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German Pages 298 [292] Year 2014
Michael Rössner, Heidemarie Uhl (Hg.) Renaissance der Authentizität?
MICHAEL RöSSNER, HEIDEMARIE UHL (HG.)
Renaissance der Authentizität? Über die neue Sehnsucht nach dem Ursprünglichen
[ transcript]
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Inhalt
Vorwort Michael Rössner, Heidemarie Uhl I 9
AUTHENTIZITÄT ODER ÄUTHENTIZITÄTENVARIATIONEN UND UNSCHÄRFEN DES ÄUTHENTIZITÄTSBEGRIFFS Zum Paradoxon von Zeugenschaft im Spannungsfeld von Personalität und Depersonalisierung Ein Kommentar über Authentizität in fünf Thesen Sybille Krämer 115 Authentizität- Signatur des abendländischen Sonderwegs?
Aleida Assmann I 27 Die Abwendung von der Authentizität Postkoloniale Sichtweisen in neueren Romanen Anil Bhatti 143 Von der Charta von Venedig 1964 zum Nara Document on Authenticity 1994 30 Jahre "Authentizität" in Namen des kulturellen Erbes der Weit Michael S. Falser I 63 Von der Suche nach dem Authentischen zur Dekonstruktion der Authentizität des Zentrums Lateinamerikanische Blicke auf Paris 1968 Michael Rössner I 89
AUTHENTIZITÄT IN DEN KüNSTEN Das Authentische in der Literatur und der platonische Schatten Poetik der Epiphanie bei Hugo von Hofmannsthai und James Joyce Michael Böhler I 119 Erfindung der Authentizität Authentizität des Erfundenen Eine literarische Paradoxie als Herausforderung der Editionswissenschaft Hermann Blume 1143 Was ist "das Werk selbst"? Zum Problem der Authentizität in der musikalischen Aufführungspraxis Hans-Joachim Hinrichsen l i 59 Die Masken der Authentizität Von D. A. Pennebakers "Don't Look Back" zu Todd Haynes "l'm Not There" Siegfried Mattl I 175
AUTHENTIZITÄT ALS ELEMENT {NATIONALER) IDENTITÄTSKONSTRUKTIONEN Zur Authentizitätsproblematik von Nationaltrachten im 19. und 20. Jahrhundert Ostmitteleuropa in vergleichender Perspektive Rudolf Jaworski 1187 Barock in Böhmen - tschechischer Barock? Ein Authentisierungsdiskurs und sein Scheitern Michaela Marek I 205
Burgtheaterdeutsch Stabilitätsstrategie und Differenzmarkierung Elisabeth Großegger 1237 Orte und Lebenszeugnisse "Authentizität" als Schlüsselkonzept in der Vermittlung der NS-Verfolgungs- und Vernichtungspolitik
Heidemarie Uhl I 257 Personenregister I 285 Autorinnen und Autoren 1291
Vorwort MICHAEL RöSSNER, HEIDEMARlE UHL
Der Begriff der Authentizität hat seit längerer Zeit Konjunktur: In Zeiten von "virtual reality" und "postmoderner Beliebigkeit" scheint ernicht ohne Nostalgie- wieder einmal zum Sehnsuchtsoft geworden zu sein: "Unberührte Natur" im Tourismus, "Zurück zum Ursprung" als Slogan einer Bio-Marke, "authentische Aufführungspraxis" in der reproduzierenden Kunst sind Ausdruck dieser Sehnsucht. Und auch die Wissenschaft hat sich der Authentizität bemächtigt: Ausgehend von Theodor W. Adomos geradezu exzessiver Verwendung des "Authentischen" auch im Superlativ (siehe den Beitrag von Michael Böhler in diesem Band) haben Literatur-, Kultur- und Sozialwissenschaftler wie Susanne Knaller, Harro Müller, Km·l-Heinz Bohrer, Charles Taylor oder Alessandro Perrara die Untersuchung verschiedener Aspekte dieses schillernden Begriffs unternommen und ihn in historische und logische Bedeutungsfelder sozusagen "aufgefächert". Freilich: Authentizität zählt nicht eben zum Kanon kulturwissenschaftlicher Leitbegriffe - vielmehr wird damit ein Begriff aufgerufen, der- wie etwa auch "Wirklichkeit" und "Wahrheit"- durch den cultural turn seine Unschuld verloren hat: Vorstellungen von Echtheit, Eigentlichkeit, Unmittelbarkeit, Ursprünglichkeit sind gesellschaftlich bedingte, kontingente Konstrukte, die kommunikativ generiert und im Rahmen von Machtbeziehungen verhandelt werden. Und selbst die "personale Authentizität" im Rahmen der Subjektkonstitution der Moderne erweist sich als ein unerreichbarer Fluchtpunkt, wie etwa der italienische Autor Luigi Pirandello schon in seinem Roman "Einer, keiner, hunderttausend" ( 1925) vorführt: Der Erzähler-Protagonist ver-
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sucht dort, vor dem Spiegel stehend, seinen Körper authentisch, "uninszeniert" so zu sehen, wie ihn die anderen sehen - das gelingt freilich nur im "animalischen" Augenblick der Explosion eines Niesens, bei dem der Körper sich der Kontrolle des ihn beobachtenden Ichs entzieht. Ungeachtet der Dekonstruierbarkeit des Begriffs verbindet sich mit Authentizität allerdings nach wie vor ein Schlüsselkonzept individueller, kultureller, nicht zuletzt auch wissenschaftlicher Praxis. In den Kunstwissenschaften, der Editionswissenschaft, in der Text- und Quellenkritik, aber auch in der Ethnologie werden unterschiedliche Konzeptionen von Authentizität nach wie vor diskutiert. Die Fixierung eines "authentischen" historischen Zustandes bildet darüber hinaus die Grundlage vielfältiger Anwendungsformen - von der Restaurierung von Kunstwerken bis hin zur musikalischen Auffühmngspraxis oder zum Denkmalschutz. Teilt Authentizität somit das Schicksal jener Begriffe, die zwar auf theoretischer Ebene "dekonstruiert" werden, deren Relevanz davon allerdings wenig beeinträchtigt wird? In gegenwärtigen kulturwissenschaftlichen Debatten erfahren Begriffe wie Authentizität, Evidenz, Wirklichkeit, Wahrheit, Fragen nach dem Eigensinn von Bildern, der Magie von Dingen offenkundig eine neue Aufmerksamkeit. In diesem Spannungsfeld zwischen Dekonstmktion und neuer Aufmerksamkeit versucht der vorliegende Band, ein breites Spektrum von Er-/Findungen von Authentizität zur Diskussion zu stellen. Auch dieser Ansatz ist kulturwissenschaftlicher und daher transdisziplinärer Natur, und es konnte nicht ausbleiben, dass ein so kontroverser Begriff nicht nur in seinen konkreten Applikationen beleuchtet, sondern auch gmndsätzlich in Frage gestellt wird. Der erste Abschnitt widmet sich daher den verschiedenen (und bisweilen durchaus gegensätzlichen) Varianten der Begriffsverwendung. Wenn Sybille Krämer die beiden Hauptvarianten (die bei ihr "personale" und "materiale" Authentizität heißen) in letzter Instanz doch wieder als auf einander verweisend zusammenführen kann, zeigen die Beiträge von Aleida Assmann und Anil Bhatti die Problematik eines einheitlichen europäisch geprägten Authentizitätsbegriffs in einer postkolonialen Umgebung auf, die Michael S. Falser in das konkrete Gebiet von Denkmalschutz und Rechtsvorschriften für die Bewahrung von Kulturerbe übersetzt. In Michael Rössners Beitrag schließlich wird dieser problematische Export des europäischen Authentizitätsbegriffs an die Peripherie (Latein-
VORWO RT
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amerika) verfolgt, wodurch Authentizität sozusagen einen exotischen Charme bekommt- bis die Peripherie nach 1968 "zurückschreibt". Spezifischer auf diese literarische Ausprägung von Authentizität, die schon in den Beiträgen von Assmann, Bhatti und Rössner verfolgt wird, geht dann Michael Böhlers Beitrag ein, der den zweiten Abschnitt, der dem Authentizitätsbegriff in den Künsten, wo er vor allem von Adomo verortet worden war, einleitet. Aber die Spezifizität der Auseinandersetzung mit den Begriffen "authentisch" und "Epiphanie" bei Joyce und Hofmannsthai verhindert nicht, dass dieser Beitrag noch einmal, sozusagen als Klammer zwischen dem ersten und zweiten Teil, in grundlegender Form und von Plato ausgehend die Frage nach dem Wesen und den Arten des Authentischen schlechthin stellt. Vom Inhalt zur Textgestalt transferiert der folgende Beitrag von Hermann Blume den Begriff der Authentizität, indem er aus editorischer Perspektive die Frage nach der Gültigkeit des "authentischen" Texts stellt - und hier wie bei dem folgenden Beitrag von Hans-Joachim Hinriebsen zur musikalischen Aufführungspraxis wird die Problematik des Begriffs selbst bei seiner Anwendung auf scheinbar unhinterfragbare Materialität sichtbar. Wenn Hermann Blume die "magische" Wirkung der Authentizität aus dem Zusammenwirken von "Authentifizierung" und Aura erklärt, so scheint Siegfried Mattls Beitrag zu zwei Bob Dylan-Filmen geradezu die progressive Dekonstruktion dieser Aura zu exemplifizieren. Ausgangspunkt der hier dokumentierten Tagung und damit auch dieses Bandes war die besondere Rolle, die dem Begriff des "Authentischen" im Rahmen der Herstellung und Bewahrung des kollektiven kulturellen Gedächtnisses zukommt, das seit rund einem Jahrzehnt einen Schwerpunkt der Forschungen des Instituts fl.ir Kulturwissenschaften und Theatergeschichte an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften darstellt. Elemente dieses kulturellen Gedächtnisses sind, wie sehr es sich auch immer um Konstrukte handeln mag, stets bestrebt, Echtheit, Ursprünglichkeit, Authentizität zu behaupten und für sich zu inszenieren, das heißt auch und nicht zuletzt, medial zu übersetzen. Der unaufhebbare Widerspruch, in den dies mündet (die "inszenierte Authentizität") wird in mehreren Beiträgen dieses Bandes thematisiert. Die Rolle des "Authentischen" für die Konstruktion kollektiver (vor allem nationaler) ldentitäten ist Gegenstand des letzten Abschnitts, in dem Rudolf Jaworski die Authentizität von Trachten vor
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I RENAISSANCE DER AUTHENTIZITÄT?
dem Hintergrund ihrer politischen Indienstnahme in Frage stellt, Michaela Marek der nationalen lnstrumentalisierung von Baustilen nachgeht und in zwei im engeren Sinn auf Österreich bezogenen Beiträgen Elisabeth Großegger die lmplikationen des Burgtheaterdeutsch für österreichische und andere Identitäten und Heidemarie Uhl das Problem des Authentischen im Zusammenhang von narrativen und materiellen Zeugnissen der NS-Verbrechen untersucht. Insgesamt zeigen die Beiträge des vorliegenden Bandes also nicht nur die Vielfalt der (oft gegensätzlichen) Verwendung des Begriffs, sondern vor allem die Prozesshaftigkeit des Authentischen, die sich in zahlreichen (kulturellen) Übersetzungen zwischen Diskursen und Epochen manifestiert. Eine "authentische Interpretation" (was in der Rechtswissenschaft der weitgehend verbindlichen Auslegung von Rechtsvorschriften durch den Gesetzgeber entspräche) des Authentizitätsbegriffs kann nicht Aufgabe der kulturwissenschaftlichen Forschung sein. Das Bewusstmachen seines dynamischen, prozesshaften Charakters, die Dokumentation des konfliktiven Verhandeins der Zuschreibungen, die er bei den kulturellen Übersetzungen zwischen verschiedenen Diskursen und Epochen erfährt, ist hingegen ein Gebot der Stunde, insbesondere in einem zunehmend hybriden, "globalisierten" kulturellen Umfeld. Hierzu versucht der vorliegende Band einen Beitrag zu leisten.
Zum Paradoxon von Zeugenschaft im Spannungsfeld von Personalität und Depersonalisierung Ein Kommentar über Authentizität in fünf Thesen 1
SYBILLE KRÄMER
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EINE KURZE GESCHICHTE DES DISKURSES ÜBER ,AUTHENTIZITÄT' IM HORIZONT ZWEIER KONZEPTE VON ,AUTHENTIZITÄT' Zu den Schwierigkeiten im Umgang mit dem Begriff Authentizität gehört es, keine eindeutige Definition sowohl aus historischer wie auch aus aktueller Perspektive geben zu können. 2 Authentizität mit seiner Aura von Echtheit, Wahrhaftigkeit, Ursprünglichkeit, Unmittelbarkeit, Eigentlichkeit ist zu einem erfolgreich eingesetzten Markenartikel und Emblem geworden. 3
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Sibylle Schmidt danke ich flir wertvolle Hinweise in der Sache. Susanne Knaller/Harro Müller: "Authentisch/Authentizität" , in: Karlheinz Barck u.a. (Hg.), Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, Bd. 7, Stuttgart: Metzler 2005, S. 40-65, S. 40. Susanne Knaller/Harro Müller: Einleitung. Authentizität und kein Ende, in: dies. (Hg.): Authentizität. Diskussion eines ästhetischen Begriffs, München: Fink 2006, S. 7-16, S. 11.
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I SYBILLE KRÄMER
Auf die Frage "Was ist authentisch?" gibt es ziemlich viele Antworten.4 Und doch kristallisieren sich zwei Bedeutungskeme, wir könnten auch sagen: zwei Gravitationszentren im Gebrauch von ,Authentizität' , heraus, die wir als (i) ,materiale Authentizität' und (ii) ,personale Authentizität' kennzeichnen wollen. (i) Die materiale Authentizität kann sich etymologisch zurückbeziehen auf den griechischen ,authentes' (au6EVTTJ~) , den Urheber und Ausführer, der eigenhändig etwas erstellt. ,Authentizität' wird damit zur Eigenschaft eines Produktes, dessen Urheber sich ermitteln und identifizieren lässt. Das wird überall dort von Belang, wo es sich um Dokumente handelt, deren Ursprung zu verbürgen ist - am besten dadurch, dass eine lückenlose kausalkettengleiche Spur vom Werk zum Autor rekonstruiert werden kann. Geboren aus dem Geist der philologischen Identifizierung der Urheberschaft von Schriftstücken, wird die materiale Authentizität dann zu einem Schlüsselbegriff in den Rechtswissenschaften und der Theologie. 5 (ii) Die personale Authentizität handelt nicht von der Echtheit von Dokumenten, vielmehr von der ,Echtheit' und Glaubwürdigkeit einer Person. Diese Art von Authentizität bezieht sich auf die Eigenschaft von Menschen, aufrichtig und wahrhaftig zu sein. Was dabei erwartet wird, ist eine Übereinstimmung und Kohärenz zwischen dem, was diese Person ,äußerlich', also für andere wahrnehmbar, darstellt und ausdrückt und dem, was sie ,innerlich', also flir sich selbst, ,tatsächlich' ist. Insofern eine solche personale und intrinsische Übereinstimmung empirisch kaum zu ermitteln ist, fungiert die Idee personaler Authentizität vorrangig als ein normativer Begriff, während die materiale Authentizität primär deskriptiv zu verstehen ist. Die Orientierung auf personale Authentizität bekommt ihren Schub durch die protestantische Entdeckung der Innerlichkeit, sowie - vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart - durch die Entfaltung von Selbstmodellen und individuellen Lebensformen. Kaum verwunderlich ist es, dass die Idee der per-
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Siehe dazu ebd., S. 7-16, sowie die dort präsentierte Auswahlbibliographie S. 331 ff.; weiters: Susanne Knaller: "Genealogie des ästhetischen Authentizitätsbegriffs", in: Knaller/Müller, Authentizität. Diskussion eines ästhetischen Begriffs, 2006, S. 17- 35. Zur Rolle in Rechtswissenschaft und Theologie vgl. Eleonore Kalisch: "Aspekte einer Begriffs- und Problemgeschichte von Authentizität und Darstellung", in: Erika Fischer-Lichte, Isabel Pflug (Hg.), Inszenierung von Authentizität, Tübingen: Francke 2000, S. 31-44, S. 3 1ff.
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sonalen Authentizität als Übereinstimmung mit sich selbst Zweifel und Kritik evoziert. Richard Sennett sieht in der Suche nach Authentizität, die doch ein Kind der protestantischen Gesinnungsethik sei, schlichtweg ein Verfallssymptom. ,Schau, wie ich fühle' wird zur Leitmaxime einer allgegenwärtigen Tendenz zur Selbstoffenbarung: Nicht was, sondern dass gefühlt wird, rückt ins Zentrum. 6 Doch sobald Selbstbezug und Selbstenthüllung zur Klaviatur des sozialen Lebens avancieren, untergräbt eine Gesellschaft damit die Objektivität und Objektivierbarkeit ihres sozialen Handeins zugunsten einer Prämierung von subjektiven Konditionen und psychischen Dispositionen ihrer Individuen. Noch schärfer geht Karl-Heinz Bohrer mit der Authentizität ins Gericht, indem er eine Linie zieht von deren protestantischen Ursprüngen bis hin zu den Terroristen der RAF. Die Demarkationslinie zwischen Öffentlichkeit und Privatheit - so Bohrer - verschwindet und damit zugleich die Kraft zu einer symbolischen Sublimierung des Privaten. Während beispielsweise das Punk-Lied, die Gefangenenprosa oder der Mescalero-Text noch ihre Authentizität ritualisieren und also zur Kunstform fortbilden, langweilen authentische Autoren nur noch durch "distanzlosen Umgangston, sentimentale Identifizierung", Larmoyanz und ein gutes Stück Selbsthass.7 Die Welt als Jammertal wird nicht mehr in Spiel, Ritual und Symbol aufgelöst, sondern beschwert das Ich in solcher Weise, dass es "immer wieder nur ins Ich kippt."8 Wenn dieses Vakuum politischer Symbolik mit Authentizität ausgefüllt wird, ist dies brisant, denn deren radikalste Form und letzter Akt bildet der Terrorismus. 9
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Richard Sennett: Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Tyrannei der Intimität, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1983, S. 49: "Je mehr sich eine Person auf die Authentizität ihres Fühlens statt auf den objektiven Gehalt dessen, was sie ftihlt, konzentriert, je mehr Subjektivität zum Selbstzweck wird, desto weniger vermag sie, expressiv zu sein. Wo die Versenkung ins Selbst die Oberhand gewinnt, werden auch die Enthüllungen des Selbst amorph. Der Satz ,Schau, wie ich fühle ' ist ganz offensichtlich vom Narzißmus geprägt." Karl-Heinz Bohrer: "Authentizität und Terror", in: ders.: Nach der Natur. Über Politik und Ästhetik, München, Wien: Hauser 1988, S. 55-87, S. 61. Ebd., S. 60. Ebd., S. 62.
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Weit nüchterner dagegen fällt Luhmanns Kritik an der Authentizität aus: Er hält diese für eine "Kultform der Naivität" 10 ohne jede theoretische Erklärungskraft 11 Allerdings findet diese Negativienmg der Authentizität ein Gegengewicht in mannigfaltigen Ansätzen einer positiven Besetzung von Authentizität im 20. Jahrhundert und dies vor allem in Ethik und Kunsttheorie. Der Existenzialismus und seine phänomenologische Vorbereitung bei Heidegger wirft die Frage nach einer Lebensführung und Daseinsweise auf, bei der Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit mit der Aufrichtigkeit bzw. Unaufrichtigkeit gegenüber sich selbst zusammengeführt werden. Fern von Selbstbetrug und fern auch von der Verdrängung unseres Potenzials zur Selbstbestimmung ist Authentizität für ein philosophisch inspiriertes Leben dort erreicht, wo das Selbst sich nachhaltig zu hinterfragen und sich schonungsloser Selbstreflexion auszusetzen bereit ist. Autoren wie Kierkegaard, Nietzsche, Jaspers und Heidegger12 bahnen diesen Pfad einer Verschmelzung des Authentischen mit Redlichkeit, Echtheit und Wahrhaftigkeit. Nietzsche ist sich klar darüber, dass die redliche, illusionslose Haltung zu sich selbst eine Gefährdung birgt und daher in einem Akt der Balance der Kunst mit ihrem Willen zum Schein als einer komplementären Macht bedürfe.13 Heidegger dagegen empfiehlt als Sicherung gegenüber den Strudeln der Eigentlichkeit das vorgängige Zuhandensein alltäglicher Lebensvollzüge: Diese sind in ihrem Gelingen nicht darauf angewiesen, Gegenstand von Reflexion zu werden, so dass wir uns in ihnen einer unhinterfragten Interpretation unseres In-der-Welt-seins überantworten können. 14 Wittgenstein sieht das nicht anders, wenn er in unseren lebensweltlich situierten Praktiken ein ,So handeln wir eben' am Werk
10 Nildas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1997, Bd. I, S. 240; dazu: Knaller/Müller, Authentisch/Authentizität, 2005, S. 58f. II Siehe auch: Nik1as Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1995, S. 152f. 12 Zur Rolle von Authentizität in Existenzphilosophie und Kritischer Theorie: S. Knaller/H. Müller, Authentisch/Authentizität, 2005, S. 52- 60. 13 Friedrich Nietzsche: "Die fröhliche Wissenschaft" (Erstausgabe 1882) in: Friedrich Nietzsche, Werke II, hg. v. Kar! Schlechta, Frankfurt/Main, Ber1in, Wien: Ullstein 6 1979, S. 140. 14 Martin Heidegger: Sein und Zeit, Tübingen: Niemeyer 13 1976, S. 62.
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sieht, dessen ,Unhinterfragtsein' die Flüssigkeit unseres Lebens überhaupt erst eröffnet. 15 Die Konkretheit unseres Alltagshandeins und die Forderung der Authentizität, die sich immer auch gegen die Regeln einer Gesellschaft muss richten können, stehen also in einem unleugbaren Spannungsverhältnis. Genau dies arbeitet dann die Analyse von Charles Taylor in The Ethics of Authenticity16 heraus und im Anschluss an ihn auch Alessandro Ferrara. 17 Schon diese wenigen Hinweise auf den Authentizitätsdiskurs zeigen: Sowohl die Kritik der Authentizität im Namen einer ubiquitären Medialität und Mittelbarkeit unseres Selbst- und Weltverhältnisses bzw. einer Unhinterfragtheit selbstverständlicher Lebensformen einerseits wie auch die Versuche einer moralphilosophischen Positivierung des Authentischen andererseits zehren beide von der normativen Idee personaler Authentizität- unter Vernachlässigung jener Aspekte, die mit der materialen Authentizität verbunden sind. 1R Damit ist das Tableau erreicht, von dem nun unsere Überlegungen ausgehen. Ist es möglich zu zeigen, dass ein philosophisch außchlussreiches Konzept von Authentizität nicht einfach die personale gegenüber der materialen Authentizität ,stark machen' kann, sondern dass gerade im Wechselverhältnis zwischen materialen und personalen Aspekten der Begriff der Authentizität zu konturieren ist? Eben dies ist unsere Vermutung und wir wollen die Möglichkeit einer instruktiven Wechselwirkung zwischen materialer und personaler Authentizität nun anhand eines konkreten Phänomens, des Zeugen und der Zeugenschaft, untersuchen.
15 Ludwig Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, in: Ludwig Wittgenstein, Schriften, Bd. I, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1980, S. 290-544, S. 386 (Philosophische Untersuchungen, §§217ff.) 16 Charles Taylor: The Ethics of Authenticity, Cambridge u.a.: Harvard University Press 1992, S. 66 ff. 17 Alessandro Ferrara: Reflective Authenticity. Rethinking the Project of Modemity, London, New York: Routledge 1998, S. llf. Vgl. weiters: Alessandro Ferrara: Modemity and Authenticity. A Study ofthe Social and Ethical Thought of Jean-Jacques Rousseau, Albany: State University of New York Press 1993. 18 Auf diese Unterbelichtung empirischer Authentizität durch die normativen Authentizitätstheorien verweisen S. Knaller/H. Müller, Authentizität und kein Ende, 2006, S. II ff.
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2. DIE UNEIGENTLICHKElT DER BOTENREDE ODER: ÜBER DIE FREMDBESTIMMTHEIT VON MEDIEN Die Annäherung an und Auseinandersetzung mit der Zeugenschaft erfolgt für uns mit Hilfe der Figur des Boten. 19 Denn es ist möglich, den Status eines Zeugen nach der Art eines Boten zu deuten, der von einem vergangenen Ereignis denjenigen berichtet, denen dieses Ereignis gerade unzugänglich gewesen ist. In der Figur des Boten als einem Mittler zwischen zwei einander unzugänglichen Welten kondensieren sich für uns grundlegende Bestimmungen dessen, was ein Medium ist. Und tatsächlich kann der Zeuge als eine Art von Medium betrachtet werden, welches etwas von einem vergangenen Ereignis in die Gegenwart zu übermitteln sucht. Signifikant nun ist für unser Authentizitätsthema, dass die Daseinsweise des Boten - und damit auch von Medien im allgemeinen - diejenige einer Fremdbestimmung ist: Boten sind nicht autonom, vielmehr heteronom; sie sprechen nicht im eigenen, sondern im fremden Namen. Der Bote ist nicht Ursprung und Autor von dem, was er übermittelt; ein Bote überträgt, was er nicht selbst hervorgebracht hat. So scheint der Bote im Metier seiner ,Fremdkundgabe' wie der Gegenentwurf zur Authentizität im Sinne der ,Selbstkundgabe'. In der Sprechakttheorie und universalpragmatischen Kommunikationstheorie ist das Prinzip der Wahrhaftigkeit die Gelenkstelle gelingender Kommunikation, insofern das, was man sagt, mit dem übereinzustimmen hat, was man meint. Anders jedoch der Bote, der nicht meinen und glauben muss, was er sagt; er ist diskursiv ,ohnmächtig' und bildet geradezu die Kontrastfolie zur Sprechakttheorie. Der Bote ist die Inkarnation von Uneigentlichkeit: Selbstneutralisierung und Selbstzurücknahme, aber nicht Selbstbezug und Selbststilisierung gehören zum Ethos seiner Funktion. In dieser seiner Heteronomie stilisieren wir die Botenfigur zu einem Modell für das, worin wir das Charakteristikum von Medien sehen. Den Komplikationen und Verästelungen dieses Modells können wir hier nicht nachspüren. Für uns ist damit nur ein Ausgangspunkt gewonnen, um zu fragen: Wenn der Zeuge Züge eines Mediums-verstanden-als-Bote annimmt, welches Licht wirft dann die
19 Sybille Krämer: Medium, Bote, Übertragung. Kleine Metaphysik der Medialität, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2008, Kapitel Zeugenschaft, S. 223-260.
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Figur des Boten auf das Phänomen der Zeugenschaft? Und welche Rolle spielen dabei Authentizität und Nichtauthentizität?
3.
ZEUGENSCHAFT, GLAUBWÜRDIGKEIT UND VERTRAUEN
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Trachten wurden von dieser Disziplin bis weit in das 20. Jahrhundert hinein als authentische Selbstzeugnisse bestimmter Volksgruppen minutiös aufgelistet und dokumentiert. Zahlreiche Trachtentafeln und Mappen aus den verschiedenen Territorien der Habsburgermonarchie, nicht zuletzt aber die Abbildungen in dem 24-bändigen Kronprinzenwerk aus dem Jahre 190223 belegen diesen Eifer, der offensichtlich
23 Siehe dazu Regina Bendix: "Ethnology, Cultural Reification and the Dynamics of Difference in the Kronprinzenwerk", in: Nancy Wingfield (Hg.), Creating the Other. Ethnic Contlict and Nationalism in Habsburg Central
ZUR AUTHENTIZITÄTSPROBLEMATIK VON NATIONALTRAC HTEN
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ganz und gar von dem Glauben beseelt war, durch eine möglichst genaue Rekonstruktion und Verzeichnung von Trachten das Wesen einer bestimmten Bevölkerungsgruppe bzw. eines Volkes wissenschaftlich exakt erfassen und vergleichen zu können. Diese zweite, sekundäre Ebene der Authentisierung von Trachten im Sinne nationalkultureller Codierungen kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden, weil sie den Trachtenkult flankierend legitimiert und ihm somit lange Zeit die Aura wissenschaftlich nachweisbarer Berechtigung garantiert hat. Was den diversen Nationalbewegungen im Laufe des 19. Jahrhunderts zur Identitätsstiftung diente, war teilweise schon zuvor wie z.B. in Bayern obrigkeitlich im Sinne einer vaterländischen Erziehung gefördert worden. Selbst zur Herrschaftsstabilisierung transnationaler Machtstrukturen wurden Trachten herangezogen. So hatte Kaiser Franz Joseph I. bei den Krönungsfeierlichkeiten in Budapest von 1867 bewusst eine ungarische Husarenuniform angelegt und war bei seinen Besuchen in Kärnten mit Lederhose aufgetreten. 24 Die Absicht war jedes Mal die gleiche: Mit Gesten dieser Art wollte der Monarch seinen Respekt vor und zugleich seine Verbundenheit mit den wichtigsten staatstragenden Nationalitäten des Reiches zum Ausdruck bringen. Der gesamtstaatlichen Repräsentation und Integration diente gleichfalls der Aufmarsch von Trachtengruppen aus der ganzen Monarchie bei dem Kaiserhuldigungsfestzug in Wien im Jahr 1908, dessen größter Teil von ca. 8.000 Vertretern der nach Kronländern geordneten Monarchievölker in ihren nationalen Trachten bestritten wurde. 25 Diese großangelegte Trachtenschau stellte den wohlletztmaligen Versuch dar, die multinationale VieWiltigkeit des Reiches positiv als ein unschätzbares kulturelles Kapital auszuweisen. Die demonstrative
Europe, New York 2003, S. 149- 166; Irene Kohl: "Entstehungsgeschichte und Konzeption des ,Kronprinzenwerkes"', in: dies./Emil Brix (Hg.), Galizien in Bildern, Wien 1997, S. 11-19; Justin Stagl: "The Kronprinzenwerk - Representing the Multinational State", in: Balint Baila/Anton Sterbling (Hg.), Ethnicity, Nation, Culture. Central and East European Perspectives, Harnburg 1998, S. 17- 30. 24 Müller, Nationalisierung der Kultur, S. 23; Gexi Tostmann: Das alpenländische Dirndl. Tradition und Mode, Wien 1998, S. 9; vgl. in diesem Zusammenhang außerdem Georg J. Kugler: "Tracht und Hofkleid" , in: Gerda Mraz (Hg.), Österreich-Ungarn in Lied und Bild, Wien 1997, S. 22- 26. 25 Zum Folgenden Elisabeth Grossegger: Der Kaiser-Huldigungs-Festzug Wien 1908, Wien 1992, S. 160-180; Nancy Wingfield: Flag Wars and Stone Saints. How the Bohemian Lands Became Czech, Cambridge, Mass. 2007, S. 114-1 20.
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Abwesenheit der Tschechen machte freilich deutlich, dass dieses harmonisierende Ansinnen nicht mehr ganz dem Zeitgeist entsprochen hat. Als Folge zunehmender Politisierung der Nationalbewegungen hatte die Verbindung von Tracht und Macht seit dem Ausgang des 19. Jahrhunderts ständig zugenommen und gewann dann mit dem Entstehen der sogenannten Nachfolgestaaten nach 1918 zusätzlich an Bedeutung. Ein Foto aus dem Jahr 1934 zeigt den greisen Staatsgründer und ersten Präsidenten der Ersten Tschechoslowakischen Republik Tomas Garrigue Masaryk, wie er gerade im Begriff ist, ein kleines Mädchen in mähfiseher Tracht zu sich emporzuheben (Abb. 5). Abbildung 5: Tschechische Fotopostkarte, Praha 1934 (Sammlung R. Jaworski)
Die Tracht dient hier schon nicht mehr vorrangig kollektiver Identitätsstiftung und Selbstversicherung, sondern wird zum schmückenden Dekor politischer Macht und damit zu deren Legitimierung eingesetzt. Dabei ging es eher um die Demonstration von Volksnähe des "Befreierpräsidenten" als um ein kollektives Bekenntnis zur tschechischen
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Nation. Doch im Unterschied zum persönlichen Gebrauch von Nationaltrachten bei Kaiser Franz Joseph l. sind hier Tracht und Staatslenker zwar aufeinander bezogen, werden aber getrennt visualisiert und nebeneinander gestellt. Bewusst wurde eine Fotografie mit dem unbestritten demokratisch gesinnten Staatsgründer der Tschechoslowakei ausgewählt, weil damit deutlich wird, dass die öffentlich zelebrierte Bezugnahme auf Trachtentraditionen in der symbolischen Politik des 20. Jahrhunderts keineswegs bloß eine Angelegenheit von Diktatoren gewesen ist. Bekanntlich haben Trachten dann nach dem Zweiten Weltkrieg noch einmal eine nicht unerhebliche Rolle bei der öffentlichen Selbstdarstellung der Länder des real existierenden Sozialismus gespielt, wie beispielsweise regelmäßig bei den !.-Mai-Feierlichkeiten. Trachten wurden nun vornehmlich als Zeugnisse der Volks- und nicht der Nationalkultur verstanden und damit als unentbehrliche Bestandteile der sozialistischen Gesellschaft vereinnahmt. 26 Nach dem massiven politischen Missbrauch der Trachten in den totalitären Regimen des 20. Jahrhunderts ist ihre Rolle als identitätsstiftendes Merkmal und Echtheitssiegel nationaler und politischer Kollektive merklich verblasst, und ihr Bedeutungsschwerpunkt hat sich heute in der Regel wieder in die Regionen verlagert. Zwar wird nach wie vor mit Trachten gelegentlich noch Politik gemacht, aber mittlerweile werden diese hauptsächlich nur mehr auf regionaler und lokaler Ebene als gemeinschaftsstiftende Traditionselemente genutzt und sind hier unübersehbar mit touristischem Marketing verbunden, wie ein Bierdeckel einer bekannten polnischen Brauerei illustriert (Abb. 6). Trachten stehen heute mehrheitlich nicht mehr für die Echtheit einer Nation, sondern für eine naturbelassene Landschaft, die zur Erholung einlädt, oder für die Reinheit einer Bier- oder Käsesorte, d.h. sie sind mehrheitlich zu unpolitischen Stimmungs- und Werbeträgern geworden.27
26 Vgl. dazu beispielsweise Viera Nosal'ova: Slovansk)' l'udory odev, Martin 1983. - Nationale Akzentuierungen blieben freilich weiterhin virulent. Vgl. Michaela Ferencova: "Od l'udu k narodu. Vytvaranie narodnej kulrury v etnografickej produkcii v socialistickom Ceskoslovensku a Mad'arsku", in: Etnologicke rozpravy 13 (2006), H. 2, S. 104-133. 27 Siehe Edith Hörandner: "Tracht und Werbung: Signal und Signet", in: Lipp u.a. (Hg.), Tracht in Österreich, S. 235-237. Desgleichen ist eine zunehmende Kommerzialisierung der Trachtenproduktion selber zu ver-
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Abbildung 6: Polnischer Bierdeckel, ca. 2008 (Sammlung R. Jaworski)
Weitergehende Forschungen auf diesem Terrain müssen vor diesem Hintergrund die Frage in Rechnung stellen, ob es tatsächlich ausreicht, die Konstruktionsprinzipien sowie die ideologisch-politischen lmplikationen des Trachtenkultes im 19. und 20. Jahrhundert herauszuarbeiten und damit ihre behauptete Authentizität als kalkulierten Effekt eines perfekten Scheines zu entzaubern. Denn eine bloße Unterscheidung zwischen echten und unechten bzw. artifiziellen oder unzeitgemäßen Nationaltrachten setzt letzten Endes Authentizität als eine unwandelbare, d.h. nicht weiter zu hinterfragende Größe voraus und ignoriert damit, dass es die Kategorie Authentizität selber zu historisieren und zu dekonstruieren gilt, da sie - und das nicht nur auf die Kleidung bezogen - in vormodernen Zeiten und innerhalb traditioneller Gesellschaften ohne Relevanz gewesen ist. Denn die Geschichte der zeichnen. Siehe Thekla Weissengruber: Zwischen Pflege und Kommerz. Studien zum Umgang mit Trachten in Österreich nach 1945, Wien 2004.
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Trachten zeigt unmissverständlich, dass in traditionellen Gesellschaften die soziale Rangordnung und nicht die Authentizität einer Kleidung und eines Kleidungsstils von maßgeblicher Bedeutung gewesen ist. Die Suche nach "authentischen" nationalen Trachten wurde erst im Zuge der sich formierenden modernen Nationen relevant, wie hier am Beispiel Ostmitteleuropas demonstriert werden konnte. Diese Suche nach Authentizität in den Trachten einschließlich damit verbundener lnszenierungspraktiken, Manipulationen und lnstrumentalisierungen bleibt aber für sich genommen ein ernst zu nehmender und überaus lohnenswerter Forschungsgegenstand. 28
28 Dazu Koestlin: Tracht und die Inszenierung von Authentizität, S. 207- 220; Rolf Lindner: "Die Idee des Authentischen", in: Kud.'Uck. Notizen zur Alltagskultur 13 (1998), H. 1, S. 58- 61; Giseta Waelz: "Die Inszenierung von Authentizität im Kulturbetrieb", in: Klara Löffler (Hg.), Dazwischen. Zur Spezifik der Empirien in der Volkslmnde, Wien 2001, S. 93- 99; außerdem noch einmal die Literaturangaben in Anmerkung I. - Zu den Metamorphosen des Trachtenkults in Deutschland siehe Inge Baxmann: "Trachten, Tänze, Traditionen. Folklore- eine Wissenskultur auf der Suche nach dem Volk", in: Journal Universität Leipzig (2006), Heft 1, S. lOf.
Barock in Böhmen tschechischer Barock? Ein Authentisierungsdiskurs und sein Scheitern
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Das Erbe des Barock war für die tschechische Gesellschaft im Böhmen des 19. Jahrhunderts und ebenso später flir die Tschechos1owakei eine sperrige Bürde. Das Jahr 1620 und der Gedächtnisort, Weißer Berg bei Prag' fungierten im Prozess des tschechischen nation building als Chiffren für einen mehrhundertjährigen gewaltsam oktroyierten Kulturverlust:1 In der Schlacht am Weißen Berg war am 8. November 1620 der Aufstand der protestantischen böhmischen Stände von den Truppen der Katholischen Liga blutig niedergeschlagen worden, seine Anführer wurden hingerichtet, andere exiliert, ihre Güter eingezogen und kaisertreuen Adligen übergeben. Aus dieser Perspektive wurde
Vgl. dazu Jifi Rak: Byvali Cechove. Ceske historicke myty a stereotypy [Es waren einmal Tschechen. Tschechische historische Mythen und Stereotype], Jinocany: H & H 1994, bes. die Kapitel "Narod bozich bojovniku [Ein Volk der Kämpfer für Gott]", S. 49--66, und "Slechta zradna a cizacka [Der Adel - Verräter und Fremdlinge]", S. 67-81; Jifi Rak!Vit Vlnas: "Dmhy zivot baroka V Cechach [Das Nachleben des Barock in Böhmen]", in: Vit Vlnas (Hg.), Slava barokni Cechie. Stati 0 umeni, kultui'e a spolecnosti 17. a 18. stoleti [Der Ruhm des barocken Böhmen. Aufsätze über Kunst, Kultur und Gesellschaft des 17. und 18. Jahrhunderts], Praha: Narodni Galerie 2001, S. 13- 60. Zum Weißen Berg als Gedächtnisort und Denkmalstandort Zdenek Hojda/Jii'i Pokorny: Pomniky a zapomniky [Denkmäler und Mäler des Vergessens], Praha, Litomysl: Paseka 1996, Kap. "Kde hrob je nas? Pomnik Bile hory [Wo liegt unser Grab? Das Denkmal des ,Weißen Berges']", S. 11 7-126.
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das tschechische, in hussitischer Tradition protestantische und ,demokratische' Böhmen österreichisch, somit germanisiert, katholisiert und in einem Ausmaß absolutistischer Herrschaft unterworfen, das der tschechischen Kultur jedwede weitere Entfaltungsmöglichkeit abschnürte. Dieses Geschichtsbild, seit dem frühen 19. Jahrhundert im Zuge der tschechischen ,Wiedergeburtsbewegung' ausgemalt und später in der verkürzten Formel vom ,Zeitalter der Finsternis' politisch funktionalisiert, bestimmte auch noch das Verständnis der Staatsgründung 1918.2 So konnte der Historiker Josef Pekaf Anfang der 1920er Jahre schreiben: "Am Weißen Berg gerieten wir unter die Räder des Schicksals, wurden zur hilflosen Beute des Hauses Österreich, verloren unsere staatliche, nationale, sittliche Selbstbestimmung", um dann fortzufahren: "am 28. Oktober [1918] haben wir die Jahrhunderte alten Fesseln gesprengt [ .. .]".3 Selbst noch im Zusammenhang mit den Dekreten von 1945 über die Enteignung und Ausweisung der deutschsprachigen Bevölkerung war von der "Notwendigkeit" die Rede, "das historische Unrecht, das dem tschechischen Volk in der Zeit nach der Schlacht am Weißen Berg zugefügt worden ist, zu sühnen". 4
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So war in der "Unabhängigkeitserklärung des tschechoslowakischen Volkes" vom 18. Oktober 1918 vom "Sieg der Demokratie über die theokratische Autokratie" der Habsburger die Rede. Pavel Belina/Jifi RalJJifi Pokorny u.a.: Dejiny zemi koruny ceske [Geschichte der Länder der böhmischen Krone], Praha 1992, Bd. 2, S. 150. Der Begriff ,Finsternis' ging aus dem Titel eines programmatischen Romans in den allgemeinen Sprachgebrauch über: Alois Jirasek: Temno. Historick)' obraz [Finsternis. Ein Historiengemälde], Praha: Otto 1915. Vgl. dazu J. Rak/V. Vlnas: Druhy zivot baroka, bes. S. 33-38; außerdem Frederick G. Heymann: " Das Temno in der neuen tschechischen Geschichtsauffassung", in: Bohemia 9 (1968), S. 323- 339. Josef Pekaf: Bila Hora. Jeji pficiny a nasledky [Der Weiße Berg. Seine Ursachen und Folgen], Praha: Vesmir 1921, Ndr. in: ders.: 0 smyslu ceskych dejin [Über den Sinn der tschechischen Geschichte], Praha: Rozmluvy 1990, S. 157- 274, hier S. 193. So die Regierung in einer schriftlichen Erwiderung auf Anmerkungen des Präsidenten zum Entwurf für das Dekret Nr. 12 vom 12.6.1945 (über "die Konfiskation und beschleunigte Aufteilung des landwirtschaftlichen Eigentums der Deutschen, Magyaren sowie Verräter und Feinde des tschechischen und des slowakischen Volkes"), 13.6.1945. Kare] Jech/Karel Kaplan (Hg.), Dekrety prezidenta republiky 1940-1945. Dokumenty [Dekrete des Präsidenten der Republik 1940-1945. Dokumente], Brno 1995, Bd. 1, S. 301-303, hier S. 302.
BAROCK IN BöHMEN- TSCHECHISCHER BAROCK?
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Die nationale Dimension spielte auch bei der Aneignung des kulturellen Erbes eine Rolle, wenngleich die Bedeutungszuschreibungen vielschichtig waren. lm 19. Jahrhundert folgten die Ak:tualisierungen historischer Kunst- und Baustile vielfaltigen Auswahlkriterien, Motivationen und Beschränkungen. Keineswegs handelte es sich allein und wohl nicht einmal vorrangig- um Fragen von ,Geschmack' und ,Mode': In erster Linie spielte die kunsttheoretische Kategorie des ,Decorums', der Angemessenheit, eine Rolle, die aus der antiken Rhetorik über die Kunstdiskurse der Frühen Neuzeit in den Kanon der Akademien eingegangen war und in der Wendung zur ,Schicklichkeit' seit dem 18. Jahrhundert auch allgemeine Relevanz als System von Verhaltensnormen angenommen hatte. Ungeachtet der Konjunkturen, welche die nach und nach ,wieder entdeckten' historischen Epochenstile im 19. und ftühen 20. Jahrhundert erlebten, lösten sie einander gleichwohl nicht ab, sondern wurden nach konventionalisierten Regeln eingesetzt: um Funktionen von Gebäuden zu kennzeichnen, aber auch, um deren Bewohner bzw. Besucher mittels der Typologie und der architektonischen Einkleidung der Bauten in der soziokulturellen Hierarchie zu verorten. Unter beiden Aspekten unterlag die Wahl von Bautyp und Stil stets auch Kriterien des ,Decorums', sei es im affirmativen Sinne oder um einen Anspruch zu artikulieren. Zudem transportierten die verfügbaren Stile eine Vielzahl heterogener sozialer und kultureller Konnotationen, die seit dem frühen 19. Jahrhundert in gelehrten Debatten und zunehmend in der breitenwirksamen Publizistik ausgehandelt wurden. Als Gegenstand stetiger Debatte erlangte diese Symbolik allerdings in keinem konkreten Kontext Verbindlichkeit, so dass sie durchaus mit wechselnder Gewichtung und sogar in gegenläufiger Absicht eingesetzt werden konnte: ,Mode' und ,Geschmack', soziale Ambitionen, Bekenntnisse zu bestimmten - etwa regionalen, nationalen oder konfessionellen - Gemeinschaften oder auch politische Loyalitäten kamen-zumal im Privatbau-mit prinzipiell beliebiger, von Fall zu Fall wechselnder und sicher nicht immer in Gänze reflektierter Prioritätensetzung zum Tragen. Aber ungeachtet mehr oder weniger ausgeprägter konkreter Demonstrationsabsichten im Einzelfall entwickelte sich Architektur zu einem Zeichensystem, das die funktionale, soziale und kulturelle Ausdifferenzierung gleichermaßen abbildete und beförderte. Während diese Praxis des Historismus an sich in aller Regel unbestritten blieb, wie es sich in den sozial und kulturell komplexen Metro-
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polen Europas beobachten lässt, wurde sie dort zum Problem, wo Fragen kollektiver ,Identität' im Hinblick auf konkurrierende politische Horizonte verhandelt wurden und wo ein Bedürfnis nach - auch ,sichtbarer' - Abgrenzung der , vorgestellten - bzw. eher: von Aktivisten beanspruchten - Gemeinschaft' 5 in Konflikt mit den gesellschaftlichen Differenzierungsprozessen geriet. Diese Problematik kennzeichnete in besonderem Maße die ,Kultumationen' innerhalb der Habsburgermonarchie, die im Verlauf des 19. Jahrhunderts ihre sprachliche, geschichtliche und kulturelle Eigenart ,entdeckten' und deren Wortführer damit Forderungen nach Autonomierechten begründeten. Nach dem Muster der deutschen Nationalbewegung des frühen 19. Jahrhunderts" wurden in diese Diskurse seit den 1860er Jahren auch Architektur und Kunst als maßgebliche Indikatoren bzw. Medien einbezogen: Engagierte Gelehrte fanden in historischen Denkmälern Anzeichen für kulturell bedingte spezifische Ausprägungen von Epochenstilen, Künstler und Architekten wurden mit der Erwartung konfrontiert, den ,Befunden' - auch wenn sie im Deklarativen verblieben - entsprechende ,nationalspezifische' Ausdrucksmittel zur Anwendung zu bringen, und eine ausgedehnte Publizistik suchte diese Vorstellungen als ,Norm' ins Bewusstsein der Öffentlichkeit zu implementieren. 7 War die Argumentation in nationalem Interesse im Rahmen ihrer eigenen Logik einerseits darauf angewiesen, die ,nationale Färbung' des jewei-
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Anleihe bei Benedict Anderson: Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts, Frankfurt/Main 1988 (1. Aufl. u. d. T. "Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread of Nationalism", London 1983). Vgl. Miroslav Hroch: Die Vorkämpfer der nationalen Bewegung bei den kleinen Völkern Europas. Eine vergleichende Analyse zur gesellschaftlichen Schichtung der patriotischen Gruppen, Praha 1968 (Acta Universitatis Carolinae philosophica et historica. Monographia XXIV). Zur Langlebigkeit des ,Vorkämpfermodells' in der tschechischen Gesellschaft Michaela Marek: Kunst und Identitätspolitik Architektur und Bildkünste im Prozess der tschechischen Nationsbildung, Köln, Weimar, Wien: Böhlau 2004. Vgl. dazu das Beispiel der Neogotik: Gabi Dolff-Bonekämper: Wem gehört die Gotik? Wissenszuwachs und nationale Mythenbildung in der Architekturgeschichtsforschung des 18. und 19. Jahrhunderts, in: Roland Recht (Hg.), L'art et les revolutions. X:XVIIe Congres International d'Histoire de !'Art, Bd. 6: Survivances et reveils de l'architecture gothique, Strasbourg: Societe Alsacienne pour le Developpement de l'Histoire de !'Art 1992, S. 5-14. Vgl. dazu bspw. Jindfich Vybiral: "Peter Parler in der Sicht Bernhard Gruebers. Zur Rezeption der Gotik im 19. Jahrhundert", in: Architectura 30 (2000), S. 174-188.
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Iigen Stilmodus als ,natürlich' auszugeben, Pluralität zu leugnen und die Rezeption ,fremder' Vorbilder möglichst einzuschränken, so stand dem die Aufgeschlossenheit gegenüber aktuellen Entwicklungen (einschließlich ,Moden') als Ausweis von Ebenbürtigkeit und Fortschrittlichkeit gegenüber - ein Dilemma, das die Konstruktion nationaler , Identitäten' durchgehend kennzeichnet.
DIE NEUBEWERTUNG DES BAROCK IM AUSGEHENDEN 19. JAHRHUNDERT Wie im Brennglas lässt sich der Umgang mit dieser Problematik an der Aneignung des Barock im Prag des ausgehenden 19. Jahrhunderts beobachten, als die Hauptstadt des Kronlandes Böhmen mit zunehmendem Nachdruck zur Kronzeugin für historisch begründete Autonomieforderungen der ,tschechischen Nation' aufgerufen wurde. Anders als Gotik und Renaissance, die seit der Mitte des 19. Jahrhunderts Gegenstand geschichtspolitischer Auseinandersetzung wie auch kunsthistorischen Interesses waren und die sich- auf je unterschiedliche Weisebruchlos auch ins tschechisch gedeutete Geschichtsbild hatten integrieren lassen, 8 stellte die Barockarchitektur die interessierten Gelehrten und Publizisten vor einen ungleich komplexeren Argumentationsbedarf Die Kirchen, Paläste und Denkmäler des Barock waren in Prag in hohem Maße Stadtbild prägend. Andererseits genoss der Barock bis weit ins 19. Jahrhundert hinein allgemein keine Wertschätzung als Epochenstil mit eigenen ästhetischen Gesetzen, sondern wurde, gemessen an der Renaissancearchitektur, als ein Phänomen der Auflösung und Regellosigkeit gering geachtet. 9 In Böhmen kam hinzu, dass das Zeitalter des habsburgischen ,Absolutismus' und der Gegenreformation im tschechischen Gedächtnis spätestens seit der Revolution von 1848 beharrlich als eine ,dunkle' Zeie 0 der gewaltsamen Unter-
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Vgl. etwa Joseph Kalousek: "0 historii rytvarneho umem v Cechach [Über die Geschichte der bildenden Kunst in Böhmen]", in: Osveta 7 (1877), S. 321- 342; zur so genannten tschechischen Renaissance: M. Marek: Kunst und ldentitätspolitik, S. 301 - 311. 9 Vgl. Hans Tintelnot "Zur Gewinnung unserer Barockbegriffe", in: Rudolf Stamm (Hg.), Die Kunstfonneu des Barock-Zeitalters. Vierzehn Vorträge, Bern, München: Lehnen 1956, S. 13-91. 10 Vgl. Anm. I.
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drückung nicht nur konfessioneller, sondern vor allem sprachlichkultureller und politischer Entfaltungsmöglichkeiten konnotiert wurde. Beides konnte jedoch nicht verhindern, dass der Motiv- und Formenapparat des Barock schon im Verlauf der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zuerst in Wien und nachfolgend auch in Prag vom wohlhabenden Bürgertum - nach französischem Vorbild - als vornehmer Modestil entdeckt und als soziales Distinktionsmittel eingesetzt wurde;11 daraus entstand gleichsam ein ,akuter' Bedarf, den Denkmalbestand aus der Barockzeit einer Neubewertung zu unterziehen. Als die Kunst und Architektur des Barock in den 1870er und verstärkt in den 1880er Jahren in den Blickpunkt rückte, geschah dies im Zuge einer Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, in der die Artefakte als historische Zeugnisse, weniger als Kunstdenkmäler sui generis figurierten und in dieser Funktion- in positiver oder negativer Wendungvorrangig zur lllustration aktueller Zuschreibungen und Ordnungsentwürfe herangezogen wurden. Wenn die Identitätskonstruktionen zwar keineswegs ausschließlich, doch in erster Linie- unter den Vorzeichen regional-nationaler Inklusion und Grenzziehung standen und die ins Feld geführten Argumente auf historisch-territoriale Traditionsansprüche gestützt wurden, so verlangte dies Strategien, die das Behauptete dem Zweifel und der Diskussion entzogen: Strategien, die auf ,Authentizität' in einem spezifischen Verständnis abzielten.
DEUTUNGSKONFLIKTE UM DEN PRAGER BAROCK
Aus dem skizzierten Verständnis der Barockepoche war in Bezug auf das Stadtbild Prags ein Deutungskonflikt entstanden, der lange diffus und latent blieb: zwischen dem ,eigenen' Charakter der architektonisch geformten Stadtlandschaft und dem Umstand, dass dieser zu we-
11 Vgl. dazu Monika Steinhauser: Die Architektur der Pariser Oper. Studien zu ihrer Entstehungsgeschichte und ihrer architekturgeschichtlichen Stellung, München: Prestel 1969, S. 169-176; dies.: " Le ,Neo-Baroque"', in: Fran.yois Loyer (Hg.), Autour de !'Opera. Naissance de Ia ville moderne, Paris: Delegation ill' Action Artistique de Ia Ville de Paris 1995, S. 152166; zu Wien zuletzt Andreas Nierhaus: "Höfisch und österreichisch. Zur Architektur des Neobarock in Wien", in: Moritz Csaky/Federico Celestini/ Ulrich Tragatschnigg (Hg.), Barock - ein Ort des Gedächtnisses. Interpretament der Moderne/Postmoderne, Wien, Köln, Weimar: Böhlau 2007, S. 79-99.
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sentlichen Teilen eben von der ,aufgezwungenen fremden' Kultur geschaffen worden war. Er wird darin fassbar, dass der sichtbaren Historie im Stadtbild Prags und der daraus entspringenden ,Atmosphäre' eine wichtige Rolle für die Begründung der ,Nation' zugesprochen wurde, dass dabei aber konkrete Bezugnahmen auf Denkmäler des Barock stets vermieden wurden. 12 Um 1880 nahm dieser Deutungskonflikt schrittweise Konturen an, büßte dabei aber zugleich die Überschaubarkeit der einfachen Polarität ein. Die Impulse kamen von ,außen' und provozierten lange Zeit keinen ,Zugzwang' zur E1widerung. Als erster gab Alfred Woltmann, aus Berlin bzw. aus Karlsruhe nach Prag berufener Professor für Kunstgeschichte,13 eine - bezeichnenderweise politisch, nicht kunsthistorisch ausgerichtete - Interpretation des Prager Barock kund. In einem öffentlichen Vortrag, den er 1876 vor Mitgliedern und Gästen des Prager Vereins deutscher Literaten und Künstler ,Concordia' hielt, entwickelte Woltmann die ,Beweisführung', dass Prag in seinem Erscheinungsbild vom Mittelalter bis zur damaligen Gegenwart von der Zugehörigkeit zur ,deutschen Kultur' zeuge- dies jedoch mit Ausnahme der Barockepoche: In den Wirren der Jahre nach der Schlacht am Weißen Berg habe sich dank der Aktivitäten der Jesuiten zunächst der "italienische" und dann maßgeblich der habsburgische Einfluss durchsetzen können: "[ ... ] nicht deutsche Bildung durfte die geistige Rückeroberung des Landes in die Hand nehmen [... ]. Deutsch kann man die Kunst dieser Epoche kaum nennen. [ ... ] Dagegen haben die hiesigen Schöpfungen einen specifisch Österreichischen Charakter"14 - "nicht immer von gesundem Geist durchdrungen", habe der habsburgische Barock gleichwohl "Glanzvolles hervorgebracht" und damit "zur cha-
12 Vgl. dazu Vladimir Macura: Znameni zrodu. Ceske mirodni obrozeni jako kulturni typ [Zeichen der Genese. Die tschechische nationale Wiedergeburt als Kulturtypus], Jinocany: H & H 1995, darin Kap. "Praha [Prag]", S. 178-188. 13 Woltmann stammte aus Berlin, hatte dort als Privatdozent an der Universität und anschließend als Professor am Karlsruher Polytechnikum gelehrt; von dort wurde er 1874 nach Prag berufen. Vgl. Alfred Stern: Art. "Woltmann, Alfred", in: Allgemeine deutsche Biographie, Bd. 44, Leipzig: Duncker & Humblot 1898, S. 185- 188. 14 Alfred Woltmann: Deutsche Kunst in Prag. Ein Vortrag gehalten am 25. November 1876, Leipzig: E. A. Seemann 1877, S. 29, 31. Vgl. zu dem Vortrag und den Kontroversen, die er auslöste, M. Marek: Kunst und Identitätspolitik, S. 298-301.
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rakteristischen Erscheinung der Stadt wesentlich beigetragen". 15 Der Inhalt des Vortrags wurde noch vor seiner selbständigen Publikation über Presseberichte bekannt gemacht und mit hoher Sensibilität zur Kenntnis genommen. 16 Als Albert llg einige Jahre später, 1880, seine "Kunstepistel" über die "Die Zukunft des Barockstils" veröffentlichte, dürfte er noch in hinreichend frischer Erinnerung gewesen sein. Für einen flüchtigen Blick mögen sich Ilgs Ausfllhrungen wie eine Bekräftigung der Deutung von Woltmann ausgenommen haben. Allerdings argumentierte llg in seiner Interpretation des historischen Barock weitaus differenzierter. In dessen Formensprache habe das ,österreichische Staatswesen', verstanden als alle heterogenen Völker integrierende, ja disziplinierende Institution, unmittelbaren Ausdruck gefunden.17 Die dynastische und staatliche Dimension sah Ilg mit Blick auf die geschichtlichen Umstände, unter denen die Barockkunst entstanden war, untrennbar mit der konfessionellen, der katholischen, verknüpft aber auch, in einer ,völkerpsychologischen' Wendung der Argumentation, mit dem "österreichischen Wesen": mit "geistigen Eigenschaften", die dem "österreichischen Volk" zu eigen seien. 18 Auf diese Weise konnte er eine harmonische, ,natürliche' - das heißt: von autoritativen Übergriffen freie- Entwicklung suggerieren. Wenn Ilg den katholisch-habsburgischen (nunmehr: Neo-) Barock explizit mit dem protestantisch-reichsdeutschen kontrastierte, so zielte er auf die Gefahren der Desintegration, die zum einen von der im Aufstieg begriffenen
15 A. Woltmann: Deutsche Kunst in Prag, S. 32. 16 Nach Woltmanns Ausführungen im Vorwort habe er "erbitterten Ingrimm einer extremen Partei", das heißt der nationalistischen ,Jungtschechen' , hervorgerufen, der sich in "tumultuarische[n]" Demonstrationen entladen habe. Ebd., S. [3]. 17 Dazu und zum Folgenden insbes. Friedrich Polleroß: "Johann Bernhard Fischer von Erlach und das Österreichische ,Entweder-und-oder' in der Architektur", in: ders. (Hg.), Fischer von Erlach und die Wiener Barocktradition, Wien, Köln, Weimar: Böhlau 1995, S. 9-56; Peter Haiko: "Semper und Hasenauer. Kosmopolitische Neorenaissance versus österreichischer Neobarock", in: Cornelia Wenzel (Red.), Stilstreit und Einheitskunstwerk. Internationales Historismus-Symposium Bad Muskau, 20. bis 22. Juni 1997, Dresden: Verlag der Kunst 1998, S. 199- 212; Peter Stachel: "Albert Ilg und die ,Erfindung' des Barocks als österreichischer ,Nationalstil'", in: M. Csaky/F. Celestini/U. Tragatschnigg (Hg.), Barock - ein Ort des Gedächtnisses, S. 10 1-152; A. Nierhaus: Höfisch und österreichisch. 18 [Albert Ilg:] Die Zukunft des Barockstils. Eine Kunstepistel von Bernini dem Jüngeren, Wien: Manz 1880, hier zit. nach F. Polleroß: Johann Bernhard Fischer von Erlach, S. 22.
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deutschnationalen Bewegung ausgingen und zum anderen von den Autonomieforderungen, die in den Kronländern erhoben wurden. 19 Zugleich stellte er damit implizit auch nochmals die Prämisse heraus, dass innerhalb der Epochenstile unterscheidbare regionale Modi auf j ene einem jeden ,Volk' eigenen ,geistigen Eigenschaften' zurück zu führen seien?0 Er bediente sich dabei einer seit langem akzeptierten Kategorie/ 1 die er allerdings in Anbetracht der aufbegehrenden nationalen Emanzipationsbewegungen und seines eigenen Bestrebens, diesen zentrifugalen Kräften ein verschleiertes Einigungsgebot entgegen zu setzen, in politischem Sinne modifizieren, ja letztlich umkehren musste: zum Konzept eines ,demos', der durch Loyalität zur Dynastie sowie durch die idealiter gemeinsame Konfession gefomlt werde und dem gleichsam zwangsläufig auch die daraus resultierenden ,Wesenszüge' zuwüchsen. Erst nach nahezu einem Jahrzehnt wurden anders lautende Bewertungen des Prager Barock artikuliert und auf indirekte Weise kontrovers zugespitzt. Sie nahmen nicht explizit auf Ilg Bezug, doch dürfte dessen Konzeption einer , wiederherzustellenden' gesamtösterreichischen ,Nation' unter der einigenden Ägide des Kaiserhauses, die sich in einer spezifischen Ausprägung barocker Formensprache äußere, präsent gewesen sein, zumal das Bauprogramm inzwischen sichtbare
19 Siehe dazu ebd., S. 21f., und P. Haiko: Semper und Hasenauer. Vgl. A. Nierhaus: Höfisch und österreichisch, S. 83, sowie P. Stachel: Albert Ilg, S. 128-134. 20 Vgl.: "Wo der ruhige Deutsche jetzt zweifelsohne die regelrechte Gerade einhalten würde, da springt dieß warme Blut [i. e. das ,österreichische Wesen' - M.M.] in zehn Brüchen und Winkelchen zurück, versteckt sich neckisch in Nischen, hüpft im verkröpften Gesimse hervor oder schwingt sich sorglos in tollem Volutenbogen über die ganze Geschichte hinweg." [A. Ilg:] Die Zukunft des Barockstils, hier zit. nach F. Polleroß: Johann Bernhard Fischer von Erlach, S. 22. 21 Vgl. z. B.: "Volkscharakter nennt man die Eigenthümlichkeiten, durch welche sich ein Volk von dem andern unterscheidet. Seine Sitte, Lebensweise, seine natürlichen Anlagen, seine hervorstechende Gemüthsbeschaffenheit, seine Neigungen u. s. w. Der Charakter des deutschen Volkes z. B. ist gemüthlicher Ernst, Tiefe des Geflihls, Gründlichkeit, Langsamkeit, Treue, Ausdauer, der des französischen leichte Beweglichkeit, schnell auflodernder Enthusiasmus, Fröhlichkeit, Humor, persönliche Tapferkeit, Galanterie u. s. w." Johann Georg Krünitz: Oekonomische Encyklopädie, oder allgemeines System der Staats- Stadt- Haus- und Landwirthschaft in alphabetischer Ordnung, Bd. 228, Berlin: Pauli 1855, S. 142f.
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Gestalt angenommen hatte. 22 Ein entscheidender Anstoß ist nicht zu erkennen, vielmehr war die Debatte wohl von einer Koinzidenz mehrerer Ereignisse provoziert worden. lm Jahr 1888 trat der Wiener Architekt und Barockexperte Friedrich Ohmann sein Amt als Professor für "Architekturdekoration" an der Prager - staatlichen - Kunstgewerbeschule an?3 Wohl in Reaktion auf den vermeintlichen ,Import' einer Wiener Barockauffassung postulierte der Architekt Jan Koula in der Zeitschrift des tschechischen Architekten- und Ingenieursvereins eine von der habsburgischen verschiedene Variante des Barock, die für Prag charakteristisch sei.24 Ein Jahr später erschien das Pionierwerk "Geschichte des Barockstiles und des Rococo in Deutschland" von Comelius Gurlitt/ 5 einem Architekten und K.unstgelehrten, der als Sachse bekennender Protestant war. Gurlitt hatte in der Tradition älterer Kunstgeschichtsschreibung Böhmen in den Horizont des Heiligen Römischen Reiches einbezogen, ohne eigens regionale Differenzen zu thematisieren. 26 Gleichzeitig veröffentlichte er in den Prager "Mitthei-
22 Prominenteste Realisierungen waren der Michaelertrakt der Wiener Hofburg und der Ausbau der Budaer Burg. Vgl. zum Michaelertrakt P. Haiko: Semper und Hasenauer, S. 20 1- 203; zur Budaer Burg zuletzt Peter Rostas: "Die ,historischen' Prunkräume des Budaer Königspalastes um 1900", in: Mitteilungen der Gesellschaft fur vergleichende Kunstforschung 59 (2007), S. 1-22. 23 Vgl. Reinhard Pühringer: Art. "Ohmann, Friedrich", in: Neue deutsche Biographie, Bd. 19, Berlin: Duncker & Humblot 1999, S. 492f. 24 Vgl. K. [Jan Koula]: "Fa9ada Prazskeho domku z doby baroka [Die Fassade eines kleinen Prager Hauses aus der Barockzeit]", in: Zpnivy spolku architektü a inzenyrü v knilovstvi ceskem 23 (1888/89), S. 18. 25 Comelius Gurlitt: Geschichte des Barockstiles und des Rococo in Deutschland, Stuttgart: Ebner & Seubert 1889, erschienen als Bd. II, 2 und zugleich letzter Band des Gesamtwerkes "Geschichte des Barockstiles, des Rococo und des Klassizismus" . Der erste Band (1887) war Italien gewidmet, der erste Halbband des zweiten (1888) hatte Belgien, Holland, Frankreich und England zum Thema. Das Handbuch war die erste Bestandsaufnahme barocker Kunst mit wissenschaftlicher Ambition. Vgl. zu den frühen Konzeptualisierungen des Barock Martin Warnke: "Die Entstehung des Barockbegriffs in der Kunstgeschichte", in: Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung 20 (1990), S. 1207- 1223. 26 Anders als etwa Franz Kuglers "Geschichte der Baukunst" (3 Bde, Stuttgart: Ebner & Seubert 1856-1859), in deren Bänden die Kapitel nach europäischen Ländern gegliedert sind und innerhalb des Kapitels zu ,Deutschland' wiederum einzelne Regionen getrennt behandelt werden.
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Iungen des Vereines für Geschichte der Deutschen in Böhmen"27 eine speziell dem böhmischen Barock gewidmete Abhandlung.28 Im Falle der aus knappen, mutmaßlich kurzfristig verfassten Texten mit je einem Bild bestehenden Artikelserie zu Prager Bürgerhäusern aus der Barockzeit von Jan Koula (Abb. I) ist ein unausgesprochener Bezug auf Ilg und die Folgen von dessen Konstrukt sehr wahrscheinlich. K.oula stellte die Fassaden der Bürgerhäuser- in ausdrücklichem Gegensatz zu Palastbauten - als Beispiele für eine in Prag ,heimisch' gewordene, kleinbürgerliche Barockarchitektur vor. Ihren Werdegang bis ins erste Drittel des 18. Jahrhunderts mmiss er folgendermaßen: Damals stand bei uns der Barock in Blüte, den [ursprünglich] hervorragende italienische und deutsche Meister hierher gebracht hatten (Silv.[ester] Carloni, Pozzo, Christoph Dientzenhofer, Fischer von Erlach). Er hat sich hier auf der Grundlage der Formen der damals schon weltweit dominierenden französischen Kunst verhältnismäßig selbständig und organisch entwickelt. 29
Koula ging also davon aus, dass der italienische und der süddeutsche sowie der Wiener Barock gleichsam erst dank der französischen Überformung in Prag , volkstümlich' werden konnten. Damit mag er auf Albert llgs - politisch motivierte - ausdrückliche Distanzierung des habsburgischen Barocks vom französischen angespielt haben. Bei Ilg hieß es: Und gerade wie der Oesterreicher sich seine Barocke auf wälscher Basis zurechtlegte, gerade dasjenige, was dieses Resultat dann von dem allerdings verwandten französischen Geschmacke unterscheidet, charakterisirt ihn wieder aufs Genaueste. 30
27 Vgl. zu dem 1862 gegründeten Verein Michael Neumüller: "Der Verein für Geschichte der Deutschen in Böhmen: ein deutschliberaler Verein (von der Gründung bis zur Jahrhundertwende)", in: Ferdinand Seiht (Hg.), Vereinswesen und Geschichtspflege in den böhmischen Ländern, München: Oldenbourg 1986, S. 179-208. 28 Cornelius Gurlitt: "Die Barockarchitektur in Böhmen", in: Mittheilungen des Vereines fur Geschichte der Deutschen in Böhmen 28 (1889/90), S. 116. 29 K.: Favada Prazskeho domku, S. 18. 30 [A. Ilg:] Die Zukunft des Barockstils, S. 42, hier zit. nach Markus Kristan: Carl König 1841-1915. Ein neubarocker Großstadtarchitekt in Wien, Wien 1999, S. 25.
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Abbildung 1: Prag, barockes Bürgerhaus in der Neustadt, abgebildet bei Jan Koula, 1888/89
Gurlitt hingegen erkannte in Prag nur zwei aufeinander folgende Entwicklungsstufen des Barock. Der italienische "Jesuitenstil" sei durch monumentale Dimensionen, Pathos und das Prinzip der Unterordnung gekennzeichnet gewesen: [... ] die Einzelheit wird nicht mehr [d. h.: wie in der Renaissance] mit liebevoller Sorgfalt gebildet, sondern als dienendes Glied des Ganzen mit jener Rücksichtslosigkeit behandelt, die im Kriege der Geister gegen die einzelne Person schon längst erlaubt schien. 31
Dieser von italienischen Einflüssen dominierten Phase habe die "deutsche Barockmeisterschaft"32 Christoph und Kilian Ignaz Dientzenhafers ein Ende bereitet, die in der Folge vor allem in der Palastarchitektur
31 C. Gurlitt Die Barockarchitektur, S. 9. 32 Ebd., S. II .
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zur vollen Entfaltung ihrer Charakteristik geführt worden sei: Die Gebäude haben an Größe eingebüßt und an Reichtum gewonnen. Die einzelnen Stockwerke sind für sich gesondert [... ],mit Behagen zeigt die Fayade durch besondere Bildung der Fenster an, wo der Festsaal sich befindet[ ...]. Hier sind [die Formen] bescheidener, für die Betrachtung im Einzelnen berechnet, selbständig durchdacht, voll individuellen Lebens 33
Es ist möglich, dass Gurlitt - vermittelt über die Schriftleitung der Zeitschrift - mit diesen Ausführungen gezielt auf Koula reagierte und die von diesem reklamierte Eigenart des - als tschechisch verstandenen- bürgerlichen Prager Barock deshalb für ein spezifisch ,deutsches Kunstempfinden' in Anspruch nahm. Mit dem Schlusswort seines Beitrags formulierte er jedenfalls apodiktischen Widerspruch sowohl gegen die ,österreichisch-habsburgischen' als auch gegen die ,böhmischtschechischen' Ansprüche auf den Prager Barock: Während eines Spaziergangs auf dem Hradschin in magischer Morgenstimmung vernahm ich die Stimmen der Steine. [... ] Voll und klangreich tönte aus Prag herauf zu mir das Italienische. Stärker aber noch rauschten deutsche Töne an mein Ohr. [... ] Ich vernahm von ihnen die Kunde, wie deutsche Kunst ihr Bestes gethan, die schöne Moldaustadt zu schmücken, und die Klage, wie ihr dies von fremdem Geschlechte gedankt werde. Ich horchte scharf aus, damit mir keine Sprache aus dem Gewirr der Stimmen entgehe! Aber eine dritte Sprache vernahm ich aus der Wechselrede der Steine von Prag nicht! 34
Nur wenig später artikulierte sich in Prag - dank der Anwesenheit Friedrich Ohmanus - noch eine weitere Sichtweise auf den Barock. Diese zielte fernab aller nationalen Vereinnahmungen auf das Repräsentationspotential für sozialen Aufstieg, das den Barock nach Pariser und Wiener Muster vor allem für erfolgreiche und wohlhabende Bürger attraktiv machte. So war eines von Ohmanus ersten in Prag realisierten Projekten der 1891 vollendete Palast flir den Zuckerfabrikanten Matej Valtera (Abb. 2). Obmann hatte bereits - nach der Wiener Barockarchitektur und Bauplastik - detailliert auch den Prager Bestand
33 Ebd., S. 15. 34 Ebd., S. 16.
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studiert35 und konnte eine Fassade entwerfen, die in ihrer Proportionierung wie auch in den architektonischen Formen und ihrer Syntax sowie der Ornamentik auf den ersten Blick kaum von jenen der Adelspalais aus dem frühen 18. Jahrhundert zu unterscheiden ist. 36 Um 1900 ging diese Tendenz auch in Prag in einer weithin beliebten Mode auf, als zahllose Geschäfts- und Mietshausfassaden mit Stuckmotiven aus dem Musterbuch des Barock und Rokoko dekoriert wurden. Begünstigt - oder auch argumentativ aufgefangen - wurde diese Modeerscheinung durch Anstrengungen von politischer wie auch von kunsthistorischer Seite, den Barock als integralen Teil des spezifischen Stadtbildes auszuweisen - wenn auch nicht unter Gesichtspunkten der politischen Geschichte, so doch unter architekturgeschichtlichen und ästhetischen. In der 1891 veranstalteten, als umfassende Leistungsschau und Selbstdarstellung des ,tschechischen' Böhmen konzipierten Landesausstellung figurierte der ,einheimische' Barock neben präsentierten Zeichnungen prominenter Denkmäler37 allein mit dem "Kaiserpavillon", der, von Friedrich Ohmann entworfen, als Hommage und Loyalitätsgeste des Landes an Kaiser Franz Joseph gedacht war. 38 Ebenfalls bereits ab 1891 entstand aber auch, am linken Moldauufer im Panorama des Hradschin und des überwiegend barock bebauten Adelsviertels Kleinseite, das Gebäude der Straka-Akademie, einer Erziehungsanstalt für junge Männer aus verarmten - tschechischen Adelsfamilien (Abb. 3). Bauherr war der Landesausschuss, das Exekutivorgan des böhmischen Landtages, in seiner Funktion als Vermögens-
35 L[udwig] Baumann/E[mil] Bressler/F[riedrich] Ohmann: Barock. Eine Sammlung von Plafonds, Cartouchen, Consolen, Gittern, Möbeln, Vasen, Öfen, Ornamenten, Interieurs etc. etc. Zumeist in kaiserlichen Schlössern, Kirchen, Stiften und anderen Monumentalbauten Österreichs aus der Epoche Leopold I. bis Maria Theresia. Aufgenommen und gezeichnet von [...], Wien: Anton Sehroll 1884; Friedrich Obmann: Architektur und Kunstgewerbe der Barockzeit, des Rococo und Empires aus Böhmen und anderen Österreichischen Ländern. Wien: Schroll1896. Etliche der hier publizierten Studienblätter hatte Ohmann bereits 1891 in Prag ausgestellt; vgl. Alena Janatkova: " Barock auf der Landesausstellung Böhmens in Prag 1891 ", in: M. Csak.y/F. Celestini/U. Tragatschnigg (Hg.), Barock - ein Ort des Gedächtnisses S. 65- 77, hier S. 72f. 36 Vgl. dazu Ruzena Bat'kova (Hg.), Urnelecke pamatky Prahy. Nove Mesto, Vysehrad, Vinohrady [Kunstdenkmäler Prags. Neustadt, Vysehrad, Weinberge]. Praha: Academia 1998, S. 237f. 37 Vgl. A. Janatkova: Barock aufder Landesausstellung, S. 72f. 38 Vgl. ebd., S. 69-71.
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Abbildung 2: Prag, Palais Matiij Valteras, Friedrich Ohmann, 1891
Abbildung 3: Prag, Straka-Akademie, Vaclav Ro!Jtlapil, 1893-1895
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verwalter der ursprünglich privaten Stiftung aus dem 18. Jahrhundert.39 Der Architekt Vaclav Rostlapillegte dem Projekt den Bautypus eines suburbanen Schlosses - nicht unähnlich dem Belvedere des Prinzen Eugen von Savoyen in Wien - zu Grunde. Der Bau folgte jedoch keinem konkreten Vorbild, sondern paraphrasierte in der Silhouette wie in der Instrumentierung französische und Wiener Schlossarchitektur des Hochbarock. Ab 1896 erfolgte die Neuverbauung der Nordflanke des Altstädter Rings auf ausdrückliche Weisung der Stadtverwaltung unter Verwendung barocken Motivrepertoires für die Fassadendekoration; im Zusammenhang dieser Umgestaltung des zentralen Prager Stadtraumes wurde wenig später die Fassade der Dientzenhoferschen St. Niklas-Kirche zum Platz hin freigelegt und so monumental in Szene gesetzt. 40 Obwohl ein Denkmal der Gegenreformation, mag für die neue Wertschätzung entscheidend gewesen sein, dass die Kirche ursprünglich für die slawischen Benediktiner aus dem Kloster Ernaus errichtet worden war. 41 Ähnlich ging Friedrich Ohmann zu Werke, als er 1898 die hochbarocke Trinitatiskirche in der Neustadt mit neuen Mietshäusern zu umbauen hatte. Er wollte deren Fronten mit der Kirchenfassade zu einem scheinbar einheitlichen Ensemble mit einschwingender Grundlinie verbinden - ein Motiv, das Johann Bernhard
39 Zur Planungsgeschichte der Straka-Akademie vgl. Lenka Koval'ikova: Architekt Vaclav Rostlapil (1856- 1930). Zivot a dilo [Der Architekt Vaclav Rostlapil (1856- 1930). Leben und Werk], Ms. Dipl.Arbeit, KarlsUniversität Prag 1998, S. 11- 22. Ygl. außerdem Pavel Vlcek (Hg.), Urnelecke pamatky Prahy. Mahl Strana [Kunstdenkmäler Prags. Kleinseite], Praha: Academia 1999, S. 237-239. Es ist durchaus typisch, dass die Stilwahl in der Publikation des Bauprojektes mit keinem Wort erwähnt wird. Vgl. [Anon.:] "Budova Strakovske akademie [Das Gebäude für die Straka-Akademie]", in: Zpravy spolku architekru a inzenyri\ v kralovstvi ceskem 27 (1893), s. 1-3. 40 Vgl. Alena Janatkova: Barockrezeption zwischen Historismus und Moderne. Die Architekturdiskussion in Prag 1890- 1914, Zürich, Berlin: gta 2000, S. 37-41; dies.: "Die Gegenwart des Baudenkmals. Denkmalpflegekonzeptionen am Beispiel der Stadterneuerung von Prag", in: Die alte Stadt 24 ( 1997), S. 222-236, hier S. 226--228; vgl. auch Jindl'ich Vybiral: "Mezi mesicni architekturou a stavitelstvim budoucnosti [Zwischen Mondarchitektur und der Baukunst der Zukunft]", in: ders.: Ceska architektura na prahu moderni doby. Devatenact eseju o devatenactem stoleti [Die tschechische Architektur an der Schwelle zur modernen Zeit. Neunzehn Essays über das 19. Jahrhundert.], Praha: Argo 2002, S. 217225, hier S. 222f. 41 Vgl. Pavel Vlcek (Hg.), Urnelecke pamatky Prahy. Stare mesto, Josefov [Kunstdenkmäler Prags. Altstadt, Josephstadt], Praha: Academia 1996, S. 97-100.
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Fischer von Erlach in die mitteleuropäische Architektur eingeführt hatte, das aber auch im Werk Kilian lgnaz Dientzenhafers zu finden ist.42 Dieser Sicht auf den Barock sekundierte neben Jan Koula mit seinem Aufsatz über den ,kleinbürgerlichen' Prager Barock von 1888 vor allem der Kunsthistoriker Kare! Chytil mit einer 1895 veröffentlichten Bestandsaufnahme der "Bautätigkeit in Prag zur Zeit des Barock".43 Chytils indirekt formuliertes Argument beruht darauf, dass er die Epochengrenze für Prag sehr früh ansetzte: bereits in der Regierungszeit Rudolfs ll., also deutlich vor der ,Zeitenwende' von 1620 und vor allem lange vor Wien, wo der Barock erst nach der Abwendung der Türkengefahr 1683 habe Fuß fassen können. 44 In Prag sei er aber auch das ist bezeichnend - erst mit Kilian Ignaz Dientzenhafer zur vollen Entfaltung gelangt, nicht etwa schon dank der oberitalienischen Baumeister im 17. Jahrhundert oder durch den aus Süddeutschland zugewanderten Christoph Dientzenhofer.45 Chytil ließ sich in seiner wissenschaftlich intendierten Studie nicht auf nationale Zuordnungen der einheimischen Künstler ein und versuchte auch nicht, über Sachverhalte wie jesuitisches Mäzenatentum hinwegzutäuschen. Er vermied die ,historische Debatte', indem er die Geschichte der Barockarchitektur konsequent in der Perspektive des Ortes darstellte- als eine Hochblüte der Stadt Prag. 46 So führte er die als spezifisch charakterisierte Ästhetik des Prager Barock auch auf die plastische Morphologie des Stadtterritoriums zurück, die sie gleichsam naturwüchsig erzeugt habe. 47 Wenn Chytil Kilian Ignaz Dientzenhafer als denjenigen Künstler hervorhob, der den Prager Barock erst zur Hochblüte geführt habe, so griff er damit eine Deutungsfigur auf, die nach ersten Vorstößen um 180048 einige Jahre zuvor neu lanciert worden war. Der Kunstkritiker Karl Borromäus Madl erinnerte 1890 mit einem Artikel in der populären Zeitschrift "Svetozor" (Weitblick) an den 200. Geburtstag Kilian Ignaz
42 Das Projekt blieb unrealisiert. Vgl. Friedrich Ohmann: Die Trinitätskirche zu Prag, in: Der Architekt 4 (1898), S. 38f.; dazu: R. Bat'kova: Urnelecke pamatky Prahy. Nove Mesto, S. 127- 131. 43 Kare! Chytil: "0 stavebnf cinnosti V Praze V dobe baroka [Über die Bautätigkeit in Prag zur Zeit des Barock]", in: Zpravy spolku architektu a inzen.Yrü V kralovstvi ceskem 29 (1895), S. 56-62, 73- 75. 44 Vgl. ebd., S. 56. 45 Vgl. ebd., S. 59 und 73. 46 Vgl. ebd., S. 75. 47 Vgl. ebd., S. 73. 48 A. Janatkova: Barockrezeption, S. 24.
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Dientzenhafers und nutze die Gelegenheit der Reverenz, um ihn für die tschechische nationale Kulturtradition zu vereinnahmen. Dass gerade Dientzenhafer mit seinem CEuvre maßgeblich die "Schönheit" der Stadt habe ausformen können, liege, so Madl, in persönlichen Dispositionen begründet. Zwar sei er Nachkomme einer aus Bayern eingewanderten Familie gewesen, doch sei er in Prag geboren, und vor allem habe er Tschechisch als Muttersprache gesprochen. Dieses "heilige Band" der Muttersprache knüpfe ihn "mit all seiner Kunst, seiner ganzen Persönlichkeit und seiner ganzen Gesinnung an Prag und Böhmen". Dies findet der Kunstkritiker auch in den Bauwerken bestätigt, in deren Charakterisierung er- nach dem Vorbild Albert Ilgs und zweifellos als Antwort an ihn - Züge eines böhmischen oder gar tschechischen ,Wesens' einbindet: Dientzenhafers Kunst ist frei von Verspieltheil und bravouröser Eleganz; dafür tritt eine gewisse Wahrhaftigkeit und Ernsthaftigkeit überall zu Tage, und diese Eigenschaften kennzeichneten ihn auch als Menschen. Bei aller tendenziösen Pracht, bei den gewollt glanzvollen äußerlichen Effekten, welche die damalige Zeit und vor allem die Kirche einforderten, bleibt Dientzenhafer so seriös, dass er im Vergleich mit der gleichzeitigen süddeutschen oder italienischen Architektur fast schon schwerfallig [... ) erscheint. Wir sollten im Übrigen nicht vergessen, dass sich durch diese Eigenschaft die gesamte Baukunst in Böhmen schon seit ihren Anfangen auszeichnet und dass demzufolge ihre Ursache zweifellos lokaler Natur ist49
-einer ,lokalen Natur', die durch den Verweis auf die Sprache national determiniert wird. Madl setzt also voraus, dass die Sprache flir die kulturelle Zugehörigkeit des Künstlers bürge, und suggeriert zugleich, dass sich die nationale Eigenart zwangsläufig gleichermaßen in der gesprochenen Sprache wie auch in der spezifischen Formensprache der Kunst artikuliere. Die Bedeutung des Künstlers begründet sich demnach in erster Linie in dessen Rolle als - wiewohl ,genialer' - Mittler eben dieser nationalen Eigenart. So wurde es möglich, selbst die monumentale Kleinseitner Jesuitenkirche (Abb. 4) zu einem Zeugnis nationalen ,Kunstempfindens'
49 Kare! B. Mädl: "Ku dvoustolete pameti narozeni K. I. Dientzenhofera [Zum Gedenken an die Geburt K. 1. Dientzenhafers vor 200 Jahren]", in: Svetozor 24 (1890), S. 481-498, 510-513, 522f., Zitate: S. 523.
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Abbildung 4: Prag, St. Niklas auf der Kleinseite, Chorpartie und Turm von Kilian 1gnaz Dientzenhofer, 1737-1752 (Graphik von Vinzenz Morstadt, Mitte 19. Jahrhundert)
umzudeuten50 und damit einen prominenten Teil der Prager historischen Barockarchitektur ins nationale Geschichtsbild zu integrieren, ja zu assimilieren. Zudem hatte diese Erklärungsmatrix den Vorzug, das dem Barock eigene ständische Gefa11e außer Kraft zu setzen: In den Händen eines tschechischen Künstlers oder Baumeisters konnte er unterschiedslos an kirchlicher und profaner Herrschaftsarchitektur zur Anwendung kommen wie an bürgerlichen und kleinbürgerlichen Wohnhäusem.
DIE ,NOTWENDIGE' INTEGRATION DES BAROCK War die ,nationale Assimilation' Kilian Ignaz Dientzenhafers auf längere Sicht erfolgreich, so blieb die Wahmehmung des Prager Barock insgesamt doch ambivalent, und das wohl nicht nur aufgrund der auch von den Verfechtem einer eigenen tschechischen Barocktradition stets
50 Kare! B. Madl: " 0 kopuli svatomikulasskou [Um die Kuppel von St. Niklas]", in: Svetozor 28 (1893/1894), S. 286f.
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beachteten Differenzierung zwischen dessen ,importierter' und der , einheimischen' Variante. 1898 stellte etwa eine Gruppe namhafter Prager Architekten, die für kurze Zeit als "Kunstkommission"51 im Auftrag der Stadtverwaltung über den gewissenhaften Umgang mit dem historischen Denkmälerbestand Prags zu wachen hatte, fest: Die so genannte tschechische Renaissance und auch der Prager Barock sind unsere Baustile. Jene steht [aber] flir die Epoche unserer Selbständigkeit, dieser für die [Epoche] unseres tiefsten nationalen Niedergangs, unserer schlimmsten geistigen Erniedrigung, des vollständigen Triumphes des Katholizismus über den hussitischen Widerstand. Der Barock ist bei uns so glänzend vertreten wie nirgends sonst - nur sind es leider Werke naturalisierter Deutscher oder ltaliener. 52
Dennoch avancierte wenig später gerade das Barockerbe zum Ausgangspunkt für eine Modemisierung der Architektur, die als spezifisch national intendiert war.53 Diese Strategie wurde gezielt in Position gebracht gegen ,drohende Übergriffe' der Wiener Modeme aus der Schule Otto Wagners 54 und durch diese Gegnerschaft maßgeblich begünstigt- vermittelt offenkundig über die Diskurse des ,Genius loci' und des ,nationalen Kunstempfindens', das sich auch in Teilen der
51 Vgl. Katefina Beckovä: Prazskä asanace. K 100. vYt"oci vydäni asanacniho zäkona pro Prahu [Die Assanierung von Prag. Zum 100. Jahrestag der Verabschiedung des Assanierungsgesetzes für Prag], Praha: Muzeum Hlavniho mesta 1993, S. 44-49. Vgl. auch: [Anonym:] "Die Thätigkeit der Prager Kunstcommission", in: Wiener Bauindustrie-Zeitung 15 (1897), s. 109f., 121- 123. 52 [Red.]: "Moderna ci smer närodni? [Die Moderne oder eine nationale Kunstrichtung?]", in: Volne smery 2 (1 898), Sp. 281-291 , 327-336, hier Sp. 284. 53 Die erste Welle der in Teilen kontroversen Debatte um mögliche Quellen und Entwicklungsrichtungen einer als überfällig qualifizierten Modernisierung der Architektur bildete die Zeitschrift des Prager Secessionsvereins ,Mänes', ,Volne smery' (Freie Richtungen), im Jahrgang 1898 ab. Vgl. Anm. 52. 54 Im Jahr 1898 löste der junge Wagner-Schüler Jan Kotera Friedrich Ohmann auf der Professur an der Prager Kunstgewerbeschule ab. Er stieß in den ersten Jahren auf Misstrauen, seine Berufung an die staatliche Ausbildungsanstalt wurde in der Publizistik kontrovers diskutiert. Vgl. Zdenek Lukes: Ranä tvorba, 1898-1905 [Das Frühwerk, 1898-1905], in: Jan Kotera, 1871-1923. Zakladatel modemi ceske architektury [Jan Kotera, 1871-1923. Begründer der tschechischen modernen Architektur], (Ausstellungskatalog), Praha: Obecni düm, Kant 2001, S. 95-139.
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Prager Barockarchitektur Bahn gebrochen habe. Treibende Kraft des barockisierenden Jugendstils war der Prager Stadtrat, in dessen Auftrag eine patriotisch-konservative Fraktion der lokalen Architektenschaft die prominentesten Bauten dieser Stilrichtung errichten konnte: ab 1903 das Prager Gemeindehaus (Abb. 5), ab 1907 das Neue Rathaus in der Altstadt und ein Jahr darauf den Pavillon der Hauptstadt Prag auf der Jubiläumsausstellung der Handels- und Gewerbekammer.55 Die repräsentativen Bauaufgaben bedurften der großen, prunkvollen Geste und ebenso eines dekorativen Charakters, der zugleich "freundlich" anmutete56 und andererseits mit seinen ikonographischen Valenzen zu kennzeichnen vermochte, welche ambitionierte Gesellschaft sich darin bewegte - ein Potential des applizierten historisierenden Fassadenschmucks, das Otto Wagner energisch als den gesellschaftlichen Verhältnissen der Zeit nicht mehr angemessen kritisierte.57 Der Prager Stadtrat, der als einzige exklusiv nationale - und durchaus nationalistische - politische Repräsentanz die Stellung einer
55 Gemeindehaus: 1903-1911, Antonin Balsanek, Osvald Polivka, vgl. P. Vlcek: Urnelecke pamatky Prahy. Stare mesto, S. 537-542; Neues Rathaus: 1904-1911, Osvald Polivka, ebd., S. 148f. In der umfangreichen Veröffentlichung des ersten Projekts ist vom Baustil - durchaus charakteristischerweise - nicht die Rede; vgl. Antonin Ba!Sanek, Osvald Polivka: "Obecni dum kräl. hlav. mesta Prahy [Das Gemeindehaus der königlichen HauptstadtPrag]", in: Architektonickyobzor 11 (1912), S. 1- 6, 13, 15- 17, 25- 28, 37- 38, 49- 52, 61- 63, 73- 76, 85- 87, 97- 98, 109. In den kritischen Stellungnahmen wird jedoch stets auf die- freilich nicht nur von Ba!Sanek vertretene- , Doktrin', eine spezifisch nationale, schmuckreiche ,Moderne' aus dem Barock zu entwickeln, Bezug genommen; bspw. P. J. [Pavel Janäk]: "Repraesentacni dum [Das Repräsentationshaus]", in: Styl 1 (1909), S. 116f., hier S. 117. Vgl. dazu Antonin Ba!Sanek: Architektura stl'ech doby barokove v Praze. Srovnavaci studie architektonicka [Die Architektur der Dächer der Barockepoche in Prag. Eine vergleichende Architekturstudie], Praha: Ceska Malice Technicka o. J. [ 1907]; kommentierend: A. Janatkova: Barockrezeption, S. 42f. Zum Ausstellungspavillon von Antonin Hruby: G.: "Jubilejni v}"stava v Praze [Die Jubiläumsausstellung in Prag]", in: Styl 1 (1908), S. 183-193; Antonin Cechner/Jan Koula: "Architektura jubilejni v}"stavy obchodni a zivnostenske komory V Praze r. 1908 [Die Architektur der Jubiläumsausstellung der Handels- und Gewerbekanuner in Prag im Jahr 1908]", in: Architektonicky obzor 7 (1908), S. 25, 29f., 33f. 56 So Frantisek X. Harlas: "Moderna v prazskych ulicich [Die Moderne in den Straßen Prags]", in: Architektonicry obzor 3 (1904), S. 37. 57 Vgl. Otto Wagner: Modeme Architektur, [Wien: Anton Schroll1896], Edition in: Otto Antonia Graf: Otto Wagner. Das Werk des Architekten, Bd. 1, Wien, Köln, Weimar: Böhlau 1985, S. 263-287, hier S. 271f.
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Art Ersatzregierung beanspruchte/8 hatte ein ausgeprägtes Interesse daran, die Landesgeschichte zu modellieren. Wenn unter seiner Ägide die Barockarchitektur nunmehr ungeachtet aller Differenzierungen akzeptiert und gleichsam nachträglich assimiliert wurde, so auch deshalb, weil damit die Lücken im legitimierenden Geschichtsbild des ,tschechischen Böhmen' geschlossen oder maskiert werden konnten: sowohl die ganze Jahrhunderte andauernde Unterbrechung der Kontinuitäe9 als auch das daraus resultierende Fehlen einer - adeligen - Oberschicht.60 In einem analogen Sinne ist auch zu verstehen, dass nach der Gründung der Tschechoslowakischen Republik 1918- die nicht nur in der anfänglichen Euphorie als endgültige Überwindung der politischen und kulturellen Fremdherrschaft gesehen wurde - die neuen Regierungsbehörden in Barockpaläste einzogen. Dies hatte nicht nur praktische Gründe, sondern war gleichsam auch ihrem Status geschuldet. Ein Konflikt mit der Repräsentation des ,Nationalstaates' ergab sich daraus nicht. Im politischen wie im populären Geschichtsbild der Tschechoslowakei wurde die prekäre Stellung des Prager Barock entgegen allen wissenschaftlichen Bemühungen um Objektivierung- von Historikern wie Kunsthistorikern - ausgeblendet; er figurierte als eine unter vielen nationalen Kulturleistungen und hatte in dieser Rolle nicht zuletzt zur Sicherung der Ebenbü1tigkeit beizutragen. 61 So konstatierte der Literaturwissenschaftler und Publizist Arne Novak in einem zuerst
58 Vaclav Ledvinka!Jifi Pesek: Prag, Praha: Nakladatelstvi Lidove noviny 2000, S. 538f.; Jiii Kofalka: "Zahranicni kontakty Prahy jako metropale miroda bez statu [Die Auslandskontakte Prags als Metropole eines staatslosen Volkes]", in: Hana Svatosov:i!Yaclav Ledvinka (Hg.), Mesto a jeho dum. Kapitoly ze stolete historie Obecniho domu hlavniho mesta Prahy (190 l- 2001) [Die Stadt und ihr Haus. Kapitel aus der hundertjährigen Geschichte des Gemeindehauses der Hauptstadt Prag ( 190 l-200 l )], Praha: Obecni dum 2002, S. 29-39, hier S. 30. 59 Vgl. J. Rak/V. Vlnas: Druhy zivot baroka, S. 18-22. 60 Vgl. J. Rak: Byvali Cechove, S. 85- 95. 61 Ygl. beispielhaft die repräsentative Publikation: Rada hlavniho mesta Prahy [Rat der Hauptstadt Prag] (Hg.), Praha v obnovenem stäte ceskoslovenskem [Prag im wiederhergestellten tschechoslowakischen Staat], Praha 1936, darin bes. den Beitrag von Antonin Matejcek/Zdenek Wirth: "Vystavba a urnelecke bohatstvi [Ausbau und Kunstschätze]", S. 38-62. Dazu: Michaela Marek: Nationale oder universale Geschichte? Historismen in der Staatsarchitektur der Ersten Tschechoslowakischen Republik, in: Architectura 32 (2002), S. 73-88.
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Abbildung 5: Prag, Gemeindehaus, Antonin Balsanek, Osvald Polivka,
1903-1912
1915 publizierten Essay, der Anfang der zwanziger Jahre nochmals in Buchform und auf Deutsch in Auszügen auch in der "Prager Presse" herausgebracht wurde, dass im Prager Stadtbild vereinzelte ,fremd gebliebene' Barockbauten anzutreffen seien, um dann fortzufahren: Alles Übrige amalgamierte und veränderte Prag mit seiner wunderbar umformenden Kraft. Es [... ] verarbeitete alle Stile der Architektur und des Lebens [... ] und ordnete sie seiner komplizierten und doch einheitlichen Eigenart unter [... ]. So wurde die souveräne und harte Seele des Barocks endlich bemeistert. Und das Paradox aller Paradoxe: Der geistige Ausdruck und das materielle
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Werk der Italiener, Spanier und Deutschen wurde der höheren Wirklichkeit untergeordnet, die die historische Einheit Prags ist - der Wirklichkeit der Tschechen. 62
NATIONALER STIL UND STRATEGIEN DER ÄUTHENTISIERUNG
Ame Novaks Befund greift den Authentizitätsdiskurs in Bezug auf die Barockarchitektur in Prag auf und kommentiert ihn zugleich. Er verweist darauf, dass Authentizitätsdiskurse stets provoziert sind und auf einen Bedarf reagieren: insbesondere in Konfliktkonstellationen oder Situationen des Zweifels der Legitimation dienen - letztlich also Machtdiskurse sind. 63 Unabhängig davon, ob es eine Person, ein Objekt, einen Sachverhalt oder, wie hier, die Kultur einer beanspruchten Gemeinschaft in historischer Perspektive als einzigartig auszuweisen gilt, ist die Strategie eine persuasive. Sie zielt darauf, das Behauptete dem Widerspmch, der Kritik, ja auch schon dem Beg1ündungsbedarf, dem Zugriff der Ratio zu entziehen. Dennoch kommt sie nicht ohne ,Argumente' aus. Wenn historische Artefakte, zumal ausgewählte, als Garanten der unzweifelhaften Integrität einer Gemeinschaft in sich selbst und mit ihrer Historie fungieren und Überzeugungskraft entfalten sollen, so gilt es ein Wissen über diese Wechselbeziehung zu implementieren: ein Wissen, das innerhalb der Gemeinschaft geteilt wird und das ihr exklusiv vorbehalten bleiben muss, dessen Existenz aber nach außen vermittelt werden kann, um die Grenzen des Kollektivs zu markieren. Nicht die Baudenkmäler selbst tragen die für die Selbstvergewisserung notwendige Zeugniskraft in sich; vielmehr müssen sie mit dieser- an sich schon konstruierten - Bedeutung besetzt werden, wel-
62 Ame Noväk: Praha barokni [Das barocke Prag], Praha: Mänes 1915 (2. Aufl. 1921). Auszüge in deutscher Übersetzung brachte die Presse 1921: Ders.: " Das barocke Prag", in: Prager Presse vom 3.4.1921 , Sonntagsbeilage, S. 9f. (Zitat: S. 10). Als Buch erschien die deutsche Übersetzung im folgenden Jahr: Ders.: Das barocke Prag, Prag: Orbis 1922. 63 Vgl. Heiner Treinen: "Das Original im Spiegel der Öffentlichkeit", in: Deutsche Kunst und Denkmalpflege 45 (1987), S. 180- 186, hier S. 180f.; Helmut Lethen: "Versionen des Authentischen: sechs Gemeinplätze", in: Hartmut Böhme/Klaus R. Scherpe (Hg.), Literatur und Kulturwissenschaften. Positionen, Theorien, Modelle, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1996, S. 205-231 , hier S. 209f., 227f.
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ehe dann als gemeinsames Wissen erst ihre nationalkulturelle ,Authentizität' ausmacht. 64 Die Strukturen dieser spezifischen Wissenskonstruktion wurden in der tschechischen Nationalbewegung lange vor der Entdeckung des Barocks als Streitobjekt entwickelt. Bereits im Zusammenhang des kulturellen Emanzipationsschubs nach dem Ende der neoabsolutistischen Ära in der Habsburgermonarchie, in den 1860er und 1870er Jahren, gingen Kunstkritiker daran, exklusive Züge der nationalen ,Identität' in den Ausdrucksmitteln der damals aktuellen Kunst, insbesondere der Malerei, zu verankern. 65 Anlässe dazu boten Ausstellungen vor allem des Kunstvereins flir Böhmen, die von einheimischen deutschwie tschechischsprachigen Künstlern, aber auch aus deutschen Kunstmetropolen und gelegentlich etwa aus Polen beschickt wurden, so dass sie Gelegenheit gaben, trotz prinzipiell gleicher Ausbildungsbedingungen und Marktorientierung nach Unterschieden im künstlerischen ,Ausdruck' zu suchen. Eine herausgehobene Rolle spielten dann die Ausstellungen der Entwürfe aus den Wettbewerben für die Bildausstattung des tschechischen Nationaltheaters. Bezeichnenderweise richteten die Kritiker ihre Aufmerksamkeit nicht auf individuelle Leistungen, auf herausragende Künstlerpersönlichkeiten. Vielmehr bestand das vorherrschende Kriterium darin, wie ,authentisch' die besprochenen Werke ein ,tschechisches Empfinden' im Inhalt, vor allem aber in Formen und Stil artikulierten. Der schon früh eingeführte Schlüsselbegriff der Qualifizierung lautete "puvodni" - ein Wort, das im tschechischen Sprachgebrauch ein schillerndes Bedeutungsspektrum von ,ursprünglich' über ,original' und ,originell', ,unverfalscht' und ,eigentlich' bis hin zu ,autochthon' und ,boden-
64 Vgl. H. Treinen: Das Original, S. 180- 183; Thomas Nötzel: Authentizität als politisches Problem. Ein Beitrag zur Theoriegeschichte der Legitimation politischer Ordnung. Berlin: Akademie Verlag 1999, S. 32f.; vgl. auch Richard A. Peterson: "In Search of Authenticity", in: Journal of Management Studies 42 (2005), S. 1083-1098, hier S. 1086. 65 Zum Folgenden mit detaillierten Belegen M. Marek: Kunst und Identitätspolitik, S. 235-249. Zur maßgeblichen Rolle von (Kunst-)Kritikern fur Authentizitätsdiskurse und den von ihnen ,simplifiziert und weitgehend kohärent' konzipierten Darstellungen vgl. Mary Ann Glynn/Michael Lounsbury: "From the Critics' Corner: Logic Blending, Discursive Change and Authenticity in a Cultural Production System", in: Journal of Management Studies 42 (2005), S. 1031-1055, hier bes. S. 1032. Die Autoren weisen ferner daraufhin, dass die Kunstkritik durchaus Konjunkturen bzw. wechselnden Bedarfslagen folgt.
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ständig' abdeckt. Den explizierenden Ausführungen ist durchweg zu entnehmen, dass Werken, die dieses Prädikat verdienen, eine besondere Art in Form und Stil übersetzten ,Gefühls' eigne: eine emotionale Gestimmtheit, die j ederzeit wiederholbar, allerdings unabhängig von Techniken und Stilübungen und daher nicht erlernbar sei. Sie kennzeichne diejenigen - wenigen - Künstler, die an der Akademie erworbene Fertigkeiten in einem "Instinkt" aufgehen zu lassen vermögen und gegenüber ,Einflüssen' nicht nur ,immun' sind, sondern sich unter ihrem Druck nur umso entschiedener auf ihre eigenen Anlagen zurückziehen.66 In dieser Explikation entspricht der Begriff der "puvodnost" vollkommen einer der ältesten überlieferten- und bis in den heutigen Sprachgebrauch nachwirkenden- Bedeutungen von ,authentes': aus eigener Machtvollkommenheit vollbracht, mithin aus eigener (kreativer) Kraft, frei von Fremdbestimmung geschaffen. 67 Entscheidend ist dabei allerdings, dass die Künstler, die dieses Kriterium erfüllen, keineswegs als in ihrer persönlichen, individuellen Machtvollkommenheit handelnd präsentiert werden. Vielmehr teilen sie- nur scheinbar paradox- eine ,Originalität', die sich ihrer unmittelbaren FühlLmg mit dem ,Wesen' der nationalen Gemeinschaft verdankt und durch diese garantiert wird. Ihre Authentizität besteht gerade darin, dass sie individuelle Ambition hintanstellen, ja nicht einmal ihr Tun planen und reflektieren, sondern unmittelbar zum Ausdruck bringen, was ihnen die im Nationalen verankerte Intuition eingibt. Wenn die CEuvres dieser Künstler - im konkreten Fallbeispiel Josef Manes, Frantisek ZeniSek und Mikalas Ales - im Blick von ,außen' untereinander allenfalls flüchtige Gemeinsamkeiten und zudem jedes für sich einige Entwicklungsdynamik aufweisen, so zeugt das von dem zweifellos strategischen Bestreben auf Seiten der engagierten Kunst-
66 So Remita Tyrsova: "K rystave del Manesorych [Zur Ausstellung der Werke von Manes]", in: Osveta II ( 1881), H. I, S. 142-161; vgl. dazu M. Marek: Kunst und Identitätspolitik, S. 247. 67 Vgl. Friedrich Zucker: AYE>ENTHL und Ableitungen, Berlin: AkademieVerlag 1962 (Sitzungsberichte der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig. Philologisch-historische Klasse, Bd. I 07, H. 4); vgl. dazu, allerdings mit einem auf Probleme der modernen Ästhetik fokussierten Blickwinkel: Susanne Knaller: "Authentisch/ Authentizität", in: Karlheinz Barck/Martin Fontius/Dieter Schlenstedt u. a. (Hg.), Ästhetische Grundbegriffe, Bd. 7: Supplemente, Register, Stnttgart, Weimar: Verlag J. B. Metzler 2005, S. 40-65, und dies. : Ein Wort aus der Fremde. Geschichte und Theorie des Begriffs Authentizität, Heidelberg: Universitätsverlag Winter 2007.
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kritiker, im Interesse der Konkurrenzfähigkeit eine weite Bandbreite von Ausdrucksmodi in den Diskurs zu integrieren und illustriert im Übrigen die Annahme der soziologischen Authentizitätsforschung, dass die Argumente grundsätzlich willkürlich sind, solange es gelingt, einen Konsens darüber herbeizuführen.68 Eine zweite unentbehrliche Komponente dieser Konstruktion des als Dolmetscher nationalen ,Wesens' authentischen Künstlers ist die Betrachterperspektive: Die so konzipierte Authentizität erweist sich daran, dass sie sich allein Konnationalen erschließt, während Außenstehende zwar die äußere Gestalt eines Werkes wahrnehmen und würdigen, nicht aber seinen ideellen und emotionalen Gehalt- mithin den Kern, der seinen Wert ausmacht- erfassen können. In diesem Aspekt unterscheidet sich der tschechische Authentizitätsdiskurs in Bezug auf Kunst grundlegend von der Argumentationsführung Albert llgs oder Cornelius Gurlitts: Auch diese gingen von einer letztlich kollektivoder völkerpsychologisch begründeten Differenz in den regionalen Modi der Barockarchitektur aus, zogen aber nicht in Zweifel, dass diese mitsamt ihren charakterologischen Dimensionen fllr jedermann evident sei. Im emanzipatorisch motivierten tschechischen Diskurs stand dessen Leistungsfahigkeit für die Inklusion und Integration der nationalen Gemeinschaft im Vordergrund des Interesses, und das umso mehr, je deutlicher sich soziale Ausdifferenzierung und im Zusammenhang damit nationaler Utraquismus oder gar die Hinwendung zur deutschsprachigen Kultur und Gesellschaft als Vehikel und Bestätigung sozialen Aufstiegs abzeichneten. In den Erörterungen ,authentisch nationaler' Kunst wurde die allen Angehörigen des Kollektivs gemeinsame, übereinstimmende Wahrnehmung mit Visus und ,Gefühl' gleichzeitig vorausgesetzt und beschworen. Der Rekurs auf emotionale, der Ratio und damit freier Entscheidung unzugängliche Werte versprach Kohäsion, ja Homogenität gerade in einer Situation zu sichern, in der sie bedroht schien oder gar offenkundig zerfallen war: Allen Fragmentierungs-, Individualismus- und Entfremdungstendenzen im Zuge der Modernisierung zum Trotz galt es, einen kollektiv geteilten, unveräußerlichen Kernbestand an ,Identität' zu etablieren. 69
68 Vgl. R. A. Peterson: In Search of Authenticity, S. 1091f. 69 Vgl. H. Treinen: Das Original, S. 180f.; Wolfgang Seidenspinner: "Authentizität. Kulturanthropologisch-erinnerungskundliche Annäherungen an ein zentrales Wissenschaftskonzept im Blick auf das Weltkulturerbe", in: kunsttexte.de - Journal für Kunst- und Bildgeschichte 2007, Nr. 4
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Schließlich verlangte die Logik dieses Authentizitätsdiskurses, historische Distanzen zu überwölben oder gänzlich aufzuheben70 : alle gefahrdenden Potentiale der Veränderlichkeit in der Zeit auszuschalten. Dieser Imperativ reicht weit über die Modeliierung der Vergangenheit und die Konstruktion von Traditionen hinaus, wie sie Eric Hobsbawm und Terence Ranger mit ihrem Konzept der "invented traditions" erfasst haben7 1 oder wie sie die Gedächtnis- und Erinnerungsforschung in den Blick nimmt. Die überzeitliche Konzeption des Diskurses um Authentizität fordert grundsätzlich die gesamte Überlieferung, 72 weil Lücken in der Geschichte diese in Frage stellen würden. Darüber hinaus muss sie voraussetzen, dass die nationale Gemeinschaft durch alle Epochen hindurch ungeachtet wechselnder soziokultureller Bedingungen auf derselben Matrix grundlegender Eigenschaften und Werte beruht und dass demzufolge auch stets im Kern gleiche Ausdruckspotentiale und -mittel wie umgekehrt Wahrnehmungsmöglichkeiten und -muster wirksam bleiben. Diese Denkfigur trat in Jan Kaulas Postulat von 1888 zu Tage, dass der Barock in Prag ,heimisch und volkstümlich' geworden sei: Wenn er Kirchen und Paläste beiseiteließ und stattdessen die stilistische Eigenart anonymer kleinbürgerlicher Wohnhäuser anvisierte, so implizierte sein Argument nicht nur, dass die gesamte nationale Gemeinschaft einen ,Geschmack' geteilt habe, so dass neben Künstlern auch Handwerker imstande gewesen seien, den Stil auf höchstem Niveau zu realisieren. Vielmehr rechnete das Argument damit, dass Kaulas Zeitgenossen, sofern Angehörige des nationalen Kollektivs, die ,heimischen und volkstümlichen' Züge ohne weiteres würden entschlüsseln können. Den gleichen strategischen Zweck, historische Veränderungen außer Geltung zu setzen, erfüllten der Topos der ,formenden Kraft' des Ortes und vor allem, in Bezug auf Kilian lgnaz Dientzenhofer, das Moment der ,gemeinsamen' Sprache. Indem
(http:/ledoc.hu-berlin.de/kunsttexte/2007-4/seidenspinner-wolfgang-4/PDF/ seidenspinner.pdf vom 19.1.2010), S. 11f., und T. Nötzel: Authentizität, S. 29, 37- 39, der darauf hinweist, dass dieser Diskurs typisch fiir soziale, kulturelle und politische Minderheiten ist. 70 Vgl. dazu Hoffmann, Detlef: Authentische Erinnerungsorte oder: Von der Sehnsucht nach Echtheit und Erlebnis, in: Hans-Rudolf Meier/Marion Wohlleben (Hg.), Bauten und Orte als Träger von Erinnerung, Zürich: vdf 2000, S. 31-45, hier S. 33. 71 Eric Hobsbawm/Terence Ranger (Hg.), The Invention of Tradition, Cambridge: Cambridge University Press 1983. 72 Vgl. dazu W. Seidenspinner: Authentizität, S. 8.
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Dientzenhafer aufgrund seiner- unterstellten - ,Muttersprache' in die nationale Gemeinschaft integriert wurde, ergab sich der nationalauthentische Modus seines künstlerischen Ausdrucks daraus gleichsam von selbst und zwangsläufig, während umgekehrt die in der Wahrnehmung über die Zeiten hinweg immer wieder von neuem beglaubigte nationale Eigenart seine Stellung als Kronzeuge eines ,tschechischen Barock' in Prag verbürgte. Ein solcher Zirkelschluss lag als Strukturmuster letztlich allen vergleichbaren Diskursen zu Grunde und kennzeichnet sie auch noch heute - bis hin zu Debatten um Authentizität, welche diese Kategorie als gegeben annehmen. Objekte, ob historische Artefakte, Rekonstruktionen oder ,kongeniale' Nachbildungen, vermögen auch heute noch eine Zeugnis-, ja Stellvertreterfunktion fllr die ,entworfene Gemeinschaft' 73 zu erfüllen. Beispiele dafür finden sich in großer Vielfalt in der Denkmalpflege,74 in der Werbung der Tourismusindustrie75 und nicht zuletzt in den zwischen Massenunterhaltung, populärer Geschichtsdidaktik und staatsnationaler Propaganda angesiedelten Freilichtmuseen. 76 Sie alle beruhen auf analogen Funktionsmechanismen: Ihr Zeugniswert wird auf der emotionalen Ebene vermittelt - eher ,gefühlt' als verstanden77 -, sodass sie nahezu beliebige historische Distanzen zu überwinden vermögen. Entscheidend ftir die ,Evidenz' des Authentischen ist der Konsens innerhalb des angesprochenen Kollektivs. Dabei ist die diskursive Produktion dieser Akzeptanz nicht darauf angewiesen, dass ihre Argumente und angewandten Kriterien ,schlüssig' sind, ja nicht einmal darauf, dass sie konstant bleiben.n Mit Blick auf das
73 Anleihe bei B. Anderson: Imagined Communities. 74 Vgl. zur Reflexion von Authentizität in der praktischen Denkmalpflege Michael Petzet: "Was heißt Authentizität? Die authentische Botschaft des Denkmals", in: Ulrike Besch (Hg.), Restauratoren-Taschenbuch, (München:) Callwey 1998, S. 141-161. 75 Vgl. das von R. A. Peterson: In Search of Authenticity, S. 1084, zitierte Beispiel aus Irland. 76 Vgl. Sabine Schindler: Authentizität und Inszenierung. Die Vermittlung von Geschichte in amerikanischen historic sites, Heidelberg: Universitätsverlag Winter 2003. 77 Vgl. dazu W. Seidenspinner: Authentizität, S. 2f; vgl. auch: Achim Saupe: "Authentizität", in: Docupedia-Zeitgeschichte 11 (2010) [http://docupedia. de/zg], S. 13. 78 Vgl. dazu R. A. Peterson: In Search of Authenticity, S. 1086--1092, am Beispiel der US-amerikanischen Country-Musik und der sie produzierenden Industrie. Analog ließe sich der gleiche Sachverhalt etwa an der Er-
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Barock-Revival in Prag um 1900 lässt sich dieser Befund noch weiter ausdehnen. Während engagierte Gelehrte Anstrengungen unternahmen, einen problematischen Abschnitt in der Kontinuität der nationalen Geschichte zu neutralisieren und zu integrieren, vermischten sich in der Beliebtheit des Neobarock und des barockisierenden Jugendstils als Mode zu nur schwer bestimmbaren und fraglos stark variierenden Anteilen national-patriotische Motivationen mit einem großbürgerlichen Repräsentationsbedürfnis nach Pariser und Wiener Vorbild: Selbst heterogene Interessen können sich zu einem tragfahigen Konsens verknüpfen, sofern sie konvergieren.
*** Der Konstruktionscharakter des Authentischen wie auch die Fragilität der Verständigung darüber treten dann zu Tage, wenn die Kriterien verschoben oder neu bewertet werden und der Konsens aufgekündigt wird. In Bezug auf die Prager Barockarchitektur lässt sich diese Wendung in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg beobachten. War die nationale Authentisierung dieses Denkmalerbes durchgehend von dem Paralleldiskurs um gewaltsame Fremdherrschaft, Opferstatus und geduldige tapfere Auflehnung dagegen 79 begleitet gewesen, so schienen es die neuen historischen Bedingungen zu fordern, dass eben diese Perspektive die Oberhand gewann. Der Prager Barock war nicht zuletzt vor dem Hintergrund dieses Doppeldiskurses auch in der Hochzeit der Integrationsbemühungen nicht zur Gänze für die tschechische nationale Kultur beansprucht worden, und die Gegenstimmen waren nie verstummt. 80 Jetzt verlangte es der Argumentationsbedarf, nicht
folgsgeschichte der Neogotik in Deutschland im 19. Jahrhundert nachvollziehen. 79 Vgl. dazu nochmals J. Rak/V. Vlnas: Druhy zivot baroka und J. Rak: Byvali Cechove. 80 V gl. dazu stellvertretend Hugo Schmerber: Beiträge zur Geschichte der Dintzenhofer, Prag: J. G. Calve'sche k. u. k. Hof- und UniversitätsBuchhandlung 1900 (Forschungen zur Kunstgeschichte Böhmens, veröffentl icht von der Gesellschaft zur Förderung deutscher Wissenschaft, Kunst und Litteratur in Böhmen, Bd. IV). Ein besonderes, in diesem Zusammenhang nicht auszuführendes Kapitel bildet die Deutung der Architekturgeschichte im Rahmen der so genannten ,Ostforschung' zur Zeit des Nationalsozialismus. Verwiesen sei beispielhaft auf Hans W. Hegemann: Die deutsche Barockbaukunst Böhmens, München: Verlag F. Bruckmann 1943 (Reihe: Ausstrahlungen der deutschen Kunst. Gemeinschaftsarbeit
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nur den ,deutschen' Ansprüchen auf die Barockkultur gleichsam Recht zu geben, sondern darüber hinaus auch das soziale Gefälle zwischen der einheimischen ,tschechischen' Bevölkerung und ihren im Glanz des Barock sich inszenierenden ,Unterdiiickem' - habsburgtreuem Adel, katholischer Kirche und Orden, sie alle gleichermaßen ,fremd'in den Vordergrund zu rücken. Wenn die nationale Authentisierung des Barock daran letztlich gescheitert ist, so deshalb, weil die Grundlagen des Diskurses- vor allem die Unterscheidung zwischen ,unser' und ,fremd' - nicht in Zweifel gezogen wurden.
deutscher Kunsthistoriker, geleitet von Wilhelm Pinder und Richard Sedlmaier. Deutsche Kunst im böhmisch-mährischen Raum, herausgegeben von Karl M. Swoboda). Auf einer anderen Ebene hatte der tschechische Historiker Josef Pekar argumentiert, als er 1921 -unter Protesten von Fachgenossen wie auch der Öffentlichkeit- versuchte, das Geschichtsbild in Bezug auf die Ära nach 1620 differenzierter zu zeichnen und so zu korrigieren. Vgl. J. Pekar: Bila Hora.
Burgtheaterdeutsch Stabilitätsstrategie und Differenzmarkierung
ELISABETH GROSSEGGER
Burgtheaterdeutsch ist ein mehrfach konnotierter Begriff, der in erster Linie die auf der Bühne des Wiener Burgtheaters gesprochene, vorgeblich authentische Sprache beschreibt. Authentizität auf der Bühne ist allerdings ein Widerspruch per se. Denn der Eindruck von Authentizität entsteht auf der Bühne als Ergebnis einer besonders sorgfältigen Inszenierung. Was der Zuschauer als authentisch wahrnimmt, entspricht der Jnszenierungsvereinbarung. Das Publikum erlebt die Authentizität des Schauspielers als performative Authentizität, durch eine scheinbare Übereinstimmung von Innenwelt und Außenwahrnehmung an der Person des Schauspielers, als Ergebnis einer geglückten lnszenierungsstrategie. Im Falle des Burgtheaterdeutsch handelt es sich um die Erfahrung einer Übereinstimmung von Aussprache und Hörgewohnheit Da Sprache jedoch als Prozess einem permanenten Wandel unterworfen ise, dienten die beharrenden Verweise auf Burgtheaterdeutsch auch der "Konstruktion von Dauer" (Assmann) und sind Momente einer "Stabilitätsstrategie" (Csaky). 2
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Margret Dietrich: "Burgtheaterdeutsch - Weimarer deklamatorischer Stil und deutsche Hochsprache. Aktuelle Probleme im Spiegel von Goethes Wirken", in: lngrid Nohl: Ein Theatermann. Theorie und Praxis. Festschrift zum 70. Geburtstag von Rolf Badenhausen, München 1977, S. 6787. Moritz Csaky: " Die Mehrdeutigkeit von Gedächtnis und Erinnerung", in: Georg Kreis (Hg.), Erinnern und Verarbeiten. Zur Schweiz in den Jahren
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Darüber hinaus funktionierte die Benennung auch als Code zur Beschreibung von Differenz. Eine hörbare Differenzerfahrung wird als solche markiert mit dem Ziel der Abwehr des "Fremden" und der Vergewisserung der "Singularität". Die folgenden Ausführungen versuchen eine Annäherung an die mehrfachen Konnotationen des Begriffsfeldes Burgtheaterdeutsch.
1. PATHOS- PREDIGEN UND SCHREIEN In einer kaiserlichen Eingabe 1769 hatten die "deutschen" Schauspieler versucht, Kaiser Joseph II. für eine Reform der Bühne zu gewinnen, mit dem Argument, dass das Theater, "auf die Bildung der Bürger, auf die Verfeinerung ihres Umgangs, und ihrer Sprache einen wohlthätigen Einfluss haben kann."3 Sie stellten sich damit in den Dienst des seit Mitte des Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum vieldiskutierten Nationaltheatergedankens mit bildungspädagogischem Erfolgsversprechen. Dass die Schauspieler dabei bereits nicht nur Bildung und Umgang, sondern vor allem auch die Sprache als wesentliches Merkmal anführten, steht im Kontext der Bemühungen um Emanzipation von Deutsch als Kultursprache. Selbst an den Gymnasien wurde zu dieser Zeit das Fach deutsche Sprache und Literatur nicht gelehrt, die Sprache wurde durch "Übertragung und Parallelitäten" im Lateinunterricht vermittelt.4 Es sollte jedoch noch acht Jahre dauern, bis Joseph 11. 1776 dem durch Konkurs daniederliegenden Wiener Theaterwesen ein Reformprogramm im angesprochenen Sinn verordnete: Das an die Hofburg angrenzende Hoftheater wurde die Bühne der (billigeren) deutschen
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1933-1945, Itinera fase. 25.2004, S. 7-30; Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 1997. "Allerunterthänigste Promerial der deutschen Schauspieler" 1769, zit. n. Susanne Hochstöger: Gottlieb Stephanie der Jüngere. Schauspieler, Dramaturg und Dramatiker des Burgtheaters (1741- 1800), Wien 1960 (=Jahrbuch der Gesellschaft für Wiener Theaterforschung Band XII), S. 3- 82, S. 6. - Neben den deutschen Schauspielern traten zu dieser Zeit in Wien auch ein italienisches Opern- und ein französisches Ensemble auf. Vgl. Waltraud Heindl: Gehorsame Rebellen. Bürokratie und Beamte in Österreich 1780-1848, Wien, Köln, Graz 1990, S. 107.
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Schauspieltruppe und "hinfüro das teutsche Nationaltheater" 5 genannt. Joseph Il. positionierte sein Theater damit in einem im Entstehen begriffenen Netz einer aufklärerisch-bildungsbürgerlichen "Gefühls- und Gesinnungsgemeinschaft", der Sprache und Sprechkultur als Identität stiftende Einheit galt. Davor war das Theater nächst der Burg zwanzig Jahre lang vorzugsweise von französischen Schauspieltruppen bespielt worden, den deutschen Schauspielern stand das Kärtnerthortheater zur Verfügung, sie pflegten allerdings regen Austausch mit den französischen Kollegen, die nicht allein dadurch, dass sie viel besser honoriert waren, Vorbildwirkung hatten6 : Das französische Pathos wurde für die deutschen Schauspieler stilbildend. Im Zuschauerraum des Theaters, im Parkett und in den Logen, war der Lärm auch während der Vorstellung groß und erforderte eine Lautstärke, die dem dargestellten Charakter eher abträglich, der Verständlichkeit aber zuträglich war. Deshalb entwickelten die Schauspieler eine eigene Aussprache, die deklamatorisch und dem Predigtenton nachempfunden war. Die zahlreichen Klagen über das lärmende Betragen des (vor allem weiblichen) Adels führte auch Joseph von Sonnenfels (1732-1817) als Ursache dafür an, dass die deutschen Schauspieler das " Unnatürliche und Übertriebene des Tons" nicht aufgeben konnten und schon auf Grund der erhöhten Lautstärke, die ihrer Rede abverlangt wurde, nicht zur "feineren Recitation" finden konnten. 7 So lernte das Publikum die große Geste und das Pathos lieben und schätzen als Inbegriff großer Kunst. 8 Josef Lange (1751-1831), "der Abgott der Wiener", hatte sich das Pathos so angewöhnt, "daß er auch
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Rudolf Payer von Thurn: Joseph II. als Theaterdirektor. Ungedruckte Briefe und Aktenstücke aus den Kinderjahren des Burgtheaters, Wien, Leipzig 1920, S. 16. Gemeinsam traten sie vorzugsweise in übersetzten französischen Stücken auf, nach dem Brand des Kärntnertortheaters (3. November I 761) auch im Burgtheater. Vgl. Richard Henn: Das Wiener theätre frano;:ais pres de Ia Cour, phil. Diss., Wien 1937. Johann Heinrich Friedrich Müller: Geschichte und Tagebuch der Wiener Schaubühne, Wien 1776, S. 10 l. "Er war ein Pathos [... ], welches das damalige Publikum so leicht für Kunst nahm." Ludwig Eisenberg über den Burgschauspieler Johann Phitipp Klingmann (1762-1824), in: ders.: Großes biographisches Lexikon der Deutschen Bühne im XIX. Jahrhundert, Leipzig 1903, S. 514.
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im gesellschaftlichen Leben das Unbedeutendste nicht ohne seinen gewöhnlichen Tonfall sprechen konnte."9 Das Lärmen im Parterre noble und in den Logen entsprach nicht nur einem Konversationsbedürfnis der dort Anwesenden, sondern wurde - so Stimmen aus dem sich formierenden Bürgertum - auch bewusst eingesetzt, um die identifikatorische Einheit der vierten Galerie mit der Bühne zu unterminieren. Die vierte Galerie wartete nur darauf, die Botschaft der Bühne anzunehmen, sodass "der dem Stücke und den Schauspielern gespendete Beifall auf den Galerien, immer zeitgerechter [war] als der aus dem Parterre noble und den Logen ertönende.'"0 Das Lärmen im Parterre und in den Logen war dazu angetan, "das Volk daran zu verhindern, seinen Anteil an rührenden, pathetischen und lustigen Stücken zu nehmen, die es stets besser begreift, als jene, die für die Inhaber billiger Plätze nur Verachtung übrig haben."11 Ganz bewusst wurden sie "m ihrer Aufmerksamkeit und Andacht gestöret". 12 Erst im Laufe des 19. Jahrhunderts konnte das neue, bürgerliche kulturelle Selbstverständnis eine Neuordnung der akustischen Verhältnisse erzielen. Die Stille im Auditorium wurde zum Beleg eines gemeinsamen Kunstverständnisses, das sich als Respekt vor der Aufführung und Achtung vor dem als autonom erfahrenen Kunstwerk im Auditorium etablierte. 13 Aufgrund der außerordentlich guten Akustik des Theaters nächst der Burg 14 , eines Holzbaus am Michaelerplatz, wurden bereits im 18. Jahrhundert Versuche unternommen, den deklamatorischen Ton abzuschwächen und gegebenenfalls gegen den Widerstand des Publi-
9 lgnaz Castelli: Memoiren meines Lebens, Wien, Prag 1861 , S. 208. 10 Johann Graf Fekete de Galäntha: Wien im Jahre 1787. Skizze eines lebenden Bildes von Wien, entworfen von einem Weltbürger. Übersetzt und herausgegeben von Victor K1arwill, Wien 1921, S. I Olf. 11 Ebd. 12 Johann Friede!: Briefe aus Wien verschiedenen Inhalts an einen Freund in Berlin, Leipzig, Berlin 8 1784 (1783), S. 423. 13 Peter Payer: "Vom Geräusch zum Lärm. Zur Geschichte des Hörens im 19. und frühen 20. Jahrhundert", in: Wolfram Aichinger/Franz X. Eder/ Claudia Leitner (Hg.), Sinne und Erfahrung in der Geschichte, Innsbruck 2003, S. 173- 192. 14 Herta Singer: "Die Akustik des Alten Burgtheaters", in: Maske & Kothurn 4 (1958), S. 220-229; Otto G. Schindler: "Der Zuschauerraum des Burgtheaters im 18. Jahrhundert. Eine baugeschichtliche Skizze", in: Maske & Kothurn 22 (1976), S. 20-53.
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kums einen Konversationston einzuführen. Als Friedrich Ludwig Sehröder ( 1744--1816), der große Shakespeare-Darsteller und Vertreter einer natürlichen Schauspielkunst, 1781 mit seiner Frau sein Wiener Engagement antrat, meinten seine Gegner, "so natürlich da zu stehen und zu reden, wie Schröder, sey keine große Kunst." 15 Ähnlich war es auch Johann Franz Hieronymus Brackmann (1745-1812) drei Jahre zuvor ergangen, als er in Wien debütierte: "Sein Spiel gewann nicht sogleich das große Publikum - er war zu natürlich. 'd 6 Sehröder und Brockmann hatten einen Geschmackswandel zur Natürlichkeit im "gehobenen Spiel" eingeleitet. 17 In den neunziger Jahren des 18. Jahrhunderts, als das Theater unter Kaiser Franz II. im Zuge der Unruhen der französischen Revolution wieder aus der Hofverwaltung an eine private Vizedirektion verpachtet worden war, versuchte der Pächter daran anzuknüpfen und durch ein erweitertes Repertoire seine Einnahmen zu steigern. Zur Umsetzung seiner Pläne berief er August von Kotzebne (1761-1819), der als viel gespielter Autor dem Publikum kein Unbekannter war. Trotzdem: "Mancher Patriot wundert sich, daß man einen Fremden vom Belte nach Oesterreichs fruchtbaren Gefielden gerufen.'dR Kotzebne wagte den Reforrnversuch. Als er aber nicht nur "gegen das Predigen und Schreyn, welches sich auch die beliebtesten Schauspieler zum Theil erlaubten", auftrat, sondern auch zur Erweiterung des Repertoires neue Schauspieler engagierte und durch Kritiken, die er in der Wiener Hofzeitung publizierte, öffentlich" wiederhohlentlieh
15 Friedrich Nicolai: Reise durch Deutschland und die Schweiz im Jahre 1781. Nebst Bemerkungen über Gelehrsamkeit, Industrie, Religion und Sitten, 4. Band, Berlin, Stettin 1784, S. 590. 16 L. Eisenberg: Großes biographisches Lexikon, S. 130. 17 Für die männlichen Mitglieder des Ensembles konnte Hadamczik eine fast lückenlose Linie von der Pathetik (Lange) zur gehobenen Natürlichkeit (Brockmann, Schröder, Weidmann) und weiter bis zur übersteigerten Realistik (Bergobzoomer) ziehen. An den Endpunkten finden sich die beiden wichtigsten Einflussbereiche für die Stilentwicklung des Burgtheaters: das französische Pathos und die volkstümliche Realistik. - Vgl. Dieter Hadamczik: Friedrich Ludwig Sehröder in der Geschichte des Burgtheaters. Die Verbindung von deutscher und österreichischer Theaterkunst im 18. Jahrhundert, Berlin 1961 (= Schriften der Gesellschaft ftir Theatergeschichte 60). 18 August von Kotzebue: Ueber meinen Aufenthalt in Wien und meine erbetene Dienst-Entlassung. Nebst Beylagen A, B, C, D. Eine Vernichtung des im Aprilstück des Berliner Archivs der Zeit gegen mich eingerückten Pasquills, Leipzig 1799, S. 5.
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den unnatürlichen Predigerton eines Schauspielers gerügt[ ... ] dagegen, wie billig, den Conversationston des Hm Roose", eines neu engagierten Schauspielers, lobte, brach der Skandal los. 19 Kotzebue hatte unldug und überstürzt gehandelt, denn, wie ein Anonymus zu berichten wusste: wenn es gleichwohl gewiß ist, daß auf unserem Theater die schöne angenehme Conversationssprache nicht herrscht, die ich seit vielen Jahren in Mannheim, in den ersten Zeiten der Sehrödersehen Direction in Harnburg fand, und die Iffland mit so gutem Erfolg in Berlin eingeführt, und befestigt haben soll: wenn es ausgemacht ist, daß zur Einführung derselben das Engagement fremder Schauspieler, welche an diese Sprache gewohnt sind, das zweckdienlichste Mittel war: so konnte dennoch die gute Absicht nicht erreicht werden, weil man dem wahren Zeitpunkt zuvoreilen wollte?0
Die Kotzebueschen Reformversuche, die Erweiterung des Ensembles und Repertoires und die Abschwächung des Pathos, wurden heftig bekämpft, sodass er noch im selben Jahr um seinen Abschied bat. Seine Reforrnmaßnahmen, die zu einem großen Teil auf Anordnungen zurückgriffen, die bereits Joseph ll. 1781 getroffen hatte, wurden - wie auch die neuen Schauspieler - im Laufe der folgenden Jahre unter Joseph Schreyvogel (1814- 1832) angenommen und spätestens seit Heinrich Laubes Direktion (1849-1867) Teil des Burgtheater-Narrativs: der Konversationston, das umfassende Repertoire und die Besetzung von Nebenrollen mit ersten Schauspielern-all dies waren bereits Anordnungen Joseph ll. ebenso wie Teilaspekte der Kotzebueschen Reform gewesen.
2.
HOCHSPRACHE UND ORTHOGRAPHIE
Johann Christoph Gottsched hatte in semer Grundlegung der deutschen Sprachkunst (1748) noch die Meißner Aussprache als vorbildlich gelobt, die Sprache der oberen Gesellschaftsschichten Meißens. Im Zuge der Aufklärung wurde die Bühnensprache als das geeignete
19 Ebd., S. 12. 20 Anonymus, in: Rhodes, Allgemeine Theaterzeitung, 2 Bände, Berlin 18001801, S. 197-202.
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Mittel erkannt vorbildlich sprachbildend zu wirken und vorrangig das Hofburgtheater als Nationaltheater im Sinne der deutschen Aufklärung in die Pflicht genommen. In der Orthographiedebatte des 19. Jahrhunderts, im Streit zwischen Historikern ("Prinzip der Abstammung"), Phonetikern (Prinzip der Aussprache: schreib wie du (richtig) sprichst!) und den Traditionalisten (Festhalten an der bislang üblichen Schreibweise), wurde auch ein auf der Bühne gesprochenes Hochdeutsch als richtungsweisend flir orthographische Fragen angesehen. 21 Dies war in der Direktionszeit Heinrich Laubes: " Wohl läßt der Wiener zuweilen sein guet, derBerliner sein j ud hören, keiner von beiden wird es für hochdeutsch ausgeben, und im Wiener Hofburgtheater, in dem von jeher das reinste Deutsch gesprochen wurde, und im Berliner Hoftheater wird dergleichen sicher nicht vorkommen. "22 Das auf der Bühne gesprochene reinste Deutsch blieb jedoch nicht unwidersprochen. Der spätere Universitätsprofessor Karl Tomaschek ( 1828-1 878) warf in die Debatte ein, dass die Vorbildrolle der Wien er Hofbühne fiktiv sei: "Wir haben Gelegenheit den Vorstellungen der letzteren in allen klassischen Stücken anzuwohnen, und können versichern, selbst hinsichtlich der einzelnen Schauspielerkoryphäen recht interessante Bemerkungen über mundartliche Besonderheiten gemacht zu haben. "23 1876 - es ist auch das Jahr des 100. Gründungsjubiläums des Burgtheaters - kommt man allerdings überein, dass "es eine hochdeutsche Aussprache gibt", und dass die Beobachtungen seinerzeit stillschweigend das Zugeständnis an eine hochdeutsche Aussprache enthalten hatten, "die als anerkannter Maßstab an die mundartliche Abweichung gelegt wird". 24 Zur gleichen Zeit als die Orthographen an der Bühnensprache Anleihe nahmen, war am Wiener Konservatorium Declamation als neu
21 Richard Reutner: "Der Diskurs über das Burgtheaterdeutsch in der Orthographiedebatte des 19. Jahrhunderts", in: Christine Papst/Leopold Günter (Hg.), Sprache als System und Prozess, Wien 2005, S. 238-264. 22 W. Z. Ressel: "Auch ein Wort zur orthographischen Frage" , in: Zeitschrift für die Österreichischen Gymnasien 4 (1853) 242, zit. n. ebd., S. 253. 23 Karl Tomaschek: "Zur neuhochdeutschen Rechtschreibung", in: Zeitschrift für Österreichische Gymnasien 4 (1853) 549, zit. n. ebd., S. 255. 24 Karl Tomaschek: "Die Berliner Konferenz zur Herstellung größerer Einigung in der deutschen Rechtschreibung", in: Zeitschrift für die Österreichischen Gymnasien 27 (1876), 455-474, zit. n. ebd., S. 261.
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geschaffenes Unterrichtsfach fLir die angehenden Schauspieler und Schauspielerinnen eingerichtet worden (1852), mit dem Ziel "eine deutliche Aussprache" zu erreichen/5 erster Lehrer war Heinrich Anschütz, dessen Gestaltung des König Lear durch Stifters Nachsommer literarisch unsterblich wurde. Parallel zum Aufkommen des Naturalismus auf den Theaterbühnen entstehen Broschüren und Handbücher der deutschen Bühnenaussprache. Im Zuge der Recherchen ftir die 1898 veröffentlichte erste Auflage der Deutsche[n} Bühnenaussprache C2 1920) holte Johann Siebs auch im Hofburgtheater eine Auskunft ein, "ob es Bestimmungen über die normale Aussprache an der kaiserlichen Bühne gibt?" Denn Siebs war überzeugt, dass "die mustergültige Sprechweise der Bühne ihren Einfluss mehr und mehr ausgedehnt" habe und Anspruch darauf machen dürfe "als Norm angesehen zu werden". 26 Eine normale oder normierte Aussprache gab es offiziell nie. Auf der Bühne bemühte man sich zwar bis ins 20. Jahrhundert um eine "gemeinsame Bühnenaussprache [ ... ], aber eine gewisse [dialektale] Färbung bleibt immer und ewig." 27 Im Zusammenspiel der aus den verschiedensten Gegenden Österreichs, Deutschlands und der Schweiz stammenden Schauspieler schliffen sich die gröbsten Unterschiede ab.
3.
DUALIDENTITÄT
Das Burgtheater war seit seiner Positionierung im Diskurs der deutschen Aufklärung 1776 als Nationaltheater Symbol jener Österreichischen Mehrfachidentität, die sich vereinfacht zwei großen Strängen
25 Heinz Niederfuhr: Hundert Jahre Wiener Schauspielschule, Akademie für Musik und darstellende Kunst in Wien, Wien 1952/53, S. 9.- Unter Joseph Lewinsky wurde das Fach zu Deklamation und Mimik erweitert. 26 Siebs berief sich auf Goethe und den in den Regeln für Schauspieler formulierten Passus über störende Provinzialismen, die "das Gehör des Zuschauers beleidigen." 27 Josef Meinrad auf die Frage, was denn Burgtheaterdeutsch sei. In: Hilde Haider-Pregler mit Studierenden der Theaterwissenschaft Interviews mit Publikum und Künstlern anlässlich des Burgtheaterjubiläums 1976 für eine Radiosendung des Schweizer Rundfunks. Zit. n. Birgit Peter: "Mythos Burgtheaterdeutsch. Die Konstruktion einer Sprache, einer Nation, eines Nationaltheaters", in: Maske & Kothurn 50 (2005), H. 2, S. 15-27, S. 25.
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zuordnen lässt. 28 Hier die Nähe zur deutschen Geschichtstradition durch die politische Zugehörigkeit zum Heiligen Römischen Reich, da die Verortung als Teil der zentraleuropäischen Region durch die Zugehörigkeit zur Donaumonarchie. Weite Kreise der deutschsprachigen Bevölkerung des Habsburgerreiches verstanden sich als Deutschsprachige dem deutschen Sprachraum zugehörig ebenso wie als Österreicher den Ländern der Habsburgerkrone. Diese Mehrfachidentität entsprach dem doppelten Referenzrahmen des Hofburgtheaters: Als Hoftheater war es zentraleuropäisches Bindeglied und als Burgtheater im deutschsprachigen Diskurs vernetzt. Diese Dualidentität blieb auch nach dem Zusammenbruch der Habsburgermonarchie im kleinen (Rest)-Staat erhalten. Als äußeres Zeichen sei darauf hingewiesen, dass niemand ernstlich erwog- auch nicht nach der Zerstörung 1945 die Aufschrift an der Front des Theaters zu ändern, bis heute ist dort zu lesen: k.k. Hofburgtheater. 29 Auch nach dem Zerfall des Habsburgerreiches, "als das Österreicherturn kein Österreich mehr hinter sich"30 hatte, war die Balance der Identitäten Gradmesser jedes Direktionswechsels, und wenn der neue Direktor die identifikatorische Stellung als österreichisches Repräsentationstheater zu erschüttern drohte, brach Unzufriedenheit los. 31 Freud hat vom "Narzissmus der kleinen Differenz" gesprochen: Wenn die Unterschiede sehr klein sind, werden sie wichtig, signalhaft betont, und "vorzüglich sprachlich markiert, beispielsweise in der Semantik oder im semiologischen System einer [Sprach-]Praxis."32
28 Zur Mehrfachidentität vergleiche: Moritz Csaky: "Gedächtnis, Erinnerung und die Konstruktion von Identität. Das Beispiel Zentraleuropa", in: Catherine Bosshart-Pfluger/Joseph Jung/Franziska Metzger (Hg.), Nation und Nationalismus in Europa. Kulturelle Konstruktion von Identitäten. Festschrift für Urs Altermatt, Frauenfeld, Stuttgart, Wien 2002, S. 25-49. 29 Die offizielle Bezeichnung im 18. Jahrhundert lautete Theater nächst der Burg und verwies auf den Standort am Michaelerplatz nahe der Hofburg. Im 19. Jahrhundert, auch nach der Übersiedlung in den Neubau am Ring, war die offizielle Bezeichnung Hojburgtheater. In den Presse-Feuilletons setzte sich daneben auch die umgangssprachlich verkürzte (bis heute gültige) Bezeichnung Burgtheater als bürgerlicher Code durch. 30 Oswald Brüll: Letztes Burgtheater. Requiem für das Österreichertum, Leipzig, Wien, Zürich 1920, S. 13. 31 So z. B. 1920 beim Direktionsantritt des aus Berlin stammenden Schauspielers Albert Reine. Vgl. ebd., S. 96-100. 32 Antje Kapust: Der Krieg und der Ausfall der Sprache, München 2004, S. 326.
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Die Österreichische Sprache war, um mit Joseph Roth zu sprechen, "natürlich, aber nicht primär deutsch", denn "die geistige Herkunft der Österreichischen Sprache ist eine andere als ihre klangliche."33 Auch in der Sprache steht auf der einen Seite die Nähe zur deutschen Geschichtstradition, wie Joseph Roth ausfuhrt: "Denn Österreich zu treuen Händen abgeliefert sind die positiven Güter Deutschlands, und Österreich hat die Aufgabe, sie[ ... ] zu bewahren,[ ...] ähnlich wie es in Wien die deutsche Kaiserkrone aufbewahrt."34 Auf der anderen Seite aber steht das zentraleuropäische Erbe: "Nicht umsonst haben deutschsprechende Menschen jahrhundertelang - geistig, moralisch, physisch- sich mit Orientalen, Slawen, Italienern vermischt. [ ... ] Alle Geschicke der gesamt-österreichischen Geschichte haben der deutschen Muttersprache des Österreichers ihr Kolorit gegeben."35 Jahrhunderte lang hatte Wien die zahlreichen Beeinflussungen kreativ "kreolisierend" verarbeitet. 36 Darüber hinaus hatte die Österreichische Standardsprache, anders als die Deutsche, seit dem 18. Jahrhundert - hingewiesen sei auf Sonnenfels' Schrift Über den Geschäftsstyl (1784), die bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts als Lesebuch in den Schulen Verwendung fand37 eine bürokratische Prägung und gleichzeitig das Signum der Uneindeutigkeit und Auslegbarkeit. "Das Österreichische Wort ist nicht etwa zweideutig, es ist vieldeutig und wer kein geborener Österreicher ist, mißversteht es; mißversteht es todsicher."3s
33 Joseph Roth: "Das alte Österreich", in: Klaus Westermann (Hg.), Joseph Roth. Berliner Saisonbericht Unbekannte Reportagen und journalistische Arbeiten 1920- 39, Köln 1984, S. 425-432. Dazu auch Hugo von Hofmannsthal: "Unsere Fremdwörter" (1914), in: ders., Gesammelte Werke in 10 Bänden, Frankfurt/Main 1979. Reden und Aufsätze Il, S. 360-366. 34 J. Roth: Das alte Österreich, S. 430. 35 Ebd., S. 427. 36 Moritz Csaky: Das Gedächtnis der Städte. Kulturelle Verflechtungen Wien und die urbanen Milieus in Zentraleuropa, Wien, Köln, Weimar 2010. 37 Joseph von Sonnenfels: Über den Geschäftsstyl. Die ersten Grundlinien für angehende Österreichische Kanzleibeamten. Zum Gebrauch der öffentlichen Vorlesung. Nebst einem Anhange von Registraturen, Wien 4 1820 C1784). 38 J. Roth: Das alte Österreich, S. 429.
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4.
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"BURGTHEATER-DEUTSCH"
1887, im letzten Jahr des Burgtheatersam Michaelerplatz, ein Jahr vor dem feierlichen Umzug ins neu erbaute Haus an der Ringstraße, resümierte ein anonymer Feuilletonist die Leistung des scheidenden Burgtheaterdirektors AdolfWilbrandt: Es herrschten recht verlotterte Zustände in dem alten, grauen Gebäude, als er dort einzog [1881]. Das Gefühl fiir die Würde des Hauses schien beinahe ganz verloren. Man sah keinen rechten Ehrgeiz mehr weder in literarischer noch in künstlerischer Beziehung. Die erste deutsche Bühne war nicht mehr wählerisch in den Stücken, die sie gab, und fand in einem möglichst geschraubten Burgtheater-Deutsch, der unnatürlichsten Aussprache der Welt, die höchste schauspielerische Vollendung. 39
Unüberhörbar negativ konnotiert als unnatürlich und geschraubt (und unübersehbar parallel zu Kotzebues Wirken Ende des 18. Jahrhunderts) wurde der Begriff mit der Übersiedlung ins prunkvolle Gebäude an der Ringstraße allerdings positiv gewendet. Auf der neuen größeren Bühne konnten viele der alten Stücke nicht gespielt werden. Die schlechte Akustik des Hauses machte den Schauspielern zu schaffen und belastete die traditionell enge Publikumsbindung. Burgtheaterdeutsch wurde zum Maßstab der Erinnerung an eine Vergangenheit, die unwiederbringlich verloren schien und zum Synonym für eine emotionale Vertrautheit. 40 Der jahrelang aufgeschobene Umbau brachte 1897 während der Direktionszeit Max Burckhards (1854-1912) eine Verbesserung der Akustik und Sichtverhältnisse. Mit Alexander Strakasch (I 845-1909) verpflichtete Max Burckhard nicht nur einen Sendboten zum Engagement neuer Schauspieler, sondern auch einen Rhetoriklehrer, was ihm die Öffnung für die Modeme ermöglichte: Naturalismus und neue Schauspielkunst mit Friedrich Mitterwurzer und Joseph Kainz.
39 Wiener Allgemeine Zeitung (2634) 29. Juni 1887. 40 Daneben gab es immer auch, angefangen vom Pathosvorwurf unter Kotzebue, Kritiker, die das sprachliche Schönheitsideal vor dem Charakteristischen nicht gelten lassen wollten. Zur Jahrhundertwende notierte Schienther "allmählich hieß Burgtheaterdeutsch, wenn jemand im Kaffeehaus ,g'schwollen' redete." Und 1976 meinte der Regisseur Leopold Lindtberg mit unüberhörbarem Ärger: " Burgtheaterdeutsch ist wahrscheinlich (immer) das, was sich die Leut darunter vorstellen ...". (Siehe Anm. 27).
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Das Aufkommen der realistisch-naturalistischen Sprache auf der Bühne brachte vor allem in Berlin eine "überhandnehmende Undeutlichkeit der Bühnenrede hervor."41 Auch in Wien hörte man verbreitet Klagen, allen voran vom Kaiser selbst, dass die "schöne Burgtheatersprache verloren geht". 42 Darüber berichtet auch Paul Schlenther: Franz Joseph legte stets Wert darauf, daß auf seiner Bühne das reinste, edelste, auch von mundartlichen Schlacken freieste Deutsch gesprochen werde. Das schärfte er jedem Burgtheaterdirektor ins Gewissen. Solange er noch im Theater erschien, war ihm das Herzenssache, [... ] Sache seiner Jugenderziehung, denn wie er dachten in Wi en alle seine Altersgenossen. 43
Paul Schienther (1854-1916), Burckhards Nachfolger in der Direktion, hegte den Verdacht, "als wäre im Burgtheater selbst immer nur äußerst selten ein Deutsch gesprochen worden, das im guten Sinne als Burgtheaterdeutsch könnte bezeichnet werden, ein reines, auch von Pathetik und Deklamation, von Manier und Affektation freies Deutsch." 44 Er selbst glaubte es nur von zweien gehört zu haben, und zwar von zwei Wienern: Joseph Kainz und Hedwig Bleibtreu. Hört man überlieferte Tondokumente von Josef Kainz, fallen die starke Betonung der Konsonanten auf, die lautmalerischen Vokale, das graduelle Ansteigen der Tonhöhe, die Tremoli und Liaisonen und ein emphatisches Pathos, das - folgen wir Michael Böhlers Ausführungen - die wichtigste Konfiguration des Authentischen darstellt. Hatte sich noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts der Konversationsstil von den Salons auf die Burgtheaterbühne und von der Bühne wieder ins Leben verbreitet45 , so war gegen Ende und zu Anfang des
41 Wolfgang Kirchbach: "Redetechnik und Bühne", in: Bühne und Welt. Zeitschrift ftir Theaterwesen, Literatur und Kunst, hg. v. Otto Elsner, Berlin 1899, 1 Jg., Nr. 5, Heft 1, S. 213-218, S. 213. 42 Franz Hadamowsky (Hg.), Hugo Thimig erzählt von seinem Leben und dem Theater seiner Zeit. Briefe und Tagebuchnotizen, Graz, Köln 1962, S.160. 43 Paul Schlenther, "Burgtheaterdeutsch", in: Österreichische Rundschau. Band XLII, Wien, Leipzig, Januar- März 1915, S. 99- 101. 44 Ebd., S. 101. - Schienther ersetzte Strakasch in Hinblick auf die Arbeit mit den Schauspielern durch den Hofschauspieler Josef Altmann (1844-191 0). 45 "Der Wiener Salon der guten alten Zeit war ein Modell der Burgtheaterbühne im kleinen. Die dort Konversation machten, hatten unbewußt den Stil ihrer Sprache, ihrer Bewegungen, ihres ganzen Gehabens aus dem
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20. Jahrhunderts vor allem das Pathos stilbildend für alle, die öffent-
lich zu sprechen hatten, Professoren, Advokaten, Richter, Prediger und Politiker. Die Schauspieler des Burgtheaters wirkten seit der Jahrhundertwende auch als Rhetoriklehrer an der Wiener Universität. Olga Lewinsky (1853-1935) zum Beispiel erfreute sich ab 1909 als Vortragsmeisterin an der Universität großen Zuspruchs. 46 Am BurgtheaterPathos und an der großen Geste hatte sich nicht nur Adolf Hitler geschult47, auch Österreichische Literaten (wie z. B. Kar! Kraus oder Franz Werfe!) und Politiker (u. a. die christlichsoziale Stadträtin Alma Motzko) verwendeten den gleichen getragenen Ton. 48
5. STABILITÄTSSTRATEGIE UND DIFFERENZMARKIERUNG Während der NS-Zeit wurde der Burgtheaterstil von den Nationalsozialisten allerdings als zu elitär abgelehnt und eine stilistische Erneuerung gefordert: Was die NS-Anhänger am meisten dagegen einnahm, war jene das Österreichische widerspiegelnde Vieldeutigkeit. Exemplarisch wird die Kritik am Burgtheaterdeutsch in einem Grundsatzartikel von RudolfFischer anlässlich einer Jubiläumsaufführung des Don Carlos im Oktober 1938 formuliert: der Burgtheaterstil sei eine Sprache, die "den Sinn für die eigentliche Sprachmagie ein[schläfert]", der "die Melodie wichtiger [sei] als der Inhalt". "Gemessen an den Bühnen im übrigen Reich liegt die Sprache im Burgtheater zwei Töne höher." Der Nachteil des "hohlen Pathos, der edlen Deklamation" würde nur durch den Vorteil der "sauberen Sprachbehandlung" etwas gemildert, wurde einschränkend vermerkt. Das was im Sinne einer an der NS-Ideologie orientierten Theaterpolitik aber am meisten störte, warneben dem ausgeprägten Individualismus des einzelnen Schauspielers, seiner Virtuosität- der Verlust der Bindung an "das Ganze", die mangelnde Anschlussfähigkeit an die "Volksgemeinschaft" . Die Kritik richtet sich gegen die Verfeinerung, die die breiten Massen der Bevöl-
Burgtheater sich geholt. Und umgekehrt." Neue Freie Presse (16249), 16. November 1909. 46 Fremden-Blatt (320), 21. November 1909. 47 Vgl. Joachim C. Fest: Hitler. Eine Biographie, Frankfurt!Main 1973. 48 In der Österreichischen Mediathek sind Stimmportraits der Genannten nachzuhören.
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kerung ausschließe, zu elitär wäre, nur für ein "wohlerzogenes Bürgertum, das in einer dünnen Bildungsatmosphäre eine sehr bedeutende Tradition weiterspinnt." Wir sind weit davon entfernt einen Nachteil darin zu sehen, den hohles Pathos und öde Deklamation züchtet. Wir wissen wohl die Werte einer sauberen Sprachbehandlung zu schätzen. Aber es lockern sich allzu leicht die Bänder, die den einzelnen Darsteller an das Ganze binden. Und wo die Einsicht und die Fähigkeit des einzelnen die Grenze nicht zu halten vermögen, muss allgemeine Zucht anstelle des individuellen Ermessens treten. Auch die Comedie franc;:aise hat sich der Mauser nicht entziehen können. Wie keine andere Bühne hat sie bis zuletzt den starren, den großen deklamatorischen Stil festgehalten. Aber sie musste ihn aufgeben, weil er zu viele von der Wirkung ausschloß, weil seine Zangen nicht mehr griffen. 49
Im Selbstverständnis vieler Burgschauspieler wurde diese besondere Art zu sprechen bis 1945 auch bewusst als eine Form der Widerständigkeit, als l'art pour l'art gepflegt. Indirekt und subkutan nur wurde in den Feuilletons darauf hingewiesen: Hedwig Bleibtreu habe anlässlich der Festveranstaltung zum 50jährigen Bestand des neuen Hauses ( 14. Oktober 1938) "in gewohnter Meisterschaft" gesprochen, ebenso wie Fred Liewehr, "von [dessen Sprache] auch in der höchsten Ekstase keine Schattierung verloren geht."50 Gleichzeitig aber wurde Burgtheaterdeutsch wie alles Wienerische - von Baidur von Schirach - als Ventil eingesetzt, "um der ,Anschlussmüdigkeit' und der latenten Unzufriedenheit der Bevölkerung entgegenzuwirken"51 . Diese Instrumentalisierung durch die NS-Kulturpolitik ebenso wie die Identifikation des Bürgertums (dem Burgtheaterdeutsch als die Sprache der "gehobenen Gesellschaft" galt) ließ die Linksintellektuellen nach 1945 auf Distanz gehen; Burgtheater-
49 Rudolf Fischer: "Burgtheater. Jubiläumsaufführung des Don Carlos", in: Neue Freie Presse, 16. Oktober 1938. 50 Neues Wiener Tagblatt (284), 15. Oktober 1938 und (285), 16. Oktober 1938. 51 Evelyn Deutsch-Schreiner: Theater im Wiederaufbau. Zur Kulturpolitik der politischen Lager Österreichs, Habilitationsschrift, Wien 1997, S. 390. - Eine der ersten Herbstpremieren 1938 war eine Neuinszenierung von Hermann Bahrs Wienerinnen in der Regie von Hans Thimig, das jener bewusst mit Wiener Schauspieler/innen "von Geburt" und "Gefühl und Weltmarke" besetzte. (Neue Freie Presse, 12. Oktober 1938).
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deutsch wurde als reaktionär abgelehnt. Eine "künstlich hochgeschraubte Redeweise" nannte es Hilde Spiel, ebenso wie die vertriebenen Schauspieler, die ans Burgtheater zurücldcehrten, die Bühne als rückständig empfanden. 52 Als Reaktion auf den Sprachmissbrauch der NS-Zeit dekonstruierte die Wiener Gruppe, allen voran Ernst Jandl, nicht nur die Sprache, sondern auch die mitschwingenden reaktionären Tendenzen. Jandls humanisten, zwei Männer, die sich als Nobelpreisträger vorstellen und ein an das "Gastarbeiterdeutsch" erinnerndes Sprachkauderwelsch ve1wenden, betonen ironischer Weise ständig, dass Deutsch die schönste Sprache und Österreich das beste Vaterland ist. 53 Und Elfriede Jelinek schuf in ihrem Drama Burgtheater bewusst eine Kunstsprache, die das auf der Bühne und im Leben von ihren Protagonisten (der bekannten Schauspielerfamilie Wessely-Hörbiger) gesprochene Deutsch als von der NS-ldeologie infiltriert entlarvte. 54 Indem Elfriede Jelinek die Bühnenfiguren ihres Dramas durchgehend eine von allen nur möglichen regionalen Dialekten gespeiste Kunstsprache reden lässt, weist sie auf die Herkunft der Sprache aus den verschiedensten Sprachkreisen hin: orientalisch, französisch, italienisch, slawisch, jüdisch, entsprechend der "geistige[n[ Herkunft der Österreichischen Sprache", die eben eine andere war als "ihre klangliche" (Joseph Roth). Während Burgtheaterdeutsch bei den Autoren zum literarischen Topos avancierte, wurde es im öffentlichen Diskurs Teil der affirmativen nationalen Selbstvergewisserung, zur Sinn- und Identitätsstiftung durch Differenz zum "Deutschen" ve1wendet, mit Rückbesinnung auf die zentraleuropäischen Vemetzungen. Bei den Salzburger Festspielen misslang 1951 die von Gustav Gründgens betreute Was ihr wollt-Inszenierung vor allem deshalb,
52 Hilde Spiel: "Burg und Josefstadt. Zwei Wiener Bülmenhäuser feiern Jubiläum", in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (243), 19. Oktober 1963.- Die Schauspielerinnen Else Wohlgemuth (1881 - 1972), Lilli Stepanek (19122004) und Lilly Karoly (1885-1971) kehrten nach 1945 w ieder ans Burgtheater zurück. 53 Ernst Jandl: "die humanisten", in: Klaus Siblewski (Hg.), poetische werke, band 10, München 1997, S. 159- 175. Uraufführung am Nationalfeiertag, 26. Oktober 1976, Vereinigte Bühnen Graz, als Hörspielfassung 1977 im WDR. 54 Elfriede Jelinek: "Burgtheater", in: http://ourworld.compuserve.com/home pages/elfriede/index.htm (eingesehen am 3.1 0.2008).
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weil das Zusammenspiel der Gründgens-Schauspieler mit Mitgliedern des Burgtheaters "in Auffassung, Stil und Sprachgebärde" nicht harmonierte.55 Vom Burgschauspieler Raoul Aslan wird der darauf Bezug nehmende Ausspruch überliefert: "Herr Gründgens! Wir Schauspieler des Burgtheaters kommen aus Byzanz über Hellas und den Balkan nach Wien und von dort nach Salzburg. Sie, Sie kommen aus Düsseldorf!"56 Raoul Aslan, 1886 in Thessaloniki geboren, war als Zehnjähriger nach Wien gekommen und ftir die Schauspielerkollegen wie das Publikum Symbol jener Österreichischen Mehrfachidentität Was in der Nachkriegszeit als Sinn- und Identitätsstiftung durch Differenz diente, wurde anlässlich des Direktionsantrittes von Claus Peymann (1986-1999) zum Argument wehrhaft nationaler Selbstbehauptung und Ausdruck einer gefestigten "Österreich-Ideologie". 57 Peymann hatte - wie einst Kotzebue - das alteingesessene Ensemble mit mehreren neu engagierten Schauspielern konfrontiert. Mit dem Verweis auf Burgtheaterdeutsch wurde nicht nur auf den Kontrast zur " unabgeschliffenen" Aussprache der Peymann-Schauspieler hingewiesen, sondern auch auf den völligen Mangel von Emphase und Pathos; gleichzeitig diente die Klage um den Verlust des Burgtheaterdeutsch als Argument gegen die "Entösterreicherung" . Der sprachliche Unterschied diente als "Machtdifferential", das auf dem starken Zusammenhalt der Ensemblemitglieder und ihres Publikums, die einander seit Jahren kannten, beruhte- im Gegensatz zu den neuen Schauspielern, die für die "Alteingesessenen" Fremde waren. Aus Gründen des Machterhaltes kam es zu einer Stigmatisierung der "Außenseiter", was m emem offenen oder latenten Sprachchauvinismus zum Ausdruck kam. 58
55 Neue Wiener Tageszeitung, 31. Juli 1951, zit. n. Gisela Prossnitz: Salzburger Festspiele 1945-1960. Eine Chronik in Zeugnissen und Bildern, Salzburg, Wien 2007, S. 96. 56 Hermann BeiVJutta Ferbers/Claus Peymann/Rita Thiele: Weltkomödie Österreich. 13 Jahre Burgtheater 1986- 1999,2 Bände, Wien 1999. Band !I Chronik, S. 78. 57 Bereits unter den Direktionen Klingenberg (1971- 1976) und Benning (1976- 1986) wurde anlässtich der zahlreichen Inszenierungen durch Gastregisseure aus ganz Europa, die mit Dolmetschern arbeiten mussten, immer wieder öffentlich über den Verlust des "Burgtheaterdeutsch" geklagt. 58 Vgl. Heinz Abels: Einführung in die Soziologie, Wiesbaden 2004; Jan Engelmann: Die kleinen Unterschiede. Der Cultural Studies Reader, Frankfurt/Main, New York 1999.
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Beide, Kotzebue und Peymann, beriefen sich auf einen Reformauftrag, den Kotzebne aus den kaiserlichen Worten abgeleitet hatte: "Ich hoffe durch Sie sehr viel Gutes für unser Theater". 59 Und auch Peymann hatte im "wörtlichen Sinn" keinen Reformauftrag erhalten, sondern eine allgemeine "Erwartungshaltung" interpretiert, wie Helmut Zilk, der als Kunst- und Unterrichtsminister (1983-1984) für die Berufung Peymanns verantwortlich war, bestätigte. 60 Zusätzlich lösten beide, Peymann wie Kotzebue, die mediale Aufregung durch Zeitungsartikel aus. Kotzebne publizierte Kritiken über die Hofschauspieler im Wienerischen Diarium, in denen er die neu engagierten Schauspieler als vorbildhaft hervorstrich. Peymann hatte im Mai 1988 in einem Interview in der deutschen Wochenzeitschrift Die Zeit seine Wiener Schwierigkeiten derart drastisch übertrieben dargestellt (zitiert wurde fast ausschließlichjener dritte Satz des Interviews: "Wenn Sie wüssten was für eine Scheiße ich hier täglich erlebe!"), dass er das gesamte Burgtheater (Ensemble, technisches Personal und Betriebsrat) gegen sich aufbrachte. 61 Als in den auf das Zeit-Interview folgenden Wochen Peymanns Ansuchen um Österreichische Staatsbürgerschaft bekannt wurde, sah sich der Burgtheaterdirektor mit einem in mehreren Tageszeitungen formulierten Widerstand konfrontiert. Antonio Fian ironisiert in seinem Dramolett Peymann oder der Triumph des Widerstands die Aufregung, in dem er den aus Norddeutschland stammenden Burgtheaterdirektor in seinen den doppelten Referenzrahmen des Burgtheaters ignorierenden Bemühungen scheitern lässt: Claus Peymann bespricht mit seinen schon aus Bochum erprobten Ensemblestützen Kirsten Dene und Gert Voss, wie er den "Vorrang der deutschen Theaterkunst flir weitere hundert Jahre sicherstellen" könne. Denn mit solchem hartnäckigen Widerstand, den er jetzt erfährt, hätte er nicht gerechnet. War doch "die Burg immer das deutscheste aller deutschsprachigen Theater". Peymann ist sich sicher: "Der Triumph der deutschen Theaterkunst führt einzig und allein über die Zerschlagung oder Einverleibung der österreichischen." Und somit beauftragt er seine Schauspieler allabendlich auf der Bühne die "radi-
59 Johann Gottlieb Rhode: Allgemeine Theaterzeitung, 2 Bände, Berlin 1800-1801, Nr. 7, S. 113-114. 60 Die Presse, 14. Juni 1988, S. 1. 61 Ich bin ein Sonntagskind. Andre Müller spricht mit dem Burgtheaterdirektor C1aus Peymann, in: Die Zeit (22), 27. Mai 1988.
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kale Verhohnepipelung des sogenannten Burgtheaterdeutsches" vorzunehmen. Fian verdichtete Wirklichkeitsartefakte zu einer ironischen Gegenwirklichkeit und das Dramolett endet - in Verkehrung der Verhältnisse - damit, dass Peymann seine Schauspieler zum "Burgtheaterdeutsch" verpflichtet und als Gegenleistlmg für seine "Abdankung" (seinen Rücktritt als Theaterdirektor) die Österreichische Staatsbürgerschaft erhält. 62 Der in den Presse-Feuilletons immer wieder breit aufgefacherte Sprachchauvinismus, die explizite Forderung des Erhaltes von Burgtheaterdeutsch kann auch als "Angriff des ,Sesshaften', der ortsgebundenen Lebensweise gegen das Nomadische und die dazu gehörenden Lebensformen" [gelesen werden], die mit den auf Begrenzung und Territorialität fixierten Vorstellungen des [ ... ] Nationalstaats in Konflikt"63 geraten. ln der Österreich-Ideologie nach 1945 war Burgtheaterdeutsch auch der Ausdruck einer Differenzmarkierung Österreichs gegenüber Deutschland zur Verstärkung der damals noch aufrecht erhaltenen Opferthese und damit der Leugnung der Mitverantwortung an Krieg und Shoa.64 Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass, abhängig von Autorisierungen und Kontextfeldern, Burgtheaterdeutsch immer schon als wertender Begriff erscheint, der mit gegenläufigen Diskursen konfrontiert war. Was den Befürwortern die Verständlichkeit der Aussprache war, galt den Gegnern als Pathos. Der lautmalerische Schönklang wurde als mangelnde Charakteristik verunglimpft, die Mehrdeutigkeit als Manierismus angeprangert und schließlich das widerständige
62 Antonio Fian: "Peymann oder der Triumph des Widerstands - deutschösterreichisches Trauerspiel in drei Akten", in: ders.: Was bisher geschah. Dramolette, Wien 1994, S. 47- 59. - 1992 als Produktion des ,Kulturvereins Perchtoldsdorfer Kreis' uraufgeführt. 63 Zygmunt Bauman: Flüchtige Moderne, Frankfurt/Main 2003, S. 20, zit. n. Moritz Csäky: Die Mehrdeutigkeit von Gedächtnis und Erinnerung, in: Kreis (Hg.), Erinnern und Verarbeiten, S. 25. Vgl. dazu auch Winfried Gebhardt/Ronald Hitzier (Hg.), Nomaden, Flaneure, Vagabunden. Wissensformen und Denkstile der Gegenwart, Wiesbaden 2006. 64 Während in Deutschland die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit von der Bühne aus bereits in den 1970er Jahren erfolgte - z.B. mit Thomas Bernhards "Vor dem Ruhestand" (1979) sowie den Dramaletten "Der deutsche Mittagstisch" (1978) - vermied man in Österreich die Beschäftigung mit diesen Texten grundsätzlich. Erst "Heldenplatz" (1989) thematisierte Jahre später unter größter Empörung der Öffentlichkeit die Österreichische MitSchuld.
BURGTHEATERDEUTSCH
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Selbstverständnis während der NS-Zeit als reaktionär verurteilt. Schlussendlich wurde der Begriff als Marker und Code zum Versatzstück der Österreich-Ideologie instrumentalisiert und als stumpfe Speerspitze gegen die "deutsche Kolonialisierung" gerichtet. Unter Peymanns Nachfolger, dem Österreicher Klaus Bachler (1999-2009), haben die Burgschauspieler unterschiedlicher Herkunft zu einem exzellenten Ensemble zusammengefunden. Nach weitgehend vollzogener Vergangenheitsbewältigung, in einer satellitenvernetzten, globalisierten Welt, wo die Überschneidung der Reichweite nationaler Medien zum Alltag gehört und Österreich seinen "Habsburg Bonus" (Die Zeit) auf wirtschaftlichem Gebiet erfolgreich umsetzen kann, scheint Burgtheaterdeutsch als sprachliches Alleinstellungsmerkmal, als normativer Begriff einer gruppendefinierten Authentisierungsstrategie ebenso wie als Marker und Code derzeit erkaltet zu sein.
Orte und Lebenszeugnisse "Authentizität" als Schlüsselkonzept in der Vermittlung der NS-Verfolgungs- und Vernichtungspolitik
HElDEMARIE UHL
"Authentizität" 1 als selbstverständliche Kategorie des historischen Überlieferungsprozesses ist zu einem prekären Konzept geworden, in dem widersprüchliche Vorstellungen zum Tragen kommen. Eine seit den 1980er Jahren durch die linguistische Wende geprägte Geschichtswissenschaft steht Vorstellungen von Echtheit und Unmittelbarkeit skeptisch gegenüber - das "Authentische" ist aus dieser Perspektive das Ergebnis einer diskursiven Konstruktion und von gese11schaftlichen Konventionen. Paradoxerweise beginnt zeitlich parallel zu seiner Delegitimierung die neue Karriere des Begriffs Authentizität. Die Faszination für eine unmittelbare, d.h. nicht medialisierte Kommunikation mit der Vergangenheit zeigt sich exemplarisch an zwei Phänomenen: der "Wiederentdeckung" der historischen Orte von NSVerbrechen, dem Interesse für die materie11en Überreste der Lager Relikte, die vielfach den Status von Reliquien erhalten - und für die Lebenszeugnisse der Überlebenden der NS-Verfolgungs- und Vernich-
Zum Begriff Authentizität vgl. exemplarisch: Susanne Knaller/Harro Müller (Hg.), Authentizität. Diskussion eines ästhetischen Begriffs, München 2006; Susanne Knaller/Harro Müller: "Authentisch/Authentizität", in: Karlheinz Barck u.a. (Hg.), Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, Bd. 7, Stuttgart, Weimar 2005, S. 40-65; Achim Saupe, Authentizität, Version: 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 11.2.2010, URL: https://docupedia.de/zg/Authentizit.C3.A4t?oldid=75505 vom 1. September 2011.
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I HEIDEMARIE UHL
tungspolitik. Pierre Noras grundsätzliche Unterscheidung von Geschichte und Gedächtnis - "Die Geschichte fordert, da sie eine intellektuelle, verweltlichende Operation ist, Analyse und kritische Argumentation. Das Gedächtnis tückt die Erinnerung ins Sakrale, die Geschichte vertreibt sie daraus, ihre Sache ist die Entzauberung."2 scheint in den Verwendungszusammenhängen von "Authentizität" an Trennschärfe zu verlieren: Einerseits bedarf es einer distanziertreflexiven Position, wie sie sich in der Hinzufügung von Anführungszeichen ausdrückt, um den Begriff auf theoretischer Ebene überhaupt verwendbar zu machen. Andererseits wird die Magie der Orte und Dinge, die Berührung und Erschütterung durch Zeitzeuglinnenberichte zum Faszinosum. Helmut Lethen hat im "Radius des gegenwärtigen Gebrauchs des Worts ,authentisch"' den "Begriff ,Sehnsucht"' hervorgehoben.3 Womöglich entspricht die sakrale Aura, die Orten, Relikten und den testimonies der survivors zugeschrieben wird, der subkutanen Sehnsucht nach unmittelbarer, sinnlicher Kommunikation mit der Vergangenheit- jenseits der "kalten" rationalen Operationen der Geschichtswissenschaft. Diese ambivalenten Verwendungszusammenhänge sollen anhand von zwei exemplarischen Praxisfeldern der Vermittlung der NS-Verfolgungs- und Vernichtungspolitik dargelegt werden: den historischen Orten und den Erfahrungsberichten der Zeitzeugen.
I.
ORTE UND RELIKTE
Im Zuge der Neugestaltung der Gedenkstätte Mauthausen wird derzeit das so genannte Reviergebäude für die zukünftige Dauerausstellung zur Geschichte des Konzentrationslagers umgebaut. Bei der Abtragung des Fußbodens wurde im Estrich der Abdruck eines Schuhs entdeckt. Diese materielle Spur, die einen Moment aus der Geschichte des Lagers einfangt, wird als Zeitfenster eines der Exponate der neuen Ausstellung sein.
2 3
Pierre Nora: Zwischen Geschichte und Gedächtnis, Frankfurt/Main 1998, S. 13-14. Helmut Lethen: "Versionen des Authentischen: sechs Gemeinplätze", in: Hartmut Böhme/Klaus R. Scherpe (Hg.), Literatur und Kulturwissenschaften- Positionen, Theorien, Modelle, Reinbek 1996, S. 205-231; S. 229.
ÜRTE UND LEBENSZEUGNISSE
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Abbildung 1: KZ-Gedenkstätte Ebensee, Schuhabdruck nahe dem Eingang zum ehemaligen Rüstungsstollen Nr. 5. Foto: Zeitgeschichte Museum Ebensee
Auch in Ebensee wurde ein Schuhabdruck nahe dem Eingang zum ehemaligen Rüstungsstollen Nr. 5, in dem sich die Dauerausstellung über das KZ Ebensee befindet, als Ausstellungselement gestaltet. Die Freilegung der Betonfundamentierung einer Gleisanlage, auf der sich der Schuhabdruck befindet, erfolgte im Rahmen des Projekts "Spurensuche", das die wenigen materiellen Überreste, in denen die Häftlingszwangsarbeit in den Rüstungsstollen ihren Niederschlag fand, durch Grabungsarbeiten im Bereich des Stolleneingangs sichtbar machen sollte. Das Häftlingslager selbst, ein etwa 20 Hektar großes Gelände, wurde ab 1950 mit einer Wohnsiedlung überbaut, und "ist somit als authentischer Ort nicht mehr erhalten und sichtbar". 4 Umso wichtiger erschien die Freilegung und Sicherung letzter baulicher Überreste, vor allem auch im Hinblick auf die Bedürfnisse und Erwartungen der Gedenkstätten besucher/innen: "Vom originalen Ort eines ehemaligen
4
Spurensuche. Freilegung letzter baulicher Überreste des ehemaligen Konzentrationslagers Ebensee, hg. v. Zeitgeschichte Museum Ebensee, o.O. 2009, o.S. (S. 3).
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Konzentrationslagers geht zweifellos eine Aura des Unmittelbaren aus. Die Sichtbarmachung, Konservierung und Kontextualisierung manifester Spuren kann zwar den Gedächtnisort nicht mehr zum historischen Ort, wie ihn etwa die K.Z-Häftlinge erfahren haben, machen; manifeste Zeugnisse, seien es auch nur Mauerreste und Artefakte, können jedoch eine Mittlerrolle übemehmen."5 Ebenso wie der Ort selbst "verweisen sie auf eine unsichtbare Vergangenheit, halten jedoch den Kontakt zu ihr aufrecht. "6 Die Bedeutung, die einem Schuhabdruck als Spur aus einer unzugänglichen Vergangenheit beigemessen wird, verweist exemplarisch auf den neuen Umgang mit den Orten der NS-Verbrechen und des Holocaust. In den Jahrzehnten davor waren viele Gedenkstätten geprägt durch die von Volkhard Knigge für Buchenwald beschriebene Praxis der "Minimierung der Relikte als Voraussetzung für die Maximierung historischer Sinnstiftung"7 . Dies trifft auch auf Mauthausen zu: Nachdem in der unmittelbaren Nachkriegszeit die Überreste des Lagers als "Depot wertvoller Baustoffe" betrachtet und geplündert wurden, ging auch die Einrichtung der Gedenkstätte nach der Übergabe an die Republik Österreich im Jahr 1947 mit der "geziehen Demontage wesentlicher Teile des Lagers" einher. Dafür waren sowohl Kostengründe als auch die "Vorstellung von der unterschiedlichen historischen Bedeutung einzelner Überreste für die Repräsentation des Häftlingsleidens" ausschlaggebend. Weitere Eingriffe in die historische Bausubstanz erfolgten im Zuge der Umgestaltung des ehemaligen Lagers in eine "würdige Gedenkstätte" und im Rahmen von Renovierungsarbeiten.s Die Neugestaltung der Gedenkstätte Mauthausen orientiert sich am baulichen Zustand vom 5. Mai 1945, dem Tag der Befreiung durch amerikanische Truppen. Die danach vorgenommenen Überformungen
5 6 7
8
Ebd. Ebd. "Die bündige Formulierung geht auf einen Geistesblitz Jöm Rüsens zurück." Volkhard Knigge: "Vom Reden und Schweigen der Steine. Zu Denkmalen auf dem Gelände ehemaliger nationalsozialistischer Konzentrations- und Vernichtungslager", in: Sigrid Weigel/Birgit R. Erdle (Hg.), Fünfzig Jahre danach. Zur Nachgeschichte des Nationalsozialismus, Zürich 1996, S. 193- 234, S. 207, S. 233. mauthausen memorial neu gestalten. Rahmenkonzept für die Neugestaltung der KZ-Gedenkstätte Mauthausen, hg. v. Bundesministerium für Inneres, Abteilung IV/7, Wien 2009, S. 10, S. 15f.; vgl. weiters: Bertrand Perz: Die KZ-Gedenkstätte Mauthausen. 1945 bis zur Gegenwart, Innsbruck, Wien, Bozen 2006, S. 13 1ff.
ÜRTE UND LEBENSZEUGNISSE
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und Veränderungen sollen als Zeitschichten kenntlich gemacht oder rückgebaut werden, so ist etwa die Entfernung des in den 1980er Jahren angebrachten Asphalts am Appellplatz geplant. 9
Die Wiederentdeckung der historischen Orte in den 1980er Jahren Die Privilegierung des "Authentischen", der "originalen Bausubstanz" gegenüber den nun als "Überformungen" und "Überbauungen" bezeichneten baulichen Gestaltungen der Nachkriegszeit, in denen vor allem auch die Sinnstiftungen der ehemaligen Häftlinge ihren materiellen Niederschlag fanden, ist eng verbunden mit der "Entdeckung" der historischen Orte von NS-Verbrechen in den 1980er Jahren. Dass die heutigen Vorstellungen von der Aura der "authentischen" Orte, die Imagination, das, was hier geschehen ist, sei gewissermaßen in die materiellen Überreste eingeschrieben, bis in die 1980er Jahre kaum eine Rolle spielten, zeigt sich am "Haus der Wannsee-Konferenz": 1947 wurde hier das SPD-Bildungsinstitut "August Bebe!" eingerichtet, von 1952 bis 1988 nutzte der Bezirk Neukölln das Haus als Schullandheim.10 Mitte der 1960er Jahre stießen die Versuche einer initiative um den Historiker und Auschwitz-Überlebenden Joseph Wulf, in diesem Gebäude ein "Internationales Dokumentationszentrum zur Erforschung des Nationalsozialismus und seiner Folgeerscheinungen" zu begründen, auf weitgehendes Unverständnis: Seitens der Behörden wurde argumentiet1, man könne eine solche Einrichtung "ebenso gut in einer Etage eines Hochhauses in der Innenstadt" unterbringen, 11 der Berliner Bürgermeister verwehrte sich gegen eine "makabre Kultstätte"12. Erst 1982, zum 40. Jahrestag der Wannsee-Konferenz, wurden auf Veranlassung des damaligen Berliner Bürgermeisters Richard von Weizsäcker Gedenktafeln am Gebäude und am Hauptportal angebracht; letztere wurde mehrmals beschädigt und schließlich gestohlen. 1986 wurde die geplante Umwidmung in eine Gedenkstätte bekanntgegeben, die Eröffnung der "Gedenk- und Bildungsstätte Haus der
9 mauthausen memorialneu gestalten, S. 16. 10 Vgl. Michael Haupt: Das Haus der Wannsee-Konferenz. Von der Industriellenvilla zur Gedenkstätte, Berlin 2009, S. 152-171. 11 Grundstücksakte, Teil W, BI. 180, zit. n. ebd., S. 174. 12 Der Regierende Bürgermeister Klaus Schütz in: Die Welt vom 27.10.1967, zit. n. ebd.
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Wannsee-Konferenz" mit einer ständigen Ausstellung erfolgte im Januar 1992 zum 50. Jahrestag der Wannsee-Konferenz. 13 Es ist kein Zufall, dass in den 1980er Jahren die konkreten Orte eine neue Relevanz gewinnen. Konzepte von Alltags- und Lokalgeschichte hatten zu einem neuen Interesse an der Geschichte vor Ort geführt. 14 "Grabe wo du stehst" (Sven Lindqvist, 1978), das Motto der neuen, alternativen Geschichtsbewegung, führte nicht nur zu den verschütteten Traditionen der Arbeiterbewegung und des lokalen Widerstands gegen das NS-Regime, sondern auch zu den Orten des NSTerrors. Eines der ersten Projekte, das den "vergessenen" historischen Ort zum Ausgangspunkt eines alternativen Konzepts von Gedenkstätte machte, war die "Topographie des Terrors" in Berlin: Ende der 1970er Jahre wurde das Gelände an der ehemaligen Prinz-Aibrechtstraße, wo sich bis zur weitgehenden Zerstörung durch Bombentreffer 1945 die zentralen Einrichtungen der Gestapo, der Reichsfühmng-SS und während des Zweiten Weltkriegs auch des SS-Reichssicherheitshauptamt befunden hatten, im Zusammenhang mit der Internationalen Bauausstellung Berlin (IBA) "wiederentdeckt" und in das öffentliche Bewusstsein gerückt, obwohl sich auf der Brachlandschaft an der Berliner Mauer keine sichtbaren Relikte dieser Machtzentrale des NSStaates befanden. Zunächst war die Errichtung eines Mahnmals vorgesehen, die Wettbewerbsergebnisse wurden jedoch nicht realisiert. Für den 5. Mai 1985 -das Kriegsende jährte sich zum 40. Mal- veröffentlichten der Verein "Aktives Museum Faschismus und Widerstand" und die Berliner Geschichtswerkstatt den Aufruf zu einer "symbolischen Grabungsaktion", um "auf die Geschichte des Geländes [ ... ] aufmerksam zu machen" und zugleich an "die Widerstandskämpfer zu erinnern [ ... ]. Viele von ihnen wurden in den Kellern des Gestapo-Hauptquartiers[ ... ] , verhört' und gefoltert.'" 5 Für die 750-Jahr-Feier der Stadt Berlin wurde die "Topographie des Terrors" als "Provisorium" eingerichtet, das "die Geschichte der SS und der Polizei in dem ehemaligen
13 Vgl. ebd., S. 178-185. 14 Vgl. Hannes HeerNolker Ullrich (Hg.), Geschichte entdecken. Erfahrungen und Projekte der neuen Geschichtsbewegung, Reinbek 1985. 15 Aufruf des Vereins "Aktives Museum Faschismus und Widerstand in Berlin" zu einer symbolischen Grabungsaktion am 5. Mai 1985, zit. n. Reinhard Rümp (Hg.), Topographie des Terrors. Gestapo, SS und Reichssicherheitshauptamt auf dem "Prinz- Albrecht-Gelände" . Eine Dokumentation, Berlin 1987, S. 212.
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Abbildung 2: Topographie des Terrors, Berlin: Ausstellungshalle und überdachte Zellenböden des" Hausgejangnisses" der Gestapo, Sommer 1987. Foto: Margarete Nissen, Stiftung Topographie des Terrors
,Regierungsviertel des SS-Staates' sichtbar machen soll." Dafür waren Ausgrabungen und Spurensicherungen notwendig, "unter den Erd- und Schuttablagerungen der Nachkriegszeit kamen Bruchstücke von Gebäudefundamenten, Begrenzungsmauern und Kellern zum Vorschein [ ... ]. Darunter befand sich auch der Boden einiger Zellen im Sockelgeschoß des ,Hausgefängnisses' der Gestapo." Das 62.000 m2 große Areal, dessen verwilderter und vernachlässigter Charakter durch die nur rudimentären Eingriffe - eine provisorische Ausstellungshalle und informationstafeln - weitgehend erhalten blieb, wurde zum Symbol für den Umgang mit dem Nationalsozialismus in der Nachkriegszeitgeprägt von den Strategien des "Unsichtbarmachens und Verdrängens". Zugleich sollte das Gelände als "offene Wunde der Stadt" wirken, als "ein besonderer Ort der Mahnung und des Nachdenkens über Voraussetzungen und Folgen nationalsozialistischer Herrschaft."16
16 "Epilog: Der historische Ort nach 1945", in: Topographie des Terrors. Gestapo, SS und Reichssicherheitshauptamt in der Wilhelm- und Prinz-
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Die Initiative für die Verankerung eines "dauerhaft historisch kontaminierte(n) ,Ort(es) der Täter"d 7 in der West-Berliner Erinnerungslandschaft kam nicht von den traditionellen Verbänden und Institutionen, die das Gedenken an die Opfer des NS-Regimes und an den Widerstand pflegten, sondern aus der alternativen Geschichtsbewegung. Mit der Realisierung eines Ortes des negativen Gedächtnisses1g wurden die beginnenden Debatten um die Frage der Verantwortung der deutschen Gesellschaft für die Verbrechen der NS-Herrschaft gewissermaßen in eine materielle Form "übersetzt". Dass das Interesse an den historischen Orten durchaus etwas Neues war, geht auch aus den Ausführungen von Sigrid Jacobeit, langjährige Leiterin der Gedenkstätte Ravensbrück, hervor. In ihrer Berliner Antrittsvorlesung über "KZ-Gedenkstätten als nationale Erinnerungsorte" geht sie auf das 1991 bis 1995 durchgeführte Forschungsprojekt "Vergegenständlichte Erinnerung" des Kunsthistorikers Detlef Hoffmann und das von ihm 1998 herausgegebene Buch "Das Gedächtnis der Dinge. KZ-Relikte und KZ-Denkmäler 1945-1995" ein, in dem die Bedeutung der materiellen Überreste der Lager intensiv diskutiert wird. Die "Objekte, die Realien, die dinglichen Zeugnisse des Geschehens" waren, wie Jacobeit bemerkt, bislang in den Gedenkstätten von geringer Relevanz: Bis dahin hatte sich kaum jemand um derartige vermeintlich authentische Zeugnisse gekümmert, die nunmehr - in den l990iger Jahren - verfallen, verschüttet, verändert, hinzugefügt, verzeichnet waren, verursacht durch staatspolitische Interessen oder Desinteressen, Nutzungsinteressen der Alliierten [ ... ], durch weltanschauliche Einflussnahmen, wie der Bau von Kirchen auf dem Gedenkstättengelände in Dachau u.a.m. 19
Albrecht-Straße. Eine Dokumentation, hg. v. d. Stiftung Topographie des Terrors, Berlin 2010, S. 418. 17 Ebd. 18 Vgl. Reinhart Kose11eck: "Formen und Traditionen des negativen Gedächtnisses", in: Volkhard Knigge/Norbert Frei (Hg.), Verbrechen erinnern. Die Auseinandersetzung mit Völkermord und Holocaust, München 2002, S. 21- 32. 19 Sigrid Jacobeit: KZ-Gedenkstätten als nationale Erinnerungsorte. Zwischen Ritualisierung und Musealisierung. Antrittsvorlesung, 5.11.2002, Humboldt-Universität zu Berlin, Philosophische Fakultät I, Institut für Europäische Ethnologie, Berlin 2003, S. 14. http://edoc.hu-berlin.de/humboldt-vl/ jacobeit-sigrid-2002-11-05/PDF/Jacobeit.pdfvom l. September 2011.
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Im Blick auf die "stummen" materiellen Hinterlassenschaften der Lager deutet sich auch eine Interessenverschiebung vom "Gedächtnis der Monumente" zum "Gedächtnis der Orte"20 an. 1993 publizierte James E. Young mit "The Texture of Memory. Holocaust Memorials and Meaning" ein Leitwerk der Analyse von Denkmälern in Konzentrations- und Vernichtungslagern als Repräsentationen gesellschaftlicher Sinnstiftung nach 1945. Die Pathosformeln der Nachkriegsdenkmäler begannen aber offenkundig ins Leere zu laufen, an sozialer Bindekraft zu verlieren und in ihrer ästhetischen Formensprache überholt zu wirken. Monumentale Denkmalanlagen im Stil des sozialistischen Realismus wie die Buchenwald-Gruppe von Fritz Cremer (19511958/59)21 wurden nach 1989 zu historischen Zeugnissen einer untergegangenen Erinnerungskultur, aber auch aus den Denkmälern in "westlichen" KZ-Gedenkstätten - etwa den Monumenten der Häftlingsnationen im Denkmalpark von Mauthausen22 - spricht der überholte heroische Gestus der Nachkriegsästhetik Aura und "Authentizität" Zugleich macht sich eine neue Sensibilität für die Aura der materiellen Überreste der Lager bemerkbar. Detlef Hoffmann schreibt den "authentischen Erinnerungsorten" eine "Leistungsfähigkeit" zu, "die sich der Sprache entzieht". 23 Die Begegnung mit den historischen Überresten ist nicht vom Interesse an Wissen und Information oder an den gesellschaftlichen Sinnstiftungen, wie sie im Kontext von Denkmalsetzungen rekonstruierbar sind, geleitet, sondern von der "Sehnsucht nach Echtheit und Erlebnis"/4 von Eintauchen in "das ,Fluidum', die
20 Zu dieser Unterscheidung vgl. Aleida Assmann: "Das Gedächtnis der Orte", in: Ulrich Borsdorf/Heinrich Theodor Grütter (Hg.), Orte der Erinnerung. Denkmal - Gedenkstätte - Museum, Frankfurt/Main, New York 1999, S. 59-78,S. 73. 21 Vgl. Gerd Brüne: Pathos und Sozialismus. Studien zum plastischen Werk Fritz Cremers (1906-1993), Weimar 2005 (= Schriften der GuernicaGesellschaft 15), S. 157-211. 22 Vgl. B. Perz: KZ-Gedenkstätte Mauthausen, S. 169- 186. 23 DetlefHoffmann: "Authentische Erinnerungsorte oder: Von der Sehnsucht nach Echtheit und Erlebnis", in: Hans-Rudolf Meier/Marion Wohlleben (Hg.), Bauten und Orte als Träger von Erinnerung. Die Erinnerungsdebatte und die Denkmalpflege, Zürich 2000 (= Veröffentlichungen des Instituts für Denkmalpflege an der ETH Zürich 21), S. 31-45, S. 32. 24 Ebd., S. 31.
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Strahlkraft, die Aura". 25 Hoffmann sieht die Qualität der nichtschriftlichen Zeugnisse vor allem in ihrem Potential ftir die Weitergabe der Geschichte des "größten Verbrechens des 20. Jahrhunderts". Die materiellen Überreste - Relikte und Reliquien zugleich - ermöglichen eine sinnliche Erfahrung, einen "Erlebniswert", eine emotionale Berührung, die durch rationale Wissensvermittlung nicht erzielt werden kann. Die Sprache abstrahiert und entmaterialisiert das Verbrechen, sie ermöglicht Distanz und Systematisierung. Das Territorium, auf dem die Menschen vor mehr als 50 Jahren zusammengetrieben, gequält und ermordet wurden, setzt den gesamten Körper der Besuchenden der Erfahrung eines Gebietes aus, fordert ihm im Umgang mit den Relikten Distanz und Nähe ab, konfrontiert ihn mit seinen Phantasien. 26
Die Relevanz der materiellen Überreste der Konzentrationslager spielt sowohl bei der Gestaltung neuer Gedenkstätten an den Orten der NSVerbrechen als auch bei der Umgestaltung bereits bestehender Gedenkstätten eine zentrale Rolle. Das Jahr 1989 markiert den Beginn der Neukonzeption der Gedenkstättenlandschaft in Deutschland: Die Nationalen Mahn- und Gedenkstätten der DDR - Buchenwald, Sachsenhausen, Ravensbruck - folgten sowohl in ihrer inhaltlichen als auch in ihrer ästhetischen Ausrichtung dem staatlichen Geschichtsbild des antifaschistischen Widerstandes und wurden ab 1990 einer weitgehenden Umgestaltung unterzogen. Aber auch die Gedenkstätten in der Bundesrepublik hatten Patina angesetzt, ihre Gestaltungselemente und Ausstellungen entsprachen weder ästhetisch noch inhaltlich und sprachlich zeitgemäßen Standards. Die Gedenkstätten Bergen-Belsen ( 1952) und Dachau ( 1960) waren im Geist der "Nachkriegsmythen" errichtet worden, wobei Dachau durch die Errichtung von Sakralbauten noch eine spezifisch christliche Konnotation erhielt.27 Die Privilegierung der materiellen Überreste des Lagers gegenüber den Sinnstiftungen der Nachkriegszeit, die zumeist von den Organisationen der ehemaligen Häftlinge mitgetragen worden waren, ist nicht
25 Ebd., S. 32. 26 Detlef Hoffmann (Hg.), Das Gedächtnis der Dinge. KZ-Relikte und KZDenkmäler 1945-1995, Frankfurt/Main, NewYork 1998, S. 10. 27 Vgl. G. E. Schafft/Gerhard Zeidler: Die KZ-Mahn- und Gedenkstätten in Deutschland, Berlin 1996, S. 46, S. 92-94.
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nur neuen historischen Perspektiven verpflichtet, sondern auch als symbolische und faktische Entlegitimierung des Vorangegangenen zu sehen. Vor dem Hintergrund der "Entdeckung" des "authentischen" historischen Ortes erscheinen die baulichen Maßnahmen, die in der Nachkriegszeit im Rahmen der Einrichtung von Gedenkstätten bzw. Ausstellungen ergriffen wurden, nun vielfach als Eingriffe in die historische Bausubstanz, als "Überbauungen" und "Überformungen" ohne historischen Wert. Im Zuge der Neugestaltung der Gedenkstätte Sachsenhausen wurden zentrale Hinterlassenschaften der DDR - die Gedenkhalle über der ehemaligen "Station Z" und die als "Kreuzmauer" bezeichnete Ringmauer um den ehemaligen Appellplatz - insofern nicht nur wegen ihres irreparablen, baufälligen Zustandes abgetragen.28 Im Rahmen der Neugestaltung der Freiflächen werden seit dem Frühjahr 2011 die nicht mehr vorhandenen Baracken markiert, um die ",Geometrie des totalen Terrors' wieder sichtbar zu machen" .29 In Mittelbau-Dora blieben die Mitte der 1970er Jahre angelegten architektonischen Gestaltungen zwar erhalten, aber nur noch als museales Anschauungsobjekt für die Denkmalkultur der DDR. 30 Diese exemplarischen Beispiele verweisen auf den zentralen Stellenwert, der der Präsenz der materiellen Überreste in der Praxis der Gedenkstättenarbeit beigemessen wird. In der theoretischen Auseinandersetzung wird die Bedeutung der "authentischen" Relikte allerdings kritisch diskutiert. Es herrscht weitgehend Konsens, dass dadurch keine Annäherung an die historische Realität der Lager eröffnet werden kann, wie DetlefHoffmann argumentiert: Ich bin überhaupt nicht der Meinung, daß die Orte, an denen sich die Lager befanden, ,authentische Orte' seien. [ ... ] Die Rede, etwas sei ,authentisch' unterstellt, daß etwas unverändert, rein durch die Zeiten hindurch gelangt sei oder - das ist besonders naiv - daß durch eine heutige Maßnahme es möglich sei, etwas so wiederherzustellen, wie es einmal war. [ ... ] Dieser Begriff von
28 Vgl. Stefan Meile: Kein zufälliger Ort des Gedenkens. Im ehemaligen Lager Sachsenhausen wird umgebaut, in: scheinschlag. berliner stadtzeitung 05/1999, (= www.scheinschlag.de/archiv/1999/05_1999/textelkultur6.htrnl); Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten: Jahresberichte 2003/2004, Oranienburg o.J., S. 76. 29 Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten: Pressinformation 05/11; Oranienburg, 17.1.20 11. 30 Olaf Mußmann: "Die KZ-Gedenkstätte Mittelbau-Dora. Eine Zwischenbilanz", in: Gedenkstättenmndbrief71 (1996), S. 3-6, S. 5.
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Echtheit ist weder auf Baudenkmale noch auf Orte übertragbar. Allerdings kann sich unserer Phantasie die Vorstellung aufdrängen, wir näherten uns, indem wir die räumliche Distanz vermindern, den Ort des Geschehens betreten, auch dem Geschehen selbst. 31
Dass es sich bei den Vorstellungen von Authentizität um eine Imagination handelt, ist allein schon aus den nicht-intentionalen Veränderungen der materiellen Substanz ersichtlich, die durch Verwitterung und Verfall entstehen und kontinuierlich restaurative Maßnahmen an Mauerwerk, Baracken, Gehwegen etc. erforderlich machen. 32 Auch Thomas Lutz, Leiter des Gedenkstättenreferats der Stiftung "Topographie des Terrors", steht den Vorstellungen, dass sich das "Authentische" von selbst erschließt, kritisch gegenüber, vielmehr bedürfe es der Inszenierung, um diesen Eindruck zu vermitteln: Die ,authentischen Orte' sprechen nicht für sich selbst, sondern müssen in zutreffender Weise erklärt und interpretiert werden. Wenn die meisten Gedenkstättenmitarbeiter Inszenierungen auch ablehnen, so stehen sie doch vor dem Problem, daß allein schon die Veränderung der Umgebung ein anderes Aussehen und eine andere Wahmehmung der historischen Überreste mit sich bringt: Die schöne Natur wirkt im Unterschied zu überfüllten Baracken lieblich, nachwachsende Bäume verändern die Landschaft, und der Verfallszustand der Gebäude macht nur schwer nachvollziehbar, wie sie vor 50 Jahren gewirkt haben. Eine Inszenierung findet in jedem Fall durch den Lauf der Zeit statt. 33
Auch im Konzept der Neugestaltung der Gedenkstätte Mauthausen wird der Begriff des "Authentischen" in Frage gestellt:
31 D. Hoffmann: Gedächtnis der Dinge, S. 10. 32 Detlef Hoffmann: "Konservieren - Restaurieren - Rekonstruieren. Das Baudenkmal ,KZ Dachau' zwischen ,historischer Quelle' und ,Erlebnisort"', in: Evamaria Brockhoff/Stanislav Zamecnfk (Hg.), Räume- Medien - Pädagogik, München 1999 (Materialien zur bayerischen Geschichte und Kultur), S. 15- 17, S. 16. 33 Thomas Lutz: "Gedenkstätten für die Opfer des NS-Regimes. Geschichte Arbeitsweisen - Wirkungsmöglichkeiten", in: Jürgen Dittberner/Ignatz Bubis (Hg.), Gedenkstätten im vereinten Deutschland. 50 Jahre nach der Befreiung der Konzentrationslager, Berlin 1994 (Schriftenreihe der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten 2), S. 36.
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KZ-Gedenkstätten sind in ihrem Charakter keine ,authentischen Orte', in denen der Zustand des früheren Konzentrationslagers unmittelbar und unverfälscht konserviert ist. Die Orte der früheren Lager sind heute vielfaltig verändert, teilweise zerstört, symbolisch überformt und umdefiniert. Sie sind ein Amalgam aus historischem Überrest, Friedhof, Denkmal und Museum. 34
Gerade in Gedenkstätten zeigt sich die Ambivalenz zwischen der Oekonstruktion des Konzepts Authentizität einerseits, den Erwartungen an die Aura des historischen Ortes andererseits besonders deutlich. Die materiellen Zeugnisse sind zentral für die Definition und das Selbstverständnis von Gedenkstätten. Ungeachtet der kritischen Anmerkungen zum Authentizitätsbegehren zählt bei der Neugestaltung der Gedenkstätte Mauthausen der "Erhalt und maximale Schutz der historischen Bausubstanz", d.h. des baulichen Zustandes vom 5. Mai 1945, zu den wichtigsten Leitlinien. 35 Die materiellen Überreste und der Ort selbst werden insgesamt zum wichtigsten Exponat, das allerdings der Erläuterung bedarf, um seine Wirksamkeit zu entfalten. Die damit verbundenen Erwartungen zeigen sich beispielhaft in einem Bericht über die bauhistorische Bestandsaufnahme im Zuge der Neugestaltung der KZ-Gedenkstätte Dachau: [ ... ]der Erhalt der Authentizität der Gebäude (ist) Verpflichtung und Chance zugleich für eine Ausstellung zur Geschichte des Konzentrationslagers in Dachau. Texte und Bilder erhalten Gestalt in den originalen Räumen. Das Bauwerk wird zu einem lebendigen Zeugnis durch die Darstellung der geschichtlichen Fakten und persönlichen Berichte. Der Ausstellungsraum selbst ist Exponat. Mit Hilfe erläuternder Informationen zur Baugeschichte und behutsamer Gestaltung kann er zum Sprechen gebracht werden. 36
Auch bei der Ausstellung "Medizin und Verbrechen. Das Krankenrevier des KZ Sachsenhausen 1936-1945" steht das Bauwerk selbst im Zentrum:
34 mauthausen memorial neu gestalten, S. 41. 35 Ebd., S. 16. 36 Axel Will: "Bauhistorische Untersuchung von Gebäuden in der KZGedenkstätte Dachau", in: E. Brockhoff/S. Zamecnfk: Räume - Medien Pädagogik, S. 39-60, S. 39.
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Für die Ausstellung wurden die original erhaltenen Baracken R I und R II [ ... ] behutsam restauriert, so dass der authentische Charakter [ ... ] voll zur Geltung kommt. Die [ .. .] Ausstellungsgestaltung unterstreicht die Authentizität des historischen Gebäude und betont deren Bedeutung als Hauptexponat der Ausstellung: Decken und Wände wurden von Installationen und Ausstellungselementen völlig freigehalten, Glasstege, auf denen der Besucher läuft, führen durch die Räume. [ ... ] Zugleich verweisen die Glasstege auf den historisch abgehobenen Standpunkt des Betrachters.37
Das "Authentische" und die Aura, die den sichtbaren, aber auch den nicht mehr sichtbaren Überresten des Lagers innewohnt und den Gedenkstätten ein "Alleinstellungsmerkmal" verleiht, ist das symbolische Kapital, das sie von anderen Einrichtungen wie Memorial Museums (USHMM United States Holocaust Memorial Museum I Washington D.C., Yad Vashem I Jerusalem, Memorial de la Shoah I Paris etc.) unterscheidet. Wie viel dieses Kapital wert ist, ist noch offen. In den Debatten um den "Ort der Information" unter dem Berliner Denkmal für die ermordeten Juden Europas wurde gerade von den Verantwortlichen in den Gedenkstätten immer wieder darauf hingewiesen, dass es sich dabei nicht um einen historischen Ort handle. Dieses Argument beruhte auf den Beflirchtungen, dass diese neue Institution in zentraler Hauptstadtlage das Publikumsinteresse von den eigentlichen Orten der Erinnerung, den Gedenkstätten, abziehen könnte. 3s Den "Originalzustand" sichtbar machen Die Faszination flir den Überrest, der in die Geschichte des Lagers fUhrt, für die magische Aufladung der Dingwele 9 liegt auch der neuen Dis-
37 Astrid Ley/Günter Morsch (Hg.), Medizin und Verbrechen. Das Krankenrevier des KZ Sachsenhausen 1936-1945. Ausstellung Medizin und Verbrechen, Berlin 2007 (Schriftenreihe der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten 21 ), S. 7. 38 Vgl. Heidemarie Uhl: "Going underground. Der ,Ort der Information' des Berliner Holocaust-Denkmals" , in: Zeithistorische Forschungen I Studies in Contemporary History, Online-Ausgabe, 5 (2008) H. 3, http://www.zeithistorische-forschungen.de/16126041-Uhl-3-2008 vom 1. September 2011. 39 Vgl. Hartmut Böhme: Fetischismus und Kultur. Eine andere Theorie der Moderne, Reinbek bei Harnburg 2006, insbes. S. 11-38.
ÜRTE UND LEBENSZEUGNISSE
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Abbildung 3: Küche im "Führerhaus", KZ-Gedenkstätte Ravensbrück. Foto: Ariane Sept
ziplin der Gedenkstätten-Archäologie zugrunde, die die nicht mehr sichtbaren Überreste von abgerissenen Lagerarealen, aber auch die "kleinen Dinge", die Hinterlassenschaften der Häftlinge - Besteck, Brillen, Knöpfe etc. -, sichert, dokumentiert und als potentielle Ausstellungsobjekte erschließt. 40 Vor allem sind wissenschaftliche Verfahren relevant geworden, die es ermöglichen, den "Originalzustand" aus der Zeit des Lagers präzise von nachträglichen baulichen Veränderungen zu unterscheiden - die bauhistorische Befundung ist mittlerweile zum Standardverfahren in Gedenkstätten geworden und findet sich auch als ästhetisches Leitmotiv von Ausstellungen: Das 20 I 0 eröffnete Haus des ehemaligen Lagerkommandanten von Ravensbrück informiert über das Handeln und die Motive der SS-Führer, das zentrale Objekt ist allerdings das 1939 errichtete Gebäude selbst, in dem "noch immer Spuren vom Leben der SS-Führer sichtbar (sind)". Die Offen-
40 Vgl. Clandia Theune: "Zeitschichten - Archäologische Untersuchungen in der Gedenkstätte Mauthausen", in: KZ Gedenkstätte Mauthausen Mauthausen Memorial 2009. Forschung, Dokumentation, Information, Wien 2010, S. 25- 30. Online verfügbar: www.mauthausen-memorial.at/db/ admin/de/get_document.php?id=150 vom l. September 2011 ; Claudia Theune, Historical archaeology in national socialist concentration camps in Central Europe. Historische Archäologie. Onlinezeitschrift 2010. http:// www.histarch.uni-kiel.de/201 0_Theune_high.pdfvom l. September 2011.
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legung und Kommentierung der denkmalgerechten Konservierung wird zum eigentlichen Ausstellungsgegenstand, "so dass Ausstellungsbesucher die verschiedenen Schichten seiner Nutzung und Nachnutzung selbst erkunden können." 41 Der Aura, die durch diese Inszenierung des Originalzustandes eigentlich banalen Dingen aus der Lebenswelt der Täter - den Farben der Wände, Heizkörpern, elektrischen Leitungen, Abflussrohren - verliehen wird, können die kühlen Glastafeln, die über die SS-Führung im Lager informieren, kaum etwas entgegensetzen. Die Prämisse, das "Authentische" sichtbar und durch Beschriftung zum Ausstellungsexponat zu machen, orientiert sich vor allem auch an den Interessen der Besucher/innen: Erfahrungen aus der Gedenkstättenpädagogik und einige wenige empirische Untersuchungen zeigen, dass "für Besucher das Interesse am konkreten Ort Ausgangspunkt und Schwerpunkt des Besuchs ist. Häufig ist die E1wartung, insbesondere junger Besucher, daß sie bei dem Aufenthalt die Geschichte möglichst ,authentisch' und sinnlich erfahren können.'.42 Auch Günter Morsch und Astrid Ley (I