254 93 1MB
German Pages 228
www.utb.de
ISBN 978-3-8252-4183-4
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Hailer Religionsphilosophie
Für lange Zeit meinte die Religionsphilosophie, statt „Gott“ zu thematisieren, lieber auf „Religion“ ausweichen zu müssen. Die Thematisierung Gottes ist jedoch für die Religions philosophie ganz unverzichtbar, weil sie sonst ihr Thema verliert. Dabei muss aber immer mitgedacht werden, dass Gott sich dem begriff- lichen Denken entzieht. Genau das ist die Grundthese der sog. Negativen Theologie. Martin Hailer entwickelt diese systematisch als Kernkonzept der Religionsphilosophie und macht sie für einen Überblick über die wich tigsten religionsphilosophischen Themenfelder nutzbar. Zur Sprache kommen u.a. die sog. Gottesbeweise, Begriff und Phänomen der Religion, das Gespräch zwischen der Theologie und den Naturwissenschaften, neue Formen der Religionskritik und die Vielfalt der Religionen.
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Theologie · Religionswissenschaft
Martin Hailer
Religions philosophie
Vandenhoeck & Ruprecht
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Martin Hailer
Religionsphilosophie
Vandenhoeck & Ruprecht
Prof. Dr. Martin Hailer, geboren 1965 in München, Studium der evangelischen Theologie und Philosophie, Promotion zum Dr. theol. 1997 an der Universität Heidelberg, 1999 Pfarrer der Evang.-Luth. Kirche in Bayern, Habilitation für Systematische Theologie an der Universität Erlangen 2003, Heisenberg-Stipendium der DFG 2007. Nach Stationen an den Universitäten Bayreuth, Basel, Lüneburg und Erlangen, seit 2011 Professor für Evangelische Theologie und ihre Didaktik mit Schwerpunkt Systematische Theologie an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© 2014 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen/ Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. – Printed in Germany. Umschlaggestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart Satz: Ruhrstadt Medien AG, Castrop-Rauxel Druck und Bindung: CPI books GmbH, Ulm UTB-Band-Nr. 4183 ISBN 978-3-8252-4183-4
Wolfgang Schoberth mit Dank und in Freundschaft gewidmet
Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Teil I. Grundbedingung der Religionsphilosophie: Der entzogene Grund 1. Wonach fragt die Religionsphilosophie? . . . . . . . . . . . 2. Den entzogenen Grund denken . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Negative Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zwischenbemerkung nach Teil I . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Teil II. Dem entzogenen Grund nach denken: Themenfelder der Religionsphilosophie 4. 5. 6. 7. 8.
Gottesbeweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Religionstheorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gott und das Leid . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Neuer und klassischer Atheismus . . . . . . . . . . . . . . . . . Argumente für Gottes Existenz in einer wissenschaftsbestimmten Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9. Die Vielfalt der Religionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Teil III. Gibt es Wissen vom entzogenen Grund? 10. Negative Theologie und die eigentümliche Rationalität der Religion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 11. Die Wahrheitsansprüche von Gottesbezug und Religion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195
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Inhalt
Anhang 1. 2. 3. 4.
Allgemeine Hinweise zu Literatur und Zitierweise . . . Lehrbücher und Gesamtdarstellungen . . . . . . . . . . . . . Nachschlagewerke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Weiterführende Literatur zu den einzelnen Kapiteln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Vorwort Gott und Religion geben zu denken. Deshalb gibt es Religionsphilosophie. Sie ist nicht die einzige denkerische Disziplin, die sich auf Gott und Religion bezieht, aber sie ist diejenige, die sagt, es lohnte vom Standort der Vernunft aus sich mit diesen Phänomenen zu befassen – nicht nur, aber auch, weil es ja immerhin sein könnte, dass die Vernunft selbst von diesem Unternehmen nicht unberührt bleibt. Der vorliegende Band unternimmt eine entsprechende Erkundung. In Teil I wird nach der Konturierung dessen, was Religionsphilosophie überhaupt sein könnte, das Projekt der Negativen Theologie als ihr zeitgemäßer Kern vorgestellt. In Teil II werden an seinem Leitfaden maßgebliche Felder der Religionsphilosophie diskutiert. Teil III kehrt zur Konzeption als solcher zurück und erwägt angesichts dieser Themenfülle ihre Risiken und Chancen. Das Buch hat einführenden Charakter: Fachleute werden wenig neue Informationen in ihm finden, auch hatte ich bei der Niederschrift beständig studentische Leserinnen und Leser vor Augen. Dennoch ist es programmatisch angelegt: Eine religionsphilosophische Konzeption wird vorgestellt und argumentativ beworben, weshalb das Buch im Gegensatz zu ›Glauben und Wissen‹ (Göttingen 2006) einen gänzlich systematischen Aufriss hat. Dass sich dem älteren Band gegenüber manche Einschätzung geändert hat und neue Einsichten dazu kamen, verbuche ich durchaus nicht als Nachteil. Mein herzlicher Dank gilt denen, die mich in den Jahren der Planung und in den Monaten der Niederschrift unterstützten: Lektor Jörg Persch vom Verlag Vandenhoeck & Ruprecht hat das Projekt angeregt und begleitete es über die lange Entstehungszeit mit genauso eherner wie liebenswürdiger Geduld; die studentischen Hilfskräfte Nele Heinrich (Lüneburg) und Hannah Schwier (Heidelberg) unterstützten mich vielfältig; meine Frau Brigitte Gallé ertrug nicht nur manche räumliche und mentale Abwesen-
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Vorwort
heit, sondern ›rächte‹ sich dafür auch noch durch besonders gründliches Aufspüren von Tippfehlern und stilistischem Unsinn – verbleibende Fehler und Unklarheiten gehen jedoch allein auf mein Konto. Unter den Gesprächspartnern nenne ich dankbar die Mitglieder der systematisch-theologischen Sozietät an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg, genauso die Kollegen Erwin Dirscherl (Regensburg), Joachim Weinhardt (Karlsruhe) und Mirko Wischke (Heidelberg/Berlin). Das gilt a fortiori für den Widmungsträger, dessen Assistent ich fünf Jahre lang war und mit dem mich eine Freundschaft weit über die gemeinsame Faszination durch die Religionsphilosophie hinaus verbindet. Heidelberg, im April 2014
Martin Hailer
Teil I: Grundbedingung der Religionsphilosophie: Der entzogene Grund
1. Wonach fragt die Religionsphilosophie? Aristoteles, Metaphysik, 2 Bd., Hamburg 31991 und 31989; ders., Politik, Reinbek 1994; ders., Über die Teile der Lebewesen, Berlin 2007; ders., Über die Seele, Hamburg 1995; E. Feil, Religio. Die Geschichte eines neuzeitlichen Grundbegriffs vom Frühchristentum bis zur Reformation, 4 Bd., Göttingen 1986–2006; G.W.F. Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, 3 Bd., Frankfurt/M. 1986; M. Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen 161986; K. Jaspers, Philosophie, 3 Bd., Berlin u.a. 41973; I. Kant, Logik, in: Werke III, hg. von W. Weischedel, Darmstadt 1983, 417– 582; L.B. Puntel, Wahrheitstheorien in der neueren Philosophie, Darmstadt 2009; R. Otto, Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen, München Nachdruck 1991; F.D.E. Schleiermacher, Dialektik, hg. von R. Odebrecht, Nachdruck Darmstadt 1976; ders., Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern, hg. von R. Otto, Göttingen 82002; P. Tillich, Auf der Grenze, Leipzig 1962; Wahrheitstheorien. Eine Auswahl aus der Diskussion über Wahrheit im 20. Jahrhundert, hg. von G. Skirbekk, Frankfurt/M. 2 1980.
Vor etlichen Jahren saß ich an der Konzeption meiner Habilitationsschrift. Eine Freundin, die sich zur gleichen Zeit in Chemie habilitierte, fragte bei einem Treffen, wie die Dinge bei mir denn so stünden. Ich hatte etwa ein Jahr des intensiven Lesens, Suchens und Fragens hinter mir, in dem ich nicht selten verzagt war. Erst ganz langsam begann ich Land zu sehen. Deshalb antwortete ich auf ihre Frage mit einem Stoßseufzer der Erleichterung: »Ich beginne, an die Möglichkeit der Fragestellung zu glauben.« Selten habe ich ein so verdutztes Gesicht gesehen wie ihres in diesem Augenblick. Dass man nach einem Jahr täglich vielstündiger Arbeit es als Glück empfinden kann, langsam den Themenbereich zu sehen, um den es gehen könnte, war für die Denkwelt der versierten Naturwissenschaftlerin völlig fremd. Sie hatte buchstäblich nach wenigen Tagen gewusst, welches chemische Problem sie bearbeiten wollte und welche hoch komplexen Geräte und Methoden sie dafür würde verwenden müssen. Geplagt haben wir uns mit unseren jeweiligen Arbeiten nachher beide weidlich, und in einer Reihe von Gesprächen die sehr unterschiedliche Fächer-
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Teil I: Grundbedingung der Religionsphilosophie
kulturen in der Naturwissenschaft einerseits und in Theologie und Philosophie andererseits erkundet. Von diesen unterschiedlichen Fächerkulturen wird weiter unten im Kapitel über Theologie und Naturwissenschaft noch die Rede sein müssen. Ich erzähle die Episode hier nicht, weil sie für meinen damaligen und auch heutigen Arbeitsstil typisch ist – es könnte sich ja um eine nicht eben empfehlenswerte persönliche Marotte handeln. Mit dem Satz »Ich beginne an die Möglichkeit der Fragestellung zu glauben« zeigt sich vielmehr etwas, was für die Religionsphilosophie insgesamt kennzeichnend ist: Was Gegenstand religionsphilosophischer Fragen sein kann, erschließt sich so gut wie nie selbstverständlich. Man muss sich, wie Martin Heidegger (1889–1976) einmal gesagt hat, vielmehr geduldig um die »Freilegung des Horizonts« der wirklich interessanten Fragen kümmern. (Heidegger 15) Für diesen eigentümlichen Umstand gibt es mehrere Gründe. Sie haben sowohl mit dem Frageinstrument zu tun, also der Behauptung, hier werde philosophisch gefragt, als auch mit dem Gegenstand der Religionsphilosophie, der mit dem eigentümlichen Begriff ›Religion‹ allenfalls grob umrissen ist. Der Begriff ist sogar so umstritten und unklar, dass den damit verbundenen Diskussionen in diesem Band ein eigenes Kapitel gewidmet werden muss. Hier geht es in einer ersten Annäherung um die beiden Phänomene Frageinstrument und Gegenstand.
a) Philosophisch denken Zunächst also zur Behauptung, es handle sich um eine philosophische Disziplin. Was ist damit gemeint und was tun Menschen, von denen man sagt, sie philosophierten? Erste Annäherungen fallen mitunter leicht amüsiert aus: Philosophen und Philosophinnen sind Angehörige einer brotlosen Kunst, so dass die Chance von einem oder einer von ihnen in einer Universitätsstadt im Taxi gefahren zu werden, ziemlich hoch ist. Das liegt daran, dass sie sich für Dinge interessieren, die eigentlich keine Dinge sind und die mit dem, was Menschen brauchen und womit sie tagtäglich umgehen, nichts zu tun haben. Philosophen interessie-
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ren sich für alte und uralte Bücher, von denen sie behaupten, dass sie dennoch nicht veralteten und sie freuen sich daran, auf diesen großen Bücherstapel noch weitere Bände derselben Art aufzuschichten. Wer einmal einen philosophischen Kongress besucht hat, wird feststellen, dass diese Schilderung nicht weiter übertrieben ist. Warum also bringt Philosophie Menschen dieses Schlages zusammen? Und vor allem: Warum finden sie es gut, so zu sein und so zu arbeiten? Zwei Hauptgründe lassen sich benennen, um diese nur scheinbar weltfremde Faszination zu verstehen: In der Philosophie gelten die Prüfkriterien ›wahr‹, ›wirklich‹ und ›sinnvoll‹ Alle vorgetragenen Argumente müssen sich an diesen Prüfkriterien messen lassen – und nur an ihnen. Damit ist zunächst gesagt, dass Philosophie eine Denkdisziplin ist, die mit möglichst wenigen und möglichst allgemeinen Voraussetzungen auskommen will. Niemand kann – und das ist quer durch alle Lager Konsens – ohne Voraussetzung denken. In der Philosophie gilt nun, dass diese Voraussetzungen benannt werden müssen und mehr noch, dass sie den strengen Allgemeinheitskriterien ›wahr‹, ›wirklich‹ und ›sinnvoll‹ zu genügen haben. Das mag selbstverständlich klingen, aber es schließt einige wohl vertraute Denkweisen aus. So gilt zum Beispiel nichts nur deshalb, weil es immer schon gegolten hat, also aus Tradition, und sei die Tradition noch so vertraut und lieb geworden. Auch gilt nichts nur deshalb, weil Menschen es einmal so beschlossen haben, etwa ein Gesetzgeber oder eine verfassungsgebende Versammlung – auch dann, wenn man das Gesetzbuch oder die Verfassung für gelungen hält. Erst recht gilt nichts nur deshalb, weil jemand den Anspruch erhebt, es sei ihm von Gott offenbart worden oder auf eine andere Weise als höhere Wahrheit zuteil geworden, und diese Weise stünde nur ihm oder wenigen zur Verfügung. Tradition also, Behauptung/ Setzung und Offenbarungsanspruch sind klassische Argumentationsfiguren, mit denen die Philosophie immer wieder zu tun hat, deren Gültigkeit sie jedoch bestreitet. Am Ende einer philosophischen Prüfung kann herauskommen, dass etwas, was traditionell gilt, vom Gesetzgeber so beschlossen wurde oder von einer Reli-
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Teil I: Grundbedingung der Religionsphilosophie
gion als Wahrheit verkündet wird, tatsächlich wahr ist; allerdings darf das nicht vorausgesetzt werden, soll es sich tatsächlich um eine philosophische Prüfung von Argumenten handeln. Diese Bestimmung mag man für einigermaßen selbstverständlich halten, und in einer Gesellschaft und Diskussionskultur, die sich aufgeklärt nennt, ist das auch gut so – wenn schon nicht jeden Tag, so doch als kritischer Ruf zur Sache. Die Hintergründigkeit zeigt sich dann, wenn man sich folgendes klarmacht: ›Wahr‹, ›wirklich‹ und ›sinnvoll‹ sind Kriterien, die selbst in ihrer Bedeutung umstritten sind. Beim Kriterium ›wahr‹ etwa verhält es sich so: Recht viele sagen, eine Aussage sei dann wahr, wenn sie mit dem Gegenstand übereinstimmt, den sie abzubilden behauptet. Dieses Verständnis von Wahrheit, die Korrespondenztheorie, geht auf Aristoteles (384–322 v.Chr.) zurück und dürfte im allgemeinen Bewusstsein recht weit verbreitet sein, so weit sogar, dass viele Zeitgenossen kaum auf eine andere Idee kommen würden als diese: Wahre Aussagen bilden Wirklichkeit ab, falsche tun dies eben nicht. Freilich kann man mit guten Gründen auch anders denken. Sie zeigen sich, wenn man die Korrespondenztheorie näher unter die Lupe nimmt: Damit für sie ein Satz wahr ist, muss irgendeine Verbindung zwischen dem Satz und der von ihm beschriebenen Wirklichkeit vorhanden sein, er muss mit angebbaren Gründen auf diese Wirklichkeit bezogen werden können. Wenn es etwa um die Beschreibung eines Hauses geht, das jemand sieht, dann ist ja klar, dass die Sätze, mit denen das Haus beschrieben wird, das Haus nicht einfach abfotografieren oder abmalen. Im Lauf der Entwicklung der Sprache, die der Beschreibende verwendet, kam es vielmehr dazu, dass die Sprecher dieser Sprache Wörter und Sätze auf gleiche Weise verwendeten und so vereinbarten, wie ihre Sprache funktionieren soll. Wer mit Worten ein Haus beschreibt, hat es also nicht nur mit der Korrespondenz seiner Beschreibung an die Sache zu tun, sondern mit einem Beschreibungsinstrument, in dem sehr viel Herkommen, Entwicklung und Vereinbarung enthalten ist. Dieses Moment der Vereinbarung spielt in einer weiteren Wahrheitstheorie die Schlüsselrolle, in der Konsenstheorie der Wahrheit. Nach ihr darf das als wahr gelten, was
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unter fairen Bedingungen von allen an der Wahrheitssuche Beteiligten als wahr ausgemacht wird. Reine Konsenstheorien der Wahrheit fragen skeptisch, ob man den Bezug von Beschreibung zur Sache, den die Korrespondenztheorie behauptet, jemals ohne Beimengungen bekommt. Sie schauen deshalb besonders gründlich auf diese Beimengungen und erklären, sie seien das wahrheitstheoretisch eigentlich Interessante. Es gibt noch weitere Wahrheitstheorien. Mit der konsenstheoretischen ist etwa die Kohärenztheorie der Wahrheit verwandt, nach der eine Aussage dann als wahr gelten kann, wenn sie zu anderen, bereits als wahr erkannten Behauptungen passt und also das Netz der wahren Aussagen entweder vergrößert oder aber verdichtet. – Auf eine vollständige Nennung oder gar Beschreibung der Wahrheitstheorien – in sich ein weites und, je näher man hinsieht, sehr komplexes Feld – kommt es hier nicht an. (Skirbekk, Puntel) Vielmehr sollte gezeigt werden: Das vorgeblich Selbstverständliche, man solle wahr, wirklich und sinnvoll reden, zeigt, wenn man nur etwas genauer hinsieht, wie wenig selbstverständlich es ist. Durch eine kleine Überlegung findet man sich unversehens im Getümmel der Wahrheitstheorien. Ein solcher Effekt ist für den Charakter philosophischer Probleme typisch. Es war wiederum Aristoteles, der gesagt hat, dass der Anfang der Philosophie im sich-Verwundern bestehe. (Metaphysik 1, 13) Bislang sollte klar sein, dass philosophisches Denken sich strenge Allgemeinheitskriterien vorschreibt. Gedanken, die auf anderen Wegen entstehen, müssen deswegen nicht falsch sein, sind aber diesen Prüfkriterien zu unterwerfen. Auf besondere Weise ›typisch philosophisch‹ ist, dass der Blick auf die Prüfkriterien selber Klärungsbedarf hervorbringt. Es ist eben nicht einfachhin klar, was ›wahr‹ heißt. Nicht anders steht es mit ›wirklich‹ und ›sinnvoll‹. Die Diskussionsfelder, die sich bei Analyse dieser Prüfkriterien auftun, sind eher noch weiter und unübersichtlicher. – Freilich sind mit diesen ersten Überlegungen vor allem formale Gedanken geäußert worden: Wie man es eben anstellt, philosophisch zu denken. Höchstens implizit ging es bislang um die Frage, was man denn in den Blick nimmt, wenn man philosophisch denkt.
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Teil I: Grundbedingung der Religionsphilosophie
Philosophie hat es mit Gegenständen zu tun, die von Fachwissenschaften nicht in den Blick genommen werden können, die für die Fachwissenschaften und für Menschen überhaupt aber wichtig sind Um diese – absichtlich vorsichtige – Bestimmung des Inhalts philosophischer Gedanken plausibel zu machen, soll ein Blick auf die Philosophiegeschichte geworfen werden. Rückblicke dieser Art sind weithin üblich, aber man sollte immer dazu sagen, zu welchem gegenwärtigen Zweck sie geschehen, denn Gedanken sollen in ihrer Jetztgestalt den Zeitgenossen einleuchten und sich nicht hinter einem Panzer ideengeschichtlicher Informationen verbergen. Hier bietet sich der Rückgang an, der noch einmal zu Aristoteles führt. Denn der Blick auf sein riesenhaftes Werk fördert Titel zu Tage, die ›typisch philosophisch‹ klingen, so gibt es etwa zwei Werke zur Ethik und – sein wohl bekanntestes – die 14 Bücher der Metaphysik. Andere hingegen klingen für heutige Ohren nicht eben philosophisch, die umfangreiche ›Physik‹ etwa oder ›Die Teile der Tiere‹, eine Art systematischer Biologie, ferner die ›Dichtkunst‹, die unter anderem eine Theorie des Dramas enthält. Für diese drei gibt es seit langem etablierte Einzelwissenschaften und man trifft heute keinen Philosophen mehr, der die Arbeit der systematischen Biologie besser machen will als ein Biologe. Man kann noch eine dritte Gruppe ausmachen, die vielleicht eine Zwischenstellung zwischen den ersten beiden ausmachen, so etwa die ›Politik‹ oder ›Über die Seele‹. An dieser dritten Gruppe lässt sich in erster Näherung zeigen, was ein philosophisches Problem inhaltlich ausmacht. Wir kennen die wissenschaftlichen Disziplinen der Politikwissenschaft und der Psychologie. Aber nicht wenige Menschen, die sich mit der einen oder anderen befassen, stellen sich die Frage, ob die jeweilige Wissenschaft denn alles sagen kann, was für den Themenbereich nötig ist. So ist es in der Politikwissenschaft etwa üblich, die Geschichte und die Veränderung der Parteienlandschaft zu beobachten, verschiedene parlamentarische Systeme zu vergleichen, Wahlprozesse zu beobachten oder den Einfluss zivilgesellschaftlicher Gruppen auf politisches Entscheidungsverhalten zu analysieren. In diesen und anderen Themenbereichen der Politikwissenschaft muss sich auskennen, wer politisch mitreden
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will, schlicht, weil er sonst ein Dilettant ist. Aber von einem verantwortlichen Politiker und/oder politischen Analysten erwartet man mit gutem Grund mehr: So muss er etwa benennen können, was er für gerecht hält, wenn es um die Verteilung von Einkommen oder von Steuerlasten geht. Er muss eine Vorstellung davon haben, was Mündigkeit ist, wenn es ans Wahlrecht geht und zum Beispiel das Wahlalter der Bürger/innen thematisiert wird. Er muss sogar zu besonders kniffligen Fragen Stellung nehmen können, wann menschliches Leben eigentlich beginnt und endet, wenn es um die gesetzliche Regelung der medizinischen Forschung geht. ›Was ist gerecht?‹, ›was ist mündig?‹, ›wann beginnt das menschliche Leben?‹ – das sind Fragen, die mit den historischen und empirischen Methoden der Politikwissenschaft nicht beantwortet werden können und die doch für verantwortliche Politik ganz unumgänglich sind. Und hier zeigt sich, gleichsam an den Rändern einer etablierten universitären Wissenschaft, der Bedarf an Aufklärung zu Themen, mit denen sie zu tun hat, die sie mit ihren eigenen Mitteln aber nicht bearbeiten kann. Bei den hier rasch angetippten Beispielen geht es um Fragen, die in der philosophischen Ethik und der philosophischen Anthropologie verhandelt werden. Sie kommen mitten aus dem politischen Geschäft und führen doch vor das, was kein Geringerer als Immanuel Kant (1724–1804) als zwei der vier philosophischen Grundfragen benannte: Wie soll ich handeln?, und: Was ist der Mensch? Die beiden anderen heißen nach Kant: Was kann ich wissen? Was darf ich hoffen? (Kant 448) – Man braucht nicht viel Phantasie, um im politischen Handeln auch den Bedarf an Aufklärung in Betreff dieser Fragen zu entdecken. Aus dem Alltagsgeschäft einer etablierten universitären Disziplin ragt also der Bedarf an philosophischer Aufklärung gleichsam heraus. Das lässt sich für andere universitäre Disziplinen ebenso zeigen. Die bereits angesprochene Psychologie etwa hat unsere Kenntnisse über menschliches Verhalten und Reagieren enorm erweitert. Das aber tat sie um den Preis, von der ›Seele‹ eben nicht mehr zu reden. Es ist für wissenschaftliche Psychologie sinnvoll, ja unabdingbar, an diesem Punkt sparsam zu sein, weil sie sonst ihre empirischen Befunde gar nicht erheben kann. Aber
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die auf den Gedanken der Seele bezogene Frage ›was ist der Mensch?‹ muss sie dafür unbeantwortet sein lassen. Diese Frage freilich verstummt dadurch nicht. So zeigt der Blick auf die verschiedenen Werkgruppen des Aristoteles: Er interessierte sich teils für Bereiche, für die sich mit guten Gründen wissenschaftliche Einzeldisziplinen entwickelten. Bei anderen, wie den hier angesprochenen Politik und Psychologie war das nur teilweise der Fall: Gerade weil die heutigen Wissenschaften auf ihren Gebieten einen so enormen Wissenszuwachs erzeugten, setzen sie den Bedarf an Fragen aus sich heraus, die sie nicht selbst beantworten können. Bei der zuerst genannten Werkgruppe des Aristoteles stehen diese Fragen gleichsam besonders rein vor uns: Die Frage nach dem rechten Handeln etwa – Gegenstand der Ethik – ist für viele andere Disziplinen und Lebensbereiche relevant, als sie selbst aber ist sie eine philosophische Frage. In den Grenzlagen der etablierten Disziplinen und über sie hinaus also zeigen sich die philosophischen Probleme. Es ist eine weiterführende Frage, ob man eine Sammlung aller philosophischen Probleme in ihrer Zuordnung versuchen kann. Zu manchen Zeiten herrschte diesbezüglich ziemlicher Optimismus, so etwa in den dominierenden Debatten des 19. und des frühen 20. Jahrhunderts. Die entsprechende Form einer solchen Darstellung aller philosophischen Probleme galt der Zuordnungsleistung und Vollständigkeit wegen als System der Philosophie. Denker sehr verschiedener Richtung legten Werke dieser Art vor, so etwa Georg W.F. Hegel (1770–1831) die ›Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften‹ und Karl Jaspers (1883–1969) seine ›Philosophie‹, jeweils in drei Bänden. Heute überwiegt weithin die Skepsis, ob Vollständigkeit an Themen und an innerer Systematisierung überhaupt möglich ist. Weil philosophische Themen als Grenzlagen des Denkens auftauchen, ist es wahrscheinlicher, dass sie nicht in ein vollständiges System gefasst werden können. Sie haben vielmehr etwas Anarchisches und Störendes, das etablierte Diskurse unterbricht.
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b) Religionsphilosophisch denken Der Ort der Religionsphilosophie auf der Grenze Nach diesen vorläufigen Bestimmungen zum Frageinstrument Philosophie muss es jetzt darum gehen, was eigentlich in der Religionsphilosophie thematisiert wird. Dass es sich um Themen handeln sollte, die im Rahmen anderer Disziplinen auftauchen, von ihnen aber nicht adäquat bearbeitet werden können, sollte so weit klar sein. Welche genau es aber sein könnten, ist nicht leicht auszumachen. Man kann dem näher kommen indem man zunächst eine Abgrenzung vornimmt: Religionsphilosophie behandelt Themen, die auch von anderen Disziplinen behandelt werden, aber sie tut dies auf spezifisch philosophische Weise, die im letzten Abschnitt umrissen wurde. Diese anderen Disziplinen sind: Religionssoziologie: Hier geht es um Religion als gesellschaftliches Phänomen. Wie sind Religionen beschreibbar, wenn man ihre Vergesellschaftungsformen analysiert und wenn man fragt, welche Funktion(en) sie innerhalb einer Gesellschaft ausüben? Bis auf sehr wenige Ausnahmen bilden alle Religionen Gemeinschaftsformen aus, bilden religionsspezifische Rollen und Riten aus, haben Institutionen, Gebäude usw. Die Religionssoziologie konzentriert sich ausschließlich hierauf. Nicht ganz selten hat religionssoziologische Literatur einen säkularistischen und religionskritischen Grundton, der aus der Geschichte der Disziplin erklärbar ist. Arbeiten von Rang erliegen ihm nicht einfach, sondern vermögen ihn kritisch zu reflektieren. Religionspsychologie: ›Religiös sein‹ oder ›glauben‹ hat auf die eine oder andere Weise mit dem Erleben einzelner Menschen zu tun. Religionspsychologie erforscht dies Erleben. Sie fragt nach typischen Erfahrungsinhalten, sie nimmt die Entwicklung des Erlebens im Verlauf des Lebens in den Blick und sie fragt gelegentlich auch, ob sich die individuellen Erfahrungsgehalte bei unterschiedlichen Religionen vergleichen lassen. Dabei ist die Religionspsychologie eine empirische Wissenschaft, die also aus einer gewissen Distanz beobachtet und beschreibt. Immer wieder greifen sowohl Verteidiger der Religion als auch ihre Gegner zu
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Teil I: Grundbedingung der Religionsphilosophie
religionspsychologischen Erkenntnissen, das aber ist bereits eine Indienstnahme, die den rein beschreibenden Zugang verlässt. Eine gewisse Parallele dazu weist eine neue Disziplin auf, die unter dem Namen Neurotheologie bekannt wurde: Ihr geht es darum, diejenigen Gehirnaktivitäten namhaft zu machen, die bei Menschen vorliegen, die religiös empfinden. Irreführend ist der Name deshalb, weil es oft nicht um Theologie – also um die Selbstbeschreibung eines Glaubens, s.u. – geht, sondern um Religionskritik, denn mit dem Aufweis von Neuronenaktivitäten bei religiösen Empfindungen geht häufig die Behauptung einher, die religiöse Empfindung beruhe nur auf dieser Aktivität und Gott sei also eine Erfindung des Gehirns. Dieser Anspruch wird weiter unten im Kapitel über den Neuen Atheismus diskutiert. Religionswissenschaft: Religionen sind für diese Wissenschaft Gegenstände wie es z.B. die Geschichte für die Geschichtswissenschaft ist. Sie sind Objekte, die aus der Distanz dessen beschrieben werden, der ihnen nicht angehört, der aber gleichwohl verstehen will, wie sie funktionieren. Sie bildet, auch in historischer Perspektive, den weitesten Rahmen der bislang benannten Disziplinen. Ihre Methoden sind größtenteils historisch, häufig auch philologisch, weil zur Kenntnis einer Religion immer die Kenntnis ihrer normativen Texte in der jeweiligen Ursprache gehört. Häufig arbeiten Religionswissenschaftler auch religionsvergleichend, wenn sie z.B. Parallelen zwischen dem Mönchtum im Buddhismus und dem im Christentum herausarbeiten. Entscheidend ist bei der großen Vielfalt von Methoden und möglichen Gegenständen jedoch, dass es sich um eine Außenperspektive auf den jeweiligen Gegenstand handelt. Erwägungen, die vor allem in der 1. Hälfte des 20. Jahrhunderts angestellt wurden, ob Religionswissenschaft nicht die Theologie aller Religionen zusammen sei, werden heute ganz überwiegend nicht mehr geteilt. Theologie: Wer sie betreibt, befindet sich in der Innenperspektive einer Religion. Die Wahrheitsbehauptungen der Religion werden erforscht, erklärt, dargestellt und verteidigt. Das kann durchaus in kritischer Perspektive stattfinden, so ist ein christlicher Theologe durchaus nicht gesonnen, alles, was z.B. kirchenleitende Persönlichkeiten sagen, einfach zu übernehmen. Seine
1. Wonach fragt die Religionsphilosophie?
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Loyalität gilt dem, was er als Grundlage der Religion erkannt hat. Für das Gespräch mit der Religionsphilosophie ist aus christlicher Perspektive besonders die systematische Theologie wichtig: Im engen Austausch mit anderen theologischen Disziplinen – besonders mit den biblischen Theologien und der historischen Theologie – erklärt sie die Grundwahrheiten des Christentums in ihrem Zusammenhang und erläutert sie so, dass Kirche und Theologie als kritische gegenwärtige Gesprächspartner auftreten können. Religionsphilosophie ist keine dieser Disziplinen. Vielmehr befasst sie sich mit Themen der Religion im Rahmen der im letzten Abschnitt kurz entwickelten Leitlinien. Sie beansprucht strenge Allgemeinheit für ihre Überlegungen und sie nimmt aus dem großen Themenpool ›Religion‹ das wahr, was für andere mit Religion befasste Disziplinen wichtig ist, ohne dass diese es im Rahmen ihrer eigenen Voraussetzungen adäquat erfassen könnten. Verwirrenderweise gibt es dabei aber immer wieder Überschneidungen und Überlappungen: So ist etwa der Weg von einer religionssoziologischen Entdeckung zu der Behauptung, das sage etwas über die Wahrheit von Religion, mitunter sehr kurz. Wer aber an die Beobachtung eines gesellschaftlichen Zustands eine Erörterung über die Wahrheit von Religion anschließt, hat von der beobachtenden Perspektive des Soziologen bereits in den Modus dessen gewechselt, der sich angesichts von Religion die Wahrheitsfrage vorlegt. Diese Perspektive – etwas, was eine Religion sagt oder das ›Ganze‹ der Religion sei wahr oder falsch – ist ein Modus des Sprechens, der von den hier angesprochenen Disziplinen streng genommen nur Theologie und Religionsphilosophie zukommt. Religionswissenschaft beschreibt Bräuche, heilige Texte, Riten oder andere Aspekte von Religionen – aber sie tut das mit dem Pathos der Distanz, als beschreibende und erforschende Disziplin, die von außen herzutritt. Dass das mit größter Sprach- und Sachkenntnis einhergehen sollte, ist dazu kein Widerspruch. Beobachten aber und bekennendes Teilnehmen sind zweierlei. Das gilt auch dann, wenn die Beobachtung durch intensives Herein-
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Teil I: Grundbedingung der Religionsphilosophie
gehen, Mitleben und Teilhabe an den sozialen Vollzügen der beobachteten Religion erfolgt. Entscheidend ist letztlich die Perspektive, aus der betrachtet wird, und hier ist die Grenze zwischen der beobachtenden Perspektive und der des bekennenden Mitvollzugs zwar immer wieder verwischt worden, aber letztlich doch immer zu erkennen. Ähnliches gilt für Religionssoziologie und -psychologie auch. Damit lässt sich der eigentümliche Ort der Religionsphilosophie noch etwas besser bestimmen, und zwar durch eine doppelte Entgegensetzung: Im Gegensatz zu Religionssoziologie, Religionspsychologie und Religionswissenschaft ist sie keine beobachtende Disziplin, sondern erhebt explizite Wahrheitsansprüche in Sachen Religion. Im Gegensatz zur Theologie aber tut sie das nicht aus der bezeugenden Perspektive einer Religion, sondern mit den strengen Allgemeinheitskriterien der Philosophie. Dies ist der eigentümliche Ort der Religionsphilosophie, und man kann ihn durchaus als einen Zwischenzustand oder als einen Ort auf der Grenze beschreiben. Nach Paul Tillich (1886– 1965) ist die Grenze freilich der fruchtbare Ort der Erkenntnis. Um was geht es in der Religionsphilosophie: rationale Theologie oder Philosophie der Religion? Auch hier dürfte sich die Grenze als der fruchtbare Ort der Erkenntnis erweisen. Diesmal ist es allerdings nicht die Grenze zwischen Disziplinen, sondern die zwischen zwei großen Traditionen innerhalb der Religionsphilosophie selbst. Denn was in ihr überhaupt zum Gegenstand werden kann und soll, ist umstritten. Auf die Frage hätte ein Großteil der europäischen Tradition – einschließlich klangvollster Namen – mit wenig Zögern geantwortet: Gegenstand der Religionsphilosophie ist Gott. Gott ist das höchste, absolute Wesen, allwissend, allmächtig, einzig, in sich einfach, unveränderlich und perfekt. Die Aufgabe der Religionsphilosophie ist, das mögliche Wissen von diesem höchsten Wesen zu eruieren, gegen Einwände zu verteidigen und darzustellen. Das kann sehr verschiedene Formen annehmen, die miteinander kräftig im Streit stehen, so etwa die, ob Religionsphilosophie nicht über Götter (im Plural) zu sprechen hätte und nicht nur über die
1. Wonach fragt die Religionsphilosophie?
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Vermutung, es gebe letztlich nur ein höchstes Wesen. Einigkeit aber bestand und besteht darin: Letztlich hat die Religionsphilosophie einen erhabenen, höchsten und letzten Gegenstand. Für diese Position stehen weite Teile des Denkens der Antike, so etwa die auf Platon und auf Aristoteles zurückgehenden Traditionen samt ihrer Adaptionen im jüdischen, christlichen und muslimischen Denken. Thomas von Aquin (1225–1274) zählt ebenso dazu wie eine ganze Reihe prominenter evangelischer Denker im und nach dem Reformationsjahrhundert. Aber auch danach und nach dem schneidenden Einspruch der Aufklärungsepoche (dazu mehr gleich und in Kap. 4) wurde und wird das Programm einer philosophischen Theorie des höchsten Wesens vertreten. Der allerwichtigste Name aus jüngerer Zeit ist Georg W.F. Hegel, es gibt die Programmatik aber nahezu gleichwertig bei denen, die sich auf ihn beziehen wie bei seinen geschworenen Gegnern. Bei denkbar größten Unterschieden in Programmatik und Durchführung eint diese Gruppe von Denkern die Überzeugung: Es ist möglich und geraten, mit den Mitteln der Philosophie das höchste, umfassende und unanschauliche Wesen zu beschreiben oder sich ihm – seiner Unfassbarkeit eingedenk – doch mindestens begrifflich oder metaphorisch zu nähern. Dafür hat sich der Name der rationalen Theologie eingebürgert. Religionsphilosophien mit Nähe zum Christentum verwenden sie in aller Regel, um die Sache des christlichen Glaubens plausibel zu machen, freilich gibt es auch rationale Theologen, die einen allgemeinen philosophischen Gottesbegriff gerade als Kritik am christlichen Gotteskonzept entwickeln, dem sie zum Beispiel Engstirnigkeit, Fanatismus oder wunderliche Sonderlehren vorhalten, wie zum Beispiel die Behauptung, Gott sei in sich drei-einig. Rationale Theologie kann auf eine überaus beeindruckende Geschichte verweisen, sie hat gegenwärtig jedoch eine namhafte Gegenposition. Theoretiker/innen, die rationale Theologie vertreten, beginnen ihre Ausführungen auch sehr häufig mit einer Rechtfertigung, warum etwas dieser Art überhaupt möglich sein soll. Das ist ein recht deutlicher Hinweis auf das konkurrierende Gegenkonzept und darauf, dass dieses offenbar gute Gründe für sich zu haben scheint. Dies Gegenkonzept behauptet: Es ist aus
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prinzipiellen Gründen unmöglich, eine Theorie über Gott aufzustellen oder eine, die sich Gott – wie vorsichtig auch immer – nähert. Das liegt maßgeblich daran, dass Gott, wenn er denn Gott ist, dem menschlichen Begreifen entzogen sein muss. Eine Theorie über etwas, was man nicht begreifen kann, ist aber ein aussichtsloses, oder schärfer noch: ein sinnloses Unterfangen. So hat, aufs Allerkürzeste gesagt, Immanuel Kant der bis dahin gängigen rationalen Theologie das Lebenslicht ausgeblasen. Das Resultat war jedoch nicht Schweigen oder das Ende der Religionsphilosophie als Disziplin. In einer Wendung, die man durchaus als epochal bezeichnen kann, kam die Alternative zum Zuge, die seither und wohl auch in der Gegenwart das dominantere Muster darstellt: Gegenstand der Religionsphilosophie ist nicht Gott, sondern vielmehr der Mensch, weil und sofern er religiös ist. Religion, Religionen, Religiosität, religiöse Erfahrungen und Gefühle – all das lässt sich durchaus beschreiben. Das ist der erste und bahnbrechende Vorteil einer Philosophie der Religion gegenüber einer rationalen Theologie. Dazu kommt, dass Religion/Religiosität (usw.) ein über sich hinaus weisendes Moment hat: Ein Mensch jüdischen Glaubens etwa unterstellt, wenn er betet, dass es Gott gibt. Genauso behauptet jemand, der sich in mystischer Versenkung übt, dass es das ›etwas‹, worin er sich versenkt, tatsächlich gibt, obwohl es begrifflich nicht zugänglich ist. Die Reihe der Beispiele lässt sich leicht vermehren. Sie zeigt: Eine Philosophie der Religion hat die Chance, die indirekte Mitteilung, über das, was direkt nicht zugänglich ist, einzuüben. Nicht nur, aber vor allem aus diesem Grund, sind Religionsphilosophien der Gegenwart in ihrer überwiegenden Zahl als Philosophien der Religion konzipiert. Der Gründervater dieses Typs der Religionsphilosophie ist Friedrich D.E. Schleiermacher (1768–1834). In seinen epochalen ›Reden über die Religion‹ (1799) entwarf er eine Theorie der religiösen Erfahrung und provozierte das theologische Establishment mit dem Satz: »Gott ist nicht alles in der Religion.« (Schleiermacher 2002, 99) In seinem reifen Werk ist das Verhältnis von Religiosität und Gotteskonzept ausbalancierter als in den ›Reden‹, was vor allem an Schleiermachers systematischer Philosophie, der ›Dialektik‹ zu studieren ist. (Schleiermacher 1976, 297–314)
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Von bis heute enormer Wirksamkeit ist ein Buch, das sich teilweise auf Schleiermacher bezieht, Rudolf Ottos ›Das Heilige‹ von 1917. Otto entwirft eine Idee der religiösen Erfahrung und rekurriert dafür auf den Begriff des Numinosen. Sein Buch ist das wahrscheinlich meistgelesene Werk aus Theologie und Religionswissenschaft im 20. Jahrhundert. Ernst Feil legte umfangreiche Studien zur Begriffsgeschichte von ›Religion‹ vor, in der er die zum Teil dramatischen Bedeutungswandel des Begriffs nachzeichnet. (Feil Bd. 1–4)
Beide Typen von Religionsphilosophie partizipieren auf je ihre Weise an demselben Grundproblem: Gibt es eine Instanz über die Welt hinaus – die im jüdisch, christlich und muslimisch inspirierten Denken gewöhnlich ›Gott‹ genannt wird –, so muss sie eben auch über unser Begreifenkönnen hinaus sein. Eine Philosophie der Religion, die sich der Technik der indirekten Mitteilung bedienen kann, scheint hier gegenüber einer rationalen Theologie im Vorteil zu sein. Im Fortgang der Argumentation möchte ich zeigen, dass es gleichwohl falsch wäre, allein den Weg einer Philosophie der Religion zu gehen. Das Motiv der rationalen Theologie ist für eine im jüdisch-christlichen (und recht vermutlich auch im muslimischen) Kulturkreis angesiedelte Religionsphilosophie zu achten, auch wenn man sich genau Rechenschaft ablegen muss, wie mit der genannten Grundschwierigkeit umzugehen ist. Eine Philosophie der Religion allein steht demgegenüber in der Gefahr des Anthropozentrismus und der inhaltlichen Verengung, also der Konzentration auf Möglichkeiten menschlicher Erfahrung allein, die den Zielpunkt der indirekten Mitteilung aus dem Blick verlieren.
2. Den entzogenen Grund denken I. Kant, Kritik der praktischen Vernunft, in: Werke Bd. IV, Darmstadt 1983, 103–302; ders. Kritik der reinen Vernunft, Werke Bd. II, Darmstadt 1985; Platon, Phaidros, in: Werke Bd. 5, bearb. von D. Kurz, Darmstadt Neudruck 2001, 1–193; ders., Politeia (Der Staat), Werke Bd. 4, bearb.
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von D. Kurz, Darmstadt Neudruck 2001; J. Rawls, Geschichte der Moralphilosophie. Hume – Leibniz – Kant – Hegel, Frankfurt/M. 2002. L. Wittgenstein, Tractatus, Logico-Philosophicus, in: Werkausgabe Bd. 1, Frankfurt/M. 51989, 7–85; ders., Vorlesungen und Gespräche über Ästhetik, Psychoanalyse und religiösen Glauben, Frankfurt/M. 22001.
In diesem Kapitel kommen große Vertreter der rationalen Theologie zu Wort. Sie werden daraufhin befragt, wie sie mit der Grundschwierigkeit umgehen, einen ›Gegenstand‹ denken zu wollen, der ein Gegenstand doch nicht sein kann. Es gehört zu den hermeneutischen Selbstverständlichkeiten, anzunehmen, dass ein Autor von Rang etwas, was man als Problem empfindet, selbst eher und deutlicher sah. Der amerikanische Ethiker John Rawls nannte das den Grundsatz, »daß die Autoren, die wir studierten, viel gescheiter gewesen waren als ich selbst. Wären sie es nicht gewesen, warum hätte ich dann meine eigene Zeit (…) mit ihrer Lektüre vergeuden sollen?« (Rawls 17f) Wissend, dass die Lektüre dieser Originale gewiss keinerlei Zeitvergeudung ist, folgt hier der Blick auf drei charakteristisch unterschiedliche Weisen, mit der Grundschwierigkeit der rationalen Theologie umzugehen.
a) Platon: Das blendende Licht und die Macht der Bilder Eines der bekanntesten Stücke aus dem Werk Platons (428–348 v.Chr.) ist das sogenannte Höhlengleichnis. Es ist neben dem Seelenmythos (Phaidros 246a–247e) der Textausschnitt aus Platons Werk, in dem die Grundschwierigkeit der rationalen Theologie in besonders dichter und für ihn besonders typischer Weise behandelt wird. Der Kontext der Argumentation ist in etwa folgender: Sokrates und seine Gesprächspartner beraten in umfangreichen Erörterungen, wie ein ideales Gemeinwesen aussehen könnte. Eine Kernfrage dabei ist, ob der ideale Staat eine Verpflichtung zur Wahrheit hat. Staaten, so könnte man ja durchaus meinen, haben dies nicht: In ihnen gilt das, was das Gemeinwesen leidlich funktionieren lässt und worauf die Bürgerinnen und Bürger sich einigen. In Demokratien etwa geht es nicht um ›Wahrheit‹, sondern um politisches Funktionieren und den guten Kompromiss innerhalb bestimmter grundrechtlicher Grenzen. Das
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freilich, so Sokrates und seine Freunde, soll im idealen Staat nicht so sein (entsprechend kritisch sieht er die Demokratie: Politeia 555b–562a). Die Gesetze und Ideale sollen vielmehr von denjenigen Menschen festgelegt werden, die sich nicht nach der jeweiligen kurzlebigen Mode mal so und mal so verhalten, sondern die »das, was immer/ewig sich gleich bleibt, erfassen können«. (Pol 484b) Diese Menschengruppe aber sind die Philosophen. Das muss gegen einen gewissen modephilosophischen Trend derjenigen gesagt werden, die Philosophie mit gut ankommender Rhetorik verwechseln (nichts übrigens, was es nur zur Zeit Platons gegeben hätte!), auch ist das Erkenntnisstreben eines Philosophen durchaus gefährdet. (Pol 490d–495b) Ist das aber geklärt, so kann man sagen: Ein von Philosophen eingerichteter Staat wird nicht nach bloßer Tradition oder nach gerade vorhandenen Machtkonstellationen leben. Die Philosophen werden vielmehr daran gehen, ihn nach Maßgabe des »natürlicherweise Gerechten, Guten und Besonnenen« einzurichten. (Pol 501b) Wer einen philosophisch geführten Staat möchte, muss also akzeptieren, dass er nur von denen geleitet wird, die in besonderer Weise befähigt sind. Er/sie bekommt dafür aber die Garantie, dass dieser Staat auf den Wahrheiten der Gerechtigkeit, des Guten und der klugen Abwägung aufruht. Der nächste große Gedankenschritt fragt, worin diese Wahrheiten denn nun bestünden. Eine verzweigte und auch auf andere Dialoge Platons ausgedehnte Argumentation bringt an den Tag, dass das Konzept des ›Guten‹ der wichtigste Wahrheitsbesitz ist, den jemand haben kann. Die einfachste Begründung dafür geht so: Man muss sich nur vorstellen, von einem Gegenstand alle Exemplare zu besitzen, die es überhaupt gibt, gleich ob es sich um eine Süßigkeit handelt, eine CD oder einen Tisch. Wüsste der Besitzer all dieser Dinge nicht, welches oder welche davon gut sind, dann hätte er nur einen unübersehbaren Berg an Dingen, aber er hätte im Wortsinne nichts, was zu besitzen sich lohnt. Aus diesem Grund ist die Fähigkeit, aus dem unüberblickbaren Heer von Gütern diejenigen herausfinden zu können, die ›gut‹ genannt zu werden verdienen, die herausragendste aller Eigenschaften. (Pol 505a–b)
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Was das Gute nun näherhin ist und wie man zu ihm gelangt, muss offenbar der Kern der Erörterung sein. Hier nimmt das in der Politeia berichtete Gespräch eine eigentümliche Wendung. Die diskursive und traditionskritische Erörterung der langen Abschnitte zuvor wandelt sich zu einer Reihe von drei Gleichnissen, dem Sonnengleichnis, dem Liniengleichnis und eben dem wohlbekannten Höhlengleichnis. Die ersten beiden (Pol 506b–511e) gehören in die Erörterung dessen, was das Gute an sich ausmacht, das Höhlengleichnis baut hierauf auf, fokussiert aber auf diejenigen, die sich die Erkenntnis des Guten zur Lebensaufgabe machen, also auf die Philosophen. Es erzählt folgendes: Ganz normale Menschen meinen, dass sie es in ihrem ganz normalen Leben mit realen Dingen und Weltzuständen zu tun haben. Das ist jedoch ein Irrtum, denn sie sehen nur flüchtige Schatten. Die Menschen sind, entgegen ihrer Annahme, nämlich wie gefesselte Gefangene in einer Höhle. Was sie für die realen Gegenstände halten, sind Schatten, die an eine Wand in der Höhle projiziert werden, indem jemand außerhalb der Höhle Gegenstände vorbeiträgt und ein ebenfalls außerhalb brennendes Feuer jene Schatten erzeugt. Da niemand diese Höhle verlässt, ist die Einigkeit über die Realität dessen, was doch nur Schatten sind, komplett. Nun könnte es aber sein, dass jemandem die Fesseln abgenommen würden und er gezwungen würde, sich der Lichtquelle zuzuwenden. Das ist für diesen Menschen freilich keine Erleichterung oder Befreiung, sondern zunächst eine große Irritation, weil die Selbstverständlichkeit dessen, was für real gehalten werden darf, damit durchbrochen wird. Dieser Einzelne wird nun mit Gewalt aus seiner gewohnten Umgebung gerissen und aus der Höhle geführt. Er muss einen unwegsamen und steilen Aufgang nehmen, bis er ganz ans Licht der Sonne kommt. Erst allmählich gewöhnen sich seine Augen an dieses Licht. Er sieht die Schatten, die die anderen Menschen für Realität halten, die anderen Dinge, schließlich sogar das, was am Himmel ist und den Himmel selbst. Es ist ihm sogar vergönnt, die Sonne zu sehen und »er wird es schon schaffen, herauszufinden dass sie Zeiten und Jahre hervorbringt und allem im sichtbaren Raum die Ordnung gibt und auch von dem, was dort sichtbar ist, die Ursache ist.« (Pol 516b–c) Da er dies erkannt hat, bemerkt er, wie vollständig die anderen Menschen irren, die darum wetteifern, das am besten zu erkennen und für real zu halten, was doch nur Schatten sind. Kehrt derjenige, dem es vergönnt war, die Sonne zu sehen, wieder in die Höhle zurück, so wird ihm dort vorgehalten werden, dass er sich die Augen
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verdorben habe und dass es nicht lohnt, diesen beschwerlichen und irritierenden Aufstieg zu unternehmen. Mehr noch: Jeden, der einem diese irritierenden Erkenntnisse antun will, muss man fangen und umbringen. (Pol 514a–517a)
Dieses Gleichnis gibt vielfach Auskunft, selbst dann, wenn wir uns nur auf die Aspekte konzentrieren, die es zur Grundschwierigkeit der rationalen Theologie beisteuert, das Undenkbare denken zu wollen. Folgendes ist hier mindestens zu nennen: (1) Es ist radikal unwahrscheinlich, den höchsten aller Gegenstände überhaupt zu Gesicht zu bekommen, weil man sich dafür von tief eingewurzelten Vorstellungen über das, was wirklich ist, befreien muss. Genauer: Man muss davon befreit werden – das Gleichnis spricht ausdrücklich davon, dass der Einzelne, der die Höhle verlässt, dies nicht aus eigenem Antrieb, sondern gezwungenermaßen tut. Auch wird er bei Rückkehr auf die geballte Feindschaft seiner Mitmenschen treffen. (2) Die Erkenntnis der höchsten Wahrheit ist mühsam, schmerzhaft und ein langer Prozess, der wortwörtlich als ein zurückzulegender Weg beschrieben wird. (3) Die Erkenntnis der höchsten Wahrheit geschieht nicht isoliert, sondern ist eingebettet in die Schau der Weltgegenstände und des Himmels. Sie ist also der Abschlusspunkt einer Gesamtorientierung, welche die Täuschungen des ganz normalen Lebens hinter sich lässt. (4) Die Erkenntnis der höchsten Wahrheit selbst ist keine Erkenntnis im begrifflichen Sinn: Der Philosoph sieht für einen Augenblick in die Sonne. Er hat also einen kurzzeitigen optischen Eindruck, eine Vision. Dass sie es ist, die alles ordnet und allem seinen Platz gibt, wird im zitierten Satz aus dem Höhlengleichnis ausdrücklich als ein nachgelagerter Schluss bezeichnet, und überdies als einer, der keine notwendige Folge anzeigt, sondern von dem man annehmen muss, dass es klappen wird. Eine Vision und eine gar nicht sicher stattfindende, nachgelagerte Schlussfolgerung machen also den Kern der Sache aus. (5) Die Erkenntnis des Philosophen macht einsam: Die Erkenntniswettbewerbe seiner Mitmenschen findet der Philosoph ab jetzt albern, auch wird er seiner Aussagen wegen von ihnen für verrückt erklärt und mit dem Tode bedroht. (6) Über den höchsten aller Gegenstände selbst wird nur gesagt, dass er die Sonne ist; eine
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Theorie seiner Eigenart liegt nicht vor, wohl aber Schlussfolgerungen, die seine Tätigkeiten und Effekte betreffen. Das wird (7) noch dadurch unterstrichen, dass das Höhlengleichnis insgesamt den Werdegang des Philosophen beschreibt. Es ist also mindestens eine Mischform aus rationaler Theologie und Philosophie der Religion, weil es deutlich macht, dass die rationale Theologie nur über den Weg der Religion des Philosophen erschwinglich ist. Diese Elemente können durchweg als Ausdruck dessen gelesen werden, wie radikal unwahrscheinlich, schwierig und letztlich gar nicht begrifflich die ›Erkenntnis‹ der letzten und höchsten Wahrheit ist. Dazu kommt noch (8) die Beobachtung zur Darstellungsweise: Der platonische Sokrates entwickelt nicht eine Theorie, sondern wechselt am Gipfelpunkt seiner Argumentation ins Medium der Erzählung und des Gleichnisses. Das geschieht an entscheidenden Argumentationsstellen im Werk Platons öfter und ist also kein Zufall. Vielmehr scheint hier zu gelten: Erkenntnisse höchster Rangordnung sind nicht begrifflicher Natur. Der Weg zu ihnen ist nur im Bild beschreibbar.
b) Kant: Gott ist kein Gegenstand, aber denknotwendig In einem ganz anders gelagerten intellektuellen Klima bearbeitet Immanuel Kant (1724–1804) genau dasselbe Problem wie Platon, weshalb es reizvoll ist, die Position der beiden Denker unmittelbar nebeneinander zu stellen. Kant gilt gewöhnlich – gleich, ob das lobend oder kritisch gemeint ist – als der Philosoph der Aufklärung. Freilich ist er es in einem besonderen Sinn. Die große kritische Gedankenkraft, mit der die Aufklärung an Traditionen, Religion, Regierungsformen usw. herangegangen war, findet Kants Beifall. Er geht aber einen entscheidenden Schritt weiter: Diese Fähigkeit zum kritischen Denken darf sich nicht nur nach außen – eben an Tradition, Religion, Politik usw. – wenden, ihr erster Adressat ist der Denkende selbst. Erst als Selbstkritik ist Kritik wirklich in ihr Reifestadium gekommen. Damit traf Kant einen wunden Punkt der Aufklärungszeit. Es war unbestritten viel nützliche Kritikarbeit geleistet worden. Das Kritikinstrument dabei aber war so gut
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wie nicht selbst zum Gegenstand gemacht worden. Genau das ist das Programm, das Kant sich für seine kritische Philosophie gibt: Die Vernunft selbst muss analysiert werden, ihre spezifische Leistungsfähigkeit und damit aber auch die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit müssen analysiert werden. Diese Arbeitsaufgabe spiegelt sich im Titel der drei Bücher wieder, die für das Programm stehen: Die ›Kritik der reinen Vernunft‹ (KrV) analysiert die reine = theoretische Vernunft, also das Vermögen zur Beobachtung und zum Ziehen von Schlüssen, die ›Kritik der praktischen Vernunft‹ (KpV) fragt nach dem Praktischwerden der Vernunft, also nach moralischen Entscheidungen, die ›Kritik der Urteilskraft‹ (KU) analysiert Wert- und Geschmacksurteile. In Sachen Gottesbegriff fallen die wichtigsten Grundentscheidungen in der KrV und spielen dann zu einer Grundentscheidung der KpV hinüber. Die Vorrede zur 2. Auflage der Kritik der reinen Vernunft ist eine separate Lektüre wert, weil sie in der relativen Kürze von 21 Seiten eine programmatische Kurzerklärung des kritischen Programms enthält. Mit Blick auf die ziemlich bewegte Aufnahme der 1. Auflage umreißt Kant hier die wesentlichen Elemente seines über siebenhundert Seiten langen Werks. In dieser Vorrede nun steht der oft zitierte Satz: »Ich mußte also das Wissen aufheben, um zum Glauben Platz zu bekommen«. (KrV B XXX) Ein unerhörter Satz, der – wie zu sehen sein wird – bis heute Aufmerksamkeit erhält und nicht unwidersprochen bleibt. Für Kant steht er in folgendem Zusammenhang: Könnte ich von Gott etwas wissen, könnte ich Gottes Existenz belegen, könnte ich seine Eigenschaften beschreiben usw., dann könnte Gott nicht Gott sein. Warum? Menschliche Erkenntnis, so Kant, geht auf Gegenstände der Erfahrung und auf mögliche Gegenstände der Erfahrung. Sie bezieht sich also auf Dinge und Weltzustände, die man sehen, messen, wiegen oder sonstwie zur Erfahrung bringen kann oder von denen man doch mit guten Gründen vermuten darf, dass sie Gegenstand von Erfahrung werden könnten (so ist es z.B. wenn die theoretische Physik die Existenz eines Materieteilchens postuliert und der Nachweis seiner Existenz wegen des enormen apparativen Aufwands erst später erfolgt; dergleichen ist recht häufig vorgekommen). Was ich erkenne, erkenne ich aber anhand
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von Gesetzmäßigkeiten, eben indem ich es messe, wiege oder sonstwie zur Erfahrung bringe. In Sachen Gotteserkenntnis stellen sich dann gleich zwei Schwierigkeiten: Erstens, kann er überhaupt unter die Gegenstände tatsächlicher oder möglicher Erfahrung gerechnet werden? Und zweitens, wäre Gott noch Gott, wenn wir ihn so beobachten, wie wir beobachten können, nämlich anhand von Gesetzmäßigkeiten? Beide Fragen muss man im Sinne Kants verneinen. Um mit der zweiten zu beginnen: Was ich anhand von Gesetzmäßigkeiten beobachte, kann nicht frei sein. Ich sehe ja Regelmäßigkeiten und Anwendungsfälle von Naturgesetzen, ich sehe also das, was Kant an vielen Stellen den ›Naturmechanism‹ nennt. Gott als Anwendungsfall von Gesetzen und dem ›Naturmechanism‹ unterliegend? Mit der Idee, dass Gott frei, allmächtig usw. ist, geht das offenbar nicht zusammen. Zur ersten Schwierigkeit ist zu sagen: Wäre Gott ein Gegenstand möglicher oder tatsächlicher Erfahrung, dann wäre er Teil der Welt. Das aber ist ein direkter Widerspruch zur Basisannahme über Gott, gleich ob sie aus griechisch-philosophischer oder aus biblischer Richtung kommt: Gott steht der Welt gegenüber, er ist kein Teil von ihr. So bleibt nur der Schluss: Ist Gott, so ist er kein Teil der Welt. Deshalb kann es auch keine Kenntnis über ihn geben. Die philosophischen Gotteslehren, die viel über ihn zu wissen meinten, sind dann aber gänzlich falsch. Sie geben vor, in einem Bereich Kenntnisse zu haben, in dem man aus den eben kurz genannten Gründen keine Kenntnis haben kann. Diese Vorspiegelung von Kenntnis nennt Kant Dogmatismus. Das eben gegebene Zitat heißt im Ganzen und aus diesen Erläuterungen in eckigen Klammern ergänzten Satz so: »Ich mußte also das [falsche, nur vorgespiegelte] Wissen aufheben, um zum Glauben Platz zu bekommen [denn etwas, was ich erkenne, wäre nicht Gegenstand meines Glaubens], und der Dogmatismus der Metaphysik, d.i. das Vorurteil, in ihr ohne Kritik der reinen Vernunft [ohne die beschriebene Selbstkritik] fortzukommen, ist die wahre Quelle alles der Moralität widerstreitenden Unglaubens, der jederzeit gar sehr dogmatisch ist [und damit Wissen behauptet, wo es nichts zu wissen gibt].« (KrV B XXX)
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Dieses Ergebnis war (und ist) ein harter Schlag: Selbstkritische Vernunft erkennt, dass es in Sachen Gott nichts zu wissen gibt. Kant baut dieses Argument aus, indem er – im Gestus schon fast genüsslich und nicht ohne Humor – einen Gottesbeweis nach dem anderen (vgl. unten Kap. 4) zerpflückt und für untauglich erklärt. (KrV B 611–671) Ist also das das Ergebnis: Rationale Theologie ist aus und vorbei, weil sie etwas zum weltlichen Gegenstand machen muss, was nun mal kein weltlicher Gegenstand ist? Kant ist so gelesen worden und (nicht nur) das hat ihm das Epitheton ›Alleszermalmer‹ eingebracht. Und doch stimmt es nicht. Es gehört zur Größe – oder, wenn man unter die Kritiker seines Werks zählt, die es selbstverständlich bis heute gibt – zur Inkonsequenz seines Werks, dass er zwischen der Idee Gottes und einer ihn beschreibenden Theorie unterscheidet. Letztere kann es nicht geben, die erstere ist sehr wohl nötig. Zu dieser auf den ersten Blick überraschenden Wendung führen zwei Gedankenspuren: (1) Die theoretische – bei Kant: die reine – Vernunft braucht die Idee Gottes. Denn sie muss annehmen, dass ihre Erkenntnis sich irgendwie erfolgreich auf Wirklichkeit bezieht. Das kann sie nicht selbst kontrollieren und deswegen muss sie setzen, dass es eine Größe gibt, die sowohl die Vernunft als auch die gesamte Welt und ihren Inhalt kennt. Das kann kein Teil der Welt sein und muss also Gott sein. – Notabene: Die Vernunft weiß nicht, ob es diesen Gott gibt. Sie muss es um ihrer selbst willen als gültig behaupten und also setzen. Kant nennt dies Gott als ›regulative Idee‹ und achtet sorgfältig darauf, aus dieser Idee Gottes keine Theorie über ihn werden zu lassen. (KrV B 672 u.ö.) (2) In einem Gedankengang, der so in der Kritik der reinen Vernunft nicht angelegt ist, kommt Kant im Rahmen der Kritik der praktischen Vernunft auf Gott zu sprechen. Er führt dort aus, dass die einzig akzeptable Ethik eine ist, die aus Vernunft agiert. Ich soll nur und ausschließlich das tun, was die Vernunft mir gebietet. Kant nennt das: Pflicht. Und nun wird, wer ausschließlich pflichtmäßig lebt, die Erfahrung machen, dass nicht er, sondern die Schufte in der Welt den Erfolg und den Lebensgenuss davon tragen. Soll er also aufhören, pflichtgemäß zu leben und
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wie die anderen mittels kleinerer und größerer Gaunereien dem Glück hinterherjagen? Kant lehnt das ab und sagt: Wenn es vernunftnotwendig ist, nach der Pflicht zu leben, dann ist es auch vernunftnotwendig anzunehmen, dass eine Welt entsteht, die dem Leben aus der Pflicht entspricht. Da die – gewiss nicht allzu vielen – Pflichtmenschen diese Welt aber nicht hervorbringen können, ist es vernunftnotwendig anzunehmen, dass es eine Instanz gibt, die diese Welt hervorbringt. Das muss Gott sein. (KpV A 226) – Wiederum ist das nur eine Idee, eine Setzung der Vernunft und kein Beweis. In beiden Fällen kommt es für Kant also darauf hinaus: Eine beschreibende Theorie Gottes kann es nicht geben – hier muss die Vernunft von einer lange gepflegten Tradition Abschied nehmen und so weit ist die Rede vom ›Alleszermalmer‹ gewiss schon richtig. Aber es bleibt nicht beim schneidenden Nein, vielmehr sieht die Vernunft ein, dass sie um ihrer selbst willen, in theoretischer wie in praktischer Hinsicht die Idee Gottes braucht. Wo stehen wir? Zwei Antworten auf dieselbe Grundfrage sind in aller Kürze vorgestellt worden: Wie kann ich vom letzten Grund, vom höchsten Wesen sprechen, wenn es doch zum letzten Grund oder höchsten Wesen gehört, über mein Begreifenkönnen hinaus zu sein? Platon antwortete darauf, indem er keine Gottestheorie entwarf, sondern von einer Vision sprach, die zu erlangen sehr mühsam ist und die überdies nur als Moment im Lebensweg eines Philosophen verstehbar wird und also isoliert überhaupt keinen Sinn machen würde: Diese rationale Theologie ist nur in Verschränkung mit der Philosophie der Religion des Philosophen verstehbar – und umgekehrt. Bei Kant liegen die Dinge anders, und doch gibt es eine überraschende Ähnlichkeit: Aus Gründen der Erkenntnistheorie räumte er mit einer rationalen Theologie als Theorie über Gott radikal auf; den Gedanken einer Vision Gottes würde er wohl als Geisterseherei abgetan haben. Und doch ist, wie eben zu sehen war, die Idee Gottes für die selbstkritische Vernunft ganz unverzichtbar. In ihrer zweiten Variante, also mit Blick auf die Kritik der praktischen Vernunft, steckt die relative Nähe zu Platon: Ein pflichtgemäß Handelnder lebt mit der – un-
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beweisbaren – Annahme, dass Gott existiert. Seine Ethik und damit sein alltäglicher Weltumgang ruhen auf dieser Annahme auf. Es ist keine Gewaltsamkeit zu sagen, dass es sich dabei um so etwas wie die Religion des Philosophen kantischer Prägung handelt. Beide Male haben wir es mit einer rationalen Theologie zu tun, die deren Grundanliegen – wir sollen mit philosophischen Argumenten von Gott reden – teilt, die das in der Durchführung aber auf eigentümliche Weise durchstreicht und verändert: im nur im Bild auszusagenden Verweis auf den beschwerlichen Lebensweg des Philosophen und in der Selbstkritik, die alle Gottesrede auf ein Postulat, er existiere, zusammendrängt. Das mag als ein erstes Arbeitsergebnis in Sachen rationaler Theologie durchgehen. Die Bandbreite der klassischen Lösungen zu diesem Thema ist freilich noch um einiges größer. Zum Schluss dieses Kapitels soll deshalb noch eine Position zu Wort kommen, die im 20. Jahrhundert zu einiger Prominenz gelangte und auch in den gegenwärtigen Diskussionen um eine Erneuerung der rationalen Theologie (vgl. Kap. 9) diskutiert wird – wenn auch vornehmlich kritisch.
c) Wittgenstein: Vom wirklich Wichtigen lässt sich nichts sagen Ludwig Wittgenstein (1889–1951) gehört zu den ganz wenigen Denkern, die gleich zwei namhafte Richtungen des Philosophierens angestoßen oder doch mit wesentlichen Impulsen versehen haben. Sein Frühwerk ›Tractatus Logico-Philosophicus‹ (1921/1922) ist ein Schlüsselbuch für diejenige Philosophie, die sich der formalen Logik und einem engen Bezug zur Empirie verschrieben hat und für die die klassischen Themen der Metaphysik und auch der rationalen Theologie fern und absurd klingen. Nach gedanklichen Umbruchphasen arbeitete Wittgenstein bis zwei Jahre vor seinem Tod an den ›Philosophischen Untersuchungen‹ (erschienen postum 1952). Dieses Werk hat eine ganz andere Richtung der Philosophie inauguriert, die Philosophie der normalen Sprache. Die Philosophischen Untersuchungen haben in der Theologie – vor allem im evangelischen Bereich – teilweise interessierte Aufnahme gefunden. Das ist durchaus erstaunlich,
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weil religiöse Themen in ihnen so gut wie keine Rolle spielen. Durchaus anders ist das im Tractatus. Für die Frage nach der Darstellbarkeit des Nicht-Darstellbaren ist ein Blick darauf lohnend, weil Wittgenstein die bei Kant erkennbare Tendenz durchaus noch einmal verstärkt, dabei aber eigene Akzente setzt. ›Der Tractatus‹, wie das Buch, das sein Autor selbst als ›Logisch-Philosophische-Abhandlung‹ betitelte, stets genannt wird, ist ein genauso schmales wie außerordentlich streng komponiertes Buch. Auf unter 80 Seiten legt Wittgenstein unter anderem eine Ontologie, eine Satztheorie, eine Wahrheitstheorie und anderes vor. Die argumentative Struktur ist dabei völlig in die hierarchische Bezifferung der einzelnen Sätze integriert, so dass Satz 1 von Satz 1.1 erläutert wird usw. Das Buch hat sieben Hauptsätze und eine fein gegliederte Hierarchie von mehreren hundert Unter-Sätzen. Bereits hier zeigt sich die strenge Richtung der analytischen Philosophie, die auf logische Nachvollziehbarkeit der Gedankenführung großen Wert legt.
Auf den ersten Blick könnte man meinen, dass der Tractatus an Themen der Religion keinerlei Interesse haben dürfte. Denn in ihm wird die Anschauung des logischen Atomismus vermittelt: Die Welt ist ein großes gegliedertes Ganzes. Die einzelnen Teile der Welt kann man Dinge oder Gegenstände nennen. Sie treten in sehr vielen verschiedenen Gruppierungen auf, die Wittgenstein Sachverhalte nennt. Die Gesamtheit aller Sachverhalte macht die Welt aus. Einzelne Sachverhalte sind voneinander unabhängig und man kann nicht von einem Sachverhalt auf den nächsten schließen. (2.061 und 2.062) – Das ist bereits die Grundintuition des logischen Atomismus, nach dem wir uns die Welt als Ensemble relativ unverbundener Dinge und Zustände denke sollen, eben als riesiges Aggregat von selbständigen Atomen. Dieser Welt korrespondiert die menschliche Fähigkeit zur Erkenntnis. Freilich kann als Erkenntnis nur das gelten, was die Struktur der Gegenstände, Dinge und Sachverhalte abbildet. Wahre Sätze sind also Abbilder der Wirklichkeit. Die einfachsten dieser Sätze werden – im Tractatus nicht dem Begriff, aber der Sache nach – oft als Protokollsätze bezeichnet, weil es ihre Aufgabe ist, ein kleines Stück Wirklichkeit getreu abzubilden. (2.18) Neben diesen Protokollsätzen sind nur noch solche Sätze wahr-
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heitsfähig, die als logische strenge Ableitungen aus ihnen hervorgehen. Das damit verbundene Ziel ist: Eine Sprache, die mit Protokollsätzen beginnt und nur logische Ableitungen aus ihnen zulässt, ist wahres Reden über den Zustand und Inhalt der Welt. Alles andere Sprechen – das es ja in größter Zahl und Variationsbreite gibt – ist demgegenüber pure Phantasie und nicht wirklichkeitshaltig. Diese philosophische Stoßrichtung war vor allem gegen die spekulativen und metaphysischen Richtungen der europäischen Philosophie gerichtet, die Ideen für das eigentlich Wirkliche hielten und den Kontakt zur empirisch fassbaren Wirklichkeit entsprechend gering schätzten. Ihnen sollte gezeigt werden, dass es sich um nicht mehr als Phantasie und Geisterseherei handelte. Ein von der gesamten Richtung des logischen Atomismus durchaus gewünschter Nebeneffekt war, dass die Rede von Gott und Religion in der Philosophie keinerlei Rolle mehr spielen sollte, weil ihre Sätze ja evidenterweise nicht als Protokollsätze von einfachsten Dingen, Gegenständen und Sachverhalten beginnen und daraus logische Ableitungen vornehmen. Es gehört – auch und zumal für die ersten Rezipienten des Tractatus in den 1920er Jahren – zum Überraschenden des Werks, dass in ihm sehr wohl von Ethik, Gott, Religion und sogar von Mystik die Rede ist. Möglich oder sogar zwingend wird das für Wittgenstein, weil es die Unterscheidung zwischen Sagen und Zeigen gibt. Sinnvollerweise sagen kann man nur Sätze, die die Wirklichkeit protokollieren, sowie Ableitungen von diesen Sätzen. Es gibt aber noch mehr in der Welt, was Menschen durchaus brauchen und worauf sie rekurrieren. So muss zum Beispiel, wer Protokollsätze anfertigt, davon ausgehen, dass die Form seiner Sätze und die Form derjenigen Wirklichkeit, die von ihnen abgebildet wird, identisch sind. Dass das so ist, darüber kann kein sinnvoller Protokollsatz gebildet werden, es muss sich vielmehr zeigen. So ist bereits die Formulierung eines Protokollsatzes darauf angewiesen, dass es die Unterscheidung zwischen Sagen und Zeigen gibt. Die Unterscheidung zwischen Sagen und Zeigen ist aber noch für ganz andere Bereiche wichtig, so zum Beispiel für die Ethik: Dass es Ethik gibt, ist irgendwie klar, denn Menschen müssen sich ver-
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halten und sie müssen sich dabei – nicht immer, aber oft genug – entscheiden. In den logisch bildbaren Sätzen kann die Ethik aber nicht enthalten sein, weil diese ein Abbild der Gegenstände der Welt darstellen und weiter nichts. Folgerung: »Darum kann es auch keine Sätze der Ethik geben. Sätze können nichts Höheres ausdrücken.« (6.42) Ich kann in sinnvollen Sätzen nicht über Ethik sprechen. Gibt es sie also nicht? Im nächsten erläuternden Satz sagt Wittgenstein: »Es ist klar, daß sich die Ethik nicht aussprechen läßt.« (6.421) Die Schlussfolgerung heißt also: Nur weil sich etwas nicht sagen lässt, heißt es noch lange nicht, dass dies ›etwas‹ nicht existiert. Es gehört allerdings dem Bereich des Zeigbaren, nicht dem des Sagbaren an. Diese Bestimmung wendet Wittgenstein auch auf den Bereich dessen an, was er im Tractatus Mystik nennt und was mit Religion in etwa deckungsgleich ist. Mystik bzw. das Mystische ist geradezu das Paradebeispiel für die Unterscheidung zwischen Sagen und Zeigen: »Es gibt allerdings Unaussprechliches. Dies zeigt sich, es ist das Mystische.« (6.522) Und was ist dann das Mystische? Wittgensteins erste Antwort ist knapp und vielleicht enttäuschend: »Zu einer Antwort, die man nicht aussprechen kann, kann man auch die Frage nicht aussprechen.« (6.5) Das ist, hält man sich die Satztheorie des Tractatus vor Augen, konsequent. Freilich geht Wittgenstein in einigen Andeutungen doch weiter. Wie kann sich etwas zeigen, das außerhalb der sinnvollerweise bildbaren Sätze liegt? Es kann sich nicht auf Teilbereiche der Welt beziehen, weil diese ja in Protokollsätzen beschreibbar wären. Also muss es mit dem Ganzen der Welt zu tun haben. Wittgenstein rekurriert auf die Erfahrung, dass zwei Menschen genau dasselbe sehen und dabei doch ganz andere Empfindungen haben können: »Die Welt des Glücklichen ist eine andere als die Welt des Unglücklichen.« (6.43) Es geht also um eine Einstellung zur Welt überhaupt. Sie kann sich, so viel sollte klar sein, nur zeigen. In logisch sinnvollen Sätzen kann sie nicht debattiert werden. Und doch ist unabweisbar, dass es solche Einstellungen gibt und dass jeder Mensch so oder so dem Ganzen der Welt gegenüber eingestellt ist. Wer sich in einer Einstellung vorfindet, die das Ganze der Welt dankbar und stau-
2. Den entzogenen Grund denken
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nend hinnehmen kann, dürfte den Satz mitsprechen können: »Nicht wie die Welt ist, ist das Mystische, sondern daß sie ist.« (6.44) Und was, so suggeriert er damit, wäre wichtiger als dies? Mehr inhaltliche Auskunft gibt der Tractatus zum Mystischen kaum. Wittgenstein deutet noch an, dass sein Mystikverständnis etwas mit Gott zu tun hat, (6.432) und er beendet sein Buch mit dem Hinweis, dass er, um sinnvolle Sätze möglich zu machen, lauter sinnlose sagen musste. (6.54) Der Beitrag des frühen Ludwig Wittgenstein zum in diesem Kapitel verhandelten Grundproblem lässt sich anhand von zwei Beobachtungen einordnen: (1) Wittgenstein verschärft den bei Immanuel Kant anzutreffenden Zug noch einmal: Eine Lehre über Gott kann es wirklich nicht geben. Das geht für ihn sogar so weit, dass auch eine regulative Idee namens ›Gott‹, die es bei Kant ja gibt, sinnlos ist. Die erkenntnistheoretischen Annahmen – also die Frage, wie und worüber sinnvolle Sätze gebildet werden können – sind bei Kant und Wittgenstein unterschiedlich, die Grundtendenz in Sachen Unaussagbarkeit Gottes aber ähnlich und bei Wittgenstein noch weiter getrieben. (2) Wittgenstein identifiziert, wie eben gesehen, ›das Mystische‹ und die grundlegende Haltung zur Welt: Bei identischem Inhalt der Welt ist die Welt des Glücklichen eine andere als die des Unglücklichen. Gott/Mystik und die Haltung zur Welt sind also eng miteinander verbunden. Dieses Motiv gibt es bei Kant nur recht indirekt: Für ihn ist die Annahme, Gott existiere, eine notwendige Implikation der Ethik. Man soll aber nicht auf Gott schauen und sich Belohnungen erhoffen, sondern nur und ausschließlich pflichtgemäß handeln. Wittgenstein bringt also den Bezug auf Gott/Mystik und das, was man mit einem ungeschickten Wort das Lebensgefühl nennen könnte, näher zusammen als Kant. Damit erreicht er eine Wiederannäherung an die Konstellation, mit der dies Kapitel begann: Für Platon ist der Bezug zum Höchsten ja nur aussagbar, indem der Lebensweg und damit auch die vielfältigen Erfahrungen des Philosophen in den Blick genommen werden. Irgendwie, so scheint es, gehören beide zusammen: Die Unnennbarkeit Gottes auf der einen Seite und der Umstand, dass
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genau damit Erfahrungen verbunden sind, die etwas mit Orientierung, Ausrichtung des Lebens und mit der Wirklichkeit als ganzer zu tun haben. Dieser Konnex – Unnennbarkeit Gottes auf der einen Seite und damit verbundene Orientierung auf der anderen – ist damit erst anfänglich benannt und absichtlich vage umschrieben. Er wird sich für den religionsphilosophischen Gedanken als zentral erweisen, der im nächsten Kapitel vorgestellt wird.
3. Negative Theologie Theodor W. Adorno, Jargon der Eigentlichkeit. Zur deutschen Ideologie, Frankfurt/M. 1964; ders., Negative Dialektik, Frankfurt/M. 51988. Benedikt XVI., Glaube und Vernunft. Die Regensburger Vorlesung. Vollständige Ausgabe, Freiburg 2006; J. Derrida, Glaube und Wissen. Die beiden Quellen der »Religion« an der Grenze der bloßen Vernunft, in: ders./G. Vattimo, Die Religion, Frankfurt/M. 2001, 9–106; ders., Wie nicht sprechen. Verneinungen, Wien 22006; M. Heidegger, Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis). Gesamtausgabe Abtlg. III, Bd. 65, Frankfurt/M. 32002; ders., Zur Seinsfrage, in: Wegmarken, Frankfurt/M. 1976, 385–426; J. Halfwassen, Plotin und der Neuplatonismus, München 2004; G.W.F. Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse III, Werke 10, Frankfurt/M. 1986; ders., Phänomenologie des Geistes, Werke Bd. 3, Frankfurt/M. 1986; Johannes Scotus Eriugena, Über die Einteilung der Natur, übers. v. L. Noack, Hamburg 31994; I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, Werke II, hg. von W. Weischedel, Darmstadt 1983; A.A. Long/D.L. Sedley, Die hellenistischen Philosophen. Texte und Kommentare, Stuttgart/Weimar 2000; O. Marquard, Apologie des Zufälligen, Philosophische Studien, Stuttgart 1986; G.S. Kirk/J.E. Raven/M. Schofield, Die vorsokratischen Philosophen, Stuttgart 1994; Pseudo-Dionysius Areopagita, Corpus Dionysiacum II, hg. von G. Heil und A.M. Ritter, Berlin/New York 1991; ders., Über die Mystische Theologie und Briefe, hg., eingel. und übers. von A.M. Ritter, Stuttgart 1994; Plotins Schriften, Bd. V a/b übers. v. R. Harder, hg. v. R. Beutler/W. Theiler, Hamburg Neudruck 2004; Th. Rentsch, Gott, Berlin/New York 2005, R. Rorty, Der Spiegel der Natur. Eine Kritik der Philosophie, Frankfurt/M. 1987.
3. Negative Theologie
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Die Rückfragen bei Platon, Kant und Wittgenstein im letzten Kapitel hatten den Zweck, exemplarisch Auskunft zum Basisdilemma der rationalen Theologie zu erhalten. Diese war davon ausgegangen, dass die Religionsphilosophie sich sinnvollerweise mit dem Phänomen ›Gott‹ befasst. Der Wechsel ›Philosophie der Religion statt rationaler Theologie‹ erscheint ihr nicht statthaft. Freilich handelt man sich sofort und hartnäckig das Problem ein, dass es zum Wesen Gottes gehört, über alles Begreifen hinaus zu sein. Auf je ihre Weise zeigten die drei, dass das Problem wirklich persistent auftaucht und dass sich bei allen Unterschieden dennoch eine gewisse Ähnlichkeit bei den Versuchen des Umgangs mit diesem Dilemma ergibt. Man kann in der Reihenfolge der Darstellung wohl von einer Zunahme der Auskunftsarmut in Sachen Gott sprechen – also von einer Radikalisierung des Motivs –, aber die Verbindung aus Bezug zum unnennbaren Gott und einer damit einhergehenden Orientierung in der Welt war doch bei allen dreien zu beobachten. Diejenige philosophische Tradition, die diesen Konnex ins Zentrum ihrer Erwägungen stellt, ist die sog. Negative Theologie. Ihren Namen hat sie von der Unmöglichkeit, positive Aussagen über Gott machen zu können (und nicht etwa davon, dass sie ›negativ‹ im Sinne von etwas Schlechtem sei). Dass ihre Motive schon sehr früh, im vierten vorchristlichen Jahrhundert, anzutreffen sind, war bei dem Blick auf Platon zu sehen – sie finden sich sogar noch früher, erstmals beim vorsokratischen Philosophen Xenophanes von Kolophon (um 570−475 v.Chr.; Kirk/Raven/Schofield 182−188). Zum Programm und einprägsamen Stichwort wurde sie freilich erst gegen Ende der lateinischen Antike, als christliche Theologen von der auf Platon zurückgehenden Tradition Gebrauch machten, um ihre christlich-theologischen Anliegen zu erörtern. Durch eine exemplarische Analyse von wenigen Zeilen aus dem Hauptwerk eines dieser Denker soll die Negative Theologie vorgestellt werden. Im zweiten Schritt wird das mit der Position eines gegenwärtigen Philosophen konfrontiert, der eine teils recht eigene Lesart Negativer Theologie vorschlägt, im dritten folgt eine erste Überprüfung ihrer Leistungsfähigkeit und vierten einige Informationen zu weiteren Ansätzen Negativer Theologie in der Gegenwart.
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a) Pseudo-Dionysius Areopagita und die »Mystische Theologie« Pseudo-Dionysius Areopagita lebte im 6. Jahrhundert nach Christus. Über sein Leben und seine Person ist fast nichts bekannt. Da sein literarischer Name – eine Anspielung auf den Dionysius auf dem Areopag von Athen aus Apg 17,34 – kaum sein richtiger gewesen sein dürfte, wird er gewöhnlich mit »Pseudo-« als Namensvorsatz zitiert. Aus seinem Werk ist vor allem eine kleine, gerade einmal siebenseitige Schrift berühmt geworden, »Über die mystische Theologie«. Ihr Beginn stellt das Sachanliegen der Negativen Theologie in nahezu idealer Weise vor. ›Das‹ klassische Zitat zur Negativen Theologie »Überwesentliche, übergöttliche, übergute Dreiheit, Wächterin der Gottesweisheit der Christen, leite uns zum höchsten Gipfelpunkt der geheimnisvollen Worte, der überunwissend und überlichtend ist. Dort sind die neuen und absoluten und unwandelbaren Mysterien der Gotteskunde im überlichten Dunkel geheimnisvoll verhüllten Schweigens verborgen. Im Allerverborgensten sind sie übergreifbar und überleuchtend. Inmitten des gänzlich Unsichtbaren und Unberührbaren machen sie die dafür blinden Geister jenes überguten Glanzes übervoll.« (Corp.Dion. II,141f)
Der Autor formuliert hier eine Anrede und man wird vermuten dürfen, dass es sich um eine Gebetsanrede handelt. Freilich ist sie bis hinein in die Details eine eigentümliche Gebetsanrede, was sich schon in den ersten Worten zeigt, die nicht, wie es eigentlich üblich wäre, mit einer kurzen Invokation beginnt. Offenbar ist der ganze Text eine einzige Anrede. Ich beginne mit den hervorgehobenen Wortteilen: Gleich zehnmal steht hier »über«, »hypér« im griechischen Original, in dem es sich übrigens um einen einzigen Satz handelt. Deutlicher kann man das Grundanliegen Negativer Theologie kaum formulieren: Was über Gott zu sagen ist, geht über das Normale hinaus. Mehr als gut, mehr als hell, mehr als begreifbar ist Gott. Das sind Schlüsse via eminentiae, durch Steigerung des gewohnten Sprachgebrauchs. Das hypér, über, setzt Dionysius aber auch noch anders ein. Er schafft damit Ab-
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surditäten, etwa, wenn er vom »überhellen Dunkel« spricht oder vom »überunwissenden Gipfel aller Worte«. Das sind bewusste Verdrehungen, die klar machen sollen: Gottes Wahrheit ist nicht nur per Steigerung über unsere Köpfe hinweg. Sie ist zu unserer Sprache und unserem Denken ganz quer. Am deutlichsten wird das vielleicht mit dem Begriff »übergöttlich«. Gott ist übergöttlich, also ist Gott gerade auch durch den Begriff nicht aussagbar, der speziell für ihn eingeführt und reserviert wurde. Mit der Sprache wird hier deutlich gemacht, dass die Sprache in Sachen Gott an ihre Grenzen kommt und kommen muss. Und das wird nicht als These so hingestellt, es wird im Vollzug gezeigt. Eigentümlich ist zudem: Von ›Gott‹ als Wesen ist in diesem Gebet nicht die Rede. Gotteskunde ja, aber so angeredet wird er nicht. Über-göttlich ist ›er‹ wohl. Aber man liest weder den alttestamentlichen Gottesnamen noch die Gebetsanrede des Vaterunsers. Das Zitat verzichtet also auf einen Gattungsbegriff »Gott« und es verzichtet ebenso auf den biblischen Gottesnamen und auf die Gebetsanrede. Und das präzise in der betenden Anrede! Wieder wird die Unnennbarkeit Gottes nicht nur behauptet, sie wird sprachlich durchgeführt. Es gibt freilich eine direkte Anrede des Ungenannten: trías. Der Begriff bedeutet sowohl Dreiheit als auch explizit die Dreifaltigkeit Gottes. Nur durch diesen Hinweis ist klar, dass dies verdrehende und verdunkelnde Gebet sich anscheinend im christlichen Sprachspiel bewegt. Trías also wird genannt, und zugleich geht alles, was von trías auszusagen ist, hinein in die Sprachverschlingungen, von denen eben zu berichten war. Inwieweit das schon explizit christliches Sprechen ist oder sich gleichsam noch im Vorfeld befindet und strengen Allgemeinheitskriterien zu genügen hat, muss noch eigens diskutiert werden. Das Zitat kennt auch eine Empfängerseite. Pseudo-Dionysius sagt ja nicht: Man kann über Gott nichts sagen, nichts von ihm empfangen und soll also schweigen. Im Gegenteil! Die »blinden Geister« – das sind offenbar diejenigen, die diese Rede wagen – werden »des überguten Glanzes übervoll«. Und das heißt doch wohl: Die Wahrheit, um die es geht, kann nur mit Sprachverdrehungen ausgesagt werden. Aber diese Verwindungen betreffen
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nicht nur die unnennbare Gottheit. Sie treffen auch diejenigen, die davon gar nichts sagen können, nämlich uns. »Über«, »hypér« wird nicht nur über die Gottheit gesprochen. Das »über« schließt auch jene blinden Empfänger mit ein. Sie werden in einer Weise mit dem Unnennbaren beschenkt, die diesem Unnennbaren ähnlich ist, nämlich unnennbar. Es sind zwei Größen, die hier einander bedingen, eine komprimierte Gotteslehre und eine komprimierte Lehre vom Heil. Die Gotteslehre führt Dionysius ein als eigentümliche NichtRede von Gott. Wohl Trías, aber eben auf die beschriebene Weise über Sprechen und Denken hinaus, ja selbst über jeden Namen hinaus. Dem entspricht aber, zweitens, kein Schweigen oder Achselzucken. Dem entspricht, dass Menschen sich davon alles erwarten sollen: vom göttlichen Glanz übervoll zu werden. Damit haben wir einen wichtigen Grundzug der Negativen Theologie vor Augen, der im vorigen Kapitel bereits sichtbar wurde. Mit der Nichtbeschreibbarkeit Gottes fängt alles an. Und sie behauptet: Bei dem, den wir nicht nennen können, geht es um alles! Um unser Heil, um die ganze Welt. Diese beiden Elemente kann man die negative Gotteslehre und die negative Soteriologie (= Lehre vom Heil) nennen. Sie werden in unterschiedlicher Gewichtung und unterschiedlicher Auslegung jede der zahlreichen Varianten negativ-theologischen Denkens prägen. Weitere Bemerkungen zur platonisch beeinflussten Negativen Theologie: Die Aufstiegsmetaphysik Pseudo-Dionysius präsentiert die Negative Theologie in christlicher Lesart. Im zitierten Textausschnitt wird das durch die Worte »Gottesweisheit der Christen« und »trías« deutlich. Offensichtlich beansprucht Dionysius eine für die Kirche mögliche Interpretation. Das heißt nun freilich nicht, dass Negative Theologie nur eine christliche Möglichkeit wäre und man sich mit ihr bereits innerhalb der kirchlichen Theologie befinden würde. Vielmehr waren Pseudo-Dionysius und der andere große christliche Neuplatoniker Johannes Scotus Eriugena (um 810−877) Denker, die von den orthodoxen Vertretern des Christentums kritisch betrachtet wurden, weil sie mit zentralen christlichen Überzeu-
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gungen – etwa der trinitarischen Personalität Gottes oder, deutlicher noch, der Rede von Gottes Menschwerdung in Christus – ihre Schwierigkeiten hatten. Die von ihnen ausgehende Faszination war, dass mit den weit verbreiteten Denkmitteln der Philosophie für die Sache des Christentums geworben werden konnte, ohne dass dadurch eine Deckungsgleichheit von Philosophie und Theologie behauptet wäre. Beide greifen auf die großen Arbeiten der neuplatonischen Philosophie, namentlich auf Plotin (204−270) und Proklos (412−485) zurück, die die Negative Theologie als Integral einer Philosophie verwenden, die platonische, aristotelische und andere Einflüsse zu einer großen Synthese zusammenfasst. Der Grundgedanke von Plotins Fassung der Negativen Theologie ist dieser: Der Welt aller Erscheinungen und Ideen liegt das absolute Eine zu Grunde. Das, was wir sehen und womit wir umgehen, ist jeweils irgendwie zusammengesetzt oder geteilt. Durch Abstraktionen kann man diese Zusammensetzungen oder Teilungen zu den Einheiten zurückführen, aus denen sie kommen, etwa die Menge aller Tische zur Idee ›Tisch‹ überhaupt. Mehr noch, Vielheit können wir überhaupt nur denken, wenn wir das auf der Folie einer dahinter liegenden Einheit tun, weil wir die Elemente von Vielheit ja zueinander ins Verhältnis setzen müssen und also ein hinter der Vielheit liegendes Bezugssystem annehmen müssen. Wenn nun das letzte, höchste Eine aber völlig ungeteiltes und unzusammengesetztes Eines ist, dann ist es über unser Begreifen absolut hinaus. Denn Begreifen heißt ja immer, etwas zu einem anderen in Beziehung zu setzen und es deshalb nicht als streng Eines zu sehen. Es gibt, so Plotin, dies absolute Eine hinter der Fülle der Erscheinungen, aber wir haben keinen begrifflichen Zugang zu ihm. In einer mystischen Weise können wir seiner innewerden, aber das ist eine Form der Versenkung, in der das Denken sich selbst überschreitet und aufhebt. (Halfwassen 32−58 unter besonderem Hinweis auf Plotin, Enneade V,4) Plotin kombiniert also zwei Elemente. Zum einen bietet er das, was man eine Aufstiegsmetaphysik nennt: Der Denker steigt von der Fülle des Wahrnehmbaren über immer abstraktere und einheitlichere Bereiche und Gedanken zum absolut Einen auf. Zum
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anderen wird dieses Aufstiegsdenken mit der Betonung der strikten Unaussagbarkeit des absolut Einen kombiniert. Moderne Fassungen der Negativen Theologie verhalten sich zu diesen beiden Basiselementen in differenzierter Weise: Meistens lehnen sie die metaphysische Idee, der Kosmos sei ein gegliedertes und hierarchisches Ganzes, durch das man gedanklich aufsteigen könne, ab. Diese Kritik wird nicht nur, aber vielleicht wesentlich von Immanuel Kants schneidender Kritik an der herkömmlichen Metaphysik gespeist. Dem zweiten hier genannten Element des Plotinschen Denkens stehen die heutigen Vertreter einer Negativen Theologie weitaus offener gegenüber. Sie wenden sich damit sowohl gegen diejenigen, die den Gedanken Gottes überhaupt ablehnen als auch gegen die, die meinen, man könne einen zureichenden Begriff von Gott gewinnen. Heutige Negative Theologie hat also eine doppelte Frontstellung gegen den kämpferischen Atheismus einerseits und gegen spekulative Gottestheorien andererseits.
b) Thomas Rentsch und das Programm einer heutigen Negativen Theologie Der Dresdener Philosoph Thomas Rentsch (*1954) ist bei weitem nicht der einzige gegenwärtige Denker, der sich für Negative Theologie interessiert und sie programmatisch bearbeitet. Seine Arbeiten zum Thema sind aber besonders deswegen interessant, weil sie das Thema systematisch übersichtlich ausarbeiten und weil Rentsch besonders deutlich auf diejenige Struktur aufmerksam macht, die zu Ende des letzten Kapitels sichtbar gemacht wurde: Der rationalen Theologie bleibt letztlich nichts anderes, als sich in reine Negative Theologie zu wandeln. Es gibt gute Gründe dafür, am Gottesbezug festzuhalten, aber ebenso gute, dass dies Gottes Unerkennbarkeit immer mitdenken muss. Damit nun verbindet sich die Einsicht, dass mit dem Bezug auf den unnennbaren Gott in irgendeiner Weise Orientierung in der Welt einhergeht – zu sehen war das an den Andeutungen, die Ludwig Wittgenstein zur mystischen Erfahrung machte: Sie ist nicht Erfahrung von etwas in der Welt, sondern Erfahrung mit der Welt
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als ganzer. Sich auf Gott beziehen zu müssen, ihn zugleich aber nicht nennen zu können auf der einen Seite, und dass dies – auf noch aufzuklärende Weise – mit der Entstehung von Sinn und Orientierung zu tun hat, das scheint die Grundstruktur von Negativer Theologie zu sein. Rentsch fasst dies so: »Je genauer wir (…) den konstitutiven Zusammenhang von Negativität und Sinn philosophisch erfassen und analysieren, desto näher kommen wir den Dimensionen der menschlichen Lebenswirklichkeit, die mit der Rede von Gott und mit dem Gottesbezug gemeint sind und allererst eröffnet werden.« (Rentsch 54) Dies Zitat hat folgende Implikationen: Erstens, es gibt Gott, aber das auf eine Weise, die für jede Rede von ihm konstitutiv ist, und zwar prekär konstitutiv. Zweitens, prekär ist sie insofern, als es eine Beschreibung oder gar Theorie Gottes nicht geben kann, zugleich aber unwidersprechlich klar ist, dass menschlicher Lebensvollzug von ihm herkommt. Drittens, menschlicher Lebensvollzug kommt insofern von Gott her, als sich diese Negativität als sinngenerierend erweisen wird. Existenz Gottes, Negativität jedes Bezugs auf ihn und Sinngenerativität genau dieses Bezugs: Das will Rentsch zeigen. Drei Transzendenzen: Welche Erfahrungen des ›Vonwoher‹ sind genauso unvermeidlich wie unaussprechbar? Wie ist nun der negative Bezug auf Gott aufzufassen? Die Überzeugungen, die Pseudo-Dionysius Areopagita, Plotin und den anderen heidnischen wie christlichen Neuplatonikern zur Verfügung stand – dass die Welt ein hierarchisch gegliedertes Ganzes ist, durch das man gedanklich-meditativ zum unnennbaren Höchsten emporsteigen kann – steht nicht mehr zur Verfügung. Rentsch legt die Sache so an, dass er drei Transzendenzen aufweist, drei basal-menschliche Weisen des Weltumgangs, die sich auf Überschreitendes, auf Unverfügbarkeit beziehen und genau daraus Sinn erschließen. Die erste der drei nennt er »ontologischkosmische Transzendenz«: (Rentsch 58−67, Herv. d. M.H.) Es ist überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts. Das ist Anlass zum Staunen. Dieses Faktum, dass überhaupt etwas ist und nicht vielmehr nichts, ist aber an sich nicht etwas, was Gegenstand meiner
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Erfahrung wird, was mein Objekt sein kann. Denn dass überhaupt etwas ist und nicht vielmehr nichts, das muss ich immer schon voraussetzen. Es macht alles andere möglich, mich auch. Was das Vorausgesetzte ist, kann ich also nicht sagen, weil ich immer schon in ihm bin, weil es mich immer schon ermöglicht. Und doch komme ich gar nicht umhin, es vorauszusetzen. Das ist das Unerklärliche schlechthin und Anlass zu philosophischem Staunen. Und andererseits ist uns dieser Transzendenzaspekt völlig selbstverständlich, vertraut und nah. Er ist nicht auf besondere Erfahrungen angewiesen, weil er jeder Erfahrung zu Grunde liegt. Er ist nicht ein isoliertes Sinnerlebnis in einem Meer von Flachheit, weil er jedem Sinnerleben zu Grunde liegt. Er ist nicht privilegierter Erfahrungsgegenstand von besonders Befähigten, sondern prägt jeden Menschen. Diese Transzendenz ist nicht irgendwie jenseitig und elitär, sie ist Transzendenz mitten in der Immanenz. So funktioniert die theologia negativa: Ich muss eine Größe als vorhanden setzen, bei der ich zugleich setzen muss, dass sie für mich unerkennbar ist. Und dieses eigentümlich Negative ist es doch, was mich ermöglicht, Sinn ermöglicht. Ein Detail dieser ersten Transzendenz ist interessant, weil es für die Frage von Bedeutung ist, wie der Dialog dieser philosophischen mit einer explizit theologischen Theologie aussehen könnte. Noch einmal Rentsch direkt: »Der Sinngrund, der sich im Transzendenz-Aspekt der ontologisch-kosmologischen Transzendenz zeigt, kann weder räumlich noch zeitlich festgelegt und festgestellt werden, er kann weder subjektiv noch objektiv vergegenständlicht werden. – Gleichwohl ist der ständig ›da‹, ständig leben wir durch diesen unerklärlichen Grund«. (Rentsch 61) Aus genau diesem Umstand schließt Rentsch nun: Die traditionelle Sprache von Theologie und Religion spricht »aus guten Gründen« (ebd.) von Schöpfung. Denn beide reden vom absolut unerklärlichen Hervorgang. Rentsch setzt hier mit Bedacht den Begriff des absoluten Wunders ein: Ein Wunder ist schlechterdings unerklärbar und nur um seiner selbst willen da. (Rentsch 63) Er sieht – und da ist die Vokabel wichtig – eine Entsprechung seiner philosophischen Rede zur theologischen von creatio ex nihilo (Schöpfung aus nichts) und creatio continua (fortdauern-
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de Schöpfung). Diese Entsprechung gibt es, weile beide, Philosophie wie Theologie hier von Unerklärlichkeit sprechen. Ist diese Behauptung von Entsprechungen zwischen philosophischer Analyse und christlichem Bekenntnis bereits zu viel? Oder ist sie im Gegenteil zu bescheiden? Was genau heißt, hier walteten Entsprechungen – und das immerhin anhand des Wunderbegriffs? Das wird zu diskutieren sein (s.u. Kap. 8, 11, 12) und hier findet sich einer der systematisch spannendsten Punkte für die theologische Diskussion dieser Argumentation.
Die nächste zu besprechende Transzendenz ist die Transzendenz der Sprache. (Rentsch 67−72) Sie, und darauf legt Rentsch wert, addiert sich nicht zur ersten, sie ist mit ihr vielmehr gleichursprünglich. Ihr Inhalt ist dieser: »Dass – und wie – wir sprechen können, ist eine unerklärliche, uns vorgängige Bedingung der Möglichkeit und Wirklichkeit unserer humanen Welt. Dass wir Sätze verwenden können (…) das ist eine uns und unsere Welt einschließlich unserer Vernunft und Selbsterkenntnis real ermöglichende Dimension, die wir nicht erklären oder von anderem ableiten können, ohne sie selbst schon verwenden und in Anspruch nehmen zu müssen.« (Rentsch 68) Uns wird klar, »dass wir auch über die sprachlichen Sinnbedingungen unserer Praxis nicht pragmatisch und technisch verfügen, sondern dass sie uns sinnkonstitutiv entzogen und vorgängig sind. Wir werden zu uns selbst im Medium sozialer und kommunikativer Praxis«. (Rentsch 70) Dass wir zu alldem in der Lage sind, können wir nicht erklären, ohne das zu Erklärende seinerseits vorauszusetzen. Das Transzendenzgeschehen namens Sprache ermöglicht unser Selbstbewusstwerden und trägt es. Das Muster ist vergleichbar: Sprache ist unhintergehbare Voraussetzung. Ohne Sprache kein Sinn, keine Kommunikation, kein Selbstwerden (NB: das gilt im übertragenen Sinne auch für nichtsprechende Personen, ein interessanter ethischer Seitenaspekt). Rentsch verzichtet an diesem Punkt auf eine explizite christlich-theologische Parallelisierung, wiewohl er in anderem Zusammenhang etwas zur Verstehbarkeit des Inkarnationsglaubens sagen wird. (Rentsch 93−101) Dass er diese Transzendenz
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als Transzendenz des Logos bezeichnet, spielt aber gewiss mit der wohlbekannten theologisch-philosophischen Doppelbedeutung von logos. Drittens und letztens: Die anthropologisch-praktische Transzendenz. (Rentsch 72−78) In der nun schon vertrauten Kombination aus Unerklärlichkeit/Unhintergehbarkeit einerseits und Sinngenerativität andererseits geht es nun um Sinnentwürfe überhaupt. Wir existieren, und das macht Sinnentwürfe schon immer nötig. Auch wenn wir nie sagen können, woher dieser Sinn kommt. Wir machen spielerische Entwürfe von uns und unserer Welt. Und das setzt voraus, dass es Sinnhorizont überhaupt gibt, obwohl niemand ihn sehen kann. Wir müssen Sinnentwürfe praktizieren, so lange wir leben. Dieser Lebensformbezug bildet sich in jedem Leben aus, auch im Kleinkind, auch im Traum, glücklich und traurig und auch in Lebensformen, die wir nicht anders als pathologisch in den Blick bekommen. Dass wir das tun, heißt aber: Wir erkennen an, dass es die Konstitution von Lebenssinn gibt, auch wenn dieser uns niemals als Objekt zuhanden ist. Vielmehr sind wir immer in Prozessen von Lebenssinnkonstitution begriffen. Diese Transzendenz, so Rentsch, weist besonders darauf hin, dass wir uns nicht als Einzelsubjekte erkennen. Eine subjektzentrierte Erkenntnistheorie allein erweist sich angesichts solcher Entwürfe als reduktionistisch. Wenn aber der Gemeinschaftsbezug vorhanden ist, so kommt von diesem Transzendenzaspekt her die gemeinsame Verantwortung endlicher Freiheit in den Blick, sprich: Moral und Ethik. Auch hier belässt Rentsch es bei der Andeutung. Aber auch hier lassen sich Entsprechungen, Parallelen, gemeinsame Interessen zu explizit christlich-theologischen Explikationsaufgaben ohne Mühe finden. So viel als kurzer Bericht aus Thomas Rentschs Entwurf einer rationalen Theologie oder – wie er es auch nennt – Prototheologie. Er weist drei gleichurspüngliche Transzendenzen in der Immanenz auf, die das Mit- und Ineinander von Entzogenheit und Sinnkonstitution tragen: Die ontologisch-kosmologische Transzendenz, dass überhaupt etwas ist und nicht nichts. Ihr Entspre-
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chungspartner ist die christlich-theologische Rede von der Schöpfung. Als zweites die Transzendenz der Sprache, die Rentsch mit dem doppelt codierten Begriff logos einführt. Und schließlich die Transzendenz von Sinnentwürfen, aus denen Menschen je sind und die sie zum Phänomen der gemeinsamen Gestaltung des Lebens bringen, also zu Moral und Ethik. Eine wichtige Zusatzbestimmung: Das Ineinander von theoretischer und praktischer Perspektive Thomas Rentsch bezieht sich auf die drei Formen von Transzendenzbezug, die ich eben geschildert habe und summiert lapidar: »Der Lebensformbezug der Rede von Transzendenz und ihren Aspekten ist (…) stets zu beachten.« (50) Von Transzendenz und Transzendenzbezug ist nur insoweit überhaupt zu reden, als es eine Rede ist, die Lebensvollzug einschließt. Es geht hingegen nicht um einen auf scharfsinnige Weise isolierbaren höchsten Gegenstand als Gegenstand von Betrachtung. In der Rede von Transzendenz, in der – Anführungszeichen bitte mithören – ›Gottesfrage‹ – geht es nicht darum, Erkenntnis über ein Objekt zu erlangen. Die drei Formen des Transzendenzbezugs haben vielmehr ergeben: Das, worauf wir uns beziehen, zeigt sich. Es zeigt sich im Lebensvollzug und es ist nicht unabhängig von ihnen als Gegenstand zu greifen. Jede theoretische Analyse und damit auch die Analyse von Rentsch selber, hat lediglich Hinweischarakter. Sie ist uneigentliche Rede, aber aus Gründen der Klärung unvermeidliche uneigentliche Rede. Kurz und am Rande gesagt: Diese Form des Sprechens verdankt sich der Wittgenstein’schen Unterscheidung von Sagen und Zeigen und seiner Emphase darauf, dass sich das eigentlich Wichtige zeigt (vgl. Kap. 2.c) und dem Bezug auf Søren Kierkegaards Technik der indirekten Existenzmitteilung. (vgl. dazu Kap. 11) Systematisch wichtig ist dieser Lebensformbezug der Rede von Transzendenz aus folgendem Grund: Theoretisches Denken verweist in Sachen Transzendenzbezug auf Lebensform. Traditionell gesprochen geht es also um ein Ineinander von praktischer und theoretischer Vernunft in Sachen Gottesfrage. Exklusive Zuordnungen, gleich ob in der praktischen (Kant) oder der theoretischen (Hegel, Feuerbach)
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gelingen nicht. Diese Feststellung ermöglicht es, philosophische Theologien neu in den Blick zu nehmen, für die das Mit- und Ineinander der theoretischen und der praktischen Perspektive konstitutiv ist. Hier zeigt sich überdies eine aufschlussreiche Parallele zur Erklärungsaufgabe der Theologie. Denn ihr geht es erklärtermaßen nicht darum, eine zureichende Gottestheorie vorzulegen. Sie versucht vielmehr, das Zeugnis von der Offenbarung Gottes und das Reden und Handeln der Gläubigen zu verstehen und anzuleiten, so dass man begründet hoffen darf, es geschehe in der Nähe Gottes. Der Lebensformbezug der theologischen Aufgabe ist also ganz deutlich und die Tradition hat das mit ihrer Rede von der scientia eminens practica (in besonderer Weise praktische Wissenschaft) ja auch immer betont. Rentschs Aufweis des Lebensformbezugs auch für die philosophische Gottesrede hilft nun, eine künstliche Barriere einzureißen. Es steht nicht scientia speculativa gegen scientia practica, es steht nicht der Versuch der begrifflichen Erkenntnis gegen die bloße biblisch genährte Bilderwelt. Weil philosophisch nicht anders als unter Bezug auf Lebensformen von Transzendenz gesprochen werden kann, sind Theologie und Philosophie sich hier in der Zugangsweise näher, als es die gut eingespielten Üblichkeiten der Religionskritik glauben machen wollen.
c) Zur argumentativen Einordnung Jede Position von Rang steht in der Diskussion, man kann sogar sagen, dass es eine Auszeichnung ist, wenn sie Debatten hervorruft – was alle ohnehin akzeptieren, ist zumindest nach philosphischen oder theologischen Maßstäben banal und damit uninteressant. In diesem Sinn folgen hier einige Erwägungen zum Status der Argumente, die Rentsch als gegenwärtiges Theorieangebot in Sachen Negativer Theologie vorgelegt hat. Erklärungsanspruch »… insistiere ich auf der expliziten systematischen Wiederholung der Gottesfrage. Wenn die Richtung, die Kant, Hegel, Kierkegaard, Peirce, Wittgenstein und andere zeitgenössische Philosophen gewiesen haben, einiges Recht hat, dann muss eine Erneuerung zeitgenössischer philosophischer Theologie möglich sein
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und unternommen werden.« (Rentsch IX) Das ist eine Programmansage von Gewicht. Rentsch behauptet, mit dem Aufweis der drei Transzendenzen nicht nur einen philosophiehistorischen Zugang zum Thema ›Gott‹ geliefert zu haben. Vielmehr nimmt er die genannten Autoren als Aufweis dafür, dass eine philosophisch konsistente Rede von Gott unter den Bedingungen des heutigen Wahrheitsbewusstseins möglich ist. Die mit diesen großen Namen verbundenen Positionen und Denktraditionen sind natürlich weit und stehen untereinander nicht wenig im Streit. Was sie eint, ist mindestens dies: Es ist für kritisches und durch die Schule der Aufklärung gegangenes Denken möglich und geboten, Gott zum Gegenstand des Denkens zu machen. Ob und wie man von einem ›Gegenstand‹ im landläufigen Sinn des Wortes sprechen kann, ist dann eine eigene Frage, die bereits in die Auseinandersetzung führt. Unter den Genannten – laut Rentsch ja nicht die einzigen, auf die man sich für die Erneuerung einer philosophischen Theologie zu berufen hat – ist Hegel der, der in Sachen ›Gott als Gegenstand des Denkens‹ am weitesten geht. Er traut der darstellenden Kraft der Begriffe zu, die Wahrheit Gottes, die in der Religion in Bildern, Erzählungen und Riten ausgesprochen wird, in die richtigen Worte zu fassen. Was Christen glauben – Hegel denkt vor allem an das Bekenntnis, Gott sei dreieinig – wird von der Philosophie auf Begriffe gebracht. Das muss möglich sein, so Hegel, weil Religion nichts individuell Willkürliches ist: »Aber die Religion ist die Wahrheit für alle Menschen, der Glaube beruht auf dem Zeugnis des Geistes, der als zeugend der Geist im Menschen ist.« (Hegel Bd. 10, 379) Auch wenn die beiden in der Durchführung weit auseinanderliegen und Rentsch, wie gesehen, die Nichtgegenständlichkeit Gottes wieder und wieder betont, zeigt das Hegel-Zitat doch das gemeinsame Motiv: Will Religion mehr sein als eine Privatmeinung, dann muss sie sich dem charakteristischen Öffentlichkeitsanspruch von Vernunft stellen, denn der Allgemeinheitsanspruch von Vernunft und die Öffentlichkeit des Denkens gehen ineins. (vgl. Kap. 1.a) Freilich: Welche Religion ist eigentlich die Wahrheit für alle Menschen? Hegels Beweisanspruch war, dass es sich nur um die
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christliche handeln kann und sein – insgesamt extrem aufwendiger – Beweisgang dafür lief darauf hinaus, dass die Fülle der Wirklichkeit die Dreieinigkeit Gottes abbildet. Hier zeigt sich dann ein vernehmlicher Unterschied: Thomas Rentsch beansprucht nicht, eine philosophische Theologie des Christentums zu liefern. In diversen Veröffentlichungen zum Thema zitiert er Äußerungen aus verschiedenen Weltreligionen, um den Anspruch deutlich zu machen, dass die drei Transzendenzen jedenfalls nicht als Vortheologie des Christentums gemeint sind. Vielmehr soll ihr Aufweis auch einen Beitrag dazu leisten, Religion und religiös-Sein überhaupt in den Bereich dessen zu rücken, was als vernünftig verhandelbar gilt. Die Schnittstelle zwischen der Negativen Theologie und explizit christlicher Theologie muss uns noch beschäftigen. (Kap. 11.b) Freilich schon hier der Hinweis, dass die Nähe zwischen dieser Lesart und christlicher Theologie doch relativ deutlich ist. Die zweite Transzendenz führt mit ihrem Stichwort logos nicht nur ins Herz des griechischen philosophischen Denkens, sondern zugleich zu einem christlichen Schlüsselkonzept. Nach dem Prolog des Johannesevangeliums ist Christus der logos Gottes, durch den alles geschaffen wurde und der in Jesus Mensch wird. (Joh 1,1–18) Wird die strikte Universalität auch dieses Transzendenzbezugs behauptet, so wird mitgesetzt, dass das Gesprächsgeflecht aus antiker Philosophie und christlicher Theologie dieser universalen Wahrheit zumindest näher ist als die Selbstauslegung anderer Religionen. Damit zeigt sich eine nicht ohne weiteres zu Tage liegende Verbindung: Der damalige Papst Benedikt XVI. (Joseph Ratzinger) betonte in seiner Vorlesung an der Universität Regensburg im Jahr 2006, dass die griechische Philosophie des logos und das biblisch inspirierte Logosdenken nicht zufällig aufeinander gestoßen seien, sondern dass das mit innerer Notwendigkeit geschah und ein wichtiges Moment im geschichtlichen Walten Gottes darstelle. (Benedikt 20) Theologisch führt Benedikt eine Providenzargumentation durch, also eine, die davon ausgeht, dass Gott weiß, wohin es mit der Welt geht und dass er die Weltgeschichte oder doch entscheidende ihrer Momente behütet und in eine diesbezügliche Richtung lenkt. In einer solchen oder ähnlichen Weise von der Wirksamkeit Gottes in der Welt zu sprechen, gehört zum üblichen Inventar christlicher Gotteslehre, wobei Sinn und Probleme der Rede von der Providenz Gottes bei anderer Gelegenheit erörtert werden müssen. Für den Zusammenhang
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hier ist interessant, dass Thomas Rentschs Argument, für das er strikte philosophische Allgemeinheit beansprucht, sich in nächster Nähe dazu vorfindet. Ist das ein willkommener Beleg für die theologische Behauptung, Gott behüte die Welt, oder zeigt sich hier eine – weniger willkommene – Einschränkung des philosophischen Allgemeinheitsanspruchs?
Traditionsbezug Die Ähnlichkeiten zwischen der traditionellen Negativen Theologie und dem Modell, das der für hier und heute schreibende Philosoph vorlegt, sollten offensichtlich sein. Beiden geht es darum, dass der Bezug auf eine ›Gott‹ genannte Instanz unvermeidlich und richtig ist. Beide betonen aber zugleich, dass das ein begrifflicher Bezug nicht sein kann und dass dieser Bezug und eine praktische Orientierung im Leben miteinander verschränkt sind. Freilich gibt es ganz erhebliche Anteile im Denken der platonischen Denker, die heute wohl kaum Aussicht darauf hätten, erfolgreich verteidigt zu werden. Wichtigster Kandidat dafür ist die neuplatonische Ontologie, also die Theorie darüber, welche Weltinhalte es gibt und wie die Weltinhalte organisiert sind. Die Neuplatoniker vertraten die Auffassung, dass der Inhalt der Welt geordnet und übersichtlich gestuft ist. Das Seiende ist nicht irgendwie chaotisch oder in wilder Entwicklung begriffen, es ist vielmehr ein geordnetes Inventar. Für die Ordnung des Inventars waren verschiedene Einteilungsmuster diskutiert worden, zum Beispiel dies, dass man die Dinge danach unterscheiden kann, ob sie schwerpunktmäßig körperlich oder schwerpunktmäßig geistig sind. Mit dieser Einteilung stehen etwa Menschen über Tieren und Tiere über Pflanzen, diese wiederum über den sogenannten unbelebten Dingen. Denn auch wenn eine Pflanze strikt gesprochen keinen ›Geist‹ hat, so ist sie, metaphorisch gesprochen, doch durch ihr Vermögen zur Photosynthese geistiger als etwa ein Kieselstein, der neben ihr liegt. Geistigkeit wird hier als Fähigkeit zur Selbstorganisation verstanden und es ist ja immerhin möglich, die Dinge in der Welt nach ihrer Fähigkeit zur Selbstorganisation zu unterscheiden. Man würde dann sagen, dass ganz unten die völlig passiven Dinge stehen, die sich in keiner Weise selbst organisieren können und dass am oberen Ende das- bzw. derjenige
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steht, dessen Selbstorganisation und Selbsthabe durch nichts eingegrenzt ist. Dabei kann es sich um nichts/niemand anderen als Gott handeln. Am bekanntesten wurde ein Einteilungsschema, das leicht anders ansetzt. Der christliche Neuplatoniker Johannes Scotus Eriugena (s.o. Abschn. a) beschreibt in seinem Buch Periphyseon, das auf deutsch passenderweise ›Über die Einteilung der Natur‹ genannt wird, die Klassen des Seienden: (1) Das, was schafft und nicht geschaffen wird; (2) das, was geschaffen wird und schafft; (3) das, was geschaffen wird und nicht schafft; (4) das, was nicht schafft und nicht geschaffen wird. Gemeint ist damit folgendes: (1) Gott als Ursache allen Seins; (2) die aus Gott kommenden Ideen, durch die Dinge entstehen; (3) der Stoff, aus dem die Dinge sind und (4) wiederum Gott, diesmal als Ziel der ganzen Welt. Hier ist das Rangordnungsschema gemäß der Selbstorganisation wieder erkennbar, es wird im Wesentlichen auf das Vermögen, etwas anderes hervorzubringen, übertragen. Ergänzt wird es durch einen Aspekt, der im nichtchristlichen Neuplatonismus durchaus eine Rolle spielte, aber erst in seiner christlichen Variante in den Mittelpunkt rückte: Die Idee, dass alles aus Gott kommt (1) und schlussendlich zu ihm zurückkehren wird (4). Wer so denkt, hat mit den biblischen Gedanken von der Schöpfung der Welt und ihrer Vollendung am Ende der Zeiten zumindest einigen Kontakt aufgenommen. Es ist diese Grundüberzeugung von der Wohlgeordnetheit und Gestuftheit der Natur, die in der heutigen Philosophie kaum noch Vertreter findet. Zu einleuchtend sind offenbar die Ergebnisse etwa der Evolutionsbiologie und der Erforschung von Chaos und Zufall, als dass das Bild vom harmonischen und gestuften Universum noch Plausibilität für sich beanspruchen könnte. Dies umso mehr, als es ja ohne die Annahme, es gebe den letzten, einen und unnennbaren Gott, nicht auskommt – das aber ist keine Prämisse moderner Naturwissenschaft. Die Frage ist nun, ob Negative Theologie eine solche gestufte Ontologie voraussetzt, um die Idee plausibel zu machen, es gebe den unnennbaren Grund hinter allem, was ist. Die Antwort muss zweistufig ausfallen. Stufe eins besagt, dass auf der Basis einer solchen Ontologie Negative Theologie recht
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gut denkbar ist. Wer sagt, dass wir Vielheit nur erkennen können, weil wir ein Konzept von dahinter liegender Einheit haben und dass dies nicht nur in unserer Vernunft so ist, sondern auch die gesamte Wirklichkeit so beschaffen ist, für den liegt die Schlussfolgerung nahe: Das hinter/über allem anderen liegende Eine muss existieren und zugleich ist es unserem denkenden Begreifen entzogen. Nun lautet der Einwand, wie eben gesehen, dass eine solche Ontologie unplausibel ist. Man kann ihn sogar noch verschärfen, indem man die erkenntnistheoretische von der ontologischen Seite trennt: Es mag wohl sein, dass unsere Vernunft ein Konzept von Einheit hinter aller Verschiedenheit haben muss, um Verschiedenheit überhaupt denken zu können (s.o. 3.a). Aber wer sagt denn, dass die Wirklichkeit deswegen so beschaffen sein muss und unsere Vernunft ihr gleichsam abbildlich ähnelt? Ist Vernunft wirklich der ›Spiegel der Natur‹? Nicht nur Richard Rorty, Stichwortgeber als Autor des gleichnamigen Buches, bezweifelt das. Die prominenteste Position, die die Abbildhaftigkeit der Vernunft bezweifelt, stammt von Immanuel Kant und ist einer der Grundgedanken der Kritik der reinen Vernunft: Die Verstehenshilfen unseres Verstandes legen wir an die Natur an, um sie zu entdecken. Wie aber die Naturdinge sind, wenn wir diese Verstehenshilfen nicht an sie anlegen, ist schlechterdings nicht zu sagen. (Kant B X–XIV.150–156) Die zweite Antwortstufe heißt also, dass eine heute zu vertretende Negative Theologie ohne die ontologischen Prämissen der neuplatonischen Philosophie auskommen muss (sollten sie sich, was derzeit nur schwer denkbar aber natürlich möglich ist, doch wieder als plausibel erweisen, wäre dieser zweite Schritt kein Nachteil). Für die hier dargestellte Variante ist das m.E. der Fall. Keine der drei Transzendenzen setzt eine spezifische Ontologie voraus. Sie lassen sich nachvollziehen, gleich ob die Welt ein gestuftes Ganzes ist oder ob wir auf eine Ontologie überhaupt verzichten müssen, weil wir über die Dinge an sich nichts wissen können. Thomas Rentschs Variante zeigt sich so als typisch nachaufklärerische und neuzeitliche Fassung der Negativen Theologie. Sie ist nicht ontologisch sondern erkenntnistheoretisch grun-
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diert, denn sie geht nicht Stufungen der Welt entlang, sondern fragt, worauf Menschen sich beziehen müssen, wenn sie das tun, was Menschen in ihrem Menschsein einfach nicht bleibenlassen können: sich überhaupt auf Welt beziehen, kommunizieren und spielerische Sinnentwürfe unternehmen. Wie stark und von welcher Art ist der Allgemeinheitsanspruch dieser Argumente? Etwas für plausibel zu halten, ist eines. Zu erklären, es sei unausweichlich und man müsse so denken, ist allerdings ein anderes. Offensichtlich stellt, wer letzteres intendiert, steilere und weiter reichende Wahrheitsansprüche in den Raum. Es wäre zunächst verständlich, wenn man davor eine gewisse Scheu hat. Eine philosophische Strömung gegen Ende des 20. Jahrhunderts hat das sogar zum Programm erhoben, die Postmoderne. Ihre Vertreter sag(t)en: Die großen Theorien der Moderne arbeiteten stets mit der Unterstellung, dass es für einen Sachverhalt nur eine wahre Aussage geben kann und dass man überdies umfassende philosophische Theorien über die ganze Wirklichkeit entwickeln kann, die sogenannten Systeme des Wissens. Diese Systeme aber laufen Gefahr, blind für Details zu werden und sie suggerieren Eindeutigkeit, die so durchaus nicht gegeben sein muss. Mehr noch, die Idee, die eine richtige Theorie entworfen zu haben, hat, so sagen ihre postmodernen Kritiker, durchaus etwas Gewaltsames, weil dem Beschriebenen gar nicht die Chance gelassen wird, anders zu sein als die Theorie es vorschlägt. Die Postmoderne reklamiert demgegenüber das Ende der großen Theorien und eine positive Betrachtung von Widersprüchen, Vielfalt und Wechsel der Anschauung. Absolute Wahrheitsansprüche sind demgegenüber von Übel. Postmoderne berufen sich mitunter auf die antike Tradition der Skepsis. (Long/Sedley 13– 19) Einer ihrer profilierten Vertreter sagt es so: »Wir Menschen sind stets mehr unsere Zufälle als unsere Leistungen.« (Marquard 6) Deswegen ist Abstand zu nehmen von Theorieansprüchen, die absolute Wahrheit reklamieren. Vielmehr darf das gelten, was hinreichend bewährt ist und was hinlänglich begründeten Üblichkeiten entspricht. (Marquard 125 u.ö.)
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Keine Frage, dass auch diese Depotenzierung von Wahrheitsansprüchen kontrovers diskutiert wurde und wird. Manchen gilt sie gar als Abgesang auf wahrheitshaltiges Sprechen überhaupt und als Taumel in einen Abgrund von Beliebigkeit und ›anything goes‹. Freilich, um die Details der Postmoderne-Debatten geht es hier nicht. Der kurze Hinweis sollte nur illustrieren, dass es nicht selbstverständlich ist, für die eigene Argumentation zu setzen, sie sei zwingend und unausweichlich. Inwieweit macht die unter b) vorgestellte Negative Theologie derart starke Unterstellungen, und: Vermögen sie zu überzeugen? Sehen wir dafür zunächst die drei Argumente für die Transzendenzen noch einmal an. Von ihrer Anlage her beanspruchen sie Allgemeingültigkeit. Dass etwas ist und nicht vielmehr nichts, ist eine unausweichliche Erkenntnis. Selbst mit einer denkbar extremen Position käme ich ihr nicht aus: Selbst wenn ich mir denke, die ganze Welt sei meine Einbildung, also nur ich existierte wirklich und bildete mir den gesamten Rest nur ein – das ist der sog. Solipsismus – bliebe doch, dass ich ja schließlich existieren muss, damit ich mir den Rest der Welt einzubilden vermag. Der Gang über die extreme Position, die vermutlich niemand wirklich wird vertreten wollen, macht klar: Der Gedanke scheint tatsächlich unausweichlich zu sein. Ist der strikte Allgemeinheitsanspruch damit schon garantiert? Nicht ganz! Denn das Argument der ersten Transzendenz geht ja davon aus, dass es sich dabei um einen Vorgang des Verwunderns und Erstaunens handelt. Mindestens die Bereitschaft und die Fähigkeit dazu muss also setzen, wer strenge Allgemeingültigkeit für dieses Argument behauptet. Durchaus ähnlich verläuft es mit den beiden anderen Transzendenzen. Unbeschadet der oben angedeuteten theologischen Anschlussfrage, ob sie nahe bis sehr nahe am christlich-theologischen Sprachspiel formuliert sind, lässt sich sagen: Wenn Menschen kommunizieren, müssen sie Sprache voraussetzen, wenn Menschen irgend planen und entwerfen wollen, müssen sie spielerisch einen Gesamthorizont entwerfen. Zur Not und gewiss ohne Behagen lässt sich ein Leben denken, das auf Kommunikation und Entwurf/Planung verzichtet – erstrebenswert wäre ein
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solcher Lebensvollzug jedoch kaum. Offenbar bestehen gute Aussichten, diese Argumente nicht nur plausibel zu nennen, sondern ihnen einen recht hohen Grad an Allgemeinverbindlichkeit attestieren zu können. Das gilt mit einer wichtigen Näherung, die den Bereich betrifft, aus dem die anscheinend recht weitgehende Plausibilität bezogen wird. Rentsch bezieht sich nicht auf etwas, was man sehen oder sonstwie mit den Sinnen feststellen kann. Sein Argumentbündel funktioniert also nicht auf der Basis von empirischer Evidenz. Das festzustellen ist wichtig, weil ein solcher Beginn wieder und wieder als aussichtsreich vorgeschlagen wurde. So beginnt Hegels frühes Hauptwerk etwa mit der denkbar einfachsten Wahrnehmungsoperation, nämlich auf etwas zu zeigen und zu sagen: »dies!« – um im Fortgang einer genauso faszinierenden wie komplexen Argumentation immerhin beim lebendigen Wissen Gottes von sich selbst herauszukommen. (Hegel Bd. 3, 82–92.575–591) Auch Kants Überlegungen beginnen mit der Frage, was eigentlich jemand tut, der eine einfache Wahrnehmungsoperation vollzieht. (Kant 69–96) Demgegenüber pocht Rentsch auf die Evidenz eines Handlungsvollzugs. Das ist offenkundig etwas anderes. Wer auf einen Sachzusammenhang als Beginn einer Gedankenkette verweist, befindet sich im Bereich der theoretischen Philosophie. Er muss plausibel machen, dass der Sachverhalt wirklich existiert und dass seine Beschreibung, wie er denn wahrgenommen wird, plausibel ist. Kant und Hegel tun genau dies in ihren jeweiligen eben zitierten Werken – dass sie zu derart unterschiedlichen Ergebnissen kommen, macht die Sache so reizvoll: Kant konzentriert sich auf die Frage, welche Verstandeskräfte wir eigentlich haben müssen, um Wahrnehmungsoperationen durchzuführen und schließt daran eine groß angelegte Inventarisierung von Verstand und Vernunft an, die bei jedem Menschen dieselbe sei. Die Vernunft, so die leitende Annahme, ist ein großer, aber in sich feststehender Apparat. Hegel hingegen sagt, dass das Aufregende an der Vernunft die ungeheure Vielfalt ihrer Gestalten ist, die sich von der einfachsten Wahrnehmung bis zur komplexesten Gedankenoperation durchzieht und beansprucht, alle möglichen Formen vernünftiger Operationen, die es jemals gab und geben wird, darzustellen. Für Hegel ist die Vernunft
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eine geschichtliche Größe, die in vielen Gestalten vorkommt, wobei die Philosophie den Überblick über die Fülle der Gestalten gewinnen kann.
Rentschs Argument hingegen geht von einem Selbstvollzug des Menschen aus und gehört deshalb in die praktische Philosophie. In ihr ist immer schon thematisch, dass es gute und schlechte Vollzüge gibt. So war ja zu sehen, dass es wünschenswert ist, dass Menschen darüber erstaunen, dass es etwas gibt und nicht vielmehr nichts, dass es besser ist zu kommunizieren als dies nicht zu tun und besser, einen Sinnhorizont zu entwerfen als orientierungslos vor sich hin zu leben. Das alles mag auf den ersten Blick selbstverständlich erscheinen, eine gut/schlecht-Entscheidung ist gleichwohl unausweichlich damit verbunden. Damit ist umrisshaft die Eigenart der praktischen gegenüber der theoretischen Philosophie angesprochen: In der theoretischen Philosophie muss Plausibilität für eine Wahrnehmung oder Wahrnehmungsoperation beschafft werden, in der praktischen ist – wie offen oder versteckt auch immer – eine gut/schlecht-Entscheidung bereits thematisch. Das gilt bereits, obwohl alle Folgefragen der praktischen Philosophie – was ›gut‹ eigentlich ist, wo es aufzufinden ist usw. – damit noch nicht einmal gestellt wurden. Kurz, die Art der Plausibilitätsbeschaffung funktioniert signifikant anders. Praktisch-philosophisch pocht man zumeist auf die Evidenz von etwas als moralisch einsichtig, wissend, dass man mehr als diese vorgebliche Evidenz nicht hat. Bei Rentsch geschieht das recht offen. Er behauptet als evident, dass die Konzentration auf Dinge, die man beschreiben kann, kein erstrebenswertes Leben hervorbringt: »Von einer empiristisch gedachten Gedankenkonstitution führt kein Weg zu einer humanen Sinnwelt. Wirklichkeit ist die ganze, irreduzible Weltwirklichkeit, in deren Seins- und Sinnhorizont wir unsere Selbstverständnisse und Handlungsmöglichkeiten entdecken und entwerfen, um in Freiheit ein gutes und gelingendes Leben bewusst zu führen.« (Rentsch 49) Es ist, notabene, nicht schlecht gedacht, wenn eine Argumentation bei einem praktisch-philosophischen Evidenzargument beginnt. Vielmehr lässt sich zeigen, dass jede Argumentation einen im gewissen Sinne willkürlichen Anfang hat, weil es keine voraussetzungslose Argumentation
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gibt. Sollte es doch Sätze geben, die ohne Voraussetzung wahr sind, so sind dies die Sätze der Logik, etwa die anerkannten Schlussregeln streng formalen Argumentierens. Diese Regeln aber sind formal, d.h. inhaltlich leer und müssen, sollen sie Gebrauchswert haben, auf Inhalte allererst angewandt werden. Wer zu argumentieren beginnt, kann also nicht anders, als ›irgendwo‹ zu beginnen, und zunächst die Evidenz seines Beginns zu behaupten. In Argumentationen – mit Ausnahme der logischen Kalküle an sich – ist es so, dass sich Evidenz nach und nach zeigt und nicht lediglich ungesagt in der Evidenzbehauptung zu Beginn steckt.
Rentsch behauptet damit, dass eine Frage, die so klingt, als würde sie in die theoretische Philosophie gehören – ›gibt es Gott, und, falls ja: was oder wer ist er?‹ – mindestens am Anfang praktischphilosophischer Natur ist und dass man sie bearbeiten kann, ohne immer wieder auf Themen der praktischen Philosophie zu sprechen zu kommen. Ob diese eigentümliche Mischargumentation plausibel ist, kann im Rahmen der Vorstellung des Arguments nicht entschieden werden. Das zeigt sich erst in der materialen Durchführung – dort aber mitunter umso deutlicher. Erhebliche inhaltliche Verarmung? Die bisherigen Unterpunkte zur Einschätzung der argumentativen Leistungskraft der hier vorgestellten Lesart Negativer Theologie lieferten eine durchaus positive Einschätzung. Sie zeigt sich belastbar, gegenwärtig plausiblen Prämissen entsprechend und scheint auch in ihrem riskanten Anspruch, eine Argumentation von hohem Allgemeinheitsgrad zu liefern, zumindest ersten Einschätzungen nach durchaus Aussichten auf Erfolg zu haben. Freilich war bislang vorwiegend von formalen Aspekten des Arguments von den drei Transzendenzen die Rede. Was fehlt, ist eine erste Erwägung zur inhaltlichen Leistungsfähigkeit. Einer relativ weit verbreiteten Stimmung in Philosophie und Theologie zu Folge trifft die Negative Theologie hier auf ein kritisches Gegenargument: Negative Theologie ist argumentativ gut abgesichert, aber der Preis, den sie dafür zahlt, ist eine erhebliche inhaltliche Verarmung. Denn ihr Kern besteht darin, dass sie einschärft, dass von Gott genau nichts zu sagen ist. Ist hier eine Position nicht dadurch gerettet worden, dass von der Position inhaltlich nichts mehr übrig geblieben ist?
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Dieses Gegenargument ist plausibel – und das nicht nur auf den ersten Blick. Es weist zielsicher auf den wunden Punkt der Negativen Theologie. In ihrer neuzeitlichen Form war sie ja angetreten, das Erbe der rationalen Theologie zu wahren und kritisch zu transformieren. Der Einspruch Immanuel Kants und anderer (vgl. Kap. 2.b.c) hatte dazu geführt, dass die vormals recht auskunftsfreudige rationale Theologie schmallippig und eben zur Negativen Theologie wurde. Die Position der vorkantischen sog. Schulmetaphysik, nach der Gott jedenfalls existiert, ewig ist, allmächtig, allwissend, unveränderlich, in sich eins usw., war unplausibel geworden und zum bloßen gedanklichen Wunschgebäude. Kann man – und jetzt sind wir im Kern des Gegenarguments – das eine Rettung der rationalen Theologie nennen, die sie um den Preis der Aussagelosigkeit rettet? Der Kern einer rationalen Theologie ist doch preisgegeben, wenn sie allein dadurch Bestand haben soll, dass sie völlig inhaltsleer wird. Eine gedankliche Operation, bei der der zu Rettende leider ohne die Möglichkeit herauskommt, irgendetwas über ihn zu sagen, kann wohl kaum als Erfolg gewertet werden. Der Vorwurf wird interessanterweise von philosophischer wie von theologischer Seite erhoben. Die analytische (Religions-)Philosophie, zumindest in ihrer derzeit gängigen Lesart, sträubt sich entschieden gegen die eben beschriebene inhaltliche Verarmung der Rede von Gott und bewirbt Gründe, nach denen wesentliche Argumente des klassischen Theismus auch unter gegenwärtigen Bedingungen Bestand haben sollen. (vgl. Kap. 8) Von theologischer Seite kommt die Warnung, dass, wer Negative Theologie betreibt, jede von der Theologie geäußerte inhaltliche Rede von Gott als unplausibel erscheinen lässt. Denn wenn philosophisch feststeht, dass von Gott inhaltlich nichts gesagt werden kann, so erscheint die Fülle der Aussagen, die Theologen von Gott meinen machen zu dürfen, als Phantasie und verstiegene Privatmeinung. Theologen, die so argumentieren, sind also um die außertheologische Plausibilität theologischen Sprechens besorgt und hoffen, in der Religionsphilosophie einen solchen Plausibilisierungshelfer zu finden. Der Gegenzug auf diese Sorgen heißt dann wiederum, dass Philosophie nicht dazu da ist, einer anderen Disziplin gleichsam den Steigbügel zu halten und/oder dass die theologische Rede von Gott selbstbewusst genug ist und auf theologieexterne Begründungen oder Erläuterungen ihrer Sachanliegen
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einfach verzichten kann: Diese Debatte ist genauso offen wie lebhaft. (vgl. Kap. 8 und 10)
Mit dem bisher Erarbeiteten lässt sich diese Kritik vorläufig anhand zweier Argumente bearbeiten (um eine einfache Zurückweisung geht es nicht, weil die Rückfrage so gut ist, dass sie tatsächlich den Kern der Negativen Theologie in Frage stellt): (1) In der Rentsch’schen Variante weist man darauf hin, dass die Auskunftslosigkeit in Sachen des Wesens und der Eigenschaften Gottes mit einer praktischen Orientierung im Leben einhergeht. Es geht ja gar nicht darum, nur zu sagen, dass von Gott nichts gesagt werden könne. Vielmehr korrespondiert diese Negativität damit, dass genau aus ihr Sinnpotential entspringt. – Kaum hat man diesen Gegenzug begonnen, dürfte sich jedoch die Metakritik einstellen, die sagt, dass auch diese Rede vom Sinnpotential äußerst vage ist. Ist wirklich ein Mehr an Orientierung gewonnen, wenn jemand über das Dasein der Welt staunt, wenn er weiß, dass er Logos voraussetzen muss, um zu kommunizieren und Sinnpotentiale, um Entwürfe machen zu können? Diese Rückfrage ist berechtigt. Sie stellt die Negative Theologie vor die anspruchsvolle Aufgabe, beschreiben zu sollen, welche Lebensformen und welcher praktische Sinnzuwachs tatsächlich mit ihren Grundoperationen verbunden sind. Das freilich ist ein eigener Erwägungsgang, der nicht an dieser Stelle entfaltet werden kann. Er hat mit dem oben schon benannten Umstand zu tun, dass eine rationale Theologie einerseits und eine Philosophie der Religion andererseits aufeinander verwiesen sind. Zu entfalten ist also, welche Religion = Lebensform mit den negativ-theologischen Grundoperationen verbunden sein könnte. Im Vorgriff auf Kap. 10–11 gesagt, in denen dies ansatzweise geschehen soll: Es wird sich zeigen, dass philosophisch keine verbindlichen Aussagen über solche konkreten Lebensformen gemacht werden können. Freilich kann man benennen, welche Zerrbilder von Religion gewiss nicht gemeint sein können, wobei aber die inhaltliche Verantwortung den konkreten, gelebten Religionen überlassen wird. Negative Theologie wird sich als Benennung von Rahmenkriterien zeigen – und die Diskussion muss weisen, ob dem Ein-
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spruch der enormen inhaltlichen Verarmung auf diese Weise Rechnung getragen werden kann. (2) Negative Theologie behauptet, nicht nur im Dialog mit konkreten Religionen von Belang zu sein, wie das vor allem bei Antwortstrategie (1) der Fall ist. Vielmehr: Die Wiedergewinnung der Rede von Gott ist strikt für Belange der Philosophie wichtig. Dies wird dann gegen eine philosophische Tradition gesagt, der etwa der Atheismus völlig selbstverständlich geworden ist. Atheistische Philosophie, gänzlich positivistische Ansätze oder aber solche, die die positionelle Beliebigkeit der Postmoderne oder ihrer feuilletonistischen Derivate zu ihrem Programm erklären, sind im Blick dieser Richtung der Negativen Theologie. Ihnen will sie ins Stammbuch schreiben, dass der Rekurs auf einen Letzthorizont auch und gerade in seiner negativen Form von entscheidender Wichtigkeit ist, weil man sich sonst im Meer des Orientierungs- und Belanglosen verliert. Diesen Zug hat die in diesem Kapitel vorgestellte Form der Negativen Theologie auch im Blick, freilich nicht zentral. Deswegen ist zum Schluss noch auf große Autoren zu verweisen, deren Beitrag zur Sache die eben angesprochene innerphilosophische Warnfunktion übernimmt.
d) Gegen die fatale Beliebigkeit: Hinweise zu weiteren Formen Negativer Theologie Prominente Denker unterschiedlicher Herkunft haben Negative Theologie im Sinne der eben genannten Option (2) betrieben. Sie darzustellen und zu diskutieren ist allerdings ein eigenes Unternehmen, so dass es hier bei einigen Hinweisen bleiben muss. Martin Heidegger: Die Frage nach dem, was kein Gegenstand einer Frage sein kann »Ob dann auch das Denken im Informationsgetriebe verendet oder ob ihm ein Unter-Gang in den Schutz durch seine ihm selbst verborgene Herkunft bestimmt ist, bleibt die Frage. Sie verweist jetzt das Denken in die Gegend jenseits von Pessimismus und Optimismus.« (Heidegger 1976, X)
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Mit diesen Worten endet die Vorbemerkung zu einer Aufsatzsammlung, die Heidegger (1889–1976) selbst veranlasste. Zwei Aspekte seines Beitrags zur Sache sind in diesen wenigen Worten bereits erkennbar: Zum einen wird am Gegner Maß genommen, und der ist das »Informationsgetriebe«. Dass Wissen gewonnen und weitergeben wird, ist in der Informationsgesellschaft und im Wissenschaftsbetrieb der Normalfall – wie noch viel mehr es in Zeiten des omnipräsenten Internets der Normalfall werden würde, konnte Heidegger nicht ahnen. Wer aber nun meint, Produktion und Weitergabe von Wissen sei das, worauf alles ankommt, irrt. Mit dieser Beschäftigung mag man zwar mitunter Wichtiges und Richtiges sagen, man verkauft sich aber an eine Tätigkeit, die etwas vergleichsweise Oberflächliches für den Sinn und den Grund des Ganzen hält. Was aber könnte dies ›Andere‹ sein? Das steckt im zweiten Zug des kurzen Zitats: »Unter-Gang in den Schutz durch seine ihm selbst verborgene Herkunft«. Schon die sprachliche Besonderheit ›Unter-Gang‹ – dergleichen findet sich viel bei Heidegger, von seinen Verehrern geliebt, von den Kritikern verspottet – macht deutlich: Wir gehen in einen Bereich, in dem es nicht einfach um Gegenstände geht. Denken, das nicht nur Informationen bereitstellt, muss es mit einem Bereich zu tun haben, in dem man nicht Objekte identifiziert. Wie aber soll man darüber sprechen können? Wer spricht, muss doch ›etwas‹ sagen! Heidegger lädt ein, es dennoch zu versuchen. Dass das tastend und dunkel vonstatten geht, steckt im Wort ›Unter-Gang‹, dass es um Ursprüngliches (›verborgene Herkunft‹) geht, ist die Hoffnung. Und klar ist: Wer so etwas versucht, muss einfache Kriterien des Misslingens oder Gelingens beiseitelassen. Dieses Vorhaben wird in Heideggers zweitem Hauptwerk ›Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis)‹ bearbeitet – das erste ist ›Sein und Zeit‹ (1927) –, das in den 1930er Jahren entstand. Man kann sich mit dem Aufsatz ›Zur Seinsfrage‹ ein Bild von der Aufgabe machen: Heidegger wendet sich unter anderem kritisch an die universitären Wissenschaften. Diese bearbeiten verschiedenes Seiendes. Die gleichsam dahinter liegende Frage aber lassen sie unerörtert, nämlich die, was eigentlich das Sein all dieser Seienden ausmacht. Würde man nun danach fragen, wie man nach
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x-beliebigen Dingen fragt, so machte man einen gewaltigen Fehler: Was Seiendes erst zu Seiendem macht, kann nicht Gegenstand sein wie dieses und jenes Seiende. Es muss sich vielmehr auf andere Weise »zeigen«, es ist im »Zeichen der Unverborgenheit des Anwesenden«. (Heidegger 1976, 402.416) Man muss hier vage werden, denn präzise Sprache gaukelt eine einfache Objektbeziehung vor, die es aber zu dem nicht geben kann, das alle Objekte erst zum Objekt macht. Heidegger nennt es das ›Sein‹, kreuzt die Vokabel aber im Druck konsequent durch, damit nicht der Eindruck entsteht, es handle sich um ein Ding. Dem sich zu nähern ist nur extrem vorsichtig möglich, und zugleich so, dass der Denkende nicht souveräner Herr der Denkoperation ist, sondern eher der, der gefunden wird: Es geht um »die Sage des andenkenden Denkens«. Dieser Vorgang »ruft das Denken in ein anfänglicheres Geheiß«. (Heidegger 1976, 423.424) Es ist nur konsequent, dass Heidegger andernorts empfiehlt, dass die Sprachform der Dichtung in diesem Sinne wahrheitshaltig ist und nicht nur eine Behübschung. Und schließlich, in aller Vorsicht: Wer so fragt, fragt auch nach dem Gott, obwohl es »um die Errichtung der Behausung für den Gott und der Wohnstätten für die Sterblichen« noch nicht gehen darf. (Heidegger 1976, 423) – Denken darf träumen, religiös zu werden. Weil es aber doch Denken bleibt – bleiben muss –, wird es dorthin nicht gelangen. Theodor W. Adorno: Um das Nichtidentische Eine kräftige Polemik Adornos (1903–1969) richtet sich gegen Martin Heidegger. (Adorno 1964) Freilich gibt es gerade in Sachen des negativ-theologischen Motivs eine Ähnlichkeit zwischen beiden, die einen die Heftigkeit dieser Polemik durchaus verwundert betrachten lassen könnte. Denn auch Adornos Philosophie wird von einer großen Sorge umgetrieben: Er erlebt das Handeln und Denken der neuzeitlichen Menschen als aggressiv und besitzergreifend und schließt, dass sich dieses Besitzergreifen auch in den philosophischen Denkstilen widerspiegelt. Beklemmend deutlich wird das, wenn man sich vor Augen hält, dass aufklärerisches Denken eigentlich angetreten war, um Humanität in die Welt zu bringen, dass die aufgeklärten Staaten Europas aber nicht
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lange brauchten, um – jeweils im Namen von Recht, Freiheit und Aufklärung – aufs Neue in die Barbarei von Kriegen zu versinken. Dem aufklärerischen Denken selbst, so lautet der Schluss, wohnt bei allem Licht, das von ihm ausgeht, ein aggressives und zerstörerisches Potential inne, das man erfassen muss und zu dem eine Alternative zumindest gesucht werden soll. Adorno schließt, dass Denken, das sich seines Gegenübers bemächtigt, usurpierendes, tendenziell gewalttätiges Denken ist. Gesucht werden also Formen, die nicht übergriffig sind, die das Gegenüber sein lassen. Das aber ist leicht gesagt und zugleich ungemein schwer getan, denn jeder Erkenntnisakt von Menschen ist ja aktiv, weil er von ihm ausgeht und seine ihm gegebenen Erkenntnismittel verwendet – verwenden muss. Kann es für das sein-Lassen des Gegenübers dennoch eine Möglichkeit geben? An präzise dieser Sachstelle bedient Adorno sich religiöser Sprache: »Der versöhnte Zustand annektierte nicht mit philosophischem Imperialismus das Fremde, sondern hätte sein Glück daran, daß es in der gewährten Nähe das Ferne und Verschiedene bleibt, jenseits des Heterogenen wie des Eigenen.« (Adorno 1988, 192)
Gewünscht, erhofft ist: Ich denke etwas, aber zugleich usurpiere ich es dabei nicht. Wie aber soll das gehen? Nur so: Es gewährt mir Nähe, verändert also meine Position vom aktiven Subjekt zu dem hin, dem etwas gewährt wird. Und zugleich bleibt es dabei es selbst, mir also nicht völlig klar und offen – denn das, was mir völlig offen und klar wäre, würde ich ja beherrschen. Möglich ist dergleichen aber nur in einem Zustand, der jetzt gewiss noch nicht eingetreten ist, denn jede Denkoperation, die ich vollziehen kann, ist Zugriff und Beherrschenwollen. Deswegen ist es verschoben auf den Zustand der Versöhnung. Wann und wo dieser Zustand eintreten soll, kann der Philosoph nicht wissen. Er kann aber darauf reflektieren, dass seine Art zu wissen hofft, auf nichtzugreifende, nicht-imperiale Art zu wissen. In diesem Sachzusammenhang fällt sogar das Stichwort der Negativen Theologie: »Negativ, kraft des Bewußtseins der Nichtigkeit, behält die Theologie gegen die Diesseitsgläubigen recht. So viel ist wahr an den Jeremiaden über die Leere des Daseins.« (Adorno 1988, 371)
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Woher die Theologie all ihre positiven Aussagen bekommt, ist dem Philosophen unerfindlich und Adorno stand dem – mindestens in der christlichen, durchaus nicht so sehr in der jüdischmessianischen Variante – kritisch gegenüber. Sofern aber die christliche Theologie den Gedanken der Negativen Theologie nicht vergisst und auf die Weltjenseitigkeit Gottes verweist, kommt sie in die Nachbarschaft. Dann gibt es eine Parallele zwischen der Philosophie Adorno’scher Lesart und der Theologie, die darin kulminiert, die ganz normale Betätigung in der Welt nicht für das Letzte zu halten, sondern gemeinsam auf einen versöhnten Zustand ohne Usurpation des Anderen zu hoffen. Jacques Derrida: Unbedingtheit und Gerechtigkeit Der französische Philosoph (1930–2004) wurde als einer der Protagonisten der Postmoderne bekannt. Sein Stichwort war dabei die ›Dekonstruktion‹. Dieser aus den Wörtern ›Destruktion‹ und ›Konstruktion‹ zusammengezogene Kunstbegriff meint in etwa, dass etablierte Theorien und Diskurse kritisch auf die Bedingungen hin untersucht werden sollen, unter denen sie entstanden und unter denen sie gelten. Nicht einfach destruiert soll werden, wohl aber gezeigt, dass es kein voraussetzungsloses Denken gibt und dass jede noch so gut etablierte Theorie auf hinterfragbaren Voraussetzungen aufruht. Derrida geht dabei so weit als möglich und fragt, ob das, was wir gewöhnlich als Zeichen einsetzen, überhaupt ein Zeichen für außersprachliche Wirklichkeit sein kann. Antwort: Wir befinden uns im Getümmel der verschiedenen Sprechweisen und es ist dabei gar nicht wahr, dass Wissenschaft und Philosophie über ›etwas‹ reden, die belletristische Literatur hingegen nicht. Sie sind vielmehr allesamt Literatur, wenn auch unterschiedlichen Charakters. Man könnte nun erwarten, dass im Rahmen eines solchen Denkens nichts mehr als verbindlich übrig bleibt. Wenn alles auch anders sein könnte, weil keine Bezeichnung und keine Beschreibung mehr sicher ist, wie soll es da Verbindlichkeit und Allgemeingültigkeit geben? Ihnen wurde ja durch den Aufweis, dass jedes Sprechen an diskutable Voraussetzungen gebunden ist, der Boden entzogen. Es gehört zu den Überraschungen auch für
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Teil I: Grundbedingung der Religionsphilosophie
Derridas erklärte Verteidiger, dass sich bei ihm eine Gedankenspur zeigt, die durchaus negativ-theologischen Charakter hat. In einem u.a. autobiographisch angelegten Vortrag ›Wie nicht sprechen‹ zeigt er seine Verbundenheit mit dem Gedanken, dass gerade das Abwesende und nicht Aussprechbare von höchster Bedeutung ist. (Derrida 2006) In seinem Beitrag zu einem Seminar über das Phänomen der Religion kehrt der Gedanke in charakteristischer Zuspitzung wieder. Das deutlichste Äquivalent für das nicht-aussprechbare Absolute ist, dass jedes menschliche Leben absolute Schutzwürdigkeit genießt. Das kann man nicht belegen, aber es zeigt sich und es lässt sich auch als durchgehendes Moment bei höchst verschiedenen Denkern nachweisen: »Die Religion des Lebendigen – ist das nicht eine Tautologie? Absoluter Imperativ, heiliges Gesetz, Gesetz der Rettung: das Lebendige als Unberührtes retten, als Heiles und Heiliges, das ein Recht hat auf absolute Achtung, auf Scham, Verhaltenheit, Zurückhaltung. (…) Eine solche intentionale Haltung oder Verfassung trägt verschiedene Namen, die sich alle durch ihre Familienähnlichkeit auszeichnen: Achtung (Kant), Scham, Zurückhaltung, Verhaltenheit, Scheu, Gelassenheit (Heidegger) – das Halten, der Halt im Allgemeinen. (…) Vielleicht bilden sie eine Art Universalie, eine Art Allgemeinheit – nicht die der ›Religion‹, sondern die einer Struktur der Religiosität.« (Derrida 2001, 81f)
Der gedankliche Weg geht in diesem Zitat vom Auffinden einer Haltung bei sich und anderen – eben die der Achtung vor dem Leben als Heiliges – zur Vermutung, man könne dies eine religiöse Haltung nennen, auch wenn sie keiner konkreten Religion zugehören muss. Wer solche absolute Achtung vor dem Leben empfindet, ist genau in ihr über das Getümmel hinaus, dass alles irgendwie auch anders sein könnte. Heideggers Zugang ging über die Denkerfahrung, dass man viele richtige Dinge entdecken und kommunizieren kann und dabei das Entscheidende noch nicht gesagt hat, Adornos ging aus von der inhärenten Gewalt des alles-wissen-Wollens. Derrida entdeckt den Zugang zum unaussagbaren Anderen in einer ethischen Haltung. Allen dreien ist gemeinsam, dass sie die Philosophie nicht als abschließbare und in Traktaten aufzubewahrende Dis-
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ziplin sehen können. Wer so dächte, verfiele einer Schulphilosophie, die es nicht mehr wagte über den Tellerrand des unzweifelhaft Gewissen zu blicken. Der Preis dafür, die schlechte Verendlichung und Selbstabschließung, ist indiskutabel, so dass die schwierigen und verstörenden Bezüge auf das gewagt werden müssen, was sich der Sagbarkeit entzieht.
Zwischenbemerkung nach Teil I Teil I stellt nach den einleitenden Bemerkungen zu Philosophie und Religionsphilosophie mit der Negativen Theologie den Umriss dessen dar, was ich als religionsphilosophische Programmatik für diskussionswürdig halte. Freilich ist es so, dass man eine Programmatik nicht zuerst vorstellen und sodann anwenden kann. Theorien werden nicht angewandt, vielmehr werden mit ihrer Hilfe Probleme bearbeitet. Mit der skizzierten Programmatik wird deshalb auf zwei Weisen verfahren: In Teil II folgt ein Überblick über Themenfelder der Religionsphilosophie. Er diskutiert einige klassische Themen genauso wie solche, die in unserer Zeit dringlich sind, etwa das Verhältnis von Religion und Naturwissenschaft oder das Problem konkurrierender religiöser Wahrheitsansprüche. Dies geschieht aus dem Blickwinkel des hier Vorgestellten. Freilich dominiert über Strecken das Referat, weil es auch darum geht, ein gewisses Informationsbedürfnis abzudecken. Immer wieder aber ist eine direkte argumentative Auseinandersetzung aus offensichtlichen Gründen angemessen. Dies: argumentative Durchführung, nicht ›Anwendung‹, ist der Ernstfall der Theorie. Teil III: Nach dem Durchgang durch verschiedene Themenfelder steht das in Teil I skizzierte Programm zur erneuten Durchsicht und vertieften Diskussion an, bereichert durch eine Reihe von Aspekten aus den materialen Kapiteln. Eine Konzeption kann erst dann wirklich überprüft werden, wenn sie sich am Material bewähren musste. Dann wird auch die Frage, wie sich aus ihrem
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Teil I: Grundbedingung der Religionsphilosophie
Blickwinkel das Verhältnis von Religionsphilosophie und Theologie darstellt, deutlicher in den Blick genommen, als das am Ende von Teil I möglich gewesen wäre.
Teil II: Dem entzogenen Grund nach denken: Themenfelder der Religionsphilosophie
4. Gottesbeweise Th.W. Adorno, Negative Dialektik, Frankfurt/M. 51988; Anselm v. Canterbury, Proslogion, lat.-dt., hg. v. F. S. Schmitt, Stuttgart 1962; Aristoteles, Metaphysik, hg. von H. Bonitz, bearbeitet von H. Seidl, in: Philosophische Schriften Bd. 5, Hamburg 1995; Gottesbeweise. Von Anselm bis Gödel, hg. von G. Kreis und J. Bromand, Frankfurt/M. 2011; I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, Werke II, hg. von W. Weischedel, Darmstadt 1983; G.W. Leibniz, Monadologie, Stuttgart 1979; W. Löffler, Einführung in die Religionsphilosophie, Darmstadt 2006; B. Pascal, Gedanken über die Religion und einige andere Themen, Wiesbaden 2001; E. Thaidigsmann, Einsichten und Ausblicke. Theologische Studien, hg. von J.v.Lüpke, Berlin 2011, 83–103; Thomas von Aquin, Summa Theologica Tomus I, Turin/Rom 231942; J. Updike, Das Gottesprogramm. Rogers Version, Reinbek 41990.
Die sogenannten Gottesbeweise gehören mit einer gewissen Selbstverständlichkeit ins Inventar der Religionsphilosophie. Es gibt kaum ein Lehrbuch ohne entsprechendes Kapitel und kein Fachlexikon ohne entsprechenden Eintrag. Das ist durchaus richtig, birgt aber das Risiko, die Gottesbeweise als isoliertes religionsphilosophisches Thema zu behandeln. Es ist aber wohl so, dass die Option, die man in Sachen Gottesbeweise wählt, beim Urteilsverhalten bezüglich vieler anderer religionsphilosophischer Themen wieder auftaucht. Denn in diesem Feld zeigt sich besonders deutlich, wie die jeweilige Position in Sachen der Gültigkeit von Schlussverfahren, der Bereiche, die man für evident und also geeignet hält, Belege zu erbringen, aussieht. Kurz, an der Positionierung in Sachen Gottesbeweise lässt sich kompakt eruieren, wie eine religionsphilosophische Position als Ganze wohl aussehen würde, weil hier wie in einem Brennglas alle Optionen beieinander sind.
a) Gott woraus beweisen? Eine basale Alternative Wer daran geht, die Existenz und – je nach Herangehensweise – die Eigenart bzw. die wichtigsten Eigenschaften Gottes belegen zu wollen, muss eine klare Vorstellung über den Beweisgang ha-
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ben, mit dem er das zu tun vorhat. Hier kann man zwei Haupttypen des Vorgehens unterscheiden, von denen der eine in sich selbst wieder ein breit gefächertes Feld darstellt. Die Unterscheidung der Haupttypen ist denkbar abstrakt und lautet: Ist Gott aus der Reflexion auf Weltzustände erkennbar oder aus einer Reflexion strikt auf Gott selbst? Gewohnt und irgendwie selbstverständlich klingt die erste der beiden Alternativen: Wer etwas belegen will, kann doch gar nicht anders, als mit Dingen, Zuständen oder Begebenheiten anzufangen, die jedenfalls Teil der Welt sind. Das gilt bereits für Reden von Gott, das noch nicht beansprucht, ein strenger Beweis zu sein und doch auf seine Existenz hinweisen will. So könnte etwa eine gläubige Christin sagen, dass es Umstände in ihrem Leben waren, die sie als Gabe oder Zeichen von Gott versteht und die sie dazu führten, Gott für existent zu halten und ihr Leben an ihm auszurichten. Wenn sie dabei vielleicht an Begegnungen, Beziehungserfahrungen oder auch an den Besuch von Gottesdiensten denkt, dann erklärt sie diese Bereiche als beleg- oder hinweisfähig für die Wirklichkeit Gottes. Dies Vorgehen klingt selbstverständlich und auch durchaus angemessen: Wie anders als durch Rekurs auf die eigene Erfahrung sollte die Behauptung der Existenz Gottes wohl gerechtfertigt werden? Es lässt sich nun denken, dass eine Fülle von Orten oder Weisen der Welterfahrung für die Gottesbelege in Frage kommen. Man kann etwa einen möglichst großen Fokus wählen und sagen, dass die Weltgeschichte insgesamt ein Beleg dafür sei, dass hinter ihr Gott stehen muss. Dafür setzt man vielleicht auf komplexe Computermodelle der Wirklichkeit – so etwa die Figur des Theologiestudenten Dale Kohler in John Updikes (1932–2009) Roman ›Das Gottesprogramm‹; er freilich bleibt dabei (und in seiner Liebesgeschichte) glücklos. Ist es zu ambitiös oder zu riskant, den Beleg über ›das Ganze‹ führen zu wollen? Viele Beleg- und Beweisversuche berufen sich deshalb auf Ausschnitte aus der Wirklichkeit, die sie für einen Aufweis der Existenz Gottes besonders aufschlussreich halten, etwa bestimmte Ordnungen in der Natur, geschichtliche Teilverläufe oder mehr oder weniger isolierte Ereignisse, die – so zumindest die Behauptung – aus dem natürli-
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chen Weltverlauf heraus nicht erklärbar sind und deshalb als Eingreifen Gottes gesehen werden müssen, was seine Existenz gleich mit beweist. Warum man auf genau diese Ausschnitte aus der Wirklichkeit – und nicht etwa andere, die den erstrebten Beleg schwierig bis unmöglich machen – sehen darf, muss dann regelmäßig besonders sorgfältig begründet werden. Setzt man voraus, dass ein Gottesbeweis bei Welterfahrung zu beginnen hat, ist die Bandbreite der Möglichkeiten also groß und es verwundert nicht, dass es diese Seite der Alternative ist, die eine Reihe verschiedener Typen hervorbrachte. Wie aber steht es um die Gegenseite? Sie behauptet, dass es entweder nicht möglich oder nicht nötig ist, auf Welterfahrung zu rekurrieren, um die Gewissheit der Existenz Gottes zu erlangen. Sie schlägt vielmehr vor, sich beim Für und Wider von Gottes Existenz auf das (behauptete) Wesen Gottes zu konzentrieren. Der Gedanke ist aus Teil I des vorliegenden Bandes vertraut: Ist Gott Gott, so kann er nicht Teil der Welt sein und so kann es von ihm keine zureichende Beschreibung mit menschlichen Mitteln geben. Wenn das aber so ist, wie sollte die Reflexion auf Sichtbares/Messbares in der Lage sein, über das, was über unser Begreifen hinaus ist, zureichend Auskunft zu geben? Die Vertreter der zweiten Seite der Alternative sagen also, dass die Belege, die die erste beibringt, mindestens ungenügend sind, wenn sie nicht glattweg in die falsche Richtung gehen. Hier wie öfter gilt, dass erst der Durchgang durch die Positionen zeigen wird, welche – oder welche spezifische Kombination aus ihnen – erfolgversprechend ist. Hier bleiben noch die vernehmlich unterschiedlichen Strategien der beiden Seiten festzuhalten: Die erste, ›weltzugewandte‹ Strategie legt Gewicht vor allem auf einen realienbezogenen Argumentationsgang und man könnte sie deshalb als methoden- oder prozessorientiert kennzeichnen. Die Eigenart des Beweisziels – sollte es denn existieren – muss sie eher vernachlässigen. Diese steht bei der zweiten Strategie ganz im Mittelpunkt, weshalb sie die gegenstandsorientierte ist. Sie wird sich, wie gleich zu sehen, auf den Preis der Unanschaulichkeit ihrer Argumente einlassen.
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b) Gottesbeweise aus Weltzuständen Hier unterscheidet man zwischen förmlichen Beweisen und Argumenten, die genau kein Beweis sein wollen, sehr wohl aber sagen, dass man Gottes Existenz postulieren muss bzw. in einer Klugheitserwägung sollte. Beweistyp I: Ursachenargumente Nichts in der Welt kann sich selbst hervorbringen. Denn es ist nicht da, bevor es hervorgebracht wurde und deshalb ist es richtig, zu sagen, dass alles, was hervorgebracht wurde, eine Ursache hat, die außerhalb seiner selbst liegt. Diese Argumentation beruht auf allgemeiner Erfahrung und sie macht Gebrach vom Satz vom zureichenden Grund. Er sagt in seiner klassischen Fassung bei Gottfried W. Leibniz (1646–1716), »daß keine Tatsache als wahr seiend oder existierend (…) befunden werden kann, ohne daß ein zureichender Grund sei, daß es so und nicht anders ist –, obwohl uns diese Gründe meistens ganz und gar unbekannt sein mögen.« (Leibniz § 32) Nichts kommt einfach so ins Dasein, vielmehr gibt es Ursachen, auch wenn ich sie nicht zu erkennen vermag. Für unsere Lebenswelt klingt das völlig plausibel. Um daraus einen Gottesbeweis werden zu lassen, muss man das Argument aufs Prinzipielle ausdehnen: Alles in der Welt geht auf eine zureichende Ursache zurück. Aber wie ist das am völligen Anfang? Nichts hat sich selbst hervorgebracht, also muss am Anfang aller Hervorbringungsketten eine Ursache stehen, die selbst keine Ursache hat oder – was gleichbedeutend ist – die ihre eigene Ursache ist. Eine solche Ursache kann und muss man ›Gott‹ nennen. – Das ist die Basisfassung des kosmologischen Gottesbeweises. Sie stammt aus der Metaphysik des Aristoteles (1071b–1072a) und wurde in ihrer Fassung bei Thomas von Aquin (1225–1274) berühmt. Thomas kennt mehrere Varianten davon: (Thomas I, 2.3) 1. Aus der Bewegtheit: Alles in der Welt ist bewegt, genauer: nicht von sich selbst, sondern von anderem bewegt. Ein unendlicher Rückgang der Bewegungskette ist aber undenkbar, so dass es einen absoluten Anfang der Bewegungskette gibt.
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2. Aus der Ursache: Das soeben wiedergegebene Argument vom absoluten Anfang aller Ursachenketten. 3. Aus dem Zusammenhang von möglich und notwendig: Was notwendig ist, muss so sein. Was möglich ist, könnte ebenso gut nicht sein. Weil aber etwas ist und nicht nichts, muss dem Möglichen ein Notwendiges vorangehen und also steht ein Notwendiges am Anfang von Allem. 4. Aus der Stufung und Ordnung der Dinge: Die Dinge sind in unterschiedlicher Güte vorhanden. Was alle Dinge letztlich hervorgebracht hat, muss also auch alle Güteklassen hervorgebracht haben, ist deswegen auch Ursache aller Perfektionen und selber perfekt.
Der Bereich, worauf das Beispiel zielt, ist jeweils etwas anders, der Gedankengang aber immer genau derselbe. Ein Ursachenzusammenhang in der sichtbaren Welt wird über die sichtbare Welt hinaus verlängert, und man sieht: Es muss einen absoluten Anfang geben. Thomas ist übrigens sehr vorsichtig mit seiner Beweisführung und schließt nur so auf Gott: »… und das nennen alle Gott.« (ebd.) Beweistyp II: Zielargument Auch dieser Beweis steht bei Thomas und komplettiert seine häufig so genannten Fünf Wege, Gott zu beweisen. Das Verfahren bei diesem Argument ist den vier ersten ähnlich, es geht nur gleichsam in die andere Richtung, weil es vom Ziel her denkt. Der 4. Beweis von Typ I denkt bereits ähnlich wie der teleologische Beweis: 5. Wir können beobachten, dass die Natur zweckhaft eingerichtet ist und deshalb sinnhaft ist. Man muss schließen, dass es eine Größe gibt, die diesen Zweck gestiftet hat. Wer den Zweck der Natur gestiftet hat, ist nicht selbst Teil der Natur, sondern ihr voraus. (ebd.)
Dieses Argument spielt eine Sonderrolle, nicht nur wegen seiner geänderten Blickrichtung. Es wird gegenwärtig wieder breit rezipiert und befeuert etwa hitzige Debatten zwischen Religion und Naturwissenschaften: Ist die staunenswerte Sinnhaftigkeit der belebten Natur nicht mit Händen zu greifen? Muss man aus ihr nicht notwendig auf einen Sinngeber schließen? (vgl. Kap. 8)
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Beweistyp I und II in der Diskussion Für diese Art, Gottes Existenz plausibel machen zu wollen, spricht zunächst ihre Erfahrungsnähe. Bewegtheit, Verursachung, Stufung usw. – all das ist zu sehen und buchstäblich mit Händen zu greifen. Mit den Fünf Wegen wird man nicht an einen abstrakten Gedanken gewiesen, sondern geradezu aufgefordert, sich in der Welt umzusehen. Auch ihre Mehrzahl ist ja durchaus Absicht: Auf kumulative Weise soll klar gemacht werden, dass man mit beruhigter Selbstverständlichkeit vom Dasein Gottes ausgehen und daran sein Leben ausrichten könne. Sie sind ein basaler Akt des rational-theologischen Realismus: In der Welt gibt es gute Gründe, um über die Welt hinaus zu denken und zu hoffen. Genau hier setzen freilich die Kritiker an. Sie behaupten, dass die Problematik dieser Beweise nicht in der Erfahrungsnähe zu finden ist, wohl aber in dem Argumentationsteil, in dem über die Erfahrungsnähe hinausgegangen wird. Denn: Mit welchem Recht soll man etwas, was für die beobachtbare Welt gilt, in einen Bereich hinein ausdehnen, der aus prinzipiellen Gründen niemals beobachtbar sein wird? Hier liegt die Schwachstelle der Fünf Wege. Für wissenschaftliche Hypothesen innerhalb der beobachtbaren Welt ist es völlig normal, Hypothesen über etwas zu bilden, was man zunächst nicht beweisen kann. So war es etwa, als der Astronom Alexis Bouvard 1821 in der Umlaufbahn des Planeten Uranus Abweichungen von den Gesetzen für die Planetenumlaufbahn feststellte. Es entstanden daraufhin verschiedene Hypothesen, unter ihnen die, dass die Abweichung durch die Anziehungskraft eines bislang unentdeckten Planeten erfolgt. Das blieb 25 Jahre lang eine Hypothese, bis der neue Planet – es war der Neptun – mit einem Teleskop entdeckt wurde. Anders, so die Kritiker der hier vorgestellten Gottesbeweise, verhält es sich mit der Hypothese ›Gott‹ hinter den Beobachtungen von Bewegtheit, Kausalität, sinnvoller Anordnung usw.: Bei dieser Hypothese wird zugleich gesetzt, dass ihr Gegenstand prinzipiell außerhalb des jemals Beobachtbaren steht. Und deswegen handelt es sich um eine unzulässige Ausweitung eines Schlussverfahrens, das für wissenschaftliche Entdeckungen innerhalb der beobachtbaren Welt berechtigterweise eingesetzt wird. (Kant B 631–642)
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Ergänzen kann man diese Kritik, die gewöhnlich als das ›knock-down-Argument‹ gilt, noch dadurch, dass man auf die Selektivität in den Beobachtungen verweist. Das gilt besonders für den 5. Beweis: Muss, wer ihn wählt, nicht sehr viel Sinnloses, das aber doch evidenterweise existiert, aus seinem Argumentationsbereich ausschließen? Wette und Postulat als Alternative zu Beweisen Immanuel Kant, scharfer Kritiker der Gottesbeweise, hat dennoch das moralische Gottespostulat eingeführt: Jemand, der strikt aus Vernunft handelt, muss annehmen dürfen, dass er letztlich in einer Welt lebt, in der sich das lohnt. Die Lebenserfahrung spricht dagegen, also muss er annehmen, dass es eine Instanz gibt, die das doch garantiert, mithin Gottes Existenz postulieren, obwohl das niemals ein Beweis werden kann. (s.o. Kap. 2.b) Es gibt noch eine Variante zu diesem Gedanken, die den Vorteil hat, lebensnaher zu sein: Der Mathematiker und Laientheologe Blaise Pascal (1623–1662) schlägt demjenigen, der nicht an Gott glaubt, eine Wette vor. Es handelt sich um eine Gewinn- und Verlustrechnung: Es steht genau 50/50, ob es Gott gibt oder nicht. Möglichkeit 1: Lebe so, als ob es Gott gibt, d.h. vertraue auf ihn und richte dein Leben nach ihm aus. Wenn es Gott nicht gibt und nach dem Tode alles aus ist, dann hast du ein nicht-religiöses Leben verloren. Wenn es Gott aber gibt, dann hast du das ewige Leben gewonnen. – Möglichkeit 2: Lebe so, als ob es Gott nicht gibt. Wenn es ihn tatsächlich nicht gibt, ist mit dem Tod alles aus und du hast vorher ein nicht-religiöses Leben gewonnen. Gibt es ihn aber doch, so hast du durch die bewusste Abwendung von Gott dein ewiges Leben verwirkt. Schlussfolgerung: Es ist rationaler, auf die Existenz Gottes zu wetten, weil der mögliche Gewinn (ewiges Leben) unendlich viel größer ist als die möglichen Verluste. (Pascal Nr. 233, stark vereinfacht)
Heute wird dieses Argument, die Pascal’sche Wette, im Rahmen der rational-choice-Theorie verhandelt und genau geprüft, ob es tatsächlich Bestand hat. (Bromand/Kreis 331–339, Löffler 108– 114) Skepsis überwiegt, obwohl fast alle Kommentatoren dem Ansatz Pfiffigkeit zugestehen. Denn zumindest für die gelebten Religionen ist richtig, dass die Annahme der Existenz Gottes ein-
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schließt, sein Leben an ihm auszurichten. Aber ist es irgend sinnvoll, das nur als Wettannahme zu tun? Schon ein Gebet, das in der Klammer von »Ich wette, dass …« steht, ist offenbar unsinnig. Auch muss man weitgehende Voraussetzungen eingehen, unter ihnen etwa die, dass Gott ganz sicher die Gläubigen mit ewigem Leben belohnt, die nicht-Gläubigen hingegen genauso sicher mit ewiger Verdammnis bestraft. Woher aber weiß man das, ohne schon an Gott zu glauben? Und wieso sollte Gott den Wett-Glauben für echt halten und belohnen? Offenbar kann Pascals Wette für sich genommen nicht als Argument bestehen. Zwischenfazit: Keine der Argumentationen, die in Abschnitt b) vorgestellt wurden, stellt einen unbezweifelbaren Beweis dar. Wohlwollende Interpreten sagen, dass sie für Menschen, die – aus welchen Gründen auch immer – bereits an Gott glauben, eine Hilfe und argumentative Rückversicherung darstellen. Sie können relative Gründe für ihre Lebenshaltung vorbringen, auch wenn sie wissen, dass sie mit diesen Gründen allein niemand anderen zum Glauben an Gott bringen werden. Offenbar ist es so, dass die von den Gottesbeweisen angezielte rationale Theologie als Ergänzung und Absicherung die Frage braucht, welche Lebenshaltung sich mit der Annahme, Gott existiere, verbindet. Es zeigt sich also, dass diese rationale Theologie nicht ohne Rekurs auf eine Philosophie der Religion plausibel wird.
c) Gottesbeweis aus der Reflexion auf Gott selbst Die zweite Seite der unter a) beschriebenen Alternative versucht das knock-down-Argument zu vermeiden, dass aus Empirie auf etwas geschlossen wird, was nie Gegenstand von Schlüssen sein kann. Es befasst sich deswegen gleich mit dem Gottesbegriff und versucht, dessen Eigenart zu bestimmen. Es handelt sich um Überlegungen zum Wesen Gottes, weshalb sich für sie der Name ›ontologisches Argument‹ oder ›ontologischer Gottesbeweis‹ eingebürgert hat. Die Grundintuition ist folgende: Wenn man Gott denkt, kann man sich dann überhaupt vorstellen, dass es ihn nicht gibt? Denn zu Gott gehört doch, dass er der Grund von allem ist,
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dass er allmächtig, allwissend usw. ist. Überlegungen, die Gottes Existenz aus Weltzuständen belegen wollen, sind demgegenüber Umwege. Sie halten sich im Geflecht der Wirksamkeiten und Effekte auf und müssen sich nachsagen lassen, den Unterschied zwischen Wirksamkeit und Verursacher zu verschleiern. Nicht so also, wenn man gleich mit Gott beginnt. Zu Gott gehört, dass er alle Eigenschaften, die er hat (genauer: Eigenschaften, die er ist), in Vollendung hat/ist. Kann ich dann überhaupt denken, dass ein vollkommenes Wesen alle Vollkommenheiten hat/ist, aber ausgerechnet die Vollkommenheit namens ›es ist‹ nicht hat? Das wäre doch offenkundig ein Widerspruch. Und so kommt es, dass der Gedanke ›Gott‹ mit dem Gedanken ›zu Gott gehört es, dass er existiert‹ zusammenfällt. Lässt man sich das durch den Kopf gehen, stellen sich zumeist zwei Folgegedanken in irritierender Gleichzeitigkeit ein. Diese Irritation ist für das ontologische Argument typisch und macht seine Faszination über die Jahrhunderte hinweg aus. Es handelt sich um: (1) Konzeptionell scheint die Sache klar zu sein. Das vollkommene Wesen zu denken und zu sagen: ›es ist vollkommen, nur existiert es nicht‹, ist widersprüchlich. Denn das, was nur vollkommen gedacht wird, ist offenbar nicht vollkommen. (2) Was aber hat man mit diesem Gedanken nur getan? Hat man etwa aus einem bloßen Gedanken von etwas darauf geschlossen, dass dieses etwas tatsächlich vorhanden ist? Ist das nicht bloßes Wunschdenken? Diese beiden Aspekte stehen in zäher Weise gegeneinander an. Je nachdem, mit welchem der beiden man beginnt, stellen sich der inhaltliche Kern und die Chancen des ontologischen Arguments anders dar, überzeugend vorgetragen zu werden. Sehen wir beide an: Weithin gängig ist der Beginn bei (2). Immanuel Kant hatte so eingesetzt und den ontologischen Gottesbeweis als Kern aller Gottesbeweise kritisiert. (Kant B 620–630) Man fragt also, ob es möglich ist, von einem Begriff von ›etwas‹ auf die tatsächliche Existenz dieses ›etwas‹ zu schließen. Antwort: keinesfalls! Kant nennt das Beispiel eines gedachten Geldbetrags. Dass ihn jemand als existierend denkt, unterscheidet ihn nicht vom Traum des Lottospielers, den Millionenjackpot zu knacken. So folgert
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Kant: ›x existiert‹ darf nicht unter die Eigenschaften von x gerechnet werden, so wie etwa die Eigenschaft, Kaffee zu fassen, zum Becher auf meinem Schreibtisch gehört. Der Satz ›x existiert‹ darf erst nach empirischer Prüfung vergeben werden. Originalton: »Sein ist offenbar kein reales Prädikat, d. i. ein Begriff von irgendetwas, was zu dem Begriffe eines Dings hinzukommen könnte. (…) Im logischen Gebrauch ist es lediglich die Kopula eines Urteils.« (Kant B 626) In der Tat, wenn man so anfängt, dann wird der Gedanke, zum Begriff Gottes gehöre, dass er existiert, kaum überzeugen können. Freilich hat schon Kant selber hier nicht einfach aufgehört. Wie oben (Kap. 2.b) zu sehen war, ist er ja mitnichten der Meinung, dass die Philosophie keinen Begriff von Gott braucht. Vielmehr ist der Gedanke Gottes für die theoretische Philosophie als regulative Idee und für die praktische Philosophie als moralisches Gottespostulat nötig. Die fehlende Durchschlagskraft des ontologischen Arguments heißt für Kant also nicht, dass man auf das, was das Argument gern belegt hätte, verzichten könnte. Wie sieht es deswegen von der anderen Seite aus, also mit dem Folgegedanken (1)? Wer so herum beginnt, nimmt sich zunächst die kantische Kritik am ontologischen Argument vor und versucht sie zu entkräften: Es ist richtig, dass ein gedachter Geldschein dadurch, dass ich ihn existent denke, nicht realer wird. Existenz ist in der Tat nicht eine Eigenschaft wie blau, groß oder schwer. Freilich gilt diese Restriktion für alle Dinge in der Welt. Besteht aber irgendein Recht, Gott nicht als Ding in der Welt zu konzipieren, so könnte sein, dass für ihn – und nur für ihn – andere Regeln gelten, wenn es um das Urteil ›x existiert‹ geht. Gott ist kein Weltding und deswegen darf über seine Existenz nicht wie über die Existenz von Weltdingen entschieden werden. Die klassische Gestalt des Arguments wurde von dem Theologen Anselm von Canterbury (1033/34–1109) vorgetragen und in den folgenden Jahrhunderten in einer langen Reihe von Variationen und Verschiebungen diskutiert. (Überblicke: Bromand/ Kreis 31–55.101–127.381–406). Anselm sagt in seinem Werk Proslogion (Anrede), Gott ist »aliquid quo nihil maius cogitari possit«, »etwas worüber hinaus Größeres nicht gedacht werden
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kann«. (Prosl. II) Und dann führt er aus: Ist Gott etwas, worüber hinaus Größeres nicht gedacht werden kann, aber das nur in meinen Gedanken, dann könnte ich mir etwas Größeres denken. Denn Gott, wenn er wirklich existiert, ist doch größer als Gott als bloßes Gedankending. Und deshalb ist Gott nur als Gegenstand meines Denkens gar nicht das, worüber hinaus Größeres nicht gedacht werden kann. Was ist der Ertrag dieses genauso kurzen (24 schmale Zeilen im Original, ebd.) wie dichten Gedankens? In etwa dieser: Sofern ich Gott denke und sofern Anselms Definition Gottes irgendetwas für sich hat, habe ich Gottes Existenz gleich mitgedacht. Die Rede ist von einer denkerischen Zwangsläufigkeit: Wer Gott so denkt, kann nicht anders, als Gottes Existenz mitzudenken. Und, die Pointe folgt unmittelbar, wer Gott anders denkt, denkt gar nicht Gott, sondern irgendein Weltding (und was für die Existenz von Weltdingen gilt, hat Kant unwidersprochen klar gemacht). Die gute Frage ist, was genau man damit erreicht hat. Anselm hat klar gemacht, dass zum Gedanken Gottes gehört, dass ich ihn als existierend denke. Das lässt sich auf zweierlei Weise betonen: (a) »dass zum Gedanken Gottes gehört, dass ich ihn als existierend denke«; (b) »dass zum Gedanken Gottes gehört, dass ich ihn als existierend denke«. Lesart (a) betont die mit dem ontologischen Argument gegebene Realitätsunterstellung, Lesart (b) betont, dass das ontologische Argument ein – genau! – Argument ist, also von Menschen gedacht wird. Hier kehren die beiden oben genannten Aspekte (1) und (2) wieder. Wer beim Aspekt (1) – ist Gott Gott, so muss er existieren – beginnt, wird Lesart (a) bevorzugen, wer kantisch bei (2) – von Denken darf ich nicht auf Sein schließen – anfängt, wird die kursiven Betonungen bei (b) richtig finden. Für die Interpretation bei Anselm von Canterbury selbst muss man den Kontext der Schrift und des ganzen Werks beachten. Der Mönch und Theologe ist zwar sehr daran interessiert, gute philosophische Gründe für die Inhalte des christlichen Glaubens zu finden – so gibt es u.a. ein Werk von ihm, in dem ohne Berufung auf die Evangelien erklärt wird, warum Gott in Christus Mensch werden und den Kreuzestod erleiden musste –, aber er lässt keinen Zweifel daran, dass das ein Unternehmen
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innerhalb des christlichen Glaubens ist. Er nennt es mit dem zuerst geplanten Titel für das Proslogion »fides quaerens intellectum«, »der Glaube fragt nach Einsicht (seiner selbst)«. Deutlich wird das u.a. dadurch, dass das Werk von einem Gebet gerahmt ist. (Prosl. I.XXVI) Es ist also Denken in der Haltung dessen, der Gott anbetet.
Im Sinne eines für neuzeitliche Menschen befriedigenden Beweises ist das ontologische Argument kein Beweis, weil sie stets beim Folgegedanken (2) herauskommen werden. Bleibt also nur, das Argument an die Theologie zurückzugeben und es der Selbsterforschung des christlichen Glaubens zu überlassen? Neuere philosophische Erwägungen sehr unterschiedlicher Herkunft sehen das nicht so. Die eigentümliche Schaukelbewegung zwischen den Aspekten (1) und (2) ist für sie nicht beendet, und auch wenn sie einig sind, dass ein erfolgreicher Beweis nicht vorliegt, scheint ihnen das ontologische Argument philosophisch denkbar und – zumindest im Fall eines Vertreters der Sache – sogar unverzichtbar.
d) Die bleibende Faszination des ontologischen Arguments Auch unter strengen Bedingungen ist es möglich, das ontologische Argument zu denken: Der modallogische Gottesbeweis Zu den Bereichen, in denen in der Philosophie des 20. Jahrhunderts intensiv gearbeitet wurde, gehört die Logik. Sie ist eine streng formale Disziplin und bearbeitet die Frage, welche Schlussverfahren als gültig angesehen werden können. Zu ihren schwierigeren Gebieten gehört die Modallogik, also die Frage nach Schlussverfahren, in denen es nicht nur um wahr/falsch-Entscheidungen (sie bilden die zweiwertige Logik), sondern um Aussagen mit Wahrscheinlichkeitscharakter geht. Sie ergänzen die zweiwertige Logik um die Größen wahrscheinlich und unwahrscheinlich. Der Mathematiker Kurt Gödel (1906–1978) arbeitete knapp dreißig Jahre an einer streng modallogischen Rekonstruktion des ontologischen Arguments. Er beabsichtigte nicht, damit tatsächlich einen Gottesbeweis zu führen und sagte von sich, dass er nicht an Gott glaube. Ihn interessierte lediglich, ob der Gedanke
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unter streng logischen Bedingungen nachvollziehbar sei. Dafür konzentriert er sich auf den Punkt, ob man von einem göttlichen Wesen sagen könne, dass es notwendig existiert, also genau auf den problematischen Kern des Arguments. Der – im Original in logischer Formelsprache vorgetragene (Bromand/Kreis 483– 487) – Gedankenweg kann in Hinblick darauf so wiedergegeben werden: 1. Göttlich können wir etwas nennen, was alle positiven Eigenschaften besitzt. 2. Ein göttliches Wesen hat nur Eigenschaften, die mit seiner Göttlichkeit zu tun haben (also z.B. keine Augenfarbe, da Augenfarbe vermutlich nichts mit Göttlichkeit zu tun hat). Die Eigenschaften Gottes sind also Vollkommenheiten. 3. Dies, dass seine Eigenschaften Vollkommenheiten sind, unterscheidet Gottes Eigenschaften von den Eigenschaften aller Weltdinge. Deswegen ist es möglich, notwendige Existenz unter die Eigenschaften Gottes zu zählen. 4. Dann sind wir am Ziel: Wenn es möglich ist, dass etwas Göttliches existiert, dann muss dies Göttliche so existieren, dass es alle positiven Eigenschaften als Vollkommenheiten besitzt. Deswegen folgt aus der Möglichkeit Gottes seine Existenz. (vgl. Bromand/Kreis 393–397)
Gödel sagt also, dass Kants Kritik, man dürfe Existenz nicht zur Eigenschaft machen, nicht verfängt – allein für Gott nicht verfängt! Aber existiert Gott nun? Das weiß Gödel nicht, denn dazu müsste man die Eigenschaften Gottes untersuchen: Sind sie tatsächlich die Summe aller positiven Eigenschaften? Das aber ist das Geschäft der Theologie, das die Logik/Philosophie ihr nicht abnehmen kann. Das Ergebnis ist also aufregend und nüchtern zugleich: Ja, das ontologische Argument ist sauber denkbar. Nein, ein theologieexterner Beweis wird nicht daraus. Gödels Version ist also ein Plädoyer, das ontologische Argument für denkbar zu halten. Eine Nötigung, sich auf es einzulassen, sieht er offenbar nicht. Bei der zweiten hier anzusprechenden Version ist das sehr wohl der Fall – allerdings auf spezifische Weise.
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Das ontologische Argument als bleibende Sehnsucht Theodor W. Adorno (s.o. Kap. 3.d) wird mit dem Satz zitiert: »Seine [Kants, M.H.] Philosophie kreist, wie übrigens wohl eine jede, um den ontologischen Gottesbeweis.« (Adorno 378) Hier geht es nicht um Adornos Kant-Interpretation, sondern um die Behauptung, jede Philosophie kreise um den ontologischen Gottesbeweis. Das Wort ›kreisen‹ ist wichtig. (Thaidigsmann 83) Adorno hält den Beweis für unführbar, weil ihn Kants Kritik daran überzeugt. Vom Begriff einer Sache kann tatsächlich nicht auf die Existenz dieser Sache geschlossen werden. Aber dennoch kommt man von dem Gedanken nicht los. Denn er artikuliert eine Sehnsucht: Im ontologischen Argument sind Denken und Sein unmittelbar beieinander, weil aus dem Gedanken Gottes das Sein Gottes folgt. Das unterscheidet diesen unerhörten Gedanken von allen Erkenntnisprozessen, die in der Welt stattfinden. Bei ihnen ist Erkennen und Erkanntes zweierlei, nie gehören sie unmittelbar zusammen. Das ontologische Argument – das in sich, wie gesagt, unerschwinglich ist – setzt also die Sehnsucht mit, dass es doch so sein möge, dass Erkennen und Wirklichkeit einmal völlig zusammengehören. Dann wäre alles Vorläufige, dann wäre die Unruhe des Denkens und auch jeder Irrtum vorüber. Aber: Anders als als Sehnsucht und vielleicht als Hoffnung kann das nicht formuliert werden, weil nicht absehbar ist, wie sich die Bedingungen des Denkens so plötzlich grundlegend ändern sollten. In Kap. 3.d war Adorno mit seiner im Konjunktiv vorgetragenen Rede vom versöhnten Zustand zitiert worden. Es wäre genau dieser versöhnte Zustand, in dem Denken und Wirklichkeit so unmittelbar zusammengehen, wie im undurchführbaren ontologischen Beweis. Das ist ein Stück Negativer Theologie: Es ist rational, zu hoffen, dass es einen solchen Zustand geben möge. Als Gegenstand eines gedanklichen Schlussverfahrens ist diese Hoffnung aber nicht zu haben. Aber gerade deshalb kann man es nicht lassen, diesen Gedanken wieder und wieder zu denken. Denn wieso sollte man die Hoffnung aufgeben, dass Denken und Sein einmal nicht mehr voneinander getrennt sein werden?
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5. Religionstheorien E. Feil, Religio. Die Geschichte eines neuzeitlichen Grundbegriffs vom Frühchristentum bis zur Reformation, 4 Bd., Göttingen 1986–2006; A. Feldtkeller, Warum denn Religion? Eine Begründung, Gütersloh 2006; M. Hailer, Glauben und Wissen. Arbeitsbuch Theologie und Philosophie, Göttingen 2006; H. Joas, Braucht der Mensch Religion? Über Erfahrungen der Selbsttranszendenz, Freiburg 2004; J.H. Leuba, A psychological study of religion. Ist origin, function and future, Nachdr. New York 1969; H. Lübbe, Religion nach der Aufklärung, München 32004; R. Otto, Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen, München Nachdruck 1991; H.S. Reimarus, Apologie oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes (teilw. gedruckt 1774–1778), 2 Bd., Frankfurt/M. 1972; F.D.E. Schleiermacher, Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern, hg. von R. Otto, Göttingen 82002; Streitfall Religion. Diskussionen zur Bestimmung und Abgrenzung des Religionsbegriffs, hg. von E. Feil, Münster 2000.
In Teil I und im vorigen Kapitel wurde das Thema einer expliziten Philosophie der Religion zurückhaltend bzw. gar nicht behandelt. Die Zurückhaltung in Teil I ist einer systematischen Überzeugung geschuldet, die weitgehende Nichtbeachtung in Kap. 4 ist vom Gegenstand her begründet. Letzteres muss jetzt keine Rolle mehr spielen und die in Teil I nur sehr knapp begründete Zurückhaltung ist jetzt für die Darstellung hintanzustellen und überdies systematisch zu prüfen: Religion ist ein Großthema neuzeitlicher Religionsphilosophie und schon deshalb konzentrierter Aufmerksamkeit wert. Überdies sind die Argumente dafür, es lieber mit einer Philosophie der Religion als mit einer rationalen Theologie zu versuchen, sowohl vielfältig als auch beeindruckend. Zunächst ist eine kleine Darstellung nötig, wie ›Religion‹ überhaupt zu einem Großthema wurde. Das ist anders als durch eine historische Erinnerung nicht möglich, weil das Thema in spezifischer Weise als Reaktion auf die enormen Umschichtungen der Aufklärungszeit überhaupt zum Thema wurde. Ausgewählte Klassiker erhalten dann das Wort, samt einigen Blicken auf ihre gegenwärtige Rezeption. Spezifisch für das Religionsthema ist, dass man fragen kann und muss, welche Funktion Religion im
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Leben der ›Religiösen‹ ausübt. Diese sog. funktionalen Religionstheorien bilden den Übergang zu einer kritischen Besprechung dieser Theorietradition. Ansatzweise und im Vorgriff beworben wird ein Modell, das Religion nicht als spezifische Erfahrung eines Individuums deutet, sondern als von einer Gemeinschaft geteilte Sicht auf das ganze Leben.
a) Die Geburt der Religion aus dem Geist der Aufklärung Der etwas blumige Titel spielt auf ein frühes Werk von Friedrich Nietzsche an: ›Die Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik‹ von 1872. Die ›Geburt der Religion‹ fand allerdings knapp 100 Jahre früher statt. Selbstverständlich gab es Begriff und Phänomen bereits in den Jahrhunderten zuvor. Freilich entwickelte sich bei maßgeblichen postaufklärerischen Denkern ein spezifisches und durchaus neu zu nennendes Verständnis, so dass die Rede von der Geburt der Religion aus dem Geist der Aufklärung nicht völlig übertrieben ist. Im 18. und unmittelbar zu Beginn des 19. Jahrhunderts erlebte das philosophische und theologische Denken in Europa eine Umstellungskrise von vorher nicht gekannter Heftigkeit. Sie umfasst mindestens die folgenden Bereiche: (Hailer 119f) – Einsicht in die geschichtliche Verfasstheit und Relativität alles dessen, was geschieht und auch alles dessen, was gedacht und geschrieben wird (gerade auch der Bibel); – die grundsätzliche Ablehnung von äußerlicher Autorität als Garantie von Wahrheit und Gültigkeit, ineins damit die – Bedeutung des Subjekts und seines Gewissens als Wahrheitsinstanz; – der Siegeszug der historischen, empirischen und mathematisierten Wissenschaften; – eine Fundamentalunterscheidung von Natur und Geist: Es gibt entweder Ausgedehntes/Dinghaftes (res extensa) oder Denken (res cogitans), aber nichts sonst; – ein gleichheitsorientiertes Rechtsverständnis, das naturrechtlich funktioniert: Menschen haben von Natur aus gleiche Rechte; – zumeist ein ausgeprägter Fortschrittsoptimismus, bezogen auf die Ausbreitung von Wissen, Recht und auch von Wohlstand.
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Die Vertreter der konfessionellen Theologien wurden von diesem Motivbündel tief und wohl auch unvorbereitet getroffen, weil sie etwa ab dem Ende des 16. Jahrhunderts vorwiegend mit der schulmäßigen Sicherung der jeweiligen konfessionellen Lehrbestände und mit der Polemik gegen jeweils andere Konfessionen beschäftigt waren. Das war ein gänzlich innenperspektivisches Unternehmen christlicher Theologie, das sich wohl philosophischer Denkmittel bediente, sie aber ganz dem theologischen Zweck ein- und unterordnete. Die massiven aufklärerischen Anfragen waren dagegen außenperspektivischer Natur. Dass das überhaupt möglich ist und eigene Legitimität hat, musste die Theologie des 18. Jh. erst mühsam lernen, weil die letzten echten außenperspektivischen Dialoge Jahrhunderte zurück lagen und überdies eigener Art waren. Man unterscheidet gewöhnlich zwei Hauptströmungen theologischer Reaktion auf die Aufklärung des 18. Jh., die Neologie und den Rationalismus. Neologen – hier ist der Name Programm – verstanden sich als aufklärungsaffine Erneuerer derjenigen Bestände, die sie in ihren Konfessionen vorfanden. Sie wandten sich beispielsweise gegen die ihres Erachtens zu hohe Wertschätzung der jeweiligen konfessionellen Lehrschriften (Bekenntnisse) und forderten ein konsensorientiertes, für die Gegenwart verstehbares Christentum. Neologen warben sowohl für die Anerkennung von Vernunftstandards in der Religion als auch dafür, dass entsprechend interpretierte Religion nicht vernunftwidrig ist und also auch außerhalb von Theologie und Kirche verstehbar sein sollte. Noch einen Schritt weiter als die auf Vermittlung angelegten Vorschläge der Neologie ging der theologische Rationalismus: Nur dasjenige aus den Ideenbeständen der kirchlichen Theologie, was den Kriterien der allgemeinen Vernunft genügt, soll Geltung beanspruchen dürfen. Diese Position zielte vor allem auf den Anspruch kirchlicher Theologie, Gott habe den Menschen Wahrheiten auf dem Wege der Offenbarung zukommen lassen. Wenn aber nur Argumente aus Vernunft gelten dürfen, dann darf der Offenbarungsreligion evidenterweise keinerlei Autorität zukommen können. Der wichtigste Vertreter dieser Richtung ist Hermann S. Reimarus (1694–1768). In seinem Hauptwerk ›Apologie
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oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes‹ entwarf er gegen das Kirchenchristentum eine vernünftige Religiosität: Sie stützt sich allein auf die – von Reimarus für gültig gehaltenen – Gottesbeweise und sieht eine von Gott garantierte Weltordnung, die sich in der Anlage des Menschen zur Moralität widerspiegelt. Die natürliche Religion richtet sich auf diese Gegenstände, nicht jedoch auf die für Reimarus absurde Vorstellung, es gebe Zeugnisse einer partikularen Offenbarung Gottes. Damit ist ein wichtiges Stichwort für die ›Geburt der Religion‹ bereits erreicht: Reimarus sagte, dass es eine allen Menschen gleiche Religion gibt und profilierte das gegen partikulare Offenbarungsansprüche einzelner Religionen. Manche Theologen und Philosophen, die bei seiner teils sehr scharfen Christentumskritik nicht in allem mitgehen, nehmen die Motive der Universalität und der mindestens tendenziellen Offenbarungsdistanziertheit auf. Die Ersetzung der herkömmlichen konfessionellen Offenbarungshörigkeit durch eine universelle Vernunftreligion ist freilich noch nicht das Ende der aufklärerischen Bewegung hin zur Religion. Sie erhält noch einen weiteren Bedeutungsaspekt durch die selbstkritische Verschärfung des aufklärerischen Gedankens. Hatte Reimarus, wie gerade berichtet, sein Konzept einer natürlichen Religion noch an das Funktionieren der Gottesbeweise und die Idee einer göttlich stabilisierten Vernunftreligion geknüpft, so fallen im Fortgang der Aufklärung auch diese beiden Argumentstützen weg: Immanuel Kant kritisiert die Gottesbeweise vernichtend. Sein Widerpart, der englische Empirist David Hume (1711– 1776) ging sogar noch weiter und verwarf jeden Bezug auf etwas, was über die beobachtbare Welt hinausgeht, als bloße Phantasie. So war die Absicherung der natürlichen Religion in der Idee einer Harmonie von Gott und Welt dahin. Entweder gibt es diese Harmonie einfach nicht (Hume) oder aber, falls es sie gibt, ist sie uns strikt unerforschlich (Kant). Für den Religionsbegriff heißt das: Zum einen wurde er noch wichtiger, weil auch der rationalistische Gedanke von der Existenz Gottes nicht mehr plausibel war. Zum anderen musste er eine höhere Begründungsleistung erbringen: Im Phänomen Religion selber muss sich zeigen, dass sie sich auf etwas über sich hinaus bezieht, und wie sie das zu tun gedenkt.
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b) Um die Eigenart der Religion Religion: Ein eigener Bereich der Erfahrung Es ist gut verständlich, warum nicht wenige Theoretiker nach der Aufklärung statt auf die unplausibel gewordene rationale Theologie nun auf den Religionsbegriff setzten: Der Begriff versprach, die andernorts vertriebenen Themen neu und im Rahmen anderer Sachlichkeit durchdenken zu können, hatte die Schultheologie der Voraufklärungszeit doch mit ihrer Betonung objektiver theologischer Wahrheiten den subjektiven Aspekt verdrängt. Wer ist es eigentlich, der/die glaubt, und: wie tut man das eigentlich und was ereignet sich dabei? Zugleich nahmen es die Theoretiker einer Philosophie der Religion auf sich, mittels des Religionsbegriffs auch Begründungsleistungen zu erbringen. Selbstverständlich nicht notwendig christlich – wobei diese Denktradition eine merkliche Nähe zu christlicher Theologie hat, die sie aber nicht selten in gewollter Distanz zum kirchlich etablierten Christentum durchführt. Die erste ganz große Stimme hierfür ist der in Kap. 1.b bereits erwähnte Friedrich Schleiermacher. Ein Blick in seine epochalen ›Reden über die Religion an die Gebildeten unter ihren Verächtern‹ kann die Reichweite dieses Neueinsatzes beim Religionsbegriff deutlich machen. Das beginnt schon beim Titel. Schleiermacher wendet sich mit seinem 1799 erschienenen Werk ans gebildete, zugleich aber glaubensferne Publikum: Mit ›Offenbarung‹, ›Kirche‹ und ähnlichen Themen braucht man diesem Publikum vorderhand nicht zu kommen, wohl aber wird Schleiermacher beanspruchen, dass das Religionsthema auch und gerade bei den sog. Kirchenfernen Resonanz erzeugen kann. Religionsphilosophie dieser Art hat also zumindest auch einen apologetischen Zug, d.h. einen, der die Sache des Glaubens werbend und erklärend vertritt (es muss aber, wie gesagt, nicht die Sache des etablierten Kirchenchristentums sein). Aus dem Geflecht von Schleiermachers Argumentationen sind zwei basale Züge für unseren Zusammenhang wichtig: (1) Schleiermacher weist der Religion einen eigenen Erfahrungsbereich zu. Das war neu. Denn die – aufklärerisch abgewählte – rationale
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Theologie hatte ihre durch Gottesbeweise gestützte Theorie über Gott im Zentrum und war also auf wahre theoretische Aussagen bedacht. Religion konnte für sie höchstens die subjektive Aneignung dieser objektiv wahren Sätze sein, also ein ganz nachgelagertes und kaum interessantes Phänomen der theoretischen Philosophie. Der wichtigste Kritiker dieser Theologie, Immanuel Kant, hatte die Religion hingegen in die praktische Philosophie verschoben: Das moralische Gottespostulat ist ja in der Ethik angesiedelt, es ist eine notwendige Implikation für den, der in Kants Sinne streng pflichtgemäß zu handeln versucht. Auch hier also fand sich das Thema der Religion als Appendix eines anderen Themas vor. Schleiermacher wendet sich gleich gegen beide und sagt mit einer berühmt gewordenen Wendung: Religion ist »weder Denken noch Handeln, sondern Anschauung und Gefühl. Anschauen will sie das Universum. In seinen eigenen Darstellungen und Handlungen will sie es andächtig belauschen, von seinen unmittelbaren Einflüssen will sie sich in kindlicher Passivität ergreifen und erfüllen lassen.« (Schleiermacher 49)
Im Teilsatz »weder Denken noch Handeln« steht die Ablehnung der bis dahin geltenden Üblichkeit, Religion entweder unter die Metaphysik oder unter die Ethik zu fassen. Offenbar ist sie eine eigene Herangehensweise an die Welt. Wie aber funktioniert diese Herangehensweise? (2) Die weiteren Bestimmungen im Zitat geben die Richtung. Es geht um eine Herangehensweise, die durch Passivität und Ergriffensein gekennzeichnet ist. Es geht darum, sich einer Wirkung auszusetzen und nicht selbst aktiv zu sein. Denken und Handeln sind je auf ihre Weise aktiv, der Erfahrungsbereich, den Schleiermacher anzielt, ist es genau nicht: Ich finde mich vor, beeindruckt und ergriffen vom Großen und Ganzen, das auf mich wirkt. Mit diesem Argument emanzipiert Schleiermacher die Religion von der Fremdbestimmtheit durch Metaphysik und/oder Moral. Zugleich knüpft er an eine alte theologische und religionsphilosophische Tradition an, die von der vita passiva. Gott/dem Absoluten gegenüber ist aktives, erkennendes Auftreten gar nicht möglich, weil er selbst das bestimmende Subjekt ist. Die religiöse Haltung ist, sich dem hinzugeben und also
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passiv und empfangend zu werden. In der Tradition der Mystik spielte und spielt dies eine große Rolle, genauso lässt es sich für die hier schon zu Wort gekommenen neuplatonischen Philosophen und Theologen zeigen, die die Ungegenständlichkeit Gottes betonen. Schleiermachers entschieden neuzeitliche Argumentation steht also in einer langen und vielfältigen Traditionslinie.
Inhalte der religiösen Erfahrung und ihr Grund Wenn Religion eine passive Haltung des beeindruckt-Werdens ist, dann ist klar, dass ihre Inhalte sehr schwer zu beschreiben sind, weil die Beschreibung immer in der Gefahr ist, objektivierend und damit zur Theorie zu werden, was aber in Sachen Religion ja genau nicht geschehen darf. Eine gewisse Vagheit im Sprechen ist also nicht zu vermeiden. Schleiermacher ist dem treu geblieben und hat zugleich seine Religionsphilosophie für theologische Zwecke nutzbar gemacht. Er bestimmte den christlichen Glauben als reifste Form von ›Anschauung und Gefühl‹ und konzipierte so seine Dogmatik als Erklärung des christlichen Glaubens. Manche sahen darin eine untunliche Einengung des zu Recht breit aufgestellten Religionsverständnisses. Einer seiner Rezipienten – er gab die verbreitetste Leseausgabe der ›Reden über die Religion‹ heraus – machte ihm diesen Vorwurf nicht (obwohl er einige konzeptionelle Umstellungen vornahm), zog es aber gleichwohl vor, seinen Versuch einer genaueren inhaltlichen Beschreibung der religiösen Erfahrung inhaltlich so breit aufzustellen, dass nicht nur Christen/ innen sich darin wiederfinden konnten. Das ist der Ausgangspunkt von Rudolf Ottos (1869–1937) epochalem Werk ›Das Heilige‹ von 1917. Otto, zugleich Theologe und Religionswissenschaftler, unternimmt hier nicht weniger als eine Beschreibung der religiösen Basiserfahrung, die sich nach seinem Urteil in allen Religionen nachweisen lässt und zur Möglichkeit aller Menschen zählt. Das auch außerhalb von Fachkreisen populäre Buch wartet zunächst mit einer Phänomenbeschreibung religiöser Erfahrung auf. Dass es Momente religiöser Erfahrung gibt, steht für Otto dabei völlig außer Frage. (Otto 8) Sie sind als passive Gestimmtheit im Menschen erfahrbar. Otto nennt sie ganz allgemein Erfahrungen des Numinosen: Etwas dringt auf Menschen ein und hinterlässt Eindruck, obwohl es als Objekt nicht bestimmbar ist.
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Eine Stimmung, ein Klang, Worte, auch Zusammenspiel aus Raum, Musik und vielleicht Gerüchen – unbestimmbare, aber doch hoch beeindruckende Erfahrungen dieser Art sind allen Menschen zugänglich. Wenn man auf sie reflektiert und fragt, was außerhalb des Menschen es ist, das auf ihn Eindruck macht, so lassen sich zwei Hauptmomente bestimmen. Es handelt sich einerseits um das mysterium tremendum und andererseits um das mysterium fascinans. Mysterium tremendum heißt, dass das auf den Menschen andringende Numinose erschreckt und Schaudern macht. Es ist übermächtig, bedrohend, ja im abweisenden Sinne heilig. Der Schreckensaspekt ist aber nicht der Kern der Sache, vielmehr zeigt sich im und hinter dem Schrecken das eigentlich Wichtige, nämlich das Wunderbare und Heilige. Die Erfahrung geht also nicht nur aufs Schauervolle, sondern auch mit seiner Hilfe auf das Wunderbare und dem Menschen ganz fremde Heilige. (Otto 28–37) Otto zitiert als Beispiele vor allem christliche und islamische Mystiker, die anhand unterschiedlicher Erfahrungen beschreiben, dass der Zugang zum Heiligen nicht ›einfach so‹ geschieht, sondern das Moment des Erschreckens in sich birgt. Der ›liebe Gott‹ – dem Anton Bruckner seine 9. Sinfonie gewidmet haben soll und den manche Frömmigkeitspraxis gern so hätte – ist also so unverstellt gar nicht zu haben. Das gilt freilich nicht ohne das Gegenstück des mysterium fascinans: Die Begegnung mit dem ganz anderen Heiligen ist nicht nur, aber auch hinreißend, verzückend, ja manchmal richtiggehend rauschvoll. Es zieht einen an, und wer solche Erfahrungen machen konnte wird sie wieder machen wollen. Auch hier gilt: das fascinans ist kein Selbstwert, sondern Hilfe und Durchgang zum Heiligen selbst, das aber nur im fascinans oder tremendum zu ›haben‹ ist. Die beiden Momente der Erfahrung des Heiligen sind komplementär, so dass sich mit Otto sagen lässt, dass religiöse Erfahrungen sehr reichhaltig möglich sind, keine Einzelerfahrung dabei aber das Recht bekommt, für gleichsam alles stehen zu dürfen. Außerdem schärft Otto ein, die vielfältigen religiösen Erfahrungen und ihren objektiven Grund nie zu verwechseln: »Gott ist, in sich selbst, noch eine Sache für sich.« (Otto 52)
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Auf die Frage, wie es denn nun kommt, dass Menschen religiöse Erfahrungen machen können, antwortet Rudolf Otto, dass die Möglichkeit solcher Erfahrung im Menschen selbst angelegt ist. Äußere Reize – etwa entsprechende Stimmung, Musik o.ä. – dringen auf den Menschen ein und rühren etwas in ihm Angelegtes an; in ihm sind die entsprechenden »Überzeugungen und Gefühle angelegt«. Religiös zu sein, ist »eine verborgene Anlage des menschlichen Geistes, die, durch Reize geweckt, wach wird.« (Otto 138 bzw.140) Dieser Gedanke ist für die Theorieanlage von Rudolf Ottos Buch zentral. Denn er erlaubt, die Möglichkeit religiöser Erfahrung für jeden Menschen zu behaupten und überdies – was hier außen vor bleiben muss – verschiedene Religionen und deren Erfahrungswelt zueinander ins Verhältnis zu setzen: Ihre Erfahrungsanreize sind verschieden; die religiöse Anlage aber teilen alle Menschen. Dies Theorieelement erhielt, auch weil Rudolf Otto selbst dafür von Kant entlehnte Begrifflichkeit verwendet, die Bezeichnung religiöses Apriori (›a priori‹ steht bei Kant für Gedankenoperationen rein in der Vernunft, ohne jede Beimengung von Erfahrung, die jedem vernünftigen Menschen möglich ist).
c) Funktion der Religion Friedrich D.E. Schleiermacher und Rudolf Otto können mit ihrer Betonung des eigenen Bereichs von Religion und der Beschreibung des Phänomenbereichs religiöser Erfahrung samt seiner Absicherung im religiösen Apriori als Ahnherren einer dezidierten Philosophie der Religion gelten. Die sich an sie anschließenden Diskussionen sind detailreich und sehr verzweigt. Das zeigt sich schon an der Unmöglichkeit, eine allgemein akzeptierte Definition von Religion vorzulegen: James H. Leuba fand bereits 1912 nicht weniger als 48 verschiedene Definitionen vor und Ernst Feil zeigte in einer Reihe von vielbeachteten Studien, wie stark sich die Bedeutung des Begriffs über die Jahrhunderte verschob. (Leuba 339–361; Feil Bd. 1−4; Überblick: Streitfall 5–38) Eine hilfreiche Leitunterscheidung lässt sich dennoch ausmachen, die Unterscheidung zwischen einem substantiellen und ei-
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nem funktionalen Verständnis von Religion. Das substantielle versucht, Inhalte religiöser Erfahrung zu beschreiben und so den Kern und die Bandbreite des religiös-Seins auszumachen. Es macht sich also an die Sache selbst, muss aber stets mit der Schwierigkeit agieren, ›etwas‹ zu beschreiben, was doch – folgt man Schleiermacher und Otto – wesentlich darin besteht, den, der es erlebt ins Passiv zu versetzen und aus den Bereichen des normalen Weltumgangs herauszuholen. Freilich haben substantielle Theorien den Vorteil, wirklich von der Sache selbst zu sprechen, um die es ihnen geht. Funktionale Theorien sind in etwa gegengleich angelegt. Sie verzichten auf eine substantielle Beschreibung und sind deswegen der Schwierigkeit, einen eigentümlichen nicht-Gegenstand zu haben, nicht ausgesetzt. Sie konzentrieren sich ganz auf die Frage, welche Effekte das religiös-Sein hat bzw. haben kann. Es geht in der Religion doch nicht nur um ihre Inhalte, sondern darum, wie und zu welchem Ende das Leben derer, die ihr angehören angefasst, verändert und ja womöglich zum Besseren gewendet wird. Dieser Fragenkomplex, der bislang noch nicht im Blick war, ist das Arbeitsfeld der funktionalen Religionstheorien. In einem viel gelesenen Buch stellt sich etwa der Philosoph Hermann Lübbe die Frage, wie es denn eigentlich kommt, dass Religion nach wie vor ein so großes Thema ist und dass sie ganz entgegen vieler Voraussagen noch nicht verschwunden ist oder sich in kleinste Nischen zurückgezogen hat. Er macht ein eigentümlich zwiespältiges Verhältnis von Religion und Aufklärung aus: Auf der einen Seite setzt sich die Aufklärung gegen die traditionellen Religionen wie gegen die Vernunftreligion allererst durch. Auf der anderen Seite kann man eine erstaunliche Persistenz von Religion beobachten. Lübbe schließt, dass die Idee, Religion sei eine zum Verschwinden bestimmte Illusion offenbar falsch war und sagt weiter, dass es eine spezifische Funktion von Religion geben müsse, die auch und gerade in und nach der Aufklärung von Bedeutung ist. (Lübbe 14.18) Das, wofür Religion nötig zu sein scheint, ist durch die Aufklärung nicht beendet. Dabei handelt es sich um das Verhalten zum Unverfügbaren: Menschen müssen damit umgehen, dass ihnen – unspektakulär,
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rauschhaft glücklich oder katastrophisch – Zustände zukommen, die niemand handhaben oder steuern kann, am wenigsten die, denen sie unmittelbar zustoßen. Daran hat sich auch 300 Jahre nach der hohen Zeit der Aufklärung nichts geändert, schlicht, weil aufklärerische Praxis wohl aus falschen Zwängen zu befreien vermag, nicht jedoch aus dem Faktum, dass Menschen sich immer wieder mit dem Unverfügbaren, der Kontingenz konfrontiert sehen. Genau hier zeigt sich die genuine Funktion von Religion. Mit religiöser Praxis verhält man sich genau zu dem, was sich dem Zugriff entzieht: zu den entscheidenden Wendepunkten des Lebens wie Geburt, Pubertät, Geschlechtsreife und Tod, zu unerwartetem Glück wie zu schrecklichen Katastrophen. Darin zeigt sich doch: »Wer wir sind, basiert auf lauter Unverfügbarkeiten, ohne darin aufzugehen.« (Lübbe 159) Religion nun setzt in ihrer eigentümlichen Funktion genau dort ein. Sie ist »Kontingenzbewältigungspraxis«. (Lübbe 150 u.ö.) Sie setzt da ein, wo andere Praxen, Kontingenz in Sinn umzuwandeln, prinzipiell scheitern müssen. Lübbe versteht seine Analyse als werbendes Eintreten für Religion, genauer: als Aufdeckung einer irreduziblen Funktion von Religion, die, wenn sie einmal entdeckt ist, keine Werbung für Religion nötig macht, weil sie für sich selbst spricht. Entsprechend ist auch die Frage nach der Wahrheit inhaltlicher Aussagen nicht von vorrangigem Interesse. (Lübbe 240–255) Gleichwohl macht Lübbe deutlich, was aus dem Motivangebot der (christlichen) Religion er für nachaufklärerisch belangvoll hält; dabei handelt es sich um Säkularisate wie die Geltung der Wahrheit, das Sozialstaatsprinzip und ein Verhalten dazu, dass wir uns nicht selbst gemacht haben. (Lübbe 286.289 u.ö.) Hier zeigt sich: Eine funktionale Religionstheorie in affirmativer Hinsicht ist mitnichten frei von Inhalten. Vielmehr greift sie selektiv diejenigen heraus, die sie für die von ihr reklamierte Funktion für nötig erachtet. Eine Rückfrage an das Religionssystem, aus dem sie herkommen, unterbleibt allerdings systematisch. Das funktionale Argument schließt sich – zumindest in dieser Fassung – selbst ab.
Funktionale Religionstheorien sind recht populär geworden. Dafür sind wohl vor allem zwei Gründe maßgeblich. Zum einen lässt der Blick auf die – behauptete oder tatsächliche – Funktion von
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Religion sie handhabbar und verstehbar werden: Riten etwa sind dann nicht nur da, weil das in einer Religion so üblich ist, sondern weil sich in Hermann Lübbes Sinne eine kontingenzbewältigende Praxis anbieten, die durch nichts anderes ersetzbar ist. Zum anderen sind nicht wenige der Veröffentlichungen zur funktionalen Religionstheorie apologetisch angelegt, also im Sinne eines werbenden Eintretens für eine Religion oder Religion allgemein: Kann man Funktionalität zeigen, so der Gedanke, dann heißt das zugleich, dass man es mit mehr als einem überkommenen Traditionsstück zu tun hat, das überdies dem religionskritischen Verdacht der Sinnlosigkeit ausgesetzt ist. Solche argumentativen Strategien werden für die individuelle Funktionalität der Religion genauso verwendet wie für politik- und gesellschaftsbezogene. So gibt es etwa die Behauptung, dass Religionen grundsätzlich besser in der Lage seien, mit den Grundgegebenheiten des Menschseins umzugehen, als dies nicht-Religionen möglich ist. (Feldtkeller 30) Auf der Rückseite und als Gegenzug zur Religionskritik (vgl. Kap. 7) sind funktionale Religionstheorien also durchaus zu einem selbstbewussten Auftritt fähig.
d) Die Grenzen einer Philosophie der Religion – am Religionsbegriff entwickelt Freilich gibt es gegen funktionale Religionstheorien Einwände. Der wichtigste sagt, dass ihr werbender, apologetischer Charakter nur sehr vordergründig ist, falls er überhaupt funktioniert. Für eine Religion einzutreten, weil sie positive Effekte hervorbringe – sei es für die betreffende Person selbst oder für die Gesellschaft –, ist ein zweischneidiges Schwert, weil man für dieses Argument von der Behauptung inhaltlicher Richtigkeit absehen muss, die aber jede Religion mit sich führt. Das funktionalistische Argument ähnelt stark der Pascal’schen Wette, von der in Kap. 4.b die Rede war: Es lohnt sich, heißt es in der Wette, die Realität Gottes zu akzeptieren, weil dies mit Lebensgewinn verbunden ist. Für sich genommen ist dem, der auf diese Wette eingeht, die Realitätsunterstellung, dass Gott ist und dass die – in Pascals Fall christlichen – religiösen Wahrheitsansprüche, die mit ihm ver-
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bunden werden, gleichgültig. Er handelt auf das Nutzenkalkül hin, dass die versuchsweise Annahme der Existenz Gottes mehr Nutzen einfährt als die Wette auf seine Nichtexistenz. Für eine Gesamtbetrachtung von Pascals Auslegung des Christentums darf die Wette nicht isoliert werden. Sie wird im Kontext einer Christentumsauslegung vorgebracht, die die Idee, man könne mit rationalen Argumenten die Existenz Gottes einsichtig machen, strikt ablehnt. Für Pascal ist eine philosophische Gotteslehre letztlich Götzendienerei, weil der wahre Gott und Vater Jesu Christi nur im persönlichen Glauben anzutreffen sei. Die Wette in ihrem argumentativen Kontext ist also selber ein Stück Religionskritik, hier nämlich Kritik an der Idee, man könne mit den Mitteln philosophischen Gottesdenkens den christlichen Glauben plausibel machen.
Die Rückfrage lautet, ob jemals ein Mensch durch eine Klugheitserwägung gläubig geworden ist und ob, falls jemand das bejaht, man geneigt sein würde, seine Argumente für ernsthaft zu halten. Denn ein Nutzenkalkül hat stets die Form eines Konditionals: ›ich vollziehe x, um y zu erhalten‹. Auf Religion bezogen, sind daraufhin zwei Antworten denkbar. Ein Religionskritiker hätte leichtes Spiel und würde antworten, dass es dem so Bekennenden erklärtermaßen nicht um die Wahrheit ›Gottes‹ gehe, sondern um den beschriebenen Nutzen, so dass man eine solche Aussage als Beleg für die Unwahrheit mindestens dieses individuellen Glaubensaktes zu nehmen habe, wenn er nicht gleich die gesamte Religion diskreditiert. Ein Vertreter der entsprechenden Religion hingegen wäre zumindest verwundert, ob der neu Hinzugekommene denn nicht die Wahrheitsunterstellungen der Religion, die er nun bekennt, mit vertreten möchte. Unbeschadet der Möglichkeit, dass gelebte Religion lebensbegleitende und lebensfördernde Funktionen haben kann, wie sie die funktionalen Religionstheorien beschreiben: Sie darüber begründen zu wollen, führt offensichtlich in die Irre. Das ist ein Argument für den Stellenwert substantieller Religionstheorien. Sofern es ihnen gelingt, Erfahrungen von Passivität und Beeindruckt-werden in phänomenologisch dichter Weise zu schildern, können sie einen wichtigen Bestandteil religionsphilosophischer Erwägungen sein. Freilich sind hier noch Differenzie-
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rungen und Ergänzungen nötig. Die erste davon betrifft die Frage, warum Erfahrungen des Beeindrucktseins und der Passivität überhaupt religionsphilosophischer Natur sein müssen. Man könnte sie schließlich mit demselben Recht an die Ästhetik verweisen, also die Theorie künstlerischer Erfahrung, die zunächst einmal ganz ohne religionsphilosophische Prämissen auskommen kann. Rudolf Ottos Antwort auf diese Frage war der Verweis auf das religiöse Apriori: Das Schaudern oder aber das liebende Hingerissensein sind letztlich religiöse Erfahrungen, weil sie die in jedem Menschen vorhandene religiöse Prädisponiertheit ansprechen. (s.o. Abschn. b) Freilich ist das eine Voraussetzung von erheblichem Gewicht. Sie setzt u.a. mit, dass tatsächlich jeder Mensch religiös veranlagt ist und wirft damit die Frage auf, was diejenigen von sich zu halten haben, die eine solche Resonanz in sich in keiner Weise entdecken können. Haben sie an dieser Stelle ihrer Individualität versagt? Auch muss Otto setzen, dass es eine starke kulturinvariante Größe in allen Menschen gibt. Im Rahmen der kantischen Philosophie der Vernunft, auf die er sich explizit beruft, kann man das diskutieren, wiewohl Kant sich gegen ein inhaltlich bestimmtes Apriori verwahren würde, welches Otto einbringt. In der Diskussion nach Kant zeigten sich freilich starke Argumente für die Geschichtlichkeit der Vernunft, die es bei Kant nicht gibt. Ist Vernunft aber geschichtlich, so ist ein für alle Menschen behauptetes und damit übergeschichtliches religiöses Apriori keine wahrscheinliche Größe. Zu ergänzen ist das noch durch zwei Argumente, die eher aus der Sicht der systematischen Theologie als der Religionsphilosophie stammen: (1) Auch theologisch ist zu fragen, wie mit der faktisch vorzufindenden Behauptung umgegangen werden soll, dass Menschen von sich sagen, sie spürten keinerlei religiöse Veranlagung in sich, wofür sich der Ausdruck ›religiös unmusikalisch‹ eingebürgert hat. Dass nur Menschen mit einem bestimmten ästhetischen Empfindungsvermögen einer Religion zugehören können, ist jedenfalls unplausibel. Umgekehrt gilt: Eine Religionsphilosophie in Ottos Bahnen erklärt das Subjekt allein zur Instanz der Evidenz und Wahrheitsentscheidung. In der Innen-
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schau des religiös gestimmten Individuums – und nur dort – wird über die Wahrheit und Falschheit der Themen von Religion und Theologie entschieden. Das Risiko einer Übertribunalisierung und Überbelastung des Subjekts ist so aber nicht von der Hand zu weisen. Hinter diesem Argument steht die theologische Überzeugung, dass der Bezug zu Gott das Individuum entlastet und es von der Zentralstellung, über alles und damit auch über sich selbst urteilen zu müssen, befreit. Das aber ist eine explizit christlich-theologische Aussage, die theologisch im Kontext der Rede von der wechselseitigen Stellvertretung beschrieben wird.
(2) Ist das Indidviduum in seiner Erlebnisfähigkeit Zentralinstanz religiöser Wahrheitsfindung, so präformiert dies auch auf inhaltliche Weise, was als religiös wahr gelten kann. Diese Zentralstellung des Subjekts ist eine typisch westliche und typisch neuzeitliche Denkfigur – dass sie aber faktisch zur einzig möglichen wird, lässt sich dadurch nicht rechtfertigen. Wie aber sieht ein religionsphilosophischer Ansatz aus, der diese Engführungen auf das und Überlastung des Subjekts vermeiden und dennoch dem Thema Religion gerecht werden will? Es geht offenbar darum, eine Engführung zu verhindern und dennoch im berechtigten Umfang von Erfahrungsgehalten zu sprechen. Der Soziologe Hans Joas hat hier, bewusst beim Thema der religiösen Erfahrung ansetzend, eine weiterführende Überlegung präsentiert: (Joas 12–31) In einer gewissen Nähe zu Ottos Phänomenologie religiöser Erfahrung spricht Joas davon, dass es Erfahrungen dessen gibt, dass Menschen nicht bei sich bleiben, sondern über sich hinausgeführt werden. Das kann, aber muss nicht spektakulär sein, und es hat die Form: ›nicht ich bin der Souverän, ich bin vielmehr von etwas Anderem ergriffen‹. Das geht zu Rudolf Ottos Idee der Gestimmtheit und des BeeindrucktSeins durchaus parallel. Die Wege trennen sich freilich da, wo Otto als Sachgrund für die religiöse Erfahrung das religiöse Apriori annimmt. Für Joas ist wie für Otto völlig klar, dass eine Erfahrung nicht ›einfach so‹ bei dem gespeichert wird, der sie macht, vielmehr trifft sie auf einen interpretierenden und einord-
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nenden Hintergrund. Freilich denkt er dafür nicht das mit starken Voraussetzungen befrachtete religiöse Apriori, sondern sich verändernde und vor allem nicht nur individuelle Deutungshintergründe. Damit eine singuläre Erfahrung als religiös erschließend wirksam werden kann, muss sie auf einem Hintergrund interpretiert werden, der dazu ermutigt und ermuntert. Und auch umgekehrt gilt: Ein entsprechender Deutehintergrund ermöglicht und ermutigt, auf Erfahrungsbereiche zuzugehen, die ohne ihn nicht einmal als Möglichkeit erschienen wären – man kann also bei beiden Elementen anfangen und in beide Richtungen gehen. Der Deutehintergrund nun ist kein übergeschichtliches Apriori, sondern dem jeweiligen Menschen geschichtlich zugewachsen, durch Erziehung, Bildung, Begegnung, Auseinandersetzung und vielleicht auch durch bewusste Entscheidungen und Überzeugungsveränderungen. Und weil der Deutehintergrund auf diese vielfältigen Weisen entstand, ist er nie nur Deutehintergrund des Individuums, sondern eine sozial vermittelte Größe. Fasst man es so, dann taucht ein Element auf, das in den weit verbreiteten Religionstheorien, von denen hier zu berichten war, notorisch zu kurz kommt: die soziale Dimension von Religion. Religion ist nicht oder mindestens nicht nur die jeweilige Erlebnisfähigkeit eines Individuums. Weil es keine individuellen Erfahrungen ohne Deutungshintergrund gibt und weil diese Hintergrunde sozial vermittelt sind, ist das Thema Religion notwendig eines, das eine soziale Dimension hat. Im Vorgriff auf die Ausführungen in Teil III gesagt: Religionen sind belief systems, Überzeugungssysteme, die es ihren Angehörigen ermöglichen, sich selbst, andere und die Welt in einer spezifischen Weise zu sehen und entsprechende Handlungsoptionen damit zu verbinden. Man kann sie mit einer Sprache vergleichen und den Effekt studieren, dass eine Sprache den Zugang zur Welt und die Wahrnehmung der Welt regelt: Was man für seiend, für gültig usw. hält, ist vom Sprachgebrauch abhängig. Die symbolischen Bestände einer Religion – also ihre Texte, Riten usw. – sind wie die Grammatik dieser Sprache. Sie sind es, die Wahrnehmung ermöglichen, zu ihr anleiten und einzelne Wahrnehmungen ein-
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zuordnen helfen. Auch sie sind sozial vermittelt und kommunizieren zugleich, wie ihre soziale Vermittlung vonstatten gehen kann (die damit verbundene Frage nach Autorität in der Religion muss hier offen bleiben). Kurz, die substantiellen Religionstheorien, von denen hier zu berichten war, haben das Thema des Erfahrungsbezugs völlig zu Recht eingebracht. Auch liefern sie bedenkenswerte Deutungsangebote für das, was Inhalt religiöser Erfahrung sein kann. Bedenklich scheint allerdings zum einen die vorderhand attraktiv klingende funktionale Deutung von Religion. Auch sind die klassischen Religionstheorien dahingehend zu kritisieren und zu ergänzen, dass sie das Subjekt mit Deutungsansprüchen überladen und Themen der Religion dadurch stark präformieren. Ein Ausweg besteht offenbar in der Wahrnehmung von Religionen als Semantiken von menschlichen Gemeinschaften.
6. Gott und das Leid W. Brändle, Thesen zu einer theologischen Theodizee, in: Worüber man nicht schweigen kann. Neue Diskussionen zur Theodizeefrage, hg. von W. Oelmüller, München 1992, 203–208; M. Hailer, Glauben und Wissen. Arbeitsbuch Theologie und Philosophie, Göttingen 2006 (101–104 teils wörtlich hier in Abschnitt a); H. Jonas, Der Gottesbegriff nach Auschwitz, Eine jüdische Stimme, Frankfurt/M. 1987; I. Kant, Über das Mißlingen aller philosophischen Versuche in der Theodizee, Werke 6, Darmstadt 1983, 103–124; G.W. Leibniz, Philosophische Schriften, Bd. II, 1. u. 2. Hälfte: Essais de Théodicée/ Die Theodizee, hg. v. H. Herring, Frankfurt/M. 1985; J.B. Metz, Die Rede von Gott angesichts der Leidensgeschichte der Welt, in: Ein Gott der Leiden schafft?, hg. von H. Irsigler und G. Ruppert, Frankfurt/M. 1995, 43–58; K. v. Stosch, Theodizee, Paderborn 2013.
Es gibt Themen, denen denkende Menschen nicht entkommen können. Die Frage nach dem Leid gehört gewiss in diesen Themenkreis. Was ist Leiden? Warum widerfährt es? Warum wi-
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derfährt es mir? Kann ich etwas über die Herkunft von Leid ausmachen? Falls das gelingt: Ist damit die bohrende Frage nach seinem Sinn beantwortet? Es könnte ja sein, dass sie allererst in Schärfe gestellt ist, wenn man sagen kann, wie Leid verursacht wird. Und schließlich: Ist die Frage nach einem (möglichen) Sinn und einer (möglichen) Erklärung von Leid überhaupt beantwortbar oder stehen wir hier vor dem Abgrund von Sinnlosigkeit und Schweigen? Schon diese kurze Aufzählung mag eine/n schier verzagen lassen. Nochmals drängender werden die Fragen aber, wenn man sie in den explizit religionsphilosophischen Kontext einrückt: Wie auch immer man in Sachen der Existenz Gottes oder der Wirklichkeit religiöser Erfahrung optiert, dass diese Optionen für die Frage nach der Wahrnehmung von Leid unmittelbare Konsequenzen haben, dürfte einleuchten. Ein Hauptstrang der religionsphilosophischen Tradition hat das Thema deshalb auch direkt angefasst und anspruchsvolle Erklärungsleistungen hervorgebracht, wie Leid mit der (behaupteten) wesentlichen Güte Gottes zusammengehen könnte. Freilich gibt es auch den gegenläufigen Zug, nach dem unter streng philosophischen Bedingungen eine Rechtfertigung der Existenz und Güte Gottes gar nicht möglich ist. Hat die Religionsphilosophie hierzu also zu schweigen (und zuzusehen, ob die explizit theologischen Erklärungsversuche überzeugend sind) oder führt sie zur Bestreitung der Existenz Gottes? Es muss doch jedenfalls nicht erstaunen, dass gerade dieses Thema es ist, das in religionskritischen Erwägungen oft eine Schlüsselrolle spielt. – Es gibt, vorsichtig gesagt, einiges aufzuklären. Dieses Kapitel beginnt mit einer knappen Darstellung der klassischen religionsphilosophischen Theorie zum Thema der Rechtfertigung Gottes angesichts des Leides. Den Schwerpunkt aber bilden Theorien, die die Schwierigkeiten dieser denkerischen Tradition klar sehen und Alternativen benennen. Sie blenden die Frage, dass es womöglich gar keine philosophisch befriedigende Antwort auf die Leidfrage gibt, nicht aus. Am Schluss steht eine kurze Information, wie die theologische Debattenlage zum Thema gegenwärtig aussieht: Dieses Feld ist offen und sehr kontrovers.
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a) Die klassische Theodizee Übel sind übel. Das klingt banal, muss aber gesagt werden. Denn denkerische Bemühungen, die die Herkunft und den – möglichen – Sinn von Übeln erklären wollen, haben erklärtermaßen nicht die Funktion, Übel gleichsam ›wegerklären‹ zu wollen. Indem sie es unternehmen, widerfahrendes Übel in Sachzusammenhänge einzuzeichnen, können sie den Eindruck erwecken, durch die Erklärung gleichsam eine ›Entüblung‹ vorzunehmen. Von einigen leichtfertigen Herangehensweisen abgesehen, ist das aber durchgängig nicht der Fall: Auch wer meint, Woher und Wozu von widerfahrendem Leid bestimmen zu können, ist kein Luftikus und weiß genau, dass Schmerz auch dann wehtut, wenn ich weiß, wozu ich ihn aushalten muss. Eine komplette religionsphilosophische Theodizee will aber noch mehr leisten können als die Erklärung von Woher und Wozu des Übels. Sie unternimmt es, das unter ausdrücklichem Bezug auf die Existenz Gottes zu tun. Das schraubt den Erklärungsanspruch noch einmal in die Höhe, weil die Übel dann als mit dem Wesen und Willen Gottes vereinbar gedacht werden. Nichts weniger als dies hat die jetzt vorzustellende klassische Theorie im Sinn, und deswegen war es nötig, darauf hinzuweisen, dass sie dabei alles andere als eine Verharmlosung des Leidens im Sinn hat. Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716) hat die klassische Theoriegestalt der Erklärung der Übel angesichts der Existenz und des Willens Gottes vorgenommen, die ihr auch den Namen Theodizee gab. Sein Grundgedanke ist dabei der, dass die Welt ein grundsätzlich in sich verstehbares Ganzes ist. Gewiss gibt es viele Fragen und weiße Flecken auf der Landkarte, der Entwurf des Großen und Ganzen aber ist von der Art, dass sich die Zusammensetzung erklären und das funktionale Miteinander der einzelnen Elemente verstehen lässt. Es ist nicht falsch, als Veranschaulichung an einen großen und detailreichen Gebäudekomplex zu denken. Man bekommt ihn kaum je als Ganzes zu Gesicht und man kann sich durchaus darin verlaufen. Wer ihn aber studiert, wird merken, dass er sinnreich eingerichtet ist und dass er auch
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als Gesamtanlage ein überzeugendes Bild abgibt: Die Materialien sind richtig gewählt und die Proportionen stimmen, so dass der Gebäudekomplex insgesamt sowohl nützlich als auch ansehnlich ist. Wer dieses Bild als Grundgefühl beim Blick auf ›Welt überhaupt‹ als sinnvoll empfinden kann, ist der Basisintention von Leibniz’ Theorie schon recht nahe. Er verwendet den Vergleich zwischen der Welt und einem komplexen Gebäude explizit und verbindet damit überdies den Kern seines philosophisch-theologischen Anliegens: Die Welt als Gebäude hat einen Baumeister zu ihrem Urheber. Das Werk geht auf die Fähigkeiten des Baumeisters zurück; außerdem ist er – wie jeder Baumeister – bestrebt, dass sein Können sich im von ihm veranlassten Bau widerspiegelt. Gottes Plan und Wille verwirklicht sich im Aufbau der Welt und im Gang ihrer Geschichte: »In Wahrheit hat Gott, als er die Welt zu schaffen beschloß, sich nur vorgenommen, seine Vollkommenheiten in der wirksamsten und seiner Größe, Weisheit und Güte würdigsten Weise zu bekunden und mitzuteilen. Aber gerade das hat ihn verpflichtet, alle Handlungen der Geschöpfe noch im Zustand der Möglichkeit zu betrachten, um den angemessensten Plan zu entwerfen. Er gleicht einem großen Baumeister, der sich die Genugtuung oder den Ruhm, einen schönen Palast gebaut zu haben, zum Ziel wählt und daher alles erwägt, was bei dem Bau bedacht werden muß: die Form und die Materialien, der Platz, die Lage, die Mittel, die Arbeiter, die Unkosten, bevor er sich zu alldem entschließt.« (Leibniz 321)
Wie ist im Rahmen der Logik dieses Bildes gesprochen das Böse zu denken? Leibniz bietet eine Aufteilung an. ›Das‹ Übel wird differenziert in mehrere Typen oder Hinsichten: »Man kann das Übel metaphysisch, physisch oder moralisch auffassen. Das metaphysische Übel besteht in der bloßen Unvollkommenheit, das physische Übel im Leiden und das moralische Übel in der Sünde.« (Leibniz 241) Das erste, das metaphysische Übel, besagt schlicht, dass die Welt Welt ist und nicht Gott. Wer es nicht hinnehmen will, muss wollen, dass die Welt nicht existiert oder dass er selber Gott ist. Beides ist wohl nicht gut möglich. Das metaphysische Übel beschreibt die allgemeinen Bedingungen unserer Existenz
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und der Existenz der Welt eben als Welt: Die Welt ist nicht perfekt, alle Menschen werden sterben. Darüber zu klagen, ist sinnlos, es ist vielmehr hinzunehmen. Im Gegensatz dazu sind die physischen und moralischen Übel nicht notwendig. Im Rahmen des metaphysischen Übels sind sie allerdings als Möglichkeit angelegt. Von ihnen gelten dementsprechend andere Bestimmungen: Das moralische Übel will Gott in keiner Weise. Es geschieht, aber es geschieht nicht aus Gottes Veranlassung, sondern als Ergebnis der menschlichen Freiheit, die eben auch Freiheit zum Bösen ist. Das moralische Übel in sich selber wäre nun nicht fatal. Dass es ein so beträchtliches Übel ist, liegt daran, dass es die Quelle physischer Übel darstellt. Weil jemand seine Freiheit in falscher Weise gebraucht, erzeugt er Übel, die anderen Schmerz zufügen, sie verletzen und vielleicht töten. (Leibniz 249) – In diesem Sinne wird das Übel durch interne Differenzierung erklärt und seine Existenz plausibel gemacht. Es ist kompatibel zu Gottes Güte, da es zur Ausstattung der Welt gehört, die immer noch die beste aller möglichen Welten ist. Dieser Argumentationsgang auf dem Hintergrund der Bestimmungen über Gott und Welt ist nun nichts anderes als die Theodizee. Welchen Zweck, welches Ziel aber hat dann das Übel? Leibniz’ Antwort lautet: Widerfahrendes Übel hat bessernde Wirkung. Jemand, der ihm widerfahrendes physisches Übel als das interpretiert, was es ist, nämlich als Sündenfolge, wird ganz von allein bei sich und anderen darauf hin arbeiten wollen, dass moralisches Übel abnehme. Insofern hat das Übel pädagogische Funktion im Rahmen von Gottes allgemeinem Heilswillen, der für uns nur das Beste wollen kann. In Leibniz’ eigenen Worten: »(…) daß Gott alles Gute an sich vorhergehend will, daß er nachfolgend das Beste als Endzweck will, daß er zuweilen […] das physische Übel als Mittel will, daß er aber das moralische Übel nur als (…) hypothetische Notwendigkeit, die es mit dem Besten verknüpft, zulassen will.« (Leibniz 247)
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b) Kritik an Leibniz und alternative Szenarien (Vernichtende?) Kritik Die Einteilung in drei Klassen des Übels, die Leibniz vornahm, ist bis heute prominent. Ihre Erklärungskräftigkeit ist auch schlechterdings nicht zu bestreiten. Dass Sterblichkeit etwas ist, was man als endliches Wesen zu akzeptieren hat, ist gewiss so – die Phantasien über nie endendes Leben gehören ja nicht zuletzt im Kino zu denen, die regelmäßig schrecken oder doch sehr nachdenklich machen. Auch hat die Idee von der bessernden Funktion der Übel einiges für sich. Von der Verbrennung an der heißen Herdplatte bis dazu, dass die Verbesserung von Rechtssystemen auf die bittere Erfahrung von Kriegen zurückgeht – wenn auch wohl kaum allein auf sie –, stehen dafür reichlich Beispiele bereit. Und schließlich ist ja nicht gut zu bestreiten, dass ungemein viel Schädigendes auf Taten zurückgeht, die mindestens dem Anschein nach als frei bezeichnet werden dürfen. Problematisch ist die Leibniz’sche Kategorisierung also nicht als Kategorisierung überhaupt – vielmehr gibt es Versuche, genau diese Kategorisierung in charakteristischer Umdeutung zu retten (s.u. Abschn. c). Die Schwierigkeiten sind anderer Natur und haben zwei Hauptaspekte: (1) Leibniz beansprucht, jedes Übel mit ihr klassifizieren zu können; (2) die Theorie impliziert einen hohen Wissensanspruch. Zu (1): Es ist, wenn man näher zusieht, in sehr vielen Fällen unmöglich, die Übelklassen abzugrenzen. Ist das schmerzhafte Sterben an einer Krankheit metaphysisches Übel oder muss man es als Folge eines falschen Freiheitsgebrauchs deuten, obwohl etwa eine Krebspatientin nie auch nur eine Zigarette rauchte? Fraglich wird es zudem, wenn Leid großen Ausmaßes zu klassifizieren ist: Nach einem verheerenden Erdbeben im Jahr 1755 brandete die Kritik auf, dass das massenhafte Sterben Unschuldiger von den Kategorien von Leibniz wohl kaum zureichend erfasst werden kann. Mit dieser – im Allgemeinen als grundlegend eingestuften – Kritik ist das Moment (2) verbunden: Die Theorie ermöglicht, ja fordert, aus Naturzusammenhängen gültige Schlüsse auf den oder das zuzulassen, was über oder hinter aller Natur steht.
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Das ist der Gegenstand von Immanuel Kants genauso kurzer wie heftiger Kritik an philosophischen Projekten der Theodizee. Es ist danach nicht zulässig, das einem Menschen zustoßende Übel dadurch zu rechtfertigen, dass es einem höheren Zweck gehorcht, so etwa das Leiden eines Patienten der Entwicklung von Medikamenten für kommende Generationen. Eine solche Theodizee, so Kant, legt Ereignisse in der Natur aus, mit der Annahme, dass Gott durch sie die Absicht seines Willens kundtut. Indem sie das tut, muss sie aber annehmen, dass sie zu Recht von der Erfahrungswelt auf Wissen und Wollen des höchsten Wesens schließen kann. Dazu aber ist sie »schlechterdings unvermögend«. (Kant A 210) Die Begründung dieses harschen Urteils dürfte zumindest im Rahmen von Kants Werk durchaus einleuchten: Die Idee Gottes ist aus Gründen der theoretischen wie der praktischen Vernunft nötig (s.o. Kap. 2.b). Damit verbunden ist aber, dass eine Kenntnis ebendieses Wesens schlechterdings nicht möglich ist, weil unser Wissen auf das, was Gegenstand sein kann, beschränkt ist. Folglich ist es unmöglich, aus Weltzuständen auf Absichten Gottes zurückzuschließen. Das Gegenstück zu dieser von Kant als doktrinal bezeichneten ist die authentische Theodizee. Sofern man sagen kann, dass Gott selbst seinen expliziten Willen verkündigt und sich dazu geeigneter Instrumente bedient – unter die auch und vorzüglich die Vernunft fallen kann –, handelt es sich um authentische Theodizee. Kant nennt dafür das Beispiel des biblischen Buches Hiob: Hiobs Freunde wollen das ihm zustoßende Übel als Konsequenz aus seinem Lebenswandel deuten – Gott werde ihn schon für irgendeine moralisch falsche Tat bestraft haben –, und führen deshalb eine doktrinale Theodizee durch. Ihnen gegenüber hat Hiob Recht, indem er auf Gottes Selbsterweis pocht. Dass die Antwort beinhaltet, sich ins Unerforschliche zu schicken, ist konsequent, weil es von uns aus ein Wissen über Gottes Wollen nicht geben kann. Hiob ist dadurch Exponent der authentischen Theodizee. (Kant A 214– 216) Freilich, wer so vorgeht, muss auf eine allein aus der Vernunft kommende und damit philosophische Theodizee verzichten. Ist, wenn diese Kritik einleuchten kann, jede Theodizee am Ende? Die Meinungen dazu sind unterschiedlich. Ein wichtiger
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philosophischer Argumentationsstrang stimmt dem zu. Er überweist das Problem als nicht zur philosophischen Explikationsaufgabe gehörend an die Theologie (s.u. Abschn. c). Damit muss nicht, aber kann sich die Weiterentwicklung des Gedankens zu mehr oder weniger harscher Religionskritik verbinden: Wenn es, mit Kant, unmöglich ist, aus Weltzuständen auf Gottes Absicht zu schließen, und wenn die Weltzustände aber derart oft und heftig zu Klage und Rückfrage Anlass geben – wie realistisch ist denn dann ein Glaube an einen Welturheber, der all das zulässt, gütig sein soll, sich vernünftiger Einsicht aber entzieht? Diese Konsequenz ist vielleicht naheliegend, nicht jedoch notwendig. Für Alternativen bietet sich an, die Prämissen der klassischen Theodizee zu durchmustern und zu ändern. Sie hatte durch die Klassifikation der Übel diese erklärbar gemacht und versucht, ihnen dadurch den Schrecken zu nehmen. Die alternative Strategie wagt sich aus den dargelegten Gründen nicht daran, sondern geht an die Prämissen aus der philosophischen Gotteslehre selbst, die der klassischen Lösung zu Grunde liegen. Sie war wie selbstverständlich davon ausgegangen, dass Gott allmächtig, allwissend und allgütig ist. Wie aber, wenn noch gar nicht klar ist, was mit diesen Prädikaten eigentlich gemeint ist? Gottes Gottheit ohne kausale Allmacht? Die Theodizee mit dem optimischen Gepräge, das Gottfried Wilhelm Leibniz ihr gab, sah sich nach dem entsetzlichen Erdbeben von Lissabon 1755 starker Kritik ausgesetzt. Der Schrecken, dem sich jeder Theodizeegedanke seit einigen Jahrzehnten stellen muss, ist das Grauen von Auschwitz. Es hat für eine regelrechte Pause in dieser Denkdisziplin gesorgt und stellt – jenseits eines flotten moralistischen Arguments – die wohl ernsthafteste Anfrage an die Gott-Rede, die sich denken lässt. Deshalb ist es von besonderer Aufmerksamkeit, wenn Denker aus der jüdischen Tradition sich zum Thema äußern. Eine bemerkenswerte Stimme ist die des Philosophen Hans Jonas (1903–1993). Bei einem Vortrag im Jahr 1984 wählt er die ungewöhnliche Form des Kunstmythos, um seine philosophische Theologie, ineins mit den Erwägungen zur Theodizee, vorzustellen:
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Die Gottheit, so Jonas, hat aus unausdenklichem Ratschluss die Welt erschaffen. In diesem unergründbarem Ratschluss beschloss sie zugleich, dass es in der Welt echtes Werden geben soll, und dass sie sich diesem Werden hingibt: Sie überlässt die Welt ihrem eigenen Prozess des Werdens und greift darin nicht kausal ein. Die Gottheit hat allenfalls ein »Vorwissen (...) der Möglichkeiten« dieses Werdens. (Jonas 17) Sie begleitet den Werdeprozess der Welt und wird zugleich durch deren Geschichte gleichsam erbaut. In der Gottheit sammelt sich die Erfahrung der Welt, sie ist ihr Gedächtnis. In der Geschichte der Welt nun gibt es zwei kategoriale Sprünge. Der eine ist der Beginn des Lebens: Nun gibt es selbst-fühlende Wesen, an deren Erfahrung die Gottheit zur Erfahrung ihrer selbst kommt. Der andere Sprung ist die Erscheinung des Menschen. In ihm treten Wissen und Freiheit auf. Und weil Menschen sich auf sich selbst beziehen können, können sie sich auch einen Gedanken von Gott machen. Das ist der Beginn der bewussten Beziehung zwischen Gottheit und Welt: Die Gottheit tritt »hoffend und werbend« an die Menschen heran, »ohne doch in die Dynamik des weltlichen Schauplatzes einzugreifen.« (Jonas 23f) Ihr Teil ist es, dass alles Erfahren im Kosmos ihr Erfahren ist, woraus sie sich erbaut, freilich weder gewinnend noch verlierend. Die Welt, der die Gottheit Platz machte, ist ihre »Odyssee« und »Zufallsernte«. (Jonas 56) In Untertitel der Druckfassung nennt Jonas seinen Kunstmythos »eine jüdische Stimme«. Das dürfte sich auf die Rede vom Zimzum beziehen: Schöpfung, so heißt dieser Gedanke aus der jüdischen Mystik, soll man nicht so denken, dass Gott ein Gegenüber erschafft. Vielmehr gewährt Gott Raum in sich, den er für das andere seiner selbst öffnet. Schöpfung ist die Selbstkontraktion Gottes zu Gunsten der Schöpfung. Die Schöpfung ist also, obwohl von Gott strikt unterschieden, in Gott geborgen und von ihm, räumlich gesprochen, allseits umgeben. Die Aufnahme bei Jonas funktioniert so, dass er das ZimzumMotiv des sich-Zurückziehens Gottes als auf die Macht Gottes bezogen deutet: Eine Welt, die von einem alles kontrollierenden Gott beherrscht wird, ist nicht wirklich Gegenüber und freie Schöpfung. Erst dadurch, dass Gott auf seine Allmacht verzichtet, lässt er die Welt zu dem werden, was sie sein soll.
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Hans Jonas’ Intention ist es unter anderem, mit diesem ungewöhnlichen Gedanken den Opfern der Geschichte Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Sie werden nicht gleichsam noch einmal dadurch getötet, dass ihr Sterben auf Geheiß oder Veranlassung Gottes geschah, mit dessen Barmherzigkeit man dann nur allzu verständliche Probleme bekommt. Auschwitz ist also, was es ist: verderblichster Wahn, grausamste Tat. Die Erklärungsansätze im Rahmen der klassischen Theodizee sind im Ansatz unmöglich, so dass auch nicht zu nachgelagerten Erklärungen gegriffen werden muss, wie zum Beispiel zu der, dass aus dem unnennbaren Grauen von Auschwitz doch immerhin eine erneuerte Rechtsordnung und die Gründung der UNO hervorging. Selbst wenn es dafür historischen Anlass geben sollte: Der Einsatz des Gedankens im Rahmen einer Theodizee würde die Opfer der Nationalsozialisten daraufhin instrumentalisieren und das ist der schlechthin falsche Gedanke. Was ist – neben der Kritik an falschen Konsequenzen der klassischen Theodizee – mit der kühnen Modifikation gewonnen, Gott ohne das kausale Allmachtsprädikat zu denken? Hans Jonas ist sich der Ungewöhnlichkeit seines argumentativen Schrittes wohl bewusst: Er ist vorläufig und allenfalls in der Zeit, für die die klassische Metaphysik unplausibel ist, zu denken, also in Zeiten, in denen die Selbstverständlichkeit, Gott die absoluten Prädikate wie Allmacht, Allwissenheit und Allgegenwart zuzusprechen, erschüttert ist. Was, wenn nicht Auschwitz hätte diese Erschütterung hervorbringen können? Die geistesgeschichtlichen Zusammenhänge sind freilich um etliches komplizierter. In verschiedenen Strömungen war die metaphysische Selbstverständlichkeit, Gott mittels der absoluten Prädikate zu denken, kritisiert worden. Kants Kritik wurde schon erwähnt; an den Erneuerungen der Metaphysik durch die Philosophen des deutschen Idealismus (v.a. J.G. Fichte, G.W.F. Hegel und F.W.J. Schelling) wurde auf unterschiedlichste Weise Kritik geübt: So zeigte Friedrich Nietzsche (1844− 1900), dass Denken eine sekundäre, abkünftige Tätigkeit ist, die auf unvernünftigen, ja wilden Weisen des Weltumgangs aufruht. Andere – namentlich Theodor W. Adorno (1903−1969) und Max Horkheimer (1895−1973) – machten sich an den Nachweis, dass die idealistischen
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Ansprüche, mittels Vernunft alles zu erfassen, uneinlösbar und zugleich usurpatorisch sind. Die sprachanalytische Philosophie, die vom Spätwerk Ludwig Wittgensteins (1889−1951) ausgeht, verwies darauf, dass Denken je auf Sprache zurückgreifen muss und deshalb relativ zu diesem Ausdrucksmittel ist. – Die Reihung ließe sich fortsetzen. Gemeinsam ist diesem in sich vielfach unterschiedenen Feld der Idealismuskritiker, dass sie der Fähigkeit der Vernunft, letzte Aussagen über die Wirklichkeit zu machen, misstrauen.
Zunächst also wird das vorgeblich Selbstverständliche des Allmachtsprädikats kritisiert. Jonas unternimmt das aus mehreren Perspektiven, u.a. mit der Überlegung, dass die Vorstellung einer absoluten Macht in sich unlogisch ist. Weiter setzt er eine Trias aus Allmacht, Allgüte und Verstehbarkeit Gottes. Wenn Gott gütig ist und sein Wille verstehbar, so kann er angesichts Auschwitz’ offenbar nicht allmächtig sein. Offenbar greift Gott nicht physisch in die Welt ein, und zwar präzise weil er es nicht kann – könnte er zwar, würde aber nicht wollen, so müsste man eine Verdunklung seines Willens annehmen, die nach jüdischer Lehre nicht gebilligt werden kann. Sein Werk ist es vielmehr, Menschen zu inspirieren, in die Seelen zu rufen. Und umgekehrt: »Jetzt ist es am Menschen, ihm zu geben.« (Jonas 47) Das Allmachtsprädikat soll also – durchaus im Gegensatz zu der plakativen Aussage: »Dies ist nicht ein allmächtiger Gott!« (Jonas 33) – nicht einfach verschwinden, es wird vielmehr umgedeutet. Weil der Gedanke der kausalen Allverursachung rettungslos in Probleme führt, wird er durch Allmacht als Überzeugungsfähigkeit ersetzt. Ein kausal allmächtiger Gott hätte es mit einer Welt zu tun, in der alles und alle lediglich seine Marionetten wären. Ist Gott aber nicht physisch allmächtig, wohl aber der, der als das Gedächtnis der Welt Menschen aufruft, anspricht, ermahnt und erschüttert, so ruft dieser Gott die Freiheit und die Selbstverantwortung der Menschen auf den Plan. Er verwirklicht sich nicht durch (physischen) Aktvollzug, wohl aber dadurch, dass er Menschen zum rechten Gebrauch ihrer Freiheit anstiftet. Mindestens zwei Aspekte sind hier zu diskutieren: (1) Welche Folgen hätte ein solches Argument? Unmittelbar ergibt sich, dass das unlösbare Dilemma aus Gottes Allmacht, Verstehbarkeit und
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Güte ausgeräumt ist. Freilich kann man zurückfragen: Ist das Prädikat der Güte Gottes nicht dadurch schwer belastet, dass der gütige Gott Auschwitz zwar nicht verursacht, es im Rahmen seines Weltrückzugs aber zulässt? Das ist mindestens weiter aufklärungsbedürftig. Ferner liegt nun etliches Gewicht auf der Rede von der Freiheit des Menschen. Sie wird in Anschlag gebracht als Ursache der innerweltlichen Übel – insofern ist Leibniz’ malum morale durchaus Teil dieser Konzeption! – und zugleich als dasjenige im Menschen, was Gott werbend und einladend anspricht. Das Argument der free will defense (s.u. Abschn. c) wird darauf zurückgreifen. Schließlich bekommt die ganze Theodizee einen Zug ins Praktische. Menschen sind aufgerufen, ihre Welt so zu gestalten, dass fataler Freiheitsgebrauch zurückgedrängt wird. (2) Wie steht es um die argumentative Absicherung von Hans Jonas’ Umdeutung des Allmachtsprädikats? Er selbst veranschlagt dies nachgerade provozierend niedrig, indem er einen Kunstmythos erzählt. Wer erzählt, so scheint hier mitgesetzt, begründet nicht. Freilich handelt es sich auf subtile Weise um mehr als bloße Phantasie. Denn Jonas hatte festgestellt, dass die großen Theorien der Metaphysik in der Kritik sind und dass es dafür allemal gute Gründe gibt. Es ist also folgerichtig, nicht in identischer Weise zu argumentieren, sondern alternative Vorgehensweisen zu versuchen. Der Kunstmythos ist ja auch nicht die Einladung zu fröhlicher Beliebigkeit und bloßem Wunschdenken: Vielmehr wird er dem Test auf innere Konsistenz und auf Plausibilität der Folgeannahmen ausgesetzt und ist also – wiewohl in sich erzählerisch angelegt – sehr wohl eine Form des Argumentierens. In der Steilheit seiner Annahmen und in der argumentativen Eigenart seines Vorgehens ist Hans Jonas’ Beitrag zum Theodizeethema ein Solitär geblieben. Was ihn zum Meilenstein macht, ist, dass die Erklärungsleistung der Theodizee nicht nur durch Differenzierungen und Uminterpretationen auf der Seite des Übels vorgenommen werden muss, sondern dass auch die Voraussetzungen auf der anderen Seite, der der philosophischen Theologie zur Debatte stehen. Diese Möglichkeit – in sich ein weites Feld von Positionen – hat auch die binnenchristliche Theo-
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logie auf den Plan gerufen, die sich der Argumente aus der Theodizee immer wieder in apologetischer Weise zu eigen gemacht hatte: Kann sie von einem so erneuerten Argumente-Reservoir profitieren? Das wird hier abschließend beschrieben.
c) Theologische Argumente: Streitfreistellung des Glaubens oder Ablehnung der argumentierenden Theodizee? In der jüngeren systematischen Theologie gibt es Erwägungen, Argumente aus dem Arsenal der philosophischen Theodizee mit explizit theologischen Erwägungen zu kombinieren. Dabei wird einerseits gesagt, dass es eine zureichende philosophische Rechtfertigung Gottes angesichts der Leiden nicht geben kann. Andererseits aber soll zumindest die nicht-Widersprüchlichkeit des religiösen Glaubens angesichts von Leiderfahrung gezeigt werden, auch wenn niemand durch Argumente allein vom Glauben überzeugt werden kann. Eine andere Strategie versucht demgegenüber den Nachweis, dass eine theoretische Rechtfertigung des Glaubens überhaupt nicht im Interesse der Theologie ist und dass sich unter theologischen Bedingungen die Frage von der Rechtfertigung Gottes hin zur lebenspraktischen Frage wendet, wie angesichts der Übel ein Leben in Hoffnung und Glaubenszuversicht möglich sei. Streitfreistellung des Glaubens Die erste Strategie beruft sich explizit auf die Klassifizierung der Übel nach G.W. Leibniz und erklärt sie für grundsätzlich überzeugend. In der Tat ist es nach ihr sinnlos, sich über das metaphysische Übel zu grämen, da es in unmittelbarer Weise zum Weltsein der Welt dazugehört. In Bezug auf die beiden anderen Arten des Übels schlägt sie eine gegenüber Leibniz in charakteristischer Weise veränderte Argumentationsstrategie vor: Es ist prinzipiell richtig und sogar unausweichlich, dass es diese beiden Arten des Übels gibt. Leibniz’ Argumentationsanspruch, anhand ihrer die Güte Gottes belegen zu wollen, wird jedoch abgewiesen. Vielmehr soll durch rationale Argumente geklärt werden, dass es zu einer akzeptablen oder sogar guten Ausstattung der Welt gehört, dass
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in ihr moralische und physische Übel vorhanden sind. Sie sind damit kein Beleg mehr für eine in der Welt waltende Güte Gottes – sie sind allerdings genauso wenig ein Argument gegen den Glauben an Gott und sein Wohlmeinen. Das Ziel ist also nicht mehr eine direkte Rechtfertigung Gottes angesichts der Übel, sondern eine Streitfreistellung des Glaubens: Dass moralische und physische Übel in der Welt auftreten, muss von allen denkenden Menschen akzeptiert werden. Dies Ergebnis spricht weder zwingend für den (christlichen) Glauben noch gegen ihn; sie stellen ihn zugleich aber außerhalb eines permanenten Rechtfertigungsdrucks. Die Strategien, dies zu erreichen, heißen nach ihrer Herkunft aus der englischsprachigen analytischen Philosophie (1) natural law defense und (2) free will defense. In ihrer Fassung nach dem katholischen Theologen Klaus von Stosch (*1971) gehen sie wie folgt: (1) Ziel der natural law defense ist zu zeigen, dass es vernünftig ist, anzunehmen, dass eine Welt, in der körperliches Leid und Schmerzen auftreten, gleichwohl eine gute Welt ist. Es muss also plausibel werden, dass die uns vertraute Welt mit ihren Regelmäßigkeiten genauso wie mit ihren Veränderungspotentialen gut und akzeptabel ist, wiewohl niemand bestreiten kann, dass in dieser Welt sehr viel Leid, Krankheit und Schmerz vorkommen. Ein direkter Weg zum Argumentationsziel wäre kaum aussichtsreich, weshalb die natural law defense den Weg über die Abweisung des Gegenteils versucht: Sie will zeigen, dass eine Welt ohne natürliche Übel nicht denkbar ist; genauer: dass dies eine Welt wäre, in der wir Menschen nicht vorkommen könnten. Natürliches Übel ist »eine Nebenfolge der Gesetzmäßigkeiten (…), die menschliches Leben ermöglichen.« (v. Stosch 56, i.O.herv.) Gelingt der Nachweis, so kann man das Leben in dieser Welt bejahen, ohne das Leid akzeptieren zu müssen. Er bedient sich des sog. anthropischen Prinzips: Es weist darauf hin, dass die Naturkonstanten und die wichtigsten Naturgesetze exakt so sein müssen wie sie sind, damit die Entwicklung der Naturgeschichte hin zum Leben allgemein und zum menschlichen Leben im Besonderen möglich sind. Die Feinabstimmung des Universums muss bis auf viele Stellen hinter dem Komma exakt so sein, wie
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sie ist, andernfalls wäre es nicht einmal denkbar, dass es (mindestens einen) Planeten mit Atmosphäre, Wasser und der Evolution hin zu intelligentem Leben gibt. Weil nun Leid und Schmerz im Rahmen der Möglichkeitsbedingungen des exakt so abgestimmten Universums aber – wie nur zu gewiss ist – nicht vermieden werden können, stehen beide gegeneinander, die Wirklichkeit des Leids und die in exakt nur dieser Welt denkbare Existenz von Lebewesen, wie wir sie sind. Es gibt kein höher entwickeltes Leben, ohne dass es Leid gibt. V. Stosch weist deutlich darauf hin, dass er diese natural law defense von einem Gottesbeweis abgrenzt: Das anthropische Prinzip beweist mitnichten, dass hinter dem Weltprozess eine verursachende, gütige Intelligenz stecken muss. (v. Stosch 64) Es beweist, genauer gesagt, gar nichts, vielmehr stellt es fest, dass die Bedingungen für menschliches Leben exakt die sind, wie wir sie im von uns erforschbaren Kosmos vorfinden. Das ist erstaunlich genug, berechtigt aber nicht von sich aus zu Schlüssen auf eine Ursache.
(2) Das Ziel der free will defense ist ähnlicher Natur: Wieder geht es nicht um einen Beleg für die Existenz Gottes, wohl aber um den Nachweis, dass menschliches Leben ohne Freiheit schlicht kein menschliches Leben wäre. Ist das plausibel, so muss man auch die negativen Freiheitsfolgen als zu ihr gehörend akzeptieren. Der Weg zu diesem Argumentationsziel führt über die Kritik an denen, die die Existenz von Willensfreiheit bestreiten. Das ist etwa in der Hirnforschung der Fall, in der manche Vertreter sagen, dass die Entdeckung der biochemischen Grundlagen von ›freiem‹ Verhalten dieses als determiniert ausweisen (ausführlicher dazu Kap. 8). Dem ist entgegenzuhalten, dass ein Mensch zwar unweigerlich mit seinem Gehirn denken muss, dies aber noch nicht heißt, dass das Gehirn statt des Menschen denkt. (v. Stosch 72) Auch der theologischen Behauptung, es gebe vor Gott keine Freiheit – die häufig von evangelisch-lutherischer Seite erhoben wird – hält v. Stosch entgegen, dass Gott nicht mit Automaten, sondern mit freien Wesen Gemeinschaft sucht. (v. Stosch 81) Die Existenz von freiem Willen ist also nicht gut bestreitbar.
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Klaus von Stosch geht dann noch einen wesentlichen Argumentationsschritt weiter und sagt, dass Menschen zu einer positiven Einschätzung des freien Willens gelangen können: Wer die Lebensvorteile, die mit ihm verbunden sind, erkennt, wird bereit sein, auch die unleugbaren Risiken der Existenz von freiem Willen zu akzeptieren. (v. Stosch 89) Mit den beiden defenses ist eine Entscheidung für den Glauben weder ersetzt noch argumentativ herbeigeführt. Freilich beansprucht v. Stosch, die Folgen einer solchen Glaubensentscheidung benannt und als vertretbar erwiesen zu haben. (v. Stosch 111) Das gilt mit einem wichtigen Zusatz: Kein Theodizeeargument ist vollständig, das die Existenz von Übeln nur erklärt, ohne zugleich nachdrücklich auf ihre Beseitigung zu dringen. Dies ist das Kernanliegen der praktischen Theodizee. Hier kann die Theologie mit dem Hinweis arbeiten, dass der Glaube an Gott die Hoffnung und die Gewissheit beinhaltet, dass Leid und Übel nicht das letzte Wort behalten werden. Im Gegenteil: Wer nur die beiden defenses ausführt, steht in der Gefahr, die Existenz von Übeln hinzunehmen und so den Opfern der Weltgeschichte Zuwendung und Solidarität zu verweigern. Deshalb gehören eine argumentierende Theodizee und die praktische Theodizee, die die Leidenden nicht vergisst, für sie arbeitet und vor Gott für sie hofft, untrennbar zusammen. (v. Stosch 123) Ablehnung der argumentierenden Theodizee Die hier vorgetragenen Argumente sind sorgfältig konstruiert und in ihren Beweiszielen bescheidener als das klassische Argument. Freilich haben sie eine Einseitigkeit, auf die im Namen einer anderen theologischen Theodizeestrategie noch hinzuweisen ist. Die Verteidigungen der natürlichen Einrichtung der Welt und des freien Willens schaffen in der Tat Plausibilität dafür, dass die uns bekannte Lebenswelt ein erstaunlich großes Potential zum Guten und zum gelingenden Leben in sich birgt. Wie aber steht es um den Argumentteil, dass auch jemand, dem Leid widerfährt, im Prinzip geneigt sein müsste, die Güte der Welt anzuerkennen? Von Stosch räumt ein, dass es Situationen geben kann, »deren Schmerz durch keinen Preis der Welt gerechtfertigt wer-
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den kann«. Er bringt dies aber in ein Gegengleichgewicht zu der Annahme, dass es auch das alles bezwingende Glück der Liebe gibt. (v. Stosch 103) Ist dieses Gegengleichgewicht, diese Argumentationsbalance gerechtfertigt? Das scheint mir fraglich, denn hierzu müsste die Argumentation über das Gleichgewicht von Glückspotential und Leidpotential überzeugender sein als die Erfahrung von Menschen, die sich im Leid befinden. Die hier kurz zu beschreibende Position sagt, dass das unmöglich ist, weil es sich zwischen Argumentation und Erfahrung um einen in diesem Fall grundlegenden Kategorienwechsel handelt. Die lebenszerstörende Funktion von Leid ist von der Art, dass sie der – notwendig distanzierenden – Argumentation nicht mehr zugänglich ist und dass dies von ihr auch nicht gefordert werden kann. Wer leidet, darf die Aufforderung, das Gleichgewichtsargument anzuerkennen, als falschen Fragemodus zurückweisen – ungefähr so, wie der biblische Hiob die Argumente seiner Freunde, es müsse einen rationalen Grund für sein Leid geben, energisch zurückwies. Wenn das so ist, worin kann die Theodizee dann bestehen? Noch stärker als bei der Streitfreistellung des Glaubens wird hierfür das theologische Sprachspiel aufgerufen und der Bereich (religions-)philosophischen Argumentierens verlassen. Theodizee in dieser Richtung behauptet, dass es für das Warum des Leids keinerlei angemessene Antwort gibt, weil jede, und noch die vorsichtigste und wohlmeinendste, wie sie eben vorgeführt wurde, nötigt, sein Leid in Argumente einzuordnen. Angesichts von Leid ist ›warum?‹ eine Frage, die nicht beantwortet werden kann – und die man auch nicht beantworten muss, um weiterleben zu können. Entsprechend soll auch von der Theologie nicht eine besonders geschickte oder besonders überzeugende Antwort auf sie erwartet werden. Es geht vielmehr um einen Moduswechsel: Wer, wie und aus welchen Gründe auch immer, zum christlichen Glauben gefunden hat, findet sich in der Welt vor, die zwischen Erschaffensein und noch ausstehender Vollendung gleichsam eingespannt ist. Die Schöpfung ist gut, zugleich aber noch der Vergänglichkeit unterworfen und insofern leidend. Ein/e Glaubende/r zu sein heißt nun, sich in einem Lebenszusammenhang und in einer Gemeinschaft vorzufinden, die Wege zum Aus-
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halten des widerfahrenden Leids weist und die in der Erfahrung der Gegenwart Gottes die Hoffnung auf die künftige Vollendung lebendig erhält. Dieser Moduswechsel – von der Erklärung hin zur lebenspraktischen Bewältigung von Leid im Angesicht der heilsam erfahrbaren Gegenwart Gottes – ist die innertheologisch konsequenteste Lesart dessen, was Immanuel Kant die authentische Theodizee nannte (s.o. Abschn. b): Nur Theodizee, die von Gott selbst durchgeführt wird, ist tatsächlich Theodizee. Der christliche Glaube behauptet, das sei kein theoretischer Vorgang, sondern finde im praktischen Lebensvollzug des Glaubens statt, zu dem es gehört, dass Gottes Präsenz erfahren werden könne, in der Gemeinschaft der Christen, im Gebet, beim Empfang der Sakramente oder auf anderweitige Art. Wo das tatsächlich stattfindet, findet Leid-›erklärung‹ durch Gott statt – freilich nicht mehr im Modus der theoretischen Erklärung, sondern durch den Lebensvollzug des Glaubens. Das Argument wurde hier in der Fassung nach Werner Brändle vorgestellt. (Brändle passim) Sie hat einige Nähen zum bekannten Ansatz von Johann Baptist Metz, der ebenfalls die theoretische Unbeantwortbarkeit betont und die Theodizeefrage statt nach rückwärts (›warum?‹) nach vorwärts (›wie lange noch?‹) orientiert. (Metz passim) Brändles Fassung ist auf die Ablehnung der als falsch abgewiesenen theoretischen Theodizee konzentriert, während Metz die praktische Theodizee stärker in den Blick rückt. Gemeinsam ist beiden, dass erst Gottes endgültige Selbstdurchsetzung die bohrenden Fragen angesichts des Leids beenden wird.
Möglicherweise stellen die beiden hier referierten theologischen Strategien keinen Widerspruch dar, wenn man ihren Bezug aufeinander beachtet: Wer beim zweiten Modell einsetzt und also von niemandem verlangt, er müsse sein Leiden auch theoretisch einordnen, kann das erste als eine Möglichkeit anbieten, ohne es als verbindlich behaupten zu müssen. Deutlich ist dann, dass theologische Theodizee, die allein argumentativ vorginge, nicht genügen kann. Beide Strategien befinden sich auch in einiger Nähe zum von Hans Jonas berichteten Motiv, Gott wolle Menschen nicht überrumpeln, sondern zu sich einladen und gewinnen (s.o. Abschn.
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b). Von Stosch versteht Gottes Handeln explizit »als Werben um die vorbehaltlose, eben nicht manipulativ herbeiführbare Liebe des Menschen«, (v. Stosch 134) was für das zweite Modell angesichts der in ihm angezielten Erfahrungsformen ebenso gilt. Ob Jonas’ Argument, Gottes Handeln allein als sein Gedächtnis und sein Werben um Menschen zu verstehen, theologisch genügen kann, muss aber in Erwägungen geprüft werden, für die hier nicht der Ort ist.
7. Neuer und klassischer Atheismus J. Assmann, Die Mosaische Unterscheidung oder der Preis des Monotheismus, München/Wien 2003; P. Boyer, Und Mensch schuf Gott, Stuttgart 2004; www.buskampagne.de (19.9.2013); R. Dawkins, Der Gotteswahn, Berlin 2007; D. Dennett, Den Bann brechen. Religion als natürliches Phänomen, Frankfurt/M. 2008; G.M. Hoff, Die neuen Atheismen. Eine notwendige Provokation, Kevelaer 2009; D. Hume, Writings on Religion, hg. von A. Flew, Peru IL 1992; W. Löffler, Zur Argumentationsstruktur und Pragmatik gegenwärtiger atheistischer Positionen, in: Neuer Atheismus wissenschaftlich betrachtet, hg. von P. Weingartner, Heusenstamm 2010, 21–49; J.P. Reemtsma, Muss man Religiosität respektieren?, in: Politische Religion und Religionspolitik. Zwischen Totalitarismus und Bürgerfreiheit, hg. von G. Besier und H. Lübbe, Göttingen 2005, 391– 406; ders., Das Scheinproblem »Willensfreiheit«. Plädoyer für das Ende einer überflüssigen Debatte, in: Merkur, Heft 683 (2006), 193–206.; L. Rue, Religion Is Not About God, New Brunswick NJ 2005; Th. Schärtl, Der neue Atheismus und seine Herausforderungen, Una Sancta 67 (2012), 90–102; W. Singer, Der Beobachter im Gehirn. Essays zur Hirnforschung, Frankfurt/M. 2002; P. Sloterdijk, Gottes Eifer. Vom Kampf der drei Monotheismen, Frankfurt/M. und Leipzig 2007; ders., Zorn und Zeit. Politisch-psychologischer Versuch, Frankfurt/M. 2008; M. Weinrich, Religion und Religionskritik. Ein Arbeitsbuch, Göttingen 2011.
Nur gelegentlich kam bislang zur Sprache, was in diesem Kapitel im Mittelpunkt steht: Zu der Menge religionsphilosophischer Optionen zählt selbstverständlich auch, dass die Prüfung von
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Argumenten zu dem Ergebnis führt, dass es eine Größe namens ›Gott‹ nicht gibt und dass folglich die Überzeugungen der Religionen Illusionen sind. Atheismus und die Auseinandersetzung mit ihm sind ein integraler Bestandteil der Religionsphilosophie und es ist bei Durchsicht durch die Literatur leicht feststellbar, dass die religionsphilosophische ›Nullmenge‹ recht häufig und in einer beträchtlichen Bandbreite von Möglichkeiten vertreten wird. Die meisten Darstellungen gehen dabei historisch vor und schildern die Entstehungsbedingungen des neuzeitlichen Atheismus unter anderem durch Rückgriffe auf Motive der frühen Aufklärungszeit, des Materialismus – er behauptet, dass es ›Geist‹ nicht gibt, sondern lediglich komplex strukturierte Materie – und u.a. die bis in die Antike zurückreichende Tradition des Skeptizismus. Ich setze dagegen bei gegenwärtigen Positionen an, weil es eine in diesen Jahren lebendige und kontroverse Debatte gibt, die zunächst für sich selber sprechen soll und nicht sofort historisiert werden muss. Dass in ihr ältere Motive auftauchen, ist freilich erwartbar, so dass ein Rückblick auf klassische Formationen des Atheismus und der Religionskritik als Ergänzung notwendig ist. Am Schluss steht die Prüfung, welche religionskritischen Erwägungen im Rahmen der in Kap. 3 skizzierten Negativen Theologie plausibel erscheinen. Zur Terminologie: Unter Atheismus versteht man die explizite Aussage, dass es Gott/Götter nicht gibt und dass deshalb die auf ihn/sie bezogenen Daseinshaltungen illusorisch sind. Eine atheistische Argumentation muss also zeigen, dass es in Sachen Gott nicht nur nichts zu wissen gibt, sondern dass die diesbezüglichen Annahmen falsch sein müssen. Diese Position ist vom weit verbreiteten Gewohnheitsatheismus zu unterscheiden, dessen Vertreter die Frage nach Gottes Existenz verneinen, dafür aber nicht streng argumentieren, sondern auf ihre Lebenserfahrung verweisen. Dies Phänomen spielt in stark säkularisierten Gesellschaften eine Rolle und ist argumentativ schwer zu fassen, weil es sich dem strengen Argumentieren entzieht. Der Begriff Agnostizismus beschreibt dagegen eine Position, die die Gottesfrage für unentscheidbar hält, die also weder pro- noch contra-Argumente überzeugen. Von diesen dreien nochmals unterschieden werden muss das Phänomen der Religionskritik: Eine atheistische Position führt mehr oder weniger zwangsläufig zur Religi-
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onskritik, wogegen das aus agnostischer Sicht nicht zwingend ist oder andere Formen annehmen kann, etwa die Kritik an dem, was ein Agnostiker als religiöse Fehlkonkretion bezeichnen könnte. Auch kann Religionskritik ausdrücklich im Namen einer existierenden Religion und ihrer Theologie geübt werden.
a) Positionen des Neuen Atheismus und die Auseinandersetzung mit ihnen Das, was seit einigen Jahren ›Neuer Atheismus‹ genannt wird, ist nicht nur, aber auch ein Medienphänomen. Durch europäische, nordamerikanische und australische Großstädte fuhren vor einigen Jahren Busse mit Aufschriften wie: »Es gibt (mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit) keinen Gott. Werte sind menschlich – auf uns kommt es an«. Sie gehörten zu einer internationalen Buskampagne, die medienwirksam und gut vernetzt ihre Botschaft veröffentlichte. Auf der Website der deutschen Kampagne heißt es in einem der ersten Sätze: »In Deutschland haben wir mehr als 20 Millionen Menschen mit unserer Botschaft erreicht, dass Nichtreligiöse eine stärkere Präsenz in öffentlichen Debatten einfordern.« (buskampagne) Auch auf dem Buchmarkt geht es um Auflagenzahlen, die philosophische Argumente gewöhnlich nicht erringen, wenn man sich etwa das vielfach übersetzte und aufgelegte Buch ›The God Delusion‹ von Richard Dawkins ansieht. Selbst im Fernsehen erreichen Vertreter des Gedankens ein großes Publikum: Peter Sloterdijk, der die kulturalistische Spielart des Neuen Atheismus vertritt (s.u.) leitete zehn Jahre und 63 Sendungen lang das Talkformat »Das philosophische Quartett«. Solche Präsenzen sind nicht despektierlich zu beurteilen. Sie zeigen vielmehr, dass von unterschiedlicher Seite eingefordert wird, der atheistischen Sache mehr Raum zu geben und sie transportieren die Behauptung, dass Atheismus von mehr Menschen geteilt wird, als es die veröffentlichte Meinung – zumindest in der Sicht der Vertreter des Atheismus – glauben macht. Eine argumentative Würdigung muss diese populare Seite des Diskussionsangebots mit einrechnen.
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Die Argumentationstypen lassen sich nach derjenigen Größe klassifizieren, auf die für die atheistische Option Bezug genommen wird: So gibt es einen evolutionsbiologischen Neuen Atheismus, einen gehirnphysiologischen und einen auf die Kulturleistung der Religion bezogenen. Der evolutionsbiologische behauptet, Religion sei als Beiprodukt der Evolution erklärbar und als solches entbehrlich, der gehirnphysiologische sieht stoffliche Vorgänge hinter religiösen Erfahrungen und schließt daraus, dass es keinen außerstofflichen Grund dafür geben kann. Der kulturalistische Ansatz teilt mit den beiden anderen die Rückführung der Religion auf eine nicht-religiöse Größe, konzentriert sich dabei aber auf das, was er als die inhärente Gewalttätigkeit der Religion erkennt, die deren Wahrheitsansprüche dementieren. Winfried Löffler (*1965) hat die hilfreiche Unterscheidung zwischen begründendem und erläuterndem Atheismus vorgeschlagen: Begründender Atheismus sucht argumentativ die Chancenlosigkeit der Option ›Gott existiert‹ zu zeigen. Der erläuternde Atheismus nimmt die atheistische Option zunächst ein und will dann zeigen, dass die Konsequenzen einer Weltanschauung, die mit der Existenz Gottes rechnet, so fatal sind, dass nichts für ihre leitende Annahme spricht. Die Spielarten des Neuen Atheismus’ gehören vornehmlich dem erläuterndem Atheismus an und damit der argumentationslogisch etwas weicheren Form. (Löffler 30–36, vgl. Schärtl 92f) Freilich hat sie den Vorteil, im reicheren Maß auf empirische Evidenz verweisen zu können, als dies bei streng begründenden Strategien möglich ist.
Neuer Atheismus mit evolutionsbiologischem Akzent Richard Dawkins (*1941) ist Evolutionsbiologe und hat mit seinem Buch ›Der Gotteswahn‹ (engl. 2006) den bekanntesten Beitrag zum Atheismus dieser Richtung vorgelegt. Das Buch spart nicht mit Polemik und muss sich den Vorwurf gefallen lassen, von so manchem, was es kritisiert – etwa der Trinitätslehre (Dawkins 249) –, kaum etwas zu verstehen. Gleichwohl ist ein Blick auf die leitende Argumentation interessant: Dawkins sieht die Evolutionsbiologie als leitende Wissenschaft der lebendigen Welt und des Menschen. Alle menschlichen Verhaltensweisen und damit auch alle Vorstellungen, die Menschen entwickeln, sind durch das evolutionäre Basisgesetz des survival of the fittest gesteuert. Das gilt
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auch für die Religion. Hier macht Dawkins eine zweistufige Entwicklung aus: Es ist evolutionär erklärbar, dass Religionen entstanden, etwa weil ihre Vorstellungen Trost und Hoffnung zu spenden vermochten oder weil sie zu wünschenswerten ethischen Leistungen anspornten. Freilich lief die Entwicklung der Religionen aus dem Ruder: Sie entwickelten Vorstellungen, die keinerlei evolutiven Vorsprung ergeben, etwa die Idee eines Weiterlebens nach dem Tode. Außerdem wurden ihre Erklärungsleistungen durch den Fortschritt der Wissenschaften entbehrlich. Deshalb ist es unvernünftig, ihre leeren Vorstellungen weiter zu transportieren. Sie sind Einbildung (delusion) oder, wie es der deutsche Titel eher noch verschärfend wiedergibt, ›Gotteswahn‹. (Dawkins 225– 290) Durchaus ähnlich in der Anlage, jedoch weitaus umsichtiger argumentiert Daniel Dennett: Er neigt zu der Annahme, dass Religion schon immer eine evolutionäre Fehlleistung war. Es ist möglich, dass sie die eine oder andere hilfreiche Funktion ausübte, tat dies jedoch stets mit Wahrheitsunterstellungen, die durch nichts gedeckt waren. Diese Fehlleistung besteht darin, »überall, wo etwas passiert, nach Akteuren zu suchen«. (Dennett 151) Da der wissenschaftliche Fortschritt die Annahme, dass es solche verborgenen Akteure gebe, aber entbehrlich gemacht hat, zeigt sich Religion als auf nichts verweisendes Überzeugungssystem, zu dessen Aufrechterhaltung enorme Mühen aufgewendet werden. Religion sieht da Akteure, wo schlicht keine sind. Dies aber bindet Kräfte und Ressourcen, die anderswo dringend benötigt werden. Unter den Vorannahmen dieser Denkrichtung (Detailanalyse: Schärtl 93–97) sind vor allem zwei bemerkenswert. (1) Was steht hier als die zu kritisierende Religion eigentlich am Pranger? Religion muss aus Nöten und Sorgen von Menschen entstanden sein, Religion muss ferner dazu geeignet sein, das Leben der Menschen durch Annahmen zu erleichtern. Vor allem aber fügen Religionen Gott/Götter als Handlungssubjekte fürs innerweltlich Unerklärbare ein. Dafür hat sich aus der Theatersprache der Terminus deus ex machina eingebürgert: Seit der antiken Tragödie
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gibt es das Stilmittel, dass in einer heillos verworrenen Situation eine überraschend auftretende Gottheit die Sache zu einem gutem Ende führt. – Zu fragen ist, ob die Vorstellungswelt der Religionskritiker tatsächlich eine diskutable Selbstauslegung von Religion(en) trifft. Für die christliche – und wohl für die jüdische und muslimische Selbstauslegung – ist das klar zu verneinen: Gott als deus ex machina ist zu Recht der Religionskritik anheimzugeben. Auch dient christliche Religion nicht funktional der Vereinfachung der Lebensverhältnisse. Es ließe sich vielmehr zeigen, dass sie der Provokation entspringt, das behütete Leben zu verlassen und sich in einen Aufbruch hineinziehen zu lassen, der eben nicht auf Sicherheitsverheißungen aufruht, sondern allein auf kontrafaktischen Hoffnungsaussagen. Symptomatisch dafür steht der in Gen 12,1 erinnerte Aufruf Gottes an Abraham, sein Vaterland zu verlassen und in ein Land zu ziehen, »das ich dir zeigen will«. Der in dieser Prämisse benannte Gegner ist also falsch konstruiert. Genauer: Es gibt den Gegner durchaus, aber in Gestalt des vor allem in Nordamerika verbreiteten Kreationismus und seiner stark evangelikalen Kirchlichkeit. Ihm gegenüber sind manche Affekte des an Affekten nicht armen Buchs von Richard Dawkins verständlich. Schlicht falsch ist es aber, das ganze Christentum und erst recht alle monotheistischen Religionen über diesen Kamm zu scheren.
(2) Diese neu-atheistische Spielart bedient sich einer sog. naturalistischen Argumentation. Diese geht so vor, dass sie ein Phänomen unklarer Art dadurch zu erklären versucht, dass sie es auf Phänomene beobachtbarer Art zurückführt, also auf Phänomene in der Natur. Das unklare Phänomen namens Religion wird evolutionsbiologisch auf Bedürfnisse und Bedürfnisbefriedigung zurückgeführt. Damit aus einer solchen Rückführung Religionskritik werden kann, ist freilich eine alles entscheidende Prämisse einzuführen. Sie lautet: »Wenn es eine naturalistische Erklärung von Religion gibt, dann gibt es keinen Gott bzw. kann es keinen Gott geben. (formal: N impliziert Non-G)« (Schärtl 95) Behauptet wird also, dass die naturalistische Reduktion alternativlos ist. Die Rückfrage heißt hier, was zu diesem weitreichenden Schluss berechti-
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gen soll. Selbst wenn die naturalistische Erklärung plausibel sein sollte, berechtigt noch nichts, sie für allein plausibel zu halten. Die Vertreter dieses Typs von Atheismus sind offenbar der Ansicht, dass nur Sätze der Evolutionsbiologie wahr sein können. Das aber ist eine Setzung und mitnichten aus sich heraus plausibel. Die erhebliche Einseitigkeit dieser Annahme zeigt sich beim Blick auf die zweite Spielart des Neuen Atheismus noch deutlicher: Neuer Atheismus mit Blick auf die Hirnforschung Man kann anders ansetzen, dichter gleichsam und nicht mit Blick auf die ungemein weitgespannten Zeiträume der Evolution. Dazu bietet die Hirnforschung Material, weil sie mit immer besseren bildgebenden Verfahren die Aktivität der Gehirnzellen (Neuronen) messen kann. In der Hirnforschung lässt sich nun zeigen, dass bestimmte Handlungen und/oder Gedanken zu Neuronenaktivität in bestimmten Regionen des Gehirns führen. Kann man aber einen physiologischen Vorgang – Stoffwechsel in der Gehirnzelle – und einen damit verbundenen Gedanken direkt aufeinander beziehen, dann legt sich die naturalistische Argumentation nahe: Was als freie Handlung oder als Gedanke erscheint, ist in Wirklichkeit restlos als Aktivität der Neuronen erklärbar. Es handelt sich also wiederum um ein naturalistisches Argument, freilich mit dem Vorteil, dass es weniger spekulativ klingt, weil es auf hier und jetzt messbare und darstellbare Daten verweist. Das Argument an sich sorgt schon für Sprengstoff, weil es die beunruhigende Idee enthält, dass die menschlichen Vorstellungen von Freiheit der Gedanken, Souveränität der Selbsthabe und Selbstbewusstsein Illusionen sind: Gedanken, Gefühle und alles was damit zusammenhängt, sind Epiphänomene physiologischer Prozesse. (Singer 73–76) Damit ist ein religionskritisches und atheistisches Argument bereits beisammen, denn wenn Gedanken und Gefühle überhaupt nur sekundäre Effekte von Neuronenaktivität sind, gilt das für die religiöse Behauptung, Gott existiere, natürlich auch. Das Argument ist aber noch explizit religionskritisch wendbar: Religion geht eigentlich auf Erfahrungen zurück. Lässt sich ein Kern-
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bereich religiöser Erfahrung ausmachen, dann lässt sich aber auch zeigen, auf welche Neuronenaktivität diese Erfahrung zurückgeht. Damit aber ist die materielle Basis der Religion erreicht und die naturalistische Reduktion an ihr Ziel gelangt. Interessanterweise geht die Diskussion von diesem Punkt aus in zwei Richtungen, entweder in die religionskritische, weil die naturalistische Erklärung der Behauptung religiöser Wahrheit den Boden entzogen habe. (Boyer passim) Zugleich aber wird argumentiert, dass der Aufweis eines physiologischen Kerns religiöser Erfahrung diese mitnichten für irreal erklären müsse – im Gegenteil: Was eine physiologische Basis hat, ist eben nicht nur Einbildung, obwohl man auch andere als nur naturalistische Argumente heranziehen muss. (Rue passim)
Die Auseinandersetzung mit diesem Typus des Neuen Atheismus muss zum einen fragen, ob Religion wirklich auf bestimmte Kernerfahrungen zurückgeht, die sich isolieren lassen. (s.o. Kap. 5.d) Vor allem aber kann hier eine offenkundige Fehlabstraktion der naturalistischen Reduktion gezeigt werden. Die oben zitierte Prämisse, dass man von einer naturalistischen Erklärung der Religion auf die Nichtexistenz Gottes schließen könne, schließt ein, dass die naturalistische Erklärung alternativlos ist: Was durch sie erklärt wird, wird durch sie ganz und gar erklärt. Genau diese Implikation ist aber mehr als fraglich. Sie kommt einer Selbstverabsolutierung gleich, welche die grundsätzliche Perspektivität des Fragens vergisst. So ist etwa mit Blick auf die bildgebenden Verfahren der Hirnforschung zu sagen: Es handelt sich um – mindestens für den Nichtfachmann – beeindruckende Versuchsanordnungen, die durch die Eigenart der Versuchsanordnung selbst ausschließen, dass so etwas wie ein Subjekt oder subjektive Empfindungen angetroffen werden. Wer Neuronenaktivität messen will, kann nicht nach einem ›Ich‹ oder nach Gefühlen und Gedanken fragen. Dann aber ist die Schlussfolgerung, dass weder ein Ich noch Gedanken und Gefühle entdeckt wurden und es sie folglich nicht gebe, falsch. Es zeigt sich wohl, dass Menschen mit ihrem Gehirn denken. Dass es statt der Gedankenoperation was-auchimmer vollziehe, wäre eine Schlussfolgerung, die die eigene Prämisse zum Ergebnis erklärt.
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Jan Phillip Reemtsma (* 1952) hat als Beitrag zur Frage, ob die Hirnforschung die nicht-Existenz von Freiheit belege, folgenden Vergleich gezogen: Gegeben ist ein Musikstück. Sowohl ein Musiker als auch ein Akustiker können das Musikstück vollständig beschreiben, der eine hinsichtlich Motiven, Harmonien, Stil, Instrumenten usw., der andere als Phänomen von Lautstärke, Dauer, Aufzeichnungsqualität usw. Keiner von beiden kann aber beanspruchen, dass seine völlige Erklärung des Musikstücks die eine völlige Erklärung ist. (Reemtsma, Scheinproblem 194f) – Dieser Vergleich ist für Zwecke der Auseinandersetzung mit dem Neuen Atheismus sehr geeignet; es würde lohnen, ihn auf Reemtsma eigene Position in Sachen Religion anzuwenden, die sich deutlich atheistisch darstellt. (Reemtsma, Religiosität 391.406 u.ö.)
Neuer Atheismus als Kulturdiagnose Auch dieser Argumentationstyp bedient sich eines naturalistischen Gedankens, freilich legt er den Fokus auf kulturelle Phänomene und beansprucht für seine Folgerungen nicht naturwissenschaftliche Eindeutigkeit. Durch einige seiner Bücher ist Peter Sloterdijk der bekannteste deutschsprachige Vertreter dieser Richtung geworden. Seine Argumentation lässt sich in zwei Prämissen zusammenfassen: (1) Immer wieder wird im Namen von Religion zu Gewalt aufgerufen und Gewalt ausgeübt. Das steht in einem aufzuklärenden Verhältnis zu der religiösen Beteuerung, es ginge der Religion um Frieden. (2) Diese aufzuklärende Diskrepanz bedingt den Blick von außen. Es zeigt sich, dass Religion andere Funktionen hat, als sie selbst behauptet. Weil sie in diesen Funktionen aufgeht, sind ihre Wahrheitsansprüche falsch. Inhaltlich: Sloterdijk identifiziert für die drei monotheistischen Religionen Erfahrungen von Stress und Belastung als Ausgangspunkt ihrer Existenz. Wer Christ, Jude oder Muslima ist, gibt sich mit nichts weniger zufrieden als damit, Diener/in des allerhöchsten Gottes zu sein. Das ist der denkbar hohe Anspruch, mit dem Monotheismen antreten: »Kein Monotheismus also ohne ein gewisses Großtun.« (Sloterdijk, Eifer 39) Wer, wie Abraham und seine Kinder bis auf den heutigen Tag, sich als Diener des Höchsten versteht, wird in den Sog und Rausch des DienenWollens hineingerissen. Das ist aber gleichbedeutend mit dem geheimen Wunsch, ein wenig Anteil an der Souveränität des Al-
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lerhöchsten zu erhaschen. Diese Kombination aus größter Größe einerseits und dem Ernst des Dienenwollens auf der anderen ist die Drucksituation der Monotheismen. Im Judentum geschieht dies durch die beiden extremen Stressmomente Exodus und Exil, bei denen Wahrheit und Macht auseinandertreten. Dem Höchsten wird so gedient, dass seine Wahrheit nicht bei den Mächtigen ist, sondern im Vertrauen auf Gott in der Überwindung dieser Mächtigen geschehen wird. Das aber zieht eine Konsequenz nach sich: »Von nun an äußert sich das Verlangen nach Überlegenheit über den Überlegenen.« (Sloterdijk, Eifer 49) Nicht anders ist es im Christentum, für das etwa irritierende Machtlosigkeit damit einhergeht, dass man meint, über die Seelen aller richten zu können, weil man weiß, wer in den Himmel komme und wer nicht. Dass von hier aus der Weg zur Gewaltanwendung nicht mehr weit ist – es geht ja schließlich darum, Seelen zu retten oder aber die einzig wahre Religion zu verteidigen –, versteht sich fast von selbst. Gewalt im Namen der monotheistischen Religion ist also nichts anderes als die Weitergabe der innerlich empfundenen Drucksituation nach außen. Die Konsequenz ist dann leicht zu sehen. Die inhaltlichen Beteuerungen der monotheistischen Religionen, sie seien Religionen des Friedens, werden gegenstandslos, sobald man weiß: Diese Beteuerungen sind gegenstandslos, weil sie lediglich den inneren Konflikt der Monotheismen decken, der aber doch gar nicht anders kann, als in Gewalt auszuarten. Auch diese Variante des Neuen Atheismus bedient sich einer naturalistischen Strategie, eben weil sie meint, mit internem Aufbau von Druck und seinem externen Abbau die natürliche Grundlage jeder monotheistischen Religion gefunden zu haben. Für die Diskussion heißt dies zunächst, dass hier dieselbe Einseitigkeit wie in der letzten Variante vorliegt: Was berechtigt den Religionskritiker, ein und nur ein Bezugssystem zu verwenden, um sein Objekt zu beurteilen? Er verwendet dafür starke Vokabeln wie »ausschließlich«, »nichts als«, »in Wahrheit«, »immer nur«. (Sloterdijk, Zorn 154.161) Das aber ist schon deshalb widersprüchlich, weil er an anderer Stelle das Denken in der zweiwertigen Logik – die nur ›ja‹
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oder ›nein‹ kennt –, dem Gewaltpotential der Monotheismen zurechnet. (Sloterdijk, Eifer 131ff) Hinzu kommt, dass Sloterdijk sein absolutes Urteil nicht an Selbstaussagen der von ihm kritisierten Religionen prüft. Das aber heißt, dass er etwas kritisiert, was er nicht kennt. In einer Replik heißt es angemessen deutlich: »Heilige Einfalt. Das unterstellte Interesse an Eindeutigkeit reproduziert freilich erst der Kritiker selbst, indem er der eigenen interpretativen Fundamentalisierungsstrategie nachgibt. Die Einrichtung des Objekts geschieht ohne jeden Zweifel, ohne kritische Selbstüberprüfung, die am Einspruch des Gegners Maß nähme.« (Hoff 93)
In der Sloterdijk’schen Variante liegt naturalistisch inspirierter Atheismus in einer Weise vor, die sich den Vorwurf untunlicher Schlichtheit gefallen lassen muss. Es stünde schlecht um Religionskritik aus naturalistischer Perspektive, wenn dies alles wäre, was sie zu bieten hätte. Der Blick in die Entstehungsgeschichte dieser Form von Atheismus und Religionskritik ist deshalb geboten.
b) Religionskritische Traditionen – naturalistische und andere Der Ahnherr der Religionskritik unter Rückgriff auf Argumente, die in der Religion eine außerreligiöse Bewältigungspraxis sehen, ist David Hume (1711–1776). Er setzt sie freilich mit anderer Stoßrichtung ein. Gegner in seinem religionsphilosophischen Hauptwerk ›The Natural History of Religion‹ war der Deismus, eine denkerische Richtung der Frühaufklärung, die davon ausging, dass die früheste menschheitliche Religion monotheistisch war: Gott hat die Welt geschaffen und wohl eingerichtet, danach aber die wohl eingerichtete Welt sich selbst überlassen. Insbesondere, so die Deisten, gibt es keine Wunder und sonstigen direkten Eingriffe Gottes ins Weltgeschehen. Alle Religionen, die diesen Grundgedanken teilen können, stehen also im Kontakt mit der ältesten Religion der Menschheit. Dieser Gedanke war – allerdings nicht von allen – als Verteidigungsstrategie für das Christentum gedacht: Ist der Kern des Christentums deistisch, so kann
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es über den Altersbeweis als ehrwürdigste und wahre Religion gelten. Dem stellt David Hume sich vehement entgegen. Er argumentiert, dass der Monotheismus zwar achtbar sei und moralisch hoch stehe, dass ihm aber in den frühen Zeiten eine polytheistische Haltung vorangegangen sein muss. Damit nicht Behauptung gegen Behauptung steht, bietet er eine Erklärung an, die Religion als direkte Reaktion auf das deutet, was im alltäglichen Leben widerfährt: »We may conclude, therefore, that, in all nations, which have embraced polytheism, the first ideas of religion arose (…) from a concern with regard to the events of life, and from the incessant hopes and fears, which actuate the human mind. (…) the anxious concern for happiness, the dread of future misery, the terror of death, the thirst of revenge, the appetite for food and other necessaries. Agitated by hopes and fears of this nature, especially the latter, men scrutinize, with a trembling curiosity, the course of future causes, and examine the various and contrary events of human life. And in this disordered scene, with eyes still more disordered and astonished, they see the first obscure traces of divinity.« (Hume 114.115f)
Menschen stecken in Daseinsnöten und -hoffnungen. Auf einer frühen Entwicklungsstufe fehlen ihnen Abstraktionsfähigkeit und die Erkenntnisse der Wissenschaft. Deshalb stellen sie sich vor, inmitten ihrer natürlichen Umwelten von höheren Wesen umgeben und beeinflusst zu sein. – Das klingt zunächst nach den vom Neuen Atheismus vertrauten Strategien: Der entscheidende Unterschied ist, dass Hume seine Überlegung ausdrücklich als Genese der frühesten Formen von Religion einsetzt. Er verbindet das ausdrücklich mit einem Modell religiöser Entwicklung hin zum Monotheismus, welcher ihm Achtung abverlangt: »The whole frame of nature bespeaks an intelligent author«. (Hume 107) Man muss für verschiedene Entwicklungsstufen der Menschheit verschiedene Modelle ansetzen, so für die frühen einen »origin in human nature« und für die seiner Gegenwart eine »foundation in reason«, die für die frühen Formen evidenterweise nicht gegeben werden kann. (ebd.) Diese Bemerkungen sind insofern spannend, weil David Hume in anderen seiner Werke die ›foun-
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dation in reason‹ für Religion vor allem mit erkenntnistheoretischen Mitteln prüfen – und für viele christliche Glaubensinhalte abweisen wird. (z.B. Hume 29–38) Seine Religionsphilosophie zieht ihre Stärke offensichtlich daraus, nicht nur einen einzigen Referenzrahmen zu kennen. Demgegenüber nehmen sich die Argumentationsstrategien im Neuen Atheismus merkwürdig eindimensional aus. Sie setzen einen sich als wissenschaftlich ausgebenden Naturalismus als einzigen Referenzrahmen und versäumen so, der Vielfalt des Phänomens Rechnung zu tragen. Eine Einschränkung muss freilich gleich ergänzt werden: Religionsgeschichtliche Modelle, die eine Entwicklung vom vorgeblich frühen und kulturell primitiven Polytheismus bis hin zum denkerisch wie moralisch hochstehenden Monotheismus postulieren, erfreuten sich etwa ab der Aufklärungsepoche großer Beliebtheit. Freilich waren sie nicht selten mit starken Werturteilen verbunden, nach denen die Religion der ›Primitiven‹ ebenso primitiv war. Ausweislich des eben gegebenen längeren Zitats hat auch Hume nicht anders gedacht. Es wird mit guten Argumenten gefragt, ob das nicht eine koloniale und postkoloniale Hochmütigkeit darstellt. So gibt es Untersuchungen, die etwa die polytheistische Kultur Altägyptens mindestens vom Ruch des Primitiven befreien wollen, (Assmann 49ff) ferner zeigte sich, dass die – zumeist, aber nicht nur – von christlicher Theologie betriebene Höherstufung des christlich-trinitarischen Monotheismus über den Israels seinen Teil zu christlichen Judenfeindschaft beigetragen hat. Deren fatale Gestehungskosten geben Anlass, die Axiologie solcher Entwicklungsmodelle kritisch zu sehen.
Für eine eingehende Darstellung der anderen Traditionen neuzeitlicher Religionskritik ist hier nicht der Ort. Freilich lassen sich die Hauptmotive und die mit ihnen verbundenen methodischen Präferenzen systematisieren. Für Ausführungen zu den meisten als Referenz genannten Denkern samt längerer Zitate verweise ich auf die hilfreiche Darstellung bei Weinrich 25–62.95–182. Wie bei einer knappen Systematisierung üblich, könnten manche Autoren bei mehreren der folgenden Punkte genannt werden; aufgeführt sind jeweils nur besonders sprechende Beispiele. (Mindestens) sieben Typen lassen sich erkennen:
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1. Naturalismus: Die Wahrheit über die Religion zeigt sich, indem sie auf ihre Funktionalität zurückgeführt wird. Freilich ist die Funktion oft nicht eben schmeichelhaft, auch hat sie mit den erklärten Inhalten der Religion wenig bis nichts zu tun. Hierzu zählt, wie erwähnt, David Hume, der in seinem Ansatz starke empiristische Prämissen mit einbindet. Deutlich später und mit teils dramatisch anderen Prämissen bieten auch Friedrich Nietzsche (1844– 1900) und Sigmund Freud (1856–1939) Varianten des naturalistischen Rekurses: Nach Nietzsche wurden Juden- und Christentum erdacht, weil Gruppen von machtlosen Menschen mit ihrer Situation nicht zurechtkamen und deswegen ein Religionssystem erdachten, das vor dem unendlich mächtigen Gott alle Menschen machtlos stellt. Freud nimmt an, dass Religion ein erdachtes System ist, mit dem Menschen sich die erheblichen Zumutungen eines reifen und vernünftigen Umgangs mit der Welt vom Leibe halten.
2. Rationalismus: Eine Wahrheit von Religion kann durchaus zugestanden werden, freilich nur insofern, als sich ihre Gedanken mit der Vernunft nachvollziehen lassen. Alle weiteren Ansprüche – etwa durch Offenbarung oder Tradition – werden abgewiesen. Rationalistische Religionskritik gesteht häufig die Existenz Gottes zu, kritisiert jedoch besonders die divergierenden und feindlichen Aussagen der christlichen Konfessionen. Viele Aufklärungsphilosophen bis Kant dachten in diese Richtung und entwickelten das, was die Philosophiegeschichtsschreibung ›Schulmetaphysik‹ nannte: In Zusammenstimmung mit den Gottesbeweisen ist ein rationales Gottesdenken möglich, die Aussagen konfessioneller Theologen werden jedoch als störendes und unwahres Schmuckwerk betrachtet.
3. Positivismus: Wahr ist allein, was sich sehen und messen lässt. Philosophisch zulässig sind nur Protokollsätze dieses Messens und Sehens, sowie logisch gesicherten Ableitungen aus den Protokollsätzen. Spekulationen über den Ursprung der Welt oder ein höchstes Wesen erweisen sich deshalb als entbehrlich und sinnlos. Auguste Comte (1798–1857) hält metaphysische Begründungen für völlig entbehrlich, zumal sie die rasant gewordene Entwicklung der Gesellschaft gefährden. Eine Religion, die diese Entwicklung begleitet und fördert, ist jedoch durchaus denkbar.
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4. Praktische Vernunft: Theoretische Behauptungen über die Wahrheit von unterschiedlichen Religionen werden – wie auch in der rationalistischen Religionskritik – skeptisch betrachtet oder ganz abgelehnt. Zugleich gilt, dass das Proprium der Religion in ihrem Praktischwerden, also in der Ethik liegt: Wer divergierende Wahrheitsansprüche erhebt, muss dies dadurch ausweisen, dass seine Variante zu einer höher stehenden Sittlichkeit führt als bei denen, die er als Konkurrenz betrachtet. Auch möglich ist der Argumentationszug, dass Ethik überhaupt ohne Bezug auf Gott als garantierende Instanz nicht gedacht werden kann. Diesen Schritt gehen erst Gotthold Ephraim Lessing (1729–1781) und dann Immanuel Kant. Lessing erklärt die theoretische Vernunft für unfähig, die divergierenden Wahrheitsansprüche der Religionen zu entscheiden und empfiehlt ihren Vertretern, durch den möglichst besten Lebenswandel für die jeweils beworbene Religion zu werben.
5. Materialismus: Religion kann nicht wahr sein, weil alles, was nur je entdeckt werden kann, materieller Natur ist. Auch Gedanken, Wünsche und Träume lassen sich auf ihr materielles Substrat zurückführen und so erklären. Weil Religionen zusätzlich zu Gedanken und Wünschen auch noch die Existenz eines überweltlichen und rein geistigen Wesens postulieren, verfallen sie der Kritik in besonders scharfer Weise. Julien Offray de la Mettrie (1709–1751) war Arzt und Philosoph. Von der Medizin her kommend entwickelte er ein konsequent materialistisches Denken, nach dem es eine Entität namens ›Geist‹ nicht gibt. Zu seinen Werken zählt das mit dem sprechenden Titel ›Der Mensch als Maschine‹ (L’Homme Machine, 1748). – Für die Entwicklung des Historischen Materialismus und seiner Religionskritik war der Materialismus der französischen Aufklärer ein wichtiger Motivgeber.
6. Ideologiekritik: Ob Religionen jemals das meinten, was sie aussagen, ist ungewiss. Deutlich ist jedoch, dass sie von den jeweiligen Machthabern zu anderen Zwecken verwendet werden, etwa um soziale Spannungen kleinzuhalten oder eigentlich zustehende Rechte zu verweigern. Weil die Religionen sich gegen den Missbrauch nicht gewehrt haben oder wehren konnten, sind ihre eigenen Wahrheitsansprüche diskreditiert.
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Hier ist besonders an die materialistisch grundierte Religionskritik von Karl Marx (1818–1883) und Friedrich Engels (1820–1895) zu denken. Für sie spricht die christliche Religion sich selbst das Urteil, weil sie die Ungerechtigkeit des herrschenden Systems stabilisiert und deshalb der gerechten Sache des Proletariats im Wege steht, der es von seinen frühesten Idealen her eigentlich nahe sein müsste.
7. Interne Fehlerhaftigkeit: Die Themen der Religion sind durchaus richtig, freilich werden sie in falscher Weise dargestellt. Variante (1): Die Themen der Religion sprechen nicht über ›Gott‹, sondern eigentlich über den Menschen, weil sie seine Sehnsüchte und höchsten Ideale beschreiben. Variante (2): Religionen erzählen in Bildern und Metaphern, was unbefriedigend ist. Die Philosophie bringt diese Bilder und Metaphern auf den Begriff und sichert so die Wahrheitsansprüche der Religion. Variante (1) ist der Grundgedanke Ludwig Feuerbachs (1804–1872), nach dem die Sätze der Religion eigentlich Sätze über den Menschen sind, und der dies in der ›Projektionshypothese‹ fasste: Was dem Menschen zuzurechnen ist, wird in der Religion fälschlicherweise auf Gott ›projiziert‹. Georg W.F. Hegel (1770–1831) vertritt Variante (2) und erklärt, im System des Idealismus die Wahrheit der Religion zu bewahren, indem sie begrifflich ausgesagt und damit deutlicher erfasst wird als in der Religion selbst.
c) Zur Auseinandersetzung Dieses Panoptikum der neuzeitlichen Religionskritik ist in seiner erheblichen Diversität nicht zusammenfassend diskutierbar, auch sind die Einteilungen durchaus variabel, wie z.B. aus den starken Nähen zwischen Typ (3) und Typ (5) ersichtlich ist. Um die Bandbreite aufzuzeigen, wurden mehr oder weniger strikt atheistische Positionen (teilweise [1], ferner [3], [5], [6], [7.1]) mit solchen zusammengebracht, die wohl religionskritisch sind, weil sie bestimmte Züge und Auslegungen kritisieren, eine Konzeption Gottes jedoch als möglich erachten ([2], [4], [7.2], auch [1]). Deutlich sollte sein, dass das Feld der Motive und Methoden weit ist und dass eine religionskritische Option mitnichten mit einer atheistischen deckungsgleich sein muss.
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Neben die exemplarische Diskussion von Typ (1) in Abschnitt a) tritt hier nur noch eine kurze Überlegung, wie die Sache der Religionskritik aus der Sicht der v.a. in Kap. 2 und 3 vorgestellten Negativen Theologie zu beurteilen ist. Eine strikt atheistische Position scheint kaum möglich, wenn der Gedanke plausibel ist, dass man etwas Grund-Legendes als existierend setzen muss, obwohl es nie Gegenstand des Wissens wird. Nicht wenig Nähen allerdings ergeben sich zu verschiedenen Typen der hier vorgestellten Religionskritik: Sofern sie falsche Vergegenständlichungen des unnennbaren Grundes kritisieren, greifen sie das Motiv Negativer Theologie direkt auf. Das gilt etwa für die Kritik, die die Verortung der Rede von Gott im Rahmen der praktischen Vernunft (4) am Rationalismus (2) vorgebracht hat: Mit Lessing und Kant ist es tatsächlich unerfindlich, wie über Gott mit philosophischen Mitteln materiale Aussagen gemacht werden sollen. Das von den beiden maßgeblich betriebene Ende der alten rationalen Theologie und Schulmetaphysik war ein Akt der Religionskritik und zugleich ein wichtiger Schritt zur Wiederentdeckung der Negativen Theologie. Auch Religionskritik als Ideologiekritik (6) kann durchaus ein Momentum sein, das von negativ-theologischer Warte aus verstehbar und verstärkbar ist: Wo Religion zur Zementierung von Machtverhältnissen genutzt wird, ist sie ja offenkundig in falscher Weise verfügbar gemacht worden. Nicht einzusehen ist dann freilich, warum Religionskritik als Ideologiekritik immer mit einer materialistischen Basis (5) kombiniert werden muss, wie das bei den Gründervätern der Ideologiekritik (6) der Fall war. Die internen Widersprüche der gegenwärtigen Spielarten des Naturalismus (1) wurden diskutiert. Bei dieser Gelegenheit waren auch materialistische (5) Prämissen mit im Spiel, so etwa bei der gehirnphysiologischen Variante des Neuen Atheismus. Diese und die radikale Religionskritik des Positivismus (3) sind offenbar nicht mit Aussicht auf Erfolg zu verteidigen.
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8. Argumente für Gottes Existenz in einer wissenschaftsbestimmten Welt I. Barbour, Naturwissenschaft trifft Religion. Gegner, Fremde, Partner?, Göttingen 2010; H. Blumenberg, Die Legitimität der Neuzeit, Frankfurt/M. 1996; B. Irlenborn/A. Koritensky, Vorwort, in: Analytische Religionsphilosophie, hg. von dens., Darmstadt 2013, 9–16; G.W.F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse, Werke 7, Frankfurt/M. 31993; W. Löffler, Einführung in die Religionsphilosophie, Darmstadt 2006; A. Plantinga, Warranted Christian Belief, New York/London 2000; ders., Reason and Belief in God, in: Faith and Rationality. Reason and Belief in God, hg. von A. Plantinga und N. Wolterstorff, Notre Dame IN 31991, 16–93 M. Rea, Divine Attributes as a Topic in Analytic Philosophy of Religion, Conference Paper, Augsburg 2013; R. Swinburne, Gibt es einen Gott?, Heusenstamm 2006; ders., Der Wert und die christlichen Wurzeln der analytischen Religionsphilosophie, in: Analytische Religionsphilosophie, hg. von B. Irlenborn/A. Koritensky, Darmstadt 2013, 48–64; C. Taylor, Ein säkulares Zeitalter, Frankfurt/M. 2009.
»Was das Individuum betrifft, so ist ohnehin jedes ein Sohn seiner Zeit; so ist auch die Philosophie ihre Zeit in Gedanken erfaßt.« (Hegel 26) Dieser Satz wurde zum Dictum. Er wurde beispielsweise gern genannt, wenn der Zitierende sich über die Zeitbedingtheit eines Arguments lustig machen wollte oder weil er eine Strömung als kurzlebige Mode ansah. Zumeist aber gilt der Hegel’sche Satz als Ausdruck dessen, dass Philosophie kritische und klärende Zeitgenossenschaft sein soll, will sie denn ihr Ziel nicht verlieren, das alle Angehende unter Rekurs auf die Kriterien ›wahr‹, ›wirklich‹ und ›sinnvoll‹ zu bearbeiten. (vgl. Kap. 1.a) Eine solche Pflicht zur Zeitgenossenschaft gilt nun gewiss auch für die Religionsphilosophie. Jede diesbezügliche Erwägung, die nicht nur nacherzählt, nimmt daran teil, auch die vorliegende. Bislang eher implizit fand das unter Bedingungen statt, die jetzt zum Hauptthema gemacht werden sollen: Dass wir in einer wissenschaftlich und technologisch bestimmten Welt leben, dürfte evident sein. Die Kenntnisse und Fertigkeiten, die seit Konzepti-
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on der exakten Naturwissenschaften in der frühen Neuzeit erlangt worden sind, lassen daran wohl kaum einen Zweifel, auch ist die Omnipräsenz des wissenschaftlich-technischen Fortschritts ganz unübersehbar, wobei man massive Ungleichverteilungen je nach Weltregion zu beachten hat. Zur Frage steht jetzt nicht, wie es eigentlich dazu hat kommen können – das ist in sich eine spannende, weil sowohl wissenschaftsgeschichtliche wie zugleich normative Frage. Neben der Frage, wie die neuzeitlichen Wissenschaften entstanden sind, worin ihre Erfolge bestehen und warum sie auftreten konnten, steht dabei stets die, wie es um die Legitimität der Wissenschaften bestellt ist. Erheben sie ihren Anspruch, objektive Erkenntnis zu liefern, zu Recht? Gehört zu ihren Wirkungen nicht nur der unstrittige Fortschritt, sondern nicht auch fatale Umweltzerstörung und anderes? Mehr noch: Nicht nur über die Wissenschaften, aber entscheidend mit ihnen entscheidet sich, ob die Neuzeit Recht daran tat, sich von den engen Bindungen der Tradition und des Glaubens zu lösen. Entsprechend sind Gesamtdarstellungen der Ideengeschichte der Neuzeit immer auch Erörterungen über Reichweite und Geltungsanspruch der Wissenschaften. Wie verschieden das ausfallen kann, zeigt das Neben- und Gegeneinander der beiden Standardwerke von Hans Blumenberg und Charles Taylor.
Es geht vielmehr um das intellektuelle Klima, das die neuzeitlichen Wissenschaften mit sich bringen. Man kann es u.a. mit diesen Slogans umschreiben: Kein Wissen entsteht nur aus Tradition; die empirische Beobachtung ist der Königsweg zu Kenntnissen; Beobachtungsexperimente lassen sich nicht unendlich, aber doch sehr stark verfeinern; was sich beobachten lässt, folgt Gesetzmäßigkeiten; naturwissenschaftlich erworbenes Wissen lässt sich in vielen Fällen technologisch umsetzen – die Reihe ließe sich fortsetzen, das intellektuelle Klima, das sie beschreibt, sollte evident und zugänglich sein. Die Frage ist also, wie man in diesem Klima und angesichts der Naturwissenschaften Religionsphilosophie betreiben kann. Das zu tun hat sich eine mittlerweile gut etablierte religionsphilosophische Richtung vorgenommen, die bislang noch nicht zu Wort kam, die analytische Religionsphilosophie. Nach einer knappen Gesamtvorstellung kommen zwei ihrer Hauptvertreter zu Wort,
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die auf ihre – untereinander strittige – Weise gerade im Gegenüber zu den Naturwissenschaften behaupten, dass Gottes Existenz wenn schon nicht beweisbar so doch gut belegt ist. Da ihre Prämissen zum hier beworbenen Ansatz der Religionsphilosophie im Widerspruch stehen, folgt am Schluss die Skizze eines alternativen Verhältnisses der Religionsphilosophie zu naturwissenschaftlichem Denken.
a) Analytische Philosophie: Um der Klarheit des Denkens willen Die analytische Philosophie erhielt ihren Namen als Reflex auf ihren ursprünglichen Impuls: Philosophie, so heißt er, muss zuerst Analyse von Sprache sein. Das war ein basaler Akt der Vorsicht, der eine vorschnelle Produktion von Gedanken verhindern sollte, die sich als nur gedacht und luftleer erweisen könnten. Denn wer zum Beispiel geneigt ist, Philosophie als Vernunftwissenschaft oder gar – das war im spekulativen Idealismus der Fall – als Auslegung des geistigen Wesens Gottes zu verstehen, der schenkt dem Faktum, dass Vernunft auf Sprache angewiesen ist, viel zu wenig Beachtung. Als Vehikel des Denkens und Kommunizierens ist Sprache aber unüberspringbar. Wer also die Wahrheitsbedingungen seines Argumentierens im Blick behalten will, muss seine Verwendung von Sprache ganz genau beachten: Was ist eigentlich ein Argument, was ein gültiger Schluss? Verwende ich Bilder und Metaphern in meiner Denkweise und führt das vielleicht auf Abwege der Phantasie? Gibt es vielleicht unterschiedliche Denkstile, so wie es unterschiedliche Sprechweisen gibt? Was ändert sich, wenn eine Argumentation in einer Fremdsprache wiedergegeben werden soll? Was genau reguliert eigentlich die Bedeutung eines (einzelnen) Wortes: Eine Definition, eine lose Vereinbarung in der Umgangssprache oder vielleicht nur der jeweilige Kontext, in dem das Wort gebraucht wird? – Lässt man sich einmal auf Fragen wie diese ein, wird recht schnell klar, dass Sprache ein genauso vielfältiges wie auch durchaus unscharfes Instrument ist. Zugleich ist sie unüberspringbar, weil niemand ohne Sprache denken und argumentieren kann. Wesentliche Impulse für diese Orientierung an der Sprache gingen vom Spätwerk Ludwig Wittgensteins aus. Freilich emp-
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fanden führende Vertreter der analytischen Philosophie die Orientierung an seinem Werk bald als nachteilig. Wer über Sprache und Sprachverwendung nachdenkt, so ihr Argument, verliert den Gegenstandsbezug völlig aus den Augen. Wer nur die Verwendung von Worten in der Religion erforscht und sich also für die Weisen religiösen Sprechens interessiert, der kann nicht mehr direkte Aussage über Gott machen. Sofern die Disziplin Religionsphilosophie heißt, ist aber doch genau dies ihre Aufgabe. Die Konzentration auf die Eigenarten religiösen Sprechens gelten dann als attraktiv, wenn man nicht geneigt ist, Gott als Gegenstand des Denkens zu setzen – das ist einer der Gründe, warum Wittgensteins Spätphilosophie für Vertreter der Negativen Theologie attraktiv ist. Freilich steht auch das in der Diskussion, und so ist mindestens die Überlegung zu rechtfertigen, es erneut mit den Argumenten der klassischen philosophischen Theologie zu versuchen. Es gibt, schreibt ein führender Vertreter, das »metaphysische Bedürfnis« des Denkens, an dem man nicht einfach vorbeigehen kann. (Swinburne 2013, 50) So entstand etwa ab den 1970er Jahren die heutige analytische Religionsphilosophie: Sie verbindet das Ideal der Klarheit und Präzision mit einer Erneuerung direkter begrifflicher Rede von Gott. Durch diese Kombination beansprucht sie, Gesprächspartnerin der Wissenschaften zu sein und also die Sache der Religionsphilosophie nicht in einem Winkel zu betreiben, sondern in der Öffentlichkeit des Argumentierens. Die dafür angemessene Vorgehensweise hat Michael Rea in folgende fünf »prescriptions« gefasst: »(1) Write as if philosophical positions and conclusions can be adequately formulated in sentences that can be formalized and logically manipulated. (2) Prioritize precision, clarity and logical coherence. (3) Avoid substantive (non-decorative) use of metaphor and other tropes whose semantic content outstrips their propositional content. (4) Work as much as possible with well-understood primitive concepts, and concepts that can be analyzed in terms of those. (5) Treat conceptual analysis (insofar as it is possible) as a source of evidence.« (Rea 2) Analytische Literatur macht deswegen häufig von logischen Kalkülen Gebrauch und ist immer darum bemüht, mit möglichst einfachen Behauptungen und klaren Ergebnissen ihre Sache voran zu treiben.
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b) Kumulative Wahrscheinlichkeitsbelege für Gottes Existenz? Der englische Religionsphilosoph Richard Swinburne (*1934) hat eine Reihe von Standardwerken zur analytischen Religionsphilosophie vorgelegt. Sein Anliegen ist die Wiederbelebung und argumentative Verteidigung des klassischen Theismus. Darunter versteht man die philosophisch zu verteidigende Behauptung, dass ein allmächtiges, allwissendes, allgütiges Wesen existiert, das die Welt erschaffen hat. Dieses Wesen ist selbst nicht Teil der Welt, zugleich existiert es notwendig. Es ist personal, es ist zu jeder Weltzeit und an jedem Ort präsent, zugleich in sich einfach und unveränderlich. Mit der Behauptung, dass dieses Wesen existiere, ist Swinburne exakt der Gegner des Neuen Atheismus, der im vorigen Kapitel vorgestellt wurde. Dessen Attacken richten sich gewöhnlich an eine so umrissene Gottesvorstellung. Es ist durchaus Swinburnes Anliegen, Menschen zu bestärken, die sich von den Argumenten des Neuen Atheismus in der Frage, ob man nun an Gott glauben könne oder nicht, verunsichert fühlen. Es gibt, so die Basiseinstellung seiner Argumente, zwar nicht den einen schlagenden Beweis für die Existenz Gottes. Wohl aber kann man durch Betrachtung der Welt viele Indizien erkennen, die zusammengenommen die Existenz Gottes wahrscheinlicher machen als seine Nichtexistenz. Richard Swinburne greift damit – neben den Klarheitsgeboten der analytischen Philosophie und den Gottesattributen, die der klassische Theismus ausgearbeitet hat – auf die Tradition der natürlichen Theologie zurück. Dabei handelt es sich nicht, wie der Name vielleicht suggeriert, um eine Theologie der außermenschlichen Natur, sondern um die Frage, ob auf natürlichem Wege, d.h. ohne Inanspruchnahme von Offenbarung, etwas über Gottes Existenz und Eigenschaften ausgemacht werden könne. Diese Denktradition stammt aus der Antike, wurde aber besonders in der frühen Neuzeit zu einem dem Theismus zuarbeitenden Denkstil. Am bekanntesten ist die Physikotheologie genannte Variante, weil sie in der Regel in kompendienartigen Darstellungen naturwissenschaftlicher Ergebnisse betrieben und weit verbreitet wurde. Die Physikotheologie hat gewisse Nähen zum teleologischen Gottesbeweis, (s.o. Kap. 4.b), will ihn aber nicht nur formal streng durchführen, sondern vor allem
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erfahrungsgesättigt als eine jedem Menschen mögliche Herangehensweise an die Gottesfrage anbieten. Im Grundsatz geht es so, dass zu zeigen versucht wird, dass alle Menschen Erfahrungen von erstaunlicher Stimmigkeit machen können, und dass diese Stimmigkeit als so erstaunlich erlebt wird, dass sie den Schluss auf einen nichtweltlichen Urheber möglich, ja wahrscheinlich macht. Wer etwa mitbekommt, wie ungemein komplex ein Bienenstock organisiert ist, obwohl jede einzelne Biene für sich gewiss nicht intelligent ist, kann sich fragen, ob eine solche hochkomplexe und staunenswert gut funktionierende Natureinrichtung ›einfach so‹ vorhanden sein kann oder ob zur Erklärung des Phänomens nicht auf eine übernatürliche intelligente Ursache geschlossen werden muss. Andere komplexe Naturphänomene lassen sich leicht denken. Freilich muss man nicht nur auf außergewöhnliche Phänomene blicken: Die Regelmäßigkeiten des natürlichen Lebens, die periodischen Wechsel von Tag und Nacht und die der Jahreszeiten, auch andere, wie etwa auf Wetter bezogene, ermöglichen belebtes Leben. Sie sind nicht von uns hervorgebracht und würden, veränderte sich ihre Regelmäßigkeit nur ein wenig, Leben erschweren bis unmöglich machen. Auch das, argumentiert natürliche Theologie, ist kein strenger Beweis, wohl aber etwas, was Zeitgenossen im Hinblick auf Gott nachdenklich machen und ihre Glaubensentscheidung positiv beeinflussen kann.
Swinburne argumentiert strenger als dies in der Physikotheologie der Fall war, die auch die ästhetische Wahrnehmung anzusprechen suchte und nicht selten erbaulich wurde. Gemeinsam ist ihm mit ihr aber die kumulative Herangehensweise: Nicht ein Argument oder eine Beobachtung allein muss die Beweislast tragen. Vielmehr wird eine ganze Reihe von Indizien zusammengeführt, die in dieser Summe den Schluss auf den Welturheber nahelegen. In einer Zusammenfassung seiner Arbeiten geht er wie folgt vor: Zunächst wird die Methodik geklärt. In gut analytisch-philosophischer Weise – vgl. Michael Reas Kriterien (2) und (4), oben Abschn. a) – votiert Swinburne für die Grundannahme: Plausibel ist diejenige Erklärung für ein Phänomen, die die denkbar einfachste Ursache für das Phänomen vorschlägt. (Swinburne 2006, 41) Diese Sparsamkeitsregel geht auf den Theologen und Philosophen William von Ockham (vor 1288–1347) zurück. Erklärungen, so William, müssen möglichst einfach sein, weil man in Probleme kommt, wenn man mehr Ursachen als nötig annimmt.
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Vielleicht kann man durch die Annahme vieler Ursachen alle Facetten eines Problems erläutern, müsste sich aber dann den Vorwurf gefallen lassen, zu viel Phantasie walten zu lassen. Weil das nicht tunlich ist, gilt das Gebot der möglichsten Sparsamkeit bei der Annahme von Ursachen – bekannt wurde es unter dem Slogan ›Ockhams Rasiermesser‹, mit dem er die überflüssigen Ursachen gleichsam abschneidet. Dem also pflichtet Swinburne bei. Die Anwendung des Sparsamkeitsprinzips folgt sehr bald. Swinburne beruft sich auf allgemeine Entdeckungen in den exakten Naturwissenschaften, auf die Naturkonstanten und die geläufigen Naturgesetze. Dass sie überall in der Natur vorkommen, ist unbestreitbar naturwissenschaftliche Erkenntnis. Warum aber jeder Gegenstand in der Welt diese und genau diese Kräfte hat, ist nach Swinburne naturwissenschaftlich nicht erklärbar: »Aber sie [die Wissenschaft, M.H.] kann keinesfalls erklären, warum jeder Gegenstand die allgemeinsten Kräfte hat, die er hat.« (Swinburne 2006, 48) Hier bietet sich nun die Hypothese ›Gott, wie der Theismus ihn beschreibt, existiert‹ als Erklärung an. Die Erklärung ist einfach, weil sie nur eine Entität setzen muss, zugleich erklärt sie schlagartig ein ganzes Feld von Phänomenen. Die offenkundig feinst aufeinander abgestimmten Konstanten und Naturgesetze sind, wie sie sind, weil ein allmächtiger, allwissender, gütiger Gott sie so und nicht anders hervorgebracht hat. (Swinburne 2006, 59 u.ö.) Dies Argument alleine muss nicht genügen. Zwecks Verdichtung der Plausibilität wendet Swinburne sich auch dem Phänomen des Bewusstseins zu und bespricht Berichte von Menschen, die behaupten, in ihrem Leben die Erfahrung der Gegenwart Gottes gemacht zu haben. Die Schlüsse sind jeweils ähnlich und laufen darauf hinaus, dass die einfachste Erklärung in der Annahme der Existenz Gottes besteht. Zusammenfassend heißt es, »daß die Existenz, die Ordnung und die Feinabstimmung der Welt; die Existenz von bewußten Menschen in der Welt mit der Möglichkeit, sich selbst, einander und die Welt zu formen; eine Reihe historischer Indizien von Wundern im Zusammenhang mit der Gründung des Christentums, weiter gestützt durch Erfahrungen
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seiner Gegenwart von Millionen von Menschen; daß all dies es erheblich wahrscheinlicher macht, daß es einen Gott gibt, als daß es keinen gibt.« (Swinburne 2006, 131) Der Anspruch ist also, (1) unter Beachtung des Prinzips der einfachen Erklärung, (2) unter Betrachtung mehrerer Phänomenbereiche (3) einen Wahrscheinlichkeitsschluss auf (4) die Existenz Gottes im Sinne des Theismus erbracht zu haben. Die argumentative Auseinandersetzung sollte vor allem die Argumentteile (1) und (4) näher betrachten. Man kann, ad (1), vorbringen, dass ›Gott‹ als Erklärungshypothese zwar eine numerisch einfache Erklärung darstellt, weil er im Theismus als wesentlich einfach und unveränderlich gedacht wird. Freilich ist die Kette der Eigenschaften, die ihm zugesonnen wird, nicht einfach, sondern doch eben denkbar groß und vielfältig – bis dahin, dass von ihr behauptet wird, dass sie, im Gegensatz zum gesamten Kosmos notwendig existiert. Damit ist Gott durchaus keine einfache Hypothese. Das bestreitet einen wesentlichen Aspekt des Arguments, muss es aber noch nicht gänzlich zu Fall bringen. Das steht freilich auf dem Spiel, wenn es um den Aspekt (4) geht. In der Auseinandersetzung mit ihm kann man auf das auf Immanuel Kant zurückgehende Argument zurückgreifen: (s.o. Kap. 2.b) Es ist unmöglich, auf die Existenz eines Wesens zu schließen, zu dessen Eigenschaften es gehört, nicht zur Welt zu gehören, und das also auch unter den denkbar besten Beobachtungsbedingungen niemals ein Gegenstand unserer Betrachtung und Erfahrung wird. Letzte, metaphysische Fragen können zwar gestellt werden; mit den Mitteln theoretischen Nachdenkens aber sind sie nicht lösbar, weil es widersprüchlich ist, ein ›etwas‹ zu behaupten, das ein ›etwas‹ nicht sein kann. Wenn das richtig ist, kann Swinburnes Argument nicht mit Erfolg verteidigt werden. Er reagiert darauf mit einer wissenschaftsgeschichtlichen Einordnung der kantischen Kritik: Kant lebte vor der chemischen Atomtheorie. Nach ihr kann man bestimmte chemische Phänomene beobachten und muss zu ihrer Erklärung auf die Verbindung von Atomen schließen. Atome aber sind von der Art, dass sie nicht beobachtet werden können. Also ist es so, »dass wir eine Menge über Ursachen wissen, die sich der Beobachtung entziehen
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(…). Die kantische Doktrin über die Grenzen der menschlichen Erkenntnis war ein großer Fehler.« Swinburne 2013, 56f) Das ist eine echte philosophische Kampfansage, in ihrer Direktheit typisch für die analytische Philosophie, überdies direkt an das gewandt, was in ihrer Diktion ›kontinentale Philosophie‹ heißt, die das kantische Argument von den Erkenntnisgrenzen für gültig hält. Freilich ist es unumgänglich, Swinburnes Zurückweisung selbst als Fehler zu betrachten. Sein Beispiel verfängt nicht. Es ist richtig, dass niemand bislang einzelne Atome oder Atomgruppen gesehen hat. Sie sind, allen als gesichert geltenden Vermutungen zufolge, derart klein, dass das nicht gelingt und auf absehbare Zeit nicht gelingen kann. Freilich gehören sie zum Bestand der Welt und damit ist es prinzipiell denkbar, dass eines fernen Tages eine Technologie ersonnen wird, die Atome sichtbar macht. Wenn Gott – nach der Definition des Theismus selbst! – aber Gott ist, so ist er nicht Teil der Welt. Aus diesem Grund unterscheidet sich der Schluss auf (derzeit) nicht sichtbare Weltbestandteile fundamental von dem auf eine angenommene Größe, zu deren Eigenschaften es gehört, nicht Welt und damit niemals Gegenstand sein zu können. Swinburnes Argument ist an diesem entscheidenden Punkt nicht zu retten. Man kann allerdings etwas aus dieser Argumentation durchaus für gültig halten. Swinburne weist auf Phänomene in der Welt hin, die in der Tat das Potential haben, Staunen und Dankbarkeit hervorzurufen: Die Vielgestaltigkeit des Kosmos, komplexes soziales Leben im Tierreich, gelingende moralische Verständigung unter Menschen, vielleicht auch so etwas wie religiöse Erfahrung können Menschen stark ansprechen und den Gedanken hervorbringen, dass ›mehr‹ dahinterstecken mag. Freilich kommt es darauf an, vor welchem Interpretationshintergrund das geschieht. Jemand, der aus anderen Gründen als denen, die das momentane Staunen hervorrufen, der Ansicht ist, dass es Gott nicht gibt, kann widerspruchsfrei von Kants Argument Gebrauch machen und sagen, dass diese Phänomene nicht in der Swinburne’schen Weise auf Gott verweisen. Jemand anderes, der aus anderen Gründen als denen, die das momentane Staunen hervorrufen, der Ansicht ist, dass Gott existiert, kann genauso widerspruchsfrei sagen, dass
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ihn diese Erfahrung auf Gott verweist, obwohl – wieder mit Kant gesprochen – Gott nie Objekt des Wissens sein wird. Insofern ist eine stark überzeugungsrelative Auslegung des Arguments möglich. Es wandelt sich dann freilich vom Wahrscheinlichkeitsbeleg für die Existenz Gottes zu einem Erfahrungsmomentum unter vielen anderen, das mit dem Interpretationshintergrund in Austausch steht. Der Erfahrungsbezug weist noch auf einen weiteren Diskussionspunkt mit Swinburne hin: Seine Argumentation blendet gelebte Religion absichtlich ab und diskutiert abstrakte Argumente. Er ist sich völlig im Klaren darüber, dass eine solche Religionsphilosophie den Glauben an Gott nicht begründen oder hervorrufen kann. Sie dient vielmehr als argumentative Rückversicherung für diejenigen, die sich aus anderen Gründen bereits als glaubend vorfinden. (Swinburne 2013, 50) Die Frage ist, ob die Ferne der Argumente von der gelebten Religion nicht zu stark ist. Swinburne scheint der Ansicht zu sein, dass allein (analytisch-) philosophische Argumente die Frage nach der Wahrheit religiöser Überzeugungen stellen. (Swinburne 2013, 48) Ungedacht bleibt dann aber, dass sich religiöse Wahrheitsfragen womöglich nicht oder nicht nur als theoretische stellen, sondern in dem Lebensumgang, der als religiös bezeichnet werden könnte. Ich will in Kapitel 10 und 11 genau dafür argumentieren: Religion kann als Lebensform aufgefasst werden. Die von ihr vorgebrachten Wirklichkeitsunterstellungen sind deshalb im Rahmen der Lebensform erklärbar, nicht aber davon abstrahiert. Da der Versuch, sie in abstrahierter Weise zu verteidigen, offenbar nicht gelingt, scheint der Lebensformbezug dessen, was als evident reklamiert wird, kein Mangel zu sein.
c) Basale Erfahrungen als Gottesbeleg? Ein weiterer namhafter Vertreter der analytischen Religionsphilosophie ist Alvin Plantinga (*1932). Er hat in einer Reihe von Büchern eine detaillierte und über die Jahre weiterentwickelte Theorie religiöser Erfahrung vorgelegt. Die von Swinburnes Theorie verschiedene Basisannahme ist, dass man zur Rechtfertigung
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religiöser Ansichten nicht auf außerreligiöse, eben philosophische Argumente zurückgreifen muss, sondern religiöse Erfahrungen selbst in den Blick nehmen soll. Kein ›normaler‹ Gläubiger muss philosophisch argumentieren und man kann auch dann glauben, wenn man zur Philosophie nicht befähigt ist oder keine Freude an ihr hat. Das Ziel ist, zu zeigen, dass es religiöse Erfahrungen gibt, die aus allgemein einsichtigen Gründen als hinreichend zuverlässige Glaubenserfahrungen – mit einem Buchtitel von Plantinga: warranted Christian belief – gelten dürfen. Dazu unterschiedet Plantinga – viele erkenntnistheoretische Details jetzt einmal beiseite – zwei Arten von Überzeugungen (beliefs): Es gibt solche, die auf anderen Überzeugungen aufruhen, also Schlüsse aller Art. Daneben aber gibt es Überzeugungen, die unmittelbar gebildet werden und keines weiteren Nachdenkens bedürfen, etwa der beim Blick aus dem Fenster geäußerte Satz: ›Gerade scheint die Sonne‹. Überzeugungen dieser Art sind ›basic beliefs‹, und wenn man Anlass zu der Vermutung hat, dass der, der sie erzeugt hat, über einen funktionierenden Erkenntnisapparat verfügt und bei Sinnen war, so sind es »proper basic beliefs«. (Plantinga 2000, XI) Ein bestimmter Typ religiöser Überzeugungen, so die Behauptung, lässt sich als proper basic belief ausweisen. Plantinga argumentiert, dass es sich dabei nicht um die Überzeugung ›Gott, der Allmächtige existiert‹ handelt, wohl aber um Manifestationen von Gottes Wirken. Wer etwa einen hohen Berg besteigt und das atemberaubende Panorama betrachtet, für den kann unmittelbar gewiss werden, dass Gott der Schöpfer dies so einrichtete. Unmittelbar aus der Anschauung entsteht eine Überzeugung: »… and you form the belief that God must be great to have created this magnificent heavenly host«. (Plantinga 2000, 173) Mit dieser Überzeugung ist, leicht einsehbar, unausweichlich die Annahme verbunden, dass Gott existiert. Also lautet die Behauptung: Manifestationsereignisse Gottes können proper basic beliefs sein; mit ihnen verbindet sich in Form eines zwingenden logischen Schlusses die Behauptung, dass Gott existiert. Zur Einordnung dieses Arguments sind zwei Bemerkungen angebracht: (1) Plantinga rekurriert auf ähnliche Erfahrungstat-
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sachen wie Swinburne, tut dies aber auf eigene Weise. Auch Swinburnes kumulatives Argument greift auf Erfahrungen zurück, die für den teleologischen Gottesbeweis herangezogen werden, wie dies etwa beim besagten Betrachten des Bergpanoramas der Fall ist. Freilich fokussiert Plantinga ganz auf den Erkenntnisakt selbst und sucht die Faktoren zu beschreiben, die die beim Erkenntnisakt geformte Überzeugung beschreiben. Das ist insofern ein Vorteil, als es erlaubt, normale und wohl sehr vielen Menschen zugängliche Erfahrungen heranzuziehen, während Swinburne auf die Überzeugungskraft abstrakter Theorien vertrauen muss. Plantinga will im Gegensatz dazu deutlich machen, was sich je schon vollzieht und dies erkenntnistheoretisch würdigen. Freilich handelt er sich zugleich die tendenzielle Schwierigkeit ein, dass der einzelne Erkenntnisakt die Beweislast zu tragen hat, weil er das kumulative Modell nicht mitvollzieht. Genauer: Wohl gibt es mehrere proper basic beliefs, die Manifestationsereignisse Gottes darstellen, aber jedes für sich muss als gültig ausgewiesen werden. (2) Mit dem Leitwort ›belief‹ macht Plantinga klar, dass er Glauben vor allem material versteht: »Belief in the existence of God is in the same boat as belief in other minds, the past, and perceptual objects: (…) the belief that there is such as person as God is as much in the deliverances of reason as those other beliefs.« (Plantinga 1991, 90) Die Strategie ist also: Glaubensüberzeugungen und andere Überzeugungen kommen auf dieselbe Weise zustande. Weil niemand auf die Idee käme, gewöhnliche proper basic beliefs anzuzweifeln, ist ein Sonderverdacht gegenüber proper basic beliefs mit Gottesbezug nicht gerechtfertigt. – Freilich muss Plantinga dafür die formale Gleichheit von gewöhnlichen und Glaubensinhalten setzen. Kritische Strategien setzen hier an und behaupten, dass ›glauben‹ ein personaler Akt eigener Art ist. Wie steht es um den Erfolg einer solchen Argumentation? Wer sie vertritt, muss davon ausgehen, dass es reine basic beliefs gibt, also Überzeugungen, die in keiner Weise auf anderen Überzeugungen aufruhen. Freilich scheint es genau hier ein Problem zu geben. Es zeigt sich, wenn man das von Alvin Plantinga genannte Beispiel des überwältigenden Bergpanoramas heranzieht. Zumindest fürs erste kann man durchaus zugeben, dass der über-
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wältigende Eindruck sich unmittelbar einstellt. Aber was ist mit Plantingas Zusatz: »… and you form the belief that God must be great to have created this magnificent heavenly host«? (Plantinga 2000, 173) Die aktivische Formulierung ›you form‹ ist m.E. korrekt. Sie weist aber darauf, dass es sich dabei um einen interpretierenden Akt handelt. Als Reaktion auf das Überwältigtsein stellt sich die Folgerung ein, die zur besagten Überzeugung führt. Eine solche Interpretation greift aber immer auf Vorerfahrungen und Überzeugungen der Person zurück, die sie ausbildet. Also handelt es sich bei der Überzeugung ›God is great to have created this …‹ um eine interpretierende Folgerung, nicht aber um einen proper basic belief. Es ist immer noch möglich, dass die genannte Schlussfolgerung richtig ist, aber dafür müssen andere, beobachtungsexterne Gründe genannt werden können. An der entscheidenden Stelle ist Plantingas Argument also nicht erfolgreich. Winfried Löffler hat darauf hingewiesen, dass sich der Beweisanspruch von Plantingas Argument über die Jahre veränderte. (Löffler 87−97) Zunächst ging es vor allem darum, die interne Vernünftigkeit religiöser Überzeugungen zu belegen, ohne damit den Anspruch zu verbinden, einen Beleg für die Richtigkeit dieser Überzeugungen aufgefunden zu haben. Es soll gezeigt werden, dass der Anspruch »to violate no epistemic duties« auch für Religion gilt und in ihr nicht durch Unsauberkeiten Irreales vorgespielt wird. (Plantinga 1991, 52) Später geht Plantinga weiter und behauptet, dass in Beispielen wie den genannten in allgemein plausibler Weise eine Manifestation Gottes erfahren wird. Um der eben genannten Schwierigkeit und anderen kritischen Rückfragen zu entgehen, setzt Plantinga nun, dass es eine Erkenntniskraft namens sensus divinitatis (etwa: Sinn für göttliche Manifestationen) gibt. Sie ist es, die dafür sorgt, dass aus Erfahrungen wie der des Bergpanoramas die Erkenntnis der Güte und Größe Gottes folgt. Der sensus divinitatis – Plantinga greift dafür vor allem auf den Schweizer Reformator Johannes Calvin (1509–1564) zurück – ist ein »input-output device: it takes the circumstances mentioned above as input and issues as output the theistic beliefs, beliefs about God.« (Plantinga 2000, 174f, vgl. 214–216.486) Unter theologischen Prämissen kann man diskutieren, ob es einen solchen sensus gibt. Soll aber streng philosophisch argumentiert werden, so ist die Behauptung, es gebe einen Sinn für Gottes Manifestationen die
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Voraussetzung dafür, dass am Schluss behauptet werden kann, es gebe Gott, weil es seine Manifestationen gibt. Dann aber wurde vorausgesetzt, was am Schluss erst belegt werden soll.
d) Zum Verhältnis von Religion und Naturwissenschaft Es scheint wenig aussichtsreich, die Sache der Religion zu verteidigen, indem man objektivistische Strategien vertritt, wie Richard Swinburne und Alvin Plantinga es tun. In ihrer »robusten Objektivierung des Gottesbegriffs« (Irlenborn/Koritensky 10) zeigen sich so tiefgreifende Probleme, dass die Idee, auf diese Weise das Verhältnis der Theologie zu den leitenden Naturwissenschaften zu organisieren, kaum erfolgreich sein dürfte. Es scheint aussichtsreicher, die Sache der Religionsphilosophie nicht auf dem Weg der Angleichung an das naturwissenschaftliche Kalkül zu versuchen, sondern auf die guten Gründe dafür hinzuweisen, warum naturwissenschaftliche Objektivierungsstrategien – so folgerichtig, faszinierend und erfolgreich sie in sich sind – keinen Monopolanspruch erheben können. Ansatzweise geschah das bereits in der Auseinandersetzung mit naturalistisch inspirierter Religionskritik. (Kap. 7.a) Was ist zu sagen, wenn in der Hirnforschung behauptet wird, dass es Willensfreiheit eigentlich nicht gibt, weil alles, was Menschen als Gedanken und Taten aus Freiheit empfinden, auf neuronale Prozesse im Gehirn zurückgeht? Die Antwortstrategie hieß, dass eine naturwissenschaftliche Erklärung des Phänomens zwar eine lückenlose Erklärung des Phänomens bietet oder anstrebt, dass sie aber nicht beanspruchen kann, die einzige umfassende Erklärung anzubieten. Im Fall des Beispiels aus der Hirnforschung zeigte sich das daran, dass die Naturwissenschaft nicht alles erklärt, sondern eine spezifische Sicht auf Phänomene bietet, die auch mit anderer Perspektive angegangen werden können: Wenn eine Versuchsanordnung so angelegt ist, dass sie kategorial ›Subjekt‹, ›Wille‹ oder ›Freiheit‹ nicht erfassen kann, dann darf sie nicht zu Ergebnis haben, dass es diese Phänomene nicht gibt. Sie bleibt, bezogen auf Subjekt, Wille und Freiheit, aussagelos.
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Zu ergänzen ist das noch durch den Hinweis, dass, wer für die Nichtexistenz von Freiheit wirbt, dies auf argumentative Weise tut, indem er z.B. Versuchsanordnungen erläutert und so seine Schlussfolgerungen erklärt. Wer aber das tut, setzt Freiheit bereits voraus, weil erzwungene Zustimmung keine Zustimmung wäre. Die Idee, nur Naturwissenschaft könne wahre Aussagen über die Wirklichkeit machen – das ist die Position des Naturalismus –, ist also offenkundig falsch. Mit dieser Zurückweisung eines falschen Alleinvertretungsanspruchs ist gleichsam Raum gewonnen, aber über das positive Verhältnis von Religion und Naturwissenschaft noch fast nichts gesagt. Deutlich scheint immerhin, dass Religion ein Weltumgang eigener Art ist, der sich auf andere Formen des Weltumgangs nicht abbilden lässt. Man muss also zusehen, diese Eigenart näher zu beschreiben und dann sehen, welches Verhältnis zur Naturwissenschaft sich daraus ergibt. Es ist nicht wenig verlockend zu sagen, dass Naturwissenschaft eben eines sei und Religion ein anderes, weil dann zwei Vorteile auf einmal bei der Hand wären. Die wilden Angriffe des Neuen Atheismus sind substanzlos, weil er übersieht, dass es mehr als nur den naturwissenschaftlichen Zugang gibt. Zugleich könnte man auf die offenbar nicht erfolgreichen Apologien verzichten, die naturwissenschaftliche und religiöse Erkenntnis als nahe Nachbarn zeigen wollen. Der ›Separatismus‹ ist daher nicht ohne eine gewisse Verlockung. Freilich ist er heikel. Wäre religiös-Sein ohne jede Verbindung zu anderen Formen des Weltumgangs, dann wäre die Selbständigkeit der Religion durch ihre Kontaktund Belanglosigkeit erkauft. Das kann, bei einigermaßen funktionierenden Intuitionen über Religion wohl nicht recht gemeint sein. Immer wieder wurde es gleichwohl als aussichtsreich empfunden, in diese Richtung zu denken. So erklärte Friedrich Schleiermacher in seinen ›Reden über die Religion‹ Religion zu einer ›eigenen Provinz im Gemüte‹. (s.o. Kap. 5.b) Gemeint war, dass sie nicht als Begründungsprinzip der Moral verstanden werden sollte (wie bei Kant), zugleich aber auch nicht in den spekulativen Sätzen der Metaphysik und der philosophischen Theologie aufgehen soll. Sie ist vielmehr ein Zugang zur Wirklich-
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keit, der sich von einer intuitiven Schau des Ganzen beeindrucken lässt und damit Erfahrungsbereiche einholt, die weder vom Handeln/Ethik noch vom Denken/Metaphysik zureichend behandelt werden können. – Dieser Zugang klingt nach einer Einkapselung dessen, was Religion sein könnte. Schleiermacher selbst widersprach dem aber, indem er sowohl eine ausführliche Darlegung des christlichen Glaubens vorlegte, in der das religiöse Gefühl auf seine Konkretisierungen hin analysiert wird, als auch Studien zur Ethik, in denen es um die Konsequenzen aus dem – für andere Disziplinen in der Tat unerschwinglichen – religiösen Gefühl geht. Religion, so könnte man seine facettenreichen Erwägungen zusammenfassen, ist wohl eigenständig, mitnichten aber von den anderen Formen des Weltumgangs isoliert.
Wie also vorgehen? Die möglichen Verhältnisbestimmungen von Religion und Naturwissenschaft lassen sich mit Ian Barbour (*1923) so darstellen: (1) Konflikt und Spannung; (2) getrennte Bereiche; (3) Dialog; (4) Integration. (Barbour 21–53) Bei (1) träfen etwa eine strikt naturalistische Weltanschauung und der religiöse Fundamentalismus aufeinander, für den die biblische Schöpfungsgeschichte ein Tatsachenbericht ist. Für beide gibt es keine seriösen Gründe. Modell (4) ist im Wesentlichen das, worauf die in diesem Kapitel behandelten Ansätze zielten, die aber offenkundig wenig Aussicht auf Erfolg haben. Mir scheint eine Kombination aus (2) und (3) aussichtsreich zu sein. Zu beginnen ist beim Eigenstand von Religion. Das hat Schleiermacher auf seine Weise überzeugend vorgestellt. Auch die Negative Theologie kann sich dem anschließen: Der eigentümliche Bezug auf einen Grund von Allem, der zugleich weiß, dass dieser Grund Gegenstand des Denkens nicht werden kann, behauptet ja nachgerade, dass diese Etüde im nicht-begrifflichen Denken unerlässlich ist. Das ist der reklamierte Eigenstand in Sachen Religion und also das Recht von Modell (2): Naturwissenschaft und Religion sind getrennte Bereiche des Weltumgangs; sie bedienen sich unterschiedlicher Weisen des Sprechens und sie haben unterschiedliche Funktionen. So richtig das ist, hätte das Modell allein Bestand, dann bestünde Gefahr, die Geltung von Religion durch ihre Einkapselung zu erkaufen. Dass das nicht der Fall sein muss, soll an wenigstens einer Frage erörtert werden, und das ist die nach
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dem absoluten Anfang der Welt. Mit der Negativen Theologie nach Thomas Rentsch (vgl. oben Kap. 3.b) geht es hier um die erste Transzendenz: Dass etwas ist und nicht vielmehr nichts, ist Anlass zum Staunen, aber nicht Gegenstand des Denkens, weil jedes Objekt dadurch ja allererst möglich wurde. Ich muss auf es schließen; aber wie es ›ist‹, ist unsagbar. – Hier nun gibt es eine interessante Parallele zum Standardmodell der Kosmologie, der gern so genannten Urknallhypothese. Nach ihr hat sich der heute bekannte Kosmos samt seiner Materie und seinen Naturgesetzen aus einem singulären Urzustand entwickelt, für den das Bild eines unfassbaren Knalls gefunden wurde. Weil aber die uns bekannten Naturgesetze im Urknall selbst nicht gelten und weil er ein singulärer Zustand ist, kann über ihn nichts gewusst werden. Naturwissenschaft ist auf Parallelen und Vergleiche angewiesen, die bei einer Singularität aber nicht vorhanden sind. Die Kosmologie kann sich nahe an den Urknall ›heranrechnen‹, muss dann aber sagen, dass sie auf ein singuläres Ereignis zu schließen hat, das sie seiner Singularität wegen nicht beschreiben kann. Sinnvoll gefragt werden kann nur, wo bereits etwas ist. Das, was dem ›es ist etwas‹ vorausliegt, muss postuliert werden, entzieht sich aber dem naturwissenschaftlich sinnvollerweise Bearbeitbaren. Die Parallelen sind durchaus augenfällig: Zwischen der Negativen Theologie, die es mit Lebenswelt und Erleben zu tun hat, und den ungemein anspruchsvollen Modellen der Kosmologie gibt es offenbar eine strukturelle Analogie. Das hebt die jeweilige Eigenständigkeit nicht auf, aber es zeigt, dass Religion und Naturwissenschaft auf je ihre eigene Weise innerhalb der einen Welt zugange sind.
9. Die Vielfalt der Religionen P. Abaelard, Gespräch eines Philosophen, eines Juden und eines Christen, Frankfurt/M. 2008; Averroes (Ibn Ruschd), Philosophie und Theologie von Averroes, übers. von M.J. Müller, Weinheim 1991; R. Bernhardt, Ende
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des Dialogs? Die Begegnung der Religionen und ihre theologische Reflexion, Zürich 2005; M.T. Cicero, Gespräche in Tusculum/ Tusculanae disputationes, München 72011; M. Enders, Das Unübertreffliche im Verständnis der monotheistischen Weltreligionen – zur interreligiösen Relevanz des ›ontologischen Gottesbegriffs‹, in: Philosophische Gotteslehre heute. Der Dialog der Religionen, hg. von E. Bidese u.a., Darmstadt 2008, 71–99; J. Figl, Philosophie der Religionen. Positionen europäischen Denkens, Paderborn 2012; M. Hailer, »Man soll an festen Behauptungen Freude haben«. Zum Jahresthema 2013 der Lutherdekade: Toleranz, in: Deutsches Pfarrerblatt 113 (2013), 255–258 (255f teils wörtlich zu Beginn von Abschn. a); G.W.F. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Religion I/II, Werke Bd. 16/17, Frankfurt/M. 1986; H. Joas, Die Sakralität der Person. Eine Genealogie der Menschenrechte, Berlin 32012; G.S. Kirk/J.E. Raven/M. Schofield, Die vorsokratischen Philosophen, Stuttgart 1994; Der Koran, übers. von M. Henning, Leipzig 1979; R. Lull, Das Buch vom Heiden und den drei Weisen, Stuttgart 1998; M. Mendelssohn, Ausgewählte Werke, Bd. II, Darmstadt 2009; M. Maimonides, Wegweiser für die Verwirrten. Eine Textauswahl zur Schöpfungsfrage, Freiburg 2009; Th. Pröpper, Theologische Anthropologie Bd. I, Freiburg 22012; H. Seubert, Zwischen Religion und Vernunft. Vermessung eines Terrains, Baden-Baden 2013; K. v. Stosch, Komparative Theologie als Wegweiser in der Welt der Religionen, Paderborn u.a. 2012; H. Verweyen, Gottes letztes Wort. Grundriß der Fundamentaltheologie, Regensburg 42002; ders., Unbedingtheitsansprüche monotheistischer Religionen vor dem Forum philosophischer Vernunft, in: Philosophische Gotteslehre heute. Der Dialog der Religionen, hg. von E. Bidese u.a., Darmstadt 2008, 101–118; L. Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, in: Werkausgabe Bd. 1, Frankfurt/M. 51989, 225–580.
Soweit wir wissen, gab es niemals die Religion. Vielmehr war sie offenkundig seit den frühesten Anfängen schon immer vielfältig. Die religionsphilosophisch interessante Frage ist, was eigentlich aus der Vielfalt von Religion und Religionen folgt. Man könnte das religionskritisch sehen. So beklagte sich etwa der frühe griechische Philosoph Xenophanes von Kolophon (um 570–475 v.Chr.) darüber, dass sich jeder Volksstamm die Götter anders vorstellt, vorzüglich aber so, dass sie dem eigenen Aussehen gleichen. (Kirk/Raven/Schofield 184) Für Xenophanes war diese Beobachtung Ausgangspunkt einer philosophischen Kritik des Vielgötterglaubens – denn was so evidentermaßen nach der
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eigenen Natur konzipiert ist, verdoppelt eben diese Natur, und kann deshalb das Göttliche nicht sein. Das hat Schule gemacht, zuerst in der klassischen griechischen Philosophie, die ganz überwiegend den Polytheismus ablehnt und dagegen Konzepte des einen höchsten Wesens entwirft. Aber auch in späteren Jahrhunderten war der Blick auf die Vielfalt gelebter Religionen immer wieder Anlass, ihre Wahrheitsbehauptungen in Frage zu stellen. Was soll schon verlässlich sein, wenn in Sachen Religion jeder nach seinem Geschmack urteilen und den Himmel bevölkern kann? Freilich, es geht auch anders herum: Die Vielfalt und die Omnipräsenz von Religion könnte ja auch ein ernstzunehmender Hinweis darauf sein, dass sie mindestens einen Kern von Wahrheit trägt. Wenn es Religion bei allen Völkern und auf so enorm vielfältige Weise gibt, dann heißt das doch zumindest auch, dass all diese Variationen einen wahren Kern enthalten, nämlich den, religiös zu sein. Der römische Philosoph und Politiker Marcus Tullius Cicero (106–43 v.Chr.) etwa sagte, dass sich die Religionen der Völker zwar unterschieden, sie aber in der Annahme der Existenz Gottes sehr wohl zusammenkommen. Dass Gott existiert, ist ein »consensus nationum«. (Cicero I, 16, 36) Aufregenderweise ist dies ein Konsens, der gerade durch Verschiedenartigkeit zustande kommt und durch sie gestärkt wird. Gottes Existenz ist gewiss, gerade weil er auf so vielfältige Weise gedacht und angebetet wird. Beide Optionen aus der Antike, die religionskritische wie die affirmative, haben intuitiv einiges für sich. So muss es nicht verwundern, dass sie in den religionsphilosophischen Entwürfen späterer Jahrhunderte wieder auftauchen, auch wenn diese in Sachen Vielfalt der Religionen noch ganz andere Themen aufrufen. Der Durchgang durch eine ganze Reihe von Beiträgen zum Thema hat denn auch den Zweck, gelegentlich im Stillen zu dieser Basisdifferenz zurückzukehren, und zu sehen, welche der Intuitionen am Ende mehr Überzeugungskraft für sich beanspruchen könnte. Dafür stelle ich zuerst eine typisch neuzeitliche Kontroverse zum Thema vor, frage dann, welche Theorien und Argumente in der aktuellen Debatte aufgerufen werden, um am
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Schluss Denker aus dem beginnenden Hochmittelalter heranzuziehen: Die Begegnung der drei monotheistischen Religionen Judentum, Christentum und Islam, die in den muslimischen Reichen auf spanischem Boden stattfand, hat Themen einer religionsphilosophischen Debatte gesetzt, die erneuter Beachtung wert sind.
a) Kann man über die Wahrheit der Religionen streiten? – Die Lavater-Kontroverse Moses Mendelssohn (1729–1786), wohnhaft in Berlin, ist einer der großen Aufklärungsphilosophen. Er setzt sich für Toleranz ein, für vernünftigen Gottesglauben, für Bildung, für eine offene Gesellschaft, in der auch Minderheiten zu ihrem Recht kommen. Seine aufklärerischen Schriften und Briefe werden gelesen und diskutiert. Im Dichter Gotthold Ephraim Lessing (1729–1781) hat er einen engen Freund, der ihm mit dem Werk »Nathan der Weise« ein Denkmal setzt. Freilich, Mendelssohn ist Jude und gehört damit einer Glaubensgemeinschaft an, die im Preußen des 18. Jahrhunderts nur geduldet wird. So lebt Moses Mendelssohn als geachteter Gelehrter, zugleich aber als Angehöriger einer unterprivilegierten Religion. Es geht schon, aber ein ruhiges Leben ist es nicht. In diese Situation platzt im August 1769 ein offener Brief. Der christliche Theologe Johann Christian Lavater fordert: Er, Mendelssohn, soll öffentlich den Beweis für die Unwahrheit des Christentums antreten. Wenn ihm das nicht gelingt, dann soll er sich taufen lassen und seine jüdische Überzeugung widerrufen. Öffentlich das Christentum widerlegen oder ihm beitreten: Das klingt wie die Einladung zu einer Disputation, es ist aber eine vergiftete Einladung. Der jüdische Gelehrte soll öffentlich sagen, was an der quasi-Staatsreligion Christentum falsch ist? ›Gelingen‹ hin oder her, allein schon der Versuch ist intellektueller Selbstmord. Entzieht Mendelssohn sich aber, dann gilt er als Feigling. Selbstgefährdung also oder Feigheit. Was Lavater mit seinem offenen Brief bezweckt, ist kaum eine echte Auseinandersetzung, sondern viel eher Demütigung.
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Mendelssohn wird von dem öffentlichen Angriff schwer getroffen. Er erleidet einen psychischen Zusammenbruch, an dessen Folgen er lange laboriert. Die geforderte öffentliche Auseinandersetzung lehnt er indes ab. Er sagt, dass er vom Wesentlichen seiner Religion »so fest, so unwiderleglich versichert« ist wie sein christlicher Gesprächspartner von der seinen, so dass er bei ihr bleiben werde, »so lange meine ganze Seele nicht eine andere Natur annimmt.« (Mendelssohn 15) Das ist ein erster Hinweis. Religion ist personrelativ zu verstehen, weil das, was eine Person fundamental ausmacht – um ›Seele‹ einmal so zu verstehen – mit der Religion dieser Person zusammenhängt. Mit diesem Hinweis könnte man die Replik bereits beenden. Das aber tut Mendelssohn nicht, sondern ergänzt folgenden Punkt: Bei der Frage, was Irrtümer in der Religion sein könnten, bezieht sich Mendelssohn auf seine jüdischen Mitbürger und sagt, er sei bereit, bei ihnen die von ihm vermuteten Irrtümer zu tolerieren, »wenn diese Irrthümer weder die natürliche Religion, noch das natürliche Gesetz, unmittelbar zu Grunde richten, und vielmehr zufälligerweise mit der Beförderung des Guten verknüpft sind.« (Mendelssohn 18) Man wird so zu verstehen haben: Es gibt den gleichsam unangreifbaren Bereich persönlichen religiösen Überzeugtseins. Dieser ist unantastbar, auch dann, wenn das, was ein anderer äußert, einem selbst als Irrtum vorkommen mag, was für vermutete Irrtümer innerhalb wie außerhalb der eigenen Religion gilt. Verteidigenswert sind allerdings die natürliche Religion, das natürliche Recht und die Beförderung des Guten. Bei diesen drei Gütern endet die Toleranz, die in Sachen der persönlichen Überzeugung zu gewähren ist. ›Natürliche Religion‹ ist ein Konzept, das davon ausgeht, dass religiös zu sein zur Natur des Menschen gehört (nicht aber, dass es eine auf Natur/ Umwelt bezogene Religiosität ist). Ähnlich verhält es sich mit dem Konzept des Naturrechts: Kraft seines Menschseins, so dies Konzept, ist ein Mensch Inhaber unverlierbarer Rechte. Dieser Gedanke wurde in der frühen Neuzeit mühsam gegen absolutistische Herrschaftsideale und teilweise auch gegen theologische Konzeptionen durchgesetzt, die einen derartigen Universalismus – logischerweise partizipieren alle Menschen an den Naturrechten – nicht gelten lassen wollten. (Joas 23–62)
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Mendelssohns Konzeption beinhaltet also eine Kriteriologie, die eine bloß dezisionistische Theorie der Religion – als sei sie eben Herzenssache und damit keinem Kriterium zu unterwerfen – zurückweist. Das ist bereits eine kleine philosophische Theorie der Vielfalt von Religionen: Eine allgemeine Religiosität und die mit ihr einhergehende allgemeine Kenntnis Gottes ist bei allen Menschen anzutreffen. Dieser Bereich ist mit Gründen der Vernunft einklagbar, etwa gegen die Leugnung Gottes überhaupt oder gegen Religionsideen, die dem Naturrecht widersprechen. Darüber hinaus gibt es Bindungen des Herzens, die verschieden ausgeprägt sein können und die nicht Gegenstand des öffentlichen philosophischen Vernunftgebrauchs sind. Die Verschiedenheit der Religionen ist im Rahmen des zweiteren Aspekts zu verstehen. Diese Philosophie der Religionen ist in der Lavater-Kontroverse gleichsam im Notfall-Einsatz zu beobachten. Mendelssohn stellt sie in seinem Spätwerk ›Jerusalem oder über religiöse Macht und Judentum‹ (1783) ausführlich dar. Der erste Teil dieses Buches ist ein beeindruckendes Plädoyer für Gewissens- und Religionsfreiheit, die Mendelssohn sowohl gegenüber dem Staat als auch gegenüber religiösen Körperschaften einklagt. Nicht nur darf das öffentliche Gemeinwesen in Religionsdingen keinen Zwang ausüben, auch die Religionsgemeinschaften müssen das, was sie für Irrtum und Häresie halten, ertragen. Im zweiten Teil von ›Jerusalem‹ liefert Mendelssohn die Religionstheorie dazu. Das Judentum besteht danach aus drei Typen von Wahrheiten: (1) Religionslehren, also Sätze über die ewigen Wahrheiten Gottes, unter ihnen seine Ewigkeit, Güte und Weltherrschaft; (2) Geschichtswahrheiten, also Erzählungen vom vorzeitigen Ergehen Israels; (3) Gesetze und Gebote, die mit den Geschichtswahrheiten verbunden sind. Sätze vom Typ (1) gelten unbedingt und für jedermann, Sätze vom Typ (2) können nicht anders als durch Glauben angenommen werden und führen zur Bildung einer Religionsgemeinschaft, die Sätze des Typs (3) werden als offenbart behauptet und gelten für die Angehörigen der durch Typ (2) entstandenen Religionsgemeinschaft. (Mendelssohn 197f, vgl. 177) Geht man vor wie Mendelssohn, dann besteht Philosophie der Religionen wesentlich in einer Streitfreistellung auf der Basis ei-
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nes starken Vernunftbegriffs. Dass einzelne Religionen im Rahmen von Typ (2) und (3) streitfrei gestellt sind und als Ausprägung unterschiedlicher Geschichtswahrheiten zu verstehen sind, sollte damit vorrangig klar sein. Konsequent wendet Mendelssohn sich auch gegen das zu seiner Zeit recht beliebte Modell einer schrittweisen Höherentwicklung der Religion im Lauf der Geschichte, gleichsam von primitiven Anfängen bis zum höchstentwickelten Monotheismus. (Mendelssohn 175f) Man darf annehmen, dass dies sein apologetisches Hauptinteresse ist und dass das damit verbundene Gewissensverständnis weite Zustimmung finden wird. Dies ist gewiss die starke Seite von Mendelssohns Philosophie der Religionen. Freilich: Um den Satztyp (1) zu retten, muss ein starker Vernunftbegriff gesetzt werden, der die genannte natürliche Religion tatsächlich plausibel macht. Daran wird mit guten Gründen Kritik geübt, v.a. von Immanuel Kant und unter veränderten Bedingungen auch in der Auseinandersetzung mit der Analytischen Religionsphilosophie. (vgl. Kap. 2.b und 8.b). Wie im Licht dieser Kritik Philosophie der Religionen getrieben werden könnte, ist die wichtigste Frage, die in den gegenwärtigen Erwägungen zum Thema diskutiert wird.
b) Terrainerkundung – Gegenwärtige Beiträge und Fragen zur Philosophie der Religionen Die gegenwärtige Diskurslage in Sachen Philosophie der Religionen ist eher durch das Erwägen verschiedener Möglichkeiten geprägt, als dass sich eine dominierende Theorie oder Alternative anbieten würde. Nahezu allen Diskutanten ist dabei die Einsicht gemeinsam, dass in Sachen Vielheit der Religionen die Sonderstellung der Religionsphilosophie noch deutlicher zutage tritt als das bei anderen Themen der Fall ist: Sie ist auf religionswissenschaftliche Informationen angewiesen, um die Vielfalt zu beschreiben, ist jedoch selbst nicht Religionswissenschaft, weil sie nicht empirisch vorgeht. Auch kann sie der Frage nach Wahrheit und Gültigkeit nicht entgehen, muss dies aber in einer Weise tun, die sie von theologischen Wahrheitsbehauptungen aus der Binnenperspektive einer Religion unterscheidet. Die stärkere Kom-
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plexion des Feldes durch die Wahrnehmung religiöser Vielheit macht die Religionsphilosophie, bildlich gesprochen, noch etwas einsamer, als sie es im Feld der auf Religion bezogenen Disziplinen ohnehin ist. (vgl. oben Kap. 1.b) Man kann die vorgeschlagenen Antwortstrategien danach sichten, wie sie die Sonderrolle der Religionsphilosophie zwischen Religionswissenschaft und Theologie ansetzen. Innerhalb der christlichen Theologie wird das Phänomen divergierender religiöser Wahrheitsansprüche seit einigen Jahrzehnten intensiv diskutiert. Entscheidend auf katholischer Seite war dafür das II. Vatikanische Konzil (1962–1965), bei dem die päpstliche Kirche erstmals (abgestufte) Glaubenswahrheiten außerhalb ihrer selbst anerkannte. In der evangelischen Theologie war traditionell ein Stufungsmodell der Religionen hin zum höchstentwickelten Monotheismus gängig. Die bewusste Thematisierung der Religionsvielfalt führte nun konfessionsübergreifend zur Entwicklung dreier – in sich vielfach differenzierter – Modelle. (1) Exklusivismus: Nur die Wahrheitsansprüche der eigenen Religion/Konfession sind wahr, alle anderen befinden sich im Irrtum; je nach Lesart werden Christentum und Judentum zusammen als auf der Seite der Wahrheit befindlich gedacht. (2) Inklusivismus: In der eigenen Religion ist die Wahrheit Gottes voll präsent, bei anderen in Abstufungen, je nach inhaltlichen Nähen und Fernen zur eigenen; dabei kann gedacht werden, dass auch andere Religionen über die eigene genauso denken (mutualer Inklusivismus). (3) Pluralismus: Es gibt eine Wahrheit des Absoluten, der alle Religionen gleich nah und gleich fern sind, deshalb gibt es viele gültige Wege zum einen Heil. (Bernhardt 81–165.206–290) Umstritten ist hauptsächlich der religionstheologische Pluralismus. Er klingt einerseits am fortschrittlichsten, muss aber andererseits setzen, dass es eine Perspektive gibt, die alle Religionen gleichermaßen in den Blick nehmen kann, was auf unüberwindliche erkenntnistheoretische Schwierigkeiten stößt. Relativ neu im Diskussionsfeld ist das Programm einer Komparativen Theologie: Sie sucht die Abstraktheit des religionstheologischen Dreierschemas zu überwinden, indem jeweils einzelne Themen und Vorstellungen interreligiös verglichen werden. Am religiösen Einzelfall können sich – bei grundsätzlicher Kritik am Exklusivismus – die Wahrheitsmomente des Inklusivismus und vielleicht des Pluralismus zeigen. (v. Stosch 133–252)
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Falls es doch einen starken Vernunftbegriff gibt – was wäre seine Rolle in der Philosophie der Religionen? Es gibt Versuche, das kantische ›Nein!‹ gegenüber den Konzeptionen rationaler Theologie zu kritisieren und so den menschlichen Bezug auf eine Letztwirklichkeit, Gott genannt, doch zu plausibilisieren. Sie funktionieren im Kern so, dass die Idee der klassischen rationalen Theologie, wie z.B. Moses Mendelssohn sie vertrat, als unhaltbar verworfen und gegen ein bescheideners Argumentationsziel ausgetauscht wird. Was man zeigen kann, so die These, ist immerhin, dass Menschen auf einen Entwurf letzten Sinnes angewiesen sind: Ob es Gott nun gibt oder nicht, jeder denkende Mensch muss seine Gedanken und Handlungen in einen letzten Sinnhorizont einordnen und zusammenbringen, sonst fiele seine Person und seine Handlungen in mehrere erratische Blöcke auseinander. Damit ist nicht Gott bewiesen, wohl aber gezeigt, dass Menschen, die an Gott glauben, damit nichts Irrationales tun. In anspruchsvollen Argumentationen haben vor allem katholische Philosophen und Fundamentaltheologen so argumentiert. Im Dialog mit der Philosophie Johann Gottlieb Fichtes (1762–1814) schreibt etwa Hansjürgen Verweyen (*1936), dass jeder Bewusstseinsakt (›ich erkenne etwas‹) einerseits eine Vereinzelung darstellt, da ich ja weiß, dass es sich nur um diesen einen Akt handelt. Zugleich aber ist dem Bewusstsein klar, dass es sich auf eines aus dem Gesamt der Welt bezieht, so dass es eine Perspektive auf das Ganze und Eine hat. Damit ist Gott nicht bewiesen, wohl aber gesagt, dass der glaubende Bezug auf den Grund der Wirklichkeit nicht irrational ist. (Verweyen 2002, 133–185) Sowohl was den Bezugsautor Fichte als auch was das Beweisziel angeht, argumentiert Thomas Pröpper (*1941) ähnlich. (Pröpper 488–656)
Weniger als die Frage, was mit dem Aufweis der Vernünftigkeit des Glaubensaktes gewonnen ist (und, ob er gelingt), interessiert hier, was dadurch für die Frage des Umgangs mit Religionspluralismus gewonnen wäre. Die Vertreter der Argumentation neigen nicht dazu, anhand ihrer verschiedene Weltreligionen wertend zu betrachten. Vielmehr richtet sich der Blick nach innen: Wer seinen christlichen Glauben rigoros philosophisch verantwortet, so der Gedanke, kann nicht fundamentalistisch werden. Religiöser
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Fundamentalismus besteht doch gerade darin, eine an sich selbst ergangene Offenbarung zu behaupten, die den Offenbarungsempfänger absolut bindet und die in keiner Weise zur Diskussion steht. Geschieht es dann, dass Fundamentalisten dies nicht nur je für sich denken, sondern in gesellschaftliche und politische Verantwortung gelangen, dann zeigt sich ein intolerantes und mitunter auch zur Gewalt neigendes Selbstverständnis, das zwischen wahr und falsch, Freund und Feind mit traumwandlerischer Sicherheit unterscheidet, sich aber zugleich strikt weigert, die Unterscheidungskriterien zu diskutieren. Dass solche religiös aufgeladenen Immunisierungen fatale Konsequenzen haben können, ist leider gut bekannt. Dagegen also ist die strikt philosophische Verantwortung des Glaubens zu richten. Sie sieht innerhalb der eigenen Religion Vielfalt, die sie nicht hinzunehmen gewillt ist und empfiehlt, das philosophische Argument als Akt der Selbstkritik, um fatale Selbstimmunisierungen zu vermeiden. (Verweyen 2008, 117) Diese Idee ist ansprechend. Wer nicht gewillt ist, sich von außen ansprechen und kritisch unterbrechen zu lassen, läuft akute Gefahr, die eigenen Voraussetzungen unbedacht hinzunehmen und in Selbsttäuschungen zu laufen, fatale Konsequenzen durchaus eingeschlossen. In einer explizit theologischen Auseinandersetzung – für die hier nicht der Ort ist – wäre zu fragen, ob ein solcher anti-fundamentalistischer Impuls nicht zumindest genauso stark auch aus der Religion selbst kommen muss. Kann er nämlich nur von außen kommen, so ist die gesamte Religion latent fundamentalistisch – und das wird ein Theologe, der mit Absicht philosophisch argumentiert, kraft seines Theologe-Seins kaum behaupten wollen. Damit ist der starke Vernunftbegriff allerdings erst auf Vielfalt innerhalb der eigenen Religion angelegt. Dass er als fundamentalismuskritische Selbstkontrolle auch für andere Religionen akzeptabel ist, müsste allererst gezeigt werden. Es gibt diesen Versuch. Er besteht in dem Vorschlag, ihn in etwas anderer Lesart auch direkt für die Verständigung verschiedener Religionen zu verwenden, freilich begrenzt auf Judentum, Christentum und Islam. Bezug genommen wird dafür auf das ontologische Argu-
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ment von der Existenz Gottes. (s.o. Kap. 4.c.d) Gezeigt werden soll, dass das ontologische Argument für alle drei monotheistischen Weltreligionen Geltung beanspruchen kann. Gelingt das, so ist mit philosophischen Mitteln argumentatives Material für die Hypothese beigebracht, dass Juden, Christen und Muslime bei einem strengen Monotheismus zusammenkommen. Es gibt die Maximalthese, dass Juden, Christen und Muslime ein- und denselben Gott verehren. Das ist angesichts der numerischen Zahl 1 im jeweiligen Bekenntnis naheliegend. Gleichwohl ist es aus der jeweiligen religiösen Binnenperspektive weit weniger selbstverständlich, als es den Anschein haben mag. So steht es etwa jedem Menschen jüdischen Glaubens zu, angesichts des christlichen Bekenntnisses zu Jesus Christus als Sohn Gottes, zu sagen, dass dies den jüdischen Monotheismus so sehr verdrehe, dass die Christen zwar womöglich numerisch einen Gott verehren, nicht jedoch den der Juden. Ferner finden sich im Koran Stellen, nach denen das trinitarische christliche Bekenntnis dem reinen Monotheismus widerspreche. (z.B. Sure 19:91) Wie immer das im Einzelnen zu beurteilen sein mag, Differenzen im nur auf den ersten Blick einheitlichen Feld der ›Monotheismen‹ sind also sehr wohl vorhanden. Einzig aus christlicher Sicht ist das Bekenntnis unausweichlich, dass Gott, der Vater Jesu Christi kein anderer ist als der Gott Israels.
Markus Enders (*1963) bestimmt den normativen Gehalt des ontologischen Arguments (vgl. oben Kap. 5.c) so: Dass Gott dasjenige ist, worüberhinaus Größeres nicht gedacht werden kann, ist kein strenger Beweis, es ist vielmehr eine Denkregel. Wer Gott zu denken beansprucht, muss denken, dass Gott unübertrefflich ist. Das wird durch die Gegenprobe deutlich. Wer sich Gott so vorstellt, dass er noch von etwas/jemand anderem übertroffen werden könnte, denkt ganz offensichtlich nicht Gott, sondern ein was-auch-immer. Also belegt das ontologische Argument Gott zwar nicht, aber es gibt eine Denkregel an die Hand, wie Gott gedacht werden muss, wird er denn gedacht. (Enders 77) Zu ihr kommt noch ein zweites Moment: Unübertrefflich sein kann nur numerisch eines. Sollte absolute Unübertrefflichkeit verwirklicht sein – dass sie es ist, ist, wie gesagt, nicht Ziel des Arguments – kann sie nur einmal da sein, weil mehrere absolute Unübertrefflichkeiten weder unübertrefflich noch absolut sein
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könnten. Ergebnis: »Philosophisch legitimierbar ist daher nur ein monotheistischer Gottesbegriff.« (ebd.) Man wird noch ergänzen sollen: Das absolut Unübertreffliche kann nicht adäquat Gegenstand des Wissens sein, weil Wissen den Gegenstand seines Wissens überblicken können muss. Also ist diese Auslegung des ontologischen Arguments negativ-theologisch gefärbt. Niemand muss so denken. Wer aber irgend das Bedürfnis verspürt, dass das eigene Denken bezüglich Gott vernunftkonform sein sollte, kann dieser Schlussfolgerung nicht entgehen. Gott ist absolut unübertrefflich und damit numerisch einer, ferner ist er unerforschlich. Das ist gleichsam die eiserne Ration des ontologischen Arguments. Seine Nutzanwendung besteht darin, die Adäquatheit in den drei monotheistischen Religion durchzuprüfen. Dafür muss man sich in ein religionsphilosophisch-theologisches Übergangsfeld begeben: Eine namhafte Auslegung der jeweiligen Religion muss der alles entscheidenden Prämisse zustimmen, dass Gott vernunftgemäß gedacht werden soll, ferner muss die theologische Prüfung in der jeweiligen Binnenperspektive ergeben, dass die Denkregel des ontologischen Arguments zu Recht auf das jeweilige Bekenntnis angewandt werden kann. Hier öffnet sich natürlich ein weites Feld von Interpretationen und Streit, weil die Selbstauslegung der drei monotheistischen Religionen jeweils in breiter Varietät und teils leidenschaftlich streitend vollzogen wird. Man wird wenig mehr tun können, als jeweils namhafte Vertreter zu finden, deren Arbeiten sich die Prämisse zu Eigen machen und also Gott als absolut unübertrefflich und numerisch einen denken. Enders führt das für zwei mittelalterliche Denker durch, für den jüdischen Religionsphilosophen Moses Maimonides (vor 1138–1204) und den muslimischen Denker und Mystiker Ahmad al-Ghazali (gest. 1126, jüngerer Bruder des bekannten Gelehrten Muhammad al-Ghazali): Maimonides akzeptiert den Gedanken und weist besonders darauf hin, dass zu absoluter Unübertrefflichkeit gehöre, dass der so benannte Gott unbeschreibbar ist, betont also die negativ-theologische Seite des ontologischen Arguments. Al-Ghazali bietet eine Auslegung des muslimischen Glaubensbekenntnisses und
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zeigt dabei, dass der Satz ›es gibt keinen Gott außer Gott‹ in extremer Verdichtung das ontologische Argument durchführt. (Enders 84–98) Gesetzt, diese Selbstauslegungen des Judentums und des Islam dürfen als akzeptabel gelten und weiter gesetzt, auch das Christentum kann das ontologische Argument akzeptieren, was ist dann gewonnen? Wohl doch dies: In wichtigen formalen Eigenschaften – Unübertrefflichkeit, Einzigkeit und Unnennbarkeit Gottes – wäre Konsens zwischen den monotheistischen Religionen festgestellt. Ob das genügt, um die Aussage zu wagen, dass alle drei denselben Gott verehren, kann nur durch weitergehende jeweils in der Binnenperspektive stattfindende Interpretationen festgestellt werden. Eine bedeutende Gemeinsamkeit hätte das religionsphilosophische Argument freilich aufgewiesen. Oder wird die Religionsphilosophie zur Verstehens- und Übersetzungshelferin? Die beiden eben genannten Argumente – Widerstand gegen fundamentalistische Selbstimmunisierung; Gemeinsamkeiten der monotheistischen Religionen – ruhen auf starken philosophischen Voraussetzungen: Es gibt die eine Vernunft; sie ist das Forum, vor dem sich alles, auch Religion, auszuweisen hat; die eine Vernunft gilt und galt zu jeder Zeit. Diese Voraussetzungen werden freilich nicht durchgängig geteilt. Vom schärfsten Einspruch, dem der Postmoderne, war bereits die Rede. (Kap. 3.c) Aber auch da, wo man so weit nicht gehen möchte, wie die Protagonisten der Postmoderne es vorschlagen, gibt es Argumente für ein weniger prinzipielles Verständnis von Vernunft. Dass uns etwas als vernünftig einleuchtet, muss nicht heißen, dass es zu allen Zeiten und in allen Weltgegenden einleuchtet. Vernunft ist zumindest auch ein abkünftiges Phänomen. Die beiden wichtigsten für diese These sind: (1) Wer vernünftig argumentiert, ist auf den Gebrauch von Sprache angewiesen. Sprache aber ist relativ und wandelbar. Und selbst wenn es gelingt, mit sauber eingeführten Begriffen zu arbeiten, so ruht diese Fachsprache doch auf der stets bildreichen und wandelbaren Umgangssprache auf. (2) Vernunft ist nicht nur sprachrelativ, sie ist auch relativ zur jeweiligen Kul-
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tur. Das rigorose Verständnis von Vernunft als der einen, alles durchwaltenden Vernunft entstand in der frühen Hochkultur Griechenlands, ganz überwiegend als Kritik an den polytheistischen Anfängen dieser Kultur. Die Behauptung, ›die‹ Vernunft schlechthin sei entdeckt worden, muss sich zumindest fragen lassen, ob sie von diesen Anfängen und also einem kulturrelativen Beginn wirklich abstrahieren kann. Wenn diese beiden – und weitere – Argumente zu überzeugen vermögen, dann gibt es wohl nicht die eine, allzeit gleiche und alles umfassende Vernunft. Mit einem an Kant angelehnten Sprachgebrauch ist beispielsweise vorgeschlagen worden, von verschiedenen Vernunftvermögen zu sprechen. Kant selbst unterschied theoretische, praktische und urteilende Vernunft, im 20. Jahrhundert wurde die Liste verschiedener Vernunftvermögen – oder, wie dann häufig gesagt wurde Rationalitätsformen – mitunter auf Dutzende von Typen erweitert. Die Listen konnten so lang werden, dass die Frage, was denn all diese Rationalitätsformen denn noch verbinde, kaum mehr eine Chance auf Antwort hatte. Neben der Rede von den Vernunftvermögen hat sich auch ein Terminus aus Ludwig Wittgensteins später Philosophie eingebürgert. Wittgenstein spricht von verschiedenen Sprachspielen: Wir verwenden Sprache nie nur auf eine Weise, etwa um Dinge in der Welt als vorhanden zu benennen. Man kann mit Sprache auch ermutigen und trösten, Beziehungen herstellen, die Phantasie anregen und anderes: »Wieviele Arten der Sätze gibt es aber? Etwa Behauptung, Frage und Befehl? – es gibt unzählige solcher Arten: unzählige verschiedene Arten der Verwendung all dessen, was wir ›Zeichen‹, ›Worte‹, ›Sätze‹ nennen. Und diese Mannigfaltigkeit ist nichts Festes (…).«. (Wittgenstein 23) Vernunftvermögen, Rationalitätsformen oder Sprachspiele: Es spricht viel dafür, nicht von der einen, immerseienden Vernunft auszugehen, sondern sie sich als ein Feld unterschiedlicher Typen vorzustellen, die je sprachlich und kulturell geprägt sind. Damit verbindet sich die anspruchsvolle Aufgabe, nicht Beliebigkeit walten zu lassen, sondern die verschiedenen Formen je noch als vernünftige auszuweisen.
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In einem Klima deprinzipialisierter Vernunft, die vom Anspruch, Vernunft zu sein, dennoch nicht lassen kann, ändert sich die Rolle der Religionsphilosophie in Sachen Vielfalt der Religionen durchaus. Das Bild der einen Vernunft, vor deren Thron die divergierenden Wahrheitsansprüche der Religionen gerufen werden, ist ja nicht mehr möglich. Was aber soll dann die Aufgabe der Religionsphilosophie werden? Der Religionswissenschaftler und -philosoph Johann Figl schreibt in einer 2012 erschienenen Studie programmatisch: »Eine Philosophie der Religionen (im Plural) beabsichtigt, die Vielheit der Religionen und religiösen Traditionen, sowohl der europäischen als auch nichteuropäischen von Anfang an zu berücksichtigen. (…) Eine solche Philosophie der Religionen ist selbst weder religiöse Philosophie, noch versteht [sie, M.H.] sich in diametralem Gegensatz zur Religion, sondern intendiert eine philosophische Analyse der Religionen in ihrer Vielfalt und versucht die Religiosität als anthropologisches Phänomen zu verstehen.« Dabei ist »stets die Eingebundenheit in die jeweilige kulturelle Überlieferung zu beachten.« (Figl 275)
Philosophie der Religionen, wie sie hier entworfen wird, ist vor allem eine verstehende Disziplin. Es gibt die staunenswerte Vielfalt der Religionen. Sie weist Religiosität als anthropologische Konstante aus. Weil Philosophie auch immer die Frage ›was ist der Mensch?‹ zu bearbeiten hat, (s.o. Kap. 1.b) ist dies der Beitrag der Philosophie der Religionen, die sich überdies durch einen besonderen Sensus für Kulturdifferenzen auszeichnet. So wird auch verständlich, warum ein solches Programm sich jedenfalls nicht vorrangig als religionskritisch versteht: Gehört Religion eben zum Menschsein, so wäre es widersinnig, eine verstehende Anthropologie der Religionen mit einer grundsätzlichen Kritik dessen zu beginnen, was doch zum Menschsein gehört. Diese Programmatik hat erkenntlich Ankündigungscharakter und es ist noch nicht möglich, in eine argumentative Auseinandersetzung damit einzutreten. Vorschnelle Ergebnisse würden womöglich nicht hilfreich sein. Darauf hat in einer weiteren erst kürzlich vorgelegte Studie zur Philosophie der Religionen Harald Seubert (*1967) hingewiesen. Er erinnert zunächst daran,
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dass die Programmatik einer verstehenden Philosophie der Religionen nicht neu ist. Georg W.F. Hegel hat sie mit seinen Vorlesungen über die Philosophie, entstanden 1821–1831, vorgelegt. Es handelt sich um ein verstehendes Panorama der Religionen von den (vermuteten) Anfängen bis zu dem, was Hegel als die absolute Religion bezeichnet. (Hegel 16, 259–302; 17, 185–344) Ist also bereits geleistet, was die Entdeckung von Interkulturalität und religiöser Vielfalt unserer Tage sich zur Aufgabe stellt? Seuberts – und nicht nur sein – entscheidender Einwand heißt, dass Hegel wohl eine Systematik aller Religion bietet. Das ist eine »Interpretation von Religionstotalität (…). Jene Totalität ist bei Hegel freilich geschlossen. Es käme darauf an, sie offen zu halten.« (Seubert 571) Hegel spricht über ihm fremde Religionen und ordnet ihre Gehalte anhand seiner eigenen philosophischen Maßstäbe ein. So imponierend der Gesamtentwurf ist: Er ist der Blick nur eines Denkers und seines Systems. Das aber kann eine Einbindung in den jeweiligen anthropologischen und kulturellen Kontext nicht einholen, weil diese mit der Idee der einen Vernunftkonzeption, die alles einzuordnen in der Lage ist, bricht. (ebd.) Wird damit aber ernst gemacht, dann hat die Philosophie der Religionen eine Komponente des Dialogs der Religionen. Ist, um zum Beginn des Kapitels zurückzukehren, eine Religionsphilosophie, die sich ihrer kulturellen Grenzen bewusst ist, eher mit Xenophanes religionskritisch gestimmt oder doch mit Cicero religionsfreundlich? Die hier kurz vorgestellten Arbeiten tendieren zur religionsfreundlichen Haltung. Das muss freilich kein Automatismus sein. Xenophanes’ Argument, dass die Vielfalt der Religionen durchaus gegen ihre Wahrheitshaltigkeit spricht, taucht in verwandelter Form in der naturalistischen Religionskritik wieder auf. (s.o. Kap. 7.a.b) Für sie ist Religion eine Bewältigungsstrategie für Daseinshärten, die diesen mit Illusionen beikommen will. Dass dies allerorten verschieden aussieht, wird als Verstärker der Grundannahme gelesen. – Die momentan gängigen Typen des Naturalismus können nicht überzeugen, aber das heißt ja nicht, dass die naturalistische Option auch zukünftig vom Tisch wäre.
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c) Philosophische Religionsdialoge – kleine Erinnerung an eine klassische Periode Die Forderung, es müsse einen philosophisch geführten oder begleiteten Dialog der monotheistischen Weltreligionen geben, ist nicht neu. Er war ein Topos der Aufklärungszeit (s.o. Abschn. a) und er war vor allem gelebte Realität im maurischen Spanien, also in der Periode, in der die iberische Halbinsel oder Teile von ihr zum osmanischen Reich gehörten. Die Eroberung begann 711 und wurde erst 1492 durch die Komplettierung der Reconquista (Wiedereroberung) durch die die sog. katholischen Könige Ferdinand II. und Isabella I. beendet. Mit ihr endete eine Periode, in der sich einzigartige Religionsdialoge entwickeln konnten, da die muslimischen Herrscher sich gegenüber christlicher und jüdischer Religionsausübung zumeist tolerant verhielten: Die ›Leute des Buches‹ mussten eine Sondersteuer entrichten, wurden jedoch nicht zwangsbekehrt oder an der Ausübung ihrer Religion gehindert. Genau das endete mit der Reconquista. Im selben Jahr, in dem die letzten muslimischen Herrscher kapitulierten, erließen die ›katholischen Könige‹ das Alhambra-Edikt, das alle Juden, die nicht zum Christentum konvertierten, zur Auswanderung aus spanischen Gebieten zwang. Für lange Zeit war damit ein gedeihliches interreligiöses Klima beendet. Zuvor, im maurischen Spanien war der wichtigste Denker auf jüdischer Seite der bereits erwähnte Moses Maimonides. Neben einem großen Kommentar zur Mischna (erste Niederschrift der mündlichen Auslegung der Fünf Bücher Mose) verfasste er ein großes Werk, den ›Wegweiser der Verirrten‹. In ihm tritt er den Beleg an, dass die überlieferten Aussagen des Glaubens und die Wahrheiten der Vernunft nicht miteinander in Konflikt stehen. Da der philosophische Anteil des Buches zugleich eine Auseinandersetzung mit der arabischen Rezeption der Philosophie des Aristoteles ist, ist das Werk ein einzigartiges Dokument mittelalterlicher Philosophie der Religionen. Die Grundhaltung ist der von Maimonides’ späterem Namensvetter Mendelssohn durchaus ähnlich: Vernünftig Erkennbares bildet die Basis dafür, dass
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im Bereich religiöser Einzelaussagen Unterschiede zulässig sind. (Maimonides 55–57.67–69) Der heute bekannteste muslimische Denker auf der iberischen Halbinsel war Muhammad ibn Ruschd, (1126–1198) im Westen unter dem Namen Averroes bekannt. In der Frage religiöser Diversität geht er noch weiter als Maimonides. Gott ist für ihn der Inbegriff der Vernunft. Menschliche Vernunft partizipiert an der Vernunft, die Gott ist, so dass es einen Gegensatz zwischen Vernunft und der gläubigen Zuwendung zu Gott gar nicht geben kann. Es ist allerdings so, dass dieses Zusammenstimmen von religiöser und philosophischer Erkenntnis nicht offen zu Tage liegt. Wer nur den Wortlaut des Korans lesen kann, würde durch die Sätze der Philosophen vielmehr in die Irre und zum Unglauben geführt. Man muss über die Stufe der Dialektik zur Stufe der evidenten Interpretation aufsteigen können, um die Konsonanz von Religion und Philosophie zu sehen. (Averroes 22) Wer so weit kommt, wird sehen, dass zwischen den beiden kein Widerspruch besteht, vielmehr, dass sie »von Natur zu gegenseitiger Freundschaft und ihrem Wesen und ihrer Anlage nach zu gegenseitiger Liebe bestimmt sind. (…) Gott wird allen die Richte geben und alle durch seine Liebe zu seiner Gunst leiten (…) Denn er hat die große Menge auf einem mittleren Weg zu seiner Kenntnis berufen, der sich so hoch über die Niedrigkeit der Autoritätsmenschen erhebt, als er unter den Eristiken der Dogmatiker steht, und er hat die Auserwählten auf die Notwendigkeit der vollkommenen Spekulation über den Grund der Religion aufmerksam gemacht.« (Averroes 27f) Auf christlicher Seite ist Peter Abaelard (1079–1142) zu nennen, der nicht in Spanien lebte, sich aber in das religionstolerante maurische Klima gewünscht haben soll. Sein Spätwerk ›Gespräch eines Philosophen, eines Juden und eines Christen‹ plädiert für wechselseitige Toleranz der Monotheismen, sieht aber zumindest untergründig das Christentum als dem Judentum überlegen an. Direkt im und für das maurische Klima entstand ›Das Buch vom Heiden und den drei Weisen‹ des Katalanen Ramon Lull (Raimundus Lullus, 1232–1316). Lull erzählt von einem Ungläubigen, der durch die Vertreter der drei monotheistischen
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Religionen zur Annahme der Existenz Gottes geführt wird. Kaum ist das geschehen, wird er aber unglücklich, weil ihm nicht klar ist, auf welche Weise er denn nun Gott anbeten soll. (Lull 53–57) Im Hauptteil des Buches stellen jeder der drei Weisen den eigenen Glauben vor, indem jeweils Glaubensartikel benannt und diese dann anhand einer Systematik der Eigenschaften Gottes erklärt werden. Als der Heide ankündigt, seine Entscheidung über die wahre Religion treffen zu wollen, antworten die Weisen, »sie wollten es nicht wissen, damit ein jeder von ihnen glauben könne, er habe seine Religion gewählt.« (Lull 246) Abschließend vereinbaren sie, dass sie ihr Streitgespräch um des allgemeinen Friedens willen fortsetzen müssten, auch wenn sich das mutmaßlich sehr lange hinziehen werde. (Lull 249) Das offene Ende von Ramon Lulls Buch deutet an, dass er die Wahrheitsfrage zwischen den monotheistischen Religionen für wichtig, aber philosophisch unentscheidbar hält. Es spricht einiges dafür, dass das auch in heute und künftig zu führenden Dialogen der Fall sein könnte. Wenn, wie in Abschnitt b) angedeutet, eine Philosophie der Religionen prinzipiellen Atheismus abweisen kann und wenn andererseits klar ist, dass die Wahrheitsansprüche von Religionen nicht oder nicht nur satzförmig sind, dann gerät man relativ rasch in Bereiche, die mit rationalen Gründen allein nicht mehr zureichend bearbeitet werden können. So zumindest kann man Ramon Lulls drei Weise verstehen, auch hätte – wenn auch auf anderer Grundlage – Moses Mendelssohn ihnen zugestimmt. Philosophie der Religionen ist offenkundig ein Diskurs in Grenzlagen und von einem theologisch zu führenden Gespräch der Religionen untereinander immer wieder zu unterscheiden. Gleichwohl bleibt die Religionsphilosophie gefordert, sich mit ihrem Bestehen auf allgemein einsehbare Argumentationsmuster immer wieder einzuschalten. In Teil III soll das durch eine weitere Diskussion der das Buch tragenden Konzeption wenigstens im Ansatz unternommen werden.
Teil III: Gibt es Wissen vom entzogenen Grund?
10. Negative Theologie und die eigentümliche Rationalität der Religion I.U. Dalferth, Die Wirklichkeit des Möglichen. Hermeneutische Religionsphilosophie, Tübingen 2003; M. Frisch, Homo faber. Ein Bericht, Nachdruck Berlin 2011; J. Halfwassen, Plotin und der Neuplatonismus, München 2004; I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, Werke Bd. II, Darmstadt 1985; G.A. Lindbeck, Christliche Lehre als Grammatik des Glaubens. Religion und Theologie im postliberalen Zeitalter, Gütersloh 1994; R. Otto, Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen, München Nachdruck 1991; Th. Rentsch, Gott, Berlin 2005; ders., Thesen zur Kritik der religiösen Vernunft, in: Wiederkehr von Religion? Argumente, Perspektiven, Fragen hg. von W. Oelmüller, Paderborn 1984, 93–109; ders., Worin besteht die Irreduzibilität religiöser Wahrheitsansprüche? Religion und negative Metaphysik, in: M. Knapp/Th. Kobusch (Hg.), Religion – Metaphysik(kritik) – Theologie im Kontext Moderne/Postmoderne, Berlin/New York: de Gruyter 2001, 113–126; K. v. Stosch, Komparative Theologie als Wegweiser in der Welt der Religionen, Paderborn u.a. 2012; L. Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, in: Werkausgabe Bd. 1, 51989, 225–580.
Der dritte Teil dieses Buches hat die Funktion, das in Teil I vorgestellte Konzept der Negativen Theologie als religionsphilosophischer Leitvorstellung zu bewerben, im Licht der Detaildiskussionen aus Teil II ansatzweise zu vertiefen und einige Schwierigkeiten, die mit ihm einhergehen, zu besprechen. Diese Schwierigkeiten werden danach vielleicht nicht ausgeräumt sein, aber hoffentlich so weit bearbeitet, dass sie das Konzept insgesamt nicht dementieren. In Kapitel 10 geht es dabei schwerpunktmäßig um die Kritik, dass Negative Theologie eben nur ›negativ‹ sei. Sie kann, so heißt es, eben nur sagen, dass man über Gott nichts sagen kann und man muss ihr deshalb vorhalten, zu einer grandiosen inhaltlichen Verarmung zu führen und diese – schlimmer noch – womöglich für gut zu halten. Das wird kurz dargestellt und zur Antwort auf einen wichtigen Unterschied verwiesen: Die klassische und die heute geratene Einbettung der Negativen Theologie in Argumentationszusammenhänge unterscheiden sich deutlich. Auch ver-
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bindet sich die Negative Theologie mit einem religionsphilosophischen Konzept von Religion, freilich einem merklich anderen als dem der dominanten Tradition, von der in Kap. 5 die Rede war. Von dieser Warte aus sollte deutlich werden, warum die so erweiterte Negative Theologie einen eigenständigen Blick auf klassische und aktuelle Problemlagen der Religionsphilosophie entwickelt, wie er in einigen Detaildiskussionen in Teil II des Buches zum Vorschein kam.
a) Die notwendigen Grenzen Negativer Theologie Der Vorwurf, negative Theologie sei eben nur negativ, ist durchaus naheliegend: Der Kern des negativ-theologischen Arguments besteht darin, dass es sinnvoll und nötig ist, ›Gott‹ zu thematisieren, dass es zugleich aber nicht möglich ist, Gott zum Gegenstand haben zu können. Das stimmt für alle Lesarten, von denen hier bislang zu berichten war. Der große Neuplatoniker Plotin schärft ein, dass vom absolut Transzendenten nichts gesagt werden kann, außer eben dass es absolut transzendent ist. Die moderne Fassung bei Thomas Rentsch ist – unter denkbar von Plotin verschiedenen erkenntnistheoretischen Voraussetzungen – derselben Ansicht: Das, was alles erst möglich macht und damit auch mein Sprechen möglich macht, kann Gegenstand dieses Sprechens nicht sein; es unterscheidet sich durch diesen Umstand gänzlich von allem, was jemals Gegenstand meiner Rede war, sein wird und sein könnte. Ganz analog verhält es sich bei den negativ-theologischen Lesarten, von denen in Bezug auf Martin Heidegger, Theodor W. Adorno und Jacques Derrida die Rede war (Kap. 3.d). Auch das ontologische Argument zeigte seine negativ-theologische Seite auf diese Weise: Gott, wenn es ihn den gibt, ist unendlich über alles andere hinaus. Was aber unendlich über alles andere hinaus ist, kann kein Gegenstand im Sinne aller anderen Gegenstände sein. Alle anderen möglichen Aussagen über Gott sind auf diese Weise aber mit dem Makel behaftet, dass man sie gar nicht äußern kann, ohne diese Regel zu verletzen. Das aber ist nicht nur in sich eine enorme inhaltliche Verarmung. Denkt man den Weg konsequent zu Ende, dann führt er
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in die völlige Aussagelosigkeit: Wer konsequent den Weg der Negativen Theologie geht, wird ja nicht mehr damit zufrieden sein können, bei allen Aussagen über Gott mitzudenken, dass sie nur uneigentlich gemeint sein können und besser nicht gesagt würden. Konsequenterweise müsste man in Sachen Gott dann völlig verstummen. Aber was für eine Rettung der rationalen Theologie wäre es denn, bestünde sie darin, am Ende gar nichts mehr sagen zu können? Ingolf U. Dalferth (*1948) schreibt: »Die Aporie scheint unvermeidlich: Wenn radikal Anderes nicht gedacht werden kann und nichts Gott ist, was nicht radikal anders ist, dann lässt sich Gott nicht denken – weder im Blick auf das, was Gott ist, noch im Blick auf das, was Gott nicht ist. Negative Theologie ist kein Fall von Theologie, sondern deren Ende.« (Dalferth 517)
Das ist spitz formuliert, bringt aber die der Negativen Theologie eigene Aporie klar auf den Punkt. Soll es also um mehr gehen, als darum, das Ende der rationalen Theologie zu erklären, so sind gleichsam flankierende Maßnahmen nötig, die Religionsphilosophie möglich machen, ohne mit der Radikalität der negativ-theologischen Grundeinsicht zu brechen. Der traditionelle Ausweg aus dieser Aporie wurde so gesucht, dass Negative Theologie eine unter mehreren religionsphilosophischen Methoden ist. Etwa so: Über Gottes Werke lässt sich durchaus etwas sagen, was auch den Schluss darauf einschließt, wie es um seinen Willen und seine Pläne bestellt sein müsste. Rechnet man nun aber ein, dass Gott, um wirklich Gott sein zu können, radikal anders sein muss als alles andere, dann heißt dies, dass es einen direkten Wissenszugriff auf ihn nicht gibt. Indirekte Schlüsse aus den Werken korrelieren demnach mit der totalen Unmöglichkeit, über Gott selbst etwas zu wissen. In einer solchen denkerischen Strategie ist etwa die Negative Theologie in der neuplatonischen Tradition verankert, die oben (Kap. 3.a) am Beispiel von Plotin und Johannes Scotus Eriugena kurz vorgestellt wurde. Hier wird ein metaphysischer Gottesgedanke mit der Grundeinsicht Negativer Theologie zusammengebracht. Der metaphysische Gedanke geht im Umriss so: Um etwas zu denken, muss ich es in den Kontext mit anderem einordnen, weil ich
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nichts nur für sich allein denken kann. So ist es etwa mit der Teetasse auf meinem Schreibtisch: Wenn ich sie und nur sie beschreiben will, so muss ich auf Dinge und Umstände verweisen, die nicht sie sind. Ich muss sagen, wo sie sich befindet, welche Farbe und Gestalt sie hat, vielleicht auch, aus welchem Material sie besteht. Auch erinnere ich mich bei der Beschreibung vielleicht daran, wann und unter welchen Umständen ich sie erworben habe. Das aber heißt, dass, um dieses Einzelding zu denken, es bereits in den Kontext eingeordnet werden musste. Denken heißt Bestimmen, Bestimmen heißt Einordnen. Und wenn ich überhaupt einordne, so setze ich damit bereits voraus, dass es den Gesamthorizont des Einordnens gibt. Also setze ich, dass es die Einheit aller Dinge gibt. Einheit ist das Prinzip allen Denkens und dieses Prinzip geht allen einzelnen Denkakten voraus. (Halfwassen 32–36) Dieser Gedanke ist noch nicht negativ-theologisch. Aber er macht Negative Theologie möglich, weil die Behauptung, die Wirklichkeit sei eine Einheit, den Schluss nahelegt, die eine einheitliche Wirklichkeit habe einen Grund, der sie hervorgebracht hat. In diesem Sinne ergänzen sich das metaphysische Argument auf der einen und das der Negativen Theologie auf der anderen Seite. Weil es um diese Kombination geht, ist die Negative Theologie, so kann man mit Plotin folgern, mitnichten das Ende der rationalen Theologie. Bei diesem Gedanken ist es freilich nicht geblieben. (s.o. Kap. 3.a.b) Die Kritik betraf einen entscheidenden Punkt: Es mag wohl sein, dass unser Bewusstsein das Bedürfnis nach Einheit hat. In der Tat kann man einen Gegenstand nicht denken, ohne auf seinen Kontext, seine Vorgeschichte, seine Materialien usw. einzugehen. Dass die Wirklichkeit eine sei, ist also eine Voraussetzung des Bewusstseins. Daraus folgt aber noch nicht, dass die Wirklichkeit als Ganze einheitlich sei. In dieser Art funktioniert die Kritik rationaler Theologie, die Immanuel Kant vorgetragen hat: Die Einheit der Wirklichkeit ist ein Postulat der Vernunft, womit aber nicht gesagt ist, dass es sich tatsächlich so verhält. (Kant KrV B 672 u.ö.) Entsprechend geht von der metaphysischen Gedankenoperation aber auch keine Stützungswirkung für das negativtheologische Argument mehr aus.
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Die in diesem Band favorisierte Auslegung Negativer Theologie ist denn auch erkenntlich nach-kantisch angelegt. Sie zielt nicht auf einen Satz objektiver Metaphysik, sondern auf Gedankenoperationen des denkenden Subjekts selbst. Entsprechend handelt sie sich das Problem, einen strittigen und zugleich unanschaulichen Gegenstand zu haben, gar nicht erst ein. Zugleich zielt die Anlage des Arguments darauf, den Vorwurf zu entkräften, Negative Theologie führe allein in die Aussagelosigkeit. Thomas Rentsch benannte drei Transzendenzen, also drei Vollzüge, bei denen der negativ-theologische Grundzug einerseits mit der Etablierung von Sinn andererseits zusammenkommen: (vgl. Kap. 3.b; Rentsch 2005, 58–78) Die ontologisch-kosmische Transzendenz – es ist überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts – korreliert damit, dass die Welt für uns geschenkhaft da ist und Menschen auch sich selbst als Gabe erfahren dürfen. Die Transzendenz der Sprache – es gibt sprachliche Sinnbedingungen, die jedem Sprechen vorausliegen – macht es allererst möglich, dass Menschen sich auf sich selbst beziehen und sich selber bewusst werden können. Die anthropologisch-praktische Transzendenz schließlich – Menschen müssen setzen, dass es einen Sinnhorizont gibt – weist auf die konstitutive Gemeinschaftsbezogenheit von Menschen. Das ist die Kombination von Negativität einerseits und Sinn andererseits, die für Thomas Rentschs Konzeption von entscheidender Wichtigkeit ist. Der negativ-theologische Bezug auf Gott steht nicht für sich allein. Es ist vielmehr so, dass genau diese Negativität es ist, die Sinn und Orientierung aus sich heraussetzt. Das zeigt sich in weiter bis umfassender Weise bei den drei eben genannten Transzendenzen. Man wird es aber auch für konkretere Erfahrungen so sagen dürfen: Menschen leben von technisch-pragmatischen und von instrumentellen Handlungsmöglichkeiten. Sie leben aber auch noch von anderen Bedingungen, die sie nicht handelnd einholen können und die ihr Leben doch in eminenter Weise bestimmen und ihm Sinn geben. Rentsch nennt sie »transpragmatische Sinnbedingungen«. (Rentsch 2001, 117) Das sind diejenigen Bereiche unseres Lebens, die wir nicht zureichend in Begriffe fassen können, die unser Leben aber genau deshalb bestimmen und aus denen Orientierung so oder so her-
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vorgeht: Die Ränder des Lebens, Geburt und Tod, Tag und Nacht, Sexualität, Macht. All das sind natürliche Phänomene, aber es sind solche, die sich einer begrifflich exakten Erschließung beharrlich entziehen und die doch gebieterisch danach rufen, gestaltet zu werden, weil aus dieser Gestaltung allererst Orientierung hervorgeht. Gerade das Unerkennbare richtet das Erkennen aus. Gerade das vom Handeln nicht Erschwingliche konditioniert das Handeln. Was wir nicht können und was wir nicht wissen, das ist nicht einfach achselzuckend ›weg‹, sondern bei diesen Bereichen tun sich die Möglichkeiten auf, die uns unser Leben gestalten lassen, oder doch mindestens dazu rufen – deswegen ›transpragmatisch‹, also dem Handeln entzogen und es doch zugleich ermöglichend. Und zugleich ›Sinnbedingung‹, weil es Lebenssinnentwürfe und Lebenssinngestaltung erst möglich macht. Alle Menschen leben in solchen Bedingungen und es ist nötig, praktisch mit ihnen umzugehen. Der Wissenszugriff allein reicht nicht, genauso wenig wie man sie nicht einfach ausblenden kann. Ein eindrückliches literarisches Beispiel dafür ist Max Frischs (1911– 1991) Roman ›Homo faber‹ aus dem Jahr 1957. Er erzählt von einem Ingenieur, der durch Lebenserfahrung zynisch geworden ist und meint, dass nur der kühle und objektive Blick der Naturwissenschaftler und Ingenieure die Welt so zeigt, wie sie ist. Freilich gerät er in einen Strudel persönlicher Erfahrung, der ihn diese Distanziertheit aufgeben lässt und durch den er erkennt, dass es gerade die nichtobjektivierbaren Erfahrungen sind, die Sinn generieren. Aus dem homo faber mit dem Ideal, alles konstruieren und kontrollieren zu können, wird der, der sein Glück im alltäglichen unplanbaren Widerfahrnis erlangt.
Dies ist ein entscheidender Punkt. Nur wenn es die Verbindung aus Negativität und Sinn tatsächlich gibt, ist der Einwand zurückgewiesen, Negative Theologie führe in die Selbstabschaffung der Religionsphilosophie. Thomas Rentschs Vorschlag scheint mir, wie mehrfach in Teil I angedeutet, belastbar zu sein: Es ist in der Tat so, dass Lebensorientierung nicht von den facta bruta erzeugt wird, sondern von den Rändern des Lebens her und von dem, was nicht einfach zuhanden ist. Die Rede von den ›transpragmatischen Sinnbedingungen‹ ist demnach sachhaltig. Freilich zeigt sich hier auch eine Schwierigkeit. Sie hat die Form eines Dilem-
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mas: Entweder betont man, dass die Sinnbedingungen tatsächlich transpragmatisch sind, also dem verfügenden Zugriff entzogen. Dann freilich bleiben die Sinnzuschreibungen, die ihnen entnommen werden, unnennbar und erratisch. Es bleibt dann kaum mehr als zu versichern, dass es solche Sinnbedingungen gebe und dass sie tatsächlich Orientierungspotenzial bereitstellen; der Inhalt von Sinn und Orientierung muss aber unbenannt bleiben, da er sich je nur dem Einzelnen je und je erschließt. Oder – die andere Seite des Dilemmas – man versucht, doch einzelne Sinninhalte als beschreibbar oder sogar als verbindlich auszumachen. Das aber läuft zumindest Gefahr, dass der unnennbare Grund wider eigene Absicht ins Wissbare gezogen wird. Der Blick auf die drei von Rentsch benannten Transzendenzen scheint eine gewisse Tendenz zur zweiten Seite des Dilemmas zu zeigen. Das wird deutlich, wenn man sich vor Augen führt, dass die drei eine durchaus merkliche Analogie zu Aussagen christlicher Theologie haben. Oben (Kap. 3.b) wurde schon angedeutet, dass die 1. Transzendenz starke Nähen zur biblischen Schöpfungstheologie aufweist. Für die 2. Transzendenz verwendet Rentsch mitunter das griechische Kennwort logos. Das legt sich von der Bedeutung »Wort« her durchaus nahe, es hat aber zugleich eine Nähe zur christlich-theologischen Aussage, dass Christus das Wort Gottes ist. Völlig richtig verweist Rentsch als Analogie auf die theologische Aussage der creatio continua, also des fortwirkenden Schöpferhandelns Gottes: Sprache ist nicht nur unerklärlich – das wäre der rein negativ-theologische Aspekt –, sondern zeigt sich als die »uns und unsere gesamte Weltwirklichkeit auch mit ermöglichende permanente Sinneröffnung.« (Rentsch 2005, 70) Für die dritte Transzendenz gibt Rentsch keinen theologisch-traditionalen Referenzpunkt an, aber die von ihr gesetzten Themen wie Gemeinschaftlichkeit und Moralität lassen durchaus an den dritten Artikel des christlichen Glaubensbekenntnisses und damit an die Theologie des Heiligen Geistes denken. Diese Bezüge zu christlich-theologischer Rede sind sehr vorsichtig vorgebracht und vermeiden jeden Anschein eines ›Trinitätsbelegs‹ – der bei Strafe eines schlichten Selbstwiderspruchs im Programm Negativer Theologie nicht möglich ist. Freilich
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kann man fragen, ob diese Konkretionen nicht zu weit gehen. Müssten bei Bezug auf dieselben Transzendenzen nicht auch andere Sinnzuschreibungen möglich sein? Und, wichtiger: Wird der strikt negativ-theologische Grundzug noch durchgehalten, wenn die Transzendenzerfahrung ihre Konkretion in so merklich christlich-theologisch formulierten Erfahrungsfeldern hat? Das ist absichtlich und nicht etwa rhetorisch mit Fragezeichen formuliert. Um an diesem wichtigen Punkt nicht der Gefahr vorschneller Konkretion aufzusitzen, schlage ich eine leicht geänderte Vorgehensweise vor. Sie macht immer noch Gebrauch von dem konstitutiven Zusammenhang von Negativität und Sinn, setzt ihn aber anders. Sinnzuschreibungen ergeben sich nicht unmittelbar aus den genannten Transzendenzerfahrungen alleine. Sie entstehen vielmehr, wenn die Transzendenzerfahrungen in konkrete Lebensentwürfe eingebunden werden. Gibt man das zu, dann ist die in den Beispielen ausgedrückte Nähe zum christlichen Selbstverständnis kein Problem mehr und tangiert die Universalität des negativ-theologischen Arguments nicht. Behauptet ist damit allerdings, dass Negative Theologie nicht per se sinngenerativ ist, sondern dass sich dies in verschiedenen Interpretationsformen des Daseins je verschieden zeigt. Die Sinngenerativität der Negativität ist ganz offenkundig vorhanden. Sie zeigt sich aber erst, wenn die negativ-theologisch zu beschreibenden Erfahrungen in das Gesamt einer Lebensform eingebunden sind. Im nächsten Argumentstationsschritt ist deshalb kurz zu umreißen, inwiefern man Religion(en) als Lebensform(en) beschreiben kann. Für eine relative Verteidigung der Möglichkeit von Religion(en) ist im übernächsten Schritt dann noch einmal auf hilfreiche Argumente von Thomas Rentsch zu verweisen.
b) Religion als Lebensform Zu beschreiben ist also, wie das Umfeld aussieht, in dem die von der Negativen Theologie beschriebenen Erfahrungen zu sinngenerierenden Erfahrungen werden. Das ist sowohl traditionell wie auch aus sachlich gutem Grund die Aufgabe einer Theorie der Religion. Das schließt an Überlegungen aus Kap. 5 an. Dort
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war argumentiert worden, dass funktionale Religionstheorien gegen den ersten Augenschein wenig hilfreich sind und dass es deshalb innerhalb bestimmter Grenzen durchaus sinnvoll ist, auf substanzielle Religionstheorien zurückzugreifen. Freilich haben auch sie den Nachteil, je nur Erfahrungen/ Erfahrungsbereiche eines Individuums zu beschreiben. Das setzt mit, dass stets einzelne Subjekte die Evidenzleistung der Religion tragen müssen und führt zu dem Risiko der Übertribunalisierung des Subjekts. Um diese Engführung zu vermeiden, soll hier eine Religionstheorie vorgestellt werden, die die Engführung aufs Subjekt umgeht. Sie wird sich zudem als hilfreich erweisen, um die eben angesprochene Einbettung des negativ-theologischen Arguments in ein Rahmenkonzept zu ermöglichen. Der amerikanische Theologe George A. Lindbeck (*1923) schlägt vor, Religion nicht unter Verweis auf bestimmte Erfahrungstypen zu sehen, wie substanzielle Religionstheorien dies tun, sondern sie als Gerüst von Bedingungen zu verstehen, die Erfahrung und Interpretation allererst möglich machen. Die definitionsähnlichen Sätze heißen: »Eine Religion kann als eine Art kulturelles und / oder sprachliches Grundgerüst und Medium betrachtet werden, das die Gesamtheit von Leben und Denken formt. Sie funktioniert in etwa wie das kantische Apriori, obgleich in diesem Falle das Apriori eine Reihe von erworbenen Fertigkeiten ist, die ganz andere sein könnten. Sie ist in erster Linie nicht ein Feld von Glaubenssätzen über das Wahre und Gute (obwohl es diese einschließen kann) oder ein symbolischer Ausdruck grundsätzlicher Haltungen, Gefühle und Empfindungen (obwohl diese hervorgerufen werden können). Vielmehr: sie gleicht einem Idiom, das die Beschreibung von Realität, die Formulierung von Glaubenssätzen und das Ausdrücken innerer Haltungen, Gefühle und Empfindungen ermöglicht. Gleich einer Kultur oder Sprache ist sie ein gemeinschaftliches Phänomen, das viel eher die jeweilige Subjektivität Einzelner prägt, als daß sie in erster Linie eine Manifestation dieser jeweiligen Subjektivität wäre. Dieses Grundgerüst besteht aus einem Vokabular diskursiver und nichtdiskursiver Symbole in Verbindung mit einer bestimmten Logik oder Grammatik, derentsprechend das Vokabular sinnvoll angewandt werden kann.« (Lindbeck 56f)
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Hier wird eine Religionstheorie vorgeschlagen, die gegenüber den gängigen Typen Eigenheiten hat. Ich benenne in aller Kürze vier Aspekte. (1) Die Theorie kehrt die gewöhnliche Richtung um. Es ist nicht so, dass man von bestimmten unvordenklichen Erfahrungen herkommt und dann in einem zweiten Schritt Ausdrucksmittel dafür sucht. Vielmehr wird Religion als ein Netz von ermöglichenden Bedingungen verstanden, bestimmte Erfahrungen überhaupt zu machen und das eigene Leben an ihnen ausgerichtet sein zu lassen. Das ist v.a. mit dem Bezug auf das ›kantische Apriori‹ gemeint, also auf diejenigen Bedingungen, die Wahrnehmung und Erfahrung allererst möglich machen. Das ist zunächst als Entlastungsregel zu verstehen: Um sich ›religiös‹ nennen zu können, muss niemand auf bestimmte, womöglich schwer erschwingliche Erfahrungen verweisen können – oder aber sich des Ausbleibens solcher Erfahrungen grämen. Rudolf Otto hatte sein Buch mit dem Hinweis begonnen, dass derjenige, der noch nie eine intensive religiöse Erfahrung machte, es wieder zur Seite legen möge. (Otto 8, vgl. Kap. 5.b) Es verhält sich genau nicht so. (2) Ferner ist hier wichtig, dass im Zentrum einer Religion nicht die Lehrsätze über Gott stehen (»in erster Linie nicht ein Feld von Glaubenssätzen über das Wahre und Gute«), sondern der Umstand, dass ihr anzugehören bedeutet, sich selbst und die Welt mit anderen Augen zu sehen. Religiös sein ist also primär nicht eine spezifische Erfahrung und primär nicht das Fürwahrhalten bestimmter Sätze. Vielmehr ist Religion ein Ensemble von Sätzen und Gewohnheiten, die eine neue und genuine Perspektive auf das Leben ermöglichen und hervorbringen. Zugespitzt: »Das primäre Wissen besteht weder darin, etwas über Religion zu wissen, noch daß Religion dieses oder jenes lehrt, sondern vielmehr wie man auf diese oder jene Art religiös ist.« (Lindbeck 60) (3) Lindbeck verwendet gegen Ende des längeren Zitats die Analogie zu einer Sprache. Religion besteht aus – satzförmigen wie nicht-satzförmigen – Vokabeln und aus Regeln zu ihrer Verwendung, also der Grammatik. Diese Analogie ist sprechend. Die wesentliche Funktion einer Sprache ist Kommunikation und Ori-
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entierung in der Welt. Wer nun mehr als eine Sprache gut spricht, weiß, dass man zwischen Sprachen nicht eins zu eins übersetzen kann, sondern dass die Welt vielmehr anders aussieht, je nachdem welche Sprache man verwendet. In diesem Sinne ist Religion ein ›Blick auf alles‹ oder, wie sich mit einem bei Wittgenstein entlehnten Begriff auch sagen lässt, eine »Lebensform«. (Wittgenstein 23) (4) Zu ihr gehört – dies als letzter hier knapp zu benennender Aspekt – der Gemeinschaftscharakter von Religion. So wie niemand eine Sprache allein spricht, ist das Interpretationsensemble einer Religion nie nur privates Wissen eines Menschen, sondern bringt Menschen zusammen. Das schließt Wandlungs- und Entwicklungsprozesse einer Religion ausdrücklich ein. Die Rede von Religion als Lebensform scheint mir einerseits umfassender und zutreffender zu sein als die in Kapitel 5 vorgestellten Religionstheorien, die ihr gegenüber einen reduktiven Eindruck machen. Zudem ermöglicht sie es, die spezifische Funktion der Negativen Theologie innerhalb einer religionsphilosophischen Betrachtung von Religion zu verstehen. Sie beschreibt unabweisbare Erfahrungen. Diese unabweisbaren Erfahrungen stehen aber nicht für sich, auch müssen sie nicht die Evidenzleistung für die Religion allein antreten. Es handelt sich vielmehr um Punkte besonderer Konzentration, die aber innerhalb eines großen semantischen Feldes angesiedelt sind, aus dem die jeweilige Religion besteht. So können etwa die von Thomas Rentsch benannten Transzendenzen innerhalb der Lebensform namens christliche Religion verständlich werden. Im Rahmen dieses Deutungshorizonts sind die Nähen zur Schöpfungstheologie und zu den anderen unter a) genannten theologischen Topoi durchaus naheliegend. Es besteht dann aber nicht mehr die Notwendigkeit, das negative Momentum als solches mit ihnen anzureichern und so seine Überdehnung zu riskieren. Negativ-theologisch zu benennende Erfahrungen treten niemals isoliert auf, vielmehr sind sie jeweils in eine aktive Sprache eingebettet. Dies Eingebettetsein erklärt, warum die eingangs zitierte Befürchtung, Negative Theologie
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führe konsequent in ihre Selbstabschaffung, nicht zutrifft. Dies bedeutet eo ipso, dass man das Vorhandensein einer faktischen Religion als Verstehensrahmen für die negativ-theologische Erfahrung zunächst konstatiert. Religionsphilosophie wird hier – durchaus ähnlich wie bei der Philosophie der Religionen, vgl. Kap. 9.b – zu einem verstehenden, nicht zu einem begründenden Unternehmen. Freilich: Verstehen kann wohl kaum bedeuten, das, was man zu verstehen sucht, kritiklos hinzunehmen. Gibt es so etwas wie eine Kriteriologie des religionsphilosophischen Verstehens? Damit Verstehen nicht nur interesselose Beschreibung ist, woraus die Disziplin wohl kaum bestehen könnte, muss der Zugang zu Religion im hier beschriebenen Sinne noch präzisiert werden.
c) Kritisches Verstehen von Religion(en) als Aufgabe der Religionsphilosophie Die Frage nach den Kriterien religionsphilosophischen Verstehens ist heikel. Denn einerseits gibt es so etwas wie intuitive Gewissheiten darüber, was als ›echt religiös‹ akzeptabel ist und was hingegen diesen Rahmen sprengt. Auf der anderen Seite fängt man sich das dornige Problem ein, über die Kriteriologie eines solchen bewertenden Unternehmens Auskunft geben zu müssen. Um mit der ersten Seite zu beginnen: Es gibt Religionsformen, die für sich beanspruchen, wahre Religion zu sein, denen genau dies von der weit überwiegenden Zahl der Zeitgenossen aber abgesprochen wird. So geschehen etwa, als ein fundamentalistischer US-amerikanischer Prediger für September 2010 den ›International Burn a Koran Day‹ ausrief oder regelmäßig dann, wenn offenkundig fanatisierte islamistische Splittergruppen grausame Bluttaten als Gehorsam Allah gegenüber bezeichnen. Auch in der Geschichte finden sich solche Formen, etwa in den unerträglichen Aufrufen zum Kreuzzug oder in dem etwa im Reich der Azteken (Mittelamerika, 14.–16. Jh.) massenhaft praktizierten religiösen Menschenopfer. Offenbar gibt es Religionsformen, die als schlicht indiskutabel gelten. Wer ihnen angehört, wird dann
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auch regelmäßig als fanatisiert, verblendet oder dramatisch irrgeleitet bezeichnet. Wie aber kann man über eine Anmutung hinaus hier zu nachvollziehbaren Urteilen kommen? Es gibt, idealtypisch gesprochen, zwei Lösungswege, wobei der zweite in zwei Typen gegliedert werden kann: (1) Jede Religion hat eine Reifeform, die es erlaubt, intra-religiös verbindliche Maßstäbe über gelingende oder misslingende Zuständlichkeiten dieser Religion zu etablieren. Kritisches Verstehen von Religion ist dann eine Aufgabe des Reflexionssystems der Religion selbst. Auch religionsintern geklärt werden muss, welche ihrer Zustände als die Reifeform gelten darf, die andere Zustände zu Recht kritisieren kann. Dies ist ein zirkuläres Vorgehen; die Vertreter einer solchen Position werden aber sagen, dass ein solcher Verstehenszirkel unvermeidlich ist. (2) Weil Religionen zum Menschsein gehören, müssen sie auch an den Standards partizipieren, die zum Menschsein gehören. Darunter zählen grundlegende Standards wie unveräußerliche Rechte und auch Mindeststandards von Rationalität – wohl wissend, wie schwierig es ist, solche Standards kulturübergreifend definieren zu wollen. Über das Postulat der Allgemeinmenschlichkeit von Religion wird also die Geltung religionsexterner Kriterien eingeführt. Typ (2a) kommt dann zu dem Ergebnis, dass die jedenfalls abzulehnenden Religionsformen als Extremszenarien der Beweis sind, dass Religion überhaupt schädlich ist. Intra-religiös vorgebrachte Kriterien sind deshalb nichts als Mäßigungsversuche in einem System, das als Ganzes nicht zu retten ist. Typ (2b) zeigt sich optimistischer und behauptet, dass die Prüfung anhand religionsexterner Kriterien Religion(en) als durchaus vernunftkonform erweisen ließen. Der Streit geht dann darum, ob es sich um eine, einige oder alle Religionen handelt und wie innerhalb der Religionen zwischen vernunftkonformer und nicht vernunftkonformer Spielart zu unterscheiden ist. Aus religionsphilosophischer Perspektive kann Option (1) mit Interesse zur Kenntnis genommen werden, sie ist jedoch keine Möglichkeit für sie selbst, weil sie mit theologischen Prämissen arbeitet, etwa mit der Behauptung, auf die eine oder andere Wei-
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se sei eine Offenbarung Gottes ergangen. Spannend dürfte aber immerhin werden, dass es zu Überlappungen und Parallelen zwischen intra-religiösen Maßstäben und solchen aus allgemeiner Vernunft kommen könnte. Wenn die Erwägungen von Kap. 7 Bestand haben, gibt es für Option (2a) keine ausreichend guten Gründe. Dass es kritikable Formen von Religion gibt, ist unbestreitbar; dass sie lediglich den Verdeutlichungsfall von Religion darstellen, kann nur im Rahmen der dramatisch einseitigen Prämissen des Naturalismus behauptet werden. So bleibt also Option (2b) und damit der Versuch, Religionshermeneutik so zu gestalten, dass es sich um kritische Religionshermeneutik handelt. Was aber können deren Kriterien sein? In der Tradition war das die Aufgabe der rationalen Theologie oder Vernunftreligion, deren Probleme sich hier immer wieder zeigten, so dass es nicht geraten sein kann, die Sache auf ihre Weise anzugehen. (Überblick: Dalferth 207–335) Der Fortgang des Unternehmens hängt davon ab, welche spezifische Leistung der Vernunft zugetraut wird: Kann sie positive Vorschriften über Vernünftigkeit in der Religion machen oder ist ihre Rolle vor allem die, Zerrbilder und Fehlschlüsse abzuweisen? In der gegenwärtigen deutschsprachigen Debatte können die Arbeiten von Klaus von Stosch und Thomas Rentsch als tentative Beispiele für die beiden Optionen benannt werden. Von Stosch ist dem gegenwärtigen Revival des philosophischen Theismus, v.a. in der Analytischen Philosophie, gegenüber kritisch eingestellt und vermutet, dass es sich dabei um eine rationalistische Engführung handelt, die die emotiven und vor allem die sinngenerierenden Aspekte von Religion unterschätzt. Gleichwohl wehrt er sich gegen das andere Extrem, also dagegen, dass es keinerlei religionsexterne Kriterien für die Beurteilung von Religion geben dürfe (der sog. Fideismus). (v. Stosch 309) Religionsphilosophisch leitend dafür ist die Vermutung, dass religiöse Überzeugungen zwei Hauptelemente haben. Sie sind einerseits kognitiv-propositional und andererseits expressiv-regulativ: (v. Stosch 171–175) Religiöse Überzeugungen sind zum einen Sachaussagen nach der Form ›dies und das ist der Fall‹, zum anderen sind sie Aussagen, die Überzeugungen ausdrücken und das Leben zu gestalten helfen. Keiner der
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beiden Aspekte lässt sich auf den anderen reduzieren (entsprechend kritisch ist die Auseinandersetzung mit dem unter b) vorgestellten Modell George A. Lindbecks, dem v. Stosch Relativismus vorhält, v. Stosch 76–85). Kognitiv-propositionale Aussagen aber müssen sich dem Forum der Vernunft stellen. Deshalb gilt: Teilnehmer am Diskurs der Religionen müssen sich »unabhängig von konkreten Einzelfragen auf allgemeine Rationalitätsstandards einigen«, (v. Stosch 299) wobei auch ein ethisches Kriterium zu beachten ist, die »Notwendigkeit der Bereitschaft (…), die Perspektive Andersgläubiger ernstzunehmen«. (v. Stosch 312) – Dies ist ein Ansatz, der das Auffinden allgemeiner Rationalitätsstandards offenbar für möglich hält und es mit einem universalen ethischen Kriterium verbindet. Es muss freilich sowohl erkenntnistheoretisch wie ethisch im Gestus der Aufforderung verbleiben. Anders liegen die Dinge bei Thomas Rentsch. Er macht sich noch einmal das rationale Potential der Negativen Theologie zu Nutzen und wendet sie gegen das, was sich in ihrem Lichte als Fehlformen von Religion darstellt. Wenn die negativ-theologischen Grundoperationen zutreffen, dann zeigen sich einige Formen von Religion als nicht mit ihr vereinbar. Dieser Aufweis hat zumeist die Funktion, Zerrbilder von Religion zu entlarven, die gewöhnlich von religionskritischer Seite vorgetragen werden. Entweder, so die Strategie, treffen sie nur eine in der Tat kritikable Form von Religion oder sie zeigen sich als Zerrbild, dem in der Realität der Religionen nichts entspricht. Rentsch nennt im Einzelnen: (Rentsch 1984, 97–109, vgl. 2005, 8–47) (1) Religiöse Sätze sind nicht theoretisch, auch ist ihre Bewahrheitung nicht von Fakten abhängig, die historisch zu ermitteln wären oder die anderweitig durch Strategien der Objektivierung zu erfassen sind. (2) Religiöse Sätze sind keine zur Bewährung ausgesetzten Hypothesen; so würde etwa der Satz ›ich vermute, dass Gott mir gnädig ist‹ keinerlei Sinn ergeben. (3) Religiöse Sätze bekunden keine Gefühle, weil existenztragende Gewissheit nicht von subjektiven Befindlichkeiten abhängig ist.
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(4) Religiöse Rede ist nicht fiktional, ›Glauben als ob‹ gibt es nicht. (5) Religiöses Leben mag Funktionen haben, es ist aber nicht funktionalistisch begründet. (6) Wohl wandeln sich die Ausdrucksformen existenztragender Gewissheit, sie selbst ist aber nicht relativistisch. (7) Religiöse Sätze sind nicht ethisch, obwohl sie mit ethischnormativen Orientierungen verwoben sind. Mit dieser argumentativen Strategie ist die Autonomie und damit Irreduzibilität religiöser Wahrheitsansprüche gewonnen, sofern sie nicht in eine der sieben Fehlformen abdriftet, die Rentsch per Negation nennt. In ihnen bestünde Religionskritik jederzeit zu Recht. Die Diskussion muss zeigen, ob sich tatsächlich allgemeine Rationalitätsstandards im Religionsdialog ausbilden, wie die erstgenannte Strategie es für möglich hält. Angesichts der Diskussionen um den Vernunftbegriff, die seit längerem die Pluralität vernünftiger Vermögen betonen, scheint das nicht recht wahrscheinlich. Einstweilen ist deshalb die zweite aussichtsreicher, die unter Berufung auf eine religionsphilosophische Basisüberzeugung rekursiv Fehlformen religiöser Sätze und Fehlwahrnehmungen von Religion benennt.
d) Religionsphilosophie im Umriss: Negative Theologie und kritische Hermeneutik der Religion Auf der Basis der vorstehenden Überlegungen liegt der Umriss der Religionsphilosophie, wie sie hier vertreten wird, vor. Sie besteht aus zwei aufeinander verweisenden Teilgebieten: (1) Den Anfang macht, dass das Thema ›Gott‹ religionsphilosophisch unerlässlich ist. Die große Tradition des philosophischen Theismus bzw. der rationalen Theologie war insofern im Recht, auch wenn ihre Durchführung nicht zu überzeugen vermag. Die kritische Selbstaneignung der rationalen Theologie ist die Negative Theologie. Sie macht mit überzeugenden erkenntnistheoretischen Ein-
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sprüchen ernst und sie sucht gleichermaßen dem Sachgehalt des ontologischen Gottesarguments zu entsprechen, nach dem zur Gottheit Gottes seine Einzigkeit und Überlegenheit gehört. (2) Bei der Negativen Theologie zeigt sich der Zusammenhang von Negativität und Sinn. Deshalb gehört zur Negativen Theologie eine kritische Hermeneutik der Religion. Sie durchmustert Religionsformen, ob sie diesen genuinen Zusammenhang erkennen lassen und verteidigt sie gegen Religionskritik, sollte das der Fall sein. Das ist eine Operation kritischer Hermeneutik, nicht jedoch ein Beweisprogramm: Was über die Irreduzibilität religiöser Wahrheitsansprüche hinausgeht, kann von der Religionsphilosophie womöglich verstanden werden, es wird von ihr jedoch nicht begründet.
11. Die Wahrheitsansprüche von Gottesbezug und Religion M. Buber, Das dialogische Prinzip, Heidelberg 51984; I.U. Dalferth, Introduction: The Contemplative Use of Reason, in: The Contemplative Spirit. D.Z. Phillips on Religion and the Limits of Philosophy, hg. von I.U. Dalferth und H. von Sass, Tübingen 2010, IX–XVI; ders., Malum. Theologische Hermeneutik des Bösen, Tübingen 2008; ders., Die Wirklichkeit des Möglichen. Hermeneutische Religionsphilosophie, Tübingen 2003; J.W. v. Goethe, Faust, kommentiert von E. Trunz, München 16 1999; I. Kant, Akademie-Ausgabe Bd. XVIII, Berlin 1928; S. Kierkegaard, Philosophische Brosamen und Unwissenschaftliche Nachschrift, München 2005; E. Levinas, Wenn Gott ins Denken einfällt. Diskurse über die Betroffenheit von Transzendenz, Freiburg/München 42004; F.A. Murphy, God is Not a Story. Realism Revisited, Oxford 2007; D.Z. Phillips, Wittgenstein and Religion, New York 1993; ders., Wittgenstein, Religion, and First Philosophy, in: Religion and the End of Metaphysics. Claremont Studies in the Philosophy of Religion Studies, Conference of 2006, hg. von D.Z. Phillips u.a., Tübingen 2008, 7–44; H. Putnam, Von einem realistischen Standpunkt. Schriften zu Sprache und Wirklichkeit, Reinbek bei Hamburg 1993; H.-J. Sander, Einführung in die Gotteslehre,
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Darmstadt 2006; F.D.E. Schleiermacher, Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern, hg. von R. Otto, Göttingen 82002; H.J. Schneider, Religion, Berlin 2008; L. Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, in: Werkausgabe Bd. 1, Frankfurt/M. 51989, 225–580.
In diesem Kapitel rückt ein Aspekt ins Zentrum, der im letzten beiherspielend genannt, aber noch nicht diskutiert wurde. Zugleich ist er für die Religionsphilosophie von zentraler Bedeutung. Bei der Vorstellung des Konzepts ›Religion als Lebensform‹ ging es auch um die Frage, welche Art von Wahrheitsansprüchen Religionen eigentlich stellen. Die Kurzauskunft, die sich auf George H. Lindbecks Modell bezog, hieß: In Sätzen fassbare Wahrheitsansprüche stehen nicht im Zentrum von Religionen. Vielmehr ist Religion ein Ensemble von Sätzen und Gewohnheiten, die eine neue und genuine Perspektive auf das Leben ermöglichen und hervorbringen. Die Wahrheitsansprüche von Religion liegen in dieser neuen und genuinen Perspektive, die sie hervorbringt und zu der sie anleitet. Das ist gewiss erläuterungs- und präzisierungsbedürftig. Denn in der Kürze gibt diese Positionierung Anlass zu Missverständnissen. Man könnte meinen, dies sei eine schlankweg fideistische Position, also eine, die für sich in Anspruch nimmt, dass religiöse Daseinshaltungen unbelegbar, aber eben auch unwiderlegbar sind. Diese Haltung kann auf den ersten Blick attraktiv klingen, weil sie die Sache des religiösen Glaubens sowohl der Religionskritik als auch der argumentierenden positiven Religionsphilosophie entzieht und sich also einen Freiraum für das religiös-Sein vorstellt. Probleme hat der Fideismus aber mindestens an folgenden Stellen: Sind religiöse Haltungen unbelegbar und unwiderlegbar, dann müssen sie zur Gänze individualistisch sein, weil es ja einen Dialog darüber, der – auf welche Weise auch immer – Verbindliches oder gar Normen in Sachen Religion ausspricht, nicht geben kann. Das aber klingt doch recht unwahrscheinlich. Von ganz vereinzelten Beispielen abgesehen sind religiöse Haltungen auf die eine oder andere Weise auf Gemeinschaften bezogen. So verhält es sich etwa dort, wo die Kommunikation des Glaubens explizit durch Normen geregelt ist, wie etwa im Lehramt der römisch-katholischen Kirche oder evangelisch mit dem
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Gedanken, dass Bekenntnisse eine erste sortierende Antwort auf das Evangelium sind, die ihrerseits eine zwar abgeleitete und relative, aber doch eine normierende Wirkung haben. Aber auch Gemeinschaften, die ein Lehramt und/oder normative Texte für sich ablehnen, entwickeln kommunikative Standards – von mehr oder weniger eingespielten Gewohnheiten bis hin zu expliziten Machtordnungen –, mit denen sie ihre Angelegenheiten regeln. Ein strikt fideistischer Gedanke widerspricht außerdem den Anmutungen all derjenigen Religionen, die explizite verbale Äußerungen über ihre Glaubensinhalte kennen. Das ist bei christlichen Glaubensbekenntnissen der Fall, nicht minder beim muslimischen Glaubensbekenntnis, der Schahada. Es macht sogar eine explizite Existenzaussage – »dass es keinen Gott außer Allah gibt« –, und widerspricht so einer rein fideistischen Konzeption. Wie Glaubensbekenntnisse ihre Wirklichkeitsunterstellungen lancieren, ist damit noch nicht gesagt, wohl aber, dass sie es tun. Diesem Bereich gilt im Folgenden die Aufmerksamkeit. Ich argumentiere dabei zunächst dafür, dass Glaube in der Tat mit geläufigen Formen des Wissens nicht verglichen werden kann. Das hat auch Folgen dafür, wie religiös-Sein gelehrt und weitergegeben wird. Dann folgt der Blick auf die Eigenart religiöser Wahrheitsansprüche: Sie zeigen sich nicht als ›Wissen über höhere Gegenstände‹, sondern als grundlegenden Perspektivwechsel auf die (scheinbar) vertraute Welt. Der dritte Unterabschnitt erörtert, warum es sich gerade deshalb um benennbare Wahrheitsansprüche handelt. Den Schluss macht eine kurze Reflexion, die diese Bestimmungen mit den Grundanliegen der Negativen Theologie vermittelt. Zwei methodische Bemerkungen: (1) Das Gespenst des Fideismus wandert durch zahllose Aufsätze und Bücher zur Religionsphilosophie. In nachgerade allen Fällen, auch im Fall des vorliegenden Bandes, dient es zur Markierung einer Position, die explizit nicht bezogen werden soll. Daran ist zunächst nichts auszusetzen, weil anfängliche Klarheit oft durch die Abweisung einer anderen Position entsteht. Man muss aber deutlich sagen: In der von Autoren/innen verschiedener Couleur abgelehnten Form wird der Fideismus von niemandem vertreten, auch nicht von dem Autor dem das besonders oft nachgesagt wird, von Dewi Z.
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Phillips (1934–2006). (Phillips 1993, 1−9; Phillips 2006) (2) Die Erwägungen dieses Kapitels gehören nicht in den konstruktiven Bereich der Religionsphilosophie, in dem im vorliegenden Band vor allem die argumentative Leistungsfähigkeit der Negativen Theologie vorgestellt und diskutiert wurde. Sie sind vielmehr ein Stück kritischer Hermeneutik von Religion und damit dem zweiten Teilbereich der unter Kap. 10.d genannten Kurzgliederung zugehörig. Schon wegen der Herkunft und der Konfession des Verfassers ist eine Konzentration dieser hermeneutischen Fingerübung auf das Christentum evangelischer und europäischer Prägung nicht zu vermeiden.
a) Religiös-Sein als qualifiziertes Nichtwissen in Bezug auf Unabweisbares Religiös-Sein ist kein Gegenstandsbezug Religion hat es, so eine der Bestimmungen aus dem vorigen Kapitel, mit ›transpragmatischen Sinnbedingungen‹ zu tun. Damit ist gemeint, dass es Bereiche und Erfahrungen im Leben gibt, die für die Gestaltung des Lebens von großer Bedeutung sind, die aber trotzdem nicht zum Gegenstand werden können. Die Gegenprobe dazu fällt deutlich aus. Man muss nur versuchen, sich vorzustellen, dass nur das Geltung beanspruchen dürfte, was man klar sehen, messen, wiegen und benennen könnte. Wegfallen müsste alles andere, alles nur Ahnbare, das Vage, das Ungefähre, das, was ungeplant zustößt, usw. Zuerst ist das ein bestrickender Gedanke, weil er Klarheit und Sicherheit verspricht. Nicht im Nebel, in der Klarheit soll das ausgemacht werden, was gelten darf. Es ist ein aufklärerischer Gedanke, der auch die großen Aufklärer des 18. und des frühen 19. Jahrhunderts zu Klarheitsgewinnen angespornt hat. Die emanzipatorische Kraft der historischen Aufklärung und dieses Gedankens sind wohl kaum bestreitbar. Setzt man freilich allein auf ihn, dann wäre eine enorme Engführung die unausweichliche Folge. Die vielfältigen Bereiche des Unbenennbaren und Unbestimmbaren müssten konsequent ignoriert und für unwesentlich erklärt werden. Das gälte z.B. für die irritierende Frage, die fast jedes Kind einmal bewegt: Warum eigentlich bin ich da? Und: Ohne das Aufeinandertreffen meiner Eltern wäre ich überhaupt nicht da! – Unzählige weitere Fragen
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sind denkbar, und sie alle haben es mit den nicht messbaren Rändern dessen zu tun, was sich klar benennen lässt: Tag und Nacht, Geburt und Tod, (Anfang, Bestehen und Ende der) Liebe, Sexualität, Macht, Widerfahrnisse … die Aufzählung lässt sich verlängern. Es sind Erfahrungsbereiche wie diese, die nach Orientierung verlangen und von deren Gestaltung entscheidende Impulse für die Lebensorientierung ausgehen – womöglich auch für das, was mit dem heiklen und überfrachteten Wort ›Sinn‹ bezeichnet wird. Wie aber soll man diese Erfahrungsbereiche näher beschreiben? Denn Gegenstände sind sie ja offenkundig nicht. Liebe etwa ist kein Ding, das jemand hat, vielmehr verhält es sich umgekehrt: Jemand – oder, wenn wir von der Liebesbeziehung sprechen, idealerweise ein Paar – ›wird gehabt‹, weil die beiden sich in dieser Beziehgung vorfinden, die sie mit Beschlag belegt und die verlangt, dass das Leben und die anderen Prioritäten an ihr ausgerichtet werden. Die für die Bestimmung ›dies und jenes ist ein Objekt, ein Ding‹ nötige Distanz ist geradewegs nicht vorhanden. Und doch käme niemand auf die Idee zu sagen, dass Phänomene wie das Verliebtsein nicht wirklich und also nicht vorhanden seien. Offenkundig gibt es eine Vielzahl von x, aber es ›gibt‹ diese x nicht so, wie es Bleistifte, Häuser und Planeten gibt. In einer berühmt gewordenen Formulierung hat Ludwig Wittgenstein das als Paradox auf den Begriff gebracht. Als Beispiel für den genannten Phänomenbereich beschäftigt er sich mit dem Auftreten von Schmerz. Offenkundig ist Schmerz kein Ding, doch würde niemand, der Schmerzen leidet, sagen, er sei deshalb irreal. Wittgensteins Formulierung heißt: Die Schmerzempfindung ist »kein Etwas, aber auch nicht ein Nichts!« (Wittgenstein 304, vgl. die eingehende Analyse bei Schneider 78–92) Das ist eine gleichermaßen irritierende wie sprechende Formulierung. Irritierend, weil sie anscheinend nicht weiter führt. Einsehbar ist ja, dass die gemeinte Empfindung (und die Erfahrungsformen, um die es im hiesigen Zusammenhang geht) in der Tat nicht dinghaft sind. Aber mit »auch nicht ein Nichts!« verweigert Wittgenstein ja anscheinend die Antwort auf die langsam dringliche Frage, um was, bitte, es sich denn nun handeln möge.
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Genau an diesem Punkt aber zeigt sich die entscheidende Erweiterung und damit das Sprechende der Formulierung: Wer nach einer geschickteren Gegenstandsformulierung fragt, also das ›etwas‹ benannt haben will, wird niemals eine Antwort erhalten, und zwar, weil in diesen Sachbereichen die Frage nach einem ›etwas‹ einfach falsch gestellt ist. Aufs Religiöse übertragen ergibt sich: Es geht nicht darum, ein bestimmtes Feld von erfahrbaren Dingen aufzusuchen, die religiös genannt werden können, so wie andere vielleicht ästhetisch, sportlich oder musisch sind. »Das Religiöse an der religiösen Erfahrung ist kein besonderes ›Sinnesdatum‹.« (Schneider 51) Denken, das in der Welt nur Gegenstände und Verbindungen von Gegenständen kennt, ist offenbar falsches und reduziertes Denken. Ein Nebeneffekt dieser Klarstellung ist, dass religiöse Erfahrung auch nicht als Erfahrung übersinnlicher Dinge bezeichnet werden sollte. Wer meint, Religion bezöge sich auf Erfahrungsgegenstände, wie alltägliche Erfahrung das auch tut, nur seien diese Gegenstände eben unsichtbar, ›feinstofflich‹ (ein in der Esoterik beliebter Terminus) oder überirdisch, nimmt das unterscheidend Religiöse gerade weg, weil er religiöse Erfahrung und Dingerfahrung einander angleicht. Das gilt einerseits für Religionskritiker, die meinen, religiöse Menschen würden eine solche Überwelt imaginieren, die aber – so jedenfalls der Religionskritiker – nicht existiert. Es gilt aber genauso für Vertreter von Religionen, die von den Anhängern der Religion die Anerkenntnis fordern, dass solche Überwelten und ihr Inventar existierten. Dies wird gern mit der Meinung kombiniert, es gebe spezielle Erfahrungstechniken für diese Überwelten, christlich etwa das Reden in Zungen. – Ich bestreite nicht, dass dies eine Form religiöser Erfahrung sein kann. Falsch wird die Sache nur, wenn sie zur Bedingung authentischer Religiosität gemacht wird, weil anders die übersinnlichen religiösen Entitäten nicht erfahrbar sein könnten. Wer so denkt, ist auf einen ganz eindimensionalen Empirismus bereits hereingefallen und hat ihn auf den Bereich von Sinn, Orientierung und Religion ausgedehnt, statt ihn in seine legitimen Schranken zu verweisen.
Ein handfestes Risiko dieser Bestimmung Sind wir so weit, könnte man gleichsam befreit loslegen. Es ist klar, dass religiöse Erfahrung eine Erfahrung eigenen Typs ist und dass es nicht wohlgeraten sein kann, auf Erfahrungen dieses Typs
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zu verzichten – wer wollte schon in einer Welt leben, in der es nur Bezüge zu Dingen gäbe? Freilich geht damit ein Risiko einher. Wenn Religion überall da ist, wo es um nichtgegenständliche Erfahrung geht oder gehen kann, dann lässt sich der Eindruck völliger Beliebigkeit nicht vermeiden. Denn jeder und jede wäre ja aufgefordert, sich im eigenen Lebensumfeld nach Settings solcher Erfahrungen umzusehen, und es ist wenig Phantasie erforderlich, um zu vermuten, dass man an allen möglichen Orten fündig werden kann. Kann das aber gemeint sein? Eine Intuition scheint sich doch dagegen zu sperren. Freilich ist Intuition noch nicht Argument, so dass dem wenigstens kurz nachgegangen werden muss. Johann Wolfgang von Goethes (1749–1832) tragischer Held Dr. Faust brachte die Sache auf den Punkt, als er auf die Frage seines angebeteten Gretchens, wie er es denn mit der Religion halte, antwortete: »Nenn’s Glück! Herz! Liebe! Gott! Ich habe keinen Namen dafür!« (Goethe 109) Gretchens prompte Reaktion war, dass das ja wohl kein Christentum sei. Damit war der Beliebigkeitsvorwurf bereits ausgesprochen. Goethe selbst nahm ihn gelassen entgegen und war einer nicht ans Christentum gebundenen Religiosität zugeneigt, die pantheistische Züge trug. Freilich fand und findet sich eine betont weite Eröffnung des religiösen Feldes auch bei Denkern, die dem Christentum viel näher standen und sogar werbend und erklärend für es eintraten. Friedrich D.E. Schleiermacher (1768–1834) schrieb in einem frühen Werk den provokanten Satz: »Mir ist alles Wunder«. (Schleiermacher 90) Er wandte sich damit gegen ein enges und in seinen Augen kurioses Wunderverständnis, das für ein Wunder eine eindeutig übernatürliche Ursache fordert. Vielmehr: Es gibt überall in der alltäglichen Wirklichkeit Begegnungsqualitäten vom oben beschriebenen Sinne. Warum sollte man sich ihnen verschließen und Wunder nur in diesem engen, rationalistischen Sinne erwarten? Mit seiner Provokation hat Schleiermacher nicht wenig Aufsehen erregt, durchaus bei denen, die dem Christentum fern standen und nun hörten, dass ein Theologe ihnen ein so allgemeines Verstehensangebot in Sachen Religion machte. Heftiger noch war die Reaktion auf christlicher Seite: Verrät, wer Religiosität in ei-
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nem so hoch allgemeinen Sinn versteht, das Christentum nicht an die Beliebigkeit? Schleiermacher selbst wusste das nur zu genau. Das eben zitierte Buch, die ›Reden über die Religion an die Gebildeten unter ihren Verächtern‹ von 1799, wandte sich bewusst an ein nichtkirchliches Publikum. Freilich gab er sich als Vertreter des Christentums zu erkennen und verstand sein Buch explizit als Hinführung zum Gottesglauben der Christen. (Schleiermacher 161ff) Der möglichst breit gestreute Anfang hat hier also die Funktion, einladend zu wirken, soll jedoch nicht für sich allein stehen bleiben. Es kann auch anders herum gehen: So hat etwa das nationalsozialistische Unrechtsregime in Deutschland seine Faszination teilweise auf religiösem Wege entfalten können. Im Rückgriff auf das, was man für ›völkische‹ oder ›artgerechte‹ Religion hielt, wurden Mythen neu zum Leben erweckt, wobei historische oder philologische Genauigkeit keinerlei Rolle spielte. Es handelte sich um kurzlebige Neureligionen, die jedoch in Gedanken und Praktiken auf der äußersten rechten Seite des politischen Spektrums auch unserer Tage durchaus Nachahmer finden. Dieses finstere Beispiel allein kann die Sache nicht diskreditieren, weil immer noch gilt, dass der Missbrauch einer Sache ihren legitimen Gebrauch nicht dementiert. Er macht aber durchaus deutlich, dass die Neigung etablierter Religionen, den Erfahrungsbereich dessen, was sie als ihnen zugehörige Religiosität beschreiben, benennen und auch eingrenzen zu können, durchaus etwas für sich hat. Mit dieser Feststellung ist keine Prärogative für eine bestimmte Religion verbunden, wohl aber die Einsicht, dass diesbezügliche Vereindeutigungen sinnvoll sein können und nicht (nur) auf Machtinteressen von Eliten zurückgehen müssen. Unvertretbarkeit und indirekte Mitteilung Bereiche, in denen Erfahrungen gemacht werden, die aber nicht Gegenstandserfahrung sind, haben eine Eigenart, die noch kurz angesprochen werden muss: Ihr Unterschied zu typischen Gegenstandserfahrungen ist, dass sie nicht vertretbar sind. Im Bereich
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der Gegenstandserfahrungen gilt – einigermaßen verlässliche kommunikative Verhältnisse vorausgesetzt –, dass Gegenstandserfahrungen gespeichert, transportiert und berichtet werden können. So haben bislang etwa nur sehr wenige Menschen die Erde von der Oberfläche des Mondes aus sehen können. Diese optische Gegenstandserfahrung erster Hand bleibt derzeit zwölf Astronauten der erfolgreichen Apollo-Missionen zwischen 1969 und 1972 vorbehalten. Und doch sind die Fotos von der hinter dem Mond aufgehenden Erde derart bekannt, dass die meisten Leserinnen und Leser dieser Zeilen sie unwillkürlich vor Augen sehen werden. Abermillionen von Menschen kennen diese Bilder und haben allen Anlass, sie für wahre Darstellungen zu halten, obwohl die Originalerfahrungen dazu nur von gerade einmal einem Dutzend Menschen gemacht wurden. Anders ist es jedoch mit den nichtgegenständlichen Erfahrungen. Sie entziehen sich der Speicherbarkeit und sie können entsprechend auch nicht weitergegeben und unter Rückgriff auf das Speichermedium von Dritten geteilt werden. Das lässt sich mit dem eben gegebenen Mondbeispiel auch deutlich machen: Einer der Astronauten könnte beispielsweise sagen, dass der Blick vom Mond zur Erde ein existenzielles Widerfahrnis von großer Erhabenheit und Wucht gewesen sei, das ihn nachhaltig beeindruckte und prägte. Das Foto hingegen könne dieses Erlebnis niemals wiedergeben und auch nicht bei anderen als seinen elf Kollegen vergleichbare Empfindungen auslösen. – Diese Aussage dementiert nicht, dass der optische Eindruck auf wahre Weise wiedergegeben werden kann. Wohl aber sagt sie, dass es zusätzlich zu dem abbildenden Aspekt noch weitere Bereiche gegeben hat, die man als existenzielles Widerfahrnis beschreiben kann. Sie haben mit einem Gegenstand zu tun – hier: die Erde und ihr Trabant in radikal ungewöhnlicher Konstellation –, aber sie sind selbst nicht dieser Gegenstand. Und aus präzise diesem Grund sind sie je persönlich, unvertretbar und können nicht gespeichert und weitergegeben werden. Nicht-Astronauten mag es vergleichbar gegangen sein, wenn sie nach einem besonders berührenden Konzert den dort gemachten Live-Mitschnitt erwarben und feststellen mussten, dass das auratische Moment des Konzerterlebens vom
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Mitschnitt nicht transportiert wird – womöglich gefährdet er es im Rückblickserleben sogar. Diese Unterscheidung zwischen Gegenstandserfahrung und nichtgegenständlichem Erlebnis bildet sich auf die Frage nach religiösen Erfahrungszusammenhängen wieder ab und spielt entsprechend für die Frage nach den Wahrheitsansprüchen von Gottesbezug und Religion eine wichtige Rolle. Zu diesem speziellen Wahrheitsanspruch gehört, dass er unverfügbar und unvertretbar ist. Dergleichen muss widerfahren, ohne dass man es herstellen kann, auch ist die Perspektive der ersten Person unüberspringbar. Wenn aber nun, wie vor allem im vorigen Kapitel argumentiert, Religion ein gemeinschaftliches Phänomen ist, dem Symbolvorrat einer gemeinsam gesprochenen Sprache vergleichbar, dann stellt sich allerdings die Frage, wie die Gemeinschaftlichkeit von Religion einerseits und die hier skizzierte individuelle Unvertretbarkeit andererseits zusammenpassen sollen. Die Antwort auf sie hat zwei Teile. (1) Den Anfang macht die Erinnerung an eine wichtige Bestimmung aus Kap. 10: Religionen sind nicht von der Art, dass sie bestimmte Erfahrungen voraussetzen, sie gleichsam als Eintrittsbedingung vorschreiben. Vielmehr strukturieren sie die Welt und Wahrnehmungsweise ihrer Mitglieder so, dass sich für sie die Möglichkeit bestimmter Erfahrungen allererst eröffnet. Ein Buddhist etwa wird auf die streng ungegenständliche Erfahrung seiner Meditationspraxis verweisen. Und zugleich wird er sagen, dass ihm diese nicht einfach so in den Schoß gefallen sei, sondern ihm vielmehr im Kontext langer Meditationspraxis und auch Unterweisung zuwuchs. Der Interpretationsrahmen ›Buddhist sein/werden‹ war es demnach, der das Zukommen solcher Erfahrung möglich machte. Inhaltlich sehr anders aber formal vergleichbar könnte eine Christin sagen, dass die diakonische Praxis, zu der sie sich gerufen fühlt, nicht Vorbedingung ihres Christseins war, sondern sich als sinnvoll und naheliegend im Rahmen des Christinseins/Christinwerdens herausstellte. Weil es der interpretative Rahmen ist, der Erfahrungsbereiche allererst eröffnet und freilegt, steht die Unvertretbarkeit der nicht auf Gegenstände bezogenen Erfahrung in keinem Widerspruch zum sozialen Charakter von Religion.
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Man wird sogar behaupten dürfen, dass die beiden einander bedingen. (2) Freilich sind diese Erfahrungen nicht lehrbar. Es kann allenfalls zu ihnen eingeladen werden. Das Gegenstück dazu wäre ein doktrinäres Verständnis von Religion, welches behauptet, die Wahrheit von Religionen wäre in Sätzen abspeicherbar. Solche doktrinären Verständnisse gab es durchaus, etwa im sog. Neuthomismus. Nicht wenige katholische Theologen im 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jh. stellten sich eine gewisse Zahl von wahren Obersätzen vor, aus denen die Theologie dann die zugehörigen Ableitungen zu ziehen habe. Doch bereits zur Blütezeit des Neuthomismus und erst recht seit dem II. Vatikanischen Konzil (1962–1965) wurde dies doch sehr enge Satzwahrheitsverständnis von Religion bestritten und spielt in der gegenwärtigen katholischen Theologie allenfalls als zu kritisierender Gegner eine Rolle. Wenn es so also nicht geht, dann bleibt in der Frage der Weitergabe religiöser Einstellungen nur das Verfahren der indirekten Mitteilung. Erfahrungszusammenhänge selbst sind nicht lehrbar, aber es kann auf sie hingewiesen und zu ihnen eingeladen werden. Der für Religionsphilosophie mit Nähen zur evangelischen Theologie hierfür wichtigste Name ist der von Søren Kierkegaard. (1813–1855) Kierkegaard betont in seinem ganzen Werk, dass Christsein nicht eine theoretische Haltung sondern eine Lebensweise ist. Den Satz, »daß Glaube keine Erkenntnis ist«, (Kierkegaard 75) begründet er damit, dass Erkenntnis entweder auf rein historische Gegenstände aus sei oder aber auf das schlechthin Unhistorische, nämlich ewige Gegenstände. Die paradoxe Behauptung des Christentums nun ist, dass Ewigkeit und Geschichte zusammenkommen. Dem ist (theoretische) Erkenntnis nicht gewachsen: »Nun ist das Christentum keine Lehre, sondern drückt einen Existenz-Widerspruch aus und ist eine ExistenzMitteilung.« (Kierkegaard 550) Der Unterschied ist dann dieser: »Daß man wissen kann, was Christentum ist, ohne ein Christ zu sein, muß also wohl bejaht werden. Etwas anderes ist es, ob man wissen kann, was Christsein ist, ohne es zu sein, was verneint werden muss.« (Kierkegaard 541f)
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In Kierkegaards Schriften treten deshalb immer wieder Personen auf, die den Autor pseudonym vertreten. Ihre Funktion ist es, den Leser in ein Gespräch über dessen eigene Existenzweise zu verwickeln, weil er nur auf diesem indirekten Weg der Wahrheit des Glaubens nahekommen kann. Dieses dialogische Moment, das von Kierkegaard in die neuzeitliche Philosophie eingebracht wurde, wird in der dialogischen Philosophie programmatisch durchgeführt und zugleich reflektiert. Berühmt geworden ist eine Basis-Unterscheidung Martin Bubers: (1878–1965) Nach ihr kann man sich zu anderen und anderem in der Welt mittels zweier Grundworte verhalten. Das eine Grundwort heißt ›ich-es‹ und bezeichnet eine Gegenstandsbeziehung. Das andere heißt ›ich-du‹ und meint die Beziehung zu einem lebendigen Gegenüber. Sie erst lässt Personen zu Personen werden. Auch verweist sie auf einen tieferen Grund: Weil echte Begegnungsmomente rar sind und nicht hergestellt werden können, eignet ihnen Widerfahrnischarakter und damit eine religiöse Komponente: »Jedes geeinzelte Du ist ein Durchblick zum … ewigen Du.« (Buber 72) Emmanuel Levinas (1905–1995) nimmt diesen Faden auf. Er stellt das Phänomen des Antlitzes eines Menschen in den Mittelpunkt. Ohne dass ein Wort gesprochen werden müsste, sagt das einem Menschen gegenüberseiende Antlitz zugleich die Verletzlichkeit und den unendlichen Wert dieses Menschen aus. Dies Phänomen ist nicht herstellbar, zugleich aber ist es von bestrickender Eindeutigkeit. Weil sich hier ein letztgültiger Sinnhorizont zeigt, nennt Levinas solche Erfahrungen mit einem programmatischen Buchtitel »Wenn Gott ins Denken einfällt«. (Levinas, bes. 150–171) – Beide, Buber wie Levinas, betonen, dass die dialogische Situation eine Sondersituation ist, die im Getriebe des Alltags zu leicht verloren gehen kann. Entsprechend ist die gelingende indirekte Mitteilung der Ausnahme- und nicht der Regelfall, was gegen die Versuche, Religion zu etwas Handhabbarem zu erklären, ins Feld zu führen ist.
b) Transzendenz als Gestaltwandel Religionen leiten zu Erfahrung an, die nicht Erfahrung von Gegenständen ist; sie tun dies im Rahmen ihrer je eigenen Grammatik als relativer Bestimmtheitsgewinn in Bereichen, die sich der Kontrolle dauerhaft entziehen; Religion kann nicht gelehrt werden, wie Gegenstandswissen gelehrt wird, wohl aber kann zum Erkunden der Lebensperspektive einer Religion angestiftet werden. – Gesetzt, dies ließe sich so behaupten, dann wird die
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Frage unausweichlich, was denn nun eigentlich mit Menschen geschieht, die sich in einer Religion vorfinden und/oder den Bezug auf Gott für sich behaupten. Um die Wahrheitsansprüche von Religion und Gottesbezug zu beschreiben, ist hierauf eine Antwort erforderlich. Die theologische und religionsphilosophische Tradition sagte, dass religiös zu sein mit Gott in Kontakt bringt. Dafür hat sich auch der Begriff ›Transzendenz‹ eingebürgert. In etwa diesem Sinn wird er in der Rede von den drei Transzendenzen im Rahmen der Negativen Theologie (s.o. Kap. 3.b) verwendet. Es geht um den Bezug auf ›etwas‹, was zugleich über den, der diesen Bezug erlebt, prinzipiell hinaus ist und sein Gegenstand niemals werden kann. Mitgesetzt war dabei, dass solche Transzendenzerfahrung sinnhaltig ist und Orientierung aus sich heraussetzt. Was allerdings geht dabei vor? Der Philosoph Hans Julius Schneider (*1944) schlägt vor, vom Gestaltwandel zu sprechen. Sein Argument beginnt mit einem bereits vertrauten Zug: Transzendenzerfahrung ist nicht die Erfahrung ›höherer Gegenstände‹. Auch wenn vor allem Religionskritiker dies gern unterstellen, geht es in Religion nicht darum, zusätzlich zu der für alle sichtbaren Welt noch eine weitere zu denken und deren Inventar für gegeben zu halten. Vielmehr ist der Transzendenzbezug – in sich nicht gegenständlich – von der Art, dass die zuvor vertraute Welt zu einer anderen Welt wird. Religiös-Sein heißt vor allem, zu einer neuen und anderen Sicht der Welt zu gelangen. Das nennt Schneider »Gestaltwandel statt Ausdehnung des Bereichs«. (Schneider 153) Religionen bieten ein Sinn- und Orientierungsgerüst, das die scheinbar vertraute Welt in einem neuen, anderen und hilfreichen Licht erscheinen lässt. Bewusst vorsichtig formulierend kann man sagen, »›das Ganze‹, um das es in der Religion gehe, sei die ›Sicht‹ auf alles einzelne, die ›Färbung‹ oder ›Beleuchtung‹, in der alles Besondere erscheine. Wenn wir diese Sprechweise benutzen, dann haben wir in dieser ›Sicht‹ oder ›Färbung‹ nicht einen weiteren Gegenstand vor uns, einen ›jenseitigen‹ (z.B. einen ›himmlischen‹) Gegenstand, der dadurch neben oder über den Alltagsdingen sichtbar werden würde, dass wir unser begrenztes Blickfeld raumzeitlich bis in eine ferne, geheimnisvolle Welt
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ausdehnen würden. Wir bleiben vielmehr, was die Gegenstände angeht, in der uns vertrauten Welt (…) Diese Metaphorik ist so angelegt, dass man nicht etwas Neues sieht (obwohl dies in ›esoterischen‹ Kreisen manchmal so missverstanden wird), sondern dass man das, was man schon immer gesehen hat, anders sieht: klarer, deutlicher, schärfer; ein Schleier wird fortgezogen; es fällt einem wie Schuppen von den Augen; alles erscheint neu.« (Schneider 160f)
So kann es etwa im Rahmen der ersten von Thomas Rentsch beschriebenen Transzendenz geschehen: Wer innewird, wie erstaunlich und unvordenkbar es ist, dass überhaupt etwas ist und nicht vielmehr nichts, für den kann das zu der unmittelbaren Einsicht führen, dass die ihn umgebende Welt nicht ›einfach da‹ ist, sondern ihm geschenkhaft zukommt, er sich an ihr freuen und für sie dankbar sein darf. Das Inventar der ihn umgebenden Welt ist dadurch nicht anders geworden, und doch ist es eine andere Welt für ihn. (Christliche Theologie wird diese Transzendenzerfahrung im Rahmen ihrer Schöpfungslehre weiter ausbauen und hat ihr Ziel in der Tat in der geschöpflichen Haltung der Dankbarkeit und Solidarität.) Ein weiteres Beispiel lässt sich aus der christlichen Gnadenbzw. Rechtfertigungslehre gewinnen. Sie setzt, dass Gott Menschen unverdient gerecht spricht. Widerfährt dies jemandem, dann ändert sich seine Wahrnehmung seiner selbst und zumeist auch der Menschen um ihn herum: Aus den Konkurrenten um Nahrung, Fortkommen und Glück werden die, die mit ihm gerechtfertigt sind und also die, die in der – manchmal etwas abgedroschenen – Kirchensprache seine Brüder und Schwestern sind. Die Liste der Beispiele ist lang und würde umstandslos in eine Durchmusterung der theologischen Dogmatik führen. Immer wieder würde sich zeigen, dass es nicht um ein Entdecken höherer Gegenstände geht, sondern darum, dass das vorgeblich Vertraute in einem neuen, überraschenden Licht erscheint. Schneider weist völlig zu Recht darauf hin, dass die philosophische und theologische Tradition hier sehr häufig mit der Metapher des Lichts gearbeitet hat. (Schneider 161) Platons Philosoph (s.o. Kap. 2.a) tritt, als er die Wahrheit über die Dinge erfährt, aus der Höhle ans Licht und im Buddhismus wird beim Entscheidenden von ›Erleuchtung‹
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gesprochen. Als nichtreligiöses Beispiel könnte man noch ergänzen, dass Immanuel Kant in Bezug auf seine entscheidende philosophische Entdeckung, die er auf 1769 datierte, notierte: »Das Jahr 69 gab mir großes Licht«. (Kant 69) Er hatte nicht plötzlich vorher unbekannte ›philosophische Dinge‹ entdeckt, vielmehr änderte sich seine Sicht auf vertraute Dinge und Problemlagen radikal. Greifen wir die in Kap. 10.b vorgestellte Theorie von Religion als Lebensform auf, dann lässt sich sagen: Religionen sind von der Art, dass ihr semantisches Potenzial eine neue und geschenkhafte Sicht auf Welt und Mensch ermöglicht. »Sie helfen, die Relevanz oder Gewichtung der verschiedenen (…) Erfahrungen, die einem bevorstehen, richtig einzuschätzen und richtig damit umzugehen. Sie tun dies auf eine umfassende, das ganze Leben beleuchtende Weise (…).« Schneider 169) – Das ist der Grundgedanke von Transzendenz als Gestaltwandel. Er wird in der religionsphilosophischen und systematisch-theologischen Diskussion verschiedentlich diskutiert. Diesen Debatten sind noch (mindestens) vier erläuternde Aspekte zu entnehmen, die teils auch schon wieder in die kritische Diskussion führen. (1) Passivität: Weitgehend einig ist sich die Debatte, dass Erfahrungen des Gestaltwandels nicht willentlich erzeugt werden können. Sie sind ein Ereignis des Passivs und also ein Widerfahrnis. Es ist wohl so, dass man sich ihnen programmatisch verschließen kann, aber wer sie gleichsam ›mit Gewalt‹ hervorbringen möchte, dem dürfte es durchaus ebenso gehen, wie jemandem, der den Beschluss fasst, sich zu verlieben: Geschieht es nicht mit ihm, so geschieht es gar nicht. Diskutiert wird, ob man sich den Charakter dieser Erfahrungen situativ oder eher langwellig vorstellen soll. Die hier gegeben Beispiele lassen an kurzzeitige Ereignisse denken, aber es sollte klar sein, dass Wahrnehmungsveränderungen auch über lange Zeiträume geschehen. Grundlegende Einstellungen sind vermutlich von der Art, dass sie sich nur ganz selten in einem Nu ändern. Das jedenfalls legt auch die auf Thomas von Aquin (um 1225–1274) zurückgehende Tradition nahe, die diese Basiseinstellungen habitus nennt und annimmt, Gottes Einfluss auf sie sei etwas, was das ganze Leben lang anhält und nicht nur momenthaft ist.
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(2) ›Ort‹ als weitere Leitmetapher: Dieselbe Sache, die hier mit der Metaphorik von Färbung, Beleuchtung und Licht eingeführt wurde, kann auch mit der Metaphorik von ›Raum‹ oder ›Ort‹ benannt werden. Ingolf U. Dalferth fasst es in einer theologischen Argumentation so: Die Perspektive des Glaubens ist unbeweisbar und der Glaube selbst unerzwingbar, aus menschlicher Perspektive schlicht zufällig. Glaube ist ferner keine Bestimmung neben anderen wie etwa Vernunft, Wille, Gefühl oder Erleben. Er ist eine Existenzbestimmung, der den ganzen Menschen mit all seinen Bestimmungen loziert, am Ort des Glaubens oder am Ort des Unglaubens. Die Aussage ›ich glaube‹ ist nicht im Sinn von ›ich denke, halte für wahr, will‹ zu verstehen sondern lokativ, also ›ich lebe im Glauben, ich lebe glaubend‹: »Wer glaubt, führt sein Leben am Ort der Gegenwart Gottes so, dass es durch diese Gegenwart orientiert und positiv bestimmt wird.« (Dalferth 2008, 326) – Diese Bestimmung hat in einer Überlegung des katholischen Theologen Hans-Joachim Sander (*1959) ein interessantes Gegenstück: Sander kritisiert die Idee des klassischen Theismus, man könne Gott durch eine Bestimmung seiner Eigenschaften zureichend beschreiben. Diese Versuche setzen voraus, man könne in Sachen Gottesbegriff mit der wer-Frage zum Ziele kommen. Theologisch muss man aber nach den Orten der weltlichen Antreffbarkeit Gottes fragen, also die wo-Frage stellen. Regelmäßig ist das dann ein Ort, an dem nach dem Menschen selbst als dem von Gott Angesprochenen gefragt wird. (Sander 41–71) (3) Religion/Glaube als Urteilskraft: Die großen Gotteslehren der rationalen Theologie setzen voraus, dass Gott ein Gegenstand der theoretischen Vernunft sein kann. Das freilich führt in Aporien. Neben den bereits erörterten konzeptionellen Problemen ist es eine grundlegende Schwierigkeit des Theismus, in theoretischer Hinsicht auf Gottes Existenz allein fixiert zu sein und den damit verbundenen Erfahrungs- und Lehrkontext abzublenden. (Dalferth 2003, 329–332) Als Gegenstück wurde im vorliegenden Kapitel als nichtgegenständliche Erfahrung und als Gestaltwandel skizziert. Das legt die Rückfrage nahe, welche Art von Vernunft oder welches vernünftige Vermögen denn der Thematisierung Gottes angemessen sei. Mit Immanuel Kants drei Kritiken
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kann man zwischen theoretischer und praktischer Vernunft unterscheiden, also zwischen dem Vernunftvermögen, das auf Gegenstände geht und Schlussverfahren durchführt einerseits und dem, das vernunftgeleitet das rechte Handeln anleitet andererseits. Kant nennt als drittes Vernunftvermögen die Urteilskraft, also die Fähigkeit, Sinn- und Geschmacksurteile zu fällen und sich im Bereich des Ästhetischen zu bewegen. Legt man dieses Dreierschema zu Grunde, dann gehören Religion und Glaube am ehesten in den Bereich der Urteilskraft: (Dalferth 2010, XIII) Am Ort des Glaubens/der Religion geht es darum, sich und die Welt so zu sehen, wie es diese neu zugekommene Orientierung nahelegt. Das ist ein Erkundungs- und Urteilsvorgang. Das erstaunlich hartnäckige Vorurteil, die theoretische Vernunft müsse in Sachen Gott und Religion den Vortritt haben, ist also falsch. Es geht um lebensweltliche Orientierung. Praktische Lebensorientierung und theoretische Letztbegründung sind zweierlei, und weil Religion wesentlich Urteilskraft ist, ist die verblassenden Erklärungskraft der theistischen Systeme kein Alarmzeichen sondern vielmehr ein Gang in die richtige Richtung. (4) Implizite Realitätsunterstellungen: Dieser letzte Punkt weist bereits zum nächsten Unterkapitel. Zunächst unkommentiert zitierte ich oben die letzten Worte aus dem längeren Abschnitt bei Hans Julius Schneider: » … es fällt einem wie Schuppen von den Augen; alles erscheint neu.« (Schneider 161) Die nötige Rückfrage schließt an das vorletzte Wort an: Wieso eigentlich soll im Fall des Gestaltwandels alles nur neu ›erscheinen‹? Die Wortwahl macht zumindest die Rückfrage nötig, ob es sich beim neuen Licht auf die vertrauten Dinge oder beim Wechsel an den Ort des Glaubens lediglich um eine hilfreiche Sicht, eben um ein anders-Scheinen handelt, dem aber in der Realität nicht wirklich etwas entspricht. Ist an dieser Sachstelle nicht zumindest die Möglichkeit für den Verdacht, Religion sei eine womöglich hilfreiche Illusion, aber eben eine Illusion, nicht mit Händen zu greifen? Die Antwort auf diese Frage führt noch weiter in den Grenzbereich zwischen Religionsphilosophie und Theologie als es der Gedankengang des Kapitels ohnehin bereits tut. Zunächst, die Leitmetaphoriken sprechen eine eindeutige Sprache: In Platons Höhlengleichnis ver-
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lässt der Philosoph die Höhle und ihr Illusionstheater und sieht im gleißenden Licht die wahre Natur der Dinge. So, wie sie ihm außerhalb der Höhle auf schmerzliche Weise erscheinen, sind sie wirklich. Ein Platoniker hätte Schneiders Zitat mit »… alles ist neu.« beendet. Die beiden zitierten Theologen würden ihm zustimmen können. Der Ort des Glaubens ist real und es ist möglich, sich an ihm aufzuhalten und entsprechend die Dinge aus der Gottperspektive zu betrachten. Wo das geschieht, leben Menschen, theologisch gesprochen, in der Gegenwart Gottes. Debattiert würde allerdings, wie stabil der Aufenthalt von Menschen am Ort des Glaubens = der Gegenwart Gottes ist. Evangelische Theologen sind in dieser Sache aus Gründen, die hier nicht entfaltet werden können, meist skeptischer als ihre katholischen Kollegen, während diese sich diesbezügliche Stetigkeit und Wachstum vorstellen können. Ökumenische Debatten also beiseite: Auch von theologischer Seite ist mit dem Pochen auf die Wirklichkeit des Vorgangs zu rechnen. Religionsphilosophie hat an dieser Stelle nicht zu entscheiden, sondern wesentlich zu beschreiben und zu verstehen. Es gibt (mindestens) zwei Sichtweisen auf dasselbe Phänomen, die mit und die ohne Gestaltwandel, die am Ort des Glaubens und diejenige, die nicht am Ort des Glaubens stattfindet. Diese Vorgänge kann man verstehen und würdigen. Die Entscheidung aber, ob Gestaltwandel/Ort des Glaubens wahr ist, kann von neutraler Seite nicht getroffen werden, weil sie von der Perspektive dessen, um dessen Sichtweise es geht, nicht abstrahieren kann. Dass dergleichen möglich ist, kann man sich religionsphilosophisch denken. Dass es aber der Fall ist, ist eine Aussage, die ohne die Perspektive der ersten Person nicht zu treffen ist, auch wenn sie in ihr allein nicht aufgeht. Entsprechend wird die Realitätsunterstellung ›Gestaltwandel/Ort des Glaubens ist real‹ aus seiner Perspektive sehr wohl gemacht, es gibt aber den neutralen Blick von außen nicht, mit dem sie verifiziert oder falsifiziert werden könnte.
c) Interner Realismus Wer einer Religion angehört, behauptet, Wahres zu sagen und in der Wahrheit zu sein. Er tut dies aber nicht als abstrakte Wahr-
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heitsunterstellung der theoretischen Vernunft, sondern im Rahmen der Lebensorientierung, die Religion darstellt. Dies Ergebnis des letzten Unterkapitels soll abschließend noch einmal aufgegriffen werden: Was also behauptet der Bezug auf Gott als wahr, und wie tut er es? Die Antwort lässt sich gut konturieren, indem eine kritische Stimme zum hier vorgeschlagenen Modus der Religionsphilosophie zu Wort kommt. Ich behaupte ja, dass Negative Theologie die legitime Erbin des philosophischen Theismus ist, und dass dies mit einem Religionsverständnis einhergeht, das diese als Lebensorientierung und spezifische Welterschließung versteht. Für den letzteren Schritt beziehe ich mich, vgl. Kap. 10.b, auf Theorien, die eine Religion in Analogie zu einer Sprache verstehen: Sprachen deuten und erschließen die Welt, sie bringen zu Gemeinschaften zusammen, ferner muss man sie selbst sprechen, um ihre Angemessenheit oder Unangemessenheit beurteilen zu können. Explizit an diesem zweiten Punkt, implizit aber durchaus auch an der Negativen Theologie setzt die Kritik derer an, denen das als eine weitgehende Verzichtshaltung erscheint und die demgegenüber die Haltung eines metaphysischen Realismus wiedergewinnen wollen. Stellvertretend für manche andere steht dafür der Titel eines Buches von Francesca Aran Murphy (*1960) »God is Not a Story«. Sie spielt damit auf den Umstand an, dass im Rahmen des hier beworbenen Religionsverständnisses das Erzählen eine große Rolle spielt. Religionen erbringen nicht theoretische Begründungsleistungen. Vielmehr ist ihre Sicht von Mensch und Welt in Erzählungen codiert, freilich nicht in irgendwelchen ›Geschichtchen‹, sondern in identitätstragenden Erzählungen. So kann man etwa die Bibel als komplexe Erzählung der Identität Israels und der Kirche und als Erzählung der Identität Gottes, wie er sich Israel, der Kirche und der ganzen Welt zugewandt hat, verstehen. Francesca Murphys Sorge ist nun diese: Wer eine Religion wie eine Sprache versteht und wer sagt, die Identität einer Person lasse sich in Geschichten erzählen, der sagt damit, dass die Identität der Person völlig in dieser Geschichte aufgeht. Überträgt man das auf Gott, dann ergibt sich aber: Die Vertreter dieser Theorie von Religion behaupten, dass Gottes Identität in einer
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Geschichte aufgeht. Dagegen protestiert sie, und der Titel ihres Buches ist sprechend gewählt. (Murphy 21–23 u.ö.) Die Sorge ist unbegründet, zugleich gibt sie zu einer Klarstellung Anlass. Dass die Identität einer Person nur zugänglich ist, indem sie von sich oder jemand anderes von ihr erzählt, ist das eine. Es macht klar, dass ›Person‹ mehr als das Exemplar der Gattung Mensch ist, das vor einem steht (wäre es anders, dann wären Menschen gleich Dingen). Aber, und damit zur Beruhigung dieser Sorge, der Umstand bedeutet doch nicht, dass ein Mensch in der Geschichte aufgeht, die von ihm erzählt wird! Zugänglichkeit ist eines, Existenz dann immer noch ein anderes. Das lässt sich bruchlos auf die Behauptung einer Religion, Gott existiere, übertragen. Das Credo der Juden und Christen etwa sagt, dass sich Gottes Identität in den Erzählungen der Erzelterngenerationen, der Befreiung Israels aus Ägypten, des prophetischen Einspruchs usw. zuverlässig gezeigt hat. Buchstäblich nichts in diesen Erzählzusammenhängen nährt aber die Befürchtung, Gott, der auf diese Weise zugänglich ist, sei mit dem Modus seiner Zugänglichkeit identisch. Religion, so verstanden, behauptet einen narrativen Zugang zu Gott. Sie behauptet aber einen narrativen Zugang zu – Gott. An einem weiteren Beispiel erläutert: Wer etwa das Vaterunser betet, behauptet, dass es den Adressat seiner Gebetsbitte gibt. Aber er behauptet das eben im und durch den Vollzug seines Gebets. Und damit behauptet er: (a) Gottes Existenz ist von ganz anderer Natur als die Existenz aller Dinge, weil er zu einem Ding niemals beten würde (die Basisüberzeugung des biblischen Monotheismus, passend zu der der Negativen Theologie); (b) Die Vaterunserbitten und Gottes Umgang mit ihnen wird den Beter selber betreffen und sein Leben zurechtrücken (die Basisüberzeugung von Religion als Lebensform und Gestaltwandel). Der Realismus, also die Behauptung, dass das Gebet einen Adressaten hat, der sich kenntlich gemacht hat, ist eindeutig und wird nicht ethizistisch oder sonstwie ›wegerklärt‹. Es wird allerdings gesagt, dass der Adressat des Gebets nur im Rahmen der Lebensform adäquat ansprechbar und antreffbar ist, unbeschadet diverser Vorformen, etwa in Gestalt der negativ-theologischen Grundoperation.
11. Die Wahrheitsansprüche
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Man könnte diese Position einen auf die Religionsphilosophie angewandten internen Realismus nennen. Der Terminus geht auf den Philosophen Hilary Putnam (*1926) zurück. Putnam wendet sich mit dieser Konzeption gegen einen Realismus, der sagt, dass Vernunft und Sprache die Dinge in der Wirklichkeit einfach abbilden würden. Weil Vernunft und Sprache aber geschichtlich sind und also Wandlungen unterliegen, muss mindestens an der Reichweite eines solchen Abbilddenkens gezweifelt werden. Außerdem ist – dieses Argument ist aus der Wittgenstein-Diskussion in Abschnitt b) bereits vertraut – die Welt nicht nur aus Sinnesdaten aufgebaut, wie der Abbildrealismus behauptet. Was als real angesehen wird, zeigt sich nur im Rahmen unseres Zugriffs und unserer Beschreibung: »›Gegenstände‹ existieren nicht unabhängig von Begriffsschemata. Wir teilen die Welt in verschiedene Gegenstände auf, wenn wir das eine oder andere Beschreibungsschema einführen. Da die Gegenstände und die Zeichen gleichermaßen bezüglich eines Beschreibungsschemas intern sind, wird es möglich zu sagen, was auf was paßt.« (Putnam 158f, vgl. 156–173) Die religionsphilosophische Interpretation besteht dann darin, diesen Gedanken nicht nur auf begriffliches Denken anzuwenden, sondern zu sagen, dass der Lebensvollzug Religion ein Begriffsschema im weiteren Sinne darstellt. In der englischsprachigen Diskussion ist dafür öfter von ›belief system‹ die Rede, was für religionsphilosophische Zwecke auch deshalb nützlich ist, weil die doppelte Bedeutung von belief als Überzeugung und Glaubensinhalt mit transportiert wird. Neigt dieser interne Realismus zur Selbstabschottung? Ja und nein. Ja, denn es finden sich in vielen Religionen Glaubenshaltungen, die sich zur Gänze in die erzählte Welt ihrer Religion hineinbegeben und darin ihr Genüge haben. Man wird dies nicht einmal nur kritisieren müssen, wenn denn zum Beispiel die Existenz eines buddhistischen Mönchs im Kloster Litang in der an Tibet grenzenden chinesischen Provinz Sichuan ein Eigenrecht hat, genauso wie das einer Schwester der evangelischen Kommunität auf dem Schwanberg in Franken. Die beiden leben auf sehr verschiedene Weise zur Gänze im belief system ihrer jeweiligen Religion und es ist durchaus nicht einzusehen, was an einer sol-
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chen Existenz schlecht sein sollte. Bedenken könnten allerdings entstehen, wenn man sich vorstellt, eine Religion insgesamt würde die Existenzweise des buddhistischen Mönchs bzw. der evangelischen Schwester wählen. Dann hätten wir es mit einem weitgehenden Ausfall von Kommunikation zu tun. Das wäre schon an sich bedenklich und könnte überdies gefährliche Folgen haben, denn wenn Gruppen und Kulturen nicht miteinander sprechen, gehen sie zu oft aufeinander los und sei es nur ideologisch. Die Fundamentalismen in allen großen Religionen geben leider ein überreiches Zeugnis dafür ab. Freilich, und damit zum ›nein‹ in der Antwort auf die Frage nach der Selbstabschottung: Aufgeklärter interner Realismus neigt überhaupt nicht zur Selbstabschottung. Denn er weiß ja, welche Voraussetzungen des Erkennens und des Lebensumgangs in Geltung stehen. Aus diesem Grund ist die religionsphilosophische Aufklärung dessen, wie Religion Wahrheitsansprüche anmeldet, mit der Verhinderung von Selbstabschließungen nachgerade identisch. Sie findet, um ein letztes Mal an die Grundstruktur des hier vorgelegten Entwurfs zu erinnern, an mindestens zwei maßgeblichen Sachstellen statt: Zum einen unterwirft die Grundoperation der Negativen Theologie – in vielem gespiegelt in der Sachlichkeit des ontologischen Arguments – jede Rede von Gott der kritischen Prüfung, ob sie dem Zug zur Verdinglichung Gottes widersteht. Zum anderen durchmustert sie die ihr angebotenen belief systems auf Kohärenz und Fehlformen. (s.o. Kap. 10.c) Niemand muss religionsphilosophisch denken. Wer es aber tut, hat die entscheidende Öffnungsbewegung bereits vollzogen.
Anhang
1. Allgemeine Hinweise zu Literatur und Zitierweise Zu Beginn der Kapitel wird jeweils nur die zitierte Literatur genannt und im Text mit Namen und ggf. Jahreszahl nachgewiesen. Ausgesuchte weiterführende Veröffentlichungen und die für meine Interpretationen wichtigste Spezialliteratur finden sich hier im Anhang. Eine noch um etliches umfangreichere Literaturliste, die dem Buchprojekt zu Grunde liegt, kann auf meiner Website www.bgmh.de, Menüpunkt »Downloads« als pdf-Datei abgerufen werden. Dass auch sie nur ein kleiner Auszug aus der unübersehbaren Fülle der religionsphilosophischen Literatur ist, versteht sich von selbst. Klassiker werden nach den für sie gängigen Konventionen zitiert. Sie machen eine parallele Verwendung verschiedener Ausgaben möglich und werden von jeder brauchbaren Edition mitgeführt. Insbesondere gilt das für die Werke Platons (StephanusPaginierung), Aristoteles’ (Bekker-Zählung), Thomas’ von Aquin (Summa totius Theologiae nach Teil-Quaestio-Artikel) und Immanuel Kants (Akademie-Ausgabe). Georg W.F. Hegel wird nach der leicht erreichbaren Ausgabe im Suhrkamp-Verlag zitiert, Ludwig Wittgensteins Tractatus Logico-Philosophicus nach den Dezimalziffern der Sätze, seine Philosophischen Untersuchungen nach den Paragraphennummern. Hervorhebungen werden in den Zitaten grundsätzlich kursiv wiedergegeben die Übersetzungen aus Texten in klassischen europäischen Sprachen stammen von mir.
220 Anhang
2. Lehrbücher und Gesamtdarstellungen D. Allen/E. Maurer, Philosophie für das Theologiestudium, Gütersloh 1995. G. van den Brink, Philosophy of Science for Theologians. An Introduction, Frankfurt/M. u.a. 2009. E. Brunner, Religionsphilosophie evangelischer Theologie, München 21948. E. Coreth, Gott im philosophischen Denken, Stuttgart u. a. 2001. Contemporary Philosophy of Religion, hg. von C. Taliaferro, Oxford 1998. I.U. Dalferth, Theology and Philosophy, Eugene (OR) 2001. –, Die Wirklichkeit des Möglichen. Hermeneutische Religionsphilosophie, Tübingen 2003. H. Deuser, Religionsphilosophie, Berlin u.a. 2009. Diskurs Religion, hg. von W. Oelmüller, Paderborn u.a.1979. P. Fischer, Philosophie der Religion, Göttingen 2007. Glaube und Vernunft – Theologie und Philosophie. Aspekte ihrer Wechselwirkung in Geschichte und Gegenwart, hg. von M. Delgado und G. Verwauwen, Fribourg 2003. S. Grätzel/A. Kreiner, Religionsphilosophie, Stuttgart u. a. 1999. J. Grondin, Die Philosophie der Religion, Tübingen 2011. M. Hailer, Glauben und Wissen. Arbeitsbuch Theologie und Philosophie, Göttingen 2006. J. Hick, Philosophy of Religion, Englewood Cliffs NY 1973. H. Hofmeister, Philosophisch denken, Göttingen 1991. S. Holm, Religionsphilosophie, Stuttgart 1960. H. Hubbeling, Einführung in die Religionsphilosophie, Göttingen 1981. K. Hübner, Glaube und Denken. Dimensionen der Wirklichkeit, Tübingen 2001. H.J. Iwand, Glauben und Wissen, Nachgelassene Werke 1, hg. von H. Gollwitzer u.a., München 1962. W. Joest, Fundamentaltheologie, Stuttgart 21981. M. Jung, Erfahrung und Religion. Grundzüge einer hermeneutischpragmatischen Religionsphilosophie, Freiburg u. a. 1999. Th. Kobusch, Christliche Philosophie. Die Entdeckung der Subjektivität, Darmstadt 2006. F. von Kutschera, Vernunft und Glaube, Berlin u.a. 1990. M. Leiner, Methodischer Leitfaden systematische Theologie und Religionsphilosophie, Göttingen 2008. W. Löffler, Einführung in die Religionsphilosophie, Darmstadt 2006. U. Mann, Einführung in die Religionsphilosophie, Darmstadt 21988.
2. Lehrbücher und Gesamtdarstellungen
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4. Weiterführende Literatur 223
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Anhang
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