Jahrbuch für Religionsphilosophie 9783495825372, 9783495465097


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Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Abhandlungen zum Schwerpunkt-Thema: Das überindividuelle bzw. strukturelle Böse
Christian Schäfer: Die Schlechtigkeit des Menschen und die Religion im Sisyphos-Fragment des Kritias
1. Ziel und Ansatzpunkt der Interpretation
2. Das Fragment und seine Standardinterpretation
3. Analyse des Fragments
4. Das Sisyphos-Fragment als Aitiologie des »Volksglaubens«
4.1 Das Fragment als Konjektur zur Kulturentstehung
4.2 Die Dialektik von Schlechtigkeit, Götterglauben und Strafe
4.2.1 Nomophobie und Theophobie
4.2.2 Die Theologie des Sisyphos-Fragments
4.2.3 Fazit zur Gotteslehre des Sisyphos-Fragments
5. Ergebnis
Sang-Sup Lee: Individualität und Über- bzw. Interindividualität des moralischen Übels bei Thomas von Aquin
1. Das moralische Übel als willentlicher Akt der individuellen Handelnden
1.1 Das moralische Übel als den Menschen eigentümliches Übel
1.2 Das moralische Übel als unordentlicher, willentlicher Akt
2. Die strukturelle Unvermeidlichkeit des Auftretens des moralischen Übels aus dem Willen
3. Die Individualität in der Ursächlichkeit beim Auftreten des moralischen Übels aus dem Willen
4. Die Ursünde als das allen Menschen gemeinsame Böse
5. Die Inter-individualität sowie die Verbundenheit der moralischen Übel
6. Die Interindividualität im akzidentellen Auftreten des nicht-willentlichen Bösen beim willentlich Handelnden
7. Zusammenfassung
Ralf Dziewas: Das überindividuell Böse als globale Herausforderung
1. Einleitung
2. Die traditionelle Unterscheidung von überindividuellem Übel und individuell vollzogenem Bösen
3. Die soziale Bewältigung des individuell Bösen
4. Die Wahrnehmung des überindividuell Bösen in der globalisierten Welt
5. Der soziale Umgang mit dem überindividuell Bösen
6. Die Herausforderungen eines nachhaltig wirksamen Kampfs gegen das überindividuell Böse
7. Fazit
Helmut Hoping: Die Macht des Bösen. Noch einmal zum »peccatum originale«
1. Die Freiheit zum Bösen – Philosophische Zugänge
2. Die radikale Sünde und die Rechtfertigung des Sünders
Weitere Abhandlungen
Johannes Elberskirch: Religion und Reflexion. Ein Versuch über Ideologie und Religion bei Martin Heidegger und seinen Schülern Karl Löwith und Bernhard Welte
1. Verhängnisvolle Seinsgedanken
1.1 Seinsgeschehen und Seingeschichte
1.2 Seinsgeschichte: Von der Metaphysik zur Metapolitik
2. Die Rezeption der Schüler – Nähe und Distanz
2.1 Karl Löwith – Auseinandersetzung in kritischer Distanz
2.2 Bernhard Welte – Christliche Heilsgeschichte
3. Die Gretchenfrage – Das Verhältnis zur Religion
Frédéric Seyler: Demokratische Normenbildung und Religion. Habermas im Dialog mit der neueren französischen Phänomenologie
1. »Enthaltsamer« und »lernbereiter Agnostizismus«: Säkulare Vernunft und Religion in der Verständigung um die Grundsätze politischer Gerechtigkeit
2. Der Rückgriff auf Kant und die Abwehr einer »religiösen Philosophie«
3. Von der praktischen zur kommunikativen Vernunft und zur Rechtsnorm
4. Demokratie und Religion in der neueren französischen Phänomenologie: Michel Henrys Lebensphänomenologie
4.1 Transzendentale Begründung des Politischen und genealogische Rückführung auf das Affektiv-Immanente
4.2 Rückgriff auf den Lebensbegriff: Die Abhängigkeit des Politischen von seiner vorpolitischen Grundlage
4.3 Demokratie und Religion: Ein schwieriges Verhältnis
4.4 Die deliberative Demokratie im Spannungsverhältnis zwischen Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit
Christoph Lienkamp: »Das Gesetz muß immer wieder versuchen Gebot zu werden.« Zu Franz Rosenzweigs Hermeneutik von Gebot und Gesetz
1. Einleitung
2. Totalitätskritik und Denken des Selbst im Stern der Erlösung
3. Die Zuordnung von Gebot und Gesetz im Offenbarungskapitel des Sterns der Erlösung
4. Die messianische Dimension des Gesetzes im Judentum
5. Erwählung und Gesetz
6. Rosenzweigs Auseinandersetzung mit dem Gesetz nach der Abfassung des Sterns der Erlösung
6.1 »Bildung und kein Ende« – Die Rolle des Gesetzes im praktischen jüdischen Leben
6.2 Gottesfrage und Gesetz – Rosenzweigs Abhandlung »Die Wissenschaft von Gott«
6.3 »Kein Wesen, sondern das Leben« – Rosenzweigs Gesetzesdenken in der Auseinandersetzung mit der Frage nach dem Wesen des Judentums
6.4 Die Bedeutung von Rosenzweigs Bibelhermeneutik für eine Theologie des Gesetzes – Die Auseinandersetzung mit Martin Luther
6.5 Die Auseinandersetzung mit Martin Bubers Auffassung des Gesetzes
7. Fazit
Jens Trusheim: Das Göttliche als »Sinn des Sinns«. Rationale Rede von Gott nach Volker Gerhardt und Wolfram Hogrebe
1. Volker Gerhardt und das Göttliche als »Sinn des Sinns«
2. Der Einspruch Markus Gabriels
3. Wolfram Hogrebes Hinweise auf das unvordenklich und unergründlich Wunderbare menschlicher Welterschlossenheit
4 Religiöse Rede von Gott jenseits philosophischer Letztbegründung
5 Ein kritischer Ausblick: Metaphysik und Religion
Markus Enders: Swami Abhishiktananda/Henry Le Saux (1910–1973): The Advaita doctrine and the Christian theology
1. Biography of Swami Abhishiktananda/Henry Le Saux (1910–1973)
1.1 Early years and Benedictine monastic life (1910–1948)
1.2 The call to India
1.3 Sannyasa life (1948–1968)
1.4 Final years and awakening (1968–1973)
1.5 The last months of his life
2. The spiritual teaching and the spiritual legacy of Abhishiktananda
2.1 Advaita experience and Christian theology
2.2 The prayer of silence
2.3 Ehieh asher ehieh
2.3.1 The dictum of the Advaita doctrine in the Upanishads: Tat tvam asi – aham brahma asmi
2.3.2 Advaita doctrine and classical monism
1. Section: Tu es cela – the self-awareness (»ego-consciousness«)
2. Section: Dieu tout autre qu’un autre – God and the experience of God
3. Section: L’Inde et le Mystère de l’Être – the present moment
Diskussionen
Christoph Böhr: Philosophie und Mystik – Wissenschaft als Lebensform
Heinrich Beck: Coronavirus – Ansteckungsgefahr durch geweihte Hostie?
Markus Enders: Über die Liebe als Prinzip. Zu Heinrich Becks philosophischem Entwurf der Liebe als des universellen Seins-, des Erkenntnis- und des (normativen) Handlungsprinzips
Markus Enders: Ein Meilenstein der Welte-Forschung: Markus Welte über Bernhard Welte
Markus Enders: Ein umfassendes Kompendium zu Edith Steins geistigem Werdegang
Autorenverzeichnis
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Jahrbuch für Religionsphilosophie
 9783495825372, 9783495465097

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JAHRBUCH FÜR RELIGIONSPHILOSOPHIE 18. Band 2019 / 2020 / 2021 Vol. 18 PHILOSOPHY OF RELIGION ANNUAL

e Letzt ! abe Ausg VERLAG KARL ALBER

https://doi.org/10.5771/9783495825372

.

B

Jahrbuch für Religionsphilosophie Band 18 Philosophy of Religion Annual Volume 18

VERLAG KARL ALBER

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https://doi.org/10.5771/9783495825372 .

Wissenschaftlicher Beirat / Scientific Advisory Board Ehrenmitglied / Honorary Member Richard Schaeffler † (München) Mitglieder / Members Bernhard Casper (Freiburg i. Br.) Ingolf Dalferth (Zürich) Hermann Deuser (Frankfurt a. M.) Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz (Dresden) Jean Greisch (Paris) Juan Scannone (Buenos Aires) Jörg Splett (Frankfurt a. M./München) Bernhard Uhde (Freiburg i. Br.) Amador Vega Esquerra (Barcelona) Joao J. M. Vila-Cha SJ (Rom) André Wiercinski (Lublin) Reiner Wimmer (Tübingen)

https://doi.org/10.5771/9783495825372 .

Jahrbuch für Religionsphilosophie Band 18 Philosophy of Religion Annual Volume 18 2019 / 2020 / 2021 Herausgegeben von / Edited by Markus Enders & Holger Zaborowski

Verlag Karl Alber Freiburg / München

https://doi.org/10.5771/9783495825372 .

Redaktion: Prof. Dr. Dr. Markus Enders Arbeitsbereich Christliche Religionsphilosophie im Institut für Systematische Theologie Albert-Ludwigs-Universität Freiburg 79085 Freiburg Tel.: +49-(0)7 61-203 20 81 Fax: +49-(0)7 61-203 20 57 E-Mail: [email protected] Prof. Dr. Dr. Holger Zaborowski Lehrstuhl für Philosophie an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Erfurt Dienstgebäude Villa Martin | Nordhäuser Straße 63 99089 Erfurt Tel.: +49-(0)2 61-64 02 600 E-Mail: [email protected]

Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2021 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz und PDF-E-Book: SatzWeise, Bad Wünnenberg Herstellung: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany ISBN Print 978-3-495-46509-7 ISBN E-Book (PDF) 978-3-495-82537-2 ISSN 1619-9588

https://doi.org/10.5771/9783495825372 .

Inhalt

Vorwort

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

7

Abhandlungen zum Schwerpunkt-Thema: Das überindividuelle bzw. strukturelle Böse Christian Schäfer Die Schlechtigkeit des Menschen und die Religion im SisyphosFragment des Kritias . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

15

Sang-Sup Lee Individualität und Über- bzw. Interindividualität des moralischen Übels bei Thomas von Aquin . . . . . . . . . . .

45

Ralf Dziewas Das überindividuell Böse als globale Herausforderung . . . . .

72

Helmut Hoping Die Macht des Bösen. Noch einmal zum »peccatum originale«

101

Weitere Abhandlungen Johannes Elberskirch Religion und Reflexion. Ein Versuch über Ideologie und Religion bei Martin Heidegger und seinen Schülern Karl Löwith und Bernhard Welte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139

5 https://doi.org/10.5771/9783495825372 .

Inhalt

Frédéric Seyler Demokratische Normenbildung und Religion. Habermas im Dialog mit der neueren französischen Phänomenologie . . . . 164 Christoph Lienkamp »Das Gesetz muß immer wieder versuchen Gebot zu werden.« Zu Franz Rosenzweigs Hermeneutik von Gebot und Gesetz . 192 Jens Trusheim Das Göttliche als »Sinn des Sinns«. Rationale Rede von Gott nach Volker Gerhardt und Wolfram Hogrebe . . . . . . . . . 238 Markus Enders Swami Abhishiktananda/Henry Le Saux (1910–1973): The Advaita doctrine and the Christian theology . . . . . . . 282

Diskussionen Christoph Böhr Philosophie und Mystik – Wissenschaft als Lebensform . . . . 305 Heinrich Beck Coronavirus – Ansteckungsgefahr durch geweihte Hostie? . . 310 Markus Enders Über die Liebe als Prinzip. Zu Heinrich Becks philosophischem Entwurf der Liebe als des universellen Seins-, des Erkenntnisund des (normativen) Handlungs-Prinzips . . . . . . . . . . . 313 Markus Enders Ein Meilenstein der Welte-Forschung: Markus Welte über Bernhard Welte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 330 Markus Enders Ein umfassendes Kompendium zu Edith Steins geistigem Werdegang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 346 Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 365 6 https://doi.org/10.5771/9783495825372 .

Vorwort

»Habent sua fata libelli«, d. h. »Büchlein haben ihre je eigenen Schicksale« – dieses bekannte Zitat des spätantiken Grammatikers Terentianus Maurus lässt sich auch auf das Jahrbuch für Religionsphilosophie/Philosophy of Religion Annual beziehen, dessen letztem Jahrgang dieses Vorwort mitgegeben sei. Das »Schicksal« des Jahrbuchs für Religionsphilosophie begann mit einer Begegnung des Verfassers (im Folgenden = Vf.) als seines ersten Herausgebers bei einem Symposion zu Ehren von Herrn Prof. Dr. Dr. h. c. Werner Beierwaltes (1931–2019) anlässlich seines 70. Geburtstages am 10./11. Mai 2001 in der Carl Friedrich von Siemens Stiftung im Südlichen Schlossrondell in München mit Vittorio E. Klostermann, dem Leiter des gleichnamigen Verlags. Bei dieser Begegnung vereinbarten wir, d. h. der Verleger und der Verfasser, den Start des Jahrbuchs für Religionsphilosophie im Verlag Vittorio Klostermann zum nächstmöglichen Zeitpunkt. Der erste Jahrgang des Jahrbuchs konnte bereits im Jahre 2002 mit Abhandlungen renommierter Beiträger erscheinen. Damit wurde das Jahrbuch als eine wissenschaftliche Fachzeitschrift für aktuelle Forschungsbeiträge aus den vier disziplinären Bereichen der systematischen Religionsphilosophie, der systematischen (philosophischen) Theologie, der Geschichte der (neuzeitlichen) Religionsphilosophie bis zur Gegenwart und der Geschichte der philosophischen Theologie etabliert. Seinen formalen Schwerpunkt hatte das Jahrbuch in seinem Abhandlungsteil, daneben gab es aber auch die Rubrik der Diskussionen über aktuelle Entwicklungen in den genannten vier disziplinären Bereichen sowie einen Rezensionsteil. In dieser Gestalt erschien das Jahrbuch bis einschließlich Band 9 im Jahre 2010 im Verlag Vittorio E. Klostermann, der für eine Fortsetzung des Jahrbuchs über 2010 hinaus dann keine hinreichende wirtschaftliche Grundlage mehr sah. In etwas veränderter Gestalt, 7 https://doi.org/10.5771/9783495825372 .

Vorwort

und zwar mit einer stärkeren internationalen Ausrichtung durch seine Zweisprachigkeit (deutsch und englisch) als Jahrbuch für Religionsphilosophie und als Philosophy of Religion Annual, ferner durch seine virtuelle Präsenz in Form seiner partiellen, parallelen Online-Veröffentlichung, durch seine Wahl von Schwerpunktthemen im Abhandlungsteil und mit erweiterter Herausgeberschaft, d. h. unter Beteiligung von Herrn Kollegen Holger Zaborowski als Mitherausgeber, konnte das Jahrbuch im Alber-Verlag seit 2011 eine Fortsetzung bis zu dem vorliegenden letzten Jahrgang finden. Auf Wunsch des Alber-Verlags fiel seit dem Jahrgang 2012 (Band 11) des Jahrbuchs dessen Rezensionsteil weg. Auf Grund zurückgehender Verkaufszahlen der Printversion des Jahrbuchs und damit ebenfalls aus wirtschaftlichen Gründen hat der Alber-Verlag sich nun dafür entschieden, die Publikation des Jahrbuchs mit diesem Jahrgang einzustellen. Damit hat das Jahrbuch ein Schicksal ereilt, dem wissenschaftliche Fachzeitschriften im Printformat immer häufiger zum Opfer fallen, nämlich die voranschreitende Digitalisierung der schriftlichen Dokumentation und Kommunikation in unseren beruflichen Arbeitswelten. Mit dem Ende des Jahrbuchs als Publikationsorgan ist für die disziplinäre Öffentlichkeit des vom Vf. vertretenen Fachs der Religionsphilosophie zweifellos ein Verlust zu beklagen. Für den Vf. selbst und seinen Mitherausgeber ist damit allerdings auch eine Entlastung von einem erheblichen Arbeitspensum verbunden, den die langjährige Herausgeberschaft des Jahrbuchs mit sich gebracht hat. Auch deshalb haben die Herausgeber sich ihrerseits dafür entschieden, das Jahrbuch nicht in einem anderen Verlag fortsetzen zu wollen. Dieser letzte Jahrgang des Jahrbuchs hat mit dem Schwerpunktthema des strukturellen bzw. überindividuellen Bösen ein im weltweiten Maßstab gesehen leider virulentes Thema aufgegriffen, dem die folgenden Abhandlungen aus unterschiedlichen Perspektiven gewidmet sind: Hierzu gehört erstens die Abhandlung von Prof. Dr. Ralf Dziewas, Diakoniewissenschaftler und Sozialtheologe an der Theologischen Hochschule Elstal, über »Das überindividuell Böse als globale Herausforderung«, welche das nicht nur in den modernen Gesellschaften beinahe allgegenwärtig gewordene Phänomen schädlicher überindividueller Strukturen und Prozesse zentral thematisiert; 8 https://doi.org/10.5771/9783495825372 .

Vorwort

zweitens die Abhandlung von Prof. Dr. Sang-Sup Lee, Prof. für Philosophie an der Sogang-Universität in Seoul (Südkorea), zum interund überindividuellen Charakter des Bösen als des moralisch Schlechten im Verständnis des Thomas von Aquin; drittens ein Beitrag zum Verhältnis zwischen der moralischen Korrumpiertheit des Menschen und der Religion im sog. Sisyphos-Fragment des Vorsokratikers Kritias durch Prof. Dr. Christian Schäfer, Ordinarius für Philosophie an der Universität Bamberg; und viertens auch ein Beitrag aus theologischer Sicht zum strukturell Bösen, d. h. zum Theologumenon der sog. Erbsünde, dem peccatum originale, aus der Feder meines Institutskollegen Prof. Dr. Helmut Hoping, Ordinarius für Dogmatik und Liturgiewissenschaft an der Theologischen Fakultät der Universität Freiburg im Breisgau. Ein weiterer, ursprünglich geplanter Beitrag zur psychologischen Bedeutungsdimension des strukturell bzw. überindividuell Bösen ist leider nicht zustande gekommen. Außerhalb dieses Schwerpunktthemas konnten noch die folgenden Beiträge für diesen letzten Jahrgang des Jahrbuchs gewonnen werden: Ein Beitrag von Herrn Kollegen Dr. Frédéric Seyler, Associate-Professor für Philosophie am Department für Philosophie der De Paul University in Chicago, über das Verhältnis zwischen demokratischer Normenbildung und Religion im Verständnis von Jürgen Habermas und dessen sachliche Ergänzung durch diese Verhältnisbestimmung bei Michel Henry (1922–2002), dem Begründer der sog. radikalen Phänomenologie in Frankreich. Ein weiterer Beitrag ist dem Verhältnis zwischen Ideologie und Religion bei Martin Heidegger und seinen Schülern Karl Löwith und Bernhard Welte gewidmet. Er stammt aus der Feder von Dr. Johannes Elberskirch, Wiss. Assistent am Seminar für Dogmatik und Dogmengeschichte in der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Münster. Ein dritter Beitrag außerhalb des Schwerpunktthemas dieses Jahrgangs beschäftigt sich mit Franz Rosenzweigs Hermeneutik von Gebot und Gesetz, verfasst von Dr. Christoph Lienkamp, Gymnasiallehrer für Philosophie, Kath. Religion und Gemeinschaftskunde am Deutsch-Französischen Gymnasium in Freiburg im Breisgau. Ein vierter Beitrag innerhalb der Abhandlungen außerhalb der Schwerpunktthematik behandelt die rationale Rede von Gott bei den beiden zeitgenössischen Philosophen Volker Gerhard und 9 https://doi.org/10.5771/9783495825372 .

Vorwort

Wolfram Hogrebe. Sein Autor ist Dr. Jens Trusheim, Postdoktorand im Fachbereich Evangelische Theologie der Universität Frankfurt am Main. Schließlich hat auch der Verf. noch einen Beitrag zum Abhandlungsteil beigesteuert, und zwar einen englischsprachigen Beitrag zur Verbindung von hinduistisch-advaitischer und christlich-benediktinischer Spiritualität im Denken von Swami Abhishiktananda/Henry Le Saux (1910–1973). In den Diskussionen-Teil dieses Jahrgangs ist ein Beitrag von Prof. Dr. Christoph Böhr, a.o. Professor für Philosophische Gegenwartsfragen an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Benedikt XVI. Heiligenkreuz, zu einem Sammelband über Philosophie und Mystik aufgenommen worden; ferner eine philosophisch-theologische Betrachtung von Prof. Dr. Dr. h. c. mult. Heinrich Beck, emeritierter Ordinarius für Philosophie an der Universität Bamberg, zu dem Corona-Virus. Darüber hinaus haben noch drei Beiträge aus der Feder des Vfs. in diesen Diskussionen-Teil Eingang gefunden, und zwar eine ausführliche Besprechung von Heinrich Becks erstphilosophischer Begründung der Liebe als eines universellen Seins-, Erkenntnis- und (normativen) Handlungs-Prinzips, dann eine eingehende Würdigung der erheblichen Bedeutung der 2019 erschienenen Monographie Markus Weltes über die christologische Hermeneutik Bernhard Weltes für die Welte-Forschung und schließlich eine selektive Besprechung eines wahren Kompendiums der aktuellen Forschung zu Edith Steins geistigem Werdegang in Form eines erweiterten Sammelbandes der Beiträge zur Tagung der International Association for the Study of the Philosophy of Edith Stein (IASPES) vom 15. bis 17. August 2019 in der Universität zu Köln, herausgegeben von Harm und Edeltraud Klueting. Die Heterogenität der genannten Abhandlungen außerhalb des Schwerpunkt-Themas dieses Jahrgangs sowie der Beiträge zu seinem Diskussionenteil zeigt einerseits die Problematik eines solchen Jahrbuchs, insofern es einen sehr bunten Blumenstrauß höchst unterschiedlicher Themen innerhalb seines Spektrums präsentiert. Daher liegt die Schwäche eines solchen Jahrbuchs in einem Mangel – mit Ausnahme seiner Schwerpunktthematik – an thematischer Einheitlichkeit und Geschlossenheit. Zugleich spiegelt es damit aber auch die Vielfalt dessen wider, was im Bereich der Religionsphilosophie und der philosophischen Gotteslehre behandelt und unter10 https://doi.org/10.5771/9783495825372 .

Vorwort

sucht wird. Diese breite fachliche Orientierung sollte vernünftigerweise ein Alleinstellungsmerkmal einer fachwissenschaftlichen Zeitschrift sein, wie es das Jahrbuch für den Bereich der Religionsphilosophie und der philosophischen Gotteslehre zu sein sich bemüht hat. Eine solche relativ breite Ausrichtung hat in der hoch spezialisierten Wissenschaftslandschaft unserer Zeit jedoch leider keine Konjunktur, so dass dieses allgemeine Schicksal unserer Zeit jetzt auch zum Schicksal des Jahrbuchs geworden ist. Deshalb muss sich der Vf. von der Leserschaft des Jahrbuchs hiermit verabschieden, allerdings nicht ohne ein Wort des Dankes zu sagen: Zunächst möchte ich all’ denjenigen danken, die sich um das wissenschaftliche Niveau des Jahrbuchs verdient gemacht haben, d. h. seinen Beiträger*innen, seinen anonymen Gutachter*innen und nicht zuletzt auch seinem Mitherausgeber der letzten neun Jahrgänge des Jahrbuchs, Herrn Kollegen Holger Zaborowski; dann möchte ich denjenigen danken, die sich um die formale Qualität der Beiträge sowie um ein ansprechendes äußeres Erscheinungsbild des Jahrbuchs während der fast zwanzig Jahre seines Bestehens verdient gemacht haben. Pars pro toto möchte ich dafür an dieser Stelle der Sekretärin des Arbeitsbereichs Christliche Religionsphilosophie an der Theologischen Fakultät der Universität Freiburg, Frau Ulrike Müller, für ihren unermüdlichen und äußerst gewissenhaften und sorgfältigen Einsatz für das Jahrbuch über viele Jahre hinweg ganz herzlich danken, ohne den auch dieser letzte Jahrgang des Jahrbuchs niemals hätte erscheinen können. Schließlich danke ich an dieser Stelle auch noch einmal Herrn Vittorio E. Klostermann und Herrn Lukas Trabert (vom Verlag Karl Alber) für ihr verlegerisches Interesse und ihre engagierte verlegerische Begleitung der insgesamt achtzehn erschienenen Jahrgänge des Jahrbuchs. Möge auch dieser letzte Jahrgang des Jahrbuchs mit seinem Schwerpunkt-Thema des strukturellen Bösen möglichst viele interessierte Leser finden und möge das Jahrbuch bei seinen Lesern und Abonnenten in guter Erinnerung bleiben. All’ denen, die dem Jahrbuch bis heute gleichsam die Treue gehalten haben, sei dafür von Herzen gedankt. Freiburg im Breisgau, den 22. 02. 2021

Markus Enders

11 https://doi.org/10.5771/9783495825372 .

https://doi.org/10.5771/9783495825372 .

Abhandlungen zum Schwerpunkt-Thema: Das überindividuelle bzw. strukturelle Böse

https://doi.org/10.5771/9783495825372 .

https://doi.org/10.5771/9783495825372 .

Christian Schäfer

Die Schlechtigkeit des Menschen und die Religion im Sisyphos-Fragment des Kritias

The so-called Sisyphus-fragment is attributed to Critias by Sextus Empiricus, who counts him among the ancient atheists. Accordingly, the standard reading of the fragment is this: Critias is an atheist who attributes the invention of divine beings to a clever person in a remote past. This »wise man’s« aim in inventing the supernatural was to impose order on a human society that would otherwise be ruined by man’s natural badness. In this paper, I propose an alternative interpretation of the fragment, agreeing with the standard reading on the part of the purpose of the »wise man’s« enterprise, but challenging the part of the invention of the divine. I argue that the fragment should be seen as a document of a theology that opposes a philosophical view of the divine to the popular beliefs concerning the gods. I do this by comparing the fragment’s account of divine attributes to Xenophanes’s. Thus it turns out that the story offered by Critias is not an atheistic manifesto, but a committed, if perhaps cynical, reflection on how to cope with man’s innate badness and wickedness.

1. Ziel und Ansatzpunkt der Interpretation Das sogenannte Sisyphos-Fragment (VS 88 B 25) wird in der gelehrten Diskussion derart übereinstimmend für ein frühes Dokument der atheistischen Religionskritik und der Aburteilung eines Glaubens an das Göttliche – und dies durchaus im Sinne des Glaubens als eines Fürwahrhaltens der Existenz von Göttlichem – gehalten, dass ich mir die Belege für den Standardstatus dieser Interpretation ersparen kann. Dagegen sollen meine Ausführungen im Folgenden Belege dafür erbringen, dass diese Standardinterpretation keineswegs konkurrenzlos ist. Vielmehr gibt es zumindest eine andere Deutungsmöglichkeit, die mir mindestens genauso plausibel 15 https://doi.org/10.5771/9783495825372 .

Christian Schäfer

erscheint, wenn nicht sogar als korrekter. Bei der Durchführung dieses Vorhabens wird es nur eine untergeordnete Rolle spielen, dass ich denjenigen antiken Überlieferungen und neueren Deutungsversuchen folge, die das Fragment dem Kritias zuschreiben statt dem Euripides. Von den vielen verschiedenen Ansatzpunkten, von denen her eine Auslegung des Bruchstücks möglich ist, entscheide ich mich für die Entwicklung einer Interpretation vom Problem des κακόν, des Schlechten, Bösen oder Üblen, aus. Es ist dabei durchaus auffällig, wie der Begriff im Fragment verwendet wird: Zwar betrifft er jedes Mal das üble Tun oder Trachten von handelnden Menschen (von κακοί), doch ist dieses Tun und Trachten auch jedes Mal als Folge oder Ausdruck einer grundsätzlicheren, überindividuellen Schlechtigkeit dargestellt, und damit eines Bösen, das man dann mit Fug und Recht als strukturell bezeichnen kann. Um dabei nicht mit anderen möglichen Redekonventionen vom »strukturellen Bösen« einfachhin in eins gesetzt zu werden, und insbesondere, um von der zumeist fehlgeleiteten Rede von der »strukturellen Sünde« Distanz zu schaffen, soll im Folgenden darunter dies zu verstehen sein: Struktur ist hier ganz allgemein genommen ein Ordnungsgefüge, wobei es insbesondere für den abgeleiteten Begriff des Strukturellen von Bedeutung ist, dass »Ordnungsgefüge« dann nicht nur als nomen acti verstanden werden kann, sondern eben auch als nomen agentis, das heißt auch für die Durchführung des Fügens zu einer Ordnung steht, nicht nur für dessen Ergebnis. Für den Fall des Sisyphos-Bruchstücks genügt es dann, überindividuelles oder strukturelles Böses als Bezeichnung dafür zu nehmen, dass und wie ein natürliches oder soziales Ordnungsgefüge bedingt, dass Menschen falsch handeln oder leben (so die erste Auffassungsvariante), oder ihr richtiges Handeln oder Leben auf falschen Motiven oder Unkenntnis gründet (so die zweite Auffassungsvariante). Im Fragment taucht die erste Variante in doppelter Ausfertigung auf: Einmal in der Beschreibung eines Naturzustands, in dem eine urwüchsige Schlechtigkeit des Menschen greifbar wird und sich auswirkt, ein andermal in der Beschreibung von bestimmten Phänomenen als natürlich, die dem Menschen Übel bescheren und damit der zweiten Variante, der Religionslüge, dienlich werden. Weitestgehend offengelassen wird im Folgenden für den Fall der ersten 16 https://doi.org/10.5771/9783495825372 .

Die Schlechtigkeit des Menschen und die Religion im Sisyphos-Fragment

Variante der Aspekt, ob dieses Gefüge absolutiv verstanden als Böses bezeichnet wird, ob also falsches Handeln oder Leben dadurch bedingt wird, dass dieses Gefüge selbst falsch oder schlecht ist und somit im univoken Sinne Falsches oder Schlechtes bedingt – so wie Warmes wärmt –, oder ob es in einem äquivoken Sinne verwendet als Böses bezeichnet wird, weil es, ohne selbst falsch oder schlecht zu sein, dennoch äquivok Falsches oder Schlechtes bedingt – so wie Bewegung wärmt, ohne dass Bewegung selbst Warmes ist. Interessant ist diese Unterscheidung hingegen für den Fall der zweiten Auffassungsvariante, wo strukturell wirksames Schlechtes – etwa eine gesellschaftsleitende Lüge oder Zwangsmaßnahme – positive Konsequenzen zeitigt, wie zum Beispiel ein gelungenes Zusammenleben. Dies ist nämlich ein zentrales Thema des Fragments und benennt dann gleichzeitig das Problem einer strukturellen, im ergativen Sinne von Strukturen bedingenden, Schlechtigkeit mit wünschenswerten Folgen. Es wird sich also im Laufe der Interpretation erweisen, dass der strukturrelevante Umgang mit in diesem Sinne strukturellem Bösen das eigentliche Bewältigungsthema des Fragments darstellt.

2. Das Fragment und seine Standardinterpretation Das bei Sextus Empiricus (Adversus Mathematicos IX 54) als von Kritias stammend überlieferte Fragment lautet in der (hier leicht überarbeiteten) Übersetzung von Wilhelm Capelle (sie hat ihre Vorteile gegenüber der von Diels, 1 von der ich gleichwohl einige Formulierungen entlehne) folgendermaßen: 1 Es gab einmal eine Zeit, da war das Leben der Menschen jeder Ordnung bar (ἦν ἄτακτος), 2 ähnlich dem der Raubtiere, und es herrschte die rohe Gewalt. 3 Damals wurden die Guten nicht belohnt

Diels’ Übersetzung hat die Standardinterpretation des Fragments aufgenommen und ihr womöglich weiter Vorschub geleistet, so etwa, wenn er in V. 16 τὸ θεῖον mit »das Überirdische« übersetzt.

1

17 https://doi.org/10.5771/9783495825372 .

Christian Schäfer

4 und die Bösen nicht bestraft (οὔτ’ αὖ κόλασμα τοῖς κακοῖς ἐγίγνετο). 5 Und da scheinen mir die Menschen sich Gesetze (νόμους) 6 als Zuchtmeister gegeben zu haben, auf daß das Recht in gleicher Weise überall Alleinherrscher sei (ἵνα δίκη τύραννος ᾖ) 7 und den Frevel knechte (τήν θ’ ὕβριν δούλην ἔχῃ). 8 Wenn jemand ein Verbrechen beging, so wurde er nun bestraft. 9 Als so die Gesetze hinderten, 10 daß man offen Gewalttaten verübte, 11 und daher nur insgeheim gefrevelt wurde, da scheint mir 12 zuerst ein schlauer und gedankenkluger Mann (πυκνός τις καὶ σοφὸς γνώμην ἀνήρ) 13 die Furcht vor den Göttern für die Menschen erfunden zu haben (θεῶν δέος θνητοῖσιν ἐξευρεῖν), damit 14 die Schlechten (κακοῖσι) sich fürchteten, auch wenn sie insgeheim 15 etwas Böses täten oder sagten oder auch nur dächten. 16 Er führte daher den Götterglauben ein (τὸ θεῖον εἰσηγήσατο): 17 Es gibt einen Gott (ἔστι δαίμων), der ewig lebt, voll Kraft, 18 der mit seinem Geiste sieht und hört und übermenschliche Einsicht hat; 19 der hat eine göttliche Natur (φύσιν θείαν φορῶν) und achtet auf alles. 20 Der hört alles, was unter Menschen gesprochen wird, 21 und alles, was sie tun, kann er sehen. 22 Und wenn du schweigend etwas Schlimmes (κακόν) sinnst, 23 so bleibt es doch den Göttern nicht verborgen (οὐχὶ λήσει τοὺς θεούς), denn 24 sie besitzen eine übermenschliche Erkenntnis. Mit solchen Reden 25 führte er die eingängigste 2 aller Lehren ein, 26 indem er die Wahrheit mit trügerischem Worte verhüllte (ψευδεῖ καλύψας τὴν ἀλήθειαν λόγῳ). Das ἥδιστον in diesem Vers war lange philologisch umstritten, Varianten sind μέγιστον und κέρδιστον; Capelle übersetzt wörtlich »schlaueste«. Doch die Auffassung »angenehm«, »eingängig« oder »verführerisch« scheint die richtige zu sein.

2

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Die Schlechtigkeit des Menschen und die Religion im Sisyphos-Fragment

27 Die Götter sagte er, sie wohnen dort, wo 28 es die Menschen am meisten erschrecken mußte, 29 von wo, wie er wußte, die Angst zu den Menschen herniederkommt, 30 wie auch der Segen für ihr armseliges Leben: 31 aus der Höhe da droben, wo er die Blitze 32 zucken sah und des Donners grauses Krachen hörte, 33 da wo des Himmels gestirntes Gewölbe ist, 34 das herrliche Kunstwerk des Chronos, des klugen Werkmeisters (τέκτονος σοφοῦ), 35 von wo der strahlende Ball des Tagesgestirns (λαμπρὸς ἀστέρος στείχει μύδρος) seinen Weg nimmt 36 und feuchtes Naß zur Erde herniederströmt. 37 Mit Ängsten solcher Art schreckte er die Menschen und 38 wies passend und wohlbedacht 39 der Gottheit an geziemender Stätte ihren Wohnsitz an 40 und tilgte den ungesetzlichen Sinn durch die Gesetze (τὴν ἀνομίαν τε τοῖς νόμοις κατέσβεσεν). 41 Und kurz darauf setze er noch hinzu; 3 42 so hat jemand, glaube ich (οἴομαι), zuerst die Menschen glauben gemacht, 42 daß es ein Geschlecht von Göttern gibt (νομίζειν δαιμόνων εἶναι γένος). Man ersieht unschwer, wie suggestiv der Wortlaut für die Standardinterpretation des Fragments zu sprechen scheint. Sie besagt Folgendes: Kritias ist ein Atheist, der die Existenz von Gottheiten als Erfindung charakterisiert, was er in seinem Satyrspiel dem »Rebellen gegen die Götter« Sisyphos in den Mund legt. Im Prinzip handelt es sich um die bekannte Figur einer »frommen Lüge«, wie sie in der »Propagandalüge« – so Karl Popper – des Metallmythos von Platons Politeia II, 414d–415c, erzählt wird. Die Existenz von Gottheiten wird auf einen moralischen und/oder politischen Zweck V. 41 gehört – anders als Capelle dies auffasst – zum doxographischen Referat und soll die folgenden Zeilen an das eben Gesagte glättend anschließen, etwa in dem Sinn: »Und wenig später fügt er [d. h. der Autor oder die Bühnengestalt] noch hinzu«.

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hin funktionalisiert, entsprechend sei Religion als Stabilisierungsfaktor der Gemeinschaft zu verstehen, aber sine fundamento in re – soweit die Standardlesart, deren Plausibilität sich nicht nur aus der Verbreitung des Motivs der »frommen Lüge« im gleichzeitigen Schrifttum der Griechen speist, sondern zudem daraus, dass Kritias bei Sextus Empiricus im Zusammenhang des Zitats unter die Atheisten gezählt wird. 4 Schließlich ergeben sich Parallelen zur sophistischen Religionskritik, etwa des Prodikos und des Protagoras, und auch eine gewisse Nähe zum Mythos des Protagoras in Platons gleichnamigem Dialog wird gerne stützend für diese Standardinterpretation herangezogen.

3. Analyse des Fragments Doch ist die genannte Interpretation, wenn auch in Teilen sicherlich richtig, nicht die einzig mögliche Lesart. Ein Blick auf die Struktur des Textes wird zum Einstieg in die Erarbeitung einer konkurrierenden Deutung helfen. Ich gruppiere hierfür Textportionen entscheidenden inhaltlichen Aussageblöcken zu: Verse 1–4 5–8

9–15

Inhalt des Textstücks Der Unzustand des urwüchsigen Menschenlebens in seiner tierhaften Strukturlosigkeit. Der Gesellschaftsvertrag zur Festlegung gemeinschaftlicher Lebensregeln: »damit die Gerechtigkeit Tyrann sei« (eingeleitet durch »da scheinen sie mir diese Festlegung getroffen zu haben«). Um die auch in der Tyrannis der Gerechtigkeit fortbestehenden geheimen Missetaten zu eliminieren, hat ein »kluger/weiser Mann« die Furcht vor den Göttern erfunden.

»Dies bedeutet jedoch nicht, dass die [im »Atheistenkatalog« des Sextus] geführten Denker auch tatsächlich […] die Existenz der Götter kategorisch geleugnet hätten«, sagt mit Hinblick auf die antike Verwendung von ἄθεος richtig Jan Dreßler, Philosophie vs. Religion?, Norderstedt 2010, 37; vgl. Mark Winiarczyk: »Methodisches zum antiken Atheismus«, in: Rheinisches Museum 133 (1990), 1–15, hier 6–8.

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16–24,1 Eine stark an vorsokratisch-philosophischen Maßstäben orientierte Beschreibung der Gottheit als allwissend, alles erkennend etc. (doch wohlgemerkt: nicht als strafend). 24,2–39 Beschreibung der »Religionsfolklore« von den strafenden Göttern, die »oben« wohnen, von woher meteorologische Segnungen und Schrecken kommen. Dies erzählt der »weise Mann«, »indem er in lügnerischen Worten die Wahrheit verbarg«. 40–43 Auf diese Weise hat zuerst einer die Menschen überzeugt/ überredet, es für recht zu halten, dass es ein Geschlecht von göttlichen Wesen gibt. Die durchaus überzeugende Theorie zur Situierung dieser Passage im Satyrspiel lautet: Redner ist der verschlagene Sisyphos. Er versucht mit dieser Geschichte den Gestaltwandler Autolykos, der sich ein Gewissen daraus macht, ob er in fremder Gestalt ungestraft Übeltaten begehen soll, zu überzeugen, es ruhig zu tun: Die einzige Instanz, die dies wissen und ihn dafür zur Rechenschaft ziehen könnte, wären die allwissenden strafmächtigen Götter. Diese aber, und hier kommt es zur im Fragment erhaltenen Erzählung, seien bloß Existenzen einer gesellschaftsstabilisierenden Meisterfiktion. Es wird in diesem Zusammenhang viel darüber spekuliert, wie dieser Erzählrahmen den Erzählinhalt wohl qualifiziert: Ist die Erzählung als schelmische Erfindung des Lügenmeisters Sisyphos und daher als Lüge über die Religion erkennbar? Gab es im weiteren Verlauf womöglich eine Widerlegung des Sisyphos durch einen strafenden deus ex machina auf der Bühne? Musste der Autor seine wahre Ansicht (nämlich die in der Erzählung geäußerte) hinter der Larve eines bühnentechnisch vorsichtshalber anschaulich widerlegten Erzschelms verstecken? 5 Der Blick auf das Entwicklungsschema der Erzählung stößt aber auch gleich auf den doppelten Begriff des Üblen hin, der hier be-

Zu den verschiedenen Interpretationen vgl. Dreßler, Religion, 40; Dana Sutton, »Critias and Atheism«, in: Classical Quarterly 31 (1981), 33–36, hier 37 f.; Helga Scholten, Die Sophistik, Berlin 2003, 240 und 252–254; Jon Hesk, Deception and Democracy in Classical Athens, Cambridge 2000, 182–184.

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sonders auffällt: Zum einen die Schlechtigkeit als Strukturmerkmal der menschlichen Naturveranlagung, die nach der deutlichen Charakterisierung als in ordnungsrelevanter Hinsicht schlecht in den Versen 1–4 auch noch nach der Ordnungsmaßnahme der Gesetzeseinführung weiterhin durchschlägt und daher eine weitere, ähnliche, aber tiefergehende Ordnungsmaßnahme, diesmal eine religiöse, erfordert, das Hauptthema des Fragments (V. 9–11). Zum anderen, dass zumindest diese zweite Ordnungsmaßnahme gegen die genannte wesensgemäß-überindividuelle Schlechtigkeitsveranlagung dargestellt wird wie ein Feuer, mit dem man Feuer bekämpft: als Lüge nämlich, die, obgleich sie am Maßstab des Wahren als schlecht angesehen werden muss, doch in den für die Gemeinschaftsordnung positiven Wirkungen offenbar als zulässig oder, gemessen daran, als strukturell wirksames Übel zu billigen angesehen wird. Das strukturelle Übel der oben genannten ersten Auffassungsvariante regiert also den ersten Entwicklungsteil der Erzählung (mit dem Thema der Einführung der Gesetze), die zweite den zweiten (mit dem Thema der Einführung von strafenden Gottheiten).

4. Das Sisyphos-Fragment als Aitiologie des »Volksglaubens« Der Verlauf der Erzählung vom σοφὸς ἀνήρ legt nun abweichend von der Standardinterpretation m. E. folgende Deutung nahe: Das Fragment entwickelt eine Kritik des – faute de mieux einmal so ausgedrückt – »Volksglaubens«, und nicht eine atheistische Kritik der Religion als Erfindung. Tatsächlich erfindet der »kluge Mann« ja keineswegs das Göttliche, sondern die Furcht vor den Göttern: θεῶν δέος θνητοῖσιν ἐξευρεῖν sagt V. 13 ausdrücklich, d. h. er macht etwas ausfindig, nämlich wie die Sterblichen Furcht vor den Göttern haben könnten. Die Verehrung des Göttlichen und vor allem der Götter wird somit zwar von dem weisen Menschen den anderen Menschen gebracht und ins Gemeinwesen eingeführt (so V. 16 und nochmals V. 25: εἰσηγήσατο), aber dies lässt die Frage, ob es sich um eine Erfindung des Göttlichen selbst handelt, durchaus offen im Sinne der notorischen Doppeldeutigkeit einer inventio – ähnlich, wie die Berechnung des Flächeninhalts eines Dreiecks aus 22 https://doi.org/10.5771/9783495825372 .

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dessen drei Seitenlängen zwar von Heron von Alexandrien stammt und in die Mathematik als anerkanntes Allgemeingut eingeführt wurde, jedoch als inventio eher ein Auffinden und einen menschlichen Weg der Darstellung von etwas benennt, das von Menschen nicht produziert, sondern als objektiv bestehender Umstand nur auf verschiedene Arten erstmals aufgefunden und dann ausgelegt und in formulierter Ausarbeitung zum Gemeingut einer Gemeinschaft vernünftiger Wesen werden kann. Nimmt man die eben genannten Verse 13, 16 und 25 zusammen, so ergibt sich ein Bild, das dem ausdrücklich genannten Motiv der Furcht vor den Göttern besser entspricht und das im Text durch das zweifache εἰσηγήσατο stufengegliedert wird in einen Teil der inventio des Göttlichen – im Sinne der feststellenden Auffindung – und der kontrastierend darauf folgenden oder davon abgeleiteten inventio der gemeinschaftsdienlichen verbreiteten Auffassungen von den Göttern – der inventio als ausdenkenden Erfindung also: Der doppelt findige σοφὸς ἀνήρ des Kritias formuliert damit interessanterweise vor der »Religionslüge« eine Vorstellung vom Göttlichen (V. 17–24,1), die dem philosophisch-theologischen Standard der Vorsokratik entspricht (dazu mehr in Kapitel 4.2.2). Kurz: Der σοφὸς ἀνήρ ist ein Mensch, der vernünftig über das Göttliche nachdenkt und dann einen Weg findet, sich auf dieser Grundlage »kreativ« eine sozial wirksame Maßnahme auszudenken. Die Erfindung, die eine Charakterisierung als Lüge rechtfertigt, liegt in diesem Ausdenken, nicht im Nachdenken. Sofern meint τὸ θεῖον εἰσηγήσατο in V. 16 also mehrdeutig, dass der σοφὸς ἀνήρ eine Theorie über das Göttliche (τὸ θεῖον) ins Spiel gebracht hat, um eine bestimmte religiöse Haltung oder Auffassung, eine Praxis in Bezug auf das Göttliche (im Griechischen durchaus ebenfalls τὸ θεῖον) einzuführen. Diese Theorie »verpackt« der »schlaue Mann« mithin mundgerecht in eine trügerische und zugleich im Sinne der moralischen Sensibilisierung willkommene Vorstellung für die Allgemeinheit: Dies meint διδαγμάτων ἥδιστον (nämlich die Götter, τοὺς θεοὺς, in den Versen 23 und 27 betreffend) εἰσηγήσατο in V. 25. Diese »Verpackung« der theologischen Theorie wird jedoch dem Text nach vom Sisyphos-Fragment als gesellschaftsstrategisch »fromme Lüge« charakterisiert, nicht die theologische Lehre der Verse 16–24,1 selbst. 23 https://doi.org/10.5771/9783495825372 .

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4.1 Das Fragment als Konjektur zur Kulturentstehung Welche Plausibilität hat diese eben skizzierte Deutung im Vergleich zur Standardinterpretation des Fragments? Ich meine, einige bedenkenswerte Punkte sprechen dafür, dass diese abweichende Auslegung adäquater ist. Diese Punkte lassen sich (zwar nicht nur, aber doch besonders anschaulich) im Abgleich mit der philosophischen Gotteslehre des Xenophanes von Kolophon darstellen, von deren Kenntnis im Athen des 5. Jahrhunderts ausgegangen werden darf und die wohlgemerkt in den philosophischen Gesellschafts- und Staatstheorien auch weiterhin noch eine Rolle spielte: 6 Auffällig ist zunächst der bei oberflächlicher Lektüre unscheinbare Umstand, dass ein weiser und findiger Mann, ein σοφὸς ἀνήρ, den Glauben an Strafgötter einführt, statt dass, wie es das gängige Motiv in den Erzählungen der Volksreligion besagt, ein göttlich inspirierter oder von den Göttern gesandter Mensch, ein θεῖος ἀνήρ, Erkenntnisse oder Erfindungen zu den Menschen bringt. 7 Der Aufbau des Sisyphos-Fragments zeigt damit eine deutliche Parallele zum Fragment 18 des Xenophanes, das ebenfalls gegen die »volksreligiöse« Auffassung der Vermittlung von Kulturleistungen durch eine göttliche Intervention gerichtet ist und sie stattdessen der menschlichen Findigkeit zurechnet: »Keineswegs haben die Götter von Anfang an alles den Sterblichen aufgezeigt, sondern mit der Zeit finden sie suchend Besseres [vor]«. 8 Von der Anfangsformulierung des Sisyphos-Fragments in V. 1 (»es gab eine Zeit«) über das hochsignifikative Detail, einfach nur θεῖος durch σοφός zu ersetzen, bis hin zur Aussage, dass die Erzählung, ganz anders als traditionelle Aitiologien mit ihrer autoritativen Verbürgung feststehender Wahrheit, unter einem persönlichen Vermutungsvorbehalt des Sprechers steht (μοι δοκεῖ), zeigt sich der Erzählungsbogen vom ordnungslosen, sehr ungoldenen Zustand des Anfangs Zu Xenophanischem in der Politeia vgl. Christian Schäfer, Xenophanes von Kolophon, Leipzig/Stuttgart 1996, 249–257. 7 Zum selben Gedanken vgl. Scholten, Sophistik, 248, mit Beispielen von »Kulturbringermythen«. 8 Die Fragmente des Xenophanes sind hier und im Folgenden nach der Ausgabe Xenophanes. Die Fragmente, hrsg., übers. und erläutert von Ernst Heitsch, München/Zürich 1982, zitiert. 6

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über die Ordnung durch die Gesetze (die νόμοι) bis hin zur Besserung dieser Ordnung durch die Religion (das θεοὺς νομίζειν) als Umkehrung von gezielt so verwendeten volksreligiösen Motiven und Auffassungen gegen diese Motive und Auffassungen selbst. Die Stoßrichtung des Fragmenttextes, nämlich eine Kritik der volkstümlichen Auffassungen des Verhältnisses von Göttern zu Menschen zu formulieren, lässt sich aus diesem Erzählbogen meines Erachtens gut ablesen. Es sollte dabei auch nicht vergessen werden, dass im Fragment die Zeit (χρόνος), ähnlich wie das χρόνοῳ im Fragment 18 des Xenophanes, als Maßgabe der kulturrelevanten Ordnungsbewegung 9 angesehen wird und eine entscheidende Rolle spielt: In den Versen 33,2–34 wird die Zeit von Kritias sogar, und ganz auffällig hier wohl tatsächlich personifizierend als göttliche Kraft, nämlich als ordnender Baumeister des Weltalls, gedacht: τό τ’ ἀστερωπὸν οὐρανοῦ δέμας, Χρόνου καλὸν ποίκιλμα τέκτονος σοφοῦ. Die Formulierung parallelisiert dabei den Weltordner Chronos (σοφός) mit dem handlungsordnenden Menschen (dem σοφὸς ἀνήρ) als weise. Diese Parallelisierung wiederum lässt das Qualifikativ σοφός in der Schwebe: Der Volksauffassung im Athen des 5. Jahrhunderts gilt der σοφὸς ἀνήρ meist eher als eine Gefährdung für die der Gemeinschaft eigenen kulturellen und kultischen Auffassung von den Göttern (dem θεοὺς νομίζειν), wie zum Beispiel auch der enge Zusammenhang zwischen beidem in der Darstellung der Volksmeinung in Platons Apologie 18bc und 24bc zeigt. Übrigens wird aber auch hier, in Platons Interpretation der Anklagepunkte gegen Sokrates, deutlich, dass es ein – von der Gemeinschaft übelgenommenes – Kennzeichen des σοφὸς ἀνήρ ist, neue Götter in die Gemeinschaft einführen zu wollen. Kritias greift also eine gängige Qualifizierung vom σοφὸς ἀνήρ in gemeinschaftsbetreffenden religiösen Fragen auf, konterkariert sie jedoch, auch hier wieder dem xenophanischen Denkansatz und Vorgehen nicht unähnlich, mit einer dieser entgegenstehenden Sicht der Dinge mit Hinblick auf eine übermenschliche, kosmisch regulative Instanz: Auch diese, Weder Xenophanes’ Fragment 18 noch das Sisyphos-Fragment lassen eine Gleichsetzung dieser Ordnungsbewegung mit einem »Fortschritt« zu; im Sisyphos-Fragment lässt sich das z. B. an der Ambivalenz der Herrschaft des Rechts erkennen (vgl. Scholten, Sophistik, 246–254).

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im vorliegenden Fall die Zeit (Chronos), ist σοφός, aber eben in einem anderen, man möchte fast sagen: sublimeren Sinne, als die gängige Auffassung von Gottheiten es greifen kann.

4.2 Die Dialektik von Schlechtigkeit, Götterglauben und Strafe Die Verse 1–8 und 9–15 sind parallel aufgebaut und schaffen die Grundlage für die Erklärung der beiden großen Themenblöcke des Folgenden: Die Strafandrohung durch die Einführung der Gesetze (νόμοι) und die Strafandrohung durch die Einführung des θεοὺς νομίζειν. Sie beschreiben zuerst einen unhaltbaren sozialen Zustand, nämlich im ersten Fall den des urwüchsigen Rechts, oder besser: des Unrechts des Stärkeren, der Ordnungslosigkeit und Tierhaftigkeit (ἄτακτος und θηριώδης βίος) im Verhalten, also des strukturellen Übels nach der oben genannten ersten Auffassungsvariante (V. 1–4); im zweiten Fall – mit der spielerisch eingesetzten Lautähnlichkeit von βίος und βία – den der gleichen oder ähnlichen Gewalttaten (ἔργα βίᾳ ἔπρασσον), die statt offen heimlich begangen werden (V. 9–11). 4.2.1 Nomophobie und Theophobie Dieser Parallelismus setzt sich insbesondere darin fort, dass beide Male gegen diesen unhaltbaren gesellschaftlichen Zustand ein gesellschaftliches Regulativ aufgeboten wird: Im ersten Fall die Gesetze, die von »den Menschen« (ἄνθρωποι), also offenbar als gemeinschaftliches oder kollektives Unternehmen, erlassen werden, wobei die Finalität mit akribischer Unverblümtheit benannt wird: »damit die Gerechtigkeit Alleinherrscher sei« (ἵνα δίκη τύραννος ᾖ) und »die Hybris knechte« (τήν θ’ ὕβριν δούλην ἔχῃ; V. 5–8). Wer sich dagegen verfehlte (δ’ εἴ τις ἐξαμαρτάνοι), wurde bestraft. Auch wenn wir hier die bedenkenswerte Tatsache beiseite lassen, dass »Tyrann« ein Einordnungsbegriff ist, dessen negative Konnotationen in der antiken Begriffsauffassung zum guten Teil davon abhingen, dass Tyrannen meist als unwillkommene Neuerer gegenüber althergebrachten Lebensweisen, dem νόμος eben, auftraten oder auch bloß angesehen wurden: Die Passage bleibt doch vielsagend. 26 https://doi.org/10.5771/9783495825372 .

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Wer jemals Thomas Hobbes’ Leviathan-Entwurf als ein strukturell böses Unterfangen im Sinne der oben definierten ersten Auffassungsvariante aufgefasst hat, wird in der Erzählung des SisyphosFragments kompositionelle Entsprechungen zu erkennen bereit sein: Tatsächlich ist beiden gemeinsam, wie von der Annahme eines urwüchsigen Unzustands ausgehend die allgemein verbreitete Gewaltausübung durch Selbstrücknahme aller bis hin zur Knechtungszustimmung zugunsten der Alleingewalt eines ordnenden Regulativs dargestellt wird, im Fall des Kritias der νόμοι. Die Ambivalenz in der Rede von der Gerechtigkeit als Tyrann ist bei Kritias dabei auch sprachlich gezielt als Dilemma aufgebaut, insbesondere, wenn das ἐξαμαρτάνειν von V. 8 als ein Verfehlen der Ordnung oder ein In-schlechtem-Handeln-aus-dem-Gefüge-Fallen verstanden wird, also als Unangepasstheit ans Regulativ. Das wird nun aber auch interessant als Übergangsausdruck zum Folgenden, denn im Anschluss an den Gedanken, dass das Gesetz dazu da sei, die Überheblichkeit (ὕβρις) der Menschen zu knechten, bekommt die gängige Konnotation von ἐξαμαρτάνειν, nämlich sich durch Überheblichkeit gegen die Götter zu verfehlen und damit gegen das θεοὺς νομίζειν zu verstoßen, 10 den Sinn einer Klammer, die genau wie das Spielen mit dem Begriffspaar νόμοι/νομίζειν die beiden Passagen zur Ambivalenz der politischen Besserung durch die Gesetze und die Götterreligion zusammenschließt, ja mehr noch: das gesamte Fragment als eine Etüde zum νομίζειν erscheinen lässt, zum lebensleitenden Geltenlassen oder Anerkennen einer (v. a. regulativen) Bestimmung für die Gemeinschaft. 11 Das ἐξαμαρτάνειν kann im Griechischen geradezu als Antonym zum θεοὺς νομίζειν verstanden werden, dazu bedarf ἐξαμαρτάνειν häufig gar nicht des Zusatzes περὶ τοὺς θεούς oder εἰς θεούς, der gleichwohl verdeutlichend benutzt wird (so Aischylos, Prometheus desmotes 947; Platon, Menon 318e; Nomoi 822b). 11 Dieses Miteinander von Geltenlassen der (insbesondere heimischen) Gesetze und der (heimischen) Götter in einem existenzleitenden Rahmen ist im antiken Denken durchaus gängig. Dass der Gesetzgeber auch religiös oder theologisch initiativ ist, zeigt z. B. Plutarch, der ganz selbstverständlich die Gesetzgeber (neben den Dichtern und Philosophen) als Urheber aller Auffassungen über die Götter nennt (vgl. Paul Veyne, Die griechisch-römische Religion, Stuttgart 2008, 174, Anm. 235, mit Bezug auf Plutarch, Amatorius 763c). 10

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In den Versen 11–15 wird als dem zweiten Fall des ceteris paribus gleichen formalen Vorgehens wie bei den Gesetzen die Furcht vor den Göttern als regulative Maßnahme eingeführt, um den von der Einführung der Gesetze nicht erreichbaren Gewalttaten entgegenzuwirken. Diese Furcht nimmt, wiederum in symmetrischer Entsprechung, die gleiche funktionale Rolle ein, wie bei der Einführung der Gesetze die Furcht vor dem, was sie als Strafe mit sich bringen. Diese Parallele ist auch sprachlich eindeutig gekennzeichnet: Jeweils begleitet von einer relativen Zeitangabe (V. 5: κἄπειτά; V. 11: τηνικαῦτα) mit Bezug auf die Unhaltbarkeit des Bestehenden, wird die Erzählung der Einführung des strafbringenden Regulativs beide Male sehr auffällig mit ein und derselben, auf die persönliche Einschätzung oder Vermutung des Erzählers verweisenden Unsicherheitsklausel eingeleitet: μοι δοκοῦσιν ἄνθρωποι νόμους θέσθαι κολαστάς in den Versen 5–6, μοι δοκεῖ […] σοφὸς γνώμην ἀνήρ hθεῶνi δέος […] ἐξευρεῖν in den Versen 11–12. Interessant ist, wie hier offenbleibt, worauf sich die Anzeige der persönlichen Vermutung des Sprechers bezieht: Auf die erzählte Entwicklung (einmal das Erlassen von strafenden Gesetzen, einmal die Furcht vor den strafenden Göttern) oder darauf, wer hier als Handlungsträger angesprochen ist; einmal also, ob es wirklich die Menschen allgemein waren, und einmal, ob es wirklich ein findiger, weiser Mann war. Aber an einer Stelle setzt der so sorgfältig herausgearbeitete und kenntlich gemachte Parallelismus zwischen Gesetzen und Gottheiten als Regulativen dann plötzlich und ins Auge springend aus. Dies scheint auch der bewusst so gewollte turning point in der ganzen Erzählung zu sein. Dieser sorgsam platzierte Entsprechungsbruch gliedert in bedeutsamem Maße auch das, was nun über die Religion, besser: über die Auffassung vom Göttlichen, gesagt wird, in zwei Teile. Sie bauen aufeinander auf, haben aber strenggenommen nicht das gleiche Thema. Dass sie verschiedene Themen haben, liegt aber genau an dem, worauf der Entsprechungsbruch aufmerksam macht: Das gesamte Sisyphos-Fragment hat, so sollte bisher deutlich geworden sein, die Schlechtigkeit des Menschen, die jeweils Ausgangspunkt für die beiden beschriebenen Maßnahmen der Gesetzes- und Religionseinführung ist, zum Hintergrundthema, und zwar unter dem Aspekt, wie dieser überindividuell eingefleischten 28 https://doi.org/10.5771/9783495825372 .

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Schlechtigkeit beizukommen ist. Dass diese Gegenüberstellung von urwüchsiger überindividueller Tendenz zur Schlechtigkeit und sozial relevanter regulativer Handhabe dagegen auch das Hauptthema ist, ersieht man nicht zuletzt daran: Zu Beginn des Fragmenttextes wird in V. 3 der Umstand beklagt, dass es anfänglich nicht nur keine Strafe für Schlechte gab, sondern auch keinen Lohn für Gute oder Edle (οὐδὲν ἆθλον οὔτε τοῖς ἐσθλοῖσιν ἦν). Man mag in Frage stellen, ob damit moralisch Gute gemeint sein sollen, und dies wohl mit Recht angesichts der Tatsache, dass die Schlechtigkeit ja als überindividuelles und damit alle betreffendes Urwüchsigkeitsmerkmal des menschlichen Zusammenlebens dargestellt wird, aber auch des Wortgebrauchs wegen: ἐσθλός heißt eher »edel« oder »hochrangig«, »hervorragend« als »moralisch gut«, und ἆθλον ist eher der »Preis«, die »Auszeichnung« als der »Lohn«. Doch das tut vergleichsweise wenig zur Sache angesichts einer Merkwürdigkeit, die im Folgenden auffällt: Von Lohn, Preis oder generell von positiver Würdigung menschlicher Qualitäten, egal ob moralischen Handelns, persönlicher Ausgezeichnetheit oder gesellschaftlicher Dienlichkeit, ist im gesamten Text, der das Fehlen solcher Würdigung ja eingangs beklagt und als mitausschlaggebend für das Ingangsetzen der erzählten Entwicklung kennzeichnet, nie mehr die Rede! Dieser Missstand fällt also ganz aus dem Interessenrahmen der weiteren Betrachtung. Stattdessen wird ausschließlich die Bestrafung von schlechtem Tun alleiniges Anliegen des »Gesellschaftsprojekts« des Kritias, 12 das offenbar ohne »Zuckerbrot« nur mit der Peitsche arbeitet. Kritias sieht also eine überindividuelle Struktur von Schlechtigkeit, die unverkennbar von der Art ist, dass sie als bleibende Bedrohung angesehen werden muss und allein durch Strafe, nicht durch positiven Anreiz, eingedämmt wird. Die überindividuelle, fast mehr essentielle als strukturelle Schlechtigkeit des Menschen ist in der Theorie des Kritias so zu denken, dass sie nicht durch Anregung zum Guten wie Belohnung, noch durch intrinsische Motivation, sondern allein durch die extrinsisch wirksame Maßnahme der Bestrafung in Schranken gewiesen wird. Dies sagt nicht nur viel über die Anthropologie des Sisyphos-Fragments aus Nur wenigen Interpreten ist das aufgefallen, eine Ausnahme ist z. B. Dreßler, Philosophie, 39.

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– etwa in der Gleichsetzung des urwüchsig-tierischen Zustands mit der trotz aller Maßnahmen gleichbleibenden Natur des Menschen –, sondern zeigt auch, dass und wie die Beziehung zwischen überindividueller Schlechtigkeit des Menschen und dem νόμοινομίζειν-Zusammenhang das eigentliche theoretische Bewältigungsthema des Fragments darstellt – mehr noch als das spezielle Religionsthema, das dem Fragment in der Nachwelt solche Berühmtheit beschert hat. Genau bei diesem Thema ergibt sich aber nun der Entsprechungsbruch zwischen der Schilderung der Einführung der Gesetze und der Einführung des Götterglaubens: Während die Einführung jener die Bestrafung nämlich offenbar wie ein definitorisches Implikat erscheinen lässt, oder zumindest enthymetisch den Zusammenhang zwischen Gesetz und Strafe in der Formulierung νόμους κολαστάς (V. 5–6) überspringt, ergibt sich in Bezug auf das Göttliche und seine strafende Macht eine ganz andere Konstellation: Offenbar nämlich sieht Kritias – oder seine Bühnenfigur – hier keineswegs solch ein selbstverständliches Implikationsverhältnis am Werk. Die Einführung des Göttlichen ins Leben der Gemeinschaft ist daher streng zweigeteilt berichtet. Die Finalität der Maßnahme wird als Vorlauf zu dieser zweiteiligen Erklärung noch einmal eingeschärft: Damit es auch unter dem »thrasymacheischen« Vorbehalt, dass man ungesehen Böses tun könne, Furcht vor Strafe für die Schlechten gebe (ὅπως εἴη τι δεῖμα τοῖς κακοῖσι; V. 13–14), ist ein weiser Mann auf die Furcht vor den Göttern verfallen (θεῶν δέος ἐξευρεῖν). Die finale Furcht ist die vor Strafe, wie bei den Gesetzen, und sie ist von der Furcht vor den Göttern abhängig. Dass diese Furcht vor Strafe aber, anders als in dem bei den Gesetzen offenbar von selbst angenommenen Implikationsverhältnis, nicht schon mit der Existenz von Göttlichem gegeben ist, zeigt der Text unverkennbar: Der in den Versen 16–24,1 beschriebene Gott ist nicht nur sehr philosophisch – geradezu in einem xenophanischen Sinne, wie ich gleich erörtern werde – sondern er bestraft auch überhaupt nicht. Die Vorstellung von göttlicher Strafe als bedingend für den erwünschten Effekt von Furcht bringt erst eine zweite Entwicklung: Die Verse 24–40 nämlich bieten die lange Ausarbeitung einer nachgereichten Exekutive, die sich in einer einprägsamen und bisweilen drastischen 30 https://doi.org/10.5771/9783495825372 .

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Ausgestaltung der vorangehend beschriebenen Theologie ergeht, einer plastischen Konkretisierung der abstrakten Schilderung des Göttlichen aus dieser Theologie. Ist diese in Inhalt, formalem Aufbau und Vokabular eher noch eine Attributenetüde in rationaler Gotteslehre, wie der Vergleich nicht nur mit Xenophanes, sondern auch mit anderen griechischen Theologen zeigen kann, so ist das, was darauf ab V. 24,2 folgt, tatsächlich eine sich zusehends steigernde Ausmalung von volkstümlichen, affektiv wirksamen Attributen, die vielleicht wirklich »zum Fürchten« sind. 4.2.2 Die Theologie des Sisyphos-Fragments Wenden wir uns also zunächst der interessanten »Kurztheologie« der Verse 16–24,1 zu. 13 Zur Veranschaulichung und Stützung ihres philosophischen Gehalts vergleiche ich sie mit der Gotteslehre des Xenophanes, ohne jedoch dabei eine direkte Imitation durch das Sisyphos-Fragment nahelegen oder andere theologische Bezüge aus dem vorsokratischen Denken abstreiten zu wollen. Folgende Punkte machen die »Kurztheologie« des Fragments aus: (a) Es ist ein Gott (δαίμων) von unendlicher Lebensart oder Lebenskraft (βίῳ) (b) und ebensolcher Einsichtsart oder Einsichtskraft, die alles bedenkt (V. 17–18); (c) er sieht und hört mit seinem Geist (νόῳ; V. 18); (d) er ist von der Natur einer Gottheit (φύσις θεία; V. 19); (e) sein Vermögen, alles, was Menschen sagen und tun, zu hören und zu sehen, ist (dementsprechend) übermenschlich (V. 20– 21); (f) göttliche Wesen (θεοί) wie er kennen aufgrund von Einsicht im Übermaß auch die heimlichen Gedanken der Menschen (V. 22– 24,1). Vergleicht man die Gotteslehre des Xenophanes damit, so erkennt man nicht nur leicht die Begrifflichkeit als ähnlich und teilweise nahezu gleichlautend, sondern auch die genannten Elemente und Das ist sie, zumindest inhaltlich, tatsächlich, wie ich zeigen werde, auch wenn dies meist (allzu gerne) anders gesehen wird (vgl. Jonathan Barnes, The Presocratic Philosophers, London/New York 21982, 452).

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Motive bei Xenophanes fast allesamt angesprochen und, so man den gängigen Interpretationen folgt, theologisch ähnlich verarbeitet: – (a) und (d) im Fragment 23 des Xenophanes (Gott ist nicht menschengleich, θνητοῖσιν ὁμοίιος, sondern von übermenschlichem Wesen und Wissen); – (c) und (e) in Fragment 24 (Gott sieht, erkennt und hört in seiner – geistigen – Ganzheit, οὖλος); – (b) in Fragment 25 (Gott kann sich durch steuernde Einsichtsregung, νόου φρενὶ, auf alles verlegen). Noch eindeutiger würde die Sache, nähme man schließlich das von einigen Interpreten wegen seiner Beschreibung der geistigen Omnipräsenz des Göttlichen für xenophanisch oder zumindest »typisch xenophanisch« gehaltene Fragment bei Philoponus (Fragmentum dubium 47 Gentili/Prato) dazu: »Alles ist angefüllt von Gott und sein Gehör ist überall: / Durch Felsgestein hindurch und über die Erde dahin und durch den Mann selbst, / welchen Gedanken auch immer er in der Brust verbirgt«. 14 Hier sind nochmals die Elemente (b), (e), aber auch (f) des oben gegebenen Konspekts der Kurztheologie des Sisyphos-Fragments geradeheraus angesprochen. Was bei all dem fehlt, und zwar auffälligerweise, ist ein Attribut, das man doch erwarten würde: die Strafmächtigkeit eines solchen Wesens. 15 Bei allen Vorbehalten gegen Schlüsse e silentio: Das scheint hier geradezu vorsätzlich unangesprochen. Eine Etüde dazu liefert, wie gesagt, erst, davon abgesetzt, die Ausmalung der Vorstellung von strafenden Gottheiten. Bemerkenswerterweise schreibt nun das Fragment diese Ausmalung nicht dem kollektiven und weitgehend ungeplanten Entstehen aus einer der volkstüm-

Fr. dub. 47, in: B. Gentili/C. Prato (Hrsg.), Poetae Elegiaci. Testimonia et Fragmenta. Pars prior, Leipzig 1979, 145; vgl. dazu Andrei Lebedev, »A New Fragment of Xenophanes«, in: Mario Capasso/Francesco de Martino/Pierpaolo Rosati (Hrsg.), Studi di filosofia preplatonica, Napoli 1985, 13–15; Giovanni Cerri, »Il frammento Lebedev di Senofane (Fr. dub. 47 Gent.Pr.)«, in: Quaderni Urbinati di Cultura Classica 69 (2001), 25–34. 15 Der Umstand des Auseinandertretens von der angenommenen Allwissenheit und Allmacht des Göttlichen zur Umsetzung in eine menschenbetreffende Strafgottheit ist gelegentlich gesehen und im Zusammenhang des Sisyphos-Fragments diskutiert worden, aber ohne wirklichen Gewinn zur Auslegung (vgl. Barnes, Presocratic Philosophers, 453 f.). 14

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lichen Auffassung historisch erwachsenen Folklore zu. Vielmehr ist gerade diese grelle Ausarbeitung das Werk des »weisen Mannes« und seine eigentliche Erfindung – wenn meine These richtig ist, dass die »Theologie« der Verse 16–24,1 eine inventio im Sinne des »Ausfindigmachens« eines weisen Mannes in Bezug auf das Göttliche ist, während die volksverträgliche Ausgestaltung seine inventio im Sinne einer Erfindung ist. Der Gedanke erscheint in Bezug auf das 5. Jahrhundert sehr viel weniger unplausibel, als er heute erscheinen mag, wo man mit Entstehungstheorien des Religiösen arbeitet, die genau das Gegenteil besagen und als zeitliche Abfolge darstellen wollen. Zumindest gibt es einmal mehr Belege von Xenophanes von Kolophon, die als Parallelen und Stützen für diese Deutung sprechen: In seinen Fragmenten 10, 11 und 12 spricht Xenophanes nämlich genau von Homer und Hesiod als solchen weisen Männern der alten Zeit, die den Griechen die volkstümlichen Geschichten, personifizierten Gestalten und fragwürdigen Handlungsmuster der Götter beigebracht hätten – und nicht etwa den Glauben daran, dass es so etwas wie das Göttliche überhaupt gibt, von dem Xenophanes ja dann auch in bewusster Absehung von all dem spricht. 16 Ein weiterer Gewährsmann ist Herodot, dessen berühmte Aussage (Historien II 53) Homer und Hesiod – also diese prototypischen Einzelgestalten von »weisen Männern«, ja sogar den »weisesten« und »Lehrern der meisten«, wie Heraklit von Homer (Fragment 56) und Hesiod (Fragment 57) sagt – als Lehrer der Griechen in den Auffassungen von den Göttern bezeichnet. Mit einer weiteren auffälligen Parallele zu einer Theologie, die im Gegensatz, oder zumindest in Absetzung, von den volkstümlichen Götterauffassungen entwickelt wird, soll es für dieses Thema Barnes, Presocratic Philosophers, 457 f., hat dies, freilich mit dem eilig eingeschalteten Vorschaltwiderstand »I hold no brief for theism«, erkannt und genau mit Bezug auf Xenophanes zugegeben: Das Sisyphos-Fragment ist nicht schon deswegen als atheistisch interpretierbar, weil die Götter abgelehnt werden, an die die Menschen glauben. Ähnlich Hesk, Deception, 186, der weitere antike Beispiele für diese Konstellation anführt, sogar meint, das Sisyphos-Fragment äffe Xenophanes nach, aber ebenfalls daraus keine weiteren Konsequenzen zieht, da er die Verse 16–24 nicht als theologisch gehaltvolles Stück eigenen Rechts gegenüber der Erfindung der Furcht vor den Göttern ansehen möchte.

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dann gut sein: In der Literatur zum Sisyphos-Fragment findet man den Hinweis, es gebe interessante Ähnlichkeiten mit den Auffassungen des Prodikos (Fragment 5) und Demokrit (Fragment 30) dahingehend, dass auch bei diesen die Götter von den Menschen als von dort herkommend angesehen werden, wo die guten und üblen Unwägbarkeiten des menschlichen Lebens zu finden sind: in den natürlichen Phänomenen von Regen, Blitz, Donner usw., wenn die Götter nicht gar als identisch mit ihnen bezeichnet werden. 17 Bezeichnend ist aber wiederum, dass davon eigentlich nur die Hälfte ähnlich ist, und hier stößt man auf die dritte Auffassung überindividuellen oder strukturellen Übels, die das Fragment anführt, ohne dass ich diese hier zu vertiefen vermag: nämlich das, was man spätestens seit Leibniz als »physische Übel« zu benennen gewohnt ist. Im Sisyphos-Fragment werden die Götter nämlich keineswegs auch als »Geber des Guten« angesehen, wie eine gängige Formel der griechischen Dichtung es haben will (z. B. Odyssee 8, 325), sondern die Ableitung ihres Wesens geschieht nur aus im Sinne von strafförmigen Phänomenen interpretierbaren Naturerscheinungen. Von den Segnungen von Regen o. ä., die man ebenfalls den Göttern zuschreiben könnte, ist bei Kritias zwar auch die Rede, aber nie in dem Sinne, dass damit die Menschen belohnt würden. Einmal mehr zieht Kritias diese Möglichkeit oder »Strategie« nicht in Erwägung, und das deckt sich mit dem Befund, dass der Lohn für Gute in der nomothetischen Aitiologie des Fragments seit dem ἆθλον τοῖς ἐσθλοῖσιν von V. 3 keinerlei Rolle mehr spielt. Auch hier schlägt die fast schon düstere Anthropologie des Sisyphos-Fragments wieder zu Buche. Ich möchte nun meinen, dass auch dies für eine Trennung von Theologie (V. 16–24,1) und Religionslehre (V. 24,2–40) im Text spricht. Zwei Überlegungen sind hier m. E. von Belang: 1. Die Schrecken und Segnungen der Naturphänomene, in oder hinter denen die volkstümliche Auffassung, die der weise Mann für die Gemeinschaft erfindet, die Götter vermutet, kontrastieren in der Beschreibung der Verse 27–33,1 doch sehr auffällig mit den Versen 33,2–34, wo in Worten, die stark an Platons Preis des Kosmos und seines Erbauers im Timaios erinnern, das wohl kaum anVgl. die Hinweise und Diskussion in Thomas Schirren/Thomas Zinsmaier (Hrsg.), Die Sophisten, Stuttgart 2003, 263 f.

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ders als »göttlich« zu bezeichnende Werk des Baumeisters des Weltalls geschildert wird, der offenbar unberührt von allem, was Strafe (oder auch Segen) als Reaktion verdienen würde, als wahrer »Gott der Philosophen« unbewegt und unbeeinflussbar, wie es die Zeit nun einmal ist, sein weltordnendes Werk betreibt. Auch hier haben wir es also mit einer Gegenüberstellung der »interessierten« Götterauffassung mit einer – so möchte ich meinen – »desinteressierten« Gottesauffassung nach Art vorsokratischer Spekulation zu tun. Man könnte es aufgrund dieses Befunds überspitzt geradezu so ausdrücken: Wenn von Sokrates gesagt wird, er habe die vorsokratische Philosophie »vom Himmel herabgerufen und in die Häuser der Menschen getragen«, um sie mit der Frage nach Gut und Böse zu konfrontieren (Cicero, Tusculanae Disputationes 5, 10), so zeigt das Sisyphos-Fragment eine bittere Parodie des gleichen Gedankens: Der »weise Mann« ruft die Kosmo-Theologie der Vorsokratiker vom Himmel herab und führt sie in handfest interessierter Umarbeitung in die Gemeinschaft der Menschen ein, um sie mit der Möglichkeit von Strafe (und eventuell Belohnung) zu konfrontieren. 2. Man stößt an dieser Stelle auf ein Problem, das auch aus der Naturrechtstheorie bekannt ist: Zwar leitet sich alles positive Recht aus dem Naturrecht her, so besagt die Naturrechtslehre, doch hat nur dieses positive Recht sanktionierende Macht. Leitet sich diese dann also nicht vom Naturrecht her? 18 Der Naturrechtstheoretiker wird vielleicht antworten: Doch, aber in einer Weise und in einem Ausmaß, die beide in wesentlichen Punkten so verschieden von der unmittelbar einsichtigen Sanktionskraft des positiven Rechts sind, wie dessen Erkenntnis von der des Naturrechts verschieden ist. Das Naturrecht wird also eine durchaus ernstzunehmende intrinsische Motivation zu seiner Befolgung entwickeln können, jedoch schwerlich eine extrinsische Motivation durch Strafandrohung wie das positive Gesetzesgefüge produzieren. Diese problematische Konstellation wiederholt sich nun formal im theologischen Dilemma des Sisyphos-Fragments: Die Einsicht, dass es eine göttliche Instanz gibt, die alles sieht, alles bedenkt, der alles schlechte und gute Tun Vgl. etwa Scott J. Roniger, »Is there a Punishment for Violating the Natural Law?«, in: ACPQ 94 (2020), 273–304.

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der Menschen bewusst ist etc., bleibt per se ohne Sanktionsfolge. Es ist fast schon das auffälligste Attribut dieser so beschriebenen Gottheit, dass sie nicht straft oder verfolgt. Es mag zwar intrinsisch motivieren, Gutes zu tun, wenn man weiß, dass es eine geistige Instanz gibt, die all unser Tun kennt – oder wenn man es sich auch nur als Motivationshilfe vorstellt, wie in Kants »publice age«. Doch ohne die extrinsische Motivation durch Bestrafung wird das Potential für eine Gemeinschaftsführung gering sein. Genau darauf weist ja das Gyges-Denkexperiment des Thrasymachos hin (Platon, Politeia II, 359b–360d), das der Autolykos-Situation in vielerlei Hinsicht gleicht. Anders gesagt: Für das Projekt des Kritias fehlt der theologischen per-se-Perspektive einer »xenophaneischen« Gotteslehre das motivationale quoad nos. 4.2.3 Fazit zur Gotteslehre des Sisyphos-Fragments Wir stehen also vor dem Fazit: Die Tatsache, dass es eine wie die in der »philosophischen Kurztheologie« des Kritias in den Versen 16– 24 beschriebene Gottheit gibt (oder mehrere) und das Wissen darum, flößt per se noch keine Furcht vor Strafe ein. Die Erfindung einer Gottheit oder ihrer Existenz kann somit auch nicht das Thema des Fragments sein, in dem es, eingerahmt in das Begriffspaar νόμοι/νομίζειν, um das Motiv der Einführung von für das Gemeinschaftsleben existenzgestaltenden Regulativen geht. Die in den genannten Versen dargestellte Gottheit bietet keine Lösung für das Problem der Eindämmung der überindividuell angelegten Schlechtigkeit der Anthropologie der von Kritias auf die Bühne gebrachten Erzählfigur. Das stellt schließlich auch infrage, dass mit der Qualifizierung ἥδιστον in V. 25 die vorhergehende Beschreibung des Göttlichen gemeint ist, denn die bleibt gegenüber dem gewünschten Erfolg steril. Das Gewünschte oder mundgerecht Schöngemachte – eben ἥδιστον – kommt vielmehr mit dem Nachfolgenden zur Götterbeschreibung: Diese Götter strafen eingängig wunschgemäß. Durch die eigenartige Konstellation, die sich aus dem Duktus des Fragments ergibt, wird dieses »Mundgerechte« aber doch einsichtiger. Bei Kritias kann die Gottheit, sollte die hier gegebene Interpretation richtig sein, nicht per se als ein Anthropomorphismus 36 https://doi.org/10.5771/9783495825372 .

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entstanden sein, als »Bild nach dem Menschen«, genauso wenig wie der Mensch als »nach Gottes Ebenbild« gelten kann: Die »Kurztheologie« des Sisyphos-Fragments besteht nämlich im Gegenteil (genauso wie die Gotteslehre des Xenophanes) dezidiert auf dem übergroßen Unterschied zwischen dem göttlichen und dem menschlichen Wesen. Dieser Unterschied ist so groß, dass auch seine Überbrückung durch Strafhandlung nicht in Frage kommt. Da die hier beschriebene Gottheit also nichts mit dem Menschlichen zu tun hat, muss – ein uraltes theologisches Problem – eine Überbrückung oder Vermittlung zwischen Göttlichem und Menschlichem her, um einem menschlichen Bedürfnis nach übergeordneter Richtigkeit entsprechen zu können. Diese Vermittlungsrolle weist Kritias den von einem weisen Mann als dieses Bedürfnis erkannten Göttergestalten zu und damit einer mehr menschenförmigen als gottförmigen Strafinstanz, von der hinsichtlich ihres motivationalen Potentials gilt: sebbene non è vero, era molto ben trovato. Angesichts dieser Lage ist es m. E. angeraten, die Aussage der Verse 24,2–26, dass der »weise Mann«, mit einer Lüge die Wahrheit verbergend, »mit diesen Worten« (τούσδε τοὺς λόγους λέγων) seine verführerische »Lehre« (δίδαγμα) einführte, gegen die grammatisch zunächst intuitivere Variante, den deiktischen Bezug auf das Vorhergehende, nämlich auf die Beschreibung der alles sehenden und wissenden Gottheit, zu lesen. Stattdessen legt sich die Deutung nahe, das τούσδε als vorverweisend auf die folgende Ausformulierung der Göttervorstellungen zu beziehen, und somit auf das eigentliche ἐξεύρημα des Erfinders. Nach λόγῳ in V. 26 wäre demnach sinngemäß ein Doppelpunkt anzunehmen. 19 Mit V. 24,2 setzt

Scholten, Sophistik, 246, hat darauf hingewiesen, dass es gerade eine Auffälligkeit des Sisyphos-Fragments ist, wie die strafenden Götter eingeführt werden: nämlich mit einem Logos (λόγῳ), nicht durch einen Mythos. Das könnte sich zwar auf den Logos beziehen, den ich als »Kurztheologie« bezeichnet habe; plausibler aber ist, hier den Logos vom Göttlichen in den Naturphänomenen (V. 27–36) angesprochen zu sehen. Es geht um eine Lehre mit Überzeugungskraft, die aber in ihrer Darbietungsart als eingängig und angenehm, ἥδιστον, charakterisiert wird: Der σοφὸς γνώμην ἀνήρ ist zumindest in seiner rhetorischen Überredungskunst ein Sophist, will das wohl meinen.

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also ein deutlich angesetzter thematischer Verklammerungsblock im Fragmenttext ein, den erst V. 40 schließt. Das Fragment setzt, so ist der Text zu deuten, die gezielte Erfindung der Vorstellung von den strafenden Göttern explizit der Wahrheit entgegen: Diese werde durch die als trügerisch verführende Lehre vorgetragene Lüge von den für die manipulierbare Volksvorstellung maßgefertigten Göttern versteckt oder verborgen (V. 26: καλύψας). Die hier vorgelegte Interpretation, dass dieses Verdecken der Wahrheit im Fragment nicht etwa durch die Annahme der Existenz einer Gottheit geschieht, hat m. E. eine Bestätigung darin, wie im weiteren Textverlauf des Bruchstücks die Beschreibung der wahren Gegebenheiten von denen der Lüge über das Wesen der Götter abgehoben wird: So geht der Fragmenttext ganz offenbar von der »anaxagoreischen« Annahme (VS 59 A 42, v. a. aber auch Fragment 51 Gemelli) aus, dass die Sonne in Wahrheit ein glühend leuchtender Metall- oder Steinklumpen (V. 35: λαμπρὸς μύδρος) sei, und nicht etwa der Gott Helios – dies freilich unter dem Vorbehalt, dass es tatsächlich die Meinung des Autors ist, die hier geäußert wird, und nicht seinerseits ein schlaues Spiel. Jedenfalls wird im Sisyphos-Fragment diese Art, die Himmelserscheinungen zu sehen, zumindest kritiklos und ohne Qualifikativ von der als lügenhaft gekennzeichneten Auffassung von dem Zusammenhang zwischen Göttern und Himmelserscheinungen, wie sie als volkstümliche religiöse Auffassung dargestellt und aitiologisiert wird, deutlich abgegrenzt. Es ergibt sich auch hier, dass die als Lüge bezeichnete Erfindung des σοφὸς ἀνήρ diese Auffassungen zum Thema hat und nicht die Auffassung, dass es etwas Göttliches überhaupt gibt, auch nicht, wenn es theologisch anspruchsvoll definiert wird wie die in den Versen 16–24,1 beschriebene Gottheit. Einmal mehr kann Xenophanes hier als Vergleichsautor gute Dienste tun: Dass er die Himmelserscheinungen als Naturphänomene ohne Bezug auf die Götter des Mythos oder der allgemeinreligiösen Auffassungen erklärt und damit seine bessere Auslegung von diesen distanziert, 20 ist keineswegs gegen die Überzeugung geSo etwa in Fragment 21 (zu Sonne/Helios), Fragment 32 (zu Regenbogen/Iris), sowie die Testimonien 38, 39, 43 und 44 (vgl. Schäfer, Xenophanes, 136–138; Heitsch, Xenophanes, 167–172; James H. Lesher, Xeno-

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wendet, es gebe etwas Göttliches. Wohl aber wird dieses dadurch ganz im Gegenteil von solchen Auffassungen abgesetzt, genauso wie im Übrigen die meteorologischen Lehren des Xenophanes die einzelnen Himmelserscheinungen vom Wirken seines ganzgeistigen »einen Gottes« von Fragment 23 distanzieren, ganz so, wie die Wortwahl des Sisyphos-Fragments sie vom Weltenbauer Chronos distanziert. Die Verse 42–43 sind im Zitat des Sextus Empiricus vom großen Textblock des Fragments, den er wiedergibt, durch einen Zwischenverweis abgesetzt: Er, und das lässt sich vermutlich sowohl auf den Autor wie auf die erzählende Bühnenfigur des Satyrspiels beziehen, setze kurz darauf das hinzu, was in diesen beiden, dann wieder wortwörtlich zitierten, Versen 42 und 43 steht. Man kann das wohl so verstehen, wie es Sextus offenbar auch aufgefasst hat: Diese beiden Verse sind eine Art Fazit der Erzählung von der Schlechtigkeit der Menschen, den Gesetzen und dem weisen Mann mit seiner religiösen Lehre, die das konventionelle θεοὺς νομίζειν in die Menschengemeinschaft einführte. Den Abschluss dieses Zweizeilers möchte ich nun als weitere Bestätigung dafür ansehen, dass das Thema des Fragments keineswegs die Erfindung Gottes ist, wie die These vom sophistischen Atheismus des Kritias es standardmäßig annimmt. Vielmehr bezieht sich die Formulierung νομίζειν δαιμόνων εἶναι γένος gar nicht auf eine Erfindung des Göttlichen, sondern auf die der Götterfamilie und meint das »Göttergeschlecht« der Volksreligion im Sinne des Götterstammbaums Hesiods und der homerischen Götterfamilie. Die Formulierung bezieht sich also auf die vielköpfige Gruppe der moralisch strafenden Gottheiten. Es geht wohl gar nicht darum, in V. 43 gemäß einer Genus-SpeciesAuffassung von γένος an eine »Gattung Gott« zu denken, als sei das Thema des Fragments, dass jemand die ontologische oder logische Kategorie »Gottheit(en)« fiktiv erdacht habe. Vielmehr geht es hier darum, mit dem Syntagma δαιμόνων γένος zu zeigen, dass die Bühnenfigur des zitierten Satyrspiels folgende Auffassung vertritt: Irgendjemand habe es aus den im Fragment erzählten Gründen unternommen, den bunten genealogischen Gesamtstammbaum und phanes of Colophon: Fragments: A Text and Translation with Commentary, Toronto 1992, 137 und 141–144).

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die familienähnliche Gruppe, die Sippe der vielen Götter, wie sie in den religiösen Auffassungen der Menschen in deren durch die νόμοι äußerlich strukturierten Gemeinschaften und Gesellschaften vorkommen, erstmals (πρῶτον) in diese Gemeinschaften einzuführen. Durch das damit erreichte religiöse νομίζειν sei eine bedeutungsvolle Ergänzung und Verbesserung gegenüber der ersten, rein äußerlich zwingenden Herrschaft der νόμοι eingetreten. Sollte die Konjektur für den Einpassungsrahmen dieser Erzählung richtig sein, dass hier Sisyphos den Autolykos (oder sonst irgendjemand irgendwen in einer vergleichbaren »thrasymacheischen« Situation) davon überzeugen will, ohne Furcht Untaten zu begehen, die von keinem Menschen gesehen und von keinem Gesetz geahndet werden können, so passt auch dies zu dieser Deutung: Die gesellschaftsstabilisierende Auffassung von strafenden Gottheiten muss nicht als wahr angenommen werden, da sie als eine ad-hoc-Fiktion zur sozialen Regulierung angesichts der Schlechtigkeit in der Wesensstruktur des Menschen gelten darf. Wer das weiß, wird eine extrinsische Motivation zu einem bestimmten Verhalten nicht mehr verspüren. Ein letztes Mal sei zu einer abschließenden Überlegung auf die Parallele mit Xenophanes und seiner Kritik der »homerförmigen« volkstümlichen Götterauffassungen zurückgekommen. Auf die Ähnlichkeiten im logischen Aufbau ist ja bereits weiter oben hingewiesen worden: Logisch primär ist die Erklärung eines philosophischen Gottesbildes, erst dann erfolgt auf diesem Hintergrund und daraus abgeleitet eine Darstellung und Kritik oder kontrastierende Einordnung der volkstümlichen Vorstellungen von den Göttern – bei Xenophanes als Problematisierung der moralischen Vorstellungen bezüglich des griechischen Pantheons, im SisyphosFragment als Problematisierung der Vorstellung von den Göttern als strafender Instanz. Nun ist bei Xenophanes durchaus auffällig, dass er keineswegs den Weg geht, seine Ansicht darüber, dass die Vorstellungen von den Göttern falsch seien, in die These münden zu lassen, diese Falschheit der Auffassungen habe irgendeinen argumentativen Wert für die Frage danach, ob es denn überhaupt eine Gottheit gibt. Es ist gerade umgekehrt: Die Falschheit der Auffassungen wird erst als Verfälschung und gewissermaßen als verzerrte »Brutalisierung« des eigentlich korrekten Gottesbildes als Falsch40 https://doi.org/10.5771/9783495825372 .

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heit verständlich. 21 Die Auffassung, und dies sei hier nur ergänzend angedeutet, dass der greifbarste und (auch philosophisch) interessanteste Gegensatz zur richtigen Auffassung vom Göttlichen nicht etwa eine Verneinung der Existenz dieses Göttlichen ist, wie im Atheismus in der modernen Auffassung, sondern in der Verfehlung der Richtigkeit der Auffassung vom Göttlichen besteht, lässt sich auch in der späteren griechischen Theologie noch als Standard belegen. Die bei Xenophanes und anderen belegte These, das in Bezug auf die göttlichen Dinge tadelnswerteste Verhalten sei eine Verfälschung des wahren Göttlichen durch auf den Menschen zugeschnittene Lügengebilde, 22 wandelt sich dann zu der Anschauung, dass das, was sich am deutlichsten von Religion unterscheidet (und was Vgl. Schäfer, Xenophanes, 161 f. – In diesem Sinne möchte ich auch den Verweis auf die Pluralität von Göttern in den Versen 22–23 dieser »Kurztheologie« verstehen (ἐὰν δὲ σὺν σιγῇ τι βουλεύῃς κακόν, τοῦτ’ οὐχὶ λήσει τοὺς θεούς): Sollte der Plural hier ein Vorgriff und keine Übergangsformulierung im Hinblick auf das Folgende, nämlich die Beschreibung der volkstümlichen Götterauffassung, sein, so zeigt er die Ableitung des falschen allgemeinen Götterbilds aus der philosophischen Gottesauffassung an, indem gerade an dieser Stelle des Fragments nämlich ins Thema des quoad nos des Göttlichen eingeleitet wird, während die »Kurztheologie« vorsokratischen Stils das per se in der Beschreibung der Gottheit zum Thema hat. Sollte die Passage jedoch noch ganz zu dieser »Kurztheologie« zu rechnen sein, so kann der Verweis auf Xenophanes einmal mehr lehren, dass das Miteinander von pluralisierbaren Göttern und einer Gottheit für die vorsokratische Gotteslehre keinen unausräumbaren Widerspruch darstellt und beides in einer Aussage nebeneinanderstehen kann, ohne die Intaktheit der philosophischen Spekulation über das wahre Göttliche in Gefahr zu bringen (vgl. Xenophanes, Fragment 23, und dazu Heitsch, Xenophanes, 143–152; Schäfer, Xenophanes, 164–170). 22 Hintergrund dafür scheint v. a. der in der Antike emphatisch wiederkehrende (und übrigens im Sisyphos-Fragment mit dem Ausdruck πρέποντι χωρίῳ, »am ihnen geziemenden Ort«, hier wohl i. S. v. »dort, wo sie auch hingehören«, ironisierte) Gedanke von der Theoprepie zu sein, den Oskar Dreyer mit seiner grundlegenden Schrift so überzeugend herausgearbeitet hat (vgl. Oskar Dreyer, Untersuchungen zum Begriff des Gottgeziemenden in der Antike, Hildesheim/New York 1970): Die Vertauschung der anzustrebenden Gottangemessenheit theologischer Rede mit einer gottunangemessenen, in der die Vorstellungs- und Begegnungswelt des Menschen zum Maßstab für das Göttliche zu werden droht, ist der Fundamentalirrtum, den die antiken Philosophen in der Semantik der Gotteslehre gerne diagnostizieren. 21

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man um der Religion willen kritisieren sollte), nicht etwa die Irreligiosität ist, sondern der Aberglaube, verstanden als eine verfehlte Auffassung von den göttlichen Dingen. 23

5. Ergebnis Die hier entwickelte Interpretation des Sisyphos-Fragments und ihr Ertrag scheinen sich vom Thema des strukturellen Üblen immer wieder entfernt zu haben. Doch scheint dies tatsächlich nur so. Das Fragment ist als Teil eines Kunstwerks, wie es ein attisches Satyrstück nun einmal ist, 24 für verschiedene Lesarten und verschiedene Ebenen anspruchsvollen Lesens zugangsoffen. Die Lesart, die hier vorgelegt wurde, geht an der Entwicklung der verschiedenen Auffassungsweisen vom strukturellen Üblen entlang, wie sie eingangs (1) vorgestellt wurden. Die im Fragment erzählte Aitiologie der moralisch relevanten religiösen Auffassungen im θεοὺς νομίζειν ergibt sich als eine Verzahnung verschiedener Spielarten struktureller Übel. Ausgangspunkt ist die Beschreibung eines als »Urzustand« erzählten Naturüblen der menschlichen Schlechtigkeit: Der Mensch ist im ungezähmten Zustand eines vorgesellschaftlichen »Es war einmal«, der, wenn schon nicht als der strikt wesensgemäße, so doch als der primäre und bleibende Zustand der Menschenverfassung beschrieben wird, »dem Menschen ein Wolf«. Es geht also im Sinne der oben gegebenen ersten Auffassungsvariante vom überindividuellen Üblen um ein urwüchsiges Ordnungsgefüge in dem Sinne, in dem auch das Leben von wilden Tieren seine Ordnung hat (θηριώδης), das sich aber für den Menschen interessanterweise so auswirkt, dass er ein regelloses und chaotisches Leben (ἄτακτος βίος) zu führen gezwungen ist. Insbesondere Ausgehend von Plutarchs Schrift über den Aberglauben zeigt dies z. B. Rémi Brague, »Atheismus oder Aberglaube? Zur Inaktualität eines heutigen Problems«, in: Philosophisches Jahrbuch 118 (2011), 214–231. 24 Viele Interpreten wollen dies gar zum eigentlichen Deutungsschlüssel machen: Das Fragment »can be read as a critical engagement with the emotional and theological machinery of tragedy« (Hesk, Deception, 184) oder »is a speech from a play, and a semi-comedy at that« (Barnes, Presocratic Philosophers, 452), etc. 23

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fällt auf, dass hier jede moralische Grundlage fehlt: Wenn Aristoteles später den Bereich des Moralischen als deckungsgleich mit dem des Lobens- und Tadelnswerten in den menschlichen Handlungen bestimmt, so ist das Ergebnis der urwüchsigen Schlechtigkeit in der Erzählung des Sisyphos-Fragments gerade das Fehlen jeglicher Anerkennung genau dieses Bereichs: Es gibt da keinen Lohn für Gute und keine Sanktionen gegen Böse (V. 3–4). Vielmehr ist rohe Stärke das Bestimmungsprinzip menschlicher Lebensführung (V. 2: ἰσχύος ὑπηρέτης). Fast möchte man mit Nietzsche daran anschließend einen »Pessimismus der Stärke« in der Erzählung des Fragments am Werk sehen: Gegen das Übel des urwüchsig regellosen Menschenlebens wird eine strukturelle Zwangsmaßnahme ergriffen, auch sie als Herrschaft der Stärke berichtet, aber mit positiver Folge für das Gemeinschaftsleben: Ein Ausdruck von Stärke, ja nachgerade ein Tyrann, ist die Gerechtigkeit als Regulativ im Sinne der Gemeinschaft, und sie knechtet die Selbstüberhebung der Stärke des Einzelnen. Diese führte zu Regellosigkeit, jene zu einem Regelsystem, dessen Benennung als νόμοι von V. 5 an ein Grundmotiv des Fragments vorgibt. Ich möchte hier die These nahelegen, dass dieses Regelsystem in der Darstellung des Kritias und insbesondere in Hinsicht auf die Wortwahl »Tyrann«, »knechten«, und vielleicht mehr noch als die fromme Lüge von den strafenden Gottheiten an ein strukturelles Übel im Sinne der eingangs festgelegten zweiten Auffassungsvariante von strukturell Üblem denken lässt. Vielleicht haben wir es tatsächlich nur mit dem (sophistischen?) Gedanken eines bloßen Wechsels des Rechts des Stärkeren von roher Körperstärke zur Konvention (der δίκη τύραννος) zur Überzeugungsgewalt eines schlauen Menschen zu tun. 25 Jedenfalls aber sind die νόμοι genau wie das θεοὺς νομίζειν als gesellschaftsstrukturell irgendwie positiv wirksames Übel angesehen und beschrieben und lassen dabei also eine bemerkenswerte Gegenläufigkeit von struktureller Wirksamkeit und struktureller Annahme als Übel erkennen. 26 Diese GeSo scheint es auch Scholten, Sophistik, 246–254, nahelegen zu wollen. Dass die Schilderung der Gesetze und auch der Gerechtigkeit, die die Menschen nach den Versen 5–7 einführen, nicht eben positiv für beide spricht, hat richtig Scholten, Sophistik, 242 f. und (zum Begriffspaar

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genläufigkeit scheint allerdings tatsächlich besser in der Lügengeschichte von den Göttern auf als in den Gesetzen, über deren inneren Richtigkeitsstatus sich das Fragment ausschweigt, um sogleich zu ihrer äußeren Sanktionskraft überzugehen. Ähnlich wie bei Heraklit (Fragment 58) diskutiert wird, ob die leidverursachenden Übel von Schneiden und Brennen nicht eine Wohltat sein können, wenn sie von Ärzten zum Zweck der Heilung eingesetzt werden, so auch im Sisyphos-Fragment des Kritias: Es wird nicht in Frage gestellt, dass die Auffassung von den strafenden Gottheiten eine Lüge ist. Es ist in der Erzählung aber eben eine Lüge, die sich irgendwie als strukturelle Wohltat oder als gesellschaftlich willkommen (ἥδιστον) auswirkt. Freilich kann man dann in Anbetracht der zahlreichen Belege für die erfreuliche Aufnahme des Lügenerzählens in der griechischen Literatur (z. B. Odyssee 13, 254–255; 290–299) und Philosophie (z. B. Dissoi logoi 3, 11–12) dafür plädieren, dass diese Lüge ihrer Virtuosität wegen wie ein Positivnachweis geistiger Plastizität gepriesen und gerade ihrer strukturellen Wirksamkeit wegen als geradezu lobenswert angesehen werden kann. Doch zweierlei lässt die Interpretation des Sisyphos-Fragments dennoch erkennen: Erstens, es ist keineswegs ausgemacht, dass es sich um eine »atheistische« Lüge im Sinne der Standardinterpretation des Bruchstücks handelt, es spricht im Gegenteil einiges dagegen. Zweitens aber: Auch als staunenswert findig und als strukturell wirksame Wohltat bleibt diese Lüge unmissverständlich als Lüge qualifiziert (V. 26) und als solche interessanterweise das letzte, und dann auch einzige »insgeheim Freveln«, das sich dem Erfolg der Geschichte von den strafenden Gottheiten entzieht.

τύραννος/ὕβρις) 249 f., thematisiert und in der Analyse der Wortwahl bestätigt (dort auch weitere Literatur dazu). Charles Kahn, »Greek Religion and Philosophy in the Sisyphus Fragment«, in: Phronesis 42 (1997), 247– 262, hier 259, hat mit Hinweis auf das dem Sisyphos-Bruchstück nahestehende Antiphon-Fragment 44 ganz ähnlich diagnostiziert, dass schlicht eine Beschreibung der Vergewaltigung der gesetzlos gewalttätigen Natur des Menschen durch die widernatürliche Gewalt des Gesetzes geboten wird.

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Sang-Sup Lee

Individualität und Über- bzw. Interindividualität des moralischen Übels bei Thomas von Aquin

This article has it as its objective to consider the over-individual characters of the moral evil according to Aquinas’s theory of evil. Thomas Aquinas does not systematically develop the theory of structural or superindividual evil, but his theory of moral evil shows to some extent that although the moral evil is an individual event in its being because it comes from the will of the individual person, it nevertheless at the same time contains features that cannot be reduced on the individuality of the act of will. With a view to considering such characters in detail, this article focuses on the theory of original sin, the accidental causality of moral evil by the defective will, the lack of the order to the common good and finally the accidental, unvoluntary occurence of the evil through the voluntary act.

Das moralische Übel im eigentlichen Sinne ist ein freier Akt der individuellen Handelnden, also ein persönliches Ereignis, kein Akt einer Gruppe oder einer ganzen Gesellschaft, wie Papst Johannes Paul II. in seinem Apostolischen Schreiben Reconciliatio et Paenitentia betont. 1 Es ist aber auch zugleich nicht auszuschließen, dass sich das moralische Übel, obwohl es als ein Akt des Einzelnen in seinem Sein vereinzelt ist, in seinen Ursachen, Wirkungen oder in den Situationen, in denen es geschieht, dennoch nicht einfach auf die Ebene der individuellen Handelnden beschränkt. Der Mensch handelt nämlich nicht isoliert, sondern in konkreten Situationen des Lebens mit den Mitmenschen, die sich gegenseitig beeinflussen. 2 Das moralische Übel scheint also Merkmale zu haben, die über Papst Johannes Paul II, Reconciliatio et Paenitentia, 1984, 16; vgl. John M. Breen, »John Paul II, The Structures of Sin and the Limits of the Law«, in: St. Louis University Law Journal 52 (2008), 317–373, hier 334. 2 Vgl. Breen, »John Paul II, The Structures of Sin and the Limits of the Law«, 334. 1

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die in seinem Sein verwurzelte Individualität hinausgehen, die – anders formuliert – der Begriff von Individualität allein nicht erklären kann. Inwiefern das moralische Übel solche Merkmale besitzt und welche diese sind, versucht dieser Beitrag unter Berücksichtigung der thomasischen Lehre vom Übel zu analysieren.

1. Das moralische Übel als willentlicher Akt der individuellen Handelnden 1.1 Das moralische Übel als den Menschen eigentümliches Übel Es gibt verschiedene Arten des Bösen, die Menschen erleben. 3 Diese entsprechen den verschiedenen Arten des Guten der Menschen. Denn das Böse bedeutet nach Thomas einen »Mangel an Gutem« 4. Das Gute der Menschen umfasst das Gute, das zu dem Menschen als natürlichem Wesen gehört, das äußere Gute, das notwendig ist, um die Existenz sowie das Leben der Menschen aufrechtzuerhalten, und das Gute, das zu dem Menschen als geistigem Wesen gehört. 5

Vgl. Thomas von Aquin, »Quaestiones disputatae de malo«, in: Quaestiones disputatae, Vol. II, cura et studio P. Bazzi, M. Calcaterra, T. S. Centi u. a., Turin/Rom 1949, (im Folgenden abgekürzt mit De malo), q. 1, a. 4, co. – Hier unterscheidet er zwischen malum culpae und malum poenae, entsprechend der Unterscheidung zwischen perfectio prima (forma, habitus) und perfectio secunda (operatio); zu dieser Unterscheidung vgl. Ludwig Hödl, »Die metaphysische und ethische Negativität des Bösen in der Theologie des Thomas von Aquin«, in: Carsten Colpe/Wilhelm Schmidt-Biggemann (Hrsg.), Das Böse. Eine historische Phänomenologie des Unerklärlichen, Frankfurt a. M. 32016, 137–164, hier 155–159. Thomas klassifiziert in unterschiedlicher Weise in früheren und späteren Werken die verschiedenen Arten von Übel, die Menschen erfahren (vgl. Mary Edwin DeCoursey, The Theory of Evil in the Metaphysics of St. Thomas and its Contemporary Significance, Washington D.C. 1948, 66–99). 4 Thomas von Aquin, De malo, q. 1, a. 1, co. – Für einen Überblick und die Literatur über die ontologischen Themen von malum vgl. John F. Wippel, »Metaphysical themes in De malo, I«, in: M. V. Dougherty (Hrsg.), Aquinas’s Disputed Questions on Evil. A Critical Guide, Cambridge 2016, 12– 33. 5 Vgl. Thomas von Aquin, Summa Theologiae, cura et studio Sac. Petri 3

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Solange das Gute aber die Perfektion bedeutet, 6 konstituieren all diese Arten des Guten die Vervollkommnung der Menschen als Menschen in je anderer Weise. Natürlich besteht die endgültige Vollendung des Menschen in der Glückseligkeit, die in der visio beatifica liegt. 7 Das besagt, dass die Perfektion der Natur des Menschen im Übernatürlichen besteht, da visio beatifica ein übernatürlicher Zustand ist. Nur hierin befinden sich die Menschen im absolut perfekten Zustand, in dem sie keinen Mangel am moralisch Gutem erfahren. 8 Aber dieser Zustand der gloria kann, wie Thomas zugibt, in statu viae nicht erreicht werden. Das bedeutet wiederum, dass den Menschen in statu viae das Leben ohne Übel nicht gestattet ist. 9 Die höchste Perfektion, die die Menschen als Menschen in statu viae, aber allerdings nicht ohne gratia, erreichen können, liegt nach Thomas in der Richtigkeit des Willens (rectitudo voluntatis), d. h. im Willen zur richtigen Orientierung an der visio beatifica. 10 Sie ermöglicht es den Menschen, die richtigen Handlungen in die richtige Richtung für den richtigen Zweck auszuführen. Einen solchen Menschen bezeichnet Thomas als »schlechthin guten Menschen« (homo simpliciter bonus). 11 Caramello, Rom 1952 (im Folgenden abgekürzt mit STh und der Angabe des Teils), Ia-IIae, q. 84, a. 4, co.; De malo, q. 8, a. 1, co. 6 Vgl. Thomas von Aquin, STh Ia, q. 5, a. 1, co. 7 Vgl. Thomas von Aquin, STh Ia, q. 62, a. 1, c.: »nomine beatitudinis intelligitur ultima perfectio rationalis seu intellectualis naturae.« Zur thomanischen Lehre der Glückseligkeit siehe STh Ia-IIae, qq. 1–5. Vgl. dazu auch Christoph Mühlum, Zum Wohl des Menschen. Glück, Gesetz, Gerechtigkeit und Gnade als Bausteine einer theologischen Ethik bei Thomas von Aquin, Bonn 2009, 108–119. 8 Vgl. Thomas von Aquin, »Quaestiones disputatae de veritate«, in: Quaestiones disputatae, Vol. I, cura et studio P. Fr. Raymundi Spiazzi, Turin/Rom 1949 (im Folgenden abgekürzt mit De veritate), q. 24, a. 8, co.; STh Ia, q. 94 a. 1, co. 9 Vgl. Thomas von Aquin, De veritate, q. 24, a. 9, co.; a. 12, co. 10 Vgl. Thomas von Aquin, STh Ia-IIae, q. 4, a. 4co; ad 2; sie wird die unvollkommene Glückseligkeit im Unterschied zu visio beatifica als beatitudo perfecta genannt (vgl. Thomas von Aquin, STh Ia-IIae, q. 3, a. 5, c.; R. Leonhardt, Glück als Vollendung des Menschseins. Die beatitudo-Lehre des Thomas von Aquin im Horizont des Eudämonismus-Problems, Berlin – New York 1998, 204–209). 11 Thomas von Aquin, »Quaestiones disputatae de virtutibus in communi«,

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›Schlechthin böse‹ genannt werden könnte aber dagegen der Mensch, dem diese Richtigkeit des Willens fehlt. Denn aus dem der Richtigkeit ermangelnden bösen Willen ergeben sich die moralisch üblen Handlungen, welche dazu führen, dass die Handelnden ›böse‹ genannt werden. 12 Das Böse, das sich aus diesem Willen ergibt, zeigt den Mangel an Gutem an, das dem Menschen als geistigem Wesen innewohnen muss. Während die Richtigkeit des Willens, der den Menschen zu einem schlechthin guten Menschen macht, dem menschlichen Leben sowie Handeln moralische Ordnung und moralisches Sein (esse morale) verleiht 13, beraubt der Mangel an dieser Richtigkeit des Willens das menschliche Leben und Handeln seines moralischen Wertes, treibt den Menschen aus der richtigen Ordnung des Moralischen hinaus und überführt auch die andere Art des Übels in den Bereich des Moralischen, die sonst im Bereich der Technik oder der Naturdinge bleibt. Denn z. B. die Fähigkeit des Menschen, etwas Gutes hervorzubringen, kann niemals gut angewandt werden, ohne von einem guten Willen umgesetzt zu werden. Umgekehrt kann sogar eine moralisch neutrale, praktische Fähigkeit durch einen bösen Willen absichtlich falsch genutzt werden. 14 Somit gilt das moralische Übel als das Schwerwiegendste und Entscheidendste unter den Übeln, die Menschen erleben. 15 in: Quaestiones disputatae, Vol. II, cura et studio P. Bazzi, M. Calcaterra, T. S. Centi u. a., Turin/Rom 1953, q. un., a. 7, ad 2: »homo […] dicitur bonus simpliciter […] ex eo quod secundum totum est bonus; quod quidem contingit per bonitatem voluntatis«; vgl. Thomas von Aquin, De malo, q. 1, a. 4, co. 12 Vgl. Thomas von Aquin, De malo, q. 1, a. 5, co.; Robert J. Barry, From Metaphysical to Moral Evil: Thomas Aquinas’ Theory of Evil and Sin in the Disputed Questions De Malo, Questions One to Three, Ann Arbor 1996 (Boston College Dissertation), 187 f. 13 Vgl. Thomas von Aquin, De malo, q. 2, a. 6, ad 3. – Zum esse morale vgl. Hödl, »Die metaphysische und ethische Negativität des Bösen«, 154. 14 Vgl. Thomas von Aquin, De malo, q. 1, a. 5, co. 15 Schlimmer am moralischen Übel ist es nämlich, dass es von vielen weiteren Übeln begleitet wird. Zuallererst geht das moralische Übel mit einem Mangel in den Vermögen des Menschen oder dem habitus einher, die für das richtige Handeln notwendig sind, sc. dem Übel der Strafe (malum poenae). Mit anderen Worten, moralisch böse Handlungen können die Kräfte der Vermögen schwächen oder schlechte Gewohnheiten bilden, die es den

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1.2 Das moralische Übel als unordentlicher, willentlicher Akt Das moralische Übel im Sinne von culpa ist ein, wenn auch unordentlicher (inordinatus), willentlicher Akt (actus voluntarius). 16 Es hängt daher in seinem Sein vom Willen ab, denn agere oder non agere, sogar velle oder non velle gehören ausschließlich zum Willen. 17 In diesem Sinne taucht es in einem ganz persönlichen Ereignis auf. Als ein willentlicher Akt kann beim moralischen Übel seiner Struktur nach ein innerer Willensakt (actus interior) und ein äußerer Akt (actus exterior) unterschieden werden, 18 wobei sich der innere Akt des Willens zum äußeren Akt wie zu seinem Objekt verhält. 19 Die Bestimmung des moralischen Übels als ›willentlicher‹ Akt kommt von Seiten des Willens, während es von Seiten des äußeren Aktes her die Wesensbestimmung bekommt, die von ihrer Menschen erleichtern, Böses zu tun, oder auch die Akzeptanz der Gnade behindern, die den Menschen hilft, das Böse zu vermeiden (vgl. Thomas von Aquin, De malo, q. 1, a. 12, co.) Daraus ergibt sich wiederum häufig weiteres moralisches Übel. Das Übel der moralischen Handlungen (malum culpae) und das daraus resultierende Straf-Übel betreffen in erster Linie den Handelnden selbst. Aber es kann auch anderen moralischen Wesen Böses zufügen. Insofern kann ein moralisches Übel als mehrfaches Übel angesehen werden. Vgl. Hödl, »Die metaphysische und ethische Negativität des Bösen«, 157 f. 16 Thomas unterscheidet terminologisch malum, peccatum und culpa. Das Wort malum umfasst alle Arten des Bösen, die in allen Bereichen des Seienden gefunden werden, sei es im Bereich der Natur, im Bereich des Moralischen oder sei es im Substanziellen, in der Form oder dem Habitus sowie auch im Akt. Die Worte peccatum sowie culpa bezeichnen das Böse im Akt. Das peccatum umfasst alle hinsichtlich der gerechten Ordnung fehlenden Akte, sei es moralisch oder technisch oder natürlich. Es ist gerade die culpa, welche die Sünde oder das moralische Übel genannt werden soll. Culpa wird daher malum morale im eigentlichen Sinne genannt. Aber Thomas verwendet die beiden Terminini peccatum und culpa in De malo synonym (vgl. Thomas von Aquin, De malo, q. 2, a. 2, co). 17 Vgl. Thomas von Aquin, STh Ia-IIae, q. 13, a. 6, co. 18 Vgl. Thomas von Aquin, STh Ia-IIae, q. 18, a. 6, co. 19 Vgl. Thomas von Aquin, De malo, q. 2, a. 3, ad 1; STh Ia-IIae, q. 20, a. 1, ad 1; Thomas M. Osborne Jr., »The goodness and evil of objects and ends«, in: M. V. Dougherty (Hrsg.), Aquinas’s Disputed Questions on Evil. A Critical Guide, Cambridge 2016, 126–145, hier 138 f.

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Exekution abstrahiert werden kann. 20 Gemäß seiner Struktur findet sich das Übelsein des moralischen Übels daher sowohl im äußeren Akt als auch im Willensakt. Aber als das Prinzip vom Gut- bzw. Übelsein des moralischen Übels gilt hauptsächlich der Akt des Willens, dessen Gut- bzw. Übelsein aber seinerseits vom Objekt abhängt. 21 Solange das Objekt dem Willen durch die Vernunft vorgestellt wird, 22 gilt die Vernunft als das Maß der moralischen Handlung, genauer gesagt, die durch die göttlichen Gesetze orientierte Vernunft. Als ›moralisch gut‹ gilt daher der mit der Vernunft übereinstimmende Willensakt, als ›übel‹ der von der Vernunft abweichende Willensakt. 23 Zusammengefasst kann gesagt werden, dass das Übelsein der moralischen Handlung vom Übelsein des Willens abhängt, dessen Übelsein seinerseits in solcher Weise von der Vernunft abhängt, wie es vom Objekt abhängt. 24 Das moralische Übel entsteht nämlich aus dem Übelsein des Willens, das im Allgemeinen 25 darin besteht, den der Vernunft widersprechenden äußeren Akt als sein Objekt zu erstreben, oder den mit der Vernunft übereinstimmenden Akt abzulehnen. Aus diesen knappen Überlegungen machen sich schon zwei wesentliche Punkte bemerkbar, was das moralische Übel betrifft. Erstens, das moralische Übel als ein willentlicher Akt ist in seinem Wesen ein personaler Akt eines einzelnen Handelnden. An dem moralischen Übel schuldig ist daher der individuelle Handelnde als das Subjekt, dem das moralische Übel als sein Akt inhäriert. Zweitens, Thomas erkennt den nach seiner Bestimmtheit als (moralisch) Böses aufgefassten Akt an, nämlich den Akt, der als Vgl. Thomas von Aquin, De malo, q. 2, a. 3, co. Vgl. Thomas von Aquin, STh Ia-IIae, q. 19, a. 2, co. 22 Vgl. Thomas von Aquin, STh Ia-IIae, q. 19, a. 3, co. 23 Vgl. Thomas von Aquin, De malo, q. 2, a. 4, co. 24 Vgl. Thomas von Aquin, STh Ia-IIae, q. 19, a. 3, co. 25 Aus den verschiedenen möglichen Kombinationen des Gutseins und des Übelseins der inneren und äußeren Akte ergeben sich die verschiedenen Fälle, in denen ein willentlicher Akt gut oder übel beurteilt wird, wie es aus den langen Diskussionen in den theologischen Summen ersichtlich ist (vgl. Thomas von Aquin, STh Ia-IIae, qq. 18–21). Zur Deutung dieser Texte vgl. Daniel Westberg, »Good and Evil in Human Acts (IaIIae, qq, 18–21)«, in: Stephen Pope (Hrsg.), The Ethics of Aquinas, Washington D. C. 2002, 90– 102. 20 21

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böse bestimmt wird, unabhängig davon, ab er ausgeführt wird. Von diesem Übelsein, der nach ihrer Bestimmtheit als ›böse‹ aufgefassten Handlung, hängt das Übelsein des Willensakts inhaltlich (quantum ad specificationem actus) ab, obwohl es eben der Willensakt selbst ist, der entscheidet, ob er sie exekutiert oder nicht (quantum ad exercitium actus). 26 Zum Beispiel gelten nach Thomas Mord oder Diebstahl usw. aufgrund ihrer Bestimmungen als moralisch böse Handlungen, weil sie von dem Maß der Handlungen abweichen, und zwar unabhängig davon, ob sie ausgeführt werden oder nicht. Es gibt allerdings auch die Akte, die an sich moralisch gut gemäß ihrer Bestimmung sind, wie zum Beispiel Almosengeben. Diese Akte werden aber zu bösen Akten, wenn sie aus einer bösen Intention, z. B. wegen der Ehre getan werden. Aber jene an sich moralisch üblen Handlungen bleiben noch immer übel, auch wenn sie sich aus einer guten Intention ergeben. 27 Dies bedeutet, dass das moralische Übel, obzwar es als ein willentlicher Akt des individuellen Handelnden nach seinem Sein vom Willen des Handelnden abhängt, aber im Hinblick auf seine Bestimmung, einen von den Absichten des einzelnen Handelnden unabhängigen Mechanismus eigener Art haben kann.

2. Die strukturelle Unvermeidlichkeit des Auftretens des moralischen Übels aus dem Willen Wie oben beschrieben, entsteht das moralische Übel in typischer Weise dadurch, dass ein einzelner Handelnder eine als moralisch böses aufgefasste Handlung willentlich wählt und ausführt. Während das Auftreten des moralischen Übels vom freien Willen abhängt, scheint das Auftreten einer moralisch bösen Handlung aus dem Willen als Geschaffenem selbst insofern unvermeidlich zu sein, als das Böse in der geschaffenen Welt stattfindet. 28 Der AusVgl. Thomas von Aquin, STh Ia-IIae, q. 10, a. 2, co.; De malo, q. 6, a. un. Vgl. Thomas von Aquin, De malo, q. 2, a. 3, co.; Osborne Jr., »The goodness and evil of objects and ends«, 138 f.; Wolfgang Kluxen, Philosophische Ethik bei Thomas von Aquin, Hamburg 1998, 201 f. 28 Vgl. Thomas von Aquin, STh Ia, q. 48, a. 2, co. – Für die Interpretation dieser Stelle vgl. Jacques Maritain, Saint Thomas and the Problem of Evil, 26 27

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bruch des moralisch Bösen aus der Natur des freien Willens ist in dieser Hinsicht eine ontologische Situation, die auf der Endlichkeit des endlichen Wesens beruht. 29 Nach Thomas ist Gott der einzige, der keine Möglichkeit des Bösen hat. Wie die thomasische Ontologie des Bösen zeigt, ist das Böse an sich als Mangel kein Existierendes, es ist nur in einem Subjekt, das gut ist. Das Subjekt des Bösen ist in der Potentialität zu dem Guten, dessen Mangel es ist. Dem Subjekt des Bösen kann es daher an jenem Guten mangeln, wodurch an jenem Subjekt das Böse stattfindet. 30 Da Gott als ein Wesen, das keine Möglichkeit hat, irgendetwas zu vermissen, das einzige Wesen ohne Übel ist, während die ganze Schöpfung außer Gott die Möglichkeit des Mangels hat, und da Mangel eines Tages eintreten wird, weil er ein Mögliches ist, 31 gilt der Mangel der Kreatur als ontologische Situation der ex nihilo geschaffenen, gesamten Schöpfung. 32 Der mögliche Mangel, der allen aus dem Nichts geschaffenen Schöpfungen inhäriert, kann nur durch dasjenige aufgefüllt werden, was über die Natur der Schöpfung hinausgeht. Eine solche Füllung ist allerdings insofern übernatürlich, als sie über die Natur hinausgeht. Es kann aber zugleich gesagt werden, dass jene übernatürliche Füllung auch die Vollendung der Natur ist, solange sie die Unzulänglichkeit der Natur ausfüllt. 33 Und solange ein Mangelndes seinen Mangel nicht durch sich selbst erfüllen kann, sondern sich nur dann erfüllen lässt, wenn die Füllung von dem über seine Natur hinausgehenden Übernatürlichen kommt, liegt das Vermeiden des Bösen als Mangel jenseits der Natur der einzelnen Kreatur. Diese Überlegung gilt auch für das moralische Übel. Auf der ontologischen Ebene betrachtet gehört das Auftreten des moraMilwaukee 1942, 5 f.; John Knasas, Aquinas and the Cry of Rachel. Thomistic Reflections on the Problem of Evil, Washington D.C. 2013, 48–53. 29 Vgl. Bernhard Welte, »Thomas von Aquin über das Böse«, in: Bernhard Welte, Gesammelte Schriften II/1, Denken in Begegnung mit den Denkern I: Meister Eckhart, Thomas von Aquin, Bonaventura, eingeführt und bearbeitet von Markus Enders, Freiburg/Basel/Wien 2007, 246–261, hier 254 f. 30 Vgl. Thomas von Aquin, De malo, q. 1, a. 2, co. 31 Vgl. Thomas von Aquin, STh Ia, q. 48, a. 2, co.; Maritain, Saint Thomas and the Problem of Evil, 5 f. 32 Vgl. Thomas von Aquin, De veritate, q. 24, a. 7, co. 33 Vgl. Thomas von Aquin, De malo, q. 2, a. 11, co.

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lisch Bösen aus dem freien Willen zum unvermeidbaren Schicksal des aus dem Nichts erschaffenen Menschen, solange der Mensch in seiner Natur, ohne durch das Übernatürliche erfüllt zu werden, verbleibt. 34 Zur konkreten Erklärung, in welcher Weise das moralische Übel aus dem Willen entsteht, führt Thomas zuerst die Art und Weise ein, in der das Böse im Bereich der Naturdinge auftritt. Seine Erklärungen basieren auf den Überlegungen, dass das Böse als Mangel selbst nicht existiert und daher nicht durch irgendetwas direkt verursacht wird, so dass das Auftreten des Bösen nicht durch die wesentliche Ursächlichkeit erklärt werden kann. 35 Nach Thomas entsteht erstens das Böse als »Kollateralschaden« 36 in einer akzidentellen Weise, in der etwas Schlimmes mit einem Wesen passiert, während ein anderes Wesen nach seiner Vollkommenheit strebt. Zum Beispiel kann durch das Feuer etwas Böses entstehen, weil es durch das Erhitzen von Wasser dessen Existenz zerstört, was ein Akt gemäß der dem Feuer eigenen Form (Vollkommenheit) ist. Die Zerstörung der Existenz von Wasser ist völlig außerhalb des Ziels von Feuer, ergibt sich aber unweigerlich aus der naturgemäßen Wirkung des Feuers. Zweitens kommt nach Thomas das Böse von einem mangelhaft Guten. Thomas gibt zum Beispiel den Fall eines fehlerhaften Samens an, der zu Anomalien führt. Im Bereich der Naturdinge kann diese zweite Weise der Kausalität vom Bösen jedoch auf die erste reduziert werden. Dies liegt daran, dass der Fehler des Samens das akzidentelle Ergebnis der Wirkungen von zwei oder mehr höheren Kompetenzen sein kann, die einander entgegengesetzt sind. Dementsprechend wird nach Thomas das Auftreten des moralischen Übels auch in zweifacher Weise erklärt. Eines kommt vor, wenn ein Handelnder anderen Personen oder Sachen auf akzidentelle Weise etwas Böses zufügt oder es entstehen lässt, während er ein in gewisser Hinsicht Gutes begehrt, das aber mit dem malum simpliciter verbunden ist. Dies erklärt, dass die willentlichen HandVgl. Maritain, Saint Thomas and the Problem of Evil, 34–36. Vgl. Thomas von Aquin, De malo, q. 1, a. 3, co; zur Interpretation dieser Stelle vgl. Christian Schäfer, Thomas von Aquins gründlichere Behandlung der Übel. Ein Auswahlinterpretation der Schrift De malo, Berlin 2013, 69– 93. 36 Schäfer, Thomas von Aquins gründlichere Behandlung der Übel, 79. 34 35

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lungen der Menschen kaum auftreten können, ohne das daran anschließende Böse zu begleiten, worauf später 37 aber noch in anderer Hinsicht eingegangen wird. Das andere ist, dass das moralische Übel durch den Willen, das Prinzip der menschlichen Handlungen, als mangelhaft Gutes, begangen wird. Diesbezüglich sagt Thomas, dass ein fehlerhafter Wille als bonum deficiens vor dem Auftreten des moralischen Bösen steht. 38 Der fehlerhafte Wille, von dem Thomas hier spricht, bezieht sich auf den Willen, der sich nicht nach der Vernunft sowie dem göttlichen Gesetz als den Regeln der Handlung richtet. Thomas sagt, dass, während das Nicht-Gebrauchen der Vernunft sowie des göttlichen Gesetzes als Regeln der Handlung selbst Funktion des Willens ist, und daher ein willentlicher Akt, es jedoch noch kein moralisches Übel an sich ist, sondern nur ein bloßer Mangel oder eine einfache Negation. Denn Gebrauchen und Nichtgebrauchen sind die natürlichen Funktionen, die dem freien Willen des Menschen innewohnen. Moralisches Übel entsteht aber erst dann, wenn das Nichtgebrauchen der Vernunft sowie des göttlichen Gesetzes in einer Situation auftritt, die ihre Benutzung erfordert. 39 Was für uns hier jedoch wichtig erscheint, ist die Tatsache, dass das Nichtgebrauchen der Handlungsregeln durch den Willen gemäß der Natur des freien Willens geschehen kann. Solange er frei ist, kann daher aus dem Willen die Möglichkeit, die Handlungsregeln nicht zu gebrauchen, nicht ohne Widerspruch ausgeschlossen werden. 40 Obwohl daher das moralisches Übel dadurch auftritt, Vgl. Kapitel 6. Vgl. Thomas von Aquin, De malo, q. 1, a. 3, co. – Zur Interpretation dieser Stelle vgl. Maritain, Saint Thomas and the Problem of Evil, 22–33; Edward Cook, The Deficient Cause of Moral Evil According to Thomas Aquinas, Washington D.C. 1996, Kap. 6, 7; Schäfer, Thomas von Aquins gründlichere Behandlung der Übel, 86 f. 39 Vgl. Thomas von Aquin, De malo, q. 1, a. 3, co. 40 Vgl. Thomas von Aquin, Scriptum super libros sententiarum magistri Petri Lombardi, Tom. II, ed. R. P. Mandonnet, Paris 1929, d. 23, q. 1, a. 1, co.: »[…] si est liberum arbitrium, oportet quod causae possit inhaerere vel non inhaerere; et si non potest peccare, non potest causae non inhaerere, et sic sequitur contradictio.« Vgl. dazu Colm Connellan, Why Does Evil Exist? A Philosophical Study of the Contemporary Presentation of the Question, Hicksville 1974, 126; 141. 37 38

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dass das Nichtgebrauchen der Handlungsregeln in dem Fall passiert, in dem es nicht passieren darf, ist es eine unvermeidliche Situation für den Menschen, dass sich das moralische Übel aus seinem freien Willen auf der natürlichen Ebene ereignet. In diesem Zusammenhang kann gesagt werden, dass die Freiheit zur Wahl des moralischen Übels nicht zum Wesen des freien Willens selbst, sondern akzidentell zu der Defektivität des endlichen Willens gehört. 41 Aus eben demselben Grund geschah es, dass auch der erste Mensch aus freiem Willen sündigte, obwohl er nicht sündigen konnte. Mit anderen Worten ist das Auftreten des moralischen Übels wie auch des physischen Übels auf die ontologische Endlichkeit des Handelnden zurückzuführen, so dass, solange der Handelnde das sich aus seiner Endlichkeit ereignende Fehlen nicht durch die Unendlichkeit füllen lässt, sondern in sich als Endlichem verbleibt, das Auftreten moralischen Übels für die Menschen eine unvermeidliche Situation ist, die auf der endlichen Struktur des endlichen Willens von Menschen beruht. Es gilt bereits als ein Mangel, wenn das Endliche darauf beharrt, in sich als Endlichem selbst zu bleiben, obwohl es durch die Unendlichkeit erfüllt werden kann und soll. 42

3. Die Individualität in der Ursächlichkeit beim Auftreten des moralischen Übels aus dem Willen Obwohl das Nichtgebrauchen der Vernunft sowie des göttlichen Gesetzes unvermeidlich ist aufgrund der natürlichen Bedingung des menschlichen Willens, entsteht dieses nicht ohne Ursachen. Thomas legt dafür die äußerlichen und inneren Ursachen vor. Als mögliche, äußerliche Ursache untersucht Thomas Gott und Dämon. Vgl. Thomas von Aquin, De malo, q. 16, a. 5, co.: »[…] ista diversitas non per se pertinet ad potestatem liberi arbitrii, sed per accidens se habet ad eam, in quantum invenitur in natura deficere potenti«; Ludger Oeing-Hanhoff, »Zur thomistischen Freiheitslehre«, in: Theo Kobusch/Walter Jaeschke (Hrsg.), Metaphysik und Freiheit. Ausgewählte Abhandlungen, München 1988, 262–283, hier 268 f. 42 In diesem Zusammenhang steht die Aussage von Bernhard Welte, »Thomas von Aquin über das Böse«, 257: »Und so ist denn das Böse des Menschen ein Vollziehen seiner selbst im Aufgeben seiner selbst.« 41

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Gott aber schließt er bald aus, da Gott weder das Übel selbst begeht noch die Menschen zum Übel veranlasst. Gott kann als Ursache des Übels nur in dem Sinne genannt werden, dass er Ursache des Handelns ist, insofern das moralische Übel ein unordentlicher, willentlicher Akt ist, wobei die Unordentlichkeit selbst vom Menschen kommt. 43 Auch ein Dämon kann nicht direkt den Willen der Menschen zum Übel bewegen, sondern nur indirekt z. B. dadurch, dass er eine Disposition formt, die die Menschen leicht in Leidenschaft geraten lässt, oder dadurch, dass er dem Erkenntnisvermögen etwas Böses als Gutes vorstellt. 44 Bei der Erklärung der äußerlichen Ursache ist Thomas sehr darauf bedacht, die Ursache des moralischen Übels nicht außerhalb des Willens zu suchen. Er betont nämlich immer, dass die endgültige Verantwortung für das Übel im Sinne von culpa eben im Willen liegt. Dies macht sich auch in den Überlegungen zu den inneren Ursachen bemerkbar. Thomas nennt in De malo als die inneren Ursachen Ignoranz, Leidenschaft und Bosheit, aber seine Erklärung basiert im Wesentlichen auf dem Gedanken, dass es der unordentliche Wille ist, der die Schuld trägt. Denn wenn auch aus Unwissenheit, wegen der Leidenschaft oder wegen der schlechten Gewohnheiten, die durch wiederholte schlechte Taten entstanden sind, ist es jedoch gerade der Wille selbst, der auf das moralische Übel unordentlich intendiert. Um dies genauer zu betrachten, ist zunächst daran zu erinnern, dass der Wille etwas immer sub ratione boni begehrt, da sein Objekt ein für ihn Gutes ist. 45 Eine Handlung (actus exterior) kann nach ihrer Wesensbestimmung als ein schlechthin Böses (malum simpliciter) aufgefasst werden, wenn sie der Vernunft widerspricht. Sie kann aber trotzdem insofern vom Willen (actus interior) erstrebt werden, als sie dem Handelnden als ein in gewisser Hinsicht Gutes (bonum secundum quid) erscheint. Auf diese Weise geschieht, dass der Wille das richtige Maß der Handlung nicht berücksichtigt, also das moralische Übel begeht. 46 Die Faktoren, wel-

Vgl. Thomas von Aquin, De malo, q. 3, a. 2, co. Vgl. Thomas von Aquin, De malo, q. 3, a. 3–4. 45 Vgl. Thomas von Aquin, De Malo q. 15, a. 5. 46 Für die Begriffe simpliciter malum und bonum secundum quid vgl. Schäfer, Thomas von Aquins gründlichere Behandlung der Übel, 86 f. 43 44

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che das, was einfachhin böse ist, einem Handelnden als Gutes erscheinen (bonum apparens) lassen, sind nach Thomas die Unwissenheit, die Leidenschaft und die Bosheit. Ein Handelnder weiß möglicherweise nicht, dass das, was er tun will, in moralischer Hinsicht schlechthin übel ist. In dieser Weise geht das moralische Übel aus der Unwissenheit hervor. 47 Die Unwissenheit vermindert die Voluntarität des Aktes, 48 besonders wenn ein Handelnder jene Unwissenheit nicht überwinden konnte. Es wäre nämlich möglich, dass in einer bestimmten Gesellschaft ein bestimmter Akt, der nach der Wesensbestimmung als der ratio sowie der lex divina kollidierender aufgefasst wird, als nicht böse oder sogar als gut gelten würde. In diesem Fall wäre es möglich zu sagen, dass das begangene Übel keine persönliche Schuld, sondern ein kulturelles oder strukturelles Problem sei. Denn die ignorantia invincibilis ist involuntarius. 49 Aber eine solche Möglichkeit minimalisiert Thomas, indem er ignorantia invincibilis auf den Fall von Wut oder Wahnsinn beschränkt. 50 Die überwindbare Unwissenheit (ignorantia vincibilis) aber macht den Handelnden verantwortlich für das, was er getan hat, da es sich um eine freiwillige Handlung handelt. Ein moralisches Übel kann von einem Handelnden wegen der Leidenschaft oder der Willensschwäche begangen werden, auch wenn er weiß, dass der von ihm gewollte Akt moralisch böse ist. Der Angriff der Leidenschaft ist nämlich manchmal so stark, dass der Handelnde zum Beispiel zwischen der sinnlichen Lust und der Enthaltsamkeit schwankt, und sich schlussendlich der Versuchung durch die sinnliche Lust hingibt. Es handelt sich hier um die in der Geschichte der Philosophie als das Problem der Willensschwäche abgehandelte Frage. 51 Die thomasische Lösung zu diesem Problem Vgl. Thomas von Aquin, De malo, q. 3, a. 6, co. Aber nur dann, wenn sie dem Willen vorausgeht (vgl. Thomas von Aquin, STh Ia-IIae, q. 6, a. 8, co.). Vgl. Colleen McCluskey, Thomas Aquinas on Moral Wrongdoing, Cambridge 2017, 87 f. 49 Vgl. Thomas von Aquin, STh Ia-IIae, q. 76, a. 2, co. 50 Vgl. Thomas von Aquin, Quaestiones Quodlibetales, cura et studio P. Fr. Raymundi Spiazzi, Turin 1956, III, q. 12, a. 2, ad 2. 51 Zur thomasischen Theorie der Willenschwäche vgl. Denis J. M. Bradley, »Thomas Aquinas on Weakness of the Will«, in: Tobias Hoffmann (Hrsg.), 47 48

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lautet, kurz gefasst, wie folgt: Ein Handelnder behält zwar habituell die allgemeine Erkenntnis, dass solche Übel wie fornicatio oder adulterium zu vermeiden sind. Angesichts der Gelegenheit zu fornicatio wendet aber derselbe Handelnde wegen des Angriffs der Sinnlichkeit – statt jener allgemeinen Erkenntnis – eine andere allgemeine Erkenntnis, die jede Lust zu genießen empfiehlt, darauf an, die Wahl des zu vollziehenden Aktes zu treffen, so dass er fornicatio als Gutes (Lust-Gebendes) endgültig wählt. In dieser Weise wähle ein Handelnder das malum morale mit dem habituellen Wissen, dass es böse sei. 52 Aber sich gegen die Sinnlichkeit zu verweigern oder nicht, hängt nach Thomas letztlich vom Willen ab. Daher kann ein aus Leidenschaft begangener, moralisch böser Akt für eine Sünde gehalten werden, auch wenn die Sinnlichkeit gelegentlich die Voluntarität des Aktes vermindern kann. 53 Das moralische Übel entsteht aber insbesondere dann, wenn ein Handelnder das moralische Übel als für ihn Gutes, und zwar mit Deliberation und konsistent, begehrt, obwohl er deutlich weiß, dass das von ihm Gewollte moralisch böse ist. Denn sein Wille wird so pervers, dass ihm das schlechthin Böse immer als Gutes erscheint. Dies ist das Auftreten von moralischem Übel durch Bosheit (malitia) des perversen Willens, der sich von dem höchsten Guten abwendet und zu dem wandelbaren Guten als endgültigem Ziel hinwendet. Der Begriff der malitia kann das Phänomen besser erklären, warum der Mensch den bösen Akt begeht, auch wenn er weiß, dass jener Akt böse ist. 54 Wenn nämlich nach Thomas ein Handelnder weiß, dass der Akt, den er zu tun vorhat, zwar als das für ihn Gute erscheint, aber irgendwie mit dem Bösen verbunden ist, wenn derselbe aber trotzdem – im Bewusstsein dieses Wissens – einen solchen Akt als zu Tuendes wählen und ausführen will, dann kann gesagt werden, dass derselbe nicht nur das ihm als Gutes Proponierte will, sondern auch das Böse selbst, von dem er weiß, dass es Weakness of Will from Plato to the Present, Washington D.C. 2008, 82– 114. 52 Vgl. Thomas von Aquin, De malo, q. 3, a. 9, co. 53 Vgl. Thomas von Aquin, De malo, q. 3, a. 10, co. 54 Vgl. Bonnie Kent/Ashley Dressel, »Weakness and willful wrongdoing in Aquinas’s De malo«, in: M. V. Dougherty (Hrsg.), Aquinas’s Disputed Questions on Evil. A Critical Guide, Cambridge 2016, 34–55, hier 44–49.

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mit dem von ihm gewollten Guten notwendig verbunden ist. 55 In dieser Weise behauptet Thomas ausdrücklich, dass die fundamentale Ursache des moralisch Bösen eben der Wille des Handelnden ist, und betont damit die Persönlichkeit bzw. Individualität des moralisch Bösen.

4. Die Ursünde als das allen Menschen gemeinsame Böse Die thomasischen Betrachtungen über die Ursachen des moralisch Bösen betonen immer wieder, dass das moralische Übel sich aus dem ganz persönlichen Akt der Willensentscheidung ergibt. Interessanterweise entwickelt Thomas aber zugleich die Theorie, nach der das persönliche Übel in dem allen Menschen gemeinsamen Bösen gründet. All die oben in Kapitel 3 beschriebenen Phänomene ereignen sich deswegen, weil dem Vermögen der Menschen die gemäße Ordnung fehlt, welche aufrechterhalten werden soll, um die moralisch gute Handlung zu vollziehen sowie die böse Handlung zu vermeiden. Das heißt, die niedrigeren Vermögen wie die sinnlichen Vermögen sollen den höheren Vermögen wie Vernunft und Wille gehorchen, welche wiederum Gott gehorchen sollen. Die Menschen würden dann die üblen Handlungen nicht tun, solange die für die gute Handlung benötigte Ordnung aufrechterhalten würde. 56 Mit dem Blick auf die Theorie von der Ursünde bietet Thomas nun eine Reflexion über den Ursprung des Fehlens an jener Ordnung, aufgrund dessen die Menschen zum moralischen Übel geneigt sind. Nach Thomas war dem Menschen im ursprünglichen Zustand eine übernatürlich mitgegebene, Ur-Gerechtigkeit genannte Ordnung zwischen den natürlichen Potenzen noch präsent. Das Wesentliche dieser Ur-Gerechtigkeit besteht darin, dass der Wille auf Gott als dem höchsten Gut hingeordnet ist. Basierend auf dieser grundlegenden Ordnung können sich auch die anderen, niedrigeren Vermögen des Menschen gemäß der gerechten Ordnung gegeneinander verhalten. Aufgrund dieser Ur-Gerechtigkeit konnte der 55 56

Vgl. Thomas von Aquin, De malo, q. 3, a. 12, co. Vgl. Thomas von Aquin, De veritate, q. 24, a. 9, co.

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erste Mensch im Gegensatz zu den Menschen der gefallenen Natur keine Sünde durch Angriffe der Leidenschaft, aus der Unwissenheit oder aus dem durch die wiederholten Sünden gebildeten habitus der Bosheit begehen. 57 Aber diese Ur-Gerechtigkeit war durch die Sünde des ersten Menschen verloren gegangen, wodurch die Menschennatur zum Bösen geneigt worden ist. Die Ur-Gerechtigkeit stellt zwar die notwendige Bedingung dafür dar, dass der erste Mensch nicht sündigen konnte. Er befand sich allerdings noch nicht in dem Zustand, in dem er unmöglich sündigen konnte. Denn dies wäre nur in dem Zustand möglich, in dem nichts anderes als göttliche Gutheit den Willen bewegen kann, nämlich nur in dem Zustand der ewigen Glückseligkeit. 58 Der erste Mensch hatte nämlich die notwendigen Voraussetzungen dafür, um Glückseligkeit zu erlangen, sie aber noch nicht aktuell in Besitz genommen. 59 In diesem Sinne kann gesagt werden, dass auch der erste Mensch der Ursächlichkeit des Willens als bonum deficiens bezüglich der Sünde unterliegt. 60 Im Zustand der Ur-Gerechtigkeit war für den ersten Menschen die Möglichkeit des peccatum veniale ausgeschlossen, weil seine niedrigeren Vermögen völlig den höheren gehorchten. 61 Da er aber noch zu dem Übernatürlichen (beatitudo) in der Potentialität steht, besteht immer noch die Möglichkeit, sich von dem Übernatürlichen abzuwenden. Dementsprechend kann die erste Sünde des ersten Menschen als die Abwendung vom Höchsten Guten bezeichnet werden, durch die die Ur-Gerechtigkeit verloren gegangen ist. Aber die Zerstörung der Ordnung zum Höchsten hin als der grundlegenden, höheren Ordnung geht mit der Zerstörung der untergeordneten Ordnungen einher, da sie auf dieser basieren und durch sie aufrechterhalten wurden. Die niedrigeren Vermögen tendieren infolgedessen nun unordentlich zum wandelbaren Guten. So manifestiert sich die erste Sünde des ersten Menschen in der Zerstörung Vgl. Thomas von Aquin, De malo, q. 5, a. 1, co.; q. 3, a. 7, co. Thomas von Aquin, De veritate, q. 24, a. 8, co.: »Unde si fiat perfecta unio, ut ipse Deus sit libero arbitrio tota causa agendi, in malum flecti non poterit.« 59 Vgl. Thomas von Aquin, De malo, q. 5, a. 1, co. 60 Vgl. Thomas von Aquin, STh Ia, q. 94, a. 1, co. 61 Vgl. Thomas von Aquin, De malo, q. 7, a. 7, co. 57 58

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der richtigen Ordnung aller Vermögen, also in der Hinwendung der concupiscentia 62 zum wandelbaren Guten zusammen mit der Abwendung des Willens vom höchsten Guten, wobei die Abwendung vom Höchsten Guten sich auf die formale Seite der Sünde bezieht, und das Verlangen nach dem wandelbaren Guten auf die materielle Seite. 63 Thomas nennt nun die Hinwendung zum wandelbaren Guten zusammen mit dem Verlust der Ur-Gerechtigkeit durch die erste Sünde der ersten Menschen die Ursünde (peccatum originale). Die Ursünde wird zwar peccatum genannt, sie ist aber in der Tat kein Akt der individuellen Person, sondern die allen Menschen gemeinsame, korrupte Disposition der Natur der Menschen, die aus der Sünde des ersten Menschen entstand und allen ihren Nachkommen in der Weise der Geburt tradiert wird. 64 Zur Begründung der Gemeinsamkeit der Ursünde argumentiert Thomas, dass die Ur-Gerechtigkeit, die durch die Sünde des ersten Menschen verloren gegangen war, eigentlich nicht zur Natur der Menschen gehört, sondern eine der Natur hinzugefügte übernatürliche Gnade ist, und dass darüber hinaus diese Ur-Gerechtigkeit nicht dem ersten Menschen als einzelner Person, sondern als Prinzip der ganzen Menschennatur geschenkt wurde, so dass sie allen, die die menschliche Natur teilen, tradiert werden soll. Sie ist nämlich ein Geschenk, das alle Menschen genießen könnten, wenn der erste Mensch nicht dieser beraubt worden wäre. 65 Der Verlust des der menschlichen Natur des ersten Menschen hinzugefügten Übernatürlichen, der Ur-Gerechtigkeit, lässt nur das Natürliche übrig, nämlich die der Ur-Gerechtigkeit beraubte Natur. Da das für den Menschen Natürliche von allen Menschen geteilt wird, ist die der Ur-Gerechtigkeit beraubte natürliche Disposition sowohl den ersten Menschen als auch denen gemeinsam, die, von ihnen geboren, die menschliche Natur mit ihnen teilen.

Thomas nennt das unordentliche Verlangen nach dem wandelbaren Guten insgesamt concupiscentia (vgl. Thomas von Aquin, STh Ia-IIae, q. 82, a. 3, co.). 63 Vgl. Thomas von Aquin, De malo, q. 4, a. 2, co. 64 Vgl. Thomas von Aquin, STh Ia-IIae, q. 82, a. 1, co. 65 Vgl. Thomas von Aquin, De malo, q. 4, a. 1, co. 62

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Aber es scheint noch nicht geklärt, warum durch die Sünde des ersten Menschen alle Menschen, die sie nicht direkt begangen haben, dessen, was allen Menschen gegeben werden soll – nicht dessen, was den ersten Menschen allein gegeben ist –, beraubt werden, das heißt, warum die Menschen für das bestraft werden sollen, was sie selbst nicht begangen haben. Die Erklärung dafür liefert Thomas mit dem Argument, dass der Mensch aus zwei Perspektiven betrachtet werden kann. Er kann einerseits als individuelle Persönlichkeit und andererseits als ein Teil des Ganzen betrachtet werden. 66 Wenn demnach die Menschen als einzelne Personen betrachtet werden, ist die Sünde des ersten Menschen auf den ersten Menschen beschränkt. Aber wenn ein einzelner Mensch als ein Teil des Ganzen betrachtet wird und daher alle Menschen als eine Person, soll nach Thomas gesagt werden, dass an der Sünde der ersten Menschen nicht nur die ersten Menschen allein schuldig sind, sondern alle Menschen, die die Menschennatur mit den ersten Menschen teilen. In dieser Weise kann die Sünde des ersten Menschen als »commune peccatum omnium« angesehen werden. Die Ursünde wird also nach Thomas für das allen Menschen gemeinsame Übel gehalten, das der Natur aller Menschen wegen ihrer Schuld nachträglich hinzugefügt wird. 67 Insofern wird sie peccatum naturae genannt. 68 Der Begriff der Ursünde erklärt in dieser Weise die grundlegende Tendenz der Menschen zum moralischen Übel, die der menschlichen Natur innewohnt. 69 Die Ursünde besagt aber auch, um mit Karl Rahner zu sprechen, »allgemeine, bleibende und unüberholbare Schuldmitbestimmtheit der Freiheitssituation eines jeden einzelnen und dann natürlich auch jeder Gesellschaft« 70, nämlich »dass Vgl. Thomas von Aquin, De malo, q. 4, a. 1. Dasselbe Argument kommt häufig vor, wenn Thomas betont, dass das Gute des Menschen auf das Gemeinwohl hingeordnet sei (vgl. Thomas von Aquin, STh Ia-IIae, q. 92, a. 1, ad 3). 67 Vgl. Thomas von Aquin, De malo, q. 4, a. 1, co. 68 Vgl. Thomas von Aquin, STh Ia-IIae, q. 81, a. 1, co. 69 Vgl. Theo Kobusch, Christliche Philosophie. Die Entdeckung der Subjektivität, Darmstadt 2006, 131 f. 70 Karl Rahner, Grundkurs des Glaubens. Einführung in den Begriff des Christentums, Freiburg/Basel/Wien 1984, 116. 66

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unsere eigene Freiheitssituation in einer uneliminierbaren Weise durch fremde Schuld mitgeprägt ist« 71. Dem Begriff der Ursünde kann auch entnommen werden, dass alle Arten des Bösen, die der Mensch erleidet, miteinander verbunden und aneinander gekettet sind, und schließlich auf das malum morale zurückgeführt werden können. 72 Durch die Beraubung der Ur-Gerechtigkeit tritt nämlich nach Thomas für den Menschen nicht nur die Tendenz zum moralischen Übel auf, sondern kommen auch die mala wie Tod oder Krankheit hinein in die Welt. Der Körper des Menschen kann der Natur nach nicht so aus Elementen zusammengesetzt sein, dass er sich nicht zersetzt, weil es eben ein natürlicher Prozess ist, dass ein aus Elementen zusammengesetztes Objekt mit der Auflösung seiner Zusammensetzung zerstört wird. Dennoch aber kann der Körper nach Thomas durch göttlichen Willen übernatürlich so geordnet werden, dass er sich nicht zersetzt. In diesem Zustand konnten die Menschen kein physisches Übel wie Krankheit oder Tod erfahren, und daher auch kein Übel wie Schmerz oder Trauer erleiden, was aber nach dem Entzug der UrGerechtigkeit nicht mehr der Fall ist. 73 Auf diese Weise führt Thomas das physische Böse auf das moralische Böse zurück.

5. Die Inter-individualität sowie die Verbundenheit der moralischen Übel Wie oben gesagt, 74 besteht ein moralisches Übel aus dem Willensakt und dem äußeren Akt als dessen Objekt. Das moralische Übel als ein willentlicher Akt gewinnt sein Sein dadurch, vom Willensakt gewollt zu werden, aber bekommt seine Bestimmung von Seiten des äußeren Aktes, der durch die Vernunft dem Willen als Gutes vorgestellt wird. Nach seiner Bestimmung betrachtet zeigt das moralische Übel die Merkmale, die sich, abstrahiert und unabhängig Rahner, Grundkurs des Glaubens, 117. Vgl. Knasas, Aquinas and the Cry of Rachel, 80 f. 73 Vgl. Thomas von Aquin, De malo, q. 5, a. 5, co. Vgl. Eileen C. Sweeney, »Vice and Sin (IaIae, qq. 71–89)«, in: Stephen Pope (Hrsg.), The Ethics of Aquinas, 151–168, hier: 158 f. 74 Vgl. Kapitel 1.2. 71 72

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vom einzelnen Willen, in eigener Weise entwickeln können. Diesbezüglich gibt es hier zwei Punkte zu bemerken: Erstens, während es ein einzelner Akt ist, der von dem einzelnen Handelnden willentlich ausgeführt wird, bezieht sich das moralische Übel, betrachtet nach seiner Bestimmung, in privativer Weise auf das Gemeinwohl, das alle Mitmenschen in einer Gesellschaft betrifft. Denn als actus inordinatus beinhaltet er die Beraubung der richtigen Hinordnung zum Gemeinwohl, die jede sittliche Handlung enthalten muss. 75 Die moralisch guten Handlungen, durch die die Menschen ›gut‹ werden, müssen dann nach Thomas in der richtigen Hinordnung zum Gemeinwohl stehen, da ein ›guter‹ Mensch den Menschen bezeichnet, der im Gemeinwohl seine Vollkommenheit findet, 76 und das bonum des Menschen auf das Gemeinwohl hingeordnet ist. 77 Die Wirkung des moralischen Übels als eines der richtigen Hinordnung zum Gemeinwohl ermangelnden Aktes bleibt daher nicht nur in dem Handelnden allein, dessen Akt es ist, sondern bezieht sich negativ auch auf das Wohl der anderen Mitmenschen, und greift in deren freie Handlungen ein, welche auf die Handlung jenes Handelnden zurückwirken können. Als solcher Akt kann vor allem jeder Akt gegen die Gerechtigkeit unter allen Tugenden gelten, die sich auf das Gemeinwohl beziehen, 78 wie z. B. die Sünde der avaritia, die Thomas in De malo als vitium gegen die Gerechtigkeit identifiziert. 79 Ein Habgieriger – durch das ungeordnete Verlangen nach Reichtum befangen – will die Zugehörigkeit zu den anderen Personen in ungerechter Weise bewahren und sein Eigentum für sich alleine behalten, wodurch eine ungerechte Verteilung des Reichtums entstehen kann, falls solche bösen Taten sich weit verbreiten sollten. Wenn dem so ist, ist das Übel der Personen, die für das Vgl. Thomas von Aquin, STh IIa-IIae, q. 58, a. 5, co.: »… bonum cuiuslibet virtutis … est referibile ad bonum commune, ad quod ordinat iustitia« (vgl. Barry, From Metaphysical to Moral Evil, 189). 76 Vgl. Thomas von Aquin, STh Ia-IIae, q. 92, a. 1, ad 3. 77 Vgl. Thomas von Aquin, STh Ia-IIae, q. 90, a. 3, ad 3. 78 Vgl. Thomas von Aquin, STh IIa-IIae, q. 58, a. 5, co. Vgl. Martin Rhonheimer, »Sins Against Justice (IIaIIae, qq. 59–78)«, in: Stephen Pope (Hrsg.), The Ethics of Aquinas, 287–303. 79 Vgl. Thomas von Aquin, De malo, q. 13, a. 2, co. 75

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Gemeinwohl der Gesellschaft, z. B. für die Gesetzgebung verantwortlich sind, besonders problematisch. Denn die Verabschiedung von Gesetzen, denen die richtige Hinordnung zum Gemeinwohl fehlt, würde die gesetzmäßigen, tugendhaften Handlungen moralisch böse machen, da die Tugend der Bürger darin besteht, in Übereinstimmung mit dem Gesetz zu handeln. 80 Die an der Hinordnung auf das Gemeinwohl mangelnde Gesetzgebung widerspricht dem Zweck der menschlichen Gesellschaft, 81 der nichts anderes als gutes Leben, d. h. moralisches Leben, ist. Nach Thomas zielt nämlich eine Gesellschaft darauf ab, die Mitmenschen gemäß den Tugenden leben zu lassen. 82 Ein moralisches Übel kann auf diese Weise die Menschen, die in einer Gesellschaft zusammenleben, ihres Wohls berauben, ja veranlasst diese schlimmstenfalls dazu, selbst moralisch böse zu handeln. Es ist hier hinzuzufügen, dass das moralische Übel nach Thomas den Mangel an Hinordnung zum Gemeinwohl nicht nur im Sinne des Gemeinwohls einer Gesellschaft meint, sondern auch im Sinne eines Getrenntseins von Gott als eines Mangels an Gemeinwohl, das Gott selbst ist. 83 Dies entspricht genau der Bestimmung des moralisch bösen Aktes als eines Aktes, der gegen die Vernunft sowie gegen das göttliche Gesetz verstößt. Der Mangel an Ordnung in Bezug auf Gott ist aber noch gründlicher und noch umfassender. Die caritas ist nämlich gleichsam die Wurzel der Tugenden, deshalb werden die Handlungen gegen die caritas gegenüber Gott sowie den Mitmenschen als peccatum mortale angesehen. 84 Auf der Grundlage der richtigen Hinordnung zu Gott kann der Handelnde die richtige Haltung gegenüber der gesamten Menschheit jenseits der Vgl. Thomas von Aquin, STh Ia-IIae, q. 92, a. 1, co. Daher sagt Thomas, dass ein solches Gesetz kein Gesetz sei (vgl. Thomas von Aquin, STh Ia-IIae, q. 96, a. 4, co.). 82 Vgl. Thomas von Aquin, »De regimine principum ad regem Cypri«, in: S. Thomae Aquinatis De regimine principum et de regimine Judaeorum. Politica Opuscula Duo, Joseph Mathis curante, Turin/Rom 1948, L. I, cap. 14. 83 Thomas nennt Gott »getrenntes Gemeinwohl« oder »universelles Gut« im Unterschied zum Gemeinwohl der Gesellschaft individueller Persönlichkeiten (vgl. Thomas von Aquin, STh Ia-IIae, q. 111, a. 5, ad 1; Mühlum, Zum Wohl des Menschen, 73 f.). 84 Vgl. Thomas von Aquin, STh Ia-IIae, q. 71, a. 4, co. 80 81

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raum-zeitlichen Grenzen einer Gesellschaft einnehmen. 85 Das moralisch Böse kann daher wegen des Mangels an angemessener Hinordnung zum separaten Gemeinwohl bewirken, dass der Handelnde das Wohl anderer Mitmenschen beeinträchtigt, und kann weiter im schlimmsten Fall die moralische Ordnung selbst ungültig machen. Dies könnte sich durch das Argument des Thomas bestätigen, dass in einer Gesellschaft, in der es an caritas mangelt, wo also die Erhaltung der eigenen Existenz einer einzelnen Person nur bei ihr selbst liegt, das Nehmen der Dinge anderer, das sonst ohne Zweifel als Sünde angesehen werden muss, nicht als ungerecht angesehen werden kann. 86 Ein moralisches Übel, das nach seiner Bestimmung das Gemeinwohl verfehlt, ist daher zwar ein einzelner Akt, kann jedoch viele Menschen betreffende Wirkungen hervorrufen, die aber schon in seiner Wesensbestimmung implizit enthalten sind. Zweitens, der Begriff vom peccatum capitale erklärt meines Erachtens ein anderes inter- bzw. überindividuelles Merkmal des moralischen Übels, das dem Gedanken der von individuellen Intentionen abstrahierten Bestimmung des moralisch Bösen entnommen werden kann, nämlich die Vorstellung von der Verknüpfung der Sünde. Oben wurde oft erwähnt, dass alle Übel, einschließlich des moralischen Übels, keiner wesentlichen Kausalität unterliegen, und dass in diesem Zusammenhang die Idee von der akzidentellen Kausalität des Bösen durch das Gute für das Verständnis des Auftretens des Bösen eingeführt wurde. Thomas spricht jedoch auch von dem Fall, in dem aus einem Bösen ein anderes Böses hervorkommt, für dessen Erklärung der Begriff des peccatum capitale eingesetzt wird. 87 Thomas sagt, dass ein moralisches Übel ein anderes verursachen kann, indem es der Zweck des letzteren ist. Unter dem Zweck darf Vgl. Eberhard Schockenhoff, »The Theological Virtue of Charity (IIaIIae, qq. 23–46)«, in: Stephen Pope (Hrsg.), The Ethics of Aquinas,, 244– 258, hier 250 f. 86 Vgl. Thomas von Aquin, STh IIa-IIae, q. 66, a. 7co.; ad 2. 87 Vgl. Thomas von Aquin, De malo, q. 8, a. 1, co. – Für die thomanische Theorie vom peccatum capitale vgl. Eileen C. Sweeney, »Aquinas on the Seven Deadly Sins: Tradition and Innovation«, in: Richard G. Newhauser/ Susan J. Ridyard (Hrsg.), Sin in Medieval and Early Modern Culture. The Tradition of the Seven Deadly Sins, Croydon 2012, 85–106; McCluskey, Thomas Aquinas on Moral Wrongdoing, 160–174. 85

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hier nicht die Intention oder die Absicht eines Handelnden verstanden werden. Es gibt allerdings auch die Fälle, in denen die verschiedenen Handlungen, durch die Intention des Handelnden miteinander verknüpft, als ein Akt bestimmt werden. Ein von Thomas häufig genanntes Beispiel ist, dass jemand stiehlt, um Ehebruch zu begehen. Diebstahl und Ehebruch sind gemäß ihrer Bestimmungen zwar zwei voneinander verschiedene moralisch üble Handlungen, können aber eine moralische Handlung bilden durch die Intention des Handelnden. 88 Aber der Begriff »Zweck«, der zur Erklärung der Verknüpfung der beiden moralischen Übel verwendet wird, bezieht sich auf den Zweck der Handlung selbst. In diesem Fall können die moralischen Übel, unabhängig von der Intention des Handelnden, aufgrund der Bestimmung der Handlungen selbst miteinander verknüpft werden. Zum Beispiel wird der Akt der Täuschung auf die Habgier (avaritia) als auf seinen Zweck hingeordnet. Die Habgier als ein Zweck des Aktes der Täuschung kann den Handelnden, der habgierig ist, dazu veranlassen, das Eigentum des anderen durch die Täuschung zu eigen zu nehmen. 89 In dieser Weise kann die Habgier als ein vitium capitale auch andere moralisch üble Handlungen veranlassen. Der Begriff vom vitium capitale besagt aber natürlich nicht, dass ein moralisches Übel automatisch oder notwendig aus einem anderen moralischen Übel hervorgeht, wobei der Wille des Handelnden nur eine kleine Rolle spielen würde. 90 Aber dieser Begriff kann ohne Zweifel das Phänomen erklären, dass die Sünden einer bestimmten Art miteinander verbunden sind und eine schwer abzuschneidende Kette bilden, so dass ein moralisch übel Handelnder, in sie verwickelt, sehr häufig nicht umhin kann, eine andere, weitere böse Tat zu begehen. Hierdurch kann sich der Gedanke bekräftigen, dass eine bestimmte moralisch böse Handlung, für sich genommen, eigenartige Mechanismen besitzt, die für den Handelnden schwer kontrollierbar sind, obwohl diese moralisch böse HandVgl. Thomas von Aquin, De malo, q. 8, a. 1, co. Vgl. Thomas von Aquin, De malo, q. 8, a. 1, co. – Thomas legt in De malo eine große Menge an Beispielen vor, welche zeigen, dass die vitia capitalia von sich aus die anderen peccata als ihre filiae hervorbringen. 90 Für die Rolle des Willens vgl. McCluskey, Thomas Aquinas on Moral Wrongdoing, 173. 88 89

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lung andererseits nur dann ausgeführt werden kann, wenn ein Handelnder diese auch willentlich vollzieht.

6. Die Interindividualität im akzidentellen Auftreten des nichtwillentlichen Bösen beim willentlich Handelnden Da das Böse im Guten als seinem Subjekt existiert und jedes Ding das für es Gute in seiner Weise verfolgt, verursacht paradoxerweise das Gute des einen das Böse des anderen, wie es häufig zwischen den Naturdingen, z. B. Feuer und Wasser, geschieht. Das ist aber auch der Fall beim willentlichen Akt. Aus dem willentlichen Akt kann nämlich das Böse in akzidenteller Weise oder nicht-willentlich hervorgehen. Diesbezüglich ist zunächst zu bemerken, dass in diesem Fall der Handelnde für das hervorgebrachte Böse nicht immer verantwortlich gemacht werden darf. Denn das Auftreten des Bösen in diesem Fall ist außerhalb seiner Intention, also unwillentlich. Streng genommen sind aber alle Übel als Gegensätzliches zum Guten vom Handelnden nicht direkt intendiert, da nur Gutes erstrebt wird. 91 Auch wenn ein moralisches Übel nicht direkt vom Willen gewollt, sondern nur akzidentell mit in Kauf genommen wird, so gilt dies aber dennoch als ein willentlicher Akt, weil das moralische Übel bei Thomas auch insofern als willentlich angesehen wird, als der Handelnde weiß, dass das Gute, das er direkt erstreben will, mit dem moralischen Übel verbunden ist, er aber trotzdem jenes Gute will. 92 Thomas erkennt aber auch andere Fälle an, in denen etwas aus dem Akt des Handelnden hervorgeht, was sicher zwar ein Böses ist, aber kein willentlicher Akt des Handelnden. 93 Das Böse in diesem Fall geschieht nur akzidentell und außerhalb der Intention des HanVgl. Thomas von Aquin, De malo, q. 1, a. 3: »Malum autem, in quantum huiusmodi, non potest esse intentum, nec aliquo modo volitum vel desideratum […].« – Für die verschiedenen Bedeutungen von praeter intentionem bei Thomas vgl. Joseph M. Boyle Jr., »Praeter intentionem in Aquinas«, in: Thomist 42 (1978), 649–665. 92 Dies ist der Fall beim Hervorbringen des moralischen Übels durch den Willen, wovon bereits die Rede war (vgl. Kapitel 3). 93 Vgl. dazu Knasas, Aquinas and the Cry of Rachel, 88 f. 91

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delnden. Denn hier will der Handelnde nicht, dass Böses aus seinem Akt hervorgehe, und er weiß manchmal nicht vorher, dass es geschehen würde. Daher kann in diesem Fall der Handelnde für das geschehene Böse entschuldigt werden. Es ist kein Übel im Akt, sondern Böses in den Wirkungen, 94 und keine culpa des Handelnden, sondern malum für die vom Akt des Handelnden Betroffenen. Zum Beispiel bringt das Streben nach der Erhaltung der Existenz des Menschen, die gut für ihn als ein Naturwesen ist, unweigerlich das Übel der Zerstörung der Existenz anderer Wesen mit sich (z. B. Tiere oder Pflanzen). Ein anderes Beispiel, das klar zeigt, dass ein unwillentliches Böses vom willentlichen Akt des Menschen ausgehen kann, ist der Akt der Selbstverteidigung, wo nämlich ein willentlicher Versuch des einen, das Böse (seinen Tod) zu vermeiden – was als ein Gutes gilt –, zum Tod des anderen führt. Nach dem Argument von Thomas, das die moderne Ethik als ›Doppel-EffektTheorie‹ bezeichnet, kann die den Tod hervorbringende Handlung der Selbstverteidigung, sofern die notwendigen Bedingungen vorliegen, erlaubt sein, da der Tod ganz außerhalb der Intention des Handelnden liegt, selbst wenn er vorhersehbar war. 95 Es kann aber trotzdem nicht verleugnet werden, dass hier Böses geschieht, nämlich die Tötung eines anderen Menschen. An diesen Beispielen lässt sich sehen, dass der menschliche Akt ohne Zweifel nicht isoliert ist, und häufig vom Bösen des anderen moralischen Wesens begleitet werden kann, auch wenn jener moralisch gut erscheint. Dafür gibt es viele Beispiele, aber es lässt sich hier ein noch extremeres Beispiel nennen, welches scandalum passivum genannt wird. 96 Dies kann geschehen, wenn z. B. die moralische Perfektion eines Handelnden die Eifersucht einer anderen Person, ein peccatum capitale, begleitet. Die Eifersucht liegt sicher völlig außerhalb der Intention von jenem und muss ohne Zweifel für die Schuld der Eifersüchtigen gehalten werden. Es gibt allerdings eine innere Ursache, welche ihn zu diesem moralischen Übel Zu dieser Unterscheidung vgl. Thomas von Aquin, STh Ia, q. 49, a. 1, co. Vgl. Thomas von Aquin, STh IIa-IIae, q. 64, a. 7, co.; Boyle, »Praeter intentionem in Aquinas«, 662. – Für die Doppel-Effekt-Theorie bei Thomas vgl. Joseph T. Mangan, »An Historical Analysis of the Principle of Double Effect«, in: Theological Studies 10 (1949), 41–61, hier 43–52. 96 Vgl. Thomas von Aquin, STh IIa-IIae, q. 43, a. 2, co. 94 95

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führt. Dabei ist es aber sehr merkwürdig, dass ein moralisch guter Akt, wenn auch akzidentell, Anlass zur moralisch bösen Handlung des anderen geben kann. Das akzidentell begleitende Böse kann sicher nicht den Wert der moralisch guten Handlung selbst abschwächen, aber sehr wahrscheinlich geht damit auch ein weiteres Böses für den gut Handelnden einher, und weitere moralische Bemühungen sind nötig von Seiten des gut Handelnden, um das Böse, das unwillentlich möglicherweise geschehen wird, zu vermeiden. 97 Diese Beispiele können deutlich zeigen, dass in der Welt das moralisch Böse und Gute des einen Menschen eng mit dem des anderen verbunden ist, für die Perfektion des einzelnen Menschen also nicht nur seine guten Handlungen, sondern auch die Gutheit der Handlungen der anderen unentbehrlich sind. Das heißt, beim moralischen Übel handelt es sich nicht einfach um ein persönliches Problem. Die Verhinderung des moralischen Übels erfordert daher nicht nur den guten Willen des Handelnden, sondern auch den guten Willen der Mitmenschen. In den Gesellschaften, wo ein jeder nur sein privates Gut verfolgt, ist daher keine Ordnung des Moralischen mehr gültig, dort agieren alle Menschen gleichsam nur als Naturwesen. Dies hängt auch mit dem Gedanken zusammen, dass die moralische Vollkommenheit eines Individuums ohne die Verwirklichung des Gemeinwohls sowie des Wohls der anderen unvollständig ist.

7. Zusammenfassung Thomas entwickelt die Theorie vom strukturellen bzw. überindividuellen Bösen nicht systematisch, aber seine Theorie vom moralischen Übel zeigt ansatzhaft, dass es in seinem Sein zwar ein individuelles Ereignis ist, aber zugleich Merkmale enthält, die nicht auf die Individualität des Willensaktes zurückgeführt werden können. Erstens, das Auftreten des Bösen aus dem Willen ist durch die Willensentscheidung des einzelnen Handelnden allein nicht vermeidbar, eben wegen der ontologischen Endlichkeit des Willens des Menschen, die sich darin manifestiert, dass der Wille der einzelnen 97

Vgl. Thomas von Aquin, STh IIa-IIae, q. 43, a. 7–8, co.

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Individualität und Über- bzw. Interindividualität des moralischen Übels bei Aquin

Person allein ohne übernatürliche Hilfe das Nichtgebrauchen der Handlungsregeln nicht vermeiden kann. Zweitens, die korrupte Disposition der Menschennatur, die den Willen geneigt zur Sünde macht, gilt als gemeinsames Übel aller Menschen. Drittens, die von der Intention des Willens unabhängige, als an sich übel geltende Handlung, auf die als auf sein Objekt der perverse Wille intendiert, enthält in ihrer Bestimmung das Fehlen der richtigen Hinordnung zum Gemeinwohl. Das moralische Übel als einzelner Akt betrifft daher in seiner Wirkung viele Menschen, die zu jenem Gemeinwohl hingeordnet handeln. Viertens, ein Handelnder bewirkt ein Böses für einen anderen unwillentlich und nur akzidentell, aber dennoch geht das Böse aus seiner Handlung hervor. Auf diese Weise steht manchmal das Auftreten des Bösen aus dem Willen außerhalb der Kontrolle des Willens des individuell Handelnden. Beim moralischen Übel handelt es sich somit manchmal nicht um die persönliche Willensentscheidung allein. In diesem Zusammenhang wird gesagt, dass das perfekte Vermeiden des moralischen Übels einer individuellen Person erst dann möglich wäre, wenn sie das separate, allgemeinste bonum erreichen würde, so dass nichts als jenes bonum Ursache des Willens sein würde. All diese Betrachtungen zeigen klar, dass ein moralisches Übel überindividuelle Elemente in seiner Ursache, in seiner Bestimmung und in seiner Wirkung enthält, und dass daher, auch wenn es ein einzelner Akt ist, dieser nicht einzeln bleibt. Es ist aber auch klar, dass diese überindividuellen Wirkungen nur durch den individuellen Akt, d. h. das moralische Übel des individuellen Handelnden in die Welt treten. Deswegen ist es von großer Bedeutung, das moralische Übel zu vermeiden.

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Das überindividuell Böse als globale Herausforderung

Evil as an individual act has always been an opportunity for the individual and therefore all human communities have found ways and means to limit the effects of evil action and make it less likely. In the modern world, however, evil has taken on a form in superindividual structures and processes in which it confronts mankind almost like an inevitable, accepted malum. But it is an element of evil to hide the fact that it is not fatal, but rather the result of human action and social systems that are orientated to the possibility of individual evil and that use and promote it. In modern world society, the global fight against superindividual evil has become one of the central tasks of humanity. This is a challenge that requires a new systemic thinking, interdisciplinary work and an open discourse about a better, more livable society, both locally and internationally, in which it is no longer the benefit of nations and economic groups, but the well-being of the people in their local contexts of life that should determine the primacy of politics. The result will probably not be a world without individual and superindividual evil, but a humanity that together counteracts both superindividual and individual evil more decisively than it has so far.

1. Einleitung Die moderne Gesellschaft ist eine Weltgesellschaft und auch die Herausforderungen der Moderne sind globale Herausforderungen. Die menschengemachte Klimaerwärmung wird sich nicht anders, denn im globalen Zusammenwirken der politischen Institutionen begrenzen lassen. Die durch internationale Kontakte erleichterte weltweite Ausbreitung von Viren macht nicht vor nationalen Grenzen halt und internationale Lieferketten haben längst dazu geführt,

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dass Störungen in einer Region der Welt zu massiven Auswirkungen auf anderen Kontinenten führen können. 1 Dennoch leben die meisten Menschen emotional und gefühlt zunächst weiterhin in lokalen Sozialräumen, nationalen Staatsgebilden und historisch gewachsenen Kulturräumen. Ihr Denken, Entscheiden und Handeln ist geprägt von Jahrhunderten, in denen ihr zentraler Lebenskontext und der ihrer Vorfahren oftmals zunächst nur ein Dorf mit seinen Nachbarschaftsregeln, dann ein Land mit seinen Gesetzen und darüber hinaus allenfalls ein kulturell weitgehend homogener Sprachraum mit seinen gemeinsamen Werten, vorherrschenden religiösen Deutungen und etablierten Lebensformen war. Entsprechend groß sind für die meisten Menschen die mit der modernen Weltgesellschaft verbundenen Herausforderungen, wenn durch digitale Technologien und ökonomisch-globale Beziehungen internationale Kommunikation in immer mehr Lebensbereiche vordringt und alte Regeln und Bewertungen guten Handelns in Frage stellt. Internationale Medien und Netzwerke haben längst ein Bewusstsein geschaffen, dass auch das, was jenseits der Grenzen des eigenen Lebensbereichs geschieht, von Bedeutung für das eigene Leben sein kann. Durch Liveübertragungen ist zumindest auf dem Fernseher oder im Internet-Stream die Welt zum globalen Dorf geworden. Die Ereignisse auf anderen Kontinenten werden dadurch zum Teil der eigenen Lebenswelt und angesichts des Wissens um die internationalen Verbindungen auch zum Bereich der eigenen Verantwortung und Ethik. 2 Katastrophen und tragische Ereignisse, die außerhalb des eigenen engeren Lebenskontextes geschehen, werden damit aber auch Ulrich Beck spricht diesbezüglich von einer dreifachen Delokalisierung globaler Risiken, da sich diese (1.) in räumlicher Hinsicht nicht mehr auf Nationalstaaten begrenzen lassen, (2.) sehr lange Zeiträume übergreifen und (3.) sozial nicht mehr auf überschaubare Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge zurückgeführt werden können (vgl. Ulrich Beck, »Leben in der Weltrisikogesellschaft«, in: Ulrich Beck, Generation Global. Ein Crashkurs [suhrkamp taschenbuch 3866], Frankfurt a. M. 2007, 57–73, bes. 64). 2 Vgl. Ulrich Beck, Was ist Globalisierung? Irrtümer des Globalismus – Antworten auf Globalisierung (suhrkamp taschenbuch 3867), Frankfurt a. M. 2007, 178. 1

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Teil des Bereichs, auf den man in jedem Fall reagieren muss, und sei es bloß, indem man für die Betroffenen spendet, für sie betet oder zum nächsten Fernsehsender weiterschaltet, weil man das Elend nicht länger mit ansehen möchte. Anders als singuläre Ereignisse, die zwar emotional herausfordern, aber auch wieder vorübergehen, sind die langfristig bestehenden globalen Ungerechtigkeiten jedoch nicht so einfach auszublenden. Wer die Welt als Ganze in den Blick nimmt, wird die derzeit existierenden ökonomischen Wechselwirkungen und Strukturen nicht nur als Schicksal wahrnehmen können. Sie sind auch das Ergebnis von bewussten Konsum- und Anlageentscheidungen oder politisch gewollten und historisch gewachsenen internationalen Wirtschaftsverflechtungen, von denen manche Personengruppen profitieren und unter denen andere leiden müssen. 3 Was aber in der globalisierten Welt als unveränderliches Übel hinzunehmen ist oder was dagegen als zum Protest und Widerstand herausforderndes Böses zu bewerten ist, ist angesichts der Überindividualität und Komplexität globaler Wirtschafts-, Kultur- und Medienverbindungen weit weniger eindeutig, als es dies in überschaubaren lokalen oder nationalen Kontexten der Fall war. Das Böse als überindividuelles Phänomen im globalen Kontext stellt die überlieferten philosophischen und religiösen Deutungsmuster und etablierte ethische Diskurs- und Entscheidungsverfahren grundsätzlich in Frage. 4 Wer ist Urheber, wer Opfer? Wer ist verantwortlich und wer schuld an dem, was geschieht? Und wer soll die sich aus alledem ergebenden Konsequenzen ziehen oder die damit verbundenen Lasten tragen?

Zu den damit verbundenen mehrdimensionalen Fragestellungen einer globalen Gerechtigkeit vgl. die Aufsatzsammlung Menschen, Klima, Zukunft? Wege zu einer gerechten Welt (Jahrbuch Gerechtigkeit V), Glashütten 2012. 4 Vgl. dazu aus systemtheoretischer Perspektive Niklas Luhmann, Ökologische Kommunikation. Kann die moderne Gesellschaft sich auf ökologische Gefährdungen einstellen?, Opladen 1986, bes. 18–20. 3

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2. Die traditionelle Unterscheidung von überindividuellem Übel und individuell vollzogenem Bösen Im traditionellen, an konkreten Interaktionskontexten ausgerichteten Denken und Handeln war und ist die Zuschreibung des Bösen auf individuelles Verhalten von Menschen eine zumeist gut funktionierende Erklärung negativer sozialer Erfahrungen. Daher wurde das Böse in überschaubaren Kontexten traditionell als von einzelnen oder mehreren Personen intendiertes, bewusst in Kauf genommenes oder von ihnen nicht verhindertes Übel verstanden 5 und von solchen negativen Erfahrungen unterschieden, die von niemandem intendiert und auch von niemandem vermeidbar waren und daher nur als Schicksalsschläge hingenommen werden konnten. 6 Das individuell intendierte Böse: Wenn jemand Opfer einer Gewalttat oder eines Betruges wurde, galt es zunächst einmal, die Person zu ermitteln, die die Tat begangen hatte. Und was dann mit ihr zu geschehen hatte, dafür gab es gesellschaftliche Regeln der Wiedergutmachung, um das geschehene Unrecht auszugleichen, und Vgl. die sechste mögliche Definition des Bösen bei Jean-Claude Wolf, Das Böse (Grundthemen Philosophie), Berlin/Boston 2011, 5: »›Böse‹ bezeichnet relativ freie, individuelle oder kollektive Entscheidungen, die dazu führen, anderen Menschen schwere Übel (wie den Tod, starke Schmerzen, Ängste, schwere Enttäuschungen und Demütigungen) zuzufügen. Diese Entscheidungen kommen absichtlich oder wissentlich zustande, oder sie entstammen einer groben Fahrlässigkeit oder einer schuldhaften Unwissenheit. Sie können auch ohne Gründe und Motive zustande kommen, oder diese sind nicht bekannt. […] Definition6 ist weder elegant noch definitiv, doch sie enthält Elemente wie Absicht, Wissen, Sorgfaltspflichten und einige Grade von Freiheit, die wir voraussetzen, wenn wir Menschen Verantwortung für das Böse zuschreiben. Sie lässt offen, dass es nicht nur individuelle, sondern auch kollektive Verantwortung für das Böse geben kann. Kollektive Verantwortung wird dort zugeschrieben, wo mehrere Menschen durch Untätigkeit, Schweigen, Bequemlichkeit, Feigheit oder Komplizenschaft das Böse dulden oder verbreiten.« 6 Vgl. Jörg Noller, Theorien des Bösen zur Einführung, Hamburg 2017, 12: »In der theologischen und philosophischen Tradition wird diese Form des Bösen als natürliches Übel (malum physicum) bezeichnet. Es folgt nicht aus der menschlichen Freiheit, kann also keinem Willen zugerechnet werden, sondern stellt ein passives Übel dar, welches Menschen und anderen Lebewesen zustößt, ihr Leben gefährdet und beeinträchtigt.« 5

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Strafen, die solche, als böse konnotierte Taten für die Zukunft unwahrscheinlicher machen sollten. Dass Menschen zu Bösem in Formen bewusst vollzogenen Handelns mit direkt intendierten negativen Folgen fähig und bereit sein können, gehörte auch schon in überschaubaren sozialen Gruppen und Einheiten zu den anthropologischen Grunderfahrungen der Menschheit, weshalb sich in allen sozialen Kontexten Regeln herausgebildet haben, solches Verhalten zu ächten, es zu vermeiden bzw. im Nachgang darauf zu reagieren. 7 Das individuell in Kauf genommene Böse: Gleiches gilt aber in überschaubaren sozialen Kontexten nicht nur für intendierte, sondern auch für bewusst in Kauf genommene negative Folgen eigenen Handelns. Wer mit dem Auto unter Alkoholeinfluss einen Unfall mit Personenschaden verursacht, muss sich dieses Ereignis und seine Konsequenzen individuell zurechnen lassen, auch wenn weder Unfall noch Schaden beabsichtigt waren. Die zum Unfallzeitpunkt alkoholisierte Person kann zur Wiedergutmachung oder zu einer Strafe verurteilt werden, weil sie das eingetretene Unheil, wenn auch nicht gewollt, so doch durch ihr Verhalten in Kauf genommen hat. In Fällen, in denen die möglichen Konsequenzen eines Handelns nicht so eindeutig zu erkennen sind, können dann vielleicht noch mildernde Umstände geltend gemacht werden, aber die aus dem Geschehen abgeleitete Verantwortung für die Folgen hebt dies nicht auf. Das individuell nicht verhinderte Böse: Eine dritte Form des individuell zuweisbaren Bösen liegt dann vor, wenn eine Person Negatives hätte verhindern können, es aber unterlassen hat, alles dafür Notwendige zu tun, die absehbaren Folgen zu vermeiden oder ihre Wirkung wenigstens so weit wie möglich abzuschwächen. So fehlt z. B. bei der unterlassenen Hilfeleistung jede Intention zum Die Fragestellung, warum Menschen bereit und in der Lage sind, böse zu handeln, kann an dieser Stelle nicht thematisiert werden. Einen knappen Überblick über die wichtigsten evolutionsbiologischen, psychologischen, soziologischen, theologischen und philosophischen Erklärungsmöglichkeiten bietet Annemarie Pieper, Gut und Böse (Beck’sche Reihe 2077), 4., durchgesehene Auflage, München 2019. Für die hier behandelte Problematik des überindividuellen Bösen ist nur die Tatsache entscheidend, dass individuell vollzogenes Böses als allgemeine und relevante Erfahrung im sozialen Miteinander der Menschheit vorausgesetzt werden kann.

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Schaden, ja jedes aktive Handeln an sich. Aber auch, wer andere schädigt, indem er durch Nichthandeln, z. B. als Mitwisser einer Straftat, ein absehbar negatives Ereignis nicht verhindert, wird sich dessen Folgen zurechnen lassen müssen, denn ein solches Verhalten wird von allen anderen – vor allem aber von den Betroffenen selbst – als bösartiges Nichthandeln wahrgenommen. Die überindividuell hinzunehmenden Übel: Gegenüber den individuell zuweisbaren Erfahrungen des Bösen kennen natürlich auch überschaubare soziale Kontexte negative Ereignisse, bei denen die Zuweisung von Schuld und Verantwortung an einzelne Personen nicht funktioniert oder auf Dauer untragbare soziale Folgekosten für die Gemeinschaft mit sich bringen würde. So sind überindividuelle Phänomene wie Erdbeben, Unwetter oder andere Naturkatastrophen zumeist als unvermeidbare tragische Schicksalsschläge erlebt worden. Sie waren von niemandem intendiert und konnten auch von niemandem verhindert werden, mussten also als Übel hingenommen werden. Gleiches galt allgemein auch für das Erleben schwerer Krankheiten, selbst wenn diese mitunter als bösartig beschrieben werden. 8 Spätestens seit sich das naturwissenschaftliche Denken mit der Nachweisbarkeit kausaler Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge durchgesetzt hat, gilt es nicht mehr als rational, naturgegebene Katastrophen den teuflischen Machen-

Wollte man dennoch für solche Ereignisse jemandem eine Verantwortung zuschreiben, boten die polytheistischen Religionen traditionell die Möglichkeit an, solche überindividuellen und persönlichen Katastrophen der Launenhaftigkeit der Götter zuzuschreiben, die man dann – wenn auch mit ungewissem Ausgang – zu besänftigen versuchen konnte. Oder es drängte sich in den monotheistischen Religionen mit der Annahme eines die Welt in allen ihren Aspekten regierenden Gottes die nicht weniger problematische Theodizee-Thematik auf, wie man das von Gott gesandte Unheil mit seiner Allmacht, Allwissenheit, Barmherzigkeit und Gerechtigkeit zusammendenken sollte (vgl. zur Theodizeeproblematik Klaus von Stosch, Theodizee [Grundwissen Theologie, UTB 3867], 2., überarbeitete Auflage, Paderborn 2018). Angesichts eines zunehmenden Bewusstseins für die Zusammenhänge zwischen Lebensstil und Gesundheit auf der einen und den Konsequenzen menschlichen Konsumverhaltens für den Klimawandel auf der anderen Seite ist aber in beiden Bereichen mittlerweile wieder eine Verschiebung der Zuweisung von Krankheitserfahrungen und Naturkatastrophen an individuelles Fehlverhalten von Menschen zu beobachten. 8

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schaften einzelner Personen zuzuschreiben, die das Wetter verhexen oder Krankheiten durch böse Blicke oder Flüche auslösen können. Die Zeit der Hexenverfolgungen hat zumindest die aufgeklärte westliche Kultur gelehrt, dass die soziale Zuschreibung von derartigen negativen Erfahrungen an die Intention böser Menschen in überindividuell bedingten Krisen nur weitere Opfer produziert, aber gerade keine Wetter-, Versorgungs- oder Gesundheitsprobleme löst. Traditionell unterscheidet die gesellschaftliche Deutung negativer Erfahrungen also die individuell gewollten, in Kauf genommenen bzw. nicht verhinderten negativen Handlungsfolgen, die man als etwas Böses oder als böses Verhalten interpretieren und einzelnen Personen zuweisen kann, von den nicht durch Menschen verursachten, überindividuell bedingten Problemen, die häufig als unvermeidbare Übel thematisiert werden.

3. Die soziale Bewältigung des individuell Bösen Zur sozialen Bewältigung des individuell Bösen haben sich historisch gewachsene gesellschaftliche Institutionen herausgebildet, die der Eindämmung des Bösen dienen sollen. In kleinen sozialen Einheiten sind dies Sitte und Moral, die eine geltende Übereinkunft darüber kommunizieren, welches Verhalten als böse anzusehen, also von allen abzulehnen ist, und welches Handeln als dem gemeinsamen Werte- und Regelsystem entsprechendes, also gewünschtes Verhalten gilt. Dabei kann sich das tradierte Normensystem durchaus verändern, sei es durch ethische Reflexion, also bewusste Anpassung an sich verändernde Umstände, oder durch einen sich langsam vollziehenden kulturellen Wertewandel, der unreflektiert eine Anpassung an neue Situationen und Gegebenheiten ermöglicht. Dabei bleibt das Regelsystem aber in durch Interaktion von Anwesenden geprägten kleinen sozialen Einheiten immer am Einzelnen und seinem Verhalten ausgerichtet, das dann durch die Gemeinschaft geprägt, kontrolliert und gegebenenfalls sanktioniert wird. 9 Vgl. Kristen Huxel, Art. »Sitte II. Ethisch«, in: Religion in Geschichte und Gegenwart, Band 7, 4. Auflage, Tübingen 2004, Sp. 1353–1354.

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In größeren, ausdifferenzierten Gesellschaften, in denen wechselseitige soziale Kontrolle und die Sanktionierung von Regelverstößen nicht mehr so direkt möglich sind, hat das Rechtssystem die Funktion übernommen, die Regeln guten und bösen Verhaltens zu kodifizieren, über die Einhaltung des Regelsystems zu wachen und gegebenenfalls die Durchsetzung eines normgerechten Verhaltens durch Strafandrohung und Verfolgung von Rechtsverstößen wahrscheinlich zu machen. Auch hier ist das Regelwerk veränderbar, nur braucht es dafür nun Entscheidungen der rechtmäßig zuständigen politischen Instanzen, die bei neuen Herausforderungen das geltende Recht über eine Anpassung der Gesetzestexte regelgerecht verändern können. 10 Auch im Rechtssystem bleibt der Ansatzpunkt zumeist das zu normierende Verhalten einzelner Personen, andererseits entwickelte sich mit der wachsenden gesellschaftlichen Bedeutung sozialer Organisationen auch die Fiktion einer juristischen Person. Diese bietet zumindest die Möglichkeit, auch größere soziale Einheiten wie Unternehmen oder Organisationen zur Einhaltung von Rechten und Pflichten zu zwingen bzw. bei Regelverstößen zu sanktionieren. 11 Sowohl die kulturell gewachsene Sitte und Moral wie die politisch gestalteten Gesetzestexte bedürfen der Identifikation und Reflexion des Bösen als Gegensatz zum geforderten Guten in der Individual- bzw. der Sozialethik. Erst die kollektive Festschreibung des Bösen, also dessen, was im jeweiligen Kontext nicht akzeptiert werden kann und darf, ermöglicht die Identifikation von Verant-

Vgl. Niklas Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft (suhrkamp taschenbuch wissenschaft 1360), Frankfurt a. M. 1998, 976 f. 11 Anders als z. B. in den USA, in denen Unternehmen direkt zu hohen Strafzahlungen verurteilt werden können, sind Sanktionen gegen Unternehmen in Deutschland bisher nur über das Ordnungswidrigkeitengesetz geregelt, während im Strafrecht nur natürliche Personen angeklagt und verurteilt werden können. Es liegt jedoch seit dem 15. August 2019 ein Referentenentwurf des Bundesministeriums für Justiz und Verbraucherschutz für ein Verbandssanktionengesetz vor, das für Unternehmen Geldbußen bis zu 10 Prozent des Jahresumsatzes vorsieht (vgl. Hans Achenbach, »Der Entwurf eines Verbandssanktionengesetzes und die großen Ordnungswidrigkeiten«, in: Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik 15 [2020], Nr. 1, 1–6). 10

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wortlichen für Fehlverhalten und die Zuschreibung von Schuld an einzelne Personen. Erst die Zuweisung individueller Verantwortung für das Böse ermöglicht dann auch, die richtige Stelle für Wiedergutmachungsforderungen festzulegen und eine gezielte Strafverfolgung zu etablieren, um vergleichbares Fehlverhalten zukünftig unwahrscheinlicher zu machen. 12 Auch in ausdifferenzierten Gesellschaften, die zur sozialen Bewältigung des Bösen ein Rechtssystem herausbilden, bleiben traditionelle Regeln des Anstands und der Sittlichkeit dennoch in vielen kleineren sozialen Kontexten prägend für das soziale Miteinander. Das Leben im Dorf, in einer religiösen Gemeinschaft, einer ethnischen Community oder einem konkreten familiären Kontext kann sehr unterschiedlichen Regeln folgen und jeweils Verschiedenes als böses und unter keinen Umständen akzeptables Verhalten definieren. Einklagbar aber ist die Beachtung derartiger Normen und Wertvorstellungen gesamtgesellschaftlich nur im Rahmen des für alle Bürger auf gleiche Weise geltenden Rechts und an diesem findet auch die Durchsetzung sittlicher Anstandsregeln kleinerer sozialer Systeme ihre Grenze. 13

Dies ist das positive Ziel einer Strafe, die nicht Vergeltung sucht, sondern eine bessere Zukunft ermöglichen will (vgl. Martha C. Nussbaum, Königreich der Angst. Gedanken zur aktuellen politischen Krise, Darmstadt 2019, 102 f.). 13 So kann z. B. eine offene Gesellschaft nicht akzeptieren, dass aus einer kulturell gewachsenen patriarchalen Familienmoral heraus Ehrenmorde an Frauen vollzogen werden, wenn diese z. B. durch einen westlich-liberalen Lebensstil gegen die tradierten sittlichen Moralvorstellungen ihrer Herkunftsfamilie verstoßen. Weil die Regeln des Rechtssystems die Vorstellungen einer gebrochenen Familienehre nicht als Rechtfertigung für die Tötung eines Menschen vorsehen, wird ein solches Verhalten gesellschaftlich scharf zu sanktionieren sein, da es den tragenden gemeinsamen Rechtsnormen der Gesellschaft widerspricht. Innerhalb des für alle geltenden Rechts hingegen kann große Liberalität und Toleranz für unterschiedliche Sitten und Moralvorstellungen gewährt werden, solange der Wertedisput innerhalb der Gesellschaft keine inakzeptablen Konsequenzen für den gemeinsamen Rechtsrahmen der Gesellschaft hat. 12

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4. Die Wahrnehmung des überindividuell Bösen in der globalisierten Welt Die Wahrnehmung negativer Folgen internationaler Verflechtungen und menschlichen Handelns in der modernen globalisierten Welt stellt aber die in lokalen, regionalen und nationalen Kontexten geprägte Unterscheidung von individuell zuschreibbarem Bösen und hinzunehmendem überindividuellen Übel grundsätzlich in Frage. 14 Eine moderne Sicht der globalisierten Welt und ihrer negativen Aspekte muss nämlich die Erfahrung bewältigen, dass es nicht intendierte Folgen individuellen Handelns gibt, die sich aus nicht mehr überschaubaren Wechselwirkungen vielfältig vernetzter Systeme ergeben und daher eine Zuweisung von Verantwortung und Schuld an einzelne Personen nicht mehr sinnvoll erscheinen lassen, die aber dennoch – anders als Naturkatastrophen – aus menschlichem Handeln hervorgehen und zumindest zum Teil der Veränderung durch politische Kontexte zugänglich sind. Die Mechanismen des alle Länder übergreifenden, aufs engste verflochtenen Weltwirtschaftssystems führen dazu, dass Kauf- wie Nichtkaufentscheidungen auf der einen Seite des Globus zu veränderten Wirtschaftschancen, Löhnen und Produktionsregeln in anderen Teilen der Welt führen. Dabei sind die Folgen einer Entscheidung über den Kauf oder Nichtkauf einer international produzierten Ware für die Konsumentinnen und Konsumenten weder erkennbar noch abschätzbar. Ist der niedrige Preis eines Produkts Kennzeichen eines schlechteren sozialen oder ökologischen Produktionsstandards im Herstellungsland? Oder ist der für das Alternativprodukt verlangte höhere Preis nur aufgrund einer höheren MarIngolf U. Dalferth, »Die Kontingenz des Bösen«, in: Ingolf U. Dalferth/ Karl Kardinal Lehmann/Navid Kermani, Das Böse. Drei Annäherungen, Freiburg u. a. 2011, 9–52, hier 9 f: »Die neuzeitliche Verteilung der Problemlasten zwischen natürlichem Übel (für das niemand etwas kann) und moralischem Bösen (für das immer jemand verantwortlich ist) ist deshalb eine problematische Übervereinfachung. So unverzichtbar diese Unterscheidung für bestimmte Zwecke ist, so wenig kommt damit das ganze Ausmaß des Problems in den Blick. Das Böse ist unfasslicher, umfassender, unvermeidlicher und unverständlicher, als es die traditionellen Unterscheidungen der Neuzeit nahe legen« (Hervorh. im Orig.).

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kenbekanntheit gegeben und die Produktion vielleicht sogar unter noch schlechteren Bedingungen erfolgt? Wird der Kauf eines Produkts dazu führen, dass in dessen Herstellungsland mehr Wohlstand entsteht? Oder werden die Gewinne an anderer Stelle der Produktionskette abgeschöpft? Wird nicht parallel mit dem Nichtkauf des alternativen Produkts zugleich der Druck auf dessen Herstellungsprozess wachsen, einen niedrigeren Preis zu ermöglichen, um konkurrenzfähiger zu werden, sodass sich die Produktionsbedingungen in dessen Herkunftsland verschlechtern? Und wie verhalten sich die jeweiligen Verbesserungen und Verschlechterungen an den Produktionsstandorten zueinander, die durch ein bestimmtes Kaufverhalten bei einer Auswahl zwischen mehreren verfügbaren Produkten ausgelöst werden? Würde man die traditionelle individuelle Zuschreibung negativer Folgen sozialen Handelns auf diese Konstellation anwenden, müsste man die Frage stellen, inwieweit den handelnden Personen die globalen Folgen ihrer individuellen Kaufentscheidung als böse oder gute Taten zugerechnet werden können. Und dies müsste dann sowohl für den Kauf des einen wie des anderen Produktes wie auch für die Verweigerung des Kaufes an sich gelten, wenn auch das bewusst unterlassene Gute in diesem Kontext miteinbezogen werden soll. Dies aber erscheint in einer globalisierten Welt mit für die Kundinnen und Kunden unüberschaubaren wirtschaftlichen Verflechtungen als unangemessene Zuschreibung von Verantwortung. Auch der aus werteethischer Sicht positive Versuch, das Problem dadurch zu lösen oder zu vermindern, dass man »gute« – weil nachhaltig oder fair produzierte – von »bösen« – weil unter schlechteren Bedingungen hergestellten – Produkten unterscheidet, löst das Problem allenfalls für das Gewissen der einzelnen Käuferinnen und Käufer, die durch den Erwerb des zumeist teureren Produkts zeigen können, dass sie die negativen Folgen ihres Konsums mitbedenken und möglichst vermeiden wollen. Es hebt aber diejenigen negativen Konsequenzen ihrer Kaufentscheidungen nicht auf, die zum Beispiel auf der Seite der damit nicht gekauften Waren auch erheblich sein können. Jeder Kauf einer fair gehandelten Banane erhöht zwar vielleicht das Einkommen auf der Seite derer, die diese Banane angebaut und vermarktet haben, es erhöht aber zugleich im Wettbewerbssystem der internationalen Marktwirtschaft den 82 https://doi.org/10.5771/9783495825372 .

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Druck auf die Mitkonkurrenten, den Preis für nicht fair gehandelte Früchte soweit zu senken, dass ausreichend viele Kaufentscheidungen dann auch zugunsten dieses Produkts getroffen werden. 15 Selbst wenn man diesbezüglich von der Problematik absieht, dass fair gehandelte Produkte im bestehenden marktwirtschaftlichen Wettbewerbssystem einen höheren Preis haben müssen, und man sich ethischeres Verhalten dann als konsumierende Person auch noch leisten können muss, bleibt es doch eine Fiktion, dass die Verantwortung für die Veränderung komplexer Wirtschaftssysteme den Konsumentinnen und Konsumenten zugeschrieben werden könnte. 16 Aus ihren Kauf- und Nichtkaufentscheidungen entstehen zwar Konsequenzen für die Wirtschaft und das gesellschaftliche Leben an vielen Orten der Welt, aber diejenigen, die sich für oder gegen eine Ware entscheiden, sind nicht in der Lage, die Folgen ihres Handelns wirklich zu erkennen und damit durch ihre Kaufentscheidungen zu beeinflussen. Folglich erscheint auch eine individuelle Zuweisung von Schuld für die Konsequenzen eines Verhaltens in solchen überindividuellen Wirtschaftssystemen wenig rational. Selbst wenn alle, die konsumieren, sich ihrer Mitwirkung an den negativen Folgen der modernen Weltwirtschaft und der Etablierung und Verfestigung ökonomischer Strukturen und Mechanismen bewusst wären, würden sie sich dennoch eher als Opfer des Systems, denn als Täter böser Taten erleben. Die Konsequenzen ihres eigenen Handelns werden von allen Beteiligten eher als verhängnisvolle Verstrickung in ein negatives System wahrgenommen, das neben den gewünschten positiven Effekten eben auch viele Übel hervorbringt, dem man sich aber in der modernen Welt auch nicht entziehen kann. 17 Vgl. Ralf Dziewas, Die Sünde der Menschen und die Sündhaftigkeit sozialer Systeme. Überlegungen zu den Bedingungen und Möglichkeiten theologischer Rede von Sünde aus sozialtheologischer Perspektive (Entwürfe 2), Münster/Hamburg 1995, 38 f. 16 Vgl. Miriam Schad/Bernd Sommer, »Denn sie tun nicht, was sie wissen. Warum Aufklärungs- und Informationskampagnen nicht ausreichen, um die ökologische Nachhaltigkeitskrise zu bewältigen«, in: Menschen, Klima, Zukunft. Wege zu einer gerechten Welt (Jahrbuch Gerechtigkeit V), Glashütten 2012, 108–113. 17 Vgl. Michael Sievernich, Schuld und Sünde in der Theologie der Gegen15

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Ähnliche Erfahrungen prägen das Welterleben der Einzelnen nicht nur im Kontext der Wirtschaft, sondern auch in den sozialen Medien, in denen die Folgen der eigenen Kommunikation durch programmierte Algorithmen bzw. Formen künstlicher Intelligenz bestimmt werden. 18 Wenn nicht die Nutzer entscheiden, welche Informationen sie erhalten und welche Posts wem angezeigt werden, können sie dann dafür verantwortlich gemacht werden, welche Wertvorstellungen im Netz kommuniziert werden und wer den Wettbewerb der Meinungen gewinnt? Anders als bei Wahlentscheidungen in demokratischen Politiksystemen, bei denen sich alle Wählerinnen und Wähler das Ergebnis – zumindest hinsichtlich der eigenen Stimmabgabe – zurechnen lassen müssen, haben einzelne Personen im politischen Diskurs in sozialen Netzen nur sehr bedingt Einfluss darauf, was auf Facebook, YouTube oder Instagram viral Erfolg hat und was nicht weiterverbreitet wird. Sind die Systeme z. B. so ausgerichtet, dass Aufregung und stärkere Interaktion durch häufigere Verbreitung im Netzwerk belohnt werden, führt nicht nur Zustimmung, sondern auch der Widerspruch gegen Fake News zu einer vermehrten Verteilung derselben. 19 Wird ihnen aber nicht widersprochen, werden sie vielleicht etwas langsamer, dafür aber unkommentiert weiterverbreitet, sodass sich eine separate Wirklichkeitsdeutung in bestimmten sozialen Filterblasen etablieren kann. Es verwundert also nicht, dass gerade populistische Bewegungen die sozialen Netzwerke gezielt nutzen, weil deren innere Logik ihnen in die Hände spielt. Aber wer ist dann am Ende für den Erfolg der Populisten verantwortlich? Sind es nur die, die aktiv Fake wart (Frankfurter Theologische Studien 29), Frankfurt a. M. 1982, 22: »Im Bewusstsein des modernen Menschen scheint das – in vielfältiger Gestalt und Benennung auftauchende – Böse eine besondere Rolle als Widerfahrnis zu spielen, als Verstrickung oder Gefangenschaft in eine Wirklichkeit, als deren Opfer und nicht Täter er sich fühlt. Diese Leidensgeschichte, die kaum auch als Schuldgeschichte dechiffriert wird, macht das große Unglück des modernen Menschen aus.« 18 Zur grundsätzlichen rechtlichen Problematik vgl. Susanne Beck, »Die Diffusion strafrechtlicher Verantwortlichkeit durch Digitalisierung und Lernende Systeme«, in: Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik 15 (2020), Nr. 2, 41–50. 19 Vgl. Roger McNamee, Die Facebook-Gefahr – Wie Mark Zuckerbergs Schöpfung die Demokratie bedroht, Kulmbach 2019, 303.

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News in die Welt gesetzt haben? Oder auch diejenigen, die sich die sozialen Medien erdachten, ihre Algorithmen entwickelten oder letztlich doch alle Nutzerinnen und Nutzer dieser Netzwerke, die sich am Diskurs beteiligten und ihn damit erst erfolgreich machen? Oder tragen nicht auch diejenigen eine Mitschuld, die sich der Auseinandersetzung auf diesen Plattformen gar nicht erst gestellt und damit diesen Raum den anderen überlassen haben? Auch beim Thema Klimawandel stellen sich ähnliche Fragen: Wem wäre z. B. die Verantwortung für die vor mehreren Generationen begonnene Industrialisierung und die sich daraus ergebende technologische Entwicklung zuzuweisen? Diese hat der Menschheit einen nie dagewesenen Lebensstandard, eine moderne Gesundheitsversorgung, eine steigende Lebenserwartung und global gesehen sogar einen Rückgang der Armut ermöglicht, hat aber auf der anderen Seite auch ein nicht-nachhaltiges Wirtschaftssystem hervorgebracht, das mit seiner Ausrichtung auf Wachstum und Konkurrenz Klimaveränderungen mit sich bringt, die schwere negative Folgen für alle kommenden Generationen haben werden. Wem ist das zuzuschreiben? Und geht es angesichts der erst jetzt erkennbaren Zusammenhänge nun vor allem um die Veränderung individueller Verhaltensweisen oder um die politische Verhinderung globaler Wachstumsbestrebungen, wenn nur eine global nachhaltige Lebensweise die Chance bietet, die schlimmsten Folgen des Klimawandels abzumildern? Und wie soll eine Gesellschaft die individuelle Verantwortung dafür zuweisen, wenn sich angesichts des großen Wohlstandsgefälles zwischen Nord und Süd, von Krieg und Gewalt in Krisengebieten oder sozialer Perspektivlosigkeit Menschen auf den gefährlichen Weg über das Mittelmeer machen, um eine sichere Zuflucht und bessere Lebensperspektiven für sich und ihre Kinder zu suchen und dabei in Seenot geraten? Dass Menschen bei der Überfahrt ertrinken, ist ebenso ein Ergebnis sehr unterschiedlicher und verständlicher individueller Entscheidungen Einzelner, die sich auf das Wagnis der Überfahrt einlassen, rücksichtsloser Geschäftemacherei von Schlepperbanden und einer europäischen Staatengemeinschaft, die legale Migration verhindert, sowie einer Bevölkerung in diesen Staaten, die ihren Wohlstand nicht mit dem Rest der Welt teilen will. Aber hinter alledem stehen wiederum internatio85 https://doi.org/10.5771/9783495825372 .

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nal etablierte ungerechte Wirtschaftsstrukturen, militärische Machtinteressen und politische Strukturen, die die Entwicklung und Durchsetzung einer gerechten globalen Weltinnenpolitik erschweren, die nicht an nationalstaatlichen Egoismen, sondern am Wohle aller Menschen auf dem Globus ausgerichtet wäre. 20 Dass es in all diesen komplexen Kontexten auch individuell zuschreibbares, negatives Handeln geben kann, das in der traditionellen Weise als Böses interpretiert und durch gesellschaftliche Sanktionen unwahrscheinlicher gemacht werden sollte, bleibt unbenommen, wenn die Zuweisung der Folgen zur Tat hinreichend klar ist und den handelnden Personen auch eine Kenntnis der Zusammenhänge unterstellt werden kann. So kann die Entwicklung von komplexen Finanzgeschäften, die gezielt dazu erfunden wurden, dass sich die Beteiligten zuvor nicht gezahlte Steuern erstatten lassen, strafrechtlich ebenso verfolgt werden, wie der gezielte Einbau betrügerischer Software zur Vortäuschung einzuhaltender Abgaswerte in Dieselautos. Das Posten von herabwürdigenden Kommentaren, Bedrohungen oder rassistischen Beleidigungen in sozialen Medien sollte individuell sozial und rechtlich sanktionierbar sein, weil die Konsequenz für die Betroffenen für jeden einsehbar ist, ganz gleich, wie komplex der Kontext ist, in dem die Folgen dieses Fehlverhaltens dann real werden. Und wer sich angesichts einer weltweiten Pandemie auf eine Art und Weise verhält, die bewusst in Kauf nimmt, das Leben anderer Personen zu gefährden, wird nicht darauf verweisen können, niemanden anstecken zu wollen. Aber auch wenn sich manche Aspekte individueller Verantwortung und Schuldzuschreibung auch in komplexen Systemen sinnvoll weiterführen lassen, bleibt immer noch die Erfahrung zu bewältigen, dass in der modernen Gesellschaft das erlebte Böse häufig nicht allein auf individuelles Fehlverhalten zurückgeführt werden kann. Das Wissen darüber, dass viele negative Aspekte der global vernetzten Welt überindividuelle Ursachen haben, also das Ergebnis systemischer Eigendynamiken und komplexer Strukturen und

Vgl. Ulrich Beck, Nachrichten aus der Weltinnenpolitik (edition suhrkamp 2619), Frankfurt a. M. 2010, 22 f.

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Prozesse sind, ist eine prägende Erfahrung, die einer anderen Deutung und einer gesellschaftlichen Bewältigung bedarf.

5. Der soziale Umgang mit dem überindividuell Bösen Aus systemischer Perspektive haben alle Menschen mit ihrem Verhalten Anteil daran, welche Strukturen und Prozesse sich in sozialen Systemen etablieren. 21 Das Wirtschaftssystem operiert auf der Basis vieler individueller Kauf- und Nichtkaufentscheidungen und entwickelt daraus die komplexen Strukturen einer Finanz- und Warenwirtschaft, die immer neue Zahlungen in den globalen Wirtschaftskreisläufen auslösen, wobei Wohlstand und Armut an verschiedenen Stellen des Globus ungleich verteilt werden. Die bestehenden politischen Systeme sind auf der Basis der Teilnahme Vgl. Niklas Luhmann, Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie (suhrkamp taschenbuch wissenschaft 666), Frankfurt a. M. 1987, 294 f. – Auch wenn die Systemtheorie die Menschen als Teil der Umwelt sozialer Systeme betrachtet, ermöglichen diese doch den verschiedenen sozialen Kommunikationssystemen ihre Selbstorganisationsprozesse. Außerdem tragen sie damit zugleich auch dazu bei, welche Strukturen sich in sozialen Systemen evolutionär als erfolgreich bewähren und welche nicht. Deshalb gehört es seit Ende des letzten Jahrhunderts zu den in der christlichen Sündenlehre grundlegend neu betonten Einsichten, dass es eine unaufgebbare Wechselwirkung zwischen dem individuellen sündhaften Denken und Handeln einzelner Personen und den systemisch sich eigendynamisch entwickelnden sozialen Rahmenbedingungen gibt, unter denen die Sünde konkrete Gestalt annimmt (vgl. Konrad Hilpert, »Schuld in ihrer sozialen Erscheinungsform. Verschiebungen im Verantwortungsverständnis«, in: Theologie der Gegenwart 32 (1989), 238–252, bes. 245 f: »Zwei naheliegende Bestimmungen haben sich bei näherem Zusehen als zu einfach erwiesen: einerseits die, die in den guten bzw. bösen Strukturen nur Auswirkungen böser Gesinnung und Ergebnis absichtsvollen Tuns einzelner freier Personen in Gesellschaft hinein sieht, und andererseits jene Bestimmung, derzufolge ungerechte Strukturen als die eigentliche Wurzel und als der bedingende Grund für die sozialen Übel und individuelles Versagen zu gelten haben. Beide Arten der Verknüpfung treffen jeweils bloß auf einen Teil des Verhältnisses zwischen individuellem Freiheitsvollzug und überindividuellen Ordnungsstrukturen zu; gefunden werden muß demnach eine Zuordnung, die erlaubt, konstitutive und kausale Zusammenhänge als miteinander verbunden vorzustellen«).

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oder Nichtteilnahme der Bürgerinnen und Bürger am politischen Diskurs und ihrer Wahl- oder Nichtwahlentscheidungen entstanden und verteilen Einfluss und Macht national wie international so, dass es Herrschende und Beherrschte, Mächtige und Machtlose gibt – wobei die heute ohnmächtig erscheinenden Gruppen vielleicht die machtvoll handelnden Protagonisten der Zukunft sein können. Alle Einwohner eines Landes prägen durch ihr alltägliches Verhalten das kulturelle Leben und das Wertegefüge einer Gesellschaft mit und da niemand sich ganz aus dem sozialen Leben heraushalten kann, sind auch alle mitverantwortlich an den sozialen Strukturen, die sich auf der Basis des gelebten Alltags der vielen Einzelnen herausbilden und stabilisieren. Systemtheoretisch ist es unmöglich, nicht zu kommunizieren, und insofern kann auch niemand nicht daran mitwirken, dass die Welt so ist, wie sie ist, und sich so weiterentwickelt, wie sie sich entwickelt. 22 Wenn das überindividuell Böse, systemisch betrachtet, aus dem alltäglichen Handeln aller Menschen erwächst, wäre dann nicht das Gegenteil einer individuellen Schuld- und Verantwortungszuweisung konsequent, in der die Schuld für negative Folgen sozialer Systeme allen Menschen gemeinsam zugeschrieben werden müsste? Die Menschheit mit ihren Konsum- und Wohlstandswünschen produziert den Klimawandel und ist für dessen Bewältigung verantwortlich. Der Wunsch aller Menschen, den eigenen Vorteil zu sichern und die eigenen Vorstellungen eines gelingenden Lebens durchzusetzen, ist verantwortlich für den Kampf um Einfluss und Macht sowie die Entstehung von Ungerechtigkeiten und kriegerischen Auseinandersetzungen, und deshalb sind auch alle gemeinsam dafür verantwortlich, die daraus entstehenden Folgeprobleme zu bewältigen. Das Problem jeder kollektiven Schuld- und Verantwortungszuweisung aber ist deren innere Ungerechtigkeit. Es werden sowohl diejenigen, die aktuell von der Situation profitieren, wie diejenigen, Vgl. dazu Ralf Dziewas, »Von der ›Sünde der Welt‹ zur ›Sündhaftigkeit sozialer Systeme‹. Sünde als Kategorie der Gegenwartsanalyse aus freikirchlich-baptistischer Perspektive«, in: Rochus Leonhard (Hrsg.), Die Aktualität der Sünde. Ein umstrittenes Thema der Theologie in interkonfessioneller Perspektive (Beihefte zur Ökumenischen Rundschau 86), Frankfurt a. M. 2010, 95–119, bes. 114 ff.

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die unter ihr leiden, in gleicher Weise zu Mitschuldigen am überindividuell Bösen erklärt und allen gemeinsam wird die Verantwortung für die Bewältigung negativer Folgen gesamtsystemischer Zusammenhänge aufgeladen. Das führt bei den ohnehin Benachteiligten, die sich oft besonders ohnmächtig den systemischen Zusammenhängen ausgeliefert fühlen oder in ihnen um das eigene Überleben kämpfen müssen – und das ist mitunter gerade in ökonomischen Unrechtsstrukturen die Mehrheit aller Mitwirkenden –, zu einer berechtigten Ablehnung derart undifferenzierter, kollektiver Schuld- und Verantwortungszuweisungen. Es verwundert daher nicht, wenn angesichts der modernen Verstrickungserfahrungen in einer komplex strukturierten Welt der Wunsch nach klaren und einfachen Schuldzuweisungen an einzelne Personen oder Personengruppen wächst. Und populistische Bewegungen befriedigen diese Bedürfnisse, indem sie gerade denen, die mit der Vielfalt und Komplexität der globalisierten Welt und deren systemischen Zusammenhängen intellektuell oder emotional überfordert sind, passende Sündenböcke präsentieren. Dann sind »die da oben«, »die Banker in Nadelstreifen«, »die Kanzlerin« oder aber »die Flüchtlinge« oder »die Juden« für die überwiegend im rechten Spektrum angesiedelten Populisten politisch geeignete Sündenböcke, denen die Verantwortung für alle negativen Erfahrungen zugeschrieben wird, selbst wenn zur Begründung der Schuldzuweisungen dann abstruse Verschwörungstheorien und tradierte Vorurteile ohne Realitätsbezug herangezogen werden müssen. Entscheidend ist, dass sich die eigene Klientel von der Mitschuld an der Entstehung der Probleme freisprechen und daher eine Mitverantwortung für die Übernahme der Lasten ablehnen kann, die eine Bewältigung des überindividuell entstandenen Bösen nach sich ziehen würde. 23 Eine ähnliche Funktion erfüllt auch die in populistischen Bewegungen weit verbreitete Tendenz, manche Probleme an sich zu

Vgl. Luhmann, Ökologische Kommunikation, 28: »Genau betrachtet dient daher die Festlegung von Ursachen, von Verantwortung und Schuld immer auch der Ausgrenzung von Nichtursachen, der Feststellung von Nichtverantwortung und Unschuld. […] Und das Attributionsverfahren mag so seinen eigentlichen Sinn in der Exculpation haben.«

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leugnen und sie als »Fake News« einer interessengeleiteten »Lügenpresse« darzustellen. So entfällt mit der gegen alle wissenschaftlichen Erkenntnisse behaupteten Infragestellung eines menschengemachten Klimawandels natürlich auch die Notwendigkeit, einzusehen, dass das eigene Verhalten dazu einen Beitrag leistet, und dass man damit dann auch eine Verantwortung für die zukünftige Entwicklung des Weltklimas trägt. Aus einem überindividuellen, aber aus menschlichem Handeln erwachsenen Bösen wird durch die Leugnung des Faktors Mensch im Kontext der Klimapolitik auf diese Weise ein hinzunehmendes überindividuelles Übel. Der vom Menschen beeinflussbare Faktor Weltklima wird im Anschluss an traditionelle Sichtweisen wieder zum unverfügbaren Wetter umdefiniert, das man so zu akzeptieren habe, wie es ist. Daran, dass der Globus immer wärmer wird, ist dann auch niemand schuld und für die weitere Entwicklung ist damit dann auch niemand verantwortlich. Sowohl die stellvertretende Verurteilung von Sündenböcken wie die Leugnung der Probleme ist allerdings keine rationale Form der gesellschaftlichen Bewältigung eines überindividuellen Bösen, das sich aus den Strukturen und Prozessen komplexer sozialer Systeme ergibt. Es schafft nur neues individuelles und überindividuelles Böses, wenn Hass gegen bestimmte Personengruppen geschürt, eine Gesellschaft gespalten, der Konsens über reale Fakten und Zusammenhänge bewusst aufgelöst und Unschuldige bedrängt oder zu Opfern des Volkszorns gemacht werden. Und weder das eine noch das andere löst die globalen Probleme, die aufgrund überindividueller Systemabläufe ihre derzeitige Form gefunden haben und als überindividuell Böses erlebt werden.

6. Die Herausforderungen eines nachhaltig wirksamen Kampfs gegen das überindividuell Böse Zur gesellschaftlichen Bewältigung der überindividuell geprägten negativen Konsequenzen systemischer Zusammenhänge bedarf es einer Deutung der Welt, in der die individuelle Beteiligung am überindividuellen Bösen nicht ausgeblendet wird, andererseits aber eine undifferenzierte Zuweisung von Schuld und Verantwortung 90 https://doi.org/10.5771/9783495825372 .

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an alle unterbleibt. Weder eine Fokussierung auf die persönliche Verantwortung des Einzelnen noch eine Verschiebung der Verantwortlichkeiten auf große Organisationen oder kollektive Kommunikationssysteme werden der Komplexität des überindividuell Bösen gerecht. 24 Es geht um eine für die einzelnen Bürger in ihrer unterschiedlichen Lebenssituation annehmbare, weil nachvollziehbare Deutung der Welt, die sie einlädt und herausfordert, ihren Anteil an den bestehenden Problemen wahrzunehmen und für ihr persönliches Leben daraus verantwortliche Schritte abzuleiten. Gleichzeitig muss dabei aber auch deutlich werden, dass und wie sich die überindividuellen Wirtschafts-, Rechts- und Politiksysteme der Welt verändern müssen, um ihren Beitrag dazu zu leisten, dass eine nachhaltig lebenswerte Zukunft für alle entsteht, in der das überindividuelle Böse eingegrenzt und wo immer möglich überwunden oder zumindest reduziert wird. 25 Die globale Verbreitung eines systemischen Denkens in allen Bevölkerungsschichten: Um das überindividuell Böse in der modernen Weltgesellschaft in einer angemessenen Weise wahrzunehmen, ist die erste Herausforderung, dass viele Menschen noch mehr als bisher lernen müssen, in systemischen Zusammenhängen zu denken und nicht einfach traditionelle Schuldzuweisungen vorzunehmen, wo die Kontexte komplex sind. Wahrzunehmen, dass die Marktwirtschaft angesichts des Wunsches aller Menschen nach Freiheit und Wohlstand das bisher effektivste Modell des Wirtschaftens ist, muss damit zusammengedacht werden, dass die Ergebnisse globaler Wirtschaftsbeziehungen mehr sind als nur die Aufsummierung vieler einzelner Kaufentscheidungen. Das überindividuelle Böse im Wirtschaftssystem ist nicht nur das Ergebnis Zu einer differenzierten Deutung des Wechselspiels zwischen dem sündigen Denken und Verhalten von Personen auf der einen Seite und den sich auf dieser Basis etablierenden, die Sünde wiederum fördernden überindividuellen Erwartungsstrukturen sozialer Systeme vgl. Dziewas, Die Sünde der Menschen und die Sündhaftigkeit sozialer Systeme, 210–239. 25 Vgl. dazu Ralf Dziewas, »Kommunikation des Erbarmens. Zum Proprium der Diakonie in der modernen Gesellschaft«, in: Ralf Dziewas (Hrsg.), Gerechtigkeit und Gute Werke. Die Bedeutung diakonischen Handelns für die Glaubwürdigkeit der Glaubenden, Neukirchen-Vluyn 2010, 93–111, bes. 101 ff. 24

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boshaften Eigennutzes der Menschen, die zum eigenen Vorteil konsumieren oder produzieren, sondern steckt in den Strukturen, die entstehen, wenn ein Wirtschaftssystem besonders erfolgreich ist, weil es mit der Habgier der Menschen rechnen kann und muss und sich dementsprechend strukturiert. 26 In ökonomischen Systemen sind die Konsequenzen des Wirtschaftens am Ende von keiner der daran beteiligten Gruppen steuerbar, weder von den konsumierenden Bürgerinnen und Bürgern noch vom Management der beteiligten Unternehmen, weder von denen, die die Waren produzieren, noch von denen, die über ein Milliardenvermögen verfügen. Einmal entstanden, entwickeln komplexe Wirtschaftssysteme Eigendynamiken und Strukturen, die alle Mitwirkenden in Systemlogiken einbinden. Dabei werden Einzelentscheidungen systemintern weiterverarbeitet und zu neuen Zahlungs- und Warenströmen verschmolzen, die vielleicht so von keiner Einzelperson gewollt waren. 27 Die Stärkung eines systemischen Denkens würde es ermöglichen, wahrzunehmen, dass ein gesellschaftlicher Kampf Vgl. aus wirtschaftsethischer Perspektive Josef Wieland, »Das Böse – eine Kraft, die Gutes schafft? Ökonomische Erwägungen«, in: Union Evangelischer Kirchen in der Evangelischen Kirche in Deutschland (Hrsg.), Leben im Schatten des Bösen. Eine Vortragsreihe im Berliner Dom, mit Beiträgen von Peter Hammerstein, Eberhard Jüngel, Wolf Krötke, Rüdiger Lux, Anke Martiny, Annemarie Pieper und Josef Wieland, NeukirchenVluyn 2004, 99–123, bes. 121: »Für die Ökonomik ist nicht die Existenz des Bösen an sich das Problem, auch nicht, wie man es erkennt und definiert, sondern einzig und allein die Antwort auf den worst case: Können wir uns ein Gesellschaftssystem und ein dazu gehörendes Wirtschaftssystem vorstellen, das selbst unter der Bedingung, dass in ihm nur böse Menschen leben, gesellschaftliche Stabilität und Wohlstand für alle ermöglicht? […] Nicht die Autonomie und die Selbstbezüglichkeit des Marktmechanismus und die Konkurrenz in der Marktwirtschaft bringen das Böse hervor, sondern diese sind die Kraft, die, egal was das Böse will, am Ende doch das Gute schafft – oder sagen wir vielleicht bescheidener: gesellschaftlichen Wohlstand schaffen kann.« 27 Insofern ist auch die Theorieentscheidung Luhmanns, den Menschen als Teil der Umwelt sozialer Systeme und nicht als deren Bestandteil zu thematisieren, kein Antihumanismus, sondern entspricht durchaus der modernen Selbsterfahrung, bei allem Beteiligtsein dennoch den nach eigenen Logiken ablaufenden Systemen gegenüberzustehen (vgl. Ralf Dziewas, »Der Mensch – ein Konglomerat autopoietischer Systeme?«, in: Werner Krawietz/Michael Welker (Hrsg.), Kritik der Theorie sozialer Systeme. Aus26

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gegen das überindividuell Böse in wirtschaftlichen Systemzusammenhängen sowohl individuelle Verhaltensveränderung wie die Veränderung grundlegender Strukturen und Systemlogiken benötigt und dies nur dann gelingen kann, wenn alle beteiligten Personen und Institutionen ihren Beitrag dazu leisten. So kann es ethisch durchaus sinnvoll sein, die Produktionsbedingungen, unter denen Produkte entstanden sind, für die Kunden sichtbar zu machen, z. B. um es ihnen zu ermöglichen, Produkte aus nachhaltiger oder das Tierwohl beachtender ökologischer Landwirtschaft von in Massentierhaltung produzierten Nahrungsmitteln zu unterscheiden und beim Kaufverhalten zu berücksichtigen. Aber solange der Konkurrenzkampf über den Preis die Produktionsbedingungen prägt, solange werden in allen Wirtschaftsbereichen geringere Herstellungskosten unabhängig von ihren negativen Konsequenzen mit einem Wettbewerbsvorteil verbunden sein. Erst wenn es gelingt, dass eine bessere Produktion einen günstigeren Preis zur Folge hat, weil z. B. durch ein entsprechendes Wettbewerbsrecht nicht-fair oder nicht-nachhaltig produzierende Firmen ihre Umweltschäden nicht mehr externalisieren, also auf die Allgemeinheit abwälzen können, könnte ein positiver Wettbewerb um die besten Produktionsbedingungen entstehen. 28 Ergänzend müssten dann aber auch die Boni für die Unternehmensführungen, die Einstufung durch Ratingagenturen oder die Gewährung von Kreditlinien und damit der Erfolg von Firmen an der Börse von der Nachhaltigkeit der Produktion abhängig gemacht werden. Ein stärkeres Bewusstsein der komplexen Systemzusammenhänge würde zweitens eine interdisziplinäre Reflexion der positiven und negativen Konsequenzen bestehender Systemlogiken erfordern und auch wahrscheinlicher machen. Wer die Komplexität eines Problems erkennt, ist eher bereit, einfache Antworten und einandersetzungen mit Luhmanns Hauptwerk (suhrkamp taschenbuch wissenschaft 996), Frankfurt a. M. 1992, 113–132, bes. 113 f.). 28 Zu den wettbewerbsrechtlichen Möglichkeiten eines nachhaltigen Wettbewerbs vgl. Johannes Hoffmann/Gerhard Hoffmann, »Rahmenbedingungen für nachhaltigen Wettbewerb in Deutschland, der EU und der WTO«, in: Hoffmann u. a., Nachhaltigkeit im Wettbewerb verankern. Expertise im Auftrag der Abteilung Wirtschafts- und Sozialpolitik der Friedrich-EbertStiftung (WISO Diskurs), Bonn 2015, 6–12, bes. 7 f.

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Alternativen zu verwerfen und gemeinsam mit anderen über die Auswirkungen sich überindividuell entwickelnder und verfestigender Strukturen nachzudenken. Eine Gesellschaft, die die Lösung von globalen Krisen den Ökonomen überlässt, wird kaum Lösungen präsentiert bekommen, die den bisherigen marktwirtschaftlichen Systemlogiken widersprechen. Aber andererseits werden ohne die Beteiligung von Ökonomen auch politische Entscheidungsgremien und philosophisch oder theologisch argumentierende Ethikkommissionen nicht in der Lage sein, dem überindividuellen Bösen im Kontext eines hochkomplexen globalen Wirtschaftssystems positivere Strukturen und Prozesse entgegenzusetzen und deren Durchsetzung auf politischer und rechtlicher Ebene zu befördern. Das Phänomen der neuen sozialen Medien und ihrer massiven Auswirkungen auf das gesellschaftliche Miteinander im persönlichen, im lokalen, nationalen und internationalen Miteinander wird nicht wieder verschwinden, muss also so gestaltet werden, dass der Schutz von Menschen mit ihren Persönlichkeitsrechten gewahrt bleibt und ein offener politischer, ethischer und religiöser Diskurs rechtlich so abgesichert ist, dass diese Medien möglichst wenig missbraucht werden können. 29 Dazu braucht es sowohl die Entwicklung neuer ethischer Standards für die persönliche Kommunikation als auch die Durchsetzung von überindividuell geltenden Datenschutzregelungen. Es wird nicht ohne eine funktionierende Strafverfolgung gegen Kinderpornographie gehen, aber es muss ebenso der Schutz derer gewährleistet bleiben, die für ihre Menschenrechtsarbeit echte Anonymität im Netz brauchen. Die Freiheit des wissenschaftlichen und politischen Diskurses von Fake News und die Freiheit, auch scheinbar abwegige Meinungen zur Diskussion stellen zu dürfen, müssen ebenso ausbalanciert werden, wie es durchsetzbare Regeln dagegen geben muss, dass durch Social Bots mit künstlicher Intelligenz die an Werbeeinnahmen orientierten Algorithmen mit negativen Absichten ausgenutzt und Wahlen Vgl. zur Mehrdimensionalität der dabei entstehenden ethischen Fragen die verschiedenen Beiträge in Martin Woesler (Hrsg.), Ethik der Informationsgesellschaft: Privatheit und Datenschutz, Nachhaltigkeit, Human-, Sozial- und Naturverträglichkeit, Interessen- und Wertekonflikte, Urheberund Menschenrechte (Denk-Schriften 2), 5. Auflage, Berlin u. a. 2019.

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durch externe Kräfte beeinflusst werden. Dem überindividuell strukturierten Bösen entgegenzuwirken, das mit den neuen sozialen Medien mitentstanden ist, liegt weder allein in der Hand der einzelnen User noch in der alleinigen Macht der Plattformbetreiber noch ausschließlich in der Verantwortung der die Rahmenbedingungen gestaltenden Politik. Nur eine enge Zusammenarbeit von Medienforschung, Informatik, Politikwissenschaft, Ethik, Soziologie, Rechtswissenschaft und Ökonomie wird passgenaue und funktionierende Gegenstrukturen und -prozesse für eine Begrenzung der negativen Potentiale und Auswirkungen der neuen Medien entwickeln und etablieren können. Die neuen Medien sind weder ein paradiesischer Freiraum der sozialen Interaktion noch ein als unvermeidliches Übel hinzunehmender rechtsfreier Raum enthemmter Kommunikation. Sie sind ein von vielen Seiten her gemeinsam veränderbarer Teil der Gesellschaft, der auf der Ebene der inneren Logiken und systemeigenen Prozesse und Strukturen interdisziplinär umgestaltet werden kann. Als dritte Herausforderung bleibt dann vor allem die Etablierung eines offenen Diskurses über die vielen möglichen realen Utopien einer lebenswerten Weltgesellschaft unter der Beteiligung aller Bürgerinnen und Bürger. 30 Das globale Dorf der Gegenwart ist keine homogene Gemeinschaft mit gemeinsamen Werten, Re-

Vgl. Erik Olin Wright, Reale Utopien. Wege aus dem Kapitalismus (suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2192), Berlin 2017, 11: »Anstatt den Kapitalismus durch Reformen ›von oben‹ zu zähmen oder mittels eines revolutionären Bruchs zu zerschlagen, sollte […] der Kapitalismus dadurch erodiert werden, dass in den Räumen und Rissen innerhalb kapitalistischer Wirtschaften emanzipatorische Alternativen aufgebaut werden und zugleich um die Verteidigung und Ausweitung dieser Räume gekämpft wird. Reale Utopien sind Institutionen, Verhältnisse und Praktiken, die in der Welt, wie sie gegenwärtig beschaffen ist, entwickelt werden können, die aber dabei die Welt, wie sie sein könnte, vorwegnehmen und dazu beitragen, dass wir uns in dieser Richtung voranbewegen.« – In diesem Sinne sind Utopien keine abstrakten Idealkonstruktionen, sondern im alltäglichen Handeln der Menschen verankerte Strukturen, Prozesse und Denkweisen, die die Welt in eine gewünschte, bessere Richtung verändern (vgl. dazu am Beispiel ökologischer Nachhaltigkeit Harald Welzer, »Wissen wird überbewertet. Nachhaltigkeitstransformation ist eine Sache der Praxis«, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 47–48/2019, 16–20).

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geln und Überzeugungen und wird vermutlich auch nie oder erst in einer fernen Zukunft zu einer solchen werden. Die Weltgesellschaft als Ganze ist multikulturell, wobei in den verschiedenen Regionen der Erde unterschiedliche religiöse und weltanschauliche Wertesysteme und Ethiken vorherrschend sind. Dennoch sind zugleich an fast jedem Ort der Welt zumindest medial auch die anderen Lebensmöglichkeiten präsent, sodass die Vielfalt möglicher Lebensentwürfe zu Spannungen, Diskussionen und Auseinandersetzungen in allen Nationen der Welt führt. Was aber bisher außerhalb der international agierenden Kultur- und Wissenschaftsszene weitgehend fehlt, ist eine offene Diskussion über die Frage, in welche Richtung sich die Weltgesellschaft als Ganze entwickeln soll und was davon im lokalen und regional gestalteten Alltag der Menschen bereits Wirklichkeit werden kann. An vielen Orten der Welt gibt es dazu bereits aktive Gruppen und Initiativen, aber ihre Erfahrungen fließen noch zu wenig in die überregionalen Diskurse ein. Wie soll die Zukunft einer Welt aussehen, in der alle Menschen Zugang zu der gleichen modernen Technologie haben, ihre kulturellen oder religiösen Wurzeln und Traditionen aber nicht einfach verschwinden, sondern weiterhin den engeren Lebenskontext sehr unterschiedlich prägen? Die Entscheidung darüber, wohin sich die Welt entwickeln soll, sollte nicht durch internationale Gremien und Abkommen entschieden werden, in denen Regierungen vor allem nationale Wirtschafts- und Machtinteressen gegeneinander durchzusetzen versuchen. Sie muss das Ergebnis eines offenen Diskurses sein, in dem diejenigen in den Mittelpunkt gerückt werden, die am Ende vor Ort ihren Alltag in dieser veränderten Welt werden leben müssen. 31 Dabei könnte die Formulierung einer gemeinsamen Utopie eines überregional gestalteten guten Zusammenlebens davon proSo sieht das Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie in seinem Report Fair Future als ein wesentliches Element tragfähiger Leitbilder der Ressourcengerechtigkeit ein »Interesse an Weltbürgerlichkeit«, das die Menschen über die vielfältigen transnationalen Wechselbeziehungen hinaus miteinander verbinden kann. Vgl. Fair Future. Begrenzte Ressourcen und globale Gerechtigkeit, München 2015, 131: »In einer weltbürgerlichen Perspektive stellt sich die Welt als eine Gemeinschaft von Menschen und nicht als ein Ensemble von Staaten dar, und zwar als eine Gemeinschaft, in

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fitieren, pragmatisch zunächst einmal die Erfahrung des überindividuellen Bösen gemeinsam zu reflektieren, und danach zu fragen, inwieweit es in der Bevölkerung der Weltgesellschaft einen kulturübergreifenden Konsens darüber gibt, welche bestehenden Strukturen und Prozesse als auf Dauer nicht hinnehmbar angesehen werden. 32 Der interreligiöse Dialog um die Formulierung eines Weltethos hat bereits gezeigt, dass der Wunsch nach Frieden und einer möglichst gewaltfreien Konfliktbewältigung, nach persönlicher Freiheit, Gesundheit und körperlicher Unversehrtheit des Einzelnen, nach der Gestaltung eines sozialen Miteinanders, das Ungerechtigkeiten ausgleicht, und die Verantwortung für ein nachhaltiges Leben im Einklang mit den vorhandenen Ressourcen in fast allen religiösen und kulturellen Traditionen der Welt zu finden sind. 33 Von daher wäre, würden die Menschen in ihren lokalen Lebenskontexten darüber entscheiden, die Ablehnung von Kriegen, Gewalt und Vertreibung ebenso mehrheitsfähig wie die Ablehnung einer Weltwirt-

der alle Anspruch auf Gerechtigkeit haben, so wie sie selbst auch Gerechtigkeit schulden«. 32 Während John Rawls in seiner Theorie der Gerechtigkeit vorgeschlagen hat, sich zunächst theoretisch auf die Struktur einer gerechten Gesellschaftsform zu einigen, bei der alle Personen nicht wissen, welchen Platz sie in dieser Gesellschaft einnehmen werden, hat Amartya Sen es zur Grundlage seiner Gerechtigkeitstheorie gemacht, nicht zuerst den Idealzustand zu entwerfen, sondern die bestehenden Ungerechtigkeiten mit möglichen Alternativen zu vergleichen, um sich dann mit allen Betroffenen darauf zu verständigen, welche Struktur weniger ungerecht wäre als die aktuelle Situation. Ein solcher Konsens wäre deutlich leichter zu erreichen und damit ein politisch pragmatischer Weg erfolgversprechender als die vielleicht nie konsensfähige Suche nach der einen idealen Form der Gesellschaft. Vgl. John Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit (suhrkamp taschenbuch wissenschaft 271), 19. Auflage, Frankfurt a. M. 2014; John Rawls, Gerechtigkeit als Fairness. Ein Neuentwurf (suhrkamp taschenbuch wissenschaft 1804), 4. Auflage, Frankfurt a. M. 2014; Amartya Sen, Die Idee der Gerechtigkeit, München 2010. 33 Vgl. Hans Küng, Weltethos (Sämtliche Werke 19), Freiburg i. Br. 2019; zu den vielfältigen im Dialogprozess entstandenen Publikationen vgl. www. weltethos.org/bibliographien/ und zu den aktuell interdisziplinär diskutierten Themen vgl. Ulrich Hemel (Hrsg.), Weltethos für das 21. Jahrhundert, Freiburg i. Br. 2019.

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schaftsordnung, in der das eine Prozent der Superreichen über mehr Vermögen verfügt als die anderen 99 Prozent der Weltbevölkerung zusammen. 34 Und dass bei aktuellen politischen Entscheidungen die Auswirkungen auf zukünftige Generationen eigentlich mit bedacht werden müssten, würde sicherlich weltweit ähnlich hohe Zustimmungswerte finden, wie die Ablehnung von Kriegen und wirtschaftlichen Unrechtsstrukturen. Aktuell stellen vor allem die Nationalstaaten als höchste politische Machtkonstellationen und die weltweit zusammengewachsenen ungerechten Wirtschaftsstrukturen das größte überindividuelle systemische Hindernis zur Entwicklung einer friedlichen, nachhaltigen und gerechten Weltgesellschaft dar. Es gibt zu viele einflussreiche national ausgerichtete politische und international operierende wirtschaftliche Institutionen, die ein starkes Interesse an der Beibehaltung des bestehenden überindividuell Bösen besitzen, weil sie von den bestehenden Strukturen profitieren und niemand sie daran hindern kann, diese Vorteile erfolgreich zu verteidigen. Eine friedliche und gerechte Weltgesellschaft wird also nicht nur von einem veränderten individuellen Verhalten vieler einzelner Menschen auf allen Kontinenten der Welt abhängen, sondern letztlich auch davon, dass die Nationalstaaten und die globalen Konzerne als derzeit bestimmende systemische Machtfaktoren im internationalen Miteinander durch andere Entscheidungsstrukturen abgelöst oder durch starke internationale Institutionen und lokal wirksam agierende internationale Netzwerke in der Verfolgung ihrer Egoismen eingegrenzt werden. Weder nationale Regierungen noch internationale Konzerne dürften sich z. B. auf Dauer über die internationalen rechtlichen Regelungen hinwegsetzen können, die die Weltgemeinschaft sich gibt. Sie dürften weder in der Lage sein, durch eigenes Handeln negative Folgen für Dritte direkt zu intendieren noch diese bewusst

So eine Berechnung von Oxfam auf der Basis des Global Wealth Databook 2015 (vgl. Oxfam Deutschland e. V., Ein Wirtschaftssystem für die Superreichen. Wie ein unfaires Steuersystem und Steueroasen die soziale Ungleichheit verschärfen, Berlin 2016, 2, online abrufbar unter: https:// www.oxfam.de/system/files/20160118-wirtschaftssystem-superreiche.pdf, zuletzt abgerufen am 1. April 2020).

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in Kauf zu nehmen. Sie dürften sich auch der Bewältigung der offensichtlichen Probleme der Menschheit nicht einfach durch Nichthandeln entziehen können. Wie auch immer die zentralen politischen Institutionen der Weltgesellschaft zukünftig aussehen werden, sie müssen am Ende in die Lage versetzt werden, Frieden, Gerechtigkeit und eine nachhaltige Wirtschaftsweise auch gegen diese bisher noch machtvollsten Institutionen durchsetzen zu können, um den mit ihnen verbundenen Aspekten des überindividuellen Bösen erfolgreich entgegenwirken zu können. Die Abschaffung von nationalen Vetorechten in übernationalen Organisationen, die Stärkung von Welthandelsgerichten und global akzeptierte internationale Strafgerichtshöfe zur Verfolgung von Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen könnten hier ebenso mittelfristige Ziele sein wie die Erhöhung der Entscheidungskompetenzen der Weltgesundheitsorganisation oder globaler Klimaschutzkonferenzen. Am Ende könnte vielleicht die Umwandlung der Vollversammlung der Vereinten Nationen in ein global gewähltes Parlament stehen, in dem alle Bevölkerungsgruppen der Welt vertreten sind und gemeinsam über das weitere Wohl der Menschheit entscheiden. Bis dahin aber müssten weltweit vor allem die lokalen und regionalen Strukturen gestärkt werden, die sich für ein friedliches Miteinander unterschiedlicher Ethnien und Religionen vor Ort, eine ausgleichende Gerechtigkeit zwischen Armen und Reichen und das nachhaltige Zusammenwirken zum Wohle aller Generationen einsetzen. Es wird auf Dauer nicht ausreichen, dass solche, zumeist als Non-Profit-Organisationen aufgestellten Netzwerke und Initiativen überwiegend auf Spendenbasis, also aus freiwillig aufgebrachten Mitteln finanziert werden. Die Bekämpfung des überindividuell Bösen wird in der Weltgesellschaft am Ende ein Weltsteuersystem und ein globales Unterstützungssystem für lokale und regionale Initiativen und Gruppen brauchen, durch das die weltweit aufgebrachten gemeinsamen Mittel im Sinne einer Weltinnenpolitik gezielt eingesetzt werden können, um überall ebenso ein Mehr an globaler Gerechtigkeit voranzubringen, wie ein Mehr an Frieden, ein Mehr an Freiheit und ein Mehr an Nachhaltigkeit. Eine solche Entwicklung läge im gemeinsamen Interesse der Weltbevölkerung, mag sie dann auch ihr Miteinander lokal in sehr unterschiedlicher Weise leben und den sittlich-moralischen, recht99 https://doi.org/10.5771/9783495825372 .

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lichen und kulturellen Rahmen ihres Alltags vor Ort sehr verschieden ausgestalten.

7. Fazit Das Böse als individuelle Tat ist immer eine Möglichkeit des einzelnen Menschen gewesen und deshalb haben alle menschlichen Gemeinschaften Mittel und Wege gefunden, die Wirkung bösen Handelns einzugrenzen und es unwahrscheinlicher zu machen. In der modernen Welt aber hat das Böse gerade auch in überindividuellen Strukturen und Prozessen eine Form angenommen, in der es der Menschheit fast wie ein unvermeidbares, hinzunehmendes Übel entgegentritt. Aber es ist ein Element des Bösen, dass es darüber hinwegtäuscht, dass es gerade kein Verhängnis ist, sondern das Ergebnis menschlichen Handelns und sozialer Systeme, die sich an der Möglichkeit des individuellen Bösen ausrichten und dieses nutzen und fördern. In der modernen Weltgesellschaft ist damit der globale Kampf gegen das überindividuelle Böse zu einer der zentralen Aufgaben der Menschheit geworden. Dies ist eine Herausforderung, die vor Ort wie auf internationaler Ebene ein neues systemisches Denken, interdisziplinäres Arbeiten und einen offenen Diskurs über eine bessere, lebenswertere Weltgesellschaft erfordert, in der nicht mehr der Vorteil von Nationen und Wirtschaftskonzernen, sondern das Wohl der Menschen in ihren lokalen Lebenskontexten das Primat der Politik bestimmen sollte. Das Ergebnis wird vermutlich keine Welt ohne individuelles und überindividuelles Böses sein, aber eine Menschheit, die gemeinsam dem überindividuellen wie dem individuellen Bösen entschiedener entgegenwirkt, als sie es bisher tut.

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Die Macht des Bösen. Noch einmal zum »peccatum originale« »Der Mythos lässt das äußerlich vor sich gehen, was innerlich ist.« 1 (Søren Kierkegaard) My attempt to reformulate the doctrine of the original sin has been criticized on various occasions. In the present contribution I make clear once again what I see as the significance of a freedom-theological relecture of the doctrine. In doing so I start from philosophical approaches to evil, behind which a theology of original sin cannot go back. First of all I underline once again the importance of the first piece of »Religion within the Limits of Pure Reason« (1793) for the doctrine of freedom of Immanuel Kant (1724–1804). In contrast to the thesis of Hannah Arendt (1906–1975) I argue with Immanuel Kant, Søren Kierkegaard (1813–1855) and Paul Ricœur (1913–2005) that evil in human beings should be radically thought. Neither a historical fall of sin at the beginning of human history is assumed, nor a time of an original state preceding the fall. It is a misinterpretation of »The Concept of Anxiety« (1844) and the following writing »The Sickness Unto Death« (1849), in which Kierkegaard gives up the psychological explanation of sin by anxiety, when Georg Essen distinguishes between anxiety as the »Disposition to sin« and the »Fact of sin«. The peccatum originale is to be conceptualized as a transcendental fact in the constitution of the self, that is, that subjectivity and freedom are thought to be afflicted by sin at their root. It is obvious that the principle of individual imputability reaches its limits here. An individually imputable sin is a sin in an analogous sense, just as the original sin has always been traditionally understood. The universality of the original sin is soteriologically opened up by the salvation event that Jesus died for the sin of all. From the radicality of sin in man we can also understand the justification of the sinner sola gratia.

Søren Kierkegaard, Der Begriff der Angst, übersetzt und mit Glossar, Bibliographie sowie einem Essay »Zum Verständnis des Werkes« hrsg. von Liselotte Richter, Hamburg 21996, 44.

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In seinem zweibändigen Spätwerk Auch eine Geschichte der Philosophie (2019) 2 sieht Jürgen Habermas die Philosophen David Hume (1711–1787) und Immanuel Kant (1724–1804) »an der Wegscheide nachmetaphysischen Denkens« 3. Doch während es Hume um die »Dekonstruktion des theologischen Erbes der praktischen Philosophie« 4 ging, war es Kant darum zu tun, die »aus dem theologischen Erbe der praktischen Philosophie stammenden Grundfragen so zu rekonstruieren, dass sie noch unter Voraussetzungen nachmetaphysischen Denkens mit guten Gründen beantwortet werden können.« 5 Auch wenn man Kant nicht als nachmetaphysischen Denker einordnen kann – das berühmte Wort von Moses Mendelssohn (1729–1786) vom »alles zermalmenden Kant« 6 darf nicht so verstanden werden, als sei durch Kant alle Metaphysik zerstört worden, ging es ihm doch um die Möglichkeit einer (neuen) Metaphysik im Zeitalter der Kritik 7 –, so enthält Habermas’ Opus Magnum zur Genealogie des Verhältnisses von Glauben und Wissen doch eine philosophisch wie theologisch aufschlussreiche Interpretation der kritischen Hauptschriften Kants und seiner Religionsschrift. 8 Für Kant sei evident, »dass eine Philosophie, die sich dem vergegenständlichenden Modus der Erfahrungswissenschaften anpasst, ihr Proprium aufgibt – nämlich den Versuch, Antworten auf die Menschheitsfragen zu geben, in denen sich das Orientierungsbedürfnis ›vernünftiger Weltwesen‹ ausspricht« 9. Als die großen Menschheitsfragen nennt Kant: »Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen? Was ist der Mensch? […] Im Grunde könnte man aber alles dieses zur Anthropologie rechnen, weil sich Vgl. Jürgen Habermas, Auch eine Geschichte der Philosophie, 2 Bde., Berlin 2019. 3 Habermas, Auch eine Geschichte der Philosophie, Bd. 2, 213. 4 Habermas, Auch eine Geschichte der Philosophie, Bd. 2, 228. 5 Habermas, Auch eine Geschichte der Philosophie, Bd. 2, 299. 6 Moses Mendelssohn, Morgenstunden oder Vorlesungen über das Dasein Gottes (1785), Neuausgabe mit einer Biographie des Autors hrsg. von KarlMaria Guth, Berlin 2017, 3. 7 Vgl. Immanuel Kant, Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können (1783): (AA IV), 253–383. 8 Vgl. Habermas, Auch eine Geschichte der Philosophie, Bd. 2, 298–374. 9 Habermas, Auch eine Geschichte der Philosophie, Bd. 2, 299. 2

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die ersten Fragen auf die letzte beziehen.« 10 Die Frage nach dem Menschen kann daher nicht durch eine »empirische Anthropologie« 11 allein beantwortet werden, da für Kant »nicht nur das erfahrungsabhängige Denken wahrheitsfähige Aussagen« ermöglicht, sondern ebenso die »transzendentale Reflexion« 12 und die darin vorausgesetzte Vernunfttätigkeit. Zur Frage nach dem Menschen gehört für Habermas die Frage nach der »Stellung des Menschen in der Welt« 13 – bei Kant artikuliert sie sich in der Frage nach dem »unsichtbaren Selbst« 14, das mich vor der Auflösung bewahrt, wie die Erde ein bloßer Punkt in der Unendlichkeit des Weltalls zu sein. 15 Es sind für Habermas die Kritik der reinen Vernunft (11781; 21787), die Kritik der praktischen Vernunft (1788), die Kritik der Urteilskraft (1790) und die Religion innerhalb der bloßen Vernunft (1793), in denen Kant die drei großen Menschheitsfragen, die in der anthropologischen Frage zusammengefasst werden, beantwortet. Der Religionsschrift habe Kant den Ehrentitel einer vierten Kritik verweigert, weil er im Glauben kein eigenes Vernunftvermögen sah. 16 Jedoch dränge sich die Vermutung auf, dass Kants Religionsschrift nicht nur mit der Frage beschäftigt sei, was wir hoffen dürfen, sondern ihr zugleich die Aufgabe zukomme, eine auf den Zusammenhang der drei Menschheitsfragen abzielende Antwort zu geben. 17 Dabei besitzt die Lehre vom radikalen Bösen eine für die Religionsphilosophie entscheidende Bedeutung. Denn eine Philosophie, die nicht nur Schulphilosophie sein will, muss sich mit den letzten Fragen beschäftigen, zu denen nicht nur die Fragen nach Gott, der Unsterblichkeit der Seele und der Freiheit gehören, sondern auch die nach dem Ursprung des Bösen in der Freiheit des Menschen. Denn für die Vernunftkritik bildet der Begriff der Freiheit den Immanuel Kant, Logik (AA IX), 25. – Die Orthographie Kants ist der heutigen Orthographie angeglichen. 11 Kant, Logik (AA IX), 25. 12 Kant, Logik (AA IX), 303. 13 Habermas, Auch eine Geschichte der Philosophie, Bd. 2, 301. 14 Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft, A 289. 15 Vgl. Kant, Kritik der praktischen Vernunft, A 289. 16 Vgl. Habermas, Auch eine Geschichte der Philosophie, Bd. 2, 304. 17 Vgl. Habermas, Auch eine Geschichte der Philosophie, Bd. 2, 304 f. 10

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»Schlussstein von dem ganzen Gebäude« 18, bei der Frage nach dem Ursprung des Bösen aber geht es um den Gebrauch der Freiheit. Von der Zentralstellung der Lehre vom radikalen Bösen für Kants Anthropologie war auch meine Schrift Freiheit im Widerspruch (1990) ausgegangen. Die Einheit der genannten Schriften Kants ist ihr Bezug auf die anthropologische Frage: Was ist der Mensch? 19 Seine Philosophie der reinen Vernunft, so der späte Kant, könne man daher auch insgesamt »eine Anthropologie nennen« 20. Es handelt sich um eine »anthropologia transcendentalis« 21, die »Selbsterkenntnis des Verstandes und der Vernunft« 22. Zu ihr gehört die Lehre vom radikalen Bösen, geht es hier doch um den Übergang der Freiheit zu ihrem praktischen Gebrauch. Mein Versuch einer Reformulierung der Lehre vom peccatum originale ausgehend von Kants Lehre vom radikalen Bösen und der transzendentalen Freiheitslehre von Hermann Kring (1913– 2004) ist verschiedentlich kritisiert worden, besonders prominent von Georg Essen in der Theologischen Anthropologie von Thomas Pröpper (1941–2015). 23 Im folgenden Beitrag will ich noch einmal Kant, Kritik der praktischen Vernunft, A 4. Vgl. Helmut Hoping, Freiheit im Widerspruch. Eine Untersuchung zur Erbsündenlehre im Ausgang von Immanuel Kant (Innsbrucker Theologische Studien 30), Innsbruck/Wien 1990; Helmut Hoping, »Freiheitsdenken und Erbsündenlehre. Der transzendentale Ursprung der Sünde«, in: Theologie und Glaube 84 (1994) 299–317; Helmut Hoping, »Bewusstes Leben, Egozentrizität und die Macht des Bösen. Zum Verständnis der ›Erbsünde‹«, in: Helmut Hoping/Michael Schulz (Hrsg.), Unheilvolles Erbe. Zur Theologie der Erbsünde (Quaestiones Disputatae 231), Freiburg u. a. 2009, 180– 191; Helmut Hoping, »Die Realität des Bösen und die Frage nach Gott«, in: Jahrbuch für Biblische Theologie 26 (2011): Das Böse, 325–344. 20 Immanuel Kant, Metaphysik Pölitz (AA XXVIII/5), 534. 21 Immanuel Kant, Reflexion 903 (AA XV/1), 395. 22 Kant, Reflexion 903 (AA XV/1), 395. 23 Vgl. Karl-Heinz Menke, »Sünde und Gnade. Dem Menschen innerlicher als dieser sich selbst?«, in: Michael Böhnke u. a. (Hrsg.), Freiheit Gottes und der Menschen, FS Thomas Pröpper, Regensburg 2006, 21–40, hier 24; Thomas Pröpper, Theologische Anthropologie, Bd. II, Freiburg u. a. 2011, 1081– 1091; Georg Essen, »›Da ist keiner, der nicht sündigt, nicht einer …‹ Analyse und Kritik gegenwärtiger Erbsündentheologien und ihr Beitrag für das seit Paulus gestellte Problem«, in: Pröpper, Theologische Anthropologie, Bd. II, 1131–1144; Ursula Lievenbrück, »Anthropologie«, in: Thomas 18 19

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deutlich machen, worin ich die Bedeutung einer freiheitstheologischen Relecture der christlichen Lehre von der Ursünde ausgehend von der Subjektivität des Menschen sehe. Dabei werde ich auf einige Missverständnisse aufmerksam machen, für die ich zum Teil selbst verantwortlich bin. Ausgehen will ich von bedeutenden philosophischen Zugängen zum Bösen, hinter die eine Theologie der (Ur-)Sünde meines Erachtens nicht zurückgehen kann.

1. Die Freiheit zum Bösen – Philosophische Zugänge 24 Mit dem Christentum wurden die Freiheit und das Böse zu Zentralthemen der Philosophie. Im Anschluss an den Apostel Paulus (Röm 7) beschreibt Augustinus (354–430) in De libero arbitrio (387/388) das Phänomen des Willens und seiner Gebrochenheit, eines Vermögens, das die antike Philosophie nicht kannte, dass nämlich Wollen und Können nicht dasselbe sind. Hannah Arendt (1906–1975) spricht in ihrer Vorlesung Über das Böse (1965) von der »Spaltung im Willen« 25. Der Kontroverse zwischen Erasmus (um 1466–1536) und Martin Luther (1483–1546) um den freien und unfreien Willen kommt nach Charles Taylor eine zentrale Bedeutung für die neuzeitliche Identität zu. 26 Im Zeitalter der Auf-

Marschler/Thomas Schärtl (Hrsg.), Dogmatik heute. Bestandsaufnahmen und Perspektiven, Regensburg 2014, 173–230, hier 224 f.; Markus Knapp, »Die Erbsündenlehre als Aspekt einer Theologie der Geschichte«, in: Georg Essen/Christian Frevel (Hrsg.), Theologie der Geschichte – Geschichte der Theologie (Quaestiones Disputatae 294), Freiburg u. a. 2019, 168–188, hier 173–177; Saskia Wendel, In Freiheit glauben. Grundzüge eines libertarischen Verständnisses von Glauben und Offenbarung, Regenburg 2020, 98 f. 24 Vgl. Helmut Hoping, »Das Böse in der modernen Philosophie und Theologie. Ein Beitrag zur Frage nach der Christlichkeit der Neuzeit«, in: Karlheinz Ruhstorfer/Wilhelm Metz (Hrsg.), Christlichkeit der Neuzeitlichkeit des Christentums, Paderborn u. a. 2008, 39–49. 25 Vgl. Hannah Arendt, Über das Böse. Eine Vorlesung zu Fragen der Ethik (1965), aus dem Nachlass hrsg. von Jerome Kohn, übersetzt aus dem Englischen von Ursula Ludz, mit einem Nachwort von Franziska Augstein, München/Zürich 2006, 115. 26 Vgl. Charles Taylor, Quellen des Selbst. Die Entstehung der neuzeitlichen Identität, Frankfurt a. M. 1994, 235–261, 330–353, 435.

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klärung war es vor allem Immanuel Kant, der dem Phänomen des Willens und seiner Gebrochenheit auf den Grund ging. Das erste Stück seiner Religionsschrift über das »radikale Böse« gilt bis heute als eine der fundamentalsten philosophischen Abhandlungen über das Böse. 27 Obwohl es im Menschen eine »Anlage zum Guten« 28 gibt, die wir als »Gnade« vorstellen, weil wir »die Anlage in uns nicht selbst begründet haben« 29, belehrt uns doch die Erfahrung, dass keiner von uns vom Bösen frei ist. Das Böse gründet für Kant in einem »Hange zum Bösen« 30, und niemand könne gut handeln ohne in der »unablässigen Gegenwirkung gegen denselben« 31. Den Hang zum Bösen als etwas Vererbtes anzunehmen, ist für Kant widersprüchlich. Vielmehr muss er als Freiheitsbestimmung gedacht werden. Daher führt er den Hang zum Bösen auf ein peccatum originarium zurück, das als intelligible Tat »aller Erfahrung voraus« 32 liegt. Kant spricht von einem »radikalen Bösen«, das mit der Menschheit selbst »verwebt und darin gleichsam verwurzelt ist« 33. Der Mensch ist »von Natur böse, heißt so viel als: dieses gilt von ihm in seiner Gattung betrachtet« 34. Der Mensch fängt in seinem praktischen Handeln nicht von einer »natürlichen Unschuld« 35 an. Zwar sagt Kant, dass das radikal Böse nur durch »Vernunft«, ohne »Zeitbedingungen« 36, erfasst werden könne. Doch konzipiert er den der Inklination zum Bösen zugrunde liegenden »Aktus der Freiheit« 37 nicht als präexistenten Fall. Ohne »Zeitbedingungen« meint, dass er außerhalb der Zeit natürlicher Kausalität liegt. Es geht also nicht um einen Anfang in der Zeit wie bei der Vorstellung eines historischen Sündenfalls. Da Kant den »Gebrauch der FreiVgl. Immanuel Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, B 3–64. 28 Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, B 20. 29 Immanuel Kant, Streit der Fakultäten (AA VII), 43. 30 Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, B 21; vgl. auch B 25, 34 f. 31 Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, B 60. 32 Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, B 39a. 33 Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, B 27. 34 Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, B 27. 35 Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, B 60. 36 Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, B 25 f. 37 Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, B 21. 27

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heit« 38 von der reinen praktischen Vernunft und den Maximen des Willens her versteht 39, betrachtet er das radikale Böse als den Grund, der alle Maximen verdirbt. Eine eigentliche Erklärung für die Faktizität des Bösen kann es für Kant nicht geben, da die »Verkehrung des Herzens« 40 unbegreiflich ist. Kant versteht das radikal Böse nicht augustinisch als Naturbestimmung, sondern in reformatorischer Tradition als Ursünde: Der Mensch ist simul peccator et creatura, das Erste zeigt sich im Hang zum Bösen, das Zweite mit Blick auf die Anlage zum Guten. 41 In der Kritik der reinen Vernunft definiert Kant transzendentale Freiheit als das Vermögen, etwas unbedingt, das heißt »von selbst anzufangen« 42. Der praktische Begriff der Freiheit gründet auf der »transzendentalen Idee der Freiheit« 43, die bei der praktischen Freiheit das »eigentliche Moment der Schwierigkeiten« 44 ausmacht. Habermas macht zu Recht darauf aufmerksam, dass die transzendentale Gesetzgebung der Vernunft derselben spontanen Quelle entspringt wie die Gesetzgebung der reinen praktischen Vernunft. 45 Mit seiner Lehre vom »radikalen Bösen« legt Kant eine transzendentale Deutung des Bösen vor: Die freiheitliche Subjektivität des Menschen ist bis in ihre unbedingte Wurzel hinein vom Bösen affiziert. 46 Das Böse kommt nicht erst von außen in den Menschen

Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, B 8. Dies gilt nicht nur für die Kritik der praktischen Vernunft, sondern auch für die der Religionsschrift folgende Metaphysik der Sitten (1797); vgl. Immanuel Kant, Metaphysik der Sitten (AA VI), 227. 40 Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, B 36. 41 Vgl. Ingolf U. Dalferth, Sünde. Die Entdeckung der Menschlichkeit, Leipzig 2020, 268 f. 42 Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 561. – Kant spricht zuvor schon von »absoluter Spontaneität der Ursachen« (Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 474) und »unbedingter Kausalität« (Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 476). 43 Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 561. 44 Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 561. 45 Vgl. Habermas, Auch eine Geschichte der Philosophie, Bd. 2, 310. 46 Nach Hermann Krings’ transzendentaler Freiheitslehre besteht das »Wesen des Bösen« darin, »dass die Freiheit die Bedingung ihrer eigenen Vernichtung selbst positiv setzt« (Hermann Krings, System und Freiheit. Gesammelte Aufsätze, Freiburg/München 1980, 36). 38 39

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hinein, sondern ist ihm schon innerlich, bevor er praktisch handelt. Im »Inkognito der vernünftigen Selbstgesetzgebung des Ichs der transzendentalen Apperzeption«, so Habermas, verbirgt sich »von vornherein schon die anfechtbare, vom Kampf zwischen Gut und Böse herausgeforderte Autonomie des im buchstäblichen Sinne handelnden Subjekts« 47. »Mit andern Worten: Freiheit und Moral sind gleichursprünglich mit dem radikal Bösen.« 48 Bei Kants Lehre vom radikalen Bösen handelt es sich also »keineswegs, wie oft vermutet, um das Lehrstück eines bereits senilen Philosophen, der seinen Frieden mit der Kirche durch eine sachlich aus seinem Denken nicht weiter zu begründende Adaption der Erbsündenlehre macht« 49, sondern »um ein unverzichtbares Moment der Aktualität transzendentaler Freiheit, sofern letztere eben als unbedingt zu denken ist« 50 Richtig aber ist, dass Kants Lehre vom radikalen Bösen zur Sicht des Menschen in der Aufklärung nicht so recht passen wollte, da die Aufklärungsphilosophie davon ausging, dass der Mensch von Natur aus gut sei. Die von Johann Wolfgang von Goethe (1749–1832) vorgebrachte Polemik gegen die Vorstellung eines radikalen Bösen ist bekannt: »Dagegen hat aber auch Kant seinen philosophischen Mantel, nachdem er ein langes Menschenleben gebraucht hat, ihn von mancherlei sudelhaften Vorurteilen zu reinigen, freventlich mit dem Schandfleck des radikalen Bösen beschlabbert, damit doch auch Christen herbeigelockt werden, den Saum zu küssen.« 51

Vergleichbar mit Kants Lehre vom »radikalen Bösen« ist im Deutschen Idealismus die Abhandlung Über das Wesen der menschlichen Freiheit (1809) von Friedrich Wilhelm Joseph Schelling (1775–1854). Zwar hat sich Schelling mit einer transzendentalen Deutung des Ursprungs des Bösen nicht zufriedengegeben und

Habermas, Auch eine Geschichte der Philosophie, Bd. 2, 319. Habermas, Auch eine Geschichte der Philosophie, Bd. 2, 330. 49 Herbert Meyer, Kants transzendentale Freiheitslehre (Alber-Praktische Philosophie 51), Freiburg 1996, 17. 50 Meyer, Kants transzendentale Freiheitslehre, 217. 51 Johann Wolfgang von Goethe, »Brief an Caroline Herder, 7. Juni 1793«, in: Johann Wolfgang von Goethe, Gedenkausgabe der Werke, Briefe und Gespräche, Bd. 19, hrsg. von Ernst Beutler, Zürich 1946, 213. 47 48

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schließlich in einer metaphysischen Theorie die Möglichkeit des Bösen auf Gottes Ur-willen zurückgeführt. Doch seine transzendentale Deutung des Bösen steht in Nähe zu Kants Lehre vom radikalen Bösen in der Religionsschrift. Während Kant das radikal Böse ausgehend von der Gesetzgebung der reinen praktischen Vernunft als Urmaxime bestimmt, geht Schelling von der realen Freiheit aus. Die Freiheit ist nach Schelling nicht etwas völlig Unbestimmtes im Sinne einer tabula rasa. »Die freie Handlung […] ist notwendig eine bestimmte Handlung«. Denn »vom Absolut-Unbestimmten zum Bestimmten gibt es […] keinen Übergang«. Um sich also »selbst bestimmen zu können«, müsste ein geistiges Wesen »in sich schon bestimmt sein«, natürlich nicht von außen, aber auch nicht von innen durch eine »bloß zufällige oder empirische Notwendigkeit«. Das »Wesen, d. h. seine Natur, müsste ihm Bestimmung sein […]. Denn frei ist, was nur den Gesetzen seines eigenen Wesens gemäß handelt und von nichts anderem weder in noch außer ihm bestimmt ist.« 52 Nach biblischer Überlieferung ist der Mensch »Bild« Gottes. Das Böse im Menschen ist das, was dazwischengekommen ist und es hat seinen Ursprung in dem, was Dieter Sturma in seinem Kommentar zu Schellings Freiheitsschrift »präreflexive Freiheit« 53 nennt. Dabei handelt es sich um eine »in sich gegensatzlose Setzung, durch die die Möglichkeit des Guten und Bösen allererst eröffnet wird« 54. Sie erklärt, warum die reale Freiheit des Menschen immer schon die Freiheit zum Guten und Bösen ist.

Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit und die damit zusammenhängenden Gegenstände (1809), in: Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Ausgewählte Werke. Schriften von 1806–1813, Darmstadt 1976, 275–360, hier 328. 53 Vgl. Dieter Sturma, »Präreflexive Freiheit und menschliche Selbstbestimmung«, in: Otfried Höffe/Annemarie Pieper (Hrsg.), F. W. J. Schelling. Über das Wesen der menschlichen Freiheit (Klassiker auslegen 3), Berlin 1995, 149–172. 54 Annemarie Pieper, »Die Wurzel des Bösen im Selbst«, in: Otfried Höffe/ Annemarie Pieper (Hrsg.), F. W. J. Schelling. Über das Wesen der menschlichen Freiheit (Klassiker auslegen 3), Berlin 1995, 91–110, hier 104. 52

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Die von Søren Kierkegaard (1813–1855) in Der Begriff Angst (1844) 55 und Die Krankheit zum Tode (1849) 56 entfaltete Sündenlehre ist hier von besonderem Interesse, weil sich sowohl Thomas Pröpper als auch Georg Essen auf den dänischen Philosophen für ihre Verhältnisbestimmung von Freiheit und Sünde berufen. 57 Wie Schelling wendet sich Kierkegaard gegen ein spekulatives Verständnis des Bösen als bloß Negatives und aufzuhebendes Moment in der Entwicklung des Subjekts, wie wir es bei Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770–1831) finden. 58 Mit seiner Schrift Der Begriff Angst geht es Kierkegaard um eine Art psychologischer Erklärung des Ursprungs der Sünde. Dabei setzt er voraus, dass der Mensch »zugleich er selbst und das ganze Geschlecht ist« 59. Wie Adam durch die Sünde seine Unschuld verlor, so verliert sie jeder Mensch. 60 »Der Mythos lässt äußerlich vor sich gehen, was innerlich ist.« 61 Aus dem historischen Urstand wird die »Unwissenheit« 62 der träumenden Unschuld des Geistes, wobei Kierkegaard in der Angst als »Schwindel der Freiheit« 63 die »Zwischenbestimmung« einer Frei-

Vgl. Søren Kierkegaard, Der Begriff Angst, übersetzt und mit Glossar, Bibliographie sowie einem Essay »Zum Verständnis des Werkes« hrsg. von Liselotte Richter, Hamburg 21996; die Schrift wurde von Kierkegaard 1844 unter dem Pseudonym Vigilius Haufniensis mit dem Titel »Der Begriff Angst. Eine simple psychologisch-hinweisende Erklärung in Richtung des dogmatischen Problems der Erbsünde« veröffentlicht. 56 Vgl. Sören Kierkegaard, Die Krankheit zum Tode, übersetzt und mit Glossar, Bibliographie sowie einem Essay »Zum Verständnis des Werkes« hrsg. von Liselotte Richter, Hamburg 31996; die Schrift wurde von Kierkegaard 1849 unter dem Pseudonym »Anti-Climacus« mit dem Titel »Die Krankheit zum Tode. Eine christliche psychologische Entwicklung zur Erbauung und Erweckung« veröffentlicht. 57 Vgl. Essen, »›Das ist keiner, der nicht sündigt, nicht einer …‹«, 1109– 1116, 1156. 58 Vgl. dazu Jochem Hennigfeld/Jon Stewart (Hrsg.), Kierkegaard und Schelling. Freiheit, Angst und Wirklichkeit (Kierkegaard Studies/Monograph Series 8), Berlin 2003 (darin vor allem die Beiträge von Jochem Hennigfeld, Alex Hutter und Lore Hühn). 59 Kierkegaard, Der Begriff Angst, 28. 60 Vgl. Kierkegaard, Der Begriff Angst, 35. 61 Kierkegaard, Der Begriff Angst, 45. 62 Kierkegaard, Der Begriff Angst, 56. 63 Kierkegaard, Der Begriff Angst, 57. 55

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heit zwischen Unschuld und Sünde sieht, die ihrer selbst nicht mächtig ist, weshalb der Sündenfall »in Ohnmacht« 64 geschehen sei. 65 Auch wenn die Angst, die im Unterschied zur Furcht keinen Gegenstand hat, das »am meisten selbstische« 66 darstellt, liegt in ihr nicht das Wesen der Sünde, da die Sünde nicht Zustand im Sinne von Möglichkeit ist, sondern Wirklichkeit. 67 In die Welt kam die Sünde durch einen »qualitativen Sprung« 68. Die Vorstellung, die »gesetzte Sünde« 69 habe ihren Ursprung in der abwägenden Wahl eines liberum arbitrium zwischen dem Guten und dem Bösen, lehnt Kierkegaard ab 70, da »die Sünde sich selbst voraussetzt wie die Freiheit und sich ebenso wenig durch etwas Vorausgehendes erklären lässt wie diese« 71. Ausgehend von der Theorie der Subjektivität beim frühen Johann Gottlieb Fichte (1762–1814) versteht Kierkegaard die Sünde in Der Begriff Angst als ursprüngliche Selbstsetzung, die darin bestehe, sich selbst begründen zu wollen, indem der Geist in seiner träumenden Unschuld von sich selbst anfängt, statt von Gott her anzufangen, so dass der Sprung in die Wirklichkeit der Freiheit zugleich ihr Fall ist. In der Schrift Die Krankheit zum Tode gibt Kierkegaard den Gedanken der Sünde als ursprünglicher Selbstsetzung auf; und auf die Annahme eines Urstandes der träumenden Unschuld des Geistes greift er nicht mehr zurück. 72 Dies hängt zum einen damit zusammen, dass Kierkegaard den Menschen nun nicht mehr als Einheit von Geist, Seele und Leib versteht, sondern als Einheit von Unendlichkeit und Endlichkeit, wobei er von der Faktizität der Subjektivität und ihrer Verzweiflung ausgeht, die er, anders als die Kierkegaard, Der Begriff Angst, 58. Vgl. Wolfhart Pannenberg, Anthropologie in theologischer Perspektive, Göttingen 1983, 99. 66 Kierkegaard, Der Begriff Angst, 58. 67 Vgl. Kierkegaard, Der Begriff Angst, 102 f., 105 f. 68 Kierkegaard, Der Begriff Angst, 102. 69 Kierkegaard, Der Begriff Angst, 106. 70 Vgl. Kierkegaard, Der Begriff Angst, 102 f. 71 Kierkegaard, Der Begriff Angst, 103. 72 Vgl. Christine Axt-Piscalar, Ohnmächtige Freiheit. Studien zum Verhältnis von Subjektivität und Sünde bei August Tholuck, Julius Müller, Sören Kierkegaard und Friedrich Schleiermacher, Tübingen 1996, 141–173, hier 156, 167. 64 65

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Krankheit, die uns wie Lazarus sterben lässt (vgl. Joh 11,4), die Krankheit zum Tode nennt. Da das Selbst endlich ist, sich nicht selbst gesetzt hat, sondern sich einer anderen Macht verdankt, ist von der Struktur des Selbstbewusstseins her Verzweiflung wie Selbstwahl möglich. Die Verzweiflung kann zweifach sein: entweder verzweifelt man selbst oder verzweifelt nicht man selbst sein wollen. 73 Dabei ist das Selbst, vermöge seiner Freiheit, selbst Urheber der Verzweiflung. Die Metapher einer Krankheit zum Tode steht bei Kierkegaard »für das Missverhältnis im Selbstverhältnis, für die Selbstentzweiung, den Verlust der Identität des Selbst« 74. Die äußerste Form der Verzweiflung ist die Sünde, die Kierkegaard als »vor Gott verzweifelt nicht man selbst sein wollen oder vor Gott verzweifelt man selbst sein wollen« 75 definiert. Die Sünde der Verzweiflung ist aber keine bloße Möglichkeit, sondern ein Faktum. Das peccatum originale steht für »das Prius, in welchem die Sünde sich selbst voraussetzt« 76. In der Nachschrift zu Kierkegaards Philosophische Brocken (1844) 77 heißt es, dass »ein verkehrter Anfang gemacht worden ist« 78. Sünde ist nicht Unwissenheit, das ist ihre sokratische Definition, sondern Tat. Um Sünde in ihrer Radikalität zu verstehen, bedarf es einer Offenbarung von Gott. 79 Im 20. Jahrhundert war es vor allem Paul Ricœur (1913–2005), der sich intensiv mit dem Phänomen des Bösen beschäftigte. 80 Den Begriff der Erbsünde betrachtet der französische Phänomenologe als ein falsches Wissen, das es zu destruieren gelte, insofern mit Vgl. Kierkegaard, Die Krankheit zum Tode, 13 f. Annemarie Pieper, Søren Kierkegaard (Beck’sche Reihe Denker), München 2000, 106. 75 Kierkegaard, Die Krankheit zum Tode, 77. 76 Kierkegaard, Die Krankheit zum Tode, 84. 77 Vgl. Sören Kierkegaard, Philosophische Brocken. De omnibus dubitandum est, übersetzt von Emanuel Hirsch, Frankfurt a. M. 1971. 78 Sören Kierkegaard, Abschließende unwissenschaftliche Nachschrift zu den philosophischen Brocken II, übersetzt von Hans Martin Junghans, in: Sören Kierkegaard, Gesammelte Werke, 16. Abteilung, hrsg. von Emanuel Hirsch, Hayo Gerdes und Hans Martin Junghans, Gütersloh 1983, 236. 79 Vgl. Kierkegaard, Die Krankheit zum Tode, 77, 85. 80 Zur theologischen Bedeutung der Phänomenologie Ricœurs vgl. Knut Wenzel, Glaube in Vermittlung. Theologische Hermeneutik nach Paul Ricœur, Freiburg u. a. 2008. 73 74

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diesem Begriff ein Wissen von der Übertragung einer erblichen Last beansprucht wird. Nichts im Begriff der »Erbsünde« sei »irreführender als sein Anschein von Rationalität« 81. Auf der anderen Seite sei der Erbsündenbegriff doch so fest etabliert, dass es unrealistisch erscheine, sich darauf zu verständigen, den Erbsündenbegriff nicht mehr zu gebrauchen. Die Aufgabe der Hermeneutik sieht Ricœur darin, den wahren symbolischen Gehalt des Begriffs »Erbsünde«, den nur sie vermitteln könne, zu retten. 82 Das rationale Symbol der »Erbsünde« ist auf der begrifflichen Ebene das, was der anthropologische Adamsmythos auf der Ebene der Erzählung ist. 83 Das Ereignis, das der ätiologische Adamsmythos erzählt, ist für uns als historisches Ereignis nicht vorstellbar, so dass die Identität der Adamsfigur »gewissermaßen dahingestellt« 84 bleibt. Die »symbolische Funktion« 85 des Adamsmythos besteht darin, das Böse im Menschen so radikal zu denken, dass sein Wille in das Böse immer schon verwickelt ist. In dieser Spannung von »Bestimmung« und »Hang« sieht Ricœur den ganzen Sinn des Sündenfallsymbols. 86 Oder wie Kant es mit bewundernswerter Schärfe gesagt hat: Der Mensch ist zum Guten »bestimmt«, aber zum Bösen »geneigt«. Die »Erbsünde« als »rationales Symbol« 87 bezieht sich auf eine Neigung zum Bösen im Menschen, die durch die Vorstellung einer bewussten Geneigtheit (déclivité) des Willens nicht eingeholt werden kann. »Erbsünde« ist das rationale Symbol dafür, dass die Wurzel des Bösen im Menschen tiefer reicht als jeder einzelne Freiheitsakt. 88 Beim Bösen handelt es sich also um eine Macht, »die dem Wollen jedes einzelnen

Paul Ricœur, Symbolik des Bösen (Phänomenologie der Schuld II), Freiburg/München 2002, 10. 82 Vgl. Paul Ricœur, »Die ›Erbsünde‹ – Eine Bedeutungsstudie«, in: Paul Ricœur, Hermeneutik und Psychoanalyse. Der Konflikt der Interpretationen II, München 1974, 141. 83 Vgl. Ricœur, »Die ›Erbsünde‹ – Eine Bedeutungsstudie«, 161. 84 Ricœur, Symbolik des Bösen, 13. 85 Ricœur, Symbolik des Bösen, 270. 86 Vgl. Ricœur, Symbolik des Bösen, 287. 87 Ricœur, »Die ›Erbsünde‹ – Eine Bedeutungsstudie«, 143, 155. 88 Vgl. Ricœur, »Die ›Erbsünde‹ – Eine Bedeutungsstudie«, 156. 81

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und jedem Willensakt überlegen ist« 89. Die Größe Augustins sieht Ricœur darin, erkannt zu haben, dass das Böse nicht nur etwas ist, das der Mensch tut, sondern welches er »vorfindet als etwas, das schon da ist, in ihm, außer ihm, vor ihm. Für jedes Bewusstsein, das zur Verantwortlichkeit erwacht, ist das Böse schon vorhanden« 90. Eine ganz andere Erklärung des Bösen gibt Susan Neiman in ihrem Buch Evil in Modern Thought: An Alternative History of Philosophy. 91 Die Annahme, »dass das Böse im Menschen steckt« 92, betrachtet Neiman als eine »altertümliche Vorstellung« 93, die es ebenso zu überwinden gelte wie die Vorstellung, dass das Böse ein Produkt des Willens sei 94. Das Böse sei nicht so tief, als dass es zu seiner Erklärung eines bösen Willens bedürfte. Neiman plädiert dafür, den Zusammenhang von bösem Willen und Handlung aufzugeben. Denn würde man daran festhalten, liefe man Gefahr, am Ende wieder beim Sündenfall und der Erbsünde zu landen. 95 Eine Schlüsselstellung in Neimans Buch nimmt Hannah Arendt (1906–1975) ein, deren Buch Eichmann in Jerusalem: A Report on the Banality of Evil (1963) 96, das in verschiedenen Versionen und Druckfassungen erschien, eine lange anhaltende Kontroverse auslöste. Kritisiert wurde nicht nur Arendts Beschreibung von Rudolf Eichmann Paul Ricoeur, Das Böse. Eine Herausforderung für Philosophie und Theologie, Zürich 2006, 32. 90 Ricoeur, Das Böse, 158 f. 91 Vgl. Susan Neiman, Evil in Modern Thought: An Alternative History of Philosophy, Princeton 2002, dt. Ausgabe: Das Böse denken. Eine andere Geschichte der Philosophie, Frankfurt a. M. 2004/2006. 92 Neiman, Evil in Modern Thought, 395. 93 Neiman, Evil in Modern Thought, 397. 94 Vgl. Neiman, Evil in Modern Thought, 392. 95 Vgl. Neiman, Evil in Modern Thought, 394. 96 Vgl. Vgl. Hannah Arendt, Eichmann in Jerusalem: A Report on the Banality of Evil, New York 1963, dt. Erstauflage: Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen, München 1964; zitiert wird nach: Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen (Piper Taschenbuch 6478), mit einem einleitenden Essay und einem Nachwort zur aktuellen Ausgabe von Hans Mommsen, München/Zürich 2011; zur Diskussion vgl. Gary Smith (Hrsg.), Hannah Arendt Revisited: »Eichmann in Jerusalem« und die Folgen (edition Suhrkamp 2135), Frankfurt a. M. 2000. 89

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(1906–1962) als Schreibtischtäter, als Technokrat und gedankenloser, administrativer Massenmörder, der erschreckend normal war, sondern auch ihre Rede von der »Banalität des Bösen«. Richtig ist, dass Arendt den Antisemitismus Eichmanns unterschätzte und seiner Selbstdarstellung vor Gericht Glauben schenkte, in der sich Eichmann als willenloses Instrument des Führerwillens, das seine Pflicht getan habe, inszenierte. 97 Wären ihr die Aufzeichnungen Eichmanns im Jerusalemer Gefängnis bekannt gewesen, hätte sie sein Lügengebäude durchschaut. 98 Umstritten war auch Arendts abstrakt-universale Beschreibung des Holocausts als Verbrechen gegen die Menschheit, war die Shoa doch in erster Linie ein Genozid an den Juden. Bei allem, was man gegen Arendts Eichmannbuch vorbringen kann, die Kritik, die Rede von der »Banalität des Bösen«, die in dem Buch nur einmal begegnet 99, sei eine Verharmlosung der Naziverbrechen, ist ein Missverständnis. Arendt leugnete nicht das gigantische Ausmaß des Verbrechens. Nach Dan Diner ging es ihr darum, deutlich zu machen, dass die Vernichtung des europäischen Judentums »das Ergebnis eines arbeitsteilig organisierten und unpersönlichen, bürokratischen und industriellen Vorgangs« 100 war, bei der sich die Verbrechen der Einzelnen beinahe banal ausnehmen. Auch wenn diese Analyse durchaus plausibel scheint, geht sie doch »mit den von den Opfern gemachten Erfahrungen nicht einher« 101. Banalität des Bösen und Monstrosität des Bösen sind zwei unterschiedliche Perspektiven auf die Verbrechen der Nazis, die sich auch in der Geschichtsschreibung des Holocaust zeigen. Während funktionale Ansätze stärker den bürokratischen und technokratischen Mechanismus in den Blick nehmen, fragen intentioArendt betont explizit, dass Eichmann kein Lügner sei (vgl. Arendt, Eichmann in Jerusalem, 131). 98 Vgl. Irmtrud Wojak, Eichmanns Memoiren. Ein kritischer Essay, Frankfurt a. M. 2004. 99 Vgl. Arendt, Eichmann in Jerusalem, 371. 100 Dan Diner, »Hannah Arendt Reconsidered: Über das Banale und das Böse in ihrer Holocaust-Erzählung«, in: Gary Smith (Hrsg.), Hannah Arendt Revisited: »Eichmann in Jerusalem« und die Folgen (edition Suhrkamp 2135), Frankfurt a. M. 2000, 120–135, hier 126 f. 101 Diner, »Hannah Arendt Reconsidered«, 127. 97

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nale Ansätze stärker nach der individuellen Schuld und damit nach dem Willen zur Tat. 102 In der Vorlesung Über das Böse begründet Arendt ihren Wechsel vom Begriff des radikal Bösen, den sie in ihrem Buch Elemente und Ursprung totaler Herrschaft (1955) noch gebraucht hatte, 103 zur Rede von der Banalität des Bösen. Schon in einem Brief vom 20. Juli an Gershom Scholem (1897–1982) hatte Arendt erklärt: »Ich bin in der Tat heute der Meinung, dass das Böse immer nur extrem ist, aber niemals radikal, es hat keine Tiefe, auch keine Dämonie. Es kann die ganze Welt verwüsten, gerade weil es wie ein Pilz an der Oberfläche weiterwuchert. Tief aber und radikal ist immer nur das Gute.« 104

Für Arendts Verständnis des Bösen spielt das Vermögen der Urteilskraft eine zentrale Rolle. In der Vorlesung führt Arendt das Böse auf ein fehlendes moralisches Empfinden oder den Unwillen zum sittlichen Urteil zurück, das heißt auf die Schiedsrichterfunktion des Willens. 105 Während Arendt am Paradoxon des Willens festgehalten hat, frei und zugleich urteilend zu sein, erklärt Neiman den Willen für untauglich, um das Böse zu verstehen. Nicht Wille und Intention seien Herz und Seele des sittlich relevanten Handelns, sondern das sittliche Urteil, dem man sich gedankenlos entziehen kann oder zu dem man nie befähigt wurde. 106 Was wir Schuld nennen, sei »keine Frage der subjektiven Einstellung, sonVgl. Diner, »Hannah Arendt Reconsidered«, 127 f. Vgl. Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, totale Herrschaft, München/Zürich 142011, 941: »Aber in ihrem Bestreben, unter Beweis zu stellen, dass alles möglich ist, hat die totale Herrschaft, ohne es eigentlich zu wollen, entdeckt, dass es ein radikal Böses wirklich gibt und dass es in dem besteht, was Menschen weder bestrafen noch vergeben können.« 104 Hannah Arendt, Nach Auschwitz. Essays & Kommentare, übersetzt aus dem Amerikanischen von Eike Geisel, Berlin 1989, 78. 105 Vgl. Arendt, Über das Böse, 150: »Diese Indifferenz stellt, moralisch und politisch gesprochen, die größte Gefahr dar, auch wenn sie weit verbreitet ist. Und damit verbunden und nur ein bisschen weniger gefährlich ist eine andere gängige moderne Erscheinung: die häufig anzutreffende Tendenz, das Urteilen überhaupt zu verweigern.« 106 Vgl. Susan Neimann, »Das Banale verstehen«, in: D. Horster (Hrsg.), Das Böse neu denken (Hannah-Arendt-Lectures und Hannah-Arendt-Tage 2005), Weilerswist 2006, 41–54, hier 46 f. 102 103

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dern der objektiven Fakten« 107. Anders als Arendt, die sich zum Paradox des freien Willens bekennt 108, enthält sich Neiman hinsichtlich der Frage des freien Willens jeder Stellungnahme. Die gegenteilige Position zu Arendt und Neiman vertritt Rüdiger Safranski in seinem Buch Das Böse oder das Drama der Freiheit 109. Darin bahnt er einen Weg durch Erfahrungen des Bösen und ihre Konzeptualisierungen, von der biblischen Sündenfallgeschichte bis zum monströs Bösen in der »entfesselten Moderne« 110. Die industriell durchgeführte Vernichtung (Shoa) des europäischen Judentums und den ihr zugrunde liegenden Bio-Faschismus, dem neben den Juden auch andere, deren Leben als unwert betrachtet wurde, zum Opfer fielen, sieht er als die »letzte Enthemmung der Moderne« 111. Safranski anerkennt den Wert der Analysen von Arendt. Es gibt die bürokratische Manier, mit der »Menschen von bestürzender Normalität« 112 in der Nazizeit »die Mordmaschine in Gang gehalten haben« 113. Doch im Unterschied zu Arendt, die den urteilenden Willen in den Vordergrund stellt, unterstreicht Safranski den bösen Willen und hält damit auch, anders als Neiman, am Zusammenhang von bösem Willen und böser Tat fest. Das Böse, so Safranski, ist die Möglichkeit menschlicher Freiheit, die im Herzen des Menschen immer schon Wirklichkeit geworden ist. Da das Böse, das zurechnungsfähige Menschen ins Werk setzen, frei und das heißt willentlich getan wird, sei die Freiheit in ihren Abgründen zu erkunden, um mit ihrem Risiko leben zu können. Eine wichtige Rolle spricht Safranski dabei der Religion zu, denn sie »mutet dem Menschen das Eingeständnis der Ohnmacht, Endlichkeit, Fehlbarkeit und Schuldhaftigkeit zu« 114, der Glaube aber gibt dem Menschen zugleich die Kraft, die Macht des Bösen zu brechen.

Neimann, »Das Banale verstehen«, 49. Vgl. Arendt, Über das Böse, 102–116, 119–128. 109 Vgl. Rüdiger Safranski, Das Böse oder das Drama der menschlichen Freiheit, München 1997. 110 Safranski, Das Böse oder das Drama der menschlichen Freiheit, 271. 111 Safranski, Das Böse oder das Drama der menschlichen Freiheit, 290. 112 Safranski, Das Böse oder das Drama der menschlichen Freiheit, 285. 113 Safranski, Das Böse oder das Drama der menschlichen Freiheit, 285. 114 Safranski, Das Böse oder das Drama der menschlichen Freiheit, 327. 107 108

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2. Die radikale Sünde und die Rechtfertigung des Sünders Was die religiöse Sprache »Sünde« nennt, ist menschliche Schuld in ihrer Beziehung zu bzw. vor Gott (coram Deo). 115 Da Sünde immer mit Gott zu tun hat, ist sie nicht einfach ein anderes, religiöses Wort für moralisches Fehlverhalten. Sünde ist in ihrem Kern die Pervertierung der Grundbeziehung des Menschen zu Gott. 116 Die christliche Lehre von der Sünde kennt nicht nur die einzelne, konkrete Sünde, sondern auch die Macht der Sünde, »unter der die Menschheit insgesamt steht und die jeden einzelnen Menschen vorgängig zu seiner eigenen Entscheidung qualifiziert.« 117 Die Macht der Sünde thematisiert der Apostel Paulus vor allem in seinem Brief an die Gemeinde in Rom. Neben der Adam-Christus-Typologie (Röm 5,12–21) ist hier Röm 7,14–15.19 zu nennen: »Ich aber bin fleischlich, das heißt: verkauft unter die Sünde. Denn, was ich bewirke, begreife ich nicht: Ich tue nicht, was ich will, sondern das was ich hasse. […] Denn ich tue nicht das Gute, das ich will, sondern das Böse, das ich nicht will, das vollbringe ich. Wenn ich aber das tue, was ich nicht will, sondern das Böse, dann bin nicht ich es, der es bewirkt, sondern die in mir wohnende Sünde.«

Das Böse sitzt nach Paulus tief im Menschen. Im rabbinischen Judentum kommt diese Überzeugung in der Lehre vom bösen Trieb zum Ausdruck, wobei zu beachten ist, dass der böse Trieb wie der gute Trieb als von Gott geschaffen angesehen wird. 118 Augustinus, auf den die Lehre vom peccatum originale zurückgeht, hat sich dafür vor allem auf Paulus berufen, der aber keine vererbte Schuld kennt. Die Grundlagen für die Lehre vom peccatum originale legte Augustinus schon unmittelbar nach seiner Konversion, die mit der Taufe an Ostern 387 in Mailand vollzogen wird. Denn mit der HinVgl. Christof Gestrich, Peccatum – Studien zur Sündenlehre, Tübingen 2003, 201 f. 116 Vgl. Dalferth, Sünde, 156, 169. 117 Walter Kasper, »Die Lehre der Kirche vom Bösen«, in: Rudolf Schnackenburg (Hrsg.), Die Macht des Bösen und der Glaube der Kirche, Düsseldorf 1979, 68–84, hier 69. 118 Vgl. Gabrielle Oberhänsli-Widmer, »Der böse Trieb als rabbinisches Sinnbild des Bösen«, in: Judaica: Beiträge zum Verstehen des Judentums 63 (2007), 18–43. 115

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wendung zum Christentum wurde für ihn die Frage unde malum faciemus immer zentraler. In De libero arbitrio eröffnet Augustinus den Kampf gegen die Manichäer, denen er zunächst angehört hatte. Er verteidigt die Wahlfreiheit aufgrund des liberum arbitrium des von Gott geschaffenen Menschen. Das Böse geht weder auf ein dem Guten gegenüberstehendes Prinzip des Bösen zurück noch allein auf Unwissenheit. Dem Bösen, das Menschen tun, liegt für Augustinus vielmehr ein verkehrter, vom Guten abgewandter Willen zugrunde. 119 Die damit verbundene Bewegung könne, da Gott das Prinzip der Ordnung ist, nicht von ihm kommen 120, sondern nur vom menschlichen Willen 121. Während Augustinus die Frage, was dem verkehrten Willen vorausgeht, im zweiten Buch von De libero arbitrio zunächst noch unbeantwortet lässt 122, rekurriert er im dritten Buch schließlich auf die Sünde Adams, die die Natur (natura propria), in der Adam geschaffen wurde, verändert habe, so dass wir in einer anderen Natur (natura aliena) als Adam geboren werden. 123 Das ist noch nicht die spätere Lehre vom peccatum originale, die Augustinus unmittelbar nach Beginn seines Genesiskommentars De Genesi ad litteram imperfectus liber zu entwickeln beginnt. Das dritte Buch von De libero arbitrio legt aber die Grundlagen dazu. 124 Augustinus entwickelte seine Lehre vom peccatum originale im Kontext soteriologischer, gnaden- und tauftheologischer Überlegungen, die Lehre hat nicht die Funktion einer Art Theodizee avant la lettre, wie die Lehre vom verkehrten Willen in De libero arbitrio. Schon vor der Kontroverse mit Pelagius und den Pelagianern spricht Augustinus in De diversis quaestionibus (388–397) von der adamitischen Menschheit als massa peccati 125 und einem Vgl. Augustinus, De libero arbitrio II, 37, 53, ed. Brachtendorf, 181, 202. Vgl. Augustinus, De libero arbitrio II, 54, ed. Brachtendorf, 203. 121 Vgl. Augustinus, De libero arbitrio III, 2.48, ed. Brachtendorf, 206, 268. 122 Vgl. Augustinus, De libero arbitrio II, 54, ed. Brachtendorf, 203. 123 Vgl. Augustinus, De libero arbitrio III, 52, ed. Brachtendorf, 274. 124 Vgl. dazu ausführlicher die Analysen von Augustins Freiheitsschrift in: Hoping, Freiheit im Widerspruch, 15–18. 125 Vgl. Augustinus, De diversis quaestionibus octoginta tribus LXVII 3 (CCL 44A), 177. 119 120

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generale peccatum. 126 In Ad Simplicianum (396–398) verwendet Augustinus für die auf uns gekommene Schuld das Bild des tradux peccati (Ableger der Sünde) 127 und sagt von ihr, dass sie sich durch die concupiscentia carnalis überall hin ergießt 128. In Contra Faustum (397/398) führt Augustinus dann Röm 5,12 als Argument für die Überzeugung an, dass die Sünde Adams auf uns vererbt wurde. 129 In Augustins frühester pelagianischer Schrift De peccatorum meritis (411–412) taucht dann erstmals der Terminus peccatum originale 130 sowie – bezogen auf Röm 5,12 – die Formel propagatione, non imitatione auf 131. Nicht durch Nachahmung, sondern durch Zeugung geht die Ursprungssünde (peccatum originale) auf alle Menschen über. 132 Dabei geht Augustinus von der Übersetzung der Vetus Latina aus: »in quo omnes peccaverunt« (in dem alle gesündigt haben), während das griechische Original ἐφ ᾧ πάντες (weil alle gesündigt haben) hat, was in der »Vulgata« mit »eo quo omnes peccaverunt« wiedergegeben wird. Augustinus liest das in quo als Relativ-, nicht als Konditionalkonstruktion und bezieht es auf »per unum hominem«, durch den die Sünde in die Welt kam. Als fehlendes Subjekt zu »pertransiit« ergänzt er nicht mors, sondern peccatum. Als Nachkomme Adams wird jeder in Sünde geboren 133, weil alle in Adam gesündigt haben 134. Das heißt nicht, dass in Adam alle persönlich gesündigt hätten, das peccatum ori-

Vgl. Augustinus, De diversis quaestionibus octoginta tribus LXVIII 4 (CCL 44A), 180. 127 Vgl. Augustinus, De diversis quaestionibus ad Simplicianum I 2, 20 (CCL 44), 51. 128 Vgl. Augustinus, De diversis quaestionibus ad Simplicianum I 2, 20 (CCL 44), 52. 129 Vgl. Augustinus, Contra Faustum Manichaeum XXII 78 (CSEL 25), 679: »proditum est enim nobis peccatum Adam fideli eloquio Deo […] et quia per illum peccatum intravit in hunc mundum et per peccatum mors«. 130 Vgl. Augustinus, De peccatorum meritis I 9, 9 (CSEL 60), 10; I 11, 13 (CSEL 60), 14. 131 Vgl. Augustinus, De peccatorum meritis I 9, 10 (CSEL 60), 12. 132 Vgl. Augustinus, De peccatorum meritis I 9, 9 (CSEL 60), 10 f. 133 Vgl. Augustinus, De peccatorum meritis I 9, 10 (CSEL 60), 11. 134 Vgl. Augustinus, De peccatorum meritis III 7, 14 (CSEL 60), 141: »in Adam omnes peccaverunt, quando in eius natura illa insita vi, qua eos gignere poterat, adhuc omnes ille unus fuerunt«. 126

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ginale ist keine individuell zurechenbare Sünde, sondern eine Naturbestimmung 135. Obschon Augustinus wie Laktanz (ca. 250–320) und Hieronymus (347–420) mit dem Kreatianismus sympathisierte, wonach Gott die Seele jedes Menschen bei seiner Zeugung unmittelbar erschafft, sah er doch, dass der Kreatianismus, anders als der von Tertullian (ca. 150–220) vertretene Generatianismus, wonach die Seele mit der Zeugung entsteht, mit der Lehre vom peccatum originale nicht gut zusammenpasst. 136 Die kirchliche Tradition unterscheidet wie Augustinus zwischen der ursprunggebenden Sünde Adams (peccatum originale originans) und der daraus hervorgegangenen Sünde in uns (peccatum originale originatum). Zwar spricht Augustinus selten von Erbsünde (peccatum hereditarium) 137, im Deutschen hat sich aber für das peccatum originale seit dem Mittelalter das Wort »Erbsünde« durchgesetzt, während zahlreiche andere europäische Sprachen von Ursünde sprechen (original sin; péché originel, pecado original, peccato originale). Der Begriff »Ursünde« begegnet dagegen erst im 19. Jahrhundert. Das Konzil von Trient erklärt in seinem Dekret über die Ursünde, dass sie propagatione non imitatione, durch Fortpflanzung, nicht durch Nachahmung, weitergegeben wird. 138 Entscheidend ist, was in dieser Definition zurückgewiesen wird, nämlich dass die Sünde nicht allein durch Nachahmung weitergegeben wird. In der reformatorischen Tradition wird das peccatum originale im Anschluss an Martin Luther als peccatum radicale gedeutet 139, das heißt als existenzbestimmende Sünde. Die Vorstellung einer radikalen, dem Vollzug des liberum arbitrium vorausliegenden Sünde ist auch Voraussetzung für Luthers vieldiskutierte Lehre vom unfreien Willen. 140 Vgl. die weiteren Analysen in: Hoping, Freiheit im Widerspruch, 21–27. Vgl. Alfons Fürst, Augustins Briefwechsel mit Hieronymus (Jahrbuch für Antike und Christentum, Ergänzungsband 29), Münster 1999, 191– 200. 137 Vgl. z. B. Augustinus, Retractationes I 13, 5 (ed. Perl, 64). 138 Vgl. DH 1513. 139 Vgl. Lubomir Batka, Peccatum radicale. Eine Studie zu Luthers Erbsündenverständnis in Psalm 51 (Europäische Hochschulschriften), Frankfurt a. M. u. a. 2007. 140 Vgl. Helmut Hoping, »Freiheit und Sünde. Zur Bedeutung von Martin 135 136

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In der Tradition Augustins ist man vor allem in der katholischen Theologie bis ins 20. Jahrhundert von einem historischen Sündenfall am Beginn der Menschheitsgeschichte ausgegangen. Die Evolutionstheorie und das paläoanthropologische Wissen, das wir vom Prozess der Hominisation haben, lässt für ein solches Ereignis allerdings ebenso wenig Raum wie für die Annahme eines historisch verstandenen Urstandes. Zudem basierte die Annahme eines historischen Sündenfalls auf der Theorie des Monogenismus, wonach die gesamte Menschheit von einem einzigen Menschenpaar abstammt. Dies führte zu einer Reihe von Neuentwürfen zur Erbsündenlehre. 141 Karl Rahner (1904–1984) und Piet Schoonenberg (1911–1999) schlugen vor, das peccatum originale als das Situiertsein der menschlichen Freiheit durch »Sünde der Welt« zu verstehen. Rahner hielt dabei an einem historischen Sündenfall am Anfang der Menschheitsgeschichte fest, zeigte sich aber offen für den Polygenismus. Die Menschheit könne auch von mehreren, allerdings in einem Lebensraum miteinander verbundenen Menschenpaaren abstammen. 142 An einem historischen Sündenfall am Beginn der Menschheitsgeschichte halten z. B. Christoph Böttigheimer und Michael Schulz fest. 143 Anders ist dies bei Siegfried Wiedenhofer (1941–2015), für den Luthers ›De servo arbitrio‹ für die theologische Anthropologie«, in: Christian Danz/Jan-Heiner Tück (Hrsg.), Martin Luther im Widerstreit der Konfessionen. Historische und theologische Perspektiven, Freiburg u. a. 2017, 227–244. 141 Zu einem Überblick vgl. Siegfried Wiedenhofer, »Zum gegenwärtigen Stand der Erbsündentheologie«, in: Theologische Revue 83 (1987), 353– 370; Siegfried Wiedenhofer, »Hauptformen gegenwärtiger Erbsündentheologie«, in: Internationale Katholische Zeitschrift Communio 20 (1991), 315–328; Helmut Hoping, »Erbsünde III. Systematisch-theologisch«, in: Lexikon für Theologie und Kirche 3 (31995), 747. 142 Vgl. Karl Rahner, »Die Sünde Adams« (1968), in: Rahner, Schriften zur Theologie IX (1970), 259–275; Karl Rahner, Grundkurs des Glaubens. Einführung in den Begriff des Christentums, Freiburg u. a. 1976, 116 f. 143 Vgl. Christoph Böttigheimer, Der Mensch im Spannungsfeld von Sünde und Freiheit. Die ökumenische Relevanz der Erbsündenlehre (Münchener Theologische Studien 49), St. Ottilien 1994, 526; Michael Schulz, »Die ›gefallene‹ Natur. Mensch und Schöpfung unter der Macht der Sünde, in: Internationale Katholische Zeitschrift Communio 30 (2001), 110–123; Michael Schulz, »Theodramatisches Urereignis. Die Sünde Adams und die

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sich im Gedanken des peccatum originale zwei grundlegende Erfahrung des Menschen mit der Sünde ausdrücken: die »Individualität und Voluntarität der Sünde einerseits« und »die ontologische Tiefe der Sünde andererseits« 144. Die Sünde vor Gott stammt »aus individueller menschlicher Freiheit«, ist aber zugleich eine »geschichtliche Macht, die dem Bewusstsein, Wollen und Fühlen des Einzelnen immer schon vorausliegt« 145. Auch für Magnus Lerch ist es zum Verständnis der Sünde nötig, am Tat- und Machtcharakter der Sünde festzuhalten: »Das Böse hat seine Macht nicht ohne mich, aber auch nicht allein durch mich.« 146 Die ontologische Tiefe der Sünde kann aber nicht im Situiertsein der Freiheit durch die »Sünde der Welt« (Karl Rahner, Piet Schoonenberg) liegen, sondern nur in der freiheitlichen Subjektivität, soll sie ihr nicht äußerlich, sondern zuinnerst zu eigen sein. Mit Kierkegaard und Ricœur gehe ich deshalb davon aus, dass das Böse in uns ist und zwar bevor wir uns als Subjekt und damit unseres Selbstseins bewusst werden. Es wird weder ein historischer Sündenfall am Anfang der Menschheitsgeschichte noch eine dem Fall vorausgehende Zeit eines Urstandes vorausgesetzt. Das peccatum originale wird aber auch nicht nur als Ausdruck der Erfahrung verstanden, dass der Sünder in seiner Freiheit in der Sünde gefangen ist, sondern als Wurzel der Sünde in uns. Die Universalität des peccatum originale erschließt sich soteriologisch: Jesus, der ohne Sünde war, ist für die Sünde aller gestorben. Das peccatum originale konzeptualisiere ich als transzendentales Faktum in der Konstitution des Selbst, so dass freiheitliche Subjektivität in ihrer Wurzel von der Sünde affiziert ist. Dass hier das Prinzip individueller Imputabilität an seine Grenze stößt, ist offensichtlich. Es ist Wandlung des Menschen zum Schlechteren«, in: Helmut Hoping/Michael Schulz (Hrsg.), Unheilvolles Erbe?, 192–232. 144 Siegfried Wiedenhofer, »›Erbsünde‹ – eine universale Erbschuld? Zum theologischen Sinn des Erbsündendogmas«, in: Theologische Quartalschrift 162 (1982), 30–44, hier 42. 145 Wiedenhofer, »›Erbsünde‹ – eine universale Erbschuld?«, 42. 146 Magnus Lerch, »Tat und Macht der Sünde – Verbindung von transzendentaler und existenzieller Perspektive in sündentheologischer Absicht«, in: Aaron Langenfeld/Magnus Lerch, Theologische Anthropologie (UTB Grundwissen Theologie), Leiden u. a. 2018, 196–212, hier 207.

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also falsch, dass meine Kritik am Begriff der »strukturellen Sünde« oder der Situiertsein unserer Freiheit durch die Sünde der Welt bei Rahner und Schoonenberg die Ablehnung eines analogen Sündenbegriffs impliziert. 147 Eine nicht individuell zurechenbare Sünde ist eine Sünde im analogen Sinn. Das entscheidende Verständigungsparadigma ist, ähnlich wie in der Sündenlehre von Wolfhart Pannenberg (1928–2014) 148, die Subjektivität des Menschen: Das peccatum originale wird als eine Sündhaftigkeit konzipiert, die jeder persönlichen Stellungnahme vorausliegt, weil sie mit der Konstitution des Ich verbunden ist, ob man Subjektivität nun stärker wie Pannenberg ausgehend von einer Anthropologie der Zentralität und Exzentrizität oder von einer an Einsichten Kants und Fichtes anschließenden transzendentalen Freiheitslehre her versteht. 149 Georg Essen bezeichnet Pannenbergs und meinen Versuch »als die beiden derzeit wohl profiliertesten Vorstöße« 150, hält sie aber für aporetisch. Essens Kritik basiert auf der Voraussetzung, dass vom Begriff »Sünde« kein analoger, sondern nur ein univoker Gebrauch möglich sei, Sünde also immer individuelle Zurechenbarkeit voraussetzte. Daraus folgt, dass eine mit der Subjektivität des Menschen ab ovo verbundene Sündhaftigkeit »freiheitstheoretisch ein Unbegriff« 151 ist. Auch Pröpper lässt ausschließlich einen univoken Gebrauch des Sündenbegriffs zu. Pannenbergs Verständnis des peccatum originale belegt er mit dem »Fatalisierungsverdikt« (Gunter Wenz). 152 Dem begegnet Pannenberg mit dem Hinweis, dass mit Pröppers Preisgabe der Lehre vom peccatum originale deutliche pelagianisch-semipelagianische Tendenzen einhergehen. »Ohne Anerkennung eines Grundbestandes naturaler Verfasstheit verkehrten Lebens in jedem IndiSo Essen, »›Das ist keiner, der nicht sündigt, nicht einer …‹«, 1137. Vgl. Wolfhart Pannenberg, Theologische Anthropologie, Göttingen 1983, 77–150; eine präzise Zusammenfassung bietet Gunter Wenz, Sünde. Hamartiologische Fallstudien (Systematische Theologie 8), Göttingen, 252–271. 149 Zu Essens Kritik an Pannenbergs Verständnis des peccatum originale vgl. Essen, »›Das ist keiner, der nicht sündigt, nicht einer …‹«, 1124–1131. 150 Essen, »›Das ist keiner, der nicht sündigt, nicht einer …‹«, 1147. 151 Essen, »›Das ist keiner, der nicht sündigt, nicht einer …‹«, 1143. 152 Vgl. Wenz, Sünde, 278 f. 147 148

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viduum wird der Kern des Erbsündendogmas nicht festgehalten werden können.« 153 Nach Pannenberg ist der Mensch, wie er im Rückgriff auf Anthropologien des 20. Jahrhunderts zeigt, ein exzentrisches und zugleich selbstzentriertes Wesen. Durch das Ich hat unser bewusstes Leben eine Zentralität, die es möglich macht, sich auf alles zu beziehen, also eine Welt zu haben. Die Zentralität im bewussten Leben des Menschen wird von Religionen und westlichen und östlichen Richtungen der Mystik unterschiedlich gedeutet. 154 Wenn Pannenberg von einer mit der Subjektivität verbundenen Sündhaftigkeit spricht, ist zu beachten, dass für ihn nicht die Subjektivität sündhaft ist, denn die Ichinstanz in unserem bewussten Leben ist Voraussetzung für unseren Weltbezug. Sündhaft ist eine mit der Subjektivität faktisch verbundene Egozentrizität, in der sich der Mensch absolut setzt. Wolfhart Pannenberg spricht von einem »Bruch im Ich« 155, der die Einheit von Exzentrizität und Selbstzentriertheit aufhebt. Dieser Bruch müsse als ursprünglich betrachtet werden, da die unserer Subjektivität zugrundeliegende Spontaneität kein Akt der Selbstsetzung ist, auch wenn das Ich in unserem bewussten Leben ein ursprüngliches Vertrautsein mit sich selbst voraussetzt. 156 Mit Dieter Sturma könnte man auch von einer präreflexiven Freiheit sprechen. 157 Zum Verständnis der sündhaften Egozentrizität menschlicher Subjektivität habe ich auf Kants Lehre vom radikalen Bösen und die transzendentale Freiheitslehre von Hermann Krings (1913– 2004) zurückgegriffen. 158 Im Anschluss an Kant spricht Krings im Wolfhart Pannenberg, »Sünde, Freiheit, Identität – Eine Antwort auf Thomas Pröpper« (1990), in: Wolfhart Pannenberg, Natur und Mensch – und die Zukunft der Schöpfung (Beiträge zur Systematischen Theologie 2), Göttingen 2000, 235–245, hier 237. 154 Vgl. Dieter Henrich, Fluchtlinien. Philosophische Essays, Frankfurt a. M. 1982; Ernst Tugendhat, Egozentrizität und Mystik, München 22004; Ernst Tugendhat, Anthropologie statt Metaphysik, München 2007. 155 Pannenberg, Anthropologie in theologischer Perspektive, 82. 156 Vgl. Dieter Henrich, Fichtes ursprüngliche Einsicht (Wissenschaft und Gegenwart 34), Frankfurt a. M. 1967; Dieter Henrich, Dies Ich, das viel besagt. Fichtes Einsicht nachdenken, Frankfurt a. M. 2019. 157 Vgl. Dieter Sturma, »Präreflexive Freiheit und menschliche Selbstbestimmung«, 149–172. 158 Vgl. Helmut Hoping, »Bewusstes Leben, Egozentrizität und die Macht 153

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Hinblick auf das formal Unbedingte in unserem Wissen und Handeln von »transzendentaler Freiheit« 159. Er denkt sie nicht nur kosmologisch als Vermögen, etwas »von selbst anzufangen« 160, sondern als unbedingte Spontaneität. Die Spontaneität transzendentaler Freiheit wird retorsiv als Entschluss für einen Gehalt bestimmt, wobei die andere Freiheit der der Freiheit angemessene Gehalt ist, mit dem zugleich der Vorgriff auf eine vollkommene, nicht nur formal unbedingte Freiheit verbunden ist. Während Pröpper und Essen davon ausgehen, dass das formal Unbedingte realer Freiheit Sünde ermöglicht, nicht aber von der Sünde affiziert ist, da Sünde das »Selbstverhältnis freier Subjektivität« 161 voraussetzt, betrachte ich die Sünde als Moment in der Konstitution des Ich. Die Egozentrizität des Ich beruht auf einer mit dem Faktum transzendentaler Freiheit verbundenen Verweigerung der Transzendenz. 162 In diesem Sinne habe ich den von Julia Knop geprägten Begriff eines »Apriori« freiheitlicher Subjektivität 163 aufgegriffen. 164 Es ist allerdings eine Fehldeutung, wenn Knop meint, ich würde das peccatum originale als transzendentale »Selbstsetzung« 165 auffassen. 166 Wie Dieter Henrich in seinen eindringlichen Fichte-Studien 167 gezeigt hat, ist die Denkfigur einer »Selbstsetzung« subjekttheoretisch zirkulär, da sie voraussetzt, was zu erklären wäre. Georg Essen meint, dass ich das anthropologische Argumentades Bösen. Zum Verständnis der ›Erbsünde‹«, in: Hoping/Schulz (Hrsg.), Unheilvolles Erbe, 180–191. 159 Vgl. Krings, System und Freiheit, 133–160. 160 Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 561. 161 Essen, »›Das ist keiner, der nicht sündigt, nicht einer …‹«, 1138. 162 Bei Hermann Krings entspricht diesem die »absolute Egoität«, in der Freiheit sich absolut setzt (vgl. Krings, System und Freiheit, 36). 163 Julia Knop spricht von einem »Apriori meiner Freiheit (meiner selbst)« (Julia Knop, Sünde, Freiheit, Endlichkeit. Christliche Sündentheologie im theologischen Diskurs der Gegenwart (ratio fidei 31), Regensburg 2007, 340 f. 164 Vgl. Hoping, »Bewusstes Leben, Egozentrizität und die Macht des Bösen«, 188 f. 165 Knop, Sünde, Freiheit, Endlichkeit, 294. 166 Sie unterläuft auch Wenz, der von »Selbstsetzungsgeschehen« spricht (vgl. Wenz, Sünde, 275). 167 Vgl. Henrich, Fichtes ursprüngliche Einsicht; Henrich, Dies Ich, das viel besagt.

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tionspotential vor allem bei Kierkegaard, auf den Essen zurückgreift, nicht ausgeschöpft habe. 168 Das ist sicherlich richtig, ich räume auch ein, dass mein Versuch in seiner ursprünglichen Fassung in Freiheit und Widerspruch (1990) durch Rekurs auf Elemente der fundamentalontologisch orientierten Daseinsanalyse Martin Heideggers (1889–1976) in Sein und Zeit 169 an einigen Stellen unnötig enigmatisch wurde. 170 Doch der Kern meines Versuchs besteht darin, das peccatum originale, ähnlich wie bei Kierkegaard, als Teil der Konstitution des Ich zu verstehen. Wenn Essen im Anschluss an Michael Bongardt 171 und Thomas Pröpper 172 zwischen der Angst als »Disposition zur Sünde« und dem »Faktum der Sünde« unterscheidet 173, liegt dem allerdings eine Fehlinterpretation von Kierkegaards Sündenlehre zugrunde. 174 Zum einen erklärt die Angst des Geistes in seiner träumenden Unschuld, von der Kierkegaard noch in Der Begriff Angst ausgeht, nicht den Fall, der kein Zustand, sondern eine Setzung ist. Zudem hat Kierkegaard die Vorstellung eines Urstandes, für den die träumende Unschuld in Der Begriff Angst steht, in seiner Schrift Die Krankheit zum Tode aufgegeben. Angst und Verzweiflung sind, so sehr sie auch selbst zur Sünde verführen, Vgl. Essen, »›Das ist keiner, der nicht sündigt, nicht einer …‹«, 1136. Vgl. Martin Heidegger, Sein und Zeit (1927), Tübingen 121972. 170 Vgl. Essen, »›Das ist keiner, der nicht sündigt, nicht einer …‹«, 1137– 1140. 171 Vgl. Michael Bongardt, Der Widerstand der Freiheit. Eine transzendentallogische Aneignung der Angstanalysen Kierkegaards (Frankfurter Theologische Studien 49), Frankfurt a. M. 1995, 154–190. 172 Vgl. Thomas Pröpper, »Das Faktum der Sünde und die Konstitution menschlicher Identität. Ein Beitrag zur kritischen Aneignung der Anthropologie Wolfhart Pannenbergs« (1990), in: Thomas Pröpper, Evangelium und freie Vernunft. Konturen einer theologischen Hermeneutik, Freiburg u. a. 2001, 153–179, hier 165. 173 Vgl. Essen, »›Das ist keiner, der nicht sündigt, nicht einer …‹«, 1115, 1143, 1156. 174 Sie leitet auch Essens Kritik an meinem Verständnis des peccatum originale (vgl. Essen, »›Das ist keiner, der nicht sündigt, nicht einer …‹«, 1134, 1136). – Auch bei der Kontroverse zwischen Thomas Pröpper und Wolfhart Pannenberg um das Verhältnis von Selbst und Sünde geht es nicht zuletzt um die Interpretation Kierkegaards (vgl. Pröpper, »Das Faktum der Sünde und die Konstitution menschlicher Identität«, 165; Pannenberg, »Sünde, Freiheit, Identität – Eine Antwort auf Thomas Pröpper«, 243). 168 169

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Indizien dafür, dass das Selbst ab origine nicht mit sich identisch ist. Eine bloß ethische Sicht auf die Sünde als Möglichkeit realer Freiheit hält Kierkegaard theologisch für unzulänglich. Die Sünde setzt die Sünde immer schon voraus. Darauf bezieht sich die Lehre vom peccatum originale. 175 Die Sünde kann daher nur aus sich selbst und nicht aus einem anderen, etwa der Angst oder Verzweiflung, verstanden werden. Für Kierkegaard betrachtet die christliche Lehre die Sünde nicht nur als Negation oder als Abweichung vom Gesetz; Sünde resultiert auch nicht aus Unwissenheit. Was Kierkegaard strikt ablehnt, ist ein nur ethisches und sokratisches Verständnis des Bösen. Sünde ist für Kierkegaard eine »originäre Position« 176, sie entspringt »im und mit dem Selbstverhältnis« 177. Dagegen spricht Essen von der Sünde nur mit Blick auf das schon konstituierte »Selbstverhältnis freier Subjektivität« 178, für das er zwischen der Angst als Dispositiv zur Sünde und dem Faktum der Sünde unterscheidet. Am Ende greift Essen auf die »Sünde der Welt« (vgl. Joh 1,29; 1 Joh 2,2) zurück. Doch wer sich damit bescheidet, dass »alle gesündigt und die Herrlichkeit Gottes verloren« (Röm 3,23) haben, dass da keiner ist, der nicht sündigt, behauptet zwar die Universalität der Sünde, denkt sie aber nicht wie Kierkegaard radikal, nämlich als Sünde, die sich selbst voraussetzt. Wie bei Pröpper hat auch bei Essen ein peccatum originale keinen Platz mehr. 179 Aus freiheitstheologischen Gründen verwirft auch Striet den Gedanken eines peccatum originale. Eine moderne Theologie müsse das »Ursündenkonstrukt« 180 als theologischen Ballast entsorgen. 181 Das radikale Böse wird auf die Neigung zum Bösen, also den subjektiven Grund desselben reduziert 182, während Kant den Hang Vgl. Kierkegaard, Die Krankheit zum Tode, 84. Pieper, Kierkegaard, 125. 177 Pieper, Kierkegaard, 126. 178 Essen, »›Das ist keiner, der nicht sündigt, nicht einer …‹«, 1138. 179 Vgl. Pröpper, Theologische Anthropologie, Bd. II, 1089 f. 180 Magnus Striet, Ernstfall Freiheit. Arbeiten an der Schleifung der Bastionen, Freiburg u. a. 2018, 126. 181 Vgl. Magnus Striet, »Wie heute über Sünde reden? Zwischen Ballast und Befreiung«, in: Herder Korrespondenz 11 (2011), 568–572. 182 Vgl. Striet, Ernstfall Freiheit, 129. 175 176

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zum Bösen um der Freiheit willen »nicht als bloße Faktizität stehen lassen kann« 183 und deshalb das radikale Böse, wie oben deutlich wurde, zugleich als der Inklination zum Bösen zugrundeliegendes peccatum originarium bestimmt. 184 Auch Saskia Wendel reduziert Kants radikales Böse auf die Neigung zum Bösen. 185 Eine Freiheit, die in ihrer Wurzel von der Sünde bestimmt ist, könne nicht frei sein. 186 Saskia Wendel sieht in meinem Verständnis des peccatum originale einen »theologischen Determinismus« 187. Mit Hannah Arendt setzt sie voraus, dass das Böse nicht radikal sei. Das Böse resultiere aus der Ambivalenz der Neigungen und aus »Machtdiskursen und gesellschaftlichen Strukturen, die sich in das jeweilige Wollen und Begehren einschreiben« 188. »Theologisch folgt daraus, dass die Freiheit keineswegs als Ursprung und Quelle der Sünde anzusehen ist.« 189 Karl-Heinz Menke bezeichnet meine Interpretation des peccatum originale als »verstiegene Konstruktion«, als Versuch einer »Quadratur des Kreises« 190. »Denn entweder ist die sogenannte Ursünde eine transzendentale Größe. Dann liegt sie jedweder Geschichte voraus […] Oder die Ursünde ist im Sinne Augustins und des Trienter Konzils ein Ereignis in der Geschichte; dann ist es [sic!] keine transzendentale Größe.« 191

Dass es bei mir um ein Drittes geht, nämlich um die den Raum der Geschichte allererst eröffnende transzendentale Konstitution des Ich, kommt bei Menke nicht in den Blick. Deutlich wird dies an seiner Frage, »wessen subjekthafter Freiheitsvollzug« denn »Ursprung« 192 von Geschichte sei. Die Preisgabe eines historischen Sündenfalls am Anfang der Menschheitsgeschichte muss auch Meyer, Kants transzendentale Freiheitslehre, 173. Vgl. Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, 25 f.; 43. 185 Vgl. Wendel, In Freiheit glauben, 59. 186 Vgl. Wendel, In Freiheit glauben, 98. 187 Wendel, In Freiheit glauben, 98. 188 Wendel, In Freiheit glauben, 97. 189 Wendel, In Freiheit glauben, 97. 190 Menke, »Sünde und Gnade«, 24. 191 Menke, »Sünde und Gnade«, 24. 192 Menke, »Sünde und Gnade«, 24. 183 184

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nicht, wie Robert Spaemann (1927–2018) meint 193, zu einer Interpretation von Urstand und Fall als präexistenten Fall führen, wie wir sie bei Origenes finden. Wenn Markus Knapp schließlich eine »individualistische Verengung« 194 in meinem Sündenverständnis moniert, wird übersehen, dass das peccatum originale, wie es von mir bestimmt wird, eine Art Gattungsbestimmung meint und gerade nichts mit Individualismus zu tun hat. Knapp greift für sein eigenes Verständnis des peccatum originale auf die materialistische Geschichtsphilosophie Theodor W. Adornos (1911–1969) zurück und variiert damit nur den Topos von der »Sünde der Welt«. 195 Martin Luther hat das peccatum originale im Sinne einer Existenzbestimmung als peccatum radicale gedeutet, wodurch der augustinische Gedanke einer Erbschuld in den Hintergrund trat. Entscheidend ist: Die Sünde sitzt tiefer als die einzelne sündige Tat. 196 Das gnadentheologische Gegenstück zum peccatum radicale ist die reformatorische Lehre, dass die Rechtfertigung des Sünders sola gratia und mere passive erfolgt. Die Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre (GER) des Lutherischen Weltbundes und des Päpstlichen Rates zur Förderung der Einheit der Christen, die wie die Gemeinsame Offizielle Feststellung (GFR) einen »Konsens in Grundwahrheiten der Rechtfertigungslehre« 197 feststellt, erklärt zur Rechtfertigung des Sünders, dass Katholiken und Protestanten

Vgl. Robert Spaemann, »Über einige Schwierigkeiten mit der Erbsündenlehre«, in: Christoph Schönborn (Hrsg.), Zur kirchlichen Erbsündenlehre. Stellungnahme zu einer brennenden Frage, Freiburg 1991, 37–66, hier 48. 194 Knapp, »Die Erbsündenlehre als Aspekt einer Theologie der Geschichte«, 177. 195 Vgl. Knapp, Wahr ist nur, was nicht in diese Welt passt. Die Erbsündenlehre als Ansatzpunkt eines Dialogs mit Theodor W. Adorno, Würzburg 1983, 35–53; Knapp, »Die Erbsündenlehre als Aspekt einer Theologie der Geschichte«, 177–188. 196 Zu den Grundzügen der Sündenlehre Luthers vgl. Wenz, Die Sünde, 78–99. 197 Lutherischer Weltbund/Päpstlicher Rat zur Förderung der Einheit der Christen, Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre. Gemeinsame Offizielle Feststellung. Anhang (Annex) zur Gemeinsamen Offiziellen Feststellung, Paderborn 1999, 23 (GER Nr. 40), 39 (GFR Nr. 1). 193

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gemeinsam sagen können, dass die Rechtfertigung sola gratia 198 geschieht, denn »die Gnade ist es, die den Glauben schafft, nicht nur, wenn der Glaube neu im Menschen anfängt, sondern solange der Glaube währt« 199, auch wenn die Gnade Gottes das Handeln des Menschen nicht ausschließt. Gemeinsam können Protestanten und Katholiken den Gerechtfertigten auch als simul iustus et peccator verstehen. 200 Wenn Lutheraner betonen, dass der Sünder »die Rechtfertigung nur empfangen kann (mere passive), so verneinen sie damit jede Möglichkeit eines eigenen Beitrags des Menschen zu seiner Rechtfertigung, nicht aber sein volles personales Beteiligtsein im Glauben, das vom Wort Gottes selbst gewirkt wird« 201. Magnus Striet stuft die lutherische Rechtfertigungslehre als nicht modernitätsverträglich ein, weil sie unvereinbar sei mit dem von Kant formulierten Prinzip der Autonomie. 202 Auch Karl-Heinz Menke, Striets freiheitstheologischer Hauptkontrahent, dem der Freiburger Fundamentaltheologe anthropologischen Pessimismus vorwirft 203, lehnt Luthers Rechtfertigungslehre ab. Unter Bezugnahme auf die »New Perspective on Paul« (Ed Parish Sanders, James Dunn u. a.) 204 vertritt Menke die Auffassung, Pelagius (350/360– Vgl. GFR, Anhang C, 43. Thomas von Aquin, Summa theologiae II-II, q. 4, a. 4, ad 3. 200 Vgl. GFR, Anhang A, 42. 201 GER 21 (Nr. 16). – Zur Kritik und Rezeption der Rechtfertigungserklärung vgl. u. a.: Eberhard Jüngel, Das Evangelium von der Rechtfertigung des Gottlosen als Zentrum des christlichen Glaubens. Eine theologische Studie in ökumenischer Absicht, Tübingen 1998; Eberhard Jüngel, »Amica Exegesis einer römischen Note«, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche 95 (1998), 252–279; Bernd Jochen Hilberath, »Das Gemeinsame erkennen. Zu Eberhard Jüngels jüngster ›theologischer Studie in ökumenischer Absicht‹«, in: Herder Korrespondenz 53 (1999), 22–26; Bernd Jochen Hilberath/Wolfhart Pannenberg (Hrsg.), Zur Zukunft der Ökumene. Die »Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre«, Regensburg 1999; Bernd Obderdorfer/Thomas Söding (Hrsg.), Wachsende Zustimmung und offene Fragen. Die gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre im Licht ihrer Wirkung (Quaestiones Disputatae 302), Freiburg u. a. 2019. 202 Vgl. Striet, Ernstfall Freiheit, 106–130. 203 Vgl. Striet, Ernstfall Freiheit, 117. 204 Vgl. Ed Parish Sanders, Paulus und das Palästinische Judentum. Ein Vergleich zweier Religionsstrukturen, Göttingen 1985; James D. G. Dunn, Jesus, Paul and the Law, Westminster/Louisville KY 1990, 183–214. 198 199

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418/ 420) habe den Apostel Paulus besser verstanden als Augustinus oder Luther. 205 Mit dem britischen Laienmönch geht Menke davon aus, dass die menschliche Subjektivität in ihrer Wurzel von der Sünde nicht affiziert ist. Eine Rechtfertigung des Sünders sola gratia und mere passive sei ein Handeln Gottes an uns ohne uns. 206 Bernd Oberdorfer sieht in Menkes »Frontalangriff auf die lutherische Rechtfertigungslehre« ein Missverständnis. 207 Denn die Rechtfertigung geschieht durch den Glauben (Röm 3,20.28; Gal 2,16), der aber, obschon er Gabe ist, von uns vollzogen wird, so dass wir bei der Rechtfertigung nicht unbeteiligt sind. 208 Im deuteropaulinischen Brief an die Gemeinde in Ephesus heißt es: »Aus Gnade seid ihr durch den Glauben gerettet« (Eph 2,8). Wenn Luther über Paulus hinausgehend sagt, die Rechtfertigung geschehe sola fide, ist dies gegen alle Formen von Werkgerechtigkeit formuliert. Doch auch für Luther gilt, dass der Glaube durch die Liebe wirksam ist (Gal 5,6). Eberhard Jüngel spricht in diesem Zusammenhang von der caritas fide formata. Wenn er die an der lateinischen Übersetzung von Gal 5,6 gebildete Formel von der fides caritate formata kritisiert, ist zu beachten, dass er sich dabei nicht auf Thomas von Aquin (1224/ 5–1274), sondern auf das Konzil von Trient bezieht. 209 Zwar spricht auch Thomas von der fides caritate formata, doch wendet er sich

Vgl. Karl-Heinz Menke, Das Kriterium des Christseins. Grundriss der Gnadenlehre, Regensburg 2003, 65–75. 206 Vgl. Karl-Heinz Menke, »Rechtfertigung: Handeln Gottes an uns ohne uns? Jüdisch perspektivierte Anfragen an einen binnenkirchlichen Diskurs«, in: Catholica 63 (2009), 58–72. 207 Vgl. Bernd Oberdorfer, »›Ohne uns‹ ? Rhapsodische Anmerkungen zu Karl-Heinz Menkes Frontalangriff auf die lutherische Rechtfertigungslehre«, in: Catholica 63 (2009), 73–80; das gleiche Missverständnis findet sich bei Gunda Werner, »›… habe ich mich abgemüht für die Freiheit des menschlichen Willens, gesiegt aber hat die Gnade‹. Das mere passive als Stein des katholischen Anstoßes«, in: Oberdorfer/Söding (Hrsg.), Wachsende Zustimmung und offene Fragen, 35–53. 208 Vgl. Frederike Nüssel, »Wirksame Gnade. Eine lutherische Perspektive«, in: Oberdorfer/Söding (Hrsg.), Wachsende Zustimmung und offene Fragen, 135–149. 209 Vgl. Eberhard Jüngel, Das Evangelium von der Rechtfertigung des Gottlosen als Zentrum des christlichen Glaubens, 211 f. 205

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damit gegen einen Glauben ohne Gottesliebe. 210 Dabei ist zu beachten, dass Thomas vom Glauben als Akt des Verstandes, als Zustimmung zu Gottes geoffenbartem Wort 211 ausgeht, damit aber den Glaubensbegriff gegenüber seiner biblischen Verwendung einengt. Doch Thomas bestreitet nicht die Rechtfertigung sola fide. In seiner Tugendlehre findet sich sogar eine Formulierung, die Luthers mere passive durchaus ähnlich ist: Vom Glauben wie von den anderen beiden göttlichen Tugenden (virtutes theologiciae) der Hoffnung und der Liebe sagt er im Anschluss an Augustinus, dass sie »Gott in uns ohne uns bewirkt« 212 – im Unterschied zu den von uns erworbenen Tugenden (virtutes acquisitae). 213 Mag auch die Kategorie der Kausalität, die bei Thomas mit der gratia efficax verbunden ist, für eine Theologie der begnadeten Freiheit ungeeignet sein, so handelt es sich beim rechtfertigenden Glauben, der durch Gottes Gnade hervorgerufen wird, für Thomas nicht um einen Vollzug aus eigener Kraft. Aus ökumenischen Gründen sollte man in der Frage der Rechtfertigung des Sünders daher auch nicht mehr nicht die falsche Alternative zwischen »Eigenwirksamkeit der menschlichen Freiheit« contra »Ergriffensein durch Gottes Gnade« 214 aufmachen. Nötig ist es, »sowohl die Aktivität als auch die Passivität des menschlichen Freiheitsvollzugs in den Blick« 215 zu nehmen. Das sola gratia und das mere passive der Rechtfertigung bringen die unbedingte Gratuität der Gnade zum Ausdruck. Die Rechtfertigung geschieht in jeder Hinsicht umsonst. Im Anschluss an Luther bestimmt Dalferth Vgl. Thomas von Aquin, De veritate, q. 4, a. 3c. Vgl. Thomas von Aquin, Summa theologiae II–II, q. 2, a. 1c. 212 Thomas von Aquin, Summa theologiae I–II, q. 55, a. 4c: »in nobis sine nobis operatur«; vgl. q. 63, a. 2c. 213 Darauf hat Dalferth in seiner Studie zur Sünde aufmerksam gemacht (vgl. Dalferth, Sünde, 161). 214 Magnus Lerch, »Freiheit des Menschen und Wirksamkeit der Gnade – Verbindung von transzendentaler und existentieller Perspektive in gnadentheologischer Absicht«, in: Langenfeld/Lerch, Anthropologie, 213–243, hier 213; vgl. auch Magnus Lerch, »Gnade und Freiheit – Passivität und Aktivität. Anthropologische Perspektiven auf ein ökumenisches Grundproblem«, in: Internationale Katholische Zeitschrift Communio 45 (2016), 408–425. 215 Lerch, »Freiheit des Menschen und Wirksamkeit der Gnade«, 213. 210 211

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sie als Gabe, die wir in »kreativer Passivität« 216, wir könnten auch von hinnehmender Passivität sprechen, als Geschenk empfangen. Das sola gratia und das mere passive der Rechtfertigung haben ihre Voraussetzung in der wurzelhaften Verschlossenheit des Sünders gegenüber Gott. Der Sünder kann sich aus der Herrschaft der Sünde nicht aus eigener Kraft befreien. Nicht dass der Sünder am Glauben, den Gottes wirksames Wort in ihm hervorruft, nicht beteiligt wäre. Doch bringt er zu seiner Rechtfertigung nichts anderes mit als seine der Erlösung bedürftige Freiheit, weshalb es bei der Rechtfertigung entscheidend ist, dass der Sünder, der zum Glauben kommt, sich als jemanden vorfindet, der von der Gnade ergriffen, dessen Herz von Gottes Geist und Liebe berührt ist. 217 Richtig ist, dass Luther in seiner Schrift De servo arbitrio (1525) in überzogener Weise und mit teilweise deterministisch wirkenden Bildern den in der Sünde »gefangenen« bzw. »unfreien« Willen herausgestellt hat. Die Bedeutung der Schrift, die Luther als seine 216 Vgl. dazu ausführlich Ingolf U. Dalferth, Umsonst. Eine Erinnerung an die kreative Passivität des Menschen, Tübingen 2011, 50–91 (»Mere Passive. Die Passivität der Gabe bei Luther«); mir scheint allerdings, dass Dalferth bei der Passivität der Gabe nicht genügend zwischen der kreatürlichen Passivität des Menschen als Geschöpf und seiner Passivität als Sünder unterscheidet, wenn er die Neuschöpfung des Menschen als eine Art creatio ex nihilo auffasst. 217 Vgl. zum freiheitstheoretischen Ansatz in der Gnadenlehre Christine Axt-Piscalar, »Die Crux der Freiheit. Systematisch-theologische Anmerkungen aus evangelischer Sicht«, in: Ökumenische Rundschau 62 (2013), 54–63. – Das Konzil von Trient formuliert in seinem Dekret über die Rechtfertigung: »Wenn also Gott durch die Erleuchtung des Heiligen Geistes das Herz des Menschen berührt, tut der Mensch selbst, wenn er diese Einhauchung aufnimmt (inspirationem recipiens), weder überhaupt nichts – er könnte sie ja auch verschmähen –, noch kann er sich andererseits ohne die Gnade Gottes durch seinen freien Willen auf die Gerechtigkeit vor ihm zubewegen (ad iustitiam coram illo libera sua voluntate possit) (DH 1525).« Die Verurteilung der gnadentheologischen Aussage des mere passive (DH 1554) setzt voraus, dass der Wille sich bei der Rechtfertigung wie etwas Lebloses verhält. In der Disputatio de homine (1536) spricht Luther vom Menschen als »Gottes bloßer Stoff« (Lateinisch-Deutsche Studienausgabe, Bd. 1, ed. Härle, 669). In der Konkordienformel (1577) findet sich die Vorstellung, der Wille werde wie ein Klotz oder ein Stein von Gott bearbeitet (vgl. Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche, Göttingen 121998, 894 f.).

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Die Macht des Bösen. Noch einmal zum »peccatum originale«

wichtigste ansah, besteht aber darin, dass sie wie keine andere deutlich macht, dass sich der Wille nicht aus eigener Kraft aus der Gefangenschaft der Sünde befreien kann, sondern die Freiheit, zu der Christus uns befreit hat (Gal 5,1), vor allem ein Geschenk Gottes ist. 218 Das mere passive darf nicht im Sinne einer unfehlbaren Alleinwirksamkeit Gottes verstanden werden. 219 In der wurzelhaften Sünde des peccatum radicale liegt schließlich auch der Grund für die theologische Legitimität der Formel simul iustus et peccator, »gerecht und Sünder zugleich«. Die Macht des Bösen ist durch Jesus Christus gebrochen, aber nicht vollständig eliminiert. Was die bleibende Sündhaftigkeit des Gerechtfertigten betrifft, holt das Konzil von Trient nicht ein, was man etwa mit Thomas von Aquin dazu hätte sagen lassen können. Thomas unterscheidet zwischen der Konkupiszenz als Materie des peccatum originale, die selbst Sünde genannt werden könne, da sich im selbstsüchtigen Begehren zeige, was es mit der Ursünde auf sich habe, und dem Verlust der Urstandsgerechtigkeit als Form des peccatum originale. 220 Die Distinktion des Trienter Konzils zwischen der Konkupiszenz, die nicht selbst Sünde ist, sondern Zunder der Sünde (fomes peccati), und der Sünde (peccatum) 221, hätte wohl weder Paulus noch Augustinus verstanden. Sie läuft Gefahr, das selbstsüchtige Begehren nur noch als eine Folge, nicht aber als Ausdruck von Sünde zu verstehen, weshalb sie unter den Konzilsvätern auch durchaus umstritten war. 222 Die Formel simul iustus et peccator bedeutet keinen inneren Widerspruch. Denn schaut der Gerechtfertigte auf Gott in seinem Handeln an ihm, weiß er, dass er in Christus gerecht geVgl. Jürgen Werbick, »›Zur Freiheit hat uns Christus befreit‹ (Gal 5,1). Was Luthers Widerspruch gegen Erasmus einer theologischen Theorie der Freiheit heute zu denken gibt«, in: Böhnke u. a. (Hrsg.), Freiheit Gottes und der Menschen, 41–69. 219 Vgl. Lerch, »Freiheit des Menschen und Wirksamkeit der Gnade«, 234. 220 Vgl. Thomas von Aquin, Summa Theologiae I–II, q. 82, a. 3; Thomas von Aquin, De malo, q. 4, a. 2; darauf geht Dalferth in seinen Ausführungen zur Sündenlehre des Thomas nicht ein (vgl. Dalferth, Sünde, 154–168). 221 Vgl. DH 1515. 222 Vgl. Peter Walter, »Die bleibende Sündhaftigkeit des Getauften in den Debatten und Beschlüssen des Trienter Konzils«, in: Theodor Schneider/ Gunter Wenz (Hrsg.), Gerecht und Sünder zugleich? Ökumenische Klärungen (Dialog der Kirchen 11), Göttingen 2001, 268–302. 218

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macht wurde. Schaut er aber auf sich selbst, so entdeckt er in sich die Persistenz des selbstsüchtigen Begehrens, das durch den Glauben zwar beherrscht, in statu viae aber niemals vollständig überwunden werden kann. Doch mit der Rechtfertigung des Sünders ist die Verheißung verbunden, von der Macht des Bösen, in uns wie außer uns, einmal gänzlich befreit zu sein. Bis dahin beten wir im »Vater unser« sed libera nos a malo.

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Weitere Abhandlungen

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Religion und Reflexion. Ein Versuch über Ideologie und Religion bei Martin Heidegger und seinen Schülern Karl Löwith und Bernhard Welte Martin Heidegger’s commitment to National Socialism had not only political but also philosophical reasons. This becomes obvious in his theory of the Seinsgeschichte. On the other hand, the reception of this theory by Karl Löwith and Bernhard Welte remains free of any National Socialist ideas. The origin of this astonishing circumstance lies in the relationship to religion. Heidegger’s Seinsgeschichte shows what happens when a theory remains naive to its religious structure. It is losing its epistemic character and pushing into the political sphere. The philosophies of history of Löwith and Welte are completely different in their relationship to religion, but both are reflecting on this different relationship, for it is not the affirmation or denial of religion that determines its political ideologization, but the self-reflection of philosophical and theological theories on their explicit or implicit religiosity.

Martin Heidegger stellt seine Interpreten vor ein Rätsel. Einerseits gilt er als einer der bedeutendsten Philosophen des 20. Jahrhunderts, andererseits verstrickt er sich wissentlich und willentlich in die Ideologie 1 des Nationalsozialismus, so dass man sich mit Jürgen Habermas fragen muss, »wie […] ein Denker dieses Ranges in einen so offenbaren Primitivismus verfallen konnte« 2. Durch die Veröffentlichung seiner Denktagebücher Schwarze Hefte wird noch einmal deutlich, dass es sich bei Heideggers Unterstützung des Nationalsozialismus nicht nur um eine politische Verirrung handelte, Unter Ideologie wird ein negativ konnotiertes Ideensystem oder eine Weltanschauung verstanden, die eine soziale und politische Wirksamkeit entwickelt, sich aber gegenüber Kritik verschlossen zeigt (vgl. Peter Tepe, Ideologie, Berlin 2012, 14–16). 2 Jürgen Habermas, »Martin Heidegger. Zur Veröffentlichung von Vorlesungen aus dem Jahre 1935« (1953), in: Jürgen Habermas, Philosophisch-politische Profile, Frankfurt a. M. 1981, 65–72, hier 65. 1

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sondern auch um eine philosophische Angelegenheit, da sich »aus der vollen Einsicht in die frühere Täuschung über das Wesen und die geschichtliche Wesenskraft des Nationalsozialismus […] erst die Notwendigkeit seiner Bejahung« ergebe, und zwar, so Heidegger noch 1938/39, »aus denkerischen Gründen« 3. So zeigen die Schwarzen Hefte der 1930er Jahre, wie das Denken Heideggers nach Sein und Zeit Philosophie und Politik zu verbinden sucht mit der Konzeption der Seinsgeschichte, deren negative Seite sich in politischen Ideologemen ausdrückt. 4 Angesichts dieser verhängnisvollen Verstrickung von philosophischer Theorie und politischer Ideologie irritiert ein Blick auf Heideggers Schüler Karl Löwith und Bernhard Welte. Denn beide rezipieren mehr oder weniger kritisch die Konzeption der Seinsgeschichte, ohne sich aber deren negative Seite zu eigen zu machen, so dass ihre jeweiligen Konzeptionen frei bleiben von nationalsozialistischem Gedankengut. In ihrem Freisein von jeder NS-Ideologie machen diese Rezeptionen nun einerseits aufmerksam auf bestimmte Umstände, die eine Pervertierung philosophischer Theorien begünstigen, und eröffnen andererseits mögliche Immunisierungsstrategien gegen eine solche Entwicklung. Daher gilt es, im Anschluss an eine Betrachtung von Heideggers Seinsgeschichte und ihrer politischen Ausdeutung (1), die jeweiligen Aneignungen von Löwith und Welte (2) zu untersuchen, um in diesen differierenden Interpretationen strukturelle Gemeinsamkeiten zu erkennen, die sie davor bewahrten, politisch-ideologisch zu werden (3).

1. Verhängnisvolle Seinsgedanken »Das Denken, gehorsam der Stimme des Seins, sucht diesem das Wort« 5 – das Seinsdenken, die Suche nach der Einheitlichkeit des Martin Heidegger, »Überlegungen XI«, in: Martin Heidegger, Überlegungen VII–XI (Schwarze Hefte 1938/39) (GA 95), hrsg. von Peter Trawny, Frankfurt a. M. 2014, 357–446, hier 408. 4 Vgl. Marion Heinz, »Einleitung. Die neue Heidegger-Debatte«, in: Marion Heinz/Sidonie Kellerer (Hrsg.), Martin Heideggers ›Schwarze Hefte‹. Eine philosophisch-politische Debatte, Berlin 2016, 9–39, hier 10, 27. 5 Martin Heidegger, Was ist Metaphysik?, Frankfurt a. M. 162007, 54. 3

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Seinsbegriffs, darf als Martin Heideggers philosophisches Grundanliegen bezeichnet werden. Sein als Geschick bzw. als Geschichte zu denken, entwickelt sich bei ihm aus der Aporie des Begriffs Geschichtlichkeit, die sich in Sein und Zeit auftut. Denn einerseits ist das Dasein das primär Geschichtliche und »der verborgene Grund der Geschichtlichkeit« 6 – unvertretbar und niemals allgemein. Andererseits erscheint gerade die Geschichtlichkeit als eine allgemeine Bestimmung des menschlichen Wesens. 7 Geschichtlichkeit kann daher nur aus einer existentiellen Zeitlichkeit als »existentiale Konstruktion der Geschichte« 8 verstanden werden, die einem traditionellen Geschichtsverständnis widerspricht. Zwar versucht Heidegger durch Vermittlungsbegriffe wie »Schicksal«, »Erbe« oder »Treue« 9, das einzelne Dasein und die Weltgeschichte sinnkonstitutiv zu verbinden, wie er auch durch die Einführung des Begriffs »Volk« von der Eigentlichkeit des Einzelnen zur Gemeinsamkeit und Gesellschaft gelangen möchte, was aber letztlich unbefriedigend und kritikwürdig bleibt. 10 So gibt er nach Sein und Zeit mit dem seinsgeschichtlichen Denken dem Sein den Vorrang, aus dem Geworfenheit und Entwurf des Daseins stammen. 11

Martin Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen 192006, 386. Vgl. Karlfried Gründer, »M. Heideggers Wissenschaftskritik in ihren geschichtlichen Zusammenhängen«, in: Archiv für Philosophie 11 (1961), 312–335, hier 323 f. 8 Heidegger, Sein und Zeit, 376. 9 Heidegger, Sein und Zeit, 383 f., 391. 10 Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, 384 f.; Thomas Rentsch, »›Sein und Zeit‹. Fundamentalontologie als Hermeneutik der Endlichkeit«, in: Dieter Thomä (Hrsg.), Heidegger-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart 22013, 48–74, hier 68, 72; Hans-Helmuth Gander, »Existenzialontologie und Geschichtlichkeit (§§ 72–83)«, in: Thomas Rentsch (Hrsg.), Martin Heidegger. Sein und Zeit, Berlin 22007, 229–251, hier 239–246. 11 Der Vorrang des Seins gegenüber dem Dasein als dem veränderten Fundament und Ausgangspunkt von Heideggers Argumentation gegenüber Sein und Zeit lässt sich im Grundsatz auch durch eine differenzierte Darstellung der Bezüge nicht in Frage stellen und letztlich sogar gegen Heideggers spätere Selbstauslegung verteidigen (vgl. Winfried Franzen, Von der Existenzialontologie zur Seinsgeschichte. Eine Untersuchung über die Entwicklung der Philosophie Martin Heideggers (Monographien zur philosophischen Forschung 132), Meisenheim 1975, 24–28). 6 7

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1.1 Seinsgeschehen und Seingeschichte Dieses vorgeordnete Sein schwankt aber zwischen zwei Möglichkeiten: Entweder ist es ein subjektloses Geschehen – »nur solange die Lichtung des Seins sich ereignet, übereignet sich Sein dem Menschen« 12 – oder eine dem Menschen irgendwie gegenüberstehende wirkende Macht subjekthafter Art, die den Menschen in Anspruch nimmt – »[…] gehorsam der Stimme des Seins« 13. Ambivalent zeigt sich auch das Verhältnis des Menschen zum Sein. Denn bei aller Unverfügbarkeit des Seins bleibt der Mensch absolut darauf angewiesen, 14 obwohl er als »Hirt des Seins« die »Wahrheit des Seins« 15 hütet, und zwar als Da des Seins vom Sein selbst in dieses Da-sein geschickt. 16 Sein wird also als Geschick bzw. als Geschichte verstanden, da die »Seinsgeschichte […] weder die Geschichte des Menschen […] noch die Geschichte des menschlichen Bezugs zum Seienden und zum Sein [ist]. Die Seinsgeschichte ist das Sein selbst« 17, was eine metahistorische Sicht der Geschichtlichkeit des Seins bedeutet, die von allen Vorgaben, besonders den theologischen, befreit ist. Das Sein selbst werde daher zum absoluten Subjekt der Geschichte, was den Menschen vom Sein und dessen freien Setzungen vollkommen abhängig mache und die Menschheitsgeschichte gründe. 18 Die Seinsgeschichte geschieht dabei als Abfolge verschiedener Epochen, die jeweils ein neues Gefüge bringen, das Martin Heidegger, »Brief über den ›Humanismus‹«, in: Martin Heidegger, Wegmarken (GA 9), hrsg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Frankfurt a. M. 1977, 313–364, hier 336. 13 Martin Heidegger, »Nachwort zu: ›Was ist Metaphysik‹«, in: Martin Heidegger, Wegmarken (GA 9), 303–312, hier 311. 14 Vgl. Heidegger, »Brief über den ›Humanismus‹«, 314. 15 Heidegger, »Brief über den ›Humanismus‹«, 331. 16 Vgl. Heidegger, »Brief über den ›Humanismus‹«, 336; Martin Heidegger, Grundfragen der Philosophie. Ausgewählte ›Probleme‹ der ›Logik‹ (GA 45), hrsg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Frankfurt a. M. 1984, 214; Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Wege ins Ereignis. Zu Heideggers ›Beiträgen zur Philosophie‹, Frankfurt a. M. 1994, 83. 17 Martin Heidegger, Nietzsche. Zweiter Band (GA 6.2), hrsg. von Brigitte Schillbach, Frankfurt a. M. 1997, 447. 18 Vgl. Franzen, Von der Existenzialontologie zur Seinsgeschichte, 109– 113, 120, 123, 125. 12

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Seiendes auf neue Art in Beziehung setzt. Als Relationsstruktur bestimmt das universale Sein sowohl das Wesen jedes einzelnen Seienden als auch den Gesamtzusammenhang alles Seienden, was sich für Heidegger in drei Hauptepochen gliedert: »Aufgang, Machenschaft, Ereignis sind die Geschichte des Seyns, indem sie das Wesen der Geschichte aus der erstanfänglichen Verborgenheit […] befreien, das Zukünftige als die Gründung der Lichtung des Austrags voraus- und auf die Wahrheit des Seyns zudenken.« 19

Das Zeitalter des Ereignisses überwindet die Machenschaft und damit die Seinsvergessenheit der Metaphysik, da im neuen Äon die Trennung zwischen dem Dasein und den Bezügen des Seins aufgehoben werde, so dass »der Mensch als Da-sein vom Seyn als dem Ereignis er-eignet [wird] und so zugehörig zum Ereignis« 20 sei. Denn das Ereignis ist »jener Gegenschwung von Seyn und Dasein, in dem beide nicht vorhandene Pole sind, sondern die reine Erschwingung selbst« 21. Diese Seinsgeschichte 22 trägt daher einen teleologischen Charakter, wenn es Heidegger darauf ankommt, dass das »bisherige Wesen des Seins […] in seine noch verhüllte Wahrheit unter[geht]« 23, so dass sich durch diese Finalität der Seinsgeschichte die Frage nach der Eigentlichkeit des Daseins in die Frage nach dem Sinn der Geschichte transformiert. 24

Martin Heidegger, »Entwurf zu Κοινόν. Zur Geschichte des Seyns«, in: Martin Heidegger, Die Geschichte des Seyns (GA 69), hrsg. von Peter Trawny, Frankfurt a. M. 1998, 199–214, hier 213. 20 Martin Heidegger, Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis) (GA 65), hrsg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Frankfurt a. M. 21994, 256. 21 Heidegger, Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 286 f. 22 Zu Epochen und Seinsgeschichte vgl. Mark A. Wrathall, »Seinsgeschichte. Vom ›Aufgang‹ zum ›Ereignis‹«, in: Dieter Thomä (Hrsg.), HeideggerHandbuch. Leben-Werk-Wirkung, Stuttgart 22013, 328–335, hier 331, 334. 23 Martin Heidegger, »Der Spruch des Anaximander« (1946), in: Martin Heidegger, Holzwege (GA 5), hrsg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Frankfurt a. M. 1977, 321–373, hier 327; vgl. Franzen, Von der Existenzialontologie zur Seinsgeschichte, 123. 24 Vgl. Gründer, »M. Heideggers Wissenschaftskritik in ihren geschichtlichen Zusammenhängen«, 328 f. 19

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1.2 Seinsgeschichte: Von der Metaphysik zur Metapolitik Als Texte der Selbstverständigung zeigen die Schwarzen Hefte Heideggers Bestreben in den 1930er Jahren, die philosophische Konzeption der Seinsgeschichte mit politischer Macht zu verknüpfen und als Metapolitik zu entfalten: 25 »Die Metaphysik des Daseins muß sich nach ihrem innersten Gefüge vertiefen und ausweiten zur Metapolitik ›des‹ geschichtlichen Volkes.« 26 Für Heidegger ist Metapolitik das Denken der Seinsgeschichte, und zwar in der Hinsicht, dass das Denken sich in der Seinsgeschichte ereigne, um die »Verwandlung des Seienden aus dem ermächtigten Sein« 27 zu ermöglichen. Für Heidegger gewährt eine seinsgeschichtliche Interpretation realgeschichtlicher Gegebenheiten einen Zusammenhang von Praxis, dem Denken als Metapolitik und dem Seinsgeschehen. Denn diese Konstellation erlaube es, eine dem Seinsgeschehen entsprechende konkrete Politik zu entwerfen. Die Metapolitik habe dazu einem Volk seine ursprüngliche geschichtliche Rolle zuzuweisen, die darin bestehe, das seinsgeschichtlich bestimmte Schicksal zu übernehmen. Dazu verortet Heideggers Metapolitik das Ordnungsprinzip des Politischen in der Geschichte des Seins, da »das innerste gestaltende Gesetz eines geschichtlichen Volkes« 28 vom Sein als Auftrag gewiesen werde: 29 »Der Auftrag – keine machtlose ›Idee‹, die wir zuweilen denken, kein schwebendes

Vgl. Silvio Vietta, »Prophet Heidegger. Sprechform und Botschaft eines Apokalyptikers des 20. Jahrhunderts«, in: Alfred Denker/Holger Zaborowski (Hrsg.), Zur Hermeneutik der ›Schwarzen Hefte‹, Freiburg i. Br. 2017, 11–25, hier 14. 26 Martin Heidegger, »Überlegungen und Winke III«, in: Martin Heidegger, Überlegungen II-VI (Schwarze Hefte 1931–1938) (GA 94), hrsg. von Peter Trawny, Frankfurt a. M. 2014, 107–203, hier 124. 27 Martin Heidegger, »Winke X Überlegungen (II) und Anweisungen«, in: Martin Heidegger, Überlegungen II–VI (Schwarze Hefte 1931–1938) (GA 94), 3–105, hier 45. 28 Martin Heidegger, »Überlegungen IV«, in: Martin Heidegger, Überlegungen II–VI (Schwarze Hefte 1931–1938) (GA 94), 205–309, hier 287. 29 Vgl. Marion Heinz, »Seinsgeschichte und Metapolitik«, in: Marion Heinz/Sidonie Kellerer (Hrsg.), Martin Heideggers ›Schwarze Hefte‹, 122–143, hier 126 f., 129. 25

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Bild, das wir bislang anschauen, sondern was dem Dasein – in seinem Grunde – zu tragen aufgegeben« 30. Ein geschichtliches Volk habe daher den seinsgeschichtlichen Auftrag, zu sich selbst zu kommen und dadurch einen neuen Anfang des Denkens zu ermöglichen, 31 so dass es nicht um eine überzeitliche Wahrheit, sondern um das Selbstsein des geschichtlichen Volkes gehe, das »bodenständig und bindekräftig« 32 werden solle. In diesem Geschehen übernähme das geschichtliche Volk die Wahrheit des Seins und verwandele dadurch die Gleichgültigkeit der Faktizität in einen sinnhaften geschichtlichen Zusammenhang, indem der Auftrag des Seins »Blut und Boden zu Handlungsbereitschaft und Wirk- und Werkfähigkeit« 33 öffne und binde. Blut und Boden sind für Heidegger ethnische wie territoriale Determinanten des Selbstseins, die dem Dasein des Volkes unverfügbar vorausliegen, doch zugleich ermöglichend und bestimmend sind für das geschichtliche Volk. 34 Denn das geschichtliche Volk gründe einerseits in der Seinsgeschichte und andererseits in den konkreten Mächten des Faktischen. Die Wahrheit des Seins beseitige daher alles Ideale und entfalte sich im Historisch-Faktischen, da in der Metapolitik nur ein von Blut und Boden definiertes Volk eine Ordnung von der Wahrheit des Seins empfangen und allen nihilistischen Verfallsformen trotzen könne. Bereits in dieser Grundlegung entbirgt sich in Heideggers seinsgeschichtlichem Denken eine verhängnisvolle Korrelation zwischen Seinsgeschichte und nationalsozialistischer Ideologie. Denn Heidegger denkt einen »geistigen Nationalsozialismus« 35, dessen Seinsgeschehen sich in die Geschichtlichkeit des

Heidegger, »Überlegungen und Winke III«, 113; vgl. Takao Todoroki, »Was bedeuten Heideggers Äußerungen über das Judentum in den Schwarzen Heften?«, in: Alfred Denker/Holger Zaborowski (Hrsg.), Zur Hermeneutik der ›Schwarzen Hefte‹, 130–147, hier 133 f. 31 Vgl. Heidegger, »Überlegungen und Winke III«, 109. 32 Heidegger, »Winke X Überlegungen (II) und Anweisungen«, 58. 33 Heidegger, »Überlegungen und Winke III«, 127. 34 Zur Problematik von »Blut und Boden« vgl. Frans van Peperstraten, »Der Nazismus-Vorwurf: Wo wird das Denken zur Ideologie?«, in: Alfred Denker/Holger Zaborowski (Hrsg.), Heidegger und der Nationalsozialismus, Freiburg i. Br. 2009, 281–297, hier 286–291. 35 Heidegger, »Überlegungen und Winke III«, 136. 30

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Daseins bzw. das Selbstsein des Volkes umformt, um durch dieses Volk eine neue politische Ordnung hervorzubringen. 36 Heidegger geht es um die Einheit von Sein, Denken und Realgeschichte, um damit die Dualität von Faktischem und Sinn, von Wirklichem und Norm zu überwinden und das Faktische in den sich ereignenden geschichtlichen Sinn einzutragen. Das Seinsgeschehen ermöglicht den Sinn von Seiendem, bildet dabei aber keine eigene Sphäre des Normativen, sondern geht im historisch-faktischen Geschehen auf. Das philosophische Denken als Metapolitik wird zur Vermittlung zwischen dem Geschehen des Seins und der Realgeschichte, um beide als Momente eines Geschehens in die Einheit zu vermitteln, da das Denken selbst durch dieses Geschehens bedingt und in ihm wirksam ist: »So erwirkt das Philosophieren die innere Steigerung des Seinsgeschehens und damit des Daseins in seiner Weite und Tiefe.« 37 Steigerung bedeutet, dass die Macht des Seins als Grund von Sinn in seiner Wirksamkeit freigesetzt und so von Hindernissen befreit werde. Dazu ist für Heidegger zuerst das logisch-begriffliche Denken zu beseitigen, da nicht abstrakte Prinzipien der Vernunft, sondern der geschichtliche Sinn von Sein leitend sein müsse, worin ein Volk seinen konkreten Sinn finden soll: »Das ›Vaterland‹ ist das Seyn selbst, das von Grund aus die Geschichte eines Volkes als eines daseienden trägt und fügt« 38. Denn Geschehen des Seins hat keine materialen Sinngehalte und keinen bestimmten Inhalt, so dass das seinsgeschichtliche Denken an das Faktische verwiesen bleibt, das seinsgeschichtlich zu interpretieren ist, um aus dieser Interpretation Inhalte und Orientierung zu gewinnen. Das Seinsgeschehen sichert aber mit seiner inhaltlichen Unbestimmtheit gerade keine Neutralität oder Toleranz, sondern liefert letztlich die ontologische Begründung und den konzeptionellen Rahmen einer radikalen politischen und ideologischen Ausrichtung: 39

Vgl. Heinz, »Seinsgeschichte und Metapolitik«, 134–137. Heidegger, »Winke X Überlegungen (II) und Anweisungen«, 29. 38 Martin Heidegger, »›Germanien‹«, in: Martin Heidegger, Hölderlins Hymnen ›Germanien‹ und ›Der Rhein‹ (GA 39), hrsg. von Susanne Ziegler, Frankfurt a. M. 21989, 9–151, hier 121. 39 Vgl. Heinz, »Seinsgeschichte und Metapolitik«, 139 f. 36 37

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Heideggers ethnische Fixierung des Seinsgeschehens bringt eine Hierarchie der Völker mit sich, so dass ein völkisches und antiuniversalistisches Verständnis bestimmend ist, besonders da das deutsche Volk – für Heidegger das einzige geschichtliche Volk 40 – als der fundamentale seinsgeschichtliche Maßstab von Metapolitik in Erscheinung tritt. Der Bezug des Volkes zum Sein bestimmt die Rangfolge der Völker und darüber, wer das Subjekt der Geschichte sei. Dieser Grund des Seinsgeschehens, der dem deutschen Volk seinen geschichtlichen Sinn gäbe und sich in seiner Verwurzelung von Blut und Boden zu manifestieren hätte, dürfe und könne aber nicht logisch-begrifflich gefasst werden. Aus dieser Aufgabe rationaler Prinzipien folgt, sich »in die ursprünglichen Mächte überlieferungshaft binden« 41 zu müssen, also sich sowohl dem Sein als auch Blut und Boden hinzugeben, was jeglicher vernunftgemäßen Rechtfertigung oder Begründung entbehrt. Im Kontext der 1930er Jahre macht Heidegger diese Konzeption erschreckend konkret, wenn das politische Gefüge des deutschen Volkes keine demokratische Verfasstheit haben dürfe, sondern nur eine Struktur von Führer und Gefolgschaft seinsgemäß sein könne, da sich der Befehl, ein Volk zu sein, in zwei Aufträge teile, aus denen sich eben die Teilung des Volkes in Führer und seine Gefolgschaft ergebe: »Wie durch Führen und Folgen – der höchste Auftrag in Staat und Volk verteilt, verwoben und je beiwürfig vereinzelt wird.« 42 Diese Konkretion fördert das gefährliche und ideologische Potenzial von Heideggers Seinsdenken unübersehbar zu Tage. Die Preisgabe der Rationalität zugunsten der »vorwaltenden Klarheit des Begriffs« und der »kämpferische[n] Freigabe des Unbegreifbaren« 43 macht jeglichen Diskurs unmöglich, was dazu führt, dass bestimmte Inhalte absolut gesetzt werden, selbst wenn sie sich aus der Seinsgeschichte nicht Vgl. Heidegger, »Winke X Überlegungen (II) und Anweisungen«, 27: »Der Deutsche allein kann das Sein ursprünglich neu dichten und sagen […]«; Hassan Givsan, »Geschichtsgründung als Heideggers Grundwille und Heideggers Hermeneutik als Gewalt«, in: Marion Heinz/Tobias Bender (Hrsg.), Sein und Zeit neu verhandelt. Untersuchungen zu Heideggers Hauptwerk, Hamburg 2019, 299–334, hier 322–326. 41 Heidegger, »Überlegungen und Winke III«, 126. 42 Heidegger, »Überlegungen und Winke III«, 113. 43 Heidegger, »Winke X Überlegungen (II) und Anweisungen«, 29. 40

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mit Sicherheit deduzieren lassen. Die Beziehung von Seinsgeschehen und Weltgeschichte lässt sich nicht in allgemeine Bestimmungen fassen, sondern Heidegger selbst setzt diese Verbindungen und führt die konkreten nationalsozialistischen Inhalte in das Geschehen der Seinsgeschichte ein. 44 Doch diese Ideologie findet bei Heidegger nicht nur den Weg in die Philosophie, sondern deren Ideologeme – wie völkischer Nationalismus, Hierarchie der Völker, antidemokratischer Führerstaat und unbedingte Gefolgschaft – werden letztlich im seinsgeschichtlichen Denken philosophisch legitimiert.

2. Die Rezeption der Schüler – Nähe und Distanz Angesichts dieser Charakterisierung von Heideggers problematischer Konzeption der Seinsgeschichte wirkt die Rezeption seiner Schüler umso erstaunlicher. Dabei schärft der Fokus auf die Differenz in der Art der Auseinandersetzung bei Löwith und Welte die Konturen der Problemlage und hilft zu erkennen, wodurch ein Denken pervertiert, aber auch vor einer solchen Transformation bewahrt werden kann und wie diese Problematik originär die Frage nach Religiosität berührt.

2.1 Karl Löwith – Auseinandersetzung in kritischer Distanz »Ich […] erklärte ihm, daß […] ich der Meinung sei, daß seine Parteinahme für den Nationalsozialismus im Wesen seiner Philosophie läge. Heidegger stimmte mir ohne Vorbehalt zu, daß sein Begriff von der ›Geschichtlichkeit‹ die Grundlage für seinen politischen ›Einsatz‹ sei. Er ließ auch keinen Zweifel über seinen Glauben an Hitler; […] Er war nach wie vor überzeugt, daß der Nationalsozialismus der vorgezeichnete Weg sei; man müsse nur lange genug ›durchhalten‹.« 45

Vgl. Heinz, »Seinsgeschichte und Metapolitik«, 139–142. Karl Löwith, Mein Leben in Deutschland vor und nach 1933. Ein Bericht, Stuttgart 1986, 57.

44 45

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Karl Löwith, dessen jüdische Abstammung ihn ins Exil zwang, war wohl der kritischste Schüler des Seinsdenkers, der schon in seiner Habilitationsschrift 1928 mit der Reflexivität des sozialen Handelns und ihrer Betonung des Miteinanderseins und -sprechens sich deutlich von der existentialen Auszeichnung der Vereinzelung bei Heidegger abhebt. 46 Dies führt Löwith, besonders in seiner Konzeption der Anthropologie ab 1935, 47 zu einer fundamentaleren Kritik hinsichtlich der geschichtlichen Existenz des Menschen. Gerade darin liegt die theoretische Grundlage der nationalsozialistischen Wirklichkeitsdeutung Heideggers, die ihn zu politischem Handeln herausforderte, wie die zitierten Erinnerungen Löwiths an ein Treffen mit ihm 1936 in Rom belegen. 48 Die Wurzel der ideologischen Problematik findet Löwith aber nicht erst bei Martin Heidegger, sondern er identifiziert deren Ursprung in einem Grundfehler jeder Geschichtsphilosophie und jedes geschichtlichen Denkens, der darin bestehe, in Natur und Geschichte zwei unabhängige Welten anzunehmen, von denen die erste dem Menschen fremd bliebe und die zweite von ihm hervorgebracht wäre. 49 Ausgehend von der Kosmosbetrachtung der Griechen, die von einer relativen Unveränderlichkeit der Natur innerhalb begrenzter Zeiträume ausgeht und so zu einem alles beherrschenden Logos gelangt, kritisiert Löwith die Möglichkeit einer spezifischen Deutung der Geschichte, vor allem die Annahme eines ihr immanenten Sinnes. 50 Denn in diesen Logos fände sich auch die Vgl. Giorgio Fazio, »Die Grenzen der persönlichen Beziehungen. Karl Löwiths Phänomenologie des Individuums als Mitmensch«, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 58 (2010), 175–192, hier 180. 47 Vgl. Mihran Dabag, Löwiths Kritik der Geschichtsphilosophie und sein Entwurf einer Anthropologie, Bochum 1989, 154–159. 48 Vgl. Reinhard Mehring, »Karl Löwith. Destruktion einer Überlieferungskritik«, in: Dieter Thomä (Hrsg.), Heidegger-Handbuch. LebenWerk-Wirkung, Stuttgart 22013, 388–390, hier 388 f. 49 Vgl. Karl Löwith, »Weltgeschichte und Heilsgeschehen«, in: Karl Löwith, Weltgeschichte und Heilsgeschehen. Zur Kritik der Geschichtsphilosophie (Sämtliche Schriften 2), Stuttgart 1983, 240–279, hier 240. 50 Vgl. Karl Löwith, »Weltgeschichte und Heilsgeschehen. Die theologischen Voraussetzungen der Geschichtsphilosophie«, in: Karl Löwith, Weltgeschichte und Heilsgeschehen. Zur Kritik der Geschichtsphilosophie (Sämtliche Schriften 2), Stuttgart 1983, 7–240, hier 14 f. 46

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Geschichte eingebettet, weshalb sie in ihrem einzelnen Verlauf der Zufälligkeit preisgegeben wäre und daher aus sich heraus keine wesentliche Bedeutung für die Welterklärung entfalten könnte. Nach Löwith stellt sie gerade kein teleologisches Geschehen dar, da Dinge nicht von Natur aus, sondern nur insofern sie »von Gott oder vom Menschen […] geschaffen« 51 sind, auf ein telos hin betrachtet und damit als sinnvoll beurteilt werden können, was einen immanenten Sinn mehr als begründungsbedürftig macht. 52 Löwiths Skepsis gegenüber Geschichtsphilosophie und geschichtlichem Denken findet ihren Ursprung in seiner Annahme, dass die Entstehung solcher Theorien im jüdisch-christlichen Glauben verwurzelt sei und so für ihn eine Säkularisierung der christlichen Heilserwartung darstelle. Als Erbin einer heilsgeschichtlich bestimmten Geschichtstheologie augustinischer Tradition bliebe daher die Geschichtsphilosophie letztlich einem eschatologischen Bewusstsein verpflichtet. Denn der moderne Mensch säkularisiert dieses Prinzip mithilfe irdischer Erfüllung und versteht so den Sinn seiner geschichtlichen Existenz teleologisch. 53 »Die ›Entdeckung‹ der geschichtlichen Welt und der geschichtlichen Existenz, deren Sinn in der Zukunft liegt, ist nicht das Ergebnis einer philosophischen Einsicht, sondern das Produkt einer hoffnungsvollen Erwartung, die sich ursprünglich auf das Kommen des Reiches Gottes bezog und schließlich auf ein künftiges Reich des Menschen« 54 umgedeutet wurde. Wenn nun die Sinnfrage der Geschichte mit der Erkenntnis ihres Endzieles verbunden ist, das dem Menschen als in der Geschichte stehender Existenz wissenschaftlich verschlossen bleibt, dann findet sich ihre Beantwortung gebunden an einen religiösen Glauben oder an eine illusionäre Erwartung, ohne jede Garantie verbindlicher Geltung. Daher bleibt für Löwith die Frage nach dem Sinn der Geschichte unbeantwortbar, so dass diese für ihn in zweiLöwith, »Weltgeschichte und Heilsgeschehen. Die theologischen Voraussetzungen der Geschichtsphilosophie«, 15. 52 Vgl. Dabag, Löwiths Kritik der Geschichtsphilosophie, 27–29. 53 Vgl. Dabag, Löwiths Kritik der Geschichtsphilosophie, 31. 54 Karl Löwith, »Vom Sinn der Geschichte«, in: Karl Löwith, Weltgeschichte und Heilsgeschehen. Zur Kritik der Geschichtsphilosophie (Sämtliche Schriften 2), Stuttgart 1983, 377–391, hier 382. 51

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facher Weise sinnlos ist 55 und er eine Überwindung des Historismus sowie eine Verankerung des geschichtlichen Menschen auf dem bleibenden Fundament der Natur anzielt. 56 Besonders angesichts der Zu- und Hinfälligkeit aller menschlichen Dinge wird die geschichtliche Welt als Entfaltungsprozess von Sinn fragwürdig. Denn die Abkehr von einer theologischen Ausdeutung der Geschichte hat zur Folge, dass sich das teleologische Geschichtsverständnis philosophisch einsichtig machen müsste, was aber weder einer »spekulativen, positivistischen und materialistischen Geschichtsphilosophie von Hegel, Comte und Marx, und auch nicht aus der Existentialisierung der ›vulgären‹ Geschichte zu einer je eigenen ›Geschichtlichkeit‹ und noch weniger aus [Heideggers] […] Hypostasierung des Geschicks der Geschichte zu einem universalen Charakter des Seins« 57 gelingt. Gerade in diesem Prozess besteht die eigentliche Problematik, aus der schließlich auch totalitäre Theorien geboren werden, da mit der inhaltlichen Säkularisierung der christlichen Überlieferung keine Emanzipation vom ursprünglichen religiösen Deutungsrahmen einhergeht. 58 Dadurch entsteht für Löwith ein religiöses Vakuum, das sich bei Heidegger besonders ausgeprägt zeigt und sich daher in ideologischer Hinsicht als bedrohlich produktiv erweist. Gerade Heideggers Verbindung von Seinsvergessenheit und Seinsgeschick zu einem geschichtlichen Wahrheitsgeschehen ließe demnach die Möglichkeit zu, dieses Geschick auf ein politisches Schicksalsgeschehen auszudeuten, worin der Einzelne von diesem in den Dienst genommen würde und dessen Anspruch entweder erfüllte oder verfehlte. 59 Mit der Säkularisierung der Geschichtstheorie geht auch das Verschwinden des Bereichs der Ideen und Ideale einher, die nicht zum Ereignis des Seins

Vgl. Löwith, »Vom Sinn der Geschichte«, 377 f. Vgl. Arno H. Meyer, Die Frage des Menschen nach Gott und Welt inmitten seiner Geschichte im Werk Karl Löwiths, Würzburg 1977, 90 f. 57 Karl Löwith, »Curriculum vitae«, in: Karl Löwith, Mensch und Menschenwelt. Beiträge zur Anthropologie (Sämtliche Schriften 1), hrsg. von Klaus Stichweh, Stuttgart 1981, 450–462, hier 458. 58 Vgl. Wiebrecht Ries, Karl Löwith, Stuttgart 1992, 46–48. 59 Vgl. Ries, Karl Löwith, 121 f. 55 56

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gehören und deswegen durch ein wirkliches Geschick, eine politisch verändernde Größe, ersetzt werden müssen: 60 »Unaufhörlich wachse Euch der Mut zum Opfer für die Rettung des Wesens und für die Erhöhung der innersten Kraft des Volkes in seinem Staat. Nicht Lehrsätze und ›Ideen‹ seien die Regeln Eures Seins. Der Führer selbst und allein ist die heutige und künftige deutsche Wirklichkeit und ihr Gesetz. Lernet immer tiefer zu wissen: Von nun an fordert jedwedes Ding Entscheidung und alles Tun Verantwortung. Heil Hitler.« 61

Dieser Aufruf, aber auch Heideggers Rektoratsrede bezeugen die Vermischung von wirklicher Geschichte und dem, was Heidegger das eigentliche Geschehen des Seins nennt, um die »ontologische Theorie der existenzialen Geschichtlichkeit auf dem ontischen Boden des wirklich geschichtlichen […] politischen Geschehens zu praktizieren.« Die nationalsozialistische Bewegung sollte demnach die »völlige Umwälzung des deutschen Daseins« 62 im Sinne eines Wesenswandels des Menschen vollziehen. 63 Als Wahrheitsgeschehen entzieht sich das Seinsdenken als pseudoreligiöses Ereignis 64 gerade in dieser fatalen politischen Lesart bzw. als politisch relevantes Geschehen jedes rationalen Maßstabes und somit jeglicher Überprüfung freiheitlicher Vernunft. 65 In die-

Vgl. Hans Jonas, Zwischen Nichts und Ewigkeit. Zur Lehre vom Menschen, Göttingen 1963, 22 f. 61 Martin Heidegger, »Zum Semesterbeginn«, in: Martin Heidegger, Reden und andere Zeugnisse eines Lebensweges (GA 16), hrsg. von Hermann Heidegger, Frankfurt a. M. 2000, 184 f., hier 184 f. 62 Karl Löwith, »Heidegger – Denker in dürftiger Zeit«, in: Karl Löwith, Heidegger – Denker in dürftiger Zeit. Zur Stellung der Philosophie im 20. Jahrhundert (Sämtliche Schriften 8), Stuttgart 1984, 124–234, hier 170. 63 Vgl. Richard Wolin, Heidegger’s children. Hannah Arendt, Karl Löwith, Hans Jonas, and Herbert Marcuse, Princeton NJ 42003, 86 f. 64 Vgl. Aldo Zanardo, »Heidegger e il naturalismo di Löwith«, in: Rivista Critica di Storia della Filosofia 24 (1969), 312–324, hier 316. 65 Vgl. Löwith, »Heidegger – Denker in dürftiger Zeit«, 179 f.; Frede sieht gerade im Umgang mit dem Wahrheitsbegriff bei Heidegger keine kritische Auseinandersetzung, sondern einen Vorgang der Selbstgewissheit der Erleuchtung (vgl. Dorothea Frede, »Wahrheit. Vom aufdeckenden Erschließen zur Offenheit der Lichtung«, in: Dieter Thomä [Hrsg.], Heidegger-Handbuch. Leben-Werk-Wirkung, Stuttgart 22013, 308–314, hier 314). 60

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sem kryptoreligiösen Irrationalismus, der Glaube bzw. unbedingten Gehorsam und nicht Einsicht fordert, entfaltet für Löwith Heideggers Theorie als eine Art gottloser Frömmigkeit eine enorme Anziehungskraft, 66 da sich in seinem Seinsdenken besonders verdeutlicht, inwieweit er sich enttheologisierend von allem Christlichen abheben möchte, doch letztlich in dieser christlichen Überlieferungstradition und ihrem Deutungsrahmen stecken bleibt. 67 Löwiths analytische Bemerkungen zur philosophischen Terminologie Heideggers zeigen, wie sehr diese Ausdrucksform eine eigenwillige Transformation einer ursprünglich theologischen Begrifflichkeit darstellt. Die intellektuell problematische Kombination einer starken Betonung des Autoritätsanspruchs des Seins 68 und einer grundsätzlichen Vieldeutigkeit in Heideggers Rede 69 – besonders in ihrer Gleichgültigkeit für jegliche vernünftige Skepsis bzw. rationale Kritik und in ihrer Affinität zu poetischer und mythologischer Sprache, die auf religiöse Weise areligiös erscheint – aber auch das religiöse Motiv in seinem auf das Ungedachte zielenden Denken wirken anziehend und faszinierend für eine erschütterte und nach ihrem tragenden Grund suchende Zeit. Zudem scheint sein philosophischer Mythos vom Sein eine Kompensation der funktionalisierten Lebensbezüge der technisierten Welt darzustellen, weshalb Löwith spöttisch resümiert, 70 dass das Sein »jenseits des seienden Daseins und alles innerweltlich Seienden [sich vollzieht]; […] es ist eine übersinnliche ›Hinterwelt‹, die uns unsere Geschicke zuschickt und uns unsere Gedanken zudenkt und uns überhaupt in Anspruch nimmt. ›Aber ‚jene Welt‘ ist gut verborgen vor dem Menschen, […] ein himmlisches Nichts […]‹.« 71 Vgl. Karl Löwith, »Diltheys und Heideggers Stellung zur Metaphysik«, in: Karl Löwith, Heidegger – Denker in dürftiger Zeit. Zur Stellung der Philosophie im 20. Jahrhundert (Sämtliche Schriften 8), Stuttgart 1984, 258–275, hier 268. 67 Vgl. Karl Löwith, »Wissen, Glaube und Skepsis«, in: Karl Löwith, Wesen, Glaube und Skepsis. Zur Kritik von Religion und Theologie (Sämtliche Schriften 3), Stuttgart 1985, 197–273, hier 268; Meyer, Die Frage des Menschen, 256 f. 68 Vgl. Löwith, »Heidegger – Denker in dürftiger Zeit«, 195. 69 Vgl. Löwith, »Heidegger – Denker in dürftiger Zeit«, 234. 70 Vgl. Ries, Karl Löwith, 120–124. 71 Löwith, »Heidegger – Denker in dürftiger Zeit«, 227. 66

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Löwith formuliert zwar selbst die Kritik des begrenzten Geltungsbereiches seiner Säkularisierungsthese, wonach nicht jede Geschichtsphilosophie auf eine verkappte Eschatologie reduzierbar sei, doch zielt er vielmehr auf eine kritische Auseinandersetzung mit Theorien, die sich naiv ihren eigenen Wurzeln gegenüber verhalten und dadurch eine gefährliche ideologische Wirkung entwickeln, besonders wenn sie einem Volk den absoluten Vorrang einräumen und es als Instrument eines irrationalen, universalen und bedingungslosen Anspruchs verstehen. Aus dieser skeptischen Haltung argumentiert Löwith für ein grundlegendes Verständnis von Natur als umfassend geordnetes Ganzes, das nicht nur eine vorausgesetzte Operationsbasis für das Geschichtswesen Mensch darstellt. So weiß sich seine Theorie von Mensch, Welt und Gott dem Zufall und der Bedingtheit verpflichtet, die als Skeptizismus ein Konzept radikalen Fragens darstellt und dadurch jedem Dogmatismus wehrt. Denn sie verzichtet darauf, neue philosophische Gegenstände als große Antworten zu präsentieren, sondern untersucht problemorientiert die menschlichen Grundfragen nach Weltorientierung und Selbstfindung. 72 Nach Löwith habe dies eine stetige Selbstkorrektur der Philosophie zur Folge und verhindere die Preisgabe an Interessen und Mächte, die zu durchschauen sie berufen ist. Heideggers Seinstheorie steht besonders in dieser Gefahr, so dass Löwiths Kritik sich primär darauf und erst nachgeordnet auf seine politische Haltung oder sein nationalsozialistisches Engagement bezieht. Denn die Entscheidung für den Führerstaat bedeute einen fundamentalen Mangel an Differenziertheit und Distanz zum Geschehen der Zeit, was gerade das Prinzip von Heideggers Seinsgeschichte darstellt. So resümiert Löwith 1935 analog zum Dezisionismus Carl Schmitts, dass bei Heidegger in seinem Rückgang auf das nackte Dass-Sein der Faktizität in der Abstrahierung von allen essentiellen Bestimmungen nichts übrig bleibt, 73 das Auskunft geben könnte, »wozu [es] – ›zu sein hat‹.« 74 Diese essentielle Unbestimmtheit erlaubte Vgl. Dabag, Löwiths Kritik der Geschichtsphilosophie, 168–175. Vgl. Karl Löwith, »Der okkasionelle Dezisionismus von C. Schmitt«, in: Karl Löwith, Heidegger – Denker in dürftiger Zeit. Zur Stellung der Philosophie im 20. Jahrhundert (Sämtliche Schriften 8), Stuttgart 1984, 32–71, hier 62. 74 Löwith, »Der okkasionelle Dezisionismus von C. Schmitt«, 49. 72 73

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es ihm, als Rektor in seiner Gedächtnisrede für Albert Leo Schlageter (1933) vom je eigenen Dasein in ein allgemeines, aber eben in dieser Allgemeinheit wiederum eigenes »deutsches Dasein« überzugehen und das wesensgemäße Geschehen in der wirklichen Geschichte seiner Zeit, also im politischen Geschick des Jahres 1933, zu erkennen. 75 Wenn Löwith angesichts dieser politischen Existentialphilosophie Heideggers auf die theologische Position Karl Barths verweist, dann geht es ihm um dessen überzeitlichen Maßstab, den dieser in der Wahrheit des Glaubens findet und der ihn – in seinem unbeirrbaren Sinn für die Wirklichkeit – davor bewahrte, sich weder in Widerstandslosigkeit gegenüber der politischen Bewegung zu ergeben noch sie aus denkerischem Antrieb ideologisch zu befördern. Aus der Maßgeblichkeit des christlichen Glaubens erkannte Barth, dass eine philosophische Begründung der politischen Ereignisse aus der Unfähigkeit folgt, sich von der Zeit und besonders von der Sphäre des Politischen kritisch zu distanzieren bzw. sich dazu in ein freies, vernünftiges Verhältnis zu setzen. 76 Gerade »solch ein freier Abstand zum Geschehen der Zeit« sollte eben auch für den »billig sein […], der nicht ›glaubt‹, sondern ›denkt‹«, außer man wolle »die Zeit aus der Zeit […] verstehen, ohne einen philosophischen Maßstab für die Beurteilung des Geschehens.« 77 Löwiths historisch-kritische geschichtsphilosophische Untersuchungen leitet dabei die Wiederherstellung der Unmittelbarkeit eines Bewusstseins, das sich aus seiner reflexiven Verstrickung in das Verhältnis von Mensch und Geschichte zu befreien hat. Es muss sich in die ursprüngliche Dimension der einen und ganzen Natur zurückübersetzen, da es Mensch und Geschichte erst innerhalb dieser geben kann. Die Welt der Natur als das im Wandel Konstante richtet sich damit für Löwith als philosophischer Maßstab auf. 78 Indem das, was einer seinem Dasein nach ist, nicht in dem aufgeht,

Vgl. Löwith, »Der okkasionelle Dezisionismus von C. Schmitt«, 62–64; Henning Trüper, »Löwith, Löwith’s Heidegger, and the unity of history«, in: History and Theory 53/1 (2014), 45–68, hier 62 f. 76 Vgl. Manfred Riedel, »Karl Löwiths philosophischer Weg«, in: Heidelberger Jahrbücher XIV (1970), 120–133, hier 121, 125. 77 Löwith, »Heidegger – Denker in dürftiger Zeit«, 171. 78 Vgl. Löwith, »Heidegger – Denker in dürftiger Zeit«, 190–192. 75

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was sich dieser selbst bedeuten kann, zeigt es sich jenseits der Frage nach Sinn und Unsinn. 79

2.2 Bernhard Welte – Christliche Heilsgeschichte »Der Glaube des Dritten Reiches gab sich als Glaube an Blut und Boden einerseits (als materiale Seinsgrundlage), an die autoritäre Führung der auf diesen Mächten gründenden Nation (als formales Prinzip) andererseits.« 80

Bernhard Weltes Analyse des Nationalsozialismus als »größtes und umfassendstes Glaubensphänomen« in Die Glaubenssituation der Gegenwart will nach eigenem Bekunden nicht verurteilen, sondern der Frage auf den Grund gehen, »was […] eigentlich und im Grunde mit dem Menschen los« war. Der Glaube an den Nationalsozialismus kann für Welte nicht als reine Verblendung abgetan werden, sondern stellt sich als verblendete Verzweiflung dar. Denn der Glaube an die absolute sinngebende eigene Macht im Dritten Reich erkannte letztlich sich selbst als einen »Glaube[n] der Schwäche«, weshalb er den ideologischen »Überbau« von »Blut, Boden, Führung« ausbildete und sich in einen »Fanatismus« flüchtete, eine wirklichkeitsverweigernde Gewalt, die eher die gesamte Welt in den Abgrund stürzte, als dass sich ihr grundlegender »Machtglaube[n]« seine Seinsschwäche und Sinnlosigkeit eingestand. 81 Es überrascht, dass Welte in diesem Zusammenhang Heideggers Seinsdenken gerade nicht als Teil des Problems, sondern als Hilfestellung auf dem Weg zu einem existentiellen Glauben und damit als Schritt hin zur Lösung ansieht, weshalb sich hier eine ganz andere Auseinandersetzung mit dem Seinsdenker als bei Löwith zeigt, die aber ebenso jegliche ideologische Verirrung vermeidet. 82 Demnach zeigt sich bei Welte »[d]er Gedanke der epochalen Geschichte des Seinsverständnisses […] angeregt durch Martin Heideggers BeVgl. Riedel, »Karl Löwiths philosophischer Weg«, 128 f. Bernhard Welte, »Die Glaubenssituation der Gegenwart«, in: Bernhard Welte, Hermeneutik des Christlichen (Gesammelte Schriften IV/1), hrsg. von Bernhard Casper, Freiburg i. Br. 2006, 197–229, hier 207. 81 Vgl. Welte, »Die Glaubenssituation der Gegenwart«, 207–211. 82 Vgl. Welte, »Die Glaubenssituation der Gegenwart«, 216. 79 80

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griff der Seinsgeschichte. Doch ist er diesem gegenüber selbständig gebildet.« 83 Diese Verhältnisbestimmung wirkt wie ein Paradigma für den ambivalenten Grundansatz, der das Denken Weltes kennzeichnet: Einerseits hat der Mensch ein Selbstdenker zu sein 84, andererseits besitzt aber auch jeder Gedanke das Recht, gedacht bzw. nachvollzogen zu werden. 85 Dieser Stil des Denkens hat keinen thetischen Charakter, sondern lässt sich als Verhaltenheit beschreiben, 86 geht es doch primär nicht um einen bestimmten Inhalt, sondern um die Art und Weise des Philosophierens. Dabei stellt die Zugangsart Heideggers zum Sein für Welte die entscheidende und einzig gemäße dar. 87 So findet sich bei Welte eine unkritische, beinahe einfühlsame Rezeption des Seinsdenkers, die sich seiner Begriffe bedient, um dessen Gedanken zur Sprache zu bringen. Doch deutet sich bereits in der Perspektive seiner interpretierenden Auseinandersetzung mit Heidegger die entscheidende Grundausrichtung an, die Welte davor bewahrte, den Schritt zu einer politischen Ideologie mitzugehen. Denn ausgehend vom Ereignis des Seins und dem Sein als dem Anfänglichen bzw. Ursprünglichen zielt er in seinem Nach-denken auf den Bereich des Heiligen und den »Fehl Gottes«, um so die Gottesfrage in Heideggers Sinn zu erörtern. Er versucht damit, auf dem »Gang des Ganzen seines Denkweges« Bernhard Welte, »Ein Vorschlag zur Methode der Theologie heute«, in: Bernhard Welte, Zur Vorgehensweise der Theologie und zu ihrer jüngeren Geschichte (Gesammelte Schriften IV/3), hrsg. von Gerhard Ruff, Freiburg i. Br. 2007, 228–245, hier 235, Anm. 5. 84 Vgl. Bernhard Welte, »Religionsphilosophie«, in: Bernhard Welte, Religionsphilosophie (Gesammelte Schriften III/1), hrsg. von Klaus Kienzler, Freiburg i. Br. 2008, 15–236, hier 19 f. 85 Vgl. Bernhard Welte, »Die Lichtung des Seins. Bemerkungen zur Ontologie Martin Heideggers«, in: Bernhard Welte, Denken in Begegnung mit den Denkern II. Hegel, Nietzsche, Heidegger (Gesammelte Schriften II/2), hrsg. von Holger Zaborowski, Freiburg i. Br. 2007, 105–120, hier 118. 86 Vgl. Bernhard Casper, »Verhaltenheit – Zum Stil des Denkens Bernhard Weltes«, in: Ludwig Wenzler (Hrsg.), Mut zum Denken, Mut zum Glauben. Bernhard Welte und seine Bedeutung für eine künftige Theologie, Freiburg i. Br. 1994, 148–162, hier 153. 87 Vgl. Bernhard Welte, »Bemerkungen zum Seinsbegriff Heideggers«, in: Bernhard Welte, Denken in Begegnung mit den Denkern II. Hegel, Nietzsche, Heidegger (Gesammelte Schriften II/2), hrsg. von Holger Zaborowski, Freiburg i. Br. 2007, 120–126, hier 120. 83

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mitzugehen, um sich auf »diesen über alles Gewöhnliche weit hinausführenden Gedanken wagend einzulassen« und von »diesem ›Wagnis des Ganzen‹ aus behutsam zu sehen, ob sich da etwas wie ›Gott‹ darin zeige und […] wie es sich darin zeige.« 88 Diese Interpretationen zeigen Weltes Weg, ausgehend vom metaphysischen Einheitsdenken, zu einem nicht verfügenden, sondern lassenden Denken, das sich verdankt weiß und daher Sein, Gott und deren Verhältnis nur je geschicklich-geschichtlich erfährt. Gerade daran wird nun Weltes Grundintention deutlich, die von einem ursprünglichen Zusammenhang von Sein und Gott als dem unheimlichen Geheimnis ausgeht und es denkerisch zu ergründen sucht. 89 So charakterisiert die Bezeichnung »katholischer Heideggerianer« Bernhard Weltes Denkweg treffend, insofern er den Gedanken der Seinsgeschichte und ihrer Epochalität aufnimmt, aber diese säkularisierte Geschichtsphilosophie weiterentwickelt und diese Seinsgedanken aus seinem christlichen Horizont philosophisch deutet. Denn für Welte geschehen alle Vollzüge des Daseins, in denen sich der Mensch zu allem und zu sich verhält, auf dem Grunde eines vorgängigen Seinsverständnisses. Indem für ihn das Sein, das sich irgendwie dem Menschen entbirgt, niemals ein nur neutrales Sein ist, sondern sich immer von »Bedeutsamkeit geprägt« zeigt, findet sich dieser Grundzug im Seinsverständnis des Menschen, 90 was schließlich zur Folge hat, dass Seinsverständnis aus seinem ersten Ursprung Heilsverständnis ist. Die Welt ist daher im Ganzen wie im Einzelnen auf eine qualifizierte Einheit und somit auf Heil ausgerichtet, weshalb sich die Geschichte als Heilsgeschichte qualifizieren lässt. Im Heil besteht für Welte der Sinn von Sein und ist

Vgl. Bernhard Welte, »Gott im Denken Heideggers«, in: Bernhard Welte, Denken in Begegnung mit den Denkern II. Hegel, Nietzsche, Heidegger (Gesammelte Schriften II/2), hrsg. von Holger Zaborowski, Freiburg i. Br. 2007, 156–178, hier 157. 89 Vgl. Ingeborg Feige, Geschichtlichkeit. Zu Bernhard Weltes Phänomenologie des Geschichtlichen auf der Grundlage unveröffentlichter Vorlesungen, Freiburg i. Br. 1989, 192 f. 90 Vgl. Bernhard Welte, »Heilsverständnis. Philosophische Untersuchungen einiger Voraussetzungen zum Verständnis des Christentums«, in: Bernhard Welte, Hermeneutik des Christlichen (Gesammelte Schriften IV/1), hrsg. von Bernhard Casper, Freiburg i. Br. 2006, 15–193, hier 68. 88

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als Sinnapriori bzw. »Sinnpostulat« 91 allen Vollzügen vorausgesetzt, so dass die Geschichte sich in idealistischer Definition als Entfaltungsprozess von Sinn darstellt. 92 Diese Vorstellung des Heiles als Prinzip aller Bedeutsamkeit immunisiert nun Weltes Weiterentwicklung der Seinsgeschichte gegenüber ideologischen Verblendungen und radikalen Instrumentalisierungen, da Heil bei Welte keine Leerformel oder ein reines Dass darstellt, sondern sich in seiner Entzogenheit eine positive Qualität des Seins geltend macht, die er phänomenologisch anhand von »primär gebenden Erfahrungen« und aus der »anfänglichsten Konstitution« der vorgegebenen Sinnstrukturen findet. 93 In dieser antinihilistischen Lesart versteht sich das »Seinsverständnis als Heilsverständnis« immer schon auf »göttlich gewährtes Heil« bezogen, da es sich als das unendliche, sich selbst-gehörige, du-hafte, unverfügbare, alles bestimmende Geheimnis zeigt, was das Göttliche genannt werden darf und sich als »freie Gunst« bzw. als »Gnade« schenkt. 94 Diese Phänomenologie aus bzw. in christlicher Perspektive und ihre qualitative Bestimmung des Heils als Sinn des Seins erweist sich mit Blick auf die Seinsgeschichte besonders in zwei Hinsichten bedeutsam und lässt Welte über Heidegger hinausgehen: In der Geschichte als teleologischem Geschehen eröffnet sich etwas Absolutes, Unbedingtes und Transzendentes, das die Beliebigkeit, Ziellosigkeit und relativistische Auflösung dieses Vollzuges verhindert, wodurch die Einheit der Geschichte begründet ist. 95 Die Selbstgehörigkeit und das Du-hafte des Heiles lässt die Seinsgeschichte zu einem Geschehen des personalen Miteinanders werden und dadurch zu einem Geschehen von Freiheit und Verantwortung, so dass das Sein nicht einfach über den einzelnen Menschen hinweggeht, sondern sich Geschichte als Ereignis des Seins eben als ein Geschehen zwischen diesem absoluten du-haften Anspruch und einem personalen Selbstsein vollzieht. Gerade die Gründung des Geschichtlichen im übergeschichtlich Absoluten, Welte, »Religionsphilosophie«, 60 f. Vgl. Welte, »Heilsverständnis«, 80. 93 Vgl. Welte, »Heilsverständnis«, 30. 94 Vgl. Welte, »Heilsverständnis«, 102. 95 Vgl. Ingeborg Feige, »Denken als Geschehen dialogischer Offenheit«, in: Ludwig Wenzler (Hrsg.), Mut zum Denken, Mut zum Glauben, 36–62. 91 92

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das nicht unbestimmtes Sein, sondern ein freies gnädiges Du darstellt, lässt die Personalität des einzelnen geschichtlichen Menschen konstitutiv für das Geschichtliche werden und dadurch die Frage nach Ethik und Verantwortung in der Geschichte ihren Platz finden. Denn die Geschichte ist damit ein Geschehen von Personen, in dem »Freiheit an Freiheit« grenzt. 96 Geschichte wird darin zu einem Freiheitsgeschehen jeder Person im Miteinander mit allen in der Offenheit eines Einen und Ganzen in der Vielfalt der Welt, die ihre Vollendung nicht herstellen kann, sondern als Gnade erhoffen und erwarten muss. 97 Dieses Denken Weltes, das auf eine Phänomenologie des Glaubens hin konvergiert, lässt sich als autonomes philosophisches Denken verstehen, das Zeugnis gibt vom In-der-Welt-Sein des Menschen. Diese Bezeugung von grundlegenden Erfahrungen beansprucht keinerlei zwingenden Charakter, nicht einmal zwingende Beweiskraft, sondern zielt als intellektuell redlicher philosophischer Aufweis auf einen verstehenden Mitvollzug. Denn selbst wenn Welte sich in seinen Analysen dem Vorwurf aussetzt, fremde bzw. andersartige Erfahrung zu wenig zu berücksichtigen, so stellt seine Phänomenologie als Zeugnis einer Einheit von religiöser Erfahrung und religionsphilosophischer Reflexion den einzelnen Menschen vor die freie Entscheidung, diese teleologische und sinnentfaltende Theorie der Geschichte anzunehmen oder angesichts ihrer eschatologischen Ausrichtung und ihres christlichen Horizonts ihr gegenüber skeptisch zu bleiben. 98

Vgl. Bernhard Welte, »Soziologische Grundbegriffe zum Verständnis des Christentums als Kirche«, in: Bernhard Welte, Philosophische Soziologie (Bernhard Welte Inedita 1), hrsg. von Johannes Elberskirch, Freiburg i. Br. 2018, 261–384, hier 350. 97 Vgl. Feige, Geschichtlichkeit, 374–376. 98 Vgl. Richard Schaeffler, »Sinnforderung und Gottesglaube«, Rez. zu: Bernhard Welte, Religionsphilosophie, Freiburg i. Br. 1978, in: Philosophisches Jahrbuch 86 (1979), 201–209, hier 209. 96

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3. Die Gretchenfrage – Das Verhältnis zur Religion »Nun sag, wie hast du’s mit der Religion?« 99 Diese berühmte Frage Gretchens bleibt bei Goethe letztlich unbeantwortet, da sich Faust nicht nur durch eine gelehrte und wortgewandte Argumentation um die Explikation seines Gottesverhältnisses windet, sondern auch seinen Pakt mit Mephistopheles verschweigt, obwohl gerade dieser sein Leben vollständig bestimmt. Diese fehlende Klärung der Schicksalsfrage lässt die zersetzende Kraft des Schattens des teuflischen Verhältnisses vollends wirksam werden, so dass darin der Anbruch der umfassenden Katastrophe und der Anfang des Untergangs des jungen Mädchens liegen. »Wie hast du’s mit der Religion?« – Die Klärung des Verhältnisses zur Religion wird auch im Zusammenhang von Martin Heidegger und seinen Schülern Karl Löwith und Bernhard Welte zum Prüfstein, an dem sich letztlich entscheidet, ob die jeweilige Seinstheorie bzw. Geschichtsphilosophie gegenüber ideologischer Verführung immun ist oder ob sie die Entstehung, die Verbreitung und die intellektuelle Grundlegung einer gefährlichen Ideologie zu verantworten hat. Doch entscheidet sich die Frage – ob Ideologie oder freie ethische Grundlegung – nicht in der Ablehnung oder Affirmation von Religion, sondern an der Selbstreflexion philosophischer wie theologischer Theorien hinsichtlich ihrer expliziten und impliziten Religiosität. So zeigt Heideggers Theorie der Seinsgeschichte in erschreckender Schärfe, wie eine explizit areligiöse Theorie aufgrund ihrer Naivität gegenüber ihrer religiösen Struktur bzw. ihrer impliziten Religiosität radikal wird, indem sie sich einerseits ihrer theologischen Inhalte entledigt, andererseits aber ihren teleologischen und sinnorientierten Charakter beibehält. Aufgrund dieser inhaltlichen Unbestimmtheit bringt Heidegger in seiner Metapolitik die vorausliegende Seinsgeschichte mit der Wirklichkeit in Kontakt, so dass ein Volk das partikulare Geschehen des Seins zur Geltung zu bringen hat und der Sinn von Seiendem im historisch-faktischen Geschehen aufgeht. Nur ein Volk, das Johann Wolfgang von Goethe, »Faust. Eine Tragödie«, in: Johann Wolfgang von Goethe, Werke. Dramatische Dichtungen I (Hamburger Ausgabe 3), hrsg. von Erich Trunz, München 161996, V. 3415–3417.

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Johannes Elberskirch

fähig ist, das Sein als Sein »bodenständig und bindekräftig« zu machen, wird metapolitisch zum Subjekt der Geschichte. Dann geht es aber dem seinsgeschichtlichen Denken nicht mehr um Erkenntnis, sondern um Politik bzw. um eine neue politische Ordnung, hergestellt durch ein von »Blut und Boden« definiertes Volk. So führt Heideggers Metapolitik zu einer Hierarchie der Völker, und zwar mit den Deutschen an der Spitze, die sich aber nicht nur jeglicher rationalen Kritik und Rechtfertigung entzieht, sondern darüber hinaus verbindliche Rahmenbedingungen entwickelt. Die Maßgeblichkeit des deutschen Volkes führt Heidegger daher in den 1930er Jahren zur Seinsgemäßheit eines völkisch gesinnten, diktatorischen Führerstaats, der keine demokratische Mitbestimmung erlaubt, sondern unbedingten Gehorsam fordert. Sowohl für Löwith als auch für Welte stellt Heideggers Seinsgeschichte mit ihrer implizit religiösen Struktur einen entscheidenden Bezugspunkt dar, doch bewahrt ihre selbstreflexive Herangehensweise beide Schüler vor ideologischen Verblendungen, und zwar in zwei völlig verschiedenen Immunisierungsformen. Bei Karl Löwith könnte man von einer Sicherung struktureller bzw. formaler Art sprechen, die sich am deutlichsten in seiner skeptischen Grundhaltung äußert. Seine Säkularisierungsthese, die von religiösen bzw. eschatologischen Restbeständen in allen teleologisch strukturierten Geschichtsphilosophien ausgeht, führt ihn dabei zu einer grundlegenden Skepsis gegenüber einer umfassenden und eindeutigen Erkenntnis von Welt, Wesen oder gar Sinn des Menschen. Diese Absage an zielhafte Sinnbestimmung und geschichtliche Sinnentfaltung setzt ihn sowohl in eine kritische Distanz zum unbedingten Anspruch universaler Theorien des Ganzen als auch zur Wirklichkeit bzw. zur wirklichen Geschichte. Gerade diese doppelte Distanz bewahrt ihn davor, sowohl heilsideologische Vorstellungen als Wirklichkeit selbstmächtig setzen als auch bedingte Wirklichkeit als wesensgemäße absolute Seinswahrheit bzw. Seinsnotwendigkeit anerkennen zu müssen. Als Vervollständigung zur inhaltlichen befreit diese formale Säkularisierung Löwiths davon, Bedingtheiten und Zufälligkeiten auf ein scheinbar endgültiges, doch letztlich willkürliches Ziel hinzuzwingen, weder theoretisch und schon gar nicht praktisch. In Weltes Seinsgeschichte findet dagegen eine inhaltliche Siche162 https://doi.org/10.5771/9783495825372 .

Religion und Reflexion

rung statt, da deren Seinsverständnis nicht auf das unbestimmte Sein, sondern als Heilsverständnis auf ein transzendentes unverfügbares Heil bezogen ist. Letztlich stellt Welte mit seiner existentialpragmatischen Reflexion den ursprünglichen theologischen Zusammenhang von Form und Gehalt wieder her. Indem eben nicht eine inhaltliche Leere dieses Heil auszeichnet, sondern es die Qualität eines unendlichen, sich selbst-gehörigen, du-haften, unverfügbaren, alles bestimmenden Geheimnisses hat, findet sich in diesem Heil der Ursprung der Personalität und der Freiheit des Menschen. Diese ursprüngliche Verbindung zwischen dem Heil und der Freiheit des Einzelnen, die sich aus dem Selbstzeugnis der Einheit einer christlich geprägten religiösen Erfahrung und einer philosophischen Reflexion eröffnet, bewahrt Welte davor, ein Heilsgeschehen bzw. eine Heilsgeschichte anzunehmen, das bzw. die den Menschen instrumentalisiert oder übergeht und seine Freiheit nicht in vollem Umfang aufrecht zu erhalten sucht. »[W]ie hast du’s mit der Religion?« – Religiöse bzw. eschatologische Restbestände in philosophischen Theorien sind letztlich Indikatoren einer unreflektierten Religiosität, die eine erschreckende Wirkmächtigkeit entwickeln können und so das Potential haben, Ideologien philosophisch zu legitimieren und sie mit einem politischen Anspruch auszustatten, der sich bedingungslos durchzusetzen versucht. Heideggers Schüler Löwith und Welte zeigen nun in der Rezeption ihres Lehrers zwei Wege einer selbstreflexiven Absicherung, die religiös oder nichtreligiös sein kann, anknüpfend oder absetzend, aber niemals naiv oder gleichgültig gegenüber den eigenen Wurzeln und Ursprüngen.

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Demokratische Normenbildung und Religion. Habermas im Dialog mit der neueren französischen Phänomenologie 1

Habermas’ approach, which combines his theory of communication with Kant’s philosophy of law as well as with his philosophy of religion, is an attempt to confront the democratic model with the challenges brought by a globalized, multicultural, and thus religiously diverse, society. One core issue here is that pertaining to democratic norm-formation, which includes that of political justice as well as the respect due to the individual person in a society marked by the plurality of life-worlds (Lebenswelt). In »Difficult Democracy«, Michel Henry, one of the leading voices of recent French phenomenology, argues that democracy has to be founded on a religious principle, in order to safeguard the universality of human rights against simple majority rules. It seems that Henry’s phenomenology could be described in Habermassian terms as a »philosophical translation« of aspects of religious faith, not unlike the one we find in Kierkegaard for instance. The aim of the article is therefore to put into dialogue Habermas’ assessment of the renewed vitality of religions, as well as their possible role in democratic norm formation, with Henry’s phenomenological approach of democracy. The concept of life and that of life-world appear to be decisive for this discussion.

Habermas’ Ansatz, der die eigene Diskurs- und Kommunikationstheorie mit der Religions- und Rechtsphilosophie Kants verbindet, ist als Versuch zu werten, das demokratische Modell mit den HeDer vorliegende Beitrag entstand im Rahmen einer durch die Alexandervon-Humboldt-Stiftung geförderten Forschung an der Albert-LudwigsUniversität Freiburg zum Thema »Demokratische Normenbildung im Kontext der Pluralität der Religionsformen«. Der Stiftung sei hiermit aufrichtig für die großzügige Förderung meiner Arbeit gedankt. Auch danke ich herzlich den Freiburger Kollegen für ihre gastfreundliche Aufnahme an der Forschungsstelle für neuere französische Religionsphilosophie.

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rausforderungen einer globalisierten, multikulturellen – und damit auch multikonfessionellen – Gesellschaft zu konfrontieren. Dabei geht es um das grundlegende Problem der demokratischen Normenbildung, sowie der politischen Gerechtigkeit und der Achtung der Person, in einer von der Pluralität der Lebensformen gekennzeichneten Gesellschaft. In diesem Zusammenhang kommt dem Begriff des »lernbereiten Agnostizismus« eine Schlüsselfunktion zu, insofern eine solche Haltung für Habermas die Einbettung theologisch-religiöser Gehalte in den Kontext deliberativer Demokratie (und damit auch für die demokratische Normenbildung) ermöglicht. So betont Habermas zum Beispiel, dass es immer wieder religiös inspirierte Philosophen gegeben habe, welche theologische Gehalte dem säkularen Denken zugeführt haben. Dadurch soll nicht zuletzt eine Übersetzung theologisch-religiöser Gehalte in einen argumentativen und öffentlichen Diskurs vollzogen werden können. In der neueren französischen Phänomenologie argumentiert bezeichnenderweise Michel Henrys Beitrag »Difficile démocratie« (2000) für eine Fundierung der Demokratie durch den religiösen Standpunkt, der als einziger die Universalität der Menschenrechte zur Absolutheit zu erheben und somit auch gegebenenfalls vor dem Mehrheitsprinzip zu schützen vermag. Es handelt sich also hier um eine solche »philosophische Übersetzung« im Sinne Habermas’, welche aber die Partikularität aufweist, dem religiösen Standpunkt selbst eine politisch-normative Geltung zu geben und somit zunächst zur faktisch vorgefundenen Pluralität moderner Gesellschaften in einem Spannungsverhältnis zu stehen scheint. In diesem Beitrag möchte ich mich auf vier Punkte konzentrieren, die in diese Problematik einleiten sollen: Erstens geht es darum, Habermas’ Begriff säkularer Vernunft und dessen Verhältnis zur Religion im Rahmen der Verständigung um die Grundsätze politischer Gerechtigkeit zu erläutern und zu kontextualisieren; zweitens sollen die kantischen Wurzeln von Habermas’ Unterscheidung zwischen Glauben und Wissen für unseren Zusammenhang rekonstruiert werden; drittens wird zu klären sein, wie Habermas’ Begriff des kommunikativen Handelns auf den durch demokratischen Pluralismus und Modernität gekennzeichneten Themenkomplex zu beziehen ist. Michel Henrys Beitrag »Difficile démocratie«, der als 165 https://doi.org/10.5771/9783495825372 .

Frédéric Seyler

auszeichnend für eine bestimmte Entwicklung in der neueren französischen Phänomenologie anzusehen ist, insofern es dort zu einer Neubestimmung des Verhältnisses von Phänomenologie und Religionsphilosophie kommt, 2 wird in einem vierten Punkt für das besondere Problem des Verhältnisses zwischen Normenbildung und Religion analysiert.

1. »Enthaltsamer« und »lernbereiter Agnostizismus«: Säkulare Vernunft und Religion in der Verständigung um die Grundsätze politischer Gerechtigkeit In seinem 2009 erschienenen Aufsatz »Die Revitalisierung der Weltreligionen« kennzeichnet Habermas das zeitgenössische Europa als eine »postsäkulare Gesellschaft« 3, in der religiöse Gemeinschaften in einer »sich fortwährend säkularisierenden Umgebung« 4 weiterbestehen. Die in Habermas’ Verständnis wieder erstarkte Relevanz religiöser Standpunkte und Wertvorstellungen ist dabei auf einen Bewusstseinswandel in Europa zurückzuführen, der auf drei Beobachtungen basiert: (1) der medial vermittelten Wahrnehmung weltweiter Konflikte (z. B. im Nahen Osten) als durch religiöse Gegensätze hervorgerufene Auseinandersetzungen, was zur Folge hat, dass die »säkularistische Überzeugung vom absehbaren Verschwinden der Religion« 5, und ihre Ersetzung z. B. durch die Wissenschaft, in Frage gestellt wird; (2) der im politischen Leben zunehmenden Rolle von Religionsgemeinschaften als Interpretationsgemeinschaften, insofern pluralistische Gesellschaften bezüglich politisch regelungsbedürftiger Wertekonflikte immer häufiger gespalten sind; (3) der Arbeits- und Flüchtlingsmigration aus Ländern mit Dominique Janicaud spricht gar von einer »theologischen Wende« der französischen Phänomenologie (vgl. Dominique Janicaud, Le tournant théologique de la phénoménologie française, Combas 1991). 3 Jürgen Habermas, »Die Revitalisierung der Weltreligionen – Herausforderung für ein säkulares Selbstverständnis der Moderne?«, in: Jürgen Habermas, Philosophische Texte, Bd. 5: Kritik der Vernunft, Frankfurt a. M. 2009, 387–407, hier 392. 4 Habermas, »Die Revitalisierung der Weltreligionen«, 392. 5 Habermas, »Die Revitalisierung der Weltreligionen«, 392. 2

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traditional-religiös geprägten Kulturen, welche nicht nur dazu führt, dass »Dissonanzen zwischen verschiedenen Religionen mit der Herausforderung eines Pluralismus von Lebensformen« verbunden werden, sondern auch, dass, durch »das Auftreten und die Vitalität fremder Religionsgemeinschaften«, die »einheimischen Konfessionen« ihrerseits an Resonanz gewinnen. 6 Im Grunde ist es dieser dritte Aspekt, der in unserem Kontext entscheidend ist, denn er behandelt die Pluralität der Religionsgemeinschaften als eine partikulare, wenn auch besonders wichtige Form der allgemeinen Herausforderung für pluralistische Gesellschaften, nämlich die Pluralität der Lebensformen demokratisch zu wahren und einen gewalttätigen bzw. diskriminierenden Antagonismus zu verhindern, gleichzeitig aber Demokratie und Grundrechte zu schützen. In diesem Rahmen übt Habermas eine doppelte Kritik sowohl an systemfunktionalistischen wie auch an kulturalistischen Erklärungsmodellen. Gegenüber kulturalistischen Ansätzen, darunter Samuel P. Huntingtons These vom clash of civilizations, ist anzuführen, 7 dass sie »die globale Ausbreitung von Funktionssystemen« nicht erkennen, welche »in beliebigen Kontexten ihrer jeweils eigenen« Logik folgen, und dies global, d. h. über nationalstaatliche Grenzen hinweg tun, wie vor allem am Beispiel des globalisierten Marktes zu sehen ist. 8 Politisch fällt Huntingtons Ansatz außerdem auf das von Carl Schmitt geprägte Freund-Feind-Verständnis der Pluralität der Kulturen zurück, also auf eine Polarisierung und auf die Auffassung der Unvermeidlichkeit eines im Extremfall kriegerischen Aufeinanderprallens verschiedener Kulturen, wobei diese zuvor zu kollektiv handlungsfähigen Akteuren essentialisiert worden sind, obwohl sie als nicht-nationalstaatliche kulturelle Gebilde eine solche Fähigkeit gar nicht besitzen. Fast spiegelbildlich kann dem Systemfunktionalismus, etwa bei Luhmann, vorgehalten werden, dass er die partikularen kulturellen Antworten übersieht, die jeweils und verschiedenartig auf eine an sich einheitliche systemimmanente Dynamik gegeben werden bzw. Habermas, »Die Revitalisierung der Weltreligionen«, 393. Vgl. Samuel P. Huntington, The Clash of Civilizations and the Remaking of the World Order, New York 1996. 8 Habermas, »Die Revitalisierung der Weltreligionen«, 396. 6 7

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Frédéric Seyler

gegeben werden können. In Abgrenzung von diesen beiden Ansätzen scheint vielmehr Eisenstadts These einer »multikulturellen Weltgesellschaft« als »eigener zivilisatorischer Formation«, verstanden als Entkoppelung von allen »traditionellen Hochkulturen«, Bestand zu haben. 9 In dieser durch eine sehr ähnliche oder gar identische gesellschaftliche Infrastruktur gekennzeichneten »globalisierten Moderne« begegnen sich verschiedene kulturspezifische »Gestaltungen« eben dieser Infrastruktur, und machen die so emergierende Weltgesellschaft zu einem »Kampfplatz um Definitionen einer gemeinsamen gesellschaftlichen Basis«. 10 Dadurch erschließt sich der Sinn von Habermas’ grundlegender Frage nach den kognitiven Voraussetzungen »für das Gelingen einer interkulturellen Verständigung über Grundsätze der politischen Gerechtigkeit für eine multikulturelle Weltgesellschaft« 11. Gefolgt wird diese Fragestellung – welche sich auch im Rahmen der Nationalstaaten bzw. für Europa stellt, insofern es sich ja gerade dort auch um multikulturelle bzw. pluralistische Gesellschaften handelt – von einer zunächst allgemein gehaltenen Antwort, also einem provisorischem Lösungsvorschlag Habermas’: »Alle Parteien müssten, ungeachtet ihres kulturellen Hintergrundes, bereit sein, Streitpunkte gleichzeitig aus der eigenen wie aus der Perspektive der anderen Teilnehmer zu erwägen und […] nur solche Argumente [zu] verwenden […], die im Prinzip jedem, unabhängig von seinen metaphysischen oder religiösen Hintergrundüberzeugungen, einleuchten können« 12.

Gezielt wird somit auf das Erreichen einer »weltanschaulich neutralisierten« und säkularisierten Ebene der Verständigung. Für Habermas geht dieser Vorschlag einher mit dem Aufgeben des »laizistischen Vorbehalts« gegenüber den Religionen. Mit anderen Worten: Ein »säkularistisches Verständnis« autonomer Vernunft, 13 Habermas, »Die Revitalisierung der Weltreligionen«, 397; vgl. Johann P. Arnason/Shmuel N. Eisenstadt/Björn Wittrock (Hrsg.), Axial Civilizations and World History, Leiden 2005. 10 Habermas, »Die Revitalisierung der Weltreligionen«, 397; vgl. auch Johann P. Arnason, Civilizations in Dispute, London/Boston 2003. 11 Habermas, »Die Revitalisierung der Weltreligionen«, 398. 12 Habermas, »Die Revitalisierung der Weltreligionen«, 398. 13 Habermas charakterisiert diese als eine sich »auf sich selbst versteifende 9

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das einer weltanschaulichen, anti-religiösen Position entspricht, soll durch ein »säkulares« Verständnis ersetzt werden, welches sich durch Begriffe wie weltanschauliche bzw. religiöse Neutralisierung oder auch den Begriff des »enthaltsamen Agnostizismus« umschreiben lässt. 14 Dass Letzterer gar zu einem »lernbereiten Agnostizismus« wird, ist nicht zuletzt der historisch-philosophischen Infragestellung des humanistischen Selbstverständnisses zu verdanken. Historisch gesehen bedeuten vor allem der Kolonialismus sowie die totalitären Katastrophen des 20. Jahrhunderts einen tiefen Riss im Glauben an den stetigen Fortschritt der Menschheit. Philosophisch ist die Entdeckung des religiösen Erbes »im Herzen der Philosophie« 15 vor allem durch Hegel hervorgehoben worden. So liefert das christliche Naturrecht die Grundlage für das moderne Vernunftrecht, z. B. im egalitären Verständnis der Gottesebenbildlichkeit oder auch im Begriff der Person, deren lebensgeschichtliche Individuierung die Einzigartigkeit, Unvertretbarkeit sowie die Innerlichkeit eines jeden Menschen widerspiegelt. Nicht zuletzt ist auch die Perspektive einer alle Menschen inkludierenden Solidarität und Brüderlichkeit in ihrer Wurzel auf das Gebot der Nächstenliebe zurückzuführen. Während jedoch bei Hegel dieser genealogische Zusammenhang nicht davon abhält, die Religion im Vergleich zur Philosophie der Vergangenheit zuzuordnen, hebt Habermas gerade den unabgeschlossenen Charakter dieses Zusammenhangs hervor. So hat es immer wieder, und gerade auch nach Hegel, religiöse Denker und Philosophen gegeben, die »theologische Gehalte dem säkularen Denken zugeführt haben« 16. Ausgezeichnete Beispiele sind hier Kierkegaard, Benjamin, Lévinas, Derrida, aber auch, was die neuere französische Phänomenologie angeht, Jean-Luc Marion und Michel Henry. Aus dieser Beobachtung folgt der Begriff eines lernbereiten Agnostizismus auf der politisch-gesellschaftlich anvisierten Ver-

säkulare Vernunft« (Habermas, »Die Revitalisierung der Weltreligionen«, 403). 14 Habermas, »Die Revitalisierung der Weltreligionen«, 402. 15 Habermas, »Die Revitalisierung der Weltreligionen«, 405. 16 Habermas, »Die Revitalisierung der Weltreligionen«, 407.

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ständigungsebene: »Ohne Beeinträchtigung seines säkularen Selbstverständnisses kann sich das nachmetaphysische Denken zur Religion gleichzeitig lernbereit und agnostisch verhalten« 17. Zusammenfassend und mit Blick auf die Verständigung über Normen politischer Gerechtigkeit bedeutet dies: »Die säkulare Vernunft besteht auf der Differenz zwischen Glaubensgewissheiten und öffentlich kritisierbaren Geltungsansprüchen, enthält sich aber einer Theorie, die über Vernunft und Unvernunft der Religion im ganzen urteilt« 18. Dass aber eine Öffnung gegenüber philosophisch übersetzten bzw. übersetzbaren »theologischen Gehalten« den Primat der öffentlichen-rationalen Kritisierbarkeit unangetastet lässt, zeigt Habermas’ gleichzeitige Abwehr einer »religiösen Philosophie«, die sich »von der Strenge diskursiven Denkens« dispensiert. 19 Diese Abwehr geschieht vor allem durch einen Rückgriff auf Kant, wobei der eher an der Phänomenologie ausgerichtete Begriff der Lebensform bzw. der der Lebenswelt immer stärker in den Vordergrund rückt.

2. Der Rückgriff auf Kant und die Abwehr einer »religiösen Philosophie« Habermas’ Rekurs auf den Begriff der Lebensform ist auch bei der Beurteilung der kantischen Religionsphilosophie von Wichtigkeit. Im Anschluss an den Vortrag zum Friedenspreis des deutschen Buchhandels 20 und das zweibändige, im November 2019 erschienene Werk Auch eine Geschichte der Philosophie 21 antizipierend, beHabermas, »Die Revitalisierung der Weltreligionen«, 407. Habermas, »Die Revitalisierung der Weltreligionen«, 407. 19 Jürgen Habermas, »Die Grenze zwischen Glauben und Wissen. Zur Wirkungsgeschichte und aktuellen Bedeutung von Kants Religionsphilosophie«, in: Jürgen Habermas, Zwischen Naturalismus und Religion, Frankfurt a. M. 2005, 216–257, zitiert nach: Jürgen Habermas, Philosophische Texte, Bd. 5: Kritik der Vernunft, Frankfurt a. M. 2009, 342–386, hier 386. 20 Vgl. Jürgen Habermas, Glauben und Wissen. Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2001, Frankfurt a. M. 2001. 21 Vgl. Jürgen Habermas, Auch eine Geschichte der Philosophie, Bd. 1: Die 17 18

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tont der 2005 erschienene Beitrag »Die Grenze zwischen Glauben und Wissen. Zur Wirkungsgeschichte und aktuellen Bedeutung von Kants Religionsphilosophie«, dass sowohl die Moralität als auch die Institutionalisierung der Menschenrechte der Verankerung in einer Lebensform bedürfen, d. h. dass die tatsächliche Geltung moralisch-rechtlicher Grundprinzipien von einem geteilten, normativen Konsens getragen wird, der im »Hintergrundwissen« von habituellen und tradierten Lebensvollzügen wurzelt. Doch gerade die zeitgenössischen modernen Gesellschaften zeichnen sich durch die Pluralität solcher Lebenskontexte aus und dies gilt auch für die religiösen Inhalten zugeschriebene »regenerative Kraft« bezüglich dieses normativen Bewusstseins. 22 Abstrakte Gerechtigkeitsprinzipien, etwa in der Form eines Minimalkonsenses oder overlapping consensus, können für Habermas daher allein nicht auf Dauer die Motivation zu pflichtgemäßem bzw. gerechtem Handeln aufrechterhalten. Hinzu kommt, dass die religiöse Erfahrung, wenn sich die normative Kraft auf diese stützt, sich als solche der philosophischen Analyse entzieht. Deshalb soll und kann es zwar zur »Bergung kognitiver Gehalte« aus religiösen Überlieferungen kommen, aber nur insoweit solche Gehalte auch der Transformation in die auf der Verständigungsebene allein zählenden »öffentlichen Gründe« fähig sind. 23 Die diskursethische Aneignung religiöser Überlieferungen erscheint deshalb notwendig, weil Habermas die Wirkung sowohl der reinen praktischen Vernunft als auch die von Gerechtigkeitstheorien, zum Beispiel der von John Rawls, als unzureichend einschätzt, um einer »entgleisenden Modernisierung« sowie der mit ihr einher gehenden Verkümmerung des normativen Bewusstseins entgegenzutreten. 24 Ausschlaggebend für diese Einschätzung ist der gewissermaßen abstrakte Charakter der reinen Vernunft bzw. der Theorien der Gerechtigkeit, d. h. deren Mangel an Kreativität bezüglich der für die Normenbildung notwendigen »sprachlichen okzidentale Konstellation von Glauben und Wissen, Bd. 2: Vernünftige Freiheit. Spuren des Diskurses über Glauben und Wissen, Frankfurt a. M. 2019. 22 Vgl. Habermas, »Die Grenze zwischen Glauben und Wissen«, 379. 23 Habermas, »Die Revitalisierung der Weltreligionen«, 406. 24 Vgl. Habermas, »Die Grenze zwischen Glauben und Wissen«, 344.

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Welterschließung« 25. Diese manifeste Kritik an der Wirkungskraft reiner praktischer Vernunft geht jedoch einher mit einem subtilen Rückgriff auf Kant. So ist zwar einerseits das Sittengesetz bei Kant an sich unabhängig von der Idee eines Gottes, und selbst der eigentliche Zweck der Vernunft-Religion liegt in der moralischen Besserung des Menschen, doch kann andererseits der Zweck eben dieses unseres Rechthandelns nach Kant der Vernunft »unmöglich gleichgültig sein« 26. Deshalb kommt es zu einem Übergang von der noch der intelligiblen Welt zuzuordnenden Idee eines Reiches der Zwecke im moralischen Gemeinwesen zum Ideal des verwirklichten höchsten Gutes, also dem Zusammenstimmen von Moral und Glückseligkeit, und zwar als kooperativ zu erzielender Zustand in der Welt der Erscheinungen. Das Erreichen dieses Zieles kann zwar nicht selbst zur Pflicht gemacht werden, 27 das Streben nach seiner Verwirklichung ist jedoch nach Kant schon mit der Achtung für das moralische Gesetz gegeben, denn »ohne allen Zweck kann kein Wille sein; obgleich man, wenn es auf bloße gesetzliche Nötigung der Handlungen ankommt, von ihm abstrahieren muss« 28. Dann kann allerdings mit Habermas gefolgert werden, dass »Kant der moralischen Denkungsart die Dimension der Aussicht auf eine bessere Welt um der Moral selbst willen hinzugefügt [hat], d. h. um die moralische Gesinnung im Vertrauen zu sich selbst zu stärken und gegen Defätismus abzuschirmen« 29. Daher ist der Glaube, der sich mit diesem Vertrauen verbindet, eine Haltung, welche die fides in ihrem Modus nachahmt, 30 nicht aber die religiöse fides selbst. Dann zielt die Idee einer unsichtbaren

Habermas, »Die Grenze zwischen Glauben und Wissen«, 344. Immanuel Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, Hamburg 2017, 5, B VII. 27 Das effektive Erreichen eines solchen Zieles liegt für Kant außerhalb der Grenzen der menschlichen Klugheit. 28 Immanuel Kant, Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis, in: Immanuel Kant, Werke, Bd. 11, Frankfurt a. M. 1977, 131, A 212. 29 Habermas, »Die Grenze zwischen Glauben und Wissen«, 356. 30 Vgl. Habermas, »Die Grenze zwischen Glauben und Wissen«, 357. 25 26

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Kirche durchaus auf einen »ethisch-bürgerlichen Zustand« 31, welcher der unter dem Tugendgesetz lebenden Gemeinschaft eine institutionelle Gestalt gibt, weil nur so der Sieg des guten Prinzips über das Böse erhofft werden kann. 32 Habermas’ Lesart kommt damit zu einem ersten Teiltheorem, welches das Verhältnis von Glauben und Wissen unter dem Blickwinkel gesellschaftlicher Normenbildung artikuliert: Kants Versuch besteht darin, »das kategorische Sollen göttlicher Gebote auf diskursivem Wege zu rekonstruieren«, den »Modus des Glaubens vernünftig zu deflationieren, ohne ihn zu liquidieren« und schließlich die Transzendenz des Gottesstandpunktes in eine »funktional äquivalente innerweltliche Perspektive überzuführen«. 33 Dabei soll allerdings die innerweltliche »Sprengkraft« des religiösen Bezugs zur Transzendenz einer Privatisierung des Glaubens entgegenwirken, welche den Glauben von innerweltlichen, kooperativ zu erzielenden Anliegen ja gerade abkoppeln würde. Eine von außen hereinbrechende Transzendenz, etwa als Offenbarung, würde jedoch von der Vernunft nicht mehr nachvollziehbar und somit nicht mehr in diskursiv einsichtige öffentliche Gründe übersetzbar sein. Demgegenüber konzipiert Habermas den Begriff einer Transzendenz von innen, der aber, wie sich herausstellen wird, bei ihm gerade nicht religiös konnotiert ist. Das zweite Teiltheorem entspricht dann dem Gebot der Einhaltung kantischer Abgrenzung nicht nur gegenüber metaphysischen Erkenntnisansprüchen, sondern auch gegenüber religiösen Glaubensgewissheiten. Eine solche Abgrenzung ist Grenzziehung zwischen Glauben und Wissen. Beim Überschreiten dieser Grenze dringen »religiöse Motive unter falschem Namen in die Philosophie [ein]«, mit der Folge, dass »die Vernunft ihren Halt [verliert] und ins Schwärmen« gerät. 34 Habermas’ Rückgriff auf Kant ist von daher als Abwehr einer ins Schwärmen geratenen Philosophie, d. h. einer »religiösen Philosophie« zu verstehen, welche sich »verheißungsvolle Konnotationen eines erlösungsreligiösen Wortschatzes

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Kant, Die Religion, B 130. Vgl. Kant, Die Religion, B 125. Habermas, »Die Grenze zwischen Glauben und Wissen«, 364 Habermas, »Die Grenze zwischen Glauben und Wissen«, 381.

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nur ausleiht und zunutze macht, um sich von der Strenge diskursiven Denkens zu dispensieren«. 35 Dieser Rückgriff erlaubt es Habermas, über die praktische Vernunft hinaus seinen eigenen diskursethischen Ansatz näher zu bestimmen. Entscheidend ist dabei der Begriff des kommunikativen Handelns bzw. der kommunikativen Vernunft.

3. Von der praktischen zur kommunikativen Vernunft und zur Rechtsnorm Der Begriff des kommunikativen Handelns hat zunächst die allgemeine Bedeutung, nach welcher der Sprache die Funktion der Handlungskoordinierung zukommt. Dies ist spätestens seit Nietzsche bekannt. Zu einem Paradigmenwechsel in der Philosophie kommt es jedoch erst, wenn »Sprache als ein universales Medium der Verkörperung von Vernunft begriffen wird« 36. Der linguistic turn beginnt zunächst mit einer anti-psychologistischen Neuorientierung des Denkbegriffes, weg von individuellen und nur gegenständlichen Vorstellungen und hin zur prädikativen Satzform als Erfassung von Sachverhalten und Tatsachen. Dann hat Denken propositionalen Charakter, Sätze haben eine transindividuelle Bedeutung und somit auch einen transindividuellen Geltungsanspruch: Sie drücken einen Wahrheitsgehalt bzw. einen Inhalt aus, der vom individuellen Erlebnisstrom unabhängig ist. So ist das, »was einen dargestellten Gedanken als Allgemeines […] unterscheidet […], die in Sprachzeichen und grammatischen Regeln begründete Idealität« 37. Aussagesätze stellen hierbei die Wahrheitsfrage, welche zu einer Ja/Nein-Stellungnahme herausfordert, denn es ist erst »der bejahte Gedanke […], der eine Tatsache« 38 ausdrückt, d. h. die BeHabermas, »Die Grenze zwischen Glauben und Wissen«, 386; Habermas denkt hier unter anderem an Heidegger, dessen »neuheidnische Spekulation« von einem Ort jenseits des Logos spricht und »die Kraft des überzeugenden Arguments hinter sich gelassen hat« (386). 36 Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats, Frankfurt a. M. 1992, 23. 37 Habermas, Faktizität und Geltung, 27. 38 Habermas, Faktizität und Geltung, 27; wobei Habermas betont, dass das 35

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deutungsidealität in eine Geltungsidealität verwandelt. Problematisch ist jedoch, dass »die Idealität der Wahrheitsgeltung sich nicht wie die Idealität der Bedeutungsallgemeinheit allein […] aus der Regelstruktur von Sprache« erklären lässt, 39 sondern Interpretations- und Kommunikationsleistungen zu berücksichtigen hat. Habermas übernimmt hier den Charles S. Peirces Lösungsansatz und dessen Modell der Verständigungspraxis: »An die Stelle des zweistelligen Begriffs einer sprachlich repräsentierten Welt tritt bei Peirce der dreistellige Begriff der sprachlichen Repräsentation von etwas für einen möglichen Interpreten. Die Welt als Inbegriff möglicher Tatsachen konstituiert sich nur für eine Interpretationsgemeinschaft, deren Angehörige sich innerhalb einer intersubjektiv geteilten Lebenswelt miteinander über etwas in der Welt verständigen […]. Mit dem assertorischen Sinn seiner Behauptung erhebt ein Sprecher den kritisierbaren Anspruch auf die Gültigkeit der behaupteten Aussage […]. Der berechtigte Wahrheitsanspruch eines Proponenten soll sich mit Gründen gegen die Einwände möglicher Opponenten verteidigen lassen und am Ende auf ein rational motiviertes Einverständnis der Interpretationsgemeinschaft im Ganzen rechnen dürfen.« 40

Nichtsdestotrotz muss der Wahrheitsanspruch auch die auf eine partikulare Lebenswelt eingespielte Interpretationsgemeinschaft transzendieren können. Bei Peirce geschieht dies durch den Begriff der final opinion, der einen unter idealen Bedingungen erreichten Endkonsens bedeutet und als Horizont einer »community without definite limits« 41 gilt. Wahrheit, so Habermas in seinem PeirceKommentar, ist »rationale Akzeptabilität«, d. h. die »Einlösung eines kritisierbaren Geltungsanspruches unter den Kommunikationsbedingungen eines im sozialen Raum und in der historischen Zeit ideal erweiterten Auditoriums urteilsfähiger Interpreten«. 42 Das erschließt die Bedeutung von Habermas’ Begriff einer »Transzendenz von innen«, d. h. der Transzendierung der raum-zeitlichen veritative Sein nicht mit Existenz verwechselt werden darf, da sonst ein platonisches bzw. neuplatonisches Ansichsein der idealen Sachverhalte folgen würde. 39 Habermas, Faktizität und Geltung, 28 f. 40 Habermas, Faktizität und Geltung, 29. 41 Charles S. Peirce, Collected Papers, Vol. V, Cambridge (Mass.) 1966, 311. 42 Habermas, Faktizität und Geltung, 30.

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Grenzen, jedoch »aus der Perspektive einer in der Welt verorteten endlichen Existenz«. 43 Offensichtlich ist damit ein endgültiger Wahrheitsanspruch nicht einzulösen. Vielmehr werden dadurch die Lernprozesse einer de jure unbegrenzten Kommunikationsgemeinschaft eröffnet, wobei dennoch eine hinreichende Begründung vorliegt, sofern die »Projektion« auf den unterstellten universellen Diskurs zu einem bestimmten Zeitpunkt von der Interpretationsgemeinschaft für schlüssig gehalten wird. 44 Dieses Modell, welches bei Peirce noch am Vorbild der Gelehrtenrepublik angelehnt ist, soll auf die Alltagspraxis und nicht zuletzt auf die zentrale Frage der Normativität übertragen werden. Eine Relevanz für die Problematik des Erhalts sozialer Ordnungen scheint in der Tat gegeben zu sein, denn soziale Ordnungen bestehen ja gerade »im Modus der Anerkennung von normativen Geltungsansprüchen« 45. In diesen geht es zwar auch darum, sich mit jemandem über die Welt zu verständigen, aber eben auch so, dass sich »interaktionsrelevante Verpflichtungen ergeben« 46, d. h. es werden kritisierbare Geltungsansprüche erhoben, die auf eine intersubjektive Anerkennung von Pflicht zielen. Werden normative Geltungsansprüche und deren potentielle Einlösung durch Begründung von den kommunikativ Handelnden selbst praktiziert, werden die mit Normativität verbundenen Idealisierungen nach Habermas »vom transzendentalen Himmel auf den Boden der Lebenswelt herabgeholt« 47. Zwischen Faktizität und Geltung, zwischen sozialen Fakten einerseits und argumentativ erhobenen Geltungsansprüchen andererseits, besteht jedoch ein vielschichtiges Spannungsverhältnis: Zum einen ist die beanspruchte Geltung nicht mit der sozialen Geltung faktisch eingespielter Standards gleichzusetzen, die als solche Habermas, Faktizität und Geltung, 31. »Dabei gilt dasjenige Maß der Erfüllung als ›hinreichend‹, welches unsere jeweilige Argumentationspraxis zu einem raumzeitlich lokalisierten Bestandteil des unvermeidlich unterstellten universellen Diskurses einer entgrenzten Interpretationsgemeinschaft qualifiziert« (Habermas, Faktizität und Geltung, 31). 45 Habermas, Faktizität und Geltung, 33. 46 Habermas, Faktizität und Geltung, 34. 47 Habermas, Faktizität und Geltung, 34. 43 44

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nur eine empirische Tatsache unter vielen möglichen ist. Grundsätzlicher wird diese Spannung sogar, wenn die Diskrepanz klar wird, die zwischen einer kontrafaktisch behaupteten sowie normativ anvisierten Universalität und einer hic et nunc verorteten Akzeptanz besteht: Denn »die Universalität der behaupteten rationalen Akzeptabilität sprengt alle Kontexte, aber nur das verbindliche Akzeptieren vor Ort macht die Geltungsansprüche zu Schienen, über die eine kontextgebundene Alltagspraxis gleiten kann« 48. Doch ist die Akzeptanz eines universalen Geltungsanspruches noch die günstigste Variante. Denn es leuchtet sofort ein, dass ein möglicher Dissens wesensbedingter Teil des kommunikativen Handelns ist. Faktisch gesehen ist jedoch ein solcher Dissens mit »hohen Kosten« für die Handlungskoordinierung verbunden: »Normalerweise stehen nur wenige Alternativen zur Verfügung: einfache Reparaturleistungen; das Dahingestelltseinlassen kontroverser Ansprüche mit der Folge, dass der Boden geteilter Überzeugungen schrumpft; der Übergang zu aufwendigen Diskursen mit ungewissem Ausgang und störenden Problematisierungseffekten; Abbruch der Kommunikation und Aus-dem-Feld-Gehen; schließlich Umstellung auf strategisches, am je eigenen Erfolg orientiertes Handeln.« 49

In der Tat wäre der Dissens sogar die Regel, »wenn das kommunikative Handeln nicht in lebensweltliche Kontexte eingebettet wäre« 50. Denn der Horizont der geteilten Lebenswelt sorgt für einen »Hintergrundkonsens« aus »gemeinsamen unproblematischen Überzeugungen«, welche einen »Fels konsentierter Deutungsmuster, Loyalitäten und Fertigkeiten« ausmachen. 51 Während die Lebenswelt – im Übrigen ganz ähnlich wie die Tradition bei Gadamer – »Horizont der Sprechsituationen« und »Quelle von Interpretationsleistungen« ist, wird sie ihrerseits wiederum durch kommunikatives Handeln reproduziert, 52 in ihrer Wirksamkeit bestätigt und gleichsam ausagiert. Der Hintergrundcharakter der Lebenswelt bedeutet eine zugleich »intensivierte und defiziente Form 48 49 50 51 52

Habermas, Faktizität und Geltung, 37. Habermas, Faktizität und Geltung, 37 f. Habermas, Faktizität und Geltung, 38. Habermas, Faktizität und Geltung, 38. Habermas, Faktizität und Geltung, 38.

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des Wissens« 53. Intensiviert, insofern diese Wissensform vor-prädikativ in uns vorhanden bzw. tätig ist, mit uns gleichsam derart verstrickt ist, dass wir aus ihr handeln. Defizient, insofern sie als Hintergrund zerfällt, sobald sie thematisiert bzw. problematisiert, d. h. ausgesprochen wird. Genau betrachtet ist das lebensweltliche Hintergrundwissen gar keine Form des Wissens, weil Wissen als grundsätzlich fallibel anzusehen ist und somit seine eigene Problematisierung zumindest potentiell mit einschließt. Gerade weil er diese Problematisierung an sich ausschließt, trägt der lebensweltliche Hintergrundkonsens dazu bei, das Dissensrisiko zu vermindern und die Spannung zwischen Faktizität und Geltung »einzuebnen«. Doch dies ist nur einer von mindestens zweien gesellschaftlichen Konsensfaktoren. Neben den lebensweltlichen Gewissheiten unterscheidet Habermas eine zweite, stabilisierende Instanz, nämlich den Autoritätsanspruch archaischer oder traditioneller Institutionen: »Die Lebenswelt, von der Institutionen einen Bestandteil bilden, rückt als ein durch kommunikatives Handeln reproduzierter Zusammenhang ineinander verschränkter kultureller Überlieferungen, legitimer Ordnungen und personaler Identitäten vor Augen […]. Diesmal vollzieht sich die Verschmelzung von Faktizität und Geltung nicht im Modus einer ursprünglichen Vertrautheit mit tragenden Gewissheiten, die wir als Lebenswelt gleichsam im Rücken haben, sondern im Modus einer gefühlsambivalent besetzten Autorität, die uns gebieterisch entgegentritt. Die Ambivalenz dieses Geltungsmodus hat Durkheim am Status heiliger Objekte herausgearbeitet, die den Betrachtern ein aus Schrecken und Enthusiasmus gemischtes Gefühl einflößen, in ihnen zugleich Ehrfurcht und Erschauern auslösen.« 54

Während diese beiden Bestandteile gesellschaftlichen Lebens – die »im Rücken stehende« Lebenswelt und die »uns entgegentretende« Macht traditioneller Autorität – die Normativität prägen und die Kluft zwischen Faktizität und Geltungsanspruch überbrücken helfen, zeichnen sich dennoch moderne zeitgenössische Gesellschaften dadurch aus, dass mit ihrer steigenden Komplexität sowie mit der

53 54

Habermas, Faktizität und Geltung, 39. Habermas, Faktizität und Geltung, 40 (Hervorhebungen im Original).

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»Entzauberung« tradierter Institutionen und Weltbilder durch die Moderne auch ein höheres Dissensrisiko entsteht: »Je mehr die Komplexität der Gesellschaft zunimmt und die ethnozentrisch eingeschränkte Perspektive sich weitet, um so stärker tritt eine Pluralisierung von Lebensformen und eine Individualisierung von Lebensgeschichten hervor, die die Zonen der Überlappung oder der Konvergenz lebensweltlicher Hintergrundüberzeugungen schrumpfen lassen; und im Maße ihrer Entzauberung zerfallen die sakralisierten Überzeugungskomplexe unter ausdifferenzierten Geltungsaspekten in die mehr oder weniger beliebig thematisierbaren Gehalte einer kommunikativ verflüssigten Überlieferung.« 55

Somit verlagert sich in heutigen Gesellschaften die Bürde der sozialen Integration immer mehr auf diskursiv-normative Verständigungsleistungen, d. h. sie verlagert sich auf kommunikatives Handeln. Da Normen einerseits faktischen Zwang, andererseits aber auch eine legitime Geltung beinhalten müssen, muss diese im Zuge der Verständigung erarbeitete Normativität ihren Niederschlag in einem System von Rechten finden, welches »subjektive Handlungsfreiheiten mit dem Zwang des objektiven Rechts ausstattet« 56. Demokratisch ist diese Vermittlung durch das Recht, wenn die Adressaten der Rechtsnorm zugleich ihre Urheber sind. Mit Rousseaus Contrat social gesprochen: »quand tout le peuple statue sur tout le peuple« 57. So kann Habermas zusammenfassend feststellen: »[D]as moderne Recht [zehrt] von einer Solidarität, die sich in der Staatsbürgerrolle konzentriert und letztlich aus kommunikativem Handeln hervorgeht« 58. Die Herausforderungen, welche unsere modernen, multikulturellen und multikonfessionellen Gesellschaften mit sich bringen, bergen somit zumindest die Chance einer wiedergefundenen Staatsbürgerrolle und eines Sich-verstehen-Lernens auf eine demokratische Verständigungspraxis. Dabei wird der Religion die Rolle einer Revitalisierung des normativen Bewusstseins zumindest zum Habermas, Faktizität und Geltung, 42. Habermas, Faktizität und Geltung, 45. 57 Jean-Jacques Rousseau, Du contrat social, Paris 1992, Livre II, Chapitre VI, 62. 58 Habermas, Faktizität und Geltung, 51. 55 56

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Teil anvertraut. Andererseits aber sollen nur öffentlich kritisierbare Geltungsansprüche zum Meinungsbildungsprozess und zur Bildung der Rechtsnormen beitragen. Es entsteht von daher ein Spannungsverhältnis, nicht allein zwischen Faktizität und Geltung, sondern zwischen dieser dem Religiösen zugeschriebenen Rolle und dem ihm zukommenden Spielraum, nämlich das der alleinigen Geltung (oder auch des »zwanglosen Zwangs«) des besseren Arguments unter diskurstheoretischen Voraussetzungen, welche doch zur Neutralisierung weltanschaulicher und religiöser Prämissen führen sollen. Der Rückgriff auf Kant und, letztendlich, auf die Idee einer Vernunft-Religion, die als Kern plural-partikularer Religionen fungiert, ist bei Habermas der Weg, um diese Spannung, gerade auch unter Bedingungen gesellschaftlicher Pluralität und Multikonfessionalität, zu lösen. Dabei soll kommunikatives Handeln, d. h. vor allem demokratische Meinungs- und Normenbildung, im Rahmen einer um das kommunikativ-pragmatische Element gleichsam erweiterten praktischen Vernunft den kantischen Ansatz ergänzen und zugleich in diesem fundiert sein. Eine unerwartete Nähe zu Michel Henrys lebensphänomenologischer Demokratie-Analyse ergibt sich hier, insofern Henry gerade die Wichtigkeit der Religion für die absolut gebotene Einhaltung von Grundprinzipien der Freiheit, der Gleichheit und der Brüderlichkeit unterstreicht. Doch zugleich ist die geforderte Anerkennung dieser Verankerung des individuellen wie kollektiven Lebens im absoluten Leben, also in Gott, 59 auch eine absolute Grenze des demokratischen Selbstbestimmungsprozesses. Ob eine solche Forderung diskursiv hinreichend in die Form des besseren Arguments gegossen werden kann, ist fraglich, auch deshalb, weil es sich, Der von Henry vollzogene Übergang von einer Phänomenologie der lebendigen Subjektivität zu einer transzendentalen Phänomenologie des absoluten Lebens ist entscheidend für die daraus abgeleitete Religions-und Gotteslehre bei ihm. Dieser wichtige Schritt führt Henry dazu, das phänomenologisch Erkannte mit der christlichen Überlieferung zu vergleichen und auf wesentliche Übereinstimmungen zu stoßen (vgl. u. a. dazu Michel Henry, Incarnation. Une philosophie de la chair, Paris 2000, dt. Übers.: Inkarnation. Eine Philosophie des Fleisches, aus dem Französischen von Rolf Kühn, Freiburg i. Br./München 2002.

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Henry zufolge, bei einer solchen Anerkennung um ein immanentaffektives Offenbaren handelt, welches sich letztlich der diskursiven Kraft des Arguments entzieht.

4. Demokratie und Religion in der neueren französischen Phänomenologie: Michel Henrys Lebensphänomenologie 4.1 Transzendentale Begründung des Politischen und genealogische Rückführung auf das Affektiv-Immanente Die Thematik einer Verankerung der Lebendigen (vivants) im göttlichen absoluten Leben (Vie) hat Auswirkungen auf den Begriff des Politischen als solchen und erklärt, warum Henry die Problematik der Demokratie neu formuliert. Dafür müssen grundlegende Aspekte seiner Lebensphänomenologie herangezogen werden. Zunächst ist seine allgemeine Begriffsbildung des Politischen (le politique) als Phänomenfeld genealogisch zu verstehen, insofern sie dieses als durch die vorpolitische Dimension der individuellen Praxis konstituiert sieht. 60 Individuell ist diese Praxis wiederum, insofern sie auf den nicht weiter reduzierbaren Kern einer immanentaffektiven und somit vorintentionalen Ipseität zurückzuführen ist. Schließlich handelt es sich um eine Praxis, diese jedoch basiert auf dem immanent Affektiven. Zwar ergibt sich daraus die NotwendigHabermas äußert sich in der Einleitung zur Diskussion mit Kardinal Ratzinger 2004 kritisch zur These einer vorpolitischen Grundlage des demokratischen Rechtsstaats (weiter auch im Kontext seiner Diskussion von Ernst-Wolfgang Böckenförde, »Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation«, in: Ernst-Wolfgang Böckenförde, Recht, Staat, Freiheit, Frankfurt a. M. 1991, 92 ff.). Einerseits ist für Habermas »der Staatsbürgerstatus […] in eine Zivilgesellschaft eingebettet, die aus spontanen […], ›vorpolitischen‹ Quellen lebt«, andererseits geht er aber davon aus, dass »die Verfassung des liberalen Staates ihren Legitimationsbedarf selbstgenügsam, also aus den kognitiven Beständen eines von religiösen und metaphysischen Überlieferungen unabhängigen Argumentationshaushaltes bestreiten kann« (Jürgen Habermas, »Vorpolitische Grundlagen des demokratischen Rechtsstaates?« (2004), in: Jürgen Habermas, Zwischen Naturalismus und Religion. Philosophische Aufsätze, Frankfurt a. M. 2009, 106– 118, hier 109 f.).

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keit der Handlungskooperation, und somit die einer gesellschaftlichen Praxis, welche jedoch im immanent Individuellen fundiert bleibt. 61 Für Henrys Lebensphänomenologie besitzt das Politische folglich keine »Autonomie«, sondern es steht in einem Abhängigkeitsverhältnis zu der an sich vorpolitischen Praxis, welche zugleich den transzendentalen Ermöglichungsgrund politischer Phänomene liefert. Dies ist der erste Schritt in Henrys transzendentaler Begründung des Politischen. Entscheidend ist dabei die Bewertung der Kategorien Gesellschaft, Ökonomie, Politik als irreelle Entitäten, 62 d. h. als intentionale Konstrukte, die es von dem sie produzierenden reell-affektiven Grund zu unterscheiden gilt. Somit ist das intentionale Erfassen gesellschaftlicher Phänomene kein Erfassen ihres reellen Kerns, d. h. der lebendigen Subjektivität (subjectivité vivante), auf die sie letztendlich zurückgeführt werden müssen. 63 Der zweite Schritt folgt unmittelbar aus der vollzogenen transzendentalen Reduktion des Politischen und schließt auf eine ihm wesentlich zukommende Aporie. Während die Sphäre des Politischen der Autonomie entbehrt, ist sie zugleich dem Reellen individueller Praxis phänomenologisch heterogen. Als »System« gedacht ist das Politische eine Abstraktion und als solche ist es von der immanent-affektiven Subjektivität zu unterscheiden. Ersteres besteht

Demnach kann auch die Hypothese eines sozio-ökonomischen Determinismus nicht aufrechterhalten werden, auch weil gesellschaftliche Formen der Praxis und gesellschaftliche Strukturen nur dann in die Realität der Praxis gelangen, wenn sie von handelnden Individuen gleichsam übernommen werden. Ferner entdeckt Henry auch die Grundlage der Gemeinschaft in einer vorintentionalen, pathisch-affektiven Intersubjektivität (vgl. dazu Michel Henry, Phénoménologie matérielle, Paris 1990). 62 Nach Husserl ist bekanntlich zwischen reellen und ideellen (hier als »irreell« bezeichneten) Komponenten eines Erlebnisses zu unterscheiden. Als reell gelten hyletische Daten und noetische Momente, während die noematischen Korrelate (und damit der intentionale Gegenstand) als ideell gelten. Henrys Phänomenologie übernimmt und verschärft diese Unterscheidung, indem sie den irreellen Charakter abstrakter und totalisierender Kategorien gegenüber dem reell-affektiven Charakter der Praxis hervorhebt, wobei diesem ein phänomenologischer Primat zukommt. 63 Vgl. Michel Henry, Du communisme au capitalisme. Théorie d’une catastrophe, Paris 1990, 57. 61

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aus Objektivierungen, die bestenfalls in der Form von Vorstellungen ein Bild der Praxis abgeben. Letztere bleibt jedoch aufgrund ihres vorintentionalen Charakters dem Bild wesensfremd und lässt sich nicht adäquat durch dieses erschließen. Die Aporie des Politischen besteht also darin, dass es etwas auszudrücken hat – nämlich, im weitesten Sinne, die in der individuellen Praxis begründete Notwendigkeit zur Handlungskooperation und Handlungsfreiheit –, was es jedoch nicht »ohne Rest« bzw. getreu ausdrücken kann. Die res publica, insofern sie sowohl allgemein als auch öffentlich ist, führt deshalb zu einem weiteren Problem, nämlich das der politischen Repräsentation, im Zuge derer öffentliche Angelegenheiten zu den Angelegenheiten einiger weniger zu drohen werden. Die repräsentative Demokratie ist daher mit einer doppelten Aporie konfrontiert und sieht sich zudem der Gefahr einer Hypostasierung des Politischen ausgesetzt – d. h. einer Entkoppelung oder Reversion des eigentlichen Begründungs- bzw. Fundierungsverhältnisses zwischen Leben und Politik –, die in totalitären Systemen ihre menschenverachtende Vollendung findet. Umgekehrt wird daraus ersichtlich, wie der transzendentale Gestus, indem er ein solches Fundierungsverhältnis diskursiv verteidigt und ihm eine normative Geltung zuschreibt, nicht nur zu einer axiologischen Kritik des Totalitarismus taugt, sondern auch eine sich als selbstbezüglich bzw. selbstgründend verstehende Demokratie kritisch hinterfragt. Aus dem Paradigma der Henry’schen Lebensphänomenologie ergibt sich, im Gegenteil, dass Politik nie selbstbezüglich sein kann, sondern immer im immanenten Leben verankert ist bzw. sein sollte. Ein kurzer Rückgriff auf den von Henry vertretenen Lebensbegriff verdeutlicht dies.

4.2 Rückgriff auf den Lebensbegriff: Die Abhängigkeit des Politischen von seiner vorpolitischen Grundlage Henrys Phänomenologie kann sowohl als transzendental als auch als »hyletisch« bezeichnet werden. Den Begriff der hylé entlehnt Henry der Phänomenologie Husserls, mit einem entscheidenden Unterschied jedoch. Während noch für Husserl die hylé reine Materialität (sense-data, Impressionalität) für ein Bewusstsein ist, und 183 https://doi.org/10.5771/9783495825372 .

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deshalb als solche notwendig dazu bestimmt ist, in eine intentionale Form (oder morphé) gebracht zu werden, um überhaupt erscheinen zu können, kehrt die Henry’sche »materiale Phänomenologie« (phénoménologie matérielle) dieses Verhältnis um, indem sie (1) der hylé eine eigene Weise des Erscheinens als Affektivität bescheinigt, und zwar unabhängig von der intentionalen Form; (2) die Intentionalität selbst wieder in die tiefere Schicht eben dieser Affektivität gründet. 64 Da es nicht bei der Intentionalität als alleinigem Erscheinungsmodus bleibt, muss von einer »Duplizität des Erscheinens« (duplicité de l’apparaître) ausgegangen werden. Gleichsam parallel zum intentionalen Erscheinen, durch den der intentionale Gegenstand als transzendenter Gegenstand konstituiert wird, macht die Lebensphänomenologie ein affektives bzw. »pathisches« Erscheinen aus (apparaître pathétique), das in reiner Immanenz, d. h. in einer der Gegenstandsbeziehung wesensfremden Weise, das Entstehen der Gegenstandsbeziehung selbst ermöglicht. Henry bezeichnet genau dieses affektive Erscheinen als Leben. Die Materialität des Lebens bekommt hier eine rein phänomenologische Bedeutung (und nicht etwa eine biologische). Daraus ergibt sich zumindest ein Ausgangspunkt dafür, gesellschaftliche Formen der Praxis und der Handlungskoordinierung, und nicht zuletzt das Politische selbst, in ihrem Abhängigkeitsverhältnis zur Affektivität bzw. zum »Leben« zu verstehen. Dies ist auch der Hintergrund, vor dem Henry seinen Kulturbegriff sowie den gegensätzlichen Begriff der »Barbarei« entwickelt, eine Begriffsbestimmung, an die unmittelbar seine Kritik

64 Wie Henry in Phénoménologie matérielle, 110 f., festhält: »Cette autodonation est structurellement hétérogène au ›se-rapporter-à‹. Elle n’est pas en elle-même un ›se-rapporter-à‹ mais l’exclut de soi insurmontablement, elle n’est pas hors de soi mais en soi – non pas transcendance mais immanence radicale. Et c’est sur le fond seulement de cette immanence radicale que quelque chose comme une transcendance est possible. C’est seulement en tant que non-voir, en ne se rapportant pas à lui-même dans un voir, en ne se révélant pas grâce à lui, et ainsi en tant que non-vu, en tant qu’invisible, que le voir s’effectue« (Hervorhebung im Original). Die Affektivität ist somit ein unsichtbares Selbst-Affizieren, das zugleich aber Bedingung der intentionalen Sichtbarkeit und Gegenstandsbeziehung ist.

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des Totalitarismus anknüpft: Insofern »Barbarei« als das sich gegen sich selbst kehrende Leben begriffen wird, kann der Totalitarismus als eine politische Form der »Barbarei« analysiert werden, weil es eine extreme Form der Hypostasierung des Politischen darstellt, in der das Fundierungsverhältnis »Leben-Politik« geradezu umgekehrt wird: Das Politische ist alles (und alles ist somit politisch), das individuell-affektive Leben (und damit das Gebot, dieses zu schützen) besitzt bestenfalls einen untergeordneten Wert. Die Umkehrung der totalitären Hypostase versteht Henry wiederum und im Gegenzug als Bejahung des Lebens bzw. als auf das Leben gerichtete Aufmerksamkeit, was zu den notwendigen Bedingungen der Kultur und dem Aufbau von kulturellen Vermittlungen gehört, durch welche sich lebendige Praxis zu steigern sucht. In dieser Transzendentalisierung des Politischen wird von daher das Leben zur Quelle politisch-kultureller Legitimität und damit auch zum Instrument normativer Kritik. Die totalitäre Bedrohung der Gesellschaft geht also über historische Modelle hinaus, denn sie befindet sich im Kern in jeder Tendenz, die zur Hypostase des Politischen führt. Damit stellt sich die Frage, ob sich die Demokratie einer derartigen Tendenz effektiv entgegenstellen kann bzw. ob sie als politisches System ihrer vorpolitischen Grundlage gerecht wird.

4.3 Demokratie und Religion: Ein schwieriges Verhältnis Wie Henry unterstreicht, besteht das Wesen der Demokratie darin, »in der ihr eigenen Sphäre die wahre Ordnung der Dinge wieder einzuführen, d. h. die Fundierung des Politischen im Leben, für das Demokratie nur eine Vermittlung sein kann, ein Mittel zum Zweck, der aus dem Leben selbst und dem, was ihm zugehörig ist, besteht […], [nämlich] die Realität als Subjektivität des lebendigen Individuums« 65.

Neben dem bereits erwähnten Problem der politischen Repräsentation, d. h. der Wahrung des öffentlich-allgemeinen Charakters der Michel Henry, »La vie et la république«, in: Michel Henry, Phénoménologie de la vie, volume III, Paris 2003, 162 (hier sowie für nachfolgende Zitate: Übertragung ins Deutsche durch den Verf.).

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res publica im Rahmen einer repräsentativen Demokratie, sieht Henry ein entscheidendes Problem im Verhältnis von Demokratie und Religion. Vor allem Henrys Artikel »Difficile démocratie« will verdeutlichen, dass, sofern das demokratische Vorhaben sich auf eine Opposition zur Religion festlegt, es sich paradoxerweise von seinen eigenen Grundlagen zu entfernen droht: Das demokratische Grundprinzip bzw. -vorhaben besteht darin, dass eine Gesellschaft selbst über ihr Schicksal bestimmt, d. h. gleichsam autonom über die ihr zugrundeliegenden Werte, Normen und Organisationsformen entscheidet. Damit »definiert sich Demokratie in Opposition zur Religion«, insofern »der transzendente Ursprung des moralisch-religiösen Gesetzes allen Menschen als eine unzumutbare Exteriorität erscheint«. 66 Doch um der Gefahr einer unbegrenzten Anwendung des Mehrheitsprinzips zu entgehen, muss die Demokratie dem Schutz der Minderheiten und der einzelnen Person einen absoluten Wert verleihen, welcher dadurch aber dem Mehrheitsprinzip entzogen wird. Dies gilt im Allgemeinen für Menschenrechte. Doch »da sie außerhalb der Reichweite eines jeden politischen Prinzips situiert sind […], können ›Die Menschenrechte‹ der Demokratie nur unter der Bedingung als Grundlage dienen, dass sie selbst eine Grundlage besitzen« 67. Daher die Folgerung: »Ob man es will oder nicht, Demokratie verweist auf etwas außerhalb ihrer selbst, nämlich auf die metaphysische Frage nach dem Wesen des Menschen« 68. Indem Demokratie sich so auf ihre (vorpolitische) ethische Vorgabe bezieht, bezieht sie sich auf eine »tiefer gelegene Wahrheit, auf welche die Ethik selbst gründet, und die sich im Herzen des Menschen oder, besser, in dem

Michel Henry, »Difficile démocratie«, in: Henry, Phénoménologie de la vie, volume III, Paris 2003, 171; die Parallelen zu Habermas’ Begriff einer im Zuge der Moderne hinterfragten »Transzendenz von außen« sind hier augenscheinlich. 67 Henry, »Difficile démocratie«, 173. 68 Henry, »Difficile démocratie«, 175. Für das von Habermas anvisierte nachmetaphysische Denken ist eine solche Fragestellung hingegen kaum möglich. 66

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befindet, was ihn hervorbringt und aus ihm macht, was er ist« 69. Im Kontext der Lebensphänomenologie Michel Henrys kann diese »tiefere Wahrheit« nur im Leben als immanenter Affektivität liegen, und diese ist es, welche die Achtung der Würde des Einzelnen, aber auch der Werte wie Freiheit und Gerechtigkeit fundiert: »Wenn religio dieses innere Band des Lebendigen mit dem Leben bezeichnet, muss gesagt werden, dass jede Freiheit religiös und, wie dieses Band selbst, unantastbar, unveräußerlich und unerlässlich – oder eben ›heilig‹ ist« 70. »Religion« ist hier etymologisch als immanentes Band der Lebendigen mit dem Leben zu verstehen. Einerseits existiert das Individuum nur, insofern es lebendig ist, d. h. als Affektivität und Ipseität. Andererseits aber ist gerade mit diesem Lebendigsein eine (affektive) Erfahrung verbunden, selbst nicht Ursprung des eigenen Lebens zu sein. Diese »transzendentale Geburt«, wie Henry diesen Vorgang des Ins-Leben-Kommens bezeichnet, ist somit die phänomenologische Stelle, an der Freiheit ermöglicht wird, aber eben nicht aufgrund eines sich zur Freiheit gleichsam selbst ermächtigenden Individuums. Solch eine Freiheit kann Henry zufolge auch nicht aus dem Weltverhältnis bzw. dem In-der-Welt-Sein abgeleitet werden, sondern sie muss tiefer angesiedelt werden, und zwar im Leben selbst, diesmal als absolutes verstanden, insofern es das individuell Lebendige aus sich »erzeugt« (engendrer). Mithin gehört die transzendentale Geburt einer nicht-welthaften, d. h. prä-intentionalen Phänomenalisierungsebene an. Sie ist in diesem Sinne unsichtbar, erscheint aber dennoch aufgrund der oben skizzierten These der Duplizität des Erscheinens in einem nicht weiter reduzierbaren, affektiven Modus.

Henry, »Difficile démocratie«, 175. Henry, »Difficile démocratie«, 179; dies gilt auch für die Forderung nach Gleichheit, deren Grundlage darin besteht, dass jeder singuläre Lebensvollzug in der Selbstaffektion des Lebens (auto-affection) verankert ist: »Eine jede impressionale Tonalität ist sich gegeben in der Selbstgegebenheit des Lebens, und diese ist es, welche das Identische ist, das die radikalste Differenz zur absoluten Gleichheit macht« (181).

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4.4 Die deliberative Demokratie im Spannungsverhältnis zwischen Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit Auf den Begriff der Demokratie angewandt bedeutet die These der Duplizität des Erscheinens, dass der öffentliche Raum deliberativer Demokratie, gerade weil er auf eine paradigmatische »Sichtbarkeit« der polis beruht, wesensmäßig seine eigene vorpolitische (d. h. unsichtbare) Grundlage zu verschleiern droht, dies ungeachtet der Legitimität des Vorhabens, alle Bürger durch demokratische Meinungsbildung an den öffentlichen Angelegenheiten zu beteiligen. Des Weiteren ist die öffentliche Meinungsbildung dadurch gekennzeichnet, dass sie allen Mitgliedern einer politischen Gemeinschaft die zumindest indirekte Möglichkeit gibt, sich an der deliberativen Einigung über rechtlich verbindliche Normen zu beteiligen. Doch um eine solche Einigung erzielen zu können, sind allgemeine Kriterien von Wahrheit erforderlich. Wenn aber, wie Henry unterstreicht, das letztentscheidende Kriterium das subjektiv-immanente und durch Unsichtbarkeit gekennzeichnete Leben ist, dann steht dieses Kriterium mit der prinzipiell einzufordernden Sichtbarkeit deliberativer Demokratie in Konflikt. »Welche Art Wahrheit benötigt ein politisches System, das eine tief verwurzelte Einigung zwischen den Menschen erstrebt, wenn nicht […] eine Wahrheit, deren Wesen die Universalität ist? So eine Wahrheit gibt es, und sie ist durch das Galileische Prinzip möglich geworden. Indem er eine scharfe Trennlinie zog zwischen der sinnlichen Erfahrung – welche individuell, variabel und kontingent ist – und dem auf die Welt angewandten geometrischen Wissen, entwickelte Galileo eine neue Form der Wahrheit, die aus rationalen und an sich allgemeingültigen Sätzen besteht […]. Auf diese Weise entstand die Allianz des Galileischen Prinzips mit dem demokratischen Prinzip, auf das sich die Moderne gründete.« 71

Eine derart beschaffene Allianz ermöglicht zwar die kollektive Anerkennung allgemeiner Wahrheiten, zugleich ist ihr aber der Zugang zu den Werten verwehrt. 72 So scheint es z. B. unmöglich, den Wert menschlicher Freiheit allein aus den positiven Wissenschaften 71 72

Henry, »Difficile démocratie«, 175. Vgl. Henry, »Difficile démocratie«, 176.

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zu begründen, etwa weil biologische Prozesse nicht frei, sondern determiniert sind. Auch die Forderung nach Gleichheit scheint kaum aus der Wissenschaft ableitbar zu sein. 73 Schließlich kann auch eine rein wissenschaftliche Konzeption des Menschen nach Henry der Ipseität nicht gerecht werden: »Für eine solche Konzeption ist die Individualität des Menschen im Wesentlichen identisch mit der eines Steins. So muss eingesehen werden, dass das Individuationsprinzip in seiner traditionellen Form nicht in der Lage ist, so etwas wie ein Individuum, das mit Rechten ausgestattet, frei ist, usw., zu erklären. Letztendlich liegt der Grund für ein solches Scheitern im Typus von Phänomenalität, den das Denken für diese Bestimmung der Individuation heranzieht, nämlich die Phänomenalität der Welt sowie deren ekstatische Kategorien (catégories extatiques), in denen uns nur die Identität eines Dinges, nicht aber die Ipseität eines Sich (soi) gegeben sein kann.« 74

Aus dieser Perspektive ergibt sich für Henry die allgemeine Formulierung der Aporie, welche das Politische als solches, und die Demokratie insbesondere, kennzeichnet: Während die Demokratie einen öffentlichen Raum deliberativer Politik und Kommunikation schafft, kann sie die Forderung nach Allgemeinheit nur einlösen, indem sie das immanent-affektive Leben, das ihr, sowohl in seiner endlich-individuellen wie in seiner religiös-absoluten Form, als axiologische Grundlage dienen sollte, außer Acht lässt. Auch kann die Demokratie nur dann Vehikel der Kultur werden, wenn sie sich gerade auf jene axiologische und vorpolitische Grundlage besinnt. Dieser Bezug aber bedeutet das Ende der Selbstbezüglichkeit des Politischen. Die daraus gewonnene und explizit anerkannte Fundierung gesellschaftspolitischer Strukturen im (göttlich-absoluten) Leben ist gerade das, was Henry unter »Religion« versteht. Daraus folgt gleichzeitig, dass »in ihrem Kampf gegen die Religion die Demokratie zugleich ihre eigenen Grundlagen bekämpft«, für Henry ein »Widerspruch, der die Demokratie vor unseren Augen in den Ruin treibt«. 75

73 74 75

Vgl. Henry, »Difficile démocratie«, 176 (Hervorhebung im Original). Henry, »Difficile démocratie«, 178 (Hervorhebung im Original). Henry, »Difficile démocratie«, 181 (Hervorhebung im Original).

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Trotz sehr unterschiedlicher Ausgangspositionen – die Entwicklung des Begriffs der kommunikativen Vernunft und dessen Anwendung auf das Problem demokratischer Normenbildung im Anschluss an Peirces sprachpragmatischen Ansatz bei Habermas; die Radikalisierung der Husserl’schen Phänomenologie in der Lebensphänomenologie Michel Henrys und deren Anwendung auf das Feld der politischen Philosophie –, so stimmen doch beide Ansätze in zumindest einem Punkt überein: Im Zuge der Moderne sowie im Rahmen einer (post)säkularen Demokratie kann sich die Normenbildung nur über eine durch die Kraft des besseren Arguments nachvollziehbare Geltungsaussage sowie durch die Einhaltung demokratisch legitimierter Entscheidungsprozesse vollziehen. Auch die zentrale Stellung des Lebens- bzw. Lebensweltbegriffes ist beiden Ansätzen gemeinsam, wenn es um die Bestimmung des Verhältnisses von Demokratie und Religion geht. Doch bringt eben gerade diese Gemeinsamkeit das Auseinandertreten beider Positionen umso klarer zum Vorschein. Denn das Paradigma der kommunikativen Vernunft lässt die Sichtbarkeit, ja die ideal angestrebte Transparenz demokratischer Meinungsbildung als die einzige Lösung erscheinen, um demokratische Entscheidungsprozesse im Kontext einer weltanschaulich-religiös pluralistischen Gesellschaft zu wahren und zu stärken, während aus lebensphänomenologischer Perspektive ein Primat der Sichtbarkeit das eigentliche Fundierungsverhältnis zwischen Leben und Politik zu verschleiern, ja sogar umzukehren droht. Demnach kommt für eine Stärkung der Demokratie, und vor allem der durch sie zu wahrenden Grund- und Menschenrechte, keine wie auch immer geartete Schwächung der Religion infrage, sondern die Revitalisierung der Demokratie bedarf, aus Henry’scher Sicht, einer Revitalisierung der Religion, im Sinne einer Anerkennung des göttlich absoluten Lebens als Grundlage individueller und gesellschaftlicher Praxis. Doch schließt eine solche, phänomenologisch eingesehene Einheit des Lebens die von Habermas thematisierte Mannigfaltigkeit der Lebenswelten nicht aus. In der demokratischen Normenbildung pluralistischer Gesellschaften muss einerseits dieser Mannigfaltigkeit Rechnung getragen werden, andererseits aber muss dieser Prozess zu einer allgemein verbindlichen und gemeinsam anerkannten Regel führen, und dies kann nur geschehen, wenn demokratische 190 https://doi.org/10.5771/9783495825372 .

Demokratische Normenbildung und Religion

Entscheidungsverfahren von den Staatsbürgern bereits vor der eigentlichen Normenbildung als Teil dieses Gemeinsamen anerkannt werden. 76 So offenbart der Dialog zwischen Habermas und Michel Henry auch das Problematische am Ansatz einer Revitalisierung der Demokratie durch die Religion(-en), denn paradox bleibt es, den Religionen die Rolle einer Revitalisierung des normativen Bewusstseins anzuvertrauen, während zugleich deren Neutralisierung als Religionen in der demokratischen Meinungs- und Normenbildung erforderlich wird.

Wobei anzumerken ist, dass aus Habermas’ Perspektive diese Entscheidungsverfahren selbst Gegenstand des öffentlichen Vernunftgebrauchs und der Verständigungspraxis sind bzw. sein können.

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Christoph Lienkamp

»Das Gesetz muß immer wieder versuchen Gebot zu werden.« Zu Franz Rosenzweigs Hermeneutik von Gebot und Gesetz

On the background of a new interest in the meaning of law (Gesetz) in different sciences, this essay deals with the underestimated contribution to this debate by Franz Rosenzweig, hereby firstly concentrating on his hermeneutics of Law (Gesetz) and Commandment (Gebot) especially in his main work The Star of Redemption. In this first part I try to figure out the relation between creation, revelation and redemption to law and commandment. In the second part this essay will analyze the conception of law in some of his letters, essays and conferences hold in the Jüdische Lehrhaus in Frankfurt in the 1920ies. In these small writings Rosenzweig comes up with more and more differentiating and practical reflections of the meaning of law for Jewish life, critizising the different Jewish, liberal, Zionist and orthodox views of the law, but also getting into discussion with famous contemporary Jewish thinkers and colleagues like Martin Buber, Leo Baeck or Nahum Glatzer.

1. Einleitung Es ist bezeichnend für die geistige Situation der Zeit, dass sich das Thema des Gesetzes seit einigen Jahren zunehmender Aufmerksamkeit erfreut. Neben einer naturphilosophischen bzw. wissenschaftstheoretischen 1 gibt es inzwischen auch eine breite ideenund religionsgeschichtliche Diskussion bis hin zu politikwissenschaftlichen und psychoanalytischen Forschungen zu diesem The-

Vgl. Michael Hampe, Gesetz und Distanz. Studien über die Prinzipien der Gesetzmäßigkeit in der theoretischen und praktischen Philosophie (Heidelberger Forschungen 31), Heidelberg 1996; Michael Hampe, Eine kleine Geschichte des Naturgesetzbegriffs, Frankfurt a. M. 2007. 1

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»Das Gesetz muß immer wieder versuchen Gebot zu werden.«

ma. 2 Auf verschiedenen Tagungen wurde u. a. den Spuren der Säkularisierung des biblischen Gesetzesbegriffs im europäischen Rechtsverständnis nachgegangen 3 oder in Sammelbänden das Thema aus der Sicht verschiedener wissenschaftlicher Disziplinen bearbeitet. 4 In der rechtsphilosophischen Diskussion wird neuerdings – interessanterweise unter Beteiligung auch von evangelischen und jüdischen Theologen – wieder intensiv über das Naturrecht/Naturgesetz nachgedacht. In anderer Weise verläuft die Debatte in einigen neueren kulturund literaturwissenschaftlichen Publikationen, in denen das Thema des Gesetzes insbesondere auch im Zusammenhang des interdisziplinären Gesprächs mit den Politik- bzw. Rechtswissenschaften und der Psychoanalyse thematisiert wird. 5 Diese Debatten zum Gesetz werden z. T. stark beeinflusst vom Werk dreier zeitgenössischer Theoretiker, deren Werke auch explizit theologiegeschichtliche Bezüge aufweisen: Jacques Derrida 6, Pierre Legendre und besonders Giorgio Agamben 7. Auch von religionswissenschaftlicher und theologischer Seite wurde die Gesetzesthematik besonders mit Blick auf die damit verbundene interreligiöse Herausforderung aufgegriffen. 8 In diesen Debatten wurde auch der Beitrag jüdischer Denker Vgl. u. a. Joseph Vogl (Hrsg.), Gesetz und Urteil. Beiträge zu einer Theorie des Politischen, Weimar 2003; Angelica Löwe/Roman Lesmeisterm/Daniel Krochmalnik (Hrsg.), Gesetz und Begehren. Theologische, philosophische und psychoanalytische Perspektiven, Freiburg i. Br./München 2017. 3 Vgl. u. a. Okko Behrends (Hrsg.), Der biblische Gesetzesbegriff. Auf den Spuren seiner Säkularisierung, Göttingen 2006; vgl. auch die weiteren Bände der Kommission »Die Funktion des Gesetzesbegriffs in Geschichte und Gegenwart«. 4 Vgl. u. a. Wolfgang Bock (Hrsg.), Gesetz und Gesetzlichkeit in den Wissenschaften, Darmstadt 2006. 5 Vgl. u. a. verschiedene Beiträge in den Sammelbänden von Armin Adam/ Martin Stingelin (Hrsg.), Übertragung und Gründungsmythen. Kriegstheater und Unterwerfungstechniken von Institutionen, Berlin 1995; Rüdiger Campe/Michael Niehaus (Hrsg.), Gesetz. Ironie. Festschrift für Manfred Schneider, Heidelberg 2004. 6 Vgl. Jacques Derrida, Préjugés: Vor dem Gesetz, hrsg. v. Peter Engelmann, aus dem Französischen von Detlef Otto und Axel Witte, Wien 1992. 7 Vgl. Giorgio Agamben, Der Messias und der Souverän. Das Problem des Gesetzes bei Walter Benjamin, Frankfurt a. M. 2013. 8 Vgl. u. a. Edwin B. Firmage/Bernard G. Weiss/John W. Welch (Hrsg.), 2

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zur Möglichkeit eines Verständnisses des Gesetzes thematisiert, aber nur in wenigen Publikationen wurde der Beitrag Franz Rosenzweigs über den engeren Kreis der Rosenzweig-Forscher ausführlich gewürdigt. In diesem Zusammenhang gab es allerdings in den letzten Jahren einige wichtige Beiträge zu dieser Frage und auch ein Kongress der Internationalen Rosenzweig-Gesellschaft widmete sich diesem Thema. 9 Vor diesem Hintergrund möchte ich im Folgenden zunächst ausgehend vom ersten und zweiten Teil von Rosenzweigs Stern der Erlösung seine Gesetzeshermeneutik vorstellen. Anhand des letzten Teils des Sterns der Erlösung und einiger seiner brieflichen Reflexionen und kleineren Schriften werde ich dann in einem weiteren Schritt die Konturen und inneren Differenzierungen im Gesetzesverständnis Rosenzweigs auch in Auseinandersetzung mit seinen Zeitgenossen und der jüdischen Tradition herausarbeiten. Dabei werde ich mich auf die Vorarbeiten verschiedener Autoren, deren Arbeiten u. a. auch im Rosenzweig Jahrbuch zu lesen waren, beziehen. 10 Zunächst soll allerdings mit einigen Bemerkungen zum Religion and Law. Biblical-Judaic and Islamic Perspectives, Winona Lake 1990; Gesine Palmer u. a. (Hrsg.), Tora – Nomos – Ius. Abendländischer Antinomismus und der Traum vom herrschaftsfreien Raum, Berlin 1999. 9 Vgl. die Beiträge in Rosenzweig Jahrbuch 4: Paulus und die Politik. Paul and Politics (2009) und Rosenzweig Jahrbuch 8/9: Gebot, Gesetz, Gebet. Love, law, life (2014). 10 Zu nennen sind hier u. a. die Arbeiten von Gianfranco Banola, »Franz Rosenzweig und Martin Buber: Die Auseinandersetzung über das Gesetz«, in: Wolfdietrich Schmied-Kowarzik (Hrsg.), Der Philosoph Franz Rosenzweig (1886–1929). Internationaler Kongreß Kassel 1986, Bd. I: Die Herausforderung jüdischen Lernens, Freiburg i. Br./München 1988, 225–238; Paul Mendes-Flohr, Divided Passions. Jewish Intellectuals and the Experience of Modernity (The culture of Jewish modernity), Detroit 1991, 341– 369 (Kap. 13: Law and Sacrament: Ritual Observance in Twentieth-Century Jewish Thought); Bernhard Casper, »Responsabilité et intentionalité de la loi«, in: Transversalités: Revue de l’Institut Catholique 58 (1998), 45–56; Stéphane Mosès, L’Éros et la Loi. Lectures bibliques, Paris 1999, 65–76, deutsche Übersetzung: Eros und Gesetz. Zehn Lektüren der Bibel, aus dem Französischen übers. v. Susanne Sandherr und Birgit Schlachter, München 2004, 81–88; Robert Gibbs, »›Gesetz‹ in the Star of Redemption«, in: Martin Brasser (Hrsg.), Rosenzweig als Leser. Kontextuelle Kommentare zum Stern der Erlösung (Conditio Judaica 44), Tübingen 2004, 395–410; Eric L.

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Ausgangspunkt meiner Interpretation der Boden für die Überlegungen zu Gesetz und Gebot bereitet werden.

2. Totalitätskritik und Denken des Selbst im Stern der Erlösung Ohne den philosophischen Gehalt des Sterns der Erlösung hier im Einzelnen zu referieren, soll der gedankliche Aufbau von Rosenzweigs Hauptwerk kurz in Erinnerung gerufen werden. Im ersten Hauptteil des Sterns der Erlösung mit dem Titel »Die Elemente oder die immerwährende Vorwelt« destruiert Rosenzweig ausgehend von der Erfahrung des Todes des einzelnen Menschen das Denken der Totalität, wie es sich für ihn exemplarisch in der Philosophie G. W. F. Hegels zeigt, und legt das All in Gott, Welt und Mensch auseinander. »Schon hier verwirft Rosenzweig jede Totalität, da sie dem Tod des einzelnen, der immer für sich stirbt, keinen Sinn verleihen kann.« 11 Was Rosenzweig hier denkt, sind die Elemente Gott, Welt und Mensch vor aller Beziehung, von ihm bezeichnet als meta-logische Welt, meta-physischer Gott und metaethischer Mensch. Rosenzweig entgeht allerdings der naheliegenden existenzphilosophischen Engführung, wie sie z. B. die Auseinandersetzung Kierkegaards mit dem deutschen Idealismus kennzeichnet, wenn er im zweiten Teil des Sterns der Erlösung die philosophische Beziehung zwischen den drei isolierten Elementen Gott, Welt und Mensch denkend neu zu stiften sucht. Emmanuel Levinas kommentiert diesen entscheidenden Übergang im Denken Rosenzweigs in folgender Weise: »Der Verstand kann nicht ohne Gewaltanwendung diese Isolierung aufbrechen, während doch in der konkreten und lebendigen Erfahrung der Menschheit Gott, Mensch und Welt zueinander in Beziehung stehen. Das Leben entwickelt sich dem totalisierenden Denken, das gegen diese

Santner, Zur Psychotheologie des Alltagslebens. Betrachtungen zu Freud und Rosenzweig, aus dem Englischen von Luisa Banki, Zürich 2010. 11 Emmanuel Levinas, »Franz Rosenzweig: Ein modernes jüdisches Denken«, in: Emmanuel Levinas, Außer sich. Meditationen über Religion und Philosophie, hrsg. und aus dem Französischen übers. v. Frank Miething, München/Wien 1991, 99–122, hier 107.

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Trennung nichts ausrichtet, zum Trotz: als ein Auszug dieser Elemente aus sich selbst – als Zeit.« 12

Dieses In-Beziehung-Setzen bleibt jedoch nach Rosenzweig nicht abstrakt. Es geschieht durch die Erarbeitung eines neuen Verständnisses des Wunders, des der Theologie liebsten, aber von ihr sehr vernachlässigten Kindes, und manifestiert sich in der Beziehung zwischen Gott und Welt als Schöpfung, in der Beziehung zwischen Gott und Mensch als Offenbarung, schließlich in der Beziehung zwischen Mensch und Welt als Erlösung. Ursprünglich theologische Begriffe wie »Schöpfung, Offenbarung, Erlösung halten hier Einzug in die Philosophie, angetan mit der Würde von Kategorien, oder kantisch gesprochen, Verstandesbegriffen.« 13 Diese Kategorien entstammen zwar, so Rosenzweig, religiösen Traditionen, der jüdischen und der christlichen. Sie seien aber deswegen nicht allein theologische Kategorien. Es komme jedoch alles darauf an – und damit geht Rosenzweig über Kant hinaus –, die Zeitlichkeit, die sich in ihnen ereigne, philosophisch zu erfassen: Während die Schöpfung die Zeit der Vergangenheit eröffnet, wird die Zeitlichkeit der Gegenwart in der Offenbarung, im Liebesgebot erfahrbar. Das Liebesgebot, so Rosenzweigs Grammatik des Eros, erneuert sich im Jetzt des gegenseitigen Liebens von Gott und Mensch. Levinas interpretiert dies zutreffend – und dies ist zugleich auch ein Vorblick auf sein eigenes Denken des Gesetzes – als ständige Erneuerung der momenthaften Liebe Gottes zu den Menschen –, das sich in dem Gewebe der Gebote im Judentum, weit entfernt von jeder »Gesetzlichkeit«, ereignet: »Das Judentum, bzw. die Offenbarung, ist vom Gebot nicht zu trennen; Judentum bedeutet daher auch nicht Joch des Gesetzes, das durch eine Offenbarung der Barmherzigkeit abgelöst werden müsste. Das Gesetz ist die – lästige – Liebe.« 14 Der Mensch soll – und davon handelt das Erlösungskapitel in Rosenzweigs Hauptwerk – dieser Liebe antworten, 15 indem er sich Levinas, »Franz Rosenzweig«, 108. Levinas, »Franz Rosenzweig«, 108. 14 Levinas, »Franz Rosenzweig«, 109, Hervorhebung durch den Verf. 15 Zum Antwortcharakter menschlichen Handelns und zur Philosophie der Responsivität vgl. die entsprechenden Überlegungen bei Bernhard Waldenfels, Antwortregister, Frankfurt 1994; vgl. dazu Christoph Lienkamp, 12 13

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dem Nächsten und der Welt zuwendet. »Seinen Nächsten lieben heißt sich der Ewigkeit zuwenden, die Welt erlösen bzw. das Reich Gottes vorbereiten.« 16 Das beinhaltet aber auch ein anderes Verständnis von Zeit bzw. Ewigkeit: »Im Gegensatz zu jener Doktrin, die Zeit als ausgedehnte Ewigkeit und somit als der Zeit ›voraufgehend‹ begreift, tritt das Sein für Rosenzweig durch die Erlösung mit einer Ewigkeit der Vollendung in Beziehung, die in gewisser Weise zukünftig ist. Die Erlösung entwirft die Zukunft.« 17

Doch die Zukunft wird dadurch nicht zu einer homogenen und leeren Zeit, wie man mit Walter Benjamin sagen könnte. Sie ist keine Zukunft ohne die Vorwegnahme und den inneren Zwang dazu, den Messias vor seiner Zeit herbeiführen zu wollen. Sonst bleibt die Zukunft »nur eine in unendliche Länge hingezogene, nach vorwärts projizierte Vergangenheit.« 18 Doch dies ist nicht allein die Aufgabe des Einzelnen, sondern, und dies wird von Rosenzweig im dritten Teil des Sterns der Erlösung verhandelt, der »Gemeinschaft der Gläubigen«. Sie beschleunigt die Ankunft des Reiches. Auch hier dient die ursprünglich »theologische Sprache dazu, Beziehungen zu benennen, die sich der Beschreibung durch Termini der Totalitätsphilosophie sperren, ohne deshalb außerhalb der Erfahrung konstruiert zu sein« 19. Es empfiehlt sich, bevor ich näher auf die meine Interpretation leitende Grundfrage nach Rosenzweigs Hermeneutik von Gesetz (und Gebot) eingehe, sich den philosophischen Zusammenhang zwischen Totalitätskritik einerseits und neuem Denken des Selbst andererseits noch einmal zu vergegenwärtigen. Obwohl Rosenzweig ähnlich wie Kierkegaard ein Verfechter der Subjektivität im Sinne der Irreduzibilität des einzelnen Menschen ist, vermeidet er es, dabei stehen zu bleiben und nimmt diese Erkenntnis zum Aus-

»Fremder Anspruch des Gesetzes – Die Theologie vor der Herausforderung der responsiven Ethik«, in: Franz Gmainer-Pranzl/Martina Schmidhuber (Hrsg.), Der Anspruch des Fremden als Ressource des Humanen (Salzburger interdisziplinäre Diskurse 1), Innsbruck 2011, 61–76. 16 Levinas, »Franz Rosenzweig«, 110. 17 Levinas, »Franz Rosenzweig«, 110 f. 18 Franz Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, Den Haag 41976, 253. 19 Levinas, »Franz Rosenzweig«, 112.

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gangspunkt seiner Destruktion des Totalitätsdenkens und seines Aufweises der Irreduzibilität von Mensch, Gott und Welt. Rosenzweig leistet dabei mit seinem metaethischen Menschenbegriff entscheidende Vorarbeit für den Ansatz einer Phänomenologie des Selbst vor der ethischen Situation, d. h. der Mensch vor allen formalen und universalen Bestimmungen einer normativen oder den Menschen als Persönlichkeit fassenden Ethik: »Vom Zurückführen des Allgemeinen zur Unrückführbarkeit geht der Weg des Neuen Denkens. Der Mensch ist kein Spezialfall des Übergeordneten, des Genus ›Mensch‹, definierbar durch sein Ethos und seine Prinzipien; er stirbt für sich, er ist ›Ipseität‹, die sich nur durch sich setzt und denkt, er ist, über jedes vereinnahmende Ethos hinaus, seine irreduzible Einzigkeit, er ist meta-ethisch.« 20

Das menschliche Selbst ist also nicht, um es mit Kant zu sagen, das allgemeine, ethische Vernunftsubjekt, sondern singuläres, metaethisches Selbst, das gerade darin, dass es sich jeglicher Einordnung widersetzt, seine unantastbare Würde besitzt. Damit es sich jedoch in dieser Haltung nicht trotzig in sich selbst verschließt, bedarf es der auf den Anderen hin öffnenden Offenbarung. So zeigt Rosenzweig, wie in dem in seiner sprachlichen und zeitlichen Struktur aufgewiesenen Ereignis der Begegnung von Mensch und Gott bzw. Mensch und Welt in Offenbarung und Erlösung sich das Selbst eröffnet. Dem geht die Begegnung von Gott und Welt in der Schöpfung voraus. Hier kann das Andere sich als Anderes ereignen. Es ruft in die Verantwortung und konstituiert erst darin das Selbst im Sinne eines ethischen Selbst. Damit ist der gedankliche Boden für die Überlegungen zu Gebot und Gesetz bereitet, die Rosenzweig in dem zentralen Offenbarungskapitel des Sterns der Erlösung entfaltet.

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Levinas, »Franz Rosenzweig«, 107.

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3. Die Zuordnung von Gebot und Gesetz im Offenbarungskapitel des Sterns der Erlösung Man könnte in einem ersten Versuch, Gesetz und Gebot zu unterscheiden und einander zuzuordnen – und ich beziehe mich hier auf einen Vorschlag Paul Ricœurs –, die in der Rechtsphilosophie übliche Unterscheidung zwischen verschiedenen Ebenen von Gesetzen, d. h. den allgemeinen Rechtsprinzipien und den festgelegten verfassungsrechtlichen Regeln, aufgreifen, die ja in ähnlicher Weise auch für das gesetzgeberische Ganze des Pentateuchs gelte. Diese als hierarchisch zu kennzeichnende Struktur, die aus der Nebeneinanderund Zusammenstellung der beiden Codices (im Buch Exodus Bündniscodex und Dekalog) folgt, strebt nach Ricœur in zwei Richtungen: zum einen in die Vereinfachung, die sich im Gebot der Gottesliebe ausdrückt, zum anderen danach, sich fast unbestimmbar in die immer feineren Maschen der Gesetzgebung zu verzweigen, komplexer zu machen, zu vervielfachen. 21 Diese Differenzierung erlaube es, das Gesetz und die Gesetze zu unterscheiden, indem das oberste Gesetz, Gott zu lieben, als Gebot gefasst wird. Wichtiger als die Frage, ob man sich auf diesem Wege der Rosenzweig’schen Hermeneutik von Gebot und Gesetz annähern sollte, ist das darin angesprochene philosophische Problem, ob jemandem überhaupt geboten werden kann, zu lieben bzw. ob die Liebe Gegenstand eines Gebotes, einer Weisung sein kann. 22 Es war Immanuel Kant, der gegenüber einer vorschnellen Bejahung dieser Frage in seiner Kritik der praktischen Vernunft darauf bestanden hatte, dass weder Gottes- noch Nächstenliebe geboten

Vgl. Paul Ricœur, »Theonomie und/oder Autonomie«, in: Carmen Krieg u. a. (Hrsg.), Die Theologie auf dem Weg in das dritte Jahrtausend. Festschrift für Jürgen Moltmann zum 70. Geburtstag, unter Mitarbeit von Steffen Lösel, Gütersloh 1996, 322–345, hier 329; Christoph Lienkamp, »›Liebe verpflichtet‹. Zur Hermeneutik von Gebot und Gesetz bei Paul Ricœur und Franz Rosenzweig«, in: Internationales Jahrbuch für Hermeneutik 2: Schwerpunkt: Humanismus (2003), 315–332; natürlich gibt es auch noch andere Möglichkeiten, Gebot und Gesetz zu unterscheiden, vgl. u. a. die evangelisch-theologische Debatte zu Gesetz (Gebot) und Evangelium. 22 Vgl. Ricœur, »Theonomie und/oder Autonomie«, 324. 21

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werden können: »Liebe zu Gott als Neigung (pathologische Liebe) ist unmöglich; denn er ist kein Gegenstand der Sinne. Eben dieselbe gegen Menschen ist zwar möglich, kann aber nicht geboten werden, denn es steht in keines Menschen Vermögen, jemanden bloß auf Befehl zu lieben.« 23 So folgert Kant: »Also ist es bloß die praktische Liebe, die in jenem Kern aller Gesetze verstanden wird. Gott lieben heißt in dieser Bedeutung, seine Gebote gerne tun; den Nächsten lieben, heißt, alle Pflicht gegen ihn gern ausüben. […] ein Gebot, daß man etwas gern tun soll, ist in sich widersprechend, weil, wenn wir, was uns zu tun obliege, schon von selbst wissen, wenn wir uns überdem auch bewusst wären, es gerne zu tun, ein Gebot darüber ganz unnötig, und, tun wir es zwar, aber eben nicht gern, sondern nur aus Achtung fürs Gesetz.« 24

Kant habe also, so Ricœur, dieses Problem gelöst, »indem er die Liebe aus dem affektiven Bereich verbannte und sie in der praktischen Sphäre unter dem Titel ›praktischer Liebe‹ unterbrachte.« 25 Wie lautet aber nun Rosenzweigs Antwort? Seiner Meinung nach kann die Liebe in Form des Gebotes angeordnet werden. Rosenzweig erläutert dies im Stern der Erlösung 26 im zentralen Kapitel über die Offenbarung, das wiederum der Mittelpunkt des Sterns der Erlösung überhaupt ist. Hier findet die Meditation über das Liebesgebot – gemeint ist im Folgenden das Gebot, das die Liebe zu Gott gebietet – ihren systematischen Ort. So möchte ich zunächst diesen Ort des Liebesgebotes in der Denkstruktur des Sterns der Erlösung freilegen und seinen wesentlichen Kennzeichnungen nachgehen, die Rosenzweig in nuce auch schon an dieser Stelle im Gegenüber zum Gesetz 27 entwickelt. Die Ausführungen des Offenbarungskapitels führen implizit die Auseinandersetzung mit der kantischen Ethik 28 und insbesondere Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft, Frankfurt a. M. 1968, A 149. 24 Kant, Kritik der praktischen Vernunft, A 149. 25 Ricœur, »Theonomie und/oder Autonomie«, 324 f. 26 Vgl. Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, 197 ff. 27 Vgl. Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, 197 f. 28 Rosenzweig betont immer wieder, dass Kant »mit unleugbar großartiger Intuition das Wesen der Freiheit sichergestellt« habe, dass Rosenzweig allerdings nur seine Intuitionen, nicht deren Durchführung teile (vgl. Rosen23

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»Das Gesetz muß immer wieder versuchen Gebot zu werden.«

mit dessen Idee moralischer Autonomie weiter, die Rosenzweig im ersten Hauptteil des Sterns der Erlösung mit der Konstruktion des metaethischen Selbst als der fundamental-ethischen Voraussetzungen menschlicher Identität grundgelegt hat. 29 Die Erläuterungen zum metaethischen Menschbegriff führen dabei auch hin zu Rosenzweigs Hermeneutik des Gesetzes (bzw. des Gebotes): »Metaethisch soll ja mitnichten aethisch bedeuten. Nicht die Abwesenheit des Ethos sollte darin ausgesprochen werden, sondern einzig seine ungewohnte Einordnung, also jene passive statt der ihm sonst gewohnten imperativischen Stellung. Das Gesetz ist dem Menschen gegeben, nicht der Mensch dem Gesetz. Dieser durch den neuen Begriff des Menschen geforderte Satz läuft dem Begriff des Gesetzes, wie er im Bereiche der Welt als ethisches Denken und als ethische Ordnung auftritt, zuwider; und deswegen muß dieser Menschbegriff als metaethisch bezeichnet werden.« 30

So kritisiert Rosenzweig schon in der Einleitung ein Gesetzesverständnis, das den Menschen einem allgemeinen (moralischen) Gesetz unterwirft. Für Kant, den Rosenzweigs Kritik hier im Besonderen im Blick hat, ist der Mensch frei, wenn er in Übereinstimmung mit dem vernünftigen moralischen Gesetz handelt, für Rosenzweig ist der Mensch erst dann frei, wenn er der Herr seines Ethos ist, d. h., wenn er sich dem praktischen Vernunftgesetz noch verweigern kann. Denn wie Rosenzweig in Anspielung auf ein Wort Jesu sagt: »Das Gesetz ist dem Menschen gegeben, nicht der Mensch dem Gesetz.« 31 Das ist der Sinn von Rosenzweigs Neologismus des metaethischen Menschen. Erst die philosophische Befreiung des

zweig, Der Stern der Erlösung, 72). Zur Auseinandersetzung Rosenzweigs mit Kant vgl. die konzise Studie von Jörg Disse, »Individualität und Offenbarung. Franz Rosenzweigs ›Stern der Erlösung‹ als Alternative zur Ethik Kants«, in: Philosophisches Jahrbuch 106 (1999), 441–454. 29 Zum Begriff des Metaethischen vgl. u. a. Hans M. Dober, »Levinas und Rosenzweig. Die Verschärfung der Totalitätskritik aus den Quellen des Judentums«, in: Michael Mayer/Markus Hentschel (Hrsg.), Levinas. Zur Möglichkeit einer prophetischen Philosophie (Parabel 12), Gießen 1990, 144–163; Hans M. Dober, Die Zeit ernst nehmen, Würzburg 1990, 89 ff.; Disse, »Individualität und Offenbarung«, 447 ff. 30 Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, 79. 31 Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, 79.

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Selbst aus den Fängen eines allgemeinen moralischen Gesetzes schafft die Voraussetzung, die Anrufung des Anderen in Offenbarung und Erlösung zu vernehmen. Rosenzweig bleibt also nicht beim metaethischen, in sich verschlossenen Selbst stehen. Wie sich der meta-physische Gott im Ereignis der Schöpfung der meta-logischen Welt zuwendet, so wird mit der Offenbarung die Öffnung Gottes zum meta-ethischen Menschen thematisch. Im Erlösungskapitel, das den zweiten Hauptteil des Sterns der Erlösung beschließt, wird die Entstehung der Beziehung von Mensch und Welt beschrieben. Es ist dies durchaus komplexe Verhältnis von Mensch, Welt und Gott, von Schöpfung, Offenbarung und Erlösung, das der Stern der Erlösung 32 entfaltet. Aber auch das Schöpfungskapitel hat trotz der bedeutenden Rolle von Gebot und Gesetz im Offenbarungs- und dann auch im Erlösungskapitel teil an der Dynamik des Gesetzes in Rosenzweigs Stern der Erlösung, sodass man die offenbarungstheologische und soteriologische Bedeutung nicht gegen die schöpfungstheologische ausspielen darf: »Daß die Welt, diese Welt geschaffen ist und dennoch der künftigen Erlösung bedarf, die Unruhe dieses Doppelgedankens stillt sich in der Einheit des Gesetzes.« 33 Oder wie es an anderer Stelle bei Rosenzweig heißt: »Im Gesetz ist eben alles Diesseitige, was darin ergriffen wird, alles geschaffene Dasein, schon unmittelbar zum Inhalt der künftigen Welt beseelt und erlöst.« 34 Erst diese triadische Struktur von Schöpfung, Offenbarung und Erlösung gibt den Rahmen vor, in dem Rosenzweig im Offenbarungskapitel das Liebesgebot einführt und das Verhältnis von Gebot und Gesetz erläutert. Paul Ricœur interpretiert dies folgendermaßen: »Zu Beginn des zweiten Teils, der Offenbarung, werden wir in die Torah eingewiesen [enseignés au sujet de la torah]. Aber die Torah bildet in diesem Stadium der Betrachtungen Rosenzweigs noch kein einheitliches Regelwerk. Sie kann eher noch ein solches werden, weil ihr der

32 33 34

Vgl. vor allem Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, 448 ff. Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, 451, Hervorhebung durch den Verf. Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, 15.

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feierliche Akt der Öffnung der gesamten menschlichen Erfahrung hin zur paradigmatischen Sprache der Schrift vorausgeht.« 35

Ricœur meint hier aber nicht, dass Rosenzweig uns konkret in die Einzelheiten der Tora in ihrem schriftlichen und mündlichen Teil unterweist – zumal das Wort Tora an dieser Stelle bei Rosenzweig noch gar nicht auftaucht –, sondern dass er uns in diesem Abschnitt des Sterns der Erlösung die Grundstruktur des Offenbarungsgeschehens, das sich im Liebesgebot manifestiert, nahebringen will. Dabei ist das Gebot, Gott zu lieben, durch seine besondere sprachliche Verfasstheit, die ganz reine Sprache der Liebe, und seine besondere Zeitlichkeit, die reine Augenblicklichkeit, gekennzeichnet. Dass das Liebesgebot in imperativischer Form ausgesprochen werden kann, gründet in der von Rosenzweig in seiner Phänomenologie der Liebe – von Ricœur als poetischer Gebrauch des Imperativs interpretiert – entwickelten neuen Identität des Liebenden. Dabei ist Liebe keine Bestimmung oder Eigenschaft des Menschen, sondern »momenthafte Selbstverwandlung, Selbstverleugnung des Menschen; er ist gar nichts anderes mehr als Liebender, wenn er liebt.« 36 »In seinem [sc. des Liebenden] Munde ist das Gebot der Liebe kein fremdes Gebot, sondern nichts als die Stimme der Liebe selber.« 37 Aufgrund seiner sprachlichen und zeitlichen Verfasstheit geht dieses Gebot dem Gesetz voraus, denn das Gesetz hat einerseits als »Indikativ die ganze umständliche Begründung der Gegenständlichkeit im Rücken und erscheint daher am reinsten in der Vergangenheitsform« 38 und rechnet andererseits mit Zukunft, mit Dauer, während das Gebot keine Voraussicht für die Zukunft trifft und sich Paul Ricœur, Liebe und Gerechtigkeit. Amour et justice, mit einer deutschen Parallelübersetzung von Matthias Raden, hrsg. v. Oswald Bayer, Tübingen 1990, 17; franz. Original-Zitat in Klammern: Ricœur, Liebe und Gerechtigkeit, 16. 36 Ricœur, Liebe und Gerechtigkeit, 17; vgl. André LaCocque, »La Sulamite. Le Cantique des Cantiques«, in: Paul Ricœur/André LaCocque, Penser la Bible, trad. de l’Anglais par Aline Patte et revue par l’auteur, Paris 1998, 373–410; Paul Ricœur, »La métaphore nuptiale«, in: Ricœur/LaCocque, Penser la Bible, 411–457. 37 Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, 197. 38 Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, 197. 35

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nur das sofortige Gehorchen vorstellen kann. »Während nun aber jedes andre Gebot, […] ebensogut auch Gesetz gewesen sein könnte, ist das eine Gebot schlechthin unfähig, Gesetz zu sein; es kann nur Gebot sein.« 39 Allerdings muss auch das Gesetz, wie Rosenzweig in einer brieflichen Auseinandersetzung mit Martin Buber schreibt, immer wieder versuchen, Gebot zu werden, »Gebot, das sich unmittelbar, im Augenblick wo es vernommen wird, in Tat umsetzt«, und damit seine Heutigkeit wiedergewinnen, »die alle großen jüdischen Zeiten als die einzige Bewährung seiner Ewigkeit empfunden haben.« 40 Im Stern der Erlösung wird alles, was dem Menschen sonst noch in der Form des Gesetzes geoffenbart werden mag, nach Rosenzweig zur Ausführung des einen oder ersten Gebots, Gott zu lieben. Rosenzweigs anderes, biblisch orientiertes Verständnis von Gebot und Gesetz kehrt mit seinem poetischen Imperativ die kantische Priorität des Gesetzes vor dem Gebot um, indem er die Momente im Liebesgebot Gottes, seine reine Sprache, seine reine Gegenwart, die Selbstvergessenheit des Liebenden, der das »Liebe mich!« spricht, herausarbeitet. Während nach Kant lediglich geboten werden kann, die Liebe zum Gesetz, obgleich unerreichbar, zu erstreben, hat Rosenzweig durch die Gründung der Gesetze auf das so charakterisierte eine Gebot der Gottes- und Nächstenliebe zu zeigen versucht, von woher eine (Be-)Gründung der Ethik geleistet werden kann. Es geht Rosenzweig nicht darum, zu demonstrieren, wie »ein vernünftig Geschöpf jemals dahin kommen« könnte, ohne Selbstzwang und Aufopferung »alle moralischen Gesetze völlig gerne zu tun« 41, sondern zu fragen, ob es nicht, so Ricœur, ein Gebot gibt, »das die Bedingung seiner eigenen Befolgung in der Zärtlichkeit seiner Mahnung enthält: Liebe mich!« 42 Das Problem liegt nach Rosenzweig darin, dass die moralischen

Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, 197. Franz Rosenzweig, »Die Bauleute. Über das Gesetz«, in: Franz Rosenzweig, Zweistromland. Kleinere Schriften zu Glauben und Denken (Der Mensch und sein Werk. Gesammelte Schriften III), hrsg. v. Reinhold und Annemarie Mayer, Den Haag 1984, 699–712, hier 707 f. 41 Kant, Kritik der praktischen Vernunft, A 150. 42 Ricœur, Liebe und Gerechtigkeit, 19. 39 40

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Gesetze keine andere Voraussetzung anerkennen wollen als die der Freiheit. »Die natürliche Folge dieser Forderung ist, daß die Gesetze, die diese Tat bestimmen sollen, allen Inhalt verlieren; denn jeder Inhalt würde eine Macht ausüben, durch welche die Autonomie gestört würde. […] Und weil so das Gesetz zu keinem Inhalt kommt, so kommt infolgedessen auch die einzelne Tat zu keiner Sicherheit.« 43

Weil Rosenzweig einerseits diese Unsicherheit beseitigen will, andererseits aber auch nicht beim Gebot der göttlichen Liebe stehen bleiben kann, sucht er nach dem Gebot, das wie »jenes Urgebot der Offenbarung in allen einzelnen Geboten mittönt und sie erst aus der Starrheit von Gesetzen zu lebendigen Geboten schafft.« 44 Er findet es im Gebot der Nächstenliebe, das das Gebot der Gottesliebe ergänzen soll. Die Liebe zum Nächsten wird, weil sie »nicht geboten werden kann außer vom Liebenden selber, unmittelbar auf die Liebe zu Gott zurückgeführt. Die Liebe zu Gott soll sich äußern in der Liebe zum Nächsten.« 45 Dabei wird allerdings die Voraussetzung des Von-Gott-geliebt-Seins – darin sich unterscheidend von allen moralischen Taten – nur in der Form des Gebots sichtbar. Damit richtet sich Rosenzweig zum wiederholten Male gegen die Gesetzesethik Kants und seinen Gedanken der Autonomie: »Die moralischen Gesetze wollen in der Freiheit nicht bloß wurzeln – das will auch die Liebe zum Nächsten – sondern keine andere Voraussetzung anerkennen als die der Freiheit.« 46 Als Folge davon verlieren die Gesetze allen Inhalt oder, wie Rosenzweig in einem Brief an Rudolf Stahl einige Jahre nach der Abfassung des Sterns der Erlösung mit Blick auf den Weg von Kant zu Hegel formuliert, in diesen leeren Raum strömt der gerade sich vorfindende Inhalt. Ermöglichungsgrund dafür sei die unbegrenzte Vieldeutigkeit des moralischen Gesetzes, der Rosenzweig die Eindeutigkeit des Gebotes der Nächstenliebe entgegenhält: »Im Gegensatz zum notwendigerweise formalen und daher inhaltlich nicht bloß zwei-, nein unbegrenzt vieldeutigen moralischen Gesetz 43 44 45 46

Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, 239. Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, 229. Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, 239. Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, 239.

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braucht das inhaltlich klare und eindeutige Gebot der Nächstenliebe […] eine Voraussetzung jenseits der Freiheit: […] dem, daß Gott ›befiehlt, was er will‹, muß, weil der Inhalt des Befehls hier der ist, zu lieben, das göttliche ›schon Getansein‹ dessen, was er befiehlt, vorangehen. Die gottgeliebte Seele allein kann das Gebot der Nächstenliebe zur Erfüllung empfangen. Gott muß sich erst zum Menschen gekehrt haben, ehe der Mensch sich zu Gottes Willen bekehren kann.« 47

Für den Akt der Nächstenliebe gilt, insbesondere was deren spezifische Zeitlichkeit angeht, Ähnliches wie für die Gottesliebe. Auch sie darf keine Vergangenheit und auch keinen Willen zur Zukunft haben, sie muss ganz dem Augenblick gehören, ganz Tat des Augenblicks sein. Sie darf keine zukünftigen Zwecke verfolgen. Deshalb müssen, damit die Nächstenliebe nicht einen bestimmten Zweck sicher verfolgen kann, ihre Erwartungen immer wieder enttäuscht werden. Sie ist nicht »einfürallemal beschlossener und entschlossener Gehorsam« 48, sondern dadurch charakterisiert, dass sie immer wieder von vorne beginnt. »So ist das Gebot reine Gegenwart.« 49 Während aber jedes andere Gebot auch Gesetz gewesen sein könnte, gilt dies nicht für das Liebesgebot. Es kann nicht Gesetz werden oder gewesen sein: »Alle andern Gebote können ihren Inhalt auch in die Form des Gesetzes gießen, dieses [Liebesgebot] allein verweigert sich solchem Umguß, sein Inhalt leidet nur die Form des Gebots, der unmittelbaren Gegenwärtigkeit und Einheit von Bewußtsein, Ausdruck und Erfüllungserwartung.« 50

Denjenigen, die bezweifeln, ob Liebe geboten, ob das Liebesgebot normalisiert werden kann, kommt Rosenzweigs Argumentation an dieser Stelle insoweit entgegen, als er ausschließt, dass das Liebesgebot zum Gesetz werden kann, und insofern als »he distinguishes the lawful aspect of an imperative from obligatory aspect of the Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, 239 f.; ich kann hier nicht ausloten, dass – wenn ein solcher Gedanke in den evangelisch-katholischen Diskussionen um Rechtfertigung und gute Werke oder den innerprotestantischen um Gesetz und Evangelium früher Eingang gefunden hätte – man sich viele fruchtlose Kontroversen hätte ersparen können. 48 Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, 240. 49 Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, 197. 50 Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, 197. 47

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urgency of hearing and responding.« 51 Alles wird in dieses eine Gebot hineingelegt: Es ist die unmittelbare Einheit von Bewusstsein, Ausdruck und Erfüllungserwartung, die Definition radikaler Performativität, die auch ohne einen Zukunftsbezug vollständig ist. 52 Allein das Liebesgebot vermag mittels der Zeitlichkeit des Heute und der Sprachlichkeit der gebietenden Stimme (Gottes) Gesetze in Gebote zu verwandeln: »Deshalb, als das einzige reine Gebot, ist es das höchste aller Gebote, und wo es als solches an der Spitze steht, da wird alles, was sonst und von außen gesehen wohl auch Gesetz sein könnte, gleichfalls Gebot. So wird, weil Gottes erstes Wort an die sich ihm erschließende Seele das ›Liebe mich‹ ist, alles, was er ihr sonst noch in der Form des Gesetzes offenbaren mag, ohne weiteres zu Worten, die er ihr ›heute‹ gebietet, wird zur Ausführung des einen und ersten Gebots, ihn zu lieben. Die ganze Offenbarung tritt unter das große Heute; ›heute‹ gebietet Gott, und ›heute‹ gilt es seiner Stimme zu hören. Es ist das Heute, in dem die Liebe des Liebenden lebt, – dies imperativische Heute des Gebots.« 53

Diese besondere Stellung des Liebesgebotes (zum Nächsten) zeige sich auch, so Rosenzweigs Auslegung des Dekalogs im Erlösungskapitel, in der sprachlichen Form der Zehn Gebote: Während nämlich die Gebote, die die Liebe zum Nächsten spezifizieren, durchweg in der Form des »Du sollst nicht« stehen, also »nur als Verbote, nur in der Absteckung der Grenzen dessen, was keinesfalls mit der Liebe zum Nächsten vereinbar ist, Gesetzeskleid anziehen können« 54, geht die positive Form des »Du sollst« einzig in die Form des Gebots der Nächstenliebe ein. Dem entspreche auch, dass sowohl das kanonische als auch das talmudische Recht mittels logischer, nicht historischer Ableitung seine Sätze zu gewinnen sucht. »Die Ableitung macht eben das Gegenwärtige mächtig über das Vergangene; denn sie wird unbewusst bestimmt von dem Punkt aus, nach dem hin die Ableitung geschieht, und das ist die Gegenwart.« 55 So werde selbst in dieser Welt des Rechts noch der Unterschied von Liebesgebot und Gesetzesgehorsam erkennbar. 51 52 53 54 55

Gibbs, »›Gesetz‹ in the Star of Redemption«, 398. Vgl. Gibbs, »›Gesetz‹ in the Star of Redemption«, 398. Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, 197 f. Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, 241. Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, 242.

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Entscheidend ist also für die Argumentation im Stern der Erlösung die Differenz in der Zeitlichkeit von Gebot und Gesetz: Während also das Liebesgebot, wie wir herausgearbeitet haben, nur die Gegenwart kennt und weder Vergangenheit hat noch zukünftige Zwecke verfolgt, gründet das Gesetz in der Vergangenheit und ist – wie bereits deutlich gemacht wurde – auf Zukunft ausgerichtet. Im Offenbarungskapitel bringt Rosenzweig diesen Unterschied deutlich zum Ausdruck: »Der Imperativ des Gebots trifft keine Voraussicht für die Zukunft; er kann sich nur die Sofortigkeit des Gehorchens vorstellen. Würde er an die Zukunft oder an ein Immer denken, so wäre er nicht Gebot, nicht Befehl, sondern Gesetz. Das Gesetz rechnet mit Zeiten, mit Zukunft, mit Dauer.« 56

Während wir bisher mit Rosenzweig auf der Gegenwart des Gebotes insistiert haben, ist es nun an der Zeit, den Übergang vom Gebot zum Gesetz als einen Übergang von der Gegenwart zur Zukunft bzw. von der Offenbarung zur Erlösung im Denken Rosenzweigs nachzuvollziehen. 57 Dabei werde ich vor allem die messianische DiRosenzweig, Der Stern der Erlösung, 197; ich kann hier nicht näher auf die Auslegung des biblischen Hohen Liedes, das die Rosenzweig’sche Hermeneutik der Offenbarung inspiriert hat, eingehen; nur so viel: Rosenzweig schließt sich einer jüdisch-mystischen Tradition an, nach der der Ursprung des Gesetzes eine Liebeserfahrung ist. Stéphane Mosès, einer der bedeutendsten Rosenzweig-Interpreten, hat dies in einer seiner Lektüren der Bibel mit dem Titel Eros und Gesetz entfaltet (vgl. Mosès, Eros und Gesetz; zur Bedeutung des Hohen Liedes im Offenbarungskapitel vgl. neuerdings Inken Rühle, »Das Hohelied – ein weltliches Liebeslied als Kernbuch der Offenbarung? Zur Bedeutung der Auslegungsgeschichte von Schir haSchirim im Stern der Erlösung«, in: Martin Brasser [Hrsg.], Rosenzweig als Leser. Kontextuelle Kommentare zum Stern der Erlösung [Conditio Judaica 44], Tübingen 2004, 453–480). 57 Es ist das Verdienst der theologischen Arbeit von Bernhard Grümme, »Noch ist die Träne nicht weggewischt von jeglichem Angesicht«. Überlegungen zur Rede von Erlösung bei Karl Rahner und Franz Rosezweig (Münsteraner theologische Abhandlungen 43), Altenberge 1996, entscheidende Züge von Rosenzweigs Offenbarungs- und Erlösungsdenken herausgearbeitet zu haben. Er überwindet dabei allerdings nur teilweise die theologisch vorherrschende, negative Einstellung zum Gesetz, wenn er Rosenzweig eine Subordination des Gesetzes unter das Gebot oder wenn er dem Gesetz Erstarrung, Abstraktheit, Inhalts- und Erfahrungslosigkeit unter56

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mension des Gesetzes im Judentum in den Blick nehmen. Zuvor aber möchte ich noch eine erste kurze Zwischenbilanz ziehen. Der Ertrag der bisherigen Reflexionen Rosenzweigs zu einem Denken des Gesetzes liegt auf verschiedenen Ebenen, in erster Linie sind sie allerdings bedeutsam für die Frage nach einer Bestimmung des Subjekts. Rosenzweig geht vom einzelnen Menschen aus. Er reflektiert zwar auch den Menschen vor der ethischen Situation, das metaethische Selbst, aber er bleibt nicht dabei stehen, sondern durch Schöpfung, Offenbarung und Erlösung wird die Beziehung des Menschen zu Gott und zur Welt gestiftet. Das Subjekt, und nicht nur das religiöse, bleibt nicht verschlossen in sich, sondern öffnet sich durch die Erfahrung des Anderen. 58 Die Ausführungen Rosenzweigs im Stern der Erlösung haben aber auch Konsequenzen für die Ethik. So könnten sie die Handlungstheorie aus gewissen Aporien befreien, wenn man Handeln nicht einfach nur selbstschöpferisch verstehen würde, sondern auch den Antwortcharakter in jedem Handeln sieht oder wie Rosenzweig in einem Brief an Rudolf Stahl schreibt: »Wirklich umschaffende Tat entspringt immer nur als Antwort auf einen wirklichen ›erfahrenen‹ Anruf, mag der nun die Stimme Gottes sein oder die Stimme des Gewissens oder die Stimme schreiender Steine.« 59 stellt. Diese Sichtweise des Gesetzes liegt allerdings auch darin begründet, dass Grümme das dritte Buch des Sterns der Erlösung und die dem Stern der Erlösung folgenden Briefe und kleineren Schriften unberücksichtigt lässt. So beschränkt sich seine Analyse des Verhältnisses von Gebot und Gesetz auf das Offenbarungs- und Erlösungskapitel, in denen dem Gebot unbezweifelbar Priorität zukommt. Es soll nicht bezweifelt werden, dass das Gesetz im Gebot gründet oder immer wieder Gebot werden muss, will es nicht zur leeren moralischen Forderung verkommen, aber das Gesetz ist genauso notwendig, will man nicht bei einer rein präsentischen (Offenbarungs-)Theologie und Ethik stehen bleiben. Das Gebot bedarf des Gesetzes und nicht nur das Gesetz des Gebotes. 58 Vgl. Martin Fricke, »Unausgeschöpfte Impulse des neuen Denkens von Franz Rosenzweig für Theologie und Kirche«, in: Kirche und Israel 20 (2005), Heft 1, 60–73, hier 67 f. 59 Franz Rosenzweig, Briefe und Tagebücher, Bd. 2: 1918–1929 (Der Mensch und sein Werk. Gesammelte Schriften I,2), hrsg. v. Rachel Rosenzweig und Edith Scheinmann-Rosenzweig unter Mitwirkung von Bernhard Casper, Den Haag 1979, 1182; zur philosophischen Dignität der Responsivität vgl. Waldenfels, Antwortregister.

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4. Die messianische Dimension des Gesetzes im Judentum Die Zukunft ist also das Reich des Gesetzes. Aber wenn Rosenzweig – und viele Interpreten haben dies in den Vordergrund gestellt – die Gegenwärtigkeit (des Gebotes) so stark priorisiert, dann scheinen Gesetz und Zukunft einen weniger wertvollen Weg darzustellen. Das schien schon in ähnlicher Weise für die Vergangenheit und das Gesetz zu gelten. Doch einer solchen Sichtweise gegenüber hatten wir festgehalten, dass man die in dem Geschaffensein liegende soteriologische Bedeutung des jüdischen Gesetzes – und darauf bezieht sich Rosenzweig in erster Linie – nicht unterschätzen darf: »Im Gesetz ist eben alles Diesseitige, was darin ergriffen wird, alles geschaffene Dasein, schon unmittelbar zum Inhalt der künftigen Welt beseelt und erlöst.« 60 Einerseits ist die Welt geschaffen, andererseits bedarf sie noch der künftigen Erlösung. Dieser Konflikt wird nicht geschlichtet oder beruhigt durch das Liebesgebot, denn dies kann die Erlösung nicht vollenden, sondern durch das Gesetz, und im Besonderen durch die Einheit des Gesetzes. »Die Unruhe dieses Doppelgedankens«, so Rosenzweig, »stillt sich in der Einheit des Gesetzes.« 61 Das Gesetz kann der geschaffenen Welt Erlösung versprechen. Damit relativiert Rosenzweig die bisherige Priorisierung des Gebotes vor dem Gesetz. Im Liebesgebot bezieht sich ein Individuum direkt auf Gott, aber die Welt ist komplexer, und so bezieht sich Gott auf die Welt durch das Gesetz. Der individuellen Seele genügt das Gebot, der Komplexität und Mannigfaltigkeit der Welt allerdings vermag nur das Gesetz gerecht zu werden, und darin vermag es – und dies betrifft die von dem Gebot unterschiedene, andere Zeitlichkeit des Gesetzes – die Lücke zwischen Gegenwart und Zukunft zu schließen. 62 »Das Gesetz also in seiner alles ordnenden, das ganze ›äußere‹, nämlich alles diesseitige Leben, alles, was nur irgend ein weltliches Recht erfassen mag, erfassenden Vielseitigkeit und Kraft«, heißt es bei Rosenzweig, »macht diese Welt und die künftige ununterscheidbar.« 63 60 61 62 63

Rosenzweig, Briefe und Tagebücher, 1182. Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, 451. Vgl. Gibbs, »›Gesetz‹ in the Star of Redemption«, 399. Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, 451.

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In diesem Zusammenhang sucht Rosenzweig die rabbinische Legende, nach der Gott selbst im Gesetz, d. h. in der Tora, lernt, für seine Hermeneutik des Gesetzes fruchtbar zu machen. Nach jüdischer Auffassung ist das jüdische Gesetz aufgrund der in ihm implizierten schöpfungstheologischen und soteriologischen Dimension nicht begrenzt oder partikular, sondern umfassend, d. h. dass die Welt durch das Gesetz geschaffen wurde, des Weiteren dass Gott in der Tora lernt, um zu wissen, was er tun soll und dass schließlich auch die zukünftige Welt durch dieses Gesetz Wirklichkeit wird. Im Judentum seiner Zeit aber sei, so Rosenzweig, der Gedanke, dass das universale Gesetz nur ein jüdisches Gesetz sei, nicht präsent: »Daß das Gesetz nur jüdisches Gesetz, daß diese fertige Welt und erlöste Welt nur eine jüdische Welt ist und daß der Gott, der im Weltregimente sitzt, noch mehr zu tun hat als bloß im Gesetz zu lernen, dies vergißt das jüdische Gefühl, ganz einerlei ob es dabei das Gesetz im überlieferten Sinn meint oder sich den alten Begriff mit neuem Leben gefüllt hat.« 64

Rosenzweig spielt mit dieser letzten Gegenüberstellung auf die Ähnlichkeit im Gesetzesverständnis der zwei im deutschen Judentum seiner Zeit dominierenden Gruppen an. Dieses »jüdische Gefühl« sei sowohl bei traditionell gesetzestreuen als auch bei liberalen Juden, die sich darum bemühten, das alte Gesetz mit neuem Leben zu erfüllen, anzutreffen. Selbst für liberale Juden bleibe das Gesetz als das Gesetz der Erlösung notwendig für die künftige Welt. Diese Auffassung von der Bedeutung des Gesetzes stehe »in einem tiefen Gegensatz zu jener christlichen Gesetzlosigkeit des Sichüberraschenlassenkönnens und -wollens, die noch den Politiker gewordenen Christen von dem Utopist gewordenen Juden unterscheide.« 65 Der tiefere Grund für diese Auffassung Rosenzweigs liegt in seinem Verständnis der messianischen Zeit, die nicht in irgendeiner entfernten Zukunft eintritt, sondern – wie er nicht müde wird zu betonen – als ein »ewig zu gewärtigendes Heute« 66 zu verstehen ist. Dies erfährt der Jude im Lernen des Gesetzes, in dem für ihn schon 64 65 66

Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, 451. Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, 452. Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, 452.

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alles enthalten ist und das er deshalb nur um und um zu wenden habe. So ist der Übergang von dieser Welt in die künftige auch nicht dramatisch, denn das Wie des Übergangs stehe fest. »Wie Gottes nach der Legende, so mag sich nun auch das Leben des Frommen erschöpfen in immer vollkommenerem ›Lernen‹ des Gesetzes.« 67 Durch dieses Studium kann die ganze Welt in dieses Gefühl der messianischen Zukunft in der Gegenwart mit hinein genommen werden: »Sein Gefühl nimmt die ganze Welt, die zum Dasein geschaffne wie die beseelende, die der Erlösung zuwächst, zusammen in eins und füllt sie in den häuslich trauten Raum zwischen dem Gesetz und seinem, des Gesetzes, Volk.« 68 Robert Gibbs gibt in seinem Kommentar zu dieser Passage zu bedenken, ob Rosenzweig hier nur die orthodoxen Juden beschreibt und die liberalen Juden nicht miteinbeziehe und damit einen Konflikt zwischen jenen, die sich zum Gesetz und jenen, die sich zum Gebot hingezogen fühlten, heraufbeschwöre. 69 Gibbs argumentiert allerdings gegen ein solches Konfliktszenarium, da beide Gruppen, Liberale und Orthodoxe, sowohl im Liebesgebot Liebe und Offenbarung erführen als auch im Gesetz, in der Tora, die Hinordnung dieser Welt auf die künftige erführen. Da die Erlösung, von der der Stern der Erlösung handelt, die der ganzen Welt ist, bedürfe sie des Gesetzes, das alles umfasst. Die Liebe in ihrer Dringlichkeit erreiche nur den Einzelnen und verspreche den unmittelbaren Gehorsam. Das Gesetz gehe darüber hinaus auf die künftige Welt und lasse sie in dieser Welt hervortreten. Gibbs bringt diese Paradoxalität zutreffend auf den Punkt: »The future of law is indeed the higher moment, the redemption for which love comes but in which love has no interest.« 70 Die Erlösung der ganzen Welt, so hatte Rosenzweig gesagt, wird hineingenommen in den Raum zwischen Volk und Gesetz. Damit scheint das jüdische Leben aber in eine gewisse Enge und Simplizität zu geraten. Für dieses sich nach innen richtende, weltabgekehrte Judentum besteht – so formuliert Rosenzweig ungewohnt scharf – 67 68 69 70

Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, 452. Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, 452. Vgl. Gibbs, »›Gesetz‹ in the Star of Redemption«, 401. Gibbs, »›Gesetz‹ in the Star of Redemption«, 401.

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die Gefahr der Weltverleugnung, der Weltverachtung und der Weltabtötung. Weltverleugnung in der Vorwegnahme der Erlösung ohne Berücksichtigung der Schöpfung und Erlösung, die der ganzen Welt bzw. dem ganzen Menschen gilt; Weltverachtung, in der sich der Jude als der erwählte Rest von den Menschen zurückzieht; Weltabtötung, »wenn der Jude im Besitz des ihm offenbarten und in seinem Geiste Fleisch und Blut gewordenen Gesetzes nun das jeden Augenblick erneuerte Dasein und das stille Wachstum der Dinge regeln, ja auch nur beurteilen zu dürfen sich vermaß.« 71 Trotz dieser Gefahren ist dem Juden, so Rosenzweig, die »Selbstverschalung«, diese Er-innerung in sein Inneres hinein, letztlich um seines Höchsten, um Gottes und der Erlösung willen notwendig. Diese Er-innerung ist aber kein Letztes, denn Gott, Welt und Mensch, an denen sich die Abkehr des Juden von außen nach innen vollzog, bleiben nicht wie im Heidentum drei beziehungs- und ordnungslose Punkte, sondern zwischen ihnen kreist ein verbindender Strom, der von der Schöpfung zur Erlösung führt und der deshalb aus der scheinbaren Enge des Raumes zwischen Volk und Gesetz herausführt. 72 Rosenzweig fragt sich nun, wie die Erlösung in dem Verhältnis des »Rests« Israels zum Gesetz gedacht werden muss, wenn Gott selbst, so die Mystik der Offenbarung, durch seine Selbsthingabe an Israel dessen Schicksal mitleidet und sich deshalb erlösungsbedürftig macht. Und Rosenzweig fragt: Was bedeutet dem Juden angesichts dessen die Erfüllung des Gesetzes? Weder um des himmlischen Lohns noch um der irdischen Befriedigung willen tut er es, »sondern der jüdische Mensch erfüllt die unendlichen Bräuche und Vorschriften ›zur Einigung des heiligen Gottes und seiner Schechina‹. Mit dieser Formel bereitet er ›in Ehrfurcht und Liebe‹ sein Herz, er, der Einzelne, der Rest, ›im Namen ganz Israels‹, das Gebot, das ihm grade obliegt, zu erfüllen. […] Jede seine Taten, jede Erfüllung eines Gesetzes vollbringt ein Stück dieser Einigung.« 73

Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, 453; vgl. dazu auch Santner, der von der Gefahr der »Enge« spricht (vgl. Santner, Zur Psychotheologie des Alltagslebens, 144, Anm. 76). 72 Vgl. Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, 454. 73 Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, 456. 71

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Damit ist die Einigung, die Einheit Gottes »auf die Seele und in die Hände des Menschen gelegt. Der jüdische Mensch und das jüdische Gesetz – zwischen beiden spielt da nicht weniger ab als der gott-, welt- und menschenumfassende Vorgang der Erlösung.« 74 Von daher wird auch der enge Zusammenhang zu Erwählung und Gesetz deutlich, auf den wir im Folgenden zu sprechen kommen werden.

5. Erwählung und Gesetz Obwohl keine Arbeit Rosenzweigs sich explizit der jüdischen Erwählung widmet, ist es ein überaus wichtiges Element in seinem Denken. Das erste wichtige gedankliche Zeugnis zu seinem Erwählungsverständnis ist ein Brief an Eugen Rosenstock vom Oktober 1916, der allerdings schon vielfach behandelt wurde 75 und der für den hier interessierenden Zusammenhang mit dem Gesetz nicht sehr ergiebig ist. Ergiebiger sind einige Passagen aus dem dritten Buch des Sterns der Erlösung, in erster Linie aber eine briefliche Reaktion Rosenzweigs auf einen Bericht über eine Aussprache im Jüdischen Lehrhaus zu Frankfurt, in dem er für den Zusammenhang von Erwählung und Gesetz argumentiert. Unmittelbarer Anlass für diese Aussprache war ein Vortrag von Nahum Glatzer – der später auch eine intellektuelle Biographie Rosenzweigs verfasst hat 76 –, in dem dieser sich für eine Trennung von Erwählung und Gesetz ausspricht, argumentierend, dass Gott zwar das Volk erwählt habe, alles Einzelne im Gesetz aber nur vom Menschen sei. Angesichts dieser Äußerung fragt sich Rosenzweig zunächst, ob man eine so scharfe Trennung zwischen göttlich und menschlich ziehen könne, »wobei es ja ohnehin klar ist, daß zu Auserwähltheit auch ein Gesetz, das Gesetz im ganzen gehört, durch das sich die göttliche Wahl in

Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, 457. Vgl. Richard Cohen, Elevations: the height of the good in Rosenzweig and Levinas (Chicago Studies in the History of Judaism), Chicago 1994, 3– 39 (Jewish Election in the Thought of Franz Rosenzweig), hier 7–10. 76 Vgl. Nahum N. Glatzer, Franz Rosenzweig: His Life and Thought, 2., durchges. Aufl., New York 1961. 74 75

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menschliches Wählen, die Passivität des Berufen- und Ausgeschiedenseins in die Aktivität der scheidenden und dadurch entscheidenden Tat umsetzt.« 77

Diese allgemein menschliche Tatsache scheint Rosenzweig nicht zweifelhaft; lediglich »daß oder wie weit sich dieses Gesetz überhaupt, dieses Gesetz der Erwählung mit dem überlieferten jüdischen Gesetz decke, nur das ist uns zweifelhaft.« 78 Eine analoge Problemstellung sieht Rosenzweig nun in der Grenze und in dem Verhältnis zwischen der Aussprechbarkeit und der Erfahrbarkeit Gottes. Während objektiv formulierbar, von Gott aussprechbar nur sei, dass er ist, ist unendlich viel von ihm erfahrbar. Doch erst die eigene Erfahrung, wie Rosenzweig am Bild der Ehe als leerer Mitteilung einerseits oder als gefüllter Lebensform andererseits verdeutlicht, die wesentlich unaussprechbar bleibt, ist die Erfüllung und Verwirklichung der aussprechbaren Wahrheit. So verhalte es sich auch mit dem Zusammenhang von Erwählung und Gesetz. Dieser sei, da ja keinem Außenstehenden die einzelnen Gebote als »religiöse« Forderungen verständlich gemacht werden können, als theologischer Zusammenhang zwar aussprechbar, er werde aber erst lebendig, »wo wir ihn selber als einzelnes Gebot erfüllen dürfen und er aus der Objektivität einer theologischen Wahrheit in das Du des Lobspruchs tritt: wenn der zur Tora Aufgerufene den vorherigen und nachherigen Dank für das Gesetz mit dem Dank für die ›nationale‹ Erwählung aus allen Völkern und die ›religiöse‹ zu ewigem Leben in eins schmilzt.« 79

Der Gedanke der Auserwähltheit Israels, »der allein das Gesetz verständlich machen und allein die Erhaltung des jüdischen Volkes erklären kann« 80, ist kein Gegenstand der Dogmatik, sondern der

Rosenzweig, Briefe und Tagebücher, 1002. Rosenzweig, Briefe und Tagebücher, 1002. 79 Rosenzweig, Briefe und Tagebücher, 1003. 80 Franz Rosenzweig, »Apologetisches Denken. Bemerkungen zu Brod und Baeck«, in: Franz Rosenzweig, Zweistromland. Kleinere Schriften zu Glauben und Denken (Der Mensch und sein Werk. Gesammelte Schriften III), hrsg. v. Reinhold und Annemarie Mayer, Den Haag 1984, 677–697, hier 677. 77 78

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theologische Satz vom Zusammenhang von Erwählung und Gesetz wird in der Erfahrung des (Lob-)Gebets mit Leben gefüllt. 81 Moderne Denker wie William James, Max Weber oder Julius Wellhausen hätten sich bemüht, die einzelnen Gebote (in ihrem Entstehungszusammenhang) religionspsychologisch, religionssoziologisch oder religionsgeschichtlich zu erklären. Rosenzweig zweifelt nicht an der Richtigkeit dieser Erklärungen, »aber sie werden zu Äußerlichkeiten und Nachträglichkeiten gegenüber der im Tun, im rechten Tun erfahrenen Wirklichkeit des Gebots.« 82 Nicht das Wissen ist also entscheidend, sondern das Tun, in dem sich ein anderes Wissen zeigt. Darüber hinaus tritt Rosenzweig einer im liberalen Judentum seiner Zeit verbreiteten Einstellung entgegen, die sich die verpflichtende Kraft des Gesetzes aus seiner Bedeutung für die Einheit des Volks im Raum und über die Zeit erklärt. Eine solche Einstellung habe nichts von der spezifischen Zeitlichkeit dieses Tuns begriffen, denn dieses kenne nichts als den Augenblick, »ihn aber in der ganzen gott-menschlichen Wirklichkeit des Gebots, aus der wir sagen dürfen: Gelobt seist Du.« 83 Rosenzweig führt, wie wir anhand dieser brieflichen Äußerungen sehen können, seine Überlegungen zum Gesetz auch nach der Abfassung des Sterns der Erlösung sowohl brieflich als auch in kleineren Schriften fort. Und diese Reflexionen bleiben nicht nur wie bisher vorwiegend theoretischer Natur, sondern Rosenzweig mischt sich – getreu den beiden letzten Worten des Sterns der Erlösung: »Ins Leben« – aktiv in die jüdisch-christlichen und innerjüdischen Auseinandersetzungen seiner Zeit ein.

Vgl. Rosenzweig, Briefe und Tagebücher, 1004; zur Bedeutung des Gebets im Stern der Erlösung vgl. Bernhard Casper, »Theo-logie als Geschehen des Gebetes. Eine Anleitung, Franz Rosenzweigs ›Stern der Erlösung‹ zu lesen«, in: Albert Raffelt (Hrsg.), Weg und Weite. Festschrift für Karl Lehmann, 2., durchges. Aufl., Freiburg i. Br./Basel/Wien 2001; Hans M. Dober, »Die Verwindung der Metaphysik im Gebet. Stern III als Antwort auf die Metaphysikkritik von Stern I«, in: Hartwig Wiedebach (Hrsg.) »Kreuz der Wirklichkeit« und »Stern der Erlösung«. Die Glaubens-Metaphysik von Eugen Rosenstock-Huessy und Franz Rosenzweig (Rosenzweigiana 5), Freiburg i. Br./München 2010, 205–220. 82 Rosenzweig, Briefe und Tagebücher, 1003. 83 Rosenzweig, Briefe und Tagebücher, 1004. 81

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6. Rosenzweigs Auseinandersetzung mit dem Gesetz nach der Abfassung des Sterns der Erlösung Rosenzweig hatte in einem Brief aus dem Jahr 1924 an Issac Breuer eingeräumt, dass das Gesetz bei der Darstellung im Stern der Erlösung zu kurz gekommen war und dies sachlich und persönlich begründet. 84 Der sachliche Grund lag für ihn in der soziologischen Methode, d. h. in der parallelen Darstellung von Judentum und Christentum aus einer Außenperspektive. Dabei war es ihm auch nicht erlaubt, von der Innenperspektive auszugehen, im Falle des Christentums das Dogma, im Falle des Judentums das Gesetz, Perspektiven, »die man nur versteht, wenn man Jude oder Christ ist.« 85 Der persönliche Grund war, dass Rosenzweig nach der Fertigstellung des Sterns der Erlösung annahm, »daß nun Jahrzehnte des Lernens und Lebens, Lehrens und Lernens beginnen würden und daß vielleicht am Ende dann, wenn ich ganz alt geworden wäre, nochmal ein Buch gekommen wäre, und das wäre dann ein Buch über das Gesetz geworden.« 86 Obwohl er ein solches Buch aufgrund seines (zu) frühen Todes nicht mehr realisieren konnte, wird, wenn man sich die biographische und intellektuelle Entwicklung Rosenzweigs in seinen kleineren Schriften und Briefen seit dem Stern der Erlösung vergegenwärtigt, deutlich, dass er seine Gedanken über das Gesetz weiterentwickelt hat. Dies zeigt sich in den in dieser Zeit entstandenen Entwürfen und Aufsätzen sowie in der von ihm gemeinsam mit Martin Buber erstellten Übersetzung der hebräischen Bibel, den in diesem Umfeld verfassten bibelhermeneutischen Abhandlungen und in der mit Martin Buber u. a. geführten Auseinandersetzung um die Bedeutung des jüdischen Gesetzes (auch im Alltag). Parallel dazu sah er sich, nachdem er entschieden hatte, aktiv an der jüdischen Bewegung teilzunehmen, auch herausgefordert, konkrete Beiträge zum jüdischen Leben zu leisten. Das bedeutete, dass Franz Rosenzweig sich nicht nur theoretisch mit der Bedeutung des Gesetzes, sondern auch mit seiner Rolle in der Praxis jüdischen Le84 85 86

Rosenzweig, Briefe und Tagebücher, 951. Rosenzweig, Briefe und Tagebücher, 951. Rosenzweig, Briefe und Tagebücher, 951.

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bens auseinandersetzte. Unter anderem thematisiert er dies im Kontext eines an Eduard Strauss gerichteten Schreibens zum jüdischen Bildungsproblem unter dem Titel »Bildung und kein Ende«.

6.1 »Bildung und kein Ende« – Die Rolle des Gesetzes im praktischen jüdischen Leben Fast schon polemisch wendet sich Rosenzweig in dieser kurzen Abhandlung gegen eine einseitig wissenschaftlich-akademische Auseinandersetzung mit dem Bildungsproblem: »Es ist des Büchermachens kein Ende.« 87 Stattdessen fordert er in Anlehnung an das Schlussplädoyer des Sterns der Erlösung »Ins Leben« 88 eine Wendung »zum Lebendigen, zu dem was – ist.« 89 Das Büchermachen, d. h. Unterricht und Forschung, sind kein Selbstzweck, sondern sollen dem Leben dienen. Sie sind aber beide verkümmert, »weil uns das fehlt, wodurch Wissen wie Lehre erst lebendig werden: das – Leben.« 90 Diese Lücke kennzeichnet die jüdische Existenz seit der Emanzipation. Bis dahin »war diese Plattform das Dasein in den Schranken des altjüdischen Gesetzes, im jüdischen Hause, im synagogalen Dienst.« 91 Die Emanzipation habe diese Plattform zerstört, und auch wenn alle drei Teile noch da seien, seien sie nur Teile und damit nicht mehr das, was sie in ihrem Zusammenhang bis da waren: »die eine Plattform des einen wirklichen und gelebten Lebens, dem Wissenschaft und Unterricht nur zu dienen hatten und aus dem sie hinwiederum ihre besten Kräfte zogen.« 92 Und was speziell das Gesetz betrifft, so wendet sich Rosenzweig gegen die Art und Weise, wie das Gesetz im »Westjudentum« verwendet wird, nämlich zur Abgrenzung der Juden, die sich daran halten, von den JuFranz Rosenzweig, »Bildung und kein Ende«, in: Franz Rosenzweig, Zweistromland. Kleinere Schriften zu Glauben und Denken (Der Mensch und sein Werk. Gesammelte Schriften III), hrsg. v. Reinhold und Annemarie Mayer, Den Haag 1984, 491–503, hier 491. 88 Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, 472. 89 Rosenzweig, »Bildung und kein Ende«, 494. 90 Rosenzweig, »Bildung und kein Ende«, 495. 91 Rosenzweig, »Bildung und kein Ende«, 495. 92 Rosenzweig, »Bildung und kein Ende«, 495. 87

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den, die sich nicht daran halten. »Das Gesetz unterscheidet heute bei uns den Juden vom Juden mehr als den Juden vom Nichtjuden.« 93 Den Grund sieht Rosenzweig in der Auflösung des Zusammenhangs des Gesetzes mit Haus und Kult, deren Niedergang andere Ursachen hat, die aber auch der deutschen Judenheit beide nicht mehr eine Plattform jüdischen Lebens zu geben vermochten. So ist das jüdische Haus, wie Rosenzweig etwas pathetisch bemerkt, »nicht mehr das Herz, aus dem der Blutstrom alles jüdischen Lebens hervorgetrieben wird und in das er wieder zurückkehrt.« 94 Dies sei vor allem zurückzuführen auf die verlorene Machtstellung der Familie und die Zerstörung der Einheit von häuslichem und beruflichem Leben. Selbst orthodoxe Juden seien dazu gezwungen, ihre Kinder in zwei Bildungswelten einzuführen, und damit geht der Beruf, die öffentliche Tätigkeit, nicht mehr vom Haus aus nach draußen, sondern »untersteht eigenen Ansprüchen, eigenen Gesetzen; das Haus bindet nicht mehr das jüdische Leben zur Einheit.« 95 Ähnlich verhält es sich mit dem Kult, dem synagogalen Gottesdienst, obwohl man nicht unterschätzen sollte, so Rosenzweig, dass selbst der assimilierteste Jude bei Hochzeiten und Beerdigungen dazu noch einen Zugang hat. Auch sollte man nicht geringschätzig von den Kräften reden, die den liturgischen Schatz eines Jom Kippur-Gottesdienstes ausmachen. »Aber dass sie [sc. die Synagoge] unserer Gesamtheit werden kann, was sie ihr war, das ist aus dem gleichen Grunde ausgeschlossen, aus dem es auch für das Haus und Gesetz ausgeschlossen war.« 96 Denn sie ist nur noch Teil, nicht mehr ergänzendes Glied in einem lebendigen Leib. Im Gegenteil: Die Synagoge sei zur Stätte religiöser Erbauung geworden. Und im Sinne der religionskritischen Attitüde des Sterns der Erlösung fügt Rosenzweig hinzu: »Die Religion, der das Leben – mit Recht! denn es wehrt sich mit Recht gegen solche tote Teilansprüche! – die Stätte verweigert, sucht sich da ein sicheres, ungestörtes Eckchen; wirklich ein Eckchen: das Leben flutet unbekümmert daran vorü93 94 95 96

Rosenzweig, »Bildung und kein Ende«, 496. Rosenzweig, »Bildung und kein Ende«, 496. Rosenzweig, »Bildung und kein Ende«, 496. Rosenzweig, »Bildung und kein Ende«, 496.

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ber.« 97 Das heißt, dass auch die Synagoge das nicht mehr vermag, was auch Gesetz und Haus nicht vermochten, die Einheit des jüdischen Lebens zu gewähren. Dieser Einheit, diesem Zusammenhalt des deutschen Judentums gilt Rosenzweigs Sorge. Dies suchte er vor allem in seiner Lehrtätigkeit am Jüdischen Lehrhaus und im eigenen Haushalt umzusetzen. Dies kommt auch in den sogenannten Gritli-Briefen zum Ausdruck, wie Ephraim Meir herausgearbeitet hat. »All this points in the direction that Rosenzweig progressively became a law obeying, observant Jew.« 98 Meir legt Wert darauf, festzustellen, dass diese Umkehr zum Gesetz vollkommen unfanatisch war und verortet sie in den Kontext seiner allgemeinen Hinwendung zum jüdischen Leben: »In Rosenzweig’s gradual return to Jewish life, the Law became more and more important, not as a bundle of regulations, lacking vitality, but as providing him with life-giving energy.« 99 In einigen dieser Briefe, die im Rosenzweig Jahrbuch schon Gegenstand verschiedener Kommentare waren, 100 geht Rosenzweig begrifflich sogar so weit, von einem »Neuen Gesetz« 101 zu sprechen. Allerdings ist es nicht einfach, genau zu bestimmen, was Rosenzweig damit meint. 102 Zunächst ist festzuhalten, dass dabei der Stern der Erlösung für ihn so etwas wie das Bindeglied zwischen altem und neuem Gesetz darstellt. Was lässt sich aus den wenigen brieflichen Äußerungen über dieses »Neue Gesetz« sagen? Zunächst, dass es »wirklich wieder ein geschriebenes und doch wirklich gehaltenes Gesetz sein« 103 wird. Das »Neue Gesetz« wird zwar nicht zu seinen Lebzeiten realisiert werden, so Rosenzweig in dem Brief an Eugen Rosenstock, aber aus den AnRosenzweig, »Bildung und kein Ende«, 497. Ephraim Meir, »Rosenzweig’s New Law«, in: Rosenzweig Jahrbuch 8/9: Gebot, Gesetz, Gebet. Love, law, life (2014), 178–192, hier 179. 99 Meir, »Rosenzweig’s New Law«, 179. 100 Vgl. neben Meir, »Rosenzweig’s New Law«, auch Gesine Palmer, »›In 100 Jahren hat die Welt wieder eine Form und wir wieder ein Gesetz.‹ Rosenzweig’s polemics on Law and Love«, in: Rosenzweig Jahrbuch 8/9: Gebot, Gesetz, Gebet. Love, law, life (2014), 193–207. 101 Franz Rosenzweig, Die »Gritli«-Briefe. Briefe an Margrit RosenstockHuessy, hrsg. v. Inken Rühle und Reinhold Mayer, Tübingen 2002, 712 f. und 722 f. 102 Vgl. Meir, »Rosenzweig’s New Law«, 182. 103 Rosenzweig, Die »Gritli«-Briefe, 723. 97 98

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strengungen und Opfern der gegenwärtigen Bestrebungen des Judentums, wie z. B. des Zionismus – eines Zionismus allerdings, der die metahistorische Dimension ernstnimmt und nicht nationalistisch eingestellt ist – und auch aus Rosenzweigs eigenen Anstrengungen, »Werkzeug für dieses neue Werk« zu sein, wird dieses »Neue Gesetz« hervorgehen, sodass in einhundert Jahren, »die Welt wieder eine Form und wir wieder ein Gesetz haben.« 104 Der israelische Rosenzweig-Forscher Ephraim Meir betont in seiner »quite arresting thesis« 105, dass »the new law is linked with social life; not only to religion, but to the whole of life.« 106 Mit der Zeit habe dieses Gesetz »an eminently social dimension« 107 erhalten. Dabei spreche er auch von einer messianischen Kraft des säkularen Sozialismus, so Meir. Rosenzweig hat nicht mehr ausarbeiten können, wie genau er sich diesen Beitrag von Zionismus und Sozialismus zum Neuen Gesetz vorstellt. Wichtig für Meir ist jedoch, dass »Rosenzweig did not conceive of the new law as an inner Jewish affair, but as something important for the world.« 108

6.2 Gottesfrage und Gesetz – Rosenzweigs Abhandlung »Die Wissenschaft von Gott« In einem Entwurf für eine Vorlesungsreihe, die Rosenzweig von Oktober bis Dezember 1921 an eben diesem Jüdischen Lehrhaus in Frankfurt gehalten hat und die drei Teile, betitelt »Die Wissenschaft von Gott«, »Die Wissenschaft von der Welt« und »Die Wissenschaft vom Menschen«, vorweist, hat Rosenzweig sich im ersten Teil mit der Frage des Verhältnisses von Gesetz und Gott auseinandergesetzt. Im Zentrum der kurzen Abhandlung steht die Frage nach dem Willen Gottes. Dabei bestimmt Rosenzweig diesen Willen als einen solchen, »der im Akt des Willens selbst schon die Be-

Rosenzweig, Die »Gritli«-Briefe, 723. Myriam Bienenstock, »Vorwort«, in: Rosenzweig Jahrbuch 8/9: Gebot, Gesetz, Gebet. Love, law, life (2014), 7–12, hier 10. 106 Meir, »Rosenzweig’s New Law«, 182. 107 Meir, »Rosenzweig’s New Law«, 185. 108 Meir, »Rosenzweig’s New Law«, 182. 104 105

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dingungen der Erfüllung setzt« 109 und definiert dies als Gesetz Gottes. In formeller Hinsicht tue dies jedes Gesetz. Doch jedes andere Gesetz sei entweder individuell oder abstrakt allgemein. »Zugleich individuell und allgemein ist nur das Gesetz Gottes. Das ist und seiner Derivate, der Tora und der Kirche; Kennzeichen.« 110 Doch wie werden die Begriffe individuell und allgemein in Bezug auf das Gesetz näher bestimmt? Das Individuelle des Gesetzes liegt in seiner Exklusivität, das Allgemeine in seinem ewigen Geltungsanspruch, d. h. nach Rosenzweigs Konzeption der Zeitlichkeit, dass es absolut heute gelte. Im Unterschied zum staatlichen Gesetz, das nur solange gilt, wie dieser Staat bestehe, »gilt das jüdische Gesetz nicht solange das Judentum besteht, sondern es fordert und bewirkt, daß das Judentum besteht.« 111 Dieses Gesetz tritt in die Welt und unter deren Gesetze ein. Dabei ist es dem Naturgesetz oder dem Sittengesetz ähnlich oder auch mit ihnen zu verwechseln. Als Naturgesetz, so Rosenzweig, manifestiert es sich im Zionismus, als Sittengesetz im Liberalismus, beide vergleichbar darin, dass sie die spezifische Zeitlichkeit des jüdischen Gesetzes – das Naturgesetz die Zeit der Welt, das Sittengesetz die Zeit des individuellen Menschen – zu überwinden trachten. Bildlich ausgedrückt ist Ersteres mit einem kreisenden Rad, Letzteres mit einem Felsen zu vergleichen. »Das [jüdische] Gesetz hat ja etwas von jenem Rad wie von jenem Fels. Aber darüber hinaus ist es, was jene beiden nicht sind – Leben. Nämlich es hat den Augenblick des ›Heute‹ unerstickt.« 112 Leben und Augenblick sind es, die in Rosenzweigs Philosophie des Gesetzes als die zentralen Begriffe auch den Unterschied zu den Gesetzen der Welt markieren. Die in diesem Entwurf neu aufgeworfene Frage lautet aber – und damit kommt Rosenzweig auf die eingangs geäußerten Überlegungen zum Willen zurück –, was dies für Gott bedeutet. »Solange bloß sein [sc. Gottes] Wille jeden Augenblick herabsteigen konnte […], Franz Rosenzweig, »Die Wissenschaft von Gott«, in: Franz Rosenzweig, Zweistromland. Kleinere Schriften zu Glauben und Denken (Der Mensch und sein Werk. Gesammelte Schriften III), hrsg. v. Reinhold und Annemarie Mayer, Den Haag 1984, 619–642, hier 628. 110 Rosenzweig, »Die Wissenschaft von Gott«, 628. 111 Rosenzweig, »Die Wissenschaft von Gott«, 628. 112 Rosenzweig, »Die Wissenschaft von Gott«, 629. 109

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solange behält er auch noch seine Freiheit. Aber wenn das Gesetz sich irdisch verabsolutiert« 113, bleibt ihm nichts mehr zu tun. Doch, wie Bernhard Casper schreibt, »la promesse divine infinie maintient la loi dans sa vigueur.« 114 Dies ist in erster Linie der Auftrag der Propheten, die »das Statuarische des Gesetzes durch die Verheißung [durchbrechen]. Die Verheißung«, so Rosenzweig, »rettet das Gesetz vor dem Schicksal, Gesetz der Menschen, Menschensatzung zu werden. […] Die Verheißung hilft nicht, sie macht uns wieder – ›hilflos‹.« 115

6.3 »Kein Wesen, sondern das Leben« – Rosenzweigs Gesetzesdenken in der Auseinandersetzung mit der Frage nach dem Wesen des Judentums Unter den vielerlei Kontroversen des ersten Drittels des 20. Jahrhunderts war die Frage nach dem sogenannten Wesen des Christentums, Judentums usw. eine der Fragen, die Rosenzweig zum Anlass nahm, grundsätzlich zu Einheit und Pluralität im Judentum seiner Zeit Stellung zu nehmen. Unmittelbarer Auslöser dieser Debatte waren sechzehn Vorlesungen, die Adolf von Harnack vor Studierenden aller Fakultäten im Wintersemester 1899/1900 an der Universität Berlin gehalten hatte und die unter dem Titel Das Wesen des Christentums erschienen waren. Als Reaktion auf dieses Buch suchte man nun auch auf jüdischer Seite sich zur Wesensfrage zu äußern, so z. B. Leo Baeck, der zunächst auf Harnacks Schrift direkt reagierte, 116 einige Jahre später selbst sein Buch Das Wesen des Judentums 117 veröffentlichte, das viele Auflagen erlebte. Für Rosenzweig ist die Frage nach einem Wesen obsolet: »solange man Sein hat, fragt man nicht nach dem Wesen.« 118 Dabei Rosenzweig, »Die Wissenschaft von Gott«, 629. Casper, »Responsabilité et intentionalité de la loi«, 55. 115 Rosenzweig, »Die Wissenschaft von Gott«, 629. 116 Vgl. Leo Baeck, Harnacks Vorlesungen über das Wesen des Christentums (Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judentums), 2., verm. Aufl., Breslau, 1902. 117 Vgl. Leo Baeck, Das Wesen des Judentums, Frankfurt a. M. 1906. 118 Franz Rosenzweig, »Das Wesen des Judentums«, in: Franz Rosenzweig, 113 114

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sei die Antwort auf die Wesensfrage sowohl nach außen mit der Unterscheidung von Unwesentlichem und Wesentlichem wie nach innen mit dem Beweis, dass der eigene Standpunkt das Wesentliche beherrsche, gerichtet. Und diese doppelte Stoßrichtung gelte für alle drei Richtungen des Judentums: für Orthodoxie, Liberalismus und Zionismus. Dabei fällt die Antwort auf die Wesensfrage, die Rosenzweig für falsch gestellt hält, strukturell in allen drei Richtungen ähnlich aus. Die grundlegende Frage lautet jeweils, wodurch sich das Judentum konstituiere und wie sich dies biblisch begründen lasse. Diese Konstitution erfolgt in der Orthodoxie durch das Gesetz, der biblische Beleg ist die Sinai-Erzählung. Demgegenüber wendet Rosenzweig ein: »ist Gesetz ohne dogmatische Begründung möglich? Gibt es die Tora ohne den Glauben des ‫› ?השמים מן‬Sie ist nicht im Himmel‹ – aber sie war es doch einmal.« 119 Die dogmatische Zersetzung habe jedoch auch die Geltung des Gesetzes erschüttert, da Gesetz und Gott aufeinander bezogen sind, ein »Wesenszug«, der das jüdische Gesetz von jedem anderen Gesetz unterscheidet. Der jüdische Gott gibt das Gesetz und bestätigt jeden einzelnen Satz und er »tut was er tut, (sogar die Weltschöpfung) ‫[ התורה בשביל‬sc. um der Tora willen].« 120 Doch lässt sich das »um der Tora willen« nicht ohne Rücksicht auf den Inhalt der Tora aussagen. Und der Inhalt der Tora lässt zunächst keine Ordnung erkennen. Gottes- und Nächstenliebe stehen neben Tieropfer, Schachersatz etc. All dies wird in der Form des Gebots gegeben. 121 Es ist aber – und dies ist nun entscheidend und hat Rosenzweig den Vorwurf der Historisierung der Tora eingebracht – »nur scheinbar abgeschlossen. In Wahrheit in einer dauernden An- und Einformung neuer Inhalte begriffen.« 122 Neue technische und gesellschaftliche Entwicklungen (Rosenzweig nennt als Beispiele das elektrische Licht und das Frauenwahlrecht, den Schutz des keimenden Lebens Zweistromland. Kleinere Schriften zu Glauben und Denken (Der Mensch und sein Werk. Gesammelte Schriften III), hrsg. v. Reinhold und Annemarie Mayer, Den Haag 1984, 521–526, hier 521. 119 Rosenzweig, »Das Wesen des Judentums«, 521. 120 Rosenzweig, »Das Wesen des Judentums«, 522. 121 Rosenzweig greift hier seine Unterscheidung von Gebot und Gesetz aus dem Stern der Erlösung wieder auf. 122 Rosenzweig, »Das Wesen des Judentums«, 522.

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und die Leichensektion) fordern Entscheidungen. Dabei werden diese nicht aus dem Geist des Judentums, sondern aus dem alten Gesetz abgeleitet: »Aus dem Gesetz wird entschieden.« 123 Daher ist auch der Angriff des Paulus berechtigt, denn es »durfte so aussehen, als ob der Jude dem Gesetz, nicht das Gesetz dem Juden gegeben sei.« 124 Doch für Rosenzweig hat dieser Angriff auf das Gesetz nur eine weltgeschichtliche, keine wissenschaftliche Berechtigung, ist also im Kontext des frühen Christentums berechtigt, aber nicht mit Blick auf das, was auch noch zum Judentum gehört. Denn »des Gesetzes erstes Wort ist das der Liebe.« 125 Die Zahl 613 habe zwar nur symbolischen Wert, aber trotzdem hängen alle Gebote zusammen. Deshalb unterscheide man auch nicht zwischen leichten und schweren Geboten. Entscheidend aber ist für Rosenzweig, dass jedes Gebot heute erfüllt werden muss, »als Gebot und nicht als Gesetz.« 126 Auch die beiden anderen Richtungen des Judentums seiner Zeit unterzieht Rosenzweig einer ähnlich eingehenden Analyse. Für den Liberalismus konstituiert das Judentum sich als Religion des Geistes und dies habe nicht nur in dessen Perspektive seine biblische Berechtigung (Jesaja in der Opferversammlung), sondern in ihm wurde nur das explizit, was jahrhundertelang selbstverständlich war. Es sind drei charakteristische Elemente, die sich aus der liberalen Auffassung ableiten lassen: »Konfession, Evolution, Mission. […] In allen drei aber ist der jüdische Geist genau so verschieden von allem andern Gesetz wie das jüdische Gesetz von allem andern Gesetz.« 127 Das Gesetz kehrt sich gegen außen: Das Judentum ist Konfession, insofern es ein Gesetz gegen das Heidentum ist. Es ist auch evolutionär: Mit den Propheten treten auch neue Forderungen auf. Es ist aber auch missionarisch und universalistisch, insofern der Geist, wie sich dies im Gebet Alenu 128 zeigt, das Nationale transzendiert. Aber gerade in diesem Gebet gibt es auch nationalistische 123 124 125 126 127 128

Rosenzweig, »Das Wesen des Judentums«, 522. Rosenzweig, »Das Wesen des Judentums«, 522. Rosenzweig, »Das Wesen des Judentums«, 522. Rosenzweig, »Das Wesen des Judentums«, 523. Rosenzweig, »Das Wesen des Judentums«, 522. Rosenzweig bezeichnet es in der jiddisch-aschkenasischen Schreibweise

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Töne, womit es u. a. auch dem Zionismus eine gewisse Berechtigung verleiht. Dieser gründet seine Auffassung vom Wesen des Judentums auf das Blut. Biblisch gesehen ist auch dieses Motiv in Familiengeschichten eines ans Blut, an die Väter geknüpften Rechts präsent. »Und das Blut ist genau so verschieden von jedem andern Blut wie Gesetz und Geist verschieden waren.« 129 Doch auch diese Auffassung, dass das Wesen des Judentums in seinem Blut liegt, sei wie die beiden anderen Wesensauffassungen auch ein Irrtum des 19. Jahrhunderts: »Das Judentum soll ›nur‹ Gesetz sein, das Gesetz sein ›nationales Gesetz‹, der Geist seine ›nationale Ideologie‹.« 130 Das Judentum ist weder Religion noch Weltanschauung noch Politik. Rosenzweig versucht diese drei Verengungen im Verständnis (des Wesens) des Judentums in Orthodoxie, Liberalismus und Zionismus aufzubrechen und tut dies mit Hilfe einer Schöpfungstheologie, die das »Wesen« nicht vom Menschen, sondern von Gott her zu verstehen sucht: »Die Juden sind nur die Geschaffenen (bez. des Judentums), der Schöpfer ist Gott. Von Gott her ist das Wesen erkennbar.« 131 Dies bedeutet, alle drei Weisen jüdischen Selbstverständnisses haben ihr Recht, dürfen sich aber nicht als Wesen des Judentums verabsolutieren, sondern existieren nur in ihrer Bezogenheit aufeinander. Das Judentum ist nur durch die Zusammenfassung aller drei Elemente zu begreifen. Es existiert zwar plural, ist aber in einer Art mystischer Einheit verbunden, wie sie sich im Kiddusch am Sabbatabend manifestiert. 132 Im pädagogischen Sinn ist es notwendig, jüdische Menschen im Sinne eines dieser Standpunkte zu erziehen. »Aber das Ziel dieser Erziehung liegt jenseits dieser erziehlich notwendigen Standpunkte. Das Ziel ist kein ›Wesen‹ des Judentums, überhaupt kein Wesen, sondern das Leben.« 133 Mit diesen Worten greift Rosenzweig auf das Ende des Sterns der

Olenu. Es ist hymnisches Gebet, das zum Ende der drei Gebetszeiten des täglichen Gottesdienstes gesprochen wird. 129 Rosenzweig, »Das Wesen des Judentums«, 524. 130 Rosenzweig, »Das Wesen des Judentums«, 524. 131 Rosenzweig, »Das Wesen des Judentums«, 524. 132 Es ist nicht von ungefähr, dass Rosenzweig hier wieder zur Lösung einer Problematik auf eine Gebetspraxis hinweist. 133 Rosenzweig, »Das Wesen des Judentums«, 526.

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Erlösung zurück, das auch für Rosenzweigs bibelhermeneutische Aufsätze maßgeblich sein wird.

6.4 Die Bedeutung von Rosenzweigs Bibelhermeneutik für eine Theologie des Gesetzes – Die Auseinandersetzung mit Martin Luther Für unsere Frage nach einer Hermeneutik des Gesetzes bedeutsam sind neben der Frage, wie Gott bzw. Gesetz aufeinander bezogen sind und wie sich Rosenzweigs Gesetzesdenken in der Debatte um die sogenannte Wesensfrage positioniert, in besonderer Weise auch die bibelhermeneutischen (und homiletischen) Reflexionen, die sich ansatzweise schon im Stern der Erlösung, aber dann vor allem in den Aufsätzen im Umfeld der Bibelübersetzung finden. Besondere Bedeutung kommt dabei dem Beitrag »Die Schrift und Luther« aus dem Jahr 1926 zu. Es geht uns dabei nicht in erster Linie um die sprachphilosophischen Überlegungen, 134 sondern um die implizite Bibelhermeneutik Rosenzweigs in diesem Text, die in kritischer Auseinandersetzung mit der Martin Luthers entfaltet wird. Im Folgenden geht es uns aber nicht darum, den bibelhermeneutischen und homiletischen Reflexionen Luthers gerecht zu werden, 135 sondern die darin explizierte Unterscheidung Luthers von Gesetz und Evangelium und Rosenzweigs anderes Verständnis des Gesetzes, das sich u. a. aus dem Zusammenhang der Kritik an dieser Bibelhermeneutik entwickelt, sichtbar zu machen. Obwohl Rosenzweig die Übersetzungsleistung Luthers durchaus würdigt, nimmt er wahr, wie dessen Übersetzungsarbeit durch seinen Glauben bestimmt wird, und scheut sich nicht von einem »Glaubenszwang« zu sprechen, »der (hier) alles wirkliche Übersetzen beherrscht.« 136 GeVgl. dazu Anna Elisabeth Bauer, Rosenzweigs Sprachdenken im »Stern der Erlösung« und in seiner Korrespondenz mit Martin Buber zur Verdeutschung der Schrift (Europäische Hochschulschriften 23), Frankfurt a. M. u. a. 1992. 135 Vgl. dazu Hans M. Dober, Evangelische Homiletik. Dargestellt an ihren Monumenten Luther, Schleiermacher und Barth mit einer Orientierung in praktischer Absicht, Berlin 2007, 21 ff. 136 Franz Rosenzweig, »Die Schrift und Luther«, in: Franz Rosenzweig, 134

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gen diese enge Vorgabe plädiert Rosenzweig für eine hermeneutische Offenheit der ganzen Bibel gegenüber. So fehle dem Reformator die Offenheit ohne ein allzu festgelegtes Vorverständnis, um von der Lektüre des biblischen Textes angesprochen zu werden. Luther sei außerdem zutiefst von der Vulgata geprägt und habe deshalb beim Ergründen des Sinns des Textes lateinisch und nicht hebräisch gedacht. Darüber hinaus habe er andere Auslegungsmöglichkeiten ausgeblendet und sich, wie Rosenzweig am Beispiel von Ex 20 (Dekalog) andeutet, in bestimmten Auslegungsfragen vor allem auf die Infragestellung dieses Textes durch Paulus und die Antwort des Augustinus bezogen. 137 Rosenzweig selbst hat in diesem Text nicht weiter ausgeführt, welche Tragweite in der von ihm so beurteilten Infragestellung von Ex 20 liegt. Der evangelische Theologe Hans Martin Dober meint allerdings, dass sich in dieser Hermeneutik Luthers eine verengte Wahrnehmung der Schrift manifestiere, die auch im Verhältnis der lutherischen Theologie zum Gesetz und in der Zuordnung von biblischen Texten zum Schema von Gesetz und Evangelium zum Ausdruck komme. Obwohl Luther keine simplifizierende Zuordnung des Gesetzes zum Alten Testament und des Evangeliums zum Neuen Testament vertritt, so trifft doch »Rosenzweigs Einschätzung des Beitrags Luthers zum Gespräch der Menschheit im Ausgang von der Bibel einen wichtigen Aspekt […]. Wie differenziert Luthers Äußerungen zum Verhältnis von Gesetz und Evangelium auch sind, so ist doch nicht zu übersehen: der Begriff des Gesetzes trägt weitgehend negative, der des Evangeliums positive Konnotation; der Gefühlston dieser Worte trägt ein nicht zu leugnendes Gefälle.« 138

Dass Rosenzweig hier eine andere Auffassung des Gesetzes (nicht allein im Sinne von Tora) vertritt, dürfte hinreichend deutlich ge-

Zweistromland. Kleinere Schriften zu Glauben und Denken (Der Mensch und sein Werk. Gesammelte Schriften III), hrsg. v. Reinhold und Annemarie Mayer, Den Haag 1984, 749–775, hier 768; vgl. dazu die ausführlichere Analyse bei Dober, Evangelische Homiletik, 40 f. 137 Vgl. Rosenzweig, »Die Schrift und Luther«, 771. 138 Dober, Evangelische Homiletik, 43.

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worden sein. Aber auch im innerjüdischen Gespräch hat er sich bemüht, seine Auffassung des Gesetzes zu verdeutlichen.

6.5 Die Auseinandersetzung mit Martin Bubers Auffassung des Gesetzes Dieses innerjüdische Gespräch zum Verständnis des Gesetzes hat Rosenzweig über mehrere Jahre vor allem mit Martin Buber geführt. Auslöser waren Bubers Reden über das Judentum und darin besonders sein Vortrag mit dem Titel »Cherut«, 139 den Rosenzweig mit dem Aufsatz »Die Bauleute« in Form eines offenen Briefes an Buber beantwortete. 140 In diesem Vortrag, den er 1919 gehalten hatte, versuchte Buber, »der jüdischen Jugend einen Gesichtspunkt zu vermitteln, damit sie auf erneute und ernsthafte Weise Zugang zur jüdischen Überlieferung finden könne.« 141 Dieses pädagogische Anliegen wird bereits in dem Titel deutlich, »der, dem Pirkeh Avoth folgend, das Gesetz mit cherut, Freiheit, bezeichnet, statt mit charut, auf den Tafeln eingegraben.« 142 Das Hauptthema ist also die Freiheit, die von der Jugend in Ehrfurcht vor der Überlieferung und in Unbefangenheit bei der Auswahl erreicht werden sollte. »Was das praktische Gebiet – also das Gesetz betrifft – scheint der Vortrag eher ein Appell an die Freiheit zu sein, es in Anbetracht seiner negativen und lähmenden Wirkungen zu beurteilen.« 143 Buber wollte das Gesetz zwar auch vor säkularisierenden und nationalistischen Vereinnahmungen schützen, aber er wollte vor allem die jüdische Jugend zur aktiven Teilnahme an den gesellschaftlichen Vgl. Martin Buber, »Cheruth. Eine Rede über Jugend und Religion«, in: Martin Buber, Werkausgabe, Bd. 3: Frühe jüdische Schriften 1900–1922 (Reden über das Judentum), hrsg., eingeleitet und kommentiert von Barbara Schäfer, Gütersloh 2007, 119–140. 140 Vgl. Rosenzweig, »Die Bauleute«; Rosenzweig, »Die Schrift und Luther«; Rosenzweig bezieht sich in seiner Antwort allerdings nur sehr kurz auf die anderen Reden. Zum historischen Kontext und den genaueren Umständen der Entstehung des Textes vgl. Banola, »Franz Rosenzweig und Martin Buber«, 225 f.; neuerdings Meir, »Rosenzweig’s New Law«, 186 ff. 141 Banola, »Franz Rosenzweig und Martin Buber«, 226. 142 Banola, »Franz Rosenzweig und Martin Buber«, 226 f. 143 Banola, »Franz Rosenzweig und Martin Buber«, 227. 139

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Auseinandersetzungen bewegen und das führte ihn letztlich zur Anklage des Gesetzes. »Buber empfand es als negativ, daß das Gesetz Unterschlupf sein könne für die durch die Härte der Gegenwart – 1919 – Verängstigten, Verwirrten und Verzweifelten.« 144 Rosenzweig war demgegenüber der Auffassung, dass Buber damit dem jüdischen Gesetz nicht gerecht werde. Dabei es ist es wichtig, dass Rosenzweig zunächst zwischen Lehre und Gesetz 145 – und außerdem zwischen Lernstoff und Lehre – differenziert und Bubers Fortschritt gegenüber der vor allem im Reformjudentum getroffenen Unterscheidung von wesentlich/unwesentlich in Bezug auf die jüdische Überlieferung und dessen Aufstellung eines neuen Auswahlprinzips würdigt. Dieses Prinzip könne, so Rosenzweig, nicht in einem vorausgehenden Kriterium wie etwa der Unterscheidung wesentlich/unwesentlich bestehen, sondern müsse das wissende und lernende Subjekt sein, das »sich selber einsetzt, sich selber der Kette der Überlieferung als neues Glied anfügt und so, nicht mit seinem Willen, aber mit seinem Können, zum Wählenden wird.« 146 Er betont allerdings auch, dass man nicht wissen könne, was die jüdische Lehre sei, jedenfalls sei sie nichts Wissbares im Sinne eines vorhandenen Lernstoffes. Neben der Forderung nach einer Ausweitung des Lernstoffes gegenüber dem klassischen Lernen unterstreicht Rosenzweig auch den Unterschied des klassischen Lernens zur Lehre, wie er sie versteht: »Lehre beginnt erst da, wo der Stoff aufhört, Stoff zu sein, und sich in Kraft verwandelt – in Kraft, die nun selber den Stoff, und sei es um das bescheidenste Wort, vermehrt und so aus jener behaupteten Unendlichkeit des Stoffes erst eine Wahrheit macht. […] die Lehre selber ist nicht wißbar, sie ist immer nur ein Zukünftiges.« 147

Buber habe zwar die Lehre aus den Fesseln des 19. Jahrhunderts befreit, habe aber die andere Seite der Lehre, d. i. die Frage »Was sollen wir tun?« und damit die Frage des Gesetzes in eben diesen Banola, »Franz Rosenzweig und Martin Buber«, 228. Hier ist auch der Ort, darauf hinzuweisen, dass Gesetz und Tora für Rosenzweig nicht dasselbe meinen. Die Tora als heilige Gesetzeslehre umfasse beides (vgl. Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, 337). 146 Rosenzweig, »Die Bauleute«, 701. 147 Rosenzweig, »Die Bauleute«, 702. 144 145

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Fesseln stecken lassen. Und mit kaum zu überbietender Emphase schreibt Rosenzweig die bewegenden Sätze: »Denn was Sie hier als legitime Vertretung des Gesetzes anerkennen […] ist denn das das jüdische Gesetz, das Gesetz der Jahrtausende, das gelernte und gelebte, zerdachte und umsungene, all- und todestägliche, kleinliche und erhabene, nüchterne und sagenschwere, hauskerzen- und scheiterhaufenflammenumstrahlte Gesetz? Pflanzung die Akiba umzäunte und Acher einriß, Wiege der Spinoza entsprang, Leiter drauf der Baalschem aufstieg, das Gesetz, immer übersteigert, nie erreicht – und doch stets fähig, zu jüdischem Leben zu werden und zu jüdischen Gesichtern? Ist, wovon Sie sprechen – und sage ichs gleich: wahr sprechen –, nicht vielmehr nur das Gesetz der westlichen Orthodoxie des 19. Jahrhunderts?« 148

Im Unterschied zu Buber und dem von ihm kritisierten orthodoxen Gesetzesverständnis, aber auch in Abgrenzung zum Liberalismus wollte Rosenzweig »die Wiedergewinnung des positiven Wertes all dessen fördern, was die Überlieferung Israels unter dem Begriff Gesetz mitgeteilt hatte.« 149 Darunter fasst er z. B. auch das Gesetz, wie es in der jüdischen Mystik, deren schöpfungstheologische und soteriologische Interpretation Rosenzweig besonders würdigt, verstanden wurde. 150 Der Orthodoxie z. B. eines Samson Raphael Hirsch wirft Rosenzweig vor, das Gesetz missverständlich ausgelegt zu haben, »da sie, während sie eine Gesetzesauffassung ausgearbeitet hatte, welche Rosenzweig, »Die Bauleute«, 702 f.; während Rabbi Akiba und der Baalschem als bekannt vorausgesetzt sein dürfen, ist der Name Acher (Elischaben-Abuja) weniger vertraut und seine Erwähnung hier deshalb besonders aufschlussreich, weil er Lehrer Rabbi Meirs und ursprünglich ein bedeutender Lehrer des rabbinischen Judentums war, dann aber vom Glauben abfiel und als der jüdische Apostat schlechthin in die Geschichte einging; vgl. dazu Peter Schäfer/Johann Maier, Kleines Lexikon des Judentums, Stuttgart 1981, 88 f. 149 Banola, »Franz Rosenzweig und Martin Buber«, 231. 150 Vgl. Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, 454–457; dies gilt es auch gegenüber einer so verdienstvollen und kenntnisreichen Auseinandersetzung mit dem Denken Rosenzweigs wie der von Schmied-Kowarziks hervorzuheben, in der auch ein philosophisch relevantes Verständnis des Gesetzes thematisiert wird (vgl. Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Franz Rosenzweig im Gespräch mit Ehrenberg, Cohen und Buber (Rosenzweigiana 1), Freiburg i. Br./München 2006, 173). 148

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ethische Unentbehrlichkeit zusicherte, dies Gesetz zugleich auch von der lebhaften Erfahrung des Alltags getrennt habe.« 151 Darüber hinaus kritisiert Rosenzweig diese Auffassung als pseudojuristisch und als pseudohistorisch. Pseudojuristisch ist diese Auffassung deshalb, weil sie meint, dass das Gesetz nur gehalten werden muss, weil es am Sinai gegeben wurde. Demgegenüber betont Rosenzweig, dass den Lebenden der Rechtsgrund des Gesetzes nur einer unter anderen ist, denn die Tora sei nach jüdischem Glauben schon vor der Welt geschaffen. Pseudohistorisch ist diese Auffassung, weil sie meint, dass die biblisch-symbolische Rede von den Sechshunderttausend, die am Sinai die Stimme Gottes gehört hätten, als Tatsache zu verstehen ist. Dem Liberalismus z. B. eines Abraham Geiger wirft Rosenzweig darüber hinaus in scharfer Polemik vor, pseudologisch und pseudoethisch zu argumentieren. Pseudologisch sei diese Auffassung, denn man könne die Frage nach der Einheit Gottes nicht mit einem schlichten Ja oder Nein beantworten; pseudoethisch sei das Setzen auf die Moral der Nächstenliebe. Denn, so argumentiert Rosenzweig, »ein Wunder ist keine Geschichte, ein Volk keine Rechtstatsache, Blutzeugentum kein Rechenexempel und Liebe nicht sozial. Sondern Gesetz und Lehre – zum einen wie zum anderen führt uns der Weg nur, wenn wir wissen, daß wir noch an seinem Anfang stehen und jeden Schritt selber zu tun haben.« 152

Und Rosenzweig fragt sich: »Welches ist aber hier, beim Gesetz der Weg?« 153 Um diese Frage zu beantworten, bemüht sich Rosenzweig, die Parallelität – trotz aller Unterschiedenheit – zwischen der Frage des Gesetzes und der Frage der Lehre darzustellen. Beide sind ja auch zwei verschiedene Arten, das hebräische Wort ‫ תורה‬wiederzugeben. Der Weg der Lehre führt durch alles Wissbare hindurch. Nur dieser »Umweg durch das wißbare Judentum hindurch gibt uns die Gewißheit, daß nur der endliche Sprung aus dem, was mir wißbar, in das, was mir um jeden Preis zu wissen notwendig ist, der Sprung 151 152 153

Banola, »Franz Rosenzweig und Martin Buber«, 232. Rosenzweig, »Die Bauleute«, 704. Rosenzweig, »Die Bauleute«, 704.

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in die Lehre, zu jüdischer Lehre führt.« 154 Alles, was für das Wissbare und die Lehre gilt, gilt nun auch für das Tun und das Gesetz, so Rosenzweig, d. h. der Weg des Gesetzes führt durch alles Tubare hindurch und ist damit erheblich weiter gefasst als der »Pflichtenkreis der Orthodoxie. Denn es gibt hier, wie es in der Lehre nicht mehr den starren Unterschied des Wesentlichen und Unwesentlichen, den der Liberalismus aufzustellen gesucht hatte, geben darf, nicht mehr den Unterschied von Verboten und Erlaubt, wie ihn […] die westeuropäische Orthodoxie des 19. Jahrhunderts ausgebaut hat.« 155

Diese Unterscheidung, die einen jüdischen Bezirk innerhalb des Lebens, in dem die Ge- und Verbote regierten, abteilte von einem nicht-jüdischen Außen, in dem gesetzlich gesprochen alles, was innerhalb verboten war, erlaubt war, lehnt Rosenzweig ab. Er räumt zwar ein, dass es eine solche Unterscheidung im Judentum immer gegeben habe, dass aber erst die Neuzeit durch ihre permanente Infragestellung diese Antwort konstitutiv gemacht habe. Doch in Zukunft dürfe es eine solche Unterscheidung, die zu einer gespaltenen Existenz führe, nicht mehr geben: »So wenig wie in der Lehre von vornherein Unwesentliches, so wenig darf es für sie im Gesetz von vornherein ›Erlaubtes‹ geben.« 156 Nicht Dichotomie, sondern »Verwandlung einer abgesonderten und dem Verbot unterstellten Welt in eine allumfassende Sphäre, in der eine fröhliche und positive Ethik des göttlichen Gebots herrscht, könne das Wunder eines neuen und lebendigen Verhältnisses zum Gesetz ermöglichen« 157. So muss das Gesetz – wie schon in der Interpretation des Sterns der Erlösung ausgeführt wurde – immer wieder versuchen, Gebot zu werden: »Es muß gleich der Lehre, erst da anzufangen sich bewußt zu werden, wo sein Inhalt aufhört, Inhalt zu sein, und sich in Kraft, unsre Kraft verwandelt. In Kraft, die nun selber den Stoff wieder mehrt – um sich selber. Denn mag einer ›alles‹ Tubare tun wollen, so wird er mit diesem gewollten Tun das Gesetz mitnichten erfüllen, es nicht so erfüllen, daß

154 155 156 157

Rosenzweig, »Die Bauleute«, 704. Rosenzweig, »Die Bauleute«, 705. Rosenzweig, »Die Bauleute«, 705. Banola, »Franz Rosenzweig und Martin Buber«, 234.

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es ihm zum Gebot wird; zum Gebot, das er erfüllen muß, weil er es nicht unerfüllt lassen kann.« 158

Das Gesetz muss, anders gesagt, seine Heutigkeit wiederbekommen. Es muss eben das sein, was an dem Gesetz vermisst wurde, »daß das alte nicht auch zugleich ein neues war.« 159 Gegen die Bestreitung der Heutigkeit argumentiert Rosenzweig, dass der Mose des Deuteronomium zu dem Teil des Volkes, das nicht am Sinai zugegen war, gesagt habe, dass Gott nicht mit ihren Vätern, sondern mit ihrer Generation, d. h. für Rosenzweig mit uns allen, den Lebenden, den Bund geschlossen habe. Das heißt, jeder einzelne Jude, auch der heute Lebende, hat für ihn die schöpferische Freiheit gegenüber dem Gesetz und ermöglicht so dessen Heutigkeit. »Darum dürfen wir erwarten«, so Rosenzweig am Ende seines Aufsatzes, »uns irgendwie und irgendwann in jedem Wort und in jeder Tat unserer Väter wiederzufinden, und hoffen, daß unser Wort und unsre Tat für die Enkel nicht ungesprochen und nicht ungetan sein wird. Denn wir sind, die Schrift schreibt es, ›Kinder‹ und sind, die Überlieferung liest es, ›Bauleute‹.« 160

7. Fazit Rosenzweig hatte in einem Brief aus dem Jahr 1924 an Issac Breuer eingeräumt, dass das Gesetz bei der Darstellung im Stern der Erlösung zu kurz gekommen war und dies sachlich und persönlich begründet. 161 Der sachliche Grund lag für ihn in der soziologischen Methode, d. h. in der parallelen Darstellung von Judentum und Christentum aus einer Außenperspektive. Dabei war es ihm auch nicht erlaubt, von der Innenperspektive auszugehen, im Falle des Christentums das Dogma, im Falle des Judentums das Gesetz, Perspektiven, »die man nur versteht, wenn man Jude oder Christ

Rosenzweig, »Die Bauleute«, 705. Rosenzweig, »Die Bauleute«, 708. 160 Rosenzweig »Die Bauleute«, 712; Rosenzweig spielt auf die Möglichkeit an, die Konsonantenabfolge im hebräischen Wort ‫ בנים‬als bonim (Bauleute) und als banim (Kinder) zu lesen. 161 Rosenzweig, Briefe und Tagebücher, 951. 158 159

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ist.« 162 Deshalb habe er als Jude, so fährt Rosenzweig in diesem Brief fort, das christliche Dogma im Stern nicht darstellen können; das jüdische Gesetz habe er aber auch nicht ausführlicher darstellen dürfen – obwohl er es schon damals etwas mehr hätte tun können, als er es tat –, da er sich sonst einen Vorteil im Vergleich zum Christentum verschafft hätte. Der persönliche Grund war darüber hinaus, dass Rosenzweig nach der Fertigstellung des Sterns der Erlösung annahm, »daß nun Jahrzehnte des Lernens und Lebens, Lehrens und Lernens beginnen würden und daß vielleicht am Ende dann, wenn ich ganz alt geworden wäre, nochmal ein Buch gekommen wäre, und das wäre dann ein Buch über das Gesetz geworden.« 163 Obwohl er ein solches Buch aufgrund seines (zu) frühen Todes nicht mehr realisieren konnte, wird, wenn man sich die biographische und intellektuelle Entwicklung Rosenzweigs in seinen kleineren Schriften und Briefen seit dem Stern der Erlösung vergegenwärtigt, deutlich, dass er seine Gedanken über das Gesetz weiterentwickelt hat und diese nicht nur für die Philosophie sondern vor allem auch religionstheoretisch und theologisch in mehrerlei Hinsicht bedeutsam sind. Dies kann zum Schluss nur angedeutet werden. So bleiben Rosenzweigs Überlegungen zu Gesetz und Gebot nicht folgenlos für die Theologie, wenn er ausführt, dass das göttliche Getansein der Liebe dem Gebot, seinen Nächsten zu lieben, vorangeht: »Gott muß sich erst zum Menschen gekehrt haben, ehe der Mensch sich zu Gottes Willen bekehren kann.« 164 Die von diesem Satz ausgehende befreiende Botschaft kann auch kritisch gegen eine Theologie gewendet werden, gerade wenn sie Gesetz bzw. Gebot im Sinne einer Gesetzlichkeit versteht. In Ansätzen konnte auch gezeigt werden, wie auch die Sichtweise von Gebet und Gottesdienst sich im Horizont dieses Neuen Denkens verändert. 165 Damit sind auch Fragen des Rituals und der Liturgie berührt, die in der Theologie mit Blick auf Rosenzweig auch schon reflektiert wur162 163 164 165

Rosenzweig, Briefe und Tagebücher, 951. Rosenzweig, Briefe und Tagebücher, 951. Rosenzweig, Stern der Erlösung, 239 f. Vgl. dazu Dober, »Die Verwindung der Metaphysik im Gebet«.

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den. 166 Es wäre allerdings genauer zu klären, wie Rosenzweig das Verhältnis von Gesetz und Ritual, das in seiner Formulierung »Gebärdensprache der Liebe zu Gott« heißt, bestimmt 167 und welche Bedeutung diese für eine theologische Ritualtheorie hätte. Eine weitere Herausforderung stellt sich von Rosenzweigs Gesetzeshermeneutik für die Religionstheorie. Rosenzweigs Feststellung, dass er im Stern der Erlösung nicht von Religion gesprochen habe und mit diesem Buch keine Religionsphilosophie geliefert habe, könnte auch gewisse religionszentrierte Ansätze in der neueren Theologie, wie das Konzept der gelebten Religion, relativieren. 168 Zwar könnten Judentum und Christentum auch zu Religionen werden, aber sie fänden in sich selbst auch die Antriebe, »sich von dieser Religionshaftigkeit zu befreien und aus der Spezialität und ihren Ummauerungen wieder in das offene Feld der Wirklichkeit zurück(zu)finden.« 169 Diese Äußerung sowie sein Diktum, Gott habe eben nicht die Religion, sondern die Welt geschaffen, sollten dabei aber nicht nur religionskritisch, sondern vor allem schöpfungstheologisch als große Öffnung auf die Gesamtheit der Wirklichkeit hin gesehen werden. Sodann ist es die praktische und theoretische Arbeit an der Bibelübersetzung und seine daraus und in der Auseinandersetzung Vgl. Hans M. Dober, Die Zeit ins Gebet nehmen. Medien und Symbole im Gottesdienst als Ritual, Göttingen 2009, 59 ff. (mit Blick auf das Kirchenjahr) und 93 ff. (mit Blick auf Liturgie als Ritual). 167 Vgl. Ignaz Maybaum, »Das Gesetz – Franz Rosenzweigs Ringen mit der jüdischen Tradition«, in: Emuna 5, H. 2, 82–89, hier 86; Maybaum behauptet zu Unrecht, dass Rosenzweig den Unterschied zwischen Gesetz und Ritual ignoriere und rückt ihn gar in die Nähe des Fundamentalismus; differenzierter ist hier Paul Mendes-Flohr, Divided Passions, 283–310 (Kap. 11: Rosenzweig and Kant: Two Views of Ritual and Religion) und 341–369 (Kap. 13: Law and Sacrament: Ritual Observance in Twentieth-Century Jewish Thought). 168 Vgl. zu dieser jüdischen Skepsis gegen Religionsphilosophie den Beitrag von Werner Stegmaier, »Tora zur Orientierung. Jüdische Skepsis gegen Religionsphilosophie«, in: Jahrbuch für Religionsphilosophie 5 (2006), 23–43. 169 Franz Rosenzweig, »Das neue Denken. Einige nachträgliche Bemerkungen zum ›Stern der Erlösung‹«, in: Franz Rosenzweig, Zweistromland. Kleinere Schriften zu Glauben und Denken (Der Mensch und sein Werk. Gesammelte Schriften III), hrsg. v. Reinhold und Annemarie Mayer, Den Haag 1984, 139–161, hier 154. 166

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mit Luther entwickelte Bibelhermeneutik, die für eine Offenheit gegenüber dem gesamten biblischen Text plädiert. Dies hat Konsequenzen für Bibelpastoral und Homiletik oder – wie der evangelische praktische Theologe und Rosenzweig-Forscher Hans Martin Dober es formuliert: »Es spricht homiletisch alles dafür, eben diese Offenheit auch für die Predigtarbeit zu gewinnen und zu bewahren. Sie ist immer dann herausgefordert, wenn über alttestamentliche Texte zu predigen ist.« 170 Und dabei betrifft die angemessene, das jüdische Selbstverständnis nicht verzerrende Rede von Gesetz und Evangelium nicht nur die evangelische Theologie, sondern ist auch bedeutsam für katholische Bibelpastoral und Homiletik. Nicht zuletzt ist sein Schritt in die Auseinandersetzung um praktische Lebensfragen und die Übernahme von Verantwortung für das jüdische Leben in Deutschland zu nennen sowie die Bedeutung gerade dieser Auseinandersetzungen für einen substanziellen jüdisch-christlichen Dialog. Ich möchte es bei diesen Andeutungen für Theologie und Religionstheorie bewenden lassen, nicht ohne noch einmal hervorzuheben, dass sowohl die Philosophie als auch andere wissenschaftliche Disziplinen, die – wie in der Einleitung dargelegt – sich zunehmend der Frage einer Gesetzeshermeneutik zuwenden, nicht umhin können, sich den fundamentalen Herausforderungen von Rosenzweigs Denken zu stellen.

170

Dober, Evangelische Homiletik, 41.

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Das Göttliche als »Sinn des Sinns«. Rationale Rede von Gott nach Volker Gerhardt und Wolfram Hogrebe 1

»Sinn« as sense and meaning is a key concept in traditional hermeneutical philosophy and has gained a growing attention in recent German philosophy of religion. Volker Gerhardt and Wolfram Hogrebe have not been known for their apologetic interests but their philosophical work can help to make sense of the religious interpretation of the condition humaine and Being-in-the-world. How and why are humans (despite all alienation and estrangement) also involved into the world and connected to it in a way that enables us to understand at all? Why are there experiences and cultural expressions which can become significant to us? Why do we in some cases sense and intuit a deep connection with the world, other people or ourselves that seem reasonable and meaningful to us? And finally: Why does the religious expression »God« not refer to an entity but to a »condition« or »circumstance« that allows all meaningful understanding but cannot be grasped in itself?

1. Volker Gerhardt und das Göttliche als »Sinn des Sinns« In einem vielbeachteten Entwurf hat der Berliner Philosoph Volker Gerhardt vorgeschlagen, das Göttliche als »Sinn des Sinns« zu konzipieren. 2 Seiner These nach sind Religionen (gerade auch die moDieser Aufsatz wurde im Rahmen des Loewe-Projektes »Religiöse Positionierung« der Goethe-Universität Frankfurt unter der Leitung von Prof. Dr. Christian Wiese im Teilprojekt »Religiöse Positionierung und Rationalität« unter der Leitung von Prof. Dr. Heiko Schulz erarbeitet. 2 Vgl. Volker Gerhardt, Der Sinn des Sinns. Versuch über das Göttliche, München 2015; Volker Gerhardt, »Das Göttliche als Sinn des Sinns. Über die wechselseitige Angewiesenheit von Glauben und Wissen«, in: Michael Kühnlein (Hrsg.), Gott und Sinn. Im interdisziplinären Gespräch mit Volker Gerhardt, Baden-Baden 2016, 13–28. 1

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notheistischen Religionen) diejenigen Phänomene der Kulturgeschichte, in denen die Frage symbolisch bearbeitet wird, was dem Sinn seinen Sinn verleiht. Wie ist das zu verstehen? Zunächst ist Sinn das umfassende Medium, auf das sich Wissen und Wahrheit gründen und das individuelles wie gesellschaftliches Handeln ermöglicht. Dass ihn seine Omnipräsenz zugegebenermaßen zum »Allerweltsbegriff« 3 werden lässt, mag seine philosophische Diskussion erschweren und macht sorgfältige Begriffsklärungen jeweils unumgänglich. Die Omnipräsenz kann aber auch als Hinweis auf die präzise Universalität des Sinns aufgefasst werden, wenn es gelingt, sie als Folge seiner unhintergehbaren anthropologischen, letztlich transzendentalen Funktion zu plausibilisieren. Vagheit des operativen Begriffs und Bestimmungsbedürftigkeit (aber auch Bestimmbarkeit) seiner Instanziierungen sind dann in der Natur der Sache begründet, ja Zeichen einer sachgemäßen Konsequenz. Denn empirisch gesehen gibt es Sinn nur in generischen, kulturell vermittelten Sinngestalten (z. B. symbolischen Formen) und diese sind positiv jeweils in bestimmten Bedeutungen, also als Einzelsinn gegeben. Die Sinnhaftigkeit (des Sinns überhaupt) zeigt sich dagegen als gemeinsame Matrix und transzendentale Möglichkeitsbedingung, die die unterschiedlichen Sinnformen und Sinnverwirklichungen aber nicht vereinheitlicht, sondern in ihrer Differenz ermöglicht. Positiv gegeben und auf diese Weise thematisierbar ist die Sinnhaftigkeit des Sinns selbst daher nicht; dies sind allein die jeweiligen Einzelbedeutungen und Sachgehalte. Auch wenn der Sinn als transzendentaler Sinngrund in diesen konkreten Sinngestalten mitlaufen mag, stellt das Reden über ihn offensichtlich eine reflexive Setzung dar. Die verschiedenen Dimensionen des Sinnbegriffs werden von Gerhardt begrifflich unterschieden, beispielhaft illustriert und auch seine »Tiefendimensionen« werden aufgezeigt: »Es sind physiologische, soziale, affektive, logisch-semantische und intellektuelle Momente, die es ermöglichen, im Sinn das Bindungs- und Bildungsmittel zu erkennen, das den Menschen auf seine Weise mit

Gerhardt, »Das Göttliche als Sinn des Sinns«, 22; zur »semantische[n] Vielfalt des Sinnbegriffs« auch Gerhardt, Der Sinn des Sinns, 114 ff.

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allem verknüpft, was für ihn Bedeutung haben kann« 4. Sinn ist demnach ein relationaler Begriff des Zusammenhangs und des Verbundenseins mit Wirklichkeit. Gerhardt skizziert unter Berufung auf etymologische und begriffsgeschichtliche Untersuchungen 5 fünf verschiedene Stufen des Sinns. Zunächst einmal ist der physiologische Sinn 6 der Sinneswahrnehmung zu nennen, zweitens der soziale Sinn, der für die Möglichkeit gemeinschaftlichen Handelns vorausgesetzt werden muss. Der individuell erlebte Sinn bezeichnet drittens die Art und Weise, wie Sinn für uns gegeben ist, und ermöglicht mit der Erschließung eines subjektiven Innenlebens auch die Möglichkeit eines objektiven Außen. Die vierte Stufe des logisch-rationalen Sinns des Verstandes (nicht der Vernunft) stellt die unabhängige Bestimmtheit des formalen semantischen Sinnes gegenüber der jeweils nur flüchtigen, aktualen und partikularen Wirklichkeit des physiologischen, erlebten oder sozialen Sinns fest. 7 Erst die fünfte Stufe, der intelligible Sinn, bezeichnet den umfassenden Sinnbegriff einer auch reflexiven Vernunft: »Während der logisch-rationale Sinn der vierten Stufe auf den Kontext bloßer Sachverhalte beschränkt werden kann, bezieht der intelligible Sinn der fünften Stufe uns selbst in das rational Begriffene ein. Darin

Gerhardt, Der Sinn des Sinns, 28, mit Verweis auf Kap. III des Buches. Vgl. Christian Thies, Der Sinn der Sinnfrage. Metaphysische Reflexionen auf kantianischer Grundlage, Freiburg i. Br./München 2008. 6 Zum Folgenden vgl. Gerhardt, Der Sinn des Sinns, 117–119 (zum physiologischen Sinn), 119–121 (zum sozialen Sinn), 121–125 (zum subjektiv erlebten Sinn), 126–129 (zum logisch-semantischen Sinn) und 129–134 (zum intelligibel-vernünftigen Sinn). 7 Es scheint eine Errungenschaft der sogenannten Achsenzeit zu sein, infolge einer »Achsendrehung« und »Wendung zur Idee« (Simmel) die Sedimentierung der Sinnformen und damit eine gewisse Unabhängigkeit von Bedeutung und Geltung, der »Form« von der Dynamik des »Lebens« (etwa von jeweiligen expressiven Funktionen) erkannt und behauptet zu haben (vgl. Werner Jung, Georg Simmel zur Einführung, Hamburg 1990, 129– 162 (»Das Leben der Form« und »Die Form des Lebens«); Matthias Jung, Der bewusste Ausdruck. Anthropologie der Artikulation, Berlin 2009, 437– 452; zur Diskussion um die Rolle der Achsenzeit für die (Religions-)Soziologie vgl. Robert N. Bellah/Hans Joas (Hrsg.), The Axial Age and its Consequences, Cambridge/London 2012). 4 5

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liegt immer auch ein Moment der Intuition. Welt- und Selbstverständnis vollziehen sich hier in einem Akt.« 8

Die Unterscheidung der vierten von der fünften Stufe kann zunächst einmal als Unterscheidung des rationalen Denkens des Verstandes von einem reflexiven, wenn nicht spekulativen Vernunftbegriff verstanden werden. Denn wie man aus der Kritik der »verständigen« (Hegel) Reflexion, aber auch aus der Kritik von Søren Kierkegaard, hermeneutisch-phänomenologischen Kritiken und schließlich anhand der Aporien von Reflexionstheorien des Selbstbewusstseins (Dieter Henrich) lernen kann, kommt es schnell zu Positivierungen und Verdinglichungen, die durch eben jene intentionale Thematisierung eine Differenz des Verstandesdenkens einnehmen, die »sich« bzw. das Selbst genau deshalb verfehlen muss, ja sich prinzipiell gar nicht selbst einholen und so das Ganze in den Blick nehmen kann. Doch so einleuchtend Hegels Kritik an Kants Reflexion des Verstandesdenkens ist und auch der Gedanke einleuchtet, dass der Spekulationsbegriff des Vernunftdenkens eben diese Differenz vermeiden oder, genauer gesagt, überwinden muss, stellt sich erstens die Frage, ob dies dem individuellen endlichen Menschen möglich ist, und zweitens, ob er »sich« damit tatsächlich erfasst oder ob er, so die Kritik, vom existentiellen, historischen Individuum und seinem immer schon praktizierten lebensweltlichen Selbstbezug nicht vielmehr gerade abstrahiert. Entscheidend ist in Gerhardts Fall, dass mit dem Begriff der Intuition ein Gegensatz zum diskursiven Denken aufgemacht und so die Differenz überwunden wird und das anvisierte Ganze in den Blick kommt. Denn während das zeitlich prozessierende diskursive Denken »sich« bzw. seine Ganzheit niemals einholen kann und stattdessen die Grenzen seiner endlichen Erkenntnis immer weiter verschiebt, erfolgt das intuitive Verstehen instantan und kann deswegen auf Totalitäten ausgreifen. Bildliche Sprache in Symbolen, Metaphern und Narrationen, aber auch verschiedene Formen der Ästhetik verbinden diese Vorteile mit ihrer Fähigkeit, den Bezugsmodus, d. h. die Gegebenheits- wie Bewältigungsweise von Welt, wie sie sich

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Gerhardt, Der Sinn des Sinns, 130.

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im qualitativen Erleben des Gefühls äußert, expressiv authentisch zu artikulieren. Gerhardts Betonung des Gefühls 9 bezieht sich insbesondere auf die Grenzen der epistemologischen Begründung von Sinn: »Die tragische Verfassung des menschlichen Lebens liegt darin, auf das Wissen angewiesen zu sein, ohne sich darauf verlassen zu können.« 10 Das Problem reflexiver Letztbegründungen ist nicht einfach nur ein philosophisches, sondern bricht aufgrund der Ubiquität der Sinnfragen in den unterschiedlichsten existentiellen, sozialen, biographischen und anthropologischen Dimensionen des Lebens auf. Außerdem spielt in Fragen der Lebensführung, der Beziehungsgestaltung, der moralischen Orientierung, aber auch in der Überkomplexität und Unterbestimmtheit konkreter Situationen, Phänomene und Entscheidungen (wie etwa dem zwischenmenschlichen Taktgefühl, der Berufsfindung, Partnerwahl und Erziehung) Wissen eine zwar wichtige, aber keine ausschließliche oder hinreichende Rolle. Immer aber geht es darum, die spezifischen Anforderungen und Erwartungen mit den eigenen Möglichkeiten, Ängsten und Wünschen und gesellschaftlichen Kontexten zu vermitteln, um ein Leben trotz Ungewissheit und Unsicherheit tatsächlich führen zu können. Wissen und Gefühl bilden daher keinen (tragischen) Widerspruch, sondern sind aufeinander verwiesen und angewiesen, wenn sinnvolles Leben möglich sein soll: »Alles, was immer gespürt und empfunden, gefühlt oder gemeint, was sicher gewusst, mit kaltem Verstand oder hoffnungsvollen Erwartungen erschlossen wird, kommt in einem Sinn zum Ausdruck, der für den Menschen in seiner Welt Bedeutung hat.« 11 Daher verweist das Gefühl auf einen holistischen und pragmatischen Zusammenhang, in dem Rückkoppelungen und Resonanzmöglichkeiten angelegt sind, weil Gefühle sich zwar intentional auf etwas beziehen können, aber selbst dann neben der transitiven intentio recta immer auch eine intransitive intentio obliqua des sich selbst fühlenden Fürsichseins implizieren. Neben dem biologischen Leben in seinen physiologischen und evolutionären Bedingungen Vgl. Gerhardt, Der Sinn des Sinns, 57 ff. Gerhardt, »Das Göttliche als Sinn des Sinns«, 21. 11 Gerhardt, »Das Göttliche als Sinn des Sinns«, 22. 9

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Das Göttliche als »Sinn des Sinns«

ist daher auch die intransitive Perspektive des »sich erlebenden Lebens« 12 eine Bedingung des Sinns, sodass der Mensch schließlich kraft der Unterscheidung von Selbst- und Weltbezug auch nach Sinn »im Ganzen seines Daseins« 13 fragen kann; er kann sich wundern, dass überhaupt Sinn vorliegt. So wenig extensionale Totalitäten wie Natur, Kultur, Geschichte oder Welt tatsächlich gegeben oder intensional durchgängig bestimmt und in konkrete Einzelbedeutungen überführt werden können (womit sie der verstandesgemäßen, vierten Stufe angehören würden und damit aufhörten, den Denkenden mit zu erfassen), bilden sie doch zumindest zwar kontrafaktische, aber notwendige regulative Ideen. 14 Die Rede von Kontrafaktizität bezieht sich allein auf ihre positive Realisierung, Erkennbarkeit und Bestimmbarkeit als Totalitäten, nicht aber auf ihre Wirklichkeit insgesamt: Meist würde man davon ausgehen, dass es die Welt, das Ich oder das Leben tatsächlich »gibt« und der Mensch in diese Totalitäten eingebunden ist, auch wenn sie niemals als solche positiv »gegeben« sind. Ähnliches wie für solch extensionale Totalitäten gilt auch für die Gesamtheit der Bestimmtheiten und Vollzüge des Denkens: »Das Gerhardt, »Das Göttliche als Sinn des Sinns«, 23; zur konstitutiven Rolle des Subjektivität vgl. Gerhardt, Der Sinn des Sinns, 121 ff. 13 Gerhardt, »Das Göttliche als Sinn des Sinns«, 24. 14 Gerhardt möchte im Anschluss an Kant zwischen konstitutiven transzendentalen Prinzipien und regulativen transzendentalen Ideen unterscheiden, die wiederum unkritischen, transzendenten Erkenntnisansprüchen entgegengesetzt werden. Wenn aber Totalitäten (wie etwa Welt und Geschichte) nicht nur Totalitätsbegriffe, sondern extensionale Wirklichkeiten sind (auch wenn sie als solche niemals gegeben sein können) und der Mensch Teil dieser umfassenden Ganzheiten ist, bilden diese nicht nur regulative Ideen, sobald die transzendentalen Strukturen nicht mehr als invariant gegenüber den evolutionären, geschichtlichen oder kulturellen Bedingungen verstanden werden können. Damit kommt es zu einer dynamischen dialektischen Wechselwirkung, worauf im Anschluss an Hegel und Kierkegaard etwa Thomas Rentsch in seiner Kritik an Gerhardt hingewiesen hat. Wenn Gerhardt im Folgenden ausdrücklich von der »spannungsreichen Einbindung« des Menschen in diese Zusammenhänge als »ein mit eigener Dynamik ausgestatteter Teil des Ganzen« (Gerhardt, Der Sinn des Sinns, 188) spricht, ist nicht ganz klar, wie er die von ihm erstrebte strikte Unterscheidung von transzendent und transzendental aufrechterhalten kann. 12

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korporative Insgesamt von Einsichten aber ist der Geist.« 15 Realisation des Geistes basiert auf der fünften Dimension von Sinn, denn im Geist finden subjektive und objektive Sinnstrukturen zusammen; dem objektiv thematisierten Sinn steht der subjektive, ihn thematisierende Sinn nicht mehr wie ein äußerer Beobachter gegenüber. 16 Denn so gewiss etwa der Mensch (als Person) zur objektiven Wirklichkeit der Welt als Natur und Kultur gehört, ist der Weltbegriff ohne die ihm gegenüber inkommensurable Subjektivität nicht zu bilden; und doch sind Person und Subjekt in gewisser Weise identisch: »In dieser spannungsreichen Einbindung ist jeder ein mit eigener Dynamik ausgestatteter Teil des Ganzen, zu dessen Energie er auf seine Weise gehört. Auf diese Weise ist der Fühlende innerlich wie äußerlich in das Geschehen eingelassen. Folglich ist das Gefühl, selbst ganz zu diesem Ganzen zu gehören, eine naheliegende Konsequenz. Das religiöse Gefühl, so könnte man sagen, ist das Bewusstsein dieser Zugehörigkeit. Es ist, um ein großes Wort von Novalis abzuwandeln, die Gewissheit, im Universum seine Heimat, sein Zuhause gefunden zu haben.« 17

Diese Einheit kann also aktual aufleuchten, wenn der begegnende Sinn nicht nur als Produkt oder Konstrukt, sondern auch als Herkunft des verstehenden Menschen, als »seine Heimat, sein Zuhause« aufgefasst wird, der er zugehört. In Erfahrungen, die man als symbolisch bezeichnen könnte, werden Ereignisse, Zeichen oder Personen als etwas erlebt, 18 das in einem privilegierten Bezug auf Eigentlichkeit oder Ganzheit des Erlebenden steht, ob es nun als Herkunft oder Zukunft sehnend oder fürchtend projiziert wird, in jedem Fall aber die eigene Weltstellung präsent werden lässt. Daher müssen diese Präsenzen subjektiv einleuchten oder, wie Wolfram

Gerhardt, Der Sinn des Sinns, 130. Dilthey hatte diesen Sachverhalt mit dem Lebensbegriff bezeichnet, der deutlicher als Hegels Geistbegriff das anklingen lässt, was Gerhardt mit den naturalen, evolutionären und physiologischen Aspekten des Sinns anspricht. 17 Gerhardt, Der Sinn des Sinns, 188. 18 Der Begriff des Erlebens soll hier lediglich den unreduzierbaren Bezug auf die erste Person und das qualitative Bewusstsein anzeigen. 15 16

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Hogrebe so treffend wie prägnant formuliert: »Geist ist außen, bricht aber innen durch.« 19 Auf diese Weise erklärt sich die Weite und teilweise auch Vielschichtigkeit von Gerhardts Begriffen Wissen (als Totalität propositionaler Aussagen wie auch pragmatischen Umgangswissens), Sinn (als Integral intensionaler Bestimmungen, extensionaler Bestimmtheiten und subjektiver Sinnvollzüge) und Welt (als Gesamtheit bestimmter und bestimmbarer Extensionen). 20 »Der Begriff Welt schließt alles ein, was nicht nur in ihrer physischen und sozialen, sondern auch in ihrer intelligiblen Verfassung Bedeutung haben kann.« 21 So wie die Welt die objektive und extensionale Totalität aller Entitäten, Ereignisse und Gedanken (und damit auch den denkenden Menschen) umfasst, bezeichnet Wissen die Summe intensionaler kognitiver Bestimmtheiten, Vollzüge und Zustände auf Seiten des Subjekts, insbesondere in ihrer vortheoretischen Verwobenheit mit umsichtigem Handeln und emotivem Stellungnehmen. Der Sinn ist nun weder bloß das Bestimmbare noch das Bestimmende, sondern als gemeinsame Matrix auf unreduzierbare Weise zugleich das Medium, in dem einzelne Bestimmungsvollzüge möglich sind. Jeder Bestimmungsversuch des Sinnbegriffs setzt ihn voraus und nimmt ihn in Anspruch, was dazu führt, dass er (ganz im Sinne der Antinomie der Reflexionsbegriffe) sich selbst uneinholbar voraus ist, er hinter der geforderten Bestimmtheit zurückbleiben muss. Dies führt dazu, dass ein (transzendentaler) Sinngrund als »Sinn des Sinns« vorausgesetzt wird, den man daher aber auch genau deswegen in der reflexiven Thematisierung nicht einholen kann, da er im Vollzug der Thematisierung jeweils aufs

Wolfram Hogrebe, Riskante Lebensnähe. Die szenische Existenz des Menschen, Berlin 2009, 17. 20 Der Sinnbegriff erinnert in seiner allgemeinen und grundlegenden Form an den Verstehensbegriff Heideggers, der gleicherweise basal, pragmatisch und holistisch angelegt ist und als Existential des Daseins der Bedeutung bzw. Bedeutsamkeit als Lebenskategorie bei Dilthey entspricht. Doch während das Dasein das Verstehende und Fragende ist, ist Sinn bei Heidegger das »Erfragte« (Martin Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen 1993, 151): »Der Sinn ist das, worin sich die Verständlichkeit von Dasein hält« (Heidegger, Sein und Zeit, 151). 21 Gerhardt, Der Sinn des Sinns, § 9. 19

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Neue beansprucht wird. Als Ermöglichungsgrund der Sinngestalten hat der »Sinn des Sinns« dann jedenfalls nicht auf gleiche Weise einen Sinn wie die bestimmten Sinngestalten: »Bereits in dieser Annäherung ist klar, dass man sich hier auf etwas zubewegt, für das es keinen gegenständlichen Sinngehalt geben kann – außer eben den, dass etwas unüberbietbar Bedeutungsvolles gegenwärtig wird, das als universelle Sinnbedingung für sich selbst mit keiner partikularen Bedeutung verbunden werden kann.« 22

Ist der Sinngrund uns zu nah, um ihn zu bemerken, kann und muss gefragt werden, wie und wo er sich zeigt; dies zu untersuchen wäre Aufgabe einer Phänomenologie des Sinngrund-Erlebens bzw. einer Hermeneutik der entsprechenden kulturellen Ausdruckszeichen. Sie zeugen davon, wie man sich selbst gegenüber diesem unvordenklichen wie unverzichtbaren Sinngrund, von dem sich unser Verstehen speist, verhalten kann und tatsächlich verhält. An dieser Stelle bringt Gerhardt dann den Begriff des Göttlichen ins Spiel, denn der Grund ist das »ihn [d. h. den Menschen] im Ganzen des Daseins tragende Göttliche« 23. So stellt der Sinn des Sinns als Grund die tragende, »das einzelne Leben erfüllende Kraft« 24 dar, in einer gleichermaßen objektiven wie subjektiven Wirksamkeit: 25 »Und zur Kennzeichnung dieses allgemein gefassten, den Lebensvollzug im Ganzen fundierenden Sinns bietet sich, so meine ich, bis heute kein besserer Begriff an als der des Göttlichen. Und wo es einem Menschen gelingt, sich zu diesem Göttlichen in ein ihn persönlich berührendes Verhältnis zu setzen, hat er einen guten Grund, das Göttliche als Gott anzusprechen.« 26

Gemeint ist also eindeutig kein objektiver Gesamtsinn des Ganzen (etwa der Weltgeschichte), dem alle Einzelsinne als Teile zuzuordnen wären. Gemeint ist vielmehr die Tatsache, dass die Genese von Sinn im Wechselverhältnis von Selbst und Welt für das ergründende Denken nicht völlig aufgeklärt werden kann, aber gleichwohl in 22 23 24 25 26

Gerhard, »Das Göttliche als Sinn des Sinns«, 25. Gerhardt, »Das Göttliche als Sinn des Sinns«, 24. Gerhardt, »Das Göttliche als Sinn des Sinns«, 25. Vgl. Gerhard, Der Sinn des Sinns, 209–229. Gerhardt, Der Sinn des Sinns, 24.

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Anspruch genommen werden muss, was sich an Formulierungen des apriorischen Perfekts des »Immer-schon-Verstehens« und der Faktizität von Sinn zeigt. Der Grund mag den subjektiven Sinnvollzügen zugrunde liegen, sich also an diesen zeigen, ist selbst aber nichts Subjektives, aber auch kein Konstrukt, keine Entität. Vielmehr ermöglicht er Konstruktivität und Sinnvollzüge. Schon deswegen ist für eine Deutung dieses »Sinn des Sinns« nur im eingeschränkten Sinne zu argumentieren, denn jede Argumentation wie auch schon jede explizite Thematisierung des sinnspendenden Grundes müsste ihn gleichzeitig thematisieren und vollziehend in Anspruch nehmen, ihn also auch in gewissem Sinne verfehlen; man denke nur an die analoge Problematik im Fall von Heideggers Einschärfung der ontologischen Differenz. Es handelt sich beim Sinngrund demnach um die umgreifende Sinnermöglichung, die sowohl den subjektiven Sinn des Erlebens als auch die intersubjektiven und objektiven Sinnstrukturen von Gesellschaft, Kultur und Welt umspannt. Gemeint ist weder die Summe einzelner Sinngestalten oder Sinngehalte noch ein in irgendeinem Sinne abschließender Gesamtsinn, der als Ganzheit den jeweiligen Einzelsinngestalten (als seinen Teilen) erst ihren Sinn verleiht. Diesem Modell nach wäre ein jeder übergeordneter Sinn nur deswegen sinnvoll, weil er den Sinn seiner Elemente (als seiner Teile) ausmacht, sodass eine solche Sinnpyramide in einem obersten objektiven und transzendenten Sinn gipfelte. 27 Um im Gegensatz dazu die transzendentale Funktion der Sinnkonstitution hervorzuheben, spricht Gerhardt (trotz bestimmter Vorbehalte 28)

Doch könnte man auch hier fragen, ob dieser transzendente Gesamtsinn wirklich konsequent gedacht und einem transzendentalen Grund des Sinns gegenüber profiliert werden kann. Denn auch der höchste Sinn ist selbst nicht im gleichen Sinne sinnvoll wie die untergeordneten endlichen Sinngestalten, da er seinen Sinn jedenfalls nicht von einem nochmals übergeordneten Ganzen empfangen kann. Er müsste seinen Sinn in sich selbst haben; die Rechtfertigung dieses Sinns bzw. dieser Rationalität im weiteren Sinne kann nicht selbst wiederum rational sein. 28 Zu Gerhardts Kritik am Begriff des Grundes vgl. Volker Gerhardt, »Vom Grund zum Sinn. Ein philosophischer Zugang zum Göttlichen«, in: Michael Kühnlein (Hrsg.), Gott und Sinn. Im interdisziplinären Gespräch mit Volker Gerhardt, Baden-Baden 2016, 201–238, hier 224 f. 27

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daher vom »Grund« als Sinn des Sinns. 29 Mit diesem Begriff wird darauf abgehoben, dass der Sinngrund eine einheitliche Ermöglichungsdimension sämtlicher Sinngestalten bezeichnet, die immer dann in den Blick kommen muss, wenn Sinn nicht mehr intern als selbstverständlich in Anspruch genommen und praktiziert wird, sondern die erstaunliche Faktizität des Sinns reflexiv thematisiert wird, der Sachverhalt also, dass sich überhaupt Sinn erschließt. Gänzlich aus ihm herauszutreten und ihn rein objektiv zu thematisieren oder gar zu beweisen, ist nicht nur faktisch, sondern prinzipiell unmöglich, da der thematisierte Sinngrund dann nicht mehr der aktual präsente und im Vollzug beanspruchte sein könnte. Hier zeigt sich, dass die subjektiven Dimensionen sachlich angemessen, ja notwendig sind, sei es der konstruktiv-spontane Vollzug oder das Element des Gefühls, dem ein antidualistisches, monistisches Moment von Erstheit und Unmittelbarkeit niemals völlig fehlt. Der Sinngrund fungiert daher insofern als Einheitsgrund, als er Zusammenhänge ermöglicht. Nur so kann dann umfassendes Ganzes gedacht werden, in dem sich subjektiver und objektiver Sinn berühren. Seine Bezeichnung als göttlicher Grund ist dagegen offensichtlich eine kontingente, kulturgeschichtlich zwar häufig vorgenommene, aber allenfalls mehr oder weniger plausible Ausdeutung. Auf die Rückfrage, wann es sich um eine religiöse Deutung des Grundes als eines Göttlichen im engeren Sinne handelt, gibt Gerhardt eine reflexionstheoretisch wie religionsphänomenologisch präzise Antwort: »Letztlich muss er vom Gläubigen ergriffen werden, so dass es ihn selbst ergreift.« 30 Von Offenbarung im engeren Sinne wird traditionell dann gesprochen, wenn das Ergriffen-Werden herausgestellt werden soll, während ein kritischer OffenVgl. Gerhardt, »Das Göttliche als Sinn des Sinns«, 24; vgl. dazu auch Volker Gerhardt, »Gott und Grund«, in: Hermann Deuser/Dietrich Korsch (Hrsg.), Systematische Theologie heute. Zur Selbstverständigung einer Disziplin, Gütersloh 2004, 85–101. 30 Gerhardt, »Das Göttliche als Sinn des Sinns«, 25; für das Christentum seien exemplarisch zwei klassische neutestamentliche Stellen für diese Figur angeführt: »Nicht, dass ich’s schon ergriffen habe oder schon vollkommen sei; ich jage ihm aber nach, ob ich’s wohl ergreifen könnte, weil ich von Christus Jesus ergriffen bin« (Phil 3,12); »[j]etzt erkenne ich stückweise; dann aber werde ich erkennen, gleichwie ich erkannt bin« (1 Kor 13,12). 29

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barungsbegriff das konstruktive Moment des Setzens, Ergreifens, Aneignens oder Behauptens dieser Vorstellung reflektiert, da auch für sie nach Kant gilt, dass das »Ich denke« sie »begleiten können« muss. 31 Der Freiheitsbegriff spielt also nicht nur darum eine so zentrale Rolle in der neuzeitlichen, aufgeklärten Theologie, weil Autonomie und Selbstbestimmung, vor allem auch Selbstverantwortung ethisch bzw. politisch unverzichtbar sind; vielmehr wird die epistemologische Konstruktivität von Subjekt und Kultur bzw. Gesellschaft anerkannt. Die Bedeutung der Religionsphänomenologie liegt hier darin, dass mit der dialektischen, jedenfalls aber paradoxen Koinzidenz von Ergreifen und Ergriffen-Werden der epistemologische Hinweis mit dem religiösen Selbstverständnis kompatibel wird. So wie eine kreative Idee einerseits etwas Ureigenes sein kann und andererseits gleichzeitig geschenkt wird und sich einstellt, so wird auch der Glaube geschenkt und vollzogen und der Mensch versucht zu ergreifen, was ihn ergreift. Freilich stellt die religiöse Deutung der eigenen Existenz in ihrer endlichen Freiheit zunächst nur eine Deutungsoption dar, die sich im weiteren Erleben und Deuten zu plausibilisieren hat. Die äußeren Bedingungen endlich freien Selbstbewusstseins müssen keinesfalls geleugnet werden, seien sie evolutionär, neurophysiologisch, kultur-anthropologisch oder sozialpsychologisch. Wird etwa mit Hegel, Mead, Habermas u. v. a. auf Intersubjektivität und Sprache als Bedingungen des Selbstbewusstseins verwiesen, muss damit keine Bestreitung der Ursprünglichkeit des so Evozierten verbunden sein. Auch wenn die religiöse Deutung nicht zwangsläufig ist, wird man mit Hogrebes Aperçu immerhin daran erinnert, dass dasjenige, was außen begegnet, aber innen durchbricht, in der philosophischen Tradition mit guten Gründen Geist genannt wird. 32 Freiheitstheoretisch gesprochen wird der uns entzogene Grund der Freiheit gleichzeitig thematisiert und gedeutet wie auch im Vollzug in Anspruch genommen. Das Von-ihm-ergriffen-Werden wird nicht einfach als Passivität erfahren, sondern als eine solche Passivität, die Bewusstsein und eigenes Selbstsein nicht einschränkt, sondern fördert, steigert und inspiriert. Formulierungen von einem 31 32

Vgl. Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, B § 16. Vgl. Hogrebe, Riskante Lebensnähe, 17.

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Ergriffen-Werden, welches man ergreift, sind nicht nur aus zahlreichen religionsphänomenologischen Beschreibungen religiöser Erfahrungen bekannt. Vielmehr entsprechen sie der menschlichen Freiheit, die sich nur selbst ergreifen kann, 33 weil sie sich uneinholSo die eindrucksvolle Formulierung bei William James: »My first act of free will shall be to believe in a free will« (William James, The Letters of William James, Bd. 1, hrsg. v. Henry James, London 1929, 147). Die genauere Verhältnisbestimmung einer solchen Formulierung zu Schleiermachers Bestimmung endlicher Freiheit durch den Begriff schlechthinniger Abhängigkeit, der sie nur auf den ersten Blick zu widersprechen scheint, wäre eine lohnende Aufgabe, zielt sie doch auf die Dialektik des Freiheitsbegriffs, da sich der Grund der Freiheit nur negativ dialektisch artikulieren lässt. Denn: »Ohne alles Freiheitsgefühl aber wäre ein schlechthinniges Abhängigkeitsgefühl nicht möglich« (Friedrich Schleiermacher, Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der Evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt [1830/31], hrsg. v. Martin Redeker, Berlin 1960, 28 [§ 4.3]). Auch wenn sich Freiheit und Kreativität (die James ausdrücklich nennt) einem Umstand verdanken, von dem sie schlechterdings abhängig sind, ist dieser doch schon immer vergangen und überwunden, d. h. nur aus einer (endlichen) Freiheit heraus zu bemerken, zu thematisieren, anzuerkennen und zu vollziehen, der je aktuelle Vollzug aber nur nachgängig zu deuten. Und: Dieser vorauszusetzende »Umstand« kann der ihn bemerkenden und anerkennenden Freiheit kein bloß äußerlicher sein, ist also auch nicht neurophysiologisch naturalisierbar, da sonst sofort die erneute Frage nach dem subjektiven Grund von dessen Übernahme und je eigenen Aneignung auftaucht. Angeeignet und übernommen werden kann nur etwas, mit dem sich ein Selbst identifizieren kann, was bei neurophysiologischen Beschreibungen kaum der Fall sein dürfte. Freiheit und Kreativität sind nur dann sie selbst, wenn ihnen eine je aktuale Ursprünglichkeit anhaftet, die nur mit sich selbst anfangen kann, wenn sie sich dann auch als in dieser Freiheit bedingt verstehen mögen. Sich ihrer als solcher bewusst zu werden, fordert eine minimale Differenz, ohne die keinerlei Bewusstsein, Bestimmtheit oder Thematisierung möglich ist; würde es bei dieser Differenz bleiben, ohne dass das Bewusstwerdende als das Meinige übernommen und angeeignet, ja (scheinbar »unmittelbar«) als solches erlebt wird und von sich aus einleuchtet, wäre es aber keine Freiheit. Dass dies geschieht, ist in seiner Faktizität uneinholbar, weil jede Bewusstwerdung neue (bspw. zeitliche) Differenzen setzt bzw. voraussetzt, die von etwas überwunden und vermittelt werden, das nicht auf eigene Setzungen reduzierbar ist und doch erneut nicht als äußerer Zwang erfahren wird (darum der enge Zusammenhang von Freiheit und Selbstbewusstsein). Die Formulierung von James verweist (durchaus im Sinne Schleiermachers) auf das unreduzierbare Moment spontaner Ursprünglichkeit von Freiheit. Dies steht erst dann im Wider-

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bar voraus und immer schon gegeben ist. Sie erschafft sich also weder selbst, noch nimmt sie sich als etwas Fremdes hin, da sie ja »sich« in bestimmten Erfahrungen 34 als gefördert oder ermöglicht erfährt. So kann man einerseits sagen, dass Freiheit mit sich selbst anfängt, wie auch, dass sie fremdverdankt ist. Damit ist sie auf einen Grund verwiesen, der sie zwar nicht selbst ist, ihr aber auch nichts Fremdes und Äußeres ist, sondern ihr sozusagen entgegenkommt oder gerade schon vergangen ist (Protention und Retention). Phänomenologisch gesehen führt dies dazu, dass man das eigene aktive Ergreifen als etwas erlebt, das nicht wiederum Produkt dieser Aktivität ist, sondern nach ermöglichenden Bedingungen fragen lässt. Oder es führt umgekehrt zu Erfahrungen des Ergriffenseins, die zwar von äußerlich Erlebtem ausgehen, das sich aber nicht als Fremdbestimmung herausstellt, sondern das jeweils Ureigene hervorbringt und fördert. Gerhardts Formulierung muss daher zumindest als missverständlich modifiziert werden. Wenn er formuliert, die religiöse Option müsse »vom Gläubigen ergriffen werden, so dass es ihn selbst ergreift« 35, so betrachtet er den Zusammenhang zwar sowohl vom konstruktiven Deuten wie vom passiven Erleben her. Doch ist die religiöse Deutung keine zwangsläufige und alternativlose Notwendigkeit, sondern lediglich eine Deutungsmöglichkeit neben anderen. Was er hier beschreibt, ist die Wirklichkeit des Geistes, in dem subjektiver und objektiver Geist koinzidieren, was in nachhegelianischen Zeiten nur noch punktuell und je subjektiv erlebt werden kann. Damit kehrt der Geistbegriff in gewissem Sinne zu seiner deutlich nüchterneren, vor-spekulativen, kantischen Bedeutung zurück. Wie wenig dies auf religiöses Erleben zu beschränken ist, sondern beispielsweise spruch zum Modell schlechthinniger Abhängigkeit, wenn eine absolute und ausschließliche Ursprünglichkeit des Sichsetzens behauptet wird, die auch die Kontexte und Bedingungen des Sichsetzens leugnen oder (vitiös zirkulär) als dessen Produkte verstehen würde. 34 Paul Ricœur nennt in diesem Zusammenhang beispielsweise den eigenen Leib, das Gewissen oder den Anderen als Phänomene, in denen das Eigene im Fremden bzw. das Fremde im Eigenen erfahren werden kann (vgl. Paul Ricœur, Das Selbst als ein Anderer, aus dem Französischen von Jean Greisch, München 1996, 384 ff.). 35 Gerhardt, »Das Göttliche als Sinn des Sinns«, 25.

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auch ästhetisch verstanden werden kann, zeigt sich gerade hier. Denn »Geist, in ästhetischer Bedeutung heißt das belebende Prinzip im Gemüte« 36. Umso wichtiger ist es, wenn trotz aller antispekulativen Skepsis der Kantforscher Gerhardt mit dem Königsberger Philosophen auf den erstaunlichen Sachverhalt aufmerksam macht, dass es Erfahrungen gibt, die (wie etwa ästhetische Ideen) »die Seele beleb[en]« und »die Gemütskräfte zweckmäßig in Schwung versetz[en]« 37, sodass objektive Erfahrungen, Ausdrucksgestalten und Phänomene Freiheitsbewusstsein evozieren können. Wichtig ist auch Gerhardts Beobachtung, dass die entsprechende Deutung (im Sinne der Ausdrucksfindung für das Erleben) wiederum zu neuen Formen des Erlebens führt. Abwehren muss man allerdings die Vorstellung, bei dieser Deutung handle es sich um einen ursprünglichen, ersten Akt, weder im Sinne einer Philosophie des absoluten Anfangs noch in dem Sinne, dass sich das Deuten auf etwas absolut Unbestimmtes bezieht. Selbst Wahrnehmung ist (wie wir mit Gerhardt sahen) bereits auf der somatisch-neuronalen Ebene schematisiert und interpretiert, insbesondere jedoch auf den höheren Stufen bzw. Sinndimensionen prägen Erfahrungen und Sprache apriorische Formen der Synthesis, die Wahrnehmung prägnant im Sinne Cassirers machen. Auch das qualitative Erleben und Fühlen konfrontiert nicht mit absolut unbestimmten Qualia. Hermeneutischer Zusammenhang und reziproke Durchdringung von Erleben und Deuten sind biographisch wie kultur- und evolutionsgeschichtlich unhintergehbar und unvordenklich, weshalb auch jedes Deuten niemals ursprüngliches Erstes, sondern immer schon Antwort ist auf vorgängiges Erleben und Deuten. Daher gilt auch und erst recht für das religiöse Selbstverständnis, dass das Ergriffensein dem eigenen Ergreifen vorausgeht, andererseits aber auf dieses konstruktive Deuten und Ergreifen angewiesen ist, um als ein solches anerkannt, ja realisiert zu werden, wofür wiederum religionsphänomenologisch wie reflexionstheoretisch argumentiert werden könnte. Gerhardt kann dem Göttlichen auch personale Attribute zusprechen und es »Gott« nennen. Die Anwendung personaler Attribute 36 37

Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, B 313. Kant, Kritik der Urteilskraft, B 313.

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versucht er dadurch zu plausibilisieren, dass dieses Göttliche erstens auf diese Weise selbst auf Sinn ausgerichtet sein 38 und es zweitens dem Menschen gegenüber in ein reziprokes Anerkennungsverhältnis einrücken kann. 39 Drittens kann der Mensch es so zum Adressaten eigener Fragen machen 40 und sich in Hoffnung, Dank und Vertrauen auf es ausrichten. 41 Viertens liegt eine personale Vorstellung Gottes auch dann nahe, wenn es als Ursprung des Anspruches des Ganzen an den Menschen aufgefasst wird. 42 Entscheidend ist für Gerhardt aber schließlich (fünftens) der Zusammenhang des menschlichen Selbstverständnisses als Person mit der Auffassung des göttlichen Gegenübers, das als Bedingung menschlicher Personalität ebenfalls personal aufgefasst wird. 43 Auf jeden Fall kann sich erst vom inneren Durchbrechen des Geistes her das Außen von Natur und Kultur als dem Menschen zugehörig erweisen.

2. Der Einspruch Markus Gabriels Warum aber das Göttliche? Grenzen, Endlichkeit und Abkünftigkeit epistemischer Weltzugänge sind als solche ja keinesfalls schon ein Argument für den religiösen Glauben. Daher fasst Markus Gabriel (ähnlich wie auch Holm Tetens 44) seine Kritik an Volker Gerhardt so zusammen, »dass aus einem Argument dafür, dass wir uns in allen epistemisch relevanten Verhältnissen auf irgendwelche Bedingungen verlassen müssen, die wir in ipso actu operandi nicht überschauen können, keineswegs folgt, dass wir uns ausgerechnet auf Gott, Götter oder Göttliches

Vgl. Gerhardt, Der Sinn des Sinns, 262. Vgl. Gerhardt, Der Sinn des Sinns, 263 f. 40 Vgl. Gerhardt, Der Sinn des Sinns, 276 f. 41 Vgl. Gerhardt, Der Sinn des Sinns, 32 f. 42 Vgl. Gerhardt, Der Sinn des Sinns, 217. 43 Vgl. Gerhardt, Der Sinn des Sinns, 216 ff. und 262 ff. 44 Vgl. Holm Tetens, »Der transzendente Gott. Ein Kommentar zu Volker Gerhardts Rede von Gott«, in: Michael Kühnlein (Hrsg.), Gott und Sinn. Im interdisziplinären Gespräch mit Volker Gerhardt, Baden-Baden 2016, 155– 162, hier 157. 38 39

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einlassen sollten. Die Rechtfertigung religiösen Glaubens kann nicht darin bestehen, dass man bestimmten skeptischen Überlegungen Raum gibt und das Abrutschen in den Skeptizismus ad hoc bremst, indem man eine sei es transzendente sei es immanente Stabilitätsquelle postuliert, die hinter dem Rücken der Vernunft für Ordnung sorgt.« 45

Diesem Protest gegen einen transzendentalphilosophischen Deus ex machina ist zunächst völlig zuzustimmen. Hier wird offensichtlich eine Entität oder doch zumindest eine Größe eingeführt, die die Funktion hat, Rationalität und Sinn dann und darum zu begründen, wenn und weil es keine anderen Begründungen gibt oder geben kann. Doch lohnt sich ein zweiter Blick auf diese Art der Beantwortung der Frage, warum ausgerechnet auf das Göttliche, Gott oder Götter referiert werden sollte, auch wenn sie schon im Ansatz wenig überzeugt. Denn wenn man nun hiergegen das vielleicht sogar durchaus zutreffende Argument formulieren wollte, dass in einem solchen Fall das Göttliche, Gott oder Götter insofern angemessene Kandidaten für die Funktion des begründungstheoretischen Lückenbüßers darstellen, weil ihnen diese Funktion insbesondere im Laufe der Neuzeit schon häufiger zugesprochen wurde oder weil sie für wunderbare Lösungen schlicht zuständig sind, stellt dies entweder einen nachvollziehbaren Reflex von Gläubigen oder ironische, zuweilen sarkastische Häme von Skeptikern dar, die sich hier auch schon einmal ergänzen und gegenseitig legitimieren können. Friedrich Heinrich Jacobi ist ein eindrucksvolles Beispiel dafür, dass der scharfsinnige philosophische Skeptiker und der naiv Glaubende auch in einer Person vereint sein können. Doch macht dies das Argument nicht nur keinen Deut weniger unhaltbar, sondern diese naheliegende Argumentation verstellt auch den Blick auf die eigentliche Pointe der religionsphilosophischen Tradition, der Gerhardt hier folgt. Das zeigt gerade Wolfram Hogrebe, auf den Gabriel sich beruft.

Markus Gabriel, »Glauben und Wissen – Zurück zur Ontotheologie?«, in: Michael Kühnlein (Hrsg.), Gott und Sinn. Im interdisziplinären Gespräch mit Volker Gerhardt, Baden-Baden 2016, 91–102, hier 100.

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3. Wolfram Hogrebes Hinweise auf das unvordenklich und unergründlich Wunderbare menschlicher Welterschlossenheit Wolfram Hogrebe hat in zahlreichen Schriften und Studien immer wieder auf Voraussetzungen im menschlichen Weltverhältnis hingewiesen, die – so unthematisierbar und geheimnisvoll sie auch sein mögen – dennoch entscheidend sind. Und er kann zuweilen auch Hinweise auf die Möglichkeit einer religiösen Ausdeutung jener Dimension geben, die als Eröffnung von Sinnhaftigkeit und Rationalität in ihrer Faktizität anerkannt und jederzeit in Anspruch genommen werden muss. Diese Erläuterungen ähneln in mancherlei Hinsicht der Konzeption Volker Gerhardts, erweitern und plausibilisieren sie aber auch, weshalb sie hier kurz skizziert werden: »Nicht weil wir rühmenswert den Verpflichtungen der Tradition und den Gesetzen folgen, sind wir wahrheitsfähig, nicht weil wir erfolgreich und damit ebenso rühmenswert handeln, sondern weil wir um eine Wirklichkeit wissen, die uns graziös zuvorgekommen ist. ›Wo bleibt nun das rühmen?‹, fragt sich Paulus. Und er antwortet: ›Es bleibt ausgeschlossen.‹ Ohne Gnade eines Entgegenkommenden (gratia, χάρις) und ein Sensorium gerade dafür gibt es keine Grundlegung des homo sapiens. Das Wahre ist gerade off limits.« 46

Hogrebe verweist im Anschluss an Kant 47, Schelling 48 und Schleiermacher auf die Möglichkeit einer Religionstheorie, die eine DeuWolfram Hogrebe, Szenische Metaphysik, Frankfurt 2019, 115. In Hinblick auf Kant verwendet Hogrebe (wie er freimütig eingesteht) »ein absichtlich dramatisiertes Bild, um einen Zusammenhang zu verdeutlichen, der bei Kant selbst so durchsichtig nicht ist, wie der Leser es gerne hätte« (Wolfram Hogrebe, »Das Dunkle Du«, in: Wolfram Hogrebe, Die Wirklichkeit des Denkens. Vorträge der Gadamer-Professur, hrsg. und mit einleitenden Texten versehen von Jens Halfwassen und Markus Gabriel, Heidelberg 2007, 11–36, hier 19). 48 Zu Hogrebes Schellingdeutung vgl. Wolfram Hogrebe, Genesis und Prädikation. Metaphysik als Fundamentalheuristik im Ausgang von Schellings »Die Weltalter«, Frankfurt 1989, sowie etwa Wolfram Hogrebe, »Sein und Emphase – Schellings Theogonie als Anthropogonie«, in Wolfram Hogrebe, Die Wirklichkeit des Denken. Vorträge der Gadamer-Professur, hrsg. und mit einleitenden Texten versehen von Jens Halfwassen und Markus Gabriel, Heidelberg 2007, 37–60. 46 47

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tung der Grundlage sinnvoller Welt- und Selbstbezüge darstellt, die er als »Referenzreligion« 49 bezeichnen kann. So verweist etwa Schleiermachers bekannte Behauptung einer »schlechthinnigen Abhängigkeit« laut Hogrebe darauf, dass wir auf die vorgängige Möglichkeit und Eröffnung von gelingenden kognitiv-sprachlichen Weltbezügen angewiesen sind, sie aber auch dankbar in Anspruch nehmen können. Der Umstand, dass wir uns mit Hilfe singulärer Termini und Prädikationen auf etwas beziehen können, unsere »fundamentale« und »pronominale Referentialität« 50 also, zeigt an, dass »unserem Selbstbewußtsein ein Index seiner Insuffizienz eingebaut [ist], es ist wesentlich Bewußtsein seiner Ungesättigtheit, und ›das in diesem Selbstbewußtsein mit gesetzte Woher unseres empfänglichen und selbsttätigen Daseins‹ bezeichnet Schleiermacher ›durch den Ausdruck Gott‹.« 51 Damit erinnert Hogrebes Argumentation an Kants Begriff des Intellectus ectypus, der als endliche Vernunft das Gegebensein von Empfindungen voraussetzt. Ähnlich formuliert auch Konrad Cramer in seiner Schleiermacherinterpretation, dessen Argument sei in seinem Hinweis darauf zu suchen, dass das endliche Subjekt »auf hinzunehmende Vorstellungen angewiesen ist« 52. Doch stellt diese Angewiesenheit auf einen materialen Gehalt nur die eine Seite des Argumentes dar, denn wenn behauptet wird, dass dieses Nicht-Ich des Gegebenen entgegen den Bestrebungen des frühen Fichte nicht seinerseits gesetzt werden kann, zeigt sich hier ein fundamentales Problem für ein jedes Subjekt, das wesentlich intentional organisiert ist und sich auf etwas bezieht bzw. auf etwas referiert. Denn nun werden AngeWolfram Hogrebe, Deutsche Philosophie im XIX. Jahrhundert, München 1987, 87. 50 Hogrebe, Deutsche Philosophie im XIX. Jahrhundert, 84. 51 Hogrebe, Deutsche Philosophie im XIX. Jahrhundert, 82–89, hier 83; das Zitat bezieht sich auf Friedrich Schleiermacher, Der christliche Glaube, 28. Ausdrücklich sei darauf hingewiesen, dass Hogrebes Schleiermacherdeutung eine eingehende historische Kritik im Sinne der Schleiermacherforschung erfordert, was an dieser Stelle nicht erfolgen kann. Zum Folgenden vgl. Hogrebe, Deutsche Philosophie im XIX. Jahrhundert, 82–89. 52 Konrad Cramer, »Die subjektivitätstheoretischen Prämissen von Schleiermachers Bestimmung des religiösen Bewußtseins«, in: Dietz Lange (Hrsg.), Friedrich Schleiermacher. Theologe, Philosoph, Pädagoge, Göttingen 1985, 129–162, hier 142. 49

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wiesenheit und Mangel zum Index der eigenen Endlichkeit und Gebrochenheit; ohne entsprechende Gegebenheiten, die das Subjekt nicht in der Hand hat oder verbürgen kann, ist nicht nur ein sinnvoller Weltbezug unmöglich, sondern Bewusstsein und Selbstbewusstsein überhaupt. Gott bzw. das Absolute wird auf diese Weise streng genommen zweifach verortet, einmal im deutenden Ausdruck für die Erfahrung der unbegründeten Möglichkeit und je aktualen Wirklichkeit von Objektbewusstsein oder Bestimmbarkeit und Beziehbarkeit (Referentialität) überhaupt und zweitens in Schleiermachers Ausdruck als »Woher unseres empfänglichen und selbsttätigen Daseins« 53: »[W]ir haben schon ein pronominales Verhältnis zur Welt, d. h. einen Bezug auf irgendwas, bevor wir die korrekte Instanziierung dieser Pronomina (durch singuläre Termini), d. h. die Bezugnahme auf spezifische Einzeldinge erlernen. […] Nur im Hinblick auf diese elementare pronominale Referentialität, die elementare Beziehung buchstäblich nur auf irgendetwas, macht auch die Rede von einem ›schlechthinnigen Abhängigkeitsbewusstsein‹ Sinn, nicht jedoch bezüglich einzelner Referenzen oder irgendeiner Summe bestimmter Referenzen« 54.

In der Sprache Gerhardts heißt dies, dass zwar immer nur konkreter Einzelsinn gegeben sein mag, doch sich in diesem der Sinngrund zeigt, auf den die Bestimmungsprozesse des Selbstbewusstseins angewiesen sind; Bedeutungshaftigkeit überhaupt zeigt sich empirisch nur in konkreten Bedeutungen, ist aber weder mit diesen identisch noch mit der Summe aller Bedeutungen. In Schleiermachers Bestimmung von Religion als »Anschauung und Gefühl« 55 des Universums (als pantheistische Einheit von Gott und Welt) aus den Reden von 1799 entspricht dies dem (im Gegensatz zum Gefühlsbegriff) intentionalen Begriff der Anschauung, die sich immer auf Einzelnes und endlich Bestimmtes richten muss. Zur religiösen Erfahrung kommt es erst dann, wenn dieses Einzelne als Umfassendes erlebt wird, das die intentionale Differenz umgreift und auch den

Schleiermacher, Der christliche Glaube, 29 (§ 4.4). Hogrebe, Deutsche Philosophie im XIX. Jahrhundert, 84. 55 Friedrich Schleiermacher, Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern (1799), hrsg. v. Günter Meckenstock, Berlin 1999, 50. 53 54

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Erlebenden mit einschließt. 56 Der Gefühlsbegriff widersetzt sich mit seiner monistischen Tendenz nicht nur dieser Entgegensetzung, sondern zeigt den in allem Fremdbezug immer auch implizierten Selbstbezug an. Der Religionsbegriff ist insofern auf Differenzen angewiesen, die aber entweder im Sinne des Einheitserlebens überwunden werden oder umgekehrt aus einer ursprünglichen Einheit immer schon hervorgegangen sind. Soll sich die Anschauung wirklich auf Fremdes und Gegebenes beziehen, so ist diese Bezugsstruktur nicht selbstgemacht, sondern gestiftet. Sosehr damit die conditio humana insgesamt umrissen wird, spricht man erst dann zu Recht von Religion, wenn diese Wirklichkeit als solche nicht reflexiv thematisch, sondern wiederum erlebt wird. Das eigene Selbst (bzw. der Selbstbezug des Gefühls) wie auch das Angeschaute erweisen sich als Übergangsmomente, die in einen umfassenden Prozess eingespannt sind, der »Universum« genannt wird. Der zweite Ort des Absoluten, Schleiermachers Formulierung vom »Woher unseres empfänglichen und selbsttätigen Daseins«, stammt aus der Glaubenslehre von 1830/31. Nur aufgrund der Faktizität von etwas überhaupt kann es das intentional ungesättigte Selbstbewusstsein erst geben. 57 Auch hier wird bei der Intentionalität des Bewusstseins angesetzt, doch bezieht sich das Woher auf die Folgen, die diese Angewiesenheit für das Selbstverständnis des Subjekts hat. Und auch beim späten Schleiermacher ist es (laut Hogrebe) das Gefühl, das alle intentional ausgerichteten Akte begleitet. Das Gefühl umgreift die unabschließbaren Differenzen der Subjektivität und kann insofern als phänomenale Seite eines Sinngrundes angesehen werden. 58 Das Gefühl kann als Index des aufgespannten und niemals gesättigten Bewusstseins angesehen werden, das weder sich selbst einholen noch sich in seiner Relation zum intentionalen Gehalt ergreifen und bestimmen kann, was die Rede von einem Sinngrund erst ermöglicht. Natürlich sind beide VerVgl. Schleiermachers prägnante Formulierung: »Alles Endliche besteht nur durch die Bestimmung seiner Gränzen, die aus dem Unendlichen gleichsam herausgeschnitten werden müssen« (Schleiermacher: Über die Religion, 53). 57 Nach dieser Interpretation sind Gott und Selbst auch bei Schleiermacher gleichursprünglich. 58 Vgl. Hogrebe, Deutsche Philosophie im XIX. Jahrhundert, 83 f. 56

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ortungen des Absoluten miteinander verbunden, denn auch der Sinngrund zeigt sich nur anhand konkreter Einzelbestimmungen und jede Aussage über ihn droht, ihn zum intentionalen Objekt zu verendlichen, zu verdinglichen und auf eine Weise zu degradieren, die die ontologische Differenz übersieht und ihn zum Götzen werden lässt. Das einzelne intentionale Objekt interessiert so nicht um seiner konkreten Bestimmtheit willen, sondern als Möglichkeit von objektbezogenem Denken bzw. Handeln und Bedeutungshaftigkeit überhaupt, sodass sich an ihm eine Grundbedingung zeigt, es in seinem Bezug auf das Universum erfasst wird, das auch den erfassenden Menschen einschließt. Das religiös erlebte Endliche wird daher zum Symbol des Universums, was gerade im Rückkoppelungseffekt des Gefühls indiziert wird. So wie hier das scheinbar dualistisch konzipierte intentionale Anschauen durch den Rückbezug auf das pantheistische Universum einheitsbezogen und zusammenhangstiftend gerahmt (nicht überwunden) wird, wird umgekehrt auch (beim frühen Schleiermacher) das monistisch konzipierte Universum nur an einzelnen, intentional differenzierten Vorstellungen erfahrbar. Beim späten Schleiermacher tritt das Gegensätze umspannende Gefühl entweder ebenfalls am intentionalen (»empfänglichen und selbsttätigen« 59) Dasein auf oder wird objektiviert und verendlicht, wenn es thematisiert werden soll. Ähnlich wie in Kants Analyse der ästhetischen Erfahrung ist das religiöse Bewusstsein nicht intentional auf einen Gegenstand bezogen, sondern auf seine Intentionalität: Es erlebt nicht etwas, sondern seine Beziehbarkeit (Referentialität statt Referenz) und Bestimmungskompetenz von Gehalten überhaupt, was qualitativ mit Lust oder Unlust erlebt wird. »Schleiermacher nennt diesen Gegenstand der Referentialität, die ›Bedeutung‹ der Variablen für alle Referenzen, dieses Gegenstandsschema, Gott. So fallen die Möglichkeit der Bezugnahme auf Gegenstände, Selbstbewußtsein, und ›sich seiner selbst in Beziehung mit Gott bewußt sein‹ zusammen« 60.

Hogrebe, Deutsche Philosophie im XIX. Jahrhundert, 83. Hogrebe, Deutsche Philosophie im XIX. Jahrhundert, 85; symboltheoretisch gesprochen könnte man den jeweiligen intentionalen Gegenstand als

59 60

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So »ist auch klar, daß kein bestimmter Gegenstand Gott genannt werden kann, weil dadurch nur Exemplifizierungen der Gegenstandsvariablen erreicht werden können.« 61 Daher kann Schleiermacher in seiner Dialektik formulieren, dass »das Bewußtsein Gottes […] immer an einem anderen [ist]; nur an einem einzelnen ist man sich der Totalität« 62 bewusst. Auf diese Weise kann prinzipiell jede Erfahrung Symbolcharakter annehmen, sodass uns an ihr unsere Weltstellung aufgeht. Weil auch Schleiermacher ausdrücklich auf die Rolle der Phantasie in der Ausdeutung dieses Zusammenhanges hinweist, hält auch Hogrebe ausdrücklich daran fest, dass eine religiöse Symbolisierung nicht alternativlos oder erzwingbar, aber doch möglich ist: »Nur wessen Phantasie reich genug ist, wird der religiösen Interpretation fähig sein.« 63 Atheismus beruht nach Hogrebe wie auch schon für Schleiermacher so lediglich auf einem »Mangel an Phantasie, den man daher, wie er [sc. Schleiermacher] sagt, ›mit großer Gelaßenheit‹ neben sich sehen mag. […] Hegel mokierte sich über die Subjektivität dieses Ansatzes, Theologen mögen ihn eigentlich auch nicht, aber es könnte trotzdem sein, daß er Recht hat.« 64

Erstsinn des Symbols bezeichnen, seinen Bezug auf einen zugrundeliegenden Zusammenhang bzw. auf das Subjekt seinen Zweitsinn. Als »Gegenstandsschema«, Bezugsfähigkeit oder Sinnhaftigkeit überhaupt kann er nur dann bezeichnet werden, wenn dieser Zusammenhang mit impliziert ist. Von Gott ist philosophisch dann die Rede, wenn er als das Unbedingte reflexiv thematisiert (damit immer aber auch verfehlt) wird oder wenn im religiösen Erleben diese Struktur der Bezugsmöglichkeit selbst in einem Einzelbezug hervortritt und zu Bewusstsein kommt, was daher immer nur indirekt geschehen kann. Ein (direkter) Bezug auf Gott ist nicht möglich. 61 Hogrebe, Deutsche Philosophie im XIX. Jahrhundert, 86. 62 Hogrebe, Deutsche Philosophie im XIX. Jahrhundert, 86; Hogrebe zitiert Schleiermacher hier nach der veralteten, von Otto Braun besorgten Ausgabe von 1910 (Friedrich Schleiermacher, Dialektik, in: Friedrich Schleiermacher, Werke. Auswahl in vier Bänden, Bd. 3, hrsg. und eingeleitet von Otto Braun, Leipzig 1910, 73; leichter zugänglich in: Friedrich Schleiermacher, Dialektik, hrsg. und eingeleitet von Manfred Frank, Frankfurt 2001, 272 (§ 215,2); auch Friedrich Schleiermacher, Vorlesungen über Dialektik, in: Kritische Gesamtausgabe, Abt. 2: Vorlesungen, Bd. 10: Vorlesungen über die Dialektik, Teilbd. 1, hrsg. v. Andreas Arndt u. a., Berlin 2002, 143). 63 Hogrebe, Deutsche Philosophie im XIX. Jahrhundert, 89. 64 Hogrebe, »Das Dunkle Du«, 22.

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Um seinen von Schleiermacher inspirierten Gedanken zu illustrieren, skizziert Hogrebe einen Grundgedanken Kants, der die Gegenstandskompetenz und Bestimmungsfähigkeit des Bewusstseins so denkt, dass er die Einheit des Selbstbewusstseins und die Einheit des Objekts, seine Objekthaftigkeit überhaupt, unmittelbar aufeinander bezieht, ja den transzendentalen Gegenstand (x), den »Prototyp der Referenz« 65, mit der Einheitsstruktur des Selbstbewusstseins zu identifizieren scheint. Der Bestimmungsgrund als Inbegriff aller Realitäten bzw. Prädikate (ens realissimum) bezeichnet als transzendentales Ideal die All-Einheit der Realität. Unzweifelbar hängen »bei Kant die Einheit des intendierten Dinges, die Alleinheit der Realität und die Einheit unseres Selbstbewußtseins unauflöslich miteinander zusammen. Dennoch bleiben sie für Kant letztlich unerforschlich.« 66 Hogrebes knappe Hinweise auf diese äußerst komplexen Zusammenhänge (denen wir hier nicht einmal ansatzweise gerecht werden können) sollen mit Hilfe der kantischen Termini lediglich den Problemhorizont in Erinnerung rufen, den die sachgemäße Auseinandersetzung mit diesen Fragen impliziert. Immerhin verweist er mit Kant auf die (bei Kant freilich in kritischer Absicht vorgebrachte) Möglichkeit, dass »das Ideal der AllEinheit […] gedanklich fixiert, sodann als existierend unterstellt und schließlich ›durch einen natürlichen Fortschritt der Vernunft zur Vollendung der Einheit, so gar personifiziert‹« 67 wird. Die Frage nach diesem Abschluss bzw. einheitlichen Zusammenhang muss laut Kant notwendigerweise gestellt werden, eine erkenntnistheoretisch zu rechtfertigende Antwort ist auf kantischer Grundlage aber unmöglich, weshalb er über die theoretischen Ansprüche der spekulativen Theologie ein vernichtendes Urteil fällt: »Ich behaupte nun, dass alle Versuche eines bloß spekulativen Gebrauchs der Vernunft in Ansehung der Theologie gänzlich fruchtlos und ihrer inneren Beschaffenheit nach null und nichtig sind« 68. Gleichwohl muss das transzendentale Ideal als regulative Idee notwendigerwei-

Hogrebe, »Das Dunkle Du«, 19. Hogrebe, »Das dunkle Du«, 19. 67 Hogrebe, »Das dunkle Du«, 19; mit Verweis auf Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 612, Anm. 68 Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 664. 65 66

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se gedacht werden, ohne doch erkannt werden zu können. Die Pointe einer religiösen Deutung dieser Abschlussgedanken liegt für Hogrebe in seinen Variationen von Motiven Kants, Schleiermachers und Schellings darin, dass die gelebten und improvisierten Antwortversuche in ihrer praktischen Unvermeidbarkeit der (religiösen) Phantasie entspringen, aber durchaus praktischen und funktionalen Kriterien unterliegen. Um dies nachvollziehen zu können, muss man sehen, dass der wichtigste Unterschied zwischen Kants Stufenmodell eines Prozesses der Realisierung 69, Hypostasierung 70 und Personifizierung 71 einerseits und der eigenen Position Hogrebes andererseits im Sachverhalt liegt, dass das animistische, szenisch-anthropomorphe Denken in Hogrebes Augen nicht nur zeitlich vorhergeht, während die anthropomorphe Personifizierung bei Kant den Abschluss bildet. Vielmehr bleibt es Fundament menschlicher Welterschließung insgesamt, so weit sich rationales oder wissenschaftliches Denken hiervon auch entfernen mag und so radikal dieser Ausgangspunkt auch (völlig zu Recht) kritisiert werden wird. Insofern ist die personifizierende Deutung des Göttlichen besonders naheliegend. Der Mensch »darf sie bevorzugen, ohne daß er hier mehr leisten müßte, als er in der Kindheit ohnehin gedacht hat: Irgendetwas stets als Irgendwen zu verstehen. Diese mantische Interpretation ist so alt wie die Menschheit und

Aus einem allgemeinen Begriff (omnitudo realitatis) wird (nur in diesem einen Fall!) ein Einzelwesen (ens realissimum), da er durchgängig bestimmbar ist, wie sonst nur Gegenstände der Erfahrung (vgl. Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 604). 70 Aus der Möglichkeitsbedingung zur Erkenntnis von Dingen wird die Möglichkeitsbedingung der Dinge selber, ihr ursächliches Prinzip (vgl. Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 671 f.) und konstitutiver Grund (vgl. Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 647). 71 »Dieses Ideal des allerrealsten Wesens wird also, ob es zwar eine bloße Vorstellung ist, zuerst realisiert, d. i. zum Objekt gemacht, darauf hypostasiert, endlich, durch einen natürlichen Fortschritt der Vernunft zur Vollendung der Einheit, so gar personifiziert« (Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 612, Anm.). Aus dem allgemeinen Begriff wird über den Begriff des Einzelwesens ein als Person vorgestellter Gott; aus Prinzip und Grund ein personal gedachter Schöpfer. 69

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läßt unser Gespräch über Dinge zu einem Gespräch mit Personen sein.« 72

Solche gestalthaft-anthropomorphe Weltzugänge über Ausdruckswahrnehmungen kann man über Cassirer auf Herder zurückverfolgen, der in Bezug auf gestalthafte Ausdruckswahrnehmungen (in seinem Beispiel anhand der Physiognomik) von der »Bedeutsamkeit lebendiger Gestalten« 73 spricht. Sie erweisen sich insbesondere in entwicklungspsychologischer oder kulturgeschichtlicher Hinsicht als besonders naheliegend und kaum vermeidbar, was aber gerade deswegen geltungstheoretisch zumindest höchst ambivalent und keineswegs allein ein Argument für ihre Legitimität ist. Dem Bottom-up-Modell des klassischen Empirismus, der einem Gegenstand von seiner Identifikation ausgehend nach und nach weitere Eigenschaften zuspricht, nachdem sie sich empirisch nachweisen und so begründen lassen, wird in diesen Fällen ein Top-down-Modell gegenüber gestellt, das nicht diskursiv, sondern instantan, anhand von intuitiven Ausdrucks- bzw. Gestaltwahrnehmungen von einem Maximum möglicher Eigenschaften und Sinnannahmen ausgeht, wie man insbesondere anhand quasi-animistischer 74 oder physiognomischer 75 Vorstellungen sehen kann. Letztere sind in höchstem Hogrebe, Deutsche Philosophie im XIX. Jahrhundert, 89. Johann Gottfried Herder, Kalligone, in: Johann Gottfried Herder, Werke in zehn Bänden, Bd. 8: Schriften zu Literatur und Philosophie 1792–1800, hrsg. v. Hans Dietrich Irmscher u. a., Frankfurt 1998, 642–964; zur »Bedeutsamkeit lebendiger Gestalten zum Begriff der Schönheit« vgl. 708– 724 (Kap. 4). 74 Obwohl das Animismuskonzept religionswissenschaftlich nur äußerst kritisch zu beurteilen ist, sind entsprechende Phänomenbeschreibungen plausibel und eindrücklich (etwa wenn Kinder Gegenständen Wille und Absicht unterstellen) und ihr Einfluss auf die metaphorische Sprache auch der Erwachsenen darf nicht unterschätzt werden. Zur kritischen Weiterführung von Jean Piagets klassischer These des »infantilen Animismus« in der Phase präoperationalen Denkens vgl. etwa Sabina Pauen, »Überlebt der Animismus? Kritische Evaluation einer Hypothese zum präkausalen Denken«, in: Zeitschrift für Entwicklungspsychologie und Pädagogische Psychologie 29 (1997), Nr. 2, 97–118. 75 Die Aktualität physiognomischen Denkens kann nicht einfach mit einem Verweis auf die freilich obsoleten Vorstellungen in der Tradition Lavaters erledigt werden, die Gesichtern oder gar Schädelformen Charaktereigenschaften unterstellte. Denn gerade die propagandistische Missbrauchbarkeit 72 73

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Maße kritikbedürftig, aber als Formen mantischen oder szenischen Verstehens nach Hogrebe für das menschlichen Denken und Handeln so grundlegend wie unverzichtbar; 76 ihre Relevanz für religiöse, aber auch poetische und ästhetische Weltzugänge ist offensichtlich. In jedem Fall sind religiöse Deutungen auch hier freilich keinesfalls die einzig möglichen Ausdeutungen derjenigen Erfahrungen, in denen die prekäre Fragilität der Sinnkonstitution aufgeht, worauf Markus Gabriel zu Recht hinweist. Hogrebe selbst kann die christliche Theologie denn durchaus auch kritisieren, vor allem weil seines Erachtens die »mantische Pfingstlichkeit […] der privilegierten Spiritualität einer Offenbarungsreligion nicht bedarf, sondern in der condition humaine […] verankert ist« 77. Trotzdem bleibt eine religiöse Deutung natürlich möglich und ist kulturgeschichtlich gesehen wohl auch am weitesten verbreitet. Gemeinsam ist den angesprochenen Erfahrungen jedenfalls, dass die Selbstverständlichkeit des immer schon sinnstiftenden logischen Raums erschüttert und fraglich wird, sodass seine Faktizität erst hervor treten und bewusst werden kann. Dass und wie Hogrebe mit Schelling solche Erfahrungen gefährdeter und riskanter Sinnkonstitution zumindest auch religiös deuten kann, zeigt aber gerade auch Gabriel: »Solche Erfahrungen der scheiternden Konstitution von Sinn stehen nicht zufällig im Zentrum der Philosophie Schellings, die Hogrebe als eine Theorie der Konstitution des logischen Raums rekonstruiert. Erfahrungen, in denen die Voraussetzung einer diskreten Totalität von (man denke nur an visuell-physiognomische Denunziationen »des Judentums« in der Zeit des Nationalsozialismus) zeigt die hartnäckige Anfälligkeit für entsprechende Wahrnehmungen und Assoziationen. Von diesen zehrt noch jeder Autodesigner, der seinem Produkt ein »aggressives« oder freundliches Aussehen geben möchte (vgl. Michael Großheim/Stefan Volke: »Ausdruck. Erinnerung an ein Thema«, in: Michael Großheim/Stefan Volke (Hrsg.), Gefühl, Geste, Gesicht. Zur Phänomenologie des Ausdrucks, München 2010, 9–17; Johannes Saltzwedel, Das Gesicht der Welt. Physiognomisches Denken in der Goethezeit, München 1993; Claudia Schmölders, Das Vorurteil im Leibe. Eine Einführung in die Physiognomik, Berlin 1997). 76 Vgl. dazu insgesamt Wolfram Hogrebe, Metaphysik und Mantik. Die Deutungsnatur des Menschen (Systeme Orphique de Iena), 2., verbesserte und erweiterte Auflage, Berlin 2013. 77 Hogrebe, Metaphysik und Mantik, 254.

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Bestimmungen auf dem Spiel steht, sind Schelling zufolge ästhetische Erfahrungen (System des transzendentalen Idealismus), ethische Erfahrungen des Bösen (Freiheitsschrift, Stuttgarter Privatvorlesungen), Erfahrungen der Zeitlichkeit und grundlosen Freiheit (Weltalter, Initia philosophiae universiae) und schließlich die Erfahrungen des religiösen Bewußtseins (Philosophie der Mythologie, Philosophie der Offenbarung).« 78

Aus dieser Sicht wird eine religiöse Deutung der Sinnkonstitution einerseits legitimiert, es eröffnet sich aber andererseits auch die Möglichkeit, religiöse Ausdrucksformen kulturphilosophisch zu kontextualisieren. Weitgehend ausgeblendet bleibt hingegen die Unvermeidbarkeit des existentiellen und lebensweltlichen Umgangs mit dieser Fragilität und Kontingenz, denn nicht nur in Grenzsituationen kann auf erschütternde oder auch beglückende Weise nur allzu bewusst werden, was »auf dem Spiel steht« 79, wie Gabriel formuliert.

4 Religiöse Rede von Gott jenseits philosophischer Letztbegründung Doch auch Gerhardt gibt durchaus deutliche Hinweise, wie sein Rekurs auf das Göttliche gerechtfertigt werden könnte. Denn die unzulängliche Begründbarkeit von Erkenntnis und Sinn ist nicht nur ein Problem für Epistemologen: »Die Welt ist damit nicht nur die notwendige Voraussetzung« von Erkennen, Kommunizieren und Handeln; »im Großen und Ganzen […] können wir nur darauf vertrauen, dass sie so, wie wir sie aufgrund vergleichsweise geringer Kenntnisse erschließen, tatsächlich ist und bleibt. Das aber heißt: Wir glauben an die Welt, in der wir sind«. 80 Die jeweils vielfältigen, Markus Gabriel, »Zum philosophischen Ansatz Wolfram Hogrebes«, in: Wolfram Hogrebe, Die Wirklichkeit des Denkens. Vorträge der GadamerProfessur, hrsg. und mit einleitenden Texten versehen von Jens Halfwassen und Markus Gabriel, Heidelberg 2007, 79–100, hier 80. 79 Gabriel, »Zum philosophischen Ansatz Wolfram Hogrebes«, 80. 80 Gerhardt, Der Sinn des Sinns, 21; nicht nur diese Stelle zeigt, dass für Gerhardts Position eine genauere Verhältnisbestimmung zum Pantheismus notwendig wird (vgl. Christian Tapp, »Über den Sinn des ›Sinn des Sinns‹. 78

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hochkomplexen, unüberschaubaren, zutiefst problematischen und ungarantierten Voraussetzungen und Gelingensbedingungen von Sinn machen entsprechendes Verstehen und Handeln prekär, ja »hochriskant« 81. Die Unwahrscheinlichkeit des Sinns wird zwar vom Immer-schon des alltäglichen Verstehens verdeckt, macht seine ungesicherte Faktizität aber nicht weniger erstaunlich. Wie auch immer wir die Welt oder uns selbst inhaltlich verstehen mögen, jede dieser Deutungen ist von generellen Verstehensbedingungen des Sinns überhaupt abhängig. Es ist diese existentielle Dimension der Problematik, die dem entsprechenden Vertrauen auf die Zuverlässigkeit des Sinns eine religiöse Dimension des Glaubens verleiht und nachvollziehbar macht, warum Religion innerhalb der menschlichen Kulturgeschichte eine zentrale Rolle spielt. Die Rede vom Göttlichen bzw. von Gott ist daher dann gerechtfertigt, wenn dabei nicht von transzendenten Seinsregionen oder sie bevölkernden Entitäten die Rede ist, sondern von derjenigen Größe, auf die sich ein existentielles Vertrauen richtet, das sich trotz unzulänglicher

Anfragen an Volker Gerhardts Buch ›Der Sinn des Sinns‹«, in: Michael Quante (Hrsg.), Geschichte, Gesellschaft, Geltung. XXIII. Deutscher Kongress für Philosophie, 28. September–2. Oktober 2014 an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, Hamburg 2016, 551–568, hier 558 ff.). Gerhardt lehnt den Begriff des Pantheismus zunächst ab, denn er »hat das Problem epistemischer und praktischer Beliebigkeit, weil er Gott in allem und jedem auszumachen sucht, ohne die besondere Stellung des andächtig wahrnehmenden Individuums zu beachten, das als Subjekt des Glaubens nicht übergangen werden kann« (Gerhardt, »Vom Grund zum Sinn«, 233). Andererseits betont er durchaus in scheinbar pantheistischer Manier, dass »Gott kein von der Welt getrenntes Wesen ist« (Gerhardt, Der Sinn des Sinns, 87) oder es darum gehe, das Göttliche auf das menschliche Handeln zu beziehen, »ohne ihm eine separate Existenz zuzumuten« (Gerhardt, Der Sinn des Sinns, 111), insbesondere keine extramundane Existenz (Gerhardt, Der Sinn des Sinns, 212 u. a. m.). Diese Wahrheitsaspekte des Pantheismus werden vor allem gegenüber allzu unkritischen Anthropomorphismen betont, auch wenn Gerhardt personalen Vorstellungen des Göttlichen positiv gegenübersteht. Klaus Müller hat diese Stellen auf erhellende Weise kontrastiert und sie im Sinne eines von ihm favorisierten Panentheismus einander zugeordnet, demgegenüber Gerhardt »nicht den geringsten Anlass [sieht], eine sachliche Abgrenzung vorzunehmen« (Gerhardt, »Vom Grund zum Sinn«, 233). 81 Gerhardt, »Das Göttliche als Sinn des Sinns«, 21.

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Sicherheiten auf die Sinnhaftigkeit von Welt und Handeln verlässt und sie in Anspruch nimmt, ja nehmen muss. Damit werden Kritik und Ablehnung keinesfalls ausgeschlossen, wohl aber wird behauptet, dass auch Kritik, sei sie nun partikular oder pauschal, Zuverlässigkeit und Sinnbezug so voraussetzen müsse, dass die prinzipielle, sinnbasierte Zugehörigkeit von Mensch und Welt als unhintergehbar anerkannt wird. 82 Diese Affirmation durch den Menschen bezieht sich wiederum auf sich selbst und seine Zugehörigkeit zum Ganzen (von Welt und Sinn 83), das ihn bedingt und hervorbringt, sodass er selbst von diesem her affirmiert wird und zwar in seiner eigenen Affirmation des Ganzen. So liegt uns hier wieder die Struktur der Bewegungsumkehrung vor, in der sich das menschliche Denken des Unbedingten (gen. ob.) als vom Unbedingten ermöglicht oder von ihm ausgehend erfährt, ohne doch aufzuhören, eine eigene Bewegung zu sein. Hogrebe verweist auf das unreduzierbare Ungesättigtsein menschlicher Subjektivität und ihren unendlichen Mangel, 84 was Hier wird die Möglichkeit eines radikalen solipsistischen Skeptizismus von Gerhardt mit transzendentalen Argumenten ausgeblendet, da auch Zweifel und Negation von Welt und Sinn wiederum als sinnvolle Sinnvollzüge aufgefasst werden können – aber eben nur können. Gegen Gerhardt muss darauf verwiesen werden, dass ein radikaler Skeptizist sich um den transzendentalen Vorwurf eines performativen Selbstwiderspruchs s. E. (!) ja gerade nicht zu kümmern braucht und auch nicht um die Argumente, die gegen diese Unbekümmertheit vorgebracht werden usw. ad infinitum. Dennoch ist an dieser Stelle so zu formulieren, dass die Angewiesenheit auf und Voraussetzung von Sinn, die Anerkennung der Zugehörigkeit von Mensch und Sinnganzem eine prinzipielle und unhintergehbare ist, sobald sie nämlich als Selbstvoraussetzung erkannt und anerkannt wird. Auch hier kommt es also entscheidend auf die Frage an, wie der Mensch sich selbst versteht. 83 Vgl. Gerhardt, Der Sinn des Sinns, 188. »Um das Selbst und Welt umspannende Ganze anzuerkennen, ist freilich die existenzielle Bereitschaft nötig, mich als das Ganze, das ich bin, mit dem in Anspruch genommenen Ganzen des Daseins in einer alles tragenden, in allem wirkenden und mir entsprechenden Einheit verbunden zu sehen« (Gerhardt, Der Sinn des Sinns, 61 f.). 84 Hier legt sich ein Vergleich mit Manfred Franks Schelling- und Schleiermacherdeutung nahe: »Ich sage: Nur der absolute Mangel an Sein im Subjekt setzt auf der anderen Seite das überfließende, das sich selbst nicht besitzende und unendlich Seiende im Objekt. Nur dem, das selbst nichts ist, kann das unendlich Seiende etwas werden« (Friedrich Wilhelm Joseph 82

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zu einer Angewiesenheit führt, die er mit Schleiermachers Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit gleichsetzt. Denn auf die ungesicherte und riskante Faktizität von Sinn ist der Mensch gerade auch in seiner (endlichen) Kreativität, Konstruktivität und Freiheit existentiell angewiesen, weshalb sich entsprechende Lebenseinstellungen und »existential feelings« (Matthew Ratcliffe) dieser Größe gegenüber einstellen und artikuliert werden. Diese Angewiesenheit liegt also aufgrund der ungesättigten intentionalen Bewusstseinsstruktur vor, deren konstitutiver Mangel einen jeweiligen endlichen Bezug aus einer unendlichen Vielheit möglicher Gehalte ermöglicht, gleichzeitig aber auch den Existenzmodus indizieren kann. Dann können Sinnvollzüge über den rein noetischen Gehalt hinaus zu Artikulationen der Weltförmigkeit bzw. der jeweiligen Gegebenheitsweise werden, wie auch umgekehrt an Sinnerlebnissen deren Gegebenheitsweise und der eigene Existenzmodus hervortreten kann. Entsprechend kann von Symbolen und Bedeutsamkeit gesprochen werden, da beide Begriffe über den rein intentionalen bzw. propositionalen Gehalt hinaus darauf hinweisen wollen, was dies für den Menschen heißt bzw. was sich in ihnen ausdrückt. Es ist die Selbstentzogenheit und eigene Abgründigkeit des »gebrochenen« Cogito (Ricœur), das Objekte und Sinngestalten scheinen und zu Symbolen werden lässt, auf die sich Ahnungen und Hoffnungen einer möglichen Selbstaneignung richten. »Ich bin. Aber ich habe mich nicht. Darum werden wir erst« 85, formuliert Ernst Bloch diesen Zusammenhang. Bei Gerhardt wird die Rede vom Göttlichen nicht nur durch die Ursprünglichkeit des anthropomorphen Ausdrucksverstehens, sondern auch transzendental-anthropologisch begründet. 86 So wie Schelling, Philosophie der Offenbarung 1841/42, hrsg. und eingeleitet von Manfred Frank, Frankfurt 1977, 68). 85 Ernst Bloch, Tübinger Einleitung in die Philosophie, Frankfurt 1970, 13. 86 Schleiermacher formuliert im Leitsatz zu § 4 seiner Glaubenslehre bekanntlich: »Das Gemeinsame aller noch so verschiedenen Äußerungen der Frömmigkeit, wodurch diese sich zugleich von allen anderen Gefühlen unterscheiden, also das sich selbst gleiche Wesen der Frömmigkeit ist dieses, daß wir uns unsrer selbst als schlechthin abhängig, oder, was das selbe sagen will, als in Beziehung zu Gott bewußt sind« (Schleiermacher, Der Christliche Glaube, 23). Erinnert sei an Luthers Rede von der »fides creatrix divi-

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Kant den Übergang vom Göttlichen zu personalen Gottesattributen (Personalisierung) zwar als folgerichtet ansieht, aber »dahin gestellet sein« 87 lassen will, Schleiermacher hierzu die religiöse Phantasie in Anschlag bringt und Hogrebe auf die Ursprünglichkeit anthropomorphen Denkens verweist, markiert auch Gerhardt an diesem Punkt eine deutliche Unterscheidung. Denn man »muss die Grenzen des philosophischen Denkens überschreiten, um, wie die Gottsucher der Tradition, in einem individuellen Akt seinen persönlichen Gott zu finden.« 88 Die Anwendung personaler Attribute versucht Gerhardt dadurch zu plausibilisieren, dass dieses Göttliche erstens nur so dann auch selbst auf Sinn ausgerichtet sein kann, 89 es kann zweitens dem Menschen gegenüber auf solche Weise in ein reziprokes Anerkennungsverhältnis einrücken 90 und der Mensch kann es drittens zum Adressaten unserer Fragen machen, 91 sodass er sich in Hoffnung, Dank und Vertrauen auf es ausrichten kann. 92 Viertens liegt eine personale Vorstellung Gottes auch dann nahe, wenn es als Ursprung des Anspruches des Ganzen an den Menschen aufgefasst wird. 93 Entscheidend ist für Gerhardt aber schließlich (fünftens) der Zusammenhang des menschlichen Selbstverständnisses als Person mit der Auffassung des göttlichen Gegenübers, die als Bedingung menschlicher Personalität ebenfalls personal und jedenfalls nicht weniger komplex aufgefasst wird als das von ihm begründete Selbstverständnis: 94

nitatis« (Martin Luther, Weimarer Ausgabe 40/1, 360) und die Nominalbestimmung des Gottesbegriffs in Luthers großem Katechismus: »Denn die zwei gehören zuhaufe, Glaube und Gott. Worauf Du nu (sage ich) Dein Herz hängest und verlässest, das ist eigentlich Dein Gott« (Martin Luther, »Großer Katechismus«, in: Die Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche, hrsg. im Gedenkjahr der Augsburgischen Konfession 1930, Göttingen 2010, 560). 87 Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 615. 88 Gerhardt, »Das Göttliche als Sinn des Sinns«, 26. 89 Vgl. Gerhardt, Der Sinn des Sinns, 262. 90 Vgl. Gerhardt, Der Sinn des Sinns, 263 f. 91 Vgl. Gerhardt, Der Sinn des Sinns, 276 f. 92 Vgl. Gerhardt, Der Sinn des Sinns, 32 f. 93 Vgl. Gerhardt, Der Sinn des Sinns, 217. 94 Vgl. dazu insbesondere Gerhardt, Der Sinn des Sinns, 216 ff. und 262 ff.

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»Das Gegenüber einer so exponierten […] Person kann nur ein gegenüber allem exponiertes […] Ganzes sein, dem der Titel des Göttlichen gebührt. Wir benötigen das Göttliche somit als die existentielle Kondition eines personalen Begriffs unserer selbst. Und diese existentielle Bedingung erlaubt es uns, das Ganze so anzusprechen, als sei es selbst eine Person. So kommt es zur Personalisierung des Göttlichen als Gott« 95.

Gerhardts Argumentation sei exemplarisch am Theodizeeproblem verdeutlicht: Die Frag-Würdigkeit Gottes wurzelt im ersten hier genannten Punkt, dem Sinnbezug Gottes selbst. Viele Dimensionen der Warum-Fragen machen ohne ihn keinen Sinn, obwohl doch der göttliche Sinngrund der uneingeschränkten Abgründigkeit menschlichen Fragenkönnens entspricht, ja Ausdruck der Möglichkeit unbeschränkten Fragens und der unbegrenzbar vielen möglichen Dimensionen der Warumfrage ist. Gerade die für den Glauben wie die Religionskritik so wichtige Theodizeeproblematik wird ansonsten unmöglich. Die tödliche Krankheit eines Kindes kann dann nicht als ungerecht empfunden werden, und auch vom Leben oder dem Ganzen kann man sich weder gut noch schlecht behandelt fühlen, wenn es entweder gar keinen Adressaten von Fragen oder Einstellungen gibt oder sinnhafte oder moralische Kategorien nicht angewandt werden können. Die Theodizee ist nicht nur ein »Fels des Atheismus«, sondern auch des Glaubens, wenn Fragestellung und Klage so überhaupt erst möglich und adressierbar werden. Wird schon die Möglichkeit einer Antwort prinzipiell bezweifelt, werden auch Frage, Klage und Kritik ihrerseits fraglich; eine echte Alternative müsste eine »Sinndiätetik« (Marquard 96) sein, die weiß, dass man auf Krebszellen nicht wütend sein kann. Gott erscheint hier

Gerhardt, Der Sinn des Sinns, 27. »Die moderne […] Sinnverlusterfahrung resultiert aus einem Überanspruch in bezug auf Sinn; unsere primäre Schwierigkeit ist also nicht der Sinnverlust, sondern das Übermaß des Sinnanspruchs; und nicht die große Sinnverlustklage bringt uns weiter, sondern eine Mäßigung – eine Reduktion – des unmäßig gewordenen Sinnanspruchs« (Odo Marquard, »Zur Diätetik der Sinnerwartung. Philosophische Bemerkungen«, in: Odo Marquard, Apologie des Zufälligen. Philosophische Studien, Stuttgart 1986, 33–53, hier 41 f.). 95 96

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darum keineswegs als Sinngarant, wohl aber als Bedingung und Adressat des Fragens und Klagens wie auch der Dankbarkeit. In Gerhardts Argumentation wird allerdings eine Rede von Ganzheit bzw. Einheit insbesondere der Welt vorausgesetzt, die plausibel sein mag, aber nicht selbstverständlich ist und vielleicht auch genau deswegen von Gabriel abgelehnt wird. 97 Denn die Einheitsform der Welt ist gewissermaßen gleichursprünglich mit der subjektivitätstheoretischen Perspektive der ersten Person, auf die Gerhardt verweist und von der im Hinweis auf Kant schon kurz die Rede war. Nur so wird die Rede einer Gesamtstellungnahme des Menschen gegenüber dem Ganzen der Welt möglich, zu der er doch andererseits (als Person und als Lebewesen) auch wieder gehört, so gewiss die Welt als Vernunftbegriff eine regulative Idee ist. Sobald der Mensch sein sinnbasiertes Verstehen und Handeln gewahrt, bezweifelt oder bestaunt, unterscheidet er bereits zwischen sich und der Welt. Genau wie bei Hogrebe fragt der Mensch auch bei Gerhardt nicht mehr nach einem bestimmten Einzelsinn, sondern nach der Faktizität der Sinndimension insgesamt, die er auch für sein Fragenkönnen voraussetzen muss. Die Verwobenheit seines Daseins mit der Welt, deren Teil er ist und der er doch auch gegenübersteht, wird ihm gerade auch über das gefühlsbasierte Verstehen evident, wofür Gerhardt (wie gesehen) den Begriff des Geistes benutzen kann. Seine Deutung als Göttliches ist genau dann gerechtfertigt, wenn dasjenige, auf das sich der Mensch existentiell verlassen muss und auf das all seine Sinnvollzüge aufbauen, als Göttliches bezeichnet werden kann. Dass dieses nicht als ontotheologisches Substrat substantialisiert werden darf, ist ein Anliegen, das Gerhardt mit Gabriel teilt. 98 Gerade die Kritik an Gerhardts Gottesbegriff aus Sicht einer eher traditionell ausgerichteten katholisch-aristotelischen Metaphysik substanzontologischer Observanz macht das deutlich. 99 Gerhardt, Der Sinn des Sinns, 42–50; zu Markus Gabriel vgl. seine bekannte Kritik am Weltbegriff (Markus Gabriel, Warum es die Welt nicht gibt, Berlin 2013). 98 Vgl. Gerhardt, »Vom Grund zum Sinn«, 224 f. 99 So kritisieren Philosophen wie Georg Sans SJ und Patrick Zoll SJ nicht nur (wenig überraschend) Gerhardts angeblichen Pantheismus, sondern vor allem eine »Reduktion ontologischer Fragestellungen auf epistemologi97

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Beim Göttlichen als Sinn des Sinns handelt es sich also sowohl bei Gerhardt als auch im Fall von Hogrebe (entgegen mancher Äußerungen Gerhardts) aus Sicht der Philosophie um eine zwar transzendent gesetzte Idee, die aber letztlich eine transzendentale Größe darstellt, für die »es keinen gegenständlichen Sinngehalt mehr geben kann – außer eben dem, dass etwas unüberbietbar Bedeutungsvolles gegenwärtig wird, das als universelle Sinnbedingung für sich selbst mit keiner partikularen Bedeutung verbunden werden kann.« 100 Zwar ist es eine sinnvolle und im Sinne kritischer Reflexion unaufgebbare Einsicht, von Transzendenz nicht mehr supranatural oder metaphysisch zu positivieren und hypostatisieren, sondern die konstruktiven Bedingungen solcher Rede ebenso kritisch zu explizieren, wie sie über ihre transzendentale Funktion zu begründen ist. Auch wenn Gerhardt mit Kant und gegen Hegel (und diesem folgend etwa auch entgegen der Kritik von Thomas Rentsch) die Transzendenz vom Transzendentalen unterscheiden will, ist ein göttlicher Sinngrund transzendental zu verstehen, soll er denn wirklich als Sinnbedingung verstanden werden. Mit der reflexionstheoretischen bzw. spekulativen Kritik an Kant ist aber darauf zu bestehen, dass sämtliche transzendentale Größen insofern transzendent sind, als sie als konstruktive Setzungen anzusehen sind, weil »Vernunftbegriffe [wie Seele bzw. Subjektivität, Welt und Gott] auf die Vollständigkeit, d. i. die kollektive Einheit der ganzen möglichen Erfahrung, und dadurch über jede gegebene Erfahrung hinausgehen und transzendent werden« 101. Sobald Kant sein eigenes Vorgehen reflexiv in seinem systematischen Entwurf sche« und einen »transzendentalen Fehlschluss«, der Wissen und Sein verwechselt (Patrick Zoll, »Volker Gerhardts öffentliche Theologie. Kritische Anmerkungen aus theistischer Perspektive«, in: Saskia Wendel u. a. [Hrsg.], Religion, Öffentlichkeit, Moderne. Transdisziplinäre Perspektiven, Bielefeld 2016, 325–345, hier 334 f., Anm. 29; vgl. Georg Sans, »Der Sinn des Sinns. Volker Gerhardt befragt das Göttliche«, in: Stimmen der Zeit 233 [2015], 51–53; Maurizio Ferraris, Manifest des Neuen Realismus, Frankfurt 2014, 33–55 [»Der Trugschluss Sein – Wissen«], hier 34). Vgl. auch die Kritik bei Christian Tapp, der traditionell katholische Positionen auf sprachanalytischer Grundlage reformuliert (vgl. Trapp, »Über den Sinn des ›Sinn des Sinns‹«). 100 Gerhardt, »Das Göttliche als Sinn des Sinns«, 25. 101 Immanuel Kant, Prolegomena einer jeden zukünftigen Metaphysik, die

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verorten will, müsste er die Ausführungen seiner transzendentalen Analytik, etwa diejenigen zur transzendentalen Apperzeption, innerhalb seiner transzendentalen Dialektik lozieren, sodass das leere »Ich = Ich« also keinesfalls der »alleinige Text« rational-transzendentaler Psychologie wäre, wie Kant meint. 102 So aber geht Kant zwar reflexiv vor, gibt sich darüber aber nicht noch einmal Rechenschaft ab, 103 wie das in einem System notwendig geworden wäre, dessen Notwendigkeit er zwar anerkennt, das er aber bekanntlich (wiederum aus guten erkenntniskritischen Gründen) niemals vorlegte; der Deutsche Idealismus freilich setzt bezüglich desjenigen, das einerseits notwendig zu denken, andererseits aber unmöglich zu erkennen ist, andere Schwerpunkte. Ein weiteres Argument für die Rede vom Göttlichen im Hinblick auf den »Sinn des Sinns« sehen Gerhardt und Hogrebe schließlich in seiner existentiellen Dimension, durch die der Sinngrund keine rein epistemologische Größe philosophischer Bemühungen um Letztbegründungen bleibt. Der kulturgeschichtliche Ort der symbolischen Bearbeitung dieses Problems findet sich vor allem in den Religionen, die sogleich ins Bild kommen, sobald die Frage nach einem letzten Sinngrund nicht nur reflexiv und epistemologisch, sondern auch existentiell wie kulturell bewältigt werden muss. Darum besteht gerade auch die westliche Philosophiegeschichte zu einem nicht unerheblichen Teil aus einer kritischreflexiven Auseinandersetzung mit immer schon vorliegenden religiösen Überlieferungen. 104 als Wissenschaft wird auftreten können, AA IV, 40; vgl. Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 383 f. 102 Vgl. Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 343, B 401. 103 Vgl. Hans Michael Baumgartner, »Zur methodischen Struktur der Transzendentalphilosophie Immanuel Kants. Bemerkungen zu Rüdiger Bubners Beitrag«, in: Eva Schaper/Wilhelm Vossenkuhl (Hrsg.), Bedingungen der Möglichkeit. ›Transcendental Arguments‹ und transzendentales Denken, Stuttgart 1984, 80–87, mit Bezug auf Rüdiger Bubner, »Zur Struktur transzendentaler Argumente«, in: Eva Schaper/Wilhelm Vossenkuhl (Hrsg.), Bedingungen der Möglichkeit. ›Transcendental Arguments‹ und transzendentales Denken, Stuttgart 1984, 63–79. 104 Vgl. Jürgen Habermas, Auch eine Geschichte der Philosophie, Bd. 1: Die okzidentale Konstellation von Glauben und Wissen, Bd. 2: Vernünftige Freiheit. Spuren des Diskurses über Glauben und Wissen, Berlin 2019.

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5 Ein kritischer Ausblick: Metaphysik und Religion Wird der Sinngrund auch zunächst reflexionstheoretisch bzw. transzendental eingeführt, lassen sich doch seine symbolisch bzw. semiotisch vermittelten Realisationen und Vergegenwärtigungen vor allem kulturphilosophisch rekonstruieren, was bei Gerhard ein wenig zu kurz kommt. Denn die Kulturgeschichte kann als eine Ansammlung derjenigen »Objektivationen des Lebens« (Dilthey) aufgefasst werden, in denen Menschen ihre Existenz erlebt, verstanden und ausgedrückt haben. Das spezifisch Religiöse hieran bilden diejenigen Ausdrucksformen, die auf das Unbedingte und Ganze gehen, indem sie die metastufige Selbstthematisierung mit Hilfe von solchen (historisch wie sozial vermittelten) Symbolisierungen vornehmen, die auch in existentieller Hinsicht einen unbedingten Geltungsanspruch erheben. Ob sie dann allerdings auch tatsächlich in entsprechender Weise angeeignet werden können und sozial anschlussfähig sind, muss sich für die Betreffenden in ihrer sozial wie biographisch gesehen individuellen Situation jeweils erweisen. Wenn also darauf hingewiesen wird, dass nicht die Frage gestellt werden kann, was der Sinngrund »an sich« bedeutet, sondern allenfalls, was er »für mich« bedeutet, so darf dies nicht als eine subjektive Einschränkung der epistemischen Begründbarkeit verstanden werden, sondern als Hinweis auf zwei Sachverhalte. Erstens sind wir schon immer individuell in bestimmten Sinnbezügen situiert und positioniert, bevor wir uns durch die Wahl der symbolischen Ausdrucksformen unsererseits hierzu positionieren; nur aufgrund dieser individuellen Situation entwickeln die Symbolisierungen ihr Resonanz- und Evokationspotential bzw. ihre Orientierungs- und Erschließungskraft. Erst dann aber wird aus dem In-Sein der Weltlichkeit eine intentionale Differenz, die das Subjekt im Gegenüber zur Welt loziert. Zweitens ist es nur das erstpersönliche, qualitative Erleben, das diese Differenz unterläuft und Spuren des Zusammenhanges wahrt und hervortreten lässt – oder aber die Resonanz des Eigenen im Fremden als ein Erleben von Geist verstehen lässt, das Differenzen wahrt und gar von ihnen lebt. Dem qualitativen Bewusstsein können so die Gegebenheitsweisen von Erfahrungen und Sinn und mit diesen die eigene Weltförmigkeit indiziert werden. Die Rolle des Gefühls zeigt nicht in erster 274 https://doi.org/10.5771/9783495825372 .

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Linie einen defizitären epistemischen Status an, sondern ein Moment von »Erstheit« (Peirce), das nicht nur trotz aller Differenzen bestehen muss, sondern diese gleichursprünglich sowohl ermöglicht als auch umgreift, seinerseits aber auch nur in diesen Differenzen realisiert und präsent wird. Nur in erstpersönlicher Perspektive kann das qualitative Bewusstsein Erleben einerseits und deutenden Ausdruck andererseits jeweils für sich und in ihrem Verhältnis evaluieren und orientieren, und nur dann kann Ausdruck scheinbar unmittelbar als so authentisch und passend erlebt werden, dass er von sich aus einleuchtet und Evidenzen schafft. Wird durch den deutenden Ausdruck auch das Erleben modifiziert, Welt und Selbst auf spezifische Weise schematisiert und eröffnet, handelt es sich beim entsprechenden Erleben freilich auch nicht um Verifikationen von Deutungen. Wohl aber können und müssen sich religiöse Deutungen im hermeneutischen Zusammenspiel von Erleben und Deuten nicht nur pragmatisch, existentiell und sozial bewähren, sondern auch als expressiv-authentisch und hermeneutisch auf relevante Weise sinneröffnend erlebt werden. Der Deutungsbegriff betont zwar Konstruktivität und Selbstverantwortung, verliert durch das Wechselverhältnis von Erleben und Deuten aber den Eindruck von Beliebigkeit. Denn religiöse Deutungen müssen lebbar, artikulierbar und sozial anschlussfähig sein, sie müssen die Welt eröffnen und bewältigen können und so angeeignet werden, dass »zweite Naivitäten« (Ricœur) entstehen. Der Mensch wird daher zwar kritisch als Konstrukteur dieser Deutungen anerkannt, kann sich aber nichtsdestotrotz durch das in ihnen Gedeutete getragen verstehen und erleben. Er ist nicht nur Deuter, sondern auch Gedeuteter und durch und in Symbolwelten verortet und bestimmt bzw. figuriert. Stärker als dies bei Gerhardt der Fall ist, muss herausgestellt werden, dass es die »ungesättigte« (Hogrebe), fragile und gebrochene Struktur des sich selbst entzogenen menschlichen Subjekts ist, die menschliche Sinnerfahrungen so unselbstverständlich und prekär wie erstaunlich macht und die Frage nach einem Sinngrund hervorruft, der allein an entsprechenden Sinngestalten indirekt präsent, nicht aber thematisch erfasst werden kann. Wo Sinngestalten ihre Verbundenheit mit dem menschlichen Subjekt sozusagen metastufig vergegenwärtigen und den gemeinsamen Grund präsent 275 https://doi.org/10.5771/9783495825372 .

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machen, werden sie zu Symbolen und das qualitative Bewusstsein des Sinnerlebens zu einem Indikator seiner Weltstellung, der an Kants reflektierende Urteilskraft erinnert. Entgegen Gabriels Kritik wird das Göttliche also nicht eingeführt, weil etwas Unerklärliches auf wunderbare Weise erklärbar gemacht werden sollte. Zu Recht weist er auf alternative kulturelle Formen hin, in denen sich das Selbstverständnis sinnbezogenen Menschseins ebenfalls ausdrücken kann. Dass die prekäre, ungesicherte und hochriskante Konstitution von Sinn (aber auch von Kreativität und Freiheit) auch existentiell bearbeitet, bewältigt und integriert werden will, plausibilisiert die traditionelle kulturelle Relevanz der Religionen. Ein zweiter Kritikpunkt bezieht sich auf die transzendentale Dimension des Sinngrunds, hängt aber mit dem soeben genannten Kritikpunkt zusammen, der auf die Gebrochenheit des Cogito und dementsprechend auch auf das prekäre und fragile Element des Sinns abzielt. Gerhardt deutet diesen Zusammenhang an, wenn er von der epistemischen wie praktischen Notwendigkeit des Glaubens spricht. Denn die Angewiesenheit auf die alles andere als selbstverständliche Sinnkonstitution wird erst so deutlich. Wie Thomas Rentsch zeigt, wird der Sinngrund erst im regellosen Moment der Regel präsent, der wie das Moment des Fallens beim Gehen die Ungesichertheit des »Schwebens« eines Denkens ohne Letztbegründung ausmacht. 105 Ist Sinnkonstitution ihrerseits in diesem Sinne auf Dimensionen der Negativität angewiesen, zeigt sich eine Nähe von Grund und Abgrund. Der Sinngrund erweist sich (vom Subjekt aus gesehen) seinerseits als grundlos oder doch entzogen. Wie insbesondere Ricœur gezeigt hat, pflügt das transzendentale Subjekt auch nicht mithilfe einer Gründung im Fundament des absoluten Grundes durch alle Differenzen, die es aufgrund seiner scheinbar garantierten transzendentalen Struktur von sich aus bewältigt (idem-Identität). Denn es ist fraglich, ob es überhaupt erhalten wird und wenn ja, als was, welche Herausforderungen auf es zukommen und welche Symbol- und Textwelten diese so bewältigen helfen, dass ein neues Selbstverstehen ermöglicht wird (ipse-Identität). Jedenfalls ist der Sinngrund nicht von der SubjekVgl. Thomas Rentsch, Transzendenz und Negativität. Religionsphilosophische und ästhetische Studien, Berlin 2010, 194.

105

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tivität mit Notwendigkeit begründ- und demonstrierbar, die ja nicht einmal über sich selbst verfügt oder sich selbst absolut durchsichtig ist. Und auch dies ist nur konsequent, soll es sich tatsächlich um deren jeweils aktualen Sinngrund handeln, der nicht in der Sphäre einer über ihn verfügenden »Verstandesmetaphysik« (Hegel) oder »Religiosität A« (Kierkegaard) aufgeht, die allein von der Warte eines ungefährdeten Subjekts aus konstruiert wird. Gerade weil innerhalb des gebrochenen, sich nicht selbst begründenden und einholenden Selbstbewusstseins eine unreduzierbare Differenz zwischen »I« und »Me« (Mead) herrscht, tut sich hier ein Abgrund auf, der es ermöglicht, Fragen nach einem Warum auf unendlich vielfältige Weisen zu verstehen, was den ermöglichenden und eröffnenden Sinngrund freilich immer wieder abgründig werden lässt, sodass er sich immer wieder aufs Neue als affirmierender Grund zeigen und bewähren muss. Werden Erfahrungen der Negativität auf diese Weise konstitutiv für den Gottesgedanken, wird dieser nicht nur zum Grund, sondern auch zum Abgrund, das Gelingen von Sinnverstehen ruft Staunen hervor, weil es alles andere als selbstverständlich ist und der Sinngrund kein letztbegründendes Bollwerk gegen Zweifel, Kontingenz und Fragwürdigkeit darstellt, was insbesondere bei Gerhardt wohl etwas zu kurz kommt. 106 Zwar ist ihm zuzustimmen, wenn er formuliert: »Kein Abgrund kann die Rolle eines leitenden Grundes übernehmen« 107, und darauf verweist, dass selbst in der Erfahrung von »Furcht und Zittern […] ein Erkenntnis- und Orientierungsgewinn« 108 liegt. Denn »die Theologie allererst konstituierende Problemstellung besteht doch darin, was uns Gott bedeutet, sofern es überhaupt Sinn ergibt, von ihm zu sprechen. Für diesen Sinn ist in einer ›negativen Theologie‹ kein Platz.« 109 Allerdings trifft Letzteres nur auf eine (auf widersprüchliche Weise) dogmatisch-affirmativ formulierte negative Theologie zu, nicht auf eine Theologie, die im Anschluss an Luther Vgl. Thomas Rentsch, »Grenzen des Sinns. Zur Konstitution von Negativität und Transzendenz im Blick auf Volker Gerhardt«, in: Michael Kühnlein (Hrsg.), Gott und Sinn. Im interdisziplinären Gespräch mit Volker Gerhardt, Baden-Baden 2016, 113–122, hier 115 f. 107 Gerhardt, »Vom Grund zum Sinn«, 232. 108 Gerhardt, »Vom Grund zum Sinn«, 232. 109 Gerhardt, »Vom Grund zum Sinn«, 232. 106

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und Kierkegaard darauf vertraut, dass die zweifellos riskanten Elemente der Negativität im Gottesverhältnis immer wieder von Gott her überwunden werden. Ohne eine solche radikale Negativität könnte es eine Art (cum grano salis) »transzendentale Werkgerechtigkeit« geben, in der die transzendentalen Strukturen des menschlichen Subjekts alles synthetisierend bewältigen, was ihnen begegnen mag. Doch kann Gerhardts Argumentation nicht darauf hinauslaufen, selbst schreckliche oder nihilistische Überzeugungen als positive Erkenntnisse zu bestimmen, auch wenn auch sie immer durch ein »Ich denke« begleitet werden können und als positive propositionale Aussagen formulierbar sind. Trotzdem ist sein Hinweis richtig und auch wichtig, da ein Abgrund für sich genommen nur infrage stellt, aber nichts affirmiert, sondern Differenzen und Negativitäten nur dann als lebendige Bereicherung erfahren werden, wenn sie sich als bewältigbar und versöhnbar herausstellen. Dass Negativität selbst sinnkonstitutiv sein kann und Verstehen in Übergängen von Fragen zu Antworten, aber auch zu neuen Infragestellungen besteht, muss freilich eigens begründet werden. Für den Gottesbegriff ist der Hinweis auf den konstruktiven Beitrag der Negativität aber vor allem aus drei Gründen wichtig: Erstens wird damit dem Umstand Rechnung getragen, dass Gott bzw. das Göttliche religionsgeschichtlich gesehen nicht nur als beruhigendes und stabilisierendes Fundament, sondern (etwa in der Prophetie) auch als negierender Einspruch und Krise erscheint; gerade dies kann die besondere Lebendigkeit der Religion ausmachen. Zweitens wird so die Wirklichkeit Gottes relational über dasjenige bestimmbar, das durch ihn überwunden wird; »wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch«, wie Hölderlin schreibt. 110 Drittens werden so über den gleichbleibenden Sinngrund hinaus Gottesbilder nachvollziehbar und teilweise begründbar, da sich Differenz und Bewältigung in bestimmten Situationen und anhand bestimmter religiöser Symbolisierungen ergeben; damit ändert sich freilich nicht der Sinngrund selbst, wohl aber das Verhältnis zu ihm und das, was er jeweils für diese Situation bedeutet. Wenn an die Stelle Vgl. Karl-Heinz Stierle, »Dichtung und Auftrag. Hölderlins ›Patmos‹Hymne«, in: Bernhard Böschenstein/Gerhard Kurz (Hrsg.), HölderlinJahrbuch 22, Tübingen 1980–1981, 47–68.

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rein transzendentaler Reflexion das empirische Individuum als Ausgangspunkt dieser Frage tritt, geschieht dies einmal (etwa im Anschluss an Hegel oder Heidegger) als Frage nach dem bedingenden Vorverständnis, der Erfahrungsgeschichte, die zur transzendentalen Reflexion hinführt oder dem konstruierenden Transzendentalphilosophen. Im Fall der Religion aber ändert sich nicht nur der Status des (transzendentalen) Subjekts, sondern auch das Erkenntnisinteresse, geht es doch jetzt nicht mehr um theoretische Letztbegründung, sondern um Unvermeidbarkeit und Notwendigkeit existentieller Lebensdeutung, damit sich orientiert und ein Leben geführt werden kann. Damit wird transzendentale Reflexion keinesfalls unmöglich oder sinnlos, insbesondere die reflexive Selbstverantwortung von Religion und ihre epistemisch-metaphysische Verortung scheinen unverzichtbar. Doch das Positioniertsein und die Selbstpositionierung in individuellen Situationen lässt nach der Bedeutung des Gottesgedankens angesichts der je aktuellen Situation fragen und ermöglicht so inhaltlich reichhaltige Deutungen bzw. wird so umgekehrt plausibel, warum kulturell vermittelte, religiöse Symbolisierungen das Leben auf den Sinngrund hin durchsichtig machen können, ohne den Anspruch erheben zu können, den Sinngrund an sich zu bestimmen. Mit Schleiermacher formuliert bezeichnen dann die göttlichen Eigenschaften »nicht etwas Besonderes in Gott […], sondern nur etwas Besonderes in der Art, das schlechthinnige Abhängigkeitsgefühl auf ihn zu beziehen« 111. In diesem Sinne gilt dann: »Der Lebensbezug gibt dem Gottesbewusstsein gleichsam den Stoff.« 112 Inwiefern Gott als Grund und Abgrund des Sinns nicht nur für Begründungen und Antworten steht, sondern gerade auch Fragen Schleiermacher, Der christliche Glaube, 300 (§ 50); dass diese Auskunft keinesfalls alle Fragen beantwortet, sondern sofort neue Fragen und Probleme aufwirft, sieht man schon daran, dass eine Relation kaum zu bestimmen ist, ohne das entsprechende Relat (hier den Gottesgedanken) mit zu tangieren; hier geht es jedoch nur darum, anhand der von Hogrebe angesprochenen Tradition Möglichkeiten einer theologischen Ausgestaltung anzudeuten. 112 Gerhard Ebeling, »Schlechthinniges Abhängigkeitsgefühl als Gottesbewusstsein«, in: Gerhard Ebeling, Wort und Glaube, Bd. III, Tübingen 1975, 125. 111

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und Differenz eröffnet, kann insbesondere an der Warum-Frage deutlich werden. Der Umstand, dass die Frage nach einem Warum unabschließbar ist und in verschiedenster Hinsicht gestellt werden kann, verdeutlicht, warum die Vorstellung einer durchgängigen Bestimmung schon im Hinblick auf historische Individualitäten eine regulative Idee bleiben muss, erst recht, wenn wechselnde Kontexte und Fragen der Lebensdeutung in den Blick treten; auch ein zureichender Grund kann nur in spezifischer Hinsicht, niemals aber im absoluten Sinne zureichend sein; immer stellt sich die Frage, für was er zureichend ist. »Gott« verweist so gesehen auf die Möglichkeit radikaler und umfassender Fragen, auch nach den Bedingungen des Fragens wie des Fragenden, d. h. sowohl bestimmter Fragestellungen und Antworten als auch auf die Möglichkeit erneuter Infragestellungen. Was angesichts der unendlichen Vielzahl von Fragestellungen tatsächlich gefragt werden kann, findet seine letzte Rechtfertigung angesichts lebensweltlicher, existentieller und sozialer Umstände wie auch angesichts dessen, was als faszinierend erscheint und interessiert, kurz: was als bedeutsam erscheint. Das Einlassen und Sichverlassen auf Sinn wird riskant, Verstehen wird unselbstverständlich und (falls es gelingt) erstaunlich. Insbesondere im Fall der unkonventionellen, impertinenten, zunächst absurd erscheinenden Metapher zeigt sich die Möglichkeit unbegründeten, nicht abgesicherten Verstehens, denn »lebendige« Metaphern (Ricœur) können Neues eröffnen (oder aber auch scheitern); sie werden verstanden, ohne dass wir wissen, warum. Ähnlich hat auch Friedrich Nietzsche auf die Unbegründbarkeit der Übergänge zwischen verschiedenen Sinnsphären hingewiesen, 113 die der Nietzscheforscher Gerhardt (wie wir gesehen haben) vom physiologischen bis hin zum reflexiven Sinn unterscheidet. Bei aller regelgeleiteten Rationalität und Begründbarkeit lässt sich das Moment des regellosen Risikos, des Fallens während des Gehens (Rentsch) niemals völlig eliminieren. Walter Schulz hat von einer »Metaphysik des

»Ein Nervenreiz zuerst übertragen in ein Bild! erste Metapher. Das Bild wieder nachgeformt in einem Laut! zweite Metapher. Und jedesmal vollständiges Ueberspringen der Sphäre, mitten hinein in eine ganz andere und neue« (Friedrich Nietzsche, Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne (KSA 1), Berlin/New York 1980, 875).

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Schwebens« gesprochen und selbst der metaphysisch wie religionsphilosophisch reichlich unverdächtige Wolfgang Stegmüller fragt angesichts des Problems einer letzten Begründung von Sinn und Rationalität: »Haben wir also alles auf Nichts gestellt? Wir haben überhaupt nicht auf etwas gestellt. Wir schweben.« 114 Hogrebe bezeichnet dies anerkennend – wenn auch vielleicht etwas maliziös – als »eine der raren wirklich philosophischen Einsichten von Wolfgang Stegmüller« 115. Im Fall der Religion geht es um die existentielle Bewältigung dieser Angewiesenheit, darum spricht Gerhardt zu Recht von der Notwendigkeit des Glaubens, auch wenn dessen Ausdeutung als religiöser Glaube eine bloße Deutungsoption ist. Der Glaube aber ist weder garantierte und transzendental abgesicherte Notwendigkeit noch Unsicherheit, sondern ein Übergangsphänomen, das Zweifel überwindet und doch über alle Antworten hinausgeht und sie hinterfragt. Wenn religiöse Deutungen nicht als letzte Begründung des ansonsten Unbegründbaren verstanden werden, sondern als Ausdruck sowohl der Anerkennung dieser Unbegründbarkeit wie auch der Notwendigkeit und Unvermeidlichkeit eines symbolisch vermittelten, existentiell konstruktiven Umgangs mit ihr, können sie sich an diese Einsicht anschließen.

Wolfgang Stegmüller, Metaphysik, Skepsis, Wissenschaft, Berlin u. a. 1969, 456. 115 Hogrebe, »Das Dunkle Du«, 35. 114

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Swami Abhishiktananda/Henry Le Saux (1910–1973): The Advaita doctrine and the Christian theology

1. Biography of Swami Abhishiktananda/Henry Le Saux (1910–1973) 1.1 Early years and Benedictine monastic life (1910–1948) Abhishiktananda was born on 30th August, 1910 as Henri Le Saux in St Briac, a small town on the north coast of Brittany. He was the first child of Alfred Le Saux and Louise Sonnerfaud, who gave him the names Henri Briac Marie. In 1921 his parents sent him to the minor seminary at Châteaugiron, from which in 1925 he went to the major seminary at Rennes. Since his boyhood he had felt a monastic vocation: »What has drawn me from the beginning and what still leads me on, is the hope of finding there the presence of God more immediately than anywhere else […].« 1 At the age of 19 he was admitted as a postulant to the Benedictine monastery at Sainte-Anne de Kergonan where he spent another nineteen years (with a short break between the years 1939 and 1941 when he was required to participate in World War II as a sergeant of the French Army).

1.2 The call to India The call to India was heard by Le Saux in Kergonan as early as 1934, that is only five years after joining the monastery. It was closely »Letter of December 4«, 1982, in: James Stuart, Swami Abhishiktananda: His Life Told through his Letters, Delhi, Indian Society for Promoting Christian Knowledge (ISPCK), 2000, 29.

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related to his vocation to a more radical contemplative life that he lacked within the existing framework of western monasticism. He expressed this feeling in his characteristic phrase that became his motto: »Beyond, always beyond.« 2 In May 1947 he wrote to the Bishop of Tiruchirappalli, asking his help in »settling somewhere in the neighborhood of Tiruchi so that, living in some hermitage, he might there lead the contemplative life […] in the closest possible conformity with the traditions of Indian sannyasa.« 3 The letter was eventually replied by a French priest, Jules Monchanin, who had left for India in 1939 at the age of 44. The latter did his best to help Le Saux in arranging his arrival to India. In his correspondence of 7th August, 1947 Monchanin advised his future partner: »Learn as much English as you can. You should have no objection to a purely vegetarian diet (essential for the life of a sannyasi). You will need unshakable courage […] and a complete detachment from the things of the West, and a profound love for India […].« 4

1.3 Sannyasa life (1948–1968) Le Saux arrived at Colombo on 15th August, 1948 and a few days later joined Jules Monchanin in Kulittalai (Tamil Nadu). In January 1949 the two seekers visited the ashram of one of the greatest sages of modern India, Sri Ramana Maharshi (1879–1950), at the foot of Arunachala mountain in Tiruvannamalai (Tamil Nadu). Le Saux’s meeting with the sage had a profound effect on his life as he recounted it in his diary: »I consider this stay at Tiruvannamalai as a real retreat and at the same time as an initiation into Hindu monastic life. I want to […] enter into the great silence and peace which, as I have read and also been told, is to be found at the ashram […].« 5 The darshana of Sri Ramana Maharshi became for him the first introduction into the wisdom of advaita: »In the contemporary Sage of Arunachala it was the unique Sage of eternal India that 2 3 4 5

James Stuart, Swami Abhishiktananda, 11. James Stuart, Swami Abhishiktananda, 12. James Stuart, Swami Abhishiktananda, 14. »Diary, 24 January 1949«, in: James Stuart, Swami Abhishiktananda, 29.

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appeared to me […] it was a call which pierced through everything, rent it in pieces and opened a mighty abyss.« 6 In 1950 Le Saux and Monchanin following their monastic vocation and emerging spiritual ideal, established the Saccidananda Ashram (Shantivanam) on the banks of the holy river Kaveri (Cauvery), with the aim of allowing monks of different traditions to live together in contemplation, sharing the »silent communion in the quest of the Unique« 7. In accordance with Indian tradition they adopted new names for themselves: Le Saux became Abhishikteshvarananda (»Bliss of the Anointed Lord«), later shortened to Abhishiktananda, and Monchanin was named Parama Arubi Ananda (»Bliss of the Supreme Formless One«). The daily routine in the ashram was based on the three sandhyavanda-nams (prayers at the meeting points of day and night and at midday), enriched with Sanskrit and Tamil texts and hymns. Much time was given to spiritual and indological study, although the two monks remained in silence for the greater part of the day. 8 From 1952 to 1955, Abhishiktananda made several visits to the sacred mountain of Arunachala, of which an account can be found in his book The Secret of Arunachala (published posthumously in 1975). 9 During these visits he experienced lengthy stays in the mountain’s caves, dedicating most of his time to contemplation. In 1953 he met a well-known teacher of advaita, Sri H. W. L. Poonja (also known later as Papaji), who had a deep impact on his spiritual quest. In 1955 in Tirukoilur, his first meeting with the contemporary sage Swami Sri Gnanananda Giri took place: »I could not resist making the great prostration of our Hindu tradition, and to whom I believe I might surrender myself completely […]. I now know what India means by the term guru […].« 10

Swami Abhishiktananda, The Secret of Arunachala, Delhi, Indian Society for Promoting Christian Knowledge (ISPCK), 1979, 8–9. 7 »Letter to Joseph Lemarié (March 18, 1952)«, in: James Stuart, Swami Abhishiktananda, 54. 8 See James Stuart, Swami Abhishiktananda, 39–40. 9 James Stuart, Swami Abhishiktananda, 14. 10 »Letter to Joseph Lemarié (December 24, 1955)«, in: James Stuart, Swami Abhishiktananda, 87. 6

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Further on Sri Gnanananda became Swami Abhishiktananda’s guru and his teachings are eloquently described in Swami Abhishiktananda’s publication Guru and Disciple (1970). 11 Sri Gnanananda’s message was focused on the practice of dhyana (meditation): »Return within, to the place where there is nothing, and take care that nothing comes in. Penetrate to the depths of yourself, to the place where thought no longer exists, and take care that no thought arises there! There where nothing exists, Fullness! There where nothing is seen, the Vision of Being! There where nothing appears any longer, the sudden appearing of the Self! Dhyana is this!« 12

Abhishiktananda’s deep devotion to the guru is clearly seen in his letters of that period: »Here for a fortnight with my Guru. I have been totally ›caught‹ […]. If that man were to ask me tomorrow to set out on the roads naked and silent like Sadasiva Brahmendra, I would be unable to refuse […]. In him I have felt the truth of advaita […].« 13 Later in the 1960s, Abhishiktananda began to undertake regular pilgrimages to Northern India and in 1968 he left Shantivanam forever having passed it to Bede Griffiths OSB Cam (1906–1993) for the ongoing development of the ashram.

See Swami Abhishiktananda, Gnânânanda. Un maître spirituel du pays tamoul, Chambéry (Présence), 1970 (in French); Swami Abhishiktananda, Guru and Disciple: an Encounter with Sri Gnanananda, a Contemporary Spiritual Master, new and enlarged edited by Swami Atmananda Udasin, pref. by Swami Nityananda Giri, Chennai (Samata Books), 2012 (in English). 12 Swami Abhishiktananda, Guru and Disciple, 75. 13 »Letter to Joseph Lemarié (March 14, 1956)«, in: James Stuart, Swami Abhishiktananda, 89–90. 11

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1.4 Final years and awakening (1968–1973) In October 1968, Abhishiktananda settled in a small kutiya at Gyansu (a kilometer away from Uttarkashi), where he would spend six to eight months in solitude during the years 1969 to 1971. His main purpose was to lead a contemplative life, of which he wrote to a close friend, Odette Baumer-Despeigne: »[…] To be living here is going to be a new experience. I can scarcely hope to be that acosmic being of whom I wrote in Gangotri, but at least I might be able to be something of that sort […].« 14 During this period he was also participating in a series of interreligious meetings, conferences and study sessions, including participation in the All-India Seminar in Bangalore (from 15th May to 20th June, 1969). However, one of the main events of his final years was the meeting with a young Frenchman who later became his one true and prominent disciple, Marc Chaduc. Their correspondence commenced in the late 1960s. In one of his first letters Abhishiktananda, replying to Chaduc’s questions regarding the possibility of a permanent stay in India, states: »[…] The essential thing is to enter the interior mystery to which India bears witness so intensely […]. Without a contemplative sense, to come to India is absolutely useless […].« 15 Chaduc arrived in India on 29th September, 1971 at the age of twenty-seven and met Abhishiktananda a few weeks later in Delhi on 21st October. The first ten days they spent together in Delhi led to an unparalleled guru-disciple relationship between the two which brought about a revolutionary change in Abhishiktananda’s life: »I have found in him (Chaduc) a truly total disciple. With him and two young Hindus I experience from the other end what the guru is. It is really the chela (disciple) who makes the guru, and you have to have lived it, in order to grasp this relationship ›beyond words‹ […].« 16 Abhishiktananda subsequently sent Chaduc on a pilgrimage, including Sri Ramana’s Ashram and Arunachala, where Abhishiktananda had previously encountered a profound spiritual James Stuart, Swami Abhishiktananda, 205. James Stuart, Swami Abhishiktananda, 219. 16 »Letter to Odette Baumer-Despeigne (January 7, 1972)«, in: James Stuart, Swami Abhishiktananda, 258. 14 15

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experience: »There is no question that Arunachala is a powerful magnet. How I should like to lead you round from cave to cave […].« 17 During the last twenty months of his life Abhishiktananda’s advaitic experience deepened and he realized the truth of the Upanishads with utter clarity: »The mantra Om Tat Sat sings all day long […] That madhu (honey) which is everything to everything else, that constant take-off into the Beyond, the golden Purusha full of glory – you know it so well […].« 18 On 30th June, 1973, Abhishiktananda, along with the then President of the Divine Life Society, Swami Chidananda Saraswati, arranged on the banks of the Ganga in Rishikesh, a very simple rite of sannyasa-diksha (initiation into sannyasa) for Chaduc, after which he became known as Swami Ajatananda Saraswati. Abhishiktananda was deeply moved by this experience which he considered to be the very culmination of his own life. He had a clearer vision of the fact that the truth is not conditioned by any concepts, myths or symbols and lies beyond them all: »We have to descend into the ultimate depths to recognize that there is no common denominator at the level of namarupa (name and form). So, we should accept namarupa of the most varied kinds […]. We should enter the depth of each other’s mystery […]. Take off from each of them as from a springboard, towards the bottomless ocean […].« 19

1.5 The last months of his life His posthumous book The Further Shore, which he wrote several months before his mahasamadhi, that means his total emergence into the absolute, reflects his last experiences and his disciple Swami Ajatananda draws attention in the book’s foreword to the fact that »[…] nothing that Swamiji wrote had not been lived by him, rea-

»Letter to Marc Chaduc (January 14, 1972)«, in: James Stuart, Swami Abhishiktananda, 261. 18 »Letter to Marc Chaduc (January, 1973)«, in: James Stuart, Swami Abhishiktananda, 283. 19 James Stuart, Swami Abhishiktananda, 284. 17

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lized in himself. This is the beauty of his written work, which was the fruit of his silence.« 20 On 14th July, 1973, Abhishiktananda was struck by a heart attack that he himself described as a spiritual awakening. The remaining several months of his life were spent in a state of bliss and realization, expressed by himself in his writings: »O I have found the Grail […]. The quest for the Grail is basically nothing else than the quest for the Self […]. It is yourself that you are seeking through everything. And in this quest you are running about everywhere, whereas the Grail is here, close at hand, you only have to open your eyes […]. There is only the Awakening.« 21 In the evening of 7th December, 1973 in Indore, Abhishiktananda underwent another brief heart attack and at about 11 pm he died. His last words were »God’s will be done.« 22

2. The spiritual teaching and the spiritual legacy of Abhishiktananda 23 »If at all I had to give a message, it would be the message of ›Wake up, arise, remain aware‹ of the Katha Upanishad. The coloration might vary according to the audience, but the essential goes beyond. The discovery Swami Abhishiktananda, The Further Shore, Delhi (ISPCK), 1975, xii. Swami Abhishiktananda, Ascent to the Depth of the Heart: The Spiritual Diary (1948–1973) of Swami Abhishiktananda, Delhi (ISPCK), 1998. 22 James Stuart, Swami Abhishiktananda, 322. 23 In order to foster the message and the writings of Abhishiktananda through the publication of his books and unpublished manuscripts, Raimon Panikkar, Patrick D’Souza, Jacques Dupuis, Sita Ram Goel, Ram Swarup, N. Shanta and James Stuart founded the Abhishiktananda Society (Delhi) in 1978. The society was dissolved in 2008 after thirty years of contribution to Hindu-Christian dialogue (see Swami Atmananda Udasin, The Abhishiktananda Society Comes to a Successful Conclusion after Thirty Years of Contribution in Hindu-Christian Dialogue (1978–2008). A Letter from the President, MID Bulletin 80, January 2008) and the publishing rights for his books in English and various Indian languages were transferred to the Delhi Brotherhood Society (DBS). As a result, a new section named the Abhishiktananda Centre for Interreligious Dialogue, was formed to carry on the task of promoting Abhishiktananda’s writings in India and abroad in English. This work is also being continued in the West by the Monastic 20 21

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of Christ’s I AM is the ruin of any Christian theology, for all notions are burnt within the fire of experience.« 24

2.1 Advaita experience and Christian theology According to Abhishiktananda, the highest human experience is the perception of selfhood or the consciousness of the unique self beyond all thoughts and words, which is the Sat of the Upanishads. 25 Whoever has found the self has ultimately found the only reality, the absolute (Brahman). For the self (Atman) is the Brahman itself. This experience of identity between the self (Atman) and the absolute One (Brahman) is what Abhishiktananda calls the upanishadic Advaita experience. 26 According to him, this experience is of central importance not only and especially for the Hindu, but also for spiritual people of the West, i. e. especially for the Christian. Therefore he states that the encounter of the Christian spirituality of the occident with the spirituality of the Eastern world, especially with the Indian spirituality, is the most notable (spiritual) fact of his time. 27 Interreligious Dialogue (DIMMID), which holds the world rights in all languages with the exception of the English and Indian languages. This centre also stores the Abhishiktananda Archives, where handwritten or typed manuscripts written by Abhishiktananda dated between approximately forty to sixty-three years of age are preserved. It is planned to scan the archives digitally and make them available under specific conditions for scholars and researchers in India and abroad. 24 Quoted from https://de.qwe.wiki/wiki/Abhishiktananda (07. 09. 2020). 25 For the conception of the self, see Henri Le Saux/Swami Abhishiktananda, Der Weg zum anderen Ufer. Die Spiritualität der Upanishaden, aus dem Franz. übers. von Bettina Bäumer (Diederichs’ Gelbe Reihe 26), Düsseldorf/ Köln 1980, 36–40 (the immanence of God in the Self); ibid., 60–65 (the quest for the Self). Hereinafter abbreviated to: »Le Saux/Abhishiktananda, Der Weg zum anderen Ufer«. 26 See Le Saux/Swami Abhishiktananda, Der Weg zum anderen Ufer, 66 sqq. 27 See Le Saux/Abhishiktananda, Der Weg zum anderen Ufer, 66 sq.: »Eine der bemerkenswertesten Tatsachen unserer Zeit ist gewiß die Begegnung und Konfrontation der kulturellen und religiösen Welt des Abendlandes, das ganz von dem hellenistischen Denken und von der biblischen und prophetischen Gotteserfahrung geformt ist, mit der östlichen Welt, deren Kul-

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For Christianity this encounter has the character of a challenge of very special importance. Because, according to Abhishiktananda’s conviction, the Advaita experience radically questions the incarnational character of the Christian faith, because it makes man’s salvation dependent exclusively on man’s spiritual experience of unity with the divine Absolute in the depths of his inwardness. 28 At this point at the latest in his remarks it becomes clear that Abhishiktananda considers the personal, purely inner experience of God to be solely relevant to salvation and thus leaves the ground of the Christian understanding of salvation, for which the divine gifts of salvation in the sacraments are indispensable for human salvation. In his demand for the integration of the Advaita experience into Christian spirituality, he goes even further. Because he claims that Christianity must integrate the Advaita experience to maintain its universal claim to truth; otherwise Christianity would have to accept being reduced to a mere religious sect. 29 In terms of Interreligious Dialogue, Abhishiktananda argues that the encounter between Christianity and the Hindu representatives of the Upa-

turen und Religionen zutiefst von dieser grundlegenden Intuition und von der Erfahrung ihrer Weisen geprägt ist.« 28 See Le Saux/Abhishiktananda, Der Weg zum anderen Ufer, 67: »Tatsächlich befindet sich die Christenheit gegenwärtig an einer der schwerwiegendsten Wendungen ihrer Geschichte, sie findet sich im Osten bis auf ihre Wurzeln in Frage gestellt. Diese Konfrontation geht weit über die Herausforderung durch die griechische ›Vernunft‹ und durch den Humanismus hinaus. Diese Begegnung mit dem Osten stellt den Wert all ihrer mentalen und sozialen Strukturen in Frage, den ganzen Bereich des nāmarūpa, im Licht der höchsten spirituellen Erfahrung, von der die ganze indische Tradition zeugt.« 29 See Le Saux/Abhishiktananda, Der Weg zum anderen Ufer, 67 sq.: »Wenn das Christentum seinen Universalitätsanspruch beibehalten will, ist es dazu aufgefordert, diese Advaita-Erfahrung zu integrieren, – das bedeutet nicht notwendigerweise ihre hinduistische oder buddhistische Formulierung – denn wenn ihm dies nicht gelingt, muß es akzeptieren, auf eine bloße Sekte reduziert zu werden, die ihre Rolle in der Menschheitsgeschichte gespielt hat, indem sie während zwei Jahrtausenden sinnvoll den religiösen Bedürfnissen eines bestimmten Bereichs der zivilisierten Welt gedient hat.«

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nishads should not take place at the level of theological discussions but should take place at the level of religious experience. 30 However, this could also be regarded as a self-immunization strategy that seeks to immunize one’s own religious experience against objections and questions by means of rational arguments. Because, according to the scientific standards of at least Christian theologies in the European West, the assertions of truth and the claim to validity of religious experiences must be able to withstand critical verification based on generally valid rational criteria. Abhishiktananda, however, categorically rejects such a recognition and acknowledgement of the unconditional validity of rational truth criteria. Instead, he believes that the development of an authentic Indian-Christian theology in particular is driven by the silence of groups of contemplatives in the various ashrams »who are versed in Christian and also Hindu scriptures and are brahmanistha as well, that means who are people who are able to enter the depths of the experience of the Self, that is to say, to enter into the hiddenness of the ›Chamber of the Heart‹ (hrdguhayam), where Christ himself realizes his non-duality (Advaita) with the Father.« 31 Abhishiktananda thus sets his own religious experience absolute insofar as religious experience is according to him an infallible guarantor of the objective truth of what has been experienced. Therefore, he believes that the upanishadic experience of the Absolute (avoiding the concept and name of God) brings man closer to the See Le Saux/Abhishiktananda, Der Weg zum anderen Ufer, 68: »Doch muß die Konfrontation zwischen den Vertretern der Bibel und denen der Upanishaden oder vielmehr die gegenseitige Entdeckung ihrer spirituellen Reichtümer, im Licht und auf der Ebene der höchsten Erfahrung stattfinden und nicht auf der Ebene theologischer Diskussion (auch nicht der Dogmen), nicht einmal auf der Ebene der Worte dieser Schriften, denn auch die heiligen Schriften sind in ihrem Ausdruck bedingt durch die Welt der Mythen und Begriffe, in denen selbst die ›Seher‹ gelebt haben.« 31 Cf. the German translation in: Le Saux/Abhishiktananda, Der Weg zum anderen Ufer, 68: »[…] die gleichzeitig in den christlichen und HinduSchriften bewandert und ebenfalls brahmanistha sind, d. h. Menschen, die bis in die Tiefen der Erfahrung des Selbst eindringen – in christlichen Begriffen der Erfahrung des Geistes – bis in die Verborgenheit der ›Kammer des Herzens‹ (hrdguhāyām), wo Christus selbst seine Nichtdualität (advaita) mit dem Vater verwirklicht.« 30

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divine mystery than any experience of God which is dependent upon names and forms, concepts, images or symbols. This absoluteness of the mystery is »discovered in the absoluteness of the Self in itself. Then the Self is recognized in the self.« 32 In this monistic experience of the Atman, that is, in the experience of one’s Self as the primordial one (Brahman), God is not experienced as a »he« or as a »you«, but as an »I«, more specifically as that »I am« (aham asmi) of the Upanishads, which is regarded by him as identical to the biblical name of God revealed in the burning bush (Ex 3:14) »ehieh asher ehieh« (»I am who I am«). 33 This divine self is also regarded by him as identical to the »I am« of Jesus in the Gospel of John. 34 According to Abhishiktananda, therefore, we can and should experience the perfectly simple mystery of being (Sat) even in the depths of our own self (Atman). 35 But how can we get to such an experience?

Cf. the German translation in: Le Saux/Abhishiktananda, Der Weg zum anderen Ufer, 69: »Die Absolutheit des letzten Mysteriums wird in der Absolutheit des Selbst in sich selbst entdeckt.« 33 See Le Saux/Abhishiktananda, Der Weg zum anderen Ufer, 69: »Dann ist Gott nicht mehr ein ›Er‹, über den die Menschen unter sich zu sprechen wagen. Er ist nicht einmal mehr ein ›Du‹, dessen Gegenwart der Mensch als ein Gegenüber erfährt, sondern vielmehr wird Gott hier ausgehend von der Wahrnehmung seiner selbst, als ein ›Ich‹ entdeckt und erfahren, das ›Ich bin‹, aham asmi der Upanishaden, das ehieh asher ehieh (›Ich bin der Ich bin‹) des brennenden Dornbuschs. Dieses ›Ich‹ ist nicht ein abstraktes Ich, das ich von dem Du ableite, das ich zu ihm sage, sondern ein Ich, das ich in der Tiefe meines eigenen Ichs wahrnehme.« 34 See the German translation in: Le Saux/Abhishiktananda, Der Weg zum anderen Ufer, 69: »Es gibt viele Stellen im Johannesevangelium, wo Jesus dieses ›Ich Bin‹, ego eimi, betont, wie z. B.: ›Wenn ihr nicht glaubt, daß Ich Bin, werdet ihr in euren Sünden sterben.‹ (Joh. 8,24).« 35 See the German translation in: Le Saux/Abhishiktananda, Der Weg zum anderen Ufer, 69 sq.: »Diese Erfahrung ist so rein, so frei von jeder Beeinflussung äußerer oder innerer Geschehnisse […], daß nur mehr reine Transparenz das Mysterium des Seins selbst bleibt: Sat, Ātman, Brahman (Sein, Selbst, Absolutes).« 32

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2.2 The prayer of silence According to Abhishiktananda the »Prayer of Advaita« or »upanishadic prayer« is a prayer of the external and internal silence of worship, »which is the essential preparation of the soul for peace and calmness, without which the mind cannot act in it free.« 36 As Abhishiktananda says with reference to Psalm 65, »Silence is your praise«, God is most honored and worshiped by the silent prayer of praise and thanksgiving. In this silent prayer, which imposes the self respectively the Spirit on man, all requests are contained, as in the unspoken OM of the chief priest of the Vedic sacrifice. 37 Therefore, spiritual discipline should prepare man for the peace and quietness that enable him to be fully available to the divine spirit. 38 Because the intense and peaceful practice of silent meditation focuses the mind on our self or our consciousness of being, which is beyond time. 39 To achieve this level of concentration, yoga exercises and the

See the German translation in: Le Saux/Abhishiktananda, Der Weg zum anderen Ufer, 70: »[…], das die wesentlichste Vorbereitung der Seele auf die Ruhe und die Gelassenheit ist, ohne die der Geist nicht nach seinem Belieben in ihr handeln kann.« 37 See the German translation in: Le Saux/Abhishiktananda, Der Weg zum anderen Ufer, 70 sq., especially 71: »In diesem schweigenden Gebet sind alle Bitten enthalten, denn ein solches Schweigen erreicht den Ursprung selbst, in dem alle Dinge vom Vater im Sohn entspringen. Alle Anbetungen, alle Danksagungen sind in diesem Schweigen inbegriffen, denn es ist eins mit dem Schweigen des Vaters, in dessen Schoß das Wort ewig geboren wird; die einzige Herrlichkeit, die der Sohn für den Vater ist. Doch handelt es sich hier nicht um ein Schweigen, das man sich selbst auferlegt, sondern um ein Schweigen, das einem sozusagen ›das Selbst auferlegt‹, d. h. der Geist.« 38 See the German translation in: Le Saux/Abhishiktananda, Der Weg zum anderen Ufer, 71: »Auf jeden Fall sollten die spirituelle Disziplin und das asketische Leben den Menschen vor allem auf die Ruhe und den inneren Frieden vorbereiten, die ihn befähigen werden, ganz dem Geist zur Verfügung zu stehen.« 39 See the German translation in: Le Saux/Abhishiktananda, Der Weg zum anderen Ufer, 71 sq.: »Sie (sc. such a meditation) besteht vielmehr darin, den Geist auf irgendeine Weise auf jenen Punkt unseres Seins-Bewußtseins zu konzentrieren, auf unser Selbst, das dem ständigen Fluß der Zeit und dem Ablauf der Ereignisse, in deren Mitte wir uns befinden, entzogen ist, das jenseits von ihnen ist.« 36

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repetition of the divine name are helpful. 40 At the end, as the fulfilment of this preparatory path, only the »OM tat sat«, this »Being« remains and the pronounced OM disappears in the OM, which is pure silence. 41 The Christian would say, »It is the eternal awakening of the Son to the Father in the Advaita of the Spirit.« 42

2.3 Ehieh asher ehieh 2.3.1 The dictum of the Advaita doctrine in the Upanishads: Tat tvam asi – aham brahma asmi In the second chapter of his theological writing »Intériorité et révélation. Essais théologiques« 43 with the title »Ehieh asher ehieh« (i. e.: ego sum qui sum), Abhishiktananda identifies this most important Old Testament self-predication of God in Ex 3:14 with the most famous dictum of the Upanishads, which in Sanskrit reads as follows: »Tat tvam asi – aham brahma asmi«, that is to say: »That is you, I am Brahman«, that is the absolute. This dictum is the verbal expression of the genuinely monistic insight into the identity of one’s self – Atman – with the primordial one or the absolute – Brahman. Because the primordial one – Brahman – according to this Advaita doctrine of the Upanishads, that is, the doctrine of the non-duality of reality, shall be the only reality in general, the Self of man must be identical with the absolute and See the German translation in: Le SauxAbhishiktananda, Der Weg zum anderen Ufer, 72. 41 See the German translation in: Le Saux/Abhishiktananda, Der Weg zum anderen Ufer, 72: »Es bleibt nur OM; Om tat sat – ›Dieses, das Sein‹ – und das ausgesprochene OM verschwindet in dem OM, das reines Schweigen ist.« 42 See the German translation in: Le Saux/Abhishiktananda, Der Weg zum anderen Ufer, 72: »Der Christ wird sagen: ›Es ist das ewige Erwachen des Sohnes zum Vater im Advaita des Geistes.‹« 43 See Henri Le Saux/Swami Abhishiktananda, Intériorité et révélation. Essais théologiques, Paris 1982, chapitre 2 : Ehieh asher ehieh, 81–102. Hereinafter abbreviated to: »Le Saux/Abhishiktandana, Intériorité et révélation«. 40

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therefore the particular self is the absolute itself, it is therefore »aham brahmasmi«, »I am the absolute«. 2.3.2 Advaita doctrine and classical monism This Advaita doctrine of the Upanishads is a classical monism (in contrast to monotheism), which understands the absolute as the only reality in general, so that the world of appearing plurality has the character of an illusion or fiction. In Sanskrit this means Maya, that is to say, the veil that conceals the unique reality of the absolute. In short, the monism of the Upanishads should not be confused with a monotheism, that is, a belief in the existence of a single god, because monotheism, different to monism, does not regard the world of appearing plurality as an illusion or fiction, but as real, that means, as belonging to the objective reality. 1. Section: Tu es cela – the self-awareness (»ego-consciousness«) Let us return to our text of Abhishiktananda from his ›Theological Writings‹. It is divided into three sections; the first section is overwritten with the first part of the cited classical dictum, which expresses the Advaita doctrine of the Upanishads: »Tat tvam asi – tu es cela«, that is »that’s you«. From his quite monistic perspective Abhishiktananda equates the understanding of being in the Upanishads (Sanskrit: sat) with atman, that is to say, the self or the innermost spiritual soul of man. But he also takes into account the Western objection to such an identification, which states that the self of man according to vedantic understanding is impersonal and should be in a monistic concept, while the Judeo-Christian God has personality 44, so that an identification of the absolute of the Upanishads with the Jewish-Christian God is actually wrong. To this justified and legitimate (self-) objection, the text responds as follows:

See Le Saux/Abhishiktananda, Intériorité et révélation, 81: »Cependant, l’être, le sat, n’est-ce pas de l’abstrait ? Le Soi, l’ātman, n’est-ce pas de l’impersonnel ? Diront ceux d’Occident. Comment par cette voie parvenir au Dieu vivant et véritable, au Dieu d’Abraham, d’Isaac et de Jacob, au Dieu qui se révèle sur l’Horeb ?«

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Markus Enders

According to Abhishiktananda the self-awareness (»ego-consciousness«) of man is an usurpation and at the same time a demonstration of the absolute ego, that is of God; an usurpation, insofar the »I am« implies a complete self-determination or freedom, independence and self-sufficiency, and thus implies determinations or properties which are only given to the absolute itself; the selfawareness resp. the self-consciousness of man is at the same time a demonstration of God, because it is the most obvious sign in the being of the spirit-gifted creature for the existence of the living and personal God. 45 Therefore, the self-awareness is the most direct way for man to his creator, namely as the awareness of his being. 46 Consequently, the text argues, it is the highest antinomy that man can say »I am« and »I am not God« at the same time. But because the »I am« or self-awareness of man contradicts every limitation, nothing can be attributed to it, so that an individual »I am«, strictly speaking, is not more than an attribute of the unreal. 47 We see that Abhishtiktananda represents a monistic understanding of the selfawareness or self-consciousness of man, which is fundamentally different from our psychological understanding of each individual self-consciousness, but also of man’s transcendental self-consciousness. Of course, he does so to argue for the monistic Advaita doctrine so that he understands the »Aham brahma asmi«, »I am the

See Le Saux/Abhishiktananda, Intériorité et révélation, 82: »Et lorsque l’homme dit moi, aham, n’est-ce pas une usurpation ? Ou plutôt, dans le Je qu’il prononce, l’homme à la fois usurpe et prouve le divin. Et il n’est pas dans la créature de signe plus manifeste de Dieu, du Dieu vivant et personnel, que cette conscience de ›Je suis‹, fondamentale en tout être qui pense.« 46 See Le Saux/Abhishiktananda, Intériorité et révélation, 82: »Et il n’est sans doute pas pour l’homme de chemin plus directe vers son Créateur que cette plongée en sa conscience d’être, en cette conscience qu’il a d’être, et d’être soi-même, en cet abîme de l’être, où et que il est.« 47 See Le Saux/Abhishiktananda, Intériorité et révélation, 82 sq.: »L’antinomie suprême, n’est ce pas que l’homme puisse dire à la fois ›Je suis‹, ›moi‹, et ›Je ne suis pas Dieu‹ ? Cela à lui seul ne dénonce-t-il pas la condition informulable de l’être crée et l’impénétrabilité du mystère de la création ? ›Je suis ceci‹, ›je suis cela‹, dit l’homme ; et encore: ›Je ne suis pas ceci‹, ›je ne suis pas cela‹. A ›je suis‹ comment pourrait-il être un attribut, du moins un attribut réel, c’est-à-dire qui ne fût pas pure tautologie, un attribut qualificatif, limitatif ? L’attribut, c’est de ›l’irréel‹.« 45

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Swami Abhishiktananda/Henry Le Saux (1910–1973)

absolute«, expressly as a tautology. 48 So, whoever has experienced the deepest, most hidden point of his self-consciousness, has experienced the brahmanic ego or self and thus the absolute, because both are identical. 49 In doing so, Abhishiktananda tries to distinguish his monistic understanding of the self-awareness and of reality as a whole from a (crude) pantheism, according to which everything is God. In contrast, the monist says »nothing is out of God«, in other words: Abhishiktananda wants to avoid (crude) pantheism through a panentheistic relationship between God and the world, according to which reality as a whole is in God or in the absolute. 50 However, this suggestion for mediation must be countered by the fact that the strict monism of the Advaita doctrine, at least in its vedantic interpretation by Shankara, is not synonymous and congruent with panentheism, because the Advaita doctrine, in contrast to panentheism, assumes the unreality of the world of appearing plurality. 2. Section: Dieu tout autre qu’un autre – God and the experience of God In the second section titled »Dieu tout autre qu’un autre«, Abhishiktananda argues again with the conceptual definition of the non-alterity of God for the identity between the human self and the absolute. As an evidence for this, he quotes the Augustinian immanence statements, according to which God is the soul of my soul, the life of my life, and so on. These statements, however, do not claim identity between the human soul and God, but that God is the principle of form and movement of the human soul. According to Abhishiktananda, however, God or the absolute is the innermost of the human spiritual soul itself, so that there is no difference but pure identity between its essence or substance and the absolute. See Le Saux/Abhishiktananda, Intériorité et révélation, 83: »Aham brahma asmi (2), fut-il révélé aux Upanishads. Mais n’est-ce pas une tautologie ?« 49 See Le Saux/Abhishiktananda, Intériorité et révélation, 84. 50 See Le Saux/Abhishiktananda, Intériorité et révélation, 86: »Le Voyant seul n’est pas trompé. Non pas : ›Tout es Dieu !‹ comme dit le panthéiste, mais ›Rien n’est que Dieu !‹ Là où le profane ne voit que noms et formes vulgaires, là où l’initié adore une manifestation divine, l’›éveillé‹, ne saurait plus voir que Dieu.« 48

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Markus Enders

Because there is nothing else in the center of the ego than the ego, this ego must be at the same time the absolute itself, and therefore this ego must be quite different from each other, hence a non-aliud (to speak with Cusanus), that is to say, this ego must be without alterity and difference. Therefore, Abhishiktananda praises the depth of the ego or the soul, in which the inexpressible, eternal self-awareness of man shall be found. 51 Therefore, God is the hidden unity that rests inside or in the ground of the human spiritual soul or the human self. This results in the primary task for man to withdraw himself into his inwardness to encounter the divine unity there or to experience his own identity with it. 52 Therefore, man must enter silence and perfect rest before God, becoming lone and free from everything in will and thought. 53 Abhishiktananda does not want to call this unity-experience an identity (like the logicians) nor a pantheism (like the theologians), but simply a non-duality like the sighted (Advaita), that is, those who have entered the mystery of the ground. 54 There the inexpressible and eternal dialogue between the divine Father and his divine Son takes place. 55 This statement corresponds to the doctrine of Christian mysticism that in the ground, that is to say, in the innermost of the human spiritual soul, the triune God himself is actually present and realizes its trinitarian self-knowledge and See Le Saux/Abhishiktananda, Intériorité et révélation, 90. See Le Saux/Abhishiktananda, Intériorité et révélation, 92: »L’œuvre primordiale de l’homme est de rentrer au-dedans, afin de s’y rencontrer soimême. Qui ne s’est rencontré soi-même en soi-même a-t-il jamais rencontré Dieu ?« 53 See Le Saux/Abhishiktananda, Intériorité et révélation, 93: »L’homme doit se résigner à se taire devant Dieu, à ne plus lui parler, à ne plus le prier, à ne plus l’adorer; alors seulement son adoration et sa prière seront pures. Dieu est pur kevala (sc. Celui qui est ›seul‹, l’isolement suprême de l’unité). Le silence seul le loue, le silence qui n’est même plus un regard, mais le suprême shûnyatā, ›la Vacuité essentielle‹.« 54 See Le Saux/Abhishiktananda, Intériorité et révélation, 93: »Identité alors ? demanderont les logiciens. Panthéisme, définiront les théologiens. A-dvaita, simplement non-dualité, suggéreront respectueusement les ›voyants‹, ceux qui ont pénétre au secret du fond.« 55 See Le Saux/Abhishiktananda, Intériorité et révélation, 93: »Car alors, dans la pureté retrouvée, émergera au sein du fond l’ineffable et éternel dialogue du Fils et du Père.« 51 52

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Swami Abhishiktananda/Henry Le Saux (1910–1973)

self-love. Christian mysticism would also agree with Abhishiktananda’s interpretation of the spiritual unity-experience that there is a non-duality between God and human mystic at the mystical level of experience, but Christian mysticism would not agree with the monistic interpretation of that experience in the Vedanta doctrine. Abhishiktananda seems to agree indirectly with this conceptual distinction between monistic and monotheistic interpretation of the spiritual unity-experience insofar as he does not claim to have a metaphysical interpretation of the spiritual unity-experience, but rather wants to speak only experience-relatedly. Nevertheless, his substantive equations between the self-predication of God in Ex 3:14 and the vedantically, that is, monistic interpreted experience of the unity of »Tat tvam asi – aham brahma asmi«, are problematical in their hermeneutic sense, because they strictly violate the self-understanding of both positions. Because the God who encounters Moses at the burning bush, presents himself there with the divine name of the »Ehieh asher ehieh« as the unavailable, unchangeable, absolutely reliable and faithful covenant partner of the human being, not as the only truly existing primordial one of the Upanishads with which man is one and should realize his identity with it in his innermost soul. And the world of the appearing plurality as well as the historical mode of existence of man are for the Judeo-Christian religiosity also no illusion, no veil, which hides the truth of the absolute reality of the absolute, but the real existing habitat of man, in which man has to prove its worth to the best of his ability by the grace of God to achieve his ultimate, otherworldly purpose. In this context salvation is not achieved for man by his self-induced insight or knowledge (of one’s own identity with the only reality of the absolute), as in the tradition of Vedanta, but rather a salvific act of God given to him unavailably, which man can existentially accept or reject. These fundamental differences between Hindu-Vedantic and Judaeo-Christian religiosity still remain. And yet Abhishiktananda has discovered and broached a common dimension of experience between the radically spiritual, hence immediate, or mystical experience of God in Christianity and the unity-experience of the Upanishads, which is deeper than the mentioned differences between these religious traditions. And this com299 https://doi.org/10.5771/9783495825372 .

Markus Enders

mon spiritual dimension of experience seems to be the unique point of Abhishiktananda’s spirituality. 3. Section: L’Inde et le Mystère de l’Être – the present moment In the third and last part of his text, entitled »L’Inde et le Mystère de l Être« (»India and the Mystery of Being«), Abhishiktananda describes this shared dimension of experience in more detail: What the spiritual India ultimately seeks is the pure or naked awareness of being or the absolute purity of the act of being itself, to which nothing can be attributed, which is therefore absolute unity. 56 Therefore, the seeing of the Indian sage is directed to this one, unique, inner reality, which is intrinsically inherent in all things, 57 directed to the mystery of the ego and the self (Soi), directed to the mystery of the only one who is (celui qui est). 58 For Abhishiktananda applies: While the attention and action of the West is determined by the future, the Indian sage is filled with the present, the sacrament of the present moment, because it is the present moment alone that can give us God. It is the constant presence of the act of being that attracts all the attention of the Indian sage. In this awareness of the pure being (kevala), the Indian sage achieves a constant contentment or an unwavering inner peace, because he has become one with the only One. 59 See Le Saux/Abhishiktananda, Intériorité et révélation, 97: »Ce que l’Inde cherche, c’est la nue conscience d’être qui est l’acte d’être lui-même, à qui nul attribut n’est attribuable.« 57 See Le Saux/Abhishiktananda, Intériorité et révélation, 97: »Le sage ne voit plus les différences […] – mais d’abord et essentiellement parce qu’en tout il est désormais incapable de voir autre chose que le dedans, cet unique sein de l’unique fond, inhérent à tout, essential à tout […].« 58 See Le Saux/Abhishiktananda, Intériorité et révélation, 99: »Pour lui, il est entièrement fixé au mystère du Moi et du Soi divins, au mystère de Celui qui est.« 59 See Le Saux/Abhishiktananda, Intériorité et révélation, 101 sq.: »La conscience d’être, c’est la ruine de la conscience d’être ceci ou cela. La notion ›je suis ceci ou cela‹ disparaît définitivement quand luit, au centre de la crypte du cœur, le JE suprême (aham kevalam mātram), à la façon dont s’évanouit au matin la lumière réfléchie de la lune, fût-elle en son zénith, lorsqu’á l’horizon apparaît le soleil, svaprakāsha, celui qui par soi-même resplendit. Simplement être, sat. Et dans cette nudité d’être (kevala), la conscience et la félicité (cit et ānanda), le mystère du connaître et de l’amour se révèlent …« 56

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Swami Abhishiktananda/Henry Le Saux (1910–1973)

By the way, in the context of the Christian tradition Meister Eckhart teaches a similarly radical oneness between God and man in and through the mystical experience as Abhishiktananda does, although only in relation to the so-called soul-ground of man, whose other being remains creaturely even after the unio mystica according to Meister Eckhart.

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Diskussionen

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Christoph Böhr

Philosophie und Mystik – Wissenschaft als Lebensform

Vergleichbar zwei Säulen, die ein sich über ihnen aufspannendes und von ihnen gehaltenes Netzgewölbe tragen, ruht die hier anzuzeigende Sammlung von Beiträgen 1 auf den beiden Aufsätzen von Rolf Darge und Martin Thurner, die am Beginn und am Ende des Buches stehen: Darge öffnet im Aufgang aller nachfolgenden Überlegungen die Tür, durch die der Leser den Raum einer außerordentlich spannenden, ja existentiell berührenden Reflexion betritt, die er dann am Ende im Ausgang von Thurners Abschlussbetrachtung wieder verlässt. Wie jedes Sprachbild, so hinkt auch dieses gerade gezeichnete Bild: Denn von einem Verlassen des Raumes der Reflexion am Ende der Lektüre kann eigentlich gar keine Rede sein, zielt ihr Thema doch gerade auf eine grundlegende Umgestaltung wissenschaftlichen Fragens und menschlichen Lebens – eine Umgestaltung, die das Buch anzustoßen geeignet ist, ohne dass diese täglich neu sich stellende Aufgabe je – geschweige denn mit dem Ende der Lektüre des Buches – als abgeschlossen betrachtet werden kann. Darge, Philosoph an der Universität Salzburg, eröffnet den Reigen von Überlegungen in einer Weise, wie man das besser nicht tun kann: »Theorie als Lebensform« überschreibt er (S. 11–37) seinen Aufsatz, der sich mit den Forschungen des großen französischen Gelehrten Pierre Hadot über das antike Selbstverständnis von Philosophie als »exercice spirituel« – ein nur schwer ins Deutsche zu übersetzender Begriff, sinngemäß kann man vielleicht sagen: eine spirituelle, geistig-geistliche Übung – auseinandersetzt. Darge korrigiert mit seinem Aufsatz einen Irrtum Hadots, der behauptete, die Johannes Schaber u. Martin Thurner (Hrsg.): Philosophie und Mystik – Theorie oder Lebensform?, Freiburg i. Br. u. München 2019.

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Christoph Böhr

genannte antike Tradition sei durch die christliche »intellektualistische« Sicht des Hochmittelalters, insofern diese Philosophie als bloß rationalen Diskurs verstanden habe, zu Grabe getragen worden. Besonders im Rückgriff auf Boethius kommt Darge zu einem ganz anderen Ergebnis, wenn er schreibt: Im Hinblick auf das 13. Jahrhundert erscheint Hadots Sicht auf den Theoretisierungsprozess der Philosophie im Mittelalter als zu pauschal: Das Ideal der Philosophie als Lebensform gerät in dieser Zeit nicht, wie Hadot annimmt, in Vergessenheit, und es ist nicht der Aufstieg des Christentums, der, wie Hadot annimmt, den Theoretisierungsprozess der Philosophie bewirkt. (S. 26) Gleichwohl leugnet auch Darge diese zum Theoretischen – heute würde man vielleicht sagen: zum Theoretisieren – sich wendende Veränderung im Selbstverständnis der Philosophie im 13. Jahrhundert keineswegs; diese Wende jedoch hat ihren Grund nicht in einem Diktat des Christentums als der im europäischen Hochmittelalter dominierenden universitären Doktrin, sondern in der zunehmenden Vorrangstellung der Naturwissenschaften, wie sie vor allem durch die Wiederentdeckung der aristotelischen Schriften ausgelöst wird. (S. 27) Darge schließt seine Überlegungen mit einer bemerkenswerten gegenwartsbezogenen Feststellung: Philosophie als existentielle Wahl und Lebensform zu erneuern, bedeutet heute, »die Abstraktion von christlichen Glaubensannahmen und Zielvorstellungen auch existentiell zu vollziehen, sie also von einer methodischen Abstraktion in einen realen Ausschluss zu verwandeln.« (S. 35 f.) Über diese Konklusion – ihre Begründung, ihre Stichhaltigkeit und ihre Folgen – wird man vertiefend – auch im Für und Wider – reden müssen. Entlassen wird der Leser mit dem Beitrag Thurners, Philosoph am Martin-Grabmann-Institut, München, und gemeinsam mit Johannes Schaber Herausgeber der Aufsatzsammlung über »Pathos und Mathesis«, näherhin: über mystische Theologie als Form ursprünglichen Philosophierens. (S. 232–250) Thurners Beitrag zeichnet sich auch dadurch aus, dass er wichtige, geradezu grundlegende Einsichten über das, was »Philosophie« überhaupt ist und sein kann, enthält; ausgehend von der Unterscheidung zwischen Mathesis – dem theoretischen Erkennen – und Pathos – dem affektiven Erleben – wird, im Anschluss an Dionysios den Areopagiten, 306 https://doi.org/10.5771/9783495825372 .

Philosophie und Mystik – Wissenschaft als Lebensform

deren wechselseitige Verwiesenheit auf eine eindrucksvolle Weise beschrieben: affektives Erleben und rationale Reflexion sind aufeinander bezogen, wobei gilt: Ohne das Pathos des Erstaunens würde es das theoretische Denken gar nicht geben können; Ersteres ist nichts Geringeres als der Ursprung des Letzteren. (S. 242) Denken ohne die Urzündung des Erstaunens über das Erstaunliche kann es nicht geben; aber bei der pathischen Stimmung des Erstaunens kann und darf es nicht bleiben, weil diese zutiefst von einer Ambiguität – sie ist anziehend und abstoßend zugleich – geprägt ist. Und so hat das Denken die ihm von seinen Ursprüngen an zugewiesene Aufgabe, eine formende Eingrenzung des grenzenlos überwältigenden Erlebensstromes zu sein. (S. 245) Apollinisch und dionysisch nannte Friedrich Nietzsche diese beiden Weisen des Wirklichkeitszuganges. Thurner erklärt: Einerseits »bedarf das Denken der emotionalen Erfahrung als seines Beweggrundes und darf diesen nicht vergessen oder verdrängen, andererseits muss dieser pathische Ursprung rational geformt werden, weil er in seiner Reinform für den Menschen nicht zu bewältigen ist.« (S. 248) Philia und Sophia, Affekt und Intellekt, müssen zu einer Einheit finden: der Philosophie eben. (S. 248) Und dem Leser stellt sich die Frage: Wie weit haben wir uns heute von einem vergleichbaren Selbstverständnis der Philosophie doch entfernt! Ausnahmslos lesenswerte, kluge Aufsätze füllen den Zwischenraum, der sich von Darge bis Thurner aufspannt: Wolfgang Speyers Beitrag (S. 39–57) über die Einheit von theoretischem Denken und kontemplativer Lebensform – mit einem wichtigen Blick auf die christlichen Ordens- und Mönchsgemeinschaften und ihre Vorläufer, die antiken Philosophenschulen, die diskursives Denken mit einer sittlichen Lebensform verbanden; Paul D. Hellmeier (S. 57– 81) untersucht das Verhältnis zwischen Spekulation und Praxis bei Meister Eckhart – unter der schönen Überschrift: »Der ›Lesemeister‹ als ›Lebemeister‹« – und Johannes Herzgsell (S. 81–103) deutet – auf eine nicht anders als imposant zu nennende Weise – die cartesischen Meditationen im Spiegel ignatianischer Spiritualität, indem er die philosophische Praxis von Descartes in eine wechselseitige Beziehung zu den meditativen Exerzitien des Ignatius von Loyola setzt; Lioba Fau (S. 103–120) widmet sich – auch unter Bezugnahme auf eigene Erkenntnis- und Lebenserfahrungen – dem Im307 https://doi.org/10.5771/9783495825372 .

Christoph Böhr

materialismus George Berkeleys als einer »Lebensform«, während Johannes Schaber (S. 121–146) eine Zusammenführung antiker Anthropotechnik und monastischer Theologie unternimmt; Peter Sloterdijk (S. 147–153) schließlich verfolgt den Weg des Denkens zurück in die Vergangenheit und baut eine Brücke von der modernen Anthropotechnik, zu der er bekanntermaßen selbst maßgebliche Beiträge geleistet hat, hin zur monastischen Theologie. Das alles ist sehr aufschlussreich, spannend und mit einem wirklich großen Gewinn zu lesen. Die genannten Aufsätze bilden den ersten Teil des Buches unter der Überschrift: »Philosophie – theoretische Wissenschaft oder kontemplative Lebensform«; der zweite Teil – »Theologia mystica: Erfahrung oder Theorie?« – umfasst eine Untersuchung über Affekt und Rationalität bei Anselm von Canterbury aus der Feder von Christian Schäfer (S. 155–174); Isabella Mandrella (S. 175–192) schreibt über Mystikerinnen des Mittelalters als »philosophierende Frauen zwischen Intellekt und Affekt«, Johannes Kreuzer (S. 215– 231) über Mystik-Begeisterung und Mystik-Kritik im Deutschen Idealismus, sowie schließlich William J. Hoye (S. 193–214) über die mystische Theologie des Nicolaus Cusanus; Hoye, seit langem ausgewiesener und anerkannter Fachmann für die Philosophie des Cusaners, beschreibt dessen in jeder Hinsicht eindrucksvolles Ringen mit einer Frage, die ihm 1452 von den Mönchen am Tegernsee vorgelegt worden war – ganz nebenbei bemerkt: zu einer Zeit, als sein eigenes Brixener Domkapitel ausnahmslos aus Analphabeten bestand, während der deutschsprachige Abt aber mit völliger Selbstverständlichkeit seine Korrespondenz mit dem deutschsprachigen Kardinal in Latein führte –; über die Frage nämlich, ob eine gottergebene Seele ohne Vernunfterkenntnis, allein durch den Affekt, Gott erreichen kann. (S. 194) Hoye entfaltet – vor dem Hintergrund der ganzen ihm eigenen stupenden Kenntnis der philosophischen und theologischen Tradition – die Facetten mystischer Theologie, die Cusanus vor Augen standen, um sodann zur Konklusion des cusanischen Verständnisses hinzuführen, das die Lösung des Problems der Mathematik entleiht, wenn nämlich Gott von ihm zum ersten Mal die »absoluta infinitas« (S. 214) genannt wird: Das Einzige, was wir über Gott wissen, ist, dass er die Unendlichkeit selbst ist – eine Unendlichkeit, die alle Gottesnamen übersteigt. 308 https://doi.org/10.5771/9783495825372 .

Philosophie und Mystik – Wissenschaft als Lebensform

Cusanus schreibt entsprechend im »Trialogus de possest«: »Zu dir, Gott, der du die Unendlichkeit bist, kann nur derjenige herantreten, dessen Vernunft im Nichtwissen ist, das heißt, der weiß, dass er, was dich betrifft, ein Nichtwissender ist … Gerade weil du die Unendlichkeit bist, weiß die Vernunft um ihr Nichtwissen.« (S. 214) Ohne diese »Vernunft im Nichtwissen« gibt es keinen Aufstieg des Denkens zu Gott. Für diese Aufsatzsammlung muss man der Bayerischen Benediktinerakademie und dem Martin-Grabmann-Institut – den Veranstaltern von zwei Tagungen, auf die alle Beiträge des Buches zurückgehen – zutiefst dankbar sein. Allmählich beginnt – meist in der Nachfolge Hadots – ein neues Nachdenken auch im deutschsprachigen Raum, ob Philosophie sich im – dem heutigen Wortsinn nach – Akademischen erschöpft, oder ob sie nicht allmählich doch besser ihr ursprüngliches Selbstverständnis als Praxis – als Lebensformgebung – wiederentdecken sollte. Wie mir erscheint, eröffnet der von Schaber, dem Abt der Benediktinerabtei Ottobeuren, gemeinsam mit Thurner herausgegebene Band hierzulande eine Debatte, die längst überfällig ist und reiche Frucht bringen kann im Sinne einer Umgestaltung von Denken und Leben in ihrer wechselseitigen Bezogenheit. Jedenfalls wird dieses Buch einigen Nachhall finden müssen – als großartiger Einstieg in eine jetzt und künftig vermehrt zu führende Auseinandersetzung, die den Kern dessen berührt, was Philosophie ist – und ihren wiederzuentdeckenden Möglichkeiten nach sein könnte und sein sollte. Den Band zeichnet zudem eine Homogenität in der Komposition der Beiträge aus, wie man sie bei vergleichbaren Aufsatzsammlungen heutzutage nur selten findet. Alles in allem kann man sagen: Dieses Buch ist – so wünscht es sich der Rezensent – der hoffnungsvolle Auftakt zu einer Selbstvergewisserung philosophischer Reflexion, an deren Ende vielleicht eine Revision ihres Selbstverständnisses stehen könnte.

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Heinrich Beck

Coronavirus – Ansteckungsgefahr durch geweihte Hostie?

Im Zusammenhang der Corona-Krise erhebt sich die Frage, ob nicht die Hostie durch ihre sakramentale Weihe die Kraft gewinnt, alles Üble zu überwinden, so dass sie bei ihrem Empfang das Virus nicht übertragen könnte. Zur Klärung dieses für das christliche Leben höchst wichtigen Problems sind einige Gesichtspunkte zu bedenken, durch die der Zugang zur Eucharistie und zum Charakter von Religion eine philosophische Fundierung gewinnt. 1. Grundlegend ist an der geweihten Hostie die Unterscheidung von Substanz und Akzidens. Für den gläubigen Christen ereignet sich durch die Konsekration eine Wesensverwandlung der Hostie: Das heißt: Sie ist ihrer verborgenen »Sub-stanz« nach nun Jesus Christus, hat aber sichtbare Beschaffenheiten des Brotes; diese sind zur Substanz hinzu-kommende, »ak-zidentelle« Eigenschaften. 2. Ebenso wie durch die Konsekration an der Hostie bzw. am Brot eine Verwandlung geschieht, so auch – im korrespondierenden Sinne – an der Person Christi; das Brot erhält eine neue Substanz, die Person Christi neue Akzidentien. An die Stelle der Substanz des Brotes tritt die Person Jesu und diese nimmt die sichtbaren Eigenschaften des Brotes, die Gestalt der Hostie an. Die Eigenschaften des Brotes treten aber nicht wie von außen zur Person Jesu hinzu, sondern entsprechen dem inneren Sinn seiner Menschwerdung: Er will unser Brot sein – aber nicht in einem peripheren Sinne, sondern »unser Brot zum ewigen Leben«, und damit ist die geweihte Hostie Brot in einem noch viel wahreren Sinne, erfüllt sie die Sinnbestimmung von »Brot« als Lebensquelle erst voll und ganz. 3. So kann die Intention der Menschwerdung Jesu deutlich hervortreten. Aus Liebe »entäußert sich der Ewige Logos seiner Gott310 https://doi.org/10.5771/9783495825372 .

Coronavirus – Ansteckungsgefahr durch geweihte Hostie?

heit« (Paulus); er tritt aus seiner Gottheit heraus und wird Mensch. Er geht dann auch noch aus der natürlichen Erscheinungsweise seines Menschseins heraus und nimmt die Gestalten von Brot und Wein an, über die er aussagt: »Dies ist mein Leib, dies ist mein Blut!«. Dabei tritt er unbegrenzt in Raum und Zeit heraus, damit alle Menschen an jedem Ort und zu jeder Zeit aus ihm leben können; er breitet gewissermaßen bedingungslos seine Arme aus und macht sich mit der gefallenen Welt eins, um mit ihr zusammen zu seinem göttlichen Ursprung zurückzukehren. 4. Was bedeutet das für unser Problem, die heilende und zugleich möglicherweise Unheil übertragende Kraft der geweihten Hostie? Die Viren hängen sich nicht an die Substanz, sondern an die Akzidentien der Hostie, das heißt an ihre räumliche Ausdehnung und Gestalt. So könnten sie durch physischen Kontakt übertragen werden. 5. Der Unterschied der substantiellen und der akzidentellen Ebene des Seins ist umfassend: Wenn eine geweihte Hostie gebrochen wird, so befindet sich nicht etwa unter einem Hostienteil der Oberkörper Jesu mit den Armen, unter dem anderen Teil der Unterkörper mit den Beinen, sondern unter jedem Teil der ganze Jesus. 6. Ebenso: Die Bruchteile bei der geweihten Hostie bedeuten nicht mehrmals die Person Jesu; diese wird nicht vervielfältigt. Sondern alle, denen die geweihte Hostie gereicht wird, empfangen den einen und identischen Jesus – und das ist ein großes Geheimnis für jeden Christen. 7. Der genannte Unterschied der Seinsebenen betrifft auch noch andere Bereiche: Beim Weihwasser zum Beispiel ist zu unterscheiden: a) der Gottbezug seiner Substanz, das heißt die segnende Kraft der Substanz, die durch die Weihung des Wassers verliehen wird, und b) das räumliche Äußere, an das sich Viren anheften können. Von daher kann sich abschließend ein philosophisch-theologischer Blick auf die Natur der Wirklichkeit öffnen. Sie erscheint nach einer kreisenden Bewegung angelegt. Sie wurzelt im Unsichtbaren, geht aber aus diesem heraus und setzt sich der Sichtbarkeit aus, um das Seiende in seinen verborgenen Ursprung heimzuholen. Damit 311 https://doi.org/10.5771/9783495825372 .

Heinrich Beck

weist sie zutiefst auf das Mysterium des trinitarischen Gottes hin, der eine Lebensbewegung darstellt: Denn, wie es im Prolog des Johannes-Evangeliums heißt: Gott spricht sich in sich selbst aus, setzt sich in seinem inneren Wort, dem Ewigen Logos, sein Wesen gegenüber und konstituiert so einen geistigen Be-gegnungsraum mit sich selbst, den er mit dem Geist gegenseitiger Liebe erfüllt. So vollführt er in sich eine ewige Bewegung aus sich heraus und in sich hinein. Alle Ereignisse sind in dieses Grundgeschehen eingebettet. Einige Beispiele: Der kosmische Raum befindet sich, wie die Naturwissenschaft erkannt hat, in fortgesetzter Expansion und erfüllt sich mit schwerer Masse; die Lebewesen entfalten sich beim Wachstum aus einer urprünglichen Zelle in eine Vielzahl von Teilen und Gliedern, womit sie als Einheit in sich Stand fassen; und für die sich immer weiter in Gegensätzen differenzierende Menschheit ist das Gelingen von Einheit in einem »kreativen Frieden« längst zum Überlebensproblem geworden. In diese rhythmische Bewegung, die vom göttlichen Grund geprägt ist und auf ihn hinweist, ist der Mensch durch die Eucharistie tief einbezogen. Indem er sich an den bei ihm einkehrenden Jesus hingibt, kann er in der Erfahrung seines schöpferischen Grundes eine freiere Identität gewinnen. In der Perspektive ist zu fragen, inwieweit angesichts der Corona-Krise der Kommunionempfang bei entsprechenden Sicherheitsvorkehrungen nicht ein »sinnvolles Wagnis« darstellt.

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Markus Enders

Über die Liebe als Prinzip. Zu Heinrich Becks philosophischem Entwurf der Liebe als des universellen Seins-, des Erkenntnis- und des (normativen) Handlungsprinzips

Diese in ihrem Umfang überschaubare Monographie mit dem Titel Das Prinzip Liebe. Ein philosophischer Entwurf (100 S., Verlag Peter Lang, Berlin 2018) stellt ein Alterswerk des Bamberger Philosophen Heinrich Beck (Jahrgang 1929) dar, das daher wesentliche Einsichten seines Metaphysik, Erkenntnistheorie, philosophische Anthropologie, Kulturphilosophie und philosophische Ethik umfassenden Denkens in sich vereinigt und weiterführt. Es behandelt daher die Liebe nicht etwa als einen Gegenstand phänomenologischer Forschung, sondern in einem ersten Kapitel als ein Seinsprinzip, in einem zweiten Kapitel als ein Erkenntnisprinzip und in einem dritten und letzten Kapitel als ein Prinzip der sittlichen Qualität des menschlichen Handelns und Verhaltens. Weil der Verfasser (im Folgenden abgekürzt mit »Vf.«) die Liebe mit dem anspruchsvollen philosophischen Hoheitstitel eines »Prinzips« versieht, definiert er in der Einleitung zu seiner Monographie ein »Prinzip« ausdrücklich als »dasjenige, woraus etwas hervorgeht: ein Seiendes, eine Erkenntnis oder ein Handeln.« (S. 7). Demnach soll die Liebe der erste Grund, sozusagen die prima causa, sowohl des Seins bzw. der Wirklichkeit als auch der menschlichen Erkenntnis und schließlich auch der sittlichen Qualität des menschlichen Handelns und Verhaltens sein. Dabei stellt der Vf. das »Prinzip Liebe« zunächst in eine Reihe mit zwei weiteren Prinzipien, mit dem von Ernst Bloch konstatierten »Prinzip Hoffnung« (vgl. Ernst Bloch, Das Prinzip Hoffnung, Berlin 1954) und mit dem von Hans Jonas programmatisch formulierten »Prinzip Verantwortung« (Hans Jonas, Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technische Zivilisation, Frankfurt a. M. 1979), um dann zu zeigen, dass diese beiden Prinzipien 313 https://doi.org/10.5771/9783495825372 .

Markus Enders

einen nur abgeleiteten und deshalb inferioren Prinzipcharakter für personales Handeln besitzen, weil beiden das »Prinzip Liebe« bestimmend zugrunde liege (vgl. S. 9). Ist diese Behauptung überzeugend? Zur Klärung dieser Frage müssen wir allerdings noch grundsätzlicher vorgehen und uns mit dem Vf. zunächst fragen, in welchem philosophischen Sinne dieses Wortes Ernst Bloch und Hans Jonas Hoffnung bzw. Verantwortung als ein Prinzip verstehen, bevor wir sein Verständnis von Liebe in eine Verhältnisbestimmung zu Hoffnung und Verantwortung setzen können. Ernst Bloch versteht, wie der Vf. zu Recht hervorhebt (vgl. S. 7), Hoffnung bzw. dessen materielles Analogon im Sinne einer dynamischen Ausrichtung auf immer mehr Verwirklichung hin gleichsam als ein Seinsprinzip, genauer als einen Ermöglichungsgrund für alles Wirkliche, und sieht diesen bereits in der natürlichen Evolution am Werk, deren »dialektische Spannung« »zwischen der unbegrenzten Möglichkeit, die die Materie darstellt, und ihrer stets nur begrenzten Verwirklichung in den Formen des Seins und des Lebens unter den Bedingungen von Raum und Zeit« (S. 7) ihre Fortsetzung sowohl im Bereich der Technik als auch in der kapitalistischen Klassengesellschaftsordnung finde, deren innere Widersprüchlichkeit zwischen der ihr eigenen Ausbeutung und Unterdrückung auf der einen und dem Bedürfnis der menschlichen Natur nach universeller Gerechtigkeit und Humanität auf der anderen Seite das menschliche Handlungsprinzip der Hoffnung auf einen »kreativen Sprung« hin zu einer höheren Form von Menschlichkeit und Freiheit in einer sozialistischen Gesellschaftsordnung in sich trage (vgl. S. 8). Die Erfahrung des geschichtlichen Scheiterns dieses »Prinzips Hoffnung« angesichts des destruktiven Potentials der modernen Technik für den Fortbestand der Menschheit sowie des Lebens auf unserem Planeten aber habe den Nährboden für dessen Ablösung durch das »Prinzip Verantwortung« als den neuen kategorischen Imperativ in Hans Jonas’ normativer Ethik für das Zeitalter der technischen Zivilisation bereitet. Konkret könne und müsse diese Verantwortung durch eine antizipatorische Technik-Folgen-Abschätzung wahrgenommen werden. Diese stehe daher genauso wie das Prinzip Hoffnung bei Ernst Bloch im Dienst des für die Menschheit und in diesem Fall darüber hinaus auch für den ganzen Planeten Überlebensnotwendigen und somit Guten. 314 https://doi.org/10.5771/9783495825372 .

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Daran aber werde sichtbar, dass sich diese beiden Prinzipien – das der Hoffnung und das der Verantwortung – auf das sie begründende Prinzip der Liebe zurückführen lassen, denn der Begriff der Liebe könne in einem umfassenden Sinne als eine allgemeine Ausrichtung auf das Gute verstanden werden, in dem dessen engerer Sinngehalt als »die Hinneigung zu einer Person mit dem Willen, ihr Gutes zu tun und sich mit ihr zu vereinigen« (S. 8), aufgehoben sei. Daher gingen die Hoffnung und die Verantwortung mit ihrer jeweils konkreten Ausrichtung auf ein zukünftiges Gut aus der Liebe hervor bzw. »sie ergeben sich als Forderung der Liebe« (S. 9). Da der Vf. das allgemeine Gute, auf welches die Liebe ausgerichtet ist, im metaphysischen Sinne dieses Wortes als den göttlichen, raum- und zeitfrei existierenden und zugleich sich mitteilenden Seinsgrund der Wirklichkeit im Ganzen versteht (vgl. ebd.), begründe sich die Hoffnung des Menschen aus dessen Kooperationsbereitschaft mit diesem absoluten Guten bzw. dieser vollkommenen Liebe, die »in der Evolution und in der Geschichte wirksam« (ebd.) sei, und erschließe sich zugleich eine »dialogische Dimension von ›Verantwortung‹ : Der Mensch erlebt sich unter einem permanenten Anruf, einer Herausforderung, der er zu antworten hat« (ebd.). Und da diese dialogische Verantwortung bzw. »Pflicht zur Öffnung gegenüber der göttlichen Seinsquelle« (S. 10) angesichts der technischen Möglichkeiten zu einer Überlebensfrage der Menschheit geworden sei, profiliere sich »der Begriff von ›Liebe‹, der in der Hoffnung und im Verantwortungsbewusstsein lebt: Sie besagt nicht nur ein Gefühl, sondern vor allem eine bewußte, auf das Gute ausgerichtete Haltung, die sich in Handlungen verwirklicht« (ebd.). Die Liebe als Seinsprinzip behandelt der Vf. in insgesamt fünf Schritten, und zwar erstens als schöpferischen Grund allen Seins; zweitens wirft er die Theodizeefrage nach der widerspruchsfreien Vereinbarkeit der theistischen Annahme der Existenz eines allmächtigen und damit auch allwissenden sowie eines vollkommen guten Schöpfergottes mit den verschiedenen Formen des Übels einschließlich des Bösen in dieser Welt auf; drittens versucht er einen Aufweis der Liebe »als d[es] Aufbauprinzip[s] des Seienden und der Seinsordnung« (S. 11); viertens sucht er Ehe und Familie als natürliche »Urverkörperung der Liebe und als Keimzelle des Lebens« (ebd.) zu erweisen; und fünftens bestimmt er die umgebende Hei315 https://doi.org/10.5771/9783495825372 .

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mat als die Geborgenheit und Hoffnung stiftende »Einheit von Gemeinschaft, Kultur und Natur« (ebd.), die zugleich »der Ort von Religion« (ebd.) sei. Im Ausgang von einem naturwissenschaftlichen Grundbegriff von Evolution als »zeitliche Sukzession vom Einfacheren und ›Niedrigeren‹ zum Komplexeren und ›Höheren‹« (ebd.) und damit als »voranschreitende ›Selbststeuerung‹ oder ›Selbstorganisation‹ der Materie« (S. 12) und einer Erläuterung der qualitativen Steigerung des Einheits- und des Vollkommenheitsgrads der Evolution von ihren Anfängen in der anorganischen Materie über die belebte Materie der Pflanzen und das sinnliche Bewusstsein der Tiere bis hin zum Selbstbewusstsein und zur Selbstbestimmungsfähigkeit der menschlichen Person stellt der Vf. ausdrücklich die »philosophische Frage nach der Seinsgrundlage der Evolution« (ebd.). Weil die Materie nur die »Möglichkeitsgrundlage« (S. 14) der in der Weltwirklichkeit entstehenden Seinsformen sei, ergebe sich, dass die »in der Welt zunehmende Sinnfülle […] als Quelle ein transzendentes Sein« (ebd.) verlange. Diese Schlussfolgerung scheint mir allerdings ebenso wenig beweiskräftig zu sein wie die folgende, zumal sie einen unausgewiesenen Sinnbegriff in Anspruch nimmt: Die Existenz der Welt könne nicht aus dem Nichts kommen, sondern sie weise »auf einen umfassenden transzendenten Seinsgrund hin, aus dem her die Existenz der Welt in aufsteigender Fülle laufend zuströmt, im Sinne einer ›creatio continua‹« (ebd.). Bei diesem Schluss wendet der Vf. den metaphysischen Grundsatz an, dass etwas Reales wie die Existenz der Welt einen real existierenden Grund besitzen müsse und deshalb nicht aus dem Nichts kommen könne. Dabei setzt er unbewiesen voraus, dass diese Welt einen Anfang ihrer Existenz besitzt. Aber selbst unter Voraussetzung der Gültigkeit der Annahme eines Anfangs für diese Welt ist damit noch keineswegs erwiesen, dass und inwiefern dieser von ihr verschiedene, real existierende Grund dieser Welt transzendent im Sinne eines überweltlichen Absoluten sein müsse. Dann nimmt der Vf. de facto das sog. metaphysische Kausalitätsprinzip in Anspruch, dem zufolge in der Seinsursache das aus ihr Hervorgehende »irgendwie voraus-enthalten sein« (ebd.) müsse, so dass diese erste Seinsquelle als Ursache auch für personales Sein Gott »im Sinne eines unbedingten personalen Seienden« (ebd.) sein müsse. Dieser 316 https://doi.org/10.5771/9783495825372 .

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intendierte Gottesbeweis des Vf.s im Erkenntnisbereich der theoretischen Vernunft wird aus den genannten Gründen einen NichtTheisten allerdings nur schwerlich überzeugen können. Gleiches gilt für seinen anschließenden Versuch eines Gottesbeweises im Erkenntnisbereich der praktischen Vernunft. Denn dass die im Gewissen des Menschen erfahrbaren – vorausgesetzt, solche Erfahrungen seien für jeden Menschen möglich, woran man mit einem Blick auf die Realität menschlichen Wollens und Verhaltens allerdings zweifeln kann – kategorisch und damit unbedingt gebietenden moralischen Forderungen nach einem moralisch guten Verhalten »im Grunde als ein Anruf des Unbedingten selbst« (ebd.) verstanden werden müssten, weil »nur so […] unbedingte Verantwortung letztlich begründet« (ebd.) werden könne, ist jedoch keineswegs selbstevident, sondern setzt eine theistische Grundüberzeugung vielmehr schon voraus, deren objektive Gültigkeit damit noch nicht erwiesen ist. Diese Einschränkungen ihrer Beweiskraft kann man den für einen Theisten gleichwohl höchst plausiblen Begründungsversuchen des Vf.s leider nicht ersparen. Seinem theistischen Gottesbegriff eines vollkommenen personalen Seins, dem alle möglichen »reinen Seinsvollkommenheiten« wie etwa Macht, Weisheit und Güte zukommen, so dass nur von ihm her bzw. durch den Zustrom seines Seins alles bloß mögliche Sein, d. h. die sog. Kreaturen, wirklich werden kann (vgl. S. 15), diesem rationalen Gottesbegriff wird man unter Voraussetzung der inhaltlichen Normativität eines philosophischen Gottesbegriffs jedoch uneingeschränkt zustimmen können. Auf die Theodizeefrage gibt der Vf. zwei Antworten: Zum einen die sachlich relevante Antwort der sog. free-will-defense-theory, dass Gott das Böse zulässt, weil diese Zulassung eine formale Bedingung für das Bestehen der (relativen) Freiheit des menschlichen Willens ist; und zum zweiten die bereits von Leibniz’ Theodizeekonzeption gegebene Antwort, dass Gottes Vorsehung aus erzieherischen Gründen die moralischen und physischen Übel zulässt, um diese als Instrumente zur Motivation des Menschen zum Streben nach größeren Gütern gebrauchen zu können (vgl. S. 16 f.). Eine solche Erklärung kann im individuellen Einzelfall plausibel und überzeugend sein, bei katastrophalen Übeln gigantischen Ausmaßes wie bei verheerenden Naturkatastrophen und nicht zuletzt 317 https://doi.org/10.5771/9783495825372 .

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bei Genoziden wie dem Holocaust dürfte sie jedoch versagen, da in diesen Fällen das eingesetzte Mittel mitnichten den damit eventuell intendierten guten Zweck rechtfertigen kann, ganz abgesehen davon, dass auch und gerade bei Gott der gute Zweck keine schlechten Mittel zu seiner Erfüllung rechtfertigt. Seine Annahme, dass die Liebe »der Ursprung und das Aufbauprinzip der Seinsordnung« (S. 17) sei, begründet der Vf. mit einer zweifachen Bewegung: Diese gehe sowohl gleichsam von oben, d. h. von der göttlichen Seinsquelle, aus, die sich im Evolutionsprozess »immer vollkommener – in die Materie absteigend – als sich verströmende Liebe« (ebd.) betätige, als auch gleichsam von unten, d. h. von der Evolution der Materie sowie des Lebens aus, das nach immer vollkommenerer Verwirklichung »in der Formenkette der Evolution« (S. 18) ausgerichtet sei und deshalb immer mehr nach der göttlichen Seinsquelle emporstrebe. Die Evolution stelle sich daher »als Ergebnis einer ›Kooperation‹ von Gott und Geschöpf dar« (ebd.). Dabei geht der Vf. auf das Modell eines unvermischten Zusammenspiels von göttlicher Erstursächlichkeit und geschöpflicher Zweitursächlichkeit in der Evolution der Natur und der menschlichen Kultur zurück, das der Biologe und Philosoph Hans André (1891–1966) entworfen hat. Der spezifische Charakter dieses »Kooperationsmodells« besteht genauer darin, dass die Schöpfung wie das einzelne Geschöpf in dem Maße an Reichtum gewinnt, in dem sie bzw. es sich der göttlichen Seinsmitteilung und damit der Liebe des Schöpfers öffnet. »Reichtum wie durch Mangel« und »Annäherung durch Abstand« sind daher die Kurzformeln dieser metaphysisch begründeten Evolutionstheorie und Anthropologie. Daraus geht zugleich die Zielbestimmung für die menschliche Kultur und Geschichte durch den Vf. hervor: der »kreative Friede« zwischen den verschiedenen Nationen und Kulturen (vgl. S. 19). Dieser aber müsse in Ehe und Familie als den natürlichen Lebensformen des Menschen und als die »Fortsetzung der göttlichen Seinsurheberschaft im menschlichen Bereich« (S. 20) eingeübt werden. Dabei vertritt der Vf. einen »menschlich ganzheitlichen Begriff von Ehe« (S. 21), der diese »als eine dauernde, verantwortliche und verlässliche Verbindung von Mann und Frau bestimmt: zur gegenseitigen Ergänzung und Lebenshilfe – wie auch zur körperlichen Zeugung, seelischen Beheimatung und geistigen Erziehung von 318 https://doi.org/10.5771/9783495825372 .

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Kindern, also zur Gründung einer Familie« (ebd.). Dieses gleichsam naturrechtliche Eheverständnis des Vf.s geht davon aus, dass zwischen den beiden Geschlechtern eine leibliche, seelische und geistige Polarität besteht, die auf eine Komplementarität bzw. eine wechselseitige Ergänzung zum Aufbau einer Lebens-Ganzheit hin angelegt ist und dass sich diese Polarität in der jeweiligen leiblichen Erscheinungs- und Ausdrucksform der geschlechtsspezifischen seelischen und geistigen Disposition zeige. Daher sei die typische Bewegungsrichtung des Mannes das »Aus-sich-Herausgehen« und »Objektivieren«, die der Frau das »In-sich-Hineinnehmen« und »Subjektivieren«; entsprechend sei die Denkweise des Mannes eher abstrakt und die der Frau eher konkret (vgl. S. 21 f.). Damit sei kein Wesens- und Wertunterschied, sondern ein Typunterschied zwischen den beiden Geschlechtern gekennzeichnet, »bei dem Übergänge möglich sind« (S. 22). Diesen Typunterschied versteht der Vf. als einen »Ergänzungs-Gegensatz«, der nicht zu einem Unterwerfungsverhältnis pervertiert werden dürfe (vgl. ebd.). Mit seiner Annahme, dass die Ehe in der wechselseitigen leiblichen, seelischen und geistigen Ergänzungsfähigkeit der beiden biologischen Geschlechter ihre natürliche Grundlage besitze, schließt der Vf. homosexuelle oder lesbische Beziehungen aus seinem Eheverständnis aus (vgl. S. 23) und setzt sich mit diesem tendenziell naturrechtlichen Begriff von Ehe in einen Widerspruch zum zivilrechtlichen Eheverständnis als einer verantwortlichen Liebes- und Lebensgemeinschaft zwischen zwei Personen jedweden biologischen Geschlechts in den inzwischen meisten Ländern der Erde. Sein maßgebliches Argument für dieses Eheverständnis ist das Kriterium der wechselseitigen leiblichen, seelischen und geistigen Ergänzungsfähigkeit der beiden biologischen Geschlechter. Auf der Ebene der leiblichen Ergänzungsfähigkeit dürfte dieses Argument schwerlich zu widerlegen sein, weil zwei in biologischer Hinsicht gleichgeschlechtliche Partner mit ihren eigenen, natürlichen, leiblichen Ressourcen bekanntermaßen keine leiblichen Kinder zeugen können. Nur genau dann, wenn diese Möglichkeit, gemeinsam leibliche Kinder zu zeugen, zum Wesen der Ehe gehört – wovon das naturrechtliche Verständnis von Ehe ausgeht – können auf Dauer angelegte gleichgeschlechtliche Partnerschaften keine Ehen sein. Auf der Ebene der seelischen und geistigen Ergänzungsfähigkeit dürfte die Akzeptanz 319 https://doi.org/10.5771/9783495825372 .

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des Ehekriteriums der Ergänzungsfähigkeit schon deutlich geringer ausfallen, insbesondere in den hoch industrialisierten Gesellschaften, in denen Frauen in prinzipiell allen Berufen tätig sind bzw. sein können. Weil »die Geschlechtsorgane in ihrer biologischen Beschaffenheit und Funktion auf Zeugung ausgerichtet sind« (S. 23), führe die »Sinnanalyse« (ebd.) der Ehe zur Familie, die der Vf. daher de facto ebenfalls im naturrechtlichen Sinne dieses Wortes »als Lebensgemeinschaft von Eltern und Kindern« (ebd.) definiert. Dabei würden die leiblichen Kinder von ihren Eltern zwar gezeugt, aber von Gott geschaffen, weil jedes Kind eine neue, einmalige, individuelle Person sei, deren Seinsgehalt nicht in seinen Eltern »voraus-enthalten« (S. 24) sei. Das Verhältnis zwischen den Eltern und ihren Kindern sei natürlicherweise durch wechselseitige Liebe und seitens der Eltern dabei auch durch den Erziehungsauftrag bestimmt, der den Kindern dazu verhelfen soll, zu selbständigen und mündigen Personen heranzuwachsen, so dass die Familie idealerweise gleichsam zur »Vorschule einer lebendigen Demokratie« (S. 26) werde. Dass das Kleinkind ursprünglich seinen Eltern »unbegrenztes Wissen, unbegrenzte Macht und unbegrenzte Liebe« (S. 27) zuschreibe und sie zunächst »in absoluter Hoheit« (ebd.) erlebe, »bis ihre menschlichen Grenzen und Defekte erfahren werden und Protest- und ›Trotz‹-Reaktionen hervorrufen« (ebd.), stellt eine entwicklungspsychologische Erfahrungstatsache dar. Dass sich darin die (unbewusste) Ausrichtung des Kleinkindes auf das »göttliche Urbild« von Vater und Mutter manifestiere, das »ohne rationale Unterscheidung in den Eltern erschaut« (ebd.) werde, ist allerdings eine den empirischen Erkenntnisrahmen überschreitende Deutung, die für den Theisten naheliegt, den Positivisten bzw. Naturalisten aber wohl kaum überzeugen kann. »Heimat« im Sinne der umgebenden Natur und Kultur versteht der Vf. »gleichsam als Groß-Familie für den Menschen« (S. 28), die ihm eine ursprüngliche Geborgenheit gebe. In ihr komme der »Kulturtradition« mit ihren Elementen der jeweils prägenden Philosophie, Religion, Kunst, Wissenschaft, Gesellschaft, Wirtschaft, Sitte und Ethik« (vgl. ebd.) »gewissermaßen die Rolle der Eltern zu« (ebd.). Dass besonders seine Religion, sofern ihre Praxis gemeinschaftlich vollzogen wird, heimatstiftend für den Menschen sei, die320 https://doi.org/10.5771/9783495825372 .

Über die Liebe als Prinzip

ser Behauptung dürfte man problemlos zustimmen können; dass aber umgekehrt auch die Heimat der »Ort von Religion« (ebd.) sei, diese These dürfte auf Grund der immer bedeutenderen virtuellen Präsenz von Religionen heute nicht mehr ohne Weiteres gültig sein. Nachdem der Vf. die Liebe als Seinsprinzip in insgesamt fünf Schritten entfaltet hat, sucht er im zweiten Kapitel dieser Monographie die Liebe auch als das Prinzip der Erkenntnisordnung zu erweisen, und zwar in drei Schritten: Erstens geht er von der folgenden thomanischen Verhältnisbestimmung des Erkenntnis- und des Liebesaktes zueinander aus: Während im Erkenntnisakt das Seiende gleichsam aus sich herausgehe und sich ausdrücke bzw. sich darstelle, gehe es im Liebesakt, »der es bejaht, wie es in sich selbst ist« (S. 33), gleichsam »›vollends in sich hinein‹ und kann es sich in seiner Identität vollenden« (ebd.). Beide Akte beschreiben daher zusammengenommen eine Kreisbewegung, in der »dem Erkenntnisakt gegenüber dem Liebesakt in der Vollzugsfolge ein Primat- und Prinzipcharakter« (S. 34) eigne, »insofern das Seiende erst sich geöffnet haben und aus sich herausgetreten sein muss, damit es im Liebesakt bejaht werden und in sich hineingehen kann« (ebd.). In der finalursächlichen Ordnung aber verhalte es sich umgekehrt: »Denn der volle Identitätsvollzug ist der notwendige Sinn, um dessentwillen das Seiende überhaupt in die Erkennbarkeit hervortritt; insofern ist die Liebe das Prinzip des Erkennens, das die Erkenntnis motiviert« (ebd.). Wenn der Erkenntnisakt seinen Gegenstand schon in sich selbst bejahe, besitze er bereits eine Ähnlichkeit und Verwandtschaft mit dem Liebesakt, habe daher also gleichsam »auch Liebescharakter« (S. 35). Und umgekehrt besitze der wahre Liebesakt auch »Erkenntnischarakter«, sofern er »eine Erkenntnis des Geliebten als inneres Moment in sich selbst hat« (S. 34). Zweitens verhalten sich beide Akte, der Erkenntnis- und der Liebesakt, wie alles Seiende überhaupt analog zueinander und weisen damit »als Akte letztlich hin auf den Akt-Charakter des Seins als solchen, den sie weiter ›aktualisieren‹ und ›ver-vollkommnen‹« (S. 35). Nach dieser der thomanischen Seinslehre entnommenen metaphysischen Theorie vom Aktcharakter des Seins ist das »substantielle Sein […] der ›Quellgrund‹, das ›Maß‹ und der ›Zielsinn‹ 321 https://doi.org/10.5771/9783495825372 .

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der ak-zidentellen Akte« (ebd.). Das analoge Verhältnis zwischen dem Erkenntnis- und dem Liebesakt bringe daher »eine Grundstruktur des Seinsaktes zum Ausdruck« (ebd.), indem sie eine kreisförmige Bewegung beschreibe, »die einen drei-fachen Status durchläuft: ein ursprüngliches In-sich-Sein, ein Aus-sich-Herausgegangenund Sich-gegenübergetreten-Sein, und ein In-sich-Hineingegangen-Sein« (S. 36). Diese Entfaltung und Aktualisierung des Seinsaktes durch die akzidentellen Akte aber vollziehe sich »entsprechend den Stufen der Vollkommenheit des Seins und Lebens in verschiedener und ana-loger Weise« (ebd.), und zwar sowohl auf der Ebene des sinnlichen als auch auf der des geistigen Erkennens. Für das sinnliche Erkennen zeigt dies der Vf. im Folgenden an der Wahrnehmungsweise zunächst der drei niederen äußeren Sinne (des Tast- und des Wärmesinns, des Geschmacks- und des Geruchsinns), dann der beiden höheren äußeren Sinne, d. h. des Gesichtssinns und des Gehörsinns, wobei das Kriterium für die Einteilung der äußeren Sinne in niedere und höhere Sinne das Vermögen zur Gestaltwahrnehmung als einer ganzheitlichen Sinnstruktur ist (vgl. S. 41). Durch die niederen und höheren äußeren Sinne aber gelange »der Sinn-Gehalt der Wirklichkeit ins Innere des wahrnehmenden Subjekts, um dort verarbeitet zu werden und eine ent-sprechende Antwort auszulösen« (S. 45). Diese Verarbeitung aber geschehe durch die fünf inneren Sinne des Gemeinsinns, des Gedächtnisses und der Fantasie, des sinnlichen Schätzungsvermögens sowie des Vermögens der Gestaltwahrnehmung, deren jeweilige, spezifische Erkenntnisweise der Vf. im Folgenden präzise und eindringlich darstellt (vgl. S. 45–48). Für das davon verschiedene Phänomen einer sogenannten »außersinnlichen Wahrnehmung« im Hellsehen, Hellhören, der Telepathie oder den sog. Nahtoderfahrungen gibt der Vf. einen prima facie plausiblen Grund an, indem er diese mit einer Lockerung der Einheit der menschlichen Geistseele mit der Leibmaterie zu erklären versucht, die zu einer »Entgrenzung« ihres Wahrnehmungsvermögens führe (vgl. S. 49). Aus der sinnlichen Erkenntnis, die ihre Gegenstände wahrnimmt, wie diese erscheinen, gehe die geistige Erkenntnis hervor, welche ihre Gegenstände in ihrem Sein erfasse (vgl. S. 50). Dieses geistige »Sein bei den Dingen« sei aber zugleich ein »Sein bei sich selbst«, d. h. ein reflexives Selbstbewusstsein, das jeder Person eigne 322 https://doi.org/10.5771/9783495825372 .

Über die Liebe als Prinzip

(vgl. S. 52). Als die beiden basalen geistigen Erkenntnisvermögen des Menschen bezeichnet der Vf. im Anschluss an den Hauptstrom in der Tradition der abendländischen Erkenntnislehre die Vernunft und den Verstand. Unter der Vernunft versteht er folglich »die ursprüngliche ›Vernehmungskraft‹ des Geistes, seine unbegrenzte Sinnoffenheit zur gesamten Wirklichkeit, um ihren ideellen Gehalt zu ver-nehmen« (S. 52). Insbesondere wiederum der thomanischen Erkenntnislehre entnommen ist seine vernunfttheoretische Unterscheidung zwischen der aktiven Vernunft, die aus einem Sinnenbild »einen ein-sichtigen oder ein-sehbaren Sinn-gehalt« (S. 53) in Form eines abstrakten Begriffs herausziehe, und der sog. passiven oder rezeptiven Vernunft, die kraft dieser »intelligiblen Gestalt« die Einsicht vollziehe. Gleichfalls der traditionellen, in diesem Fall vor allem der kantischen Erkenntnislehre entnommen ist seine Unterscheidung zwischen der theoretischen Vernunft, welche sich zur Wirklichkeit »nur hinnehmend und darstellend« (ebd.) verhalte, und der praktischen Vernunft, die sich »verändernd bzw. schöpferisch« (ebd.) zu ihr verhalte. In diesem Zusammenhang rekapituliert er die drei höchsten bzw. transzendentalen Vernunftbegriffe bzw. Ideen der Welt, der (Geist-)Seele und Gottes im Vernunftdenken Kants sowie die drei Kantischen Postulate der praktischen Vernunft (vgl. S. 54), um damit zeigen zu wollen, dass die »Vernunfterkenntnis auf Synthese von Elementen zur Einheit ausgerichtet« (ebd.) sei und damit unter dem »Prinzip Liebe« stehe, »aus dem die Einheit als das ›anstehende Gute‹ hervorgeht« (ebd.). Dass die menschliche Vernunfterkenntnis eine synthetische und damit einheitsstiftende Funktion besitzt, ist unbestritten. Steht sie damit aber bereits im Wirkungsbereich von Liebe? Mit anderen Worten: Handelt es sich bei der von der Vernunfterkenntnis herbeigeführten Einheit letztlich um dieselbe Einheit, welche die Liebe stiftet? Dies scheint der Vf. zwar implizit vorauszusetzen, es bedürfte aber einer expliziten Begründung, um Liebe als Vernunftprinzip ausweisen zu können. Unter dem Verstand als dem zweiten geistigen Erkenntnisvermögen versteht der Vf. mit einer wie schon bei der Vernunft stark etymologisch orientierten Definition »die Fähigkeit, den Fluß des Geschehens im Bewußtsein zum Stehen und Gegenüberstehen zu bringen, ihn zum Gegen-stand zu machen und be-grifflich ›in den 323 https://doi.org/10.5771/9783495825372 .

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Griff‹ zu nehmen« (S. 52 f.). Dieses Erkenntnisziel erreicht er erstens durch das Ordnen der von der Vernunft durch Abstraktion gewonnenen Begriffe in Gestalt ihrer Einteilung, Klassifikation und Definition; zweitens durch die Zusammenfügung der Begriffe zu Urteilen bzw. Sätzen, die den Anspruch erheben, wahre, d. h. wirklichkeitskonforme, Aussagen über die Wirklichkeit zu treffen. Dabei werde die formale Wahrheitsfähigkeit dieser Urteile durch die sog. logischen Prinzipien des Satzes vom zu vermeidenden Widerspruch und des Satzes vom ausgeschlossenen Dritten garantiert. Schließlich bestehe die dritte synthetische Leistung der Verstandeserkenntnis im Zusammenfügen der Urteile zu logischen Schlüssen und dem Vorgehen nach einer rationalen Methode, welche neue Erkenntnisse erschließe. Hierfür böten sich die Deduktion sowie die Induktion mit dem von ihr vorausgesetzten ontologischen Prinzip vom hinreichenden Grund, ferner die phänomenologische, dann auch die in den Naturwissenschaften vorherrschende erklärende Methode, welche ein Datum auf dessen Stoff- und Wirkursachen zurückführt; des Weiteren die in den Geistes- und Kulturwissenschaften dominierende verstehende Methode, die einen Gegenstand im Hinblick auf seine Finalursache betrachtet, und schließlich auch die Erkenntnismethode der Analogie an, welche für den Erkenntnisaufstieg von der Welt zu ihrem göttlichen Grund von zentraler Bedeutung sei (vgl. S. 58–62). Drittens versucht der Vf. zum Abschluss dieses zweiten Kapitels eine Zuordnung der beiden geistigen Erkenntnisvermögen von Vernunft und Verstand »unter dem ›Leitstern der Liebe‹« (S. 62). Demnach sind beide Erkenntnisvermögen für den Vollzug ihrer jeweiligen Erkenntnisweise aufeinander angewiesen: Die vernehmende und empfangende Vernunft bilde den »Anfang und die Grundlage aller geistigen Erkenntnis« (ebd.), müsse sich aber wegen der Begrenztheit ihrer Erkenntnisfähigkeit »durch den analysierenden und synthetisierenden Verstand ›hindurcharbeiten‹, um die Aussage der Wirklichkeit deutlicher und differenzierter aufzunehmen« (ebd.). Schuldig bleibt der Vf. hier jedoch eine Begründung dafür, inwiefern diese wechselseitige Angewiesenheit von Vernunft und Verstand aufeinander in der geistigen Erkenntnisordnung eine Wirkweise der Liebe sein soll. Zusammenfassend betrachtet, dürfte der Vf. in diesem Kapitel zwar grundsätzlich die Liebe als Erkennt324 https://doi.org/10.5771/9783495825372 .

Über die Liebe als Prinzip

nisprinzip, nicht jedoch im Hinblick auf die beiden basalen Erkenntnisvermögen von Vernunft und Verstand hinreichend befriedigend und überzeugend ausgewiesen haben. Dies gelingt ihm jedoch ungleich besser im dritten und letzten Kapitel mit seinem Aufweis der »Liebe als Prinzip des Handelns« (S. 65). Das normative Prinzip der Liebe für die sittliche Qualität des menschlichen Handelns versucht er in allen vier menschlichen Handlungsfeldern und damit als universelles Prinzip für alles menschliche Handeln überhaupt auszuweisen: als Prinzip der sittlichen Qualität des menschlichen Handelns gegenüber Gott, gegenüber der eigenen Person, gegenüber den Mitmenschen und gegenüber der Natur. Die Liebe als Handlungsprinzip für alle vier menschlichen Handlungsfelder entnimmt der Vf. dem biblisch formulierten (vgl. Mk 12,28–34; Mt 22,34–40; Lk 10,25–37) christlichen Liebesgebot, von dem er zwar behauptet, dass es auch der menschlichen Vernunft entspreche (vgl. S. 65), ohne diese anspruchsvolle These jedoch zu begründen. Die strukturelle Form seiner Realisierung entnimmt der Vf. der dialogphilosophischen Überzeugung Martin Bubers, dass die Identitätsfindung des Menschen sich nur durch seine dialogische Öffnung zu einem menschlichen und darin zugleich zu dem göttlichen Du vollziehen könne, welches den Menschen anspreche und anrufe (vgl. S. 67 f.). Diese durch das menschliche Du, die Ordnung und Schönheit der Natur oder auch durch besondere Schicksalsfügungen und Gebetserhörungen vermittelte und daher mittelbare Gottesliebe und -erkenntnis könne in den seltenen Fällen einer prophetischen oder mystischen Erfahrung auch zu einer unmittelbaren Gottesbegegnung führen (vgl. S. 68). Das normative Gebot der Selbstliebe des Menschen lässt der Vf. in der Liebe Gottes zum Menschen gründen, weil diese für jeden Menschen einen substantiellen Charakter – denn ihr verdanke jeder seine Existenz –, jene jedoch nur einen akzidentellen Charakter besitze (vgl. S. 69). Denn die »Selbstliebe ist im Grunde nur ein aktives Mit-Gehen und eine Mit-Wirkung mit der Liebe Gottes zu mir« (S. 69). Auch diese inhaltlich starke Behauptung besitzt hier einen eher bekenntnisartigen und weniger einen rational-argumentativen Charakter und wird daher einen Nicht-Theisten nicht überzeugen können. Immerhin erkennt der Vf. zutreffend, dass die Selbstliebe 325 https://doi.org/10.5771/9783495825372 .

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auch »in meiner Natur als Mensch angelegt« (ebd.) ist und dass sie »insofern auch ein notwendiges Faktum« (ebd.) darstellt, und zwar auch bei einem extremen Grenzphänomen wie dem Selbstmord (vgl. ebd.). Als ein wahres Juwel dürfen in diesem Kontext allerdings seine Ausführungen zur »Bedeutung der Pflicht zur Selbstliebe für die Situation des Sterbens« (ebd.) bezeichnet werden. Dies gilt sowohl für seine beiden »konstitutions-ontologischen« Argumente für die Unsterblichkeit der sog. Geistseele des Menschen als auch für seine Bestimmung des Sinns und der Aufgabe des menschlichen Sterbens als Vollendung der Bewegungsrichtung des Lebens durch eine gelassene Selbstübergabe »an die göttliche Lebensquelle« (S. 70). Für das von dem Vf. dabei gestreifte Problem des freiwilligen Suizids in einem menschenunwürdigen Zustand hat er allerdings keine rational legitimierbare und verallgemeinerungsfähige Lösung parat (vgl. S. 71). Die Liebe als Handlungsprinzip gegenüber den Mitmenschen sieht der Vf. primär durch die Übung der vier sog. sittlichen Kardinaltugenden der Klugheit, Gerechtigkeit, Tapferkeit und des rechten Maßes verwirklicht, durch welche zugleich die eigene Person vervollkommnet werde (vgl. S. 73 f.). Einen besonderen Akzent legt er dabei auf die der Gerechtigkeit subordinierte Tugend der Wahrhaftigkeit, die er als eine »Pflicht der Liebe sowohl gegenüber dem Mitmenschen als auch gegenüber sich selbst« (S. 74) bezeichnet. Dieser gemäß sollte das, »was man sagt, […] unbedingt der eigenen Wahrheitsüberzeugung entsprechen; aber die Weise, wie man es sagt« (ebd.), sollte der Liebe entsprechen. Dass die Liebe als das normative Prinzip der sittlichen Qualität des mitmenschlichen Handelns auch die sog. Menschenrechte und damit die Würde des Menschen wahren und achten sollte, hebt der Vf. zu Recht eigens hervor. Er geht davon aus, dass sich die Menschenrechte um die drei von der Französischen Revolution klassisch formulierten »WertIdeen« (S. 76) der Freiheit, Gleichheit und Solidarität gruppieren und dass diese »Wert-Ideen« in »der christlichen Vorstellung des Drei-einen Gottes als Urbild des Menschen« (ebd.) wurzeln. Dabei versteht er die Beachtung der Menschenrechte analog zu den sittlichen Tugenden, die der Verwirklichung des Guten und damit letztlich der Liebe dienen (vgl. S. 76 f.). Aus der Liebe als Prinzip mitmenschlichen Handelns leitet der 326 https://doi.org/10.5771/9783495825372 .

Über die Liebe als Prinzip

Vf. auch die sittliche Pflicht zur aktiven Begegnung der verschiedenen Kulturen in dieser Welt ab, welche die Chance und die Aufgabe »einer gegenseitigen Ergänzung und einer Weiterentwicklung des Menschseins durch den Dialog« (S. 78) besitze. Diese aber sei ein Gebot der Liebe als der »Ausrichtung auf das Gute« (S. 81) und damit sei die Liebe der »›geistige Raum‹ fortwährender fruchtbarer Begegnung« (ebd.). In diesem Kontext der Begegnung der Kulturen entfaltet der Vf. tiefgründige und reichhaltige Überlegungen zur Eigenart sowohl der abendländisch-europäischen als auch der westlichen europäisch-amerikanischen sowie der südlichen und östlichen afro-asiatischen Kultursphäre und ihrer Völker, die aus seinen zahlreichen Reisen in diese Kulturräume und Begegnungen mit einigen ihrer hervorragenden Repräsentanten erwachsen sind. Diese kulturphilosophischen Ausführungen gehören zweifelsohne zu den interessantesten und lehrreichsten Passagen dieses Buches, und zwar auch dann, wenn man die von dem Vf. vorgenommene »onto-hermeneutisch[e]« (S. 86) Interpretation der Unterschiede zwischen dem europäischen, dem afrikanischen und dem asiatischen Geist mittels der triadischen Dialektik Hegels (vgl. S. 86 f.) nicht mitzugehen bereit ist. Durch die wechselseitige Beeinflussung und Annäherung der Kulturen verspricht sich der Vf. »kreative Sprünge kultureller Evolution« (S. 88), »indem sich neue kulturelle Identitäten konstituieren« (ebd.), in denen die alten Kulturen im dreifachen Hegelschen Sinne dieses Wortes »aufgehoben« seien: »1. In ihren für die Fortexistenz der Menschheit unverzichtbaren positiven Eigenschaften ›aufbewahrt‹, 2. In [sic.] negativen und defizitären Aspekten aber überwunden und so 3. ›zu einer integraleren Menschlichkeit emporgewandelt‹« (S. 89). Nur so scheint dem Vf. »aufgrund der globalen Vernetzung der Menschheit eine Zukunft […] möglich« (ebd.). Schließlich geht der Vf. noch kurz auf die Liebe als (normatives) Prinzip (der sittlichen Qualität) des menschlichen Handelns gegenüber der Natur ein. Dabei stellt er das nach seiner Erfahrung traditionell indische Verständnis der Natur als eines Sinnwerts dem europäischen Konzept der Natur als eines Nutzwerts für den Menschen gegenüber (vgl. S. 90 f.), um selbst eine mittlere Position zwischen einem »anthropo-zentrischen« (S. 91) und einem »kosmo-zentrischen« (ebd.) Naturverständnis durch eine sog. »onto327 https://doi.org/10.5771/9783495825372 .

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zentrische« (ebd.) Haltung einzunehmen, »gemäß der alles nach seiner ›Seinshöhe‹, seinem Rang im Ganzen des Seienden, einzuordnen und zu lieben ist« (ebd.). Er fordert also eine »geistige Beziehung (sc. des Menschen) zur Natur« (S. 92), welche »die in der Natur angelegte Stufenordnung des Seienden zu verinnerlichen und mit ihr dialogisch in Kontakt zu kommen und mitzugehen« (ebd.) suche. Dabei sieht er in der Naturordnung eine »zirkuläre(n) Seins- und Lebensbewegung« gegeben, »die in der Evolution der Welt von der kosmischen Materie über das vegetative Leben der Pflanze, das sinnliche Vermögen des Tieres und das geistige Bewußtsein des Menschen in ihrer Vollkommenheit ansteigt« (ebd.). Es handele sich dabei auf allen Ebenen der natürlichen Seinsordnung um eine rhythmische Struktur der »Bewegung aus sich heraus und in sich hinein« (ebd.), deren ek-sistente Bewegungsrichtung beim Menschen durch seine geistige, weltoffene Erkenntnistätigkeit vollzogen werde, und deren re-insistente, zur Insistenz des Menschen bereichert zurückkehrende Bewegungsrichtung »über die sinnlich-körperliche Wahrnehmung in das Innere des Menschen hinein« (S. 93) gehe. Damit enthülle sich »im Stufengefüge von Materie, Pflanze, Tier und Mensch eine dynamisch-rhythmische Sinnordnung, in die der Mensch sich ›geistig einwurzeln‹« (S. 93) könne. Als »Konklusion« (S. 95) seiner gesamten Ausführungen in diesem Buch zur Liebe als einem hervorbringenden, bewegenden und verbindenden Prinzip des Seins (vgl. ebd.), des Erkennens und des Handelns resümiert der Vf. abschließend, dass sich »der Begriff der ›Liebe‹ in seinem grundsätzlichen Sinn und in seinen konkreten Gestalten […] als notwendige und fruchtbare Antwort auf die Probleme und Herausforderungen der Zeit« (ebd.) erwiesen habe. Bei aller gebotenen Anerkennung und Wertschätzung der in diesem Buch durchgeführten systematischen Begründungsleistung des normativen Prinzipcharakters der Liebe für die Seinsordnung im Ganzen sowie für die Erkenntnis- und die Handlungs- bzw. Verhaltensordnung des Menschen kann ich mich dieser Einschätzung nur mit den angemerkten Einschränkungen anschließen. Gleichwohl stellt dieses Alterswerk eines hoch verdienten Philosophen einen bemerkens- und empfehlenswerten synoptischen und systematischen Versuch einer metaphysischen Grundlegung der Seinsord328 https://doi.org/10.5771/9783495825372 .

Über die Liebe als Prinzip

nung sowie des menschlichen Erkennens, ferner der Ethik und der menschlichen Kultur einschließlich der interkulturellen Begegnung dar, der eine wohlwollende und breite Rezeption verdient.

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Ein Meilenstein der Welte-Forschung: Markus Welte über Bernhard Welte 1

Die als Band 69 der Schriftenreihe ratio fidei. Beiträge zur philosophischen Rechenschaft der Theologie erschienene Monographie von Markus Welte mit dem Titel Die christologische Hermeneutik Bernhard Weltes. Christusverkündigung im Horizont des neuzeitlichen Seinsverständnisses (Regensburg: Verlag Friedrich Pustet 2019, 335 S., brosch., € 39,95, ISBN 978-3-7917-3106-3), die von der Katholisch-Theologischen Fakultät der Ludwig-MaximiliansUniversität München im Sommersemester 2018 als Dissertation angenommen wurde, darf ohne jede Übertreibung als ein neuer Meilenstein der Forschung zum Denken des Freiburger christlichen Religionsphilosophen Bernhard Welte (1906–1983) bezeichnet werden. Dieses Urteil betrifft bereits den Umfang derjenigen Texte Bernhard Weltes, die von seinem mit ihm gleichwohl nicht verwandten Namensvetter Markus Welte in seiner Dissertation minutiös ausgewertet worden sind. Denn nicht nur die in den Gesammelten Schriften publizierten Monographien, Aufsätze, Vorträge, Rezensionen und Interviews Bernhard Weltes werden von dieser Studie umfänglich ausgelegt, sondern es werden von ihr auch die Vorlesungsmanuskripte Bernhard Weltes, und hier neben den bereits veröffentlichten auch zahlreiche der bislang noch unveröffentlichten, im Nachlass Weltes unter der Signatur E8 im Universitätsarchiv der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg aufbewahrten Vorlesungsmanuskripte, herangezogen und detailliert untersucht. Eine so umfangreiche Textbasis der schriftlichen Hinterlassenschaft Bernhard Weltes hat bislang noch keine der mir bekannten ForEine Kurzfassung dieser Würdigung der Bedeutung der Monographie Markus Weltes für die Forschung über Bernhard Welte soll demnächst in der Theologischen Revue erscheinen.

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Ein Meilenstein der Welte-Forschung: Markus Welte über Bernhard Welte

schungsarbeiten zum Denken Weltes ausgewertet, und zwar mit einer bemerkenswerten Detailliertheit und Präzision. Aber nicht nur hinsichtlich ihrer textlichen Basis, sondern auch bezüglich ihrer systematischen Interpretationsleistung darf diese Studie als ein Meilenstein der Welte-Forschung bezeichnet werden. Welche ihrer Eigenschaften und Ergebnisse können diese hohe Einschätzung rechtfertigen? Dafür müssen wir uns ihren inhaltlichen Aufbau und ihre interpretatorischen Ergebnisse genauer anschauen. Die vorliegende Studie behandelt nach einer inhaltlichen und methodischen Einleitung in vier Teilen das neuzeitliche Seinsverständnis (1. Teil), die Hermeneutik des christlichen Glaubens (2. Teil) und der dogmatischen Christusverkündigung (3. Teil) sowie deren Bedeutung für die Erneuerung der deutschsprachigen katholischen Theologie des 20. Jahrhunderts und für die gegenwärtige Glaubensverkündigung (4. Teil) bei Bernhard Welte (1906–1983), dem Begründer der sog. Freiburger religionsphänomenologischen Schule innerhalb der katholischen Fundamentaltheologie bzw. christlichen Religionsphilosophie. In ihrer detailliert strukturierten Hinführung zu ihrer Thematik (vgl. S. 19–36) weist sie als das Basisaxiom von Weltes Hermeneutik die Überzeugung aus, dass jedes menschliche Verstehen sich nur im Horizont eines gleichsam apriorisch gegebenen Seinsverständnisses vollziehe, das einem geschichtlich-epochalen Wandel unterworfen sei (vgl. S. 36). Und weil es Bernhard Welte in seiner Hermeneutik des christlichen Glaubens »um eine Erschließung der Möglichkeiten des Glaubens in der Neuzeit geht« (S. 37), setzt seine Glaubenshermeneutik daher »eine Analyse des neuzeitlichen Seinsverständnisses voraus« (ebd.), das der Verfasser (im Folgenden: Vf.) im ersten Teil seiner Dissertation in drei Schritten untersucht: In einem ersten Schritt zeichnet er Weltes Analyse der Genese und Entdeckung des neuzeitlichen Seinsverständnisses (abgekürzt mit »nSv«) nach (vgl. S. 37–39), dessen Wurzeln er im 15. und 16. Jahrhundert bei Galilei und Descartes verortet und dessen genauere Bestimmung er bei Pascal, Kant und Hegel gegeben sieht. In seiner inhaltlichen Charakterisierung des nSv nach Welte als dem zweiten, ausführlichen Schritt dieses ersten Teils arbeitet der Vf. deutlich heraus, dass Welte das nSv nicht als eine homogene Größe betrachtet, sondern de facto zwischen zwei verschiedenen 331 https://doi.org/10.5771/9783495825372 .

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Ebenen des nSv unterscheidet: Zum einen spricht Welte von einer oberen Ebene des neuzeitlichen Seinsverständnisses (abgekürzt mit »oEnSv«), die er im Gefolge Martin Heideggers als das vorstellende, das sicherstellende und das herstellende Denken bezeichnet und als ein präzise rechnendes, planendes, objektivierendes, quantifizierendes, seine Gegenstände messendes und daher beherrschendes, subjekt- und geschichtsloses, neutrales Verstandesdenken charakterisiert, welches die Mathematik, die exakten Naturwissenschaften und die technischen Disziplinen bestimme und das in der Neuzeit etwa von Descartes, Kant, Hegel, dem Positivismus Auguste Comtes sowie im 20. Jahrhundert vom logischen Atomismus Wittgensteins, vom Neopositivismus des Wiener Kreises und vom kritischen Rationalismus Karl Poppers, Ernst Topischs und Hans Alberts vertreten werde (vgl. S. 44 f.) und von Welte an Pascals Entdeckung der Fähigkeit zur quantitativen Weltbetrachtung sowie an Nietzsches Konstruktion eines Daseinswillens zur Macht exemplifiziert wird (vgl. S. 45 f.). An dieser für einen nüchternen Historiker der Geistesgeschichte viel zu undifferenzierten Zusammenstellung von Vertretern der sog. oEnSv wird deren Herkunft von Heideggers Kritik der abendländischen Metaphysikgeschichte und insbesondere der Technik als ihrem vermeintlichen Endprodukt offensichtlich, wie der Vf. selbst deutlich sieht (vgl. S. 46–48). Diesem angeblich totalitären Herrschaftsdenken der oEnSv stellt Welte zum anderen das neue, hörende, vernehmende und empfangende, das lassende Denken der unteren Ebene des neuzeitlichen Seinsverständnisses (abgekürzt mit »uEnSv«) gegenüber, das er von Pascals Vernunft des Herzens, von Kierkegaards Existenzphilosophie, von Husserls phänomenologischer Epoché, von Jaspers’ existenziellem Transzendenzverständnis und von Heideggers Option für ein lassendes Denken repräsentiert sieht (vgl. S. 48–61). In diesem Zusammenhang weist der Vf. in einem dritten Schritt anhand von Weltes ungedruckter Vorlesung Fundamentaltheologische Theorie des Verstehens aus dem Wintersemester 1948/49 und seiner Vorlesung Wahrheit und Überlieferung aus dem Sommersemester 1951 überzeugend nach, dass sich in Weltes Denken eine Wende in seiner Bestimmung der Ursache einer epochalen Modifikation des Seinsverständnisses ereignet hat, die der sog. Kehre bei Heidegger von einem fundamentalontologischen bzw. genauer existenzial-analyti332 https://doi.org/10.5771/9783495825372 .

Ein Meilenstein der Welte-Forschung: Markus Welte über Bernhard Welte

schen zu einem seinsgeschichtlichen Denken hin folgt. Denn seit den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts und damit etwa 20 Jahre nach dieser Kehre im Denken Heideggers hat Welte das Seinsverständnis und dessen epochale Modifikation nicht mehr in der Geschichtlichkeit des Daseins und damit nicht mehr im Menschen, sondern in der Geschichte des Seins selbst verankert und gründen lassen (vgl. S. 62–70). Weil Welte das sachlich unzutreffende Seinsvergessenheitsverdikt Heideggers gegenüber der abendländischen Metaphysikgeschichte leider übernommen hat, muss er bei denjenigen Repräsentanten dieser Geschichte, denen er eine zumindest partielle Sympathie entgegenbringt, wie etwa bei Thomas von Aquin und Meister Eckhart (Bonaventura könnte man noch ergänzen), Ansatzpunkte eines nachmetaphysischen Denkens diagnostizieren, wie der Vf. überzeugend nachweist (vgl. S. 68 f.). Im zweiten Teil seiner Dissertation rekonstruiert der Vf. Weltes Hermeneutik des christlichen Glaubens. Dabei zeigt er überzeugend auf, dass nach Welte der christliche Glaube in der Neuzeit in eine Krise geraten ist, und zwar in allen drei für den christlichen Glauben konstitutiven Glaubensformen, d. h. im Gottesglauben, im sog. mitmenschlichen Glauben und im Glauben an Jesus Christus als der Selbstoffenbarung Gottes. Die Krise des Gottesglaubens diagnostiziert Welte insbesondere in seiner Schrift Das Heilige in der Welt und das christliche Heil aus dem Jahre 1949 in der allgemeinen Erfahrungstatsache »eines Ausfalls der Dimension des Heiligen in unserer Welt«, auch hier wiederum in enger Anlehnung an Martin Heidegger, der von einem »Fehl Gottes« als Folge der Alleinherrschaft des vor- und sicherstellenden Denkens gesprochen hat. Diese Krise des Gottesglaubens hat nach Welte zwangsläufig auch eine Krise des christlichen Glaubens zur Folge (vgl. S. 74 f.), die jedoch noch weitere Ursachen habe: etwa die von Lessing paradigmatisch formulierte historistische Überzeugung, dass alle geschichtlichen Tatsachenwahrheiten nicht zweifelsfrei glaubwürdig und daher nicht absolut verlässlich und damit zum Beweis notwendiger Vernunftwahrheiten ungeeignet seien (vgl. S. 76, S. 82); oder auch der Einwand des philosophischen Glaubens etwa nach Karl Jaspers, dass es im Bereich endlich-kontingenter, geschichtlicher Ereignisse nur Chiffren und Symbole der Transzendenz, aber keine leibhaftige Manifestation derselben in Gestalt einer inkarnatorischen Offen333 https://doi.org/10.5771/9783495825372 .

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barung geben könne, sodass der exklusive Wahrheitsanspruch des christlich-inkarnatorischen Offenbarungsglaubens falsch und anmaßend sein müsse (vgl. S. 76 f.); aber auch der mitmenschliche Glaube, d. h. der Glaube auf das Zeugnis anderer, sei es lebender, sei es verstorbener Personen hin, sei in eine Krise geraten, und zwar in diesem Fall durch die neuzeitliche Ausrichtung am aufklärerischen Autonomieideal, die in dem Mitmenschen eher einen Funktionsträger, Konkurrenten und Risikofaktor für den eigenen Erfolg sehe (vgl. S. 78, S. 82 f.). Als Ursache für diese dreifache Krise des christlichen Glaubens in der Neuzeit diagnostiziert Welte, wie übrigens auch Romano Guardini, die Vorherrschaft des vor- und sicherstellenden Denkens und damit der oEnSv (vgl. S. 79 f.), die sich zu einem »herrschenden Idealtypus des erkennenden Lebens« (S. 80) in der Neuzeit entwickelt habe. Der Vf. verdient auch darin uneingeschränkte Zustimmung, dass der primär bestimmende gedankliche Hintergrund von Weltes These zur Ursache der neuzeitlichen Krise des christlichen Glaubens die Metaphysik- und Technik-Kritik Martin Heideggers gewesen sein dürfte (vgl. S. 83 f.), die auch Weltes Kritik an der konkreten, geistdialektischen Gestalt von Hegels Hermeneutik des christlichen Glaubens bestimme, welche Gott zu einer vor- und sicherstellbaren zeitlosen Größe depotenziere und sowohl ihm als auch dem Menschen die freie Selbstbestimmung raube (vgl. S. 84–87). Weil Hegels Hermeneutik des christlichen Glaubens noch der oEnSv entspringe, ist sie für Welte ungeeignet und inadäquat (vgl. S. 87 f.). Es ist ein beachtliches Verdienst dieser Dissertation, die insgesamt sieben verschiedenen Wege zur Hermeneutik des christlichen Glaubens in Weltes Werk identifiziert und nach ihren Prinzipien, d. h. nach ihren »Verweisstrukturen, die den Menschen nach Gott und Jesus ausrichten« (S. 89), sowie nach ihren jeweiligen textlichen Grundlagen eingeteilt zu haben (vgl. die Übersicht des Vf., S. 88 f.). Angesichts der Vielzahl dieser Wege ist es verständlich, dass der Vf. sich im Rahmen seiner Dissertation auf eine Rekonstruktion des ersten dieser Wege beschränkt, zumal er als »hermeneutischer Hauptweg Weltes gelten darf« (S. 89). Die Prinzipien dieses Weges zur Hermeneutik des christlichen Glaubens, deren Fundort Weltes Dialog mit den neuzeitlichen Existenzphilosophen Kierkegaard, Jaspers und Pascal ist, sind im Einzelnen: der Hinweis 334 https://doi.org/10.5771/9783495825372 .

Ein Meilenstein der Welte-Forschung: Markus Welte über Bernhard Welte

auf die paradoxalen Grundsituationen menschlicher Existenz, die zugleich den Charakter von Grenzsituationen besitzen, wie etwa die Endlichkeit, die Schuld und die Sterblichkeit des Menschen (vgl. S. 91–94); dann der Hinweis auf die weit verbreitete Verdrängung dieser Grund- und Grenzsituationen durch das Ausweichen in Geschäftigkeit und in Zerstreuungen (vgl. S. 94 f.); des Weiteren der Hinweis auf die Freilegung der uEnSv insbesondere in den existenziellen Grenzsituationen und der durch diese möglichen Existenzerhellung nach Karl Jaspers (vgl. S. 95 ff.) oder etwa auch in der »Erkenntnis des Herzens« bei Pascal; schließlich der wichtige Hinweis auf die Verstehensmöglichkeiten des christlichen Glaubens im Bereich der uEnSv, wie etwa in Pascals und Kierkegaards Entdeckung eines »unendlichen Interesses« bzw. einer »unendlichen Bestimmtheit der (eigenen) endlichen Existenz«, die Welte in Gestalt eines unendlichen Interesses des Menschen an Bedeutsamkeit zum hermeneutischen Prinzip des menschlichen Gottesglaubens macht (vgl. S. 98–103, S. 108 f.); und schließlich auch der Hinweis auf die Entdeckung eines existenziellen Interesses des Menschen an einem geschichtlichen Heilszeichen, welches Welte zum hermeneutischen Prinzip des christlichen Glaubens an die Person Jesu Christi werden lässt (vgl. S. 103, S. 107–109), wobei der Aufweis der Personalität dieses geschichtlichen Heilszeichens des Menschen Weltes spezifischen Beitrag zur Hermeneutik des christlichen Glaubens über deren Quellen bei Pascal und Kierkegaard hinaus darstellt (vgl. S. 108 f.), und zwar insbesondere in Weltes Buch Heilsverständnis, aber auch in zahlreichen anderen Texten, wie der Vf. anschließend magistral zeigt (vgl. S. 109–139). Besonders hervorhebenswert an den phänomenologisch eindringlichen Untersuchungen existenzieller Grenzsituationen des Menschen primär in der Schrift Heilsverständnis, aber auch in zahlreichen anderen Texten Weltes, sind nach den sowohl intensiven als auch extensiven Analysen des Vf. erstens der Aufweis, dass das menschliche Sich-Verstehen auf Bedeutsamkeit hin in Wahrheit ein Sich-bezogen-Wissen auf umfassendes Heil ist, dass also das Seinsverständnis des Menschen nach Welte den Charakter eines Heilsverständnisses besitzt (vgl. S. 110–112); und zweitens der Aufweis, dass die das ersehnte Heil in freier Huld dem Menschen gewährende Macht ein personales Antlitz tragen muss (vgl. 335 https://doi.org/10.5771/9783495825372 .

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S. 112 f.), weil nur eine Person den Sinn des menschlichen Lebens gewährleisten könne (vgl. S. 124). So führen die zahlreichen menschlichen Erfahrungen persönlicher Heilsdifferenzen in existenziellen Grenzsituationen zum existenziellen Vorentwurf eines personalen, autoritativen bzw. vollmächtigen, in der unbedingten Konkretion einer geschichtlichen Gestalt existierenden Heilszeichens, das sich vollständig in der Person Jesu Christi verwirklicht, weil nur sie diese existenziellen Vorbedingungen des Menschen für sein Heil restlos zu erfüllen vermag (vgl. S. 130–133). Die pastorale Begleitung dieses Prozesses der Freilegung des existenziellen Heilsverständnisses des Menschen betrachtet Welte »als gegenwärtig wichtigste Aufgabe der Kirche« (S. 132). Er ergänzt diese Hermeneutik des Inhalts (der fides quae) des christlichen Glaubens allerdings noch um eine Hermeneutik der fides qua, d. h. des Vollzugs, des christlichen Glaubens durch seinen Aufweis eines sog. daseinsbegründenden Glaubens im Bereich der uEnSv, d. h. einer prinzipiellen Sinngläubigkeit jedes Menschen, sowie eines sog. mitmenschlichen Glaubens in Gestalt eines zwischenmenschlichen Vertrauens. Beide existenziellen Glaubensvollzüge gehen nach Weltes eindringlichen Analysen in seinem Buch Was ist Glauben? und in einer ganzen Reihe seiner Vorlesungen dem zwar expliziten, aber (noch) nicht offenbarungsbasierten Gottesglauben als auch dem christlichen Glauben an die Selbstoffenbarung Gottes in der Person Jesu Christi auf das geschichtliche Zeugnis anderer Menschen hin konstitutiv voraus (vgl. S. 139–153). Diesen zweiten Teil seiner Dissertation rundet der Vf. mit Weltes Verhältnisbestimmung zwischen Glauben und Vernunft ab, die in der menschlichen Vernunfterkenntnis »ein negatives und kritisches Maß der Offenbarung« und in der Offenbarung und dem sich auf diese gründenden christlichen Glauben einen existenziellen Vollzug der Selbsthingabe Gottes bzw. des Menschen sieht, der nicht über eine Logik des Zwangs, sondern nur in freier Zustimmung verwirklicht werden könne (vgl. S. 153–155). Der dritte Teil der vorliegenden Studie untersucht Weltes Hermeneutik dogmatischer Christusverkündigung, die sich an seine Hermeneutik des christlichen Glaubens unmittelbar anschließt, weil die existenzielle Suche des Menschen nach einem Heilszeichen Gottes in der Geschichte dieses nach christlichem Glauben in der 336 https://doi.org/10.5771/9783495825372 .

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Person Jesu Christi findet (vgl. S. 157). Die Grundzüge dieser Hermeneutik entnimmt der Vf. vor allem Weltes erstmals 1954 erschienenem Aufsatz »Zur Christologie von Chalkedon«, aber auch einer Reihe von Vorlesungen Weltes im zeitlichen Umfeld dieses Aufsatzes, insbesondere Weltes Hegel-Vorlesung aus dem Sommersemester 1950. In diesen Texten konstatiert Welte erstens eine soteriologische Unterbestimmung zentraler christologischer Begriffe wie etwa physis und hypostasis in den für die altkirchliche Christologie maßgeblichen Konzilstexten von Nikaia (325), Ephesus (431), Chalkedon (451) und Konstantinopel III (680/81), die er durch einen Rekurs auf die Bedeutung dieser Begriffe im sog. transzendentalen Thomismus des 20. Jahrhunderts – insbesondere bei Maréchal und bei Gustav Siewerth – zu beheben sucht. Daher interpretiert er den Begriff der Natur (des Menschen) als ein »Beimanderen-Sein« und den Begriff der Hypostase des Menschen als dessen »In-sich-Stehen« bzw. »Selbst-Sein«: Weil die wesensursprüngliche Natur des Menschen dessen Sein bei dem unendlichen Grund, d. h. bei Gott, sei, gründe in dieser partizipativen Einheit des menschlichen Seins mit dem göttlichen Sein sowohl die Relationalität, d. h. das Sein-beim-Anderen, der menschlichen Natur als auch ihr allerdings nur endliches Selbst-Sein, mithin der hypostatische Charakter der menschlichen Person (vgl. S. 165– 169). Welte unterscheidet zwar strikt zwischen der partizipativen Einheit von menschlicher und göttlicher Natur im Menschen und ihrer einmaligen hypostatischen Einheit in der Person des Gottmenschen (vgl. S. 169 ff.), er weist aber zugleich auch auf die Offenheit der partizipativen für die hypostatische Einheit beider Naturen und damit auf die natürliche Hinordnung und Ausrichtung der ausschließlich menschlichen Natur auf die gottmenschliche Natur Jesu Christi hin (vgl. S. 171 ff.), in der daher das Menschsein erst in vollkommener (nicht in vollständiger, wie der Vf. in Abb. 4, S. 176, irrtümlicherweise annimmt, denn vollständig ist die menschliche Natur bereits in ihrer partizipativen Einheit mit der göttlichen Natur verwirklicht) Weise verwirklicht ist (vgl. S. 172 f.). Das Verlangen der menschlichen Natur nach ihrer Vollendung in Gott könne nach Maréchal und Thomas von Aquin (sc. wie überhaupt nach dem teleologischen Denken der klassischen Metaphysik) aber nicht unerfüllbar sein, »denn sonst wäre der 337 https://doi.org/10.5771/9783495825372 .

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Mensch ein logischer Widerspruch« (S. 174). Dieser Aufweis einer »Konvergenz der menschlichen Natur ins Gottsein hinein« (S. 173) darf nach Welte aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Mensch diesen Übergang seiner menschlichen Natur in eine unmittelbare Anwesenheit bei der göttlichen Natur niemals aus sich, aus dem Vermögen seiner eigenen Natur heraus, leisten, wohl aber von Gott selbst gnadenhaft empfangen kann (vgl. ebd.). Im Schlussteil seines Chalkedon-Aufsatzes behauptet Welte eine »theologische Differenz« zwischen der hypostatischen Einheit der beiden Naturen in Christus in der Christologie des Konzils von Chalkedon und dem biblischen Verhältnis Jesu zu seinem göttlichen Vater, die er genauer in der Differenz zwischen dem scheinbar zeitlosen Zustand einer hypostatischen Einheit von göttlicher und menschlicher Natur in der Person Christi nach dem christologischen Konzilstext und dem lebendigen, ereignishaften Prozess des Verhältnisses zwischen dem inkarnierten Christus und seinem göttlichen Vater in der Heiligen Schrift gegeben sieht. Daher fordert Welte sowohl eine Rückübersetzung der dogmatischen Christologie in biblische Kategorien als auch eine Vorausübersetzung der altkirchlichen Christologie in den ganz anders gearteten Verstehenshorizont der Gegenwart als eine vordringliche theologische Aufgabe (vgl. S. 177 f.). Um naheliegende Missverständnisse zu vermeiden, sollte man hier im Unterschied zu Welte aber nicht von einer theologischen, sondern nur von einer hermeneutischen Differenz sprechen, zumal ein Werden im Sinne eines zeitlichen Entstehungsprozesses der hypostatischen Vereinigung von göttlicher und menschlicher Natur im Leben Jesu schon auf Grund der Einfachheit und infolgedessen Unwandelbarkeit seiner göttlichen Natur weder widerspruchsfrei denkbar noch real möglich ist. Deshalb sind alle prozesstheologischen, genealogischen oder auch dem zeitlichen Ereignisdenken verhafteten Vorstellungsmodelle der sog. hypostatischen Union in der Person Jesu Christi unangemessen und irreführend. Vielmehr muss der Gottmensch vom Beginn seiner Menschwerdung an mit der göttlichen Natur bereits geeint sein. Davon bleibt unberührt, dass die hypostatische Einheit beider Naturen in Jesus Christus sich in seiner von den Evangelien berichteten Lebensgeschichte in einem lebendigen Gegenüber von göttlichem Vater und gottmenschlichem Sohn vollzieht und dass beide Naturen in Christus Anteil an den Eigenschaf338 https://doi.org/10.5771/9783495825372 .

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ten der jeweils anderen Natur haben (die sog. Idiomenkommunikation). Auf diesem Hintergrund muss Weltes von dem Vf. herausgearbeitete »These einer grundsätzlichen Differenz zwischen der Christologie der Heiligen Schrift und der der Konzilien« (S. 184) leider zurückgewiesen werden, wenn und sofern sich diese nicht nur auf die unterschiedlichen Sprach- und Denkformen zwischen den christologischen Texten der frühchristlichen Konzilien und den auf die Person Jesu bezogenen biblischen Texten, sondern auch auf sachliche Differenzen zwischen ihren christologisch relevanten Aussagen beziehen soll. Von jeder biblischen Aussage, die eine fundamentale Differenz zwischen Jesus und seinem göttlichen Vater zum Ausdruck bringen soll, wie etwa Joh 14,28 (»Der Vater ist größer als ich«) oder Mt 24,36 (Den Tag des Weltuntergangs »kennt niemand, […], nicht einmal der Sohn, sondern nur der Vater«, vgl. S. 183), lässt sich unschwer zeigen, dass und inwiefern sie mit der hypostatischen Union von göttlicher und menschlicher Natur in der Person Jesu Christi widerspruchsfrei vereinbar ist. Als Ursache für die von ihm diagnostizierte Krise dogmatischer Christusaussagen in der Gegenwart – die sich heute gegenüber Weltes zeitgeschichtlicher Gegenwart noch dramatisch zugespitzt hat – gibt Welte den epochalen Umschwung im Seinsverständnis an, der sich zwischen dem vormetaphysischen Seinsverständnis der Bibel und dem nachmetaphysischen, ereignisorientierten Seinsverständnis seiner Gegenwart gegenüber dem metaphysischen, am Substanzbegriff orientierten Seinsverständnis der frühchristlichen Konzilien ereignet habe (vgl. S. 186 ff.). Dass Weltes Epocheneinteilung auf Heideggers Theorem der Seinsgeschichte sowie der Seinsvergessenheit der Metaphysik und deren angeblicher Verabsolutierung des vorund sicherstellenden Denkens zurückzuführen ist, zeigt der Vf. überzeugend auf (vgl. S. 184 f., S. 189). Seiner anschließenden Würdigung des Beitrags Weltes zur Hermeneutik dogmatischer Christusverkündigung, der das theologische Erfordernis einer Rückübersetzung der dogmatischen Christusaussagen der frühchristlichen Konzilien auf die Ebene des primär ereignishaften und soteriologisch bestimmten Sprechens der Bibel sowie einer Vorausübersetzung dieser dogmatischen Christusaussagen in das jeweils gegenwärtige Seinsverständnis behauptet, kann ich mich uneingeschränkt anschließen, zumal er Weltes klare Unterscheidung 339 https://doi.org/10.5771/9783495825372 .

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zwischen Form und Inhalt dogmatischer Aussagen unverkürzt zur Geltung kommen lässt. Dadurch macht der Vf. deutlich, dass Welte an der Unveränderlichkeit des Inhalts der Dogmen festgehalten hat und daher kein dogmatischer Relativist gewesen ist (vgl. S. 192 f.). Darüber hinaus – und darin liegt ein weiteres erwähnenswertes Verdienst dieser Dissertation – macht ihr Vf. Weltes spezifisches Verständnis von Hermeneutik allererst sichtbar, und zwar durch eine minutiöse Untersuchung der beiden von Welte unterschiedenen Formen des Übersetzens in seinen Vorlesungen Wahrheit und Überlieferung vom Sommersemester 1951 und Hermeneutik aus dem Wintersemester 1969/70: In diesen Texten unterscheidet Welte zwischen einem Verstehen und Übersetzen ohne Welt-Dialog und einem verstehenden Übersetzen im Welt-Dialog zwischen zwei Welten: Das Verstehen ohne Welt-Dialog versucht, in die fremde Welt eines Mitmenschen, eines fremden Textes oder einer anderen Kultur überzusetzen und damit in das eigene Welt- und Selbstverständnis dieser fremden Welt einzudringen und das dabei Verstandene zugleich selbst mitzuvollziehen, d. h. es aus dem Ursprung des eigenen Verstehens heraus zu sehen (vgl. S. 194–198). Dieses »teilnehmende Beobachten« einer fremden Welt ist aber noch kein Gespräch im engeren Sinne dieses Wortes. Ein solches wird es erst im »Welt-Dialog« der Begegnung zwischen zwei Verstehenshorizonten (vgl. S. 198 f.) und nach Welte im sachgemäßen Umgang mit der Theologie- und Dogmengeschichte sogar zwischen mehr als zwei Welten. Hierfür entwickelt Welte einen Modellvorschlag zur Methode der Theologie, der aus den vier folgenden Elementen besteht: Zunächst sollten die unterschiedlichen epochalen Glaubensgestalten und Theologien aus dem vorliegenden historischen Material ermittelt werden; in einem zweiten Schritt soll ein System der Entsprechung zwischen früheren und späteren epochalen Theologien entwickelt werden; drittens sollen die verschiedenen epochalen Theologien auf den einen Ursprung der Christus-Offenbarung zurückgeführt werden; und schließlich soll dieser Ursprung vorausübersetzt werden »in das gerade aktuelle oder in ein neu aufbrechendes Seinsverständnis« (S. 203). Damit hat Welte sein Grundverständnis von Theologie als Verstehens- und Übersetzungsarbeit entfaltet (vgl. S. 205). Der vierte und letzte Teil dieser Untersuchung zerfällt in drei 340 https://doi.org/10.5771/9783495825372 .

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Abschnitte. Im ersten Abschnitt rekonstruiert er die Bedeutung der Glaubenshermeneutik Weltes für die Erneuerung der deutschsprachigen katholischen Theologie des 20. Jahrhunderts. In einem zweiten, konstruktiv-kreativen Abschnitt zeigt er die Bedeutung dieser Glaubenshermeneutik für die gegenwärtige Glaubensverkündigung auf; schließlich fasst er im kurzen, dritten Abschnitt die wichtigsten Ergebnisse dieses vierten Teils knapp und konzis zusammen. Im ersten Abschnitt dieses letzten Teils weist der Vf. überzeugend nach, dass Weltes Entwurf einer Hermeneutik des christlichen Glaubens im Gefolge insbesondere des französischen Religionsphilosophen Maurice Blondel (1861–1949) neben Karl Rahners transzendentaler theologischer Anthropologie zu einem »Wegbereiter der Immanenzapologetik in Deutschland« (S. 215 f.) geworden ist. Diese sucht im Unterschied zu der extrinsezistischen Glaubensbegründung als Methode der neuscholastischen Fundamentaltheologie die subjektiven Möglichkeitsbedingungen des existenziellen Glaubens an Jesus Christus in dem natürlichen Streben des Menschen nach Gott und seiner Offenbarung in Jesus Christus aufzuweisen. Dass Weltes Glaubenshermeneutik in der christlichen Theologie der 60er und 70er Jahre des vergangenen Jahrhunderts eine breite Rezeption gefunden hat, weist der Vf. minutiös nach (vgl. S. 221 f.). Er führt auch einen überzeugenden Nachweis dafür, dass das von Karl Rahner in seinem berühmt gewordenen Aufsatz »Probleme der Christologie von heute« exemplarisch formulierte Desiderat des Aufweises eines Ausgerichtetseins der menschlichen Natur auf ihre Vereinigung mit der göttlichen Natur in der hypostatischen Union sich höchstwahrscheinlich Rahners direkter Rezeption von Weltes Chalkedon-Aufsatz verdankt (vgl. S. 234 ff.) und von Weltes relationshermeneutischer Zwei-Naturen-Lehre in diesem Aufsatz wie folgt eingelöst wird: Weil der Mensch wesenhaft ein Sein-beim-Anderen ist, wird eine hypostatische Union von göttlichem und menschlichem Sein als möglich einsehbar. Daher ist erst der Gott-Mensch der vollendete, der schlechthin vollkommene Mensch (vgl. S. 227). So erscheint die Inkarnation als »der einmalig höchste Fall des Wesensvollzugs der menschlichen Wirklichkeit« und Jesus Christus daher als die Vollendung aller Schöpfung. Weltes relationshermeneutisches Modell der Zwei-Naturen-Lehre kann die von den Evangelien bezeugten menschlichen Verhaltens341 https://doi.org/10.5771/9783495825372 .

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weisen Jesu voll integrieren und vermeidet die Gefahr einer monophysitischen und einer monotheletischen Christologie (vgl. S. 229). Der Vf. geht verdienstlicherweise auch auf die Kritik ein, die Weltes transzendentale Christologie von Seiten bedeutender katholischer Theologen wie Leo Scheffczyk und Hans Urs von Balthasar erfahren hat: Diese könne, so ihr Einwand, die schlechthinnige und unvergleichliche Einmaligkeit des Christusgeschehens nicht angemessen zum Ausdruck bringen, weil es für ein geschichtliches Denken nichts Unvergleichliches wie die göttliche Natur der Person Jesu Christi geben könne. Stärker noch allerdings wiegt der Einwand, den vor allem von Balthasar gegen Weltes christologisches Ereignis-Denken vorgebracht hat, dass weder das Zustandekommen noch der Bestand der hypostatischen Union in Christus den Charakter eines geschichtlichen Ereignisses besitzen können, mit anderen Worten: Weder die beiden Naturen in der einen, einzigen Person Jesu Christi noch ihre Vereinigung miteinander in der hypostatischen Union können ein geschichtliches Ereignis sein, und zwar, wie wir ergänzen können, aus mehreren Gründen: Ein als substanzloser Vollzug vorgestelltes Ereignis – das gilt sowohl für geschichtliche als auch für geschichtslose Ereignisse – ist logisch und real unmöglich, da Vollzüge stets nur als Tätigkeiten einer Substanz sowohl widerspruchsfrei denkbar als auch real möglich sind, weil Vollzüge bzw. Akte aus einem Vermögen hervorgehen müssen, das nur als entweder wesenhaftes oder als akzidentelles Vermögen einer Substanz überhaupt existieren kann. Es kommt hinzu, dass die göttliche Natur zeitfrei und damit geschichtslos existiert und ihre Vereinigung mit der menschlichen Natur, wie Welte selbst sieht, nur durch sie selbst herbeigeführt werden kann, das aber bedeutet: Gott kann zwar in der Geschichte handeln und geschichtlich sich zeitigende Wirkungen wie seine eigene Menschwerdung hervorbringen, et tut dies aber als ein Wesen, das selbst nicht in zeitlich-geschichtlicher Weise existiert, d. h. durch einen zeitfreien, ungeschichtlichen Akt. Deshalb kann die Vereinigung von göttlicher und menschlicher Natur selbst kein geschichtliches und daher kontingentes Ereignis sein. Der Vf. muss selbst eingestehen, dass sich im Rahmen von Weltes ereignishaft-relationalem Verständnis der hypostatischen Union in der Person Jesu Christi eine ewige Präexistenz des göttlichen Logos, die zum eisernen Bestand nicht nur der 342 https://doi.org/10.5771/9783495825372 .

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konziliaren, sondern auch der biblischen Christologie (vgl. Joh 1,1) gehört, nicht denken lässt (vgl. S. 232). Spätestens aus diesem Befund hätte er eigentlich die Konsequenz ziehen müssen, der hier nur ergänzten und erweiterten Kritik von Balthasars an diesem neuralgischen Punkt der Christologie Weltes recht zu geben. Die substanzontologischen Kategorien der Christologie Chalkedons dürfen daher gegen Weltes Absicht nicht gänzlich aufgegeben und verabschiedet werden, sie sollten aber mit und nach Welte um ein ereignishaft-relationales Verständnis des Personbegriffs der hypostatischen Union ergänzt werden, in dessen Ausarbeitung und christologischer Anwendung das bleibende christologische Verdienst Weltes besteht. Dass nicht nur Karl Rahner, sondern auch zahlreiche andere sowohl katholische als auch evangelische Theologen das von Welte entwickelte relational-ereignishafte Verständnis der hypostatischen Union rezipiert haben, dokumentiert der Vf. magistral (vgl. S. 236 ff.). Eine weitere theologiegeschichtlich epochale Leistung Weltes besteht, wie der Vf. überzeugend nachweist, in dessen Entwicklung eines neuen dogmengeschichtlichen Modells, dem zufolge die Dogmengeschichte aus verschiedenen, sich einander ablösenden Epochen besteht, innerhalb derer ein je spezifisches Seins- und daher auch Glaubensverständnis expliziert werde, das allerdings im Übergang von einer Epoche zu einer anderen Epoche eine signifikante Veränderung bzw. einen Umbruch erfahre (vgl. S. 243–248), weil das eine geschichtliche Epoche jeweils bestimmende Seinsverständnis sich in spezifischen Denkformen ausdrücke. Diese Umbrüche im Seinsverständnis führten daher zu einer geschichtlichen, zeitbedingten Relativierung der sprachlichen Aussageform dogmatischer Inhalte, nicht aber notwendigerweise auch zu ihrer inhaltlichen Veränderung (vgl. S. 248–262). In diesem Kontext vermag es der Vf. zu plausibilisieren, dass Welte eine mittlere Position zwischen relativistischen und universalistischen Übersetzungstheorien einnimmt (vgl. S. 259). Seine Annahme von sich diskontinuierlich verändernden Denkformen, von denen ein ursprüngliches Zeugnis in einen neuen Verstehenshorizont transformiert werde, so dass sich eine echte Dogmengeschichte und nicht nur eine explikative Dogmenentwicklung entfaltet habe, ist nicht nur von der Freiburger Welte-Schule, sondern auch von zahlreichen anderen Theologen 343 https://doi.org/10.5771/9783495825372 .

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affirmativ rezipiert worden (vgl. S. 260 f.) und sogar bei den meisten heutigen deutschsprachigen katholischen Theologen zur Selbstverständlichkeit geworden (vgl. S. 274–279). Diese von Welte inaugurierte Denkformanalyse hat sowohl in der biblischen Exegese als auch in der systematischen Theologie beider Konfessionen eine erhebliche Relevanz. Zu Weltes Durchführung der Denkformanalyse merkt der Vf. allerdings kritisch an, dass Denkformen nicht nur temporale, sondern auch gesellschaftlich-kulturelle Größen sein und dass sie auch synchron auftreten können; zudem seien Denkformen nicht nur durch das Wie bzw. den Stil des Denkens, auf den Welte stark fokussiert ist, geprägt, sondern diese seien auch inhaltlich bestimmt (vgl. S. 292 f.); und er kritisiert durchaus zu Recht den stark schematisierenden und vereinfachenden Charakter von Weltes denkformanalytischer These: Heilige Schrift = hebräisches = ereignishaft-erzählendes = soteriologisch-funktionales Denken einerseits und frühchristliche Konzilien = griechisch-metaphysisches = statisch-ontologisches = neutral-spekulatives Denken andererseits (vgl. S. 280 f.). Schließlich kritisiert er ebenfalls zu Recht Weltes durchgängige Geringschätzung und Depotenzierung des Denkens der griechischen Metaphysik, das dieser im Gefolge Heideggers für eine Verfremdung (nicht Verfälschung!) der biblischen Botschaft verantwortlich macht (vgl. S. 287 f.). Seinem Plädoyer für die Überwindung bisheriger Einseitigkeiten im Denkformbegriff (vgl. S. 293 f.) kann man sich ebenso gut anschließen wie den meisten seiner Thesen zur hermeneutischen Arbeit heutiger Theologie (vgl. S. 294–297). Damit sind wir bereits zur Bedeutung von Weltes Glaubenshermeneutik für die gegenwärtige Glaubensverkündigung übergegangen, die der Vf. nicht weniger überzeugend herausstellt, nachdem er zuvor das gegenwärtige Seinsverständnis in den urbanen Regionen westlicher Industrienationen mit den Stichworten der Technisierung, Selbstoptimierung, Autonomisierung, Funktionalisierung und Instrumentalisierung sozialer Beziehungen durchaus zutreffend charakterisiert hat (vgl. S. 267–272). Auf diesem zeitgeschichtlichen Hintergrund diagnostiziert der Vf., dass Weltes relational-dialogisches Personverständnis von der Mehrheit der heutigen Menschen in unserer Gesellschaft nicht mehr geteilt wird und dass es den autonomen Selbststand des Menschen und damit auch 344 https://doi.org/10.5771/9783495825372 .

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dessen Wahlfreiheit unterbestimmt (vgl. S. 274 f.). Seine abschließende Würdigung von Weltes Hermeneutik des christlichen Glaubens sieht zu Recht deren Hauptanliegen darin, »den christlichen Glauben und die kirchliche Christusverkündigung vom Boden des nSv aus zugänglich zu machen« (S. 298). Damit nimmt Welte für die neuzeitliche Theologie die Funktion eines Übersetzers bzw. nach den Worten Bernhard Caspers eines Fährmannes wahr, der sich das Übersetzen zwischen den beiden Ufern des neuzeitlichen Denkens und des christlichen Glaubens zur Lebensaufgabe gemacht hat. Während Welte zu seinen Lebzeiten noch zu den bekanntesten deutschen Theologen gehörte, wird er von der gegenwärtigen deutschsprachigen Theologie – im Unterschied übrigens zu seiner anhaltenden internationalen Rezeption – allerdings kaum noch wahrgenommen, wie der Vf. feststellt (vgl. S. 299 f.). Eine Besinnung auf das Grundprinzip von Weltes Glaubenshermeneutik, d. h. auf das vernehmende Denken und auf die vertrauensvolle Offenheit für die Begegnung mit dem menschlichen und dem göttlichen Anderen, könnte in der Tat die Menschen von heute für die Erfahrung des Heiligen wieder neu sensibilisieren (vgl. S. 300). Sowohl diesem äußerst dringlichen Anliegen als auch und ganz besonders der Welte-Forschung sowie der theologischen Hermeneutik des christlichen Glaubens hat der Vf. mit dieser auf einem bemerkenswert hohen Reflexions- und Sprachniveau verfassten und unglaublich minutiös belegten bzw. dokumentierten, ausgezeichneten Studie einen hervorragenden Dienst erwiesen.

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Der von Harm und Edeltraud Klueting im Aschendorff-Verlag herausgegebene Tagungsband Edith Stein’s Itinerary. Phenomenology, Christian Philosophy, and Carmelite Spirituality/Edith Steins intellektueller Weg. Phänomenologie, Christliche Philosophie und karmelitische Spiritualität (Schriften des Forschungsinstituts der Deutschen Provinz der Karmeliten, Bd. 4, Münster: AschendorffVerlag 2021, XXXIII u. 694 S., gebunden, € 68,00, ISBN 978-3402-12141-2) stellt zweifellos eine editorische Meisterleistung dar. Denn wenn man bedenkt, dass die Tagung der International Association for the Study of the Philosophy of Edith Stein (IASPES), deren für die Drucklegung überarbeitete Vorträge weitgehend (54 von 57 Vorträgen) in diesen Band zuzüglich dreier weiterer Beiträge aufgenommen worden sind, vom 15. bis 17. August 2019 in der Universität zu Köln sowie im Lesesaal der Erzbischöflichen Diözesan- und Dombibliothek Köln stattgefunden hat und jetzt bereits dieser stattliche Band von über 700 Seiten gedruckt vorliegt, kann man ungefähr den Arbeitsaufwand ermessen, den die beiden Herausgeber in sehr kurzer Zeit in dieses Editionsprojekt haben investieren müssen. Es kommt hinzu, dass es sich bei diesem repräsentativen Tagungsband um einen Sammelband handelt, der viersprachig (Englisch/Deutsch/Französisch/Spanisch) gestaltet ist, und zwar primär im Hinblick auf die Sprachen, in denen seine Beiträge verfasst sind, sekundär auch im Hinblick auf die Überschriften sowohl des Vorwortes als auch des lesenswerten Grußwortes des Erzbischofs von Köln, der verschiedenen Abkürzungsverzeichnisse, der Register und Indizes, der Kurzbiographien der Autoren und Autorinnen sowie des Verzeichnisses der Ausgaben der Werke Edith Steins (vgl. S. XXVIII–XXXIII). Auch an diesem zuletzt genannten Verzeichnis wird sichtbar, dass die Rezeption des Denkens 346 https://doi.org/10.5771/9783495825372 .

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von Edith Stein außerhalb des deutschen Sprachraums vor allem im englischen, spanischen und französischen Sprachraum stattfindet. Die insgesamt 57 Beiträge sind acht verschiedenen Themenblöcken bzw. thematischen Abteilungen zugeordnet: In der ersten Abteilung werden biographische Fragen zur Person Steins verhandelt, in der zweiten Abteilung das Verhältnis Steins zu Denkern der Vergangenheit, in der dritten Abteilung ihr Verhältnis zu zeitgenössischen Denkern, in der vierten Abteilung ihre Anthropologie einschließlich ihrer Überlegungen zu den beiden menschlichen Geschlechtern, in der fünften Abteilung ihre Philosophie, insbesondere ihre Phänomenologie und Ausführungen zur christlichen Philosophie, in der sechsten Abteilung ihre gesellschafts- und politikbezogenen Reflexionen, in der siebten Abteilung ihre theologischen und spirituellen Gedanken und schließlich in der achten und letzten Abteilung noch zwei Beiträge zu »Erfahrungen mit Edith Stein«. Betrachtet man die inhaltliche Passform dieser thematischen Abteilungen zueinander, so hätte man sich teilweise auch eine andere Anordnung derselben sachlich gut vorstellen können. Denn dass beispielsweise die phänomenologische und die christliche Philosophie Edith Steins erst nach ihrer Anthropologie verhandelt werden, ist mit Steins eigenem, durchaus traditionellem Verständnis der sachlichen Reihenfolge der thematischen Gegenstände dieser Disziplinen, das wir etwa ihrem philosophischen Hauptwerk Endliches und ewiges Sein entnehmen können, nicht vereinbar. Dort rangiert die Philosophie als Seinswissenschaft bzw. Metaphysik vor der philosophischen Anthropologie, weil die allgemeinen Grundzüge der Wirklichkeit als ihre Erkenntnisgegenstände grundlegend sind auch für das philosophische Verständnis des Menschen. Ungeachtet dessen stellen die Beiträge dieser acht Abteilungen eine wahre Fundgrube für denjenigen dar, der sich mit dem geistigen Profil dieser wahrhaft bedeutenden Persönlichkeit vertieft auseinandersetzen will. Angesichts der Vielzahl der Beiträge und des begrenzten Umfangs für diese Besprechung versteht es sich, dass auf diese Beiträge hier nur exemplarisch eingegangen werden kann. Dass die biographischen Fragen zur Person Edith Steins am Anfang dieses Bandes stehen, ist im Sinne einer biographischen Hinführung zu ihrem intellektuellen Werdegang, dessen Rekonstruktion die Thematik des Sammelbandes im Ganzen gewidmet ist, 347 https://doi.org/10.5771/9783495825372 .

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wohl begründet. Der Beitrag von Joachim Feldes skizziert die Entwicklung von Steins Christlicher Philosophie in ihren sogenannten Speyrer Jahren, d. h. in der Zeit zwischen 1922 und 1931, als deren Kenner sich der Verfasser (im Folgenden: Vf.) bereits mehrfach ausgezeichnet hat. Wichtig für Steins Entwicklung der Grundzüge einer christlichen Philosophie in dieser Zeit ist ihm zufolge ihre Zugehörigkeit zum »Phänomenologenheim« des Bergzaberner Kreises, dem neben Hedwig Conrad-Martius und ihrem Gatten Theodor Conrad auch Jean Hering, Alexandre Koyré, Hans Lipps und Alfred von Sybel angehören und der sich in Abwendung von Husserls Transzendentaler Phänomenologie und Heideggers fundamentalontologischer Phänomenologie an der realistischen Phänomenologie Adolf Reinachs (1883–1917) orientiert. Insbesondere aus Freiburger Perspektive interessant ist in diesem Zusammenhang Steins hellsichtige Diagnose der »Bedrohung der phänomenologischen Bewegung« (S. 13) und des geistigen Missbrauchs der »Studenten in ihrer teilweise traumatisierten Situation nach dem Krieg« (ebd.) durch Martin Heidegger, die sie nach der Veröffentlichung von Heideggers Sein und Zeit noch einmal verschärft, indem sie mit Hedwig Conrad-Martius Heidegger vorwirft, »in seiner Ontologie den notwendigen Übergang zur Metaphysik bewusst vermieden zu haben. In der Konsequenz propagiere er damit mutwillig atheistische Philosophie, ein Urteil, das so auch bei Koyré und von Sybel begegnet« (ebd.). Eine ausführliche Kritik der existenzialen Daseinsanalytik Heideggers nimmt Stein allerdings bekanntermaßen erst im Anhang zu ihrem philosophischen Hauptwerk Endliches und ewiges Sein vor. Steins schrittweise Verhältnisbestimmung zwischen religiösem, genauer christlichem Glauben und philosophischem Denken in ihren Speyrer Jahren wird durch ihre gemeinsame Übersetzung (mit Conrad-Martius) des Werkes Essai sur l’idée de Dieu et les preuves de son existence chez Descartes von Alexandre Koyré angeregt, ferner durch ihre Bekanntschaft mit dem Jesuiten Erich Przywara seit 1925 sowie durch ihre Beschäftigung mit John Henry Newman und Thomas von Aquin, und zwar im Rahmen ihrer Übersetzungen von Schriften dieser beiden bedeutenden christlichen Autoren. Wichtig für Steins religiöse Entwicklung in dieser Zeit sind auch ihre Gespräche mit dem Speyrer Domkapitular Joseph Schwind geworden, wie der Vf. über348 https://doi.org/10.5771/9783495825372 .

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zeugend nachweist (vgl. S. 8–10). In ihrer Speyrer Zeit formieren sich schließlich auch die erziehungs- und bildungstheoretischen Überzeugungen Steins, auf die der Vf. ebenfalls kurz eingeht (vgl. S. 11–13). Ein historisches Juwel des vorliegenden Bandes ist der Beitrag seines Ko-Herausgebers Harm Klueting über die Kölner Zeit Edith Steins, weil der Vf. Steins Beziehungen zu Köln nicht erst seit, sondern bereits vor ihrem Eintritt am 14. Oktober 1933 in den Kölner Karmel an der Dürener Straße meisterlich recherchiert hat. Hierzu gehört auch seine überzeugende Rekonstruktion der Umstände, die zum Ordenseintritt Steins in Köln geführt haben (vgl. S. 22). Ihrem Eintritt folgten ihre Einkleidung mit dem von ihr gewünschten Ordensnamen Teresia Benedicta a Cruce, ihre zeitliche Profess am 21. April 1935 sowie ihre Ewige Profess am 21. April 1938, »bevor sie den Karmel an der Dürener Straße und damit Köln am 31. Dezember 1938 verließ und in den Karmel von Echt in der niederländischen Provinz Limburg auswich« (S. 23). Ihre Übersiedelung in den Echter Karmel in Holland war durch Steins Absicht bedingt, ihre Mitschwestern im Kölner Karmel durch ihre Anwesenheit als eine gebürtige Jüdin angesichts der nationalsozialistischen Judenverfolgung nicht in Gefahr zu bringen. Abschließend erinnert der Vf. daran, dass Köln am 1. Mai 1987 auch der Ort der Seligsprechung Edith Steins durch Papst Johannes Paul II. gewesen ist. Ein sowohl für die prophetische Kraft als auch für den vorbildlichen Mut Steins beredtes Zeugnis wird in dem höchst informativen Beitrag der Ko-Herausgeberin dieses Bandes, Edeltraud Klueting, zur Entstehungsgeschichte des Briefes Edith Steins an Papst Pius XI. vom April 1933 vorgestellt und ausgelegt. In diesem Brief, den Stein noch als Dozentin am Deutschen Institut für wissenschaftliche Pädagogik in Münster verfasste und ihrem Beichtvater, dem Beuroner Erzabt Raphael Walzer OSB, als Überbringer an die Kurie mitgab, beschwört sie eindringlich die humanitäre Katastrophe für die in Deutschland ansässigen Juden, welche die antisemitische Propaganda der nationalsozialistischen Regierung, die von ihr initiierten Judenprogrome sowie deren Boykottaufruf am 1. April 1933 bereits ausgelöst habe und nach ihrer Überzeugung auch noch in schlimmerem Ausmaß hervorrufen werde. Ferner bringt sie in diesem Brief ihre Befürchtung zum Ausdruck, »dass der Kampf des 349 https://doi.org/10.5771/9783495825372 .

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nationalsozialistischen Regimes sich gleichermaßen auf die Katholiken ausdehnen werde« (S. 41 f.). Einen ganz besonders großen Mut aber erforderte ihre direkte Aufforderung an den Papst, »der sein Pontifikat unter das Wort ›Der Friede Christi im Reich Christi‹ gestellt hat: ›Wir sind auch der Überzeugung, dass dieses Schweigen [der päpstlichen Kurie] nicht imstande sein wird, auf die Dauer den Frieden mit der gegenwärtigen deutschen Regierung zu erkaufen‹« (S. 42). Was Stein mit dieser indirekten Aufforderung an den Papst erreichen wollte, ist der Vf. zufolge eine »lehramtliche Verlautbarung« des Papstes, »die ›dem Missbrauch des Namens Christi [durch die Nationalsozialisten] Einhalt gebieten‹ sollte« (ebd.): »Edith Stein forderte damit eine päpstliche Zurückweisung der Berufung des NS-Regimes auf das Christentum, wie sie Hitler am 23. März 1933 im Reichstag vorgetragen hatte. […] Wie sie [sc. Stein] feststellt, ist die Vergötzung der Rasse und der Staatsgewalt, wie sie sich in Deutschland [damals] ständig ereignet [hat], häretisch – und dagegen forderte sie das Einschreiten des päpstlichen Lehramts« (ebd.). Gerade auf dem geschichtlichen Hintergrund der damaligen Vertragsverhandlungen zwischen der nationalsozialistischen Regierung des Deutschen Reiches und dem Heiligen Stuhl, die zu einem baldigen Abschluss mit dem Reichskonkordat am 20. Juli 1933 führten, erforderte ein Brief solchen Inhalts ein unerhörtes Maß an Zivilcourage. Dass Steins Brief Papst Pius XI. auch persönlich erreichte, kann die Vf. höchst wahrscheinlich machen, viel bewegt bzw. verändert hat dieser Brief allerdings offensichtlich nicht (vgl. S. 43). Er kann jedoch zweifelsohne als »das hellsichtigste Dokument« (ebd.) gelten, »das in den März- und Apriltagen des Jahres 1933 geschrieben wurde« (ebd.). Denn er ist ein eindrückliches Zeugnis für die prophetische Kraft und den ungeheuren Mut Edith Steins, die »gesehen [hat], dass dem Vernichtungskampf der Nationalsozialisten mit einem Friedensvertrag oder Konkordat nicht Einhalt zu gebieten war. In seiner klaren Sicht und klaren Aussage ist dieses Dokument einzigartig« (ebd.). Von erheblichem dokumentarischem Wert ist der von John Sullivan O.C.D. verfasste Beitrag über die offizielle vatikanische Beurteilung der Rechtgläubigkeit der Philosophie Edith Steins im Rahmen ihres Kanonisationsprozesses. Insbesondere der Examinator Cornelio Fabro hat Stein eine kompromisslose Ausrichtung auf 350 https://doi.org/10.5771/9783495825372 .

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Klarheit und Wahrheit sowie eine uneingeschränkte Orthodoxie ihrer ethisch-moralischen Lehre und Überzeugung mit großem Nachdruck bescheinigt und ihr philosophisches Anliegen gewürdigt, die thomanische Metaphysik mit der realistischen phänomenologischen Methode in einen sachlich fruchtbaren Einklang zu bringen (vgl. S. 54–56). Von den Beiträgen zur zweiten Abteilung kann hier nur der vorzüglich recherchierte Beitrag von Andreas Speer gewürdigt werden, der Edith Steins Thomas-Lektüren und der Möglichkeit einer christlichen Philosophie gewidmet ist. Er hätte durchaus einen Platz auch in der fünften Abteilung dieses Sammelbandes über die (christliche) Philosophie Edith Steins verdient, weil er zugleich auch die Grundzüge von Steins Entwurf einer christlichen Philosophie magistral aufweist. Folgende Ergebnisse der hervorragend belegten Ausführungen des Vf.s sind aus meiner Sicht hervorhebenswert: Thomas von Aquin ist derjenige Denker, den Stein außer ihrem Lehrer Edmund Husserl am meisten hochgeschätzt hat (vgl. S. 87); dies belegen erstens sowohl ihre Übersetzung der Quaestiones disputatae de veritate des Thomas von Aquin, mit der sie bereits 1925 begann und die 1931 und 1932 erschienen ist, als auch ihre Übersetzung des thomanischen Traktats De ente et essentia aus den Jahren 1934 und 1935; zweitens ihre Rezeption des thomanischen Denkens in ihren frühen Hauptwerken Potenz und Akt aus dem Jahre 1931 und Endliches und ewiges Sein, »das zwischen Juli 1935 und Januar 1937 entstand« (ebd.); drittens sowohl ihre zahlreichen Bezugnahmen auf die Schriften Quaestiones disputatae de veritate und Quaestiones disputatae de potentia des Thomas in ihrem Werk Potenz und Akt sowie auf Thomas’ Summa theologiae und auf seinen Traktat De ente et essentia in Steins philosophischem Hauptwerk Endliches und ewiges Sein als auch umfangreiche Exzerpte, die Stein aus den Werken des Thomas und aus der Forschungsliteratur hierzu erstellte (vgl. S. 87 f.): »Viele Fragen, die im Denken Edith Steins eine zentrale Rolle spielen, werden dort verhandelt: Das Problem von Materie und Form, die Gottesfrage, die Transzendentalienlehre, die Ontologie, der Begriff der Person und nicht zuletzt die Frage nach einer christlichen Philosophie« (S. 88), die Stein im vierten Paragraphen der Einleitung zu Endliches und ewiges 351 https://doi.org/10.5771/9783495825372 .

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Sein behandelt. Dort weist Stein in einer ausführlichen Anmerkung auf einen dreifachen Sinn des Ausdrucks »christliche Philosophie« hin: 1 erstens auf das patristische Modell einer christlichen Philosophie, das der Vf. am Beispiel des Augustinus illustriert, für den die christliche als die wahre Religion zugleich auch die wahre Philosophie, christliche Lehre und wahre Philosophie daher kongruent und damit christliche Philosophie im Grunde ein Pleonasmus gewesen sei (vgl. S. 90 f.). Das zweite von Stein genannte Modell einer christlichen Philosophie charakterisiert der Vf. als den thomistischen Standpunkt, der in Bezug auf die Gotteserkenntnis von einer zweifachen Erkenntnis der Wahrheit ausgeht, und zwar von einer mit der natürlichen Vernunfterkenntnis des Menschen erkennbaren Wahrheit (hier der Existenz Gottes und seiner durch Rückschluss von seinen Wirkungen erkennbaren Wesenseigenschaften) und einer nur mit dem übernatürlichen Erkenntnisvermögen des Glaubens erkennbaren Wahrheit (hier der trinitarischen Seinsweise und der Inkarnation Gottes etc.). Dieses Modell eines Komplementaritätsverhältnisses zwischen beiden Erkenntnisweisen zueinander, der natürlichen und der übernatürlichen, nach der Summa contra gentiles des Thomas von Aquin betrachte Stein als vorbildlich für die christliche Philosophie, welche ihre Einsichten sowohl aus der Erkenntnisquelle der natürlichen Vernunft des Menschen als auch aus der übernatürlichen Erkenntnisquelle des christlichen Glaubens schöpfen soll (vgl. S. 92 f.). Gewährsleute für Steins Thomas-Interpretation seien ihr »in diesem Zusammenhang Jacques Maritain und Erich Przywara« (S. 93). Steins drittes Modell für eine christliche Philosophie kennzeichnet der Vf. mit der historisch-kritischen Thomas-Rezeption, »wie sie von der Commissio Leonina und der Schule von Le Saulchoir sowie durch Gelehrte wie Grabmann, Pelster, Sertillanges und Cenu vertreten« (ebd.) und von der Enzyklika Aeterni Patris Papst Leos XIII. von 1894 initiiert wurde, »jedoch ohne den antimodernistischen Zug eines zum neuscholastischen System erstarrten Thomismus« (ebd.). In der Verbindung dieser thomanisch-katholischen Schulphilosophie mit der modernen Philosophie sehe Stein jenes Modell einer christVgl. Edith Stein, Endliches und ewiges Sein, in: Edith-Stein-GesamtAusgabe 11/12, S. 20 f., Anm. 28.

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lichen Philosophie, in dem sie sich selbst klar verorte (vgl. S. 93 f.). Allerdings setzt Stein in der von Speer zitierten Anmerkung (vgl. Anm. 1) dieses dritte Modell einer christlichen Philosophie mit der mittelalterlichen Philosophie christlicher Prägung gleich, welche Gleichsetzung sowohl von der Enzyklika Aeterni Patris als auch von Etienne Gilsons Werk L’Ésprit de la philosophie médiévale und schließlich auch von Jacques Maritain vertreten werde, »an dessen Ausführungen wir unsere Überlegungen knüpfen« 2, wie Stein hier ausdrücklich formuliert; und sie fährt fort: »Danach ist auch die thomistische Philosophie ›Christliche Philosophie‹, obwohl sie natürlich Wissenschaft sein will und sich streng gegen die Theologie abgrenzt und obwohl gerade die strengsten Thomisten die Begriffe ›Philosophie‹ und ›christlich‹ für im Grunde unvereinbar erklären« 3. Mit anderen Worten: Für Stein ist die von ihr favorisierte Philosophie des Thomas von Aquin wie überhaupt die mittelalterliche Philosophie christlicher Prägung eine authentische Gestalt christlicher Philosophie, wie wir das bereits bei unserer Auslegung des zweiten, von Speer als »thomistisch« bezeichneten Modells gesehen haben. Steins ausdrückliche Bezugnahme auf Jacques Maritain aber zeigt, dass für Stein die christliche Philosophie nicht mit der thomanischen Philosophie einfach kongruent ist, sondern »in der Frage der modernen Philosophie nach dem wahren Sein weiterlebe« (S. 94), sodass die christliche Philosophie im Sinne von Stein als eine metaphysikaffine Philosophie mit einer realistischen Erkenntnistheorie unter den geschichtlich-kulturellen Vorzeichen des Christentums verstanden werden kann. Im Folgenden rekonstruiert der Vf. Steins Entwurf einer christlichen Philosophie im vierten Paragraphen der Einleitung zu Endliches und ewiges Sein in insgesamt acht Schritten: Den Ausgangspunkt ihrer Frage nach Sinn und Möglichkeit einer christlichen Philosophie bilde die Frage, ob neben den natürlichen Vernunfterkenntnissen des Menschen auch die christlichen Offenbarungswahrheiten als eine legitime Erkenntnisquelle einer christlichen Philosophie gelten können; während diese Möglichkeit von der modernen Philosophie verneint werde, spricht sich Stein für diese 2 3

Edith Stein, Endliches und ewiges Sein, S. 20, Anm. 28. Ebd.

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Möglichkeit aus, weil die geoffenbarten Wahrheiten des christlichen Glaubens als Wahrheiten eine legitime Erkenntnisquelle der Philosophie seien, die als Wissenschaft Wahrheit sucht, wo immer sich Wahrheit findet. Dieses von Husserl inspirierte Verständnis der Philosophie als einer strengen Wissenschaft werde in Steins zweitem Argumentationsschritt entfaltet und von ihr in ihrem Bezug auf Jacques Maritains Unterscheidung zwischen der Natur und dem Zustand der Philosophie besonders betont, die sie sich wie folgt zu eigen mache: Ihrer Natur nach sei die Philosophie von einem religiösen Glauben wie dem christlichen und dessen theologischer Auslegung »völlig unabhängig. Aber die Natur verwirklicht sich jeweils unter bestimmten geschichtlichen Bedingungen. Und mit Rücksicht auf ihre Verwirklichung könne man von einem christlichen Zustand der Philosophie sprechen.« 4 In einem dritten Schritt entfalte Stein ihre Idee von Wissenschaft, nach der alle wahren Sätze über ein Sachgebiet zu der entsprechenden Wissenschaft gehören, wobei die Wahrheit dieser Sätze sowohl an einem formalen Kriterium logischer Widerspruchsfreiheit als auch an dem inhaltlichen Kriterium einer Übereinstimmung mit dem ausgesagten Sachverhalt gemessen werde (vgl. S. 96 f.). Viertens bestimme Stein die Aufgabe der Philosophie als eine dreifache: erstens die Erkenntnis des für die natürliche Vernunft des Menschen Zugänglichen, zweitens die »Klärung der Grundlagen aller Wissenschaften« (S. 97) und drittens die Vollendung dieser Klärung durch »die Zurückführung unseres Wissens auf die letzten erreichbaren Gründe« (ebd.). Genau darin »bestehe die vollkommene Vernunftleistung, das ›perfectum opus rationis‹« (ebd.). Dieses aber sei identisch mit der Aufgabe einer Ersten Philosophie bzw. Metaphysik als eines Prinzipienwissens nach Aristoteles und es sei nach Steins fünftem Argumentationsschritt zugleich »das Ideal einer christlichen Philosophie, weil es die Gesamtheit dessen, was durch die natürliche Vernunft und Offenbarung erkannt werden könne, zu einer Einheit zusammenfasse (vgl. S. 98). Denn die menschliche Vernunft würde zur Unvernunft, »wenn sie bei dem stehen bliebe, was sie mit ihren eigenen Mitteln aufzudecken vermag« (ebd.). In einem sechsten 4

Stein, Endliches und ewiges Sein, 22 (Kursivierung durch E. Stein).

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Schritt gibt der Vf. Steins Verhältnisbestimmung zwischen Philosophie und Theologie in ihrem Verständnis christlicher Philosophie wieder: Diese soll den christlichen Glauben als Erkenntnisquelle benutzen, um auf diesem Weg zu einer umfassenderen Erkenntnis der Wirklichkeit zu gelangen; das bedeute zwar einen Autonomieverlust der christlichen Philosophie gegenüber der reinen Philosophie, die von christlichen Offenbarungswahrheiten als Erkenntnisquelle absehe; ihr stehe jedoch ein erheblicher Erkenntnisgewinn gegenüber, »der dem natürlichen Streben [des Menschen] nach einem ›perfectum opus rationis‹ entspringt« (S. 99). In einem siebten Schritt aber führe diese »Zusammenschau von Glaubenswahrheit und philosophischer Erkenntnis« (S. 100) über das menschlich Erkennbare hinaus und stelle daher eine reductio des menschlichen Wissens ad mysterium dar, wie Stein im Gefolge Erich Przywaras formuliere (vgl. ebd.). Diese »Selbstbeschränkung der Vernunft« (ebd.) gebe nicht nur dem Glauben Raum, sondern eröffne zugleich das einfache, quasi mystische Erfassen der ›Einen Wahrheit‹« (ebd.). Schließlich behaupte Stein in einem achten und letzten Argumentationsschritt die Notwendigkeit einer christlichen Philosophie als einer »Wegbereiterin des Glaubens« (ebd.), die diesem wertvolle Dienste leiste auf seinem Weg in eine unmittelbare Gotteserfahrung hinein (vgl. S. 100 f.). In seiner abschließenden Würdigung von Steins Konzept einer christlichen Philosophie im Kontext zeigt der Vf. zweierlei: erstens, dass Edith Stein gleichsam das deutsche Gegenstück zu Maréchal gewesen ist, indem sie die klassische Scholastik mit dem Geistesleben ihrer Gegenwart zu konfrontieren suchte; zweitens hebt der Vf. die mittlere Position zwischen der Subordinationstheorie des patristischen Modells und einer »überzogenen Autonomiethese« in der Verhältnisbestimmung zwischen Philosophie und Theologie hervor, die Steins Konzept einer christlichen Philosophie einnehme: »zwischen der Unterwerfung der natürlichen Vernunft unter den Offenbarungsglauben auf der einen und einer radikalen Trennung der Philosophie von der Theologie auf der anderen [Seite]« (S. 103). Stattdessen bemühe sie sich um eine Überwindung des Denkens in intellektuellen Heerlagern, die einander gleichsam feindlich gegenüberstehen (vgl. ebd.). Darin sieht der Vf. aus christlicher Sicht völlig zu Recht eine Vorbildfunktion auch für unsere heutige Zeit (vgl. ebd.); wenn er dann noch 355 https://doi.org/10.5771/9783495825372 .

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behauptet, dass die christliche Philosophie im Sinne Steins kein sacrifium intellectus verlange, weil »der Ausgriff auf das Ganze der Wirklichkeit und auf ihren Ursprung« (ebd.), d. h. das genuin metaphysische Denken, zur Natur der menschlichen Vernunft gehöre (vgl. ebd.), werden ihm die nicht christlich überzeugten Metaphysiker allerdings nicht zustimmen können. Und dennoch ist das gemeinsame Anliegen von Stein und Speer wiederum aus christlicher Sicht heute vielleicht mehr denn je beachtens- und berücksichtigenswert, mit angemessenen natürlichen Vernunftgründen, sei es im Gespräch mit Agnostikern, sei es im interkulturellen und im interreligiösen Dialog oder Trialog, für die größere Vernunftgemäßheit auch jener christlichen Glaubenswahrheiten zu argumentieren, die notwendige, d. h. zwingend beweisende Vernunftgründe nicht zulassen. Von den zahlreichen Beiträgen der dritten thematischen Abteilung soll zunächst auf denjenigen von George Heffernan eigens hingewiesen werden, der Steins Kritik an Husserls idealistischtranszendentalphilosophischer Begründung der Phänomenologie seit den Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie von 1913 im Lichte der neueren Publikation von Husserls Grenzprobleme der Philosophie aus den Jahren 1908– 1937 zu relativieren vermag. Die Rekonstruktion der Genese von Steins kritischer Auseinandersetzung mit Husserls idealistischer Begründung seiner Phänomenologie (vgl. S. 141–145) stellt kein geringes Verdienst dieses sehr informativen Beitrags dar; darin weist der Vf. u. a. Steins Überzeugung auf, dass Husserl sowohl eine Weltanschauung als eine Weise der Weltbetrachtung als auch ein Weltbild gehabt habe, das seiner phänomenologischen Philosophie vorausgehe. Dieses ersetze die Weltschöpfung eines absoluten Gottes durch individuell-subjektive Monaden, welche eine relative Welt konstituieren (vgl. S. 144 f.). Der transzendentale Idealismus Husserls könne der Welt-Transzendenz Gottes nicht gerecht werden (vgl. S. 145). Demgegenüber vermag der Vf. zu zeigen, dass Husserls transzendentale Phänomenologie, wie sie aus seinen Grenzprobleme der Philosophie hervorgeht, eine teleologische Monadenlehre bzw. eine Theorie transzendentaler Intersubjektivität mit einer philosophischen Theologie entfaltet hat, die entgegen der Kritik Steins kein geschlossenes, sondern ein offenes Weltbild dar356 https://doi.org/10.5771/9783495825372 .

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stellt (vgl. S. 145–148). Schließlich zeigt der Vf. auch die Differenz zwischen Steins und Husserls Lösung der Konstitutionsproblematik der objektiven Welt: Während Husserl diese Lösung nur von einem transzendental-idealistischen Ansatz aus möglich sah, verortete Stein diese Lösung in einer realistischen Ontologie und Erkenntnistheorie (vgl. S. 149–151), wobei sie in einer Antwort auf die Frage ihrer Freundin Hedwig Conrad-Martius, aus welchem Grund sie genau diese Weltanschauung gewählt habe, dies als ihr Geheimnis (»Secretum meum mihi«) bezeichnet hat. Auf Steins »Berührungen« mit der Dichterin Gertrud von le Fort (1876–1971) geht der Beitrag von Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz ein (vgl. S. 153–162). Dabei zeigt die Vf. nicht nur die biographischen Berührungspunkte zwischen diesen beiden Konvertiten zum katholischen Glauben auf (vgl. S. 153–155), sondern auch den tiefen Eindruck, den Stein bei le Fort hinterließ und der ihren literarischen Entwurf der »ewigen Frau« als virgo (Jungfrau), sponsa (Braut) und mater (Mutter) in ihrem gleichnamigen Essay von 1934 maßgeblich beeinflusste. Dabei stehe die »ewige Frau« in Polarität zum Mann als dessen »Ergänzung, Gegengewicht und Ausgleich« (S. 157), die, wie im Falle von Johanna von Orléans und Katharina von Siena, einspringe, wenn der Mann versage. Zu diesem Wesensbild der Frau gehöre ihre religiöse Bindung an das Göttliche und ihre Fähigkeit zur Hingabe aus Liebe (ihr mysterium caritatis). Während le Fort die »Frau in der Zeit« eher kritisch sehe, weil sie sich in der Frauenbewegung selbst vermännliche (vgl. S. 158), verkörpere »die zeitlose Frau« die leibliche und geistige Mutterschaft. Dieses Frauenbild von le Fort werde von Stein in einem Brief vom 17. November 1935 an Hedwig Conrad-Martius zwar wertgeschätzt, aber auch in seiner Einseitigkeit kritisiert und ergänzt: Denn die Frau sei nicht nur verborgene Zuarbeiterin zum Mann und »mütterliche Pflanze«, sondern auch ein Dasein um ihrer selbst willen, ein In-sich- und Bei-sich-Stehen, zumal Hingabe auch Selbsthabe voraussetze (vgl. S. 161). Schließlich habe le Fort an Stein auch deren Geheimnis ihres stellvertretenden Leidens gewittert, wie die Vf. abschließend zumindest wahrscheinlich machen kann (vgl. S. 161 f.). So seien wichtige Züge der »ewigen Frau« in der Patronin Europas »bewahrheitet« (S. 162). In dieser Abteilung verdienen auch die Beiträge von Robert 357 https://doi.org/10.5771/9783495825372 .

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Kralj über das Thema der Leiblichkeit bei Edith Stein und Romano Guardini sowie von Anna Varga-Jani über »Realität, Zeitlichkeit und Ewigkeit in Edith Steins Denken. Hedwig-Conrad Martius’ religiöser Einfluss auf Stein« eigens Erwähnung. In dem zuerst genannten Beitrag geht dessen Vf. davon aus, dass beide Autoren in der aristotelisch-thomanischen Tradition den Menschen als eine Einheit von Leib als beseeltem Körper und der Seele als seinem Formprinzip verstehen (vgl. S. 177). Guardini deute das Verhältnis zwischen Seele und Leib als ein Symbolverhältnis, in dem der Leib »natürliches Ausdrucksbild« und »Analogie« der Seele sei (S. 178); die freien Willens- und Gemütsbewegungen einer Person teilten ihrem Leib, insbesondere ihrem Antlitz, sein individuelles Gepräge bzw. seine bedeutungsvolle Gestalt mit (vgl. S. 178 f.). Die seelischgeistige Gestaltung des eigenen Leibes sei »eine lebenslange persönliche Aufgabe« (S. 180), wobei beide Denker der Sache nach noch zwischen einer natürlichen und einer übernatürlichen Vergeistigung des Leibes unterscheiden: Während die natürliche Vergeistigung des Leibes dessen persönliche Formung durch die individuelle Geistseele darstelle, gebe es auch eine übernatürliche Vergeistigung des Leibes durch das Gnadenleben im Menschen, die bis zur sog. (mystischen) Ekstase gehen könne, in der die normalen Funktionen des Leibes aufgehoben sind und die Geistseele mit einem übernatürlichen Erkenntnisvermögen gnadenhaft ausgestattet werde (vgl. S. 180–182). Der sprachlich und gedanklich nicht immer klare und gut verständliche Beitrag von Varga-Jani (vgl. S. 185–193) sucht den bedeutenden Einfluss, den die Realontologie von Hedwig ConradMartius auf den phänomenologischen Ansatz und die realistische Erkenntnislehre Steins ausgeübt hat, nachzuzeichnen. Denn es ist nicht nur die Thomas-Rezeption, die Stein zu dieser Position geführt hat. Für den an der phänomenologischen Bewegung des Schülerkreises Edmund Husserls interessierten Leser ist der Beitrag von Nicolò Lorenzetto über »Edith Steins Auseinandersetzung mit Dietrich von Hildebrands Denken« ein Glücksfund. In einem ersten, biographischen Teil thematisiert er die spärlichen persönlichen Beziehungen zwischen beiden Husserl-Schülern (vgl. S. 217–220). Denn persönlich sind sich beide überhaupt nur zweimal begegnet: 1917 bei 358 https://doi.org/10.5771/9783495825372 .

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der Beerdigung Adolf Reinachs, von dessen Tod Stein tief betroffen war und bei der v. Hildebrand die Grabrede für den hoch geschätzten Lehrer beider hielt (vgl. S. 217), und bei der Herbsttagung des katholischen Akademikerverbandes in Salzburg 1930. Briefe tauschten beide nie aus, sodass »von einer dauernden persönlichen Beziehung zwischen ihnen keine Rede sein kann« (S. 219). Und doch gibt es verblüffende Parallelen zwischen beiden Persönlichkeiten, auf die der Vf. leider nicht aufmerksam geworden ist: Denn beide sind am 12. Oktober geboren – v. Hildebrand 1889, Stein zwei Jahre später; beide haben sich von der Religiosität ihres Elternhauses bereits zu einem relativ frühen Zeitpunkt ihrer Persönlichkeitsentwicklung emanzipiert und sind nach Jahren der spirituellen Suche zum katholischen Glauben konvertiert – v. Hildebrand als gebürtiger liberaler Protestant im Alter von 25 Jahren und Stein als Jüdin im Alter von 31 Jahren; beide promovierten bei Edmund Husserl, von dem sie in die Methode des strengen phänomenologischen Denkens eingeführt wurden – v. Hildebrand 1913 in Göttingen über die Idee der sittlichen Handlung und Stein 1916 in Freiburg über das Problem der Einfühlung; beide haben sich von Husserls transzendentalphilosophischer Wende seiner Phänomenologie distanziert und unter dem Einfluss ihres gemeinsamen Lehrers Adolf Reinach einer realistischen, objekt- bzw. seinsorientierten Phänomenologie zugewandt; beide haben den Antisemitismus der Nationalsozialisten von Anfang an verurteilt und in unterschiedlichen Formen bekämpft; beide mussten vor der nationalsozialistischen Verfolgung aus Deutschland fliehen – v. Hildebrand zunächst nach Florenz und Wien, bis er wegen des Anschlusses Österreichs an das Deutsche Reich auch von dort vor den Nationalsozialisten fliehen musste, und zwar zunächst über die Schweiz nach Frankreich, wo er bis zur deutschen Besetzung Frankreichs an der katholischen Universität in Toulouse lehrte, und dann auf abenteuerlichen Wegen über Portugal und Brasilien in die Vereinigten Staaten von Amerika, Stein aus dem Kölner Karmel in den niederländischen Karmel in Echt; beide sind zu herausragenden katholischen Intellektuellen geworden, die sich für ihren katholischen Glauben existenziell total engagiert haben – v. Hildebrand durch seine langjährige philosophische Lehrtätigkeit und sein literarisches Schaffen im Dienste des Christusglaubens und der katho359 https://doi.org/10.5771/9783495825372 .

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lischen Kirche angesichts ihrer Krise nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil und Stein durch das Lebenszeugnis ihrer Ganzhingabe in einem kontemplativen Ordensleben und schließlich in ihrem Martyrium in Auschwitz; schließlich sind beide, wenn auch in unterschiedlicher Weise, kirchlich geadelt worden – v. Hildebrand durch Papst Pius XII., der ihn als »Kirchenlehrer des 20. Jahrhunderts« bezeichnete und Stein bekanntermaßen durch ihre offizielle Selig- und Heiligsprechung und Erhebung zur Patronin Europas durch die römisch-katholische Kirche. Diese wahrhaft verblüffenden Parallelen zwischen diesen beiden Giganten des Geistes und des katholischen Glaubens können wir den ansonsten aufschlussreichen Ausführungen des Vf.s hinzufügen. Denn höchst informativ sind dessen Hinweise auf Steins Rezeption der genannten Dissertation v. Hildebrands in § 4 des Kapitels »Geistiges Leben und Motivation« ihrer Schrift »Psychische Kausalität« (vgl. S. 220– 224): Hier rezipiert sie v. Hildebrands Unterscheidung des auf die Realisierung eines Sachverhalts gerichteten Wollens in die Willensstellungnahme, den Willensvorsatz und die Willensentscheidung als das eigentliche Einleiten einer Handlung. Zugleich kritisiere sie v. Hildebrands Annahme, dass die Handlung immer auch ein Verhalten des Leibes einschließe, und zwar mit einem Hinweis auf die inneren, geistigen, nicht leibgebundenen Tätigkeiten der geistigen Seelenkräfte des Menschen (vgl. S. 221 f.). Während auch nach Stein die Willensstellungnahme noch einen unfreien Charakter besitze, sei der eigentliche und einzige Ort menschlicher Freiheit die Willensentscheidung (vgl. S. 224). Schließlich habe Stein auch v. Hildebrands großes Werk Metaphysik der Gemeinschaft von 1930 ausführlich rezipiert und sogar in einer eigenen Besprechung aus dem Jahre 1932 gewürdigt. Darin bezeichne sie dieses Werk als einen »ontologischen Grundriß einer Soziologie«, das »eine ganze philosophische Disziplin« 5 entwerfe. Nach Stein stelle dieses Werk allerdings mehr eine Ontologie als eine Metaphysik der (menschlichen) Gemeinschaft dar, weil eine Metaphysik auch die Glaubenswahrheiten einbeziehen müsse, »um sich als wahre Wissenschaft konstituieren zu können« (S. 225). Darin unterscheide sich Stein E. Stein [Besprechung von:] Dietrich von Hildebrand: Metaphysik der Gemeinschaft [1932], in: ESGA 9, 176.

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in methodischer Hinsicht von der Vorgehensweise v. Hildebrands, der »die These vertrat, die Philosophie könne Themen des Glaubens einbeziehen, aber durch eine rein natürliche Methode, die komplett verschieden von der der Theologie sei« (S. 226). Stein empfehle aber nachdrücklich die Lektüre des Kernstücks dieses Buches, d. i. v. Hildebrands Analyse der Liebe, insbesondere der bräutlichen Liebe, die er lange nach Steins Tod in seinem 1971 erschienenen Meisterwerk Das Wesen der Liebe wieder aufgenommen und zu einem Abschluss gebracht hat. Instruktiv ist der Beitrag von Julia Mühl-Sawatzki über die verschiedenen methodischen Zugänge Edith Steins und Gerda Walthers (1897–1977) zur Erfassung des Fremdseelischen und zur Entstehung von Gemeinschaften. »Während Walther auf der Suche nach einer inneren Erfassung und Verbindung von Individuen war, verwendet Stein einen äußeren Zugang durch den Prozeß der Einfühlung« (S. 239). Walther verorte daher die Vergemeinschaftung im Inneren des Menschen durch eine aktuelle und habituelle »Wechseleinigung« zwischen den einzelnen Mitgliedern, während für Stein die Einfühlung der Akt der intersubjektiven Erfahrung sei, in dem das isolierte Ich bzw. Individuum mit anderen Subjekten in Beziehung trete. Einen bedeutenden Beitrag zur fünften Abteilung über die (christliche) Philosophie Steins dieses Tagungsbandes mit dem Titel »Die einfache Seinsgewissheit des Menschengeistes und seine Konstitution als Antlitz im philosophischen Denken Edith Steins« hat die deutsch-chilenische Altmeisterin der Stein-Forschung, Anneliese Meis Wörner SSpS, geleistet. Darin vertritt sie die These, dass die dem menschlichen Geist eigene Seinsgewissheit sich »spezifisch als Antlitz« (S. 377) konstituiere. Diese These sucht die Vf. durch eine minutiöse Analyse des semantischen Felds der Seinsgewissheit im Werk von Stein zu belegen. In Steins Schriften Potenz und Akt und Endliches und ewiges Sein werde die Seinsgewissheit als »einfache Seinstatsache verstanden, hinter die nicht mehr zurückgegangen werden kann« (ebd.). Deren Ausformungen seien »letztlich im ›Ich fühle‹ Steins als ›Antlitz‹ verankert« (S. 378). Damit werde der menschliche Geist »auf seine ursprüngliche Beziehungsfähigkeit begrenzt, wenn seine Konstitution als ›Antlitz‹ untersucht werden soll« (ebd.). Denn im sprachlichen Ausdruck »Antlitz« und seinen 361 https://doi.org/10.5771/9783495825372 .

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Synonymen »Gesicht« und »Angesicht« weise Stein »immer auf den jeweils Anderen hin« (ebd.), bringe sie ein »Gesehen- und Gehörtwerden« des Menschengeistes zum Ausdruck, »wenn dieser auf sich selbst blickt und so seine ›Konstitution‹ bekundet« (S. 379). Wird damit aber nicht der menschliche Geist gleichsam als »das Andere seiner selbst« gedeutet? Die wesentlichen Elemente dieser Konstitution aber sind nach Stein das Ich, welches die Wirklichkeit ohne Existenzbejahung konstituiere, »sie aber immer als dem Anderen ausgesetzt versteht« (S. 380); und wenn »sich dieser Andere dann ebenfalls subjektiv als Ich und objektiv als am gemeinsamen Sein teilhabend enthüllt, öffnet sich jenes ›Zwischen‹ dem Ich und dem Anderen, das der Seinsgewissheit eigen ist« (ebd.). Diese Seinsgewissheit werde bei Stein durch die philosophische Erkenntnis erreicht, durch die Naturwissenschaften experimentell bestätigt und in der höchsten, unzweifelhaften Gewissheit Gottes im Glauben als ein Geschenk der Gnade vollendet (vgl. S. 380 f.). Daher stelle diese Seinsgewissheit eine »letzte Evidenz dar, die zwischen Vernunft und Gegenstand im Gemüt entspringt, wenn der Menschengeist von seinem Ursprung, dem Gottesgeist, ergriffen sich ihm hingibt« (S. 381). Die Vf. möchte zeigen, dass die »einfache Seinsgewißheit des Menschengeistes [im Denken von Stein] sich jedoch als Antlitz sowohl visuell als akustisch konstituiert« (ebd.). Zu diesem Zweck beginnt sie mit der Rekonstruktion der einfachen Seinsgewissheit der Ich-Konstitution »im Doppelgesicht des Seins« (S. 382), unter welcher sie die »›Paradoxie‹ der Gleichzeitigkeit von Sein und Nicht-Sein« (S. 383), d. h. die beständige Veränderung und damit Zeitlichkeit des Seins verstehe. Diese nach Stein im mehr als bloß subjektiven Gefühl des Gemüts erschlossene Gewissheit des vergänglichen, des doppelgesichtigen Seins offenbare zugleich die Idee des unvergänglichen, ewigen Seins (vgl. S. 384 f.) in Gestalt einer Glaubensgewissheit des Menschen, die trotz ihres intellektuellen Nicht-Wissens »ein Wissen von vollkommener Gewissheit« (S. 387) sei. Darüber hinaus verankere Stein die Seinsgewissheit des Menschen im Doppelgesicht des »menschlich-göttlichen Logos« (S. 388), in dem sie das Sein gründen und aus dem sie es hervorgehen lässt (vgl. S. 389). Das doppelte Antlitz des Logos aber spiegele sowohl das eine und einfache göttliche Wesen als auch in seinen ewigen Schöpfungsideen die Mannigfaltigkeit des endlichen, 362 https://doi.org/10.5771/9783495825372 .

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geschaffenen Seins wider, sodass die Schöpfung zum Bild des Sohnes Gottes geformt sei (vgl. S. 390). Seine Krönung erfahre dieses »Doppelgesicht des menschgewordenen Logos« (S. 391) in der Kirche und ihrer Vermittlung der Offenbarung, »deren Gewissheit in der Wahrhaftigkeit des Mitteilenden« (ebd.) begründet liege. Die »letzte Gewißheit des Menschengeistes« (S. 392) aber werde erst in seiner unmittelbaren, fazialen Schau des Gottesgeistes erreicht bzw. in dem unmittelbaren Eingehen des göttlichen Geistes in den menschlichen Geist und damit in dem Doppelgesicht der mystischen Nacht, in der der menschliche Geist seine Eigenwirksamkeit verloren hat und ganz empfänglich geworden ist für die Einwohnung des göttlichen Geistes und seine Neugeburt aus ihm (vgl. S. 394–398). Auch wenn deren irreversible Vollendung erst dem ewigen Leben vorbehalten ist, so kann die menschliche Geistseele in ihrer gleichsam mystischen Antizipation eine vollkommene Gewissheit erlangen, dass sie in Gott war und Gott in ihr und dass Gottes unsichtbare Hand sie fortan leitet und lenkt in allen ihren Entscheidungen und auf allen ihren Wegen (vgl. S. 397 f.). Obwohl noch zahlreiche andere Beiträge zu diesem Sammelband, insbesondere zu seiner siebten Abteilung über Steins Theologie und Spiritualität, in ihren Ergebnissen höchst berichtens- und empfehlenswert sind, muss ich aus Umfangsgründen es mit dieser Darstellung bewenden lassen. Zusammenfassend darf ich festhalten, dass mit diesem Sammelband ein wahres Kompendium der aktuellen Forschung zu Edith Steins geistigem Werdegang vorliegt, das ein Standardwerk der Stein-Forschung zu werden verdient. Zu seiner Entstehung kann man den beiden Herausgebern und seinen zahlreichen Beiträgern nur gratulieren.

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Autorenverzeichnis

Beck, Heinrich, em. o. Prof. (LS Philosophie I) an Univ. Bamberg, Prof. h. c. mult., Dr. phil., Dr. h. c. Eisgrube 1 96049 Bamberg [email protected] Böhr, Christoph, Prof. Dr. Phil.-Theol. Hochschule Benedikt XVI. Heiligenkreuz Otto-von-Freising-Platz 1 A – 2532 Heiligenkreuz im Wienerwald Österreich [email protected] Dziewas, Ralf, Prof. Dr. Theologische Hochschule Elstal Institut für Diakoniewissenschaft und Sozialtheologie Johann-Gerhard-Oncken-Str. 7 14641 Wustermark [email protected] Elberskirch, Johannes, Dr. Westfälische Wilhelms-Universität Münster Katholisch-Theologische Fakultät Seminar für Dogmatik und Dogmengeschichte Johannisstraße 8–10 48143 Münster [email protected]

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Enders, Markus, Prof. Dr. Dr. Albert-Ludwigs-Universität Freiburg Theologische Fakultät AB Christliche Religionsphilosophie Platz der Universität 3 79098 Freiburg i. Br. [email protected] Hoping, Helmut, Prof. Dr. Albert-Ludwigs-Universität Freiburg Theologische Fakultät AB Dogmatik und Liturgiewissenschaft Platz der Universität 3 79098 Freiburg i. Br. [email protected] Lee, Sang-Sup, Prof. Dr. Sogang University Department of Philosophy 35 Baekbeom-ro, Mapo-gu Seoul 04107, South Korea [email protected] Lienkamp, Christoph, Dr. Walter-Boch-Str. 6c 79183 Waldkirch [email protected] Schäfer, Christian, Prof. Dr. Universität Bamberg Lehrstuhl für Philosophie I An der Universität 2 96047 Bamberg [email protected]

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Seyler, Frédéric, Ph.D., Prof. Dr. DePaul University Department of Philosophy 2352 North Clifton Avenue, Suite 150 Chicago, Illinois 60614–3208, (USA) [email protected] Trusheim, Jens, Dr. des. Universität Frankfurt Fachbereich 06 Evangelische Theologie Fachgebiet Systematische Theologie und Religionsphilosophie Campus Westend, Norbert-Wollheim-Platz 1 60323 Frankfurt am Main [email protected]

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