie Anm. 38], S. 431). Placidus Braun bezeugt in seiner 1817 erschienenen Geschichte des Klosters noch das Vorhandensein der Flügel mit den hll. Petrus, Paulus, Andreas und Simpert (Innenseiten) sowie der weiblichen Heiligen: Braun: Geschichte (wie Anm. 36), S. 37; Ring: Giltlinger (wie Anm. 237), S. 53–55. Falk: Notizen (wie Anm. 237), S. 4–11 identifizierte die in St. Ulrich und Afra erhaltenen, im 16. Jahrhundert stark übergangenen Flügel als Reste dieses Retabels. Wittwer: Catalogus (wie Anm. 38), S. 434. Wittwers Mitbruder Clemens Sender (vgl. Anm. 30) berichtete darüber in seiner Chronik; Sender: Augsburger Chronik (wie Anm. 30), S. 69; vgl. zu archivalischen Nachrichten dazu auch Krause: Hans Holbein der Ältere (wie Anm. 153), S. 361, Anm. 11. Vgl. Gertrud Otto: Gregor Erhart. Berlin 1943, S. 34f. und 87, Abb. 52; Broschek: Michel Erhart (wie Anm. 236); Ausstellungskatalog Hans Holbein und die Kunst der Spätgotik. Augsburg 1965, S. 185f., Nr. 257 (Alfred Schädler); Wolfgang Deutsch: Michel Erhart und sein Verhältnis zu Gregor Erhart und Syrlin dem Älteren. Schwäbisch Hall 1969 (masch.), S. 46–48; Ulrich Söding: Von der Spätgotik zur Renaissance. Meisterwerke der Skulptur in Ulm und Augsburg nach 1494. In: Kunst und Humanismus. Festschrift für Gosbert Schüß-

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Zu den für die Abtei tätigen Künstlern zählte auch Jörg Seld (1454–1527), seit 1478 Augsburger Bürger und Goldschmiedemeister, der auch mit Schmucksteinen handelte. Jörg Seld genoss das Vertrauen von Abt und Mönchen, war einer der wichtigsten Gutachter und Ratgeber, ihm vertraute der Abt das klösterliche Bruchsilber an, damit er daraus Trinkgeschirre anfertige, Seld besorgte die Steine für eine Mitra preciosa, begutachtete den Wert der clenodija und kümmerte sich um die alten Schätze des Klosters, z. B. den Ulrichskelch aus dem 10. Jahrhundert, reparierte und fasste diese auch neu. 248 Der bekannteste Schatz der Ulrichskirche, mit dem der Name des hl. Ulrich verbunden ist, war und ist das Ulrichskreuz, das der Bistumspatron der Legende nach während der Schlacht auf dem Lechfeld von einem Engel vom Himmel her gereicht bekam und das Vorbild der bis heute als Wallfahrtsandenken verbreiteten kleinen Ulrichskreuze ist. 249 Die lateinische Inschrift teilt mit, es sei dies das siegreiche Kreuz des hl. Ulrich, Bischofs von Augsburg. Abt Johannes von Giltlingen ließ 1494 durch Seld um dieses Kreuz ein größeres kreuzförmiges Gehäuse anfertigen, das auf der Vorderseite mit reichem Edelsteinbesatz geschmückt ist und auf der Rückseite eine gravierte Darstellung der Lechfeldschlacht zeigt, am unteren Ende des Längsbalkens die beiden Wappenschilde der Abtei (angebliche Wappen des hl. Ulrich und der hl. Afra) und in der Mitte das persönliche Wappen des Abtes.250 Bekannt ist, dass Seld auch eine später verloren gegangene Kette für dieses Kreuz lieferte, das auch als Brustkreuz getragen werden konnte und bei feierlichen Anlässen offenbar bis ins 17. Jahrhundert so verwendet wurde.251 Seld besserte 1495 auf Veranlassung des Custos Petrus Wagner auch Schäden an den mittelalterlichen Stücken des Schatzes aus, z. B. am Abtsstab des seligen Egino mit einer emaillierten Krümme, entstanden im frühen 13. Jahrhundert in Limoges. 252 In Mörlins Amtszeit brechen die Aufzeichnungen Wittwers im Jahr 1497 aus unbekannten Gründen ab. In diesem Jahr gab der Abt Hängeleuchter über dem Afragrab in Auftrag und fragte beim Konvent an, ob es Einwendungen dagegen gebe, dass er ein Grabmal für sich in Auftrag gebe (das dann ausgeführte, aus dem Kapitelsaal, von einem Bildhauer der Erhartwerkstatt, möglicherweise nach Holbeins Entwurf, 253 befindet sich heute im Maximilianmuseum). Der Abt ließ außerdem im Kapitelsaal einen ––––––––– 248 249 250 251 252

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ler. Hg. von Wolfgang Augustyn und Eckhard Leuschner. Passau 2007, S. 105–132, hier S. 110. Vgl. Augustyn: Ulrichskreuz und Ulrichskreuze (wie Anm. 25), S. 277f. Vgl. ebd., S. 307–315. Ebd., S. 276. Ebd., S. 300f. Vgl. Augustyn: Inventar (wie Anm. 93), S. 165–231, hier S. 188; Heiltumskammer (wie Anm. 46), S. 58f.; Wittwer beschrieb diesen Stab ausführlich – Catalogus (wie Anm. 38), S. 385 –, ordnete ihn jedoch dem ersten Abt Reginbald zu. Seit wann man den Limosiner Stab mit dem Namen des 13. Abts von St. Ulrich, Egino (1109–1122), verband und den nach Wittwers Zeugnis (Catalogus [wie Anm. 38], S. 373) 1494 restaurierten elfenbeinernen Stab (Heiltumskammer [wie Anm. 46], S. 56f.) mit dem Namen des Reginbald, ist nicht bekannt (ebd., S. 56). Vgl. Krause: Hans Holbein der Ältere (wie Anm. 153), S. 117.

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neuen Altar errichteten, den Fußboden erneuern und die Tür zur Bibliothek und schaffte – wie in seiner ganzen Amtszeit – für neue Reliquien kostbare Ostensorien oder Behältnisse und Kleinodien an.254 Am Ende des Mittelalters war in der neuen Klosterkirche damit ein großer Reliquienschatz zusammengekommen, den man – wie andernorts auch – 255 in einem illustrierten Verzeichnis veröffentlichte und – wie für 1466 bezeugt – 256 in einer Heiltumsweisung öffentlich zeigte. Auf einer großen, aus vier Holzschnitten aus der Zeit um 1500 zusammengesetzten, querformatigen Tafel sind die wichtigsten Reliquien des Klosters – das gros hochwirdig und namhaftig hailtum257 – in ihren oft kostbaren Behältnissen wiedergegeben und mit kurzen Beschreibungen versehen (die wohl auch den kurzen kommentierenden Angaben entsprechen, mit denen man sie bei der Heiltumsweisung den anwesenden Gläubigen zeigte). Dem Betrachter wird eine große Anzahl von Schreinen und Schaugefäßen aller Art geboten, jedoch auch eine Fülle von Reliquienstatuetten, Reliquientafeln (sog. Plenaren), Büsten-, Arm- und Fingerreliquiaren sowie Reliquienkreuzen, deren hohen künstlerischen Gestaltungsaufwand man – trotz der vereinfachenden Wiedergabe im Holzschnitt –immer noch ahnen kann. Vieles davon und nicht zuletzt die dafür aufgewendeten Mittel erfährt man allein aus Wittwers Text. Offenbar empfand man im Konvent den dafür notwendigen Aufwand nicht als Widerspruch, sondern vielleicht sogar als gewissen Ausgleich für die von der monastischen Reform streng eingeforderte persönliche Besitzlosigkeit der Mönche. Diese Ausgaben, über die Wittwer als Custos und Cellerar genaue Kenntnis hatte, führten notwendigerweise zu großen finanziellen Belastungen: Abt Johannes von Giltlingen hinterließ bei seinem Tod 300 fl. Bargeld gegenüber 3000 fl. Schulden.258 Sein Nachfolger als Abt, Konrad Mörlin (1496–1510) vermehrte den Kirchenschatz des Klosters, dessen Wert Wittwer bei Mörlins Amtsantritt auf 100 Silbertaler schätzte, 259 nach Kräften und begründete diese prunkvolle Ausstattung, dies alles sei nicht zu seinem Vergnügen und leeren Ruhms wegen angeschafft, sondern zum Lobe Gottes, zur Erinnerung an die Leiden Christi, zum Nutzen der Abtei und ihrer Patrone, zum Vorteil der Frömmigkeit und zum ––––––––– 254 255

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Wittwer: Catalogus (wie Anm. 38), S. 415–417 und 436f. (Altar im Kapitelsaal). Vgl. als ein Beispiel für viele das gedruckte Verzeichnis aus Bamberg: Die weysung vnnd aussruffung des Hochwirdigen heylthumbs zu Bamberg. Nach de[m] rechten waren heilthumb abgezeychnet. [Bamberg] 1509; vgl. dazu auch Walter Tunk: Der Bamberger Domschatz in den Darstellungen eines Prachtkodex der Dürerzeit. In: Monumentum Bambergense. Festgabe für Benedikt Kraft. Hg. in Verbindung mit Gerhard Eis, Hans Pfeil und Fritz Sauter von Hermann Nottarp. München 1955 (Bamberger Abhandlungen und Forschungen 3), S. 430–438; vgl. allgemein auch Falk Eisermann: Heiltumsbücher. In: 2VL. Bd. 11, 2. Berlin, New York 2001, Sp. 604–609; ders.: Die Heiltumsbücher des späten Mittelalters als Medien symbolischer und pragmatischer Kommunikation. In: The Mediation of Symbol in Late Medieval and Early Modern Times/Medien der Symbolik in Spätmittelalter und Früher Neuzeit. Hg. von Rudolf Suntrup, Jan R. Veenstra und Anne Bollmann. Frankfurt a. M. u. a. 2005, S. 37–56. Heiltumskammer (wie Anm. 46), S. 13. Ebd., S. 16f. Wittwer: Catalogus (wie Anm. 38), S. 395. Ebd., S. 411.

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Ruhm der Observanz erforderlich. 260 Die Ausgaben für Altargerät und Kleinodien vermehrten die Schuldenlast des Klosters, die 1506 bereits 7000 fl. Betrug, beim Tod Abt Konrad Mörlins 1510 mit 14 000 fl. sogar das Doppelte. Wittwer konnte – mindestens, als er in den späten neunziger Jahren an seinem Catalogus schrieb – den Aufwand, den er bei Johannes von Giltlingen kritisiert hatte, bei Konrad Mörlin noch gutheißen, wenn er konstatierte, es sei eine Freude für alle Brüder gewesen, diese Kleinodien zu betrachten.261 Wie er später als Prior in den Jahren von 1502 bis 1506 das immer maßlosere Finanzgebaren des Abtes beurteilte und miterleben musste, wie die Schuldenlast immer drückender wurde, wie die Sorge über das Wirtschaften des Abtes im Konvent sich zu Streitigkeiten auswuchs und zu immer stärkerer Regulierung und Kontrolle durch Bischof und Visitatoren führte,262 mochte Wittwer seinen 1497 abbrechenden Aufzeichnungen offenbar nicht mehr anvertrauen.

8.

Zum Buchwesen in St. Ulrich und Afra: Wittwer als Zeitzeuge (III)

Wittwer lobte selbst jene Äbte, deren Amtsführung er kritisierte, wenn diese sich um die Vermehrung des Bücherbesitzes verdient gemacht hatten. Erst recht galt dies für den Zeitraum, den er als Zeitzeuge kommentierte. Nach der Durchsetzung der Reform, mit dem Amtsantritt Abt Melchiors von Stamheim, und unter dessen Nachfolgern mussten in St. Ulrich und Afra die liturgischen Handschriften erneuert werden, da die Anpassung der Texte an die Vorgaben der Consuetudines von Melk Vereinheitlichung erforderte. Aus diesem Grund belebte man auch andernorts die Skriptorien und sorgte für neue, repräsentative Chorhandschriften. In der Regel betraf diese Tätigkeit das Schreiben und Illuminieren, während man die aufwendige Gestaltung mit Bildern oft weltlichen Buchmalern überließ. In St. Ulrich und Afra hatte man 1458 mit der Anfertigung neuer Handschriften für die Liturgie begonnen, womit die beiden Konventualen Heinrich Pittinger und Johannes Lanificis (Lutifigulus), der auch ein guter Cantor gewesen sein soll, beauftragt wurden; hinzu kamen ein Weltpriester und der gehbehinderte Johannes Knus (der krum Johannes), zeitweilig auch Pförtner des Klosters. 263 Im Auftrag der Abtei schrieben und illuminierten auch ––––––––– 260

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[…] cogitavit apud se, quod talia tantum essent pro persona sua et quasi pro delectacione et vana gloria, proposuit vt fieret clinodium preciosum ad laudem Dei et ob memoriam passionis Christi, vtilitatem sacrastie hujus cenobij sanctae Affre martyris et patrone nostre, necnon honorem sui et successorem ejus, ut sequerentur vestigia ipsius et antecessorum eorum in hijs, que sint vtilitatis et honestatis ac religiositatis nostre observancie (ebd., S. 415). Ebd., S. 412. Vgl. dazu Liebhart: Reichsabtei (wie Anm. 13), S. 157f.; Proksch: Klosterreform (wie Anm. 7), S. 152f. […] Cunctos autem libros chori in anthiphonarijs (!) de tempore et sanctis utroque tempore, gradale ac missalibus, pharatris et ceteris libris scilicet processionalibus grauibus expensis idem venerabilis pater et abbas Melchior conparauit ac renouabit iuxta cho-

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der Laie Heinrich Molitor264 und ein weiteres Konventsmitglied, der weithin bekannte Schreibkünstler Leonhard Wagner (1454–1522),265 der im Auftrag des Abts Johannes von Giltlingen seit dem Ende der achtziger Jahre mehrere Chorhandschriften für die Abtei anfertigte. Wittwer berichtete außerdem, der Prior habe nachdrücklich ein neues graduale pro choro gewünscht, damit auf jeder Seite des Chorgestühls gesungen werden könnte und die Patres nicht aus den Stallen des Chorgestühls ans Chorpult gehen müssten wie die (am Gesang in der Liturgie beteiligten) Schüler. Der Abt habe diesem Anliegen zugestimmt und das Pergament beschaffen lassen, die Arbeit daran übernahm freiwillig frater nomine Leonhardus proprio sed cognomine Wagner de Schwabmenchingen oriundus. Wittwer resümierte knapp, aber voller Anerkennung, dieser habe dieses Graduale geschrieben und mit Noten versehen mit aller Sorgfalt, zu der er fähig war, prächtig in Schrift und Noten. 266 Wagner war als Schriftkünstler –––––––––

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rum monasterij Mellicensis […] iussit scribere eosdem libros saltim aliquos precipue per manus duorum patrum conuentualium, videlicet patrem Hainricum Pittinger et patrem Johannem Lanificis alias Lutifigulus, qui bonus et optimus cantor fuit. Ideo ab abbate Melchior sibi injunctum fuit, ut scriberet ac notaret per se gradale pro choro, quod et fecit omni diligencia qua potuit, sicut et fecit in antiphonarijs. Quidam eciam sacerdos secularis scripsit aliquos et notauit. Similiter famulus noster dictus Johannes Knus, qui longo tempore fuit in monasterio, scripsit duo missalia pro choro siue officio publico, eo quia pro tunc non potuit ambulare propter debilitate pedum et usque ad finem vite sue claudicauit et vocabatur der krum Johannes. Eciam fuit tempore predicti abbatis portenarius […] Obijt autem idem famulus noster Johannes Knus anno Domini 1493. Predicti autem libri scripti sunt et conpleti per predictos anno Domini 1459 (Wittwer: Catalogus [wie Anm. 38], S. 213f.). Pittinger schrieb u. a. ein 1460 vollendetes Processionale (München, Bayerische Staatsbibliothek, clm 4325): Bühler: Schriftsteller (wie Anm. 27), S. 51f. Zu Molitor: Eberhard König: Möglichkeiten kunstgeschichtlicher Beiträge zur GutenbergForschung: Die 42-zeilige Bibel in Cologny, Heinrich Molitor und der Einfluß der Klosterreform um 1450. In: Gutenberg-Jahrbuch 59 (1984), S. 83–102; ders: Augsburger Buchkunst an der Schwelle zur Frühdruckzeit. In: Augsburger Buchdruck und Verlagswesen. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Hg. von Helmut Gier und Johannes Janota. Wiesbaden 1997, S. 173–200, hier S. 184–191 zu Molitor als Schreiber und als Illuminator von Handschriften und Inkunabeln. Zu Leonhard Wagner vgl. sein eigenhändiges (unvollständiges) Werkverzeichnis und autobiographische Notizen in der Handschrift seiner Notata (Augsburg, Staats- und Stadtbibliothek, 4° cod. 149, hier fol. 310v–312r): Die Handschriften der Staats- und Stadtbibliothek Augsburg. Bd. 6. Beschrieben von Wolf Gehrt. Wiesbaden 1999, S. 194–225, hier 216; zu Wagner ferner Carl Wehmer: Ne Italo cedere videamur. Augsburger Buchdrucker und Schreiber um 1500. In: Augusta 955–1555 (wie Anm. 22), S. 145–178; ders.: Leonhard Wagners Proba centum scripturarum. Begleittext zur Faksimileausgabe. Leipzig 1965; Walther Pötzl: Der Kalligraph Leonhard Wagner. In: Jahresbericht des Heimatvereins für den Landkreis Augsburg. Augsburg 1973, S. 106–133; Merkl: Buchmalerei in Bayern (wie Anm. 233), S. 123f.; vgl. hier Anm. 79, 153, 232, 238, 270, 273, 279, 284 und 290. […] Eodem anno scilicet 1490 idem dominus abbas Johannes instigante ac petente Priore […] annuit ejusdem Prioris peticioni […] ut scriberetur et notaretur pro choro Gradale et sic deinceps per choros cantaretur, ne patres gravarentur currere ad pulpitum ut scolares. Habito consensu d[omi]ni abbatis ac ordinato pergameno quidam frater nomine Leonhardus proprio sed cognomine Wagner de Schwabmenchigen oriundus […] sponte et gaudenter se obtulit ad scribendum et notandum illum librum ex obediencia et ob honorem Dei et patronorum nostrorum in hoc loco quiescencium. Deinde incepit, scripsit ac notavit illud

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bald so bekannt, dass er auf Einladung anderer Klöster für längere Zeit dort lehrte, wie man schreibt, von 1500 bis 1503 in Irsee, in den Jahren von 1508 bis 1511 in Zwiefalten, Marienberg Salem, St. Gallen, Zürich und auf der Reichenau,267 wo der aus St. Ulrich stammende Sigismund Lang die Reform des Konvents betrieb.268 Ein anderer Mönch der Abtei, Johannes Frank, den Wittwer, als er seinen Tod notierte, als „guten Mann und hervorragenden Illuminator“ charakterisierte, 269 versah bis zu seinem Tod 1472 ebenfalls zahlreiche Bücher mit entsprechendem Schmuck. Wittwers Bemerkungen zu Leonhard Wagner, Johannes Frank und anderen belegen, dass man auch im Skriptorium von St. Ulrich durchaus die bei der Anfertigung und Ausstattung von Handschriften erforderlichen Tätigkeiten unterschied.270 Gerade aus dem letzten Jahrzehnt des 15. Jahrhunderts und aus dem ersten des folgenden ist noch eine Reihe von Mönchen des Konvents als Schreiber von Handschriften nachweisbar, über die –––––––––

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gradale omni diligencia qua potuit in preciosa litera et nota; quod et inchoavit 1489 et finivit illud 1490 feria tercia post dominicam Palmarum illius anni (Wittwer: Catalogus [wie Anm. 38], S. 353: zitiert bei Wilhelm Wattenbach: Das Schriftwesen im Mittelalter. 3. Aufl. Leipzig 1896 [Nachdruck Graz 1958], S. 451). Leonhard Wagner signierte sein Werk auf fol. 294r: Explicit Graduale per fratrem Leonhardum Wirstlin alias Wagner […] 1490. Feria tertia post Benedicti. Zur Handschrift in Augsburg, Diözesanmuseum, St. Afra (ehem. DM I, 11: Antiphonarius Missae cum cantu chorali): Kraft: Handschriften (wie Anm. 33), S. 83 (Nr. 22), mit Angaben zur älteren Literatur; Merkl: Buchmalerei in Bayern (wie Anm. 233), S. 32 (Nr. 1), mit der älteren Literatur. Vgl. Schmidt: Reichenau und St. Gallen (wie Anm. 2), S. 152–177; König: Möglichkeiten (wie Anm. 264), S. 98–102; Paul Väth: Die spätmittelalterlichen Handschriften aus dem Kloster Salem. Frankfurt a. M. u. a. 1993 (Europäische Hochschulschriften. Reihe 28, 178), S. 67. Sigismund Lang aus Schrobenhausen war nach dem Studium in Ingolstadt und wohl auch der Priesterweihe zunächst Gehilfe von Johann Molitor, dem Pfarrer von St. Moritz, und trat 1480 in St. Ulrich und Afra ein, wo er 1481 Profess ablegte. Er war längere Zeit Kustos, 1498 auch Prior. Zwischen 1508 und 1516 war er auf Anordnung des Kaisers Oberer einer Gruppe mehrerer Mönche aus St. Ulrich und Afra, die das klösterliche Leben in der Abtei Reichenau wiederherstellen und neu beleben sollten. Er konnte zwar die Existenz des Klosters bewahren, doch war dem Reformversuch kein dauerhafter Erfolg beschieden. Im Jahr 1525 starb Sigismund Lang in seinem Heimatkloster: Schmidt: Reichenau und St. Gallen (wie Anm. 2), S. 93–99. Lang schrieb auf der Reichenau zahlreiche spätantike und frühmittelalterliche Texte ab, die er in der dortigen Bibliothek fand. In einigen Fällen sind heute diese Abschriften die einzigen Zeugen der Überlieferung, da die Vorlagen verloren sind. Vgl. Schmidt: Reichenau und St. Gallen (wie Anm. 2), S. 101–151; Günter Hägele: Honorius Augustodunensis, Johannes Molitoris und Sigismund Lang: Ein Nachtrag zu Hartmut Hoffmann, Handschriftenfunde X: Honorius Augustodunensis und Johannes Eck. In: Deutsches Archiv zur Erforschung des Mittelalters 57 (2001), S. 171–177. […] obijt sub eodem abbate pater Johannes Franck, vir bonus et optimus illuminista, qui suis manibus, illuminauit libros chori et alios plurimos in conventu qui migravit ab hoc seculo die sanctae Potenciane virginis, id est 14. kalendis Junij, et fuit tercia infra octavam Penthecosten anno gracie 1472 (Wittwer: Catalogus [wie Anm. 38], S. 265, mit Druckfehler 1492 statt 1472); vgl. König: Augsburger Buchkunst (wie Anm. 264), S. 192–195. Vgl. ebd., S. 353 (zu Leonhard Wagner), S. 214 (zu Johannes Frank); ferner dazu: Herrad Spilling: Schreibkünste des späten Mittelalters. In: Codices manuscripti 4 (1978), S. 97– 119, hier S. 100.

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sich oft auch bei Wittwer Nachrichten finden, so u. a. Johannes Griesherr, Leonhard Weinlein oder Erasmus Huber. 271 Einige der Mönche von St. Ulrich und Afra waren nicht nur Schreiber, sondern auch oder sogar vornehmlich als Buchmaler tätig, 272 vor allem Conrad Wagner, der bis zu seinem Tod 1496 zahlreiche Handschriften für Abt Johannes von Giltlingen mit Buchschmuck, Initialen, Miniaturen und Bordüren versah und den Wittwer als in jener Kunst geschätzt und erfahren zu rühmen wusste. 273 ––––––––– 271

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Zu Johannes Griesherr, nachgewiesen zwischen 1506 und 1520, gestorben 1521: Wittwer: Catalogus (wie Anm. 38), S. 394; Mittelalterliche Bibliothekskataloge Deutschlands und der Schweiz. Bd. 3, 1: Bistum Augsburg. Bearb. von Paul Ruf. München 1932, S. 46; zu Griesherr auch hier Anm. 153; zu Leonhard Weinlein, nachweisbar zwischen 1445 und 1521: Wittwer: Catalogus (wie Anm. 38), S. 369; zu von Weinlein geschriebenen Handschriften (Augsburg, Staats- und Stadtbibliothek, 2° Cod. 55ab, 8° Cod. 95; München, Bayerische Staatsbibliothek, clm 19631, dat. 1494): Die Handschriften der Staats- und Stadtbibliothek Augsburg. Bd. 2. Beschr. von Herrad Spilling. Wiesbaden 1978, S. 83; Bd. 3. Wiesbaden 1984, S. 184; ferner zu einer Sammelhandschrift mit eigenen Predigten und verschiedenen geistlichen Texten, cod. III.1.81 der Universitätsbibliothek Augsburg: Die Handschriften der Universitätsbibliothek Augsburg. 2. Reihe: Deutsche Handschriften. Bd. 1. Bearb. von Karin Schneider. Wiesbaden 1988, S. 464–467. – Erasmus Huber aus Bozen, damals Diakon, war eines der beiden Mitglieder des Konvents, die Abt Konrad Mörlin mit Zustimmung und auf Vorschlag des Konvents nach Ingolstadt zum Studium entsandte, der andere war Johannes Kösinger (Kessinger), Baccalaureus der Universität Leipzig und Priester. Beide kehrten aber nach wenigen Monaten zurück: Wittwer: Catalogus (wie Anm. 38), S. 425–427. Wittwer gab dafür keine Gründe an, berichtete nur vom gescheiterten Versuch, in Ingolstadt eine gemeinsame Unterkunft für die Mönche aus verschiedenen Klöstern zu unterhalten: Die räumliche Enge sei dem Studium abträglich gewesen, die Augsburger hätten dort ausgehalten, die Tegernseer ihr knappes Haushaltsgeld vornehmlich für Wein ausgegeben. In 2° Cod. 305 der Staats- und Stadtbibliothek Augsburg, einem Sammelband mit Texten von Sallust, Cicero, Venantius Fortunatus und Horaz, ist auf fol. 153r–154r die Abschrift einer Korrespondenz erhalten, die einen weiteren Grund erahnen lässt: Es geht um Verhaltensregelungen gegenüber einem vom Schlag getroffenen Konventsmitglied, deswegen unfähig zu sprechen und von Anfällen geplagt; ein Brief stammt vom Ingolstädter Pleban Johannes Permetter an Abt und Konvent von St. Ulrich; ein weiterer Brief an den Prior Johannes Kösinger vom August 1501 lässt vermuten, dass es sich dabei um Erasmus Huber gehandelt hat (Die Handschriften der Staats- und Stadtbibliothek Augsburg. Bd. 4. Beschr. von Wolf Gehrt. Wiesbaden 1989, S. 91). Von diesem stammt ein 1506 datiertes Antiphonar mit dem Wappen Konrad Mörlins (München, Bayerische Staatsbibliothek, clm 4306): Merkl: Buchmalerei in Bayern (wie Anm. 233), S. 33 (Nr. 14). Zur Buchmalerei in St. Ulrich und Afra nach der Vorstellung einzelner Handschriften bei Hans von der Gabelentz (Zur Geschichte der oberdeutschen Miniaturmalerei im XVI. Jahrhundert. Strassburg 1899 [Studien zur deutschen Kunstgeschichte 15]) und nach dem ersten Versuch einer zusammenfassenden Darstellung durch Ernst Wilhelm Bredt (Der Handschriftenschmuck Augsburgs im XV. Jahrhundert. Strassburg 1900 [Studien zur deutschen Kunstgeschichte 25], S. 57–85): Erich Steingräber: Die kirchliche Buchmalerei Augsburgs um 1500. Augsburg 1956 (Abhandlungen zur Geschichte der Stadt Augsburg 8); König: Augsburger Buchkunst (wie Anm. 264). […] Eodem anno scilicet 1479 […] fr. Leonhardus Wagner professus hujus loci ex obediencia scripsit librum Missale pro communi sew officio publico ad summum altare s. Narcissi, et finivit eundem librum proxima die ante festum s. Kunegundis virginis et regine anno gracie 1480. Laus deo […] Et illud Missale illuminavit et corporavit preciose fr. Conradus Wagner professus hujus loci nacione de Ellingen […] Similiter alios libros

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Er schmückte das von Leonhard Wagner geschriebene, wohl zweibändige Missale, von dem nur Einzelseiten bekannt sind, die verstreut in verschiedenen Sammlungen erhalten blieben; einzelne sind datiert (1485, 1487, 1489), so dass man auf eine mehrjährige Dauer der Arbeit an dieser Handschrift schließen kann.274 Auf Conrad Wagner geht auch der Schmuck des anschließend ausgeführten, 1490 vollendeten Graduale zurück, dessen Text und Noten Leonhard Wagner geschrieben hatte275 und an dem mit einer einzigen Initiale auch ein weiteres Konventsmitglied, Stephan Degen, beteiligt war, der freilich darüber erkrankte und lange Jahre – bis zum Zeitpunkt der Abfassung des Textes 1494 – davon nicht genas.276 Der altertümliche, an die böhmische Buchmalerei unter König Wenzel der Zeit um 1400 erinnernde Stil Conrad Wagners mit dem –––––––––

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plures, scilicet Breviaria, Diurnalia ac Missale domini Johannis de Giltlingen abbatis nostri illuminavit et corporavit. Fuit enim in illa arte preciosus ac peritus (Wittwer: Catalogus [wie Anm. 38], S. 302); vgl. Steingräber: Die kirchliche Buchmalerei Augsburgs (wie Anm. 272), S. 19–21. Einzelblätter befinden sich in London, Victoria and Albert Museum, 274.2/MS 424 (ein Blatt: Rowan Watson: Illuminated Manuscripts and their makers. London 2003, S. 110f., Nr. 18); New York, Privatbesitz (ein Blatt: William S. Voelkle und Roger S. Wieck: The Bernhard H. Breslauer Collection of Manuscripts [The Pierpont Morgan Library. Ausstellungskatalog]. New York 1992, Nr. 44); ehem. amerikanischer Privatbesitz (Mark Lansburgh, Tesuque, New Mexico), dann Hamburg, Kunsthandel (ein Blatt: Jörn Günther: Mittelalterliche Handschriften und Miniaturen. Holm bei Hamburg 1994, S. 279–283); Nürnberg, Germanisches Nationalmuseum, Inv.-Nr. Mm 1–10 (zehn Blätter: James H. Marrow: Two Newly Identified Leaves from the Missal of Johannes von Giltlingen. In: Anzeiger des Germanischen Nationalmuseums [1984], S. 27–31; Merkl: Buchmalerei in Bayern [wie Anm. 233], S. 34 [Nr. 18]). Da einige der erhaltenen Blätter eine nachmittelalterliche Paginierung tragen, sind wahrscheinlich – an unbekanntem Ort – weitere acht Blätter erhalten: Günther: Mittelalterliche Handschriften (wie oben), S. 281. Wittwer erwähnte zunächst den Anteil Leonhard Wagners (siehe Anm. 266), dann den der Buchmaler Conrad Wagner und Stephan Degen: […] Illud autem gradale similiter ex obediencia et bona voluntate fr. Conradus (so Hs., fol. 232v) Wagner de Ellingen conventualis et prespiter hujus loci pulchre ac preciose illuminavit diversis picturis et ymaginibus in locis ejusdem libri convenientibus et figuris aptis ad festa Christi, b[eatae] Virginis et aliorum sanctorum per circulum anni (Wittwer: Catalogus [wie Anm. 38], S. 353). Unmittelbar an den Text über Wagner schloss Wittwer seinen kurzen Rapport über Degen an, der nach der Ausführung dieser Arbeit schlimmste Kopfschmerzen erlitt und deswegen für alle klösterlichen Arbeiten nicht mehr zu gebrauchen war, drei Jahre lang die Messe nicht mehr feiern und am Chorgebet teilnehmen konnte, sondern im Infirmarium blieb. Wittwer begründete diesen Zustand mit Überanstrengung, weil er sich geweigert habe, entgegen den Ratschlägen von Abt und Beichtvater auszuruhen: Illuminavit eciam in eodem libro vnam literam tantum fr. Stephanus Degen eciam conventualis, propter quam incidit in maximum dolorem capitis, ita ut deinceps factus fuit inutilis ad opera conventualia, quia ad tres annos non celebravit, fuit in infirmaria, non visitavit chorum etc.; et hec omnia contigerunt sibi, quia noluit acquiescere consilijs abbatis et confessoris ipsius, et sic destructus et inutilis factus est per plures annos et usque in hodiernum diem illius anni nostri temporis 1494 (Wittwer: Catalogus [wie Anm. 38], S. 353f.). Er scheint später wieder als Buchmaler tätig geworden zu sein, denn sein Mitbruder Veit Bild schrieb für ihn am 1. April 1510 einen Brief an den kaiserlichen Kaplan Johann Vogel, um diesen an sein bei einem Besuch des Kaisers im Kloster gegebenes Versprechen zu erinnern; Vogel wollte ihm eine Flüssigkeit senden, um das Gold bei Miniaturen zu fixieren (Schröder: Veit Bild [wie Anm. 16], S. 194, Nr. 25).

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üppigen, durch halbfigurige musizierende Engel und Fabelwesen belebten Rankenwerk wurde unterschiedlich beurteilt: in der älteren Forschung als Eigentümlichkeit eines konservativen Künstlers, der – im Gegensatz etwa zu den zwischen 1482 und 1496 für die Abtei tätigen fortschrittlichen Augsburger Malern und Buchmalern Georg und Leonhard Beck277 – den Anschluss an seine Zeit verpasst habe, 278 während man in der neueren Literatur darin eher eine absichtsvolle, aus der Konkurrenz mit dem Buchdruck erwachsene, repristinierende Tendenz zu repräsentativen (aufwendig kolorierten) Handschriften sehen mochte, zumal Wagner nachweislich druckgraphische Vorlagen für seine Bildkompositionen heranzog.279 Beispiele für im Kloster geschriebene, aber von weltlichen Buchmalern ausgestattete Handschriften gibt es mehrere. Wittwer berichtete, Leonhard Wagner und sein Mitarbeiter und Schüler Balthasar Kramer seien im April 1494 von der Teilnahme am Chorgebet und von allen täglichen Arbeiten befreit worden, um die zwei neuen Psalterhandschriften schreiben zu können, eine Arbeit, die in beiden Handschriften durch ausführliche Kolophonen signiert und datiert ist.280 Wittwer notierte in seinem Catalogus, der Schmuck der Handschriften sei durch einen Laien, Georg Beck, und seinen Sohn, beide Buchmaler, ausgeführt worden (möglicherweise weil Conrad Wagner verstorben war).281 Die Widmungs––––––––– 277

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Vgl. Guido Messling: Leonhard Beck als Buchmaler. Eine Untersuchung zu zwei Hauptwerken der religiösen Buchmalerei Augsburgs vom Ende des 15. Jahrhunderts. In: Münchner Jahrbuch der bildenden Kunst 3. F. 55 (2004), S. 73–114; ders.: Der Augsburger Maler und Zeichner Leonhard Beck und sein Umkreis. Studien zur Augsburger Tafelmalerei und Zeichnung des frühen 16. Jahrhunderts. Dresden 2006. Vgl. Alfred Stange: Deutsche Malerei der Gotik. Bd. 8. München 1957, S. 82. Günther: Mittelalterliche Handschriften (wie Anm. 274), S. 281; zu den Vorlagen Wagners: Marrow: Two Newly Identified Leaves (wie Anm. 274). München, Bayerische Staatsbibliothek, clm 4301: Balthasar Kramer, 11. April 1495; Augsburg, Staats- und Stadtbibliothek, 2° Cod. 49a: Leonhard Wagner, 7. April 1495. Nachdem er die beiden Kolophone zitierte hatte, erwähnte Wittwer die Ausstattung der beiden Bände: […] Et predicta duo psalteria corporavit fr. Conradus Wagner de Ellingen conventualis et bonus illuminista. Et idem fr. Conradus decoravit et illuminavit ac corporavit multos libros scilicet missalia, breviaria, diurnalia, devotionalia fratribus hujus loci, eciam gradale unum pro choro sua arte illuminavit. Et idem frater diversis artibus fuit instructus; cujus anima requiescat in pace (Wittwer: Catalogus [wie Anm. 38], S. 395); vgl. Braun: Notitia (wie Anm. 18), Bd. 3, S. 101; Wattenbach: Schriftwesen (wie Anm. 266), S. 451. Zu beiden Handschriften ausführlich Messling: Leonhard Beck als Buchmaler (wie Anm. 277). Zu Conrad Wagner ebd., S. 74–76; zur Augsburger Handschrift auch: Die Handschriften der Staats- und Stadtbibliothek Augsburg. Bd. 1: Die Musikhandschriften der Staats- und Stadtbibliothek Augsburg (einschließlich der Liturgica mit Notation). Beschrieben von Clytus Gottwald. Wiesbaden 1974, S. 2–4 (Nr. 1); Merkl: Buchmalerei in Bayern (wie Anm. 233), S. 32f. (Nr. 2 und 13), mit weiterer Literatur. Zu Balthasar Kramer, als Buchmaler nachweisbar seit 1495 bis zu seinem Tod 1502: Bühler: Schriftsteller (wie Anm. 27), S. 55f.; Mittelalterliche Bibliothekskataloge 3, 1 (wie Anm. 271), S. 45; Anschließend an den Nachruf auf Conrad Wagner (s. Anm. 279) bemerkte Wittwer zum Bildschmuck der Handschriften: […] Sed illuminatura psalteriorum facta est per quendam layicum scilicet Jeorium Beck et filium ejus, ambo illuministe (Wittwer: Catalogus [wie Anm. 38], S. 395); vgl. dazu Bredt: Handschriftenschmuck Augsburgs (wie Anm. 272),

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seite des einen, von Georg Beck mit Bildschmuck versehenen Psalters für Abt Johannes von Giltlingen mit der Darstellung des Stifters befindet sich in London.282 Zu diesen Handschriften gehört auch die berühmte, ebenfalls von Leonhard Wagner geschriebene Vita Sancti Simperti, die Abt Konrad Mörlin als Geschenk für Kaiser Maximilian bestimmt hatte, deren Bildschmuck Hans Holbein d. Ä. zugeschrieben wird, 283 oder der dreibändige Satz neuer Chorantiphonalien, die der Abt von Lorch, nachdem die Handschriften geschrieben waren, mit Noten und Buchschmuck ausstatten ließ (Stuttgart, Württembergische Landesbibliothek, cod. mus. fol. I 63–65).284 Geschrieben hatten diese Handschriften Lorcher Mönche, die wegen des gewaltigen Umfangs von Mönchen aus Elchingen und Augsburg unterstützt wurden. So schrieb Ulrich Flechsenhauer285 aus St. Ulrich und Afra den größeren Teil eines Bandes (cod. mus. fol. I 63, fol. 181v–221r), während Leonhard Wagner einen ganzen Band (cod. mus. fol. I 65) mit Noten versah; die Rubriken und Bilder trug dann 1511/12 Nikolaus Bertschi ein, der sich mit seiner Ehefrau und mit Leonhard Wagner auf einer der Buchseiten verewigte – oft zitiertes und abgebildetes Beispiel für die geradezu freundschaftliche Zusammenarbeit geistlicher und weltlicher Spezialisten in dieser Zeit. 286 Das von Sixtus Schenk, ebenfalls einem Konventualen von St. Ulrich, 1505 geschriebene Gebetbuch für Abt Konrad Mörlin wurde mit hoher Wahrscheinlichkeit von dem Augsburger Buchmaler Ulrich Taler ausgestattet. 287 Regelmäßig vermerkte Wittwer auch, dass verschiedene Mönche mit Erlaubnis des Abtes ein Buch abgeschrieben hatten oder abschrieben, oft zum persönlichen Gebrauch. Man begründete dies in den Klöstern der Reform auch mit dem geistlichen Nutzen, der im „exercitium scribendi“, in der Übung des

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S. 73–83; Steingräber: Die kirchliche Buchmalerei Augsburgs (wie Anm. 272), S. 21–27 und S. 62, Nr. 27f. London, Victoria and Albert Museum, Ms. 425: John Hathan: An Introduction to Illuminated Manuscripts. London 1983, S. 44 mit Abb. 29 (seitenverkehrt); das Blatt wurde wohl um die Mitte des 19. Jahrhunderts in der unteren Hälfte stark restauriert und teilweise übermalt: Sandra Hindman und Nina Rowe (Hgg.): Manuscript Illumination in the Modern Age. Recovery and Reconstruction. Ausstellungskatalog. Evanston 2001, S. 157 mit Abb. 82. S. oben S. 372. Merkl: Buchmalerei in Bayern (wie Anm. 233), S. 279–285 (Kat. 7); Felix Heinzer: Die Lorcher Chorbücher im Spannungsfeld von klösterlicher Reform und landesherrlichem Anspruch. In: 900 Jahre Kloster Lorch. Eine staufische Gründung vom Aufbruch zur Reform. Hg. von Felix Heinzer, Robert Kretzschmar und Peter Rückert […]. Stuttgart 2004 (Veröffentlichung der Kommission für geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg), S. 133–148. Zu Flechsenhauer, der als Buchmaler zwischen 1498 und 1511 nachweisbar ist, auch oben S. 368. Stuttgart, Württembergische Landesbibliothek, cod. mus. I fol. 65, fol. 236v: Merkl: Buchmalerei (wie Anm. 233), S. 279; zu den Lorcher Handschriften auch S. 41–48. Budapest, Bibliothek des Nationalmuseums, cod. 309: Merkl: Buchmalerei in Bayern (wie Anm. 233), S. 32 und 65f. (Nr. 40).

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Schreibens geistlicher Texte, erwartet wurde. 288 Hinzu kam, dass auf diesem Weg auch die liturgischen Änderungen und Besonderheiten, die mit der Einführung einer der monastischen Reformen verbunden waren, schneller verbreitet wurden. 289 Durch Wittwer weiß man, dass Thomas Gertzen (Gertzner) schon 1434 als Novize einen ganzen Psalter geschrieben hatte,290 zwischen Peter und Paul 1455 und dem Mauritiustag 1456 das Catholicon abschrieb (eine Handschrift, die schon zu Placidus Brauns Zeiten verloren gegangen war).291 Wittwer ––––––––– 288

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Vgl. Klaus Schreiner: Verschriftlichung als Faktor monastischer Reform. In: Pragmatische Schriftlichkeit im Mittelalter. Erscheinungsformen und Entwicklungsstufen. Hg. von Hagen Keller u. a. München 1992 (Münstersche Mittelalter-Schriften 65), S. 37–75; Felix Heinzer: „Exercitium Scribendi“. Überlegungen zur Korrelation zwischen geistlicher Reform und Schriftlichkeit im Mittelalter. In: Die Präsenz des Mittelalters in seinen Handschriften. Ergebnisse der Berliner Tagung in der Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, 6.–8. April 2000. Hg. von Hans-Joachim Schiewer und Karl Stackmann. Tübingen 2002, S. 107–129; ders.: Klosterreform und mittelalterliche Buchkultur im deutschen Südwesten. Leiden 2008 (Mittellateinische Studien und Texte 39). Aus dem 15. Jahrhundert sind mehrere für den eigenen Gebrauch von Mönchen geschriebene Handschriften erhalten. Ihre nähere liturgiewissenschaftliche Untersuchung im Hinblick auf die Consuetudines von Melk und die daraus resultierende Ausprägung des Stundengebets in St. Ulrich und Afra, wie sie etwa für Tegernsee vorliegt (Angerer: Bräuche [wie Anm. 160]) steht noch aus (zum Problem spätmittelalterlicher Breviere grundsätzlich: Angelus Häussling: Brevier. In: 2VL. Bd. 11. Berlin, New York 2004, S. 287–297, hier S. 290–292). Zu nennen ist u. a. ein Vollbrevier, das nach Weingarten und von dort in die Württembergische Landesbibliothek Stuttgart gelangte (cod. HB I 75: Die Handschriften der Württembergischen Landesbibliothek Stuttgart [wie Anm. 202], S. 126–128). Es wurde 1453 vollendet und – wie Nekrologeinträge und Angaben zu den Benutzern aus dem dritten Jahrzehnt des 16. Jahrhunderts belegen – innerhalb des Konvents noch mehrmals weitergegeben (ebd., S. 128). Wittwer: Catalogus (wie Anm. 38), S. 303; vgl. Hans Rost: Die Bibel im Mittelalter. Beiträge zur Geschichte und Bibliographie der Bibel. Augsburg 1939, S. 49; Thomas Gertzen schrieb in den dreißiger Jahren mehrere Texte ab, so auch den Regelkommentar des Bernhard von Montecassino: Graf: Ordensreform (wie Anm. 2), S. 116. Bühler (Schriftsteller [wie Anm. 27], S. 46) widersprach der älteren Meinung, Thomas Gertzen sei aus Melk mit den Brüdern Carniola nach St. Ulrich gekommen – so Khamm: Hierarchia (wie Anm. 35), S. 71. Dass Gertzen 1434 Novize war, geht auch aus einer von ihm ausgeführten Abschrift des Regelkommentars Bernhards von Montecassino hervor: Augsburg, Staats- und Stdtbibliothek, 20 Cod. 89, fol. 164v (Handschriften der Staats- und Stadtbibliothek Augsburg. Bd. 2 [wie Anm. 271], S. 144). Mehrere von ihm geschriebene Texte sind bei Braun oder in der Augsburger Staats- und Stadtbibliothek sowie in der Bayerischen Staatsbibliothek nachweisbar (z. B. clm 4373, fol. 1v–87r: Jacobus de Theramo: Belial; clm 4427, fol. 108r–116r: Formulae vitae christinae). Wohl um 1457 wurde er als Nachfolger des 1456 von einem Mönch ermordeten Abts Friedrich zum Abt von Thierhaupten postuliert, trat aber dieses Amt wohl nicht an, sonder blieb in St. Ulrich und Afra, um den dritten Teil einer „Vita Christi“ abzuschreiben: Franz Anton Veith: Bibliotheca Augustana […]. Bd. 3. Augsburg 1786, S. 125; Debler: Geschichte (wie Anm. 262), S. 15. Wittwer: Catalogus (wie Anm. 38), S. 202: […] scilicet anno domini 1455, ex mandato eius scriptus fuit noster Catholicon in pergameno per quendam devotum huius loci conventualem, patrem Thomam de Gerczen, et postea factus est abbas in Thürhaupten. Qui cepit eundem librum scribere in vigilia Petri et Pauli 1455, et finem imposuit in die sancti Mauricij 1456.

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selbst schrieb für den eigenen Gebrauch u. a. 1478 das erwähnte Brevier (Rom, Biblioteca Apostolica Vaticana, cod. Pal. lat. 517).292 Obwohl Leonhard Wagner als Kalligraph sich Gedanken über verschiedene Schriftformen gemacht hatte, was seine Sammlung von Schriften, die berühmte Proba centum scripturarum belegt,293 und obwohl er für seine Textura und Notenschrift berühmt war, schrieb er im Alltag eine gewöhnliche Bastarda, wie dies am Ende des 15. Jahrhunderts nahezu alle seine Mitbrüder – auch Wilhelm Wittwer – taten. Erst in der Handschrift der Konventualen Ulrich Mickel und Veit Bild ist eine Nähe zur humanistischen Kursive zu erkennen.294 Die Erneuerung der Schriftkultur stand keineswegs im Gegensatz zu den Anstrengungen, sich gleichermaßen auch die technische Neuerung des Buchdrucks zunutze zu machen. Man hoffte, mit den nun in hoher Stückzahl gedruckten, in ihrem Inhalt identischen Büchern die im Zug der Reform veränderten Texte für Messe und Officium in übereinstimmenden Fassungen verbreiten zu können.295 In den Klöstern der Reform gab es ein starkes Interesse am Buchdruck, auch in den Abteien der Melker Reform, z. B. in Tegernsee und Augsburg.296 Abt Melchior ließ eine von 1472 bis kurz nach 1474 bestehende Druckerei einrichten.297 Wittwer berichtete ausführlich über diese Maßnahme: Abt Melchior hatte 1472 eine Presse für den Buchdruck bauen und das technische Instrumentarium besorgen lassen, zwei weitere Pressen kamen bald hinzu. Damit wurde als erstes Buch das Compendium morale des Antonius Rampegolus gedruckt. Schließlich gab es zehn Pressen, mit denen gedruckt werden sollte. Dafür beschäftigte das Kloster Johannes Maislin als Faktor. Wittwers Bericht über die kurze Geschichte der Klosterdruckerei gilt als zuverlässig. Er nannte als Gesamtkosten eine Summe von über 702 Gulden und beschrieb das in der Druckerei gebrauchte Instru––––––––– 292 293

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S. oben S. 342, 346 und 385. Vgl. Alfred Schröder: Leonhard Wagners Proba centum Scripturarum. In: Archiv für die Geschichte des Hochstifts Augsburg 1 (1909–1911), S. 372–385; Wehmer: Leonhard Wagners Proba (wie Anm. 265). Vgl. Herrad Spilling: Handschriften des Augsburger Humanistenkreises. In: Renaissanceund Humanistenschriften. Hg. von Johanne Autenrieth unter Mitarbeit von Ulrich Eigler. München 1988 (Schriften des Historischen Kollegs. Kolloquien 13), S. 71–84; zu Mickel s. S. 369f. Dazu u. a. König: Möglichkeiten (wie Anm. 264); Augustyn: Gleichzeitigkeit (wie Anm. 199), S. 40; Heinzer: Klosterreform (wie Anm. 284). – Es gab Pläne, das Melker Brevier zu drucken, damit es in allen der Melker Reform verpflichteten Konventen einheitlich verrichtet werden könnte: Raphael Molitor: Aus der Rechtsgeschichte benediktinischer Verbände. Bd. 2. Münster 1932, S. 16; Angerer: Bräuche (wie Anm. 160), S. CLXXX. Die Schrift, die Leonhard Wagner in der Proba besonders hervorhob, die Rotunda, wurde für den Augsburger Buchdruck besonders wichtig. Möglicherweise hatte sie Heinrich Molitor (s. oben S. 378) 1448 in Tegernsee kennen gelernt und dann in Augsburg bekannt gemacht; vgl. Carl Wehmer: Augsburger Schreiber aus der Frühzeit des Buchdrucks: 2. Heinrich Molitor. In: Beiträge zur Inkunabelkunde N. F. 2 (1938), S. 108–127. Vgl. Hans-Jörg Künast: „Getruckt zu Augspurg“. Buchdruck und Buchhandel in Augsburg zwischen 1468 und 1555. Tübingen 1997 (Studia Augustana 8), S. 87–90; Rolf Schmidt: Die Klosterdruckerei von St. Ulrich und Afra in Augsburg (1472 bis kurz nach 1474). In: Augsburger Buchdruck und Verlagswesen (wie Anm. 264), S. 141–152.

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mentarium mit den korrekten deutschen Fachausdrücken. 298 Die Einrichtung der Klosterdruckerei war gegen alle Widerstände geschehen, wurde aber wegen zu hoher Kosten (es musste sogar Grundbesitz des Klosters veräußert werden, um diese aufzubringen) nach Abt Melchiors Tod 1474 wieder aufgegeben. Gedruckt worden waren bis dahin – wohl in den meisten Fällen nach handschriftlichen Vorlagen aus der Bibliothek des Klosters – 299 Gregors Dialoge, noch im Auftrag des Klosters, von Günther Zainer das lateinische und deutsche Speculum humanae salvationis, aber auch Auszüge aus der Chronik Burchards von Ursberg, das Speculum historiale des Vincenz von Beauvais300 und das Glossarium Salomonis nach einer Vorlage aus dem späten 12. Jahrhundert.301 Wohl der Abt selbst verfasste für diese Ausgabe ein Vorwort, worin er begründete, warum die Edition dieses klaren und einfachen Lexikons dem Catholicon vorzuziehen sei. 302 Aus den Aufzeichnungen Wittwers erfährt der Leser an vielen Stellen, dass Bücher aus Privatbesitz als Geschenk der Bibliothek des Klosters einverleibt wurden; teils handelte es sich um Bücher, die mancher schon ins Kloster mitgebracht hatte, später als Geschenk erhalten oder mit Erlaubnis des Abts erworben hatte. 303 Im Lauf der Zeit kam neben dem allgemeinen Bestand an theologischer, aszetischer, kanonistischer und historischer Literatur eine Fülle unterschiedlichen Schrifttums zusammen. Auch die aus dem Besitz der Abtei St. Ulrich und Afra stammenden Handschriften und Inkunabeln sind beredtes Zeugnis für die unterschiedlich begründeten Interessen ihrer einstigen Leser, die sich oft durch Besitzeinträge verewigten. 304 Manche dieser Bücher wurden auch inner––––––––– 298

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Wittwer: Catalogus (wie Anm. 38), fol. 158r–159v: Schmidt: Klosterdruckerei (wie Anm. 297), S. 151f.; dort ist die irrige Angabe der Kosten mit 700 fl. bei Steichele (wie Anm. 38), S. 265–268 richtiggestellt. Schmidt: Reichenau und St. Gallen (wie Anm. 2), S. 58, Anm. 16. Ebd., S. 51, 60, 115 und 122. Vgl. Georg Goetz: Der Liber glossarum. In: Abhandlungen der philologisch-historischen Klasse der kgl. Sächsischen Gesellschaft der Wissenschaften 13 (1891 [1893]), S. 211– 289, hier S. 219–234; Hans Ulrich Schmid: Salomonisches Glossar. In: 2VL. Bd. 8. Berlin, New York 1992, Sp. 542f.; Schmidt: Reichenau und St. Gallen (wie Anm. 2), S. 89–92; Nikolaus Henkel: Althochdeutsches im 15. Jahrhundert. Die „Glossae Salomonis“ der Augsburger Inkunabel HC 14134. In: Gutenberg-Jahrbuch 81 (2006), S. 156–167. Schmidt: Reichenau und St. Gallen (wie Anm. 2), S. 91f.; zur humanistischen Kritik am Catholicon vgl. ebd., S. 91, Anm. 33. So kamen aus dem Nachlass des vormaligen Dominikaners Narcissus Pfister, der nach St. Ulrich übergetreten war, allein 51 Handschriften: Schmidt: Reichenau und St. Gallen (wie Anm. 2), S. 48–51. Als Petrus Berckenmeier 1496 ins Noviziat eintrat, schenkte er seine Bücher der Abtei; vgl. Ilona Hubay: Incunabula der Staats- und Stadtbibliothek Augsburg. Wiesbaden 1974, Nr. 69, 113, 117, 381, 678, 867, 910, 1168, 1443, 1661, 1706, 1726, 1743, 1765, 1776, 1889, 1916, 1979 und 1997. Solche Schenkungen sind auch für Veit Bild und Ulrich Flechsenhauer 1502 bezeugt: Nachweise ebd. Vgl. Liebhart: Reichsabtei (wie Anm. 13), S. 254–258; bei der Säkularisation gehörte die Bibliothek von St. Ulrich und Afra zu den größten klösterlichen Bibliotheken Augsburgs: Schroeder: Aufhebung (wie Anm. 47), S. 120–125; die mittelalterlichen Codices kamen zum kleineren Teil in die Staatsbibliothek nach München, zum größeren Teil in die Stadtbibliothek, annähernd zehntausend gedruckte Werke (davon 425 Inkunabeln) ebenfalls in

Historisches Interesse und Chronistik in St. Ulrich und Afra

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halb der Abtei weitergegeben.305 Auch für das reiche Buchwesen ist Wittwers Catalogus eine ergiebige Quelle.

9.

Fazit

Wittwer erweist sich mit seinem Catalogus abbatum nicht als exemplum humanistischer Gelehrsamkeit, wohl aber als typischer Vertreter einer spätmittelalterlichen klösterlichen Kultur. Es ging Wittwer bei seiner Beschäftigung mit der Geschichte nicht um die Verfolgung antiquarischer Interessen am Altertum, ein besonderes Bemühen um Literarisches ist nicht erkennbar. Vielmehr war seine Darstellung der Geschichte Ausdruck einer neuen monastischen Selbstvergewisserung als Folge der benediktinischen Reformbewegungen des Spätmittelalters. Je näher die von Wittwer geschilderten Geschehnisse seiner eigenen Lebenszeit rückten, desto stärker nahm er kommentierend Anteil, wurde schließlich darüber zum Chronisten, der aufmerksam und durchaus kritisch notierte, was er sah: als Augenzeuge des klösterlichen Alltags ebenso wie als Augenund Ohrenzeuge dessen, was sich in einer städtischen Gesellschaft wie der Augsburgs am Ende des 15. Jahrhunderts zutrug, an der – wenngleich eingeschränkt – auch klösterliche Gemeinschaften wie jene von St. Ulrich und Afra Anteil hatten. Insofern (und auch deshalb, weil der Verfasser im Wesentlichen frei von literarischen Ambitionen war und weil seine die Ideale der Reform idealisierende Topik durchschaubar bleibt) ist Wilhelm Wittwers Text eine für historische wie kunsthistorische Fragestellungen gleichermaßen aussagekräftige und reichhaltige Quelle, nicht zuletzt sprechendes Zeugnis für ein bestimmtes monastisches Milieu, in dem auch humanistische Impulse wirksam oder mindestens bekannt waren. Dass Wilhelm Wittwer als langjähriger für die Klosterfinanzen zuständiger Cellerar kaum je Werke der Schatzkunst ausführlich kommentierte, wohl aber deren Kosten notierte, spiegelt – so möchte man meinen – eine von schwäbischem Pragmatismus regierte Nüchternheit: Michi sufficiat, res vere gestas texuisse in ordinem („Mir soll es genügen, die Dinge ordentlich zusammengestellt zu haben, wie sie sich wahrhaft ereignet haben“). Mehr wollte er nicht.

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305

die Stadtbibliothek: Helmut Gier: Augsburg 1: Staats- und Stadtbibliothek, 1. Bestandsgeschichte. In: Handbuch der historischen Buchbestände in Deutschland. Bd. 11: Bayern, A– H. Hildesheim, Zürich, New York 1997, S. 63–67, hier S. 65. Vgl. die Ausgabe der Sentenzen des Petrus Lombardus (Nürnberg: Anton Koberger, 1481), die Stephan Degen besaß, die später vom Senior des Konvents an den jüngeren Mönch Christoph Weissenfelder weitergegeben wurde, wie ein entsprechender Eintrag belegt: Hubay: Incunabula (wie Anm. 303), S. 372, Nr. 1622. Sigismund Lang (vgl. Anm. 268) schenkte während seiner Zeit als Custos 1494 die Ausgabe der Dialoge Gregors des Großen (Venedig: Hieronymus de Paganinis, 1492) an Erasmus Huber: ebd., S. 212, Nr. 934.

Harald Müller

Der Beitrag der Mönche zum Humanismus im spätmittelalterlichen Augsburg Sigismund Meisterlin und Veit Bild im Vergleich 1

In der Karwoche des Jahres 1526 schickte Konrad Peutinger dem Veit Bild, Mönch in St. Ulrich und Afra, eine kurze Nachricht, der nach der üblichen Unterschrift Tuus Peutinger drei lakonische Sätze angefügt waren: „Dein Essen wird an Karfreitag vermutlich nicht sehr üppig ausfallen. Wenn Du es einrichten kannst, solltest Du mir an diesem Tage Gesellschaft leisten. Ich habe nämlich hervorragenden Fisch geschenkt bekommen.“2 Es ist dies beileibe nicht das einzige Zeugnis, das den Benediktiner im engen Kontakt mit Konrad Peutinger, der Zentralgestalt des Augsburger Humanismus, zeigt. Und Veit Bild ist seinerseits nicht der einzige Mönch aus der Reichsstadt, für den eine Nähe zu den dortigen Humanisten und ein Interesse an humanistischen Themen zu konstatieren ist. Der prominenteste unter ihnen ist zweifellos Sigismund Meisterlin, ebenfalls aus St. Ulrich und Afra, auf dessen historiographische Werke sich das Forschungsinteresse nachhaltig konzentriert hat. Andere Namen treten dahinter fast völlig zurück, etwa Konrad Mörlin, der von 1469 bis 1510 Abt desselben Klosters war und als Mitglied der Humanistengemeinschaft Sodalitas Augustana gilt, oder der Dominikanerprior Johannes Faber (ca. 1470–1522), der allerdings auch nur zeitweilig in Augsburg lebte.3 Selbst Veit Bild, der gemeinsam mit Konrad Peutinger und Bernhard Adelmann von Adelmannsfelden schon als

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3

Der Text spitzt Überlegungen zum Themenfeld ‚Humanismus und Kloster‘ auf Augsburg zu, die in der Habilitationsschrift des Verfassers ausführlich dargelegt wurden: Harald Müller: Habit und Habitus. Mönche und Humanisten im Dialog. Tübingen 2006 (Spätmittelalter und Reformation. Neue Reihe 32). Argumentation und Belegführung sind deshalb hier bewusst knapp gehalten. Die Vortragsform wurde nur geringfügig verändert. Konrad Peutingers Briefwechsel. Hg. von Erich König. München 1923 (Veröffentlichungen der Kommission zur Erforschung der Geschichte der Reformation und Gegenreformation. Humanistenbriefe 1), S. 412f. Nr. 261, (1526 vor IV 14), hier S. 413: Prandium tuum in die Parasceue non, credo, lautum erit; si commode poteris, me convenias; donati quidem sunt michi pisces optimi. Vgl. Markus Ries: Mörlin, Konrad. In: NDB 17 (1994), Sp. 680f. Faber wurde nach der Promotion zum Dr. theol. 1507 in Padua Prior in Augsburg, 1511 Generalvikar der oberdeutschen Provinz und ab 1515 Rat und Hofprediger Maximilians I.; vgl. Willibald Pirckheimers Briefwechsel. Bd. IV. Bearb. und hg. von Helga Scheible. München 1997, S. 82, Anm. 1.

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Harald Müller

Augsburger Bildungsdreigestirn bezeichnet wurde, 4 hat bislang noch keine umfassende, modernen Ansprüchen gewachsene Behandlung erfahren. Eine Gesamtbetrachtung des klösterlichen Beitrags zum Humanismus in Augsburg steht also aus guten Gründen noch aus. Auch die folgenden Beobachtungen können und sollen diese Lücke nicht schließen. Sie bieten keine Leistungsbilanz humanistisch aktiver Mönche, ihrer Werke und Bibliotheken, wie sie Franz Machilek für Nürnberg 1977 in einem die Forschung prägenden Aufsatz erstellt hat. 5 Statt eines Panoramas von „Klosterhumanismus in Augsburg“ weisen die folgenden Ausführungen bereits ein wenig auf das Thema ‚Augsburg als Zentrum humanistischer Netzwerke‘ voraus und stellen anhand zweier Mönche exemplarisch den Austausch unter Humanisten in den Vordergrund. Nicht Humanismus im klassisch literaturwissenschaftlichen Sinne der Rezeption und Produktion von Texten wird diesen Beitrag bestimmen, sondern Humanismus als Verständigung unter Gleichgesinnten über Methoden, Inhalte und gemeinsame Werte. Im Mittelpunkt steht dabei die Frage nach der aktiven Teilhabe Augsburger Mönche an humanistischen Gesprächszirkeln. Dazu ist nach einem stark gerafften Blick auf die Forschungslage zunächst der hier zugrunde gelegte Humanismusbegriff zu skizzieren. Den Hauptteil bestreiten dann Sigismund Meisterlin und Veit Bild, deren Einbindung in die Augsburger Humanistenkreise untersucht werden soll. Sie agieren jeweils in unterschiedlichen Perioden des Humanismus und erlauben damit zum Abschluss einen vergleichenden Blick auf die Bedingungen, unter denen Mönchen die Teilhabe am humanistischen Leben in Augsburg möglich war.

1.

Forschungslage

Es ist gänzlich unstrittig, dass in Augsburg an der Schwelle vom Mittelalter zur Neuzeit nicht nur eine facettenreiche, vom Humanismus beeinflusste Kultur vorherrschte, sondern dass die Reichsstadt als eines der Zentren des Humanismus in Deutschland anzusprechen ist. Entsprechend intensiv hat sich die

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5

Rolf Kießling: Augsburg in der Reformationszeit. In: „…wider Laster und Sünde“. Augsburgs Weg in der Reformation. Hg. von Josef Kirchmeier u. a. Köln 1997 (Veröffentlichungen zur Bayerischen Geschichte und Kultur 33/37), S. 17–43, hier S. 20. Ders.: dann iederman wolt gen himl: Laienfrömmigkeit und Humanismus, Kirchengemeinden und Prädikaturen. In: Reformation und Reichsstadt. Luther in Augsburg. Ausstellungskatalog. Hg. von Helmut Gier und Reinhard Schwarz. Augsburg 1996, S. 16–21, hier S. 20 mit etwas anderer Akzentuierung: Bischof Christoph von Stadion, Konrad Peutinger und Veit Bild repräsentieren den „topographisch-institutionellen Dreiklang von bischöflichem Hof, Bürgerstadt und Reichsstift St. Ulrich und Afra“ und die geistige Führungsschicht Augsburgs. Franz Machilek: Klosterhumanismus in Nürnberg um 1500. In: Mitteilungen des Vereins für Geschichte der Stadt Nürnberg 64 (1977), S. 10–45.

Der Beitrag der Mönche zum Humanismus

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Forschung der Thematik angenommen.6 Fragt man nach den Triebkräften dieser kulturellen Entwicklung, so rückt einerseits das städtische Bürgertum in den Blick, 7 andererseits der hohe Klerus der Reichsstadt. Zunächst traten die Bischöfe in den Mittelpunkt der Betrachtung. Bereits Friedrich Zoepfl ließ 1949 die Reihe der humanistisch gesinnten Prälaten mit Peter von Schaumberg beginnen, der 1424 den Bischofsstuhl bestieg und als Kristallisationspunkt des Augsburger Frühhumanismus erscheint.8 Alois Schmid hat diese Beobachtungen 1992 aufgegriffen, systematisiert und typologisch zugespitzt. Auf dem Augsburger Bischofsstuhl nahmen im 15. Jahrhundert ausschließlich akademisch gebildete Prälaten Platz, Bildung trat als Qualifikationsmerkmal an die Stelle adliger Abkunft und wurde zudem, so Schmid, auch auf humanistische Interessen ausgerichtet: „Am Augsburger Bischofshof wurde unverkennbar Personalpolitik unter Einbeziehung des Kriteriums humanistischer Bildung betrieben.“9 Das schloss die Mitglieder des Domkapitels ein, deren Bedeutung für den Humanismus Helmut Gier am Beispiel Bernhards von Waldkirch demonstriert, ja einen regelrechten „Domherren-Humanismus“ konstatiert hat. 10 Wo aber blieben die Mönche? Zoepfl nannte allein Meisterlin samt seiner Chronik, und auch diesen eher beiläufig; sein Hauptaugenmerk galt dessen Förderer Sigismund Gossembrot. 11 Schnell gelangt man bei der weiteren Suche über Konrad Mörlin wieder zu Veit Bild, wobei Mörlin zwar als Förderer der Wissenschaften in seiner Abtei gilt, seine Nähe zum Humanismus nach Ansicht Helmut Giers aber erheblich durch dessen Kanonikat an der Regensburger Bischofskirche begünstigt wurde.12 Nicht von ungefähr stehen Mönche aus St. Ulrich und Afra im Vordergrund, denn auch im Hinblick auf die Klöster dominieren die Forschungen zu diesem Kloster, dessen Offenheit und Nähe zu den kulturellen Bestrebungen des Augsburger Bürgertums immer wieder hervorgehoben wurden. Die Öffnung seiner Bibliothek auch für Außenstehende ist hier––––––––– 6

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Einen Wegweiser in der reichen Literatur zum Humanismus in Augsburg insgesamt sowie in St. Ulrich und Afra bieten Harald Müller und Anne-Katrin Ziesak: Der Augsburger Benediktiner Veit Bild und der Humanismus. Eine Projektskizze. In: Zeitschrift des Historischen Vereins für Schwaben 95 (2002) [erschienen 2003], S. 27–51, bes. S. 34, Anm. 21, S. 38–40. Wolfgang Zorn: Die soziale Stellung der Humanisten in Nürnberg und Augsburg. In: Die Humanisten in ihrer politischen und sozialen Umwelt. Hg. von Otto Herding und Robert Stupperich. Boppard 1976 (DFG, Mitteilungen der Kommission für Humanismusforschung 3), S. 35–49. Friedrich Zoepfl: Der Humanismus am Hof der Fürstbischöfe von Augsburg. In: Historisches Jahrbuch 62/63 (1949), S. 671–708, programmatisch S. 671: „In die Augsburger Bischofspfalz zog der Humanismus ein mit Petrus v. Schaumberg.“ Alois Schmid: Humanistenbischöfe. Untersuchungen zum vortridentinischen Episkopat in Deutschland. In: Römische Quartalschrift für christliche Altertumskunde 87 (1992), S. 159–192, Zitat S. 174. Helmut Gier: Der Augsburger Domherr Bernhard von Waldkirch und der Beginn der Blütezeit des Humanismus in Augsburg. In: Jahrbuch des Vereins für Augsburger Bistumsgeschichte 36 (2002), S. 109–123. Zoepfl: Humanismus (wie Anm. 8), S. 676. Gier: Waldkirch (wie Anm. 10), S. 115f.

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für das bekannteste Symbol.13 Uneinigkeit herrscht jedoch über die Rahmenbedingungen humanistischer Interessen in der Abtei selbst. Während im Einklang mit der Ordensforschung zumeist der 1441 begonnene, schleppend vollzogene Anschluss der Benediktinerabtei an die Melker Reformgruppe für einen vielgestaltigen Aufschwung verantwortlich gemacht wird, hat vor gut zehn Jahren Klaus Graf dieses Szenario für die literarische Produktion insgesamt angezweifelt. 14 Noch weiter ging er in der Frage eines klösterlichen Humanismus. Für die Neigung einiger Mönche, Kloster- und Bistumsgeschichten zu verfassen, die durchweg als eine humanistische Hauptaktivität aufgefasst wird,15 hat er den Begriff des „monastischen Historismus“ vorgeschlagen, weil diesen – durchaus reformverbundenen – retrospektiven Tendenzen ein konstitutives Element des Humanismus gänzlich abgehe: der Bezug auf die Antike.16 Diese Positionen können hier nicht ausführlich diskutiert werden. Bei eingehender Untersuchung bestätigt sich allerdings, dass Klosterreform und Humanismus keine unmittelbaren Synergien aufweisen. Wenig Erfolg verspricht auch die Suche nach einer homogenen Form des „Klosterhumanismus“.17 Grafs Be––––––––– 13

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Helmut Gier: Kirchliche und private Bibliotheken in Augsburg während des 15. Jahrhunderts. In: Literarisches Leben in Augsburg während des 15. Jahrhunderts. Hg. von Johannes Janota und Werner Williams-Krapp. Tübingen 1995 (Studia Augustana 7), S. 82–99, hier S. 93. Klaus Graf: Ordensreform und Literatur in Augsburg während des 15. Jahrhunderts. In: Literarisches Leben (wie Anm. 13), S. 100–159, bes. S. 110–114, 139f., gebündelt S. 114: „Bedeutsam erweisen sich in diesem Zusammenhang besonders die Verbindungen zur Umwelt außerhalb des Klosters und außerhalb monastischer Kreise.“ Vgl. statt vieler Ulrich Muhlack: Die humanistische Historiographie. Umfang, Bedeutung, Probleme. In: Deutsche Landesgeschichtsschreibung im Zeichen des Humanismus. Hg. von Franz Brendle, Dieter Mertens, Anton Schindling und Walter Ziegler. Stuttgart 2001 (Contubernium 56), S. 3–18; Alois Schmid: Die Anfänge der Bistumshistoriographie in den süddeutschen Diözesen im Zeitalter des Humanismus. In: Römische Quartalschrift für christliche Altertumskunde 91 (1996), S. 230–262, bes. S. 231: „Sie übersehen, daß es vor allem – aber gewiß nicht nur – im süddeutschen Raum eine bemerkenswerte humanistische Klosterhistoriographie gegeben hat, in welcher der bedeutende Klosterhumanismus des 15. und beginnenden 16. Jahrhunderts seinen bezeichnenden Ausdruck gefunden hat.“ Graf: Ordensreform (wie Anm. 14), S. 143, 157. Auf anderem Terrain ders.: Stil als Erinnerung. Retrospektive Tendenzen in der deutschen Kunst um 1500. In: Wege zur Renaissance. Beobachtungen zu den Anfängen neuzeitlicher Kunstauffassung im Rheinland und in den Nachbargebieten um 1500. Hg. von Norbert Nussbaum, Claudia Euskirchen und Stephan Hoppe. Köln 2003, S. 19–29, bes. S. 24. Markus Müller: Die spätmittelalterliche Bistumsgeschichtsschreibung. Überlieferung und Entwicklung. Köln 1998 (Beihefte zum Archiv für Kulturgeschichte 44), S. 351f. betont ebenfalls die Funktion der Geschichtsschreibung als Ermunterung klösterlicher Lebensform sowie den engen Zusammenhang zwischen Klosterreform und Sicherung der historischen Überlieferung (ebd., S. 377). Die Hinwendung zu nichtchristlichen antiken Autoren konnte kirchlicher Erneuerung sogar entgegenstehen. So wurden nicht selten Texte heidnischer Dichter im Zuge der Reform zerschnitten, vgl. etwa Rolf Schmidt: Reichenau und St. Gallen. Ihre literarische Überlieferung zur Zeit des Klosterhumanismus. Sigmaringen 1985 (Vorträge und Forschungen. Sonderband 33), S. 83. Zum Themenkomplex ausführlich H. Müller: Habit und Habitus (wie Anm. 1), S. 79–136 sowie ders.: Nutzen und Nachteil humanistischer Bildung im Kloster. In: Funktionen des Humanismus. Studien zum Nutzen des Neuen in der humani-

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obachtungen verdienen aber an dieser Stelle ausdrücklich wiedergegeben zu werden, weil sie für die folgenden Überlegungen den Boden bereiten. Sie rücken das Kloster St. Ulrich und Afra entschieden in den Kontext der städtischen Kultur, sehen literarische und eventuell humanistische Anregungen nicht auf dem Ordenswege vermittelt, sondern primär durch Kontakte mit Augsburger Gelehrten bzw. Bildungsinteressierten. Dadurch wird auch unser Thema nicht nur stärker lokal verortet, es rücken gegenüber Fragen der Textrezeption vor allem Phänomene des direkten Austauschs ins Zentrum, genauer gesagt: die Frage nach der Teilhabe von Mönchen an Augsburger humanistischen Aktivitäten in Form von Korrespondenz- und Gesprächszirkeln.

2.

Humanismus als Aktivität

Zunächst ist allerdings eine Konkretisierung des Verständnisses von Humanismus erforderlich, das dem Folgenden zugrunde liegt. Zur Erinnerung: Die Humanismusforschung verfolgt in der Regel recht gleichförmig drei Fragenkomplexe: 1. Werke, 2. Bibliotheken, 3. Kommunikationsnetze. Dieser Dreiklang zeugt von der Dominanz des Humanisten-Individuums in einem Forscherinteresse, das den Humanisten an seinen Früchten erkennen will. Sind diese Früchte karg, kann wenigstens ein gesunder Nährboden in Form von reichen Bücherschätzen helfen. Erst am Ende rangiert die Einbettung des Individuums in die imaginäre Schar der Humanisten. Die soziale Perspektive wird meist nur ergänzend genutzt oder gar als letzte Möglichkeit, Erkenntnis zu schöpfen, wo die anderen Quellen versiegen. Diese traditionelle, literaturgeschichtlich bestimmte Vorgehensweise zielt darauf, Spuren der studia humanitatis zu entdecken und deren Anverwandlung durch den Autor nachzuweisen. Humanismus wird dabei mit Paul Oskar Kristellers gängiger Definition als Fächerkanon aus Grammatik, Rhetorik, Poetik, Geschichte und Moralphilosophie begriffen.18 ––––––––– 18

stischen Kultur. Hg. von Thomas Maissen und Gerrit Walther. Göttingen 2006, S. 191– 213. Paul Oskar Kristeller: Die humanistische Bewegung. In: ders.: Humanismus und Renaissance I: Die mittelalterlichen Quellen. Hg. von Eckhard Kessler. München 1987, S. 1– 29, hier S. 15–18; August Buck: Die „studia humanitatis“ im italienischen Humanismus. In: ders.: Studien zu Humanismus und Renaissance. Gesammelte Aufsätze aus den Jahren 1981–1990. Hg. von Bodo Guthmüller, Karl Kohut und Oskar Roth. Wiesbaden 1991 (Wolfenbütteler Abhandlungen zur Renaissanceforschung 11), S. 103–119. Konzise Überblicke der einschlägigen Definitionsansätze bieten: Rüdiger Landfester: Historia magistra vitae. Untersuchungen zur humanistischen Geschichtstheorie des 14. bis 16. Jahrhunderts. Genf 1972 (Travaux d’Humanisme et Renaissance 123), S. 17–31; Lewis W. Spitz: Humanismus. In: Theologische Realenzyklopädie 15 (1986), S. 639–661; Robert Black: Humanism. In: The New Cambridge Medieval History VIII: c. 1415–c. 1500. Hg. von Christopher Allmand. Cambridge 1997, S. 243–277, bes. S. 243–252; zuletzt eingehend reflektiert von Caspar Hirschi: Wettkampf der Nationen. Konstruktionen einer deutschen Ehrgemeinschaft an der Wende vom Mittelalter zur Neuzeit. Göttingen 2005, S. 64–75. Für das Reich vgl. Dieter Mertens: Deutscher Renaissance-Humanismus. In:

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Dieser Zugang birgt indes die Gefahr eines doppelten Missverständnisses: Er suggeriert einen Kernbestand von Themen und Methoden, an denen man den Humanisten erkennen könne, der so normalerweise weder vollständig noch in Reinform vorkommt. Zum zweiten wird die Dynamik des Humanismus überdeckt. Weder die Latinität noch die historiographischen Autoritäten, noch die Leitfiguren einer moralischen Orientierung waren statisch. Sie variierten regional und vor allem zeitlich. Hierin liegt geradezu ein Wesenszug des Humanismus, den Kristeller mit seiner begrifflichen Engführung auf die studia humanitatis nicht erreichen konnte und nicht erreichen wollte. Er benannte lediglich zentrale Themenfelder humanistischer Betätigung, doch ist dies zunächst nicht mehr als ein gewaltiger Baukasten. Welche Gegenstände man daraus wählte, welche Vorlieben man pflegte, welche sprachlichen und methodischen Standards man applizierte, unterlag der immer wieder neuen Vereinbarung unter Gleichgesinnten. Es waren „die Humanisten“ als Personen mit gleichen Interessen, die „den Humanismus“ schufen, indem sie sich thematisch austauschten, Werke lobten und imitierten, anderes scharf zurückwiesen. Dadurch solidarisierten sie sich untereinander und grenzten sich zugleich kritisch von Andersdenkenden und Anderssprechenden ab, gewannen so ihr Profil. Humanismus bekommt so eine aktive, gestalterische Note. An dieser Aktivität, der Auswahl der Themen und einem Verhalten mit Signalcharakter lassen sich Humanisten erkennen. 19 Man kann die Humanisten als eine ästhetische und intellektuelle Konsensgemeinschaft 20 bezeichnen, ohne dass man sich übertriebene Vorstellungen von ––––––––– 19

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Humanismus in Europa. Hg. von der Stiftung „Humanismus heute“ des Landes BadenWürttemberg. Heidelberg 1998, S. 187–210. Vgl. Nicholas Mann: The Origins of Humanism. In: The Cambridge Companion to Renaissance Humanism. Hg. von Jill Kraye. Cambridge 1996, S. 1–19, hier S. 2; am klarsten zugespitzt in der auf Akteure und Aktion zentrierten Defintion bei Black: Humanism (wie Anm. 18), S. 252: „A humanist is thus someone who acts like other humanists; this is how contemporaries would have identified humanism, and such a definition, stripped of historical paraphernalia, will work equally for us.“ Der Begriff erweitert und präzisiert bewusst den des literarischen Zirkels. Vgl. dazu Claude J. Summers und Ted-Lary Pebworth: Literary Circles and Cultural Communities in Renaissance England. Columbia (Miss.) 2000, S. 1f.: „Most often, the literary circle is defined as a coterie whose members are linked by shared social, political philosophical, or aesthectic values or who vie for the interests and attention of a particular patron, or who are drawn together by bonds of friendship, family, religion or location.“ Er ist auch dem assoziationsbelasteten Terminus „Gesinnungsverband“ vorzuziehen, den Alfred von Martin: Kultursoziologie der Renaissance. In: Handwörterbuch der Soziologie. Hg. von Alfred Vierkandt. Stuttgart 1931, S. 495–510, hier S. 505 verwendet. Leonid M. Batkin: Die historische Gesamtheit der italienischen Renaissance. Dresden 1979 = ders.: Die italienische Renaissance. Versuch einer Charakterisierung eines Kulturtyps. Basel, Frankfurt a. M. 1981, S. 108 benutzt die Kennzeichnung „unformale Gruppe von Gleichgesinnten“. Den Zugang zum Humanismus über typische Verhaltensweisen suchen folgende jüngere Untersuchungen: Albert Schirrmeister: Der Triumph des Dichters. Gekrönte Intellektuelle im 16. Jahrhundert. Köln 2003 (Frühneuzeitstudien 4); Sven Lembke und Markus Müller: An Humanisten den Humanismus verstehen. Ein Resümee. In: Humanisten am Oberrhein. Neue Gelehrte im Dienst alter Herren. Hg. von dens. Leinfelden-Echterdingen 2004

Der Beitrag der Mönche zum Humanismus

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einer klaren und dauerhaften Struktur dieser Gruppe machen sollte; die oft behandelten humanistischen Zirkel, die Sodalitäten, sind nur deren punktuelle Konkretisierungen.21 In der Hauptsache bilden die Humanisten eine Kommunikationsgemeinschaft, weshalb ihre Briefe von entscheidendem Quellenwert sind. Sie erlauben weit direkter als die Werkanalyse festzustellen, wer wann und mit welchen Themen am Diskurs beteiligt war, modern gesprochen wer aus der Humanistenperspektive zu den Insidern gehörte und wer nicht. Vorrangig um diese Rolle in der humanistischen Gemeinschaft soll es im Weiteren gehen.22

3.

Sigismund Meisterlin

Zu Sigismund Meisterlin (1435–nach 1497) noch etwas Neues vorbringen zu wollen, scheint angesichts der Fülle von Literatur zu ihm vermessen. 23 Und –––––––––

21

22

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(Schriften zur südwestdeutschen Landeskunde 37), S. 303–313; demnächst Harald Müller: Specimen eruditionis. Zum Habitus der Renaissance-Humanisten und seiner sozialen Bedeutung. In: Zur Kulturgeschichte der Gelehrten im späten Mittelalter. Hg. von Frank Rexroth. Ostfildern 2008 (Vorträge und Forschungen), im Druck. Für Augsburg grundlegend Jan-Dirk Müller: Konrad Peutinger und die Sodalitas Peutingeriana. In: Der polnische Humanismus und die europäischen Sodalitäten. Akten des polnisch-deutschen Symposions vom 15.–19. Mai 1996 im Collegium Maius der Universität Krakau. Hg. von Stephan Füssel und Jan Pirożyński. Wiesbaden 1997 (Pirckheimer-Jahrbuch für Renaissance- und Humanismusforschung 12), S. 167–186, bes. S. 167–169, 175, 180. Ebd., S. 167, Anm. 1 auch die grundlegende Literatur zu den Sodalitäten. Vgl. Eckhard Bernstein: From Outsiders to Insiders. Some Reflections on the Development of a Group Identity of the German Humanists between 1450 and 1530. In: In laudem Caroli. Renaissance and Reformation Studies for Charles G. Nauert. Hg. von James V. Mehl. Kirksville 1998 (Sixteenth Century Essays and Studies 49), S. 45–64. Ähnlich ders.: Group Identity Formation in the German Renaissance Humanists: The Function of Latin. In: Germania latina – Latinitas teutonica. Politik, Wissenschaft, humanistische Kultur vom späten Mittelalter bis in unsere Zeit. Hg. von Eckhard Kessler und Heinrich C. Kuhn. München 2003 (Humanistische Bibliothek. Abhandlungen 54), Bd. 1, S. 375–386. Ausführlich zu diesem Ansatz jetzt H. Müller: Habit und Habitus (wie Anm. 1), S. 47–78. Die Zugehörigkeit zu einer solchen Gruppe ist auch an Epigrammen abzulesen, die humanistische Druckerzeugnisse begleiten. Vgl. Gerlinde Huber-Rebenich: Neue Funktionen der Dichtung im Humanismus? In: Funktionen des Humanismus (wie Anm. 17), S. 49–75, hier S. 52–57; für Augsburg vgl. J.-D. Müller: Peutinger (wie Anm. 21), S. 173. Trotz zahlreicher bekannter Einzelfälle scheint das sozialgeschichtliche Potenzial solcher Epigrammsammlungen noch nicht ausgeschöpft. Grundlegend und in der Analyse des Werkes unerreicht bleibt Paul Joachimsohn: Die Humanistische Geschichtschreibung in Deutschland. Heft 1: Die Anfänge. Sigismund Meisterlin. Bonn 1895, Nachdruck in: ders.: Gesammelte Aufsätze. Beiträge zu Renaissance, Humanismus und Reformation, zur Historiographie und zum deutschen Staatsgedanken. Hg. von Notker Hammerstein. Bd. 2. Aalen 1983, S. 123–461. Ergänzend dazu Katharina Colberg: Meisterlin, Sigismund. In: Verfasserlexikon ²6 (1987), Sp. 356–366, ebd., Sp. 356–358 auch der leichteste Zugang zu den biographischen Details; Korrekturen zum Beitrag in: Verfasserlexikon ²11 (2004), Sp. 988; ferner Constance Proksch: Klosterreform und Geschichtsschreibung im Spätmittelalter. Köln 1994 (Kollektive Einstellungen und sozialer Wandel im Mittelalter N. F. 2), S. 41–43, mit Literatur; wenig differenziert Josef

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Harald Müller

doch sind Beobachtungen zu unserem Thema möglich, weil dessen Briefe bislang wenig Aufmerksamkeit auf sich gezogen haben. Paul Joachimsohn hat diese zwar in begründeter Auswahl publiziert, seine tiefe Skepsis gegenüber dem Aussagewert humanistischer Litterae verhinderte jedoch die eingehende Analyse. Sie erscheint allerdings umso nachdrücklicher geboten, seit Franz Josef Worstbrock vor wenigen Jahren darauf hingewiesen hat, dass die kleine Schar Augsburger Frühhumanisten um Sigismund Gossembrot und Hermann Schedel sich in ihren Briefen bestimmter lateinischer Quellen und Ausdrucksweisen bediente, um sich untereinander als Könner und Gleichgesinnte zu erkennen zu geben. Es handelte sich, so Worstbrock, um einen regelrechten Code, welcher der Solidarisierung der Gemeinschaft im Inneren diente und das Wesensmerkmal, die „Physiognomie“ des frühen Humanismus bildete. 24 Betrachtet man Meisterlin mit diesen Augen, so ist zunächst festzustellen, dass er im Hinblick auf Bildung und literarisches Schaffen stärkere Impulse aus der frühhumanistischen congregatio empfing als aus St. Ulrich. Entscheidend sind hier die Jahre 1456/57, in denen er auf Anregung Gossembrots die Chronographia Augustensium fertigstellte und sich anschließend zum Studium der artes und des Kirchenrechts nach Padua begab. Die Wahl Paduas dürfte im Übrigen ebenfalls auf die Anregung der Freunde zurückgehen, von denen Hermann Schedel, Heinrich Lur und Laurentius Blumenau ihre Studien an der Universitätsstadt am Po absolviert hatten; Gossembrot sandte zwei seiner Söhne dorthin.25 In der eigenen Abtei wurde Meisterlin dagegen unter Hinweis auf –––––––––

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Bellot: Das Benediktinerstift St. Ulrich und Afra in Augsburg und der Humanismus. In: Studien und Mitteilungen zur Geschichte des Benediktiner-Ordens und seiner Zweige 84 (1973), S. 394–406, S. 395f. Ein Eintrag im Lexikon des Mittelalters fehlt. Zuletzt Georg Kreuzer: Meisterlin. In: Lexikon für Theologie und Kirche ³7 (1998), Sp. 74; Ulrich Andermann: Historiographie und Interesse. Rezeptionsverhalten, Quellenkritik und Patriotismus im Zeitalter des Humanismus. In: Das Mittelalter 5 (2000), S. 87–104, S. 98; H. Müller: Habit und Habitus (wie Anm. 1), S. 137–174. Vgl. auch den Beitrag von Gernot Michael Müller in diesem Band. Franz Josef Worstbrock: Imitatio in Augsburg. Zur Physiognomie des deutschen Frühhumanismus. In: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 129 (2000), S. 187–201. Vgl. ders.: Gossembrot, Sigismund. In: Verfasserlexikon ²3 (1983), Sp. 105–108 (mit Literatur); Graf: Ordensreform (wie Anm. 14), S. 111; Gier: Bibliotheken (wie Anm. 13), S. 95f. Zum Humanistenkreis um Gossembrot und später Schedel auch Zoepfl: Humanismus (wie Anm. 8), S. 676–679 und (oft übersehen) Hartmut Boockmann: Laurentius Blumenau. Fürstlicher Rat – Jurist – Humanist (ca. 1415–1484). Göttingen 1965 (Göttinger Bausteine zur Geschichtswissenschaft 37), S. 226–236. Vgl. Boockmann: Blumenau (wie Anm. 24), S. 30, 32. Als Studenten in Italien wären aus der frühhumanistischen Pioniertruppe noch (mit Abstrichen in Sachen Humanismus) Gregor Heimburg und besonders Johannes Roth nachzutragen. Zu diesem Franz Josef Worstbrock: Roth, Johannes. In: Verfasserlexikon ²8 (1992), Sp. 269–275; ausführlich Agostino Sottili: Ehemalige Studenten italienischer Renaissance-Universitäten: ihre Karrieren und ihre soziale Rolle. In: Gelehrte im Reich. Zur Sozial- und Wirkungsgeschichte akademischer Eliten des 14. bis 16. Jahrhunderts. Hg. von Rainer Christoph Schwinges. Berlin 1996 (Zeitschrift für Historische Forschung. Beiheft 18), S. 41–74, hier S. 45, 48–74; zuletzt Rainald Becker: Der Breslauer Bischof Johannes Roth (1426–1506) als instaurator veterum et benefactor ecclesiae suae. Eine Variation zum Thema des Humanistenbischofs. In: Römische Quartalschrift für christliche Altertumskunde 96 (2001), S. 100–123 (mit

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seine Bildungsinteressen als widerspenstig eingestuft und sollte zur Disziplinierung in ein streng reformiertes Kloster überwiesen werden. 26 Mit dem Aufbruch nach Süden setzen die 33 heute bekannten Stücke der Korrespondenz von und an Meisterlin ein. Die meisten mit Bezug zu Augsburg sind in einer 1462 fertiggestellten Sammelabschrift von anderer Hand und mit humanistischen Auswahlinteressen überliefert. Ihr Adressatenkreis deckt sich weitgehend mit dem der Briefe Hermann Schedels.27 Einige spätere Briefe sind in zwei Kodizes aus St. Ulrich und Afra oder im Kontext der Werke Meisterlins –––––––––

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Literatur). Nicht zu vergessen in diesem Zusammenhang ist Peter Luder; zu ihm zuletzt Veit Probst und Wolfgang Metzger: Zur Sozialgeschichte des deutschen Frühhumanismus: Peter Luders Karriereversuch in Heidelberg 1456–1460. In: Venezianisch-deutsche Kulturbeziehungen der Renaissance. Akten des interdisziplinären Symposions vom 8. und 10. November im Centro Tedesco di Studi Veneziani in Venedig. Hg. von Klaus Arnold, Franz Fuchs und Stephan Füssel. Wiesbaden 2003 (Pirckheimer-Jahrbuch für Renaissance- und Humanismusforschung 18), S. 54–85, bes. S. 55–62. Sigismundus, qui iam in scolis studio artium et iurium insudat […] Quia, ut dicitur, regulari disciplina est minus instructus necdum regulis aut institutis majorum didicit subdi, placet nobis, ut sacre religionis scolae tradatur imbuendus et ad monasterium ponatur bene reformatum, in quo addiscat, que suo et statui et saluti necessaria sunt; Carta visitationis vom 20. Juli 1457, Konzept im Sammelband Tegernsee, München, Staatsbibl., Cgm 1586, fol. 76r–78v, Zitat nach Joachimsohn: Meisterlin (wie Anm. 23), S. 223. Die Sicherheit, mit der Wolfgang Milde: Zur bibliothekarischen Tätigkeit des frühhumanistischen Geschichtsschreibers Sigismund Meisterlin O.S.B. In: Interrogativi dell’Umanesimo. Bd. 1: Essenza – Persistenza – Sviluppi. Atti del IX Convegno Internazionale del Centro di Studi Umanistici Montepulciano, Palazzzo Tarugi, 1972. Hg. von Giovannangiola Tarugi. Florenz 1976, S. 55–77, hier S. 67 den 9. April 1457 als Datum des Weggangs annimmt, erscheint angesichts der Visitation im Juli fraglich. Zu Meisterlins frühem Interesse an (auch heidnischer) Historiographie vgl. seine eigenen Aussagen im deutschen Prolog der Chronographia, zitiert bei Joachimsohn: Meisterlin (wie Anm. 23), S. 152; Brigitte Ristow: Untersuchungen zu Sigismund Meisterlins Widmungsbriefen an Sigismund Gossembrot. In: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 85 (1963), S. 206–252, S. 206. München, Universitätsbibl., 2° Cod. ms. 667, fol. 198b–204b. Die Handschrift wurde größtenteils 1462–1463 von Heinrich Hůter geschrieben. Vgl. die Beschreibung bei Natalia Daniel, Gerhard Schott und Peter Zahn: Die lateinischen mittelalterlichen Handschriften der Universitätsbibliothek München. Die Handschriften aus der Folioreihe. Hälfte 2. Wiesbaden 1979, S. 131–137, bes. S. 131, 136f. sowie schon Paul Joachimsohn: Frühhumanismus in Schwaben. In: Württembergische Vierteljahrshefte für Landesgeschichte N. F. 5 (1896), S. 63–126, 257–288, Nachdruck in ders.: Gesammelte Aufsätze. Beiträge zu Renaissance, Humanismus und Reformation, zur Historiographie und zum deutschen Staatsgedanken. Hg. von Notker Hammerstein. Bd. 1. Aalen 1970, S. 149–247, 149f.; Joachimsohn: Meisterlin (wie Anm. 23), S. 223f. Die Edition von acht Briefen daraus, ergänzt um Stücke aus anderen Handschriften, ebd., S. 382–407, für die Studienzeit bes. S. 382–397, Nr. 1–10. Ich folge der begründeten Auswahl Joachimsohns, der elf Texte auslässt, die entweder Meisterlin nicht eindeutig zuzuweisen sind oder rein formelhaften Charakter besitzen; vgl. ders.: Meisterlin (wie Anm. 23), S. 224–226. Hinzuweisen ist auf zwei wohl nach St. Ulrich gehende Nürnberger Briefe aus anderer Überlieferung, in denen Meisterlin vor dem Hintergrund aufbegehrender Mönche (sedicio) dem Missverhalten in Form von contentio und emulacio die Tugenden caritas und pax entgegenstellt; ed. Dietrich Kerler: Nachträgliches zu Sigmund Meisterlin. In: Forschungen zur deutschen Geschichte 12 (1872), S. 659–666, hier S. 663–665, Nr. 3–4.

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tradiert. Nicht alle Stücke sind personell und zeitlich eindeutig zuzuordnen, dennoch zeigt sich eine klare Verteilung: Sieben von 17 Briefen erkennbar humanistischen Inhalts werden zwischen Meisterlin und Gossembrot gewechselt. Zwei Briefe sind für Hartmann Schedel verzeichnet, je ein Schreiben geht an Meisterlins Bruder Ludwig, an einen Augsburger Mönch, an einen Freund namens Felix, an einen Unbekannten, an Hermann Schedel, an Sixtus Tucher und an den Abt von St. Ulrich, eines stammt von Ulrich Gossembrot, der seinerseits auch mit einem Brief Meisterlins bedacht wurde. 28 Aus einer komplementären Quelle, dem Briefnachlass Hermann Schedels, sind uns drei Nachrichten über Meisterlin bekannt, die für die Jahre 1457 bis 1459 trotz der Abwesenheit eine gedankliche und soziale Nähe des Benediktiners zum Augsburger Kreis dokumentieren. Danach aber taucht Meisterlin in Schedels Briefkorpus, das immerhin bis 1478 reicht, nicht mehr auf. Von den einstigen Augsburger Gefährten blieb ihm langfristig nur Sigismund Gossembrot erhalten. Der quantitative Befund hebt die besondere Beziehung zwischen Meisterlin und Gossembrot, die schon für die Entstehung der Augsburger Chronik unabdingbar war, erneut hervor. Er wird durch die Inhalte der Briefe weiter gestützt. Vorab bemerkenswert ist, dass Meisterlin aus Italien von einem Klosterleben überhaupt nichts verlauten lässt, dafür manches Unernste. Als Adressaten solcher litterae iocosae, eines leicht übersehenen Genres humanistischer Korrespondenz, sind neben einem unbekannten Freund namens Felix wohl Hermann Schedel oder Gossembrot auszumachen. Letzterer wünschte sich noch in späteren Jahren von Meisterlin scherzhafte und laszive Geschichten, mit denen er die Gefährten in conviviis zu unterhalten gedachte. 29 Daneben sind die Briefe des Benediktiners mit genuin humanistischen Themen durchsetzt. Ich führe dies an einem Beispiel vor. In der Korrespondenz mit Gossembrot offenbart Meisterlin Konflikte an seinem Aufenthaltsort Padua. Im Begleitbrief zu einem Buchgeschenk an den Augsburger berichtet er 1461 ausführlich von Theologen, die ihn wegen seiner studia humanitatis anfeindeten. Diese selbst seien nicht in der Lage die rechtgläubigen Väter zu verstehen, doch ––––––––– 28

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Widmungsbriefe und Briefe, die nicht in engem Bezug zu Augsburg stehen, bleiben hier außer Betracht. Eine Aufstellung der gesamten bekannten Briefe samt Überlieferungsnachweisen bei Colberg: Meisterlin (wie Anm. 23), Sp. 365. Es sind nur Fragmente „[…] von seinem sonstigen sicher ausgedehnten Briefwechsel“ (ebd.), dessen systematische Bearbeitung wünschenswert wäre. Für Hinweise zur Korrespondenz Meisterlins und ihren Erkenntnisproblemen danke ich meiner Leipziger Studentin Claudia Hentze. Joachimsohn: Meisterlin (wie Anm. 23), S. 397f. Nr. 11, (1471) X 8, hier S. 397: Cuperem, tua pro humanitate quasdam non infacetas aut lasciuas enigmatum questiunculas abs te aut extractas aut proprio, quo po[l]les ingenio elaboratas mihi mitteres, nam begutte subtiles et acute quandoque me accidentes interque leta colloquia multas parabolarum et similitudinum tectas misti[fi]caciones proponunt mihi exponendas, putantes me nec seueriora tantum sed et omnia studiis meis eciam extranea et cum leuissimis propositiones grauiores scire dicere. Ebd., S. 398: Nec cura, si lingua latina cudis; tradam, si placet, leuiter linguam ad maternam. Offenbar fanden Gossembrots convivia in deutscher Sprache statt, so dass deren lateinisches Gewand nicht von größerem Interesse war. Vgl. auch Paul Joachimsohn: Aus der Bibliothek Sigismund Gossembrots. In: Centralblatt für Bibliothekswesen 11 (1894), S. 249–268, 297–307, hier S. 306f.

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argumentiere er mit Cicero, Sallust, Livius oder Valerius Maximus, so entblödeten sie sich nicht zu schreien: „Geht weg mit Euren Dichtern!“ Weder von der Philosophie Ciceros noch von den historiographischen Werken eines Beda, Eusebius oder Hieronymus wüssten diese etwas, hielten ausgerechnet ihm aber vor, von Augustinus nichts zu verstehen!30 Mit einem akklamatorischen „Du aber, Vortrefflichster!“ (tu vero, vir egregie) leitet Meisterlin dann die wissenschaftliche Verbrüderung mit dem Empfänger ein. Gegen die ignorante Schar der Theologen reiht er sich in die virtuelle Gemeinschaft derjenigen ein, die an der wahren Bildung (vera eruditio) teilhaben: Laktanz, Augustin, Hieronymus und – neben diesen Monumenten antiker und zugleich christlicher Gelehrsamkeit – Sigismund Gossembrot. 31 Hier schließt sich auch der Kreis zum Buchgeschenk, denn Gossembrot soll die Ränder der beiliegenden Civitas Dei des Augustinus in Besitz nehmen, sie mit Glossen versehen; die entsprechenden Autoren dazu weiß Meisterlin in der Bibliothek des Empfängers vorhanden. Der Benediktiner schlägt damit thematisch eine Brücke zum Beginn des Briefs, wo er Gossembrot und sich als Betrachter eines verderbten Augustinustextes stilisiert, 32 und er setzt zugleich dem lauten Disput der Theologen das vertraute ––––––––– 30

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Joachimsohn: Meisterlin (wie Anm. 23), S. 392: Proh deus, et cum ipsi philosophi velint videri ei eidem arti ab infancia incu[m]bant, tamen nobis obiciunt studia humanitatis, ut probrum. Bene quidem, et si alio argumento non convincerentur, vincunt se ipsos et ostendunt se verum orthodoxorum nominatorumque patrum scriptis parum incumbere, que sine hijs nequaquam intelligere possunt, dumque diffidunt apprehendere se posse sciencie noticiam, nobis detrahunt. Nec verentur, dum coram eis nominantur aut Tulius aut Salustius aut Titus Liuius aut Valerius, dicere: „Ite cum poetis vestris“, egregiosque oratores, eximios historiographos poetas appellant, non considerantes, quanta et quanta in philosophia verus achademicus Cicero scripsit, nec quid Jeronimus in cronica sua, Beda, Eusebius ceterique de ipsis sumpserint. Intelligant tamen ipsi Augustinum et mihi obiciant, que non intelligam. Vgl. hierzu auch Berndt Hamm: Hieronymus-Begeisterung und Augustinismus vor der Reformation. Beobachtungen zur Beziehung zwischen Humanismus und Frömmigkeitstheologie (am Beispiel Nürnbergs). In: Augustine, the Harvest, and Theology (1300– 1650). Essays Dedicated to Heiko Augustinus Oberman in Honor of his Sixtieth Birthday. Hg. von Kenneth Hagen. Leiden 1990, S. 127–233, hier S. 169 mit Anm. 118, der Meisterlins vorliegenden Brief als Kronzeugen dafür benennt, dass Antihumanismus in die theologische Barbarei führe. Joachimsohn: Meisterlin (wie Anm. 23), S. 392f.: Tu vero, vir egregie, qui solus pene nostris in partibus preditus es vera eruditione, non vulgata uel perturbata, quali utuntur aliqui, qui theologiam profitentur, sed legittima illa et ingenua, que literarum periciam cum rerum sciencia coniungit, qualis in Lactancio Firminiano, qualis in Aurelio Augustino, qualis in Jeronimo fuit summis profecto theologis et perfectis in litteratura viris, tu inquam, amator imitatorque talium accipe munus exiguum quod dat tibi pauper amicus. Joachimsohn: Meisterlin (wie Anm. 23), S. 391: Cum enim Aurelii Augustini volumen in rure existentes hibernali imminente tempore pre manibus haberemus, codicem(que) minime correctum reperimus et notabiliter defectuosum. Vgl. zum Bild der beiden auf Gossembrots Landsitz in Handschriftenstudien vertieften Freunde auch ebd., S. 227f. Einen Beleg hierfür bietet die Sammelhandschrift Basel, Universitätsbibl., O.I.10 mit Korrekturnotizen von der Hand Meisterlins u. a. an Petrarcas Secretum. Neben Meisterlin war eine weitere Person an der Korrektur beteiligt, bei der es sich aufgrund der verzeichneten Daten September, 3. und 4. Oktober 1459 und besonders aufgrund der Ortsangaben in rure achademico und Mütingen wohl um Sigismund Gossembrot und sein Landgut in Untermeitingen handelt. Vgl. Joachimsohn: Bibliothek (wie Anm. 29), S. 254f. (dort irrtümlich Obermeu-

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Zwiegespräch unter Humanisten entgegen, indem er Gossembrot auffordert, niemand Fremdem Einblick zu gewähren, der vielleicht darauf aus sei, die gemeinsamen studia zu schmähen. 33 Das Schreiben demonstriert mustergültig ein Abgrenzungs- und Solidarisierungsverhalten, das uns in zahlreichen Humanistenbriefen begegnet. Hier werden gemeinsame Feindbilder gepflegt und gemeinsame Interessen bekräftigt. Bezeichnend für die spezifischen Vorlieben des Augsburger Kreises ist dabei, dass neben der Philosophie Ciceros ein dezidiert historiographischer Bezugsrahmen geschaffen wird. Das Interesse an Geschichtsschreibung verband beide Sigismunde in besonderer Weise. Die Nähe zu Gossembrot war für Meisterlins Teilhabe an humanistischen Gesprächszirkeln von elementarer Bedeutung. Der Anschluss des Benediktiners an die Augsburger Humanisten verlief fast ausschließlich über den Patrizier, durch dessen Bibliothek auch die meisten Werke Meisterlins auf uns gekommen sind. Nur mit ihm hielt er über die 1460er Jahre hinaus regelmäßigen Kontakt, als sich der Augsburger Kreis zerstreut hatte. Während Gossembrot aber auch mit der geographisch erheblich weiter gespannten Korrespondenzgruppe um Niklas von Wyle und Ludwig Rad verkehrte, ist Meisterlin dort nicht nachweisbar.34 Zur Einordnung dieses Befundes ist ein vergleichender Blick auf den nur wenig jüngeren Dekan von Einsiedeln, Albrecht von Bonstetten (1442/43–ca. 1504) hilfreich, der ausweislich seiner Korrespondenz in diesem süddeutschen Zirkel präsent war und räumlich weit darüber hinaus.35 Meisterlin bildet demgegenüber im kommunikativen Netz der süddeutschen Frühhumanisten bestenfalls eine wenig aktive Seitenlinie, die über Sigismund Gossembrot angeknüpft war; dies gilt im Grundsatz ebenfalls für die Integration in den engeren Augs–––––––––

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tingen; vgl. Gier: Bibliotheken [wie Anm. 13], S. 96); Ottavio Besomi: Codici Petrarcheschi nelle Biblioteche Svizzere. Padua 1967 (Censimento dei Codici Petrarcheschi 3), S. 393–396 (ohne Hinweis auf Gossembrot). Einen Eindruck von Gossembrots humanistisch bestückter Büchersammlung gibt die alphabetische Rekonstruktion bei Joachimsohn: Bibliothek (wie Anm. 29), S. 258–268; ferner Worstbrock: Gossembrot (wie Anm. 24), Sp. 108; Herrad Spilling: Handschriften des Augsburger Humanistenkreises. In: Renaissance- und Humanistenhandschriften. Hg. von Johanne Autenrieth unter Mitarbeit von Ulrich Eigler. München 1988 (Schriften des Historischen Kollegs. Kolloquien 13), S. 71– 84, hier S. 76. Joachimsohn: Meisterlin (wie Anm. 23), S. 393: Tu itaque habeto, iuxta Salomonis dictum, aquas tuas solus, et non bibat ex eis alienus, qui studia nostra insectatur, nobis detrahit ac lacerat famam venenatis dentibus (Prov. 5,16f.). Vgl. Joachimsohn: Frühhumanismus (wie Anm. 27). Ein von Franz Josef Worstbrock: Rotenpeck, Hieronymus. In: Verfasserlexikon ²8 (1992), Sp. 265–269, ebd., Sp. 266 genannter Brief Meisterlins an den Rebdorfer Kanoniker Hieronymus Rotenpeck ist wohl zu streichen, der genannte Text doch Sigismund Gossembrot zuzuweisen. Ediert in Hermann Schedels Briefwechsel (1452–1478). Hg. von Paul Joachimsohn. Tübingen 1893 (Bibliothek des litterarischen Vereins in Stuttgart 196), S. 23–27, Nr. 11. Vgl. im Detail H. Müller: Habit und Habitus (wie Anm. 1), S. 171, Anm. 102. Albrecht von Bonstetten: Briefe und ausgewählte Schriften. Hg. von Albert Büchi. Basel 1893 (Quellen zur Schweizer Geschichte 13); vgl. ausführlich H. Müller: Habit und Habitus (wie Anm. 1), S. 175–192.

Der Beitrag der Mönche zum Humanismus

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burger Kreis. Auch für keine der Stationen seines Wanderlebens ist erkennbar, dass Meisterlin Anschluss an lokale Humanistenzirkel gefunden hätte, die freilich damals auch noch nicht zahlreich waren. 36 Er bleibt ein solitärer, humanistisch inspirierter Historiograph, dessen Etikettierung als „Augsburger Benediktiner“ man zudem durchaus infrage stellen kann.37

4.

Veit Bild

Bei Veit Bild (1481–1529) liegen die Verhältnisse grundlegend anders, auch weil wir weit mehr über ihn wissen. Bild hatte zeitweise die Ingolstädter Universität besucht und danach auf Umwegen und unter tatkräftiger Mithilfe des Augsburger Domherrn Bernhard von Waldkirch langsam in der Umgebung der Reichsstadt Fuß gefasst, ehe er 1504 in St. Ulrich und Afra Profess ablegte.38 ––––––––– 36

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Dasselbe gilt auch für die so genannten Murbacher Arbeiten Meisterlins von ca. 1464, die z. T. in Briefform vorliegen. Mit Ausnahme seines Murbacher Abtes Bartholomäus von Andlau (1447–1477), an den Meisterlin die Beschreibung von Tapisserien und die Abschriften zweier karolingischer Bibliothekskataloge des Klosters adressierte, lässt sich wietergehender Gedankenaustausch hier nicht nachweisen. Vgl. Colberg: Meisterlin (wie Anm. 23), Sp. 360f.; Joachimsohn: Meisterlin (wie Anm. 23), S. 230–232; Milde: Bibliothekarische Tätigkeit (wie Anm. 26), S. 56–60. Partiell rätselhaft bleibt ein weiterer, mit humanistischen Motiven durchsetzter Brief an Andlau, neu ediert von Klaus Arnold: Eine Frage der Glaubwürdigkeit – Johannes Trithemius in seinen Briefen und Selbstzeugnissen. In: War Dr. Faustus in Kreuznach? Realität und Fiktion im Faust-Bild des Abtes Johannes Trithemius. Hg. von Frank Baron und Richard Auernheimer. Alzey 2003 (Bad Kreuznacher Symposien 3), S. 13–81, hier S. 68–73 mit passagenweiser Übersetzung S. 40–46. Für Nürnberg vgl. H. Müller: Habit und Habitus (wie Anm. 1), S. 169f. Selbst wo es um Belange der Bildung im Kloster ging, als nämlich 1473 der Dillinger Stadtpfarrer Heinrich Lur dem Abt von St. Ulrich und Afra, Melchior von Stammheim, die Errichtung von Gymnasien im Kloster vorschlug, griff nicht Meisterlin für den Abt zur Feder, sondern Herman Schedel: Hermann Schedels Briefwechsel (wie Anm. 34), S. 198– 200, Nr. 95 (Konzept); Lurs Schreiben De monachis ordinis sancti Benedicti bonis litteris ac disciplinis imbuendis an den Abt ist u. a. gedruckt in: Thesaurus anecdotorum novissimus seu veterum monumentorum, præcipue ecclesiasticorum, ex Germanicis potissimum bibliothecis adornata collectio recentissima. Hg. von Bernardus Pez. Bd. VI, 3. Augsburg 1729, S. 404–410. Der Vorschlag propagiert eigene Studienhäuser des Ordens als moralisch unbedenklichere Alternative zur Entsendung von Mönchen an die Universität. Sein Bildungsziel besteht in einer Koppelung aus Theologie und Kanonistik. Vgl. Franz Machilek: Die Klöster Blaubeuren, Wiblingen, Elchingen und die Melker Reform. In: Jahrbuch des Vereins für Augsburger Bistumsgeschichte 36 (2002), S. 255–279, hier S. 270; H. Müller: Habit und Habitus (wie Anm. 1), S. 171f. mit Anm. 103. Einen guten Zugang eröffnet Anne-Katrin Ziesak: Bild, Veit. In: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. Ergänzungsband: Deutscher Humanismus, 1480–1520. Hg. von Franz Josef Worstbrock. Bd. 1. Berlin 2005ff., Sp. 190–204. Biographisch zuletzt Franz Posset: Jack-of-all-Trades. Vitus Bild Acropolitanus, Monk of Saints Ulrich and Afra in Augsburg. In: ders.: Renaissance Monks. Monastic Humanism in Six Biographical Sketches. Leiden, Boston 2005 (Studies in Medieval and Reformation Traditions 108), S. 133–154; vgl. dazu die Rezension des gesamten Bandes durch den Verfasser dieser

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Anders als Meisterlin verließ er das Kloster und Augsburg nur ein Mal, um 1511/12 in Melk ein Jahr als Gastmönch zu verbringen. Er interessierte sich für Musik, Griechisch und Hebräisch, vor allem aber für Astronomie in theoretischer und praktischer Gestalt. Er erstellte Horoskope und baute Sonnenuhren, war darüber hinaus ein gewitzter Buchbeschaffer, der die Erzeugnisse der Augsburger Drucker an Interessierte im süddeutschen Raum vermittelte. Seine Korrespondenz ist in bemerkenswerter Dichte überliefert: Rund 550 Stücke harren immer noch einer systematischen Auswertung. 318 Regesten, die Alfred Schröder 1893 daraus publizierte, schlagen kaum mehr als eine breite Schneise in den Bestand und sind gerade deshalb für unser Bild des Benediktiners in problematischer Weise prägend. Aufgrund der lückenhaften Aufarbeitung lässt sich das Korrespondenznetz Bilds noch nicht befriedigend beschreiben. Deshalb bilden die folgenden Ausführungen bewusst nur einen knappen Kontrast zu Meisterlin. Die Liste der Briefpartner Bilds ist lang: 37 Mal begegnet der Lauinger Augustinereremit und Hebraist Kaspar Amann, 28 Mal Georg Spalatin am Hofe des sächsischen Kurfürsten, 18 Mal Willibald Pirckheimer in Nürnberg. Das sind nur die Spitzen, zu denen allerdings noch Konrad Peutinger gehört; beide schrieben einander 27 Briefe.39 Ihre Bekanntschaft war älter, als der Briefwechsel dokumentiert. Wohl deshalb fehlt dem ersten erhaltenen Zeugnis von 1513 jegliches für Humanistenkorrespondenz typische Werben Bilds um Freundschaft. Er bittet den Gelehrten ganz direkt um eine Worterklärung und knüpft dabei unmittelbar an eine Korrespondenz zwischen Peutinger und Johannes Reuchlin an. Das lässt darauf schließen, dass Bild damals an den Gesprächen im peutingerschen Umfeld unmittelbar teilhatte. 40 Das Schreiben spielt auf zwei Juvenalkodizes in der Klosterbibliothek von St. Ulrich an und weist damit auf Ankauf und Ausleihe von Büchern als ein wiederkehrendes Thema des brieflichen Austauschs. Wenig später erbat Bild von Peutinger die Fasten Ovids und ein griechisches Wörterbuch.41 Er demonstrierte philologisches Interesse bei der Lektüre des Kyrillos von Alexandria, indem er von Peutinger Aufschluss über eine unklare Textstelle begehrte.42 Öfters fesselten Angelegenheiten der praktischen Wissenschaften die beiden Augsburger. Peutinger

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Zeilen in: Wolfenbütteler Renaissance-Mitteilungen (2007), im Druck. Vgl. auch H. Müller, Ziesak: Bild (wie Anm. 6). Zu den Daten vgl. H. Müller, Ziesak: Bild (wie Anm. 6), S. 44–46 mit Anm. 73; H. Müller: Habit und Habitus (wie Anm. 1), S. 321–324. Briefwechsel Peutinger (wie Anm. 2), S. 180f. Nr. 106, 1513 (Anfang). Vgl. die beiden vorangehenden Briefe. Bereits 1509 wurde Bild als Briefübermittler an Peutinger eingesetzt; ebd., S. 111 Nr. 65, 1509 VIII 28. Briefwechsel Peutinger (wie Anm. 2), S. 181 Nr. 107, (1513 Anfang); S. 190f. Nr. 112, (1513 IV 5/6). Ebd., S. 245f. Nr. 149, 1514 IV 11. Der Cyrillus ist im Text nicht näher spezifiziert. Es dürfte sich aber um den gegen Nestorius argumentierenden griechischen Patriarchen in Ägypten (412–444) handeln.

Der Beitrag der Mönche zum Humanismus

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bestellte bei Bild Gutachten über eine Münze mit dem Bild des byzantinischen Kaisers Herakleios (610–642)43 und die Europakarte des Nikolaus von Kues.44 Der Benediktiner ist zudem einer Gruppe mathematisch-astronomisch interessierter Mönche im Donauraum zuzurechnen. Er versuchte die geographischen Koordinaten Augsburgs exakt zu bestimmen und die Folgen für den astronomischen Kalender daraus zu berechnen. 45 Peutingers Interesse für historische Militärtechnik teilte Veit dagegen nicht. Als der Gelehrte einmal um Auskunft über die Kriegsmaschinen des Archimedes bat, verwies ihn der Mönch knapp auf Vegetius, Vitruv und Frontin, deren Werke jüngst im Druck erschienen waren. Der Berührungspunkt lag hier im Gespräch über antike Autoren, und auf dieses Feld leitete Bild im Brief wieder zurück, als er den Kommentar des Quintus Asconius zu den Reden Caesars zurückverlangte, damit das Werk seinen Platz in der Klosterbibliothek wieder einnehmen könne. 46 Dies dürfte als Demonstration genügen, in welcher Weise sich humanistischer Dialog im Briefwechsel vollzog, wie aus dem Reservoir der studia humanitatis ganz unterschiedliche Themen emporgehoben und gemeinsam verfolgt wurden. Es zeigt sich ferner die Bedeutung des Briefs als Instrument humanistischer Gemeinschaftsbildung, denn wir besitzen diese Briefe, obwohl beide Korrespondenten an einem Ort lebten und wir mit einem erheblichen Anteil mündlicher Kommunikation rechnen müssen. Peutinger und Bild begegneten einander nicht nur zum Fischessen an Karfreitag, dem Brief selbst kommt also eine Funktion zu, die über die bloße Informationsvermittlung weit hinausgeht. Angesichts der engen Austauschbeziehung zwischen Veit Bild und Konrad Peutinger erstaunt es, dass der Benediktiner in den Quellen nie explizit dem Kreis der Sodalitas Augustana zugerechnet wurde. War Bild für diesen exklusiven Zirkel von zu einfacher Herkunft? Stets wurden dort die nobiles, die cives ––––––––– 43

44 45

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Vgl. dazu jetzt Johannes Helmrath: Bildfunktionen der antiken Kaisermünze in der Renaissance oder Die Entstehung der Numismatik aus der Faszination der Serie. In: Zentren und Wirkungsräume der Antikerezeption. Zur Bedeutung von Raum und Kommunikation für die neuzeitliche Transformation der griechisch-römischen Antike. Hg. von Kathrin Schade, Detlef Rößler und Alfred Schäfer. Münster 2007, S. 77–97, hier S. 87; irrtümlich als Herakles-Münze angesprochen bei H. Müller: Habit und Habitus (wie Anm. 1), S. 321. Briefwechsel Peutinger (wie Anm. 2), S. 239–242 Nr. 143–145, (1514 I–II). Ebd., S. 267f. Nr. 166, 1515 (XI–XII); S. 364f. Nr. 224, 1522 II 23. Weitere astronomische Themen ebd., S. 386–388 Nr. 242, (1524 II Ende), dazugehörig S. 390–393 Nr. 244f., 1524 III 20 bzw. IV 3; S. 401f. Nr. 251, (1524 Herbst), dazugehörig S. 403f. Nr. 253, (1525 Frühjahr) und S. 410 Nr. 259, (1525); S. 412f. Nr. 261 (1526 vor IV 14). Mit ebd., S. 375f. Nr. 234, (1523 I–II), beginnt eine Serie von Schreiben, die sich mit einem Bild eines von dem Mathematiker Johannes Schöner versprochenen Globus beschäftigen: ebd., Nr. 139, 148, 228, 237f., 240, 286. Zu Bild als Astronom und Instrumentenbauer vgl. Christoph Schöner: Mathematik und Astronomie an der Universität Ingolstadt im 15. und 16. Jahrhundert. Berlin 1994 (Ludovico Maximilianea. Forschungen 13/Münchener Universitätsschriften. Universitätsarchiv), S. 275–278; H. Müller, Ziesak: Bild (wie Anm. 6), S. 41f. Briefwechsel Peutinger (wie Anm. 2), S. 425–428 Nr. 269f., (1528 Frühjahr). Zum Kommentar des Grammatikers Asconius (9 v. Chr–76 n. Chr.): […] quom locum habeat publicum nostra in bibliotheca (S. 428). Zu den skurrilsten Spielarten des Humanismus dürfte im Übrigen gehören, dass Peutinger an Maximilian I. eine Liste mit 137 antiken Frauennamen zur Benennung von Geschützen übersandte; ebd., S. 268 Nr. 167, 1516 II 21.

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und ausdrücklich die canonici der Domkirche hervorgehoben; bis auf den Abt Konrad Mörlin, über dessen Interessen und Leistungen wir praktisch nichts wissen, begegnet unter ihnen kein Mönch.47 Dieser von Jan-Dirk Müller anhand von Epigrammen, die einigen Druckwerken aus dem Peutingerkreis beigegeben waren, erhobene Befund trennt die auf Standesqualität achtende öffentliche Sodalitas Peutingers von unspektakulären „Arbeitskontakten“ mit Personen wie Nikolaus Ellenbog aus Ottobeuren oder dem Schulmeister Johannes Pinician, der Peutingers Söhne unterrichtete.48 In diese Kategorie könnte wohl auch Veit Bild gehört haben. Wie dem auch sei, die genaue Lektüre der Korrespondenz führt über eine schematische Einordnung der sozial abgestuften Beziehungen zu Peutinger hinaus. Denn zwischen Bild und Peutinger kam es Ende 1515 offenbar zu einer Verstimmung, die das Abreißen der Briefserie zur Folge hatte. Erst 1521 wurde der Kontakt offenbar von Peutingers Seite erfolgreich neu belebt.49 Ein nochmaliger Blick auf die von Jan-Dirk Müller als Indizien der Zugehörigkeit zur Sodalitas Augustana herangezogenen Titel zeigt, dass diese entweder vor Veits Augsburger Aktivitäten datieren oder exakt in die Zeit der Funkstille zwischen ihm und Peutinger fallen. 50 Während man grundsätzlich neben dem Briefkontakt von mündlicher Kommunikation zwischen Bild und Peutinger ausgehen muss, ist indessen kaum anzunehmen, dass Veit auch in den sechs Jahren, in denen der Briefverkehr zwischen beiden so bedrückend ruhte, an der um Peutinger gruppierten Augsburger humanistischen Gemeinschaft überhaupt aktiv teilhatte. Erst die Briefüberlieferung macht also diesen zeitweiligen Bruch im Verhältnis beider überhaupt erkennbar.

5.

Vergleich und Ausblick

Wir wären froh, besäßen wir für Sigismund Meisterlin eine im Ansatz vergleichbare Dokumentation. Er und Bild erscheinen im Vergleich wie Antipoden, obwohl sie in derselben Stadt und im selben Kloster tätig waren. Die Bedingungen wie die Art ihrer humanistischen Betätigungen differieren grundsätzlich. Das beginnt mit den klösterlichen Strukturen. Mit Aufnahme des Stu––––––––– 47

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50

Vgl. J.-D. Müller: Peutinger (wie Anm. 21), S. 173, 180–183; H. Müller, Ziesak: Bild (wie Anm. 6), S. 48, Anm. 83 vermuten die einfache soziale Herkunft Veits als Hemmnis. Vgl. auch Gier: Waldkirch (wie Anm. 10), S. 115 (Dominanz der Domherren). J.-D. Müller: Peutinger (wie Anm. 21), S. 172f., 183. Briefwechsel Peutinger (wie Anm. 2), S. 351f. Nr. 216, (1521 VIII–IX), hier S. 351: cupiens renovare amiciciam. Das letzte vorausgegangene Schreiben war ebd., S. 267f. Nr. 166, 1515 (XI–XII), mit dem Bild um den Druck von ihm berechneter astronomischer Tafeln gebeten hatte. Peutinger hatte dem vermutlich nicht entsprochen. Unmittelbar nach Wiederanknüpfen des Kontakts sendet Bild ein Widmungsschreiben für jene damals erhoffte Druckausgabe: ebd., S. 364f. Nr. 224, 1522 II 23. Vgl. H. Müller, Ziesak: Bild (wie Anm. 6), S. 44, 47f. J.-D. Müller: Peutinger (wie Anm. 21), S. 169f.

Der Beitrag der Mönche zum Humanismus

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diums in Padua 1457 gab Meisterlin die Zugehörigkeit zum Konvent von St. Ulrich de facto auf. Das rastlose Wanderleben der kommenden Jahrzehnte führte ihn unter anderem ins Elsass und nach Nürnberg. Mit dem benediktinischen Gebot der stabilitas loci hatte dies nichts gemein. Richard Stauber sprach deshalb sogar von einem „früheren Benediktinermönch“. 51 Anders Veit Bild, der nicht mit der stabilitas, wohl aber mit dem Klausurgebot kämpfte. Die eingangs erwähnte Einladung zum Fischessen bei Peutinger, ausgerechnet in der liturgisch aufwändigen Karwoche, suggeriert eine Selbstverständlichkeit, die so nicht bestand. Um Peutinger zu besuchen, benötigte Bild die Einwilligung des Abtes. Der aber war dem Treiben der beiden wohl gesinnt. Er erteilte Bruder Veit 1525 eine Generalerlaubnis, den Gelehrten aufzusuchen, um mit ihm zu schwatzen, wann immer dieser es wünschte. Die Befreiung des Mönchs vom Klausurgebot und seine Freistellung, die zu den Obliegenheiten des klösterlichen Tagesablaufs in unausweichliche Konkurrenz trat, erhellen schlaglichtartig die Bedingungen des Gedankenaustauschs über Klostermauern hinweg. Stets bedurfte es dazu der Unterstützung, zumindest der wohlwollenden Duldung durch den Abt.52 In einem abgelegenen Landkloster hätte eine solche Dispens aber wenig Nutzen entfaltet. Anders etwa als ein Nikolaus Ellenbog in Ottobeuren profitierte Bild direkt vom kulturellen Reichtum der Reichsstadt. Doch Bilds brieflicher Horizont reichte weit über die Stadt am Lech hinaus und er schloss nicht nur humanistische Kernthemen ein, sondern vor allem den mathematisch-astronomischen Sektor. Insofern vermittelt er das Bild eines in den Wissenschaften rege kommunizierenden Mönchs mit Sitz und Verwurzelung in Augsburg. Von Konflikten, die Veit ob seiner Interessen mit Klosterbrüdern auszufechten hatte, ist nichts bekannt. Manches, nicht zuletzt die Vermutung, dass er an Leonhard ––––––––– 51

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Richard Stauber: Die Schedelsche Bibliothek. Ein Beitrag zur Geschichte der Ausbreitung der italienischen Renaissance, des deutschen Humanismus und der medizinischen Literatur. Nieuwkoop 1969 (Nachdruck der Ausgabe Freiburg 1908) (Darstellungen aus dem Gebiete der Geschichte VI 2/3), S. 71. Vgl. auch Milde: Bibliothekarische Tätigkeit (wie Anm. 26), S. 67: „beispiellose[s] Wander- und Vagantenleben eines Benediktinermönches“. Ähnlich Klaus Schreiner: Erneuerung durch Erinnerung. Reformstreben, Geschichtsbewußtsein und Geschichtsschreibung im benediktinischen Mönchtum Südwestdeutschlands an der Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert. In: Historiographie am Oberrhein im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit. Hg. von Kurt Andermann. Sigmaringen 1988 (Oberrheinische Studien 7), S. 35–87, hier S. 78, Anm. 173; Proksch: Klosterreform (wie Anm. 23), S. 41: „rastloses Wanderleben auf der Suche nach einer für ihn einträglichen Pfründe“. Briefwechsel Peutinger (wie Anm. 2), S. 409f. Nr. 258, (1525), hier S. 410: […] paterne et benigne concessit, ut quacunque die vel hora a te vocatus fuerim, te ocius adeundo quaeque tibi placita agerem confabularerque. Das Wohlwollen des Abtes von St. Ulrich darf vorausgesetzt werden, bezieht ihn Veit Bild doch auch in die vertraute Scherzgemeinschaft mit Peutinger ein, die zwischen ihm und Peutinger bestand – der kurze Brief enthält allein drei Mal jocare/jocus. Eine Ausgangserlaubnis wird ausdrücklich erwähnt ebd., S. 190f. Nr. 112, (1513 IV 5/6). Vgl. auch ebd., S. 403f. Nr. 253, (1525 Frühjahr), mit der Bitte an Peutinger, die nötige Erlaubnis für ein Zusammentreffen zu erwirken: Tuum ergo esset, id impetrare (S. 404).

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Wagners Proba centum scripturarum beteiligt war, lässt an eine geneigte Umwelt in St. Ulrich und Afra denken. 53 Dagegen scheint dasselbe Kloster auf die Interessen Meisterlins keinen nennenswerten Einfluss gehabt zu haben. Deutlich prägender war der Kreis um Gossembrot. Auf den Patrizier blieb Meisterlin im Gedankenaustausch wie in der Selbstinszenierung als Humanist dauerhaft fixiert. Die erhaltenen Briefzeugnisse sind dabei in typischer Weise um Abgrenzung von Andersdenkenden und Solidarisierung mit Gleichgesinnten bemüht, doch schon in Augsburg, erst recht später, bleibt Meisterlin solitär, ohne jede feste Einbindung in humanistische Kommunikationszirkel. Meisterlin und Bild markieren unterschiedliche Pole des Augsburger Humanismus und sie spiegeln die Möglichkeiten ihrer jeweiligen Zeit: Hier die kleine Augsburger congregatio, die sich um die Mitte des 15. Jahrhunderts in ihren noch elitären Interessen untereinander immer wieder demonstrativ bestärken musste; dort – gut ein halbes Jahrhundert später – ein städtisches Milieu, in dem humanistische Neigungen im weitesten Sinne überhaupt nicht mehr exotisch waren. Veit Bild genoss darin zugleich eine dreifache Begünstigung, die für humanistische Neigungen von Mönchen grundsätzliche Bedeutung besitzt: Seine vor dem Klostereintritt erworbene Bildung erlaubte ihm, wissenschaftliche Vorlieben zu pflegen, sein Kloster lag mitten in einem Zentrum „städtisch-humanistischer Diskurskultur“ (Wolfgang E. J. Weber) und schließlich gewährte der Abt ihm großzügig Freiraum für Beschäftigungen, die in der Summe nicht zum approbierten Kanon benediktinischer Lebensgewohnheit gehörten. Von dieser verheißungsvollen Trias konnten die meisten Mönche im Reich, die mit den studia humanitatis liebäugelten, nur träumen!

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Vgl. zum humanistischen Milieu in St. Ulrich zu dieser Zeit die Beispiele bei Paul Joachimsohn: Zur städtischen und klösterlichen Geschichtsschreibung Augsburgs im fünfzehnten Jahrhundert. In: Alemannia. Zeitschrift für Sprache, Kunst und Altertum besonders des alemannisch-schwäbischen Gebiets 22 (1894), S. 1–32 und 123–159, wieder abgedruckt in: ders.: Gesammelte Aufsätze. Bd. 2 (wie Anm. 23), S. 463–531, bes. S. 495–511; Graf: Ordensreform (wie Anm. 14), S. 140–144.

VIII. Gelehrtenprofile des Augsburger Späthumanismus

Magnus Ulrich Ferber

„Cives vestros sine controversia habeo pro Germaniae cultissimis“ Zum Verhältnis von Späthumanismus und Konfessionalisierung am Beispiel der bikonfessionellen Reichsstadt Augsburg

I. Die europäische Kulturgeschichte um 1600 war durch zwei Entwicklungen gekennzeichnet, deren Verhältnis zueinander als vielschichtig zu bezeichnen ist, nämlich zum einen durch die Konfessionalisierung und zum anderen durch den Späthumanismus. 1 Zwar gilt, dass der Renaissance-Humanismus in seiner philologischen Grundeinstellung prinzipiell „religiös indifferent“2 war, doch führte just diese Offenheit in dem Moment, als sich der Humanismus als gängiges Bildungsideal durchgesetzt hatte, dazu, dass sich alle Konfessionen seiner als Mittel zur Vereinheitlichung der Bildungsstandards unter konfessionellem Vorzeichen bedienten. 3 Dies hatte zur Folge, dass die für die Humanisten typische Auseinandersetzung mit den antiken Klassikern, die ursprünglich ein Moment der geistigen Emanzipation in sich barg, zu einem Instrument der Disziplinierung wurde, wobei mit Walther festzuhalten ist, dass diese Disziplinierung zuweilen von den geistigen Eliten selbst gewünscht wurde.4 Gleichzeitig bedrohte die sich verfestigende Glaubensspaltung die angestrebte Einheit der europäischen Gelehrtenwelt, wie sie im humanistischen Ideal der res publica litteraria zum Ausdruck kommt. 5 Um diese Entwicklungen konkret fassen zu können, bietet sich eine Untersuchung der Augsburger Humanisten dieser Zeit an. Schließlich kann die bikon––––––––– 1

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4 5

Vgl. Gerrit Walther: Humanismus und Konfession. In: Späthumanismus. Studien über das Ende einer kulturhistorischen Epoche. Hg. von Notker Hammerstein und Gerrit Walther. Göttingen 2000, S. 113–127. Erich Meuthen: Charakter und Tendenzen des deutschen Humanismus. In: Säkulare Aspekte der Reformationszeit. Hg. von Klaus Angermeier. München u. a. 1983 (Schriften des Historischen Kollegs. Kolloquien 5), S. 217–266, hier S. 220. Vgl. Wolfgang Reinhard: Was ist katholische Konfessionalisierung? In: Die katholische Konfessionalisierung. Hg. von dems. und Heinz Schilling. Münster 1995 (Reformationsgeschichtliche Studien und Texte 135), S. 419–445, hier S. 431. Vgl. Walther: Humanismus (wie Anm. 1), S. 115. Die beste Analyse, was die res publica litteraria darstellte bzw. darstellen sollte, findet sich bei Herbert Jaumann in seiner Einleitung zu: Die europäische Gelehrtenrepublik im Zeitalter des Konfessionalismus. Hg. von dems. Wiesbaden 2001 (Wolfenbütteler Forschungen 96), S. 11–19.

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fessionelle Reichsstadt Gelehrte beider Konfessionen von europäischem Rang vorweisen, die mit dem 1531 gegründeten Gymnasium bei St. Anna6 und dem 1582 eröffneten Jesuitenkolleg 7 über eigene Bildungsinstitutionen verfügten. Das bürgerliche Umfeld sowie die Verpflichtung des Magistrats seit dem Augsburger Religionsfrieden, beide reichsrechtlich anerkannten Konfessionen innerhalb der Mauern zu schützen, schufen dabei einen vergleichsweise großen Freiraum für die Gelehrten – auch in konfessionellen Fragen. Als Beispiele sollen im Folgenden vor allem der Rektor des Anna-Gymnasiums, David Höschel (1556–1617), und der Jesuit Matthäus Rader (1561–1634), der von 1591 bis 1612 an der Augsburger Jesuitenschule als Lehrer wirkte, herangezogen und in ihrer Einstellung zu Humanismus und Konfession, ihrer Verortung innerhalb der europäischen Gelehrtenwelt und schließlich in ihrer innerstädtischen Zusammenarbeit untersucht werden.

II. David Höschel8 wurde 1556 in Augsburg in ein klar protestantisch geprägtes Umfeld hineingeboren. Sein Vater, ein deutscher Schulmeister,9 zog es 1548 vor, kurzzeitig die Reichsstadt zu verlassen, um nicht das Augsburger Interim akzeptieren zu müssen. Trotz der geringen Mittel seiner Familie – seine Mutter musste nach dem Tode des Vaters den Unterricht übernehmen, um sich und ihre Kinder über Wasser zu halten – konnte David Höschel das Anna-Gymnasium besuchen. Seine Stellung als Lieblingsschüler des Hieronymus Wolf10 brachte ihm ein städtisches Stipendium ein; zudem wurde er von dem katholischen Patrizier Matthäus Welser d. Ä. finanziell unterstützt. 1576 setzte er seine Studien am lutherisch geprägten Gymnasium illustre in Lauingen fort, um schließlich von 1578 bis 1581 in Leipzig zu studieren. Einer seiner dortigen Professoren, ––––––––– 6 7 8

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Zur Geschichte dieses Gymnasiums vgl. Karl Köberlin: Geschichte des Hum[anistischen] Gymnasiums bei St. Anna in Augsburg von 1531 bis 1931. Augsburg 1931. Zur Geschichte des Augsburger Jesuitenkollegs vgl.: Die Jesuiten und ihre Schule St. Salvator in Augsburg. Hg. von Wolfram Baer und Hans Joachim Hecker. Augsburg 1982. Zu ihm vgl. Siegfried Spring: David Hoeschel 1556–1617. In: Lebensbilder aus dem Bayerischen Schwaben. Bd. 14. Hg. von Wolfgang Haberl. Weißenhorn 1993 (Veröffentlichungen der Schwäbischen Forschungsgemeinschaft bei der Kommission für bayerische Landesgeschichte III, 14), S. 85–121; Richard Schmidbauer: Die Augsburger Stadtbibliothekare durch vier Jahrhunderte. Augsburg 1952 (Abhandlungen zur Geschichte der Stadt Augsburg 10), S. 101–112; Köberlin: Geschichte (wie Anm. 6), S. 121–138. Nach unseren Begriffen also ein Volksschullehrer. Zu ihm vgl. Helmut Zäh: Die ‚Bibliotheca Wolfiana‘ in Neuburg. Zur Geschichte der Privatbibliothek des Hieronymus Wolf (1516–1580). In: Bibliotheken in Neuburg an der Donau. Sammlungen von Pfalzgrafen, Mönchen und Humanisten. Hg. von Bettina Wagner. Wiesbaden 2005, S. 105–135; Hans-Georg Beck: Hieronymus Wolf (1516–1580). In: Lebensbilder aus dem Bayerischen Schwaben. Bd. 9. Hg. von Wolfgang Zorn. München 1966 (Veröffentlichungen der Schwäbischen Forschungsgemeinschaft bei der Kommission für bayerische Landesgeschichte III, 9), S. 169–193.

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Georg Bersmann, 11 verlor 1580 seine Stellung, da er sich weigerte, die Konkordienformel von 1577, das Grundgesetz der lutherischen Orthodoxie, zu beeiden, was er in einem Brief an Höschel so begründet: Video ego in ista ἱεροφαντοκρατία et contemptu humanitatis et litterarum metuendam nobis esse superioris saeculi barbariem ac tenebras obscuratas religionis ac doctrinae ὀρθοδόξου.12

Diese Stelle belegt das Unbehagen einiger Humanisten gegenüber den Konfessionalisierungstendenzen im Bildungswesen und aus der Tatsache, dass diese Überzeugung gegenüber Höschel geäußert wurde, lässt sich eine ähnliche Einstellung des Augsburgers erahnen. Nach dem Tode seines Lehrers Wolf wurde Höschel 1581 Lehrer am Augsburger Anna-Gymnasium, dem er trotz Berufungen nach Basel und Altdorf bis an sein Lebensende treu blieb. 1593 wurde er Rektor sowie Stadtbibliothekar und musste bei dieser Gelegenheit selbst die Konkordienformel beeiden, wobei er sich sonderlich der Auflage des beschuldigten Calvinismi (quoad articulum ad Coena[m]), als er von uns deßwegen […] zur red gestelt worden, zum heftigsten entschuldiget13 hat, wie der Oberscholarch dem Rat der Stadt meldete. Beide Nachrichten, der Calvinismusvorwurf gegen Höschel und seine Beziehung zu Bersmann, können in zwei Richtungen gedeutet werden: Entweder hatte Höschel tatsächlich eine theologische Grundüberzeugung, die mit der Konkordienformel in Konflikt stand, oder er bewahrte sich aus seinem Selbstverständnis als Humanist heraus die Einstellung, sich in theologischen Fragen nicht festlegen zu lassen – eine Haltung, die im Zeitalter der sich formierenden Konfessionsblöcke nur mit dem Vorwurf, einer dritten Konfession zuzuneigen, verstanden werden konnte. Die These von der konfessionellen Indifferenz Höschels erhält Nahrung durch eine Notiz seines katholischen Freundes Marx Welser, 14 einem Sohn des oben erwähnten Matthäus, der 1599 an seinen Großcousin, den bayerischen Oberstkanzler Herwarth, schreibt:

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Zu ihm vgl. Deutsche Biographische Enzyklopädie. Bd. 1. München 1995, S. 479. Kopenhagen, Det kongelige Bibliothek, NKS 179f, 8° unfol. Übersetzung: „Ich sehe in dieser Herrschaft der Oberpriester und der Vernachlässigung der humanistischen Gelehrsamkeit ein Zeichen dafür, dass wir die Barbarei des vergangenen Zeitalters und die dunklen Schatten der Religion und der Orthodoxie zu fürchten haben.“ Zit. nach Spring: Hoeschel (wie Anm. 8), S. 97. Zu Welsers Biographie vgl. Magnus Ulrich Ferber: „Scio multos te amicos habere.“ Wissensvermittlung und Wissenssicherung im Späthumanismus am Beispiel des Epistolariums Marx Welsers d. J. (1558–1614). Augsburg 2008 (Documenta Augustana 19), S. 28–92; Benedikt Mauer: Der Patrizier als Archäologe. Marcus Welser und Augsburgs römische Vergangenheit. In: Stadt und Archäologie. Hg. von Bernhard Kirchgässner und Hans-Peter Becht. Stuttgart 2000 (Stadt in der Geschichte 26), S. 81–100; Bernd Roeck: Geschichte, Finsternis und Unkultur. Zu Leben und Werk des Marcus Welser (1558–1614). In: Archiv für Kulturgeschichte 72 (1990), S. 115–141.

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Noch vernemme ich, das sich Haeschelius eben iezo auff die Reiß nach München begeben, dem wirdt diß schreiben zu bestellen behendiget. Schadt nitt, wan ime P. Gretserus in causa religionis etwas zuosprechen.15

Damit kann jedoch nicht abschließend entschieden werden, ob damit gemeint ist, dass der berühmte Jesuit Jakob Gretser16 sich um eine Konversion Höschels zum Katholizismus bemühen sollte. Falls es einen derartigen Versuch überhaupt gab, so hatte er keinen Erfolg. Auch ein Blick auf Höschels wissenschaftliches Werk erlaubt kein eindeutiges Urteil über seine religiöse Einstellung; es finden sich dort fast ausnahmslos Editionen insbesondere griechischer Autoren, vornehmlich aus der Byzantinistik und der Patristik. Er folgte dabei seinem Vorbild Wolf, der sich als Gräzist einen Namen gemacht hatte. Vorrangiges Ziel dieser Arbeiten war es, griechische Handschriften, wie sie in der Augsburger Stadtbibliothek vorlagen, nach humanistischer Manier in ihrer Textgestaltung zu rekonstruieren und der res publica litteraria im Druck zur Verfügung zu stellen in der Überzeugung thesauri sub terra defossi nullum esse fructum, wie Höschel in der Widmungsepistel seines Katalogs des Augsburger Bestandes an griechischen Handschriften formuliert. 17 Allerdings lassen einige Titel aufhorchen: So etwa Höschels griechische Ausgabe der Schrift De praedestinatione des byzantinischen Patriarchen Gennadius Scholarius, 18 deren Grundgedanke entgegen der lutherischen Lehrauffassung die Prädestinationslehre unterstützt, wie sie der calvinistischen Theologie zugrunde liegt. Höschels Edition gerade dieser Abhandlung kann daher durchaus auch als verstecktes Bekenntnis zu dieser Konfession gedeutet werden. Dass die Späthumanisten ihre eigene theologische Grundüberzeugung durch die Edition von Autoren, die ähnlich dachten, nur indirekt äußerten, war eine gängige Methode, 19 doch wurde dieses Versteckspiel ebenso leicht enttarnt. Es klingt daher wie das sprichwörtliche Pfeifen im Walde, wenn der niederländische Philosoph Justus Lipsius in seinem Dankesschreiben für die Edition der Bibliothek des Photios durch Höschel20 äußert, dass die Theologen, wenn sie etwas gegen diese Schrift einzuwenden hätten, nicht den Editor dafür verantwortlich machen sollten. 21 Die Gefahr, mit dieser Edition Probleme mit den ––––––––– 15 16 17

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München, Bayerische Staatsbibliothek, clm 1607, S. 235. Zu ihm vgl. Hermann König: Jakob Gretser SJ. In: Freiburger Diözesan-Archiv 77 (1957), S. 136–170. David Höschel: Catalogus Graecorum codicum, qui sunt in bibliotheca reip[ublicae] Aug[ustanae] Vindeliciae. Augsburg 1595. Übersetzung: „[…] dass es keinen Nutzen gibt von einem unter der Erde verborgenen Schatz.“ Augsburg 1596. Vgl. Walther: Humanismus (wie Anm. 1), S. 126. Augsburg 1601. Justus Lipsius an Marx Welser am 16. August 1601: De Photio etiam vestro iudicium meum poscebas. Et meum hercle bonum est ac iudico magno publico usu divulgatum et nostro inprimis, qui φιλολογίαν amamus; theologos aiunt quosdam dissentire et errores in eo notare: credo equidem, sed cui noxae, si seorsim notentur? Das Konzept dieses Schreibens findet sich in Leiden, Universiteitsbibliothek, ms. Lips. 3 (4), fol. 144. Es ist gedruckt

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Theologen zu bekommen und möglicherweise auf dem katholischen Index der verbotenen Bücher zu landen, war dem Editor schon zu Beginn seiner Beschäftigung mit Photios bewusst, weshalb bereits 1598 ein Gutachten von Antonio Possevino zu Photios22 angefordert wurde. Darin betont der italienische Jesuit zwar, dass Photios aus der Sicht der römischen Kirche ein Häretiker war, doch blieb sein Urteil schließlich abwägend.23 Dabei wandte man sich an die richtige Autorität, schließlich entwickelte Possevino sein Konzept von der Bibliotheca selecta, das die Existenz des Index theoretisch absicherte, ausgerechnet ausgehend von der Bibliothek des Photios, hatte doch der byzantinische Theologe darin nicht nur Bücher exzerpiert, sondern auch auf ihre Bedeutung hin nach theologischen wie ästhetischen Gesichtspunkten bewertet. 24 Die Methode, eigene theologische Anschauungen durch die Editionen von Konzilsakten, wie sie sowohl von Höschel wie von Rader vorliegen,25 oder von Texten der Kirchenväter26 zu stützen, wurde dabei von beiden Konfessionen in derselben Weise praktiziert. Augenfällig wird dies am Beispiel der Augsburger Edition des neuentdeckten Liber de gestis Pelagii des Augustinus,27 die von Höschel sowie von Marx Welsers Bruder Anton, einem Freisinger Domherren, und somit von konfessionsverschiedenen Bearbeitern besorgt wurde. Das Pikante an –––––––––

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bei Pieter Burman: Sylloge epistolarum a viris illustribus scriptarum. Bd. 1. Leiden 1727, Nr. 677. Übersetzung: „Du wolltest auch mein Urteil über euren Photios. Und mein Urteil ist wahrlich positiv und ich glaube, dass diese Edition von großem öffentlichen Nutzen ist, besonders für uns, die wir die Philologie lieben. Man sagt, dass irgendwelche Theologen anderer Meinung sind und Irrtümer bei ihm nachweisen wollen. Ich glaube allerdings, dass es niemandem schadet, wenn sie das für sich tun.“ Eine Abschrift hat sich erhalten in Mailand, Biblioteca Ambrosiana, D 195 inf. fol. 63f. Veruntamen istis sublatis, quorum nominatim facere mentionem haudmodo libet, sciant studiosi non minimum aliquando pondus habitura, quae ex ipso Photio afferri possunt testimonia, dum in eo tot encomia et panegyricos legimus de Sancto Celestino Papa, de Sancto Leone et Sancto Gregorio aliisque summis Pontificibus et Sanctis Patribus, de maiestate item Pontificia deque Apostolicae Sedis auctoritate et aliis huiusmodi eo facturis efficationibus argumentis (ebd., fol. 64r). Übersetzung: „Trotz dieser Unterstellungen, deren Erwähnung ausdrücklich nicht nur beliebig ist, sollen die Gelehrten wissen, dass es einmal ein großes Gewicht haben wird, was für Zeugnisse von Photios selbst angeführt werden können, solange wir darin so viele Lobreden über die Päpste Coelestin, Leo den Großen und Gregor den Großen und andere Päpste und heilige Kirchenväter über den Vorrang des Papstes und die Autorität des Apostolischen Stuhles sowie über andere derartigen Themen lesen.“ Vgl. Wolfgang E. J. Weber: Die Hypothesen des byzantinischen Patriarchen, Augsburg und die Literaturkritik. Zu einer Traditionslinie der europäischen Wissenskultur. In: Mitteilungen des Instituts für Europäische Kulturgeschichte 5 (2000), S. 53–58; Helmut Zedelmaier: Bibliotheca universalis und bibliotheca selecta. Das Problem der Ordnung des gelehrten Wissens in der Frühen Neuzeit. Köln u. a. 1992, S. 149. Höschel steuerte dabei die Synopsis septem sanctorum conciliorum oecumenicorum graece. Augsburg 1595 bei. Von Rader stammt die Ausgabe der Acta sacrosancti et oecumenici consilii octavi. Ingolstadt 1604. Von Höschel stammen u. a.: Gregor von Nazianz: Arcana. Leiden 1591; Gregor von Nyssa: Opuscula quinque. Leiden 1593; Johannes Chrysostomus: De sacerdotio. Augsburg 1599; Origenes: Contra Celsum. Augsburg 1605. Augsburg 1611.

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dieser Schrift ist dabei die Tatsache, dass es sich zwar eigentlich nur um eine von Augustinus kommentierte Edition der Synodalakten von Diospolis handelt, die Intention des Bischofs von Hippo ist allerdings eindeutig die Bloßstellung seines theologischen Gegners Pelagius, der dort als Häretiker verworfen wurde – die Parallele zur Motivation der Konzilsakteneditoren unter den Späthumanisten ist frappant. Die Methode der Augsburger Erstedition ist zwar klassisch humanistisch, die damit verbundene Intention aber doppelt konfessionell geprägt. Die Schrift richtet sich daher auch ausdrücklich an viros pios et eruditos. 28 Allerdings lässt sich bei all den genannten Projekten nicht genau abschätzen, wie die Motivlage Höschels im Einzelnen war, ob das Moment der philologischen Grundlagenarbeit oder das der versteckten theologischen Äußerung überwog, findet sich doch bei ihm auch die Edition der Vita Sancti Antonii Eremitae,29 ohne dass daraus sofort auf einen Hang Höschels zur Heiligenverehrung oder gar zum Mönchtum geschlossen werden muss. Da es von Höschel selbst keine dezidierte Äußerung zu seiner konfessionellen Einstellung gibt, lohnt ein Blick auf seine Korrespondenzen. Diese liegen allerdings nicht geordnet vor; Höschel hinterließ keinen Briefnachlass und bis heute hat sich kein Bearbeiter gefunden, der dieses Epistolarium systematisch aufgearbeitet hätte. Hinweise auf einzelne Bestände finden sich bei Schmidbauer30 und Veith. 31 Einen bemerkenswerten Einblick in die Weitläufigkeit von Höschels Briefwechseln erhält man zudem in der handschriftlichen Sammlung Excerpta ex epistolis clarorum virorum ad Davidem Hoeschelium scriptis, die sich in Kopenhagen erhalten hat. 32 Bereits bei der Auswertung der in diesen Quellen benannten Stücke ergibt sich ein interessanter Einblick in den Korrespondentenkreis Höschels, der belegt, dass der Augsburger Stadtbibliothekar voll in die res publica litteraria integriert war. Es finden sich Briefpartner in allen Zentren des Späthumanismus, allerdings mit einer Auffälligkeit: Höschels Kontakte nach Italien sind nur schwach ausgeprägt. Die Vermutung, dass dies einen konfessionellen Hintergrund hat, verstärkt sich, wenn die Konfession seiner Briefpartner genauer untersucht wird. Höschels intensive Kontakte nach Heidelberg33 und Leiden,34 beides Bildungszentren in calvinistischem Umfeld, zeigen, dass die Differenzierung unter den Gelehrten nach Konfession bereits in einem fortgeschrittenen Zustand war und der Augsburger Humanist Mitglied eines dezidiert protestantischen Gelehrtenmillieus war. ––––––––– 28 29 30 31 32 33

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Ebd., S. 3. Athanasius von Alexandrien: Vita Sancti Antonii Eremitae. Augsburg 1611. Schmidbauer: Stadtbibliothekare (wie Anm. 8), S. 110. Franz Anton Veith: Bibliotheca Augustana. Bd. 6. Augsburg 1790, S. 72f. Kopenhagen, Det kongelige Bibliotheek, NKS 179f 8°. Höschel korrespondierte dort mit dem französischen Diplomaten Jacques Bongars, dem Drucker Hieronymus Commelinus, den kurpfälzer Beamten Marquard Freher und Georg Michael Lingelsheim sowie Jan Gruter. Die Briefpartner Höschels dort waren der Kartograph Abraham Ortelius, der Historiker Johann Meursius und der berühmte Philologe Joseph Justus Scaliger.

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Allerdings kann auch dieser Befund nicht eindeutig als Beleg für einen möglichen Kryptocalvinismus Höschels gewertet werden. Leiden war vor der Synode von Dordrecht 1618 „keineswegs eine calvinistische Kampfstätte“;35 für Heidelberg gilt dies zwar nur bedingt, wurde doch die Kurpfalz sowohl im politischen wie im akademischen Bereich eine Anlaufstätte für andernorts ausgewiesene Calvinisten,36 allerdings spielte auch dort eine tolerante Haltung zu konfessionellen Fragen eine gewisse Rolle. 37 Genaueren Aufschluss über den Charakter von Höschels Korrespondenzen bieten die Inhalte der Briefe. So sind die überlieferten Schreiben des Bibliothekars der damals größten Bibliothek im Reich, der Heidelberger Palatina, Jan Gruter an Höschel,38 in denen auch das im Titel verwendete Lob für die Augsburger als cives […] Germaniae cultissimi […] zu finden ist, 39 fast ausschließlich von Fachangelegenheiten damaliger Bibliothekare geprägt: Es geht um den Austausch von Handschriften oder um Hinweise zu neuerschienenen Büchern, insbesondere von der Frankfurter Messe, die Gruter im Gegensatz zu Höschel regelmäßig besuchte. Ein ähnliches Ergebnis zeitigt die Lektüre der 52 überlieferten Briefe des Pariser Hofbibliothekars Isaac Casaubon an Höschel,40 obwohl auch in diesem Falle eine konfessionelle Affinität der Briefpartner unterstellt werden kann. Konfessionell belastbare Aussagen Gruters gegenüber Höschel gibt es zwei. Einmal schreibt er: Est saeculi morbus, quo eruditio ubique iacet nec imputemus principum moribus41 – eine Aussage, die der zitierten Zeitdiagnose Bersmanns ähnelt – und am 17. November 1610 lobt er den Antwerpener Jesuiten Andreas Schott, den Übersetzer der Bibliothek des Photios,42 mit den Worten: Ita enim sentio, mi Hoescheli, Pontificum aliquem esse posse virum optimum probissimumque. Quamvis hodie fere eo omnes laborent morbo, ut cum in omnibus perque omnia vituperent diffamentque, cuius improbant religionem. Male, male.43

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Gerhard Oestreich: Antiker Geist und moderner Staat bei Justus Lipsius (1547–1606). Der Neostoizismus als politische Bewegung. Göttingen 1989 (Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften 38), S. 54. Vgl. Alex Walter: Späthumanismus und Konfessionspolitik. Die europäische Gelehrtenrepublik um 1600 im Spiegel der Korrespondenzen Georg Michael Lingelsheims. Tübingen 2004 (Frühe Neuzeit 95), S. 118. Vgl. am Beispiel von Höschels Briefpartner Lingelsheim ebd., S. 149. Zu Gruter vgl. Gottfried Smend: Jan Gruter. Sein Leben und Wirken. Ein Niederländer auf deutschen Hochschulen – letzter Bibliothekar der alten Palatina zu Heidelberg. Bonn 1939. Seine Schreiben an Höschel sind in Abschrift überliefert in: Heidelberg, Universitätsbibliothek, Heid. Hs. 1464. Exzerpte finden sich in Kopenhagen (wie Anm. 32). Kopenhagen, Det kongelige Bibliotheek. NKS 179f 8° unfol. Die Briefe sind gedruckt innerhalb von Isaac Casaubon: Epistolae. Magdeburg u. a. 1656. Kopenhagen, Det kongelige Bibliotheek. NKS 179f 8° unfol. Übersetzung: „Das ist die Krankheit unserer Zeit, in der die Bildung daniederliegt. Wir sollten dies aber nicht nur dem Verhalten der Fürsten anlasten.“ Photios: Bibliotheca. Augsburg 1606. Heidelberg, Universitätsbibliothek, Heid. Hs. 1464, S. 179; Kopenhagen, Det kongelige Bibliotheek, NKS 179f 8° unfol. Übersetzung: „Ein Papist, mein Höschel, so meine ich nämlich, kann ein herausragender Mann sein, obwohl heute fast alle an der Krankheit lei-

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Auch wenn das eigene Netzwerk in der Gelehrtenwelt bereits konfessionell geprägt war, wurde zumindest an der ideellen Einheit der res publica litteraria festgehalten. In Höschels Korrespondenzen kann dies immerhin daran abgelesen werden, dass mit Fronto Du Duc und Jakob Gretser auch zwei Jesuiten als Briefpartner auftauchen. Für Höschel gilt also, dass er aus dem humanistischen Bildungsideal heraus gegenüber einer dogmatisch festgelegten Einordnung reserviert gewesen sein dürfte. Allerdings vermied er es, sich zu dieser Frage eindeutig zu äußern, ein deutliches Indiz für die Dominanz der konfessionellen Problematik innerhalb der humanistischen res publica litteraria jener Zeit. Sein Briefwechsel weist ihn dabei als einen Gelehrten aus, der vornehmlich in protestantischen Zirkeln integriert war. Gleichzeitig beweisen seine Veröffentlichungen, dass er bereit war, zum textbasierten theologischen Ringen seiner Zeit einen Beitrag zu leisten und diesem Themenbereich eine herausragende Bedeutung zuzumessen.

III. Anders verhält es sich beim zweiten Fallbeispiel dieser Untersuchung: Da Matthäus Rader44 nach seiner schulischen Ausbildung bei den Innsbrucker Jesuiten 1581 selbst Mitglied der Societas Jesu wurde, erübrigt sich eine Diskussion über seine konfessionelle Zugehörigkeit; entsprechende Erbauungsschriften aus seiner Feder wie das in seiner Augsburger Zeit entstandene Viridarium sanctorum45 lassen an seiner Grundhaltung, möglichst zur Stärkung des Katholizismus gerade in Augsburg beizutragen, wo zu dieser Zeit die Protestanten in der Mehrheit waren, keinen Zweifel. Die Gretchenfrage bei ihm lautet daher: Wie hältst du es mit dem Humanismus? Wie bei Höschel finden sich bei Raders philologischen Werken zahlreiche Editionen und dazugehörige Kommentare, die wie bei Höschel oft zur Byzantinistik zu zählen sind46 – auch hier mit dem oben skizzierten konfessionellen Hintergrund. Wie bei dem Lehrer von St. Anna legte der aus Tirol stammende Jesuit seinen Schwerpunkt auf griechische Texte, möglicherweise ein Hinweis darauf, wie ernst die Augsburger Jesuiten die Konkurrenz mit St. Anna nahmen. Raders bedeutendste Arbeit in diesem Gebiet ist allerdings seine Edition der Epigramme des Martial. 47 Gerade seine Bereitschaft, auch innerhalb seines Or––––––––– 44

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den, dass sie jemanden rundherum kritisieren und diffamieren, dessen Religion sie nicht achten. Schlimm, schlimm.“ Zu seiner Biographie vgl. die Einleitung von Alois Schmid zu: Bayerische Gelehrtenkorrespondenz. P. Matthäus Rader SJ. Bd. 1: 1595–1612. Hg. von dems. München 1995, S. XXIII–LI, besonders S. XXIII–XXIX. 3 Bände. Augsburg 1604–1614. Zu verweisen ist in diesem Zusammenhang auf Petros Sikeliotes: Historia Manichaeorum. Ingolstadt 1604 oder das Chronicon Alexandrinum. München 1615. Marcus Valerius Martialis: Epigrammaton libri XII. Ingolstadt 1599.

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dens als obszön angesehene Epigramme korrekt zu edieren,48 belegt seine Bestrebung, dem humanistischen Forscherideal zu entsprechen. Allerdings war mit diesem Werk erkennbar nicht intendiert, sich selbst in die res publica litteraria zu integrieren. Betrachtet man Raders Briefwechsel in seiner Augsburger Zeit, 49 ist festzustellen, dass fast die gesamte Diskussion zu seiner Edition des Martial ordensintern abläuft. Zwar vermittelten Marx Welser und Raders Ordensbruder Andreas Schott den Kontakt zu Justus Lipsius,50 doch nutzte der Augsburger Jesuit diese Gelegenheit nicht, einen dauerhaften Briefwechsel mit dem berühmtesten Späthumanisten seiner Zeit aufzunehmen, und vergaß sogar, dem Löwener Professor ein Belegexemplar des Martial zuzuschicken.51 Zweck der Edition dürfte vielmehr die Bereitstellung eines Schulautors für den Unterricht gewesen sein,52 wie Rader gegenüber Höschels Nachfolger Elias Ehinger53 in Bezug auf seine Arbeiten zu Curtius Rufus argumentiert. 54 Raders Korrespondentenkreis ist nicht nur in diesem Falle auffällig einseitig; er besteht allgemein vornehmlich aus Jesuiten, so dass sein Gelehrtennetzwerk konfessionell eindeutiger verfasst ist als dasjenige von Höschel. Pointiert formuliert lässt sich aus diesem Beispiel ablesen, dass die Jesuiten nicht daran interessiert waren, sich in die europäische Gelehrtenwelt einzuklinken, sondern vielmehr versuchten, eine eigene res publica litteraria zu bilden. Dabei sollte dieses Netzwerk durch Imitation der Zusammenarbeit der Humanisten bestechen: Die Briefe in der Raderkorrespondenz sind stark von Anspielungen auf antike Klassiker geprägt und beweisen dadurch zur Genüge, dass die Jesuiten auf dem Stand ihres kulturellen Umfeldes agierten. Allerdings wird in diesen Texten eine stärkere Normierung sichtbar, wenn der dortige Austausch nicht, wie unter Humanisten üblich, nach dem Ideal der amicitia vonstatten geht, sondern erkennbar Schüler mit ihren Lehrern, Autoren mit ihren Zensoren oder einfache Patres mit ihren Ordensoberen korrespondieren. Auch die Frage nach dem Stil wird strikter gehandhabt, wenn Rader seine beiden Augsburger Schüler

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Vgl. dazu den Beitrag von Stefan W. Römmelt in diesem Band. Dieser liegt ediert vor bei Schmid: Gelehrtenkorrespondenz (wie Anm. 44). Vgl. ebd., Nr. 9, 12, 74. Vgl. ebd., Nr. 74 und Marx Welser an Justus Lipsius am 16. August 1602 (Druck: Justus Lipsius: Epistolarum selectarum centuria V. miscellanea posthuma. Antwerpen 1607, Nr. 11). Martial ist seit 1590 als Schulautor bei den oberdeutschen Jesuiten nachweisbar (vgl. Bernhard Duhr: Geschichte der Jesuiten in den Ländern deutscher Zunge im XVI. Jahrhundert. Freiburg i. Br. 1907, S. 248). Zu Ehinger vgl. Schmidbauer: Stadtbibliothekare (wie Anm. 8), S. 113–124; Köberlin: Geschichte (wie Anm. 6), S. 139–154. Vgl. Wolfenbüttel, Herzog-August-Bibliothek: Cod. Guelf. 13.4 Aug. 2°, fol. 17r. Druck: Velitatio Epistolaris. Hg. von Paul Röber. Wittenberg 1631, S. 20. Dieses Schreiben vom 23. Oktober 1622 wird im vierten Band von Schmid: Gelehrtenkorrespondenz (wie Anm. 44) ediert. Rader veröffentlichte 1615 in München eine Edition des Alexanderromans des Curtius Rufus, 1627 in Köln einen Kommentar zu diesem Werk.

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Jakob Bidermann und Jeremias Drexel55 auf den Ciceronianismus verpflichtet und eine Orientierung an Tacitus ablehnt, wie sie etwa Lipsius pflegte. 56 Alles deutet darauf hin, dass bei Rader die humanistische Gelehrsamkeit, die er ohne Zweifel besaß, Mittel zum Zweck war, um die kulturelle Leistungsfähigkeit der Jesuiten zu unterstreichen, diese allerdings nur so weit reichen zu lassen, wie die eigene konfessionelle Identität nicht gefährdet war.

IV. Mit Höschel und Rader fassen wir zwei völlig unterschiedliche Typen von Gelehrten in derselben Stadt: hier ein Humanist, der die theologischen Verwicklungen seiner Zeit durchaus nachvollziehen konnte, diese allerdings noch durch die philologische Methode zu lösen versuchte; dort ein Vertreter der Gegenreformation, der die Klassische Philologie als kulturellen Standard akzeptierte. Ein Vergleich der Zirkel, mit denen beide verkehrten, ergibt zunächst – bis auf Gretser – keine Schnittmenge. Fast scheint es, als ob die „unsichtbare Grenze“ zwischen den Konfessionen, so der Buchtitel von Etienne François über die gesellschaftlichen Verhältnisse in Augsburg nach dem Westfälischen Frieden,57 unter den Gelehrten bereits um 1600 spürbar und dass sie nicht nur in Augsburg erkennbar wird. Bestätigt wird dies durch eine Aussage des Augsburger Stadtmedicus Adolph Occo III58 gegenüber dem Leidener Kartographen Abraham Ortelius. Als dieser nämlich 1582 die peutingersche Tafel einsehen wollte und sich diesbezüglich an Occo wandte, antwortete jener, in diesem Falle nicht helfen zu können, da die katholischen Besitzer der peutingerschen Bibliothek ihm als Lutheraner keinen Zutritt verschaffen würden. Der Umgang der Augsburger ––––––––– 55

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Zur Bedeutung dieser drei Jesuiten für den bayerischen Späthumanismus vgl. Richard von Dülmen: Die Gesellschaft Jesu und der bayerische Späthumanismus. Ein Überblick. Mit dem Briefwechsel von J. Bidermann. In: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 37 (1974), S. 358–415. Vgl. Schmid: Gelehrtenkorrespondenz (wie Anm. 44), Nr. 51, 53, 182, 187, 206. Vgl. auch Raders diesbezügliche Äußerung gegenüber Marx Welser: Amavi Iustum vivum, colam mortuum; adorabo semper acerrimum in scribendo iudicium, praedicabo eruditionem, sequor tamen in stilo Ciceronem, quantum quidem assequi potero, ita enim video placere, et merito sane, maioribus meis (München, Archiv der deutschen Provinz der Jesuiten. 42– 2, 2, Nr. 363. Das undatierte Schreiben wird im zweiten Band von Schmid: Gelehrtenkorrespondenz [wie Anm. 44] ediert). Übersetzung: „Ich liebte Justus [Lipsius], als er lebte, ich ehre ihn, da er nun tot ist, ich werde immer sein treffendes Urteil in Stilfragen verehren, seine Gelehrsamkeit preisen. Ich folge dennoch dem Cicero, so sehr ich ihm nur folgen kann, denn so gefalle ich scheinbar, und das mit Recht, meinen Oberen.“ Etienne François: Die unsichtbare Grenze. Protestanten und Katholiken in Augsburg 16481806. Sigmaringen 1991 (Abhandlungen zur Geschichte der Stadt Augsburg 33). Zu Occo vgl. Otto Nübel: Das Geschlecht Occo. In: Lebensbilder aus dem Bayerischen Schwaben. Bd. 10. Hg. von Wolfgang Zorn. Weißenhorn 1973 (Veröffentlichungen der Schwäbischen Forschungsgemeinschaft bei der Kommission für bayerische Landesgeschichte III, 10), S. 77–113.

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Katholiken mit ihren lutherischen Mitbürgern gestalte sich vielmehr wie olim Samaritanis et Judaeis.59 Dennoch gibt es eine indirekte Zusammenarbeit zwischen Höschel und Rader. Im Briefnachlass des Jesuiten finden sich vier Schreiben des Rektors von St. Anna an Marx Welser. 60 Dabei ist es sehr wahrscheinlich, dass Höschel die Weiterleitung der Schreiben an Rader beabsichtigte. Der direkte Kontakt zwischen Anna-Gymnasium und Jesuitenkolleg wurde dagegen vermieden. Deutlich wird dies in einem Brief Raders an Welser, in dem sich der Jesuit für die Mithilfe Höschels an seiner Konzilsaktenedition bedankt, aber gleichzeitig bemerkt: Domini Davidis Hoeschelii nomen non audeo ponere in hoc opere, quamvis libenter me gratum ostenderem.61

Eine positive Bemerkung über einen protestantischen Gelehrten in einer jesuitischen Edition war nicht möglich. Nur der Autorität des Stadtpflegers Marx Welser, selbst ein anerkannter Späthumanist, der als gläubiger Katholik engen Kontakt zu den Jesuiten pflegte und gleichzeitig der Vorgesetzte des Stadtbibliothekars war, ist es zu verdanken, dass bei Bedarf diese Grenze überschritten werden konnte. Eine Analyse von Welsers Briefwechsel ergibt,62 dass der Patrizier zu Gelehrten beider Konfessionen Zugang hatte. Nicht nur nach Italien, wo er studiert hatte, pflegte Welser einen intensiven Kontakt (310 der 1361 überlieferten Briefe in den Korrespondenzen des Stadtpflegers sind auf Italienisch verfasst, hatte sich doch auf der Apeninnenhalbinsel die Nationalsprache gegen das Lateinische als Gelehrtensprache um 1600 bereits durchgesetzt), sondern auch zu den bei Höschel so dominanten Korrespondenzorten Heidelberg und Leiden sandte Welser Briefe. Den Kontakt zu den protestantischen Gelehrten verschaffte er sich vor allem über Höschel. Dieser war es, der für Welser als Türöffner zu Gruter, Casaubon oder dem Leidener Philologen Joseph Justus Scaliger auftrat. Bei Letzterem war es sogar ein Brief von Welser an Höschel, den dieser nach Leiden weitersandte, der den Briefwechsel eröffnet. 63 Die Durchsicht der Briefe der drei Genannten an Höschel ergibt eine gewisse Doppelköpfigkeit der Augsburger gegenüber den protestantischen Gelehrten, fehlt doch selten in den Schreiben an den Stadtbibliothekar der Gruß an Welser. Auch wurden von ––––––––– 59 60

61

62 63

Abraham Ortelius: Epistulae Ortelianae. Hg. von Joannes Henrichus Hessels. Osnabrück 1969 (Nachdruck der Ausgabe Cambridge 1887), Nr. 117. München, Archiv der deutschen Provinz der Jesuiten. 42–2, 1, Nr. 243, 250, 324, 325. Die Briefe werden im Anhang des zweiten Bandes von Schmid: Gelehrtenkorrespondenz (wie Anm. 44) ediert. München, Archiv der deutschen Provinz der Jesuiten, 42–2, 2, Nr. 376. Der Brief wird im zweiten Band von Schmid: Gelehrtenkorrespondenz (wie Anm. 44) ediert. Übersetzung: „Den Namen Höschels in dieses Werk zu setzen, kann ich nicht wagen, auch wenn ich mich gerne ihm gegenüber dankbar gezeigt hätte.“ Vgl. dazu Ferber: Scio (wie Anm. 14). Leiden, Universiteitsbibliotheek, Burm. F8. Druck: Marx Welser: Opera historica et philologica, sacra et profana. Nürnberg 1682. Epistolae ad viros illustres, Nr. 1.

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dieser Seite meist zwei Belegexemplare von Neuerscheinungen nach Augsburg gesandt: eines für Höschel und die Stadtbibliothek und eines für Welser zum privaten Gebrauch. Am deutlichsten wird dieser Auftritt von Welser und Höschel in jenem Fall, in dem jeder der beiden auf demselben Blatt Papier seinen Brief an Scaliger abfasste. 64 Es ist anhand dieses Quellenbefundes davon auszugehen, dass die Augsburger Gelehrten regelmäßig die Briefe ihrer Kollegen einsehen konnten. Andererseits gewährleistete der Stadtpfleger keineswegs eine stärkere Integration des Bibliothekars in die katholische Gelehrtenwelt. Der erkennbare Vorteil einer bikonfessionellen Stadt wie Augsburg, vergleichsweise leicht Zugang zu beiden Konfessionsblöcken zu erhalten, konnte unter den Gelehrten in der Zeit um 1600 nur Welser für sich nutzen, da auch innerhalb der Stadt die Gräben immer unüberwindbarer wurden. Allerdings konnten die Gelehrten beider Konfessionen über die Zentralfigur Welser bei Bedarf durchaus miteinander kommunizieren. Auf eine auf den ersten Blick komplizierte Art und Weise blieb so die Einheit der res publica litteraria erhalten. Gleichzeitig blieben so die Ergebnisse der Forschungen beider Konfessionsgruppen für beide Seiten leicht greifbar, ein nicht zu unterschätzendes Moment, das das Lob Gruters für die Augsburger als cives […] Germaniae cultissimi […] rechtfertigt. Möglicherweise bezieht es sich aber auch auf die Fähigkeit der Augsburger, Regeln auszubilden, ein einigermaßen erträgliches Miteinander oder wenigstens Nebeneinander der Konfessionen zu gestalten – ein Erbe des humanistischen Bildungsideals. Das Einhalten der Regel einer gewissen Grundtoleranz von Gelehrten unterschiedlicher Konfession in Augsburg kann an einem weiteren Beispiel belegt werden: Nachdem Matthäus Rader 1612 nach München gewechselt war, kam es zu einer bemerkenswerten kontroverstheologischen Briefdiskussion zwischen ihm und seinen Ordensbrüdern Johannes Brutscher sowie Jeremias Drexel mit Elias Ehinger. 65 Der Stil der Debatte kann nicht überraschen: Beide Seiten versuchten durch ausgiebige Zitate insbesondere von patristischen Autoren die eigene dogmatische Position zu verteidigen. Drexel merkt dabei am 30. November 1625 gegenüber Ehinger an, welches die Grundlage für die Möglichkeit einer solchen Diskussion überhaupt war: Augustanum ego Augustanus non fallam, hoc mihi tutus crede. 66 Das späthumanistische Bildungsideal überlebte also die sich ausbreitende Konfessionalisierung als Baustein des Augsburger Selbstverständnisses im Umgang mit der bikonfessionellen Sozialstruktur der Stadt.

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Welser an Scaliger am 2. Oktober 1602. Universiteitsbibliotheek Leiden, Burm. F 5:1. Druck: Welser: Opera (wie Anm. 63), Nr. 22. Die Diskussion liegt gedruckt vor in Röber: Velitatio (wie Anm. 54). Sie wird im vierten und fünften Band von Schmid: Gelehrtenkorrespondenz (wie Anm. 44) ediert. Wolfenbüttel, Herzog-August-Bibliothek, Cod. Guelf. 13.4 Aug. 2°. fol. 157r. Druck: Röber: Velitatio (wie Anm. 54), S. 341. Das Schreiben wird im Anhang des vierten Bandes von Schmid: Gelehrtenkorrespondenz (wie Anm. 44) ediert. Übersetzung: „Einen Augsburger möchte ich als Augsburger nicht täuschen, das kannst Du mir sicher glauben.“

Alois Schmid

Die Korrespondenz zwischen P. Matthäus Rader SJ und Marcus Welser

Eines der großen Arbeitsvorhaben der Kommission für bayerische Landesgeschichte betrifft die Edition von Schriften bayerischer Humanisten. Derzeit beschäftigt sie sich mit zwei späten Vertretern dieser Epoche: Kaspar Schoppe (1576–1649) und P. Matthäus Rader SJ (1561–1634). Kurz vor dem Abschluss steht die Bearbeitung des Briefwechsels zwischen dem in Augsburg und München tätigen Gymnasialprofessor P. Matthäus Rader und dem Augsburger Stadtpfleger Marcus Welser d. J.1 Der folgende Beitrag möchte einen Einblick in das ––––––––– 1

Zu Marcus Welser (es wird der weitverbreiteten Namensvariante Marcus gegenüber dem ebenfalls gebrauchten Marx der Vorzug gegeben): Georg Rem: Marci Velseri manes ab amicis manibus. Nürnberg 1617; Melchior Adam: Vitae Germanorum Jureconsultorum et Politicorum, qui superiori saeculo, et quod excurrit, floruerunt. Heidelberg 1620; Pierre Bayle: Dictionnaire historique et critique IV. Amsterdam 1730, S. 427; Christoph Arnold: Viri Illustris Marci Velseri Vita, Genus et Mors. Nürnberg 1682; Johann Jacob Brucker: Ehrentempel der deutschen Gelehrsamkeit. Augsburg 1747, S. 17; Johann Heinrich Zedler: Großes und vollständiges Universallexikon aller Wissenschaften und Künste LVI. Leipzig/Halle 1747 (ND Graz 1962), S. 1625–1631; Franz Arnold Veith: Bibliotheca Augustana. Bd. 2. Augsburg 1786, S. 159–288; Moritz Schäzler: Marx Welser. In: Jahresbericht der Kreis-Gewerbeschule von Schwaben und Neuburg 1851/52, S. 1–15; Friedrich Roth: Marx Welser. In: Allgemeine Deutsche Biographie. Bd. 41. Leipzig 1896, S. 687–690; Hubert von Welser: Die Welser. In: Das Bayerland 57 (1955), S. 262–285; Johann Michael von Welser: Die Welser. 2 Bde. Nürnberg 1917; Leonhard Lenk: Augsburger Bürgertum im Späthumanismus und Frühbarock 1580–1700. Augsburg 1968 (Abhandlungen zur Geschichte der Stadt Augsburg 17), S. 161–165; Joachim Jahn: Markus Welser. In: Bayerische Biographie. Bd. 1. Hg. von Karl Bosl. Regensburg 1983, S. 834; Josef Bellot: Humanismus – Bildungswesen – Buchdruck und Verlagsgeschichte. In: Geschichte der Stadt Augsburg. Hg. von Gunther Gottlieb u. a. Stuttgart 21985, S. 343–357, bes. 352–354; Robert J. W. Evans: Rantzau and Welser. Aspects of later German humanism. In: History of European Ideas 5 (1986), S. 257–272; Bernd Roeck: Geschichte, Finsternis und Unkultur. Zu Leben und Werk des Marcus Welser (1558–1614). In: Archiv für Kulturgeschichte 72 (1990), S. 115–141; ders.: Welser Marcus. In: Literaturlexikon. Autoren und Werke deutscher Sprache. Bd. 12. Hg. von Walter Killy. Gütersloh 1992, S. 243f.; Wolfgang Reinhard: Augsburger Eliten des 16. Jahrhunderts. Prosopographie wirtschaftlicher und politischer Führungsgruppen 1500–1620. Berlin 1996, S. 1164f.; Inge Keil: Augustanus Opticus. Johann Wiesel (1583–1662) und 200 Jahre optisches Handwerk in Augsburg. Berlin 2000 (Colloquia Augustana 12); Markus Völkel: Das Verhältnis von religio patriae, confessio und eruditio bei Marx Welser. In: Die europäische Gelehrtenrepublik im Zeitalter des Konfessionalismus. Hg. von Herbert Jaumann. Wiesbaden 2001 (Wolfenbütteler Forschungen 96), S. 127–140; Wolfgang Kuhoff: Markus Welser als Erforscher des römischen Augsburg. In: Die Welser. Neue Forschungen zur Geschichte und Kultur des oberdeutschen Handelshauses. Hg. von Mark Häberlein und Johannes Burkhardt. Berlin 2002,

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Editionsprojekt geben. In diesem Sinne soll zunächst der Korrespondenzpartner Raders vorgestellt und anschließend der Briefblock charakterisiert werden, ehe abschließend auf die besonderen Editionsprobleme verwiesen wird, die mit ihm verbunden sind.

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Marcus Welser d. J.

Marcus Welser war Angehöriger der bedeutenden, traditionsreichen Augsburger Patrizierfamilie der Welser. 2 Er wurde am 20. Juni 1558 nach Anton (1551– 1618)3 und Matthäus d. J. (1553–1633)4 als dritter Sohn des Großkaufmanns –––––––––

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S. 585–608; Magnus Ulrich Ferber: Späthumanistische Lebensformen im Augsburger Bürgertum: Das Beispiel Marx Welser (1558–1614). Magisterarbeit masch. Passau 1999; ders.: „Scio multos te amicos habere.“ Wissensvermittlung und Wissenssicherung im Späthumanismus am Beispiel des Epistolariums Marx Welsers d. J. (1558–1614). Augsburg 2008 (Documenta Augustana 19). – Noch zu Lebzeiten Welsers wurden mehrere Porträtmedaillen geschlagen: J. M. v. Welser: Die Welser, S. 285. Ein wohl posthumes Porträt (Kupferstich von Lukas Kilian): Städtische Kunstsammlungen Augsburg, Inv.-Nr. G 5510; vgl. Augsburg. Geschichte in Bilddokumenten. Hg. von Friedrich Blendinger und Wolfgang Zorn. München 1976, Nr. 202; Welt im Umbruch: Augsburg zwischen Renaissance und Barock. 3 Bde. Augsburg 1980, hier Bd. 1, S. 345f., Nr. 340. Hinweis auf ein weiteres Porträt Welsers in der Mailänder Biblioteca Ambrosiana bei J. M. v. Welser: Die Welser (wie oben), S. 282. Schon der Antiquar Nicolas Claude Fabri de Peiresc hatte ein Porträt Welsers in seine Galerie berühmter Gelehrter aufgenommen; vgl. Peter N. Miller: Peiresc’s Europe. Learning and virtue in the sixteenth century. New Haven, London 2000, S. 6. Das auch im 18. Jahrhundert ungebrochene Interesse an der Person Welsers belegt ein Schreiben Johann Georg Loris an den Augsburger Historiker Paul von Stetten d. J. vom 17. 12. 1760, mit dem dieser ein Porträt Welsers für die geplante Gelehrtengalerie der Bayerischen Akademie der Wissenschaften erbat: Electoralis Academiae Scientiarum Boicae primordia. Briefe aus der Gründungszeit der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Hg. von Max Spindler. München 1959, S. 356f., Nr. 215, S. 377f., Nr. 226. Michael Häberlein: Beiträge zur Geschichte des Reichsadeligen von Welserischen Geschlechtes. Altdorf 1782; ders.: Kurzgefaßte Geschichte des Reichsadeligen von Welserischen Geschlechtes. Altdorf 1783; Friedrich Roth: Die Welser. In: Allgemeine Deutsche Biographie. Bd. 41. Leipzig 1896, S. 682–692; J. M. v. Welser: Die Welser (wie Anm. 1); Jakob Strieder: Die Welser. In: Das reiche Augsburg. Hg. von Friedrich Deininger. München 1938, S. 86–95; Johann Lachner: Die Wirtschaftsfähigkeit der Welser. München 1942; Fugger und Welser. Ausstellungskatalog. Hg. von Norbert Lieb, Götz Frhr. von Pölnitz, Hubert Frhr. von Welser. Augsburg 1950; Günther Franz: Die Welser. In: Biographisches Wörterbuch zur deutschen Geschichte. Bd. 3. Begr. von Hellmuth Rössler und Günther Franz. Neu hg. von Karl Bosl u. a. München 21975, S. 3089–3091; Hubert von Welser: Die Welser. In: Das Bayerland 57 (1955), S. 268–271; Hermann Kellenbenz: Das Nürnberger Unternehmen der Welser. In: Das Medersche Handelsbuch und die Welserschen Nachträge. Wiesbaden 1974, S. 77–92; Walter Großhaupt: Die Welser und ihre Zeit. Vorschläge zu einer Datenbank. In: Scripta Mercaturae 21, 1, 2 (1987), S. 189–214; 22, 1, 2 (1988), S. 167–206; 23, 1, 2 (1989), S. 167–192; Augsburger Handelshäuser im Wandel des historischen Urteils. Hg. von Johannes Burkhardt. Berlin 1996 (Colloquia Augustana 3); Katharina Sieh-Burens: Welser. In: Augsburger Stadtlexikon. Hg. von Wolfram Baer. Augsburg 2 1998, S. 922–924; Häberlein, Burkhardt (Hgg.): Die Welser (wie Anm. 1). Zu Anton Welser vgl. J. M. v. Welser: Die Welser (wie Anm. 1), S. 213f.

P. Matthäus Rader SJ und Marcus Welser

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Matthäus Welser d. Ä. (1533–1633) und der Anna Bimmel zu Augsburg geboren. Seine Studien absolvierte er in noch jungen Jahren an italienischen Universitäten und in Paris. Mitte der siebziger Jahre machte er sich erneut nach Italien auf, wo er vertiefte Einblicke in das Geistesleben der Zeit gewann und Kontakte zu zahlreichen Gelehrten knüpfte. In Rom gelangte er in den Umkreis des bedeutenden Philologendichters Marc-Antoine Muret (1526–1585)5 und beschäftigte sich unter seiner Anleitung vor allem mit den Altertumswissenschaften. 1582 war er Konsul der deutschen Kaufmannschaft im Fondaco dei Tedeschi.6 Er gehörte so zu den herausragenden Vertretern des Späthumanismus, 7 die Italien aus eigener Erfahrung kannten. Aus Italien kehrte Welser wieder nach Augsburg zurück. Die Stadt am Lech hatte einerseits im Laufe des 16. Jahrhunderts an politischer und wirtschaftlicher Bedeutung verloren, andererseits aber in kultureller Hinsicht dank der engen Verbindungen zu Italien europäischen Rang gewonnen und wies um 1600 ihre größte Einwohnerzahl vor Beginn der Industriellen Revolution auf.8 Wie man es von einem Patrizier erwartete, stellte sich Welser in den Dienst der Reichsstadt: Er wurde einer der vielen, freilich mehr in Italien als in Deutschland anzutreffenden Humanisten, die Gelehrsamkeit mit praktischer politischer Betätigung im öffentlichen Leben zusammenzuführen suchten. Ihr Ziel war, die vita contemplativa der Wissenschaften mit der vita activa des Handels- und Staatsmannes zu verbinden.9 In diesem Sinne beteiligte er sich am Familienunternehmen, war daneben aber auch politisch tätig. Die 1583 geschlossene Ehe mit Anna Mai, die ohne Kinder bleiben sollte, verdichtete das Welser-Netz, das sich anders als das Fugger-Netz im wesentlichen auf das Augsburger Patriziat beschränkte.10 1584 wurde der namhafte ––––––––– 4 5

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Zu Matthäus d. J. vgl. ebd., S. 215–259. Vgl. Josef Jisewijn: Marcantonio Mureto. In: The World of Justus Lipsius. A contribution towards his intellectual biography. Proceedings of a colloquium held under the auspices of the Belgian Historical Institute in Rome. Hg. von Marc Laureys. Brüssel 1988, S. 71–80. Vgl. J. M. v. Welser: Die Welser (wie Anm. 1), S. 266. Zum Späthumanismus vgl. Erich Trunz: Der deutsche Späthumanismus um 1600 als Standeskultur. In: ders.: Deutsche Literatur zwischen Späthumanismus und Barock. Acht Studien. München 1995, S. 7–82; Wilhelm Kühlmann: Gelehrtenrepublik und Fürstenstaat. Entwicklung und Kritik des deutschen Späthumanismus in der Literatur des Barockzeitalters. Tübingen 1982 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 3); Späthumanismus. Studien über das Ende einer kulturhistorischen Epoche. Hg. von Notker Hammerstein und Gerrit Walther. Göttingen 2000. Vgl. Norbert Lieb: Augsburgs Stadtgestalt. In: Welt im Umbruch. Bd. 1 (wie Anm. 1), S. 94–99. Zusammenfassend zur Geschichte Augsburgs: Wolfgang Zorn: Augsburg. Geschichte einer europäischen Stadt von den Anfängen bis zur Gegenwart. Augsburg 42001, S. 152–197; Gottlieb u. a. (Hgg.): Geschichte der Stadt Augsburg (wie Anm. 1), S. 357– 447. Vgl. Eckhard Kessler: Das Problem des frühen Humanismus. Seine philosophische Bedeutung bei Coluccio Salutati. München 1968 (Humanistische Bibliothek 1). Zum „Welser-Netz“: Mark Häberlein: Die Augsburger Welser und ihr Umfeld zwischen Karolinischer Regimentsreform und Dreißigjährigem Krieg: Ökonomisches, kulturelles und soziales Kapital. In: Häberlein, Burckhardt (Hgg.): Die Welser (wie Anm. 1), S. 382– 406, hier S. 402.

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Patrizier in das Stadtgericht gewählt, 1592 Mitglied des Äußeren Rates, 1594 Bürgermeister, 1598 Mitglied des Inneren Rates, 1600 schließlich Stadtpfleger.11 Dieses höchste städtische Amt des „Duumvir“ war ein Augsburger Specificum, das auf der Grundlage der Stadtregimentsordnung von 1548 unter konfessionellen Gesichtspunkten besetzt wurde.12 Welser, der dem katholischen Zweig seiner religiös getrennte Wege gehenden Familie angehörte, war entschiedener Anhänger des römischen Glaubens, verzichtete aber auf konfessionelle Polemik 13 und unterhielt sowohl zu Katholiken wie zu auch Lutheranern und Calvinisten enge Kontakte. Die höchste Position in der Ämterhierarchie der Reichsstadt bekleidete er bis zu seinem Tod nach längerer Krankheit am 23. Juni 1614.14 Ein Rücktrittsgesuch Welsers, das dieser mit seiner Erkrankung begründet hatte, war 1612 abschlägig beschieden worden.15 Er wurde im nicht mehr erhaltenen welserschen Familiengrab in der Augsburger Kirche St. Maria Magdalena zur letzten Ruhe gebettet. 16 Marcus Welser war das auf dem Gebiete der Wissenschaft bedeutendste Mitglied nicht nur seines hochangesehenen Patriziergeschlechts,17 sondern wohl der gebildetste Augsburger Patrizier seiner Zeit überhaupt und Zentrum eines Kreises von Späthumanisten, dessen Kontakte weit über die Grenzen der schwäbischen Metropole hinaus reichten 18 und Augsburg in das Gefüge der europäi––––––––– 11

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Zu diesem Amt: Ingrid Bátori: Die Reichsstadt Augsburg im 18. Jahrhundert. Verfassung, Finanzen und Reformversuche. Göttingen 1969 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 22), S. 47–69; auch Benedikt Mauer: Zur Organisation städtischen Bauens zwischen Elias Holl, Marcus Welser und Bernhard Rehlinger. In: Zeitschrift des Historischen Vereins für Schwaben und Neuburg 89 (1996), S. 75–94. Katharina Sieh-Burens: Oligarchie, Konfession und Politik im 16. Jahrhundert. Zur sozialen Verflechtung der Augsburger Bürgermeister und Stadtpfleger 1518–1618. München 1986 (Schriften der Philosophischen Fakultäten der Universität Augsburg. Historisch-sozialwissenschaftliche Reihe 29); Étienne François: Die unsichtbare Grenze. Protestanten und Katholiken in Augsburg 1648–1806. Sigmaringen 1991 (Abhandlungen zur Geschichte der Stadt Augsburg 33); Bernd Roeck: Eine Stadt in Krieg und Frieden. Studien zur Geschichte der Reichsstadt Augsburg zwischen Kalenderstreit und Parität. Göttingen 1989 (Schriften der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften 37), S. 225–228, 247f. u. ö. Vgl. J. M. v. Welser: Die Welser (wie Anm. 1), S. 281. Zu Welsers Tod vgl. Antonio Favaro: Sulla morte di Marco Velsero. In: Bolletino di bibliografia e di storia delle scienze matematice e fisice 17 (1884), S. 252–270; Domenico Carutti: Della morte di Marco Verlsero. In: Atti della R. Accademia dei Lincei III 7 (1883), S. 148–151. Die näheren Umstände werden geklärt in Ferber: „Scio multos te amicos habere“ (wie Anm. 1). Er verweist den üblichen Hinweis auf Selbstmord in den Bereich der Konfessionspolemik und macht eine Krankheit wahrscheinlich. Dies legt auch die Korrespondenz zwischen Rader und Welser nahe, in welcher Welsers Krankheit seit 1612 thematisiert wird. Welser spricht in diesem Zusammenhang von Podagra: J. M. v. Welser: Die Welser (wie Anm. 1), S. 283. Ebd., S. 282f. Ebd., S. 284. Zur Kulturpflege der Welser: Lenk: Augsburger Bürgertum (wie Anm. 1), s. Register. Würdigung bei ebd.; Andreas Kraus: Wissenschaftliches Leben 1550–1800. In: Handbuch der bayerischen Geschichte. Bd. III/2. Hg. von Max Spindler und Andreas Kraus. München 2 2001, S. 638; Adolf Layer und Alois Schmid: Der Humanismus. In: ebd., S. 605–629.

P. Matthäus Rader SJ und Marcus Welser

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schen Res publica litteraria 19 integrierten. Nach dem Vorbild der Fugger20 nahm er sich in hingebungsvoller Weise einer breiten Kulturpflege an, begnügte sich aber nicht mit der mäzenatischen Förderung vor allem der Wissenschaften, sondern erbrachte auch eigene Beiträge.21 Marcus Welser betätigte sich vor allem auf den Gebieten der Altertums- und der Geschichtswissenschaft, wo er stilistische Brillanz mit wissenschaftlicher Genauigkeit vereinte und durchaus zu den namhaften Vertretern zumindest im süddeutschen Raum gehörte. Hier hat er sich durch eine breite historiographische und editorische Tätigkeit ausgezeichnet, die ihm eine lang nachwirkende Beachtung verschaffen sollte. Marcus Welser ist eine der wichtigsten, europaweit beachteten Gestalten der frühneuzeitlichen Augsburger Gelehrtengeschichte geworden. Die bekanntesten seiner Veröffentlichungen betreffen die Augsburger Stadtgeschichte. Sie hatte bereits im vorhergehenden Jahrhundert eine anspruchsvolle Pflege erfahren.22 Im Jahre 1590 brachte er zum ersten Mal eine Ausgabe der Augsburger Inschriften heraus. 23 Sie erschien bei keinem Geringeren als Aldus Manutius zu Venedig und ist damit Zeugnis der engen Kulturverbindung zwischen diesen beiden Städten an der Schwelle des Mittelalters zur Neuzeit. 24 Die Edition wurde 1594 neu aufgelegt. Eine deutsche Übersetzung des Inschriftenwerks erschien 1595 unter dem Titel „Antiqua Monumenta. Das ist Alte Bilder, Gemälde und Schriften […] durch den edlen und ehrenwerten Herrn Marx Welsern erstlich in Latein beschrieben, jetzt und aber […] in unser teutsche Sprach gebracht.“ Die Edition verschaffte Welser hohes Ansehen auf dem Gebiet der frühneuzeitlichen Epigraphik und ist in engem Zusammenhang mit der Betätigung Konrad Peutingers (1465–1547), des führenden Kopfes des Augsburger Humanismus, 25 auf eben diesem Feld26 zu sehen. Marcus Welser, ein Großneffe ––––––––– 19 20 21 22

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Zur Res publica litteraria – République des lettres: Hans Bots und Françoise Waquet: La République des Lettres. Paris 1997. Vgl. Bellot: Humanismus – Bildungswesen – Buchdruck (wie Anm. 1), S. 348f. Brucker: Ehrentempel (wie Anm. 1), S. 67–71; Veith: Bibliotheca Augustana. Bd. 2 (wie Anm. 1), S. 159–228. Karl Schnith: Die Augsburger Chronik des Burkhard Zink. Diss. phil. München 1958; Dieter Weber: Geschichtsschreibung in Augsburg. Hektor Mülich und die reichsstädtische Chronistik des Spätmittelalters Augsburg 1984 (Abhandlungen zur Geschichte der Stadt Augsburg 30); Benedikt Mauer: „Gemein Geschrey“ und „teglich Reden“. Georg Kölderer – ein Augsburger Chronist des konfessionellen Zeitalters. Augsburg 2001 (Studien zur Geschichte des Bayerischen Schwaben 29). Marcus Welser: Inscriptiones antiquae Augustae Vindelicorum. Venedig 1590 (ein Exemplar: Staats- und Stadtbibliothek Augsburg: 4 Aug. 1645). Vgl. Welt im Umbruch. Bd. 1 (wie Anm. 1), S. 346f., Nr. 342. Vgl. Kuhoff: Markus Welser (wie Anm. 1), S. 590–595. Martin Lawry: World of Aldus Manutius. Business and scholarship in Renaissance Venice. Oxford 1979. Georg Lotter und Franz Anton Veith: Historia vitae atque meritorum Conradi K. Augustani. Augsburg 1783; Erich König: Peutingerstudien. Freiburg i. Br. 1914 (Studien und Darstellungen aus dem Gebiete der Geschichte 9/1–2); Heinrich Lutz: Conrad Peutinger. Beiträge zu einer politischen Biographie. Augsburg 1958 (Abhandlungen zur Geschichte der Stadt Augsburg 9); Jochen Brüning: Der Augsburger Humanist Konrad Peutinger. Ein kulturgeschichtliches Forschungsprojekt. In: Peutinger-Almanach (1994), S. 19–44; HansJörg Künast und Jan-Dirk Müller: Peutinger, Conrad. In: Neue Deutsche Biographie.

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von Peutingers Gattin Margarete (1481–1552), bemühte sich um die Fortsetzung von dessen Werken, hatte Peutinger auf Wunsch Kaiser Maximilians I. doch 1505 die erste Publikation der römischen Augsburger Inschriften vorgelegt. Von nicht minderer wissenschaftsgeschichtlicher Bedeutung ist sodann Marcus Welsers 1591 veranstaltete Erstausgabe von Fragmenten der „Tabula Peutingeriana“. 27 Er hatte eine Kopie von Teilen dieses frühen Dokuments abendländischer Kartographie im Peutingernachlass aufgefunden und sofort deren wissenschaftlichen Wert erkannt. Dieser veranlasste ihn, seinen Fund unverzüglich der Öffentlichkeit bekannt zu machen. Nach der Entdeckung des Originals ließ er 1598 eine verbesserte Ausgabe auf der Grundlage des Originals folgen.28 1594 legte Welser mit seinem Hauptwerk „Rerum Augustanarum Vindelicarum libri VIII“ den ersten Anlauf zur umfassenden Gesamtdarstellung der römischen Geschichte seiner Vaterstadt vor.29 Auch sie erschien zu Venedig bei Aldus Manutius und hat einen bemerkenswerten wissenschaftlichen Rang. Die Darstellung ist auf breiter Quellengrundlage erwachsen und von zukunftweisender Kritik getragen; sie stellt eine vielbeachtete Forscherleistung dar und sichert –––––––––

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Bd. 20. Berlin 2001, S. 282–284; Helmut Zäh: Konrad Peutinger und Margarete Welser. Ehe und Familie im Zeichen des Humanismus. In: Häberlein, Burkhardt (Hgg.): Die Welser (wie Anm. 1), S. 449–509; Hans-Jörg Künast und Helmut Zäh: Die Bibliothek Konrad Peutingers. Bd. 1. Tübingen 2003. Konrad Peutinger: Inscriptiones vetustae Romanae. Mainz 1520. Vgl. Friedrich Vollmer: Über Fürsorge und Verständnis für römische Inschriften in Bayern. München 1913; Hermann Kellenbenz: Augsburger Sammlungen. In: Welt im Umbruch. Bd. 1 (wie Anm. 1), S. 76; Rudolf M. Kloos: Einführung in die Epigraphik des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Darmstadt 21992, S. 8f.; Wolfgang Kuhoff: Augsburger Handelshäuser und die Antike. In: Burkhardt (Hg.): Augsburger Handelshäuser (wie Anm. 1), S. 259–261; ders.: Markus Welser (wie Anm. 1), S. 585–608. Nunmehr sehr profund: Martin Ott: Die Entdeckung des Altertums. Der Umgang mit der römischen Vergangenheit Süddeutschlands im 16. Jahrhundert. Kallmünz 2002 (Münchener Historische Studien. Abteilung Bayerische Geschichte 17), S. 97–130. Marcus Welser: Fragmenta tabulae antiquae. Venedig 1590. Vgl. Franz Schnabel: Deutschlands geschichtliche Quellen und Darstellungen der Neuzeit. Bd. 1: Das Zeitalter der Reformation 1500–1600. Darmstadt 21972, S. 85; Welt im Umbruch. Bd. 1 (wie Anm. 1), S. 347f., Nr. 343. Marcus Welser: Tabula Itineraria ex illustri Peutingerorum biblioteca. Antwerpen 1598. Vgl.: Tabula Peutingeriana: Codex Vindobonensis 324. Hg. von Ekkehard Weber. Graz 1976; Kuhoff: Augsburger Handelshäuser (wie Anm. 26), S. 73f.; ders.: Markus Welser (wie Anm. 1), S. 603–606. Marcus Welser: Rerum Augustanarum Vindelicarum libri VIII. Venedig 1594. Deutsche Übersetzung von Engelbert Werlich. Frankfurt a. M. 1595. Nachdruck mit Kommentarband: Augsburg 1984; darin: Bernd Roeck: Humanistische Geschichtsschreibung im konfessionellen Zeitalter; Josef Bellot: Achilles Pirmin Gasser und seine „Annales Augustani“; ders.: Editionsgeschichte der sogenannten Welserchronik. Vgl. Margret Daly Davis und Charles David (Bearb.): Archäologie und Antike 1500–1700. Aus den Beständen der Herzog August Bibliothek. Wiesbaden 1994 (Ausstellungskataloge der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel 71), S. 94f.; Benedikt Mauer: Der Patrizier als Archäologe. Marcus Welser und Augsburgs römische Vergangenheit. In: Stadt und Archäologie. Hg. von Bernhard Kirchgässner und Hans-Peter Brecht. Stuttgart 2000 (Stadt in der Geschichte 26), S. 81–100; Kuhoff: Markus Welser (wie Anm. 1), S. 596–603.

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Welser einen Ehrenplatz in der Augsburger Historiographiegeschichte. 30 Welser griff hierfür auf literarische, epigraphische, archäologische und numismatische Quellen zurück. Dem Druck gab er die erweiterte Sammlung „Antiqua Monumenta“ der schon 1590 publizierten römischen Inschriften mit Augsburger Bezug31 bei. Allerdings vermochte er sie wegen seiner gründlichen Arbeitsweise nur bis zum Jahre 552 zu führen. Eine deutsche, nicht von Welser autorisierte Übersetzung Engelbert Werlichs erschien bereits 1595 in Frankfurt am Main, ergänzt um eine Fortführung der Geschichte Augsburgs bis in die Gegenwart, die von dem streng lutherischen Mediziner Achilles Pirmin Gasser (1505–1577) verfasst worden und nicht frei von antikatholischer Polemik war. Diese ließ Welser kurzfristig in den Ruch prolutherischer Tendenzen geraten, wogegen er sich in Rom verwahrte. Dieser erste Schritt zu einer Gesamtdarstellung stellt den Höhepunkt der stadtgeschichtlichen Forschungen Welsers dar, zu denen aber noch weitere Arbeiten etwa über die Augsburger Stadtheiligen, besonders die heiligen Afra und Ulrich, zu rechnen sind.32 Bereits 1595 hatte Welser im Auftrag des bayerischen Herzogs Wilhelm V. (1548–1626) mit den Arbeiten an einer bayerischen Geschichte begonnen,33 da die Bayerische Geschichte des Johannes Aventinus (1477–1534) auf den römischen Index gesetzt worden war.34 Auch Herzog Maximilian I. (1572–1651), der seinem Vater nach dessen Abdankung 1598 folgte, hatte lebhaftes Interesse an dem Projekt, da Geschichte um 1600 als Instrument in der Konkurrenz zwischen den einzelnen Fürstenhäusern diente.35 So setzte er die Unterstützung ––––––––– 30

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Der Rang und die Arbeitsweise Welsers bedürfen noch genauerer Untersuchung in einer historiographiegeschichtlich ausgerichteten Abhandlung. Veraltet: Franz Xaver Wegele: Geschichte der deutschen Historiographie seit dem Auftreten des Humanismus. München, Leipzig 1885 (Geschichte der Wissenschaften in Deutschland. Neuere Zeit 20), S. 383f.; s. Stefan Benz: Zwischen Tradition und Kritik. Katholische Geschichtsschreibung im Heiligen Römischen Reich. Husum 2003 (Historische Studien 473), passim. S. Anm. 23. Marcus Welser: Conversio et passio SS. martyrum Afrae. Venedig 1591; ders.: Sancti Augustani. Augsburg 1601. Vgl. Josef Bellot: Das Benediktinerstift St. Ulrich und Afra in Augsburg und der Humanismus. In: Studien und Mitteilungen zur Geschichte des Benediktiner-Ordens und seiner Zweige 84 (1973), S. 394–406, hier S. 404f. Vgl. J. M. v. Welser: Die Welser (wie Anm. 1), S. 272ff. Welser hatte sich bereits zuvor insofern mit Aventin auseinandergesetzt, als er in seinen Rerum Augustanarum Vindelicarum libri VIII (wie Anm. 29) die Behauptung Aventins, das erste Augusta Vindelicum, die Hauptstadt der Provinz Rätien, habe auf bayerischem Boden gelegen und sei erst nach einer Zerstörung am Ort des jetzigen Augsburg aufgebaut worden, widerlegt hatte. Vgl. Benz: Zwischen Tradition und Kritik (wie Anm. 30), S. 167. Johann Friedrich: Ueber die Geschichtschreibung unter dem Kurfürsten Maximilian I. München 1872; Sigmund von Riezler: Geschichte Baierns. Bd. 4. Gotha 1903, S. 428–448; J. M. v. Welser: Die Welser (wie Anm. 1), S. 274–279; Alois Schmid: Die Geschichtsschreibung am Hofe Maximilians I. von Bayern. In: Um Glauben und Reich. Kurfürst Maximilian I. Hg. von Hubert Glaser. München, Zürich 1980 (Wittelsbach und Bayern 2/1), S. 330–340; Andreas Kraus: Maximilian I., Bayerns Großer Kurfürst. Regensburg, Wien 1990, S. 42–49; Dieter Albrecht: Maximilian I. von Bayern (1573–1651). München 1998, S. 277–283; Alois Schmid: Von der Reichsgeschichte zur Dynastiegeschichte. Aspekte und Probleme der Hofhistoriographie Maximilians I. von Bayern. In: Hammerstein, Walther (Hgg.): Späthumanismus (wie Anm. 7), S. 84–112.

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Welsers fort.36 Denn eines seiner Grundziele war die Neubearbeitung der bayerischen Geschichte in seinem Sinne, und dafür erschien ihm gerade Marcus Welser als der richtige Mann. Deswegen ernannte er ihn zum zweiten in der langen Reihe seiner Hofhistoriographen, nachdem sein Amtsvorgänger Michael Arrodenius das Unternehmen nicht zur vollen Zufriedenheit des Herzogs hatte vorantreiben können. Der Herzog förderte Welsers Untersuchungen in jeder Hinsicht; er verschaffte ihm Zugang zu den benötigten Quellen, ließ ihm finanzielle Zuwendungen zukommen und bekundete beständiges Interesse am Fortschreiten der Arbeit. 37 Welsers Hauptwerk auf diesem seinem zweiten Arbeitsgebiet wurde der Einleitungsband zu einer umfassenden Gesamtdarstellung auch der bayerischen Geschichte, der 1602 unter dem Titel „Rerum Boicarum libri quinque“ erschien.38 Diese behandelte die bayerische Frühzeit bis zur Absetzung Herzog Tassilos III. 788 durch Karl den Großen und stellt ebenfalls eine im zeitgenössischen Kontext sehr gediegene Forscherleistung dar – die erste quellenkritische bayerische Geschichte. 1605 erschien auch eine deutsche Übersetzung von der Hand Paul Welsers (1555–1620), des Bruders des Autors. 39 In der Vorrede betonte Paul Welser die Authentizität der Übersetzung, die für ein historisch interessiertes, aber nicht des Lateinischen mächtiges Publikum gedacht sei, und berief sich hierbei auf die kontinuierliche Rücksprache mit dem Autor – die Probleme, welche aus der Frankfurter Übersetzung der „Rerum Augustanarum Vindelicarum“ herrührten, klingen unausgesprochen an. Offensichtlich hielt sich die Nachfrage des gelehrten Publikums in Grenzen; laut dem Hausinventar, das 1615 im Rahmen des welserschen Konkursverfahrens erstellt wurde, fanden sich in Pauls Bibliothek zu diesem Zeitpunkt noch 214 „Exemplarien Bayrischer Historien“. 40 1777 besorgte Johann Kaspar von Lippert (1729–1800) eine Neuausgabe der lateinischen Urfassung, die er um das von ihm in Ingolstadt entdeckte, noch unpublizierte sechste Buch erweiterte, das mit dem Jahr 894 endete. 41 Ein bei dieser Gelegenheit angekündigtes siebtes Buch ist jedoch nicht nur nicht mehr erschienen, sondern überhaupt nie zu Tage getreten. Das frühe Ab––––––––– 36

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Paul Joachimsen: Marx Welser als bayerischer Geschichtsschreiber. München 1905; J. M. v. Welser: Die Welser (wie Anm. 1), S. 22–279; Riezler: Geschichte Baierns. Bd. 6 (wie Anm. 35), S. 430–432; Andreas Kraus: Altertumswissenschaft und Geschichte. In: Handbuch der bayerischen Geschichte. Bd. 2. Hg. von Max Spindler und Andreas Kraus. München 21988, S. 913; Schmid: Humanismus (wie Anm. 18), S. 638 u. ö.; Andreas Kraus: Bayerische Geschichtswissenschaft in drei Jahrhunderten. Gesammelte Aufsätze. München 1989, s. Register. Das Interesse des Herzogs arbeitet heraus: Reinhard Heydenreuter: Der landesherrliche Hofrat unter Herzog und Kurfürst Maximilian I. von Bayern (1598–1651). München 1980 (Schriftenreihe zur bayerischen Landesgeschichte 72), S. 360f. Marcus Welser: Rerum Boicarum libri quinque. Augsburg 1602. Marcus Welser: Bayerische Geschicht in fünff Bücher getailt. Augsburg 1605. Hans-Jörg Künast: Welserbibliotheken. Eine Bestandsaufnahme der Bibliotheken von Anton, Marcus und Paul Welser. In: Häberlein, Burkhardt (Hgg.): Die Welser (wie Anm. 1), S. 557. Marci Velseri Rerum Boicarum libri quinque una cum libro sexto hactenus inedito. Hg. von Johann Kaspar Lippert. Augsburg 1777.

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brechen auch dieser Arbeit hängt vermutlich mit den gänzlich anders gearteten Erwartungen des Auftraggebers zusammen. Der Methodiker Welser, der vom Herzog auch als politischer Berater und Informant im Zusammenhang mit den Aktivitäten der evangelischen Union herangezogen wurde, 42 konnte vor allem die Hoffnungen Maximilians I. bezüglich des Kernproblems der Abstammung der Wittelsbacher von Karl dem Großen nicht erfüllen. Da somit die Vorgaben des Auftraggebers nicht mit den Möglichkeiten des Bearbeiters zur Deckung zu bringen waren, brach Letzterer seine Tätigkeit im Wesentlichen zu dem Zeitpunkt ab, zu dem das Abstammungsproblem zur Behandlung anstand. Aus diesem Grunde gab der Landesherr den Auftrag nach längerem Zuwarten 1611 an einen neuen Bearbeiter, den Jesuiten Matthäus Rader (1561–1634),43 weiter, den er bereits zuvor als möglichen Mitarbeiter Welsers ins Spiel gebracht hatte.44 Nun begann die Ära der Hofhistoriographen aus der Societas Jesu.45 Marcus Welser trat also durch eine Reihe äußerst bemerkenswerter Buchpublikationen hervor.46 Eine Gesamtausgabe der Werke Welsers publizierte Christoph Arnold in Nürnberg, 68 Jahre nach dessen Tod. 47 Den Anstoß hierzu gaben wohl Daniel Welser, der damalige Kurator des Augsburger Kollegiums zu St. Anna, und der Nürnberger Karl Welser. Ein weiteres Tätigkeitsfeld Welsers stellte die Edition des schriftstellerischen Werks mehrerer Autoren der griechischen und lateinischen Antike dar. Auf diesem Sektor arbeitete Welser eng mit dem Augsburger Stadtbibliothekar und namhaften Gräzisten David Höschel (1556–1617)48 zusammen. Auf dessen ––––––––– 42

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Der Briefwechsel Welsers mit Maximilian I.: Bayerisches Hauptstaatsarchiv München, Kasten schwarz 6970; Bayerische Staatsbibliothek München, Handschriftenabteilung, cgm 2211. Vgl. Anton Dürrwächter: Christoph Gewold. Ein Beitrag zur Gelehrtengeschichte der Gegenreformation und zur Geschichte des Kampfes um die pfälzische Kur. Freiburg i. Br. 1904 (Studien und Darstellungen aus dem Gebiet der Geschichte 4), S. 56–59, 119– 125; J. M. v. Welser: Die Welser (wie Anm. 1), S. 279–281. Zu Rader vgl. Alois Schmid (Hg.): P. Matthäus Rader SJ. Bd. 1: 1595–1612 (Bayerische Gelehrtenkorrespondenz 1) München 1995. Vgl. ders.: Der Briefwechsel des P. Matthäus Rader SJ. Eine neue Quelle zur Kulturgeschichte Bayerns im 17. Jahrhundert. In: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 60 (1997), S. 1109–1140. Vgl. J. M. v. Welser: Die Welser (wie Anm. 1), S. 278. Riezler: Geschichte Baierns. Bd. 6 (wie Anm. 36), S. 433–441. Vgl. das Werkverzeichnis in Veith: Bibliotheca Augustana. Bd. 2 (wie Anm. 1), S. 200– 227; J. M. v. Welser: Die Welser (wie Anm. 1), S. 267f. Sammelband: Marcus Welser: Opera omnia historica et philosophica, sancta et prophana. Hg. von Christoph Arnold. Nürnberg 1682. Zu David Höschel: Leonhard Lenk: Höschel, David. In: Neue Deutsche Biographie. Bd. 9. Berlin 1972, S. 368f.; Karl Köberlin: Geschichte des Humanistischen Gymnasiums bei St. Anna in Augsburg von 1531 bis 1931. Augsburg 1931, S. 121–138; Richard Schmidbauer: Die Augsburger Stadtbibliothekare durch vier Jahrhunderte. Augsburg 1963 (Abhandlungen zur Geschichte der Stadt Augsburg 10), S. 101–112; Siegfried Spring: David Höschel 1556–1617, Rektor am Gymnasium bei St. Anna in Augsburg und Gräzist. In: Lebensbilder aus dem Bayerischen Schwaben. Bd. 14. Hg. von Wolfgang Haberl. Weißenhorn 1993, S. 85–121; Denno J. Geneakoplos: Some Important Episodes in the Relations between Greek and German Humanists in the 15th and 16th Century. In: Graeca recentiora in Germania. Deutsch-griechische Kulturbeziehungen vom 15. bis 19. Jahrhundert. Hg. von Hans Eidemeier. Wiesbaden 1994 (Wolfenbütteler Forschungen 59), S. 27–45, hier

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Anregung gründete er 1594 eine eigene Druckerei, die nach ihrem auf dem Titelblatt jeweils vermerkten Emblem Ad insigne pinus bezeichnet wurde49 und bis 1617 etwa 70 Publikationen vorlegte. Alle hier veröffentlichten Werke zeichneten sich in Anlehnung an die venezianische Drucktradition durch gediegene Ausstattung und hohe Druckpräzision aus. Neben der Edition griechischer Texte, vornehmlich der Kirchenväter, die zumeist zum Bestand der Augsburger Stadtbibliothek gehörten, erschienen dort auch astronomische, mathematische, historische und juristische Abhandlungen, zumeist Erstausgaben, welche die Beachtung der europäischen Gelehrtenwelt fanden. Welser besaß offenbar ein gutes Gespür für außerordentliche Bücher, deren Manuskripte er nicht nur der Augsburger Stadtbibliothek entnahm, sondern auch über seine Verbindungen in der Res publica bezog: So erschien das Falkenbuch Kaiser Friedrichs II. (1194– 1250) erstmals 1596 bei insigne pinus.50 1601, fünf Jahre später, legte David Höschel die Editio princeps der „Bibliothek“ des byzantinischen Patriarchen Photios (um 820–886)51 vor, ein für die Literaturkritik wichtiges Werk. Die drei Briefe des Jesuiten Christoph Scheiner über die Entdeckung der Sonnenflecken, die zu einer langjährigen Auseinandersetzung zwischen Scheiner und Galileo Galilei führten, da dieser Gleiches für sich beanspruchte, gingen 1612 ebenfalls bei insigne pinus in Druck. 52 Nach 1600 erschienen auch zahlreiche hagiographische Werke, die von jesuitischen und benediktinischen Gelehrten verfasst wurden und sich durch künstlerisch anspruchsvolle Titelblätter im Stil des Frühbarock auszeichnen. Auffällig ist das Fehlen jeglicher kontroverstheologischer Literatur im Verlagsprogramm, das eine Rezeption auch über die Konfessionsgrenzen hinaus ermöglichte. Nach Welsers Tod und Höschels Ableben im Jahr 1617 stellte der ––––––––– 49

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S. 43; weiterhin: Hans Eidemeier: Von der Handschrift zum Druck. Martin Crusius und David Hoeschel als Sammler griechischer Venezianer Volksdrucke des 16. Jahrhunderts. Georg Wilhelm Zapf: Augsburgs Buchdruckgeschichte. Bd. 1. Augsburg 1788, S. 78; ders.: Über das eigentliche Jahr, in welchem die ehemalige berühmte Privatbuchdruckerei „ad insigne pinus“ in Augsburg ihren Anfang genommen; Lenk: Augsburger Bürgertum (wie Anm. 1), S. 165–175 (ebd., S. 221–224 ein chronologisches Verzeichnis der Werke, die in der Druckerei Ad insigne pinus erschienen sind); Josef Bellot: „Ad insigne pinus“. Kulturgeschichte der Reichsstadt Augsburg im Spiegel eines Verlages an der Wende des 16./17. Jahrhunderts. In: Buchhandelsgeschichte. Beilage zum Börsenblatt für den deutschen Buchhandel 36 (1978), S. 697–709; ders.: Augsburger Buchdruck und Buchillustration. In: Welt im Umbruch. Bd. 1 (wie Anm. 1), S. 89–93; ders.: Humanismus – Bildungswesen – Buchdruck (wie Anm. 1), S. 352–354. Vgl. Helmut Gier: Erstdruck des Falkenbuchs Kaiser Friedrichs II. In: 450 Jahre Staatsund Stadtbibliothek Augsburg. Augsburg 1987, S. 66f.; Inge Keil: Markus Welser und die Naturwissenschaften. In: Häberlein, Burkhardt (Hgg.): Die Welser (wie Anm. 1), S. 607– 617, hier S. 616. Zur Edition der Bibliothek des Photios vgl. Luciano Canfora: La biblioteca del patriarca. Rom 1998; Wolfgang E. J. Weber: Die Hypothesen des byzantinischen Patriarchen, Augsburg und die Literaturkritik. Zu einer Traditionslinie der europäischen Wissenskultur. In: Mitteilungen des Instituts für Europäische Kulturgeschichte der Universität Augsburg 5 (2002), S. 53–58; Luciano Canfora: Il Fozio ritrovato. Bari 2001. Vgl. Bellot: Humanismus – Bildungswesen – Buchdruck (wie Anm. 1), S. 351.

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Verlag, der wohl kaum allzu großen Ertrag abgeworfen haben dürfte, seine Tätigkeit ein. Als bedeutender Förderer humanistischer Wissenschaftspflege baute Welser eine hervorragende Gelehrtenbibliothek von 2.266 Bänden53 auf, die quantitativ allerdings nicht an die 5.000 Titel umfassende Sammlung seines Bruders Anton heranreichte. Die Arbeitsbibliothek, die nur wenige Handschriften umfasste, setzte sich im Wesentlichen aus zeitgenössischer Literatur zusammen und beinhaltete auch zahlreiche italienische, französische und spanische Werke, die nach der Mediatisierung der Reichsstadt Augsburg in den Besitz der Bayerischen Staatsbibliothek gelangten. Welser verzichtete auf eine kostbare Bindung der Bücher, die in Truhen aufbewahrt wurden. Im Übrigen förderte er durch manche Schenkungen die Augsburger Stadtbibliothek, in deren Besitz auch Welsers Bibliothek nach dem Tod des Stadtpflegers möglicherweise auf Intervention David Höschels gelangte.54 Marcus Welser betätigte sich somit auch als echt humanistischer Mäzen, vor allem zugunsten seiner Vaterstadt. Marcus Welsers persönliches Verhältnis zur bildenden Kunst war wohl weniger eng als zur Wissenschaft – so ist etwa von einer namhaften Gemäldesammlung nichts bekannt. Inwieweit er auf das urbanistische Programm Einfluss nahm, das Augsburg um 1600 zu einer Stadt der Renaissance werden ließ, deren Glanzstück das allerdings erst nach Welsers Tod begonnene Rathaus darstellt, entzieht sich großteils einer eindeutigen Klärung und muss offenbleiben. 55 Eine Ausnahme stellen die Reliefs des von Adriaen de Vries geschaffenen Herkulesbrunnens dar, die sich offenkundig an der Darstellung der Stadtgründung Augsburgs in Welsers „Rerum Augustanarum Vindelicarum“ orientieren. 56 Freilich überschätzte dieser seine diesbezüglichen finanziellen Möglichkeiten. Ob seine auf die Kulturpflege ausgerichteten Interessen dazu beitrugen, dass das einst bedeutende Handelshaus Welser seinem Ende entgegenging, bleibt aufgrund fehlender Quellen fraglich. Seine letzten Lebensjahre waren von zunehmenden finanziellen Schwierigkeiten der Firma bestimmt; seine Stellung als Stadtpfleger hatte Marcus kurz vor seinem Tode noch einmal genutzt, um ––––––––– 53

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Vgl. Lenk: Augsburger Bürgertum (wie Anm. 1), S. 158f.; Hermann Kellenbenz: Augsburger Sammlungen. In: Welt im Umbruch. Bd. 1 (wie Anm. 1), S. 84; Künast: Welserbibliotheken (wie Anm. 40), S. 558–652. Die von Lenk genannte Zahl ist freilich problematisch, weil in ihr auch die Einblattdrucke berücksichtigt werden. Der Katalog des Elias Ehinger (1633) weist lediglich 871 Bände aus. Elias Ehinger: Catalogus bibliothecae amplissimae reipublicae Augustanae. Augsburg 1633. Vgl. Künast: Welserbibliotheken (wie Anm. 40), S. 552. Vgl. Bruno Bushart: Die Augsburger Brunnen und Denkmale um 1600. In: Welt im Umbruch. Bd. 3 (wie Anm. 1), S. 82–94; Markus Völkel: Markus Welser und die Augsburger Baukunst der Hollzeit. Einige kritische Anmerkungen. In: Elias Holl und das Augsburger Rathaus. Hg. von Wolfram Baer, Hanno-Walter Kruft und Bernd Roeck. Regensburg 1985, S. 129–133; Mauer: Zur Organisation städtischen Bauens zwischen Elias Holl, Marcus Welser und Bernhard Rehlinger (wie Anm. 11). Vgl. Christoph Emmendörfer: Adriaen de Vries. In: Adrien de Vries 1556–1626: Augsburgs Glanz – Europas Ruhm. Hg. von Björn R. Kommer. Augsburg 2000, S. 127.

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dem Bruder Matthäus zu einem Kredit der Reichsstadt zu verhelfen. Unmittelbar nach seinem Tod erfolgte noch im Jahre 1614 der Konkurs.57 Ganz im Sinne des Späthumanismus unterhielt Marcus Welser auch eine bedeutende zumeist lateinische, aber auch italienische Korrespondenz.58 In sie waren die herausragenden Geistesgrößen seiner Zeit eingeschlossen. Über den gesamten mitteleuropäischen und italienischen Kulturraum erstreckte sich sein aussagekräftiger Briefwechsel. 59 Die Liste der Briefpartner Welsers bei Arnold umfasst viele Größen des europäischen Späthumanismus:60 Philologen, Historiker, Theologen, Juristen und Naturwissenschaftler finden sich hier versammelt, unabhängig von der jeweiligen Konfession. So gehörten sowohl Jesuiten wie Jacob Gretser (1562–1625),61 Jacob Pontanus (1542–1626)62 und Matthäus Rader, Augsburger Lutheraner wie David Höschel,63 Calvinisten wie der Heidelberger Bibliothekar Marquard Freher (1565–1614)64 und Joseph Justus Scaliger65 und religiös eher unprofilierte Persönlichkeiten wie der niederländische ––––––––– 57

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Johannes Müller: Der Zusammenbruch des Welserschen Handelshauses im Jahre 1614. In: Vierteljahrsschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 1 (1903), S. 196–234; ders.: Der Verlauf des Welserischen Gantprozesses von 1614–1618. In: Zeitschrift des Historischen Vereins für Schwaben und Neuburg 30 (1903), S. 42–74; Reinhard Hildebrandt: Der Niedergang der Augsburger Welser-Firma (1560–1614). In: Häberlein, Burkhardt (Hgg.): Die Welser (wie Anm. 1), S. 265–281. Am besten untersucht ist die Lipsiuskorrespondenz: Jan Papy: Lipsius and Marcus Welser. The Antiquarian’s Life as Via Mala. In: The World of Justus Lipsius (wie Anm. 5), S. 173–190; Hugo Peeters: La correspondance de Juste Lipse avec Plauto/Francesco Benci: le récit d’une amitié. In: ebd., S. 97–119; Werner Thomas: Martín Antonio Delrío and Justus Lipsius. In: ebd., S. 345–366; Gilbert Tournoy: „Ad ultimas inscitiae lineas imus.“ In: ebd., S. 191–208; Joost Depuydt: „Vale, verum antiquae historiae lumen.“ Antiquarianism in the correspondence between Justus Lipsius and Abraham Ortelius. In: Iustus Lipsius Europae lumen et columen. Hg. von Gilbert Tournoy, Jeanine de Landsheer und Jan Papy. Löwen 1999, S. 34–46; Hugo Peeters: Le Contubernium de Lipse à Louvain à travers sa correspondence. In: ebd., S. 97–119; Alois Schmid: P. Matthäus Rader und Justus Lipsius: Aus ihrem Briefwechsel. In: Geschichte in Räumen. Festschrift für Rolf Kießling zum 65. Geburtstag. Hg. von Johannes Burkhardt, Thomas Max Safley und Sabine Ullmann. Augsburg 2006, S. 261–277. Das Welserepistolarium als Ganzes wertet aus: Ferber: „Scio multos te amicos habere“ (wie Anm. 1). Eine Übersicht über Welsers Korrespondenz bieten Veith: Bibliotheca Augustana. Bd. 2 (wie Anm. 1), S. 188–192; Bd. 6, S. 184; J. M. v. Welser: Die Welser. Bd. 2 (wie Anm. 1), S. 226–232, Anlage XXXV; Giuseppe Gabrieli: Marco Welsero, Linceo Augustano. In: Rendiconti della R. Accademia Nazionale dei Lincei. Classe di scienze morali, storiche e filologiche VI/13 (1938), S. 74–99; Lenk: Augsburger Bürgertum (wie Anm. 1), S. 162–164. Arnold: Vita, genus et mors (wie Anm. 1), S. 54. Vgl. Welser: Opera (wie Anm. 47), S. 855f. Nr. LX. Vgl. Archiv der Deutschen Provinz der Societas Jesu, Abt. 42, Nr. 2.1, Nr. 222, 231, 225, 238. Vgl. Welser: Opera (wie Anm. 47), S. 839f. Nr. XXXIVf. Vgl. Arnold: Vita, genus et mors (wie Anm. 1), S. 60. Vgl. Josef Justus Scaliger: Epistolae omnes, que reperiri potuerunt, nunc primum collectae ac editae. Hg. von Daniel Heinsius. Leiden 1627, Nr. CXLIII–CLXXXI; Welser: Opera (wie Anm. 47), S. 788–814, II–XLVII.

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Philologe und Philosoph Justus Lipsius (1547–1606),66 der mehrmals die Konfession wechselte, zu Welsers Korrespondentenkreis. Auch geographisch greift Welsers Netzwerk international weit aus; von den Niederlanden und Frankreich über den Norden und Süden des Heiligen Römischen Reiches bis nach Italien reichen die Verbindungen des Augsburgers. Anspruch auf Vollständigkeit erhebt die Aufzählung nicht; so zählte neben Galileo Galilei (1564–1642),67 dem bedeutendsten Naturwissenschaftler seiner Zeit, auch der Astronom Johannes Kepler (1571–1630)68 zu den Korrespondenzpartnern Welsers. Welser spielte in diesem Zusammenhang die Rolle eines Multiplikators, der neue wissenschaftliche Erkenntnisse in der Res publica litteraria verbreitete und unterschiedliche Netzwerke zusammenführte. Dies belegt das Beispiel der Auseinandersetzung um die Entdeckung der Sonnenflecken.69 Zugleich betrieb Welser eine umfangreiche Förderung der Wissenschaft, indem er unermüdlich Autoren mit Quellen etwa aus der Augsburger Bibliothek versorgte und deren Werke in seinem Verlag drucken ließ. 70 So trug Welser maßgeblich zur Entstehung des 1602 publizierten Großprojekts „Inscriptiones totius orbis Romanae“ des Janus Gruter bei, der den Augsburger Patrizier so auch im Titel neben Joseph Justus Scaliger erwähnte. Die Verdienste Welsers um die Förderung der Wissenschaften belegt auch der erste Band der Raderkorrespondenz, der die Briefe des Jesuiten aus der Zeit von 1594 bis 1612 umfasst. So ließ etwa der Antwerpener Jesuit Andreas Schott, dessen „Vitae comparatae Aristotelis ac Demosthenis“ (1603) und die Photiosübersetzung (1606) bei insigne pinus erschienen, Welser mehrmals grüßen.71 Die Grenzen von Welsers Einfluss zeigten sich in der Auseinandersetzung über die chronologischen Thesen des Grazer Jesuiten Johannes Decker mit Caesar Baronius (1604/05). Auf Drängen Deckers hatte sich Welser offensichtlich für dessen Belange in Rom eingesetzt, was aber keinen Sinneswandel des Kardinals bewirkte.72 Neben der Korrespondenz belegen auch die Welser gewidmeten Schriften 73 und die Widmungsexemplare von Werken etwa des Juristen-Dichters Nikolaus ––––––––– 66

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Vgl. Justus Lipsius: Epistolarum selectarum centuria prima ad Belgas. Antwerpen 1602, Nr. LXXV; ders.: Epistolarum selectarum centuria singularis ad Germanos et Gallos. Antwerpen 1602, Nr. I, VII, XII, XIIII, XVII, XXVI, XXXXIII, XXXIX, LII, LVIII, LX, LXVII, LXXIII, LXXI; ders.: Epistolarum selectarum centuria quarta miscellanea postuma. Antwerpen 1611, Nr. LII, XCVIII; ders.: Epistolarum selectarum centuria quinta miscellanea postuma. Antwerpen 1611, Nr. XI, XL, XLIII, LI, LXXXIX; ILE, 91 02 28; 91 04 04; ILE V, Nr. 1137 (92 01 23); Nr. 1350 (92 11 10); ILE VI, Nr. 1401 (93 03 10 W); Nr. 1503 (93 10 23); ILE VII, Nr. 1689 (94 10 12 W); Nr. 1728 (94 12 22 W); ILE XIII, Nr. 2776 (00 01 26); Nr. 2783 (00 02 14); Nr. 2837 ( (00 07 19); Nr. 2861 (00 09 13); Nr. 2868 (00 09 25 W); Nr. 2898 (00 11 20 W); Welser: Opera (wie Anm. 47), S. 815–829, Nr. I–XX. Vgl. Keil: Markus Welser und die Naturwissenschaften (wie Anm. 50), S. 610, 612f. Ebd., S. 611. Vgl. Keil: Augustanus Opticus (wie Anm. 1), S. 32f. Vgl. Arnold: Vita, genus et mors (wie Anm. 1), S. 59–65. Vgl. Schmid (Hg.): P. Matthäus Rader SJ. Bd. 1 (wie Anm. 43), Nr. 122. Ebd., Nr. 155, 158, 159, 163, 164, 167. Eine Aufzählung der Welser gewidmeten Werke bei Arnold: Vita, genus et mors (wie Anm. 1), S. 54–58.

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Reusner (1545–1602)74 die Bedeutung Welsers. Seine Aufnahme in die römische Accademia dei Lincei 75 und die Florentiner Accademia della Crusca76 bezeugen seine internationale Reputation.77 Einer seiner wichtigsten Korrespondenzpartner war in der Zeit von 1597 bis 1612 der bereits genannte P. Matthäus Rader SJ, der seit 1591 am Augsburger Jesuitenkolleg St. Salvator als Professor für Rhetorik wirkte. Wann beide einander kennenlernten, lässt sich nur vermuten. Möglicherweise resultierte die Bekanntschaft zwischen Welser und Rader aus der Beschäftigung des Jesuiten mit Martial; zuvor war dieser als Gelehrter nicht in Erscheinung getreten. Zumindest deutet darauf ein Brief des Justus Lipsius hin, in dem dieser über Rader Grüße an Welser bestellen lässt.78 Da Rader in seinem Schreiben an Lipsius den Augsburger Patrizier, dessen enges Verhältnis zu Lipsius in der Gelehrtenwelt bekannt war, nicht erwähnt,79 liegt die Vermutung nahe, dass zuvor zwischen Welser und Rader kein nennenswerter Kontakt bestanden hatte.

2.

Die Korrespondenz Raders mit Welser

Der Korrespondenz Raders mit Marcus Welser kommt innerhalb des Raderepistolariums80 aus mehrfachen Gründen eine Sonderstellung zu, worauf bereits verschiedentlich von Oefele,81 Veith 82 oder Maximilian Rassler83 hingewiesen wurde. Das gilt zum einen bezüglich ihres Umfanges; denn sie ist der umfangreichste Einzelblock, der immerhin 325 Nummern umfasst. Sie entsprechen etwa 15 Prozent des Gesamtbestandes. Als nächstgrößter Einzelteil folgt mit weitem Abstand der Briefwechsel mit Elias Ehinger, der nicht mehr als 93 Stücke aufweist. Auch innerhalb der Welserkorrespondenzen, die sich in gleicher Weise aus einer hochrangigen Reihe europäischer Kapazitäten zusammensetzt, stellt der Raderblock den umfangreichsten Einzelbestandteil dar. ––––––––– 74 75 76 77 78 79 80

81 82 83

Vgl. Künast: Welserbibliotheken (wie Anm. 40), S. 562. Vgl. Gabrieli: Marco Welsero (wie Anm. 59). Vgl. Mario Biagioli: Galilei der Höfling. Frankfurt a. M. 1999, S. 85. Vgl. Kuhoff: Markus Welser (wie Anm. 1), S. 607; Keil: Markus Welser und die Naturwissenschaften (wie Anm. 50), S. 613. Vgl. Schmid (Hg.): P. Matthäus Rader SJ. Bd. 1 (wie Anm. 43), Nr. 12. Ebd., Nr. 9. Vgl. Rita Haub: Das Epistolarium P. Matthäus Rader SJ und der Ellwanger Maler August Stubenvoll. In: Ellwanger Jahrbuch 36 (1995/96), S. 214–218; Schmid (Hg.): P. Matthäus Rader SJ. Bd. 1 (wie Anm. 43). Bayerische Staatsbibliothek München, Handschriftenabteilung, Oef. 3: Andreas Felix Oefele: Apparatus Bavariae doctae, Schachtel 9, p. 327f. Veith: Bibliotheca Augustana. Bd. 2 (wie Anm. 1), S. 191f. Maximilian Rassler: Heiliges Bayerland. Augsburg 1714, S. 378 betont, dass seine besondere Erfahrenheit auf dem Gebiet der Wissenschaft den Jesuiten Matthäus Rader gerade bey den gelehrtesten Männern seiner Zeit als Iusto Lipsio, Martino Delrio, Marco Velsero bekant, beliebt und hochgeschätzt machte.

P. Matthäus Rader SJ und Marcus Welser

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Die Rader-Welser-Korrespondenz hebt sich aber nicht nur durch ihren Umfang, sondern zudem durch ihre Zusammensetzung vom Rest des Epistolariums ab. Denn hier halten sich die Schreiben von und an Rader weit mehr die Waage als in den anderen Teilen. Während sonst die Schreiben von Rader deutlich in der Minderzahl bleiben, sind immerhin 188 Schreiben Raders an Welser bekannt; sie machen etwa 80 Prozent der vorliegenden Raderbriefe aus. Kein anderer Korrespondenzpartner hat auch nur annähernd so viele Briefe von Matthäus Rader erhalten. Da Marcus Welser darauf mit offensichtlichem Fleiß geantwortet hat, ist dieser Briefwechsel zu einem umfangreichen Corpus angewachsen, das sich zumindest teilweise zu einer dialogischen Korrespondenz abrundet.84 Allerdings muss diese intensive innerstädtische Korrespondenz bei näherem Zusehen doch als im Grunde ungewöhnlich erscheinen. Denn Rader wirkte bis in den Herbst 1612 in Augsburg und lebte somit in unmittelbarer Nähe des Stadtpflegers. Diese Umstände werfen die Frage nach dem Sinn dieses ausgedehnten Briefwechsels über eine derart geringe Entfernung hinweg auf. Aber offensichtlich stellte die Kollegmauer doch eine wirkungsvolle Trennlinie gegenüber der Umwelt dar, die dem zu erwartenden persönlichen Austausch im Wege stand. Zudem beschränkte das unterschiedliche Tätigkeitsfeld als Lehrer am Gymnasium bzw. als hoher städtischer Funktionsträger offensichtlich die Möglichkeiten zu direkter Kommunikation. Die Distanz konnte so am schnellsten mit Briefen überwunden werden, denen die beiden Humanisten aber auch aus Gründen der zeitgemäßen Hochschätzung dieses Mediums des persönlichen und gelehrten Austausches huldigten.85 Die Schreiben wurden nach Ausweis der Anschriften durch Boten übermittelt. Der heutige Leser erhält so die Möglichkeit, den wissenschaftlichen Austausch zwischen Rader und Welser minutiös, mitunter von Tag zu Tag, nachvollziehen zu können – ein seltener Glücksfall für die europäische Wissenschaftsgeschichte dieser Zeit.

2. 1. Der Inhalt Der Welserblock hebt sich aber auch inhaltlich deutlich vom Rest des Raderepistolariums ab und führt thematisch in andere Bereiche. Dennoch zeichnen sich in Deutlichkeit bestimmte Schwerpunkte ab, die in den gewechselten Schreiben mit Vorliebe berührt werden. Marcus Welser war im Gegensatz zu den meisten anderen Korrespondenzpartnern Raders kein Kleriker. Er war stattdessen ein Mann des öffentlichen Lebens und Historiker, dessen philologische Kompetenz ihm große Autorität verlieh – so bezeichnet ihn Rader einmal ––––––––– 84

85

Zu diesem Korrespondenztypus: Siegfried Sudhof: Brief und Gegenbrief als Problem der Briefedition. In: Probleme der Briefedition. Bd. 1. Hg. von Wolfgang Frühwald u. a., Boppard 1975, S. 22–49. Der Brief im Zeitalter der Renaissance. Hg. von Franz Josef Worstbrock. Weinheim 1983 (DFG. Kommission für Humanismusforschung. Mitteilungen 9).

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respektvoll als Augustanus Apollo. Dieser Status findet in der Korrespondenz seinen angemessenen Niederschlag. So bleiben denn auch die Briefe Welsers an Rader, in denen er seinen jesuitischen Gesprächspartner um Hilfe bittet, in der Minderzahl. Ganz im Gegensatz zur sonstigen Raderkorrespondenz nimmt der Jesuit hier die Rolle des Fragestellers ein – der sonst wenig schreibfreudige86 Rader stilisiert sich hier zum „Schüler“ des Lehrers Welser, der allerdings nur drei Jahre älter war und somit der gleichen Generation angehörte. Beide verbindet auch der weitgehende Verzicht auf konfessionelle Polemik. Die scharfe Polemik Raders gegen den byzantinischen Patriarchen Photios, den der Jesuit als Hauptverantwortlichen der Trennung von Ost- und Westkirche ansieht, wirft allerdings ein bemerkenswertes Schlaglicht auf die Grenzen seiner Toleranz. Neben historischen Fragen treten philologische Probleme bis hin zur Bedeutung einzelner Begriffe in den Vordergrund. Im Zusammenhang der zahlreichen Projekte Raders, die im Zentrum der Korrespondenz stehen, spielt die Historie in ihrer gesamten Breite von der Zeit der Ägypter bis herauf in die eigene Epoche eine wichtige Rolle. Freilich lassen sich für bestimmte Zeiträume Leitmotive feststellen, die den jeweiligen wissenschaftlichen Schwerpunkten Raders entsprechen. So dominiert von 1597 bis 1600 die Arbeit an der Martialedition bzw. dem Martialkommentar den Briefwechsel. Um 1600 konzentrieren sich die Schreiben auf das Afra-Drama, während in den ersten Jahren nach 1600 die byzantinistischen Projekte und die Herausgabe der Akten des 8. Ökumenischen Konzils im Vordergrund stehen. Das Projekt der „Bavaria sancta“ klingt bereits erstmals um 1603 an, gewinnt aber erst um 1610 größere Bedeutung. Nachdem Rader die Fortführung der bayerischen Geschichte Welsers 1612 übernommen hat, taucht auch dieses Thema verstärkt in der Korrespondenz auf. Zumeist thematisiert der Briefwechsel ganz konkrete Fragestellungen wie die Maße der Pyramiden oder Fragen der Epigraphik und Numismatik.87 Antike und zeitgenössische wissenschaftliche Autoritäten werden hier gleichermaßen kritisch hinterfragt – so etwa die Angaben des älteren Plinius über die Abmessungen der Pyramiden. Die Martialedition wird so auch für die Anfänge der historischen Hilfswissenschaften wichtig. Während über die Entstehung der meisten Jesuitendramen nur wenige Einzelheiten überliefert sind, gilt dies nicht für das Afra-Drama, das Rader 1600 für das Augsburger Jesuitenkolleg verfasste und anscheinend mit großem Erfolg auf die Bühne brachte. Die Korrespondenz thematisiert sämtliche Arbeitsgänge von der Abfassung bis zur Inszenierung des Dramas und berichtet auch über dessen Aufnahme durch das Augsburger Publikum. Zudem erfährt man gleichsam nebenbei etwas vom Zusammenleben der beiden Konfessionen in der bikonfessionellen Reichsstadt: Auch seitens der anwesenden Lutheraner sei das Stück begeistert aufgenommen worden.

––––––––– 86 87

Vgl. hierzu Schmid (Hg.): P. Matthäus Rader SJ. Bd. 1 (wie Anm. 43), S. XXXVII. Zu Einzelfragen: Max Bernhart: Marx Welser als Numismatiker. In: Oberbayerisches Archiv 55 (1910), S. 139–156.

P. Matthäus Rader SJ und Marcus Welser

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Zu den Tätigkeiten, die man von den Jesuiten aufgrund ihrer literarischen Kompetenz erwartete, gehörte auch die Abfassung von Gelegenheitsdichtungen, die dem Lob des jeweiligen Landesherrn dienten. Die Korrespondenz zwischen Welser und Rader thematisiert so auch die Funebria, die das Münchner Kolleg 1598 aus Anlass des Todes des jungen Kardinals Philipp Wilhelm von Wittelsbach veröffentlichte. 88 Ein Jahr später verfasste Rader selbst ein Gedicht in Hexametern auf die Wahl Heinrichs von Knöringen zum Augsburger Fürstbischof, dessen Text er Welser zur Begutachtung zukommen ließ. Rader sparte aber nicht mit Kritik an diesen ad hoc entstandenen Texten. Umgekehrt versicherte sich Welser Raders philologischer Kompetenz bei der Wiederherstellung der metrisch korrekten Form der Inschrift auf der Monstranz für das Wunderbarliche Gut, das in der Augsburger Stiftskirche zum Heiligen Kreuz verwahrt wurde. Dass die Grenzen der Konfessionen wissenschaftlichem Austausch in Augsburg keineswegs abträglich waren, zeigen die Vorgänge im Zusammenhang mit den byzantinistischen Projekten Raders. Offensichtlich spielte dabei der lutheranische Augsburger Stadtbibliothekar David Höschel eine wichtige Rolle, der auf Anweisung Welsers auch mehrfach Manuskripte an Rader verlieh, die dieser für seine Editionen benötigte. Ohne Schwierigkeiten verlief die Zusammenarbeit allerdings nicht. So beschwerte sich Höschel im Zusammenhang mit der Edition der „Bibliothek“ des Photios einmal über die nachlässige Korrektur des Jesuiten. Dass der faktisch praktizierten konfessionellen Toleranz nach außen Grenzen gesetzt waren, zeigt sich darin, dass Rader einmal darauf verzichtete, Höschel dankend zu erwähnen, obwohl dieser ihm offensichtlich über das normale Maß hinaus behilflich gewesen war – es handelt sich hierbei wohl um einen Fall von Selbstzensur Raders angesichts der Maßgaben des Ordens. Über den engen Kontakt zu Rader hinaus führt der Briefwechsel nachdrücklich vor Augen, dass das jesuitische Zensursystem offensichtlich auch für auswärtige Gutachter Raum ließ. So kam Welser einmal die Aufgabe zu, das Manuskript der Edition des byzantinischen Autors Simokates zu begutachten, das wieder an den Editor zurückging. Überhaupt erlauben die Briefe einen aufschlussreichen Einblick in den jesuitischen Wissenschaftsbetrieb. Es zeigt sich, dass Teile von geplanten Publikationen nach Rom zur Zensur gesandt wurden, bevor die Arbeit am gesamten Werk abgeschlossen war. Der besondere Wert der Edition liegt so darin, dass sie an einem Beispiel das Entstehen wissenschaftlicher Werke von der Konzeption bis zum Druck nachvollziehbar werden lässt und somit einen wichtigen Beitrag zur späthumanistischen Wissenschaftsgeschichte liefert. Es zeigt sich, dass Welser auch in ordensinternen Belangen stets gut informiert und auf diese Weise in das europaweite Beziehungsgeflecht der Gesellschaft Jesu integriert war. So verwundert es nicht, dass Welser Grüße

––––––––– 88

Funebria Serenissimo et Reverendissimo Principi Philippo. S.R.E. Cardinali Amplissimo Episcopo Ratisbonensi […] Scripta gratae memoriae et debiti officii ergo a ducali Societatis Jesu Collegio Monachii. München 1598.

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von anderen Jesuiten, die mit ihm korrespondierten, an Rader weitergab wie auch umgekehrt. Welsers herausragende Rolle als Multiplikator wird besonders im Zusammenhang mit der Entstehung der „Bavaria sancta“ deutlich. So übermittelte er Rader zahlreiche Viten, die für dessen „hagiographische Landesbeschreibung“ notwendig waren. Darüber hinaus nahm er auf die Bitte Raders hin auch Stellung zu so bedeutsamen Problemen wie der Titelgebung des Werkes und der Gestaltung des emblematisch angelegten Titelkupfers, das sich unter anderem an den von Welser publizierten „Sancti Augustani“ orientierte. Beide verbindet die Darstellung der auf Wolken thronenden Madonna, auf deren Knie das segnende Jesuskind steht. Auf Welsers inventio geht auch die Präsentation Bayerns in Form einer Landkarte durch den Erzengel Michael zurück, dem vier weitere Schutzengel assistieren. Während bei der Vorbereitung der „Bavaria sancta“ offensichtlich nur wenige historische Probleme zu lösen waren, galt dies nicht für die Fortsetzung der Bayerischen Geschichte Welsers. Nachdem Rader das Projekt von Welser übernommen hatte, sah er sich mit der Schwierigkeit konfrontiert, die von Herzog Maximilian gewünschte Abstammung der Wittelsbacher von Karl dem Großen quellenmäßig nachweisen zu müssen, ohne hierfür die notwendigen Grundlagen zu besitzen. Auch Welser konnte ihm in dieser Frage am 30. Oktober 1612 nicht helfen. Der Brief formuliert klar die Unlösbarkeit des Problems: De Schirensium stirpe, eiusque cum Carolina connexione quod quaeris, ego unum respondere possum: Non liquere. Für Welser ist ein ausgesprochener Praxisbezug kennzeichnend, der Rader wohl interessierte, auch wenn er darüber hinaus theoretischen Fragestellungen ungleich aufgeschlossener gegenüberstand. Trotz ihrer im Einzelnen divergierenden Ausrichtung fanden die in vielerlei Hinsicht unterschiedlichen Charaktere auf der Plattform der späthumanistischen Wissenschaftspflege zusammen. Sie war die Basis, auf der sich die so unterschiedlichen Korrespondenten trafen. Schon der erste Historiograph der Oberdeutschen Provinz der Jesuiten, Franz Xaver Agricola, erkannte das, als er in seiner Darstellung auch auf diese bemerkenswerte Beziehung einging: Multum illi coram, ac per litteras commercium, et familiaritas cum Pontano nostro, et Radero, ex studiorum similitudine amicissimis.89 Doch hatten sich Rader und Welser auch jenseits der Fragen der Wissenschaft etwas zu sagen. Sie verband auch gegenseitige persönliche Hochschätzung wegen der beiderseitigen persönlichen Integrität. In wissenschaftlichen Kontroversen – so dem Streit Welsers mit dem Lothringer François de Rosières über die Echtheit von Urkunden oder der Polemik des Lorenzo Ramirez de Prado gegen die radersche Martialausgabe – verhielten sich beide Gelehrte zurückhaltend und verzichteten weitgehend auf Polemik, was sie ebenfalls verband. Welsers dezidierte Katholizität, die er mit Rader teilte, zeigt sich im Zusammenhang mit dem um 1600 verstärkt auftretenden Phänomen der Konversionen. So verweist Rader den jungen Nürnberger Patrizier Johannes Dietrich, der eine ––––––––– 89

Georg Agricola, Adam Flotto und Franz Xaver Kropf: Historia Provinciae Societatis Jesu Germaniae superioris. Bd. 2. Augsburg 1729, Nr. 520.

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Konversion zum Katholizismus erwägt, an Welser, den Freund des bereits 1598 konvertierten Kaspar Schoppe, und Welser erkundigt sich nach dem Stand der Konversion des Adam Paradeiser, dessen Übertritt zur katholischen Kirche die Historia Collegii Augustani für das Jahr 1605 erwähnt. In dieses Bild fügt sich der von der Forschung bisher unbeachtete einzige quellenmäßig verbürgte gemeinsame öffentliche Auftritt Welsers und Raders im Jahre 1604 harmonisch ein. Anlässlich der Firmung eines Konvertiten in der Kirche des Augsburger Jesuitenkollegs vermerkt die Historia Collegii mit spürbarem Stolz: praesentibus Marco Velsero Vrbis Praefecto, et nostrae Societatis Patre Matthaeo Radero.90 Die Frage nach der tatsächlichen persönlichen Nähe der beiden lässt sich aus der Korrespondenz, die im Wesentlichen wissenschaftliche Fragen zum Gegenstand hat, nur mit aller Vorsicht beantworten. Offensichtlich trafen sich Welser und Rader informell häufig persönlich – coram –, unter anderem in Welsers Garten, wo neben philologischen und historischen Fragen vermutlich auch persönliche Gespräche geführt wurden. Bezeichnend erscheint, dass Welsers Frau Anna nur einmal am Schluss eines Briefes Raders mit einem Gruß bedacht wird: Die Korrespondenz blendet den familiären Konnex weitgehend aus, sieht man von einigen wenigen Anspielungen auf Welsers Brüder Matthäus und Anton ab. Dass Welser enge Verbindungen zum Jesuitenkolleg unterhielt und dort auch verkehrte, zeigt sich darin, dass Rader ihn gelegentlich offiziell zu den dortigen Theateraufführungen einlud.

2. 2. Die Form Der sachorientierte Inhalt spiegelt sich in der Form der Briefe wider. Denn im Welserblock fehlen auffallenderweise die Kunstbriefe, die andere Teile des Briefwechsels kennzeichnen, sieht man von dem an die Welserbrüder gerichteten Widmungsbrief des raderschen Martialkommentars ab. Stattdessen dominieren hier eindeutig die Informationsschreiben, von Welser auch mehrmals als schedae bezeichnet, denen humanistische Stilisierung weithin fremd ist. Sie sind zumeist von Nüchternheit gekennzeichnet, die in respektvoller Förmlichkeit ihren angemessenen Ausdruck fand. Für die zwischen Rader und Welser gewechselten Schreiben sind nicht langatmige Einleitungen oder ehrfuchtsvolle Schlussformeln oder gar Versformen mit Wohlwollensbekundung kennzeichnend. Stattdessen fällt im Vergleich zu den anderen Schreiben ihre Kürze auf, die sehr oft als Adresse nur den Namen nennt und sogar zumeist auf exakte Datierungen verzichtet. Die beiden Korrespondenzpartner konnten nämlich davon ausgehen, dass die Briefe noch am selben Tag ihr Ziel erreichten, denn sie wurden durch einen Boten des welserschen Handelshauses überbracht. Allerdings fanden die Korrespondenten nicht immer Zeit für eine sofortige Antwort. Bisweilen konnten mehrere Wochen vergehen, bis ein Brief mit den gewünschten Informationen eintraf. Diese Stücke fallen alle in die ––––––––– 90

Bibliothèque cantonale et universitaire Fribourg/Schweiz: Historia Collegii Augustani 413.

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Augsburger Zeit Raders, also den Zeitraum von 1591 bis Sommer 1612. Die Briefe sind durchweg in lateinischer Sprache abgefasst. Im Gegensatz zu der Korrespondenz aus der Augsburger Zeit sind die Briefe, die nach Raders Berufung nach München entstanden, ausnahmslos datiert. Für diesen Zeitraum lässt sich so die Abfolge der Briefe ohne Probleme bestimmen. Ein Leitmotiv der letzten Briefe bildet Welsers Erkrankung, an der Rader lebhaften Anteil nahm und in diesem Zusammenhang die Standhaftigkeit seines Korrespondenzpartners lobte. Die Hypothese, Welser habe Selbstmord begangen, erscheint aus diesem Grund äußerst unwahrscheinlich – vielmehr handelte es sich offensichtlich um eine langwierige Erkrankung.

2. 3. Die Überlieferung Der Briefwechsel Raders mit Marcus Welser ist geschlossen in den zwei Sammelcodices Abt. 42, Nr. 2, 1 und 2, 2 (alte Signatur: M I 29 und M I 30) des Archivs der Deutschen Provinz der Jesuiten (ADPSJ) (vormals Archivum Monacense Societatis Jesu = AMSJ) überliefert. Zusätzliche Stücke konnten trotz intensiver Suche an allen erfolgversprechenden Orten nur vereinzelt aufgefunden werden. Es handelt sich durchweg um die Originale, die in die genannten Sammelbände aufgenommen wurden. Zusätzliche kopiale Überlieferungen konnten nur in verschwindend wenigen Fällen ermittelt werden.91 In den teilweise zum Druck gelangten Briefwechsel Welsers wurde keines dieser Schreiben aufgenommen.92 Die Sammelcodices stammen aus dem Radernachlass. Deswegen ist es nur naheliegend, dass sie die Originale der Welserschreiben bieten. Ungewöhnlich ist dagegen die Überlieferung auch der eigenen Schreiben Raders in diesen Handschriften. Dieser Befund ist nur so zu erklären, dass es dem Rektor nach dem Tod Welsers 1614 gelang, seine Briefe zurückzuerhalten. Der Stadtpfleger hatte sie offensichtlich sorgsam gesammelt. Auf diesem Wege konnte Rader die beiden zunächst getrennten Korrespondenzteile wieder zusammenführen und so die Einheit herstellen, in der uns die Briefe heute vorliegen. Dieser Korrespondenzblock wurde wegen seines Umfanges zu zwei eigenen Codices, einem mit den Briefen Welsers (Abt. 42, Nr. 2, 1) und einem mit denen Raders (Abt. 42, Nr. 2, 2), zusammengebunden, und zwar nach dem gleichen Muster wie die übrigen bekannten Teile des Raderepistolariums. Wann die Bindung erfolgt ist, lässt sich nicht genau feststellen. Am ehesten ist sie in die Zeit bald nach dem Tode Raders im Jesuitenkolleg zu München zu setzen. Die Überlieferung ist nahezu vollständig. Freilich gelangten die Briefcodices nicht direkt an ihren heutigen Aufbewahrungsort; das war infolge der historischen Brüche und der Ordensgeschichte nicht möglich. Auf regulärem Wege hätten sie nach der Aufhebung der Societas Jesu 1773 in die Verfügung der staatlichen Behörden über––––––––– 91 92

Archiv des Erzbistums München-Freising, Raderiana I. Die in Anm. 47 angeführte Edition enthält keinen Brief aus der Raderkorrespondenz.

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gehen müssen. Im Unterschied zu einem Teil des Radernachlasses war das aber für diese Codices nicht der Fall. Sie verblieben stattdessen in den Händen des Direktors der Historischen Klasse der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Johann Kaspar von Lipperts, der sie 1763 für eine geplante Edition vom Orden erhalten hatte. Aus seinem Nachlass gelangten sie in den Besitz der Ellwanger Familie Stubenvoll. August Stubenvoll, Maler und Kunstsammler, gab 1899 die Briefcodices Abt. 42, Nr. 2, 1 und 2, 2 zusammen mit weiteren Bänden als Geschenk an den Orden zurück.93 Auf diesem Wege gelangten sie an ihren heutigen Aufbewahrungsort. Sie bilden zusammen mit den beiden in gleicher Form gebundenen und den gleichen Weg gegangenen Codices Abt. 42, Nr. 3 und Abt. 42, Nr. 2, 3 den Kern der dortigen bemerkenswerten Radersammlung.

3.

Probleme der Edition

Die vorbereitete Edition fußt im Wesentlichen auf den Briefcodices Abt. 42, Nr. 2, 1 und 2, 2 des Archivs der Deutschen Provinz der Jesuiten (ADPSJ). Die wenigen Ergänzungen, die zusätzlich beigebracht werden können, werden eingearbeitet. Formal wird sie nach dem bereits vorliegenden Einleitungsband der Reihe gestaltet werden.94 Der ungewöhnliche Umfang und die besondere Zusammensetzung des Welserblocks stellen die Bearbeiter vor besondere Probleme. Sie haben vor allem die eine Grundentscheidung zu treffen, ob sie die Welserbriefe dem mit Band I gewählten chronologischen Aufbauprinzip folgend der Edition an den entsprechenden Stellen eingliedern und so die in diesem Fall gegebenen Zusammenhänge zerreißen sollen oder ob es nicht besser ist, diese Zusammenhänge zu bewahren, was freilich die Durchbrechung des gewählten Editionsschemas bedeutet. Für beide Wege sprechen gewichtige Gründe, welche die Entscheidung sehr erschweren. Schließlich wurde dem zweiten Weg der Vorzug gegeben. Ausschlaggebend war vor allem das Bestreben, die in diesem Fall gegebenen Zusammenhänge möglichst beizubehalten und nicht einem starren Ordnungsschema zu opfern. Dieses Verfahren bietet zudem den Vorteil, den Dialogcharakter der Welserkorrespondenz zu bewahren, auch wenn das wegen der vielen undatierten Schreiben mit besonderen Schwierigkeiten verbunden ist. Die Bearbeiter sind sich der Problematik dieses Verfahrens bewusst, hoffen aber, dass damit ein sinnvoller Weg beschritten wird. Ihre Entscheidung wurde zudem dadurch erleichtert, dass die Welserkorrespondenz mit dem Weggang Raders von Augsburg sehr rasch abbricht; in München fand sie kaum noch eine Fortsetzung. Deswegen endet der zweite Band dieser Edition nur wenig nach dem Zeitpunkt, für den im Einleitungsband die Zäsur gesetzt wurde. Die Bände 1 ––––––––– 93 94

Haub: Das Epistolarium des P. Matthäus Rader und der Maler Stubenvoll (wie Anm. 80). Schmid (Hg.): P. Matthäus Rader SJ. Bd. 1 (wie Anm. 43).

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und 2 differieren im zeitlichen Endpunkt nur unwesentlich. Die Überlappung mit dem projektierten und bereits in Bearbeitung befindlichen dritten Band fällt nur wenig ins Gewicht, so dass dieser im Wesentlichen 1612 mit der Berufung Raders an das Kolleg bei St. Michael zu München einsetzen wird. Eine besondere Erschwernis für die Bearbeiter erwuchs aus der Tatsache, dass auffallend viele Briefe dieses Komplexes der Korrespondenz keine Datierung aufweisen. Diese Eigenheit ergibt sich aus den besonderen Umständen ihrer Entstehung, auf die bereits aufmerksam gemacht wurde. Dadurch wurden die Bearbeiter in vielen Fällen gezwungen, eine Datierung allein aufgrund inhaltlicher Kriterien zu versuchen und Sequenzen von Briefen gleicher Thematik zu erstellen. Als Beispiele seien die Martialbriefe, die Pyramidenbriefe, die Afragruppe, die Bavaria-Sancta-Briefe, die Schreiben zu Petros Sikeliotes, den Akten des ökumenischen Konzils und der „Aula sancta“ genannt. Ein wichtiges Kriterium für die Datierung der Briefe des Jahres 1600 bildet die Adresse der an Welser gerichteten Schreiben: Bis zum 31. Oktober 1600, dem Tag seiner Wahl zum „Duumvir“, dem Augsburger Stadtpfleger, gehörte Welser dem Geheimen Rat an und trug so den Titel eines „Septemvir“. Eine weitere Möglichkeit der Datierung bietet die Erwähnung von (im Original datierten) Briefen anderer Korrespondenten wie Justus Lipsius oder Jacob Gretser in den Schreiben der Rader-Welser-Korrespondenz, die als Manuskript oder Druck überliefert wurden und so als termini ante oder post quos fungieren. Auch die Erscheinungsjahre der in der Rader-Welser-Korrespondenz erwähnten literarischen, erbaulichen und wissenschaftlichen Werke und die Datierungen der Widmungsvorreden liefern wertvolle Anhaltspunkte für eine zeitliche Einordnung. Die absolute und relative Chronologie der Briefgruppen kann aus diesem Grund nur hohe Wahrscheinlichkeit für sich in Anspruch nehmen. Der Band fällt also innerhalb der Gesamtedition etwas aus der Reihe, stellt aber dafür eine inhaltliche Einheit dar, die aufgrund der internationalen Bedeutung Welsers als Haupt des Augsburger Späthumanismus breite Rezeption finden dürfte. Ein diesem Band beigegebenes englisches Summary soll hierbei helfen. Die Edition des Raderepistolariums soll zielstrebig fortgesetzt werden. Es sind derzeit noch drei weitere Bände in Bearbeitung, die intensiviert werden soll. Es wird angestrebt, das Editionsvorhaben innerhalb des kommenden Jahrzehnts zum Abschluss zu bringen. Damit soll ein umfangreicher Briefwechsel des oberdeutschen Späthumanismus erschlossen und der Forschung verfügbar gemacht werden. Er wird dazu beitragen, die Akzente im deutschen Kulturbetrieb des späten 16. und beginnenden 17. Jahrhunderts zurechtzurücken und den Anteil Oberdeutschlands sachgerechter als bisher einzuordnen.

IX. Augsburg und die Kunst der Renaissance

Christoph Bellot

„Auf welsche art, der zeit gar new erfunden“ Zur Augsburger Fuggerkapelle

Für jene Phänomene um 1500, die man gemeinhin als Umbruch der Zeiten, Aufschwung der Künste und Stilwandel zur Renaissance bezeichnet, sind treffende Zitate aus Nürnberg leichter zu finden als aus Augsburg. Dürers Wort von der jtzigen widererwaxsung der Kunst benennt einen Neubeginn und jener Veyt Pildhawer auf einem Holzschnitt von Peter Flötner (um 1540/45), dem die Verse in den Mund gelegt sind: Vil schöner Pild hab ich geschnitten / Kunstlich auf welsch und deutschen sitten, pointiert den neuen Stil und die Verwendung sowohl des alten wie des neuen.1 Für Zeiten, die wegen des speziellen Verhältnisses von Kontinuität und Umbruch interessieren, sucht man selbstverständlich solche Aussagen. Denn sie scheinen ein Bewusstsein für den Gegensatz zwischen Alt und Neu und zwischen verschiedenen Stilen zu formulieren, nach 1500 – vereinfacht gesagt – für den Kontrast von ‚nördlich‘ und ‚südlich‘, Gotik und Renaissance. In ihnen scheint sich zu verdichten, was sich in den vielen –––––––––

1

Die historischen Passagen des vorliegenden Aufsatzes entstanden in Diskussion mit Peter Geffcken, München. Auf ihn gehen mehr Anregungen und Hinweise zurück, als sich im Einzelnen belegen ließe. Ihm sei herzlich gedankt, dass er so viel Wissen mitteilte und Zeit aufwandte. Wolfgang Augustyn, München, hat dankenswerterweise das Manuskript kritisch gelesen. Dürer. Schriftlicher Nachlaß. Hg. von Hans Rupprich. Bd. 1–3. Berlin 1956–1969, hier Bd. 2, S. 144 (aus den Entwürfen für die Einleitung zum Lehrbuch der Malerei, Nr. 13, fol. 48a, Zeile 29). – Laut der Reimpaare auf Flötners Holzschnitt hat sich Veyt Pildhawer, der Typus des nicht mehr gefragten traditionellen Bildhauers, mangels Aufträgen und Anerkennung der Kunst als Landsknecht verdingt. Nur Bildwerke als täuschend lebensnahe Aktfiguren, die er selber nicht zu verfertigen verstehe, seien noch begehrt; hiermit ist offenbar auf den Gegensatz zwischen dem modernen Künstler und dem zünftisch organisierten Bildschnitzer angespielt. S. zum Holzschnitt: Heinrich Röttinger: Peter Flettners Holzschnitte. Straßburg 1916 (Studien zur deutschen Kunstgeschichte 186), S. 62f.; Thomas Eser: „Künstlich auf welsch und deutschen sitten“. Italianismus als Stilkriterium für die deutsche Skulptur zwischen 1500 und 1550. In: Deutschland und Italien in ihren wechselseitigen Beziehungen während der Renaissance. Hg. von Bodo Guthmüller. Wiesbaden 2000 (Wolfenbütteler Abhandlungen zur Renaissanceforschung 19), S. 319–361, hier S. 322–324, 348–351. Ferner: Barbara Dienst: Der Kosmos des Peter Flötner. Aspekte einer Bildwelt der Renaissance in Deutschland. München 2002 (Kunstwissenschaftliche Studien 90), S. 10, 104–106 (zu den Landsknechtdarstellungen). – Beide Zitate Dürers und des Flötner’schen Holzschnittes sind oft genannte loci classici, etwa bei Norbert Nußbaum: Zur Einführung. In: Wege zur Renaissance. Beobachtungen zu den Anfängen neuzeitlicher Kunstauffassung im Rheinland und den Nachbargebieten um 1500. Hg. von dems. Köln 2003 (Sigurd-Greven-Kolloquium zur Renaissanceforschung) S. 11–18, hier S. 11–13.

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Zeugnissen der Architektur und bildenden Kunst differenziert und in der Fülle nicht immer leicht greifbar ist. Auf welsch und deutschen Sitten – aus Augsburg kennt man bislang keine so griffige Formulierung dieses nach 1500 charakteristischen Neben- und Ineinanders von herkömmlichen und neuen – das heißt antikisierenden oder eher italianisierenden – Formen. Dennoch gab es auch hier ein Bewusstsein für ihre Differenzen und die unterschiedliche Herkunft. Wenn 1515 erstmals von neuen Walhischen kindlein in der neuen ratsstuben des Augsburger Rathauses die Rede ist, weiß man also, dass die neue Gattung der Putten aus Italien stammte;2 freilich meint welsch hier noch nicht unbedingt einen Stilbegriff. Doch im ‚Fugger’schen Ehrenbuch‘ heißt es 1546 von der Fuggerkappelle an St. Anna, sie sei auf welsche art, der zeit gar new erfunden.3 Fast drei Jahrzehnte nach der Errichtung der Kapelle wurde das an ihr seinerzeit Neue in Augsburg benannt.4 Auch wenn, wie fast überall, erst so spät die manier bezeichnet und dem Alten kontrastiert wurde, hatte es doch bei jenen Künstlern, die die fremden Formen als Erste anwandten, und bei den Auftraggebern ein Bewusstsein für den Stil gegeben. Auch ein Teil der zeitgenössischen Betrachter wird wohl mehr als das bloße Anderssein wahrgenommen haben. Als mit Verzögerung das Ungewohnte bei einem Namen benannt wurde, meinte dieser nicht allein die italienische Herkunft, sondern zugleich Aufwand und Modernität, also bestimmte Qualitäten. Seit längerem wird untersucht, welche Stellung die bekannten Zeugnisse der frühen sogenannten Renaissance in Augsburg im Verhältnis zur nördlichen und südlichen Tradition haben 5 und welchen möglichen Vorbildern sie folgten.6 ––––––––– 2

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Für Figuren welscher Kindlein im damals erneuerten Augsburger Rathaus erhielt Jörg Muskat im Jahr 1515 vier Gulden; das Zitat aus dem Baumeisterbuch von 1515 (p. 63a; Stadtarchiv Augsburg) bei Adolf Buff: Augsburg in der Renaissancezeit. Bamberg 1893, S. 130, Anm. 35. Zu dieser ersten bekannten Bezeichnung von Plastiken als welsch s. Eser: Italianismus (wie Anm. 1), S. 333. Gregor Rohmann: Das Ehrenbuch der Fugger. Darstellung – Transkription – Kommentar. Augsburg 2004 (Veröffentlichungen der Schwäbischen Forschungsgemeinschaft. R. 4, Bd. 30/1; Studien zur Fuggergeschichte 39, 1), S. 175. Solche erhebliche zeitliche Distanz zwischen der Rezeption von Formen aus der italienischen Frührenaissance und der Benennung dieser Formen konstatiert für etliche einschlägige Orte Eser: Italianismus (wie Anm. 1) passim. Nach Untersuchungen zu unterschiedlich großen Werkgruppen unter anderem von Adolf Weinbrenner (1884 und 1892), Julius Groeschel (1888), Adolf Buff (1895) sowie einem von Ernst Buchner und Karl Feuchtmayr herausgegebenen Band (1928) stellten 1955 Norbert Lieb und Ulrich Christoffel das Material (für das gesamte 16. Jahrhundert) zusammen: Adolf Weinbrenner: Die Fugger’sche Grabkapelle bei St. Anna in Augsburg. Karlsruhe 1884; ders.: Die Geburtsstätte der Renaissance in Deutschland. In: Festgabe zum Jubiläum der vierzigjährigen Regierung Seiner Königlichen Hoheit des Großherzogs Friedrich von Baden […] dargebracht von der Technischen Hochschule in Karlsruhe. Karlsruhe 1892, S. 73–82; Julius Groeschel: Die ersten Renaissancebauten in Deutschland. In: Repertorium für Kunstwissenschaft 11 (1888), S. 240–255 (mit einem Nachtrag ebd. 13 [1890], S. 111– 113); Buff: Augsburg (wie Anm. 2); Augsburger Kunst der Spätgotik und Renaissance. Hg. von Ernst Buchner und Karl Feuchtmayr. Augsburg 1928 (Beiträge zur Geschichte der deutschen Kunst 2); Norbert Lieb: Augsburger Baukunst der Renaissancezeit. In: Augusta

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Neuerdings fragt man vor allem nach Intentionen und zeichenhaften Bedeutungen, die mit dem neuen Formenrepertoire verbunden waren, nach Gründen für die Wahl des deutschen oder welschen Stils, nach der Gleichzeitigkeit und der kontrastierenden oder harmonisierten Kombination der Formen von Spätgotik und Renaissance in der Architektur um 1500.7 Anzeichen des Neuen sind in der ‚nordischen‘ Kunst um 1500 leichter greifbar als in anderen Fällen stilistischer Veränderungen – vorausgesetzt, man nimmt Italianismen als signifikantes Kriterium. Denn es handelte sich zunächst nicht primär um Wandlungen innerhalb eines Formenrepertoires, sondern um Aufnahme fremder Gestaltungsweisen. Daraus ergab sich die Gleichzeitigkeit von Formen aus verschiedenen Traditionen, wie dies auch die Formel der welsch und deutschen sitten besagt. Der Anfang des Neuen ist auch in der Augsburger Kunst leichter an den Gattungen Architektur und Ornament und in der Architekturabbildung zu erkennen als in figürlichen Darstellungen und deren Kompositionen und Proportionen, in Körperlichkeit, Posen, Physiognomien und Gewändern. 8 –––––––––

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955–1955. Forschungen und Studien zur Kultur- und Wirtschaftsgeschichte Augsburgs. Hg. von Hermann Rinn. [Augsburg] 1955, S. 229–247; Ulrich Christoffel: Renaissance in Augsburg. Bildnerei, Malerei, Zeichnung. In: ebd., S. 249–263. Im Jubiläumsjahr 1955 wurde auch in einer Ausstellung die Kunst des 16. Jahrhunderts präsentiert: Augsburger Renaissance [Ausstellungskatalog]. Augsburg 1955. Nach 1900 erschienen zunehmend auch spezielle Untersuchungen, besonders zur Familie Fugger und ihren Kunstaufträgen; Norbert Lieb: Die Fugger und die Kunst im Zeitalter der Spätgotik und frühen Renaissance. München 1952 (Schwäbische Forschungsgemeinschaft bei der Kommission für Bayerische Landesgeschichte. R. 4, Bd. 1; Studien zur Fuggergeschichte 10); ders.: Die Fugger und die Kunst im Zeitalter der hohen Renaissance. München 1958 (Schwäbische Forschungsgemeinschaft bei der Kommission für Bayerische Landesgeschichte. R. 4, Bd. 4; Studien zur Fuggergeschichte 14). Claudia Baer: Die italienischen Bau- und Ornamentformen in der Augsburger Kunst zu Beginn des 16. Jahrhunderts. Frankfurt a. M. u. a. 1993 (Europäische Hochschulschriften. R. 28, Bd. 188) sucht über einen allgemeinen sogenannten Einfluss der italienischen Architektur und Kunst hinaus bestimmte Vorbilder für einzelne Objekte zu ermitteln. Die neueren Beiträge beschränken sich meist auf Architektur, Ornamentik wird allenfalls als Bauornamentik behandelt. Vgl. z. B.: Wege zur Renaissance (wie Anm. 1), darin: Hubertus Günther: Die ersten Schritte in die Neuzeit. Gedanken zum Beginn der Renaissance nördlich der Alpen, S. 31–87; Hellmut Lorenz: Spätgotik und Renaissance in Mitteleuropa – ein ‚Stil zwischen den Stilen‘? In: Die Länder der Böhmischen Krone und ihre Nachbarn zur Zeit der Jagiellonenkönige (1471–1526). Kunst – Kultur – Geschichte. Hg. von Evelin Walter. Ostfildern 2004 (Studia Jagellonica Lipsiensia 2), S. 31–47; Stephan Hoppe: Architekturstil als Träger von Bedeutung. In: Spätgotik und Renaissance. Hg. von Katharina Krause. München u. a. 2007 (Geschichte der bildenden Kunst in Deutschland 4), S. 244– 249; ferner Katharina Krause: Hans Holbein der Ältere. München, Berlin 2002 (Kunstwissenschaftliche Studien 101), S. 91–113. Eser: Italianismus (wie Anm. 1), S. 324–332 benennt fünf Möglichkeiten der Adaption von Italienischem in der deutschen Skulptur des frühen 16. Jahrhunderts: Ornament und Architekturformen (Säulen, Kapitelle, Friese etc.), Raumillusion im Relief (besonders perspektivische Konstruktionen im Flachrelief), italienische Bildaufgaben (z. B. Putten oder plastische Porträts von der Medaille bis zum Reiterstandbild), neue Materialien (z. B. marbelstain, das heißt Jurakalkstein, und zunehmend auch Bronze), Proportion und Kontrapost von Figuren gemäß den in der italienischen Kunst üblichen Normen.

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In Augsburg bedeutete die Rezeption welscher Formen im ersten Jahrzehnt wie vielerorts nur eine punktuelle, zitathafte Übernahme von Einzelheiten, oft im Bereich des Dekorativen. Diese Italianismen wurden als ästhetischer Mehrwert und Bereicherung für die eigene Kunsttätigkeit verstanden. Ihre Modernität überzeugte, sie wurden hier rascher und in größerem Umfang angenommen als anderswo; eher selten versuchte man, sie dem traditionellen spätgotischen Repertoire einzupassen, wandte sie vielmehr in den meisten Fällen sogleich unvermischt an – allerdings variiert und der jeweiligen Aufgabe entsprechend. Dies gilt für Hans Burgkmairs d. Ä. Tafel der Basilica San Pietro in Vaticano (1501) aus dem Bilderzyklus der römischen Stationskirchen für das Augsburger Dominikanerinnenkloster St. Katharina, auf der die zum Heiligen Jahr 1500 eröffnete Porta Sancta von St. Peter lediglich als ein antiquarisches Zitat abgebildet ist, ebenso für andere Werke Burgkmairs seit 1507, beispielsweise den Holzschnitt der ‚Lukasmadonna‘: Hier begegnen welsche Architekturformen und Ornamente, ein ‚italienischer‘ Eindruck wird durch räumliche Kontinuität im Bild und das Verhältnis von Architektur, Figur und Raum zueinander erweckt. Dieser Niederschlag des neuen Stils findet sich auch in Burgkmairs Gemälden wie dem Nürnberger Madonnenbild von 1509, an Jörg Selds Goldschmiedearbeiten für St. Ulrich und Afra in Augsburg, die außer der schon länger angewandten klassischen Capitalis mit neuen Ornamenten versehen sind, und in den frühen Altarbildern Hans Holbeins d. Ä. ab 1509, deren nach neuer Manier erfundene ‚architektonische‘ und ornamentale Rahmungen mit dem alten Figurentypus kontrastieren. Diese Tendenz lässt sich ebenso belegen an Werken der Buchkunst in Titelblättern, Kandelaber- und Groteskenornamenten sowie architektonischen Rahmungen ab 1509, in den ersten Arbeiten aus Augsburg für Kaiser Maximilian I. wie Burgkmairs ‚Reiterbildern‘ des hl. Georg und des Kaisers im Holzschnitt oder in dem sogenannten Sterbebild des Conrad Celtis (1507), wo antikisierende Form und humanistisch geprägte Symbolik eine Einheit bilden. 9 ––––––––– 9

Zum Holzschnitt und seinen drei Zuständen: Erwin Panofsky: Conrad Celtes and Kunz von der Rosen: two problems in portrait identification. In: The Art Bulletin 24 (1942), S. 39– 54; Tilman Falk: Hans Burgkmair. Studien zu Leben und Werk des Augsburger Malers. München 1968, S. 49–51, 100; 1473–1973. Hans Burgkmair. Das graphische Werk [Ausstellungskatalog]. Augsburg 1973, Nr. 19; Raimund Kemper, Die Redaktion der Epigramme des Celtis. Kronberg im Taunus 1975 (Scriptor-Hochschulschriften. Literaturwissenschaft 9), S. 60–68; Peter-Klaus Schuster: Individuelle Ewigkeit. Hoffnungen und Ansprüche im Bildnis der Lutherzeit. In: Biographie und Autobiographie in der Renaissance. Hg. von August Buck. Wiesbaden 1983 (Wolfenbütteler Abhandlungen zur Renaissanceforschung 4), S. 121–159, hier 122–129; Franz Josef Worstbrock: Konrad Celtis. Zur Konstitution des humanistischen Dichters in Deutschland. In: Literatur, Musik und Kunst im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit. Bericht über Kolloquien der Kommission zur Erforschung der Kultur des Spätmittelalters 1989 bis 1992. Hg. von Hartmut Boockmann u. a. Göttingen 1995 (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen. Phil.Hist. Klasse 3. F., 208), S. 9–35, hier bes. S. 16–24; Peter Luh: Kaiser Maximilian gewidmet. Die unvollendete Werkausgabe des Conrad Celtis und ihre Holzschnitte. Frankfurt a. M. u. a. 2001 (Europäische Hochschulschriften. R. 28, Bd. 377), S. 282–312 (mit weiterer Literatur); Ute Verstegen: Die Grabdenkmäler der humanistischen Gelehrten – Antiken-

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Im Folgenden soll die Entscheidung für den neuen Stil am bekanntesten Augsburger Beispiel vorgestellt werden. Die Fugger’sche Familienkapelle an der Kirche des Karmeliterklosters St. Anna demonstriert erstmals die Anwendung welscher Bauformen in der Architektur (Abb. 1).

Abb. 1: Augsburg, St. Anna, Fuggerkapelle – Ansicht nach Westen

––––––––– rezeption im Norden. In: Wege zur Renaissance (wie Anm. 1), S. 285–325, bes. S. 291– 295, 314f. (geht auf die Thesen von Luh nicht ein); Jörg Robert: Konrad Celtis und das Projekt der deutschen Dichtung. Studien zur humanistischen Konstitution von Poetik, Philosophie, Nation und Ich. Tübingen 2003 (Frühe Neuzeit 76), S. 482–485, 497–509. Nur wenige Bemerkungen bei Christopher S. Wood: Forgery, replica, fiction. Temporalities of German renaissance art. Chicago, London 2008, S. 102–106; ferner: Kurt Löcher: Humanistenbildnisse – Reformatorenbildnisse. Unterschiede und Gemeinsamkeiten. In: Literatur, Musik und Kunst (wie oben), S. 352–390.

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Kaum einer der für die 1512 im Rohbau fertiggestellte Kapelle bemühten Superlative ist verfehlt. Der Bau ist in dieser Zeit im deutschsprachigen Raum die früheste und wichtigste schöpferische Adaption moderner italienischer Ideen zu Raum, Proportion, Ausstattung und Dekoration. Die Fugger von der Lilie waren die seinerzeit wirtschaftlich erfolgreichste Familie in dieser Stadt; sie bildeten den „finanzkräftigsten Konzern im damaligen Europa“, machten sich als ‚Hausbankiers‘ Kaiser Maximilians I. dem Haus Habsburg unentbehrlich und verstanden sich Kaiser Karl V. zu verpflichten, da dessen Wahl nur mit ihrem Kredit möglich wurde. 10 Sie initiierten durch Aufträge für Sakral- wie Profanarchitektur höchst aufwendige repräsentative Bauten, die exemplarisch die Anwendung welscher Baukunst belegen. Ihre Grabkapelle und ihr Familienpalast am Weinmarkt werden zu den ‚ersten Renaissancebauten in Deutschland‘ gezählt. 11 ––––––––– 10

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Aus der historischen Literatur zu den Fuggern sei hier nur genannt: Götz von Pölnitz: Jakob Fugger. [1:] Kaiser, Kirche und Kapital in der oberdeutschen Renaissance. [2:] Quellen und Erläuterungen. Tübingen [1949–1951]; ders.: Die Fugger. Tübingen 61999; Olaf Mörke: Die Fugger im 16. Jahrhundert. Städtische Elite oder Sonderstruktur? In: Archiv für Reformationsgeschichte 174 (1983), S. 141–162; ferner als knappe Darstellung mit neuen Interpretationsansätzen: Peter Geffcken: Jakob Fugger der Reiche (1459–1525). „Königsmacher“, Stratege und Organisator. In: Damals. Magazin für Geschichte und Kultur 36, H. 7: Sonderheft ‚Die Fugger‘ (2004), S. 15–23 (hiernach das Zitat) sowie als kompakte Darstellung, die das Thema der Fugger in einem größeren Zeitraum neu beleuchtet: Mark Häberlein: Die Fugger. Geschichte einer Augsburger Familie (1367–1650). Stuttgart 2006. Als frühe Untersuchungen hierzu: Groeschel: Renaissancebauten (wie Anm. 5); Weinbrenner: Grabkapelle (wie Anm. 5); ders.: Geburtsstätte (wie Anm. 5); Philipp Maria Halm: Adolf Daucher und die Fuggerkapelle bei St. Anna in Augsburg. München, Leipzig 1921 (Studien zur Fugger-Geschichte 6; zugleich in: Jahrbuch der Preußischen Kunstsammlungen 41 [1920], S. 241–282). – Die Prioritätsfrage nach dem ‚ersten Renaissancebau‘ spielt hier keine Rolle. Es ist allgemein bekannt, dass in Ostmittel- und Osteuropa, in Böhmen, Ungarn und Polen die Formen der Renaissance etliche Jahre früher als im heutigen Deutschland eingeführt wurden; es handelte sich zum Teil um ‚importierte‘ italienische Kunst, da Italiener für die königlichen Aufträge (etwa in Ungarn unter Matthias Corvinus ab ca. 1470, in Polen und Böhmen unter den Jagiellonen) und für die des Adels engagiert wurden; bald jedoch fanden in der Architektur Assimilationen fremder und einheimischer Elemente statt. Vgl. Jan Bialostocki: The art of renaissance in Eastern Europe. Oxford 1976 (The Wrigthsman Lectures 8) und Thomas DaCosta Kaufmann: Höfe, Klöster und Städte. Kunst und Kultur in Mitteleuropa 1450–1800. Köln 1998 (zuerst engl. 1995), S. 29–153 passim. Ebensowenig soll hier debattiert werden, wo ‚Renaissance‘ in der Architektur des deutschsprachigen Raumes erstmals zu konstatieren ist. Gleiches gilt für andere Fragen: ob es tatsächlich gemeinsame übergeordnete Kategorien für bestimmte spätgotische Raumkonzepte und Formen sowie gleichzeitige Renaissanceformen Italiens gibt; ob Versuche taugen, für Süden und Norden ‚strukturelle‘ Gemeinsamkeiten zu behaupten, stilistische Gegensätze als zweitrangig anzusehen und (vermeintlich?) Konträres zu vereinen, dies also in der Manier traditioneller Periodisierungen auf einen Begriff zu bringen. Dies bleibe dahingestellt. Als zwei Beispiele solchen Bemühens: Heinrich Klotz: Der Stil des Neuen. Die europäische Renaissance. Stuttgart 1997 und Günther: Schritte (wie Anm. 7) (mit der Vorstellung, Rationalität sei das Gemeinsame der italienischen Renaissancearchitektur und der nordischen Spätgotik); Andeutungen zum Problem bei G[eorg] Ulrich Großmann: Die Einführung von Architekturformen der frühen Renaissance in Mitteleuropa. In: Wege zur Renaissance (wie Anm. 1), S. 167–185.

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Zur Fuggerkapelle hat Bruno Bushart 1994 nahezu alles Wissen versammelt und alle Meinungen und Fragen diskutiert. Dennoch sind durch seine neuen Thesen die Fragen nicht weniger geworden. 12 Dies betrifft neben vielem anderen etwa die Annahme, der spiritus rector des Ganzen sei Albrecht Dürer gewesen. Träfe dies zu, wäre die Kapelle nicht weniger ein Augsburger Bau, da sie ein Bau in Augsburg ist und hier ihre Auftraggeber und Ausführenden, zumal die Bildhauer, agierten. Ob also Dürer einst ein Schaubild zeichnete wie jenes später angefertigte (Abb. 2, S. 452), das lange als die maßgebliche Entwurfszeichnung galt, jetzt aber als eine Kopie nach der vermuteten Dürer’schen angesehen wird, 13 ob er also dieses eine Mal auch Architekt war und das Gesamtkonzept der Ausstattung entwarf, ist nach wie vor nicht entschieden. Dass auch nach der Monographie weiterhin alte und neue Probleme bestehen, beweisen nicht allein die Rezensionen, 14 sondern auch historische Untersuchungen, in denen seither mehrmals die Themen ‚Stiftung‘ und ‚Memoria‘ an dieser Kapelle exemplifiziert wurden.15 Die gemeinhin angenommene Diskrepanz zwischen der sozialen Stellung einer bürgerlichen Familie und dem enormen Aufwand und Anspruch drängten die Frage nach der Funktion und ––––––––– 12

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Bruno Bushart: Die Fuggerkapelle bei St. Anna in Augsburg. München 1994. Siehe ferner Lieb: Fugger 1952 (wie Anm. 5), S. 135–249 und 433–471 (Exkurs von Karl Feuchtmayr); ders.: Fugger 1958 (wie Anm. 5), S. 268–273; ferner Henry-Russell Hitchcock: German Renaissance architecture. Princeton (NJ) 1981, S. 3–13. – Die stereotype Einschätzung des ‚ersten Renaissancebaus nördlich der Alpen‘ wird in der Regel repetiert, z. B. von Andreas Tönnesmann: Anfänge der Renaissancearchitektur in Deutschland: Interesse und Intention der Auftraggeber. In: Deutschland und Italien in ihren wechselseitigen Beziehungen während der Renaissance. Hg. von Bodo Guthmüller. Wiesbaden 2000 (Wolfenbütteler Abhandlungen zur Renaissanceforschung 19), S. 299–313. Zeichnung, laviert, 78 x 51, 8 cm; monogrammiert SL oder LS (Augsburg, Städtische Kunstsammlungen, Graphische Sammlung G. 11994); aufgrund des Wasserzeichens um 1530/40 zu datieren. Bushart: Fuggerkapelle (wie Anm. 12), Taf. I., S. 82–86, ferner S. 51, 96–99 u. ö. Rezensionen zu Bushart: Fuggerkapelle (wie Anm. 12): Peter Strieder. In: Zeitschrift für Kunstgeschichte 57 (1994), S. 699–704; Norbert Jopek. In: The Burlington Magazine 136 (1994), S. 846f.; Thomas Eser. In: Zeitschrift des Deutschen Vereins für Kunstwissenschaft 49/50 (1995/96), S. 274–280; Tilman Falk. In: Kunstchronik 49 (1996), S. 534–540; Jeffrey Chipps Smith. In: Renaissance Quarterly 50 (1997), S. 324–326. Otto Gerhard Oexle: Adel, Memoria und kulturelles Gedächtnis. Bemerkungen zur Memorial-Kapelle der Fugger in Augsburg. In: Les princes et l’histoire du XIVe au XVIIIe siècle. Actes du colloque […]. Hg. von Chantal Grell u. a. Bonn 1998 (Pariser historische Studien 47), S. 339–357; ders.: Kulturelles Gedächtnis in der Renaissance. Die Fuggerkapelle bei St. Anna in Augsburg. Köln 2000 (4. Sigurd-Greven-Vorlesung); Benjamin Scheller: Memoria an der Zeitenwende. Die Stiftungen Jakob Fuggers des Reichen vor und während der Reformation (ca. 1505–1555). Berlin 2004 (Veröffentlichungen der Schwäbischen Forschungsgemeinschaft R. 4, Bd. 28; Studien zur Fuggergeschichte 37; Stiftungsgeschichten 3), S. 47–100, ferner S. 185–203; in zweiter Verwertung zweier Kapitel hieraus: ders.: Gedenken und Geschäft. Die Repräsentation der Fugger in ihrer Grabkapelle bei St. Anna in Augsburg. In: Memoria. Ricordare e dimenticare nella cultura del medioevo/ Memoria. Erinnern und Vergessen in der Kultur des Mittelalters. Hg. von Michael Borgolte u. a. Bologna 2005, S. 133–168; in dritter Verwertung: ders.: Stiftungen im Umbruch der Erinnerungskultur, oder: Jakob Fugger und das Stiftungsparadox. In: Zeitschrift des Historischen Vereins für Schwaben 99 (2006), S. 31–51, bes. S. 34–40.

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Aufgabe des Baus, nach dem Zeitpunkt dieses Unternehmens und nach der speziellen Ausprägung der memoria auf.

Abb. 2: Schaubild der Fuggerkapelle, Zeichnung, um 1530/40 (Augsburg, Städtische Kunstsammlungen, Graphische Sammlung)

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Die Kapelle am Westende des seit 1321/1464 bestehenden Langhauses von St. Anna war 1505 vom Konvent der Karmeliten gewünscht worden, um die für Gottesdienste sowie für Gräber und Grabkapellen zu klein gewordene Kirche zu verlängern, nachdem bereits das Kloster selbst 1487/97 den Bau nach Westen hatte erweitern lassen. 16 Mangels eigener Mittel zu erneuter Bautätigkeit wurde den Brüdern Ulrich, Georg und Jakob Fugger der seit 1506 beabsichtigte, aber wohl noch nicht geplante Erweiterungsbau als Grabkapelle überlassen. Sie erhielten damit an einer Kirche, die Begräbnisort führender Familien der Stadt war, die Gelegenheit, pro ipsorum et progenitorum omniumque Christi fidelium animarum salute et remedio eine Kapelle zu errichten, wie es dann im Stiftungsbrief vom 7. April 1509 hieß.17 In diesem sagten die viri famosi Vlricus et Iacobus Fugger (der mittlere Bruder Georg war schon im März 1506 gestorben) zu, den Beschluss von 1505/6 auszuführen, und verpflichteten sich zu besonderem Aufwand für die Ausstattung zum Gottesdienst: ualde speciosam Capellam per quam ipsa Ecclesia multum longatur cum magnis et notabilibus expensis construere et aedificare illamque pretiosiori modo quo fieri solet […] decreverunt. Die Fugger errichteten laut der Urkunde eine sepultura propria, in der die männlichen Nachkommen ihres Namens, Geschlechts und Wappens (sui nominis et progeniei et armorum masculini sexus) ihre Wappen und Schilde anbringen durften. Falls einmal keine Angehörigen im Mannesstamm mehr leben sollten, falle das erbliche Begräbnisrecht an andere ex ipsorum genealogia, an nächststehende Seitenverwandte beiderlei Geschlechts; doch dürften diese nichts verändern, müssten alles erhalten, damit die memoria bewahrt bleibe. Der Karmeliterkonvent verpflichtete sich umgekehrt, ebenfalls in der Kapelle nichts zu verändern und niemandem Fremden das Begräbnis oder irgendwelche Veränderungen zu gestatten, und sicherte zu, mindestens einmal täglich eine Messe für die Stifter in der Kapelle zu lesen (ut singulis diebus perpetuis futuris temporibus, in dicta Capella ad minus una missa celebretur) und für deren Erhalt zu sorgen, wenn die Familie dazu nicht in der Lage wäre. 18 ––––––––– 16

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Die Kirche der Karmeliten war zusammen mit dem Kloster 1321 errichtet worden, sie brannte 1460 aus und wurde von 1461 bis 1464 wiederaufgebaut; die Erweiterung nach Westen 1487/97 betrug 25 Fuß (ca. 7, 45 m), zugleich wurde die Kirche um 5 Klafter erhöht. Die Grabkapelle von Georg Regel und seiner Frau (darin eine Nachbildung des Hl. Grabes), die 1508 als vollendet bezeugt ist und vermutlich 1506 errichtet wurde (diese Jahreszahl steht am Wappen in der Kapelle), nimmt bereits auf das südliche Seitenschiff der noch nicht errichteten Fuggerkapelle Rücksicht. Trifft dies zu, so wäre es nach Bushart: Fuggerkapelle (wie Anm. 12), S. 15f., 331–333 einer der Belege für die frühe Planung der Fuggerkapelle bereits 1506. Doch ließe sich auch annehmen, man habe die offene nördliche Seite der Regelkapelle in die Flucht der bestehenden Außenwand des Seitenschiffs gelegt, da man dieses jedenfalls fortzusetzen gedachte, gleichgültig, welchen Grundriss die Kapelle der Fugger einmal haben würde. Der Text des Stiftungsbriefes ebd., S. 413–415 (das Zitat S. 413), hierzu ferner S. 31–33. Auch der Gesellschaftsvertrag Jakob Fuggers mit seinen vier Neffen vom 30. Dezember 1512 spricht von der Absicht aller drei Brüder zum Bau der Kapelle; ebd., S. 417f. und 17. Die Zitate aus dem Stiftungsbrief ebd., S. 413f. Im zweiten Stiftungsbrief Jakob Fuggers vom 23. August 1521 ist Weiteres zur Liturgie in der Kapelle festgelegt: an jedem Donnerstag ein Amt mit Orgelspiel in der Kapelle, jeden Samstag nach der Vesper ain Salue

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Da bereits im April 1510 auch Ulrich gestorben war, wurde der Bau in der Ausführung fast die alleinige Aufgabe Jakobs. Im Stiftungsbrief war jedoch auch der 1506 gestorbene Bruder Georg als Vertragspartner genannt worden, galt also auch drei Jahre nach seinem Tod als Rechtspersönlichkeit; Jakob selbst betrachtete die Kapelle stets nicht nur als seine und der beiden Brüder Stiftung, sondern auch als ihrer dreier Werk, das er vollendet habe. 19 An konkreten Daten zur Baugeschichte ist kaum etwas bekannt. Schwer zu entscheiden scheint nach wie vor, wann die Planung stattfand, wenn man nicht allen Thesen Busharts zu Dürer folgen will. Sie muss nicht schon 1506 erfolgt sein. Der Baubeginn wird wohl 1508/9 gewesen sein, lag möglicherweise vor dem Vertragsabschluss vom 7. April 1509; der Bau war wahrscheinlich 1512 vollendet.20 1517 war die Kapelle wohl mitsamt der Ausstattung im wesentlichen fertiggestellt, 21 im Mai dieses Jahres besuchte sie Antonio de Beatis, der den Kardinal Luigi d’Aragona auf seiner Reise unter anderem durch Deutschland begleitete und in seinem Tagebuch die Kapelle und ihre Ausstattung rühmte und dabei den Marmorboden, den Altar und seine Figuren, das Chorgestühl mit den Skulpturen und die Orgel erwähnte.22 Es fehlte damals noch das –––––––––

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der Junckfrawen maria zu lob mit der Orgel, an jedem ersten Donnerstag im Monat Umgang und Prozession mit dem Allerheiligsten sowie danach ein Amt, Messen am Fest Mariae Himmelfahrt und am Sonntag nach dem Antoniustag, dem Kirchweihtag und Matthaei; ferner zu yeder Quottember besonnder am jartag abends eine Vigil und morgens ein gesungenes Seelenamt mit Grabgang zum Gedächtnis der Eltern und Brüder Jakobs, seiner selbst und der Nachkommen aus disem geschlecht. Bestallt wurden ein Organist und zwei Bälgetreter, ferner ist von der Ausstattung der Kapelle mit Ornaten, Kerzen vnnd anndern Notturfftigen sachenn die Rede. Ebd., S. 421–424, hier S. 422f., ferner S. 33f. Dies geht aus Jakobs Gesellschaftsvertrag von 1512 mit seinen Neffen und aus seinem Stiftungsbrief vom 23. August 1521 hervor; ebd., S. 417f. und 422. Das Datum 1512 steht auf den beiden stukkierten Tafeln unter den Seitenfenstern der Kapelle. In diesem Jahr (30. Dezember) schloss Jakob Fugger den Gesellschaftsvertrag mit seinen Neffen und kündigte an, die Stiftung der drei Brüder zu vollenden (Bushart: Fuggerkapelle [wie Anm. 12], S. 417). Die Neffen überließen ihm, wie viel er zum vollkommenen Bau der angefangenen Kapelle aufwenden wolle (Ratifizierungsurkunde vom 17. Oktober 1513 zum Gesellschaftsvertrag; Lieb: Fugger 1952 [wie Anm. 5], S. 136, 379; Bushart: ebd., S. 30). Eine undatierte Chronik (Augsburg, Staats- und Stadtbibliothek ms. 38, fol. 110) notiert: 1512. In diesem Jahr haben die Herren Fugger mit großen Unkosten eine sehr schöne Capellen in der Carmeliter-Kirchen Ihnen zum Begräbnuß gebawen und ein stattliche Orgel darein machen lassen (zit. bei Lieb: ebd., S. 379 und Bushart: ebd., S. 30). – Zum Bauverlauf und den wenigen Quellen: Bushart: ebd., S. 29–31, ferner S. 18. Wilhelm Rem: Cronica newer geschichten. 1512–1517. Hg. von Friedrich Roth. In: Die Chroniken der schwäbischen Städte. Augsburg. Bd. 5. Leipzig 1896 (Die Chroniken der deutschen Städte vom 14. bis ins 16. Jahrhundert 25), S. I–XV, 1–281, hier S. 82: Anno d[omi]ni, 1517 da ward des Jacob Fuggers Kappel zu Unser Frauen Brieder gar ausgemacht. Die Reise des Kardinals Luigi d’Aragona durch Deutschland, die Niederlande, Frankreich und Oberitalien, 1517–1518, beschrieben von Antonio de Beatis […]. In: Erläuterungen und Ergänzungen zu Janssens Geschichte des deutschen Volkes. Hg. von Ludwig Pastor. Bd. IV, Heft 4. Freiburg 1905, S. 96f., ferner S. 34f. (unter tavola ist wohl der Altar zu verstehen). Der Textauszug auch bei Bushart: Fuggerkapelle (wie Anm. 12), S. 420f. Antonio de Beatis hielt sich vom 25. bis 27 Mai in der Stadt auf und besuchte auch die Fuggerhäuser (s. unten S. 487f.).

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Gitter, das die Kapelle zum Langhaus abschließen sollte, jedoch nie geliefert wurde, und auf das Jakobs Neffen 1529 verzichteten.23 Die Weihe fand am 17. Januar 1518 statt. 24

Abb. 3: Matthäus Küsell, Ansicht der Fuggerkapelle (aus: M. Gustav Adolph Jungen, Kriegs vnd Friedenßerwegung, Augsburg 1660)

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Zur Geschichte, Form und Ikonographie des schließlich 1540 für den Nürnberger Rathaussaal vollendeten (und leicht veränderten) Gitters Bushart: Fuggerkapelle (wie Anm. 12), S. 173–196. Zur Frage, ob die Orgelflügel bereits fertiggestellt waren, s. Anm. 29. Das Datum ist im Stiftungsbrief von 1521 genannt; Bushart: Fuggerkapelle (wie Anm. 12), S. 422.

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Die Kapelle ist eine Architektur, bei der nur der Innenraum zählt; der Außenbau ist ohne Belang, erscheint lediglich als Fortsetzung des Kirchenschiffs. Der Eindruck, den dieser welsche Raum seinerzeit vermitteln mochte, ist heute nicht mehr ganz nachzuvollziehen. Als einzige historische Abbildung gibt ihn nur mehr ein Stich von 1660 wieder (Abb. 3, S. 455). Er zeigt die Kapelle zwar mit einer Dekoration zur Feier des Friedens von Oliva und einer hohen Tribüne im Raum,25 doch entscheidend ist der Kontrast zwischen dem simplen, flachgedeckten und wohl nicht sehr hellen Mittelschiff von 1461/64 (mit Arkaden und nur durch verblendete Fensternischen und hochsitzende Öffnungen gegliederten Wänden) und der Kapelle, die sich hinter dem runden Bogen in voller Breite und Höhe des Schiffs öffnete und obendrein um acht, wenngleich wohl flache Stufen höher lag als der Boden der Kirche. 26 Nach dem Umbau des formal anspruchslosen Langhauses zum Jubiläumsjahr 1748, bei dem es ebenfalls weite Arkaden und ein Gewölbe, dazu Deckenmalereien und eine Stuckdekoration erhielt, ist der Gegensatz zwischen dem alten Bau und der Kapelle hinter dem hohen Bogen sehr gemildert; mit der Angleichung der Großformen und der Fortführung der Wölbung ins Schiff ist der einstige grundsätzliche Kontrast aufgehoben. 27 Ehemals war St. Anna trotz der Erweiterung von 1487/97 ein allenfalls mittelgroßer Bau im Typus einer schlichten Bettelordenskirche, mit hohem Mittelschiff und Seitenschiffen von etwa halber Breite und Höhe. Angesichts des inzwischen attraktiveren Zustands anderer Kirchen war der Wunsch des Klosters und des anscheinend auf Ruhm und Aufwand bedachten Priors Johannes Fortis (Starck) nach deutlicher Verbesserung verständlich.28 Hinter dem fast schmucklosen Kastenraum muss das ganz Andere und vollkommen Fremde aufgegangen sein – in allem abgesetzt: in Größe und Proportion, Gesamtgestalt und Einzelform, Material, Farbigkeit und Licht. Hinzu kam eine opulente (nur zum Teil erhaltene) Ausstattung, die das Ganze entscheidend mitprägt: der Altar mit der Fronleichnamsgruppe, die vier Epitaphien an der Rückwand, das Gestühl an den Seiten mit den (wohl berühmte Männer und Frauen des Alten Testaments darstellenden) Büsten, die damals ungewöhnlich große Orgel mit bemalten Flügeln, die Brüstung mit den sechs Puttenfiguren

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An der Vorderseite der Tribüne (oder Empore) sind in der Mitte der Kaiser, seitlich die am Friedensschluss von 1660 beteiligten Potentaten dargestellt. Der Stich von Matthäus Küsell findet sich in: M. Gustav Adolph Jungen: Kriegs vnd Friedenßerwegung mit beygefügter Augsburgischen Fridens Frewd. Augsburg 1660 (vorher als kürzere Version: G. A. J.: Augsburgische Fridens Freud Im Jahr 1660. [Augsburg 1660]). Dies teilt die Beschreibung bei de Beatis: Reise (wie Anm. 22), S. 96 mit. Anlass der Barockisierung der endgültig seit 1548 evangelischen Hauptkirche St. Anna war das hundertjährige Jubiläum des Westfälischen Friedens, der den Protestanten die Religionsfreiheit gebracht hatte. Der 1747 begonnene Umbau durch Andreas Schneidmann war erst 1749 vollendet. Zu Johannes Fortis, den Vorgängen um seine Absetzung 1513 sowie einigen Aufträgen zur Kirchenausstattung s. Bushart: Fuggerkapelle (wie Anm. 12), S. 18–20, mit Quellen und Literatur.

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statt des nie fertiggestellten Bronzegitters und der inkrustierte Fußboden.29 Das meiste davon kam bis 1518 zusammen und bildete, was man gemeinhin mit dem nicht wirklich angemessenen Begriff des Gesamtkunstwerks bezeichnet.30 Alles, was hier an Ornamentik angebracht ist, entstand demnach bereits im zweiten Jahrzehnt, als sie in Augsburg allgemein eingeführt war. Die Kapelle im Westen der alten Kirche (Abb. 1, S. 449) setzt trotz gleicher Höhe und Breite das Langhaus nicht fort. Der Grundriss ist ein Quadrat (Seitenlänge ca. 10, 30 m), die Reihe der Langhausarkaden wird nicht verlängert, vielmehr ist eine andere Dimension eingeführt: ein Bau von harmonischen Verhältnissen, die von der Kirche vollkommen abweichen. Breite, hohe Bögen auf toskanischen Pfeilern schaffen Weiträumigkeit; der Bogen zum Schiff nimmt die ganze Raumhöhe der Kapelle ein, die seitlichen Bögen reichen bis ans Kämpfergesims, darüber stehen die halbrunden, dünn wirkenden Schildwände. Offenheit zu den Seitenräumen und die hohen Fenster – in der Westwand ein rundes –, dazu ein leicht wirkendes, figuriertes Rippengewölbe geben dem Kapellenbau den Anschein eines Baldachins (Abb. 4, S. 458). Die räumlich geschichtete Westwand ist in drei Geschosse gegliedert: unten die vorgeblendete, zur Mitte leicht polygonal zurücktretende Wand mit den vier Epitaphien in architektonischer Rahmung; die beiden oberen Geschosse fasst der auf der schmalen Empore stehende Orgelprospekt zusammen, der Teil der Flächenkomposition ist, da seine Kontur dem Kreis des Fensters folgt, der aber auch die räumliche Wirkung durch seine Masse mitbestimmt, da zudem seine offenen Flügel schräg in den Raum stehen und ein Rückpositiv vor die Emporenbrüstung kragt.31 ––––––––– 29

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Zur Gesamtausstattung Bushart: Fuggerkapelle (wie Anm. 12), S. 113–316: über Entstehung, Autorschaft und Ikonographie der einzelnen Teile sowie über deren Veränderungen, Erhaltung, Rekonstruktion etc. Zu den Reliefs und der Fronleichnamsgruppe des Altars (um 1518) sowie den Putten der Brüstung (um 1530): Thomas Eser: Hans Daucher. Augsburger Kleinplastik der Renaissance. München, Berlin 1996 (Kunstwissenschaftliche Studien 65), S. 234–262 und 208–212. Die Orgel (von Johannes von Dobrau) war bereits 1512 fertiggestellt (ehemals Datum am Rückpositiv); Bushart: ebd., S. 233–240. Die Orgelflügel von Jörg Breu d. Ä entstanden, wie Bushart (S. 259–262) meint, erst nach 1520; Falk: Rezension (wie Anm. 14), S. 538 erinnert dagegen an Breus Romreise 1514/15 als möglichen terminus post quem; Andrew Morrall: Jörg Breu the Elder. Art, culture and belief in Reformation Augsburg. Aldershot 2001, S. 125–131 schlägt 1516/17 vor, s. auch S. 115– 123. Die Brüstung stammt wohl von 1525/28. Kirchen- und vor allem Kapellenausstattungen, in denen die Architektur, Skulptur und Malerei (sowie die angewandten Künste mit Altargeräten und vasa sacra) zusammenwirken, sind an sich das Normale; Kapellen wie die der Fugger können sich freilich durch Größe, Anspruch und ein einheitliches Programm auszeichnen. Zu dem fraglichen, aus einer anderen Ästhetik stammenden Begriff des ‚Gesamtkunstwerks‘: H[elmut] Schanze u. a.: Art. ‚Gesamtkunstwerk‘. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Bd. 3. Tübingen 1996, Sp. 815–825. Die heutige schmale Empore geht auf eine der Veränderungen durch Zerstörung und Rekonstruktion zurück (1944/48ff.); ursprünglich trat die Brüstung in der Mitte vor, so dass auch das Positiv weiter in den Raum ragte. Die großen Flügel sollten immer offenstehen, denn ihre Außenseiten sind unbemalt; sie konnten also nicht geschlossen werden. Zur Orgel: Bushart: Fuggerkapelle (wie Anm. 12), S. 231–272, zu den Flügeln S. 241f.

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Abb. 4: Augsburg, St. Anna, Fuggerkapelle – Gewölbe

Trotz der Offenheit zur Kirche hin wurde die Kapelle nicht die ursprünglich erhoffte Erweiterung, der Altar und die Brüstung schrankten den Raum gegen das Schiff ab. Die Memorialfunktion blieb bestimmend – erst recht, als nach der Reformation die Kapelle als katholische Familiengrablege von der seit 1548 evangelischen Pfarrkirche für lange Zeit getrennt blieb.

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Das Welsche an diesem Raumentwurf ist evident (Abb. 1, S. 449); so schnell, wie die neuen Formen in Augsburg eingeführt wurden, war es wohl auch den Zeigenossen bald klar, woher das Fremde dieses Baus kam. Wenn Antonio de Beatis schon 1517 über die figure marmoree perfectissime des Altares bemerkte, sie erinnerten an Antikes (che resemblano al antiquo grandimente), muss er auch die italienische Manier des Ganzen gesehen haben, die er ebenso an den Fuggerhäusern wahrnahm. 32 Die erste (überlieferte) eindeutige Aussage zum Stil traf 1546 im ‚Fugger’schen Ehrenbuch‘ der Chronist Clemens Jäger: auf welsche art, der zeit gar neu erfunden.33 Seitdem kunstgeschichtliche Autoren über die Kapelle schrieben, wurde auf den „italienischen Geschmack“34 und auf die entsprechenden Vorbilder verwiesen – zugleich auch auf eine zeitliche Koinzidenz: Im Jahr 1512, als der Kapellenbau abgeschlossen wurde, starb Burkhard Engelberg, der Baumeister der gotischen, obendrein nach einem eher altertümlichem Schema konzipierten Abteikirche St. Ulrich und Afra in Augsburg.35 Dies erschien vielfach als beispielhafte Berührung von Mittelalter und Neuzeit. Die Fuggerkapelle galt als Aufbruch in eine neue Zeit, doch musste man ebenso einen gravierenden ‚Widerspruch‘ innerhalb dieser Architektur erklären: den Raumabschluss mit dem figurierten Rippengewölbe (Abb. 4, S. 458), mit einer spätgotischen Konstruktion anstelle eines einfachen Kreuzgrat- oder Tonnengewölbes oder einer Kuppel. Das Architektursystem mit seinen Einzelformen und den Beziehungen zwischen Tragen und Lasten, Gliederung und Wand ist jenes aus der antiken Baukunst abgeleitete, wie es im frühen Quattrocento in Mittel- und Oberitalien übernommen und traditionellen mittelalterlichen oder auch neuen Bauaufgaben anverwandelt worden war. Wenngleich Breite und Höhe durch das alte Kirchenschiff von St. Anna vorgegeben waren, gelang es, in dem Anbau einen italienischen Raumtypus zu verwirklichen, der besonders in Kapellen exemplifiziert worden war. Der quadratische Grundriss, Quadrat und Kreis als Grundformen, das Verhältnis 2 : 1 für Pfeiler- und Gewölbehöhe und die einem Würfel angenäherte Kubatur des unteren Raumteils (bis zum Kämpfergesims), die Regularität und Ordnung des Ganzen mit sich allenthalben entsprechenden Maßen – dies kennzeichnet auch zwei Initialbauten der Renaissance, Brunelleschis Alte Sakristei an S. Lorenzo (1419/28) und die Cappella Pazzi (den Kapitelsaal, ab 1430) an S. Croce in Florenz. Diese Raumform wurde in der QuattrocentoArchitektur zum jeweils variierten Schema des Gewölbejochs über dem Quadrat. Die Fuggerkapelle geht freilich nicht auf jene (in der Retrospektive) idealen Florentiner ‚Urbauten‘ zurück, vielmehr zeigen die Einzelformen eine andere Herkunft an. Die zweigeschossigen Pfeiler mit Pilastervorlagen und deren runde, eingelassene Scheiben, die präzisen Profile, die Säulchen der Brüstun––––––––– 32 33 34 35

S. unten S. 488f. und Anm. 123. Rohmann: Ehrenbuch (wie Anm. 3), S. 175. Zu Urteilen über die Kapelle s. Bushart: Fuggerkapelle (wie Anm. 12), S. 36–38. So formuliert es bereits 1845 G[ustav] F[riedrich] Waagen: Kunstwerke und Künstler in Deutschland. Bd. 2. Leipzig 1845, S. 67f. Z. B. Weinbrenner: Geburtsstätte (wie Anm. 5), S. 75f.

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gen, die Verwendung diverser Steinsorten – alles verweist auf die oberitalienische, speziell venezianische Baukunst des späten 15. Jahrhunderts. Die Kapelle ist Raumkuben mit antikisierenden Pilastern und rundbogigen Arkaden wie den Chören von San Michele in Isola (nach 1468, von Mauro Codussi), San Giobbe (ca. 1471) und Santa Maria dei Miracoli (1481/89, von Pietro Lombardo) in Venedig strukturell vergleichbar (auch in den Brüstungen mit Säulen und manchen Details könnte man Ähnlichkeiten sehen); dennoch vermag der aufwendige, vollständig inkrustierte Bau von Santa Maria dei Miracoli die Fuggerkapelle nicht zu erklären. Ihre offenen Seiten und die Supraposition der Pilaster an den Pfeilern entsprechen eher den Gewölbejochen in den Kirchen von Mauro Codussi: Santa Maria Formosa (ab1492) und vor allem San Giovanni Crisostomo (um 1494). Im Vergleich zu den Bauten der Lombardi ist die Fuggerkapelle außerdem zurückhaltender, alle Formen und Profile sind einfach, dabei scharf und genau gearbeitet; die Kapitelle haben keine Zier, die Pilaster sind nicht mit dem vegetabilen Kandelaberornament gefüllt.36 Gerade dies verweist auf die Gegenbewegung in Venedig, auf die strenge Manier des Codussi. Von seinen fast auf die pure Architektur konzentrierten Innenräumen scheinen die mit Pilastern besetzten Pfeiler, deren Sockel, die vertieften Spiegel der Pilaster, die Profile etc. angeregt. 37 Die Fuggerkapelle bezieht ihre seinerzeit so ungewöhnliche wie dezente Wirkung freilich auch aus den verschiedenen Steinsorten, deren Farben und verschieden behandelten Oberflächen und aus der Goldfassung der Kanten und Profile. Hierin folgt der Entwurf doch auch den reicheren, inkrustierten Kirchenräumen. Venezianisch sind schließlich die runden Scheiben in den Pilasterspiegeln, wie sie an Außenwänden und in Innenräumen etlicher Bauten (z. B. Hof des Dogenpalastes, ab 1484; Scuola Grande di San Marco, 1485) vorkommen und anscheinend als ein Kennzeichen der Renaissancearchitektur in Venedig galten. Über die Architektur sind also auch andere welsche Neuerungen eingeführt, die für Baukunst wie Plastik im deutschen Raum bedeutsam wurden: außer der ––––––––– 36

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Einziges Ornament an der Architektur sind die runden schwarzen Scheiben in den Bogenzwickeln der Seitenwände, die Rosetten seitlich der großen Fenster und die Gehänge mit der Tafel und der Jahreszahl M.D.X.II darunter. Freilich lässt sich nur auf typenmäßige Vorbilder hinsichtlich Proportion, Einzelformen oder Materialität verweisen, nicht auf Vorlagen für unmittelbar Übernommenes. – Zur venezianischen Architektur und Ausstattungskunst s. Norbert Huse und Wolfgang Wolters: Venedig. Die Kunst der Renaissance. Architektur, Skulptur, Malerei. 1460–1590. München 1996, S. 84–129 passim; ferner Wolfgang Wolters: Architektur und Ornament. Venezianischer Bauschmuck der Renaissance. München 2000; Loredana Olivato Puppi und Lionello Puppi: Mauro Codussi. Mailand 1977, bes. S. 110–121, 177–183, 196–203, 206– 208; Santa Maria dei Miracoli a Venezia. La storia, la fabbrica, i restauri. Hg. von Maria Piana und Wolfgang Wolters. Venedig 2003 (Istituto Veneto di Scienze, Lette ed Arti. Monumenta Veneta 2). – Bushart: Fuggerkapelle (wie Anm. 12), S. 90–95 stellt die Bezüge zur venezianischen Architektur her, verweist auch auf zentralperspektivische Reliefs unter anderem an Tabernakeln, die gewölbte Baldachine zeigen, und nennt (S. 358– 360) vor allem den Chor von S. Giobbe als auch in der Funktion vergleichbar, da dieser ein Anbau an die ältere Kirche ist und zugleich als Grablege des Stifters Cristoforo Moro dient.

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antikisierenden Ordnung mit ihren Formen die neuen Materialien, besonders die Verkleidung der Flächen mit dem Marbelstain genannten, wie Marmor erscheinenden (Kelheimer) Kalkstein, ferner das extrem flache Relief, das gleichwohl durch Zentralperspektive und anspruchsvolle Technik große Tiefe illusioniert. Die vier Epitaphien – vor allem die beiden inneren figürlichen, nach Dürers Entwürfen gearbeiteten – demonstrieren die Beherrschung aller Reliefgrade, außer den vollrund vortretenden Teilen vor allem die Differenzierung der Plastizität bis zur fast graphischen Andeutung; die zwei äußeren Tafeln bieten die heraldischen Motive in der Scheinarchitektur einer Säulenhalle, womit vollends klar wird, dass die wesentliche Anregung zu solchen illusionistischen Reliefs wohl von den großformatigen venezianischen Beispielen an der Fassade der Scuola Grande di San Marco (um 1490/95) kam.38 Als ein typisches italienisches Motiv dürfte man auch die welschen Kindlein, die Putten auf der (erst nach 1529 errichteten) Brüstung, verstanden haben, die sowohl als bloßer Teil der Dekoration als auch ikonographisch-zeichenhaft eingesetzt sein können; gerade hier ist dies schwer zu entscheiden. 39 So ‚venezianisch‘ die Fuggerkapelle erscheint – die Wahl gerade dieser Variante der italienischen Kunst erscheint angesichts der bekannten Verbindungen der Fugger nach Venedig fast selbstverständlich 40 –, so stark sind jedoch auch die Abweichungen vom ‚Ideal‘ der gemäß einem einheitlichen Modul konstruierten ––––––––– 38

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Ebd., S. 78–81 (zu den Materialien), zu den Reliefs S. 113–172, bes. S. 134–155; ferner Eser: Daucher (wie Anm. 29), S. 185–191 und 197–199 zu einem Modell für das rechte äußere Epitaph und einem möglichen für das linke. Ders.: Italianismus (wie Anm. 1), S. 326f. weist auf das Flachrelief und dessen Illusionismus als Errungenschaft aus Italien hin, womit eine neue Qualität die bisherigen Maßstäbe im Norden (mit der großen Relieftiefe als oberster Kategorie) umkehrte. Zu den ehemals sechs Putti wohl von Hans Daucher s. Bushart: Fuggerkapelle (wie Anm. 12), S. 309–313, mit einer Deutung der Putti als laureati nicht nur allgemein als Sinnbildern der Seele, sondern als Verkörperungen „edler Eigenschaften des Menschen, wie immer diese im einzelnen heißen mögen“, als Genien statt Engel. Über Putten als welsches Motiv s. Lieb: Fugger 1952 (wie Anm. 5), S. 219f. Eser: Daucher (wie Anm. 29), S. 208– 212 formuliert eine höchst vage Interpretation, kommt außerdem anlässlich der sechs Figuren noch zu keiner plausiblen Aussage über das Verhältnis zwischen den Putti in der deutschen Graphik, Goldschmiedekunst, Grabmalsplastik etc. des späteren 15. Jahrhunderts (als bloß „formalen Mustern“?) und den als welsche Motive anscheinend meist nur dekorativ verwendeten. Zu allgemeinen Problemen um Putti, der ikonographischen Unbestimmtheit und frühen (doch erst aus der Mitte des 17. Jahrhunderts stammenden) kunsttheoretischen Äußerungen über diese Gestalten, ferner zu ihrer hinweisenden und kommentierenden Funktion sowie ihrer Rolle, Gemütszustände darzustellen und somit den Betrachter zu ‚bewegen‘: Ulrich Pfisterer: Donatello und die Erfindung der Stile 1430– 1445. München 2002 (Römische Studien der Bibliotheca Hertziana 17), S. 111–181, bes. S. 118–122. Vgl. hierzu außer Lieb: Fugger 1952 (wie Anm. 5) auch noch Klára Garas: Die Fugger und die venezianische Kunst. In: Venedig und Oberdeutschland in der Renaissance. Beziehungen zwischen Kunst und Wissenschaft. Hg. von Bernd Roeck u. a., Sigmaringen 1993 (Studi 9), S. 123–129 und Georg Lutz: Gegenreformation und Kunst in Schwaben und in Oberitalien: der Bilderzyklus des Vincenzo Campi im Fuggerschloß Kirchheim. In: ebd., S. 131–154.

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Bauten oder Räume. Äußere Gründe wie die durch das Kirchenschiff vorgegebenen Maße oder die Funktion der Kapelle und die künstlerische Entscheidung der Wahl verschiedener venezianischer Anregungen und der Kombination mit traditionellen Elementen schaffen einen gänzlich eigenständigen Raum. Er wirkt mit offenen Seiten anders als ein Chor; die Belichtung durch ungewöhnlich große Fenster in der Höhe und damit die Steigerung der Helligkeit nach oben ist ‚unvenezianisch‘ und ist der topographischen Situation geschuldet; die Schauwand mit den Epitaphien und der Orgel geht zurück auf die spezielle Aufgabe als Grabkapelle in der (einst geplanten) Verbindung mit der Kirche. Hinzu kam die andersartige Ausstattung. Die stilistischen Differenzen zu Italien sind nur selbstverständlich, denn hier arbeiteten der Entwerfer der Architektur und die Bildhauer und Maler – sicher alles Süddeutsche – gemäß ihrer eigenen, nun welsch überformten Konvention; es ging ihnen offenbar nicht um Nachahmung. Die Kapelle, das seinerzeit ‚absolut Andere‘, 41 hat obendrein ein figuriertes Rippengewölbe (Abb. 4, S. 458). Den so italienisch erscheinenden Raum überfängt statt einer Kuppel eine Wölbungsform, die besonders während des vergangenen Jahrhunderts das Experimentierfeld und der Stolz der Baumeister im Norden gewesen war. Das Gewölbe besteht aus vier durchbindenden Diagonalrippen; zwischen diese sind zwei vierblättrige Rosetten eingespannt, die größere entspricht den Hauptachsen, die darübergelegte kleinere ist in die Diagonale gedreht. Das Ganze ist zusätzlich verspannt durch vier Rippen in Längs- und Querrichtung und durch kürzere, die von den Diagonalrippen abzweigen. Diese Rippenformation überspielt, ornamental wie sie ist, die Konstruktion. Das Gewölbe stammt aus einer anderen Formentradition als die übrigen Teile des Baus und bildet daher – jedenfalls für die (ältere) Kunstgeschichtsschreibung, die eindeutige Grenzen zwischen Nord und Süd, Gotik und Renaissance zog und über dem vermeintlich ‚rein italienischen‘ Raum etwas ganz anderes erwartete – stilistisch einen grundsätzlichen Gegensatz.42 Mittlerweile ist erkannt, dass gerade ein solches Mit- und Gegeneinander von Formen unterschiedlicher Provenienz nicht nur für die frühe, sondern überhaupt für die westund mitteleuropäische Renaissance typisch ist und dass dies auch eine charakteristische Qualität ausmacht, womöglich sogar eine ikonologische ‚Aussage‘ bedeuten kann. Wenngleich man dies nicht mehr so befremdlich findet und begreift, dass in der Fuggerkapelle das Ganze zu einer Einheit aus solchen Gegensätzen gebracht ist und auch dies das Eigene des Entwurfs ausmacht, wird es in der Regel doch als Verbindung des konventionellen und des in Augsburg bislang unbekannten Stils beschrieben, von denen – mehr oder weniger deutlich ausgesprochen – der eine noch, der andere schon herrsche. Dies als Gegeneinander eines retardierenden und eines fortschrittlichen Elements zu beurteilen, entspricht der wertenden Beurteilung gemäß einem entwicklungsgeschichtli––––––––– 41 42

Bushart: Fuggerkapelle (wie Anm. 12), S. 47. Vgl. z. B. Halm: Daucher (wie Anm. 11), S. 21; Hannelore Müller: Sebastian Loscher und sein Geschlecht. In: Lebensbilder aus dem Bayerischen Schwaben. Bd. 3. München 1954, S. 153–211, hier S. 186f.

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chen Modell. 43 Statt dies beinahe entschuldigend als einen unvollkommenen Zustand der frühen deutschen Renaissance zu konstatieren und von Unverständnis des Neuen zu reden und der Unfähigkeit, es zu integrieren, wird erst neuerdings ein Entwurf wie jener zur Fuggerkapelle nicht mehr als Durchgangsstation eines Stilwandels zu einer ‚echten‘ Renaissance, sondern als beabsichtigter, in sich stimmiger angenommen. 44 In solcher Anerkenntnis muss man nicht bloßes Faszinosum jüngerer Zeit am Normverstoß sehen, vielmehr wird sie tatsächlich dem allgemeinen Befund gerecht, denn den reinen Zustand einer neuzeitlichen Architektur und Kunst der antikisierenden Formen gibt es auch danach noch lange nicht, die spätgotischen Formen bleiben nicht nur in der Baukunst teils bis ins 18. Jahrhundert in Gebrauch. Die Mischung zweier Stile, des deutschen und des welschen, ist zum geringsten ein Phänomen des Übergangs; sie kann nur als bewusste, im einen Fall um Ausgleich, im anderen um Kontrast bemühte Kombination begriffen werden, denn sie begegnet in Augsburg weder zum ersten Mal noch ist sie (andernorts) schnell überwunden. In der Architektur und einigen Gattungen, in denen Baukunst und Ornament besonders eng korrespondieren (beispielsweise den Portalen, Epitaphien und Altarretabeln), wurden jahrzehntelang mit schöpferischer Phantasie immer wieder neue Verbindungen erprobt.45 Die Stilmischung besteht in zahlreichen Beispielen offenbar so absichtsvoll wie selbstverständlich neben den stilistisch einheitlichen Denkmälern.46 Vor allem die großen Beispiele der Sakral- und Profanarchitektur sind zu anspruchsvoll und das Mit- und Gegeneinander der divergierenden Stilmerkmale an ihnen ist zu planmäßig und kontrastreich-überlegt, als dass es sich um die Reste einer nicht überwundenen (gar provinziellen) Vergangenheit ––––––––– 43

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Dagegen akzentuieren Lieb: Fugger 1952 (wie Anm. 5), S. 196f. und Bushart: Fuggerkapelle (wie Anm. 12) den Gegensatz nicht allzu stark; vgl. ebd., S. 63, 92f., 95, 323f.: „maßvolle Dosierung der italienischen Anregungen“, das Welsche sei „der einheimischen Tradition nicht aufgepfropft“, denn es seien dafür die „beiden Elemente zu sehr ineinander verschmolzen“; ein „zögernder Gebrauch der italienischen Vorbilder, die sich immer wieder mit den deutschen Gewohnheiten in die Wirkung teilen müssen.“ Dagegen zur älteren Forschung ebd., S. 75, 91. In diesem Sinn Lorenz: Spätgotik und Renaissance (Anm. 7); Überlegungen hierzu auch bei Günther: Schritte (Anm. 7). Etliche bekannte Beispiele führt Lorenz: Spätgotik und Renaissance (wie Anm. 7), S. 33– 38 an, verweist ferner auf die Druckgraphik des frühen 16. Jahrhunderts, den Komplex der ‚Halleschen Renaissance‘ unter Kardinal Albrecht von Brandenburg, aber auch auf die Gruppe von Portalrahmungen, an denen ausschließlich gotische Stäbe und Leisten in neuer geometrischer Weise musterartig angeordnet sind (ebd., S. 37f.). Für Exemplare aus Nürnberg s. Corine Schleif: Donatio et Memoria. Stifter, Stiftungen und Motivationen an Beispielen aus der Lorenzkirche in Nürnberg. München 1990 (Kunstwissenschaftliche Studien 58). Sollte man diese Stillage charakterisieren wollen, so könnte man, wie Lorenz: Spätgotik und Renaissance (wie Anm. 7), S. 44 meint, allenfalls von einem „Mischstil“ oder einem „Stil zwischen den Stilen“ reden, braucht jedoch keinen neuen Stilbegriff einzuführen. Da das Phänomen der Kombination des Verschiedenen so allgemein ist, muss es unter der Bezeichnung der deutschen oder besser mitteleuropäischen Renaissance subsumiert werden.

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und die damit unbeholfen kombinierten und ohnehin unverstandenen Zitate des Neuen handeln könnte.47 Ein zweites prominentes Beispiel aus Augsburg ist das Modell des Baumeisters Hans Hieber für die Wallfahrtskirche Zur Schönen Maria in Regensburg von 1520, einen Bau für den rasch aufgekommenen Kult um ein wundertätiges Marienbild an der Stelle des gerade abgetragenen Judenviertels.48 Dieser höchst eigenwillige, nur rudimentär ausgeführte Entwurf verband einen sechseckigen Zentralbau mit großen Maßwerkrosen, gotischen Turmbekrönungen, Sterngewölbe etc. und eine Fülle an welschen Formen: Kuppeln auf den Kapellen, Pilastergliederung außen wie innen, Kapitelle, Balustraden. Hier kann es sich ebensowenig um eine vorläufige Stufe einer auf Stilreinheit zielenden Entwicklung handeln, die ohnehin eine unsinnige Vorstellung wäre. Die Frage, wie die Stilwahl zu verstehen sei, betrifft sowohl die gotischen wie die neuen Formen und ist in beiden Fällen kaum ganz schlüssig zu beantworten, zumal keine zeitgenössischen Äußerungen überliefert sind. Das Rippengewölbe als Element der Konvention erscheint bemerkenswert, wenn man einen Raumabschluss nach italienischem Vorbild erwartet, wo die Kapelle am alten Kirchenschiff ohnehin etwas gänzlich Anderes war. Verschiedene Gründe wurden für das Beibehalten gotischer Form vorgeschlagen: Man habe die ‚spätgotische Tradition‘ gleichsam als hemmende Macht hinnehmen und sich mit ihr auseinandersetzen müssen, 49 das Gewölbe sei aus Gewohnheit in gotischer Manier errichtet, da sie die lang eingeübte bewährte und auch technisch beherrsch-

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Lorenz: ebd., S. 39–42 nennt als Beispiele den Wendelstein und die Kapelle von Schloss Hartenfels in Torgau (ab 1533) sowie die Erasmus-Kapelle des ehemaligen Berliner Schlosses mit der Kombination von gotischen Schlingrippen und renaissancehaften Gurtbögen im Gewölbe (um 1540). Bei anderen Bauten sind Altes und Neues nicht unmittelbar miteinander verbunden, sondern kommen an je eigenen Bauteilen vor: Fürstenhaus in Wismar (nach 1553), Dresdner Schloss (Renaissanceportal der gotisch gewölbten Kapelle, um 1556), Stuttgarter Lusthaus (ab 1584). Jüngere Beispiele sind die Stadtkirchen in Wolfenbüttel (1608–1626) und Bückeburg (1608–1615). Zum Bau sowie zu Modell und Holzschnitt des Entwurfs: Irmgard Büchner-Suchland: Hans Hieber. Ein Augsburger Baumeister der Renaissance. München, Berlin 1962 (Kunstwissenschaftliche Studien 32), S. 7–61; Wolfgang Pfeiffer: Notizen zu Irmgard BüchnerSuchland, Hans Hieber. In: Verhandlungen des Historischen Vereins für Oberpfalz und Regensburg 104 (1964), S. 235–245; Hans Reuther und Ekhart Berckenhagen: Deutsche Architekturmodelle. Projekthilfe zwischen 1500 und 1900. Berlin 1994, S. 118f. Nr. 291; Regensburg im Mittelalter. Katalog der Abteilung Mittelalter im Museum der Stadt Regensburg. Hg. von Martin Angerer. Regensburg 1995 (Regensburg im Mittelalter 2), S. 186–192; Anke Borgmeyer u. a.: Stadt Regensburg […]. Regensburg 1997 (Denkmäler in Bayern. Bd. III, 37), S. 400–403; Michael Schmidt: ‚reverentia‘ und ‚magnificentia‘. Historizität in der Architektur Süddeutschlands, Österreichs und Böhmens vom 14. bis 17. Jahrhundert. Regensburg 1999, S. 240f.; Wood: Forgery (wie Anm. 9), S. 270–272. Vgl. z. B. Lieb: Baukunst (wie Anm. 5), S. 239; Müller: Loscher (wie Anm. 42), S. 186f.; Bushart: Fuggerkapelle (wie Anm. 12), S. 323f. Für Falk: Rezension (wie Anm. 14), S. 539f. ist das Gewölbe Symptom der „Zwiespältigkeit“ des Ganzen, das „ein geistiger Torso“ geblieben sei.

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te war, oder es sei das Zeichen für die Sakralität des Raumes gewesen.50 Soll es demnach das Gegenmittel der fremden Formen gewesen sein? Es ist wohl kaum für diese Zeit, da die Tradition noch ungebrochen ist, schon eine funktionalinhaltliche Konnotation des Stils anzunehmen wie sie später bestand, als gotische Formen mit bewusst retrospektiver Tendenz für den Sakralbau eingesetzt und gelegentlich ausdrücklich als ‚kirchisch‘ bezeichnet wurden.51 Eher dürfte das figurierte Gewölbe aus der Kapelle selbst und ihrem Anspruch zu erklären sein. Von den denkbaren italienischen Lösungen für die Wölbung über dem welschen Raum wären wohl nur eine (vielleicht kassettierte) Tonne, ein Segelgewölbe oder eine Hängekuppel in Frage gekommen, doch keine eigentliche Kuppel mit halbkugeliger Schale oder gar noch einem Tambour. Denn eine solche Kuppel wäre über der leichten, zu drei Seiten offenen Architektur aus ästhetischen wie statischen Gründen kaum möglich gewesen 52 und hätte die Kapelle außerdem noch mehr als ohnehin schon separiert, also auch der vertraglich vereinbarten Verlängerung des Kirchenschiffs womöglich zu offenkundig widersprochen. Zudem wäre der Aufwand nicht nur innen, sondern auch am Außenbau wohl überdeutlich geworden. Dies wollte eine Familie, die darauf achtete, ihre damals schon fast konkurrenzlose Stellung nicht allzu sehr herauszustellen, vermutlich nicht. Insofern wäre mit den schlichteren Formen von Tonne, Kreuzgewölbe oder Hängekuppel ein schickliches Maß noch zu wahren gewesen. Freilich boten diese – ohne Kassettierung oder Malereien – lediglich glatte Flächen. Dagegen war innerhalb einer gewissen Grenze des Aufwands das Rippengewölbe, wie es ausgeführt wurde, mit seiner so dekora––––––––– 50 51

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Z. B. Norbert Nußbaum: Deutsche Kirchenbaukunst der Gotik. Darmstadt 21994, S. 317– 319; Schmidt: reverentia (wie Anm. 48), S. 241. Zum Problem der Nachgotik: Hermann Hipp: Studien zur ‚Nachgotik‘ des 16. und 17. Jahrhunderts in Deutschland, Böhmen, Österreich und der Schweiz. Bd. 1–3. Diss. Tübingen 1974; Ludger J. Sutthoff: Gotik im Barock. Zur Frage der Kontinuität des Stiles außerhalb seiner Epoche. Möglichkeiten der Motivation bei der Stilwahl. Münster 1990 (Kunstgeschichte 31); Schmidt: reverentia (wie Anm. 48), S. 219–255. – Auch andere Erklärungen von ‚Gotik‘ im Renaissancebau träfen auf die Fuggerkapelle nicht zu. Weder einer der theoretischen Gedanken, die im frühen 16. Jahrhundert zur Gotik als der deutschen Baukunst geäußert wurden, noch die von Günther: Schritte (wie Anm. 7) hieraus abgeleiteten Assoziationen oder der Renaissance im Norden zugeschriebenen Charakterisierungen (Teilhabe der nordischen Architektur am Umbruch der Neuzeit seit der Mitte des 15. Jahrhunderts und ratio als gemeinsames Kennzeichen von später Gotik und Renaissance – anstelle einer stilgeschichtlichen Unterscheidung aufgrund „stereotyper Imitationen italienischer Motive“, ebd., S. 81) sind auf einen konkreten Bau wie die Kapelle anzuwenden. An Gotik hier festzuhalten war sicher weder Besinnung auf den ‚nationalen‘ deutschen Stil und die damit gelegentlich verbundenen Charaktereigenschaften eines Volkes (ebd., S. 64) noch bedeutete es, einen Traditionsbruch zu vermeiden und damit das Decorum zu wahren. Ebensowenig ist auf die Fuggerkapelle zu übertragen, wie ebd., S. 57 der Wladislaw-Saal des Prager Hradschin verstanden wird: „natürlicherweise“ (?) seien „die tektonisch funktionalen Elemente, Pfeiler und Gewölbe, […] gotisch“ und die „Säulenordnungen all’italiana […] nur als Dekor den Wänden vorgeblendet“. In der Kapelle sind die antikisierenden Pilaster den tragenden Pfeilern aufgesetzt, die polemische Bezeichnung „Blendwerk“ (S. 47, 57) ist wohl kaum angemessen. Es hätte für eine solche Lösung auch kein Vorbild in Italien gegeben.

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tiven wie komplexen Gestaltung die anspruchsvollste Lösung. Ihm ist obendrein nicht nachzusagen, es gleiche dem Herkömmlichen und sei bloß Zugeständnis an die modestia. Denn es entspricht zum einen den ambitionierten Gewölbeentwürfen jener Zeit (nicht nur in der Stadt) und bietet mit der Rosette sogar eine neue Variante einer Figuration aus Bogenrippen. Zum anderen aber war dieses Gewölbe – obgleich die Auftraggeber eine gewisse Zurückhaltung zeigen wollten – die denkbar aufwendigste und formal reichste Lösung. Es übertraf sowohl die relativ einfachen italienischen als auch die spätgotischen Augsburger Wölbungen, denn von vielen anderen unterscheidet es sich durch die runde, geschlossene Form ohne Brüche und Härten und ohne gekappte Rippen. Seine Figuration, die obendrein mit acht großen stuckierten Rosetten auf den Gewölbekappen bereichert ist, wird wohl auch auf das Madonnenbild der skulptierten Platte am Schluss-Stein zu beziehen und zeichenhaft zu verstehen sein als Metapher der Rose. Ein hoher dekorativer Aufwand, der Form, Material und Farbigkeit einsetzt und zudem symbolische Bedeutung besitzt, scheint an die Stelle eines anderen, architektonischen getreten. So ist die Kombination der beiden unterschiedlichen Stile, die seither ohnehin üblich blieb, gemäß dem Verständnis der Zeit nach 1500 auch hier kaum als Gegensatz, sondern als Zusammenspiel der avancierten modernen und der besonders reichen, zugleich der attraktiven fremden und der vertrauten, der welschen und deutschen Formen zu begreifen. Nicht Tradition und Italienmode prallen aufeinander, sondern reiche Formen verschiedener Herkunft sind gemeinsam eingesetzt, was sich in den Ausstattungsstücken nur noch steigerte und in der Kombination aller künstlerischen Gattungen und Techniken erst das Ganze ergab. Die Antithese von Neu und Alt, Gotik und Renaissance im Entwicklungsschema der Stile ist dagegen ein künstliches Problem. Gleichwohl ist die Frage nach der Wahl der welschen Formen zu stellen, die 1507, allenfalls zwei Jahre vor dem Baubeginn erstmals in Augsburg in der Graphik und Malerei aufgetreten waren. Bedenkt man eine Zeit der Planung um 1508/9, erscheinen sie also an der Kapelle nur wenig später;53 Burgkmair und der Entwerfer der Kapelle (wenn er nicht bereits Italien kannte wie Dürer) lernten sie in denselben ein oder zwei Jahren kennen, in denen auch Jakob Fugger sie für den Kapellenbau bestimmte. Im Hinblick auf seine künftige Stellung in der Stadt ist die Wahl des welschen Stils signifikant. Sie war zunächst eine ästhetische Entscheidung, dabei erschien das Welsche als das Moderne und das ‚Schöne‘ – jedenfalls jenen, die ausdrücklich diesen Stil in ihren Aufträgen wünschten. Er wurde von den Fuggern und den in den Süden reisenden Künstlern als nicht nur für Augsburg neu begriffen, sondern sie erkannten darin überhaupt etwas Neues. Sie sahen, dass die in Oberitalien allenthalben angewandten architektonischen Konzepte mit ihren Proportionen und Einzelformen gemäß einer ihnen fast unbekannten Ordnung und die reichlich angebrachten Ornamente von allem, was nördlich der Alpen üblich war, weit abwich, und werden – ohne eigene Kenntnis antiker Denkmäler – auch erfahren haben, wo––––––––– 53

Zum Datum der Planung s. auch Anm. 106.

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rauf sich diese andersartigen Formen gründeten. Römische Geschichte als ‚große Epoche‘ war bei einer gewissen Bildung vertraut; von ihr als der Grundlage für die gegenwärtige Architektur und Ausstattungskunst etwa in Venedig zu hören musste diese aktuelle Kunst in besonderem Licht erscheinen lassen. Denn ihr lag die Antike als ein durch Alter und verklärenden Ruhm legitimiertes Vorbild zugrunde, das als Norm galt. So konnte sie selbst als Norm begriffen werden, auch wenn man sie nicht als erneuerte Antike bewunderte und nachahmte. Denn man rezipierte die italienische Kunst als die moderne, nicht primär das Ergebnis einer rinascità, indem man sie wiederum den jeweiligen Aufgaben anpasste. Es scheint mehreres zusammengewirkt zu haben, um bereitwillig das Welsche zu übernehmen und auf die eigenen Aufgaben zu übertragen. Die neuen Bauten und Ornamente gefielen und ihr bloßes Anderssein hatte bereits ästhetischen Reiz. Dabei besaß Modernität einen Wert an sich;54 ihr historisches Vorbild machte sie selbst zu einem Maßstab. Hinzu kam die Rolle der oberitalienischen Städte, zumal Venedigs, dessen Bedeutung als erfolgreiche Handelsmetropole sich in den Bauten der letzten Jahrzehnte zeigte, den neuen Kirchen und Familienkapellen, der neuen Fassade und dem Hof des Dogenpalastes, den ersten großen Palazzi etwa von Codussi am Canal Grande und den Grabmälern, Altarretabeln, profanen Luxusgütern etc.55 Man empfand den Süden in den künstlerischen Dingen als überlegen, großer Aufwand und Reichtum der Formen nahmen für sich ein, so dass das Italienische an sich als das Neue und daher Nachahmenswerte erschien. Hieran anzuschließen und in eigenen Aufträgen die welschen Formen anwenden zu lassen versprach demnach, selbst an der unmittelbaren Gegenwart teilzuhaben und weltoffen zu sein. Dies würde jedenfalls allen suggeriert werden können, die die neuen Kunstaufträge sähen. Schwieriger ist, über solche allgemeinen Züge der bewundernden Nachahmung hinaus je eigene Motive der Kunstunternehmungen zu erkennen. Zwei sind geradezu selbstverständlich: alles, was sich unter dem Begriff der Repräsentation verstehen lässt, und bei der Grabkapelle außer der frommen Stiftungsintention die liturgische und profane memoria. Die Fuggerkapelle übertraf alle anderen Kapellenbauten und -ausstattungen in Augsburg bei weitem. Die exponierte Lage am Ende des Langhauses und die Öffnung zu diesem in breitem, hohen Bogen, die Dimension, der Umfang der Ausstattung (zumal mit einer eigenen Orgel von seinerzeit gerühmter Größe), ––––––––– 54

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Eine solche Aussage muss aber auch sogleich eingeschränkt werden, da das Neue sicher nicht allgemein, sondern nur einem bestimmten Kreis von Betrachtern als besonderer Wert erschien, während andere es abwehrten, da sie den Bruch sahen und alles, was noch nie dagewesen war, als ungehörig verstanden. Parallele Belege dazu sind etwa die Reaktionen von Chronisten auf Feste im Hause Fugger oder auf die nie vorher veranstalteten Freudenfeuer anlässlich der Wahl Karls V. 1519. Vgl. die Nachweise bei Mörke: Fugger (wie Anm. 10), S. 146–152 sowie das Befremden über die Feuer bei Rem: Cronica, ed. Roth (wie Anm. 21), S. 109f. Huse, Wolters: Venedig (wie Anm. 37), passim und Wolters: Architektur (wie Anm. 37).

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die ausgiebige Beteiligung der bildenden Künste, der in allem, nicht zuletzt in Materialien und Farbigkeit sichtbare Aufwand, der Umfang der liturgischen Stiftung – dies alles setzte die Kapelle von allem Vergleichbaren ab. Man musste das Ganze als Pracht bewundern – oder beargwöhnen. 56 Es kursierten prompt diverse Meinungen über die Kosten der Kapelle als Indiz für ihre Einzigartigkeit. 57 Dass die Familienkapelle wesentlicher Teil der Selbstdarstellung war, ist selbstverständlich; dabei spielte offenbar auch der Verweis auf den Prunk und die Kosten eine Rolle, wenn Jakob Fugger seine Gäste nach St. Anna führte, seine Stiftung präsentierte und dabei sogar weit höhere Summen nannte, als tatsächlich ausgegeben worden waren.58 Die Kapelle war auch, wie die Häuser der Familie, ein Mittel, unbegrenzte Liquidität zu suggerieren – wenngleich keineswegs das Äußerste aufgeboten wurde, bedenkt man fürstliche Stiftungen solcher Art.59 Die gewöhnliche Konkurrenz zwischen wohlhabenden Familien einer Stadt, die mit ihren geistlichen Stiftungen immer auch Rang, Reichtum und Macht anzeigten und sich in der Demonstration von Prestige gegenseitig zu überbieten suchten, trifft hier kaum zu, da die Distanz der Fugger’schen Stiftung von allen anderen viel zu groß ist. In jeder Hinsicht lässt die Kapelle die übrigen derartigen Unternehmungen weit hinter sich (etwa die spätgotische Kapelle der Her-

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Bekannt ist Ulrich von Huttens Kritik, der die Fugger in seinem Dialog Praedones (1521) angriff, ihnen Monopolismus und Wucherei vorwarf und die Kapelle als regium in morem bezeichnete; Ulrich von Hutten: Praedones. In: ders.: Schriften. Hg. von Eduard Böcking. Bd. 4. Leipzig 1860, S. 363–406, hier S. 391f.: Illud, Huttene, vidisti Augustae Fuccherorum aliquando sepulchrum? – Quis non vidit? – Regium in morem. Sed bene Carmelitis cedit, atque igitur pio illud murmure et mire sonoris cottidie preculis circumstrepunt. – Mitte Fuccheros, odiose satis contactos prius, et de sacris praedonibus prosequere. – Hierzu Bushart: Fuggerkapelle (wie Anm. 12), S. 37; zu Huttens Dialog als Quelle für das Problem des neuen Adels s. Barbara Stollberg-Rilinger: Gut vor Ehre oder Ehre vor Gut? Zur sozialen Distinktion zwischen Adels- und Kaufmannsstand in der Ständeliteratur der Frühen Neuzeit. In: Augsburger Handelshäuser im Wandel des historischen Urteils. Hg. von Johannes Burkhardt. Berlin 1996 (Colloquia Augustana 3), S. 31–45, hier S. 34f. Rem: Cronica, ed. Roth (wie Anm. 21), S. 82. Gegenüber Antonio de Beatis sprach Fugger 1517 von 23.000 Gulden (de Beatis: Reise [wie Anm. 22], S. 96f.); das ‚Fugger’sche Ehrenbuch’ nennt 16.000 Gulden für Kapelle und Orgel (Rohmann: Ehrenbuch [wie Anm. 3], S. 175; daraus macht Waagen: Kunstwerke (wie Anm. 34), S. 67 die absurde Zahl von 160.000). Die Rechnungen weisen dagegen nur knapp 12.000 Gulden aus; Lieb: Fugger 1952 (wie Anm. 5), S. 137 und 380; Bushart: Fuggerkapelle (Anm. 12), S. 38f.; Geffcken: Fugger (wie Anm. 10), S. 21. Von Pölnitz: Jakob Fugger (wie Anm. 10), Bd. 1, S. 232f. meint dagegen, solche Demonstration sei an eine konkrete Situation geknüpft gewesen: In der angeblichen Krise des Handelshauses nach dem Tod des Brixener Fürstbischofs Melchior von Meckau, als hohe Rückzahlungsforderungen von Darlehen drohten, habe Solvenz demonstriert werden müssen. Konkrete Anhaltspunkte für diese These fehlen. Gegen sie spricht, dass die Angelegenheit wohl nicht öffentlich bekannt war, denn über die Kapitalanlage Meckaus berichten ausschließlich interne Dokumente; auch die Verhandlungen über das Erbe dürften vertraulich geführt worden sein.

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wart an der Kirche des Chorherrenstifts St. Georg, 1503–1514).60 Hierbei spielte sicher der gewählte Stil, welcher Raumproportion, Architekturformen, Ausstattung, Ornamentik, Material etc. bestimmte, eine entscheidende Rolle. Das Neuartige der Formen kann nicht unbemerkt geblieben sein, sondern man muss sich wohl vorstellen, dass es gemeinsam mit der enormen Größe des Baus in der bescheidenen Umgebung Effekt machte.61 Das Welsche stand demnach auch im Dienst repräsentativer Ansprüche, da es als ein neues Ideal geboten wurde und Zeichen der Weltläufigkeit und Modernität Jakob Fuggers war. Er stellte sich damit über alles, was in Augsburg vertraut war, und über alle, die es pflegten. Da Jakob Fugger schon 1473 in Venedig bezeugt ist und sich bis zu seiner Rückkehr nach Augsburg im Jahr 1487 dort auch überwiegend aufgehalten zu haben scheint, 62 dürfte er die Veränderung der Stadt durch die aufwendige neue Kunst erlebt und dabei so viel an ästhetischer Kultur entwickelt haben, dass er später wusste, was en vogue war, was er selbst errichten lassen wollte und welche Wirkung dies haben würde. Den Stil wählte der Auftraggeber, denn er konnte mit ihm und der Tatsache, dass er sich als Erster in Augsburg seiner bediente, eine Aussage über sich und das Haus Fugger treffen. Die dadurch postulierte Rolle wurde lange als die einer höchst erfolgreichen Familie beschrieben, deren Bedeutung und eminentem Reichtum jedoch keine angemessene gesellschaftliche Stellung entsprochen habe. Dem Stereotyp des so verstandenen Gegensatzes zwischen dem Bürgerstatus und dem mit der Kapelle formulierten Anspruch folgt auch eine jüngere Deutung des Baus.63 Vorbild für das gesteigerte Stiftergebaren seien die Medici gewesen, die mit einem über das gewöhnliche Maß hinausgehenden Aufwand Selbstinszenierung und Konkurrenz betrieben und Publizität gesucht hatten. Die singuläre Position durch die ––––––––– 60

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Bushart: Fuggerkapelle (wie Anm. 12), S. 333–338, Franz Bischoff: Burkhard Engelberg. „Der vilkunstreiche Architector und der Statt Augspurg Wercke Meister“ […]. Augsburg 1999 (Schwäbische Geschichtsquellen und Forschungen 18), S. 118–121. Bei einer gewissen Kennerschaft nahm seit 1518 wohl mancher wahr, dass die Ornamente auf zunehmend mehr Bildern und Holzschnitten in Augsburg ebenfalls vorkamen, gebaute und gemalte Architektur sich entsprachen. Von Pölnitz: Jakob Fugger (wie Anm. 10), Bd. 1, S. 20–23, der für Jakob Fugger bis 1478 einen Aufenthalt in Deutschland (in Herrieden) und – aufgrund einer Verwechslung von Steuerbuchungen – eine Rückkehr nach Augsburg 1479 annimmt, zieht aus diesen Daten den Schluss, Jakob könne nur wenige Monate in Venedig geblieben sein. Tatsächlich wird Jakob schon 1473 in Venedig erwähnt und seine Rückkehr nach Augsburg fällt in das Jahr 1487 (Geffcken: Fugger [wie Anm. 10], S. 15). Obwohl venezianische Belege aus den 1480er Jahren bislang noch fehlen, erschließt Geffcken anhand von Indizien, Jakob dürfte sich auch in dieser Zeit noch hauptsächlich in Venedig aufgehalten haben (freundliche Mitteilung von Peter Geffcken; demnächst wird hierzu eine Untersuchung von ihm erscheinen). Tönnesmann: Anfänge (wie Anm. 12), S. 301–306; hier wird dem Bau mehreres unterstellt: der „Vorgriff“ der „Interessen deutscher Fürstenhäuser“ in der Stilwahl (als Ausdruck des Anspruchs); die Position am Westende als hier aufgegriffenes „Privileg deutscher Königskirchen“; Kenntnis der Fugger von den „patrizisch-bürgerlichen Wurzeln der Renaissancekunst“, die damit „auch die sozialen und ideologischen Komponenten, die den Aufstieg des neuen Stils in Italien begleitet hatten“, übernommen hätten (S. 301f.)

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erstmals importierten Repräsentationsformen (‚italienische‘ Kapelle, Familienpalast und soziale Stiftung der Fuggerei) sei „Spiegelbild“ der „gesellschaftlichen Existenz“ der Fugger, die nicht „zum Patriziat“ gehört und kein „politisches Mitbestimmungsrecht“ besessen hätten. Daher seien ihre Bauten statt als „soziale Rangbestätigung“ als „bildlich vorgetragener Ausgleich“ und „Einforderung versagter Privilegien“ zu verstehen,64 also als Kompensation. Solche aus soziologischen und psychologischen Denkmustern abgeleitete Interpretation hat jedoch keine Fundierung in der historischen Wirklichkeit, da sie am obsoleten Bild der reichen, aber stadtpolitisch und gesellschaftlich bedeutungslosen Familie festhält, die mit der Demonstration ihres Besitzes und ihrer allen anderen überlegenen Geschmacksbildung eine angemessene öffentliche Stellung für sich beanspruche. 65 Zwar trifft es zu, dass die Fugger nicht zum Patriziat zählten, doch dieser Status war bis 1538 für keine neue Familie erreichbar. Denn beim Augsburger Patriziat (von Herren, Geschlechter)66 handelte es ––––––––– 64 65

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Ebd., S. 306. Was ‚Patriziat‘ war und welche Rolle es in der Stadt hatte, welche Gremien eigentlich politisch bedeutsam waren, welche Möglichkeiten des sozialen Aufstiegs in einer ständisch organisierten Gesellschaft bestanden und was Jakob Fugger tatsächlich wollte, wird dabei nicht gefragt. – Die für diese angebliche, unbefriedigende Stellung in der städtischen Gesellschaft meist angeführte Nachricht, Jakob Fugger habe einen Neubau der Geschlechterstube auf eigene Kosten (mit seinem Wappen daran) angeboten, doch sei ihm das 1494/95 abgeschlagen und die Aufnahme in die Stube verweigert worden, findet sich im Entwurf zum ‚Fugger’schen Ehrenbuch‘, ist jedoch kaum haltbar (Rohmann: Ehrenbuch [wie Anm. 3], S. 175. Neben Lieb: Fugger 1952 [wie Anm. 5], S. 283 und Tönnesmann argumentiert auch noch Scheller: Memoria [wie Anm. 15], S. 37f. mit dieser Geschichte, wenngleich er daraus nicht mehr auf die Verweigerung des gesellschaftlichen Aufstiegs schließt). Wie ein Blick auf die chronikalische Überlieferung zeigt, standen die sich seit der Änderung der Stubenordnung 1491 häufenden Konflikte um die Zulassung zur Herrenstube im Zentrum des öffentlichen Interesses. So wurde detailliert darüber berichtet, dass es um 1495/96 Philipp Adler nicht gelang, auf die Herrenstube zu kommen, obwohl er im Kaiser einen einflussreichen Fürsprecher hatte (Fortsetzungen der Chronik des Hektor Mülich. In: Die Chroniken der schwäbischen Städte. Augsburg. Bd. 4. Leipzig 1896 [Die Chroniken der deutschen Städte vom 14. bis ins 16. Jahrhundert 23], S. 405-470, hier S. 423f.). Ein Konflikt zwischen Jakob Fugger und der Herrenstube wird dagegen in keiner einzigen zeitgenössischen Quelle erwähnt, obwohl man annehmen muss, dass zumindest Wilhelm Rem, der sehr ausführlich über die Fugger berichtet, einen solchen Vorgang notiert hätte. Hinzu kommt, dass Jakob – im Gegensatz zu Philipp Adler – keinen Grund hatte, sich auf einen Konflikt mit der Herrenstube einzulassen. Adler befand sich um 1495/96 in einer Situation, die keine Möglichkeit erkennen ließ, auf ‚normalem‘ Weg, also durch Heirat, auf die Herrenstube zu gelangen, denn seine Ehefrau Veronika Stammler kam aus einer Familie der Kaufleutestube. Nur durch deren nicht vorherzusehenden Tod eröffnete sich ihm die Gelegenheit, doch auf die Herrenstube zu heiraten. Vergleichbare Probleme mit einer Aufnahme gab es jedoch für den 1494/95 noch ledigen Jakob Fugger gar nicht. Er hätte nur, wie seine Brüder vor ihm, in eine Familie der Herrenstube einheiraten müssen und wäre ohne weiteres von den Gesellen der Stube kooptiert worden, wie dies 1498 dann auch geschah. Vgl. dazu Geffcken: Fugger (wie Anm. 10), S. 19. Patriziat wird hier im Sinn des Forschungsbegriffs verwendet und ist nicht deckungsgleich mit der durch die Humanisten etablierten Bezeichnung patricius, die im 15. und 16. Jahrhundert noch in allgemeiner Weise gesellschaftliche Elitepositionen kennzeichnete und in den offiziellen Augsburger Quellen erst im 17. Jahrhundert zur Bezeichnung des Verfas-

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sich um einen Verfassungsstand, dem bei Einführung der Zunftverfassung 1368 bestimmte politische Mitwirkungsrechte außerhalb der Zunftverbände zugestanden worden waren und der 1383 durch eine Satzung des von den Zünften dominierten Rates zu einem Geburtsstand abgeschlossen wurde.67 Für die soziale Stellung war in Augsburg jedoch die Zugehörigkeit zur Herrenstube entscheidend, in der die offene Struktur des älteren Patriziats fortlebte, das keine grundsätzliche Abgrenzung kannte, sondern Aufsteiger und Zuwanderer durch Heirat integrierte. Auch für Männer, die nicht durch Geburt zur Herrenstube zählten, bestand die Möglichkeit, durch Heirat in eine Stubenfamilie in die Herrenstube aufgenommen zu werden, wobei es keine Rolle spielte, ob der Vater der ‚stubenfähigen‘ Braut politisch zu den von Herren oder den von Zünften gehörte.68 Bereits seit den 1470er Jahren hatte die Familie Fugger von der Lilie den –––––––––

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sungsstandes gebraucht wurde. In diesem Sinn hätte auch Jakob Fugger patricius genannt werden können, wie dies zwei Beispiele zeigen: Fuggers Schwager Georg Königsberger (Georgius Kungspergius patricius Augustanus: Widmung von Johannes Eck, 19. März 1517; zitiert von Götz-Rüdiger Tewes: Luthergegner der ersten Stunde. Motive und Verflechtungen. In: Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken 75 [1995], S. 256–365, hier S. 311, Anm. 136; Tewes schließt aus dieser Bezeichnung allerdings irrtümlich, es handle sich bei Königsberger um einen Angehörigen des Patriziats; ebd., S. 297, Anm. 99, S. 311, Anm. 135) und der mit Fugger etwa gleichaltrige Philipp Adler aus der Salzfertigerzunft (Inschrift von 1518 an einem von Adler gestifteten Sakramentshaus, überliefert in einem Stich von Daniel Hopfer: […] FECIT PHILIPPVS ADLER PATRICIVS MDXVIII; Annette Kranz: Zum ‚Herrn mit der Pelzmütze‘ von Hans Holbein dem Älteren. Das Bildnis des Augsburger Kaufmanns Philipp Adler. In: Marburger Jahrbuch für Kunstwissenschaft 33 (2006), S. 175–195, hier S. 183). Die beiden von auswärts zugezogenen Kaufleute waren in Augsburg nie Angehörige des Patriziats, zählten allerdings zu den Gesellen der Herrenstube. Adler gelangte 1505 durch seine zweite Ehe mit der ‚stubenfähigen‘ Anna Ehem auf die Herrenstube, Königsberger 1507 durch seine Heirat mit Regina Arzt, der ebenfalls ‚stubenfähigen‘ Schwester von Jakob Fuggers Ehefrau Sibylla (diese Belege werden Peter Geffcken verdankt.) Dass es sich bei dieser Satzung von 1383 nicht um ein Postulat handelt, sondern um eine Regelung, die noch im 16. Jahrhundert Gültigkeit besaß, zeigt der Fall des Ulmer Patriziers Sebastian Neidhart, der 1516 in einem Gesuch an den Rat seine dauerhafte Niederlassung in Augsburg davon abhängig machte, zu den von Herren angenommen ze werden. Vom Rat wurde dies abgelehnt, da sonst ein Präzedenzfall geschaffen würde und annder sich auch daran hencken das nit wenig beschwerd gepern wuerde (Friedrich Peter Geffcken: Soziale Schichtung in Augsburg 1396 bis 1521. Beitrag zu einer Strukturanalyse Augsburgs im Spätmittelalter. München 1995, S. 221, Anm. 588). Allerdings blieb es bei der Drohung Neidharts, denn er erwarb doch Augsburger Bürgerrecht, und wie schon vor ihm die Nürnberger Patrizier Franz und Hans Baumgartner oder Hieronymus und Simon Imhof fügte auch er sich den Gegebenheiten und trat der Kaufleutezunft bei. Über die Zugehörigkeit zu dem durch seine politischen Sonderrechte definierten Patriziat entschieden also nicht die Standesgenossen, sondern der Rat, und durch diesen wurde dann auch die große Patriziatserweiterung von 1538 beschlossen, da das auf acht Familien zusammengeschmolzene Patriziat nicht mehr in der Lage war, seine von der Verfassung vorgegebenen Funktionen zu erfüllen. Bei dieser Gelegenheit erfolgte auch die Aufnahme der Fugger ins Patriziat. Zur Herrenstube als Organisation der sich absondernden Oberschicht gehörten sowohl Mitglieder des Patriziats wie der Zünfte. Obgleich ohne formale politische Funktion war die Stube „wichtiges Entscheidungszentrum“, denn auch aus den Zünften fanden sich hier die führenden Personen. Hierzu einführend Peter Geffcken: Art. ‚Herrenstube‘ und ‚Patriziat‘.

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sozialen Aufstieg verfolgt und alle Töchter an Mitglieder der Herrenstube verheiratet, 1473 einen kaiserlichen Wappenbrief erworben.69 Auch Jakobs Brüder wählten ihre Ehefrauen aus etablierten Stubenfamilien, die schon im ersten Drittel des 15. Jahrhunderts der Herrenstube angehörten; es gibt keinerlei Hinweise darauf, ihre Kooptation durch die Gesellen der Herrenstube habe Probleme bereitet. 70 Nachdem sich 1498 auch Jakob verheiratet hatte, zählten die Fugger alle zur Gesellschaft der Herrenstube und hatten damit den höchsten gesellschaftlichen Status erreicht, der – im Rahmen der städtischen Verfassungsordnung – damals zu erlangen war. Im Jahrzehnt nach 1500 vollzog sich jedoch eine Entwicklung, die offensichtlich auch die Kapellenstiftung entscheidend prägte. Die Fugger unternahmen weitere Schritte: 1507 erwarben sie die Grafschaft Kirchberg. Mit diesem Kauf wird deutlich, dass Jakob für seine Familie ein neues Ziel verfolgte, den Aufstieg in den höheren Adel. Denn Kirchberg war kein gewöhnliches Renditeobjekt, das im Wesentlichen aus direkt zu nutzenden Rechten und Liegenschaften bestand, sondern eine alte Dynastenherrschaft, zu der auch zahlreiche Aktivlehen zählten, die unter anderem an Angehörige des schwäbischen Adels ausgegeben waren. Wenn sich das Haus Habsburg in dem am 27. Juli 1527 paraphierten Vertrag nur die Landeshoheit vorbehielt, wenn die Aktivlehen also zu den Rechten zählten, die in Verbindung mit der Grafschaft Kirchberg veräußert worden waren, muss bei den Verkaufsverhandlungen die lehensrechtliche Stellung der Fugger von Anfang an eine Rolle gespielt haben und auch schon an eine Standeserhöhung gedacht worden sein. Seit wann Jakob Fugger dieses Ziel verfolgte, ist nicht mehr im Einzelnen nachzuvollziehen. Die Voraussetzungen für dieses ‚Projekt‘ hatten sich allerdings erst 1504 ergeben, als sich Kaiser Maximilian I. als ‚Dank‘ für sein Eingreifen in den Streit um das Erbe des Landshuter Herzogs Georg des Reichen nicht nur verschiedene, an Tirol angrenzende Herrschaften sicherte, sondern auch Teile aus dem schwäbischen Be–––––––––

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In: Augsburger Stadtlexikon. 2. Aufl. Hg. von Günther Grünsteudel u. a. Augsburg 1998, S. 492f., 703; ferner Katharina Sieh-Burens: Die Augsburger Stadtverfassung um 1500. In: Zeitschrift des Historischen Vereins für Schwaben 77 (1983), S. 125–149, hier S. 126–133. Zum folgenden zusammenfassend Geffcken: Fugger (wie Anm. 10), S. 18–20, ferner von Pölnitz: Jakob Fugger (wie Anm. 10), Bd. 1 passim und Thea Düvel: Die Gütererwerbungen Jacob Fuggers des Reichen (1494–1525) und seine Standeserhöhung. Ein Beitrag zur Wirtschafts- und Rechtsgeschichte. München, Leipzig 1913 (Studien zur Fugger-Geschichte 4), S. 14–63, 125–129. Ulrich Fugger heiratete 1479 Veronika Lauginger (Tochter des Johann Lauginger [† 1488], Mitglied der Herrenstube [stubenfähig durch seine Mutter Barbara Langenmantel ‚vom Sparren‘] und Mitglied der Salzfertigerzunft); Georg Fugger heiratete 1488 Regina Imhof (Tochter des Peter Imhof [† 1505], Mitglied der Herrenstube [stubenfähig durch seine Mutter Veronika Wahraus] und Mitglied der Kaufleutezunft). Jakob Fugger heiratete 1498 Sibylla Arzt (Tochter des Wilhelm Arzt [† 1490], Mitglied der Herrenstube [stubenfähig durch seine Großmutter Anna Langenmantel ‚vom Sparren‘] und Mitglied der Kaufleutezunft [erschlossen über Söhne]). Alle Nachkommen der Brüder waren damit durch Geburt ‚stubenfähig‘ und konnten – wie die Nachkommen anderer Stubenmitglieder – Ehepartner auch neu auf die Stube bringen. – Diese Angaben teilte freundlicherweise Peter Geffcken mit.

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sitz des niederbayerischen Herzogs. 71 Da Maximilian die Grafschaft Kirchberg aus diesem Erbe schon am 27. Oktober 1504 um 20.000 Gulden an Graf Eitelfriedrich von Zollern verpfändet hatte, kann auf habsburgischer Seite die Möglichkeit eines Verkaufs von Kirchberg an die Fugger zu diesem Zeitpunkt noch nicht erwogen worden sein. Seine Chance könnte Jakob Fugger jedoch 1506 erkannt haben, als die habsburgische Verwaltung versuchte, andere Teile aus diesem bayerischen ‚Erbe‘ zu verwerten, und den Fuggern die Hofmark Schmiechen zum Kauf anbot. Dass die Fugger zu diesem Zeitpunkt nicht zum Kauf gesonnen waren,72 Schmiechen deutlich später, am 24. August 1509, aber doch erwarben, scheint darauf hinzudeuten, sie hätten durchaus auch an diesem Objekt Interesse gehabt, die Unterhandlungen aber aus taktischen Gründen abgebrochen, da ein anderes Objekt neue, weiter reichende Perspektiven eröffnete und Pläne für einen Aufstieg der Familie in den höheren Adel vielleicht erstmals konkrete Gestalt annahmen. Jakob Fugger scheint sich bewusst gewesen zu sein, dass die angestrebte Standeserhöhung auf massive Widerstände im Adel treffen würde, da sie gegen dessen zentralen Grundsatz ‚Ehre vor Gut‘ verstieß und zudem im Reich ohne Beispiel war. 73 Durch den Erwerb einer Grafschaft ergab sich allerdings die Möglichkeit, sie sachlich zu begründen und zu legitimieren; es wurde damit auch einfacher, sie politisch durchzusetzen. Kirchberg bot hier einmalige Voraussetzungen, da es sich um einen überaus traditionsreichen schwäbischen Grafensitz handelte und die Grafschaft noch nicht fester Bestandteil der habsburgischen Territorien war, von Maximilian I. also als ‚Manövriermasse‘ zur Bewältigung seiner permanenten finanziellen Probleme genutzt werden konnte. Die Verkaufsverhandlungen zu Kirchberg dürften sich nicht allzu lange hingezogen haben, da wesentliche Fragen, wie die Ablösung der Pfandschaftsrechte des Zollerngrafen, bei Vertragsabschluss noch nicht endgültig geklärt waren und erst im Januar 1508 in Ulm geregelt wurden.74 Dass eine Standeserhöhung des Hauses Fugger von Anfang an Teil der Vereinbarungen zu Kirchberg war, belegt ein Schreiben der kaiserlichen Kanzlei an den Augsburger Rat aus dem Jahr 1508, in dem sie darauf verwies, der Kaiser habe gnedigelich furgenomen Jacoben Fugger vmb seiner geschigklichait vnnd getrewen verdienens willen, auch in ansehung das ir Mt. kain solhen statthaften burger im Raich waist, zu ainem Herren zu machen. 75 Wie das Schreiben außerdem zeigt, gab es bereits vor der Standeserhöhung auch Überlegungen über den künftigen Status

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Von Pölnitz: Jakob Fugger (wie Anm. 10), Bd. 1, S. 179–182. Am 6. Dezember 1506 war bereits der Kauf von Schmiechen verabredet worden; Lieb: Fugger 1952 (wie Anm. 5), S. 121. Zu diesem Problem: Stollberg-Rilinger: Gut vor Ehre (wie Anm. 56). Von Pölnitz: Jakob Fugger (wie Anm. 10), Bd. 2, S. 185. Das Problem des Heimkaufsrechts des Grafen Philipp von Kirchberg dürfte sogar noch später gelöst worden sein. Paul von Stetten d. J.: Geschichte der adelichen Geschlechter in der freyen Reichs-Stadt Augsburg. Augsburg 1762, S. 418f., Nr. LXXIII.

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in Augsburg; die Stadt wurde aufgefordert, Jakob Fuggers Pflichten als Bürger, der er auch als Herr bleiben wolle, einzuschränken. 76 In entsprechenden Unterhandlungen mit dem habsburgischen Hof hatte Jakob mitgeteilt, es sey sein maynung nit sich aus der Statt zuthun, noch sich der burgerlichen Recht zuuerzeichen, dies aber mit dem ausdrücklichen Wunsch verbunden, vom Steuereid entbunden zu werden. 77 Wenn die kaiserliche Kanzlei weiterhin zu bedenken gab, es würde sich nicht geburn wann er also zu Herrn gemacht wirdet, das er Zunfft, Rat und gericht besitzen solle, mithin einen standesrechtlichen Widerspruch konstatierte und den Rat daher bat, Jakob Fugger auch umb irer kay. Mt. willen die Übernahme solcher kommunalen Ehrenämter zu erlassen, so ist auch hierfür eine Initiative Fuggers anzunehmen. Auf diese zweite Forderung ließ sich die Stadt allerdings nicht ein und beharrte auf der Erfüllung der Pflichten, die mit dem Bürgerrecht verbunden waren. So blieb Jakob Fugger zeitlebens Mitglied der Kaufleutezunft, die er seit 1509 im Großen Rat und ab 1520 auch im erweiterten Kleinen Rat vertrat. 78 Wie kaum ––––––––– 76

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Zur Begründung, am Bürgerrecht festzuhalten, heißt es in dem Schreiben: dieweil er allwegen hie gewesen unnd gewonnt hab, so sey sein maynung nit sich aus der statt zuthun noch sich der burgerlichen recht zuuerzeichen. – Obwohl der ältere Bruder Ulrich Fugger erst 1510 starb, wird im Zusammenhang mit dem Kauf der Grafschaft Kirchberg und der geplanten Standeserhöhung ausschließlich Jakob Fugger erwähnt. Vermutlich ist dies auf das besondere persönliche Vertrauensverhältnis zwischen Kaiser Maximilian I. und Jakob zurückzuführen. Fugger hatte hier hierzu mitgeteilt, es sei ihm nicht möglich, bei der alle sieben Jahre fälligen steuerlichen Neuveranlagung zu beschwören, was er hab vnnd sein vermugen sey. Dieweil im aber unmuglich were solhs zu wissen dann seine hanndl weitläufig vnnd in ander weg anndern kaufflewten ungleich seyen, hatte er die Vereinbarung eines festen Steuerbetrages vorgeschlagen (von Stetten: Geschichte [wie Anm. 75], S. 418f., Nr. LXXIII). Beim nächsten Schwörsteuertermin 1516, nach seiner Erhebung in den Freiherrenstand, kam es dann zwischen Jakob Fugger und der Stadt zu der vorgeschlagenen vertraglichen Vereinbarung, wobei ihm bei Zahlung einer jährlichen Steuer von 1.200 Gulden der Steuereid erlassen wurde (vgl. Peter Geffcken: Art. ‚Steuer(n)‘. In: Augsburger Stadtlexikon [wie Anm. 68], S. 854–857, hier bes. S. 856 [vertragliche Vermögenssteuer]). Jakob Fugger wurde erstmals 1509 von der Kaufleutezunft zum Zwölfer (damit auch Mitglied des Großen Rates) gewählt und blieb bis zu seinem Tod 1525 Mitglied des dreizehnköpfigen Führungsgremiums (ein Zunftmeister und 12 Zwölfer) seiner Zunft. 1520 wurde er anstelle von Melchior Funck, der in das Gericht wechselte, durch den Rat zum [2.] Zusatz des Kleinen Rats (= Alter Rat) gewählt und wird auch in dieser Funktion bis 1525 genannt. Mit dem neuen und dem alten Zunftmeister, die im Kleinen Rat saßen, zählten Jakob und sein Kollege Wolfgang Pfister also zu den vier ranghöchsten Repräsentanten der Kaufleutezunft in den politischen Gremien der Stadt. Im Gegensatz zum Kleinen Rat, der turnusmäßig tagte, wurde der erweiterte Rat (69 Personen = 42 aus dem Kleinen Rat und 27 Zusätze [Alter Rat] = 12 Patrizier und 57 Vertreter der Zünfte) nur bei Entscheidungen von größerer Tragweite einberufen, woraus sich für die Zusätze des Rates geringere zeitliche Belastung ergab. Außerdem wurden aus dem erweiterten Rat die städtischen Ämter besetzt. Da die Kaufleutezunft die einflussreichste der 17 Zünfte war, ist selbst die formelle politische Position Jakob Fuggers ab 1520 nicht zu unterschätzen, auch wenn Hinweise auf ein konkretes Engagement fehlen. Aufgrund Fuggers Bemühungen, keine Funktionen in zunfft, rat und gericht übernehmen zu müssen, wird man seine formelle ‚politische Karriere‘ vielleicht als Kompromiss zu bewerten haben. Zunft und Rat bestanden offensichtlich auf einer gewissen (symbolischen?) Mitwirkung Jakobs in Gre-

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anders zu erwarten, finden sich keine Hinweise auf Aktivitäten in diesen Gremien, da er durch seine Verbindungen zum Kaiserhof, aber auch zu führenden Köpfen des Augsburger Rats über große informelle Macht verfügte. Sie ermöglichte es ihm, seine Ziele auch aus dem Hintergrund zu verfolgen. Im Vergleich zu ihrer wirtschaftlichen Bedeutung erscheinen die Fugger von der Lilie in der Ära der Zunftverfassung zwar politisch unterrepräsentiert, doch gerade dies wünschten sie.79 Diese Entwicklung hatte schon Jakob Fugger d. Ä. eingeleitet, als er um 1466 aus der Weber- in die Kaufleutezunft wechselte. Da sich in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts die reichsten Augsburger Bürger zunehmend in dieser Zunft konzentrierten und von ihr nur jeweils zwei Sitze im Kleinen Rat und im Alten Rat zu besetzen waren, bot die Kaufleutezunft die beste Möglichkeit, einem Ratsamt zu entgehen, wenn man sich nicht ausdrücklich darum bemühte. 80 Die Familie engagierte sich also kaum in der kommunalen Politik und entsprach, wenn man den Berichten der Chroniken glauben will, nicht immer den üblichen Verhaltensmustern der Oberschicht. Erst vier Jahre nach Abschluss des Kaufvertrags über die Grafschaft Kirchberg wurden Jakob Fugger und sein Neffe Ulrich Fugger 1511 in den erblichen Freiherrenstand erhoben, wobei der ‚Freibrief‘ ausdrücklich auf die Problematik der Kirchberger Aktivlehen verweist. Was die Gründe für diese lange Verzögerung waren, ist im Einzelnen nicht mehr nachweisbar. Da es sich um die erste derartige Standeserhöhung eines aktiven Kaufmanns handelte, in diesem Fall also Besitz und Fähigkeit vor Geburt und Ehre ging, wäre es denkbar, dass sich breitere Adelskreise einer solchen Nobilitierung widersetzten und aus diesem Grund die Erhebung nur eingeschränkt, im lehensrechtlichen Konnex, erfolgte. Der Widerstand einiger adliger Lehensleute der Grafschaft blieb allerdings un–––––––––

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mien, man verzichtete jedoch darauf, ihn mit Ämtern zu belasten, die mit größerem Zeitaufwand verbunden waren. Jakobs älterer Bruder Ulrich wurde schon kurz nach seiner formellen Aufnahme 1485 von der Kaufleutezunft in den Jahren 1487–1495 zum Zwölfer gewählt, blieb danach aber von Zunft- und Ratsämtern verschont. Hierzu Mörke: Fugger (wie Anm. 10), S. 143–146, mit Vergleichszahlen hinsichtlich der Amtsjahre anderer Familien im Rat. Allerdings ist ein schematischer Vergleich von Daten zur politischen Partizipation zwischen Patrizierfamilien und Zunftfamilien, zum Teil selbst zwischen Familien unterschiedlicher Zünfte, problematisch, da die Bedingungen zu stark variierten. Während Mitglieder der Fuggerfamilie im zünftisch organisierten Stadtregiment keine politischen Rollen suchten, nahmen sie nach Einführung der Karolinischen Regimentsordnung 1548 (Auflösung der Zünfte als politische Organisationseinheiten, Besetzung des Kleinen Rats aus gesellschaftlich definierten Formationen: 31 Patrizier, drei Mehrer [nichtpatrizische Mitglieder der Herrenstube], einer von Kaufleuten [Mitglieder der Kaufleutestube], sechs Vertreter der Gemeinde [Personen, die keiner Stube angehörten]) an der Stadtpolitik teil; Anton Fugger wurde 1548 sogar Mitglied des Geheimen Rats, des innersten Zirkels; Marx war ab 1576, Octavian Secundus ab 1594 Stadtpfleger. Obwohl das Patriziat seit dem ausgehenden 15. Jahrhundert deutlich weniger wählbare Männer zählte als die Kaufleutezunft, musste dieser Verfassungsstand insgesamt 12 Sitze im erweiterten Kleinen Rat (Kleiner Rat + Alter Rat) besetzen. Ein einigermaßen mit Verstand und Vermögen gesegneter Patrizier hatte also kaum eine Chance, einer Wahl in den Rat zu entgehen. Ähnliches ist in den ärmeren Zünften zu beobachten, zu denen häufig nur wenige Wohlhabende zählten; auch hier konnten sich vermögende und anerkannte Zunftmitglieder einer Wahl in den Rat kaum entziehen.

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gebrochen, obwohl der ‚Freibrief‘ ausdrücklich feststellte, die übliche Regel, daz einer von mererm und höcherm geschlecht von einem niedern geporn lehen zu emphahen und zu tragen nit schuldig sey, könne keine Verweigerung der Lehenspflichten begründen. Eine Lösung des Konflikts wurde erst möglich, nachdem Jakob 1514 auch noch persönlich in den Grafenstand erhoben worden war, was seinen Interessen sogar entgegengekommen sein dürfte. Schon um öffentlicher Kritik oder dem Spott des Adels zu entgehen, führte er den Titel jedoch nicht. Dies dürfte ihm nicht sonderlich schwergefallen sein, denn er war wohl nicht auf Titel oder Standesbezeichnungen angewiesen, um seine faktische Bedeutung akzeptiert zu sehen. Seine Intention war es vielmehr, die Grundlage für die zukünftige Stellung der Familie zu schaffen, die 1530 in der Bestätigung der Standeserhöhungen für die Fugger von der Lilie dann manifest war. 81 Daher wurde mit der Kapelle – um auf diesen Erklärungsversuch zurückzukommen – gewiss nichts ‚gefordert‘, Jakob Fugger kompensierte weder ein vorenthaltenes ‚Privileg’ noch den Ausschluss vom städtischen Regiment. Die Kapelle scheint sich dagegen aufgrund ihres Anspruchs und der Entstehungsgeschichte in die nichtstädtischen Ambitionen Jakob Fuggers glatt einzufügen. Der Erwerb der Grafschaft Kirchberg 1507 und die damit verbundene, aber noch nicht vollzogene Erhebung Fuggers in den Freiherrenstand gehen dem Stiftungsbrief zur Gründung der Kapelle an St. Anna von 1509 voraus. Der Bau dürfte – schon der zeitlichen Nähe wegen – in Zusammenhang mit der Nobilitierung stehen und der Ausdruck für den zugesicherten neuen Status sein. Dieser kann die Dimension des Baus, den Aufwand seiner Ausstattung, die mit besonderen Formen gepflegte memoria und indirekt womöglich auch den welschen Stil begründen, denn in allem wich das Vorhaben von Augsburger Gewohnheiten weit ab. Es ergibt sich wohl auch kein chronologisches Problem, denn die neuerdings angenommene Datierung der Kapellenstiftung und -planung in das Jahr 1506 ist nicht bezeugt, sondern erschlossen und keineswegs zwingend: Der Vertrag mit dem Karmeliterkonvent im Jahr 1509 schließt zwar den im März 1506 verstorbenen Bruder Georg mit ein, auch wird später (1529) in einem Dokument zum nie gelieferten Gitter der Kapelle behauptet, alle drei Brüder hätten es bestellt und bezahlt.82 Doch besagt dies nichts über die tatsächliche Beteiligung Georgs an einer Planung noch 1505/6. Die gemeinsame Absicht und die Überlegungen der drei Brüder, vielleicht auch erste Verhandlungen mit dem Konvent, sind zu dem frühen Zeitpunkt durchaus möglich. Doch dass es schon eine konkrete, das heißt zeichnerische Projektierung gab und die Arbeiten bereits begonnen waren, dass 1507 Kirchberg während der Bauzeit erworben worden sei und die Familie also mitten im ehrgeizigen Unternehmen die Standeserhebung erfahren habe, ––––––––– 81

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Mit dem Diplom entfiel der lehensrechtliche Zusammenhang; die Familie war zudem zurückhaltend und klug genug, den Titel erst zu führen, als sie vom alten Adel anerkannt war. Als 1538 in das stark dezimierte Patriziat durch den Rat 39 neue Familien aufgenommen wurden, waren unter diesen auch die Fugger. Von Pölnitz: Fugger (wie Anm. 10), S. 351, 355. Text des ‚Freibriefs‘ bei Düvel: Gütererwerbungen (wie Anm. 69), S. 200–202. Bushart: Fuggerkapelle (wie Anm. 12), S. 17f., 175; hierzu Anm. 106.

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die anspruchsvolle Kapelle gewissermaßen eine nachgereichte Rechtfertigung erhalten habe oder Ausdruck des dann schnell erfüllten Wunsches gewesen sei, den Adelsrang zu erlangen 83 – dies erscheint wenig plausibel. Vielmehr war es Usus, auch Verstorbene als Rechtspersönlichkeiten zu betrachten und in Vertragswerke einzubeziehen; gerade dies scheint hier bei dem Bruder Georg der Fall gewesen zu sein.84 Man wird sehr wohl zu dritt über das Ganze nachgedacht haben, doch wie es geplant und ausgeführt wurde, dürfte die neue Würde voraussetzen. Die Kapelle scheint zu sehr durch einen bestimmten Habitus geprägt, als dass man schon 1505/6 eine solche Planung erwarten dürfte. Anlass vielleicht nicht für die Errichtung überhaupt, doch für Größe, Ausstattung und Aufwand scheint die Standeserhebung zu sein.85 Die Planung fiel wahrscheinlich in die Zeit nicht allzu lange vor dem Vertrag vom 7. April 1509. Die Kapelle gehört zur selbstgewählten, neudefinierten Rolle der Fugger und hängt zusammen mit deren Drang, international zu agieren und auch entsprechendes Verhalten an den Tag zu legen; sie ist eines der Zeichen für die angestrebte Exklusivität, auch für ein distanziertes Verhältnis zur städtischen Gesellschaft. Daher korrespondiert sie einem Lebensstil der Familie und bestimmten Verhaltensweisen, die deren exzeptionelle Position in der Stadt bezeugen und damals allgemein wahrgenommen, durchaus auch kritisiert wurden. Dem bislang unbekannten materiellen Aufwand und der im Ganzen wie in den Details abweichenden Gestaltung des Kapellenbaus entsprechen Nachrichten über Auftreten, Luxus und prächtige Hochzeiten der Familie (z. B. 1497 Anna Fugger, 1516 Ulrich d. J.), die den Bruch mit dem Althergebrachten feststellten. 86 ––––––––– 83

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Dies führt Oexle: Gedächtnis (wie Anm. 15), S. 46 als „zentrales Motiv im Bereich profaner Gründe für die Stiftung“ an: eine mildere Variante der von Tönnesmann: Anfänge (wie Anm. 12) behaupteten ‚Forderung‘ nach Privilegien. Hieran erinnert in diesem Zusammenhang Oexle: Adel (wie Anm. 15), S. 347. Als andere chronologische Möglichkeit bliebe freilich zu bedenken, ob die Verhandlungen mit dem Kaiser über die Grafschaft Kirchberg und die Adelserhebung schon vor 1506 geführt wurden, wofür jedoch kein Beleg bekannt ist. Die Mitteilungen sind aufschlussreich, wenngleich jene von traditionell geprägten, obendrein reformatorisch orientierten Chronisten tendenziös sind. Wilhelm Rem, ein Schwager Jakob Fuggers, und der Maler Jörg Breu d. Ä. schrieben mit einem Ressentiment gegen das Altgläubige und sahen in den Fuggern eine Familie, die einen allgemeinen Wertewandel, wenn nicht -verfall auslöste. Ähnliche Verhaltensweisen kritisierten sie dagegen nicht bei den Welsern, die ebenfalls sehr vermögend waren, sich aber der Stadt verbunden zeigten. Während diese als alteingesessene Patrizier Vertrauen genossen, galten die Fugger Rem und Breu, dem Reichtum überhaupt suspekt gewesen zu sein scheint, offenbar als Aufsteiger. Der Benediktiner Clemens Sender steht den katholischen Fuggern näher, lobt ihre Kirchen- und Kaisertreue (zählt dabei die Besuche des Kaisers und päpstlicher Gesandter in den Fuggerhäusern auf), bewundert den fürstengleichen Lebensstil. Vgl. z. B. Rem: Cronica, ed. Roth (wie Anm. 21), S. 66, 109f., 115–117 (von grosser hoffart und grossen spil und ander bes sitten, das die kaiserlichen her haben bracht), S. 272 (bei der Hochzeit Anna Fuggers will Rem die Anstiftung zu den adeligen sitten, das vor nie mer hie geschechen was, durch die Kaufleute erkannt haben). – Die Chronik des Augsburger Malers Georg Preu des Älteren 1512–1537. Hg. von Friedrich Roth. Leipzig 1906 (Die Chroniken der schwäbischen Städte. Augsburg 6; Die Chroniken der deutschen Städte vom 14. bis ins 16. Jahrhundert 29) S. 53f., 59. – Die Chronik des Clemens Sender von den ältesten Zeiten

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Manches am Verhalten wurde während der ersten Jahrhunderthälfte als adeliche sitten, Hoffart, Verschwendung und Zurschaustellung von Reichtum verstanden und galt daher als unbürgerliches Gebaren und Verletzung der traditionellen Gewohnheiten. Man sah die Tugend des Maßhaltens und die gehörige Einordnung der Familie in die städtische Gemeinschaft missachtet, vermisste eine wirkliche Bindung an die Stadt. Was als Verfall herkömmlicher Sitten erschien, war in der Tat ein Wandel der Werte, den die Fugger im Lauf der Zeit zunehmend verkörperten. Sie waren im Wesentlichen nur durch das Bürgerrecht und den Familiensitz an Augsburg gebunden. Die konnubiale Integration begann sich allmählich zu lockern, da ab 1497 auch Ehepartner außerhalb der städtischen Oberschicht gewählt wurden und 1503 Heiratsverbindungen mit dem schwäbischen Adel einsetzten. 87 Die Fugger zeigten kaum stadtpolitisches Engagement, pflegten ein gewisses Desinteresse und hielten Distanz; dies alles wurde durchaus als provokante Isolation empfunden. Jakob umging immer ein arbeitsaufwendiges Ratsamt. Zugehörigkeit im Sinn des alten Systems, die die Familie nicht anstrebte, war durch den beispiellosen Erfolg ihrer Handelsgesellschaft vielleicht auch nur mehr schwer möglich. Da sie mehr und mehr für das „Prinzip individueller Leistung“ standen, „das sich selbst verpflichtet ist“, repräsentierten die Fugger einen veränderten Typus des Bürgers, der sich aus der Bindung an die Stadt löst, international als Unternehmer auftritt und schließlich Landbesitzer wird. Bereits unter Jakob bildete sich diese ‚Sonderstruktur‘ der Familie heraus, die sich nach ihm weiterentwickelte. Gegen die traditionellen Wertvorstellungen der Stadt entstanden andere, die statt der Gemeinschaft das Individuum sowie Familie und Firma zum Maßstab haben. 88 Gleichzeitig trug jedoch die soziale Stiftung einer Siedlung für verarmte, hilfsbedürftige Bürger der Stadt, die sogenannte Fuggerei, zu einem günstigen Urteil bei, da sie stets Anlass für das Lob der Mildtätigkeit und Großzügigkeit war. 89 Sie entsprang freilich nicht allein dem Kalkül, das Bild –––––––––

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der Stadt [Augsburg] bis zum Jahre 1536. Hg. von Friedrich Roth. In: Die Chroniken der schwäbischen Städte. Augsburg. Bd. 4. Leipzig 1894 (Die Chroniken der deutschen Städte vom 14. bis ins 16. Jahrhundert 23), S. 1–404, hier S. 93, 103, 115f., 153–155, 167–171, 184 (bei der Hochzeit Anton Fuggers 1527 ist es herlich und kostlich zugangen, und haben die kinig, fürsten und herrn ir botschaft mit groser vererung auff die hochzeit geschickt […] da ist jedermann fürstlich gehalten worden, und darneben der armen auch nit vergessen worden). Zur Chronik des Jörg Breu s. Pia F. Cuno: Art and politics. Jörg Breu the Elder and the fashioning of political identity ca. 1475–1536. Leiden u. a. 1996 (Studies in medieval and reformation thought 67), S. 32–61. 1497 heiratete Anna Fugger Georg Thurzo, dessen Familie spätestens im 16. Jahrhundert zum ungarischen Adel zählte. Von ihren Schwestern ehelichte Ursula Fugger 1503 den Ritter Philipp von Stein zu Jettingen und Sibylla Fugger 1512 den Ritter Hans Marx von Bubenhofen. Eine Zäsur markiert allerdings erst die Verleihung des erblichen Reichsgrafenstandes an Raimund, Anton und Hieronymus Fugger im Jahr 1530, da deren Kinder sich nun systematisch mit dem höheren Adel Süddeutschlands und der habsburgischen Erblande verbanden. Häberlein: Fugger (wie Anm. 10), S. 188–191. Mörke: Fugger (wie Anm. 10), S. 158f., 161. Besonders anerkennend äußerte sich der den Fuggern ergebene Clemens Sender; Sender: Chronik, ed. Roth (wie Anm. 86), S. 168f.

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der Familie in der öffentlichen Wahrnehmung zu beeinflussen; denn das wohltätige Anliegen, die ehrlich empfundene Verpflichtung des Reichtums zur Barmherzigkeit ist nicht zu bezweifeln. 90 Die Familienkapelle ist das frühe Produkt der Fugger’schen Sonderstellung, freilich erschöpft sich das Zeichenhafte an ihr nicht in der unmittelbaren Wirkung durch Aufwand und neuen Stil. Die religiöse Dimension und die Ikonographie der Ausstattung hier einmal beiseitegelassen, ist die zeitliche Koinzidenz innerhalb weniger Jahre von Erwerb der Grafschaft Kirchberg 1507 und der damit verbundenen, 1511/14 vollzogenen Erhebung in den Freiherren- und Grafenstand sowie der Kapellenplanung und des -baus auffallend. Die Adelsambition, in der sich die kritisierten Verhaltensweisen der Prachtentfaltung und der Separation von der städtischen Gesellschaft gewissermaßen verdichteten,91 bestimmte eine Intention der Kapellenstiftung, die das gewohnte Familiengedächtnis überstieg: die memoria des Stifters und seiner Familie, die wachzuhalten war und durch den Bau selbst und seine Bildwerke und Inschriften sowie durch die im Stiftungsvertrag vereinbarte Liturgie garantiert werden sollte. 92 Raum und Funktionen sind Formen, das Gedächtnis zu gestalten.93 ––––––––– 90

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Zur Fuggerei: von Pölnitz: Jakob Fugger (wie Anm. 10), Bd. 1, S. 349–356, Bd. 2, S. 370– 374, 482f.; Marion Tietz-Strödel: Die Fuggerei in Augsburg. Studien zur Entwicklung des sozialen Stiftungsbaus im 15. und 16. Jahrhundert. Tübingen 1982 (Studien zur Fuggergeschichte 28); Scheller: Memoria (wie Anm. 15), S. 127–172. Vgl. zum weiteren Erhalt der Stiftung nach seinem Tod Jakob Fuggers zweites Testament vom 22. Dezember 1525, Text bei Bushart: Fuggerkapelle (wie Anm. 12), S. 428–432, hier S. 432. – Oexle: Gedächtnis (wie Anm. 15), S. 49 erklärt in der doppelten Rolle der Fugger als Bürger und Adlige die Fuggerei als „Nachweis der Einfügung […] in die Kommunität der Stadtbewohner“, aus Freigebigkeit und „zum Wohl der Stadt“ und stellt dem die Kapelle als Mittel entgegen, die ständische Qualität der Stifter zu zeigen. Dies ist womöglich eine zu klare Kontrastierung, dürfte aber eher zutreffen, als die Fuggerei mit fürstlichen Gründungen von Idealstädten zu verbinden: Tönnesmann: Anfänge (wie Anm. 12), S. 304–306. Die zwei zitierten Chronisten Rem und Breu warfen den Fuggern allerdings nicht ihren Stand vor, vielmehr den Habitus und die Verletzung des alt-städtischen Wertesystems. Hierzu vor allem Oexle: Adel (wie Anm. 15) und eingehender zur Fuggerkapelle ders.: Gedächtnis (wie Anm. 15). Zur memoria aus den zahlreichen Arbeiten Oexles außerdem: Art. ‚Memoria, Memorialüberlieferung‘. In: Lexikon des Mittelalters. Bd. 6. München, Zürich 1993, Sp. 510–513; Memoria und Memorialbild. In: Memoria. Der geschichtliche Zeugniswert des liturgischen Gedenkens im Mittelalter. Hg. von Karl Schmid und Joachim Wollasch. München 1984 (Münstersche Mittelalter-Schriften 48), S. 384–440; Memoria als Kultur. In: Memoria als Kultur. Hg. von Otto Gerhard Oexle. Göttingen 1995 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 121), S. 9–78. Scheller: Memoria (wie Anm. 15), S. 47–100 und ders.: Gedenken (wie Anm. 15) sucht in der Absicht, Oexles Interpretation zu präzisieren, den Bau samt seiner Ausstattung und die Liturgie aufeinander zu beziehen. Was dabei an die Darstellung der Leichname, die Putti, Delphine etc. der beiden mittleren Epitaphien geknüpft wird, ist eher eine Frage des Grabmaltypus und der (gerade in diesen Bereichen bei Scheller und Bushart keineswegs geklärten) Ikonographie als des Stils, wenngleich Motive wie die Putti mit der Rezeption der italienischen Kunst verbunden sind. Wege und Abwege dieser Deutungen zur Erklärung der Kapelle sollen hier nicht besprochen werden.

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Noch vor der Fertigstellung zeichnete sich ein gewisser Wandel in der Funktion der Kapelle ab, der durch die konfessionellen Veränderungen in den 1520er Jahren dann verschärft, geradezu erzwungen wurde. Er ließ das von Anfang an selbstverständlich mitbestimmende Motiv der memoria in den Vordergrund treten. In der päpstlichen Bestätigungsbulle von 1517 und im zweiten Stiftungsbrief von 1521 ist von einem der ursprünglichen Stiftungszwecke der Kapelle, die Kirche zu erweitern, nicht mehr die Rede. 94 Die Funktion als Seelgerät und Zeichen des Dankes für das Handelsglück der Familie wurde zunehmend von der alleinigen Memorialfunktion abgelöst, ‚Ehre und Gedächtnis‘ wurden schließlich von der liturgischen Funktion separiert. Gemäß dem Stiftungsbrief von 1521 sollte die Kapelle nur sehr eingeschränkt der Gemeinde bei den Gottesdiensten in der Kirche zur Verfügung stehen, ansonsten aber jederzeit abgesperrt bleiben und nur zu den Messen laut der Regelungen geöffnet werden.95 Das Anliegen der memoria wurde in Jakobs zweitem Testament vom 22. Dezember 1525 schließlich noch deutlicher, denn angesichts der im Karmeliterkloster eingezogenen Reformation (dieweyl diser zeit das wesen inn offtbemelltem closter […] und auch an anndern orten, sich annderst dann vor erzaigt) gestattete Jakob seinen Neffen, die Stiftungen ganz oder teilweise zu unterlassen oder auch zu ändern. Zumindest im wesen und gebeu aber sollte die Kapelle unterhalten werden. Hiermit war die Voraussetzung gegeben, die ursprünglich nur unter anderem intendierte Denkmalfunktion der Stiftung von der des Seelgeräts zu trennen; auch ohne die (in der Kirche lutherischer Konfession nicht mögliche) katholische Liturgie soll die Kapelle zu ehre unnd gedechtnus mein unnd meiner brüder seligen, auch meiner vettern unnd aller unnserer nachkommen dienen.96 Das selbstverständliche, weil derartigen Stiftungen mit Grablegen inhärente Motiv der memoria hatte bei den Fuggern offenbar besonderes Gewicht: Mit den ungewöhnlichen Dimensionen des Ganzen, dem Bild zweier Stifter als Verstorbenen, dem nicht eben zurückhaltend verwendeten Wappenzeichen der Lilie und der aufwendigen liturgischen Stiftung (Messdienste samt Prozession, Orgel, Organist etc.) scheint das Gedächtnis für Stadtbürger stark inszeniert – doch der stets angelegte Maßstab des ‚Bürgerlichen‘ trifft eben nicht zu, vielmehr der des ––––––––– 94 95

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Bushart: Fuggerkapelle (wie Anm. 12), S. 34, s. auch S. 33 und Anm. 89. Bei der monatlichen Messe mit Prozession durch die Kirche bis zur Kapelle war immerhin an das volck gedacht, das an dem loblich ampt mit derr Orgell gesungenn teilnehme; Gesellschaftsvertrag 1521: ebd., S. 423; hierzu auch S. 35. Fraglich ist, ob die anscheinend seltene Nutzung der Kapelle durch die Mönche berechtigt, von einer Verwendung „als neuer Chor der Kirche“ zu sprechen (S. 34). Der Text ebd., S. 428–432, hier S. 432. Die Kapelle verblieb, nachdem die Reformation offiziell eingeführt und St. Anna 1548 eine der evangelischen Pfarrkirchen geworden war, Besitz der Fugger. Die Neffen Raymund und Hieronymus wurden während der Zeit, da die Kirche geschlossen war, 1535 und 1538 in der Gruft noch beigesetzt; die Kapelle konnte aber seit 1649 als Chor für den evangelischen Gottesdienst genutzt werden, besondere Bedeutung hatte hierfür die Orgel; ebd., S. 35f., 41–58 (zu Nutzungen, Veränderungen, Wiederherstellungen). Ein Deutungsversuch zu Änderungen des ikonographischen Programms nach 1525 bei Scheller: Memoria (wie Anm. 15), S. 185–198.

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adligen Standes. Memoria, das Gedenken von Herkunft und Abstammung einer Familie, gehört wesentlich zu ‚Adel‘, ein Geschlecht gründet sich auf memoria, sie schafft Adel erst eigentlich und damit auch die Legitimation von Herrschaft und Macht.97 Die herausragende Stellung eines Geschlechts, die auf der Überzeugung von dessen besonderen und durch Generationen weitergegebenen Eigenschaften, Fähigkeiten etc. beruht, bedarf der Tradition, die durch das Gedenken, und zwar vor allem der stets in die jeweilige Gegenwart hereingenommenen Toten, hergestellt wird. Darin konzentriert sich der unabdingbare Bezug auf die Vergangenheit, die um so ehrwürdiger und wirksamer erscheint, je weiter sie zurückliegt, je älter mithin ein Geschlecht ist. So wird memoria konstituiert; sie prägt das Bewusstsein der Gruppe, Familie etc. und wird in bestimmten Formen, in Bauten und Monumenten, Bildern, Texten und Ritualen bewahrt und weitergetragen. 98 Zugleich wird mit solchen Zeichen auch der bereits durch lange Dauer stets gewachsene Ruhm weiter gemehrt. Da memoria ‚Adel‘ ausmacht, haben Gräber und Gedächtnismale besondere Bedeutung für die Vorstellung von ‚Haus‘ und ‚Geschlecht‘, gerade auch für deren Entstehung und Ausbildung. Diese Erscheinungsform des ‚kulturellen Gedächtnisses‘, in der (neben anderem) Erinnerung sich objektiviert, wählten die Brüder Fugger, als sie die Gelegenheit zu einer außerordentlichen Familienkapelle erhielten und ihrerseits versprachen, ein pretiosum opus einzurichten. Der Bau war auch als Erweiterung des Kirchenschiffs vorgesehen, doch sollten sie darin ihre Toten bestatten können, und nach dem Tod der Stifter durften die Erben ihres Namens, Geschlechts und Wappens (sui nominis et progeniei et armorum) ihre Schilde und Wappen an die Wände hängen. Der Stiftungsvertrag richtete alles bereits wie für eine Familie von Stand aus (schloss auch die memoria der Eltern der Stifter ein und beschränkte Bestattungen auf die agnatische Deszendenz); er zielte auf Zukunft (in ewig Zeit) und verfügte die unveränderte Erhaltung des Raumes, damit die memoria ungemindert bewahrt werde. 99 Da die Kapelle schließlich zur alleinigen Familienmemorie umzuformen war, konnte im so großen Format ein auch öffentlich zugänglicher Gedenkort geschaffen werden, der bereits durch seinen Aufwand repräsentativ war. Darüber hinaus bildete aber der traditionsreiche Typus der Grabkapelle selbst aufgrund seiner Konnotation mit Vergangenheit und Erinnerung und seinen diversen Zeichen ein Mittel, ‚Adel‘ der Stifter anzuzeigen – in diesem Fall aber vor allem, ‚Adel‘ überhaupt erst zu schaffen. Die Lage war speziell: Es bedeutete keine sonderliche Schwierigkeit, dass ––––––––– 97 98

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Zum folgenden Oexle: Adel (wie Anm. 15) und ders.: Gedächtnis (wie Anm. 15). Oexle: Adel (wie Anm. 15), S. 339–345; Oexle stützt sich hier vor allem auf das Konzept von ‚Erinnerungskultur‘ und ‚kulturellem Gedächtnis‘ nach Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München 1992 (u. ö.), hier S. 71 die Formel: „Herrschaft braucht Herkunft.“ Die Zitate aus den beiden Stiftungsbriefen 1509 und 1521: Bushart, Fuggerkapelle (wie Anm. 12), S. 413 und 423. Memoria ist (außer in der Stiftung insgesamt) nicht nur in den Epitaphien, Inschriften und Wappen, sondern auch den Porträts (von Jakob Fugger und Kaiser Maximilian I.) auf den beiden großen Orgelflügeln formuliert. Vgl. Oexle: Memoria und Memorialbild (wie Anm. 92) und ders.: Memoria als Kultur (wie Anm. 92), S. 45.

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die Anlage zunächst nur auf den in Aussicht gestellten Adelsrang zielen konnte, der dann 1511 und 1514 verliehen wurde. Mit der Kapelle musste nicht etwa zur Zeit ihrer Errichtung der Adelsrang ‚gefordert‘ oder herbeigewünscht werden.100 Das Vorhaben war vielmehr in weite Zukunft eines adligen Geschlechts gerichtet und unterstrich einen Anspruch. Darin lag jedoch die eigentliche Schwierigkeit: Zukunft im Verhältnis zu Herkunft. Denn dem neuen Adligen Fugger und seiner Familie fehlte, was ‚Herkunft‘ erst ausmacht und ‚Adel‘ begründete, die Dimension der Zeit. Es gab noch keine Vergangenheit, um Adelsqualität zu schaffen, Gedächtnis herzustellen und fama zu mehren, die Tradition der Verehrung von Toten aufzubauen, somit Familie von Stand zu werden und dies ins Bewusstsein der Lebenden zu bringen. Es gebrach an der Voraussetzung der memoria und allem, was aus ihr folgte. Daher sollte memoria durch die Kapelle begründet und somit ‚Adel’ zeichenhaft überhaupt erst konstituiert werden, auf dass die Fugger ein ‚Geschlecht‘ würden. Die Kapelle mit der Grablege war nötig als Ort, an dem Gedächtnis gepflegt werden konnte. Jakob verfolgte mit dem Bau den Plan, nomen et progenies et arma zu schaffen und eine Verwandtschaftslinie zu begründen, damit der Familie Adelsqualität zuwachse. Zunächst war nur auf das prospektive Moment von memoria zu bauen, bevor dann Erinnerung und aktives Gedenken ihre den Adel begründende Wirkung entfalten würden und eine Rückwirkung stattfände. So mussten vorerst Rang, Ruhm und adliger Stand der Fugger dargestellt und verkündet werden, memoria und fama waren bei einem gerade erst etablierten ‚Haus‘ zuvörderst in die Zukunft gerichtet. Die Retrospektive hatte danach – je länger, desto intensiver – dessen Status im allgemeinen Gedächtnis zu verankern. 101 In den Zusammenhang von Adel und memoria gehört der welsche Stil nicht zwingend, denn wenngleich Rückbezüge auf ‚Antike‘ als idealisierte Zeit häufig waren und Stilisierungen der Genealogie eines Geschlechts oft die Abstammung von antiken und mythischen Gestalten behaupteten,102 so wurde doch im Norden der Stil der italienischen Renaissance meist nicht als rinascità der Antike wahrgenommen, sondern war die neue Manier aus dem bewunderten prosperierenden Süden. Eine gewissermaßen ursächliche Verbindung zwischen ––––––––– 100

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In diesem Sinn aber – wie bereits angedeutet – Oexle: Gedächtnis (wie Anm. 15), S. 46– 48, der Kapelle und Nobilitierung in keinen unmittelbaren kausalen Zusammenhang bringt, da er Busharts Frühdatierung der Planung übernimmt und die Erhebung in den Adelsstand als einen unerwartet schnell eingetretenen Erfolg betrachtet. Oexles Interpretation trifft cum grano salis auch zu, wenn sich nun seine Annahme nicht bewahrheitet, die Kapelle sei vor der sicheren Aussicht auf die Standeserhöhung projektiert worden. Vgl. als abschließenden Satz ebd. S. 49: Die Kapelle solle die ständische Qualität der drei Stifter durch die Begründung einer memoria, „der damit verbundenen Manifestationen eines kulturellen Gedächtnisses und der daraus resultierenden Fama dokumentieren und darin die ‚gedachte‘ und vorwegnehmend geschaffene Wirklichkeit eines Adels-Geschlechts der Fugger durch Memoria zum Ausdruck bringen und fortschreitend in die Wirklichkeit überführen.“ Allgemein: Gerrit Walther: Adel und Antike. Zur politischen Bedeutung gelehrter Kultur für die Führungselite der Frühen Neuzeit. In: Historische Zeitschrift 266 (1998), S. 359– 385.

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Stilwahl und Gedächtnis ist kaum zu erweisen, vielmehr zählt die stilistische Erscheinung gemeinsam mit den anderen Charakteristika der Kapelle zu den Mitteln, mit denen die Stifter, vor allem Jakob Fugger, nach der Demonstration einer herausragenden Stellung strebten. Exklusivität ist der gemeinsame Rahmen für Adelsambition und memoria (die unmittelbar zusammengehören), Aufwand und Pracht sowie die außergewöhnliche Form. Die Wahl des Stils bedient das Bedürfnis nach dem Anderssein, welches das von der Stadtgesellschaft akzeptierte Maß vielleicht gerade noch nicht überstieg, und war gerade jener formale Teil an der Stiftung, der das Ganze so singulär machte; denn Aufwand wäre auch in anderen Formen denkbar gewesen. Die ‚Grafung‘ des Bürgers und die italienische Manier – beides setzte sich am deutlichsten über die Norm hinweg. Die vor 1510 in einer Stadt nördlich der Alpen außerordentliche Architektur der Fuggerkapelle und die mangelhafte Kenntnis über die Planung und deren Zeitpunkt zwingen zur Frage nach dem Entwerfer des Gesamtkonzepts von Architektur und Ausstattung. Seit Beginn der Forschung waren ein anonymer italienischer Baumeister oder der in den venezianischen Quellen genannte Hieronymo Thodesco (der damals, 1506/7, am Wiederaufbau des abgebrannten Fondaco dei Tedeschi in Venedig beteiligt war), Sebastian Loscher oder (zumindest als einflussreicher Anreger) Hans Burgkmair vorgeschlagen worden. 103 Seit 1962 wurde verschiedentlich angenommen, die Fugger hätten den schon damals prominenten Dürer für einen Entwurf zu ihrer Grabkapelle gewinnen können.104 Allein diese neuerdings wieder verfochtene These um Dürer als Architekten bleibt diskutabel, nachdem kaum etwas an den übrigen Vorschlägen überzeugt und sie mittlerweile fast einhellig abgelehnt werden. Für diese Annahme spricht (nach Busharts Meinung) mehreres: Dürer hielt sich 1505 auf seiner zweiten Venedigreise in Augsburg auf und portraitierte die drei Brüder Fugger in Zeichnungen, er zeichnete in Venedig auch nach neuer Architektur und hielt einzelne Motive fest, die in der Kapelle zu finden sind; ––––––––– 103

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Für einen Italiener oder jenen Hieronymo plädierten z. B. Weinbrenner: Grabkapelle (wie Anm. 5), S. 1, ders.: Geburtsstätte (wie Anm. 5), S. 77f. und Groeschel: Renaissancebauten (wie Anm. 5), S. 243f. Für Loscher (wegen der SL / LS signierten Zeichnung, s. Anm. 13) stimmten u. a. Halm: Daucher (wie Anm. 11), S. 24f., Lieb: Fugger (wie Anm. 5), S. 193– 195 und 442–444 (Exkurs von Feuchtmayr), Lieb: Baukunst (wie Anm. 5), S. 230 und 232 sowie Müller: Loscher (wie Anm. 42), S. 153, 185–193. Mit Einfluss Burgkmairs rechneten Lieb: Baukunst (wie Anm. 5), S. 239, ders.: Fugger 1958 (wie Anm. 5), S. 269 und bereits Halm, ebd., S. 68, 83, 93f. Zweifel an Loschers Autorschaft haben Hitchcock: Architecture (wie Anm. 12), S. 11 und Falk: Burgkmair (wie Anm. 9), S. 102, Anm. 335. Für den Nürnberger Peter Flötner plädierte Albrecht Haupt: Peter Flettners Herkommen und Jugendarbeit. In: Jahrbuch der Königlich Preußischen Kunstsammlungen 26 (1905), S. 116–135 und 148–168, hier S. 123–135. Diese und weitere Meinungen diskutiert Bushart: Fuggerkapelle (wie Anm. 12), S. 96–99. Zuerst: Büchner-Suchland: Hieber (wie Anm. 48), S. 86f.; danach John Rowlands: Holbein. The paintings of Hans Holbein the Younger. Complete edition. Oxford 1985, S. 28f. Bushart selbst nannte bereits 1980 Dürer als Entwerfer. S. Welt im Umbruch. Augsburg zwischen Renaissance und Barock. Bd. I [Ausstellungskatalog]. Augsburg 1980, S. 122f.

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andere kommen bereits in älteren graphischen Blättern vor. In der Graphik finden sich sowohl perspektivische Raumeinblicke (wie im Schaubild der Fuggerkapelle, Abb. 2, S. 452) als auch die Kombination italianisierender und gotischer Formen, vor allem die offene quadratische Halle in Renaissancemanier mit traditionellem Rippengewölbe. Der architektonischen Struktur der Kapelle entspreche am besten in der Zeichnung der ‚Hl. Familie in der Halle’ (1509) jener an drei Seiten offene Baldachin, dessen Säulen und Pilaster ein Tonnengewölbe mit unterlegtem Rippennetz tragen und der wie ein vergrößertes Exemplar des Baldachins in Burgkmairs Holzschnitt der ‚Lukasmadonna‘ von 1507 wirkt.105 Wichtiges Argument für Dürer sind selbstverständlich seine sechs Zeichnungen für zwei der Epitaphien in der Kapelle, mit denen er schon früh, 1506, an dem Projekt beteiligt gewesen sei.106 Zudem sei niemand außer Dürer intellektuell und gestalterisch zu diesem künstlerischen und geistigen Gesamtkonzept befähigt gewesen. 107 ––––––––– 105

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Zu der 1509 datierten Zeichnung (Basel, Öffentliche Kunstsammlungen, Kupferstichkabinett Inv. Nr. 1851.3.): Friedrich Winkler: Die Zeichnungen Albrecht Dürers. Bd. 2. Leipzig 1937, S. 133f., Nr. 466. Möglicherweise handelt es sich um eine Visierung für ein Gemälde; nach diesem Blatt malte – mit Veränderungen – Jörg Breu d. Ä. um 1515 das Altarbild in der Wallfahrtskirche Aufhausen (bei Straubing); hierzu Bushart: Fuggerkapelle (wie Anm. 12), S. 102–104, der die Zeichnung für eine „Weiterentwicklung der ersten Planungsideen der Kapelle“ hält (S. 103). – Zu Burgkmairs Holzschnitt der Madonna, die vom hl. Lukas gemalt wird (1507): Falk: Burgkmair (wie Anm. 9), S. 62; Hans Burgkmair (wie Anm. 9), Nr. 16. Winkler: Zeichnungen (wie Anm. 105), S. 144–147, Nr. 483–488. Zwei der Zeichnungen (Nr. 484f.) sollen bereits 1506 in Venedig entstanden sein (Bushart: Fuggerkapelle [wie Anm. 12], S. 107, 124f.; Walter L. Strauss: The complete drawings of Albrecht Dürer. Bd. 2. New York 1974, S. 964–967, Nr. 1506/40 und 41; vgl. auch Strieder: Rezension [wie Anm. 14], S. 702), drei andere sind 1510 datiert. Auch dies ist freilich noch These. Die konstatierten Bezüge zur italienischen Grabmalsplastik in Florenz und Venedig bestehen sicher, doch scheinen sie für die frühe Datierung nicht nötig. Bushart rekonstruiert als Chronologie: 1505 erhielt Dürer den Auftrag zum Entwurf der Kapelle, zeichnete ein Schaubild (die Vorlage der erhaltenen Zeichnung, Abb. 2, S. 452), besprach bei seinen Aufenthalten in Augsburg auf dem Weg nach und von Venedig mit den Auftraggebern Bau und Bildprogramm; während der Bau nach seinem Plan begonnen wurde, verzögerte sich die Arbeit an den Entwürfen zu den Epitaphien bis 1510. Zur Dürer-These, von der hier nicht alle Argumente referiert sind: Bushart: Fuggerkapelle (wie Anm. 12), S. 99–111, bes. S. 107, zu den Epitaphien S. 114–172, bes. S. 115–142. Zudem sollen diese frühe Datierung der Planung und Dürers Autorschaft durch den Auftrag für das Kapellengitter an die Gießerhütte Peter Vischers d. Ä. in Nürnberg im Jahr 1506 gestützt sein, denn in der Gerichtsakte zum Abkommen zwischen der Familie Fugger und den Vischer über das bis 1529 noch nicht gelieferte Gitter heißt es, es sei von den drei Brüdern Georg, Ulrich und Jakob Fugger angedingt und bezahlt worden (ebd. S. 433; hierzu S. 17f. und 107). Muss dies aber wirklich heißen, dass es vor dem Tod Georgs 1506 bestellt wurde, und ist daher in jenem Jahr bereits eine relativ genaue Planung der Kapelle samt Maßen vorauszusetzen? Wahrscheinlicher ist, wie oben angedeutet, dass der Verstorbene neben den Brüdern als Auftraggeber genannt wurde, wie er im Stiftungsbrief von 1509 als Stifter aufgeführt ist, und dass das Gitter später bestellt wurde. Als Argument für das frühe Datum und damit für Dürers Entwurfsarbeit scheint dies nicht geeignet. Vgl. ebd., S. 366 und 86: Der Entwerfer des Ganzen sei „einer der Vordenker seiner Zeit […], vertraut mit altdeutschen wie niederländischen und italienischen Raumdarstellungen“,

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Gegen Dürer spricht, dass jeder dokumentarische Beleg für seine Beteiligung fehlt (sowohl in den Fugger- wie den Dürer-Quellen), dass es keine Erwähnung bei den Zeitgenossen etwa aus Dürers Umgebung (oder auch bei Antonio de Beatis) gibt und dass sechs Zeichnungen für die Epitaphien erhalten sind, doch keine einzige zur Architektur und anderen Teilen.108 Von Dürer existiert überhaupt keine Zeichnung wie das Schaubild, das einigen bautechnischen Sachverstand voraussetzt, und es fällt schwer anzunehmen, er habe sich so gründlich mit der Baukunst in Venedig befasst, um bis zu einem umsetzbaren Entwurf zu gelangen. Auch begegnet der Stil der ‚venezianischen‘ Kapellenarchitektur nirgends mehr bei ihm.109 Dürer ist als Architekt oder Entwerfer für Architektur gänzlich unbekannt.110 Die These seiner Rolle als spiritus rector und der frühen Planung wird sich kaum gänzlich widerlegen, doch (vorerst?) auch nicht bestätigen lassen. Womöglich gab es den einen Konzeptor gar nicht; dennoch muss ein Einzelner die architektonische Grundidee entwickelt und die Formen gezeichnet haben. Es stellt sich zudem (nicht nur beim Entwurf eines Malers) die Frage nach dem ausführenden Bauleiter. Es könnte nur in Frage kommen, wer mit oberitalienischer Baukunst, dem Formenkanon und den Techniken der Steinbearbeitung vertraut ist. Dies trifft auf Hans Hieber zu, über den so wenig bekannt ist, der aber offensichtlich in Italien war und an dessen späteren Modellen und Bauten (Modell zum Augsburger Perlachturm 1519; Regensburg, Wallfahrtskirche Zur Schönen Maria 1521/22) Motive der Fuggerkapelle, etwa die Form der Pilaster mit vertieftem Spiegel und Rundscheiben, die Balustraden etc., und die Präzision der Behandlung aller Details sich wiederfinden.111 ––––––––– 108

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und daher nicht in Augsburg, etwa im Umkreis des Werkmeisters Burkhard Engelberg, zu suchen. Vgl. die Einwände von Strieder: Rezension (wie Anm. 14), S. 700–702 gegen die Zuschreibung an Dürer, die damit aber noch nicht widerlegt sei, wie Strieder einräumt; er hält auch das (nur literarisch überlieferte) gezeichnete Portrait des Georg Fugger nicht für ein vor 1506 angefertigtes Bild nach dem Leben. Vgl. ferner Eser: Rezension (wie Anm. 14), bes. S. 279. Dieses Gegenargument formuliert Bushart: Fuggerkapelle (wie Anm. 12), S. 108–111 selbst und mahnt sich zur Zurückhaltung, Dürer für den „alleinigen Inventor“ zu halten. Er vermutet die Hilfe eines sachverständigen Baumeisters, jenes vielbesprochenen Hieronymo Thodesco, der damals am Fondaco dei Tedeschi baute. Henry Simonsfeld: Der Fondaco dei Tedeschi in Venedig und die deutsch-venetianischen Handelsbeziehungen. Quellen und Forschungen. Bd. 1–2. Stuttgart 1887, hier Bd. 2, S. 107–116; John McAndrew: Venetian architecture of the early renaissance. Cambridge (Mass.), London 1980, S. 435f., 443; Huse, Wolters: Venedig (wie Anm. 37), S. 51f.; Gunter Schweikhart: Der Fondaco dei Tedeschi: Bau und Ausstattung im 16. Jahrhundert. In: Venedig und Oberdeutschland (wie Anm. 40), S. 41–49, hier S. 41f. So bleibt auch Dürers angeblicher Schritt vom Interesse an Proportionen und von gezeichneten Architekturen zur gebauten Architektur immer noch spekulativ, denn man kann Dürer naturgemäß mancherlei „zutrauen“ (Bushart: Fuggerkapelle [wie Anm. 12], S. 102, 366). Sollte Hieber am Bau der Fuggerhäuser am Weinmarkt tatsächlich beteiligt gewesen sein, wie man annimmt, spräche auch dies für eine Tätigkeit an der Kapelle; Büchner-Suchland: Hieber (wie Anm. 48), S. 87, Bushart: Fuggerkapelle (wie Anm. 12), S. 111f. Zum Per-

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Nimmt man als Bauleiter dagegen Burkhard Engelberg an, den führenden Augsburger Werkmeister, der hinsichtlich des Stils seiner Bauten und anderen Aufgaben ein Vertreter der späten Gotik war, so kehrt das Problem der gegensätzlichen Stile und der Beherrschung beider in Entwurf und Ausführung wieder.112 Die Engelberg-Werkstatt verwirklichte zwar auch fremde Planungen und führte in den 1480er Jahren andere Bauten für die Fugger aus;113 ihr die Errichtung der Kapelle aber zuzuschreiben, kommt noch nicht über die bloße Behauptung der Möglichkeit hinaus. So wichtig die Werkstatt auch war, sie ist naturgemäß bei keinem Bauwerk von neuen Formen nachweisbar, da es bis dahin keines gab; dass sie auf welsch und deutschen sitten handwerklich zu arbeiten verstand, ist zumindest zweifelhaft. 114 Man hätte sich für die Steinbearbeitung bei der Kapelle wohl hierin erfahrene Leute holen müssen. Auch für die Erfindung des Rippengewölbes bedarf es keiner (so vagen) „Herkunft aus der WerkstattTradition von Engelberg“; denn das bedeutete tendenziell wiederum, das Gewölbe als ‚altertümlichen‘ Teil des Baus der einheimischen Tradition zuzuweisen und als ‚Rest des Mittelalters‘ im Neuen zu betrachten, statt das Ganze als Einheit zu sehen, die in der bewussten Kombination der Stile etwas Eigenes gewinnt und darin typisch für die frühe Renaissance im Norden ist. Umgekehrt lässt sich Engelberg eben nicht mit Benedikt Ried und dessen Arbeiten in beiden Stilen – separat oder verschmolzen – vergleichen, da es in Augsburg allein an Gelegenheiten mangelte und die Fuggerkapelle hier ohne Voraussetzung war. 115

––––––––– lachturm-Modell: Büchner-Suchland: ebd., S. 66f.; Reuther, Berckenhagen: Architekturmodelle (wie Anm. 48), S. 37f. Nr. 39; zur Kirche der Schönen Maria s. Anm. 48. – Dagegen kommt der von Lieb: Fugger 1952 (wie Anm. 5), S. 195–197 vorgeschlagene Jakob Zwitzel nicht in Frage, da er 1509–1513 nicht in Augsburg war; Bushart: ebd., S. 111. 112 Für Engelberg als Bauleiter tritt Bischoff: Engelberg (wie Anm. 60), S. 124–134 ein; hier S. 128 der Hinweis, es finde sich ein Teil der rund 60 Steinmetzzeichen in der Kapelle (s. Lieb: Fugger 1952 [wie Anm. 5], S. 197f.) auch an spätgotischen Bauten, die „unter der Regie Engelbergs“ entstanden. Dies kann jedoch, so unpräzis wie die Auskunft über den „Umkreis“ Engelbergs ist, kaum ein sicherer Beleg für die Bauausführung der Werkstatt sein. Die Zeichen: ebd., S. 455f. 113 Ebd., S. 136–146. 114 Es kann auch kein Beweis für den unproblematischen Wechsel in die welschen Formen sein, dass die Werkstatt die romanisierende Architekturkopie des Heiligen Grabes in der Regel-Kapelle herstellte (so Bischoff: Engelberg [wie Anm. 60], S. 133); dies erforderte wohl keine vergleichbare handwerkliche Präzision wie die Architektur der Fuggerkapelle. 115 Ebd., S. 132. Man hat den Eindruck, Engelberg soll – wenngleich ihm der Gesamtentwurf zur Kapelle nicht zugeschrieben wird – zu einem vielseitigen Werkmeister stilisiert werden, der alle ‚Sprachen‘ beherrscht, die gerade benötigt werden. Doch schwankt Bischoff zwischen Für und Wider, führt ungeeignete Argumente für Engelbergs Mitarbeit an und schreckt doch vor der Konsequenz zurück. So bleibt alles noch unbestimmter als bei der Dürer-These. – Zu Benedikt Ried: Götz Fehr: Benedikt Ried. Ein deutscher Baumeister zwischen Gotik und Renaissance in Böhmen. München 1961; Franz Bischoff: Benedikt Ried: Forschungsstand und Forschungsproblematik. In: Länder der Böhmischen Krone (wie Anm. 7), S. 85–98.

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Die Kapelle war ein Gedächtnisort, der auch in Aufwand und exklusiver Gestaltung das Selbstverständnis der Familie anzeigte. Der vollen Entfaltung der memoria, zumal ihrer permanenten Verankerung durch die Liturgie, stand zwar die konfessionspolitische Entwicklung seit 1525 entgegen, doch blieb das ‚Monument‘ in der evangelischen Pfarrkirche weitgehend bestehen (bis ins frühe 19. Jahrhundert) und war auch künftig zu würdigen. Ein anderer Bau der Fugger hatte freilich mehr Präsenz in der Öffentlichkeit: Die Fuggerhäuser am ehemaligen Weinmarkt waren für die Zeit ein ungewöhnlich großer und aufwendiger privater Komplex. 116 Aus der allgemeinen, ebenfalls nicht durchwegs kleinteiligen Bebauung der Umgebung stach er durch das Format und vor allem durch seine wiederum welsche Manier heraus. Hier war die Wahl des Stils geradezu ostentativ, denn die Nachahmung italienischer Stadtpaläste vor 1500 war kaum zu übersehen. Doch betraf dies weder den Typus noch die Fassadengestaltung, sondern nur einzelne Bauteile und die Einzelformen. Der monumentale, an zwei oder drei Seiten freistehende Solitär nach Florentiner Modell, die hohe, in die Häuserflucht eingebundene Fassade mit rhythmisierten Achsen nach venezianischem Muster, die Rustica und die Pilastergliederung der Front, Balkone und große Biforienfenster – diese und andere aufwendige Möglichkeiten wurden für den Außenbau nicht gewählt. 117 Über die Gründe dafür ließe sich spekulieren, ob sich Jakob Fugger etwa scheute, mit außerordentlichen Mitteln allzu deutlich im Straßenraum seine wirtschaftliche Stellung zu zeigen und mit noch mehr Aufwand, als er sich ohnehin leistete, vom Üblichen abzustechen; ––––––––– 116

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Die Fuggerhäuser können hier nur erwähnt werden; zu Geschichte, Überlieferung und Bestand s. Lieb: Fugger 1952 (wie Anm. 5), S. 92–120 und ders.: Fugger 1958 (wie Anm. 5), S. 158–196; zur Frage des Architekten danach Büchner-Suchland: Hieber (wie Anm. 48), S. 80–84, die die Neubauten Hans Hieber zuschreibt. Der heutige, durch viele Veränderungen seit dem 16. Jahrhundert und vor allem durch die Kriegszerstörung 1944 stark fragmentierte Originalbestand erschwert sichere Aussagen. So ist man u a. auf die Beschreibung von Groeschel: Renaissancebauten (wie Anm. 5), S. 244–255 (mit Zeichnungen) angewiesen, der noch manches sah, was seither verschwunden ist, vor allem Reste der Malereien. Nachdem Weinbrenner: Grabkapelle (wie Anm. 5) als den Entwerfer der Fuggerhäuser, besonders des Damenhofes, den unbekannten Hieronymo Thodescho vorgeschlagen hatte, plädierte Groeschel für Burgkmair. S. ferner Hitchcock: Architecture (wie Anm. 12), S. 13–19 und Häberlein: Fugger (wie Anm. 10), S. 143–146. Die wenigen historischen Abbildungen der Fuggerhäuser geben Details wieder, die seit dem späten 18. Jahrhundert beseitigt wurden. Der Holzschnitt des Hans von Tirol mit der Belehnung des Kurfürsten August von Sachsen durch Kaiser Maximilian II. auf dem Weinmarkt 1566 zeigt zwei (asymmetrisch angebrachte) Balkone. Am Dachansatz stehen vier kleine Türme (zwei mit halbkugeligen Hauben). Deren Größe ist stark übertrieben; denn die Vogelschauansicht der Stadt von Lukas Kilian (1626), die Darstellung der Huldigung vor König Gustav Adolph 1632 in einem Stich von Jacob und Raphael Custos und andere Ansichten zeigen fünf Türmchen, die aber lediglich Dacherker waren, wie sie sich an vielen Häusern fanden, um Waren in den Dachboden hinaufzuziehen; hier hatten sie kleine dekorative Aufsätze (Lieb: Fugger 1952 [wie Anm. 5], Abb. 43–45 und S. 95–99). Diese Türmchen sieht man noch auf Salomon Kleiners Ansicht des Weinmarktes 1722 (oder 1732; Augsburg, Städtische Kunstsammlungen, Graphische Sammlung G 12115). Sie sind deutliches Kennzeichen, dass die Häuser dem gewohnten alten Typ entsprachen und alles Italienische den Hof, das Innere und die Dekoration betraf.

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oder ob es sich – ohne sonderliche Reflektion – von selbst verstand, dass die lokale Bautradition im Grundzug beibehalten wurde, durch die anderen Formen zwar ein neues Gewand erhielt, doch eben ‚nur‘ aktualisiert und weiterentwickelt wurde, statt dass man einen gänzlich fremden, ‚stilreinen‘ Bau dem städtischen Gefüge einfügte. Aus ursprünglich vier selbständig errichteten, traufseitigen Häusern bestehend und zu einem Ganzen vereinheitlicht,118 ergab sich eine sehr lange, 26-achsige und dreigeschossige Seite zum Weinmarkt, die durch zwei Einfahrten und die Fensterreihen, nicht aber durch architektonische Elemente gegliedert war, sondern als Schmuck flächendeckende Wandmalereien (angeblich von Burgkmair) hatte. 119 Das Innere dagegen entsprach nicht der lokalen Tradition, sondern die gewölbten Erdgeschosshallen und vor allem die drei Höfe waren all’italiana gestaltet.120 Zwar blieb alles eine Adaption welscher Stilformen im Konglomerat der Bauteile, das dem italienischen Palazzo typengeschichtlich kaum entsprach, dennoch vermittelte besonders der (später) sogenannte Damenhof mit Arkaden an drei Seiten, Marmorsäulen toskanischer Ordnung, Fresken an den Wänden, Medaillons in den Bogenzwickeln und gemalten Ornamenten in den -leibungen sowie Brüstungen mit Säulchen den Charakter venezianischer Kultur. 121 Die Anmutung eines italienischen Palazzo und ––––––––– 118

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Der Bau vereinte in seiner schließlich erreichten Größe (Länge: ca. 68 m) mehrere Gebäude, Neubauten wie ältere Häuser, die teils in ihnen aufgingen (was Einschränkungen bedeutete); einigermaßen angeglichene Trauf- und Firsthöhen suggerierten einen einheitlichen Bau. Fugger erwarb 1511 das von ihm seit 1498 bewohnte Haus seiner Schwiegermutter Sibylla Arzt, geb. Sulzer, und das nördlich benachbarte von Thomas Ehinger; der Umbau zum (dann nördlichen) Teil des späteren Ganzen erfolgte 1512–1515. Das südlich angrenzende, 1507/9 gebaute, ursprünglich zweigeteilte Haus kam 1523 hinzu; schon 1520 waren zwei rückwärtig (westlich) anstoßende Anwesen gekauft worden. Lieb: Fugger 1952 (wie Anm. 5), S. 92–94. Antonio de Beatis sah die Malereien bereits 1517 (s. Anm. 123); laut Joachim von Sandrart stammten sie von Hans Burgkmair. Groeschel: Renaisssancebauten (wie Anm. 5), S. 244f.; Falk: Burgkmair (wie Anm. 9), S. 78f.; Johannes Wilhelm: Augsburger Wandmalerei 1368–1530. Künstler, Handwerker und Zunft. Augsburg 1983 (Abhandlungen zur Geschichte der Stadt Augsburg 29), S. 332f.; Doris Hafner: Fassadenmalerei in Augsburg vom 16. bis zum 18. Jahrhundert. Augsburg 1996 (Schwäbische Geschichtsquellen und Forschungen 16), S. 375–379. Gewölbte Hallen hatte es früher bereits gegeben, doch besaßen sie bescheidene Maße und selbstverständlich keine italianisierenden Formen in Stützen und Gewölben. Höfe hatten allenfalls schmale Lauben an meist einer Seite, keine breiten Umgänge mit annähernd quadratischen Jochen. Robert Pfaud: Das Bürgerhaus in Augsburg. Tübingen 1976 (Das deutsche Bürgerhaus 24), S. 55f., Abb. 34, 66–68. Die Malereien des Hofes zeigten unter anderem Szenen nach den Miniaturen zur Holzschnittfolge des ‚Triumphzugs Kaiser Maximilians I.‘. Waagen: Kunstwerke (wie Anm. 34), S. 76f.; Groeschel: Renaissancebauten (wie Anm. 5), S. 245–255 beschreibt die in 1880er Jahren noch sichtbaren Reste der Wandmalereien im Hof, notiert das Datum 1515 und die Beschriftungen der Darstellungen; als Autor der Malereien nimmt er Hans Burgkmair an. Wilhelm: Wandmalerei (wie Anm. 119), S. 79–82, 130, 333–335, 437f.; Hafner: Fassadenmalerei (wie Anm. 119), S. 380–388; Doris Hascher: Die Auftragslage für Fassadenmalerei in Augsburg im 16. Jahrhundert. In: Kunst und ihre Auftraggeber im 16. Jahrhundert. Venedig und Augsburg im Vergleich. Hg. von Klaus Bergdolt und Jochen Brüning. Berlin 1997 (Colloquia Augustana 5), S. 95–110, hier S. 100f. Von Jörg Breu d.

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die Nachahmung der entsprechenden Repräsentationsformen ist eindeutig zeichenhaft. Die Stilwahl zeigt klarer noch als bei der Kapelle, dass das potenteste Augsburger Handelshaus das Vorbild seiner Selbstdarstellung in Habitus und Formenkanon der italienischen Handelsmetropolen als den seinerzeit wichtigsten in Europa suchte. Dadurch gaben sich die Fugger in Augsburg avanciert und überlegen. Eine gewisse Zurückhaltung lag jedoch im beschränkten Einsatz der neuen künstlerischen Mittel und der Adaption des Fremden an einen Bau, der Maßstab und Baugewohnheiten der Stadt nicht vollends sprengte.122 Gleichwohl erschienen die Fuggerhäuser wohl palastartig und boten angemessene Unterkunft für Kaiser und Gesandte, mit denen Jakob Fugger geschäftlich, also auch politisch, verbunden war. 123 Dass Kunst ein Mittel war, sich selbst darzustellen und das Ansehen seines ‚Hauses‘ zu fördern, hatte Jakob Fugger in Italien an vielen Beispielen, nicht zuletzt an den kleinen Fürstenhäusern mit ihren großen kulturellen Anstrengungen wahrnehmen können. Dies griff er auf, ließ sich ungewöhnlich oft portraitieren, erwarb die berühmten vier Basler Kleinodien aus dem ehemaligen Besitz Herzog Karls des Kühnen von Burgund124 und wählte den neuen Stil jener Welt, die sich mit dem Handel großen Umfangs sowie mit Wissenschaft und Bildung dem übrigen Europa als Vorbild empfahl, während seine beiden älteren Brüder 1490/95 zwischen Rindermarkt und der (späteren) Annastraße ihr anspruchsvolles Geschäfts- und Wohnhaus in gotischen Formen hatten errichten lassen. 125 ––––––––– 122

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Ä. stammen die in Resten erhaltenen Malereien im schmalen Mittelhof der Fuggerhäuser (1532/36); Wilhelm: ebd., S. 336f., ferner S. 76, 90, 423 Die Beschreibung der malerischen Ausstattung des Damenhofes erweist manche Ungeschicklichkeit (zumal im Verhältnis zur Architektur), die nicht auf durchwegs intime Kenntnis des Nachgeahmten schließen lässt; Groeschel: Renaissancebauten (wie Anm. 5), S. 250–252. Wilhelm: Wandmalerei (wie Anm. 119), S. 334f. will darin eine neue Selbständigkeit der Malerei gegenüber dem architektonischen Rahmen sehen. Antonio de Beatis besuchte 1517 den palazo de li Fucchari – damals nur den nördlichen Teil des späteren Komplexes – und schrieb vom Aufwand der Ausstattung, Bildern (historie) an der Fassade und den mit Kupfer gedeckten Dächern – eine hier erstmalige Neuerung in der Stadt. Zu den Innenräumen heißt es: tra li todeschi vi sonno alcuni appartamenti a la italiana bellissimi et assai bene intesi. De Beatis: Reise (wie Anm. 22), S. 96; zum Kupferdach s. Lieb: Fugger 1952 (wie Anm. 5), S. 93–96. Eine Anzahl von Portraits ist abgebildet ebd., Abb. 175–208; hier S. 82–86 zu den Stücken aus der Burgunderbeute, die bei der Niederlage Karls des Kühnen am 1. März 1476 in der Schlacht von Grandson an die Eidgenossen gefallen und dann von den Baslern lange zurückbehalten worden waren. Jakob Fugger erwarb 1504 (Kaufvertrag vom 16. September) davon das ‚Federlin‘, das ‚Gürtelin‘, die ‚Drei Brüder‘ und die ‚Weiße Rose‘ für 40.200 Gulden. Zumindest für das eine oder andere Stück dachte er wohl an Maximilian I., an den er es weiterverkaufen wollte, was mit zweien auch geschah. Hierzu Lieb: Fugger 1952 (wie Anm. 5), S. 82–86 – Doch hat auch Jakobs Frau Sibylla Arzt klainetter von gold und edlem gestain gehapt, darmit sie ain fürstein hat übertroffen, wie Clemens Sender notierte (Sender: Chronik, ed. Roth [wie Anm. 86], S. 169. Zu den burgundischen Kleinodien: Florens Deuchler: Die Burgunderbeute […]. Bern 1963, S. 121–125, Nr. 8–11; Die Burgunderbeute und Werke burgundischer Hofkunst [Ausstellungskatalog]. Basel 1969, S. 242–246, Nr. 148–151. Zum Bau am Rindermarkt: Lieb: Fugger 1952 (wie Anm. 5), S. 32–47; Bischoff: Engelberg (wie Anm. 60), S. 136–146.

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Christoph Bellot

Die Kapelle und die neuen Häuser dienten der Repräsentation im engeren Augsburger Bereich. Für das Verständnis des gesamten Handelshauses ist es jedoch bezeichnend, dass Jakob für den prestigeträchtigen Einsatz von Kunst zur Darstellung nach außen die Gebäude der Faktoreien einbezog und dass die Aufwendungen auch hierfür die – nur scheinbar – luxuriöse Form annahmen: Das Haus in Rom erhielt ephemere Dekorationen anlässlich der Papstkrönungen von Julius II. und Leo X. (1503 und 1513), sein Hof wurde um 1520 von Pierino del Vaga mit Fresken versehen. In Antwerpen notierte Dürer 1520 zur dortigen Faktorei, Fugger habe sie gar neu köstlich mit eim sondern Thurn, weit und groß, mit ein schönen Garten gebauet. 126

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Lieb: Fugger (wie Anm. 5), S. 67 und 69. Dürer. Schriftlicher Nachlaß (wie Anm. 1), Bd. 1, S. 153, 206–154, 208 (im Tagebuch der niederländischen Reise 1520: 19. August 1520).

Brigitte Sölch

Klöster und ihre Nachbarn – Konkurrenz im Blick? Neubauprojekte und Kapellenausstattungen des 16. Jahrhunderts in Augsburg am Beispiel der Dominikanerkirche St. Magdalena

Abb. 1: Vogelschau der Reichsstadt Augsburg, sog. Seld-Plan, 1521

Die Neuerrichtung und Modernisierung der dominikanischen Männer- und Frauenklöster Augsburgs1 wurde keinesfalls zufällig in einer Zeit in Angriff genommen, in der die prosperierende Handels- und Wirtschaftsmetropole von einer Bau- und Modernisierungswelle erfasst wurde, die das Erscheinungsbild der Reichsstadt zwischen 1490 und 1530 nachhaltig veränderte. Deren überregionale Bedeutung wurde schon 1521 im Seld-Plan (Abb. 1) herausgestellt, der den engen Zusammenhang von Stadt und agrarisch bewirtschaftetem Land aus der Vogelperspektive zeigt. Der Holzschnitt mit der beachtlichen Größe von 82 x 191 cm basierte auf der damals aktuellen Grundlage der Stadtvermessung durch den Goldschmied Jörg Seld. In seiner zentralperspektivischen Konstruktion, seiner hohen Qualität und Genauigkeit besitzt der Seld-Plan mit Jacopo de Barbaris meisterhafter Venedigansicht aus dem Jahr 1500 ein singuläres Vorbild.2 Er bietet deshalb auch erstmals – mit Hilfe perspektivischer Verschiebun––––––––– 1

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Vgl. für einen ersten Überblick die Einträge zu St. Magdalena, St. Katharina, St. Margareth und St. Ursula in: Bernt von Hagen und Angelika Wegener-Hüssen: Stadt Augsburg: Ensembles. Baudenkmäler. Archäologische Denkmäler. München 1994 (Denkmäler in Bayern 83 VII). Vgl. Anja Schmidt: Augsburger Ansichten. Die Darstellung der Stadt in der Druckgraphik des 15. bis 18. Jahrhunderts. Augsburg 2000, S. 29–35. Vgl. allgemein zur Darstellung deutscher Städte sowie Venedigs: Das Bild der Stadt in der Neuzeit 1400–1800. Hg. von Wolfgang Behringer und Bernd Roeck. München 1999; Friedl Brunckhorst: Architektur im Bild. Die Darstellung der Stadt Venedig im 15. Jahrhundert. Hildesheim u. a. 1997.

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Brigitte Sölch

gen und optischer Erweiterungen bedeutender Straßen und Plätze, die aus der Westansicht dargestellt sind – präzise Einblicke in die vorläufigen Resultate der Bau- und Modernisierungsphase, in der historische („conformitas“) und moderne („modernitas“) Stilrichtungen unvermittelt nebeneinanderstehen oder gar eine neue Synthese3 eingehen konnten. Höhepunkt dieser energischen und anspruchsvollen Initiativen war bekanntlich der Westchor der St.-Anna-Kirche, der zur Grablege der Fugger im Stil der Renaissance umgebaut und 1518 konsekriert wurde. 4 Die modernisierten Kirchen und Konvente boten nun zahlreiche neue Stiftungsmöglichkeiten und Grabstätten mit entsprechenden Erwartungen auf das Seelenheil. Angesichts der vielschichtigen Auftraggebersituation, die sich durch ein lebendiges Nebeneinander unterschiedlicher Interessensgruppen auszeichnet,5 konzentrierte sich mein Interesse ursprünglich auf die Positionierung der geistlich führenden Bettelorden in der Stadt und davon ausgehend auf die Frage: Lässt sich ein Bild dieser spannungsreichen Phase um 1500 zeichnen, das Aufschluss gibt über Formen und Medien sozialer Rangdemonstration der – ständischen, sozialen und ökonomischen 6 – Eliten im sakralen sowie städtischen Raum und welche Motive der Distinktion und Konkurrenz lassen sich innerhalb dieses dynamischen Gefüges ausmachen?

Abb. 2: Vogelschau der Reichsstadt Augsburg, sog. Seld-Plan, 1521 – Detail St. Magdalena (oben), St. Katharina (unten), ehem. Wohnhaus Philipp Adlers (Mitte), ehem. Wohnhaus des Michael von Stetten (Mitte rechts)

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Vgl. Franz Bischoff: „Der vilkunstreiche Architector und der Statt Augsburg Wercke Meister“. Burkhard Engelberg und die süddeutsche Architektur um 1500. Anmerkungen zur sozialen Stellung und Arbeitsweise spätgotischer Steinmetzen und Werkmeister. Augsburg 1999 (Schwäbische Geschichtsquellen und Forschungen 18), S. 396. Vgl. Bruno Bushart: Die Fuggerkapelle bei St. Anna in Augsburg. München 1994; Benjamin Scheller: Memoria an der Zeitenwende. Die Stiftungen Jakob Fuggers des Reichen vor und während der Reformation (ca. 1505–1555). Berlin 2004. Vgl. Bischoff: Der vilkunstreiche Architector (wie Anm. 3), S. 68. Vgl. Olaf Mörke, Katharina Sieh: Gesellschaftliche Führungsgruppen. In: Geschichte der Stadt Augsburg. Hg. von Gunther Gottlieb u. a. Stuttgart 1984, S. 301–311, hier S. 301.

Klöster und ihre Nachbarn – Konkurrenz im Blick?

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Diese Fragen könnten trotz einschneidender Verluste des Baubestandes und der Ausstattung der Kirchen aus einer vergleichenden kunst-/historischen Perspektive an Profil gewinnen. 7 Noch bereitet jedoch allein schon die Tatsache Probleme, dass umfassende Untersuchungen der Augsburger Bauwirtschaft und Sakralarchitektur sowie des Kunstgeschmacks der Stifter um 1500 ausstehen.8 Ein hervorragendes Beispiel, um die soeben skizzierten Fragen anzuschneiden, ist jedoch St. Magdalena (Abb. 2, S. 492), die Kirche des Predigerordens, der aufgrund seiner engen Beziehungen zu Kaiser Maximilian I. und zur Augsburger Elite eine herausragende Position in der Reichsstadt einnahm. Zwar ist auch St. Magdalena, in der seit den 1960er Jahren das Römische Museum untergebracht ist, ein bemerkenswertes Desiderat der neueren Forschung – ein Mangel, der durch die spärliche Quellenlage und den großflächigen Verlust der ursprünglichen Ausstattung maßgeblich bedingt ist.9 Dass der Predigerkirche dennoch weitere Erkenntnisse und Fragestellungen abzugewinnen sind, soll im Folgenden in Form eines work in progress gezeigt werden. Wie im Anschluss an die Bauaktivitäten des Predigerordens und der benachbarten Dominikanerinnen von St. Katharina darzulegen ist, haben sich aus der neuen Ausstattungsphase des Sakralbaus zu Beginn des 16. Jahrhunderts weitaus mehr Stiftungen erhalten, als die grundlegenden und bislang einzigen Monographien von Hans Wiedenmann (1917) und Polykarp Siemer (1936), der auch ein Klosterinventar von P. Antonius Pez aus dem Jahr 1709 ediert, vermuten lassen. 10 Um erste Aufschlüsse über Anspruch und Idee dieser Stiftungen und davon ausgehend auch über Formen und Medien sozialer Rangdemonstration der Stifterfamilien zu erhalten, werden Überlegungen zur architektonischen Repräsentation 11 exemplarisch einbezogen. Es wird zu fragen sein, welche Beobach––––––––– 7

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Einen methodischen Vergleichshorizont zu Intentionen der Stiftertätigkeit, zum Italianismus in Deutschland und zu Motiven der Diversifikation und Konkurrenz in Kunst und Architektur bieten zum Beispiel Hartmut Boockmann: Mäzenatentum am Übergang vom Mittelalter zur Reformationszeit. In: Stadt und Mäzenatentum. Hg. von Bernhard Kirchgässner. Sigmaringen 1997 (Stadt in der Geschichte 23), S. 31–44; Bernd Roeck: Motive bürgerlicher Kunstpatronage in der Renaissance. Beispiele aus Deutschland und Italien. In: ebd. S. 45-63; Thomas Eser: „Künstlich auf welsch und deutschen sitten“. Italianismus als Stilkriterium für die deutsche Skulptur zwischen 1500 und 1550. In: Deutschland und Italien in ihren wechselseitigen Beziehungen während der Renaissance. Hg. von Bodo Guthmüller. Wiesbaden 2000 (Wolfenbütteler Abhandlungen zur Renaissanceforschung 19), S. 319–361; Andreas Tönnesmann: Anfänge der Renaissancearchitektur in Deutschland. Interesse und Intention der Auftraggeber. In: Ebd. S. 299-317. Vgl. zu diesem Forschungsdesiderat Bischoff: Der vilkunstreiche Architector (wie Anm. 3), S. 67. Vgl. Hans Wiedenmann: Die Dominikanerkirche in Augsburg. Augsburg 1917, S. 22, 25. Vgl. ebd.; Polykarp M. Siemer: Geschichte des Dominikanerklosters Sankt Magdalena in Augsburg. 1225–1808. Vechta i. O. 1936 (Quellen und Forschungen zur Geschichte des Dominikanerordens in Deutschland 33) mit einer Edition des Klosterinventars von Pez (1709), S. 235–276. Vgl. zur Architektur als Medium sozialer Rangdemonstration insbesondere die am Beispiel von Florenz und der Toskana entwickelten methodischen Ansätze von Wolfgang Braunfels: Mittelalterliche Stadtbaukunst in der Toskana. Berlin 1953; Andreas Tönnesmann: Zwischen Bürgerhaus und Residenz. Zur sozialen Typik des Palazzo Medici. In: Piero de’

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tungen sich anstellen lassen, wenn man den Blick vom Sakralraum in den städtischen Raum richtet und auch die Stadthäuser ausgewählter Stifterfamilien in den Blick nimmt.

I. Die 1515 – nach nur knapp drei Jahren Bauzeit12 – neu errichtete Kirche des Dominikanerkonvents ragt im Seld-Plan in ihrer klaren Silhouette als monumentaler Baukörper aus dem städtischen Gefüge heraus (Abb. 2, S. 492). Nur ein kleiner Turm ziert den Ostteil des Satteldaches. Das Predigerkloster war seit seiner Niederlassung im frühen 13. Jahrhundert13 am äußeren Rand der Hochterrasse inmitten des Kaufleuteviertels der oberen Bürgerstadt angesiedelt. Die Franziskaner ließen sich hingegen im Gewerbeviertel unterhalb des Perlachs nieder, wo noch heute die Reste der im Zweiten Weltkrieg weitgehend zerstörten Barfüßerkirche stehen.14 Fragen der Konkurrenz zwischen diesen beiden Bettelorden wurden schon im Italien des 14. Jahrhunderts nicht allein mit theologischen Traktaten und gelehrten Disputen, sondern auch in Bildprogrammen ausgetragen. 15 In Augsburg kann dieser Frage aus kunsthistorischer Perspektive nicht mehr nachgegangen werden, da die Ausstattungsprogramme der ehemaligen Klosteranlagen weitgehend zerstört bzw. verloren sind. 16 Neben der so–––––––––

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Medici ‚il Gottoso‘ (1416–1469). Kunst im Dienste der Mediceer. Hg. von Andreas Beyer und Bruce Boucher. Berlin 1993 (Artefakt 6), S. 71–88; Michael Viktor Schwarz: Toskanische Türme. Repräsentation und Konkurrenz. In: Information, Kommunikation und Selbstdarstellung in mittelalterlichen Gemeinden. Hg. von Alfred Haverkamp. München 1998 (Schriften des Historischen Kollegs 40), S. 103–124; Alexander Markschies: Gebaute Armut. San Salvatore e San Francesco al Monte in Florenz (1418–1504). München u. a. 2001 (Aachener Schriften 2). Die relativ kurze Bauzeit (Mai 1513 bis 10. September 1515) könnte damit zu erklären sein, dass einige Fundamente der Vorgängerkirche beibehalten wurden. Vgl. Bushart: Fuggerkapelle (wie Anm. 4), S. 338. Die Reste der ehemaligen Dominikanerkirche sind noch in den beiden abgegrenzten Seitenkapellen an der Südostecke des Baus sichtbar. Vgl. Meinrad von Engelberg: Renovatio Ecclesiae. Die „Barockisierung“ mittelalterlicher Kirchen. Petersberg 2005 (Studien zur internationalen Architektur- und Kunstgeschichte 23), S. 502. Die Dominikaner ließen sich 1225 in der Nähe des Templerordens nieder, deren Kloster ihnen 1313 – einschließlich der Klosterbibliothek – übereignet wurde. Vgl. Pez/Ed. Siemer: Klosterinventar (wie Anm. 10), S. 236f. Vgl. zur Ansiedlung der Klöster und zur urbanistischen Entwicklung Augsburgs Robert Pfaud: Das Bürgerhaus in Augsburg. Tübingen 1976 (Das deutsche Bürgerhaus 24), S. 11– 24. Vgl. Dieter Blume: Ordenskonkurrenz und Bildpolitik. Franziskanische Programme nach dem theoretischen Armutsstreit. In: Malerei und Stadtkultur in der Dantezeit. Die Argumentation der Bilder. Hg. von Hans Belting und Dieter Blume. München 1989, S. 149– 170, hier S. 150. Von der ursprünglichen Wandbemalung des Dominikanerklosters sind mit dem Fresko ‚Marientod‘ (1370/80) und der 1913 angefertigten Kopie eines prunkvoll gemalten Wappenvorhangs nur noch spärliche Relikte des mittelalterlichen Kirchenbaus überliefert. Im

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zialtopographischen Distanz der beiden konkurrierenden Bettelorden, deren Niederlassungen den Beginn dieser religiösen Bewegungen in Deutschland markieren, vergegenwärtigt der Seld-Plan auch die räumliche Nähe des Dominikanerklosters zu St. Katharina (Abb. 2, S. 492),17 dem weiblichen Ordenszweig, der den Predigern seelsorgerisch unterstand und als Versorgungsanstalt Augsburger Patriziertöchter gilt.18 Da beide Konvente auf einer Querachse zur oberen Maximilianstraße liegen – der ehemaligen Reichstraße, die nach dem 14. Jahrhundert ein zunehmend geschlossenes Wohnhausensemble der gehobenen Bürgerschicht aufwies19 –, ordnen sie sich der städtischen Hauptschlagader subtil unter, behaupten sich aber zugleich im urbanistischen Gefüge der oberen Bürgerstadt. Von beiden Klöstern führen die Gassen unmittelbar auf den benachbarten Weinmarkt, der sich als platzartiger Straßenraum vom Siegelhaus bis zum ehemaligen Tanzhaus bei St. Moritz erstreckte. Der Weinmarkt war Schauplatz von Festen und Turnieren. Er zählte auch zu den wichtigsten Handels- und Verkehrsknotenpunkten auf dem Weg von St. Ulrich und Afra in die Stadt, der über eine Abfolge hochrangiger Marktplätze führte.20 Auf die Darstellung des regen Lebens und des Transports von Gütern, die sich unmittelbar vor den Klostermauern am Predigerberg auf der alten Römer–––––––––

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Falle der Barfüßerkirche zeugen immerhin noch Reste der Wandbemalung des ehemaligen Kreuzgangs von einem ausgesprochen theologischen Interesse am Ausstattungsprogramm. Die noch erhaltenen Fragmente lassen auf einen typologischen Zyklus mit alttestamentarischen und passionalen Szenen schließen, die auf die Analogie der Passion mit Legenden und Gleichnissen verzichten. Der Zyklus wird in das Jahr 1484 datiert. Vgl. Johannes Wilhelm: Augsburger Wandmalerei 1368–1530. Künstler, Handwerker und Zunft. Augsburg 1983 (Abhandlungen zur Geschichte der Stadt Augsburg 29), Kat.-Nr. 5/6 (St. Magdalena) und Kat.-Nr. 60 (Barfüßerkirche). Das Vorgängerkloster von St. Katharina, das aus der Beginenbewegung hervorging, lag ursprünglich außerhalb der Stadt in der Siedlung am Gries. Es wurde erst nach der Schließung der Stadtmauer im 14. Jahrhundert an seinen neuen Standort im Pfarrbezirk von St. Moritz verlegt. Vgl. zur Stadtentwicklung im Überblick Pfaud: Bürgerhaus (wie Anm. 14), S. 11–24. Vgl. Rolf Kießling: Bürgerliche Gesellschaft und Kirche in Augsburg im Spätmittelalter. Ein Beitrag zur Strukturanalyse der oberdeutschen Reichsstadt. Augsburg 1971, S. 266– 268. Zur Herkunft der Klosterschwestern vgl. Leo Juhnke: Bausteine zur Geschichte des Dominikanerinnenklosters St. Katharina in Augsburg mit Berücksichtigung von Patriziat, Reform und Geistesleben. In: Oberrealschule Augsburg. Bericht über das 125. Schuljahr 1958/58. Augsburg 1958, S. 60–110, hier S. 74–80. Die Augsburger Dominikanerinnen sind als Stifterinnen und Auftraggeberinnen auch insofern von Interesse, als ihnen nicht nur Besitz – das heißt vor allem Besitzungen – zugestanden wurde. Sie konnten auch über ihren mitgebrachten Besitz verfügen, der erst nach ihrem Tod an das Kloster überging. Vgl. ebd., S. 65f., 82. Vgl. zu St. Katharina auch Anm. 64, 71, 183. Im 14. Jahrhundert wies die Hochterrasse kein geschlossenes Ensemble reicher Bürgerhäuser auf. Diese lagen noch inmitten von Anwesen kleinerer Handelsleute, wurden aber zwischen 1355 und 1625 in zunehmend größerem Maßstab errichtet. Vgl. Anton Werner: Augsburger Häusergeschichte. Ein Beitrag zur Topographie Alt-Augsburgs. Handschriftlich kopiert von Gustav Euringer 1916, übertragen im Februar 1977. Augsburg [um] 1900; Pfaud: Bürgerhaus (wie Anm. 14). Vgl. zum Wein- und Salzmarkt auch Franz Häußler: Marktstadt Augsburg. Von der Römerzeit bis zur Gegenwart. Augsburg 1998, S. 86–93.

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straße abspielten,21 legt Wolfgang Kilian auch in seiner Stadtansicht aus dem Jahr 162622 besonderen Wert (Abb. 3). Kilian lenkt den Blick zudem von Osten auf den ursprünglich flachen Chorabschluss23 und die Seitenkapellen von St. Magdalena, die als niedrige Flankenbauten in Erscheinung treten und dem Bau das Erscheinungsbild einer Basilika verleihen. Die eigentliche Zweischiffigkeit der Kirche betonen die beiden lanzettartigen Fensterpaare mit ihrem Rundbogenabschluss, die jeweils von einem Okulusfenster bekrönt werden.24

Abb. 3: Wolfgang Kilian, Vogelschau der Reichsstadt Augsburg, 1626 – Detail

Trotz der Barockisierung (1716–1724) vermittelt der Innenraum noch heute eine Vorstellung seines ursprünglichen, weiten und hellen Raumeindrucks (Abb. 4 und 11, S. 515). St. Magdalena wird deshalb für ihre „renaissancehafte Klarheit“25 gerühmt, die dem im Kern spätgotischen Bau innewohnt. Für den Neubau der Kirche zeichnete der seit 1507 amtierende Ordensprior und „Kaiserliche Rat“26 Dr. Johannes Faber verantwortlich, den Hans Holbein d. Ä. in einer Silberstiftzeichnung im Dreiviertelprofil und Ordensgewand porträtierte. 27 ––––––––– 21

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Der von Süden kommende Fernverkehr wurde über das Rote Tor in die Bäckergasse geleitet und von dort, aufgrund der geringeren Steigung, über den Predigerberg und die Wintergasse in das Zentrum der Stadt. Das Predigerkloster lag somit direkt an einer der Hauptstraßen, die den Fernhandel in meridionaler Richtung durch die Stadt lenkten. Vgl. Pfaud: Bürgerhaus (wie Anm. 13); Hermann Kießling: Der Durchbruch der Bürgermeister-Fischer-Straße in Augsburg. Augsburg 1975 (Abhandlungen zur Geschichte der Stadt Augsburg 1), S. 17f. Vgl. Schmidt: Augsburger Ansichten (wie Anm. 2), S. 43f. Vgl. zu den späteren Kapellenanbauten im Osten Wiedenmann: Dominikanerkirche (wie Anm. 9), S. 30–31. Die Rundfenster waren ursprünglich mit spätgotischem Maßwerk gefüllt. Vgl. Bushart: Fuggerkapelle (wie Anm. 4), S. 339. Vgl. ebd., S. 339. Zum Vorherrschen spätgotischer Formen in St. Magdalena vgl. Irmgard Büchner-Suchland: Hans Hieber. Ein Augsburger Baumeister der Renaissance. München u. a. 1962, S. 75f. Der Titel eines Rats konnte von Kaisern oder Königen als Auszeichnung für die Verdienste um dieselben oder als Ehrentitel verliehen werden und ist insofern ein Sonderfall, als es sich bei den jeweiligen Personen um Titularräte handelte. Der Titel konnte bestimmte Privilegien zur Folge haben und schloss im Gegensatz zu anderen Ehrentiteln nicht aus, dass

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Faber unternahm zwei Reisen nach Rom und konnte für den Neubau bei Papst Leo X. Ablässe für Augsburg, Köln und Mainz erwirken. Doch weder die Ablasszahlungen28 noch die zahlreichen Stiftungen sollen für die Finanzierung des Bauprojektes ausreichend gewesen sein. Dieses wurde zusätzlich durch Grundrenten gesichert, von denen die Dominikaner neben „Bettel, gestifteten Messen, Jahrtagen, Ablasshandel und bürgerlichen Stiftungen“ lebten. 29 Dass sich auch die Dominikanerinnen von St. Katharina mit der beachtlichen Summe von 1.000 fl. am Neubau von St. Magdalena beteiligt haben, geht aus der noch erhaltenen und von Pius Dirr edierAbb. 4: Augsburg, ehem. ten Gedächtnisschrift hervor, 30 die Faber Dominikanerkirche St. Magdalena 1523 zur Erinnerung an die Wohltätigtigkeit (heute Römisches Museum) der Stifter verfasste. 31 Darin erwähnt der Ordensprior den ratherr[n]zu Augsburg, Melchior Stuntz, als bauherr der neuen Predigerkirche. 32 Faber verzeichnet zudem eine Reihe von Bau-, Modernisierungs- und Ausstattungsmaßnahmen der gesamten Klosteranlage, die er während seines Priorats veranlasst hatte, 33 er erwähnt jedoch keinen der beteiligten –––––––––

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die Titelträger bei Bedarf mit bestimmten Pflichten betraut wurden, wie zum Beispiel mit der Vertretung des Kaisers bei festlichen Anlässen, vermutlich aber nicht bei politischen Missionen. Vgl. hierzu ausführlicher Peter Steuer: Die Außenverflechtung der Augsburger Oligarchie von 1500–1620. Studien zur sozialen Verflechtung der politischen Führungsschicht der Reichsstadt Augsburg. Augsburg 1988, S. 79–94. Vgl. Bruno Bushart: Hans Holbein der Ältere. Augsburg 1987, Taf. 26, S. 42; Bischoff: Der vilkunstreiche Architector (wie Anm. 3), S. 61; zu den Silberstiftzeichnungen Norbert Lieb und Alfred Stange: Hans Holbein der Ältere. München u. a. 1960, Nr. 178–209. Vgl. Siemer: Dominikanerkloster (wie Anm. 10), S. 69f. Die Kurie hatte sich die Hälfte der Ablässe vorbehalten. Vgl. Wiedenmann: Dominikanerkirche (wie Anm. 9), S. 14. Die Stiftungen beliefen sich auf 5300 Gulden. Der Ablasshandel soll gar 10 000 Gulden eingebracht haben. Vgl. Wilhelm Liebhart: Stifte, Klöster und Konvente. In: Gottlieb (Hg.): Geschichte der Stadt Augsburg (wie Anm. 6), S. 193–201, hier S. 199. Pius Dirr: Eine Gedächtnisschrift von Johannes Faber über die Erbauung der Augsburger Dominikanerkirche. In: Zeitschrift des Historischen Vereins für Schwaben und Neuburg 34 (1908), S. 164–178. Das Original der Gedächtnisschrift befindet sich im Fuggerarchiv. Faber erwähnt St. Katharina an erster Stelle unter den finanziellen Zuschüssen recepta pro his faciendis. Vgl. Faber/Ed. Dirr: Gedächtnisschrift (wie Anm. 30), S. 176. Melchior Stuntz und der Bürgermeister Hieronymus Imhof waren für die Verwaltung und Ausgabe der Stiftersummen und der Ablassgelder verantwortlich. Vgl. Faber/Ed. Dirr: Gedächtnisschrift (wie Anm. 30), S. 169f. Dazu zählen unter anderem Bau und Dekoration einer neuen Bibliothek, eines Dormitoriums und eines Teils des Kreuzgangs. Für sein eigenes gemach erwarb Faber einen Schrank (30 fl.) sowie eine Reihe von Büchern (200 fl.) und ließ seine private Kapelle mit neuen Gemälden und einem Altar (40 fl.) ausstatten. Vgl. Faber/Ed. Dirr: Gedächtnisschrift (wie Anm. 30), S. 175f.

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Künstler. Auch der Baumeister der neuen Konventskirche ist nicht überliefert. Es wird angenommen, dass er aus dem Umkreis Burkhard Engelbergs stammte. Namentlich in Erwähnung gezogen wurde Hans Hieber, dessen Entwurf zur Wallfahrtskirche Zur Schönen Maria in Regensburg noch in Form eines Holzmodells dokumentiert ist.34 Anlass für den sakralen Neubau soll die Baufälligkeit der alten romanischen Konventskirche gegeben haben:35 Die gemüt und hertzen der erbern herren und burgern von Augsburg haben ihn darin unterstützt, so Faber, unsere alte zerissne manigfaltig presthaftige kirch und kor abzeprechen in grundt, widerumb auf zu pawen, zu zieren und zum tail zu begaben. 36 Ob die Baufälligkeit der romanischen Kirche deren Abriss zwingend erforderlich machte oder als etabliertes Argument diente, um weitreichende Modernisierungsmaßnahmen zu legitimieren, lässt sich nicht mehr eruieren. Erinnert sei in diesem Zusammenhang nur an die damals größte Baustelle Europas, St. Peter in Rom, für deren Neuerrichtung seit 1506 die altehrwürdige konstantinische Basilika mit dem Argument der Baufälligkeit abgerissen wurde. Die für den Neubau notwendig gewordenen Ablasszahlungen hatten bekanntlich nördlich der Alpen heftige Kritik, insbesondere von Martin Luther, ausgelöst. 37 Die Errichtung der neuen Predigerkirche dürfte jedenfalls maßgeblich vom Erweiterungsbau der Karmeliter von St. Anna inspiriert worden sein, zumal die Prioren beider Klöster, Johannes Fortis und Johannes Faber, den Humanistenkreisen angehörten und „zu den gebildetsten und energischsten Persönlichkeiten in der Stadt“ zählten.38 Der Neubau der Augsburger Predigerkirche erscheint jedoch auch insofern als logische Konsequenz, als die Modernisierung der Klosteranlage (1496–1500) bereits unter Fabers Vorgänger, dem Konventprior Jakob Hiltpold, erfolgt war. 39 Darüber hinaus war der Ordensprior 1511, nur zwei Jahre vor Baubeginn der Kirche, zum Generalvikar der oberdeutschen Ordensprovinz ernannt worden. Neben Augsburg gehörten dieser von 1474 bis 1608 bestehenden Congregatio Germaniae Superioris auch die Konvente Konstanz, Zürich, Würzburg und Freiburg ––––––––– 34

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Vgl. Wiedenmann: Dominikanerkirche (wie Anm. 9), S. 15f. und von Engelberg: Renovatio Ecclesiae (wie Anm. 12), S. 502. S. auch Büchner-Suchland: Hans Hieber (wie Anm. 25), S. 75, die eine Baubeteiligung dieses Baumeisters ausschließt. Daran erinnert auch Wilhelm Rem in seiner Chronik: Anno dni 1515 in der fasten da bracht ain doctor, ain predigerminch hie zu den Predigern, ain romische gnad her von Rom, dass man die leut möchte absolvieren von pein und schuld. Der münch hett dem pabst furgehalten 4 artickel: der erst, wie die alt kirch wer so gar eng, dass man nicht woll meß kind lesen, und wie das kloster paufellig wer, und wie die kirch hett wellen umbfallen, und wie im etlich burger hie hetten zu steur an den pau geben 5 M bugatten. Vgl. ‚Cronica newer geschichten‘ von Wilhelm Rem 1512–1527. In: Die Chroniken der schwäbischen Städte 5 (1896), S. 1–256, hier S. 26f. Faber/Ed. Dirr: Gedächtnisschrift (wie Anm. 30), S. 169. Zur Kritik an den Ablasszahlungen von 1517 vgl. auch Rem: Chronica (wie Anm. 35), S. 71f. Bushart: Fuggerkapelle (wie Anm. 4), S. 340f. Vgl. Wiedenmann: Dominikanerkirche (wie Anm. 9), S. 13. Eine Auflistung der Konventsprioren von St. Magdalena bietet Siemer: Dominikanerkloster (wie Anm. 10), S. 308–310.

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an.40 Das prestigeträchtige Amt Fabers dürfte den Wunsch nach einem modernisierten Sakralbau zusätzlich genährt haben – und es wäre deshalb auch zu untersuchen, welche Rolle der Augsburger Konvent tatsächlich innerhalb der Organisationsstruktur der oberdeutschen Ordensprovinz spielte, bevor Faber infolge der Reformationswirren 1525 aus der Stadt verwiesen wurde41. Die Ambitionen des Ordenspriors und des Konvents waren allerdings nur ein Beweggrund unter vielen. Denn wie noch darzulegen ist, war St. Magdalena geradezu ein Kulminationspunkt der Interessenverflechtung verschiedener Gruppen: der Stifter, die ausschließlich zur wirtschaftlichen Elite Augsburgs zählten, des Rats der Stadt und Kaiser Maximilians I. Deren nicht ganz selbstlosem Einsatz war es auch zu verdanken, dass sich Faber nach langwierigen Verhandlungen der asketischen Observantenbewegung der jungen Reformorden widersetzen und weiterhin die gemäßigte Richtung der Konventualen fortführen konnte.42 Der Augsburger Chronist Wilhelm Rem sparte nicht mit Kritik an Sinn und Zweck des Neubaus. Die alte Kirche sei zwar kleiner (wenngleich weitt gnug), dafür aber stercker und besser gewesen dann die neu. Sie wäre nicht eingestürzt. Umgefallen, so Rem, wäre eher die neue, hätte man ihr nicht geholfen.43 Unabhängig davon, ob Rem nun Kritik am architektonischen Aufwand des Predigerordens – und damit auch am Einsatz der Stifter44 – übte, mag seine Einschätzung der Stabilität durchaus auf das ursprüngliche Erscheinungsbild der Kirche zurückzuführen sein. Denn die einst schlanken, hochaufragenden Rundpfeiler der Halle wurden erst während der Barockisierung mit einer ca. 20 cm dicken Stuckschicht ummantelt und zu Säulen mit hohen Postamenten und markanten Gebälkblöcken umgearbeitet. Auch das Fußbodenniveau wurde erhöht.45 Die ursprüngliche Feingliedrigkeit der Rundpfeiler, die den weiten und hellen Raumeindruck maßgeblich prägten, lässt sich somit nur noch erahnen. Die Disposition des Sakralbaus zielte jedenfalls auf die optische Erfassung des gesamten Innenraumes, von den Seitenkapellen, die sich mit ihren sanft geschwungenen Rundbögen zur Halle hin öffnen, bis zum einst flachen Chorabschluss. Zugleich war die Kirche ganz ihrem Sinn und Zweck als Predigerkirche dazu geschaffen, eine große Menge Gläubige aufzunehmen. Die Wahl dieser großzü––––––––– 40 41

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Vgl. Siemer: Dominikanerkloster (wie Anm. 10), S. 47f. Vgl. Wiedenmann: Dominikanerkirche (wie Anm. 9), S. 20. Vgl. auch Angelus P. Walz: Dominikaner und Dominikanerinnen in Süddeutschland (1225–1966). Freising 1967, S. 67f. Unter Faber lehnten auch die Konvente Würzburg, Speyer, Konstanz, Zürich und Freiburg i. Br. die asketische Observantenbewegung ab. Dafür brachte die Stadt auch ihre Beziehungen bei Kaiser Maximilian I. ins Spiel. Hierzu ausführlich Kießling: Bürgerliche Gesellschaft und Kirche (wie Anm. 18), S. 299f. Rem: Chronica (wie Anm. 34), S. 26f. Bau und Größe der Bettelordenskirchen hingen maßgeblich von den Stiftern, aber zum Beispiel auch von der Bedeutung des jeweiligen Klosters innerhalb einer Provinz ab. Vgl. Wolfgang Braunfels: Abendländische Klosterbaukunst. Köln 51985, S. 191f. mit Verweis auf die vor allem für Florenz und Venedig reichlich erhaltenen Bauakten. Zur Barockisierung vgl. Wiedenmann: Dominikanerkirche (wie Anm. 9), S. 24f.; von Engelberg: Renovatio Ecclesiae (wie Anm. 12), S. 502f.

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gigen Hallenarchitektur ist damit aber noch lange nicht begründet, zumal die Zweischiffigkeit um 1500 eine architektonische Sonderstellung in Augsburg beanspruchte. Offen ist nach wie vor die Frage, ob durch den Bautypus ein unmittelbarer Bezug zur Mutterkirche des Ordens, St. Jacques in Toulouse,46 hergestellt wurde – die als zweischiffige Kirche mit einem „riesenhaften Kapitelsaal“ verglichen wird –, 47 oder ob nicht näherliegende Beispiele aus Österreich und Schwaben in Betracht zu ziehen sind. Hierzu würde auch der zweischiffige romanische Vorgängerbau von St. Ulrich und Afra zählen, der 1467 abgerissen wurde. 48 Die typologische Einordnung der Augsburger Predigerkirche ermangelt allerdings noch der Bestimmung des Neubaus im Verhältnis zum romanischen Vorgängerbau, der jeweils sechs Seitenkapellen – im Gegensatz zu später acht – aufgewiesen haben soll.49 Daraus geht jedoch nicht hervor, ob der ältere Bautypus entschieden verändert oder in seiner Grundstruktur beibehalten wurde, wovon Bushart insofern ausgeht, als er für die relativ kurze Bauzeit die Übernahme älterer Fundamente in Erwägung zieht. 50 Generell hatte die Monumentalisierung der Bettelordenskirchen in Europa bereits um 1300 eingesetzt. Die Monumentalität dieser Sakralbauten wurde aber nicht nur architektonisch, sondern vor allem auch über Grablegen und Grabkapellen vermittelt. In Parenthese sei hier nur an zwei herausragende königliche Stiftungen des späten 13. und frühen 14. Jahrhunderts erinnert – die Bettelordenskirchen der Dominikanerinnen St. Louis in Poissy, die 1808 abgerissen wurde, und S. Chiara in Neapel. Beide Kirchen wurden zu königlichen Grablegen und Memorialbauten. 51 Diese, auch in den konkurrierenden venezianischen Mendikantenkirchen, S. Maria Gloriosa dei Frari und SS. Giovanni e Paolo, ––––––––– 46

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Der eigentliche Gründungsbau von St. Jacques in Toulouse (1230–1242) zeichnete sich noch durch eine tiefe, zweischiffige Hallenanlage mit flachem Chorabschluss aus. Erst sukzessive wurden ab dem späten 13. und frühen 14. Jahrhundert der sternförmige Chor und das Langhaus neu errichtet sowie mit Hilfe der Stifter die wenig tiefen, sich großzügig zum Raum öffnenden Seitenkapellen. Vgl. Richard Alfred Sundt: The Jacobin Church of Toulouse and the Origin of its Double-Nave-Plan. In: Art Bulletin 71 (1989), S. 185–207; Wolfgang Schenkluhn: Architektur der Bettelorden. Die Baukunst der Dominikaner und Franziskaner in Europa. Darmstadt 2000, S. 53–55, 194–196. Vgl. Braunfels: Klosterbaukunst (wie Anm. 44), S. 185f. Vgl. insbesondere Büchner-Suchland: Hans Hieber (wie Anm. 25), S. 116, Anm. 253 sowie Schenkluhn: Architektur der Bettelorden (wie Anm. 45), S. 190–192 und von Engelberg: Renovatio Ecclesiae (wie Anm. 12), S. 502, der Schenkluhns Einordnung in die Tradition von St. Jacques in Toulouse widerspricht, an der auch Bushart: Fuggerkapelle (wie Anm. 4), S. 341 berechtigte Zweifel hegt. Zum vorherrschenden Typus zwei- und dreischiffiger Hallen in „österreichischen“ – das heißt im Falle der Dominikaner der Teu– tonia zugehörigen – Ordenskirchen des 13. Jahrhunderts vgl. Carola Jäggi: Frauenklöster im Spätmittelalter. Die Kirchen der Klarissen und Dominikannerinnen im 13. und 14. Jahrhundert. Petersberg 2006 (Studien zur internationalen Architektur- und Kunstgeschichte 34), S. 102. Vgl. Siemer: Dominikanerkloster (wie Anm. 10), S. 46. Vgl. Anm. 12. Vgl. Schenkluhn: Architektur der Bettelorden (wie Anm. 46), S. 99–102. Zur Architektur mittelalterlicher Frauenkonvente der Dominikanerinnen und Klarissen vgl. vor allem Jäggi: Frauenklöster im Spätmittelalter (wie Anm. 48).

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prominent vertretene Tradition erhält entscheidendes Gewicht vor dem Hintergrund einer Frage, die schon Bruno Bushart in Bezug auf St. Magdalena in Augsburg aufgeworfen hatte: „ob nicht auch der Neubau der Dominikanerkirche, mehr als bisher beachtet, von vornherein auf die Bedürfnisse einer patrizischen und großbürgerlichen Grabeskirche sowie einer kaiserlichen Gedenkstätte angelegt und dadurch in ihrer architektonischen Erscheinung bestimmt worden war“. 52 Die Diskussion dieser Frage gewinnt nicht nur aufgrund der Tatsache, dass sich weit mehr Stiftungen erhalten haben, als bislang vermutet, neuen Nährboden. Denn bis heute beherrschen noch die fier gulden stain53 an den Seitenwänden den Gesamteindruck der Kirche (Abb. 4, S. 497 und Abb. 5a).

Abb. 5a: Epitaph für Kaiser Maximilian I. Augsburg, ehem. Dominikanerkirche St. Magdalena

Abb. 5b: Holzschnitt nach dem Epitaph für Maximilian I.

Diese in Gold und kaiserlichem Purpur gefassten Sandsteintafeln, an deren Entwurf vermutlich Konrad Peutinger und Hans Burgkmair d. Ä. beteiligt waren, gelten als herausragende Beispiele der Frührenaissance in Augsburg. Da das geplante Reiterdenkmal des Kaisers vor St. Ulrich und Afra im Zustand eines Torsos verblieb, 54 sind die fier gulden stain die einzigen Denkmalsprojekte Maximilians I., die in der Reichsstadt ausgeführt wurden. Sie sind inschriftlich in die Jahre 1519 und 1520 datiert und erinnern unmittelbar nach dem Tod Maximilians I. retrospektiv an den habsburgischen Kaiser und seinen 1506 verstorbenen Sohn Philipp von Spanien sowie prospektiv an die Neffen Karl V. und Erzherzog Ferdinand von Spanien. Dabei unterscheiden sich beide Denkmale für Maximilian I. und Karl V. durch ihre umlaufenden Stadt- und Länderwappen mit alternierend platzierten Beischriften, die in der Tradition spätmittelalter––––––––– 52 53 54

Vgl. Bushart: Fuggerkapelle (wie Anm. 4), S. 341. Hierzu ausführlich: Peter Halm: Die „Fier Gulden Stain“ in der Dominikanerkirche zu Augsburg. München 1965. Vgl. Georg Habich: Das Reiterdenkmal Kaiser Maximilians I. in Augsburg. In: Münchner Jahrbuch der bildenden Kunst 2 (1913), S. 255–262.

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licher und zugleich habsburgischer Wappensteine stehen, 55 von den Gedächtnistafeln für Philipp und Erzherzog Ferdinand von Spanien, die sich durch umlaufende Renaissanceornamente oberitalienischer Prägung auszeichnen.56 Den Anspruch der fier gulden stain brachten auch die unterhalb der reliefierten Herrscherwappen platzierten Inschriften in der Wahl der klassisch strengen Antiqua zum Ausdruck, die auf die antike – von Peutinger eingehend untersuchte – Epigraphik rekurriert und zugleich als ästhetisches Element wirksam wird. 57 Die Wahrnehmung habsburgischer Präsenz blieb jedoch nicht auf den Kirchenraum beschränkt. Unmittelbar nach ihrer Entstehung veröffentlichte der Augsburger Buchdrucker und Verleger Sigismund Grimm im Juli 1519 die beiden Denkmale für Maximilian I. (Abb. 5b, S. 501) und Philipp von Spanien mit geringfügigen graphischen Veränderungen unter dem Titel „AUGUSTAE IN ECCLES. FRAT. PRAEDICATORVM“. Die dem Petrarca-Meister (Hans Wieditz)58 zugeschriebenen Holzschnitte waren – als frühe Reproduktionsbeispiele zeitgenössischer Denkmale – der ‚Oratio funebris‘ beigegeben, einer in humanistischer Panegyrik verfassten Trauerrede, die Faber am 16. Januar 1519 anlässlich des Begräbnisses Maximilians I. in Wels gehalten hatte.59 In seiner Gedächtnisschrift erinnert der Ordensprior daran, dass Kaiser Maximilian I. die fier gulden stain zu gedechtnus und memoria auf seinen mercklichen kosten in Auftrag gegeben habe. 60 Die Unterscheidung zwischen gedechtnus und memoria gibt zu denken und lässt vermuten, dass der Begriff gedechtnus implizit auf den Denkmalscharakter der Stiftungen verweist. Dafür spricht zum Beispiel die Erläuterung dieses Begriffes in einem Vokabular des 16. Jahrhunderts, in dem gedechtnus bereits als Entsprechung zum lat. monimentum angeführt wird und deshalb auch als Vorläufer des jüngeren Denkmalbegriffs gilt.61 Faber hatte zudem für seine eigene Memoria im Kirchenraum gesorgt: Drei der vier Gedächtnistafeln bezeugen inschriftlich seine Fürsorge um deren Ausführung. In der Augsburger Predigerkirche erheben die fier gulden stain nicht nur, um noch einmal Bushart zu zitieren, „den Raum in den Rang eines kaiserlichen Denkmals“, 62 sondern erinnern und vergewissern sich zugleich der Gunst des habsburgischen Kaiserhauses. Bekanntlich hatten gerade die Fugger im Jahr 1519 ––––––––– 55 56

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Vgl. die Einordnung von Halm: Fier Gulden Stain (wie Anm. 53), S. 201–207. Zur Deutung und Einordnung der Denkmale und Wappen vgl. ebd.; s. auch Gustav Euringer: Die Denktafeln zu Ehren Kaiser Maximililians I. und Kaiser Karls V. in der Dominikanerkirche zu Augsburg. In: Der Sammler. Beilage der Münchner-Augsburger Abendzeitung (1914), Nr. 141, Nr. 142. Vgl. Halm: Fier Gulden Stain (wie Anm. 53), S. 207–212. Ebd., S. 212f.; vgl. auch Hans Röttinger: Hans Weiditz, der Petrarkameister. Straßburg 1904 (Studien zur deutschen Kunstgeschichte 50). Die Kardinal Matthäus Lang von Wellenburg (vgl. auch Anm. 108) gewidmete Trauerrede erschien als Quartheft mit 32 Blättern. Den Anhang bildete ein Brief Fabers an den Humanistenfreund, Kaiserlichen Sekretär und Rat Jakob Spiegel, in dem auch die beiden Denkmale erläutert wurden. Faber/Ed. Dirr: Gedächtnisschrift (wie Anm. 30), S. 171. Vgl. Kilian Heck: Genealogie als Monument. Der Beitrag dynastischer Wappen zur politischen Raumbildung der Neuzeit. München u. a. 2002, S. 61. Bushart: Fuggerkapelle (wie Anm. 4), S. 340.

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Einfluss auf die Nachfolge des römischen Kaisers genommen, um die Wahl Franz’ I. von Frankreich zugunsten Karls V. zu verhindern. 63 Unverkennbar wurde über den Predigerorden hinaus auch die Stellung der patrizischen Dominikanerinnen durch die Wahl desselben singulären Bautypus – einer zweischiffigen Hallenkirche – architektonisch manifestiert. Die mittelalterliche Klosteranlage von St. Katharina (Abb. 2, S. 492) war schon ab 1498 unter der Priorin 64 Anna Walther (reg. 1490–1503) durch einen Neubau von Burkhard Engelberg und Ulrich Glurer (Glier) ersetzt worden.65 Den Neubau der Kirche möchte Anna Walthers Vater – Ulrich Walther – mit den Gesamtkosten von 11.600 Gulden als Leistung seiner Tochter Anna verstanden wissen, obwohl den Listen der Stiftungen zufolge nur ein glas im Chor, das Gedächtnisbild im Kreuzgang und Bilder für die Kirche gestiftet wurden. 66 Es war die Priorin Veronika Welser (reg. 1503/04–1530/31), die die Bauarbeiten an der neuen Dominikanerinnenkirche St. Katharina seit 1516 entschieden vorangetrieben hatte. Die ab 1833 zur Galerie umgebaute67 Konventskirche war nur ein Jahr nach St. Magdalena im Jahr 1517 vollendet. 68 Der Baumeister der Kirche war vermutlich Hans Hieber.69 Veronika Welser, die zudem als Stifterin zweier Basilikabilder von Hans Holbein d. Ä. und Hans Burgkmair bildlich dokumentiert ist,70 soll auch das Experiment gesucht haben, um über die geeignete Decken––––––––– 63

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Vgl. Heinz Schilling: Das lange 16. Jahrhundert – Der Augsburger Religionsfrieden zwischen Reformation und Konfessionalisierung. In: Als Frieden möglich war. 450 Jahre Augsburger Religionsfrieden. Hg. von Carl A. Hoffmann u. a. Ausstellungskatalog. Regensburg 2005, S. 19–34, hier S. 23. St. Katharina besaß das Recht zur freien Priorinnenwahl und war weitgehend unabhängig von der bischöflichen Jurisdiktion. Vgl. Kießling: Bürgerliche Gesellschaft und Kirche (wie Anm. 18), S. 38. Vgl. Bischoff: Der vilkunstreiche Architector (wie Anm. 3), S. 72, 114–116 mit weiterführender Literatur. Die Grundsteinlegung der neuen Klosteranlage war 1498 erfolgt. 1499 waren bereits das Refektorium und der Kapitelsaal vollendet, für den die Basilikabilder zwischen 1499 und 1502 an Hans Holbein d. Ä., Hans Burgkmair und den Monogrammisten L. F. in Auftrag gegeben wurden (vgl. Magdalena Gärtner: Römische Basiliken in Augsburg. Nonnenfrömmigkeit und Malerei um 1500. Augsburg 2002 [Schwäbische Geschichtsquellen und Forschungen 23]). Zu den Stifterbildnissen von Anna und Maria Walther (‚Messe des hl. Gregor‘, um 1480) sowie der Familie Walther (‚Epitaph der Schwestern Walther‘, 1502) vgl. Martin Schawe: Staatsgalerie Augsburg. Altdeutsche Malerei in der Katharinenkirche. Augsburg 2001, S. 9, Abb. 2, 15, 36, 50; zum ‚Epitaph der Familie Walther‘ s. auch Katharina Krause: Hans Holbein der Ältere. München u. a. 2002 (Kunstwissenschaftliche Studien 101), S. 101, 278–281. Vgl. Krause: Holbein der Ältere (wie Anm. 65), S. 101. Vgl. Schawe: Staatsgalerie Augsburg (wie Anm. 65), S. 17f. Die Kirchen der beiden Dominikanerinnenklöster St. Margareth und St. Ursula wurden ab 1521 und ab 1520 neu errichtet. Das Kloster St. Ursula nahm insofern eine Sonderrolle ein, als es St. Ulrich und Afra unterstellt war, jedoch bis 1677 eine Begräbnisgruft in der Predigerkirche besaß. Vgl. zu den Dominikanerinnenklöster in Augsburg Siemer: Dominikanerkloster (wie Anm. 10), S. 51f., 58–60. Vgl. Büchner-Suchland: Hans Hieber (wie Anm. 25), S. 72–75. Vgl. Gärtner: Römische Basiliken in Augsburg (wie Anm. 65), S. 14f.; Katharina Krause: Hans Holbein d. Ä. und Hans Burgkmair – Alternativen in der Augsburger Malerei um 1500. In: Hans Holbein der Jüngere. Akten des Internationalen Symposiums. Kunstmu-

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lösung für St. Katharina zu entscheiden. Zur Disposition standen eine holzvertäfelte Flachdecke, die zunächst aus akustischen Gründen bevorzugt wurde, und eine Gewölbelösung. Nachdem sich ein Streit zwischen der Priorin und den Schwestern sowie dem Ratsbauherrn Ludwig Hoser und dem Weberzunftmeister Martin Engelberger entzündet hatte, sollen die Dominikanerinnen am Himmelfahrtstag des Jahres 1516 um zwei Uhr nachts in einem vielkritisierten prozessionsartigen Zug zum benachbarten Dominikanerkloster St. Magdalena aufgebrochen sein. 71 Dieser wurde womöglich neben zahlreichen Ratsmitgliedern auch von Hans Hieber begleitet. 72 Um zu klären, welche Baulösung gesünder und welche hellklingender sei, stimmten die Schwestern nach eingehender Besichtigung der Klosteranlage den Gesang in der Kirche an, der sie von den Vorteilen der Gewölbelösung überzeugt haben soll.73 Veronika Welser wird somit auch als Priorin geschildert, die aktiven Anteil an der Verhandlung architektonischer Baulösungen nimmt – eine Facette der Architekturgeschichte, die im Gegensatz zum Einfluss der Stifterfamilien und amtlicher Würdenträger auf den Bau von Konventskirchen bislang kaum berücksichtigt ist.74 Ein vergleichbares Interesse lässt sich auch Charitas Pirckheimer bescheinigen, die seit 1503 als Äbtissin des Klaraklosters in Nürnberg amtierte und die Neubauprojekte in Augsburg aufmerksam verfolgt haben muss. Auf ihren ausdrücklichen Wunsch hin sollte Albrecht Dürer während seines Aufenthaltes beim Augsburger Reichstag im Sommer und Herbst 1518 die dortigen Bauleistungen erkunden, um dem Nürnberger Klarakloster Anregungen für den Chorneubau und für geeignete Fensterlösungen zu liefern. Nicht nur Dürer, auch seine Mitreisenden wurden mit konkreten Aufgaben betraut: Kaspar Nützel sollte sich bei der hl. Observanz umsehen und Lazarus Spengler das gemeinsame apostolische Leben ––––––––– 71

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seum Basel 26.–28. Juni 1997. In: Zeitschrift für schweizerische Archäologie und Kunstgeschichte 55 (1998) 2/4, S. 111–122. Initiator dieser nächtlichen Unternehmung soll entweder Abt Faber oder dem Chronisten Rem zufolge der Bürgermeister Imhof gewesen sein, der den Abt zu einem solichen gunckelhaus anstiftete (vgl. Wiedenmann: Dominikanerkirche [wie Anm. 9], S. 18f.). Die patrizischen Dominikanerinnen verstießen nicht zum ersten Mal gegen die Klausur. Die Klausurbestimmungen waren zwar in der Frühzeit der Ordensgemeinschaft bereits großzügig ausgelegt worden, doch hatte der Rat schon 1441 versucht, eine strengere Klausur durchzusetzen. Im selben Jahr verordnete der Augsburger Bischof den Schwestern von St. Katharina, Gespräche mit den Weltleuten nur noch durch zwei Sprechfenster zu führen (vgl. Kießling: Bürgerliche Gesellschaft und Kirche [wie Anm. 18], S. 38, 144; Walz: Dominikaner und Dominikanerinnen [wie Anm. 41], S. 62). Dass der Klosterneubau von St. Katharina auch mit der intendierten Verschärfung der Klausur einhergegangen sein könnte, überlegt zu Recht Kristin Böse: Rezension von: Gärtner: Römische Basiliken in Augsburg (wie Anm. 65). In: sehepunkte 3 (2003), Nr. 11 [15.11.2003], URL: http:// www.sehepunkte.historicum.net/2003/11/2805.html. Vgl. Büchner-Suchland: Hans Hieber (wie Anm. 25), S. 73. Vgl. Wiedenmann: Dominikanerkirche (wie Anm. 9), S. 18f. Wichtige Ansätze zur lange Zeit brachliegenden Erforschung der Frauenklöster in Süddeutschland bot die Tagung „Nonnen, Kanonissen, Beginen und Mystikerinnen. Frauengemeinschaften in Süddeutschland“, die vom 21. bis 23. September 2005 in Kloster Frauenchiemsee stattfand. Vgl. den Tagungsbericht von Helmut Flachendecker, Ingrid Gardill und Eva Schlotheuber [URL: http://www.ingrid-gardill.de/Tagungsbericht.pdf].

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auch unter finanziellen Gesichtspunkten erkunden. Dass Charitas Pirckheimer das Augsburger Katharinenkloster im Visier hatte, geht aus ihrer humorvollen Bemerkung hervor, die drei Reisenden mögen sich bei den schwarzen vnnd weyßen agerlastern 75 die Augen nicht so verrenken, dass sie die grauen wölflein in Nürnberg nicht wiedererkennen. 76 Von der Wirkung, die von den neuen zweischiffigen Ordenskirchen in Augsburg ausging, zeugen auch noch drei innovative Eisenradierungen des Stechers Daniel Hopfer, der die architektonische Disposition der Räume aufmerksam studiert haben muss. 77 Die Radierungen zählen ebenso wie Albrecht Altdorfers Darstellung der Regensburger Synagoge (um 1519) als Interieurdarstellungen zu den frühesten Beispielen der Druckgraphik nördlich der Alpen, in denen die Architektur nicht mehr primär Schauplatz einer Handlung ist, sondern erstmals selbst zum Hauptakteur wird. Für diese Tradition der Architekturdarstellung hatte der so genannte ‚Prevedari-Stich‘ (1481), den Donato Bramante während seines Mailandaufenthaltes entwarf und der nachweislich großen Einfluss auf Bild- und Architekturlösungen ausübte,78 vermutlich entscheidende Anregungen geliefert. Die hier exemplarisch gezeigte Eisenradierung Hopfers aus der Zeit um 1520 (Abb. 6, S. 506) vermittelt in den dezidierten Rekursen auf die Augsburger Katharinenkirche eine Vorstellung ihres ursprünglichen Erscheinungsbildes, das mit Beobachtungen der Augsburger Dominikanerkirche St. Magdalena bereichert sein könnte.79 Der Blick des Betrachters wird durch einen rosettengeschmückten, von Pilastern mit Rundeinlagen gestützten Rundbogen – ein Motiv, das auch die Fugger-Kapelle in St. Anna ziert – in einen steilen zweischiffigen Kirchenraum gelenkt. Dieser zeichnet sich durch hohe Rundbogenfenster aus, die an den Seitenwänden bis unter den Gewölbeansatz reichen. Die schlanken Rundpfeiler mit den reich ornamentierten Blattkapitellen und die rosettengeschmückten Gurtbögen prägen noch heute das Erscheinungsbild der ehemaligen Katharinenkirche. Dem Stich nach zu urteilen, bezieht der Betrachter seinen Standort im leicht erhöhten Chor, auf den die Altäre und Bildwerke ausgerichtet sind. Die Chorkapelle von St. Katharina war ursprünglich polygonal gebildet und mit drei Altären ausgestattet. 80 Innerhalb der drei Joche vor dem Ostchor entfaltet Hopfer seine ‚Parabel vom Scherflein der Witwe‘. Dahinter bildet die eingezogene Nonnenempore einen markanten, auf Säulen mit Rundbogen gestützten Querriegel vor dem flachen Abschluss der Rückwand. Der Einbau einer Nonnenempore ––––––––– 75 76 77

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Scherzhafte Bezeichnung für die schwarz-weiß gekleideten Dominikanerinnen. Dürer. Schriftlicher Nachlaß. Hg. von Hans Rupprich. Bd. 1. Berlin 1956, S. 80. Vgl. zu den drei Eisenradierungen Minni Gebhardt: Architekturdarstellungen auf Gemälden und Graphiken Augsburger Maler im Zeitabschnitt von 1490–1540. Diss. masch. Würzburg 1956, S. 116–124; s. auch Büchner-Suchland: Hans Hieber (wie Anm. 25), S. 74. Vgl. Franz Wolff Metternich: Der Kupferstich Bernardos de Prevedari aus Mailand von 1481. In: Römisches Jahrbuch für Kunstgeschichte 11 (1967/68), S. 9–108. Vgl. hierzu Welt im Umbruch. Augsburg zwischen Renaissance und Barock. Ausstellungskatalog. Bd. 1. Augsburg 1980, Kat.-Nr. 13. Juhnke: Bausteine zur Geschichte des Dominikanerinnenklosters (wie Anm. 18), S. 90.

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Abb. 6: Daniel Hopfer, Kircheninneraum mit der Parabel vom Scherflein der Witwe

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war bereits in mittelalterlichen Frauenklöstern aufgrund ihrer spezifischen Klausurvorschriften traditionell notwendig und vor allem dann unerlässlich, wenn die Kirche von konventsfernen Personen aufgesucht wurde. Lage und Form der Empore hingen somit auch vom jeweiligen Grad der Öffentlichkeit ab, 81 der für die Augsburger Katharinenkirche noch eingehender zu bestimmen wäre. So wurde bereits in einem Schreiben Jakob Villingers aus dem Jahr 1514 an Jakob Fugger ein Bauprojekt hinter dem Vorgängerbau des heutigen Schaezlerpalais diskutiert, das auch die Errichtung eines Verbindungsganges zum Katharinenkloster vorsah. Dieser gelangte jedoch ebenso wie das gesamte Bauprojekt nicht zur Umsetzung.82

II. Ebenso wie in St. Katharina boten sich den Augsburger Bürgern nun in der neu errichteten Predigerkirche attraktive Möglichkeiten für Stiftungen und Grablegen mit entsprechenden Erwartungen auf das Seelenheil. Vor allem die Stiftung von Retabeln fällt noch in eine Zeit reger Nachfrage, bevor deren Produktion in den 1520er Jahren, im Zuge der Reformation, zum Erliegen kam und sich erst gegen Ende des 16. Jahrhunderts wieder erholte. 83 Versucht man jedoch über die Ausstattung von St. Magdalena unmittelbar nach Vollendung des Neubaus Aufschluss zu erhalten, zeichnet sich zunächst ein karges Resultat ab. Wie bereits angemerkt, haben die einzigen Monographien zur Augsburger Predigerkirche von Hans Wiedenmann und Polykarp Sie––––––––– 81 82 83

Vgl. zu den vielfältigen Bautypen spätmittelalterlicher Nonnenemporen Jäggi: Frauenklöster im Spätmittelalter (wie Anm. 48), S. 185–246. Norbert Lieb: Die Fugger und die Kunst im Zeitalter der Spätgotik und frühen Renaissance. München 1952 (Studien zur Fuggergeschichte 10), S. 91f. Sofern nicht – wie im Falle des Dominikanerklosters in Augsburg – neue Räume für die Stiftungen zur Verfügung standen, konnte der gewaltige, bis in die 1520er Jahre anhaltende Stiftungsbedarf zum Beispiel auch damit befriedigt werden, dass ältere Ausstattungsteile an andere, zumeist unbedeutendere Kirchen abgegeben wurden, wie in St. Gallen, Windsheim und Lübeck. Vgl. Georg Habenicht: Die ungefaßten Altarwerke des ausgehenden Mittelalters und der Dürerzeit. Onlinepublikation 2002, URL: http://webdoc.sub.gwdg.de/ diss/2002/habenicht/habenicht.pdf, S. 163–165.

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mer aus den Jahren 1917 und 1936 bis heute keine Revision erfahren. 84 Beiden Bestandsaufnahmen zufolge scheint sich von den Stiftungen vor der Reformation bis auf zwei Kunstwerke nichts erhalten zu haben – ein steinernes ‚Magdalenenbild‘, das heißt eine Skulpturengruppe mit der trauernden Maria Magdalena am Kreuz, die im Augsburger Maximilianmuseum ausgestellt ist (Abb. 7), und noch eingehend zu untersuchen wäre, und der so genannte ‚Rehlingeraltar‘ aus der Werkstatt Ulrich Apts d. Ä. in der Augsburger Staatsgalerie (Abb. 8).85 Der mit APT signierte Dreiflügelaltar der Rehlinger, deren Wappen unten rechts auf der mittleren Altartafel dargestellt ist, Abb. 7: Trauernde Maria Magdalena am hat den volkreichen Kalvarienberg in einer Kreuz. Augsburg, Maximilianmuseum vom niederländischen Detailreichtum geprägten Darstellung zum Thema. Die Aussenseiten der beiden Flügel zeigen eine imposante Verkündigung in Grisaille, die eine unverkennbare Nähe zum ‚Sebastiansaltar‘ (1516) von Holbein d. Ä. in der Alten Pinakothek in München aufweist. 86 Der volkreiche Kalvarienberg – einen solchen hatte Ulrich Apt d. Ä. bereits um 1485 als Wandbild in der Goldschmiedekapelle von St. Anna in Augsburg ausgeführt87 – zeichnet sich unter Verzicht auf eine weite Landschaftsdarstellung durch eine dicht gedrängte Figurengruppe in der unteren Bildhälfte aus. Nur ein schmaler Ausblick auf den lichten Himmel trennt die Figurengruppe von der dunklen Wolkendecke, die Christus und die beiden – im Viernageltypus dargestellten – Schächer hinterfängt.88 Um das Kreuz Christi schwebende Engel fangen das Blut in Kelchen ––––––––– 84 85

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Vgl. Anm. 10. Vgl. Schawe: Staatsgalerie Augsburg (wie Anm. 65), S. 76f., Abb. 64/65, Abb. 75–79 (Infrarotreflektographien); zu Ulrich Apt d. Ä., dessen Œuvre einer Revision zu unterziehen wäre, vgl. Karl Feuchtmayr: Apt-Studien. Ulrich Apt der Aeltere, ein Augsburger Maler des 16. Jahrhunderts. Augsburg 1928 (Sonderabdruck aus: Beiträge zur Geschichte der deutschen Kunst 2), S. 97–132. Auch die kniende Soldatenfigur im Vordergrund ist vom ‚Sebastiansaltar‘ inspiriert. Dass der ‚Sebastiansaltar‘ von Joachim von Sandrart im Augsburger Katharinenkloster gesehen wurde (vgl. Krause: Holbein der Ältere [wie Anm. 65], S. 242), bestätigt die ältere These, dass dieser – eventuell im Auftrag der Dominikanerin Magdalena Imhof – für die Dominikanerinnenklosterkirche geschaffen wurde. Eine andere Herkunft vermutet Tilmann Falk 1976, demzufolge der ‚Sebastiansaltar‘ entweder aus einer Haus- bzw. Familienkapelle oder aus der Augsburger Sebastianskirche vor dem Jakobertor stammte, die in der Reformationszeit abgebrochen wurde. Vgl. Martin Schawe: Alte Pinakothek München. München 1999 (Prestel Museumsführer), S. 250–252. Vgl. Wilhelm: Augsburger Wandmalerei (wie Anm. 16), Kat.-Nr. 61. Eine vergleichbar konsequente Zweiteilung des Bildraumes zeichnet bereits Fra Angelicos ‚Kreuzigung‘ im Kapitelsaal von San Marco in Florenz aus. Sie tritt auch noch wenige

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auf und verweisen auf den sakramentalen Charakter des Opfertodes, während unheilvolle Fabelwesen im Stil Hieronymus Boschs den unreuigen Schächer umkreisen. Da der Bildvordergrund der Mitteltafel den raufenden Soldaten mit ihren derben Gesichtszügen vorbehalten ist, die würfelspielend um den Rock Christi losen, sind die trauernden Familienmitglieder – die Maria-JohannesGruppe und die beiden Marien – im linken Altarflügel vereint.

Abb. 8: Aptwerkstatt, sog. ‚Rehlingeraltar‘ mit der Darstellung der Kreuzigung Christi (links) und der Verkündigung (rechts), 1517. Augsburg, Staatsgalerie

Die Ikonographie der Darstellung und die damit verbundene Stiftungsidee sind noch nicht untersucht. 89 Zu den Figuren, die besondere Aufmerksamkeit beanspruchen, zählen jedoch die beiden Berittenen – hochrangig gekleidete ‚principes sacerdotum‘ –, die rechts unterhalb des Kreuzes in ein Gespräch vertieft sind. Dabei zeichnet sich die im verlorenen Profil dargestellte Rückenfigur durch eine „maximilianische“ Frisur und eine doppelreihige Kette über einem prächtigen Hermelin aus. Die Aufmerksamkeit des Betrachters beanspruchen zudem zwei zeitgenössisch gekleidete Figuren mit langen, schaubenbesetzten Mänteln, die auf den Opfertod Christi verweisen: der sog. „Gute Hauptmann“ auf dem rechten Seitenflügel, der dem Betrachter zugewandt ist, sowie die in –––––––––

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Jahre später in Albrecht Altdorfers ‚Kreuzigung‘ (um 1520; Budapest, Museum der Schönen Künste) in Erscheinung, der die Gruppe der Gekreuzigten mit strahlendem Licht – anstelle einer dunklen Wolkendecke – hinterfängt, die Lanzenspitzen jedoch ebenfalls als Verbindungsinstrumente zwischen den Figurengruppen und der oberen Bildhälfte einsetzt (vgl. Magdalena Bushart: Sehen und Erkennen. Albrecht Altdorfers religiöse Bilder. München 2004, Taf. XX). Es wäre für die Deutung des Bildes lohnenswert, die instruktive Untersuchung von Andrea-Martina Reichel einzubeziehen, die sich eingehend mit dem Typus des Kalvarienbildes, seinen Darstellungskonventionen und der Bedeutung zeitgenössischer und typisierter Kleidung am Beispiel des Hamburger Kreuzigungsbildes aus St. Katharinen befasst. Vgl. Andrea-Martina Reichel: Die Kleider der Passion. Für eine Ikonographie des Kostüms. Onlinepublikation 1998, URL: http://dochost.rz.hu-berlin.de/dissertationen/ kunstgeschichte/reichel-andrea/PDF/Reichel.pdf.

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einen gelben Mantel gehüllte männliche Figur im linken Bildvordergrund der Mitteltafel, die einen kleinen, auf einen Stock gestützten Knaben auf den Gekreuzigten hinweist – eine Gruppe, die Ulrich Apt d. Ä. in der volkreichen Kreuzigung der Goldschmiedekapelle von St. Anna bereits vorwegnahm.90 Dahinter blickt eine schwarz gekleidete männliche Figur auf das Kreuz Christi, die christliche Demut ausdrückt und sich aus der dicht gedrängten Gruppe herauszulösen scheint. Vor allem die beiden zuletzt Genannten weisen Porträtzüge auf – dem Katalog der Augsburger Staatsgalerie zufolge auch der „Gute Hauptmann.“91 Konkrete Anhaltspunkte für Stifterporträts gibt es ebenso wenig wie die Frage geklärt ist, welche Familienangehörigen der Rehlinger den Altar tatsächlich in Auftrag gaben.92 Der ‚Rehlingeraltar‘ dürfte jedoch nicht, wie seit Wiedenmann angenommen, für die Dominikanerkirche bestimmt gewesen sein. 93 Er ist zwar Pez (1709) und dem von Goldberg publizierten Inventar aus der Zeit der Säkularisation zufolge in St. Magdalena nachweisbar, 94 doch ist die Familie in Fabers Gedächtnisschrift an keiner Stelle erwähnt. Der Flügelaltar gibt deshalb Anlass zu einer anderen Überlegung. Die Rehlinger waren traditionell den Karmelitern von St. Anna und den Franziskanern verbunden. Schon 1470 stifteten sie eine Kapelle in der Barfüßerkirche als Grablege – in einer Konventskirche, deren soziales Stifterprofil weit auseinanderklaffte.95 Es ist durch Quellen bezeugt, dass die Rehlinger ihre Kapelle in der Barfüßerkirche 1514 von Grund auf erneuern ließen. Diese wurde erst im 17. Jahrhundert abgerissen. Im Zuge der Erneuerung gaben die Rehlinger vermutlich auch die eindrucksvolle Liegefigur des ‚hl. Alexius‘ bei Sebastian Loscher und Hans Burgkmair in Auftrag – das bislang einzig erhaltene Kunstwerk der Barfüßerkirche aus dieser Zeit.96 Möglicherweise stiftete die Patrizierfamilie in diesem Zusammenhang auch den ‚Rehlingeraltar‘. Diesen könnte dann dasselbe Schicksal ereilt haben, wie die Alexiusfigur, die nachweislich im 16. Jahrhundert aus der inzwischen protestantischen Barfüßerkirche entfernt wurde. 97 Dass der ‚Rehlingeraltar‘ dann im 18. Jahrhundert in der Dominikanerkirche nachweisbar ist, mag eine erklärbare ––––––––– 90 91 92 93

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Vgl. Wilhelm: Augsburger Wandmalerei (wie Anm. 16), Kat.-Nr. 61. Vgl. Schawe: Staatsgalerie Augsburg (wie Anm. 65), S. 35f. Ebd., S. 34. Zweifel an dieser Annahme äußert auch Guido Messling: Der Augsburger Maler und Zeichner Leonhard Beck und sein Umkreis. Studien zur Augsburger Tafelmalerei und Zeichnung des frühen 16. Jahrhunderts. Dresden 2006, S. 130. Vgl. Pez/Ed. Siemer: Klosterinventar (wie Anm. 10), S. 201; Gisela Goldberg: Über das Schicksal säkularisierten Kunstguts aus Bayerisch Schwaben. In: Klosterland Bayerisch Schwaben. Zur Erinnerung an die Säkularisation der Jahre 1802–1803. Hg. von Werner Schiedermair. Lindenberg 2003, S. 144–157, hier S. 151. Vgl. Kießling: Bürgerliche Gesellschaft und Kirche (wie Anm. 18), S. 185f. Vgl. von Hagen, Wegener-Hüssen: Stadt Augsburg (wie Anm. 1), S. 84–88. Zur Figur des ‚hl. Alexius‘ vgl. Der heilige Alexius im Augsburger Maximilianmuseum. Hg. vom Bayerischen Landesamt für Denkmalpflege. München 1994 (Arbeitshefte des Bayerischen Landesamtes für Denkmalpflege 67). Renate Eickelmann: Der heilige Alexius von Sebastian Loscher. In: Der heilige Alexius (wie Anm. 96), S. 7–24, hier S. 8.

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Ursache haben: Die Rehlinger hatten dort 1614 die Kapelle der Familie Meiting übernommen 98 und bei dieser Gelegenheit möglicherweise den Altar in die Kapelle transferiert.

III. Nach der zweifelhaften Provenienz des ‚Rehlingeraltars‘ scheint sich nur noch die in das Leiden Christi versunkene Magdalena am Kreuz (Abb. 7, S. 507) als einzige Stiftung der Neuausstattung von St. Magdalena im frühen 16. Jahrhundert erhalten zu haben. Dass dem nicht so ist, belegt die Konsultation von Künstlermonographien, Ausstellungs- und Museumskatalogen. Es ist hier kaum Raum, um alle Stiftungen eingehend zu behandeln. Deshalb soll der aktuelle Kenntnisstand skizziert werden, bevor abschließend auf vier Stiftungen näher eingegangen und davon ausgehend die Frage gestellt wird, welche Beobachtungen sich anstellen lassen, wenn man den Blick vom Sakralraum in den städtischen Raum richtet und auch die Stadthäuser der entsprechenden Stifterfamilien in den Blick nimmt. Als eine Stiftung für die Predigerkirche wird seit Alfred Schädler 199499 die hervorragende Arbeit einer lebensgroßen, farbig gefassten ‚Maria Magdalena‘ des in Augsburg tätigen Bildhauers Gregor Erhart in Erwägung gezogen (Abb. 9).100 Die um 1515 geschaffene Figur, deren nackter, nahezu im Kontrapost positionierter Körper von dem langen, vergoldeten Haar nur teilweise bedeckt wird, steht heute im Louvre. Dieser Typus der bußfertigen Magdalena wurde schon im 13. Jahrhundert insbesondere von den Franziskanern und Dominikanern bevorzugt und gelangte vor allem im Deutschland der Spätgotik und Renaissance unter Betonung ihres nackten Körpers zu weiter Verbreitung. Aufgrund der allansichtigen Ausarbeitung und Farbfassung wird überzeugend angenommen, dass die Figur der ‚Maria Magdalena‘ ursprünglich im Kirchenraum aufgehängt und von Engeln umgeben war, die sie Richtung Himmel emporhoben. Erharts Magdalena könnte das Pendant zu einer ebenfalls hängenden Rosenkranzmaria gebildet haben, die in späteren Inventaren bezeugt ist.101 Einen Eindruck oval gerahmter, hängender Figurengruppen vermitteln Werke aus derselben Zeit, wie der ‚Englische Gruß‘ von Veit Stoß (1517–1518) aus St. Lorenz in Nürnberg oder Tilmann Riemenschneiders ‚Rosenkranzmadonna‘ (1521– 1523) aus der Wallfahrtskirche bei Volkach. Als Stifter eines bild[es] maria magdalena zum Preis von 70 fl. erwähnt Faber in seiner Gedächtnisschrift Hans ––––––––– 98 99

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Vgl. auch Messling: Leonhard Beck (wie Anm. 93), S. 130. Alfred Schädler: Gregor Erharts „La Belle Allemande“ im Louvre. In: Festschrift für Hermann Fillitz zum 70. Geburtstag. Hg. von Martina Pippal. Köln 1994 (Aachener Kunstblätter 60), S. 365–376. Hierzu ausführlich: Sophie Guillot de Suduiraut: Gregor Erhart. Sainte Marie-Madelaine. Paris 1997 (Collection solo 6). Ebd., S. 16.

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Kötzer, den er unter den Stiftern verzeichnet, deren Begräbnisstätten außerhalb der Kapellen – und zwar auf der mitnacht und der mittag seyten – lagen. Im Falle von Kötzer war dies die erste gegen mitnacht seyten 102 und somit die Nordseite des Kirchenraumes. Ein Hans Kötzer ist von 1498 bis 1503 als Zwölfer der Weberzunft nachweisbar. 103 Mehr ist über ihn bislang nicht bekannt. Ob es sich bei seiner Stiftung allerdings um Erharts ‚Maria Magdalena‘ oder um die trauernde Magdalena am Kreuz handelt, ist ungewiss. Wiedenmann zufolge, der sich ebenfalls auf Fabers Gedächtnisschrift beruft, sei Kötzers Magdalenenaltar (gemeint ist allerdings die Gruppe der trauernden Magdalena am Kreuz) ursprünglich an der letzten Säule vor den beiden Choraltären aufgestellt gewesen. Diese Lokalisierung geht aus Fabers Hinweis auf die erste gegen mitnacht seyten jedoch nicht klar hervor. Wenngleich auch Erharts Magdalena einer seitlichen Platzierung aufgrund ihrer gegenläufigen Bewegungsrichtungen standhalten könnte, sind Stiftung und Lokalisierung der beiden Plastiken noch ungeklärt. Auch die Thoman Burgkmair, dem Vater von Hans Burgkmair d. Ä., zugeschriebenen Abb. 9: Gregor Erhart, Maria vier Tafeln eines Altars (Abb. 10)104 könnten Magdalena, um 1515. Paris, Louvre für das Dominikanerkloster bestimmt gewesen sein – wenn nicht gar für das Katharinenkloster, das Thoman Burgkmair des Öfteren mit Aufträgen betraute. 105 Christof Metzger zufolge106 handelt es sich bei den vier Altartafeln um die erhaltenen Reste eines beidseitig bemalten Flügelretabels. An den Außenseiten der Flügel waren die beiden bedeutendsten Heiligen des Predigerordens zu sehen: Petrus von Mailand und Vincenz Ferrer, der im deutschsprachigen Raum nur selten dargestellt wurde. Die Flügelinnenseiten zeigten die Auferweckung eines totgeborenen Kindes auf dem Grab des hl. Petrus von Mailand und die Beisetzung des ––––––––– 102 103 104 105

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Faber/Ed. Dirr: Gedächtnisschrift (wie Anm. 29), S. 177. Vgl. Augsburger Eliten im 16. Jahrhundert. Prosopographie wirtschaftlicher und politischer Führungsgruppen 1500–1620. Hg. von Volker Reinhardt. Berlin 1996, S. 415. Die Altartafeln sind seit 2007 in der Augsburger Staatsgalerie ausgestellt. Thoman Burgkmair malte vor allem Passionsszenen und Mariendarstellungen für das Katharinenkloster. Vgl. Juhnke: Bausteine zur Geschichte des Dominikanerinnenklosters (wie Anm. 18), S. 90. Für die Informationen zu diesem Altarbild danke ich besonders Christof Metzger.

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hl. Dominikus. Das Mittelbild oder der Schrein ist verloren. Dass der Altar für den Predigerorden 107 oder den benachbarten Dominikanerinnenkonvent bestimmt war, ist folglich aus ikonographischen Gründen zu erwägen. Weitere Nachweise, auch zu den Stiftern, fehlen jedoch.

Abb. 10: Thoman Burgkmair (zugeschr.), Altar mit Dominikanerheiligen, schematische Rekonstruktion im geschlossenen (links) und geöffneten Zustand (rechts). Augsburg, Staatsgalerie

Nach diesen noch eingehender zu klärenden Werken ist nun auf die Stiftungen einzugehen, an deren Provenienz und Auftraggeberschaft kaum mehr Zweifel bestehen. Die Stifter der ersten Bau- und Ausstattungsphase sind über Fabers Gedächtnisschrift hinaus auch durch den 1515 datierten Stifterstein in St. Magdalena bezeugt, dessen Gesamtaufbau das Wappen des Kardinals Matthäus Lang von Wellenburg (1468/1469–1540) dominiert.108 Wappen und Namen der Beteiligten lassen eine geschlossene soziale Schicht erkennen: wenige Patrizier, gefolgt von einflussreichen Kaufmannsfamilien. 109 Diese prägten durch ihre vorwiegende Position im Zwölfer der Zünfte das wirtschaftliche Leben der Stadt und konnten zumeist auch mit Stolz auf den von Kaiser Maximilian I. ver––––––––– 107

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Bis in das frühe 18. Jahrhundert gab es eine Dominikuskapelle in St. Magdalena, die schon 1515 dem Augsburger Kaufmann Hans Baumgartner zugeeignet wurde. Vgl. Faber/Ed. Dirr: Gedächtnisschrift (wie Anm. 30), S. 172; Wiedenmann: Dominikanerkirche (wie Anm. 8), S. 28. Der Patrizier Matthäus von Lang war einer der wichtigsten Räte von Maximilian I. und für Faber auch eine zentrale Verbindungsfigur zum habsburgischen Hof (vgl. Kießling: Bürgerliche Gesellschaft und Kirche [wie Anm. 18], S. 299f.). Wilhelm Rem berichtet in seiner Chronik mit großem Misstrauen, Lang habe 1517 seinen Titel auf die Tür der Domprobstei schreiben lassen, sich protzig gegenüber den Bürgern verhalten und seinen Adelstitel zur Schau gestellt (vgl. Rem: Chronica [wie Anm. 35], S. 144f.). Zum rasanten Aufstieg des Matthäus Lang von Wellenburg und den Vorbehalten der Bürger vgl. Christoph Böhm: Die Reichsstadt Augsburg und Kaiser Maximilian I. Untersuchungen zum Beziehungsgeflecht zwischen Reichsstadt und Herrscher an der Wende zur Neuzeit. Sigmaringen 1998 (Abhandlungen zur Geschichte der Stadt Augsburg 36), S. 140–150. Die Stifter sind auf dem Gedächtnisstein wie folgt verzeichnet: von links oben nach unten jac fugker, G kvngsperger, H bongartner, A laginger, G rögel, M von Stetten, M wirsing; von rechts oben nach unten Phil adler, Hiero im hof, Mel stuntz, L meiting, h laginger, Manlich, S bongartner, H noll; von unten links nach unten rechts go freihalmer, h gassner, Rmundus [Fugger], Ulrich [Fugger], Anthoni [Fugger], jheronimus [Fugger].

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liehenen Ehrentitel „Kaiserlicher Rat“110 blicken. Wie bereits erwähnt, gibt Fabers Gedächtnisschrift kaum näheren Aufschluss über die ursprüngliche Ausstattung von St. Magdalena. Abgesehen von wenigen Gattungsbezeichnungen wie altartafel (Gemälde) oder bild (Plastik) verzichtet er nicht nur auf die Benennung der beteiligten Künstler, sondern zumeist auch auf die Ikonographie der gestifteten Werke. Bemerkenswert ist allerdings, dass er kostbaren Materialien einen besonderen Stellenwert beimisst, und zwar in erster Linie Stoffen wie Samt und Damast 111 sowie Marmor (marbelstain), der nachweislich ab etwa 1490/1500 zu den ästhetisch bevorzugten und zugleich antik konnotierten Materialien zählte. 112 Nur in diesem Zusammenhang lässt sich der Konventsprior zu dem Geschmacksurteil gar kostlich hinreißen. Von der gesamten bildlichen Ausstattung wird hingegen nur die Ausmalung dreier Gewölbeeinheiten mit vast köstlich bedacht, die Jörg Königsberger gestiftet hatte. 113 Auf dessen Altarbild ist später noch einzugehen. Nicht weniger aufschlussreich ist eine Bemerkung Fabers bezüglich der Stiftung eines Altarbildes für die Sakristei (Abb. 11, S. 515) durch den bekannten Augsburger Buchdrucker Max Wirsung. Nur in diesem Fall vermerkt der Prior ausdrücklich, dass Wirsung auf sein Wappen verzichtet habe, als ob die Altartafel uns, dem Bau, und nicht ihm gehöre. 114 In Anbetracht der Wappenfülle, nicht nur auf dem Stifterstein in der Predigerkirche, sondern etwa auch auf den erhaltenen Retabeln, Epitaphien oder Schlusssteinen Augsburger Kirchen mag diese Bemerkung ebenso spitzfindig wie nebensächlich erscheinen. Sie könnte jedoch auch Ausdruck einer Sensibilität gegenüber der symbolischen Präsenz der Stifter und der heraldischen Vereinnahmung des Raumes sein, deren Beweggründe und Grenzen noch auszuloten wären.115 Dass die kritische Wahrnehmung von Wappen zu Beginn des 16. Jahrhunderts kein Einzelfall war, belegt auch eine Bemerkung des Chronisten Rem: Felicitas Fugger habe den Schwestern des Katharinenklosters eine bestimmte Geldsumme für die Aufmalung ihres Wappens in der Kirche geboten. Die Nonnen hätten jedoch beklagt, dass man in Zukunft denken könne, die gesamte Kirche sei eine Stiftung der Fugger.116 In Parenthese sei darauf verwiesen, dass Jakob Fugger schon 1495/96 ––––––––– 110 111

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Vgl. Anm. 26. Zum Repräsentationswert von Stiftungen wie liturgischen Geräten und Paramenten, die auch mit Wappen verziert sein konnten, vgl. Boockmann: Mäzenatentum (wie Anm. 7), S. 38. Vgl. Eser: „Künstlich auf welsch und deutschen sitten“ (wie Anm. 7), S. 328f. Zur Frage der Materialikonologie vgl. Thomas Raff: Die Sprache der Materialien. Anleitung zu einer Ikonologie der Werkstoffe. München 1994 (Kunstwissenschaftliche Studien 61). Vgl. Faber/Ed. Dirr: Gedächtnisschrift (wie Anm. 30), S. 171. Ebd. S. 175. Zum Beitrag dynastischer Wappen zur politischen Raumbildung vgl. die Untersuchung von Heck: Genealogie als Monument (wie Anm. 61). Anno dni. 1517 da ward sant Katterina kirchen gar ausgemacht; das kloster zu sant Katterina lies die kirchen von neuem pauen. Es was ein klosterfrau, die hies Felitz Fuggerin, die gab 1 M fl. zu dem pau, doch man mußt sie ir wapen in das gwelb in den neuen kor lassen machen. Das gerau die klosterfrauen übel, dass sie die kirchen nicht gar zalt hetten, dan über vil jar so mecht man mainen, dieselb Fuggerin hab die kirchen gar

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sowohl die Aufnahme in die Geschlechterstube verweigert wurde als auch sein Angebot zu deren Neubau – unter der Bedingung, dass sein Wappen dort angebracht werde. 117 Zur selben Zeit, 1496, entflammte auch in Nürnberg eine Diskussion bezüglich der Anbringung von Wappen. Dort fasste der Rat den Beschluss, dass diese nicht mehr in Form von Reliefs, sondern nur gemalt präsentiert werden sollen, und entschloss sich 1498 dazu, das Problem der Wappenschilde in und an Kirchen in einer Vollversammlung nochmals grundsätzlich neu zu regeln. 118 Dies könnte durchaus damit zusammenhängen, dass in Städten mit ausgeprägtem oligarchischen Interesse Grenzen gezogen wurden, die dem Ruhm der Stifter Einhalt zu gebieten suchten, wie auch die Ratsbeschlüsse der Stadt Nürnberg über die materielle Pracht und maximale Größe der Totenschilde belegen.119 In der Augsburger Predigerkirche erhielt Jakob Fugger jedenfalls 1516 die vertragliche Zustimmung zur Anbringung des Fuggerwappens, als ihm die fünfte Kapelle auf der Nordseite zugeeignet wurde (Abb. 11). Die Fuggerkapelle in St. Magdalena hatte jedoch eine spezielle Funktion: Sie war, wie Benjamin Scheller nachweisen konnte, ursprünglich als Grablege für Jakob Fuggers Frau, Sybilla Arzt, bestimmt. 120 Die Kapelle war somit zentraler Bestandteil einer ausgedehnten Stiftertopographie und bildete über die architektonischen Raumgrenzen hinweg das Pendant zur Grablege der männlichen Fuggernachkommen in St. Anna. Obwohl die Fugger über ihre Kapellenausstattung hinaus eine Gruppe mit Christus am Kreuz und den beiden Schächern für die innere Eingangswand der Dominikanerkirche stifteten, über deren Verbleib bislang nichts bekannt ist,121 und den Neubau mit gut einem Fünftel der Bausumme finanzierten, sind sie in Fabers Gedächtnisschrift nicht an erster Stelle erwähnt. Denn un–––––––––

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lassen machen (Rem: Chronica [wie Anm. 35], S. 82f.). Felicitas Fugger (1495–1539), die 1508 in das Dominikanerinnenkloster eintrat, bekam 1511 bei der Erbteilung der Fugger 1.000 fl. für den Bau von St. Katharina zugesagt, die 1512 in die Errichtung des Chors flossen. Vgl. Lieb: Fugger und die Kunst (wie Anm. 82), S. 54, 338. Vgl. ebd., S. 283f. Vgl. Michael Baxandall: Die Kunst der Bildschnitzer. Tilman Riemenschneider, Veit Stoß und ihre Zeitgenossen. München 1984, S. 94f. Vgl. Boockmann: Mäzenatentum (wie Anm. 7), S. 42f. Die Fugger erwarben bereits 1512, noch vor Vollendung des Neubaus, eine Kapelle samt Begräbnisrecht, die ursprünglich einem gewissen Hans Umbach gehörte. Dieser hatte eine Anniversarstiftung aus dem Jahr 1466 hinterlassen, deren liturgische Memorialdienste nun auf die Fugger übertragen wurden. Nach Vollendung des Kirchenneubaus stellte Faber am 3. Dezember 1516 einen Brief an Jakob Fugger und seine Neffen aus „bezüglich der ihnen wunschgemäß zugeteilten Kapelle und sicherten ihnen das Recht zu, sie mit Altartafeln, Kirchenstühlen, Grabsteinen und anderem auszustatten und mit ihrem Wappen zu schmücken“. Die Kosten für den Bau der Kapelle dürften bei ca. 1.500 fl. gelegen haben – womit die Fugger den größten Beitrag zur Finanzierung des Neubaus leisteten. Die Kosten für die Ausstattung der Kapelle kamen noch hinzu. Sybilla Arzt, die bald nach dem Tod Jakob Fuggers wieder heiratete, wurde zwar nicht in St. Magdalena bestattet, dafür aber 1535 Raymund Fuggers Gattin Katharina Thurzo. Vgl. Scheller: Memoria an der Zeitenwende (wie Anm. 4), S. 83f. Vgl. Faber/Ed. Dirr: Gedächtnisschrift (wie Anm. 30), S. 172; Rem: Chronica (wie Anm. 35), S. 72; Wiedenmann: Dominikanerkirche (wie Anm. 9), S. 33.

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mittelbar auf die Ehrbezeugung an Papst Leo X., Kaiser Maximilian I. und Herzog Georg von Sachsen, der dem Hause Habsburg eng verbunden war und der Dominikanerkirche ein Lavabo aus Marmor stiftete, folgt der einflussreiche Augsburger Kaufmann und Kaiserliche Rat Philipp Adler. Dass sich Adler, der in Speyer geboren wurde und 1489 in Venedig tätig war, 122 bereits 1513 in einem repräsentativen Bildnis von Hans Holbein d. Ä. porträtieren ließ – dem bislang nicht identifizierten ‚Herrn mit der Pelzmütze‘ (1513) aus dem Baseler Kunstmuseum –, konnte Annette Kranz erstmals schlüssig nachweisen. 123 Nur wenige Jahre später stellte Adler seinen sozialen und wirtschaftlichen Rang auch in der Predigerkirche auf das Eindrucksvollste zur Schau, in deren Bau und Ausstattung er die beachtliche Summe von 1.000 fl. investierte. 124 Dies belegt noch der bekannte Stich von Daniel Hopfer (Abb. 12), der die 1518 von Adler getätigte Stiftung eines sacramentshaus[es] von marmelstain zeigt. 125 Das Sakramentshaus war in rotem und weißem Marmor gearAbb. 11: Grundriss der ehem. beitet, mit Säulen aus grünem Jaspis geDominikanerkirche St. Magdalena in schmückt und reichte dem Inventar von Pez Augsburg (XI: Alte Sakristei; V: 1515 Jakob Fugger; VI: 1515 aus dem Jahr 1709 zufolge an der östlichen Gebrüder Hans und Michael von Chorwand bis zum Gewölbeansatz der Stetten) Kirche. 126 Hopfer vermittelt noch die Qualität des künstlerischen Entwurfs, die mit der Daucherwerkstatt in Verbindung gebracht wird.127 Im Zentrum der nach oben hin abgestuften, dreigeschossigen Bogenarchitektur mit ihrer reichen Architekturornamentik erscheint Christus am Kreuz unterhalb des Auferstandenen. Ein Dominikanermönch blickt zu ihm empor. Die noch von Pez 1709 erwähnte ––––––––– 122 123

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Vgl. Augsburger Eliten (wie Anm. 103), S. 4. Annette Kranz: Zum ‚Herrn mit der Pelzmütze‘ von Hans Holbein dem Älteren. Das Bildnis des Augsburger Kaufmanns Philipp Adler. In: Marburger Jahrbuch für Kunstwissenschaft 33 (2006), S. 175–195. Vgl. Faber/Ed. Dirr: Gedächtnisschrift (wie Anm. 30), S. 171. Vgl. ebd.; Welt im Umbruch (wie Anm. 79), Kat.-Nr. 13. Zur Verehrung des Sakraments und zur Errichtung von Sakramentsaltären vgl. Jörg Träger: Renaissance und Religion. Die Kunst des Glaubens im Zeitalter Raphaels. München 1997, S. 234f. Vgl. Pez/Ed. Siemer: Klosterinventar (wie Anm. 10), S. 199. Das Sakramentshaus wurde 1724 abgebrochen und seine kostbaren Materialien zur weiteren Ausschmückung von Altären verwendet. Vgl. Wiedenmann: Dominikanerkirche (wie Anm. 9), S. 33. Vgl. Bushart: Fuggerkapelle (wie Anm. 4), S. 340. Zu Hans Daucher vgl. Thomas Eser: Hans Daucher. Augsburger Kleinplastik der Renaissance. München u. a. 1996 (Kunstwissenschaftliche Studien 65).

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Abendmahlsszene in der unteren Rundbogennische soll Hopfer durch die hl. Sippe ersetzt haben. An den Stiftern des Sakramentshauses lässt Hopfer keine Zweifel: Adlers Wappen und das seiner Frau Anna Ehem werden zweimal in lebendiger Manier präsentiert: an den Außenseiten der Sockelzone von zwei knienden Putti sowie auf Höhe des Auferstandenen von zwei dynamisch positionierten Fackelträgern. Die Inschrift in der unteren Bogennische verweist zusätzlich auf den PATRICIUS Adler: OCH [statt HOC] OPUS FECIT PHILIPPUS ADLER PATRICIUS M DXVIII. Da die Familie Adler erst 1534 in das Patriziat aufgenommen wurde, dürfte der Titel als humanistische Ehrenbezeichnung fungieren.128 Das Sakramentshaus muss allein schon seiner Größe und qualitätvollen Ausarbeitung wegen einen optischen Bezugspunkt ersten Ranges im flachen Ostchor gebildet haben. Darüber hinaus dürfte der spektakuläre und dazu noch polychrome Einsatz von Marmor die bezeugten Stiftungen von Marmorepitaphien in der Predigerkirche bei weitem übertroffen haben. Es wäre noch eingehender auszuloten, wie es um den Einsatz von Marmor speziell im Sakralraum um 1500 in Augsburg bestellt war, der das Gesamterscheinungsbild der Fuggerkapelle in St. Anna zwar kaum überbieten, andernorts aber die Konkurrenz in der traditionellen Aufgabe der Gedächtnisstiftung beleben konnte.129 Abb. 12: Daniel Hopfer, Der Handelsherr und Kaiserliche Rat PhiSakramentshaus lipp Adler, der als Zunftmeister der Salzfertiger auch Mitglied des kleinen Rats war, 130 bietet hinsichtlich der Frage nach den Medien sozialer Rangdemonstration einen interessanten Ausgangspunkt. Wie Adler sich nur wenige Meter vom Dominikanerkloster entfernt auch im urbanistischen Gefüge der Stadt behauptete, offenbart der Blick auf sein Stadthaus ––––––––– 128 129

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Für diesen Hinweis danke ich besonders Rolf Kießling. Katharina Krause resümiert zu Recht, dass in St. Magdalena „führende Augsburger Familien mit Innovationen in der traditionellen Aufgabe der Gedächtnisstiftung konkurrierten, wobei die spektakuläre neue Weise, die Retabel in Marmor und als Kleinarchitekturen zu errichten“, die größte Aufmerksamkeit bei Faber fand. Vgl. Krause: Holbein der Ältere (wie Anm. 65), S. 105. Vgl. auch Jörg Rogge: Für den Gemeinen Nutzen. Politisches Handeln und Politikverständnis von Rat und Bürgerschaft in Augsburg im Spätmittelalter. Tübingen 1996, S. 198.

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(Abb. 2, S. 492). Dieses ließ er zwischen 1497 und 1499 am Weinmarkt errichten. Es zeugt vom intendierten Anspruch des Bauherrn, dass die Errichtung des Stadthauses in eine Zeit fällt, in der Kaiser Maximilian I. zweimal die Aufnahme Philipp Adlers in die Herrentrinkstube zu erwirken versuchte, allerdings ohne Erfolg131. Adlers Haus lag als Vorgängerbau des heutigen Schaezlerpalais an der Ecke Maximilianstraße/Katharinengasse.132 Schon 1521 betont Seld den blockhaften Charakter dieses imposanten, dreigeschossigen Handelshauses133 mit der charakteristischen Tordurchfahrt, das die benachbarten Fuggerhäuser an Höhe deutlich zu übertreffen scheint. Es ist für die zeitgenössische Wahrnehmung des Hauses nicht unerheblich, dass Seld dessen spätgotische Eckgiebel beträchtlich überzeichnet. Sie erscheinen wie Reminiszenzen an Ecktürme, die sich nach allen vier Seiten behaupten. Für die Wahrnehmung des Wohnpalastes waren weitere zentrale Merkmale entscheidend: Während die Fuggerhäuser durch ihre beträchtliche Längserstreckung den Raum in Beschlag nehmen, zeichnet sich das Adlerhaus durch die solitär wirkende Beanspruchung einer urbanistischen Ecksituation aus. Es reiht sich damit in ein von Robert Pfaud bemerktes Spezifikum Augsburger Grundstücke ein, die an Eck- und Straßengabelungen lagen, zumeist geschlossene Blöcke bildeten und in der Hand wohlhabender oder angesehener Bürger waren. 134 Die beiden Ansichtsseiten des Adlerhauses wurden zugleich für eine illusionistische Wandmalerei genutzt, die vermutlich um 1500 vollendet war und den Fassaden reichen plastischen Charakter verlieh. Während die nördliche Giebelfassade zur Katharinengasse eine Scheinarchitektur mit „monumentalem Maßwerkschmuck“ zierte, richtete sich die giebelständige Hauptfassade mit einem herrschaftsallegorischen Programm135 unmittelbar auf den Platz vor dem Siegelhaus, der nur wenige Jahre später modernisiert worden war: 1508 schuf Burkhard Engelberg ein neues Brunnenbecken, dessen Bildsäule Sebastian Loscher 1516 im Auftrag der Stadt errichtete. Der Brunnen wurde 1602 durch den Herkulesbrunnen von Adriaen de Vries ersetzt.136 Die Hauptfassade des Adlerhauses zeichnete sich zudem durch ein wei––––––––– 131 132

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Vgl. Böhm: Reichsstadt Augsburg (wie Anm. 108), S. 171f. Das Haus stand auf dem Areal, das sich bereits 1346 im Besitz der Patrizierfamilie Minner befand. Aufgrund seiner Nähe zum Salzstadel gelangte es immer wieder in den Besitz von Salzfertigern, deren Zunft schon im 15. Jahrhundert eine Reihe von Bürgermeistern stellte. Vgl. Gabriele von Trauchburg: Häuser und Gärten Augsburger Patrizier. München u. a. 2001, S. 43–46; Bischoff: Der vilkunstreiche Architector (wie Anm. 3), S. 134; Häußler: Marktstadt Augsburg (wie Anm. 20), S. 87. Zu Beginn des 16. Jahrhundert überwog noch das ein- bis zweigeschossige Haus. Vgl. Pfaud: Bürgerhaus (wie Anm. 14), S. 30. Ebd. S. 25. Die obere Maximilianstraße zeichnete sich durch eine giebelständige Bebauung geringer Breite mit zurückliegenden Gärten und – vor allem auf der Ostseite – zusätzlichen Höfen sowie zweiten Rückgebäuden aus. Vgl. Doris Hascher: Fassadenmalerei in Augsburg vom 16. bis zum 18. Jahrhundert. Augsburg 1996 (Schwäbische Geschichtsquellen und Forschungen 16), S. 53f., Kat.-Nr. 77. Sebastian Loscher hatte bereits zwischen 1510 und 1515 im Auftrag der Stadt drei Marmorbrunnen – bei St. Ulrich, am Weberhaus und bei St. Anna – errichtet bzw. erneuert. Der Brunnen am Weinmarkt soll in seiner Anlage dem Fischbrunnen neben dem alten Rathaus entsprochen haben, für den Loscher 1510 die Bildsäule fertigte. Vgl. Karl Feucht-

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teres architektonisches Merkmal aus, das erstmals in der Stadtansicht von Kilian (1626) (Abb. 13) zur Anschauung gelangte: einen dreigeschossigen Erker mit säulenverzierter Loggia, der zum Weinmarkt ausgerichtet ist und somit gleichsam als Zuschauerloge wie als „Ansichtsraum“ fungiert. Zu Beginn des 16. Jahrhunderts zierten jedoch vorwiegend eingeschossige und dazu noch geschlossene Erker die Fassaden Augsburger Bürgerhäuser. 137 Der Erker des Adlerhauses wird deshalb auch als ein wichtiger Vorläufer erachtet für den mehrgeschossigen, reich skulpierten Eckerker des repräsentativen Wohn- und Handelshauses der Höchstetter am Kesselmarkt, das Ambrosius Höchstetter ebenfalls auf einem herausragenden Eckgrundstück erbauen und mit anspruchsvollen Fassadenmalereien 138 dekorieren ließ. Die aufstrebende, bald zu den reichsten Kaufleuten zählende Handelsfamilie Höchstetter139 – die auch in St. Magdalena mit einer Kapellenstiftung und weiteren Zuwendungen bezeugt ist –, 140 ließ ihren Eckerker mit einem genealogischen Programm schmücken, das der eigenen Familie galt und zugleich König (ab 1508 Kaiser) Maximilian I. und das Haus Habsburg huldigte.141 Bezüglich der Errichtung mehrgeschossiger Erker, die sich in Form von Balkons und Loggien repräsentativ öffnen, fehlt zwar noch eine systematische Vergleichsbasis für das frühe 16. Jahrhundert. Es erscheint jedoch nicht unerheblich, dass Maximilian I. kurz vor 1500 seinen spätgotischen Prunkerker mit dem Goldenen Dachl in Innsbruck errichten ließ. Der geöffnete und mit einem habsburgischen Programm bemalte Erker visualisierte die Präsenz des Kaisers in der Stadt und diente ihm zugleich als Zuschauerloge bei Festlichkeiten.142 Auch im Hause Philipp Adlers war Maximilian I. mehrfach – nachweislich schon im Jahr 1500 – zu Gast, als die Fuggerhäuser als solche noch nicht er–––––––––

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mayr: Die Bildhauer der Fugger-Kapelle bei St. Anna zu Augsburg. Stilkritische Bemerkungen zu Sebastian Loscher und Hans Daucher. In: Lieb: Fugger und die Kunst (wie Anm. 82), S. 433–471, hier S. 443, 465, Anm. 86; Eickelmann: Alexius (wie Anm. 97), S. 11. Schon 1414 ist ein Brunnen auf dem Weinmarkt nachgewiesen. Vgl. Adriaen de Vries 1556–1626. Augsburgs Glanz – Europas Ruhm. Hg. von Björn R. Kommer. Aust.Kat. Heidelberg 2000, S. 205. Vgl. Pfaud: Bürgerhaus (wie Anm. 14), S. 30f. Die Fassadendekoration des Adlerhauses wies vor allem auch in den geharnischten, scheinplastischen Figuren eine Ähnlichkeit zur Wandmalerei des Höchstätterhauses auf, die in das Jahr 1513 – zwei Jahre früher als der Damenhof der Fugger – datiert. Vgl. Hascher: Fassadenmalerei (wie Anm. 135), S. 53f., Kat.-Nr. 56, Nr. 77. Ambrosius Höchstätter heiratete 1493 Anna Rehlinger, die Tochter des Patriziers Jacob Rehlinger. Zu Aufstieg und Fall der Familie Höchstätter vgl. Peter Burschel, Mark Häberlein: Familie, Geld und Eigennutz. Patrizier und Großkaufleute im Augsburg des 16. Jahrhunderts. In: „Kurzweil viel ohn’ Maß und Ziel“. Augsburger Patrizier und ihre Feste zwischen Mittelalter und Neuzeit. Ausstellungskatalog. München 1994, S. 48–65. Vgl. Faber/Ed. Dirr: Gedächtnisschrift (wie Anm. 30), S. 173. Zum Erker des Höchstetterhauses vgl. Norbert Lieb: Der Erker des Höchstetter-Hauses in Augsburg. In: Neue Beiträge zur Archäologie und Kunstgeschichte Schwabens. Julius Baum zum 70. Geburtstag am 9.4.1952 gewidmet. Stuttgart 1952, S. 128–133; zum Höchstetterhaus vgl. auch Bischoff: Der vilkunstreiche Architector (wie Anm. 3), S. 134–136. Vgl. Johanna Felmayer: Das Goldene Dachl in Innsbruck. Maximilians Traum vom Goldenen Zeitalter. Reith i. A. 1996.

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richtet waren, und wohnte von dort aus den Turnieren auf dem Weinmarkt bei. Ebenso wie Jakob Fugger und die Familie Höchstätter zählte Adler zu den Großbankiers, von deren Darlehen Maximilian auch abhängig war.143 Sofern der geöffnete Erker des Adlerhauses tatsächlich aus der ersten Bauphase stammt – da keine früheren Darstellungen bekannt sind, müssten entsprechende Bauakten ausgewertet werden –, wäre zu überlegen, ob Philipp Adler diesen auch zu Ehren des hohen Besuchs erAbb. 13: Ehem. Wohnhaus Philipp richten ließ, den er in seinem Haus empfing. Adlers. Detail aus Wolfgang Kilian, Vogelschau der Reichsstadt Dieses stand jedoch nicht nur dem Kaiser ofAugsburg, 1626 fen, der das Haus zugleich als Weinlager benutzte. 144 Im Reichstagsjahr 1518, in das auch die Stiftung des Sakramentshauses datiert, wurde Adler von einer Festgesellschaft beehrt, die anlässlich der Hochzeit der Herzogin Susanna von Bayern und dem Markgrafen Kasimir von Brandenburg angereist war und von seinem Haus aus den Spielen auf dem Weinmarkt beiwohnte. 145 Durch die spezifische Gestalt des Erkers hätte sich das prominente Handels- und Wohnhaus mit einer Zuschauerloge ersten Ranges im Stadtbild präsentiert, die einer selektiven Öffentlichkeit vorbehalten war und das Prestige des Hausherrn architektonisch unterstrich. Das Adlerhaus und das schräg gegenüberliegende des Michael von Stetten (Abb. 2, S. 492), in dem heute das Standesamt untergebracht ist, waren auf dem Weg von St. Ulrich und Afra in die Stadt die ersten großen Handelshäuser am Platz. Michael von Stetten (um 1452–1525) erlangte bereits 1484 die Aufnahme in die Herrentrinkstube, amtierte seit 1506 als Zwölfer der Kaufleute und im Jahr 1518 als Richter.146 Sein Anwesen hatte er schon 1498 erworben. Ein Jahr später, nahezu gleichzeitig mit dem Adlerhaus, war der Umbau des Stettenhauses vermutlich abgeschlossen, das mit Markgraf Joachim von Brandenburg während des Reichstages im Jahr 1518 ebenfalls einen prominenten Gast beherbergte. 147 Im Seld-Plan tritt die giebelständige Westfassade des Stettenhauses mit dem charakteristischen eingeschossigen Erker in Erscheinung. Beide Schmalseiten des Stettenhauses waren zudem bedeutenden Straßen zugewandt – der ehemaligen Reichsstraße und der Römerstraße, an der auch St. Magdalena lag. Diese solitäre Beanspruchung zweier prominenter Ecksituationen wurde schon Mitte des 16. Jahrhunderts im Geschlechterbuch des Sohnes Christoph von Stetten (1506–1556) hervorgehoben. Dieser berichtet von ainer schonen ––––––––– 143 144 145 146 147

Vgl. Böhm: Reichsstadt Augsburg (wie Anm. 108), S. 95. Ebd., S. 171f. Vgl. von Trauchburg: Häuser und Gärten (wie Anm. 132), S. 43–46, hier S. 43. Vgl. Augsburger Eliten (wie Anm. 103), S. 876f. Vgl. Werner: Augsburger Häusergeschichte (wie Anm. 19), S. 137f.; von Trauchburg: Häuser und Gärten (wie Anm. 132), S. 28f.

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Behaußung am Weinmarckt for dem Sigelhaus […] lag bis hinden riber vom Predigercloster 2 freyen Eck gehabt.148 Ein weiteres individuelles Charakteristikum des Stettenhauses, das im Geschlechterbuch ebenfalls verzeichnet ist, war seine Verbindung zur gegenüberliegenden Heilig-Grab-Kapelle durch einen erhöhten Gang über die Straße. Die Heilig-Grab-Kapelle wurde 1611 abgerissen. In der benachbarten Predigerkirche sicherten sich die Brüder Hans und Michael von Stetten – deren Familie erst 1538 in das Patriziat aufgenommen wurde – schon 1509, vier Jahre vor dem Neubau der Kirche, das Gruftrecht.149 Dieses wurden ihnen auch noch nach ihrem Übertritt zum evangelischen Glauben 1530 zugestanden.150 Aufschluss über die Repräsentation der Stifterfamilie in ihrer Kapelle (Abb. 11, S. 515) gibt ein Altarbild,151 das heute in der Augsburger Staatsgalerie hängt: die um 1520 entstandene ‚Anbetung der hl. Drei Könige‘ von Leonhard Beck (Abb. 14).152 Becks Epiphanie entfaltet sich vor einer reichen, antikisierenden Architekturkulisse, die den Ausblick auf eine Gebirgslandschaft mit der Reisegesellschaft Mariens als kleinteilige Simultandarstellung sowie eine Stadtansicht freigibt. Der Himmel erscheint noch in einem traditionellen, leuchtenden Goldton. Michael von Stetten und seine Frau Kunigunda Baumgartner gingen als Stifter über die bloße Präsenz ihrer Wappen in den unteren Ecken des Altarbildes weit hinaus. Mit der Epiphanie wählten sie – unter Verzicht auf Figuren wie Joseph sowie Ochs und Esel – ein altehrwürdiges Thema der christlichen Ikonographie, das die Ehrehrweisung vor Gott paradigmatisch veranschaulichte. Infrarot- und Röntgenuntersuchungen belegen die komplizierte Entstehungsgeschichte des Altarbildes, insbesondere im Hinblick auf die Komposition der rechten, allzu dicht gedrängten Figurengruppe. In seiner jüngst erschienenen Studie zu Leonhard Beck behält Guido Messling die bereits 1766 im Ehrenbuch des Paul von Stetten aufgekommene Identifikation des ältesten, knienden Weisen im Vordergrund als Michael von Stetten bei. 153 In diagonaler Reihung sollen drei seiner Söhne folgen: Georg, Christoph und Lukas. Georg ist als der jüngste der drei Könige in Anlehnung an den Typus des zeitgleichen Dürerbildnisses von Jakob Fugger dargestellt, möglicherweise als Anspielung auf seine Heirat von Susanne Fugger im Jahr 1516. Dass Porträtzüge der von Stetten in die Heiligen- und Assistenzfiguren einbeschrieben sind, unterscheidet das Retabel vom traditionellen Stifterbildnis. Dieses zeigt, wie zum ––––––––– 148 149 150

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Stettenjahrbuch. Hg. von Albert Haemmerle. Bd. 2. München 1949, S. 35. Vgl. Messling: Leonhard Beck (wie Anm. 93), S. 109. Vgl. Wiedenmann: Dominikanerkirche (wie Anm. 9), S. 29. Das im Maximilianmuseum aufbewahrte reliefverzierte Sandsteinepitaph des 1525 verstorbenen Michael von Stetten stand noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts in der Kapelle. Die Stiftung einer altartafel durch die von Stetten erwähnt Faber/Ed. Dirr: Gedächtnisschrift (wie Anm. 30), S. 172. Dieses beschrieb die Chronik von Welz-Ruef als von einer sehr guten Hand gemalet, uralt und glaublich schon bey dem Kirchenbau in diese Kapelle verehrt. Vgl. Wiedenmann: Dominikanerkirche (wie Anm. 9), S. 30. Vgl. Schawe: Staatsgalerie Augsburg (wie Anm. 65), S. 36, 42f, 78; Abb. 66, Abb. 82–86 (Infrarotreflektographien). Zur Deutung des Bildes vgl. Messling: Leonhard Beck (wie Anm. 93), S. 109–136. Vgl. ebd., S. 114–116.

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Beispiel in der um 1480 entstandenen ‚Messe des hl. Gregor‘ aus St. Katharina,154 die Stifterinnen Anna und Maria Welser kniend und zugleich vom Geschehen distanziert. Die von Stetten wählten stattdessen das Identifikationsporträt, bei dem auch heilige Figuren Bildniszüge von Zeitgenossen tragen konnten.155 Die ersten Identifikationsporträts bürgerlicher bzw. humanistischer Auftraggeber nahmen in den 1430er Jahren in Florenz ihren Ausgang und prägten bald auch die altniederländsche Malerei. In Deutschland kamen sie jedoch erst im späten 15. Jahrhundert in Mode.156 Von höchstem Selbstbewusstsein zeugt im Falle des Michael von Stetten die Wahl des ältesten Königs als Identifikationsporträt, das traditionell Fürsten vorbehalten war, die damit ihre Herrschaft durch das GottesAbb. 14: Leonhard Beck, Anbetung der gnadentum zu legitimieren suchten.157 Könige, um 1520. Augsburg, Staatsgalerie Der Stifter veranschaulichte somit nicht nur seine Frömmigkeit im Sinne der Imitatio pietatis. Auch der Status der von Stetten wurde der königlichen Adorations- und Huldigungsszene gleichsam einbeschrieben. Das Altarbild, das als gesichertes Werk eine Schlüsselstellung ins Becks Œuvre einnimmt, ist im Hinblick auf die Frage nach dem Kunstgeschmack der Stifter auch als Bildtypus aufschlussreich. Denn die von Stetten wählten das flügellose Altarbild, die sog. Pala. Diese etablierte sich in Italien erst im frühen 15. Jahrhundert und zählt nördlich der Alpen zu einer noch jungen Altarform. Bis in die 1530er Jahre herrschten Flügelretabel vor. Die Verbreitung der Pala im deutschsprachigen Raum ist zwar noch nicht eigens untersucht, doch könnte es sich Messling zufolge „um den einzigen erhaltenen Überrest eines der ersten flügellos gemalten Retabel im deutschsprachigen Raum handeln“.158 Umso bemerkenswerter ist es, dass sich in der Predigerkirche gleich zwei Stiftungen dieser Art nachweisen lassen, die bislang unabhängig voneinander zu den ältesten ––––––––– 154 155 156

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Vgl. Anm. 65. Vgl. Messling: Leonhard Beck (wie Anm. 93), S. 116. Vgl. zum sakralen Identifikationsporträt Friedrich B. Polleroß: Die Anfänge des Identifikationsporträts im höfischen und städtischen Bereich. In: Frühneuzeit-Info 4 (1993) 1, S. 17– 36; ders.: Das sakrale Identifikationsporträt. Ein höfischer Bildtypus vom 13. bis zum 20. Jahrhundert. 2 Bde. Worms 1988 (Manuskripte für Kunstwissenschaft in der Wernerschen Verlagsgesellschaft 18), S. 45f. Vgl. Polleroß: Das sakrale Identifikationsporträt (wie Anm. 156), S. 26–40. Vgl. Messling: Leonhard Beck (wie Anm. 93), S. 120.

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erhaltenen Beispielen gezählt werden. Denn auch beim so genannten ‚Lebensbrunnen‘ (um 1518/19) von Hans Holbein d. Ä. (Abb. 15) handelt es sich um die moderne Altarform der Pala, die heute in Lissabon hängt und Krause zufolge den Übergang der Stiftungen vom Retabel aus Marmor und Kleinarchitektur zum modernen, flügellosen Altarbild kennzeichnet.159 Das in der Holbeinforschung vergleichbar am Rande beachtete Altarbild höfischen Charakters wies erstmals Bruno Bushart 1977 überzeugend der Augsburger Dominikanerkirche zu. 160 Die Pala ist am vorderen Brunnenrand in einer nicht endgültig geklärten Inschrift in das Jahr 1519 datiert. Abb. 15: Hans Holbein d. Ä., Die Wappen der beiden Stifter Jörg KöLebensbrunnen, um 1519. Lissabon, nigsberger und seiner Frau Regina Arzt161 Museu Nacional de Arte Antiga erscheinen auf den äußeren Postamenten der aufwendigen italienischen, nach den Gesetzen der Perspektive konstruierten Hallen- bzw. Triumphbogenarchitektur. Diese beherrscht die obere Bildhälfte. Sie trennt die im Sinne der Sacra Conversazione versammelten Heiligen um die thronende Maria mit dem Kind im Vordergrund von dem Figurenreigen und der weiten Landschaft im Hintergrund. Die triumphale Architektur rekurriert nicht nur auf venezianische Vorbilder, wie das vielfach rezipierte Grabmal des Dogen Andrea Vendramin in SS. Giovanni e Paolo. Sie fungiert neben ihrer Symbolik als marianisches Portal zugleich als Ehrenpforte für Papst und Kaiser.162 Denn in den Bogenzwickeln erscheinen die Profilbildnisse Papst Leos X. und Kaiser Maximilians I. einander zugewandt. Königsberger beauftragte somit nicht nur den hochgeschätzten Künstler Holbein d. Ä., der die soeben in Mode geratenen italienischen Motive neben Altniederländisches zu setzen verstand.163 Das Altarbild belegt zugleich die Gunsterweisung des Stifters an die höchste päpstliche und kaiserliche Instanz. Diese explizite Hommage unterscheidet den ‚Lebensbrunnen‘ von allen bislang bekannt gewordenen Stiftungen der Predigerkirche. In der gebotenen Kürze sei noch erwähnt, dass zwei Bildnistypen und ––––––––– 159 160

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Vgl. Krause: Holbein der Ältere (wie Anm. 65), S. 102–105; Taf. VII. Zur eingehenden ikonographischen Deutung vgl. Bruno Bushart: Der „Lebensbrunnen“ von Hans Holbein dem Älteren. In: Festschrift Wolfgang Braunfels. Hg. von Friedrich Piel. Tübingen 1977, S. 45–70. Holbeins ‚Lebensbrunnen‘ könnte entscheidenden Einfluss auf Albrecht Dürers nur noch in Vorzeichnungen erhaltenes ‚Marienbild‘ gehabt haben (vgl. ebd., S. 65). Jörg Königsberger war seit seiner Hochzeit mit Regina Arzt 1507 mit Jakob Fugger verschwägert und bezog sein Einkommen vor allem aus dem ungarischen Silberbergbau. Vgl. Krause: Holbein der Ältere (wie Anm. 65), S. 102. Zur Deutung des Bildes vgl. Bushart: Lebensbrunnen (wie Anm. 160). Vgl. Krause: Holbein der Ältere (wie Anm. 65), S. 105.

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die Namen identifizierbarer weiblicher Heiligenfiguren auf Maximilians erste und zweite Gemahlin sowie weitere Familienangehörige verweisen könnten.164 Über die Motive dieser Altarstiftung Königsbergers – den Faber direkt im Anschluss an Philipp Adler erwähnt165 und von dessen gestifteter Gewölbeausmalung er sich in singulärer Weise begeistert zeigt –, 166 können an dieser Stelle nur erste Vermutungen angestellt werden. Nach den wenigen Informationen, die über Königsberger bislang bekannt sind, bezog er seinen Besitz vor allem aus dem ungarischen Silberbergbau. Seit seiner Heirat von Regina Arzt war er mit Jakob Fugger verschwägert167 und ebenfalls in unmittelbarer Nähe des Predigerklosters angesiedelt. Noch im Jahr seiner Hochzeit 1507 kaufte er das große Haus B 11 am Weinmarkt und ersetzte dessen Vorderhaus durch einen Neubau. Diese wurde jedoch schon 1523 an Jakob Fugger veräußert, der seinen Baukomplex damit endgültig erweitern konnte.168 Königsberger wird auf seinem Grabstein aus der Predigerkirche als Herr von Hegnenberg erwähnt.169 Enge Beziehungen zu Kaiser Maximilian I. sind bislang nicht bekannt. Was jedoch zu denken gibt, ist ein für Königsberger durchaus schicksalhaftes Ereignis. Sein Anwesen, Hof Hegnenberg, das südöstlich von Augsburg auf bayerischem Gebiet lag, wurde 1518 von Wilhelm von Bayern gestürmt und geplündert, nachdem einige Bauern ihren Herrn angeklagt haben sollen. Da die Plünderung ohne Gerichtsverhandlung geschah, gab dieser Fall auch Rem in seiner Chronik Anlass zu einer kritischen Stellungnahme gegenüber Herrscher und Hof: Es soll sich jedermann hieten vor den fürsten. 170 Nur ein Jahr später war das Altarbild vollendet, das vermutlich aber noch zu Lebzeiten des Kaisers in Auftrag gegeben wurde. Das Motiv der Ehrerbietung und der erstrebten Vergewisserung um Schutz und Beistand von höchster Stelle könnte als zusätzliche Stifteridee ernsthaft in Erwägung gezogen werden.

IV. Die Altarstiftung Königsbergers soll den Kreis zu den eingangs aufgeworfenen Fragen und der Rolle der Predigerkirche als großbürgerliche Grabeskirche und kaiserliche Gedenkstätte schließen. Das Kloster selbst war schon 1510 von Ulrich Fugger mit einer systematisch angelegten Bücherstiftung bedacht wor––––––––– 164 165 166 167 168 169 170

Vgl. Bushart: Lebensbrunnen (wie Anm. 160). Vgl. Faber/Ed. Dirr: Gedächtnisschrift (wie Anm. 30), S. 171. Vgl. Anm. 113. Vgl. Krause: Holbein der Ältere (wie Anm. 65), S. 102. Vgl. Lieb: Fugger und die Kunst (wie Anm. 82), S. 359; von Trauchburg: Häuser und Gärten (wie Anm. 132), S. 32f. Vgl. Krause: Holbein der Ältere (wie Anm. 65), S. 102. Vgl. Böhm: Reichsstadt Augsburg (wie Anm. 108), S. 129. Königsberger hatte das Anwesen für 8.000 fl. von Wilhelm von Bayern gekauft. Zu den Landsitzen vgl. Christof Metzger, Ulrich Heiß und Annette Kranz: Landsitze Augsburger Patrizier. München 2005.

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den,171 während der Ratsherr Melchior Stuntz den Bau der Bibliothek und des neuen Kreuzgangs finanzierte. Kaiser Maximilian I. wiederum hatte Faber zufolge geplant, eine Hochschule für Latein, Griechisch und Hebräisch im Dominikanerkloster einzurichten, deren Visierung vor dem Tod des Kaisers vorlag. 172 Das Kapitel St. Magdalena ist deshalb noch nicht abgeschlossen, sondern gibt vielmehr weiteren Anlass zur Frage: Wie wurden Kunst und Architektur als Mittel sozialer Rangdemonstration und Distinktion in Augsburg um 1500 eingesetzt? Die vielfältige Interessenverflechtung von Kirche, Kaiser, Rat und Bürgertum stellte Rolf Kießling bereits eingehend heraus.173 Als vorläufiges Ergebnis des vorliegenden Beitrages ist festzuhalten, dass sich zum einen in Fabers Gedächtnisschrift sowohl Geschmacksurteile des humanistischen Priors als auch eine erhöhte Sensibilität gegenüber der Präsenz von Wappen spiegeln. Zum anderen kristallisierten sich erst in der aktualisierten Zusammenstellung der noch erhaltenen Stiftungen die Auswahl hochrangiger Künstler und der überwiegend „moderne“ Charakter der ursprünglichen Ausstattung der Predigerkirche heraus. Dazu zählte der Einsatz von Materialien wie Marmor ebenso wie die Wahl eines bestimmten Typus des Stifterbildnisses, in diesem Fall des sakralen Identifikationsporträts, oder einer modernen Altarform wie der Pala. Nicht weniger repräsentativ erwiesen sich auch die Stadthäuser der entsprechenden Stifterfamilien, die in der oberen Bürgerstadt angesiedelt waren und sich in herausragender urbanistischer Lage durch die blockhafte Beanspruchung von Ecksituationen, hochrangigen Fassadenmalereien sowie aufwendigen Erkern behaupteten. Diese vorwiegend material-, gattungs- und typengeschichtlichen Beobachtungen müssten zwar noch vertieft werden. Sie lassen sich jedoch in größere kunsthistorische Zusammenhänge einbinden und in der vergleichenden Betrachtung der Präsenz der Stifter im Sakralraum und im urbanistischen Gefüge der Stadt auch weitere Aufschlüsse über Kunstgeschmack, Identität und Rangdemonstration aufstrebender Kaufmannsfamilien erwarten, die mit und in Konkurrenz zu den Fuggern agierten und das Erscheinungsbild der Reichsstadt nachhaltig prägten. 174 Im Kern ist damit auch die Frage nach Möglichkeiten und Intentionen des Kunst- und Kulturtransfers nördlich der Alpen berührt. Dass sich Italianismen in der nordalpinen Kunst in einer Auswahl von Adaptionsmöglichkeiten – wie Bildthemen (Putti) oder Bearbeitungsmaterialien (Marmor) – niederschlagen und auch „renaissancespezifische“ Formen, Typen oder Materialien als „antik“ verstanden werden konnten, stellte Thomas Eser bereits eindrucksvoll für die Skulptur des frühen 16. Jahrhunderts heraus. 175 Dazu leisteten die ––––––––– 171 172

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Vgl. Siemer: Dominikanerkloster (wie Anm. 10), S. 75f. Faber/Ed. Dirr: Gedächtnisschrift (wie Anm. 30), S. 171. Es muss bereits zuvor ein kleines Generalstudium in Augsburg bestanden haben. Vgl. Liebhart: Stifte, Klöster und Konvente (wie Anm. 29), S. 199. Vgl. Kießling: Bürgerliche Gesellschaft und Kirche (wie Anm. 18). Vgl. zu den Fuggern zuletzt die noch unpublizierte Augsburger Dissertation zur Kunstpatronage der Fugger 1560–1618 von Sylvia Wölfle. Vgl. Eser: „Künstlich auf welsch und deutschen sitten“ (wie Anm. 7), S. 324–332.

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Künstler einen zentralen Beitrag. Denn auch im Augsburg des späten 15. und frühen 16. Jahrhunderts bot sich den Auftraggebern und Stifter(familie)n eine vielfältige Kunstproduktion, auf die sich die Wettbewerbsbeschränkungen der Zünfte nicht nur reglementierend auswirkten, sondern auch produktiven Einfluss auf Stil und Erfindung der Künstler haben konnten. Den dynamischen Einfluss dieser Rahmenbedingungen auf künstlerische Diversifikation und Konkurrenz stellte Krause bereits am Beispiel von Hans Holbein d. Ä. und Hans Burgkmair heraus und resümiert die Situation in Augsburg wie folgt: „Im Verein mit der Größe der Stadt, der Vielfalt der Auftraggeber – Bischof, Domkapitel, Konvente, patrizische Familien und der Hof Maximilians I. – und der Größe des Absatzgebiets hat das Zunftrecht künstlerische Innovation und Diversifikation als die einzig mögliche Form des binnenzünftigen Wettbewerbs gefördert.“176 Diese Perspektiven ließen sich für eine zusammenhängende Kunstund Architekturgeschichte Augsburgs am Übergang von Spätmittelalter und Renaissance fruchtbar machen. Denn die Überblicksdarstellungen zur Renaissance in Augsburg bieten zwar ein herausragendes Fundament für weitere Forschungen,177 sie konzentrieren sich jedoch vorwiegend auf die Zeit nach 1530. Die vergleichende Auswertung und Fortsetzung einer Reihe von Studien ließe aber durchaus ein Bild der dynamischen und spannungsreichen Umbruchphase Augsburgs zwischen 1490 und 1530 zeichnen. Neben zahlreichen Künstlermonographien seien nur die Untersuchungen einzelner Baumeister178 sowie der bildlichen Architekturdarstellungen, Bau- und Ornamentformen,179 der Wandund Fassadenmalerei, 180 der Bürger- und Patrizierhäuser, Gärten und Landsitze181 sowie einzelner Sakralbauten und ihrer Stiftungen wie St. Anna an prominentester Stelle, 182 der Dominikanerinnenkirche St. Katharina183 und jüngst ––––––––– 176

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Krause: Holbein d. Ä. und Hans Burgkmair (wie Anm. 70), S. 111–122. Vgl. auch Renate Prochno: Konkurrenz und ihre Gesichter in der Kunst. Wettbewerb, Kreativität und ihre Wirkungen. Berlin 2006. Vgl. Adolf Buff: Augsburg in der Renaissancezeit. Bamberg 1893; Lieb: Fugger und die Kunst (wie Anm. 82); Welt im Umbruch (wie Anm. 79), Bd. 1–3. Vgl. Büchner-Suchland: Hans Hieber (wie Anm. 25); Bischoff: Der vilkunstreiche Architector (wie Anm. 3). Vgl. Gebhardt: Architekturdarstellungen (wie Anm. 77); Claudia Baer-Schneider: Die italienischen Bau- und Ornamentformen in der Augsburger Kunst zu Beginn des 16. Jahrhunderts. Frankfurt a. M. 1993. Vgl. Wilhelm: Augsburger Wandmalerei (wie Anm. 16); Hascher: Fassadenmalerei (wie Anm. 135). Vgl. Werner: Augsburger Häusergeschichte (wie Anm. 19); Pfaud: Bürgerhaus (wie Anm. 14); von Trauchburg: Häuser und Gärten (wie Anm. 132); Metzger, Heiß, Kranz: Landsitze Augsburger Patrizier (wie Anm. 170). Vgl. Bushart: Fuggerkapelle (wie Anm. 4); Eser: Hans Daucher (wie Anm. 127); Scheller: Memoria an der Zeitenwende (wie Anm. 4); ders.: Gedenken und Geschäft. Die Repräsentation der Fugger in ihrer Grabkapelle bei St. Anna in Augsburg. In: Memoria. Ricordare e dimenticare nella cultura del medioevo. Hg. von Michael Borgolte. Bologna 2005 (Annali dell’Istituto Storico Italo-Germanico in Trento 15), S. 133–168. L. Hörmann: Erinnerungen an das ehemalige Frauenkloster St. Katharina in Augsburg. In: Zeitschrift des Historischen Vereine für Schwaben 9 (1882), S. 357–386; 10 (1883), S. 301–354; 11 (1884), S. 1–10; Juhnke: Bausteine zur Geschichte des Dominikanerinnen-

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auch der Pfarrkirche St. Moritz genannt. 184 Die vielfältigen Beweggründe und Intentionen für das lebendige Nebeneinander „traditioneller“ und „moderner“ Stilformen, aber auch Bautypen, Gattungen und Themen, Techniken und Materialien könnten die Frage nach Renaissance und Humanismus in Augsburg somit noch eingehender konturieren.

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klosters (wie Anm. 18); Pia F. Cuneo: The basilica cycle of Saint Catherine’s convent. Art and female community in Early-Renaissance Augsburg. In: Woman’s art journal 19 (1998) 1, S. 21–25; Gärtner: Römische Basiliken in Augsburg (wie Anm. 65). Das ehemalige Kollegiatstift St. Moritz in Augsburg (1019–1803). Geschichte, Kultur, Kunst. Hg. von Gernot Michael Müller. Lindenberg 2006.

Register (erstellt von Mischa Grab)

1.

Personenregister

Abel, David 223 Adalbero 353 Adelmann v. Adelmannsfelden, Bernhard 64, 389 Adelmann v. Adelmannsfelden, Konrad 64, 128 Adilbert 347f., 354, 370 Adler, Philipp 470f., 492, 512, 515– 519, 523 Aeneas 223, 246–248 Afra Hl. 318, 331, 342, 346, 352–354, 372, 374f., 427 Agathias 296, 303 Agricola, Franz Xaver 438 Agricola, Rudolf 53 Agricola, Stephan 67 Agst, Konrad 370 Aicholtz, Johann 109 Akropolites, Georgios 296 Alamanni, Niccolò 296 Alberti, Leon Battista 34 Albrecht V. von Bayern 82, 106 Albrecht von Bonstetten 400 Albrecht von Brandenburg 12, 131 Albrecht I. von Habsburg 348 Albrecht von Hohenzollern 144, 146f. Albrecht von Mainz 53 Albrecht von Österreich 359 Albrecht von Preußen 148 Alderete, Diego Gracian de 147 Alexander der Große 89 Alexander (König) 143 Alexander VI. (Papst) 260 Alexios (Kaiser) 300 Alexius (Hl.) 509 Alifio, Ludovico 146, 153 Allaci, Leone (Allatius, Leo) 296, 302f. Allatius, Leo s. Allaci, Leone Altdorfer, Albrecht 505, 508 Amann, Kaspar 402 Amantius, Bartholomäus 287 Amman, Jörg 89, 244f. Andreas (Hl.) 373 Angelico, Fra 507 Angelo, Hugo 155 Annius von Viterbo 260f.

Antentor 247, 266 Apianus, Petrus 287 Apt, Ulrich d. Ä. 507, 509 Aquavivas, Claudius 83 Archimedes 403 Aristoteles 83, 160, 180f., 196, 231 Arlenius, Arnoldus 294 Arminius 132, 140f. Arnold, Christoph 429 Arrodenius, Michael 428 Arzt, Regina 471, 522f. Arzt, Sibylla 471f., 488f., 514 Arzt, Wilhelm 472 Äsop 229 Augustinus 399, 414 Augustus (Octavian) 134f., 224, 227f., 246, 253f., 277f. August von Sachsen 487 Aventinus, Johannes 276, 286f., 427 Avicenna 111 Ayndorffer, Kaspar 359, 363 Bächtold, Jakob 203 Balticus, Martin 225 Banissius, Jakob 145 Barbara (Hl.) 374 Barbara Zápolya (Königin von Polen) 145 Barbaris, Jacopo de 491 Barberini, Francesco 305 Baronius, Cesare 80, 316, 433 Bartholomäus von Andlau 401 Bartolini, Riccardo 12, 127f. Baumgartner, Franz 471 Baumgartner, Hans 471, 512 Baumgartner, Kunigunde 520 Beatis, Antonio de 454, 459, 468, 485, 488f. Baudouin II. 295 Bebel, Heinrich 265f. Beck, Georg 382f. Beck, Leonhard 24, 382, 520f. Beda (Venerabilis) 350, 399 Bedrotus, Jakob 172f. Bekker, August Immanuel 296, 307 Bembo, Pietro 44f., 129 Benedikt (Hl.) 344, 356, 359, 374

528 Benedikt XII. (Papst) 360 Benignus, Johannes 163 Bernhard von Clairvaux 361 Bernhard von Waging 364 Bernhard von Waldkirch 391, 401 Berosus Babylonicus 260 Bersmann, Georg 411, 415 Bertschi, Nikolaus 383 Bessarion (Kardinal) 126, 293 Bidermann, Jacob 217, 316, 418 Bild, Veit 20, 26, 64, 330, 333f., 336, 341, 345, 366, 381, 385f., 389–391, 402–406 Bimmel, Anna 423 Biondo, Flavio 240, 262f., 280, 286 Birck, Sixt 13f., 163, 170f., 187–191, 196–200, 202, 204f., 207–215, 217, 224–226, 232 Birck, Wolff 190 Blarer, Ambrosius 198 Blumenau, Laurentius 267, 396 Bocham, Jakob 366 Bodin, Jean 96–98 Bohwitynowicz, Bohusz 144 Boltz, Valentin 203f. Bona Sforza (Königin) 145–147, 151– 153 Bonamico, Lazaro 149 Boner, Johann 151 Boner, Seweryn 152 Bongers, Jacques 414 Bosch, Hieronymus 508 Botero, Giovanni 96 Bracciolini, Poggio 16, 49, 280–282 Brady, Thomas A. 208 Bramante, Donato 505 Brant, Sebastian 51, 54 Braun, Placidus 336f., 339, 374, 384 Breden, Johann 153f. Brennus 252, 269 Brenz, Johannes 81 Breu, Jörg d. Ä. 130, 477–479, 488 Brinner, Kaspar 163 Brivius, Rudolph 164 Brunelleschi, Filippo 459 Bruni, Leonardo 33f., 36, 57, 269–272 Brunnenmaier, Christoph 223, 226 Bruschius, Caspar 224f. Brutscher, Johannes 420 Bucer, Martin 2, 68, 73, 172f., 194 Budé, Guillaume 302 Bühler, Johannes 338 Bullinger, Heinrich 194, 204

Personenregister

Burgkmair, Hans, d. Ä. 448, 466, 483, 488, 501, 503, 509, 511, 525 Burgkmair, Thoman 511f. Burkhard von Ursberg 344, 386 Busaeus, Johannes 78 Caesar, C. Iulius 252f., 258, 403 Cajetan (Kardinallegat) 126 Calvin, Johannes (Jean) 77, 412, 424 Camerarius, Joachim d. Ä. 71 Camerarius, Joachim d. J. 109 Campano, Giannantonio 126 Campeggio, Lorenzo 139 Canisius, Petrus 77f., 316 Cano, Melchior 77f. Capperonnier, Claude 303 Carniola, Heinrich de 362, 365 Carniola, Johann de 362, 365 Carranza, Bartolomé 77 Casaubon, Isaac 299, 302, 415, 419 Cassander, Georg 105 Catull 309 Celtis, Conrad 43, 48, 53, 55, 122, 240f., 259f., 262, 268, 286, 334, 340, 351, 448 Ceporin, Jakob 72 Cham 249, 261 Chanteclair, Charles de 303 Charles IX. 294 Charles von Valois 295 Chartophylax, Alexander 298 Chilmeadus, Edmundus 296 Christel, Christoph 110 Christian II. 146 Christian von Melk 361 Christoph von Bayern 371 Christoph von Stadion 65, 390 Christoph von Stetten 519f. Christus s. Jesus Christus Choniates, Niketas 296f., 299, 303 Cicero, M. Tullius 45, 131, 136f., 317, 320, 324, 380, 399f., 418 Clausner, C. 303 Clusius, Carolus s. L’Ecluse, Charles de Cochläus, Johannes 149 Codussi, Mauro 460, 467 Coelestin (Papst) 413 Colonna, Ascanio 298 Combefis, François 296 Commelinus, Hieronymus 414 Contarini, Gasparo 61 Cordus, Euricius 187 Cortés, Hernán 149, 155

Personenregister

Crabbe, Pierre 79 Cramoisy, Sébastian 17, 293, 302 Creizenach, Wilhelm 162, 187f. Crocus, Cornelius 224 Crophius, Philipp Jakob 213 Culmann, Leonhard 233 Cuspinian, Johannes 44 Cuon, Albrecht 149f., 155 Custos, Jakob 487 Custos, Raphael 487 Cyprian 77 Cyrill von Alexandrien 77 Daniel (Prophet) 199 Dantiscus, Johann 13, 143–150, 152– 155 Darius 199, 224 Daucher, Adolph 374 Daucher, Hans 461, 515 Decker, Johannes 316, 433 Degen, Stephan 381 Delgada, Isabell 147, 150 Dernschwam, Johann 154, 298 Dido 224 Diether, Andreas 225 Dietrich, Johannes 438 Dietrich von Schönberg 146 Dietz, Jacob Ludwig 151, 153f. Digna (Hl.) 353 Diokletian 350 Dion Cassius 298 Dionysius (Hl.) 347 Dioskurides 111 Dir, Pius 497 Dominikus (Hl.) 512 Domitian 321 Dorothea (Hl.) 374 Drexel, Jeremias 217, 418, 420 Driedo, Jean 76f. Drusus 253f. Drzewicki, Maciej 144 Du Cange, Charles 18, 303, 306f. Durandus d. J., Wilhelm 63 Dürer, Albrecht 122, 445, 451, 454, 461, 466, 483–485, 490, 504 Du Duc, Fronto 416 Du Vair, Guillaume 302 Ebendorfer, Thomas 248 Eberhard im Bart 70 Eck, Johannes 69, 471 Edward VII. 69 Egen, Peter 89, 244f. Egino (Abt) 375

529 Ehem, Anna 471, 516 Ehinger, Elias 417, 420, 434 Ehinger, Thomas 488 Ehinger, Ulrich 149, 152, 155 Eitelfriedrich von Zollern 473 Ekkehard von Aura 251 Eleonore von Burgund 145 Elisabeth von Habsburg 148 Ellenbog, Nikolaus 404f. Embriko (Bischof) 352 Endres, Joseph Anton 352 Enea Silvio s. Piccolomini, Enea Silvio Eneas Asculanus s. Enoch von Ascoli Engel, Gisela 102 Engelberg, Burkhard 355, 371, 459, 485f., 498, 503, 517 Engelberger, Martin 504 Enoch von Ascoli 251 Eparchos, Antonios 18, 293, 297, 307 Erasmus von Rotterdam 37, 41, 50, 65f., 72, 74, 78, 94, 129, 149 Erhart, Gregor 24, 374, 510 Erhart, Michel 372f. Erkanbald (Abt) 355 Estienne, Henri 294, 298f. Estienne, Robert 294 Euripides 192 Eusebius 295, 350, 399 Eutropius 350 Faber, Johannes 65, 73, 389, 496–499, 504, 509f., 512–514, 523f. Fabrot, Charles-Annibal 297, 302f. Falk, Tillmann 507 Ferdinand I. (Erzherzog von Spanien) 129, 144, 501f. Fiamma, Galvano 269, 272 Ficino, Marsilio 39 Filelfo, Francesco 34 Fischer, Georg 223 Fischer, Kaspar 106 Flacius, Matthias 75 Flavio Biondo s. Biondo, Flavio Flavius Josephus 260 Flechsenhauer, Ulrich 368, 383 Flötner, Peter 445 Forchem, Matthaeus 233 Fortis, Johannes 456, 498 Fra Angelico s. Angelico, Fra François I. 200, 293, 503 Frank, Johannes 335, 338. 346–348, 357, 362, 364, 379 Franz I. von Frankreich s. François I.

530 Freher, Marquard 414, 432 Friedrich II. (Kaiser) 430 Friedrich III. (Kaiser) 43, 53, 122, 244, 371 Friederich III. von Sachsen (Kurfürst) 340 Friedrich Graf von Zollern 343, 370 Frieß, Heinrich 337, 342, 350, 358, 368f., 372 Frisius, Gemma 149 Froben, Johannes 50 Frontin 403 Frosch, Johann 67 Fröschel, Benedikt 197 Fröschel, Hieronymus 197 Fuchs, Leonhard 109 Fugger, Anna 477f. Fugger, Anton 109, 297–300, 475, 478 Fugger, Felicitas 513f. Fugger, Georg 453f., 472, 476, 484f. Fugger, Hans 105f. Fugger, Hans Jacob 95, 106 Fugger, Hieronymus 478 Fugger, Christoph 82, 160 Fugger, Johann Jakob 4, 294, 298 Fugger, Jakob 23, 109, 453–455, 466, 469–476, 480f., 484, 487–490, 506, 513f., 519f., 522f. Fugger, Jakob d. Ä. 475 Fugger, Marx 82, 106, 475 Fugger, Octavian Secundus 475 Fugger, Philipp Eduard 106 Fugger, Raymund 82, 478, 514 Fugger, Sibylla 478 Fugger, Susanne 520 Fugger, Ulrich 23, 453f., 472, 474f., 484, 523 Fugger, Ulrich d. J. 477 Fugger, Ursula 478 Funck, Melchior 474 Gablenz, Hans von der 149 Gaguin, Robert 255 Galilei, Galileo 430, 433 Gasser, Achilles Pirmin 427 Geizkofler, Hans 158, 161 Geizkofler, Lucas 13, 157–162, 164– 166, 168f. Geizkofler, Michael 158 Geizkofler, Zacharias 159, 162 Génébrard, Gilbert 80 Gengenbach, Pamphilius 203 Gennadius Scholarius 412 Georg (Hl.) 448

Personenregister

Georg der Reiche 472 Georg von Freundsberg 160 Georg von Sachsen 515 Georg von Stetten 520 Gertzen, Thomas 366, 384 Gesner, Conrad 109f. Gibertis, Gian Matteo 81 Giese, Tiedemann 154 Giltlinger, Gumpold 372–374 Giocondo, Fra Giovanni 278f., 284f. Giovanni da Cermenate 272 Glarean, Heinrich 187 Glurer, Ulrich 503 Glykas, Michael 296, 301, 303 Goar, Jacques 296, 303 Goethe, Johann Wolfgang 119 Goffredi, Jakob 341 Goldast, Melchior 301 Gossembrot, Sigismund 5, 20, 25, 88, 237, 241, 267, 333, 344, 391, 396, 398f., 400f., 406 Gossembrot, Ulrich 398 Gregor VII. 300 Gregor XIII. 301 Gregor der Große 355, 413 Gregoras, Nikephoros 297, 303 Gretser, Jacob 19, 301, 303, 307, 325f., 412, 416, 418, 432, 442 Gretser, Jacob SJ 304 Griesherr, Heinrich 358 Griesherr, Johannes 380 Grimm, Heinrich 358 Grimm, Sigismund 502 Grimoaldus, Nicholaus 225 Gruter, Jan 414f., 419f., 433 Gryll, Lorenz 106 Gunther von Nordhausen 344 Gwalther, Rudolf 194 Haller, Jakob 223 Haller, Wolf 154 Hans von Stetten 520 Hans von Tirol 487 Hasenfuß, Peter 172f. Hedio, Kaspar 172f. Heffter, Gregor 366 Hegel, Georg 151, 154 Heinrich (Abt) 355 Heinrich II. (Kaiser) 331 Heinrich VIII. 146 Heinrich von Knöringen 313, 437 Heinrich von Maysach 347 Heinrich von Navarra 158 Heinrich Julius von Braunschweig 224

Personenregister

Helfter, Georg 369 Herakleios (Kaiser) 403 Herlinus, Christian 172f. Herbrot, Jakob 104 Herodes 230 Herrmann, Heinrich 223f. Hermann von Reichenau 251 Hertfelder, Bernhard 336, 348 Herwart, Johann Georg 298 Herwart, Hans Heinrich 104f., 109f. Hessus, Helius Eobanus 12, 26, 70, 130, 134f., 145, 187 Heupold, Bernhard 163 Heuser, Peter Arnold 105 Heuter, Heinrich 360 Hieber, Hans 464, 485, 487, 498, 503f. Hieronymus (Hl.) 350, 373, 399 Hilaria (Hl.) 346 Höchstetter, Ambrosius 518 Hoeschel, David 18, 20f., 26, 295– 304, 307, 311, 410–417, 419f., 429–432, 437 Hohensteiner, Johannes 364 Holbein, Hans d. Ä. 24, 358, 372, 375, 383, 448, 496, 503, 507, 515, 522, 525 Holl, Elias 5 Holstenius, Lucas 305 Holzmann, Daniel 224, 226 Holzmann, Wilhelm 303 Hönigler, Leonhard 315 Hopfer, Daniel 471, 505, 515f. Horaz 250f., 317, 380 Hörmann, Katharina 159 Hoser, Ludwig 504 Hoser, Simprecht 207 Hotz, Heinrich 366 Huber, Erasmus 380 Hugo von St-Viktor 361 Hutten, Philipp von 155 Hutten, Ulrich von 12, 53, 105, 122– 129, 132, 468 Huttich, Johannes 288 Imhof, Hieronymus 471, 497, 504 Imhof, Magdalena 507 Imhof, Peter 472 Imhof, Regina 472 Imhof, Simon 471 Isabella d’Aragona 145f., 150 Jacobus de Theramo 232 Jäger, Clemens 459 Jagiellon, Anna 144

531 Janssen, Johannes 62 Japhet 249, 261, 264 Jesus Christus 167, 170f., 178f., 182f., 223, 227–232, 316, 373f., 376, 438, 507–510, 514f. Joachim II. von Brandenburg 129, 519 Johann von Dalberg 53 Johannes von Giltlingen 334, 337, 340f., 344, 352, 358, 368–370, 374–378, 380f., 383 Johann von Werden 148 Johann von Wirsberg 125 Johanna IV. 145f. Johannes der Täufer 223, 373 Johannes (Evangelist) 374 Johannes von Fischach 356 Johannes von Ulm 361 Johannes Graf von Werdenberg 341 Josef II. 119 Julius II. 490 Jung, Ambrosius d. J. 108 Jung, Regina 108 Jungen, Gustav Adolph 487 Junius, Hadrianus 164 Kantakuzenos, Antonius 298 Kantakuzenos, Johannes VI. 297, 299f., 303 Karl IV. 43, 347 Karl V. 12, 68, 81, 91, 121, 126, 130f., 134–141, 147, 230, 450, 467, 501, 503 Karl der Große 43, 129, 258, 428, 429, 438 Karl der Kühne 489 Karl IX. (von Frankreich) 158 Kasimir von Brandenburg 519 Katharina (Hl.) 374 Kedrenos, Georgios 303 Keller, Jacob 314 Keller, Michael 67 Kepler, Johannes 433 Khamm, Corbinian 337 Kiel, Ludwig 297 Kienberger, Wilhelm 363 Kilian, Lukas 487 Kilian, Wolfgang 496, 518 Kindermann, Heinz 189 Kinnamos, Joannes 296 Kirchdorffer, Jörg 223 Kissinger, Johannes 348, 359 Klesatel, Johannes 370 Knus, Johannes 370, 377 Koch, Hans 224

532 Kölderer, Georg 92 Kolross, Johannes 190 Komnena, Anna 296, 303 Königsberger, Georg 471 Königsberger, Jörg 513, 522f. Konrad von Geisenfeld 361 Konstantin (Kaiser) 295 Konstantinos VII. Porphyrogenetos 296 Kopernikus, Nikolaus 143 Köpfel, Wolfgang Fabricius 173 Kösinger, Johannes 380 Kötzer, Hans 510f. Kramer, Balthasar 382 Kreußner, Friedrich 258 Küchlin 244–249, 254 Kugler, Barbara 161 Kugler von Hohenfirnberg, Hans 161 Küsell, Matthäus 455 Kyrillios von Alexandrien 304, 402 Labbe, Phillipe 18, 296, 302–304, 306 Laktanz 187, 399 Lang, Johann 340 Lang, Matthäus 128, 512 Lang, Sigismund 379 Langenmantel, Anna 472 Langenmantel, Barbara 472 Langenmantel, Christoph 64 Lanificis, Johannes 377 Lannov, Charles de 147 Laonikos Chalkondyles 297, 301, 303 Lasius, Christoph 230f. Laskaris, Ianos 302 Latalski, Janusz 148 Lauginger, Johann 472 Lauginger, Veronika 472 Laymann, Matthäus 159f. Lebau, Jean 59, 188, 199, 202 L’Ecluse, Charles de (Carolus Clusius) 109f. Leo der Große 77, 413 Leo X. 81, 128, 490, 497, 515, 522 Leszczynski, Rafal 144 Leto, Pomponius 16, 279f. Lewicki, Jan 152 Lichtenberger, Johannes 132 Linck, Melchior 230 Lingelsheim, Georg Michael 414 Linsbauer, Manfred 157 Lippert, Johann Kaspar von 428, 441 Lipsius, Justus 96–98, 317f., 325, 412, 417f., 433f., 442 Livius 399

Personenregister

Lobhart, Elisabeth 174f. Locher, Jacob 55 Lombardo, Pietro 460 Loscher, Sebastian 483, 509, 517 Löwenklau, Johannes 301, 303f. Ludwig II. (König von Ungarn) 126, 144 Ludwig XIV. 307 Ludwig der Reiche 368 Luigi d’Aragona 454 Lukas von Stetten 520 Lukian 127 Lur, Heinrich 267, 332, 396, 401 Luther, Martin 10, 14, 64–67, 69–72, 78, 132, 146, 163, 172f., 189, 191f., 195f., 198, 208, 221, 341, 424, 498 Mabillon, Jean 362, 410, 412, 418, 427 Machiavelli, Niccolò 11, 95f., 98 Mahler, Johann 204 Mai, Anna 423 Maimbourg, Louis 302 Mair, Georg 223 Mair, Paul Hektor 92 Maislin, Johannes 385 Malalas, Johannes 296 Maltrait, Claude 305 Manasses, Konstantinos 296, 301, 303 Manetti, Giannozzo 49 Manlich, Melchior 11, 101–103, 111 Manutius, Aldus 50, 293, 425f. Marcilius, Theodor 318 Margarete (Hl.) 374 Margaretha von Valois 158 Margounios, Maximos 298, 300f. Maria (Hl.) 356 Maria Magdalena (Hl.) 507, 510f. Maria von Habsburg 144 Maria von Schwartzenberg 160 Marsuppini, Carlo 49 Martial 18f., 309f., 312, 314–326, 416f., 434, 436, 438, 442 Martin V. 62 Marx zu Bubenhofen, Hans 478 Matal, Jean 94, 105 Mattmann, Rudolf 314f., 318 Mauer, Benedikt 92 Maurus (Hl.) 356 Maximilian I. 12, 17, 24, 26, 43, 53– 55, 57, 61, 73, 91, 123–128, 132, 144f., 248, 275, 277f., 371f., 383, 403, 426, 448, 450, 472–474, 481–

533

Personenregister

483, 488f., 493, 499, 501f., 512, 515, 517–519, 522–525 Maximilian I. von Bayern (Herzog) 299, 427, 429, 438 Maximilian II. 487 Maximos Confessor 301 Mayer, Martin 256, 263 Mazzocchi, Jacopo 288 Medici, Giulio de’ 81 Medici, Lorenzo de’ 279 Meisterlin, Ludwig 398 Meisterlin, Sigismund 15f., 19f., 25– 27, 237–239, 241–243, 245, 248– 254, 261–269, 271f., 333, 335, 338, 344f., 348–350, 352–357, 364, 368, 370, 389–391, 395–402, 404, 406 Melanchthon, Philipp 4, 14, 65, 70– 74, 128–130, 149, 163, 172f., 189, 192, 195, 221 Melchior von Meckau 468 Melchior von Stamheim 332, 336, 340, 346, 349, 357, 364–368, 371, 377, 385f., 401 Mendoza, Diego Hurtado de 294 Merz, Jeremias 108 Messling, Guido 520f. Meursius, Johann 296, 414 Michael, Wolfgang F. 212 Mickel, Johannes 368f. Mickel, Ulrich 385 Miller, Thomas 106 Molitor, Heinrich 378, 385 Molitor, Johann 379 Monachos, Georgios 305 Monardes, Nicolás 106 Montaigne, Michel de 104 Morel, Guillaume 294 Mörlin, Konrad 334, 345, 358, 369f., 372f., 375–377, 380, 383, 389, 391, 404 Moro, Cristoforo 460 Moses 227 Mühlich, Hektor 91 Muret, Marc-Antoine 423 Musculus, Wolfgang 2 Nanni, Giovanni s. Annius von Viterbo Naogeorg, Thomas 224 Naudé, Gabriel 305 Neidhart, Sebastian 471 Nero 325 Newber, Salomon 233 Nibschitz, Nikolaus 154

Niccoli, Niccolò 49 Niclaus von der Flüe 204 Nidgar (Bischof) 353, 371 Niedbruck, Kaspar 298 Niklas von Wyle 400 Nikolaus V. 39, 44, 251, 293, 370 Nikolaus von Kues 403 Noah 249, 261, 269, 271 Nützel, Kaspar 504 Nysaeus, Johannes 213 Occo, Adolf 350f., 418 Octavian s. Augustus Oekolampad, Johannes 66f., 187 Oporin, Johann 17, 190, 293, 297, 299, 300, 304 Origenes 79 Orosius 342, 350 Ortas, Garcia da 109f. Ortelius, Abraham 414, 418 Otto I. 12, 132, 141 Otto, Herzog von Bayern 371 Otto von Freising 251, 350 Ovid 131, 161, 402 Pachymeres, Georgios 296 Palmieri, Matteo 49 Pamelius, Jacques 77 Paradeiser, Adam 439 Parente, James 189 Parentucelli, Tommaso s. Nikolaus V. Partini, Francesco 157 Pasiphae 317, 324 Paul III. 61 Paul V. 316 Paul, Markus 221 Paulus (Hl.) 64, 374 Pelagius 414 Pellifex, Johannes 365 Pellikan, Konrad 72, 187 Pemer, Nikolaus 110 Permetter, Johannes 380 Petau, Denis 302 Petavius, Dionysius 78f. Peter von Schaumberg 343, 364, 370, 391 Peter von Schaumburg 88 Petrarca, Francesco 79, 374 Petrus von Mailand 511 Peutinger, Konrad 12, 16f., 20, 25f., 54, 58, 61, 64f., 90, 92, 95, 123, 126, 128, 275–280, 282–289, 334, 341, 350f., 356, 389f., 402–406, 425f., 501f.

534 Peutinger, Margarete 426 Peutinger, Konstanze 123f. Pez, Antonius 493, 515 Pflug, Julius 125 Pfister, Narcissus 386 Pfister, Wolfgang 474 Philipp Wilhelm von Wittelsbach 437 Philipp von Stein zu Jettingen 478 Philipp von Spanien 501f. Photios 296, 298, 300, 302, 307, 412f., 415, 430, 433, 436f. Piccolomini, Enea Silvio 34, 44, 126, 240, 256–258, 263, 293 Pico della Mirandola, Giovanni 45 Pigge, Albert 77 Pinician, Johannes 404 Pirckheimer, Charitas 504f. Pirckheimer, Willibald 54, 351, 402 Pirgmann, Marcus 343 Pithous, François 302 Pittinger, Heinrich 350, 377 Pius II. s. Piccolomini, Enea Silvio Plate, Mathias 154 Platon 180f. Plautus 192 Plethon, Georgios Gemisthos 258 Plinius d. Ä. 111, 258, 436 Pole, Reginald 79, 81 Pollich von Mellrichstadt, Martin 340 Polster, Georg 366 Pomponazzi, Pietro 61 Pontanus, Jakob SJ 18, 83, 217, 296, 299f., 303f., 307, 311, 432 Porphyrio, Pomponius 250f. Possevino, Antonio 413 Possin, P. 296, 303 Preu, Georg d. Ä. 477 Priamus 246f. Prokopios 296 Psellos, Michael 296 Querini, Vincenzo 61 Asconius, Quintus 403 Rad, Ludwig 400 Rader, Matthäus SJ 18, 21f., 310–312, 314–326, 410, 413, 416–422, 429, 432, 434–442 Ramirez de Prado, Lorenzo 19, 324– 326, 438 Ranninger, Narcis 223 Rassler, Maximilian 434 Ratdolt, Erhardt 275, 280

Personenregister

Rauwolf, Leonhard 11, 101–105, 108– 116 Raynaudet, Jacques 109 Regel, Georg 453 Reginbald (Abt) 375 Rehlinger, Anna 518 Rehlinger, Jacob 518 Rem, Wilhelm 470, 477, 479, 499, 504, 512f., 523 Reuchlin, Johannes 70, 72, 224, 402 Reusner, Nikolaus 433f. Rhegius, Urban 66f. Rhenanus, Beatus 104, 261 Rhey, Kaspar 217 Richard von St. Viktor 79 Ried, Benedikt 486 Riemenschneider, Tilmann 510 Rivius, Johannes 164 Rogel, Hans (Johann) 98, 223–225 Rogge, Jürg 211 Rosières, François de 438 Rublack, Hans-Christoph 210 Rudolf von Habsburg 348 Ruf, Jakob 204 Rufus, Curtius 417 Ruof, Nikolaus 161 Ruprich, Wolf 154 Sabinus, Georg 12f., 26, 128–135, 149 Sachs, Hans 59, 226, 231 Sailer, Gereon 207 Sailer, Hieronymus 149f., 155 Sallust 380, 399 Salutati, Coluccio 34, 44, 49, 57 Sambucus, Johannes 301 Sanders, Nicholas 79 Sandrart, Joachim von 488, 507 Sapidus, Johannes 172f. Sathas, K. 296 Scaliger, Joseph Justus 303, 414, 419f., 432 Schädlin, Abraham 224 Schallheimer, Johann 223 Schedel, Hartmann 241, 257, 267, 284–286, 289, 398 Schedel, Hermann 332, 396–398, 401 Scheiner, Christoph 430 Schenck, Johannes 178f. Schenck, Matthias 13, 157f., 162–183 Schenck, Matthias Junior 178f. Schenk, Sixtus 383 Schepper, Cornelis de 146, 152 Schiller, Friedrich 119 Schlecht, Stephan 223, 226

535

Personenregister

Schlitpacher, Johannes 361 Schneidmann, Andreas 456 Schnell, Fritz 223, 226 Schöberl, Josef Franz 188 Schöffel, Heinrich 360 Scholastika (Hl.) 374 Schöner, Johannes 403 Schönsleder, Wolfgang 315 Schoppe, Kaspar 421, 439 Schott, Andreas SJ 298, 307, 319, 415, 417, 433 Schreyer, Hans 224 Schübel, Heinrich 360 Schubert, Hermann 128 Schultheiss, Christoph 92 Schütz, Michael 157 Schwarz, Konrad d. J. 220 Schwarz, Ulrich 90 Schweickher, Hanns 223 Schweigger, Johann 223 Schwenckfeld, Caspar 206 Scinzenzeller, Giovann’Angelo 283 Secundus, Janus 149 Seiler, Gereon 2 Seld, Jörg 92, 348, 372, 375, 448, 491, 494, 517 Sem 249, 261 Sender, Clemens 335, 477, 489 Seneca 192, 219 Serarius, Nicolaus 315 Sforza, Bona s. Bona Sforza Sickingen, Franz von 68 Siemer, Polykarp 493, 506 Sigismund I. 144–146, 244, 360 Sigismund II. August (König von Polen) 148 Sigmund von Herberstein 145 Sikeliotes, Petros 442 Sintpert/Simpert (Hl.) 353, 370f., 373 Sirleto, Guglielmo 298 Sirmond, Jacques 302 Skylitzes, Johannes 296 Sleidanius, Johannes 172f. Sokrates 180f. Solfa, Jan 152 Sombart, Werner 34 Somerfeld, Georg 365 Soto, Pedro de 81 Spalatin, Georg 402 Spannmüller, Jakob s. Pontanus, Jakob Spengler, Lazarus 505 Speratus, Paulus 120, 130 Sphranzes, Georgios 296 Spiegel, Jakob 502

Spross, Balthasar 203 Stadion, Christoph von 66 Stammler, Veronika 470 Stephan von Bayern 360 Stetten, Michael von 492, 519–521 Stetten, Paul von 520 Stoß, Veit 510 Strabon 258 Strozzi, Nanni 271 Stubenvoll, August 441 Stuntz, Melchior 497, 524 Sturm, Caspar 120, 130 Sturm, Johannes 4, 172f., 194 Suarés, François-Marie 301 Suleiman I. 200 Susanna von Bayern 519 Süßmann, Johannes 102 Tacitus 133, 259–261, 263, 265, 418 Taler, Ulrich 383 Tassilo III. 428 Tell, Wilhelm 203 Terenz 192, 198, 219 Tertullian 78 Thali, Johanna 215 Theophanes Confessor 296 Theophylaktos Simokattes 296, 300, 303, 315 Theophrast von Hohenheim 10, 111 Thomas von Padua 365 Thou, Jacques-Auguste de 302 Thukydides 80 Thurzo, Georg 478 Thurzo, Katharina 514 Tiberius 253 Titi, Roberto 325 Tizian 37, 122 Tollios, C. 296 Tomicki, Piotr 146, 151f. Trithemius, Johannes 52 Truchseß, Otto 81 Tucher, Lazarus 154 Tucher, Sixtus 398 Tuisto 261 Turnebe, Adrien 294 Ulhart, Philipp 190f. Ulrich (Hl.) 331, 346, 348, 352f., 372, 374f., 427 Umbach, Hans 514 Umhofer, Matthias 358 Uodalschalk (Abt) 347f., 354–356 Urban II. 300 Urban VIII. 301

536 Vadianus, Joachim 145 Vaga, Pierino del 490 Valdes, Alfonso de 149 Valdes, Juan de 149 Valerius Maximus 399 Valla, Lorenzo 34 Vascosan, Michael 294 Vegetius 403 Venantius Fortunatus 380 Vendramin, Andrea 522 Veit von Maxlrein, Wolf 160 Vergil 317, 342 Veronese, Guarino 258 Villasante, Antonio de 107 Villinger, Jakob 506 Vinzent von Lerin 78 Vincenz von Beauvais 386 Viol, Johann 152f. Vischer, Peter d. Ä. 484 Visconti, Gian Galeazzo 33, 44 Vitoria, Franciscos de 77f. Vitruv 403 Vogel, Johann 381 Vogt, Johann 224 Voigt, Georg 61 Vries, Adriaen de 431, 517 Vulcanius, B. 296, 303 Wagner, Conrad 380–382 Wagner, Leonhard 372f., 378–383, 385, 406 Wagner, Petrus (Peter) 347, 366, 375 Wahraus, Veronika 472 Waldburg, Otto von 82 Walther, Anna 503 Walther, Ulrich 503 Walz, Herbert 189 Wasilij III. 144 Weinlein, Leonhard 380 Welling, Conrad 348 Welling, Ulrich 348 Welser, Anna 439, 521 Welser, Anton 413, 422, 431, 439 Welser, Bartholomäus 106, 149 Welser, Daniel 429 Welser, Karl 429 Welser, Marcus 5, 21f., 25f., 94, 98f., 287f., 300, 310, 312, 315, 318, 323, 325f., 411f., 417, 419–442

Personenregister

Welser, Maria 521 Welser, Marx s. Welser, Marcus Welser, Matthäus d. Ä. 410f., 423 Welser, Matthäus 432, 439 Welser, Paul 99, 428 Welser, Veronika 503f. Werlich, Engelbert 427 Werner, Franz 150, 154 Werner von Bacharach 348 Widholz, Hans 110 Wiedenmann, Hans 493, 506, 509, 511 Wieditz, Hams 502 Wikterp (Abt) 353, 371 Wild, Leonhard 227 Wild, Sebastian 14f., 217, 219, 224, 226–233 Wilhelm von Bayern 106, 523 Wilhelm von Österreich 228 Wilhelm von Roggendorf 145 Wilhelm V. (Herzog) 427 Wimpfeling, Jakob 3 Winkler, Konrad 347, 350, 356 Winter von Andernach, Johannes 172f. Wirsung, Christoph 224f. Wirsung, Max 513 Wittwer, Wilhelm 19f., 329, 335–360, 362–387 Wladislaw II. Jagiellon 144 Wohlfart, Bonifacius 2, 207 Wolf, Hieronymus 4f., 18, 20f., 158, 163, 165f., 295–301, 303–307, 410–412 Wüst, Hans 223f. Xylander, Guillelmus 303 Zainer, Günther 386 Zasius, Ulrich 54 Zehmen, Achatius 148 Ziegler, Hieronymus 225f., 230, 232 Ziegler, Jerg 109 Ziely, Wilhelm 228 Zink, Burkhard 91 Zonaras, Johannes 296–299, 301, 303, 305f. Zosimos 301 Zwingli, Huldrych 69, 72, 104, 193, 194, 202, 208

537

Ortsregister

2.

Ortsregister

Aix-en-Provence 80 Alcalá 77 Aleppo 101, 112–115 Alexandrien 77, 304, 403 Altdorf 411 Altomünster 66 Andechs 366 Ansbach 367 Antwerpen 105, 110, 150, 153f., 298, 319, 433, 490 Augsburg 1–6, 8–20, 22, 24, 27, 51, 54, 58, 61, 64–69, 73, 77, 81–83, 87–89, 92–95, 97–99, 101–112, 114, 119f., 122–131, 133–135, 138f., 145, 147, 149, 151, 157–159, 162–165, 168–171, 174–177, 180– 183, 187–191, 196f., 202, 205–207, 209, 211–215, 217, 219–233, 237f., 241–247, 249, 251, 253f., 261–263, 265–269, 271–273, 275, 277, 280, 282–289, 293–301, 303–305, 307– 315, 317–320, 325f., 329, 331–333, 335–337, 340f., 343f., 348f., 351, 358, 360–362, 364–366, 369–372, 375, 380, 382f., 385–387, 389–391, 393, 396–406, 409–437, 439–441, 445–449, 451, 457–459, 462–464, 466f., 469–71, 474–476, 478, 483– 486, 489–491, 493–495, 497–499, 501f., 504–526 Augusta Vindelicum/Vindelicorum/ Vindelica s. Augsburg Avila 149 Babylon 101 Bagdad 101, 114f. Bamberg 51, 357, 360 Barcelona 149 Bari 146–148, 151–153 Basel 4, 17f., 50f., 55, 62, 65–67, 70, 72, 121, 187, 190f., 202, 205, 207, 214, 293–297, 301, 303f., 343, 359, 411, 489, 515 Berlin 32 Bethulia 200f., 209f., 212 Bologna 130, 147, 152, 279 Bonn 18, 296 Bozen 380 Brandenburg 12, 82, 128f., 131, 133, 138f. Braunschweig 224 Bremen 360

Breslau 148, 194, 307 Brixen 468 Brügge 77 Brüssel 153, 340 Brüx 304 Burgos 152 Bursfelde 368 Buxheim 369 Byzanz 293, 301f., 307 Cambrai 130 Cambridge 69 Clermont 78 Danzig 13, 143, 146, 150, 153f. Deggingen 367 Dillingen 10, 65, 81–83, 304, 318, 341, 372, 401 Diospolis 414 Dôle 159 Donauwörth 363 Dordrecht 415 Douai 77 Ebersberg 361 Eisleben 67, 71 Elbing 146 Elchingen 365, 383 Ellwangen 81, 441 Ermland 148 Erfurt 55, 70f., 344 Ettal 338, 361f. Ferrara 267, 359 Florenz 17, 22, 32–34, 44, 49f., 57, 88, 136f., 258, 270–272, 280, 293, 359, 434, 459, 484, 487, 507, 521 Fontainebleau 294 Forlì 262 Formbach 361 Frankfurt a. M. 62, 119, 126, 129, 299, 415, 427f. Frankfurt/Oder 129 Freiburg 54, 66, 69, 498f. Freising 251, 350, 413 Fribourg 77 Friedberg 134f. Fultenbach 366, 369 Genf 294, 297 Göttingen 162 Göttweig 361

538 Graudenz 143 Graz 316, 433 Greifswald 143 Hamburg 508 Heidelberg 41, 68, 72, 95, 109, 172f., 244, 294f., 414f., 419, 432 Heilsberg 154 Hippo 414 Hirsau 368 Hohenheim 104 Holzen 366 Ingolstadt 18f., 55, 64, 69f., 77, 82, 95, 160, 230, 287f., 296, 299–304, 312, 314f., 325f., 333, 341, 379f., 401, 413, 428 Innsbruck 13, 62, 157, 159, 162, 340, 416, 518 Irsee 335, 379 Isny 163 Isola 460 Jerusalem 57, 101, 132, 136f., 228, 340, 356, 373 Kastl 363 Kaufbeuren 68, 275 Kelheim 461 Kempten 275, 283 Kirchberg 23, 82, 472f., 476f., 479 Klein-Mariazell 361 Knöringen 313 Köln 77, 105, 149, 246, 360, 497 Königsberg 129 Konstantinopel 62, 101, 121, 126, 295, 301 Konstanz 92, 163–165, 170–175, 178f., 182f., 198, 359f., 498f. Kopenhagen 414 Krakau 143, 151f., 154 Kremsmünster 363 Kühbach 366 Kulm 143, 147f. Kyburg 372 Landshut 367, 472 Lauingen 73, 101, 111, 275, 335, 410 Leiden 101, 294, 296, 303, 414f., 418f. Lerin 78 Leipzig 67, 69, 71, 133, 154, 172f., 340, 368, 380, 410

Ortsregister

Limosin 375 Lissabon 522 Löbau/Lubawa 149 London 81, 383 Lorch 346, 383 Löwen 66, 77, 79, 417 Lübeck 233, 506 Lund 146 Luzern 215 Lyon 296 Madrid 149, 305 Magdeburg 71, 75, 77, 80, 300, 360 Mailand 33, 268f., 283, 511 Mainz 12, 17, 51f., 78, 131, 134f., 256, 288, 315, 340, 357, 360, 366, 497 Mallersdorf 341 Marburg 70, 163, 172f. Marienberg Salem 379 Markdorf 304 Marseille 101, 109, 111 Medina del Campo 149 Melk 19, 330, 332, 339, 341f., 344, 357, 359–369, 377, 384f., 392, 402 Memmingen 1, 164 Messina 82 Metten 341 Metz 247 Mohacs 126 Montpellier 108 München 82, 286, 294, 299, 307, 316, 337f., 386, 412, 420f., 437, 440f., 507 Murbach 355, 370, 401 Neapel 147, 151–153, 500 Neresheim 370 Neuburg 275 Nürnberg 1, 4, 51, 54, 67, 71, 106, 122, 126, 151, 163, 178f., 221, 233, 241, 257f., 286, 289, 313, 332, 340, 363, 368, 390, 397, 402, 405, 429, 438, 445, 448, 471, 484, 504f., 510, 514 Nördlingen 1 Oberammergau 231 Ocaña 149 Oliva 456 Orléans 70, 158 Öttingen 367 Ottobeuren 348, 366, 404f. Oxford 79, 81, 296

539

Ortsregister

Padua 61, 159f., 267f., 272f., 279, 284, 365, 396, 398, 405 Palencia 149 Paris 17f., 66, 70, 77–80, 158f., 162, 293f., 296f., 299, 301f., 303f., 307, 423, 511 Perugia 12, 127 Petershausen 360 Pfronten 343 Poissy 500 Poitiers 70 Rattenberg 67 Regensburg 61, 67, 126, 129f., 148, 315, 341, 352, 363, 391, 464, 485, 498, 505 Reichenau 379 Reichenbach 341 Reifnitz 362 Roggendorf 145 Rom 16f., 50, 57, 59, 62, 79, 81, 124, 127f., 134–137, 170f., 231, 246– 248, 251, 256, 260, 267, 269–273, 279–283, 285, 288, 293, 296, 301f., 326, 342, 385, 423, 433, 437, 497f. Rossano 146 Rotterdam 66, 72, 74, 78, 129 Saalfeld 340 Salamanca 77f., 81 Salzburg 67, 80, 128, 159, 360 Schlettstadt 68 Schönberg 146 Schrobenhausen 379 Sevilla 106, 112 Spandau 230 Speyer 129, 159–161, 499, 515 Sponheim 52 Stamheim 332 Sterzing 13, 157–159, 161 St. Gallen 379, 506 St. Omer 78 St. Viktor 79 Straßburg 2–4, 13, 20, 51, 54, 68, 73, 158, 163, 172f., 192, 194, 207 Stuttgart 70, 366, 384 Subiaco 359 Sulmentingen 82 Sulzbach 67

Tegernsee 331, 333, 347, 361, 363, 365, 380, 384f. Thierhaupten 366, 384 Thorn 146, 153f. Trier 246, 360 Trient 66, 81f., 138f., 159 Toledo 149 Torgau 340 Toulouse 500 Tripoli 101, 111f. Troja 15f., 89, 223, 228, 246–249, 251, 254f., 265–268, 272f. Tübingen 55, 69–72, 108f., 163, 172f., 187, 265 Turin 66 Ulm 1, 69, 93, 361, 473 Utrecht 62, 296 Valence 108 Valladolid 77, 149, 152 Veji 271 Venedig 17f., 50, 61, 79, 101, 111, 125, 143–145, 151, 153, 159, 200, 260, 280, 293f., 296, 298, 300, 425f., 460f., 467, 469, 483–485, 487, 491, 515, 522 Verona 81, 278 Vienne 63 Vindelica s. Augsburg Volkach 510 Waldburg 82 Wasserburg 67 Weingarten 366, 384 Wels 502 Wiblingen 361, 365 Wien 55, 72, 77, 109, 126, 144, 147, 151, 200, 305, 361 Windsheim 506 Wirsberg 125 Wittenberg 4, 64, 67f., 70f., 108, 146, 163, 172f., 340 Worms 53, 61, 313 Würzburg 51, 368, 498, 499 Zerbst 340 Zürich 62, 72, 109, 193, 244, 379, 498f. Zwiefalten 379

Bildnachweis

S. 102: S. 107: S. 110: S. 113: S. 114: S. 115: S. 245: S. 277: S. 289: S. 449: S. 452: S. 455: S. 458: S. 491f.: S. 496: S. 497: S. 501: S. 506: S. 507: S. 508: S. 511: S. 512: S. 515: S. 516:

S. 519: S. 521: S. 522:

Staats- und Stadtbibliothek Augsburg, 40 Gs 1873. Staats- und Stadtbibliothek Augsburg, 20 LR 204, Beiband 3. Staats- und Stadtbibliothek Augsburg, 40 Gs 1873. Ebd. Ebd. Ebd. Bayerische Staatsbibliothek München, cgm 213, Bl. 12v. Bayerische Staatsbibliothek München, Res/20 Arch. 112. Staats- und Stadtbibliothek Augsburg, 20 Aug 249. Bruno Bushart: Die Fuggerkapelle bei St. Anna in Augsburg. München 1994, Tafel IV. Ebd., Tafel I. Ebd., Abb. 15. Ebd., Tafel V. Stadtbilder: Augsburger Ansichten des 15. bis 19. Jahrhunderts. Hg. von Jochen Brüning. Augsburg 1992, S. 23. Hans Wiedenmann: Die Dominikanerkirche in Augsburg. Augsburg 1917, unpaginiert. Bruno Bushart: Die Fuggerkapelle bei St. Anna in Augsburg. München 1994, Abb. 210. Peter Halm: Die „Fier Gulden Stain“ in der Dominikanerkirche zu Augsburg. München 1965, S. 197f. Welt im Umbruch. Augsburg zwischen Renaissance und Barock. Ausstellungskatalog. Bd. 1: Zeughaus. Augsburg 1980, Kat. Nr. 13. Privatbesitz. Martin Schawe: Staatsgalerie Augsburg. Altdeutsche Malerei in der Katharinenkirche. Augsburg 2001, S. 66f. Sophie Guillot de Suduiraut: Gregor Erhart. Sainte Marie-Madelaine. Paris 1997 (Collection solo 6), Abb. 1. Privatbesitz. Hans Wiedenmann: Die Dominikanerkirche in Augsburg. Augsburg 1917, unpaginiert. Early German masters. Hans Brosamer, the Hopfers. Hg. von Robert A. Koch. New York 1981 (The illustrated Bartsch 17), Nr. 21 (S. 478). Franz Häußler: Marktstadt Augsburg. Von der Römerzeit bis zur Gegenwart. Augsburg 1998, S. 118. Martin Schawe: Staatsgalerie Augsburg. Altdeutsche Malerei in der Katharinenkirche. Augsburg 2001, S. 68. Katharina Krause: Hans Holbein der Ältere. München u. a. 2002 (Kunstwissenschaftliche Studien 101), Taf. VII.