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German Pages 573 [576] Year 2009
de Gruyter Lehrbuch
Hermann Deuser
Religionsphilosophie
W _g| DE
Walter de Gruyter · Berlin · New York
Einhandgestaltung unter Verwendung von Paul Klee, Hauptweg und Nebenwege, 1929,90 (Detail), Ölfarbe auf Leinwand, Museum Ludwig, Köln. © V G Bild-Kunst, Bonn 2008.
Gefördert von der VolkswagenStiftung
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I S B N 978-3-11-016190-8 (Gebunden) I S B N 978-3-11-016189-2 (Broschiert) Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Copyright 2009 by Walter de Gruyter G m b H & C o . K G , D-10785 Berlin Dieses W e r k einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung Zustimmung
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Für Niels J0rgen CappeWn
Inhalt
Vorwort Einleitung § 1: Religion und Religionsphilosophie 1. Religionsphilosophie historisch: die europäische Moderne seit 1800 2. Religionsphilosophie allgemein: die Perspektive der Moderne angewandt auf und in Wechselwirkung mit Antike und Christentum 3. Religionsphilosophie religionswissenschaftlich: die Perspektive der Moderne angewandt auf und in Wechselwirkung mit Religionen und Religiosität 4. Religionsphilosophie systematisch: rational, existentiell, universalistisch 4.1. Religionsphilosophie rational: analytischer (sprachphilosophischer) Zugang 4.2. Religionsphilosophie existentiell: alltagsweltliche Plausibilität und Phänomenalität religiöser Erfahrung 4.3. Religionsphilosophie universalistisch: Ereignisontologie, Prozessrealität und Metaphysik als Begründungszusammenhang § 2: Religionsphilosophie und Theologie 1. Philosophie und Religion 2. Religionsphilosophie und Theologie in Uberschneidung und Unterscheidung
XIII 1 1 4
8
10 14 22
24
26 31 32 40
Vili
Inhalt
I. Biblische, antike und scholastische Tradition § 3: Deuteronomium und vorsokratische Theologie 1. Deuteronomium: Das Gesetz und seine Wiederholung 1.1. Die Heilung des Fremden durch den einen Gott (II Reg 5) 1.2. Die Wiederholung im Geschenk des neuen Sich-selbst-Verstehens 0er 31, 31-34) 2. Der eine Gott anstelle der mythischen Götter (Xenophanes) § 4: Hiob und der sokratische Dialog 1. Die Gottesrede „aus dem Wettersturm" (Hi 38) 2. Piatons Sonnengleichnis (Politela VI) § 5: Christliche Philosophie I: Augustin und der (Neu-)Platonismus 1. De vera religione 1.1. Das Schöne (Plotin) 1.2. Das Gute (Boethius) 1.3. Das Wahre (Augustin) 2. Confessiones 3. Dionysius Pseudo-Areopagita § 6: Christliche Philosophie II: Aristotelismus und moderne Wissenschaft 1. Das Gottesargument aus den metaphysischen Begriffen von Substanz, Sein und Bewegung 1.1. Der unbewegte Beweger (Aristoteles, Met. XII) 1.2. Substantia prima simplex, quae Deus est (Thomas v. Aquin) 1.3. Das Gottesargument ex parte motus (Thomas v. Aquin) 2. Dialektische Theologie (Abaelard) 3. Nominalismus 3.1. Aliqua est natura in entibus effectiva - Von Duns Scotus zu Wilhelm v. Ockham 3.2. Via moderna
56 56 57 59 62 66 75 76 83
95 97 98 101 107 112 118
125 129 129 137 146 152 160 160 166
Inhalt II. Reformatorische und neuzeitliche Tradition § 7: Glaube und Vernunft (M. Luther) 1. Der Wille als unfreies Willensvermögen 2. Glaube als rezeptive Gewissheit 3. Gottes kreative Vorrangigkeit 4. Unbedingtheit in rhetorischer Bild- und Uberzeugungskraft
IX 169 170 172 176 179 183
§ 8: Religionskritik 188 1. Induktion und Erfahrung (F. Bacon) 188 2. Empirie, Autonomie und Selbstbewusstsein (I. Kant) 197 2.1. Empirie und Mechanik 197 2.2. Empirie, Mathematik und Kritik der Spekulation ... 200 2.3. Autonomie und Selbstbewusstsein 204 3. Metaphysikverlust (L. Feuerbach, F. Nietzsche) 215 3.1. Hegels spekulative Systemphilosophie als Hintergrund 215 3.2. Erklärte und durchschaute Religion 217 § 9: Religion: Glaube und Handeln 1. Belief und Faith (D. Hume, J.G. Hamann) 2. Gott und Welt - Zweifel und Existenz 2.1. Substanzen ohne Zweifel (R. Descartes) 2.2. Textkritik und Ethik (G.E. Lessing) 3. Die Pragmatik der Selbst- und Gottesrelation 0. Edwards) 3.1. Religious Affections 3.2. Freedom of the Will 3.3. Kosmologie und Gottesrelation III. Das Unbedingte: Ausarbeitung von Kreativität § 10: Gefühlsqualität 1. Das Paradox der Unmittelbarkeit 2. Die semiotische Lösung: Ikonizität 2.1. Bild 2.2. Diagramm 2.3. Metapher 3. Das kreativ Unbedingte: Gefühlsqualität
227 230 236 238 242 247 249 252 255 259 260 260 267 270 272 276 279
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Inhalt
§11: Wahrnehmungsaugenblick 1. Zeitproblem und Augenblick 1.1. Augenblick und Zeitlichkeit 1.2. Zeitintervall qualitativ 2. Ereignisontologie 2.1. Ereignis und Konkretisierung 2.2. Kreativität: Gott und die Welt
292 292 296 302 307 308 311
§ 12: Mystik 1. Einheits- und Grundbezug 2. Vermittlungsproblem und Gefühlsausdruck 3. Negativität kreativ
315 315 322 328
IV. Das Relative: Explikationen von Religiosität § 13: Religionspsychologie 1. W. James' wissenschaftliche und religiöse Fragestellung 2. Die Definition von Religion 3. Religiöse Typologisierung 4. Pragmatistische Funktion der Religion
341 342 343 346 351 355
§ 14: Religionssoziologie 1. Vom Geisterglauben zum rationalen Handeln (M. Weber) 2. Religion funktional: Sinnsystem und Kontingenz (N. Luhmann) 2.1. System und Komplexität 2.2. System und Sinn religionssoziologisch 2.3. Kommunikation und Kontingenz 3. Funktion, Handlung und Aneignung
364
372 373 378 386 393
§ 15: Religionsgeschichte 1. Geschichte als Quellenkritik 2. Glauben und Wissen (G.W.F. Hegel) 3. Geschichte als historische Forschung (E. Troeltsch) 4. Phänomenologie und Hermeneutik
399 400 403 410 415
366
Inhalt
V. Das Kontinuum: Religiöse Erfahrung als personale Symbolisierung
XI
421
§ 16: Imagination 1. Ein-Bildung 2. Versonnenheit [Musement] 3. Abduktives Gottesargument 3.1. Abduktion als Schlussform 3.2. Abduktion im N.A
427 430 433 436 437 442
§ 17: Normativität als Ritual 1. Wert 2. Sinn 3. Kosmologisches Gottesargument 3.1. Die Chance der Induktion 3.2. Die zweite Stufe des N.A
447 453 460 465 465 471
§ 18: Gottes Realität 1. Persönlichkeit: Selbst-Sein 2. Theodizee 3. Ontologisches Gottesargument 3.1. Anselms Deduktion 3.2. Die dritte Stufe des N.A
474 479 490 498 498 502
Abkürzungen
505
Literaturverzeichnis 1. Werkausgaben 2. Textsammlungen 3. Lehrbücher, Lexika, Periodika 4. Forschungsliteratur
508 508 514 514 516
Namensregister
538
Sachregister
547
Vorwort Der Gegensatz zwischen Leben und Lehre wird nirgends so hart empfunden wie in Sachen Religion. Die einzelne Praxis und Lebensform mag überzeugend erscheinen, subjektiv sogar unentbehrlich, aber ihre Theoriefiguren wirken oftmals fremd und abgehoben - wie mathematische Gleichungen im Verhältnis zu den wirklichen Formen und Bewegungen in der Natur. Die religionswissenschaftliche Forschung sucht deshalb gerne exotische Felder, in denen die religiöse Welt noch so zu sein scheint, wie sie ursprünglich, d.h. vorwissenschaftlich einmal lebendig gewesen sein muss. Eine Selbstanwendung auf das forschende Individuum, gar die Wissenschaft und ihre Methoden bleibt diesem Blick auf die Dinge aber prinzipiell verwehrt, denn dies würde den Zusammenbruch der Objektivierungsperspektive bedeuten, aus der die Wissenschaftlichkeit ihre Autorität bezieht. Auch die Philosophie? Ist sie nicht zur Selbstanwendung des Gesehenen auf das geistige Auge genauso zwingend angewiesen wie eine Lebensanschauung auf ihre existentielle Realisierung? Sind nicht Religionsphilosophie, Metaphysik und Theologie gerade deshalb stellvertretende Wissenschaften, weil sie dieses unvermeidliche Perspektiven- und Gegenstandsproblem ausdrücklich und konsequent zum Thema machen, während andere Wissenschaften es - bewusst oder unbewusst - ausblenden können? Religionsphilosophische Orientierungen bewegen sich heute zwischen den Eckpunkten der kritischen (europäischen) Aufklärungstradition, des neu erwachten Verständnisses für religiöse Lebensformen weltweit und des wissenschaftstheoretischen Evolutionsparadigmas, d.h. seiner fraglichen Anwendung auf menschliche Kulturbildungen überhaupt. Hier Maßstäbe zu entdecken und neu zu entwickeln ist von den anderen Wissenschaften, so aktuell sie sein mögen, allein nicht zu erwarten; sich unter diesen Bedingungen mit Religion zu beschäftigen verlangt wissenschaftliche Genauigkeit und Engagement im Blick auf das Phänomen der Religiosität - ein Auftrag, dem sich die Religionsphilosophie stellen kann und muss. Dabei geht es im hier vorliegenden Lehrbuch primär nicht um die Geschlossenheit eines (weiteren) Entwurfs, sondern um geschichtliche und systematische Begründungsfiguren wie deren interne und externe
XIV
Vorwort
Bewährung an den Konfliktpotentialen des Religionsproblems: Ob trotz und wegen der Unbedingtheit des jeweils (existentiell und geschichtlich) Konkreten dasselbe doch auch allgemein und zu denken ist - und ob eine solche Konstellation der Wirklichkeit und Wahrheit entsprechen kann, wie sie heute von Wissenschaft und Leben zugleich vorausgesetzt und gesucht werden müssen. Lehrbücher der Religionsphilosophie finden sich im Einflussbereich europäischer Wissenschafts-, Religions- und Lebensformen seit ca. 200 Jahren. Ein erster Typus der kulturell-wissenschaftlichen, d.h. philosophischen Verteidigung des Religionsproblems (gegenüber einerseits kirchlich-positiven, andererseits kritisch-agnostischen Positionen) lässt sich im 19. Jh. verfolgen, in Deutschland vielleicht beispielhaft in H. Siebecks Lehrbuch. Das 20. Jh. verliert meist diese Souveränität (zumal in Deutschland) zugunsten von - philosophischen und theologischen - Schulbildungen, die das Phänomen der Religion selbst erst einmal bestreiten bzw. etablieren müssen. Für diesen zweiten Typus stehen so unterschiedliche Entwürfe wie der von E. Brunner (theologisch legitimierter Religionsbegriff), W. Trillhaas (vernünftiger und darin begrenzter Religionsbegriff) und B. Welte (existentialontologische Religionsbegründung). Der dritte Typus hat durchaus Traditionen und Vorläufer im Wissenschaftsstandard der Philosophie des deutschen Idealismus und dessen Folgen, seine eigentliche Ausprägung aber gewinnt er durch die englischsprachige analytische Philosophie seit der 2. Hälfte des 20. Jh. Er wird heute bestens vertreten durch die große Zahl von einschlägigen Kompendien der englischen und amerikanischen Universitätsverlage, besonders markant ist die Durchführung bei K.E. Yandell. Für die Gegenwart ist immer mehr ein vierter Typus zu beobachten, der die bisherigen integriert und Darstellungen zu entwickeln sucht, die dem enorm wachsenden Interesse an den Weltreligionen wie an wissenschaftlich motivierten Weltbildern entsprechen können. Diese prinzipielle Öffnung zu den Disziplinen der Religionswissenschaft und Wissenschaftstheorie ist zwar nicht neu, sie verlangt heute aber eine erneuerte Wissenschaftsklassifikation und religionsphilosophische Systematik, die sich auch der Vielfalt philosophischer wie theologischer Begründungsmuster und Kritikpotentiale gewachsen zeigen. Entsprechend zahlreich werden - trotz dieser einheitlichen Aufgabenstellung die Religionsphilosophien ausfallen, und in dieser Situation braucht auch ein Lehrbuch, soll es nicht nur Material sammeln, seine erkennbar eigene Linie.
Vorwort
XV
U m im Folgenden allen diesen Anforderungen gerecht zu werden, bieten die Teile I und II eine eher an der Geschichte orientierte Einführung in die Religionsphilosophie, während in den Teilen III-V wissenschaftstheoretische, kosmologische und metaphysische Argumentationen vorherrschen, die zumal in Teil V zu einer eigenen Systematik gebündelt werden. Neu daran ist die konsequente Verarbeitung von Phänomenologie, Kosmologie und amerikanischer Religionsphilosophie in der Tradition des Pragmatismus, genauer gesagt: konzentriert auf Ch.S. Peirce' kategoriale Semiotik. Durch sie werden Theoriebildung und religiöse Lebensform aufeinander beziehbar, wie dies für die kontinentale und besonders die deutsche Philosophie und Theologie nach I. Kant und der Trennung von Natur- und Geisteswissenschaften im Kantianismus des 19./20. Jh. nicht mehr möglich gewesen ist. Die beiden Einleitungsparagraphen - zur Einführung und wissenschaftssystematischen Ubersicht gedacht - stecken die Hauptrichtungen, Felder und Überschneidungen ab, wie sie bislang zwischen mehr religionstheoretischen, religionsphilosophischen bzw. theologischen Entwürfen aufgetreten sind. Die Verwissenschaftlichung des Religionsproblems gehört inzwischen zu ihm selbst, wie vor allem Teil IV nachweist - der aber in dieser Funktion nicht ohne die Rahmenbildung durch die Teile III und V zu lesen ist. Das durchgängig gewählte Darstellungsverfahren verbindet allgemeine (geschichtliche) Problemexpositionen mit jeweils exemplarischen Texten und deren argumentativer Auswertung. Dabei werden klassische Positionen bevorzugt, die Geschichte gemacht haben und erneuerte Aufmerksamkeit verdienen. Jeder Abschnitt hat seinen repräsentativen Text, der die Gedankengänge zum Leuchten bringen und in Erinnerung halten soll. Auch die Literaturhinweise sind repräsentativ zu verstehen. Sie zeigen entweder, worauf sich die vorgelegte Darstellung wesentlich stützt, oder sie eröffnen das weitere Gespräch mit der Forschung. Zumal die generell eingesetzten Hinweise auf die großen Fachlexika und Enzyklopädien (sie werden in der Regel im Literaturverzeichnis nicht wiederholt) sollen zur weiteren Orientierung helfen: im Blick auf ungenannt gebliebene Kontexte wie Detailfragen der Werkinterpretation. Die Rechtschreibung ist dem heute geltenden Stand angepasst, mit Vorsicht auch in der Zitierung von Quellen, soweit dies die Texte nicht anachronistisch entstellt. - Bei der Zitierung S. Kierkegaards wird im Beleg zunächst die dänische Werkausgabe genannt, verbunden mit dem Hinweis auf die deutsche Edition, wobei der Zusatz „vgl." bedeutet, dass die Ubersetzung nicht (oder nur teilweise) übernommen wur-
XVI
Vorwort
de. - Vielfach habe ich auf Material aus Vorarbeiten zurückgegriffen. Nennen möchte ich über das Literaturverzeichnis hinaus den Beitrag für die Tagung der European Society for Philosophy of Religion, Tübingen 2006 („Mediation and Immediacy in Religion"); den Beitrag zur Tagung der Nordic Society for Philosophy of Religion, Oslo 2007 („Religionsphilosophie - hermeneutisch und phänomenologisch?"); und die Beiträge in den Festschriften für H.-G. Heimbrock (Lived Religion, ed. by H. Streib u.a., Leiden/Boston 2008), LU. Dalferth (Hermeneutische Blätter, Zürich 2008) und K. Oehler (Pragmata, hg. v. K.-M. Hingst/M. Liatsi, Tübingen 2008). Dass dieses große Projekt Religionsphilosophie nach vielen Jahren der Vorbereitung jetzt doch abgeschlossen werden konnte, verdanke ich einem doppelten Privileg: Dem Jahr 2006/07 als Fellow am MaxWeber-Kolleg, Erfurt, d.h. einem inspirierenden geisteswissenschaftlichen Umfeld, das religionsphilosophisches Denken bewusst einschließt - und vor allem dem Forschungsjahr 2007/08 im Rahmen der Förderung „Pro Geisteswissenschaften/Opus magnum" der Fritz Thyssen Stiftung, Köln, und der VolkswagenStiftung, Hannover. In beiden Jahren wurden optimale Arbeitsbedingungen ermöglicht und ich habe allen Grund, mich herzlich zu bedanken. - Das gilt natürlich auch für die jahrelange Zusammenarbeit mit dem Verlag W. de Gruyter, namentlich und ganz besonders mit Herrn Dr. Albrecht Döhnert, und für die immer hilfreiche und effektive Unterstützung bei allen bibliographischen und editorischen Arbeiten in Frankfurt: Ich danke Andrea Guevara, Kaarlo Friedrich und vor allem Silke Baumann.
Frankfurt am Main und Erfurt im Oktober 2008
Hermann
Deuser
Einleitung § 1: Religion und Religionsphilosophie Die Entstehung der Religionen liegt weit zurück, menschliche Kulturformen und ihre religiösen Elemente dürften in ihrem Ursprung ununterscheidbar sein. Höhlenmalereien aus prähistorischer Zeit und die in ihr anzusetzende „primäre Religionserfahrung" von Stammesgesellschaften dienen der Forschung als Beleginstanzen.1 Die versuchsweise Aufhellung dieser Vorgeschichte ist Sache der Religionswissenschaft, soweit sie sich als Religionsgeschichte versteht. Doch schon dieser Rückblick verlangt zugleich eine Bestimmung dessen, was generell als Religion verstanden werden soll. Um vergangenen Religionen ebenso gerecht zu werden wie der Lebenskraft von Religionen und Religiosität bis in unsere Gegenwart, um also den religiösen Phänomenen wirklich zu entsprechen, können diese zunächst als Bearbeitungs- und Ausdrucksformen von elementaren menschlichen Lebenswirklichkeiten aufgefasst werden: von der Geburt über Leiblichkeit, Sozialität und Sprache bis zu den Grenzen des Lebens.2 Das schließt wissenschaftliche Beschreibungen nicht aus, beschränkt nicht die Vielfalt der Phänomene und lässt Raum für begriffliche (Selbst-)Darstellungen der jeweiligen Religion, in der Außen- wie in der Innenperspektive. Religionsphilosophie wird der Sache nach dann möglich, wenn sich die kulturelle Fähigkeit zur kritischen Distanznahme entwickelt hat, sich theoretisch begründen kann und damit der schon etablierten Religion, etwa im Vergleich zu anderen Religionen oder Kulturformen, gegenüber zu treten vermag. Dieses Gegenübertreten kann - aus unserer heutigen Sicht, die die Verselbständigung der Einzelwissenschaften voraussetzt - mehr philosophisch oder mehr theologisch ausfallen, kann mehr kritisch oder mehr konstruktiv gemeint sein, kann die tradierte Religion relativieren, ersetzen oder verbessern wollen.
1
F. Heiler (1999), 38ff. („Religion (1999), 34ff. (mit der im Anschluß von „primärer" und „sekundärer Wörterbuch der Religionen (2006),
2
A. Feldkeller (2006), 13ff.
in prähistorischer Zeit"); T h . Sundermeier an A. Portmann gewählten Unterscheidung Religion"); vgl. „Primitives Denken", in: 409f.
2
Einleitung
Die Situation möglicher Religionsdistanz zugunsten gesellschaftlich-kultureller Veränderung und Neubestimmung von Religion ist in den eurasischen Zentren - im Mittelmeerraum, in Persien, Indien und China - in der sogenannten Achsenzeit (K. Jaspers) eingetreten, und sie wird verwirklicht in den neuen Großkulturen und ihren ebenso universalen wie pluralen Religionsauffassungen. Die jeweiligen Welthorizonte werden erschlossen und geprägt durch Rituale, Kulte, heilige Texte und neue religiöse Lebens- und Organisationsformen.3 Lao-Tse, der Begründer des Taoismus lebt im China des 6. Jh. v. Chr.; Konfuzius (551-479) wird zum Begründer einer kosmisch-religiös-politischen Kultur; der klassische Hinduismus der Upanishaden bildet sich seit dem 5. Jh. v. Chr. heraus; Buddha lebt bis ins 4. Jh. v. Chr.; Zarathustra im Iran des 6. Jh. v. Chr.; Piaton (428/27-348/47) begründet mit der Akademie in Athen die abendländische Philosophie; die Propheten Israels und die dominierenden Theologien des Alten Testaments liegen in denselben Zeiträumen; Christentum und Islam schließen sich in den folgenden Jahrhunderten an. Die Religionswissenschaft als Religionsgeschichte sucht Eigenart und Vergleichbarkeit jener Religionsprägungen zu bestimmen; Religionsphilosophie aber entsteht in der Frage der Begründung und Wahrheit dessen, was die Religion jeweils zum Ausdruck bringt. Gemessen an der Vielfalt religiöser Phänomene und der Unterschiedlichkeit geschichtlicher Religionen liegt in der religionsphilosophischen Fragestellung insofern eine einheitliche Perspektive, als sie mit dem Sammelbegriff Religion die Stelle markiert, an der in Symbolisierungen elementarer menschlicher Lebenswirklichkeiten deren problematische Gegebenheit, im Zugleich von Entzogenheit und Verlässlichkeit, thematisch und in spezifischer Weise gepflegt wird. Was die westlich-europäische Traditions- und Begriffsbildung als Religion zu bezeichnen sich angewöhnt hat, kann in asiatischen und anderen Traditionen mit eigenen Bezeichnungen benannt, jener Funktion nach aber analog verstanden werden. Der einfachste, universalste und mit den Lebenswirklichkeiten vertraute Zugang, um dieses Spezifikum von Religion benennen zu können, ist der für menschliche Verständigungen prinzipiell vorauszusetzende Gebrauch von Zeichen. Diesen eignet eine genuine und iterative Struktur: Genuin ist der Zeichengebrauch in seiner phänomenerschließenden Kategorialität, iterativ in seiner formal-semiotisch dreistelligen
3
K. Jaspers (1966); W. Lohff: Achsenzeit, in: H W P 1 (1971), 74f.; R.C. Neville (1995), 225f. (Anm. 10); 1996, 82f.
§ 1: Religion und Religionsphilosophie
3
Bezugnahme.4 Jede Vorstellungspräsenz (erste Kategorie) hat einen gegenständlichen Erfahrungsbezug (zweite Kategorie), die zusammenkommen in einem interpretativen Verhalten (dritte Kategorie); das Zeichenereignis besteht folglich aus einem Zeichen selbst, seinem Objektbezug und einem jeweiligen Interpretanten, und diese Dreistelligkeit bildet Verkettungen und Netze, so dass vorherige Interpretanten zu neuen Zeichen für folgende Ereignisse werden etc. Anders gesagt: Vorstellungspräsenz (aufgrund unmittelbarer Eindrücke, Gefühle, Empfindungen), Gegenstandsbeziehung und Verhalten bleiben stets aufeinander angewiesen und können sich in ihrer Abkünftigkeit selbst präsent werden: Was (der Qualität nach) gefühlt wird, was (im Bezug auf unterscheidbare Qualitäten) erfahrbar wird, was daraufhin zu Verhaltensgewohnheiten und Handlungen führt - enthält immer mitlaufend den Bezug auf seine vorausliegende Qualitätswahrnehmung, sein Herkommen, seine Prämissen. Die in alle notwendigen Vermittlungen über Zeichenprozesse doch eingegangene Unmittelbarkeit des immer vorausliegenden ersten Auftretens, des ursprünglichen Augenblicks, kann nun entweder - verschwiegen zugrunde liegend - alltäglich nicht weiter thematisiert werden; oder es kann eine besondere Zugänglichkeit im Zeichengebrauch aktiviert werden, die dessen eigentümliche Abkünftigkeit als solche zum Ausdruck zu bringen vermag und damit auch die Unmittelbarkeit in ihrer Vorausgesetztheit bearbeitungsfähig werden lässt. Dass dies offenbar von Beginn an in aller Kultur gelungen ist - darin besteht die Leistung der Religion. Diese auf ihren Zeichengebrauch hin, d.h. semiotisch ausgelegte kulturelle Evolution3, wie sie mit der auf nahezu zwei Millionen Jahre rückdatierbaren Erscheinung des homo erectus begonnen wurde und im homo sapiens sapiens unsere Gegenwart beschreibt, entwickelt mit allen ihren Ausdrucksformen immer auch solche, die das mitlaufende Element der Abkünftigkeit, Angewiesenheit und ursprünglichen Ermöglichung der Lebensbedingungen einer bearbeitbaren Verständigung zuführen. Wird dieses Gefühls-, Erfahrungs- und Verhaltenselement als Grundlage dessen angesehen, was wir inzwischen üblicherweise als Religion bezeichnen, dann ist es nicht mehr notwendig, wie es die empirisch und historisch orientierten Religionswissenschaften, aber auch die Religionsphilosophie immer wieder versuchen, ein genau abgegrenztes Gegenstandsfeld für jene Ausdrucksformen oder ein Wesen von Religion zuvor zu bestimmen, um den eigenen Wissenschafts4 5
Zur genaueren Darstellung der kategorialen Semiotik nach Ch.S. Peirce vgl. H. Deuser, Gottesinstinkt (2004), Kap. 1.1. Vgl. H. Haarmann (1997), bes. 668-674.
4
Einleitung
ansprach garantieren zu können. 6 Dagegen ist die Begründung von Religion in Zeichenprozessen, d.h. im kosmologischen Entwicklungskontext kultureller Evolution, in der Lage, sowohl die religionswissenschaftlichen Gegenstände methodisch abgesichert zu erklären als auch die Grundlegung für eine tendenziell einheitliche Religionsphilosophie zu liefern. Die kontingente Mannigfaltigkeit der Phänomene erschließt sich gerade aufgrund der semiotisch fundamentalen Strukturgegebenheit, in der in Wahrnehmung, Gefühl, Erfahrung, Erkennen, Denken, Verhalten und Handeln der Menschen iterative Prozessformen darstellbar und bewusst werden, denen zugleich ihre kreative Abkünftigkeit eingeschrieben bleibt. Kultur und Religion bezeugen diese Struktur, indem sie sich ihrer bedienen, sie fortsetzen und differenzieren und darin immer auch ihre ursprüngliche Ermöglichung zum Ausdruck bringen.
1. Religionsphilosophie historisch: die europäische Moderne seit 1800 Religionsphilosophie als Titelbegriff für eine neue Disziplin der Philosophie taucht erst seit Ende des 18. Jh. auf.7 Das hat Voraussetzungen, zeigt eine Krise an und eröffnet neue Dimensionen für das Verhältnis von Religion und Wissenschaft, Theologie und Philosophie, Kirche und Gesellschaft. Vorausgesetzt sind mehr als zwei Jahrtausende europäischer Kulturgeschichte im kämpferischen Ausloten konkurrierender Ansprüche von rationalem Wissen und religiöser Offenbarung. Das gilt bereits für die antiken Philosophien und ihre kritischen Grenzziehungen gegenüber den jeweiligen Kulten und Mythen, erst recht für das christliche scholastische - Mittelalter, nicht zuletzt für die jüdisch-islamischchristlichen Debatten um die Vernünftigkeit der Offenbarung von Philo von Alexandrien (f 50 n. Chr.) über Ibn Rushd (Averroes, 11261198) bis Moses Maimonides (1138-1204) und die Aristoteles-Kommentare der christlichen Schultheologien. 8 Dass die humane Rationalität 6 7
8
Vgl. zum Dilemma der Bestimmbarkeit von Religion H.-M. Haußig (1999), Kap. 1; Th. Sundermeier, aaO. 25ff. Th. Mahlmann (1976), 309ff. ; H. Hofmeister: Religionsphilosophie, in: EKL3 3 (1992); W. Jaeschke: Religionsphilosophie, in: H W P 8 (1992); H. Rosenau: Religionsphilosophie I, in: TRE 28 (1997); H.M. Schmidinger: Religionsphilosophie, in: LThK 3 8 (1999); zur Begriffsbildung Religionsphilosophie seit S. v. Storchenau (1784) vgl. K. Feiereis (1965), 227-237. Vgl. K. Flasch (1988), Kap. 25-27.
§ 1: Religion und Religionsphilosophie
5
bedürftig oder in der Lage sei, über die durch alltägliche Erfahrung und Denkregeln gesetzten Grenzen hinauszugehen, gilt hier als Chance der Erkenntniserweiterung. Die Frage ist allerdings, ob und wie dieses weiter greifende (religiös-metaphysische) Denken mit dem in engerem Sinne wissenschaftlich kontrollierbaren Bereich verbunden bleiben kann oder diesem als andere und fremde Autorität der göttlichen Offenbarung, d.h. in institutionalisierter und an Texte gebundener Religion bzw. Kirchenautorität, gegenüber treten muss. Es ist der Begriff der
natürlichen Religion bzw. Theologie, in dem die antik-mittelalterlichen
Verständigungen sich zu halten versuchen 9 : Pflege der Kulte, Religiosität, Gotteserkenntnis, Lebensordnungen sind dem Menschen - und seiner Vernunft - in gewissem Sinne von Natur gegeben. Das Buch der Natur liegt aufgeschlagen vor ihm, während das, was sich als religiöse Heilslehre, als wahres, tieferes, eigentliches Gottesverhältnis dem Menschen gerade nicht natürlich, sogar gegen seine „Natur" nur erschließt, den besonderen Zugang der Offenbarung im Buch der Schrift verlangt. Uber diesen doppelten Zugang wird die Unterscheidung zwischen natürlicher und übernatürlicher Erkenntnis verständlich, und der differenzierte Zusammenhang beider wird über den gemeinsam von Natur und Ubernatur aussagbaren Begriff des Seins (esse) bzw. des Wesens (ousia, substantia) hergestellt: Uber Sein und Wesen Gottes lässt sich in besonderer Weise mit denselben Begriffen eine Verständigung erzielen, die für die natürliche Vernunft ganz allgemein gelten. Die Gottesbeweise der scholastischen Tradition haben hier ihren Grund, und es ist das markanteste Kennzeichen der europäischen Moderne, dass seit dem 18. Jh. eben diese Beweisformen als fundamental unmöglich erscheinen mussten. Die philosophisch-theologische Krise der Moderne besteht darin, dass die metaphysische Einheitsperspektive, die der antik-christliche und noch neuzeitliche Seins- und Substanzbegriff bis ins 18. Jh. hinein abgesichert hatte, in eine empirische und eine apriorische Seite zerlegt wird. Die Impulse der naturwissenschaftlichen Erkenntnisse auf der Basis von Experimenten und induktiven Schlüssen führen zum Vorrang der Erfahrung im Sinne dessen, was empirisch, d.h. sinnlich überprüfbar zugänglich ist (D. Hume); und die als unbefriedigend betrachtete Lösung, Erfahrung dann begrifflich allgemein nur wiederum aus Erfahrung - im Sinne von Gewohnheit - begründen zu können, führt zum Vorrang kategorialer Denkbedingungen, die apriorisch jedem Er9
Vgl. H. Wißmann/D.A. Pailin: Natürliche Religion, in: TRE 24 (1994); W . Sparn: Natürliche Theologie, in: TRE 24 (1994); J. Figi: Offenbarung I, in: RGG 4 6 (2003).
6
Einleitung
fahrungsurteil erst Maß und Bezug geben (I. Kant). 10 In beiden Fällen sind übernatürliche Gegenstände wissenschaftstheoretisch zunächst ausgeschlossen, sozusagen bodenlos; ob sie zur Begründung von Moral oder Religion herangezogen werden müssen, wird ein eigenständiges Problem, ändert aber nichts am ersten Befund im Rahmen der möglichen Begründungen des modernen Wissenschaftsbegriffs. Auf seiner Basis sind jedenfalls alle Gottesbeweise sinnlos geworden, nicht-empirische Gegenständlichkeit ist nicht einmal denkbar. In diesem Punkt anders votieren zu wollen, gehörte dann in das Reich der - faktisch nicht zu leugnenden - Wirksamkeit menschlicher Einbildungskraft, Illusionen oder Irrtümer, steht folglich isoliert und wird bevorzugter Gegenstand psychologisch-historischer Erklärungen, d.h. der Aufklärung von Unmündigkeit. Als Krise wird aber auch diese Situation empfunden, wenn in solcher Verdrängung von Religion ins tendenziell Irrationale deren Charakter und Funktion überhaupt nur noch als Missverständnis erscheint, das zum Verschwinden gebracht werden muss. Der Religionskritik kommt zwar zeitbedingt durchaus Berechtigung zu, denn sie zielt auf bestimmte Formen und Begründungen von Religion bzw. Machtansprüche christlicher Kirchen. Solche Kritik kann aber nicht für Religion überhaupt verallgemeinert werden oder automatisch zur Eliminierung der Traditionen natürlicher Religion bzw. Theologie führen. Wenn Religion die elementaren menschlichen Lebenswirklichkeiten zum Ausdruck bringt, dann muss in der wissenschaftstheoretischen Wende zur Empirie bzw. zur Apriorität als Maß aller Erfahrung auch gefragt werden, ob dabei Vernunft als Instanz und Religion als Gegenstand der Kritik richtig und verbindlich bestimmt worden sind. Stellvertretend für eine Vielzahl von Stimmen der Metakritik aufgeklärter Vernünftigkeit in Religionssachen hat Hegel 1802/03 die Krise und ihre mögliche Uberwindung pointiert in den schön geformten Satz gefasst11: „Der glorreiche Sieg, welchen die aufklärende Vernunft über das, was sie nach dem geringen Maße ihres religiösen Begreifens als Glauben sich entgegengesetzt betrachtete, davongetragen hat, ist beim Lichte besehen, kein anderer, als dass weder das Positive, mit dem sie sich zu kämpfen machte, Religion, noch dass sie, die gesiegt hat, Vernunft blieb, und die Geburt, welche auf diesen Leichnamen triumphierend als das gemeinschaftliche, beide vereinigende Kind des Friedens schwebt, ebensowenig von Vernunft als echtem Glauben an sich hat."
10
D. Hume, Eine Untersuchung über den Menschlichen Verstand (1973), IV. Abschnitt; I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, Werke Bd. 3, Β 126ff.
11
G.W.F. Hegel, Glauben und Wissen (1962), 1 (Ges. Werke, Bd. 4, 315).
§ 1: Religion und Religionsphilosophie
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Die neue Dimension der Religionsphilosophie entsteht also, auch dem Wort nach, genau zu dem Zeitpunkt, als die verbindende Kraft zwischen vernünftiger, d.h. natürlicher Religion und übernatürlicher, d.h. auf Offenbarung bezogener Theologie im Schwinden begriffen und massiver Kritik ausgesetzt war. Der akademische Ort dieser Auseinandersetzungen, pro und contra, heißt jetzt Religionsphilosophie. Sie ist seither nicht der Ersatz für die scholastischen Synthesen von Wissen und Glauben, wohl aber Schnittpunkt, Uberschneidungsfeld oder Grenzreflexion für den Wissenschaften verpflichtetes, methodisches und selbstkontrolliertes Denken (Philosophie) einerseits und genuin religiöses, der jeweiligen Religion verpflichtetes Denken (Theologie) andererseits. Kant hat auf seine Weise, in seiner Religionsschrift von 1793, diese Differenz zum Prinzip aller Religionsphilosophie erhoben: Die Chance einer neuen „philosophischen Theologie", die keiner Zensur durch Religionsbehörden mehr unterliegt (wie „zur Zeit des Galileo"), wird dann wahrgenommen, wenn eine „biblische Theologie" von ihr getrennt operiert. 12 Der natürlichen oder rationalen, d.h. religionsphilosophisch begründeten Religion steht dann eine geoffenbarte oder übernatürliche Religionsauffassung gegenüber, weil letztere „den Glauben" fordert. 13 Kants Zuordnung ist verständlich, respektabel und signalisiert den Gewinn einer neuen Disziplin. Sie ist zugleich problematisch, weil sie die Theologie und den religiösen Glauben tendenziell als unwissenschaftlich ausgrenzt - und umgekehrt den Vernunftbegriff aus diesem Gegenüber definiert. Hegels metakritischer Satz hat diese Diagnose früh schon gestellt und alle der Romantik, dem Idealismus, der Lebensphilosophie, der geisteswissenschaftlichen Hermeneutik, dem amerikanischen Transzendentalismus und Pragmatismus etc. verpflichteten Philosophien schließen hier an; d.h. sie tun dies als Religionsphilosophie, die dann zumindest einen Teil- oder Grenzbereich der eigenen philosophischen Selbstbegründung darstellen wird. Insofern kann konstatiert werden, dass seit 1800 jede Philosophie auch ihre spezifische Religionsphilosophie (Religionskritik darin eingeschlossen) ausbilden wird 14 ; tut sie es nicht, würde ihr die Basisreflexion auf die Ermöglichung von Welt und Lebenswirklichkeit fehlen - so wie eine Soziologie, die ohne Religionssoziologie auszukommen suchte, sich 12 13 14
I. Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, Werke Bd. 7, A XVf. {Vorrede zur ersten Auflage). AaO. A 215ff. (Die Religion, viertes Stück, erster Teil). Vgl. H. Deuser, Religionsphilosophie (2004), 362-366 (Aufgaben, Typen und Formen der Religionsphilosophie).
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Einleitung
dem entscheidenden Test ihrer Grundbegriffe nicht ausgesetzt hätte. Andererseits gilt aber auch, dass der religiöse Glaube, die Offenbarungsreligion im Sinne Kants, d.h. jede im Kontext der Wissenschaften auftretende Theologie unter dem, wie auch immer verarbeiteten, Einfluss von Religionsphilosophie gesehen werden muss. Religionsphilosophie tritt dann in die Funktion von Fundamentaltheologie ein, und auch diese wird möglicherweise wiederum Rückwirkungen auf die Philosophie haben. Der religiöse Schriftsteller S. Kierkegaard (1813— 1855), seine Ästhetik, Psychologie, Theologie und Philosophie, gibt ein herausragendes Beispiel für solche Wechselwirkungen bis in die Gegenwart.
2. Religionsphilosophie allgemein: die Perspektive der Moderne angewandt auf und in Wechselwirkung mit Antike und Christentum Im Blick auf die antike Religions- und Philosophiegeschichte ebenso wie auf die europäische Kultur- und Geistesgeschichte im Einflussbereich des Christentums geschieht Religionsphilosophie immer auch in der rückblickenden Perspektive aus der Wissenschaftsentwicklung der Moderne, aus der kritischen Verselbständigung der Philosophie gegenüber den Einzelwissenschaften und vor allem gegenüber der Theologie. Dass diese Sicht der Dinge in der europäischen Tradition zwar angelegt, vor dem 18. Jh. so aber nicht durchgeführt oder bewusst war, macht die religionsphilosophische Perspektivierung zu einer ständigen Bemühung um Interpretationen eigentlich fremden Materials. Andererseits ist die Wirkung zumal der platonischen und aristotelischen Philosophie bis in die Moderne dermaßen musterbildend, dass allgemeine Züge und Grundbegriffe, so sehr ihre Bedeutungen auch variieren können, Kontinuität stiften. Sein, Substanz, Ursache, Grund, Kategorien, Einheit, Gott etc. bilden auch religionsphilosophisch gesehen ein Netz mit erkennbaren Knotenpunkten der Verständigung über Epochen hinweg. Hinzu kommt, dass durch die christliche Theologie die jüdisch-biblische Tradition immer präsent gehalten wurde und mit den antik-philosophischen Elementen koordiniert auftreten musste. Wenn demnach die allgemeine Bedeutung der Religionsphilosophie behauptet werden kann, so deshalb, weil sie aus der antik-jüdisch-christlichen Kulturentwicklung stammt und auch im Rückblick ständige Wechselwirkungen und Neuentdeckungen des verstehbar Fremden zu erwarten sind. Piaton und Nietzsche, Aristoteles und Kant, Hiob und Kierke-
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gaard können sich gegenseitig auslegen, und sie entwerfen zusammen die epochenübergreifende Perspektive der Religionsphilosophie. Vereinfacht ließe sich dann die antik-mittelalterliche Tradition, der scholastische Typ religionsphilosophischen Denkens 15 , von dem darauf folgenden Einschnitt der Moderne um 1800 unterscheiden, der durch naturwissenschaftlich orientierten Empirismus oder die Transzendentalphilosophie Kants exemplarisch vertreten werden kann. 16 Für die Entwicklungen der Religionsphilosophie seither, häufig in deutlicher Kritik der empiristischen oder transzendentalphilosophischen Entscheidungen, stehen dann zudem solche (geisteswissenschaftlichen) Schulbildungen, die die existentielle Lebensnähe religiöser Ausdrucksund Denkformen wieder zu gewinnen versuchen; und darüber hinaus in neuer Universalität kosmologisch, gesamtgeschichtlich, sprach- und texttheoretisch orientierte Entwürfe, die sich geistes- und naturwissenschaftlichen Impulsen des 20. Jh. verdanken (exemplarisch in der Sprachphilosophie L. Wittgensteins und der Prozessphilosophie A.N. Whiteheads). An der Stellung der Gottesbeweise lassen sich die Veränderungen nun auch innerhalb der Perspektive der Moderne bis auf die Gegenwart studieren 17 :
15 16
17
Zum Begriffsgehrauch von Scholastik vgl. H.M. Schmidinger: Scholastik, in: HOT 8 (1992); U.G. Leinsle (1995). Zum Gebrauch der Epochenbegriffe wird vorgeschlagen, Neuzeit als eher historischen Begriff (im Unterschied zu Antike und Mittelalter) aufzufassen, während der normativ immer ambivalente Begriff der Moderne eher für die selbstbewusste Kritikfähigkeit und die Traditionsbrüche seit ca. 1800 steht; vgl. „modernism", in: OCP, 583. Dabei bedeutet das eingeklammerte [ + ], dass nicht mehr im scholastischen oder neuzeitlichen Sinn von einem Gottesbeweis gesprochen werden kann, wohl aber von Argumenten für den Gottesglauben auf der Basis von Moral (Kant), existentieller Erfahrungssituationen (Kierkegaard), ethischen Grenzreflexionen oder sprachanalytischen, modallogischen, probabilistischen, spekulativ-kosmologischen Denkmodellen.
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Einleitung Schema 1.1: Religionsphilosophie allgemein
Epoche und Typ
Philosophische Grundlegung
Scholastischer
Substanz-
Typ
Ontologie
Gottesbeweis theoretisch/Zpraktisch +
+
Empiristischer
Religionsphilosophische Tendenz Vernunftgemäßer Glaube Rationalität gegen
oder trans-
Erfahrung oder
zendentaler
Apriorität
[+1
Typ
Irrationalität/ Moralität als M a ß von Religion Existenzanalyse zur
Existentieller
Existenz-
Typ
Ontologie
[+]
Begründung religiöser Uberzeugungen
Universalistischer T y p
Begründbarkeit
Sprachanalyse/ Ereignis- bzw. Prozessontologie
[+]
[+]
dank universaler F u n k t i o n der Religion
3. Religionsphilosophie religionswissenschaftlich: die Perspektive der Moderne angewandt auf und in Wechselwirkung mit Religionen und Religiosität Die begründete Allgemeinheit der religionsphilosophischen Perspektive der Moderne könnte zum Scheitern verurteilt sein, wenn sie auf die Religionen trifft, die im europäischen Kontext noch bis in 19./20. Jh. nur peripher bekannt waren, kulturell nicht ernst genommen wurden und deren philosophische oder theologische Einordnung aufgrund fehlender Gemeinsamkeiten auf direktem Wege gar nicht gelingen konnte. Zwischen der Verlässlichkeit und Absolutheit des religiösen Glaubens aus der Innensicht einer bestimmten Kultur und dem Versuch, aus der Außensicht eben das eigentlich Fremde und Unzugängliche doch zu verstehen, klafft zunächst eine Lücke. Ist wirklicher Mitvollzug des Verstehens exklusiv an die Eigenerfahrung aus der Innenperspektive gebunden? Gibt es Ubergänge und Annäherungen? Sind derartige Grenzziehungen und Befürchtungen übertrieben, dienen sie nur der Selbstmystifizierung und Absperrung gegenüber einem kritischen Dialog? Zwischen Religionsphilosophie und dem jeweiligen religiösen Glauben in einer bestimmten Religionstradition bzw. ihrer argumenta-
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tiven Selbstdarstellung (Theologie bzw. Lehre) steht dann - wiederum aufgrund europäischer Wissenschaftstradition - die Religionswissenschaft (Religionsgeschichte oder Religionsphänomenologie). 18 Sie entwickelt einen Gegenstandsbegriff dessen, was sie untersucht und beschreibt, tut dies in methodischer Distanz und macht damit die Vergleichbarkeit der Religionen zum Prinzip. Die wissenschaftliche Methode selbst kann gar nicht religiös sein, nur die betrachteten Gegenstände; und insofern ist auch die Frage nach dem Verstehenszugang im Blick auf die Innenperspektive religiöser Erfahrungen beantwortet: Sie muss als subjektiver Faktor kalkuliert werden, beeinträchtigt aber nicht die tendenziell neutral behandelte Vielfalt von Außenbeschreibungen, die zu wissenschaftlichen Erkenntnis- und Verstehensfortschritten führen. Diese religionswissenschaftliche Problemlösung hat allerdings den Nachteil, dass sie um der prinzipiellen methodischen Distanz willen den Uberzeugungsanspruch, d.h. die Absolutheit des religiösen Glaubens für sich selbst genommen, nur als subjektive - und letztlich illusionäre - Zutat gemessen an der wissenschaftlich praktizierten Objektbeschreibung einordnen kann. Religionsphilosophisch gesehen ist es aber genau diese Konstellation, die in ihrer subjektiven Leistungsfähigkeit objektiv auszuwerten ist: Was bedeutet es, wenn Einheit und Ursprung der Welt im religiösen Glauben, in Ritualen, Texten, Kulterfahrungen repräsentiert werden können; wenn Uberzeugungsbildung, Wert-, Sinn- und Selbstverstehen offenbar nicht nur historisch aus Religionstraditionen sich ableiten, sondern wesentlich aus dem aktuellen Mitvollzug eben der Formen und Inhalte, wie sie überliefert sind? Kurz: Worin besteht die Wahrheit religiöser Uberzeugungen, Lehren, Texte und aller ihrer Repräsentationen gerade in und aufgrund der jeweiligen Aneignung? So gestellt ist die Frage nicht mehr identisch mit der - nicht nur auf den ersten Blick unlösbaren - Konfrontation, in der der absolute Wahrheitsanspruch einer bestimmten Religion und ihrer Lebens- und Handlungskonsequenzen kriegerisch auf die gänzlich unvereinbaren Einstellungen einer anderen Religion trifft. Hier hilft zur Nüchternheit zwar die Einübung von religionswissenschaftlicher Distanz gerade gegenüber der eigenen Tradition, aber wiederum ist das prinzipielle Problem damit nicht gelöst. Anders gesagt: Gibt es eine Verständi18
Zu den „klassischen" Methoden und ihren Entstehungen seit dem 19. Jh. vgl. H.G. Kippenberg (1997); J. Waardenburg (1999), Introduction-, auch H.J. Klimkeit: Religionswissenschaft, in: TRE 29 (1998); H. Deuser, Einleitung (2003); Κ. Rudolph: Religionswissenschaft I, in: RGG4 7 (2004).
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Einleitung
gungs- und Verstehensform, die die Absolutheit der jeweils eigenen Uberzeugung wahrt - und genau dies in anderen und fremden Religionen anzuerkennen vermag? Ist eine solche Anerkennung aufgrund bestehender Differenzen zwischen den Religionen möglich? Die Religionsphilosophie hat heute die Aufgabe19, genau diesen Weg zu eröffnen, d.h. im Bewusstsein der europäischen Ausgangsperspektive die anderen (bisher fremden) Religionen so zu betrachten, dass deren Eigenes unter wie auch immer fremden Bedingungen, Begriffen und Sprachen versucht wird einzustufen - und zwar im Horizont der Anerkennung von religiösen Uberzeugungsbildungen, die in sich gerade nicht relativ und neutral, sondern absolut sein müssen. Methodisch wäre dabei so vorzugehen, dass im Vergleich religiöser Ideen20 nicht deren Einheit, Gleichheit, abstrakte Ganzheit etc. unterstellt wird, was immer nur zu Verzeichnungen aus einer bestimmten Perspektive und also nicht zu Anerkennungen führen kann, sondern so dass die unterschiedlichen Religionen ausgehend von betont und systematisch „vagen" Grundbegriffen, dabei jeweils für sich selbst sprechend, diese korrigierend auf sich selbst beziehbar machen. Human Condition, Ultimate Realities und Religious Truth wären solche Grundbegriff des Vergleichs, deren Vagheit einerseits den Ausgangspunkt für aneignende Verstehensprozesse liefert, andererseits aber Präzisierungen von Differenzen gerade nicht ausschließt. Am Beispiel der Vergleichskategorie „Ultimate Realities", des Unbedingten oder der Unbedingtheit, lässt sich studieren, wie ein durchaus der westlichen, genauer: der existenzphilosophischen Tradition entstammender Begriff für andere Kulturkontexte flexibel Anwendung finden kann. P. Tillich hatte zur religionsphilosophischen Grundlegung seiner Theologie vom „ultimate concern" gesprochen: „dem, was uns unbedingt angeht".21 Für den Vergleich der Religionen wäre die folgende Formel brauchbar: „that which is most important to religious life because of the nature of reality. "22 So reicht die Bedeutungsspanne
19
Dass und wie die Religionen in diesem Sinne im Rahmen religionsphilosophischer Lehrbücher auftauchen zeigen z.B. St. Grätzel/A. Kreiner (1999), hier zu Judentum, Islam, Indien; und Ph.L. Quinn/Ch. Taliaferro (1999), part I {Philosophical Issues in the Religions of the World).
20
R.C. Neville, Comparative Religious Ideas Project (2001); zu Nevilles Programm auf dem Hintergrund der Vergleichsthematiken hei K. Rahner, J . Hick und J.B. Cobb vgl. J. Kim (2006), Kap. 1.
21
Vgl. R.C. Neville, Ultimate Realities (2001), 152 u. Anm. 1; P. Tillich (1956), Bd. 1, Einleitung B.2. Neville, aaO. 151.
22
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von Unbedingtheit im Sinne der philosophischen Begriffe von erster Ursache, letztem Ziel, abschließender Wahrheit, höchstem Gut und höchster Realität - über Kontingenzerfahrung bis in die religiösen Ritual- und Lebensformen. 23 In der chinesischen Tradition wird man an dieser Stelle auf Vorstellungen kosmischer Harmonie stoßen, deren Aufforderungs- und Verwirklichungscharakter das Leben bestimmen; im Judentum auf die Schöpfungsvorstellung im Gegenüber des transzendenten Schöpfergottes und der Immanenz des Geschaffenen; im Islam auf die monotheistische Striktheit der Transzendenz als letzter Realität; im Hinduismus, bei einer Fülle von Variationen, auf die (göttliche, personale) Ursprungsbeziehung in allen Verwirklichungen; im Buddhismus auf die Verneinung substantieller Realität zugunsten einer Befreiung auf genau diesem Erkenntnisweg. Auf diese Weise ermöglichen religionsphilosophische Kategorien den Religionsvergleich, ohne eine bestimmte Einheit künstlich zu unterstellen, eine abstrakte neue Religion zu etablieren oder Religion durch Philosophie ersetzen zu wollen. Rückwirkungen des Vergleichs auf die einzelnen Religionen, ihre Überzeugungen und Lebensformen sind dann immer möglich; sie verbessern die Fähigkeit zur Selbstbeschreibung, das gegenseitige Verständnis und erweitern die Chancen des kulturell fairen Dialogs. Der jeweilige religiöse Glaube selbst aber, Basis und Motiv der gegenseitigen Anerkennung, wird lernen, dass er nichts zu fürchten, sondern nur zu gewinnen hat. Die kritische Betrachtung von Verhaltens- und Handlungsformen, die wachsende Erkenntnis kultureller Entstehungsbedingungen der Religionen und ihre mögliche Vergleichbarkeit aufgrund von Kategorienbildung ist immer dann produktiv, wenn die gegenseitige Anerkennung des zugrundeliegenden Glaubens als kreative Ursprünglichkeit geachtet wird. In dieser Ursprungsbeziehung des Unbedingten liegt die Kraft der Religionen, solange genau darin Anerkennung und Vergleichbarkeit nicht negiert werden. Geschieht aber diese Negation von gegenseitiger Anerkennung und Vergleichbarkeit, so korrumpiert jede Religion und Religiosität in einem Akt des Selbstwiderspruchs - ihr kulturelles Vorrecht, die kreative Unbestimmtheit des Unbedingten zum Ausdruck zu bringen. Denn dadurch, dass sie zwanghaft die jeweils eigene Bestimmtheit von anderen verlangt, verliert sie die Kraft des eigenen religiösen Grundverhältnisses, das eben nicht der eigenen Kontrolle entstammt und folglich auch nicht unterliegt.
23
Vgl. Neville, 153, 171 £f. ÇThe Logic of Contingency), sung im Vergleich der Religionen).
156-164 (die Zusammenfas-
14
Einleitung
Das Verhältnis von Religionsphilosophie und Religionswissenschaft beschreibt wechselseitig notwendige Konkretionen und Abstraktionen: Die (religionswissenschaftliche) Beschreibung der einzelnen Religionen bedarf auch der ihr gegenüber abstrakteren (religionsphilosophischen) Kategorienbildung; die methodisch geforderte Beschreibungsdistanz der Religionswissenschaften aber ist notwendig abstrakter als das Eintreten der religionsphilosophischen Urteilsbildung für die in Wahrheit selbst- und welterschließende Kraft des religiösen Glaubens.
4. Religionsphilosophie systematisch: rational, existentiell, universalistisch Die deutsche Begriffsbildung Unbedingtheit oder das Unbedingte hat den Vorteil, dass sie keine bestimmten Inhalte auszeichnet, sondern wie ein Platzhalter für den Rang religiöser Wertungen, Erfahrungen, Gegenstände, Funktionen, Einstellungen etc. steht, ohne diese zu präformieren. Der besondere Rang allerdings, um den es dabei geht, ist der, dass Bedingtheiten ausgeschlossen sein müssen: Das Unbedingte - ob Erstes oder Letztes, personaler Gott, plurale Gottheiten oder nichtpersonale Transzendenz - ist als Negation von Bedingungen konzipiert, zielt also auf das, was zuvor schon als Wahrnehmung, Erfahrung und Bewusstsein von Abkünftigkeit benannt wurde. Diese besteht darin, in unabänderlicher Weise sachlich wie raumzeitlich so als vorausgehend empfangen zu werden, dass ihre Bedingungen entweder gar nicht oder immer nur nachträglich (und dann perspektivisch und partiell) erhoben werden können. Deshalb ist mit dem Problem des Abkünftigen entweder nur in seinen bestimmbaren Folgen und Bedingungen umzugehen, oder es wird als solches zu bearbeiten versucht - nämlich als das Unbedingte. Es ist klar, dass mit einer solchen Konzeption dessen, was allem anderen vorausgeht, alle fundamentalen Schwierigkeiten von Philosophie und Wissenschaftstheorie aufgerufen sind. Diese sind aber nicht dadurch zu beheben, dass sie wegen ihres Schwierigkeitsgrades einfach ausgeblendet werden. Die Religionsphilosophie insistiert im Interesse des durchaus vernünftigen Strukturproblems der Abkünftigkeit, wie es die Lebenswirklichkeit prägt und wie es die Religionen repräsentieren, auf der Bearbeitung der Grund- und Grenzbegrifflichkeit der Philosophie. Traditionell liegt hier das Arbeitsfeld der Metaphysik, und sie verdient es, erneuert und wieder entdeckt zu werden.
§ 1: Religion und Religionsphilosophie
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Mit der Theoriebildung des Unbedingten ist zugleich auch der in diesem Begriff liegende Verpflichtungscharakter geben. Die alltagssprachliche ebenso wie die religiöse Plausibilität von Unbedingtheit rührt her aus Erfahrungen von unbedingter Bindungskraft: Ästhetisch nennen wir solche Erfahrungen, die auf der Qualität von Wahrnehmungen beruhen, denen wir uns nicht entziehen können; ethisch solche, die die Verlässlichkeit von Wertbeziehungen betreffen, die nicht bezweifelt werden; logisch solche, deren Evidenz und Stimmigkeit objektive wie subjektive Wahrhaftigkeit geradezu erzwingen.24 Die religiöse Erfahrung des Unbedingten ist mit diesem Verpflichtungscharakter der Sache nach eng verwandt, religionsgeschichtlich gesehen in vielen Epochen ununterscheidbar gewesen, aufgrund der zunehmenden Grenzziehungen zwischen Lebensbereichen und Wissenschaften in der Moderne aber durchaus auch als selbständig herauszuheben. Religiosität reagiert auf die Unbedingtheit als solche, sozusagen ungeschützt und unmittelbar23; während Ästhetik, Ethik und die Logik der Wahrhaftigkeit ihre jeweiligen Arbeitsbedingungen und selbst gewählten Darstellungsmittel hinzu nehmen, um das ausdrucksfähig zu machen, was ihnen als das Unbedingte erscheint. Kulturgeschichtlich gesehen haben alle Religionen natürlich jeweils schon überlieferte Ausdrucksformen, d.h. Rezeptionsbedingungen, um dem Unbedingten überhaupt und irgendwie entsprechen zu können - das ist nicht in Abrede zu stellen. Aber der eigene Akzent liegt doch umgekehrt dort, wo Abkünftigkeit, Unbedingtheit, Prägung, Rezeptivität etc. sich unmittelbar und neu eine Präsenz geben lassen, die nicht bedingt und gemacht erscheint, sondern eine ursprüngliche Kreativität von sich aus zum Ausdruck bringt, wie sie nie zuvor gehört und gesehen wurde. Wo das wirksam wird, kann es nur in eigentümlichen Bildern, Geschichten und Symbolen geschehen, deren Wirklichkeitsbezug
24
Ch.S. Peirce, EP 2, 188; VP, 71 (aus der 4. Pragmatismus-Vorlesung von 1903): „Logisch Gutes und Schlechtes, das [...] einfach der Unterschied von Wahrheit und Falschheit im allgemeinen ist, läuft in der letzten Analyse auf nichts anderes hinaus als auf eine besondere Anwendung der allgemeinen Unterscheidung zwischen moralisch Gutem und Schlechtem oder Rechtschaffenheit und Schlechtigkeit." - Vgl. die 5. Vorlesung über die drei normativen Wissenschaften (Ästhetik, Ethik, Logik), EP 2,196-207; VP, 80-100.
25
Vgl. F. Schleiermacher, Der christliche Glaube (1830), § 15.1; (1960), 105: „Alle frommen Erregungen" geben sich kund „am unmittelbarsten und ursprünglichsten mimisch durch Gesichtszüge und Bewegungen, [...] die Elemente jenes natürlichen Ausdrucks [werden] zusammengestellt [...] zu heiligen Zeichen und symbolischen Handlungen, ohne dass ebenso wahrnehmbar der Gedanke dazwischengetreten wäre." - Vgl. A. Krichbaum (2008), Kap. 8.1.2.
16
Einleitung
nicht empirisch direkt, wohl aber - und lebensorientierend u m so wirksamer - in übertragener Bedeutung indirekt erscheint. Das Unbedingte, in der Vermittlungsgestalt seines Auftretens, geht, u m seiner Unbedingtheit willen, die Umwege eigener (religiöser) Bild-, Sprachund Symbolisierungsformen, um seinen spezifischen Realitätscharakter vorzutragen. Während Religionswissenschaft und Religionsgeschichte diesen Anspruch auf Realität beschreiben, ist die Religionsphilosophie an der Begründung und Verallgemeinerungsfähigkeit dieses Anspruchs interessiert. Die Ausdruckgabe von Unbedingtheit kann in ihrer ursprünglichen Selbständigkeit zwar nicht direkt objektiviert werden, sie ist gleichwohl aber als allgemein wirksam zu denken, weil sie aus der Ursprünglichkeit herkommt, die allem anderen vorausgeht. Während die Einzelwissenschaften in der Moderne auf die empirische Gegenständlichkeit zur Faktenbestimmung und Theoriebildung angewiesen sind, ist der Begriff der Realität weiter zu fassen 26 : Reale Wirksamkeit besteht aus kreativem Ursprung, empirischer Bestimmtheit und regelhafter Verhaltensbildung. Für diesen Begriff von Realität ist die Zuständigkeit der Metaphysik eine Selbstverständlichkeit, die Ausdruckgabe dieser Realität in der Perspektive der Ausarbeitung ihrer ursprünglichen Unbedingtheit ist Sache der Religionsphilosophie. Der Begriff der Unbedingtheit gewinnt ein noch weiteres Bedeutungsspektrum, wenn seine kosmologischen Dimensionen einbezogen werden. Dazu dient am besten die Unterscheidung von Bestimmtheit empirisch erfassbarer Wirklichkeit einerseits und ihrer Abkünftigkeit im Möglichkeitshorizont kosmologischer Unbestimmtheit andererseits. Wenn Realität als Wirksamkeit von allgemeinen Prinzipien verstanden werden kann, so sind Metaphysik und Naturwissenschaften am Erklären und Verstehen derselben Prozesse beteiligt, und die Ausdruckgabe der ursprünglichen Ermöglichung solcher Prozesse ist notwendig angewiesen auf die tatsächliche Unbestimmtheit vor jeweils bestimmten Realisierungen. Unter empirischen Maßstäben beurteilt bietet ein Mehr an Bestimmungen immer den Vorteil von wachsender Genauigkeit und Unterscheidungsfähigkeit, Unbestimmtheit erscheint demgegenüber als Mangel. Umgekehrt aber erschließt die Unbestimmtheit, wie sie bestimmten Realisierungsdifferenzen vorausliegend angenommen werden muss, eben die andere Modalität der realen Möglichkeit - und damit eine Fülle, aus der heraus Wirkliches entstehen kann. Das zeigt beispielhaft die moderne Kosmologie: die Wissenschaft von der Entste26
Vgl. Peirce, VP, 68; EP 2, 183: „general principles are really operative in nature."
§ 1: Religion und Religionsphilosophie
17
hung und Weiterentwicklung des Universums, wie es heute im Zusammenspiel einer ganzen Reihe von Einzelwissenschaften beschrieben, analysiert und prognostiziert werden kann. 27 Wenn es zutrifft (was als experimentell bestätigt gilt), dass das Universum expandiert; wenn deshalb ein vorausliegender, ganz anders gearteter Ursprungszustand angenommen werden muss (Big-Bang-Modell), so stellen Prozess und Realität des Kosmos28, der die Entwicklung des Menschen, seiner Kultur und Wissenschaften einschließt, ein Gesamt an Wachstum im (atomar) Kleinsten wie im (astronomisch) Größten dar; einen Zusammenhang von Unbestimmtheit, empirischen Bestimmtheitszuwächsen und Regelhaftigkeit, die immer weiter nach Erklärung verlangen. Hinzu kommt, dass die naturwissenschaftliche Beschreibung immer wieder auf feste Größen (Naturkonstanten) bei dieser universalen Entwicklung stößt, die zusammen mit den überraschend aufgetretenen Prozessbedingungen, die eine bewohnbare Erde in einem Sonnensystem überhaupt möglich gemacht haben, auf eine Sonderstellung der humanen Perspektive hinzuweisen scheint - und diese ist schließlich als ermöglichte Beobachterperspektive 29 selbst Teil und Instanz der Realität, um deren Erklären und Verstehen es im Ganzen zu tun ist. Diese Entdeckung hat philosophischen und religionsphilosophischen Rang: Die Sonderstellung des Beobachters ist unvermeidlich verschränkt mit dem Beobachteten, aber so, dass nicht noch einmal eine höhere, objektivere Meta-Perspektive eingenommen werden kann. Es geht um ein hermeneutisches Verhältnis, in dem die Gegenstandsbeziehung die betrachtende Perspektive immer mit betrifft - und umgekehrt. Dies lässt sich wiederum in der semiotischen Grundstruktur am besten ausdrücken: Jede Beobachtung ist notwendig perspektivisch in der Wirksamkeit von Zeichenprozessen; das gilt für den Sachbezug, für die Interpretationsinstanz und für deren Bindung an das Auftreten eines Zeichenereignisses. Die Unbestimmtheit realer Möglichkeit ist und bleibt konstitutives Moment aller Zeichenprozesse, auch dann, wenn empirische Bestimmtheiten im Vordergrund stehen.
27
28 29
Exemplarisch - auch in der Offenheit für Wissenschaftsgeschichte, metaphysische und theologische Fragestellungen - J.D. Barrow, Das l x l des Universums (2006). Vgl. den Titel von A.N. Whiteheads Hauptwerk (1929 [1978/1984]). Barrow hat zahlreiche Beispiele für diese Bedingtheit von atomaren und astronomischen Größen gegeben, die - wie immer sie sonst auch anders denkbar wären - jetzt dadurch faktisch eingeschränkt sind, dass sie „die Existenz von Beobachtern" zulassen (aaO. 171); vgl. zum sog. „Anthropischen Prinzip" aaO. Kap. 8.
18
Einleitung
Religionsphilosophisch lässt sich anschließen, dass das Unbestimmte als solches, wenn sich das überhaupt sagen lässt, eben das Unsagbare ist, das immer nur vermittelt repräsentiert werden kann. Phänomene der Mystik oder der negativen Theologie haben hier ihre Wurzel und Uberzeugungskraft30, und sie stehen als Ausdruckgabe von Unbestimmtheit auch heute in einem ebenso kosmologischen wie sprachphilosophischen Sachzusammenhang, der sie dadurch von bloßer Irrationalität abzuheben vermag. Lässt sich durch den Begriff des Unbestimmten der Charakter von Unbedingtheit vor allem kosmologisch erläutern, so liefert schließlich der Begriff des Unendlichen sehr viel intensivere Vorstellungselemente in einer Grenzbegrifflichkeit, die der religionsphilosophischen wie theologischen Tradition wohl bekannt ist, der inzwischen aber durch die moderne Mathematik neues Gewicht und überraschende Bestimmungsmöglichkeiten zugewachsen sind. Im Unendlichen gelten andere Bedingungen: Die für endliche Zahlenreihen selbstverständlichen Zuordnungen von Teilen und Ganzem sind aufgehoben, im Unendlichen entsteht kein Rest, mit unendlichen Reihen umzugehen schien deshalb in unlösbare Paradoxe zu führen.31 Ganz neu aber sind diese Dinge zu verstehen, wenn aufgrund von G. Cantors (1845-1918) Entdeckungen und mathematischen Beweisen die folgende Wendung unserer Vorstellungswelt mitvollzogen wird: (1) „Abzählbare" Reihen heißen potentiell unendlich, wenn in Reihenbildungen - wie im Fall der natürlichen Zahlen - immer noch weiter gezählt werden kann. (2) „Nicht abzählbar" und aktual unendlich heißen Reihen oder „transfinite" Mengen, wenn - wie bei reellen Zahlen (z.B. unendlichen Dezimalzahlen) „höhere" Unendlichkeiten bewiesen werden können; z.B. im Fall von Potenzmengen, der Menge aller Teilmengen, die einer abzählbaren Menge nicht mehr zuzuordnen und also „eine unendlichmal größere Menge" darstellen müssen.32 Mit aktualer Unendlichkeit lässt sich seither mathematisch arbeiten, obwohl immer höhere Unendlichkeiten denkbar bleiben und die „absolute" Unendlichkeit (Cantor) selbst als unerreichbar vorgestellt werden muss. Entscheidend ist die - in gewissem Maße - Vorstellbarkeit und Praktikabilität eines Grenzbegriffs, nicht dessen unmittelbare 30
31 32
L. Wittgenstein, Tractatus (1968), Satz 6.522: „Es gibt allerdings Unaussprechliches. Dies zeigt sich, es ist das Mystische." - Zum Problem „negativer Theologie" vgl. I.U. Dalferth (2003), Kap. III.C. Vgl. die hilfreichen Erklärungen und Beispiele bei J.D. Barrow, Unendlichkeit (2006). Kap. 4. Barrow, aaO. 85.
§ 1: Religion und Religionsphilosophie
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Übertragung auf Theologie und Philosophie. Wenn sich seit Cantor auch sagen lässt, „plötzlich wurden wirkliche Unendlichkeiten zum Teil der Mathematik"33, so ist doch gerade über diesen Status des Wirklichen' nicht ohne weiteres schon entschieden. Einerseits bleibt einstweilen unklar, was in Physik und Kosmologie eine faktische Unendlichkeit bedeuten könnte (z.B. für das Bestehen oder den Zusammenbruch bestimmter Naturkonstanten, die Expansion des Universums, die Messbarkeit etc.34); andererseits ist die Rede von einer mathematischen „Existenz" offensichtlich ein logischer Begriff, der die „reale" Existenz gar nicht betreffen muss.33 Zwischen Mathematik und Religionsphilosophie bedarf es einer ausdrücklichen Vermittlung, und diese gelingt dann, wenn auf die Unterscheidung von empirischer Wirklichkeit (als Ort und methodische Rahmenbedingung der naturwissenschaftlichen Kosmologie) und Modalität der realen Möglichkeit (als Begründungsort der [Religions-JPhilosophie) gesetzt werden kann. Was im Falle der Unbestimmtheit sich bereits als Horizont der ursprünglichen Ermöglichung von Bestimmungsprozessen aufdrängte, lässt sich jetzt im Anschluss an den neuen mathematischen Begriff der Unendlichkeit sehr viel präziser angeben (wie es Peirce im kritischen Anschluss an Cantor vorgeschlagen hat): Die Unendlichkeit transfiniter Mengen wird als unerschöpfliches Kontinuum verstanden, dessen Möglichkeiten den empirischen Instantiierungen immer vorausliegend und deren Bestimmbarkeit bewirkend gedacht werden - und also zum Begriff der Realität gehören.36 So wird der Zusammenhang von (naturwissenschaftlicher) Kosmologie, philosophischer Metaphysik und Religionsphilosophie nicht nur gewahrt, sondern neu hergestellt. Der Begriff des aktual Unendlichen ist mathematisch zwingend, kosmologisch eben als Grenzbegriff diskutabel, philosophisch als metaphysische Modalbestimmung des Kontinuums für jedes Prozessdenken unumgänglich und religionsphilosophisch als zeitgemäße Erläuterung des Unbe-
33
Barrow, aaO. 79; vgl. zur religionsphilosophischen Einstufung auch H . Deuser,
34
Barrow, aaO. Kap. 6.
35
Barrow, aaO. 84f.; vgl. Barrow, l x l des Universums, 260f. - Alle Nähe zur Theologie und Religionsphilosophie, wie sie Barrow zur Illustration aus Geschichte und Gegenwart immer wieder anführt, hat deshalb etwas Spielerisches und löst das Problem nicht.
36
Ch.S. Peirce, C P 6.170: „A true continuum is something whose possibilities of determination no multitude of individuals can exhaust." Vgl. auch Peirce, L U , 33Iff.; H . Deuser, aaO. 5 9 - 6 3 .
Evolutionäre Metaphysik (2004), 50ff.; W . Achtner (2005).
20
Einleitung
dingten im Blick auf Schöpfung als creatio ex nihilo ausgesprochen überzeugend. Im Ergebnis lassen sich die vorgestellten Grundbegriffe in folgender Ubersicht zusammenstellen: Schema 1.2: Religionsphilosophie systematisch (Grundhegriffe)
Das Unbedingte/Unbedingtheit Normativ: Ästhetik, Ethik, Logik Kategorial /semiotisch: das Unbedingte als solches in übertragenen Bild-, Sprach- und Symbolisierungsformen Unbestimmtheit Kosmologischer Prozess vom Unbestimmten zum Bestimmten
Unendlichkeit Unerschöpfbarkeit (transfiniter Mengen) als reale ursprüngliche Ermöglichung im Kontinuum
Religionspbilosophisch: Kreativität ex nibilo im Prozesskontinuum des Universums Dieser Begründungsrahmen der Religionsphilosophie kann nun auf ihre eigenen Erfordernisse angewandt und im Einzelnen weiter entwickelt werden. Die religionsphilosophische Systematik verlangt dann zumindest eine dreifache Gliederung: (1) Das Unbedingte ist als Unbedingtheit rational zu prüfen und entsprechend den jeweiligen Denkmodellen von Rationalität (kritisch) darzustellen - unter der Leitfrage: Wie ist Unbedingtheit zu denken? (2) Das Unbedingte ist in seiner lebensbestimmenden Wirksamkeit existentiell zum Zuge zu bringen unter der Leitfrage: Wie ist das Unbedingte zu leben? (3) Das Unbedingte ist unter den gegenwärtigen Lebens- und Wissenschaftsbedingungen wieder in seiner metaphysischen, kosmologischen und religionsphilosophischen Allgemeinheit universalistisch zu konzipieren unter der Leitfrage: Wie ist der kontinuierliche Strukturzusammenhang von Wahrnehmung, Erkennen und Handeln verantwortlich zu denken und zu leben? - Schema 1.1 kann dementsprechend aufgenommen und systematisch weiterentwickelt werden:
§ 1: Religion und Religionsphilosophie
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Schema 1.3: Religionsphilosophie systematisch (Anwendungsbegriffe) Typ
Fragestellung
Gottesargument
Religionsphilosophie
Begriffs- und Sprachlogik
theoretisch: [ + ] Rationale lebenspraktisch: [ + ] Begründungssuche / Sprachanalyse/ Wissenschaftstheorie
rational
Religionsphilosophie
existentiell
Religionsphilosophie
universalistisch
Verfahren
Hermeneutik des theoretisch: Daseins/ lebenspraktisch: [ + ] Existenzanalyse/ Lebensorientierung
Ästhetische, ethische und religiöse Aneignungsformen von Lebenserfahrungen/ Phänomenologie der Existenz
Kosmologie, Metaphysik und Religion/Prozess und Realität/ Ereignisontologie und Imagination
Evolutionistische Kosmologie- und Kulturinterpretation/ Prozessdenken und Semiotik
theoretisch und lebenspraktisch zugleich: [ + ]
Im Vergleich zu Schema 1.1 steht jetzt anstelle des traditionellen Begriffs „Gottesbeweis" besser Gottesargument'7, um das gewandelte Problembewusstsein anzuzeigen: Um mathematische Beweise kann es sich nicht handeln, aber mehr oder weniger gute Argumente unter bestimmten Rahmenbedingungen sind ohne Zweifel möglich. Die logisch-ontologischen Denkbedingungen sind in den drei Typen sehr unterschiedlich: Im rationalen Typ kommt es bei gleichen analytischen Denkformen zu einem Patt pro und contra Gottesargument; in den eher literarisch appellierenden Schreibformen des existentiellen Typs wird das theoretische Argument in der Regel ausgeschlossen, das lebenspraktische aber zumindest nahe gelegt; im universalistischen Typ des Prozesskontinuums entfällt in gewissem Sinne die scharfe Unterscheidung von theoretischer und praktischer Philosophie, Wissenschaftssprache und Alltagssprache etc. Hier hat der neue Sinn von Gottesargument seinen eigentlichen Ort, an dem zugleich kultur-, sozialund religionswissenschaftliche Forschung in religionsphilosophischer Perspektive kooperieren können.
37
S. Anm. 17.
22
Einleitung
4.1. Religionsphilosophie rational: analytischer (sprachphilosophischer) Zugang Seit der griechischen Antike kennt die europäische Geistesgeschichte Kritik und Einstufung der Religion vor dem Forum methodisch gerechtfertigter Denkverfahren. Es ist die Berechtigung beider Seiten, des Anspruchs auf Rationalität wie auf Religiosität, die das christliche Mittelalter in vielen Varianten zu bewahren und zu entwickeln sucht, während die europäische Neuzeit zunehmend an Grenzziehungen interessiert ist, die den höheren Standard methodisch gesicherten Wissens garantieren sollen. Das geschieht in der Regel im (kritischen) Respekt - nicht gegenüber den Machtstrukturen des etablierten Religionssystems, das gar nicht ohne weiteres ,modern' sein konnte, doch aber im Respekt gegenüber der personalen Instanz des religiösen Glaubens, seinem Zusammenhang mit Moral, Geschichtlichkeit und Subjektivität. Doch wie lassen sich diese Erfahrungsdimensionen menschlicher Kultur vor dem Forum der Vernunft rechtfertigen? - „denn eine Religion, die der Vernunft unbedenklich den Krieg ankündigt, wird es auf die Dauer gegen sie nicht aushalten." 38 Mehr noch, das Forum der Vernunft versteht sich selbst als „Gerichtshof", der selbstkritisch und in letzter Instanz über die berechtigten eigenen „Ansprüche" der Vernunft bzw. ihre unberechtigten „Anmaßungen" urteilt, und das gilt dezidiert auch gegenüber der Religion: Ihre vorgeschobene „Heiligkeit" schützt nicht vor dem Urteil der Vernunftgrenzziehung, auch und gerade die Religion unterliegt der „freiefn] und öffentlichefn] Prüfung". Sich ihr nicht stellen zu wollen, müsste umgekehrt zur öffentlichen Missachtung, Isolierung und Randexistenz der Religion führen. 39 Wenn die Religion sich aber dieser Prüfung erfolgreich stellt, wird ihr die Vernunft einen dann legitimierten Platz anweisen, so wie Kant selbst bei aller Kritik am bestehenden kirchlichen Christentum - es im Namen seines Begriffs von Moral getan hat. 40 Der hier regierende Denktyp ist der einer prüfenden Rationalität im Rahmen von Kants theoretischer Philosophie, die zwar an möglicher Erfahrung (im Sinne der empirischen Naturwissenschaften) orientiert bleibt, die in ihrer Grundlegung selbst aber apriorisch sein will, d.h. ohne Voraussetzungen in Sinneserfahrungen auskommen muss. Es ist eine spezifische deduktive Logik (im Blick auf mögliche Erfahrung), 38 39
I. Kant, Die Religion, Werke Bd. 7, A XVIIIf. (Vorrede zur ersten Auflage). I. Kant, KrV, A X I u. XII (Anm.).
40
I. Kant, Die Religion, aaO. A IX: „Moral also führt unumgänglich zur Religion [...]."
§ 1: Religion und Religionsphilosophie
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die für diesen Denkstil typisch ist. Deshalb steht die Widerlegung des von Kant so genannten ontologischen Beweises exemplarisch und zentral für die fehlerhafte Anwendung einer Deduktion aus dem Begriff Gottes und damit für die Unmöglichkeit aller Gottesbeweise. Doch daraus folgt auch der religionsphilosophische Ortswechsel möglicher Begründungen für Religion von der theoretischen zur praktischen Philosophie. Verantwortlich für diese Platzanweisungen bleibt die Dominanz des deduktiv-apriorischen Denktyps. - Doch lässt sich diese Instanz weiterhin in dieser Rolle rechtfertigen? Reicht die Macht des Gerichtshofs der Vernunft so weit? Zeigt nicht schon Kants Aufspaltung in theoretische und praktische Philosophie, dass Wissen und Leben vor derselben Rationalität nicht mehr zusammengehalten werden können, dass die prävalente Bestimmung von Wissenschaftlichkeit durch den theoretischen Vernunftbegriff die Lebenswelt - ungewollt - zweitrangig zu machen droht? Die neuen Formen des betont rationalen Umgangs mit Fragen der Religionsphilosophie seit dem 20. Jh. sind die analytischen, genauer: sprachanalytisch-logischen. Bezeichnend ist, dass sie sowohl kritischdestruktiv wie religiös-affirmativ eingesetzt werden können. Grundlegend und schulbildend ist hier das Methodenbewusstsein des analytischen Vorgehens mit dem Ziel begrifflicher Klarheit 41 , was aber im britischen und nordamerikanischen Diskussionszusammenhang gerade zu einem „metaphysical turn" hat führen können. 42 Es kommt eben allein darauf an, universale ebenso wie empirische, religiöse ebenso wie moralische Behauptungen öffentlich und vor dem Forum der jetzt gültigen Wissenschaftsstandards zu rechtfertigen; insofern setzt sich hier der deduktive Denkstil fort. Er basiert philosophiegeschichtlich gesehen auf den Positionen des logischen Positivismus, des naturwissenschaftlichen Empirismus und der dementsprechend auf die Analyse von Behauptungssätzen zurückgehenden philosophischen Einstellung, wie sie sich zu Beginn des 20. Jh. ausgehend vom Wiener Kreis im Zeitgeist objektivierter Wissenschaftlichkeit durchzusetzen begann. Die analytische Religionsphilosophie ist bis heute von dieser Schulung geprägt. Hinzu kommt allerdings die unerwartete und revolutionäre Horizonterweiterung von der Satzlogik zur Philosophie der Alltagssprache, wie sie das Spätwerk Ludwig Wittgensteins vollbringt. Auf dem ureigensten Feld der analytischen Philosophie: der Sprachanalyse, 41
Vgl. H . A . Harris/Chr.J. Insole (2005), Iff.
42
R . Swinburne, in: Harris/Insole (Ed.), aaO. 35; vgl. auch B. Mitchells wissenschaftsgeschichtlichen Rückblick („Staking a Claim for Metaphysics") auf die britische Religionsphilosophie in der 2. Hälfte des 20. Jh., aaO. 21ff.
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Einleitung
kommt der religiösen Sprache plötzlich ein neues Recht zu, nämlich ein Sprachspiel zu sein - und Sprachspiele legitimieren sich in ihrem Gebrauch. Die „Existenz" Gottes oder der religiöse „Glaube" können nicht behandelt werden wie Sätze, die ein „Wissen" zum Ausdruck bringen.43 Mit dieser Einsicht in den Vorrang von Lebenswelt, Alltagssprache und Common Sense muss nicht der deduktive Denkstil aufgegeben, aber seine prinzipielle Geltung und Reichweite korrigiert werden. Deduktive Gottesargumente sind wieder möglich, unter bestimmten Bedingungen ist der ontologische Beweis zu führen (A. Plantinga44), aber sie etablieren nicht ein theoretisch neues oder anderes Wissen, sondern zeigen, dass der religiöse Glaube nicht einfach als irrational abgetan werden kann. Deduktiver Denkstil und das ontologische Argument bleiben in diesem veränderten Kontext profilbildend für kritische wie affirmative Religionsphilosophien des rationalen Typs.
4.2. Religionsphilosophie existentiell: alltagsweltliche Plausibilität und Phänomenalität religiöser Erfahrung „Ist denn die Vernunft allein getauft, sind die Leidenschaften Heiden?"43 - Mit diesem Mottozitat seines Frühwerkes Entweder-Oder (1843) proklamiert S. Kierkegaard neue Maßstäbe: Im Wissen um Kants Religionsphilosophie in den Grenzen der Vernunft wird diesen Grenzen einerseits Recht gegeben - ein theoretischer Gottesbeweis ist zirkulär. Andererseits aber wird diese Grenzziehung gerade zum Prinzip der alles entscheidenden Entdeckung der menschlichen Existenz in ihren unaufhebbar und deshalb primär zu bedenkenden kontingenten Bedingungen - und diese gelten auch für alle Begriffe existentieller Selbsteinstufung, Selbstbetrachtung, Selbsterfahrung. Ein „logisches System kann es geben", aber „ein System des Daseins kann es nicht geben"46, so lautet seither das Dekret aller Religionsphilosophie nach dem existentiellen Typ.
43
L. Wittgenstein, Vorlesungen und Gespräche (1971), 96. - Vgl. D.Z. Phillips (1993), Iff.
44
Vgl. die Darstellung bei Chr. Jäger (Hg.), (1998), 24ff. u. Kap. II.3.
45
S. Kierkegaard, Entweder - Oder, Erster Teil, SKS 2, 9; dt. Ges. Werke, 1. Abtig., 1; zur Herkunft des Zitats nach Edward Young The Complaint or NightThoughts on Life, Death, and Immortality (1742-45) vgl. SKS K2-3, 85. S. Kierkegaard, Abschließenden unwissenschaftliche Nachschrift, Erster Teil, SKS 7, 105; dt. Ges. Werke, 16. Abtig., 101.
46
§ 1: Religion und Religionsphilosophie
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Die Rationalität des Denkens für sich genommen muss also keineswegs bestritten werden, aber hinreichend wäre ein Denken erst dann, wenn auch das zum Zuge käme, was deduktiv niemals erreichbar sein kann: Leidenschaft, Interesse, Entscheidung, Entschluss, Angst, Schuld, Zeitlichkeit etc. Summarisch könnte von einer Hermeneutik des Daseins oder einer Phänomenologie der Lebensäußerungen gesprochen werden, für die es kein für immer fixiertes Zugangsmuster, sondern nur die Offenheit neuer Erfahrungen gibt. Ein induktiver Denkstil ist notwendig, der Voraussetzungen aufgrund von Erfahrungen macht; keine absoluten Notwendigkeiten mehr erwartet, sondern mit Chancen, Risiken und Wahrscheinlichkeiten rechnet. Diese menschlichen Bedingungen aber sind verbindlich, die Religiosität bringt gerade sie zum Ausdruck, und die Eigentümlichkeit ihrer Ausdrucksweise gehört dann zur Sache selbst, um die es hier allein und nur so zu tun ist. Die Bedeutung und Kritik des ontologischen Gottesarguments vorausgesetzt 47 kann hier von induktiven, kosmologischen, teleologischen Beweisformen durchaus wieder gesprochen werden. Diese können aber, was ihren Wissenschaftscharakter angeht, von ganz unterschiedlichem Gewicht sein. Auf der einen Seite: Je stärker im Erfahrungsbegriff die nicht hintergehbare Selbsterfahrung des eigenen Lebens veranschlagt wird, desto unmittelbarer die Plausibilität eines Gottesargumentes aus dieser existentiellen Situation. „Gott" erscheint (mit Kant) als „Postulat", doch so, dass Situation und Tatsache, „dass der Existierende Gott postuliert - eine Notwendigkeit ist." 48 Auf der anderen Seite: Je stärker der Erfahrungsbegriff mit dessen Prägung durch die gegenwärtigen Naturwissenschaften in Verbindung gehalten wird, desto mehr erscheint eine probabilistische Induktion gefordert. Die Erklärung des empirisch zugänglichen Universums mit dem Zusatz der Gott-Hypothese hat höhere Wahrscheinlichkeit als eine Erklärung ohne sie (R. Swinburne 49 ). Auch hier aber liegt die Uberzeugungskraft
47
Kant selbst hat auf diese fundierende Stellung des „ontologischen Beweises" vor und in den darauf folgenden „kosmologischen" und „physikotheologischen" hingewiesen, vgl. KrV, A 630.
48
Kierkegaard, aaO. SKS 7, 183 (Anm.); dt. 191 (Anm.). - Eine sachlich gleiche Argumentation, die eben kein Argument als solches vorführen will, findet sich auch bei Ch.S. Peirce (in einem Manuskript von 1908), RS, 501 (Anm. 18): „dann werden sie entdecken, dass sie Gott von Grund auf lieben und dass sie gezwungen sind zu glauben. Das ist keine Logik [...]. Man kann sich einfach nicht wehren." Vgl. die Darstellung bei Chr. Jäger (Hg.), (1998), 21ff. u. Kap. II.2.
49
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Einleitung
nicht in einer neuen Schlussnotwendigkeit auf die Existenz Gottes, es geht schließlich u m Wahrscheinlichkeiten! Sondern der Wert induktiver Argumente besteht vor allem im Nachweis rationaler Argumentation auf dem Feld der gegenwärtigen Begriffe von Erfahrung. Der induktive Denkstil verbindet dann personale Lebenserfahrung mit empirischen Theoriebildungen. Der existentielle Umgang mit Fragen der Religionsphilosophie erreicht damit eine lebenspragmatische Plausibilität, die religiöse Interpretationen wieder ins Recht setzt 30 ; und die Einsicht, dass auf diesem Feld nichts analytisch bewiesen werden kann und muss, dass gleichwohl aber Realität zum - durchaus nicht irrationalen, aber notwendig bildhaften - Ausdruck gebracht wird, hat auch wissenschaftliches Gewicht. Die wachsende Genauigkeit von Erklärungen und Prognosen der empirischen Wissenschaften steht allerdings in einem deutlichen Missverhältnis zum lebensorientierenden Erfahrungsbegriff, der sich solchen Präzisierungen entzieht. Doch könnte hier eine verzerrte Perspektive am Werk sein, die den empirisch geübten neutralen Blick der Wissenschaftlichkeit umstandslos auf die Phänomene des eigenen Erlebens anzuwenden versucht - und entdeckt, dass dadurch Verlustgefühle größer werden als Gewinnerwartungen und Fortschrittsversprechungen. Was sich aber wirklich ereignet, durchläuft Gefühls-, Erkenntnisund Denkprozesse, die für Menschen nicht zu umgehen, sondern als phänomenale Gegenwärtigkeit jeweils auszuwerten, auszuhalten und auszumitteln sind. Religiöse Erfahrung gibt der Unmittelbarkeit in der Vermittlung aller Dinge Ausdruck.
4.3. Religionsphilosophie universalistisch: Ereignisontologie, Prozessrealität und Metaphysik als Begründungszusammenhang „Es ist jener Weg der Meditation über die drei UNIVERSEN, der die Hypothese und schließlich den Glauben hervorbringt, dass sie [...] einen von ihnen unabhängigen SCHÖPFER besitzen.'" 1 - Dass auf diese aphoristisch selbstbewusste Weise naturwissenschaftliches Denken, 50
P. Strasser (2006), 9: Ich versuche „zu zeigen, dass unsere Alltagserfahrungen unaufhebbar metaphysische Gehalte mit sich führen, die ihrerseits zwanglos zu religiösen Fragen Anlass geben." - Th. Rentsch (2005), VIII: „In unserer gegenwärtigen, epochalen Umbruchsituation bleibt ohne explizite Klärung und vernünftige Neubestimmung der Gottesfrage aus philosophischer Sicht ein .Erfassen unserer Zeit in Gedanken' in einem entscheidenden Punkt partial."
51
Ch.S. Peirce, RS, 355.
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existentielle Situation, Meditation und religiöser Glaube wieder zusammen ausgesagt werden können, ist gemäß den Weltbildbrüchen, wie sie das 19. und 20. Jh. erlebt haben, immer noch eine große Uberraschung. In den drei Universen der Erfahrung werden zugleich Zusammenhang und kategoriale Differenz von Zugänglichkeit, Gegenständlichkeit und Regelhaftigkeit komprimiert zum Ausdruck gebracht: Das Universum der qualitativen Präsenz, Spontaneität, kreativen Möglichkeit; das Universum der empirischen Dinge wie sie uns raumzeitlich entgegenstehen; das Universum der Darstellung, Interpretation, Verhaltens- und Regelbildung. Die Meditation selbst gehört primär dem ersten Universum an, ist sein ursprünglicher, unmittelbarer Selbstbezug; und dessen Gefühl, Entdeckung und Ausdruckgabe von Kreativität ist nichts anderes als Religiosität - kulturvermittelt dargestellt in bestimmten Religionen, theologisch gesprochen die Basis für den Begriff der Schöpfung bzw. des Schöpfergottes. Dieser Grundbezug von Kreativität bleibt, wie weit auch immer implizit oder verdeckt, wirksam im Universum der existierenden und existentiellen Gegenständlichkeit. (Natur-)Wissenschaftliche Beschreibungen haben hier ihr weites Feld, ihre Triumphe der Erklärungen und Prognosen 32 aber bleiben notwendig zurückhaltend gegenüber dem kreativen Ursprung (erstes Universum) wie dem Kontinuum von Verhaltens- und Regelbildung (drittes Universum), denn beide werden in jeder empirischen Theoriebildung schon in Anspruch genommen und sind selbst nicht messbar. Eine empirische Theorie des „Universums", die zugleich die Grundbegriffe der Metaphysik (Einheit, Vielheit, Ursprung, Kontinuum etc.) erübrigen würde, ist nicht nur nicht zu erwarten, sondern sie wäre auch selbstwidersprüchlich. Deshalb ist Religion - als genuiner Ausdruck des ersten Universums und als kreativ fortwirkendes Element des zweiten und dritten Universums - notwendig, wenn die Universen der Erfahrung nicht nur auf eines (in der naturalistischen Tendenz der Moderne: das zweite) reduziert werden sollen: „Das endgültige Prinzip der Religion lautet, dass in der Natur der Dinge eine Weisheit liegt, aus der unsere praktische Ausrichtung und unsere Möglichkeiten der theoretischen Analyse von Tatsachen hervorgehen." 53
52
Vgl. J. Barrow, Das l x l des Universums (2006), 42: „Die genauesten Vorhersagen, die wir heute machen können, betreffen Elementarteilchen und Systeme rotierender Galaxien - nicht die Börsenkurse und das launische Verhalten von Konsumenten und Wählern. Dies spricht für eine Welt, die nicht das Produkt menschlichen Denkens ist, sondern von uns nur entdeckt und enthüllt wird."
53
A.N. Whitehead, Wie entsteht Religion? (1985), 107.
28
Einleitung
Die Realität der Universen besteht in einem Zusammenspiel von kreativen Möglichkeiten, existierender Gegenständlichkeit und regelhaftem Verhalten. Real sind daher Ereignisse, zu denen ihre „Empfindung" (Whitehead) gehört, und der Gegensatz von Naturphilosophie und Subjekttheorie hebt sich auf.54 Menschliches (Selbst-)Bewusstsein wie die Realität der Universen durchlaufen Ereignisketten, und die den Universen entsprechende dreigliedrige Semiotik strukturiert die mögliche Beteiligung am Verstehen der Ereignisse. Sie hat eine rationale Seite im Aufstellen und Prüfen von (wissenschaftlichen) Hypothesen, wie Peirce sagt; deren Aufkommen und Uberzeugungskraft aber ist selbst wieder in einem primären Vertrauensverhältnis vorgeprägt, so dass genau im wissenschaftstheoretischen Anschluss an die Hypothesenbildung vom Glauben gesprochen werden kann. Peirce sieht die Dreigliedrigkeit der Universen der Erfahrung strukturanalog nicht nur zur kategorialen Semiotik, sondern auch zu seiner Logik des abduktiven, deduktiven und induktiven Schließens. Diese Theorie ist deshalb notwendiger Teil seines Gottesarguments, weil in der von Peirce neu herausgearbeiteten Schlussform der Abduktion, dem Schluss „aus einem Konsequens auf das Antezedens"DD, die einzige produktive, Neues entdeckende, instinktiver Uberzeugungsbildung Ausdruck gebende Denkleistung zu erkennen ist. Die Fundierung der Abduktion im ersten Universum garantiert ihre Kraft, das zweite und dritte Universum dienen dann der Uberprüfung und genaueren Explikation der Hypothese. Glaube aber ist dann nicht mehr das abständige, unaufgeklärte, irrationale Gegenüber zu Wissen oder Wissenschaft, sondern diese Gegenüberstellung als solche wird als gravierendes Missverständnis enttarnt und erübrigt. Der instinktive, hypothetische, abduktive Glaube, wie Peirce' Logik ihn beschreibt, oder der existentielle, risikoreiche Lebenseinsatz, wie W. James' Pragmatismus es versteht56, zeigen die Integration von Wissenschaften und Religiosität - und praktizieren damit bereits eine universalistische Religionsphilosophie. Das abduktive Gottesargument gibt folglich die Darstellung der Unvermeidlichkeit und Vorrangigkeit der Gott-Hypothese, keinen Existenzbeweis aus dem Begriff Gottes oder kosmologischen Prämis54
Vgl. die Darstellung bei M. Hampe (2006), 115-123.
55
Ch.S. Peirce, RS, 343.
56
W . James, Pragmatismus (2001), 180: „ich spreche jeder vorgeschobenen Logik das Recht ab, gegen meinen Glauben ein Veto einzulegen. Ich bin bereit zuzugeben, dass die Welt ein wirklich gefährliches Abenteuer ist, ohne dass ich mich deshalb zurückziehen und ausrufen würde: ,Da spiele ich nicht mit!'" Vgl. D . R . Anderson (2006), 121f.
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sen. 37 Dann aber gewinnen die alten Gottesargumente neuen Sinn, sie zeigen die Rationalität religiöser wie theologischer Sätze, indem sie deren Verstehensregeln angeben, so dass über deren Wahrheit entschieden werden kann. Wenn Gott abduktiv erfasst und folglich auch gedacht wird, dann ist es „selbstwidersprüchlich zu denken, Gott könnte auch nicht sein." 58 Der damit beanspruchte Wissenschaftsbegriff ist dezidiert nicht nominalistisch, d.h. im Kontext der naturwissenschaftlichen Moderne: nicht auf die Auswertung von Einzeldaten in prognostischen Theorien unklarer Allgemeinbedeutung reduziert, sondern umgekehrt - aufgrund seiner Erfahrungsbindung, logischen Kontrolle und Realitätserschließung im regelhaften Kontinuum - universal, d.h. realistisch orientiert. 39 Metaphysik ist dann keine zu fürchtende antiquarische Disziplin der Philosophie mehr, sondern der Ort von Grundbegriffen im Blick auf Generalisierungen, ohne deren Realitätsstatus die Wirklichkeit gerade auch wissenschaftsmethodisch gar nicht zu erfassen wäre. Anders als P. Tillich im ersten Band der Systematischen Theologie (1951/56) entschieden hat, muss der Begriff Metaphysik nicht wegen ,,falsche[r] Nebenbedeutungen" gemieden werden, sondern ist durchaus in den Traditionen europäischer (Religions-)Philosophie, wenn auch heute wissenschaftstheoretisch unter stark veränderten Bedingungen, wieder aufzunehmen. Die „Frage nach dem Sein als Sein" 60 kann nicht nur nicht unterdrückt werden, sondern sie ist kategorial und semiotisch notwendig und kontrollierbar: Als Metaphysik im Blick auf die Realität notwendiger Generalisierungen und Allgemeinbegriffe 61 ; als Kosmologie im ebenso naturwissenschaftlich wie (religions-)philosophisch entwickelten Prozessuniversum 62 ; als Ontologie bezogen auf die Logik der
57
A. Hannay (2006), 403: „The lesson is that any conclusion to God's actual existence can only be arrived at on the basis of a prior assumption that God is indeed real." 58 I.U. Dalferth (2003), 440; vgl. entsprechend zu Anselms Gottesargument im Proslogion, Dalferth (1992), 72: „eine Regel, eine Anweisung, wie man denken muß, wenn man Gott denken will." 59 Zu dieser Kritik am Nominalismus vgl. H. Deuser, Gottesinstinkt (2004), Kap. 1.3. 60 P. Tillich (1956), Bd. 1, 193. 61 Vgl. Ch.S. Peirce, „Ereignislogik", RS, 249-265; 255: „Die Metaphysik hat über das ganze Universum des Seienden Rechenschaft zu geben." (Vgl. diesen Text dt. auch in LU, 365-378; 370.) 62 Vgl. R.C. Neville: Reconstruction of Thinking (1981), 34: „the aim of philosophical cosmology is to single out the important features of the world."
30
Einleitung
Ereignisse in der Prozessualität von Welt und Selbst 63 ; als Religionsphilosophie und Theologie aufgrund religiöser Uberzeugungsbildung in der Erfahrung des Unbedingten und seiner Symbolisierungen. Das abschließende Schema sammelt die eröffneten Perspektiven: D e r vorgeschlagenen Unterscheidung von drei religionsphilosophischen Grundtypen entsprechen die drei Schlussformen von Deduktion, Induktion und Abduktion. Dabei werden die logisch differenzierten Schlussformen hier im weiteren Sinne als Denkstile beansprucht, denen wiederum exemplarisch die Grundformen der Gottesargumente zuzuordnen sind. 64 Daran zeigt sich die vollständige F o r m in der Dreistelligkeit, wie sie in Peirce' Universen der Erfahrung ihre Begründung findet. Die universalistische Religionsphilosophie ist 200 Jahre nach Kants Religionsschrift eine neue, nach vielen Sackgassen und Umwegen der Moderne hart erarbeitete, im Blick auf die Religionen der Welt zugleich epochale und reale Möglichkeit. Schema 1.4: Gottesargumente, religionsphilosophische Denkstile und Typen
rational
existentiell
universalistisch Abduktives Argument
Kosmologisches Argument Kosmologisches Argument Ontologisches Argument
deduktiver
Denkstil
Ontologisches Argument
induktiver Denkstil
Ontologisches Argument
abduktiver
Denkstil
63
Hier ist an die existenz-ontologischen Analysen von Kierkegaard über Tillich bis Derrida (vgl. J . Derrida [1994]) ebenso zu denken wie an R . C . Nevilles Interpretation von Whiteheads Begriffen „concrescence" und „prehension" (vgl. Neville, aaO. 155ff.) oder Peirce' „Ereignislogik".
64
Im Anschluss an Kant (s. A n m . 47), wobei hier das kosmologische Argument als induktives das physikotheologische oder teleologische mit vertreten kann; s. § 16.3; 17.3; 18.3.
§ 2: Religionsphilosophie und Theologie Was Religionsphilosophie als wissenschaftliche Disziplin zu leisten vermag, hängt ab von dem zugrunde gelegten Verständnis von Philosophie und Religion - und dem Verhältnis beider zur Theologie. Verstehen wir unter Philosophie methodisches und selbstkontrolliertes Denken, das den Wissenschaften ebenso wie der Lebensorientierung verpflichtetet ist, dann liegt es auf der Hand, dass Religion als kulturelles Phänomen der Lebenserfahrung und ihrer Ausdruckgabe in Ritualen, Mythen und Symbolen sich dem Anspruch des Denkens keineswegs entziehen muss (s. § 1.1). Das gilt erst recht dann, wenn (wissenschaftliche) Theologie nach denselben methodischen Prinzipien des Denkens konzipiert und damit als die Reflexionsform einer jeweils bestimmten Religion verstanden wird. Im Christentum jedenfalls besteht der Theologiebegriff genau darin, „den Glauben zum Denken" zu bringen. 1 Dann ist der durch die europäische Aufklärung - meist als ausschließend - unterstellte Gegensatz von (religiös-irrationalem) Glauben und (philosophisch geläutertem) Wissen überholt. 2 Das Verhältnis von Religionsphilosophie (als philosophischer Disziplin) und Theologie ist dann gerade nicht mehr in dem von Kant vorgeschlagenen Bild der ,,konzentrische[n] Kreise" zu fassen: Zwei ineinander liegende Kreise unterschiedlichen Umfangs, wobei die „Vernunftreligion" den inneren Kreis im Zentrum besetzen muss, weil sie „Offenbarung" nur außerhalb von sich selbst zulässt, während die außen stehende, auf historische Ereignisse bezogene Offenbarungsreligion „in sich" die allgemeinverbindlich regierende Vernunft zumindest „begreifen" kann. 3 Wird dieser Alleinvertretungsanspruch einer einheitlichen, letztbegründenden und strikt allgemeinen Vernunftinstanz heute nicht 1
2
3
Chr. Schwöbel (1996), 286 (im Anschluss an C.H. Ratschow); vgl. zur gemeinsamen semiotischen Grundlegung von Wirklichkeitsbeziehung und Wahrheitserkenntnis in Philosophie, Religionsphilosophie und Theologie aaO. 290ff. Vgl. das von K. Wuchterl (1993), 83, herausgestellte „Paradox", dass unter diesen Bedingungen der „Aufklärung" Religionsphilosophie nur die Disziplin sein kann, „die zeigt, dass es ihren Gegenstand, die religiösen Phänomene, im eigentlichen Sinne gar nicht gibt." I. Kant, Die Religion (1794), Vorrede zur 2. Aufl., Werke Bd. 7, Β X X I ; zur fraglosen Akzeptanz dieser Grundentscheidung Kants für eine protestantische Religionsphilosophie im 20. Jh. vgl. W. Trillhaas (1972), VI; zur kritischen Auslegung von Kants Bild der konzentrischen Kreise vgl. H. Deuser, Gottesinstinkt (2004), 295ff.
32
Einleitung
mehr vorausgesetzt (und es sind in der Regel die philosophischen Schulen selbst, die für diese Veränderung der Ausgangslage verantwortlich zeichnen), dann entfällt auch der Konkurrenzdruck, ob nun die Philosophie (als vernünftiges Denken über Religion) im Zentrum der beiden Kreise zu stehen kommt oder die Theologie (als Denkform, die sich zwar auf eine bestimmte, geschichtlich begründete und gewordene Religion festlegt, Religionsphilosophie damit aber nicht bestreitet). Richtig bleibt allerdings die Fragestellung nach dem Ineinander, der Trennung, der Berührung oder der Uberschneidung zweier Perspektiven auf Religion, die sich nicht prinzipiell ausschließen müssen, aber auch nicht identisch sind.
1. Philosophie und Religion Methodisches und selbstkontrolliertes Denken muss im (zeichenvermittelten) Akt der Gegenstandsbeziehungen deren Möglichkeit, Wirklichkeit und Wahrheit so bestimmen, dass die mitlaufende Erschließungskraft des Denkens selbst zugleich thematisch werden kann. Ausgehend von dem, was überhaupt gegenwärtig wird und deshalb ,vor' den bewussten Kontrollmechanismen methodischen Denkens liegt, sind es dann Grammatik und Logik, die die Erfassungsmöglichkeiten beschreiben. Was sich gegenständlich darbietet, unterliegt dem Erklären, der möglichst präzisen Angabe von Kausalrelationen, wodurch Ursachen und Wirkungen so verknüpft werden, dass (berechenbare) Prognosen für künftige Ereignisse möglich werden. Damit sind aber bereits Zusammenhänge des Verstehens beansprucht, die umfassend auf Sinnstrukturen und Weltorientierung zielen, die ihrerseits entdeckt, aufgebaut und entworfen werden. Diese Strukturskizze verbindet die modernen Schulbildungen phänomenologischer, hermeneutischer und analytischer Philosophie4 und hebt damit zugleich eine als ausschließend gedachte Alternative zwischen (naturwissenschaftlichem) Erklären und (geisteswissenschaftlichem) Verstehen auf.5 Die wissensrationale Erklärung ist ein Teil des
4
Vgl. die einschlägigen Ü b e r s i c h t e n im A r t . „Philosophie", in: H W P 7 (1989), 742ÍÍ.
(B. Waidenfels), 752ÍÍ.
(G. Scholtz), 786ff. ( G . Gahriel/F. K a m b a r t e l / T h .
Rentsch). 5
Vgl. B . Trill: E r k l ä r e n , Erklärung I, in: H W P 2 (1972), 690ff.; zu der v o n W . D i l t h e y eingeführten Begrifflichkeit M . J u n g (1996), 133f.; zur gegenwärtigen Diskussion u m eine H e r m e n e u t i k , die sich der T r e n n u n g zwischen Geistes-
§ 2: Religionsphilosophie und Theologie
33
Welt- und Selbstverstehens, das auf seinen Objektbezug nicht reduziert werden kann. In der dann eröffneten weiteren Perspektive der Wechselseitigkeit von Subjektivität (Selbsterklären und -verstehen) und Objektivität (Welterklären und -verstehen) wird die Frage nach der Abkünftigkeit dieses Zusammenhanges zwingend, das Unbedingte zum Thema (s. § 1.4). Die Philosophie wird vor dem Phänomen der Religion zur Religionsphilosophie, die Theologie dient als methodisches und selbstkontrolliertes Denken der Darstellung einer spezifischen Religion, deren religiöse Erfahrung, Lebens-, Ausdrucks- und Kultformen sie teilt. Diese perspektivische Unterscheidung und Ergänzung von Theologie und Religionsphilosophie gründet auch darin, dass Philosophie nicht restriktiv auf bestimmte Methoden festgelegt werden muss, sondern sich selbst in der Weite ihrer Orientierungspunkte von Weisheit, Wissen und Weltanschauung präsentiert. Weisheit kontrolliert sich an Lebenserfahrung, Wissen an empirischen Uberprüfungen, Weltanschauung an konkurrierenden Lebensformen. Die Selbstkontrolle des Denkens aber unterliegt dabei immer den Bedingungen, die sich aus der Wieder-Darstellung der Denkakte ergeben, ihrer kontrollierenden Selbstbezüglichkeit, die allein die Wahrheit des gedachten Wirklichen vor Augen bringt. Mit der europäischen philosophischen Tradition und Gegenwart wäre dieses Verständnis von selbstkontrollierendem Denken in der Struktur der dreifachen Frage nach Ursprung, Wirklichkeit und Wahrheit aufzufächern: Der Ursprung bezeichnet kein Kausalverhältnis, sondern sucht die (rationale) Frage des Grundes so zu bestimmen, dass die Gesamtheit der Wirklichkeit ihr angemessen, d.h. in ihrer Wahrheit dargestellt werden kann. Es ist diese Frage nach dem letzten Grund, die seit der antiken Philosophie und musterbildend bei Piaton und Aristoteles dazu geführt hat, den Gottesnamen der Religionen des Mittelmeerraumes philosophisch aufzunehmen, im Gebrauch zu kontrollieren und denselben Religionen (vor allem: Judentum, Christentum, Islam) mit den Forderungen des Denkens entgegen zu treten. Die dominierenden Philosophien der Antike, des europäischen Mittelalters und bis in die Neuzeit sind auf diesem Hintergrund wesentlich Sez'wsphilosophien: Was überhaupt und ursprünglich ist, hat prinzipiell „Sein". Diese Begriffsbildung überblickt das vielfach einzelne Seiende auf seine Gesamtheit hin, die begründend hinter allem zu stehen scheint; theolo-
und Naturwissenschaften nicht mehr fügt, M. Jung (2005), E. Gräb-Schmidt, Verstehen (2006).
34
Einleitung
gisch gewendet: in Gott liegt. 6 Dabei muss dieser Rückgang auf ein Prinzip keineswegs als bloß abstraktes Schema entwickelt werden, sondern die variierende Fülle der Ursprungsfragen 7 bezüglich Sein, Wissen, Denken und Glauben etc. wird eröffnet aufgrund des platonische Impulses, zur αρχη vorzudringen - bis dorthin, wo das Voraussetzungen machen müssen nicht mehr greift (αρχη ανυττοθετος).8 Dieser Ursprung entdeckt das produktiv Unbedingte (s. § 1.4.3), das wirklich und wahr werden wird. Es ist dieser Grenzbegriff, mit dem die Philosophie Religion nicht nur berührt, sondern durchaus erklären und verstehen, d.h. respektieren kann. Wirklichkeit ist die Kontrollinstanz dessen, was über sie - und über das, was sich in ihr ereignet - gesagt werden kann. Die einzelnen Ereignisse, sofern nicht nach dem Ursprung gefragt wird, setzen sich selbst voraus, gehören zueinander in der Relationalität der Tatsachen; sie sind, was der Fall ist.9 Seit das (sinnlich-gegenständlich) Objektive von der subjektiven Vorstellung methodisch abgegrenzt werden kann, endgültig seit der physikalisch-mathematisch operierenden neuzeitlichen Philosophie, trägt die objektive Wirklichkeit die Beweislast des Unwidersprechlichen, des Empirischen, das allen Menschen in gleicher Weise zugänglich ist und folglich zum Maßstab von Begriffsbestimmungen am besten taugt. Es ist der schottisch-englische Empirismus (im 18. Jahrhundert: D. Hume), aber auch die theoretische Philosophie 6
Vgl. Thomas v. Aquin: Summe gegen die Heiden I, 43, 169: „Das Sein selbst [Ipsum esse], in sich betrachtet [absolute consideratum], ist unendlich, denn von unendlich vielen und auf unendlich viele Weisen kann an ihm teilgenommen werden. [...] Für das göttliche Sein aber kann es keine Ursache geben, da er ja durch sich selbst notwendig ist. Also ist sein Sein unendlich und er selbst unendlich." - Zur Geschichte des Seinsbegriffs vgl. M. F r e d e / T h . K o b u s c h / A . Z i m m e r m a n n / U . G . Leinsle: Sein; Seiendes, in: H O T 9 (1995), 170-208; zu Thomas v. Aquin, ebd. 189f.
7
Vgl. H . H o l z h e y / D . Schoeller Reisch: Ursprung, in: H O T 11 (2001), 417-424.
8
Piaton, D e r Staat, Buch VI, in: Werke Bd. 4 (1971), 510b („zu dem keiner Voraussetzung weiter bedürfenden Anfang [αρχη] hin"), 511b; vgl. W . Bröcker (1990), 274ff. - Die Phänomenologie E . Husserls ist ein sprechendes Beispiel der Moderne, wie philosophische Rationalität und Religion - bei aller Vorsicht - zumindest zur Berührung kommen: Das Konstitutionsproblem von Subjektivität bzw. Welt ist aus sich selbst nicht lösbar; vgl. L. Landgrebe (1986), 6 6 - 7 2 ; M. Heesch (1997).
9
Vgl. zu A . N . Whiteheads Naturphilosophie M. Hampe (1998), 64: „Weil Ereignisse sich berühren, einschließen, überlappen, ausschließen, bilden sie eine relationale Struktur, die wir von den Ereignissen abstrahieren können und dann als ,den Raum der Natur' bezeichnen"; in Verbindung mit L. Wittgenstein, Tractatus (1968), Satz 1: „Die Welt ist alles, was der Fall ist."
§ 2: Religionsphilosophie und Theologie
35
Kants, die hierfür musterbildend die Moderne geprägt haben. Werden dadurch einerseits Begriffe schärfer kontrollierbar, so gerät andererseits all das, was selbst keine empirisch nachweisbare Entität sein kann: Gesetze, Zeit, Raum, Freiheit, Glück, Gott etc. in eine wissenschaftlich schwierige Abseitsstellung. Daran zeigt sich, dass das, was (empirisch gesehen) wirklich ist, auf besondere Weise aus einem Erfahrungsgesamt ausgeschnitten werden muss, und jede empirische Einzelwissenschaft sucht die dafür jeweils beste Methode. Methodische Distanz und die Bestimmung von Wirklichkeit gehören folglich in denselben Akt. Wirklichkeit im empirischen Sinne ist nicht das, was wir unmittelbar haben; auch nicht das, was wir als etwas vorstellen; sondern das Wirkliche drängt sich uns unwiderstehlich von außen auf und wird als Gegenüber bestimmbar. Wirkliches ist kausal erklärbar in raumzeitlichen Veränderungen, Wirkliches ist erfassbar und als jeweils Dieses zu bezeichnen. 10 Unter dem Aspekt des empirisch Existierenden stellt sich also besonders einschneidend die Frage, wie philosophisch gesehen auf Religion Bezug genommen werden kann. Die äußere Existenz der Menschen ist empirisch beschreibbar, ihr inneres Existenz-Verhältnis aber nur indirekt zu ermitteln. Religiosität wäre so gesehen der philosophische Testfall, die Außen-Innen-Dualität aufzuheben und als komplexe Existenzerfahrung des gerade nicht nur empirischen Selbst-Verhältnisses trotzdem unter den Bedingungen der Wirklichkeit zu denken - und das unter extremen Bedingungen, insofern Religion den empirischen Sinn von Wirklichkeit in der Unbedingtheitsrelation gerade transzendiert. Zwischen Theologie und Religionsphilosophie hat sich in der Moderne, seit dem 19. Jh., deshalb ein mittlerer Forschungsbereich von Religionspsychologie, Religionssoziologie und Religionsgeschichte entwickelt, der die Schwierigkeiten der empirischen Bezugnahme auf NichtEmpirisches sozusagen methodisch abfedert. „Sinn" entsteht psychosozial, in geschichtlichen Gemeinschaftsformen und ist insofern wissenschaftlich darstellbar 11 , auch ohne dass die jeweilige Vollzugsform ge-
10
11
Ch.S. Peirce spricht (kategorial) vom „zweiten Universum": „of the Brute Actuality of things and facts" (z.B. in: RS, 330; EP 2, 435) und (semiotisch) von der „Haecceitas", d.h. bestimmter „Diesheit" der Existenz (vgl. SS 1, 272; oder RS, 162). Vgl. M. Weher, Religiöse Gemeinschaften (2005), 1. - In diesem Sinne kann von den Religionen als „Teil der Wirklichkeit" gesprochen werden, sie kommen in „faits sociaux" (E. Durkheim) eigener und unvermeidlicher Wirkungskraft zur Geltung, vgl. H.G. Kippenherg, Nachwort, in: M. Weber, aaO. 160, 168.
36
Einleitung
teilt oder selbst gelebt werden müsste. Die Religionsphilosophie braucht diese Felder der äußeren Selbstdarstellung und wissenschaftlich-empirischen Darstellbarkeit der Religion in Geschichte, Gesellschaft, Kultur, Sinn-Systemen, Handlungstheorien etc., sie ist mit diesen aber nicht identisch. Denn die Vollzugsform von Religiosität gehört zum Phänomen selbst, die innerste Uberzeugung zum Weltganzen. Die inneren wie die äußeren Prägekräfte müssen, über die empirischen Restriktionen des Wirklichkeitsbegriffs hinausgehend, religionsphilosophisch ermittelt werden. Die Wahrheit festzustellen geschieht deshalb in Begriffen, Sätzen und Schlussformen, die sich auf das, was wirklich ist, beziehen, mit diesem also nicht zusammenfallen. Jedes Urteil, ob etwas wahr sei oder worin die Wahrheit fraglicher Sachverhalte bestehe, kann allerdings wieder bestritten werden, wenn es dafür einen Anlass gibt. Solche Anlässe ergeben sich nicht nur aus weiteren und anderen Lebenserfahrungen, neuen wissenschaftlichen Methoden und ständig anwachsendem Wissen über die Dinge, sondern schon deshalb, weil prinzipiell der Bezugsrahmen dessen, wie und woraufhin geurteilt werden soll, unterschiedlich gefasst werden kann. Die philosophische Moderne kommt an der Einsicht, Wahrheit sei nur zugänglich in „Perspektiven", nicht mehr vorbei.12 Denn der in jedem denkbaren Wahrheitsbegriff unterstellte Zusammenhang mit dem Wirklichen ist pluriform und nie voraussetzungslos gegeben. Menschliches Urteilen hat keine absolute Perspektive, sondern steht immer in Erfahrungs- und Lebenswelten, in denen dann allerdings auch Wahrheit zu bestimmen ist. Insofern sind es die Kontextbedingungen der Einzelwissenschaften und die Alltagsbedingungen des Zusammenlebens, in deren Perspektive der jeweils fragliche Zusammenhang von Urteilsbildung und Wirklichkeit als wahr festgehalten werden kann. Die Wahrheit verschiedener Perspektiven dann wiederum in ihrem neuen Zusammenhang zu bestimmen, Wahrheit im wissenschaftlichen oder lebensweltlichen Ganzen zu ermitteln - das sind weitere Aufgabenstellungen immer abstrakterer philosophischer Zusatzperspektiven, die ebenso notwendig wie umstritten erscheinen müssen. Es bleibt jedenfalls unabdingbar, dass ein Zusammenhang, dass eine „Ubereinstimmung" („agreement") zwischen der Realität und menschlichem Denken13 nicht nur zu fordern ist, son-
12 13
I.U. Dalferth/Ph. Stoellger (2004); zur philosophiegeschichtlichen Übersicht vgl. M. Enders/J. Szaif (2006). W . James, Pragmatismus, 6. Vorlesung (2001), 13 Iff.; vgl. H. Deuser, Zum Religions- und Wahrheitsbegriff bei William James (2000), 156ff. - Zu den Di-
§ 2: Religionsphilosophie und Theologie
37
dem auf der Basis gelingender Verständigung über die Welt faktisch vorausgesetzt werden kann. Diese ontologische Implikation14 bringt den Welt-Zusammenhang des Denkens und Sprechens zum Ausdruck auch dann, wenn die präzisen Bestimmungen dessen, worin denn dieser Zusammenhang begründet und wirksam ist, schwer fällt. Das vor-philosophische Wissen um die Wahrheit geht mit dieser Frage nach dem regierenden Zusammenhang einfacher um; erst die explizite Frage bringt die Schwierigkeiten. Insofern spricht vieles dafür, unbeschadet aller analytischen Untersuchungen zu Wahrheitsbegriff und Wahrheitsproblem, das Wahrsein und die Wahrheit als „Prozess"13 ihrer Herausbildung, Uberprüfung und immer verbesserten Wahrnehmung zu verstehen, wie es der Pragmatismus vorgeschlagen hat. Zu sagen „truth can get better"16, reagiert auf wissenschaftlichen Fortschritt und den ontologischen Zusammenhang von Weltentwicklung, Erfahrung und Denken. Wahrheit und Realität vermitteln den subjektiven Zugang (in Lebenserfahrung, Uberzeugungsbildung und wissenschaftlicher Forschung) mit der Objektivität der Ereignisse im evolutionären Prozess des Universums - „dass [...] WAHRHEIT darin besteht, zufriedengestellt zu werden, [...] eine [Befriedigung], die letztlich auftreten würde, triebe man die Untersuchung bis zu ihrem äußersten und unantastbaren Abschluss voran."17 Dieser Begriff von Wahrheit als
mensionen der Wahrheit als ,Angemessenheit (adaequatio)* Wahrheit/Wahrhaftigkeit V, in: T R E 35 (2003), 365ff. 14
vgl. E. Herms:
Vgl. L. Puntel (2004), 89; zur Diskussion, „wahr" als Quantor und nicht als Prädikat zu verstehen I.U. Dalferth (2003), 187ff.; H. Schulz (2005), 123 (These 5) zur „wahrheitstheoretische[n] Intuition".
15
W.James, aaO. 133.
16
D.R. Anderson (2006), 28.
17
Ch.S. Peirce, RS, 358; EP 2, 450. Mit dieser Formulierung von 1908 kommentiert Peirce die frühen Thesen im Zusammenhang der pragmatischen Maxime (1878), SP 205f. (vgl. EP 1, 138f.): „alle Anhänger der Wissenschaft [sind] von der frohen Hoffnung beseelt, dass der Prozess der Untersuchung, wenn er nur weit genug vorwärts getrieben wird, eine sichere Lösung für jede Frage, auf die er angewendet werden kann, bringen wird. [...] Diese große Hoffnung ist im Begriff von Wahrheit und Realität beschlossen. Die Meinung, die vom Schicksal dazu bestimmt ist, dass ihr letztlich jeder der Forschenden zustimmt, ist das, was wir unter Wahrheit verstehen, und der Gegenstand, der durch diese Meinung repräsentiert wird, ist das Reale. [...] und die Meinung, die sich schließlich aus der Forschung ergeben würde, hängt nicht davon ab, wie irgendjemand tatsächlich denken mag. Sondern die Realität dessen, was real ist, hängt von der realen Tatsache ab, dass die Forschung dazu bestimmt ist, schließlich, wenn sie lange genug betrieben worden ist, zu einer Uberzeugung von jener Realität zu
38
Einleitung
umfassende Bestimmung der Realität in the long run sucht die unhintergehbare Zuordnung von Natur und Kultur, Wahrnehmung der Wirklichkeit und Denken, Uberzeugungsbildung und Handeln - in einem Dritten: der wirksamen Interpretation durch Zeichen. Dass (geschichtlich gesehen) die Religionen und (prinzipiell gesehen) Religion zu dieser Interpretation im Prozess der Evolution beitragen, wird nicht zu bestreiten sein. Insofern ist die Religionsphilosophie auch an der philosophischen Bestimmung von Wahrheit und Realität beteiligt. Das gilt nur dann nicht, wenn Philosophie auf ausschließlich formale Systeme nach dem Vorbild der empirischen Theoriebildung in methodisch präparierten Naturwissenschaften zurückgeschnitten wird. Am Beispiel erläutert: Licht und Wärme der Sonne lassen sich physikalisch als Kernfusionen mit permanenter Energieabstrahlung erklären, der Kausalzusammenhang ist über Lichtwellen nachzuweisen, und die naturwissenschaftliche Erklärung beruht auf der (empirischen) Wirklichkeit messbarer Daten. Unter diesen wissenschaftsmethodischen Rahmenbedingungen kommt es zu wahren - und immer weiter kontrollierbaren und verbesserten - Urteilen über das, was unter der Sonne als Energieträger verstanden werden kann. Zugleich wird die Sonne aber auch als naturgegebene Ursprungskraft von Licht und Wärme erfahren, und so liegt es nahe, darin - stellvertretend - die Ermöglichung von Leben überhaupt zu sehen, das ohne solche kreativen Voraussetzungen gar nicht denkbar wäre. Dieser Akt der Übertragung vom Natürlichen auf den Sinnzusammenhang des Lebens kennzeichnet menschliches Verstehen. Seine Grenzwerte liegen in Ursprung und Ziel eines Gesamtprozesses, ohne den sich Einzelereignisse oder besondere Wirklichkeitsausschnitte nicht abstecken ließen. Die Wahrheit dieser Realität im Ganzen ist empirisch nicht greifbar, auch nicht der Vollzug des Verstehens selbst: Seine Ermöglichung und Zielorientierung sind ihm zwar mitgestaltend präsent, aber der Ubergang vom Ereignis- zum Erlebnis- oder Interpretationszusammenhang kann als solcher nicht beobachtet werden.18 Wird die Sonne nur im empirischen Kausalzusammenhang erfasst, so liegt eine begrenzte Anwendung erklärenden Denkens vor. Der verstehende Sinnzusammenhang nutzt dagegen die weiteren Übertragungskräfte von Sprache und Denken - nicht nur im Sinne empirischer Theorien und Modelle, etwa zur Vorstellung des
führen." - Vgl. zum gegenwärtigen wahrheitstheoretischen Kontext dieses pragmatistischen Denkens R . Schantz (2006), 387ff. 18
Vgl. zu diesem Tatbestand jeder „Philosophie des Geistes" D . Sturma (2005), 21: „Es bleibt der Beobachtung unzugänglich, wie ein Ereignis zu einem Erlebnis wird oder wie sich ein Erlebnis als Ereignis manifestiert."
§ 2: Religionsphilosophie und Theologie
39
Lichtkegels auf der Basis von Lichtgeschwindigkeit als Naturkonstanten und Einsteins vierdimensionaler Raumzeit 19 , sondern auch in der semiotisch sensiblen Vermittlungsleistung, dass (Sprach-)Zeichen für etwas Anderes stehen und in genau dieser Bezeichnungsfunktion jeweils verstanden werden - gerade auch dann, wenn dieses Andere kein empirischer Gegenstand und nicht anwesend oder messbar ist. Dann kann von der Sonne als dem Ursprung von allem gesprochen werden, und das ist physikalisch auch heute in gewissem Sinne richtig, hat seine eigentliche Pointe aber in der Universalisierung natürlicher Gegebenheiten und Gesetzlichkeiten auf einen Zusammenhang hin, dem die menschliche Erfahrung sich im Ganzen verdankt, an dem sie fühlend, denkend und handelnd partizipiert, den sie selbst aber nicht erzeugen kann. Die historischen Religionen haben auf diese eindringlich erlebte Gegebenheit reagiert, indem sie in Symbolsystemen - die Kosmologie, Ethik und Selbsterfahrung umfassen - eine Ursprungserklärung als göttlichen Verstehenszusammenhang in Anspruch genommen, personal dargestellt und rituell vergegenwärtigt haben, z.B. im Sonnengott Rë (5. Dynastie) und Aton (18. Dynastie) des alten Ägypten. 20 Die Wirklichkeit des Lichts ist zwar von der Idealität der Erleuchtung abzuheben, aber Begriffe wie Klarheit, Sichtbarkeit, Wärme, Wachstum etc. zeigen die wirksame Kraft der übertragenen Rede und real fundierten Symbolik. 21 Physik und Metaphysik bezeichnen dann die beiden Bedeutungssphären dessen, was einerseits natürlich und andererseits universal gilt, und beide Seiten sind entsprechend aufeinander angewiesen. Die Sonne in Piatons Gleichnis 22 bezeichnet zugleich höchste Idee und sinnliche Erfahrung. Dass die Sonne auch die Wahrheit verbürgt, ist für ein Denken, das der Moderne verpflichtet ist, allerdings erläuterungsbedürftig. Wird eingeräumt, dass Leben und Denken ihren Sinnzusammenhang im Blick auf ursprüngliche Ermöglichung und Zielorientierung mit zu bedenken haben, dann ergibt sich die Folgerung,
19
Vgl. J.D. Barrow (2004),43ff.; St. Hawking (2001), 39ff.
20 21
Vgl. F. Heiler (1999), 106, 111. Wahrheit kann deshalb als „carryover of value" im Rahmen von Interpretationsprozessen definiert werden (R.C. Neville, Recovery of the Measure [1989], 65ff.), und in der Perspektivität der Religion ergeben sich daraus sehr konkrete Anwendungen (Neville, Religious Truth [2001], 163f.). - Vgl. H. Schulz (2005), 124 (These 7): „Die Wahrheitsfrage steht als Bewusstmachung dessen, was uns einerseits selbstverständlich und immer schon vertraut, andererseits aber klärungsbedürftig geworden ist, im Dienste der gelingenden Lebenspraxis (.wahres Leben')."
22
S. § 4.2.
40
Einleitung
zukommendes Licht und wirksame Energie für die Wahrheitserschließung in Anspruch nehmen zu müssen. Die Grenzbedingungen des aktiven und konstruktiven Denkens verweisen paradox auf seine Abkünftigkeit. Diese reaktive Betonung des Empfangens ist der fortdauernde Akzent der Religion. Ursprung, Wirklichkeit und Wahrheit, werden sie ungeschmälert als Aufgabenstellungen der Philosophie aufgefasst, führen nicht nur zum Respekt vor Religion, sondern verlangen Religionsphilosophie.
2. Religionsphilosophie und Theologie in Uberschneidung und Unterscheidung Wenn Religion auf philosophisches Denken beziehbar erscheint, wenn der Akzent der Religion auf Abkünftigkeit, Unbestimmtheit und Unbedingtheit (s. § 1) im Fragehorizont der Philosophie produktiv wahrgenommen werden kann, dann ist nicht nur Religionsphilosophie als Disziplin gut begründet, sondern ihr wiederum zugeordnet die Theologie als diejenige Wissenschaft europäischer Tradition, die methodisches und selbstkontrolliertes Denken (insoweit wie die Philosophie) unter den Voraussetzung der Aneignung der Glaubensinhalte und religiösen Erfahrungen einer bestimmten Religion (so jedenfalls im Christentum) zur Darstellung bringt.23 Auf der Basis der bisher gegebenen Beschreibungen und Bestimmungen von Religion lässt sich deren Bedeutung in der Perspektive der europäischen Moderne zumindest in einer Gebrauchsdefinition festhalten - ohne damit die Fülle variierender Auffassungen und Phänomene zu leugnen, doch aber in einer gewissen Abstraktion diesen gegenüber: Religion als summarischer Begriff und im einzelnen Fall Religiosität bezeichnen eine spezifische Lebensform, die sich aus der endlichen Existenz jedes und aller Menschen ergibt, insofern Menschen niemals durchgängig über sich selbst verfügen, sondern aus einem als unbedingt erfahrenen Zusammenhang heraus verstanden werden müssen. Darauf lässt sich, wie gezeigt, ganz allgemein Philosophie beziehen, konkreter und differenzierter Religionsphilosophie, die dann philosophische ebenso wie theologische Elemente gemäß ihrer jeweiligen Fragestellung und Interessenlage frei einsetzen wird. Ohne die Grenzen zwischen den wissenschaftlichen Disziplinen überspringen zu wollen, doch aber in einer Perspektive, die auf offensichtliche Gemeinsamkeiten bei Wahrung der Differenzen 23
Vgl. zu dieser wie den folgenden Definitionen H. Deuser, Religionsphilosophie (2004), 358.
§ 2: Religionsphilosophie und Theologie
41
zielt, ergibt sich dann eine Palette von Zuordnungen. In diese eine gewisse Systematik zu bringen ist dann möglich, wenn die schon eingeführten Grundtypen von Religionsphilosophie (s. § 1, Schema 1.3) jetzt auch und in einem allgemeineren Zuschnitt auf die Philosophie angewandt und dann mit Religion bzw. Theologie in Verbindung gebracht werden. Das ist deshalb hilfreich, weil zwischen Theologie und Philosophie häufig ein problematisches Verhältnis besteht, sofern sie sich als Konkurrenten empfinden. Die Philosophie erscheint dann eher in einer (unabhängigen) externen Position, steht dem religiösen Glauben und dem Offenbarungsbegriff neutral oder wie einem Anderen und Fremden gegenüber. In allen Fällen aber sind affirmative ebenso wie kritische Bewertungen gerade der gegenseitigen Fremdheit möglich. Zwischen (Religions-)Philosophie und Theologie kommt es aber erst recht zu einem Spannungsverhältnis aufgrund eher interner Differenzbildungen und Positionsbestimmungen. Diese entstehen aus unterschiedlichen Beurteilungen des Vorrangs von religiösen Basisannahmen (etwa in der Anthropologie bezüglich Gefühl oder Glaube), Denkeinstellungen (etwa in der Metaphysik bezüglich der Gottesbeweise) oder Handlungskontexten (etwa in der Ethik bezüglich der Verbindlichkeit von Lebensformen). Auch hier sind in allen Fällen affirmative ebenso wie kritische Bewertungen möglich. Hinter allen Auffächerungen und Konkurrenzen aber steht die Kernfrage, ob Philosophie/Religionsphilosophie und Theologie sich zumindest auf denselben religiösen Phänomenbereich beziehen, als differente Zugänge zur selben Sache; oder ob eine solche Unterstellung bereits das eigenständige Phänomen der Religiosität (in ihren ganz unterschiedlichen und selbständigen Variationen) verfälscht, weil religiöser Glaube, Rituale und Erfahrungen in ihrem genuinen Vollzug aus analytischer Betrachtung überhaupt nicht hervorgehen können und diesen Zugang genau genommen weder verstehen noch brauchen. Ist nicht die Theologie allein der Anwalt genau dieser Spezialität: wissenschaftlich nicht einzuholender Voraussetzungen geschichtlich-kulturell kontingenter und ganz individueller Art, die sich als solche gerade der philosophischen/religionsphilosophischen Betrachtung, bleibt sie religiös gesehen voraussetzungslos, entziehen müssen? Oder lässt sich dieses Problem, weil es als solches ja beschreibbar ist, doch in einer (wenn auch abstrahierten) Fassung so aufgreifen, dass im Blick auf die gegebene Definition von Religion als spezifischer Ausdruckgabe von Unbedingtheit - eben darin kein theoretisch-analytischer Ubergriff möglich ist, der der je eigenen religiösen Lebensform zuvorkommen oder sie durch ihre verständige (Außen-)Darstellung ersetzbar machen könnte?
42
Einleitung
- In der Richtung der letztgenannten Problemkonstellation begründen sich die folgenden Erläuterungen zu einem gemeinsamen Feld von Überschneidungen zwischen den Disziplinen Philosophie/Religionsphilosophie und Theologie - im Bezug auf Religion. Die Perspektiven, Methoden, Kontexte etc. bleiben unterschiedlich bis in Extreme, aber der Phänomenbereich Religion, sofern er unersetzbar erscheint, erzwingt eine Vergleichbarkeit der Zugänge. Wenn im Folgenden zum Zweck der Ubersicht eine Schneise in den Dschungel der allzu vielfältigen Positionsbestimmungen und Bezugsmöglichkeiten der genannten Disziplinen geschlagen werden soll, so geschieht dies im Bewusstsein des Risikos, nicht nur unvollständig, sondern auch allzu vereinfachend vorgehen zu müssen. Zwischen den 24 Zuordnungsexempeln bleiben unscharfe Ränder, gleitende Ubergänge, überraschende Verwandtschaften und weitere Variationen immer möglich und verborgen. Die zur Gliederung genutzte Unterscheidung von Philosophie und Religionsphilosophie ist dabei keineswegs ausschließend, sondern so zu verstehen, dass eine Religionsphilosophie die Kreise des Interesses an Religion bzw. Theologie enger ziehen und fachspezifische Fragen eher berücksichtigen wird; und auch dies gilt für affirmative ebenso wie für kritische Positionen. Schema 2: Zuordnungen und Positionsbestimmungen
Religion
Theologie
affirmativ/kritisch
affirmativ/kritisch
W (europäische/ aristotelische) Metaphysik
(c) (b) MetaphysikChristliche und Philosophie/ Religionskritik Theismus
- existentiell (2)
philosophische Hermeneutik
atheistische Existenzphilosophie
theologische Hermeneutik
Theologie ^ Philosophie
- universalistisch (3)
allgemeiner Religionsbegriff
Anthropologie statt Religion
Philosophische Theologie
Geist Natur
Religionsphilosophie - rational (4)
religiöse Subjektivität
Kritik der (transzendentalen) Subjektivität
•wissenschaftstheoretisch begründeter Theismus
Offenbarungstheologie 71 Vernunft
Philosophie - rational (1)
(d) Kritik spekulativer Theologie
§ 2: Religionsphilosophie und Theologie - existentiell (5) religiöse
Erfahrung
- universalistisch
(evolutionäre/
(6) religiöse)
Metaphysik
43
Kontingenzerfahrung
Religionsphilo- Konfession ^ sophie als Teil Allgemeinder Theologie begriff
Erfahrung des Nichtidentischen
religiöser Schöpfungsund natürliche Glaube ^ Naturalismus Theologie
(la) Wird philosophisches Denken zentral als Rationalität und kritische Prüfung bestimmt, so richtet sich die mögliche Anerkennung von Religion auf deren Theorieleistung und Begrifflichkeit. Seit Aristoteles' Metaphysik hat eine solche Denkbemühung ihren höchsten Punkt im Gottesbegriff, in der „Theologik": D e r erste Grund aller Bewegung, allen Strebens und Denkens ist das selbst Unbewegte 2 4 , und zugrunde liegt ein wissenschaftssystematisches Argument: „Es gibt [...] drei Gattungen betrachtender (theoretischer) Wissenschaften: Physik, Mathematik, Theologie [θεολογική]."23 Diese „erste Philosophie" oder Metaphysik hat ihre eigenen historischen und systematischen Bedingungen, im Rahmen dieser aber wurde sie zum philosophischen Inspirationsgrund europäischer Theologie. (lb) Metaphysik - in der Moderne als „radikales Fragen" nach Grund und Ursprung alles Seienden motiviert 2 6 - verläuft auf der kritischen Grenze zwischen Bejahung oder Verneinung, Alles oder Nichts. W e n n die Rationalität nicht mehr substanziell, im Seinsbegriff, verankert werden kann, wie die empirische und transzendentale Wende seit Ende des 18. J h . lehren, dann liegt es nahe, religiösen ebenso wie metaphysischen Aussagen den Charakter von Wissen zu bestreiten: Ihnen fehlt die empirische Kontrollinstanz. Hinzu k o m m t , dass die gesellschaftlichen Lebensbedingungen seit dem europäischen 19. J h . säkulare Züge entwickelt haben, in denen sich die geschichtliche Religion (des Christentums) auflösen könnte; sie scheint, wie Nietzsche es sah, an sich selbst zugrunde zu gehen. 27 O b solche Kritik noch gültig ist, muss heute unter veränderten Lebens- und Denkbedingungen metakritisch gefragt werden.
24
Aristoteles, Metaphysik, Bd. 2 (1980), 253 (Buch X I I , 1072a); s. § 6.1.1.
25
A a O . 207 (Buch X I , 1064b); vgl. K. Kremer: Theologik, in: H W P 10 (1998),
26
Vgl. W . Weischedel, Bd. 1 (1979), 28ff. u. §§ 7 1 - 8 4 (zur Metaphysik- und Reli-
27
Vgl. A. G r a n (2006), 154.
1112f. ; I . U . Dalferth (1992),154-160. gionskritik hei Feuerbach, Marx und Nietzsche).
44
Einleitung
(le) Philosophie und Theologie können im Blick auf eine bestimmte Religion sozusagen dasselbe (ausgewählte) Problem behandeln, wenn dieses als für beide Seiten identisch angesehen wird. Das ist im europäischen Mittelalter vor allem im Gottesbegriff (klassischer Theismus) der Fall gewesen und hat bis heute Fortsetzungen gefunden. 28 Interessant ist diese Sicht der Dinge allerdings nicht mehr im Sinne einer traditionellen Ubereinstimmung allgemein-vernünftigen Denkens mit christlicher Theologie 29 , sondern im neuen Sinn eines betont christlichen Denkens in gesellschaftlich-kultureller Differenz, d.h. unter den Bedingungen eines ebenso philosophischen wie religiösen Pluralismus. Die neuerdings in der analytischen Religionsphilosophie (in Großbritannien und den USA) gegründete Sammlung „christlicher Philosophie" setzt diese Pluralität voraus und zielt auf methodische Entscheidungen, wie zu denken sei und in welchem (religiösen) Kontext dies geschieht. Damit ist auch insofern eine Verschiebung des Problems gegeben, als jetzt nicht mehr eine inhaltliche, in der Art der Beanspruchung des Gottesbegriffs liegende, Konkurrenz zwischen Offenbarungstheologie und dem Pathos der Fraglichkeit (moderner) Philosophischer Theologie gesucht wird, wie es W. Weischedel exemplarisch konzipiert hatte. 30 Die neue „Reformierte Erkenntnistheorie" (am Beispiel A. Plantingas) setzt die Akzente anders31: In der wissenschaftlichen Öffentlichkeit kann mit guten Gründen klargestellt werden, dass religiöse Anschauungen genau so grundlegend berechtigt bzw. unberechtigt sind wie alle anderen - auch die naturwissenschaftlichen - Basisannahmen über die Welt; das aber geschieht unter pluralen Bedingungen der Wissenschaften und Religionen so, dass bestimmte Weltsichten selbstbewusst vertreten werden müssen, gerade um dieser Pluralität und Diskussionsoffenheit willen. Die „Christliche Philosophie" kann dann theologische Prämissen und Kontexte so ins Spiel bringen, dass gerade ihre spezifisch philosophischen Implikationen und Folgerung gezeigt werden können, und die eigene Positionalität harmoniert trotzdem mit dem allgemeinen und nicht reduzierten Standard wissenschaftlicher Öffentlichkeit.
28
29
30 31
Vgl. W. Weischedel, Bd. 1 (1979), §§ 4-7; Ph.L. Quinn/Ch. Taliaferro (1999), part V; J. Schmidt (2003). - Eine von der Reformation ausgehende (christliche) Geschichte der Religionsphilosophie liefert G.Ch. B. Pünjer (1880/1883). Zum augustinisch-einheitlichen Modell eines „christlichen Weltbildes" und dem thomistisch-methodischen Modell konstruktiver Arbeitsteilung zwischen Philosophie und Theologie vgl. W . Löffler (2007), 185f. W . Weischedel, Bd. 2 (1979), § 141. Vgl. W. Löffler, aaO. 209-224.
§ 2: Religionsphilosophie und Theologie
45
(ld) Die philosophische Kritik der Theologie hat eine lange Tradition, wirklich einschneidend aber ist der Nachweis in I. Kants Wissenschaftstheorie, dass „Theologie aus spekulativen Prinzipien" überhaupt unmöglich sei.32 Auch wenn Kant selbst diese These mit einer Verteidigung des Gottesgedankens auf der Basis seiner Moralphilosophie verbunden hat, es ist eben der Theorieanspruch im Bezug auf wissenschaftliches Welterkennen, der der Theologie bestritten wird (die „Theologik" der aristotelischen Metaphysik [s.o. l a ] muss aufgegeben werden) . „Spekulatives" Denken ist solches, dass theoretische Aussagen über Gegenstände zu treffen versucht, deren Anschauung nicht gegeben ist. Die Leistung der Transzendentalphilosophie besteht darin, hier die kritische Grenze zu ziehen und Denken aufgrund eingeschränkter Erkenntnisansprüche abzusichern. Ob trotz dieser und eventuell gegen diese Grenzziehung sachhaltiges, theoretisch begründetes und allgemeines Vernunftwissen über nicht-empirische Gegenstände wie Geist, Freiheit, Welt oder Gott möglich ist, oder ob Kants Einspruch gegen „spekulative Theologie" als endgültig hingenommen werden muss und folglich nur noch Auswege aus dem Dilemma das Thema sein können - diese Ausgangsfrage lässt sich in den meisten europäischen Religionsphilosophien identifizieren. 33 (2a) Existenzphilosophie (z.B. S. Kierkegaard), Lebensphilosophie (z.B. F. Nietzsche) und Hermeneutik (z.B. W. Dilthey) sind als Schulentwicklungen nach dem deutschen Idealismus und entgegen der naturwissenschaftlichen Methodendominanz zu verstehen. 34 Sofern es sich dabei um Selbst-Verstehen in Rückbindung an die eigene (geschichtliche) Existenz und Lebenssituation handelt, ergibt sich ein natürliches Verständnis für religiöse Erfahrungen. K. Jaspers' „philosophischer Glaube" ist dafür im 20. Jh. das instruktivste Beispiel35: Transzendenz wird sinnhaft wirksam in einem nicht-dogmatischen, nichtkonfessionell-theologischen „Glauben"; ganz und gar ungegenständlich - und insofern philosophisch - auf der Basis von Grenzerfahrungen.
32 33 34 35
Kant, KrV (transzendentaleDialektik, 3. Hauptstück, 7. Abschnitt), A 63Iff. Vgl. W. Trillhaas (1972), 41-61 („Vorkritische und kritische Religionsphilosophie"); U. Barth (2003), 64; F. Ricken (2003), 195ff.; R. Schaeffler (2006), 61f. Vgl. W . Janke (1982); G. Pflug: Lebensphilosophie, in: H W P 5 (1980), 135-140; M . J u n g (1996), (2001). Κ. Jaspers (1963/1965); vgl. Janke, aaO. Kap. VI. - Eine selbständige Religionsphilosophie in diesem geistesgeschichtlichen Kontext entwickelt B. Welte (1997).
46
Einleitung
(2b) Die existentielle Zurückgeworfenheit auf das Faktum des eigenen Selbstseins kann auch als grundloser Grund nihilistisch und/oder atheistisch interpretiert werden. Exemplarisch dafür ist J.P. Sartres Auffassung der Angst-Analysen Kierkegaards. 36 Die Erfahrung des Nichts erzwingt sozusagen die Freiheit der Selbstwahl. Die daraus motivierte Phänomenologie der Existenz ebenso wie ihre literarischen Vermittlungsgestalten stehen in ihrer Faszination und Identifikationskraft religiös reflektierten Narrativen unverkennbar nahe. 37 (2c) Mitte des 20. Jh. entsteht in Deutschland eine besondere Form der theologischen Hermeneutik, die aus wissenschaftstheoretischen Gründen der Abgrenzung gegenüber kulturellen oder kosmologischen Ableitungen des christlichen Glaubens dessen Eigenständigkeit gerade mit den formalen Mitteln der Existenzanalyse begründet: R. Bultmanns Bibelhermeneutik ist eine „Existenzerhellung in der Perspektive der ersten Person" 38 , und nur so können die Grundbegriffe der Theologie ihre Uberzeugungskraft und Wahrheit wieder gewinnen. Die Philosophie dient der Theologie, ohne dass eine Religionsphilosophie nötig erscheint. (2d) Während existenzphilosophische und hermeneutische Einstellungen der Philosophie theologischen Positionsbestimmungen in der Regel zumindest interessiert begegnen, kann umgekehrt eine im existentiellen Glauben konzentrierte Theologie sich philosophischen Vermittlungsformen gegenüber dezidiert abschließen. Der Grund dafür liegt im Vorrang des Gottesverhältnisses, das soteriologisch vom Gegensatz zwischen Sünde und Gnade bestimmt ist39 und diesen Gegensatz auch nicht durch verbessertes Wissen oder vernünftige Erkenntnis zu überbrücken vermag. Dann bleibt auch die Unterscheidung einer (theologischen) Binnenperspektive des eigenen Glaubens und einer (philosophischen) Außenperspektive der analytischen Beschreibungsmöglichkeiten problematisch, weil auch sie nicht neutral oder aus einer „Metaperspek-
36 37
38 39
Vgl. Janke, aaO. Kap. IV; H. Schulz (1994), 387f. Vgl. Janke, Kap. III (zu A. Camus); für die nicht-theologische Übernahme Kierkegaards bleiben auch die Kapitel über Angst und Tod in M. Heideggers Sein und Zeit beispielhaft ([1963], § 40, § 5Iff.); vgl. Janke, Kap. VII. H. Schulz (2005), 105; vgl. W. Weischedel, Bd. 2 (1979), § 102; K. Stock (2005), 158-162. Vgl. I.U. Dalferth (2003), 547 (im Verweis auf Kierkegaard); H. Schulz (2003), (2005), 124f. (im Anschluss an Luther und Kierkegaard).
§ 2: Religionsphilosophie und Theologie
47
tive" vorgenommen werden kann. 40 Es muss mit strenger Arbeitsteilung und mit Glaubensaussagen (mit Wahrheitsanspruch) gerechnet werden, die philosophisch nicht in gleicher Weise übernommen werden können, d.h. schließlich und in diesem Punkt mit einer „doppelten Wahrheit". 41 (3a) Jede Philosophie, die universalistisch denkt und Natur, Geschichte, Kultur, Sprache, Wissen, Geist etc. zu umfassen versucht, kann auf einen allgemeinen Religionsbegriff nicht verzichten. Denn partikulare Beschreibungen des Vielen suchen die Durchdringung des Einen. „Religion ist die Art und Weise des Bewußtseins, wie die Wahrheit für alle Menschen [...] ist"; und so folgt, dass „die Religion wohl ohne Philosophie, aber die Philosophie nicht ohne Religion sein kann, sondern diese vielmehr in sich schließt." 42 Hier liegt die Wurzel für alle Religionsgeschichte und Religionsphänomenologie mit philosophisch-systematischem Anspruch. (3 b) In der religionskritischen Wendung des Nachidealismus wird die Universalität nicht aufgegeben, Religion aber als jetzt vollständig erklärter, insofern nicht mehr eigenständiger und nur noch in seiner geschichtlichen Vermittlung anzuerkennender Ubergang zum wahren Verständnis der Gattung Mensch zurückgestuft. „Das absolute Wesen, der Gott des Menschen ist sein eignes Wesen."n (3c) Philosophische Theologie will weder Religionsphilosophie noch Christliche Philosophie sein, sondern konsequent (im Sinne der Theologik des Aristoteles [s.o. la]) das Theologische auf philosophische Weise durchdenken: den Gottesbegriff. 44 Doch wie lässt sich ein bestimmter religiöser Glaube an Gott eigentlich denken, ist der philosophische Theismus dem angemessen, was ihm religiös zugrunde liegt? Sollen diese Fragen beantwortet werden, müssten Philosophie und Theologie
40 41 42 43 44
W. Spam (1996), 259f. H. Schulz, (2005), 124 (These 11). G.W.F. Hegel, Enzyklopädie 1830 (1969), 12 {Vorrede zur zweiten Auflage). L. Feuerbach, Das Wesen des Christentums 31848/49 (1978), 43 (1. Kap.). - Vgl. H. Schulz (2006). S.o. (lc) zu W. Weischedel, dessen beeindruckendes Werk Der Gott der Philosophen in Bd. 1 eine umfassende Rechenschaft über „Wesen, Aufstieg und Verfall der Philosophischen Theologie" gibt, wenn auch in zeitbedingter Gesamtperspektive „im Zeitalter des Nihilismus". - Vgl. I.U. Dalferth (2003), 74ff.; zur „philosophischen Theologie" als Religionsphilosophie W. Jaeschke (2005).
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Einleitung
positioneile Lehren und Einstellungen überprüfen, Erfahrungen mit Gott voraussetzen, auslegen, denken und sich methodisch darüber verständigen, wie es gelingen kann, „vom selben Gott" zu sprechen. 43 (3d) Die Möglichkeiten Philosophischer Theologie können von zwei Seiten bestritten werden: Von der Philosophie aus können methodische Sperren geltend gemacht werden, überhaupt so etwas wie „Glaube" oder „Gott" vom Denken her zu erfassen; und zwar dann, wenn Denken natural gebunden konzipiert ist.46 Geist wird dann als Bewusstsein bestimmt, und religiöse Gegenstände, die als übersinnlich gelten, existieren nicht. Wegen solcher naturaler Vergegenständlichungen kann umgekehrt auch von der Theologie aus das Denken des Glaubens als Fehlform ausgeschlossen werden. Einen logisch und empirisch orientierten „Wissenschaftsbegriff kann die Theologie nur rundweg als für sie unannehmbar erklären." 47 (4a) Religionsbegründungen, denen Kants Transzendentalphilosophie als Ausgangsbedingung der Moderne gilt, suchen Halt dort, wo Rationalität und selbstbestimmte Abkünftigkeit zusammenkommen: in der (moralischen und religiösen) Subjektivität. Der „Begriff von Gott" als „Herzenskündiger" und moralischer „Weltherrscher" 48 setzt Selbstbewusstsein und die Einheitsbildungen der Subjektivität voraus, wie sie nach Kant vor allem J.G. Fichte entwickelt und in bis heute modellhafter Uberzeugungskraft vorgelegt hat: Religionsphilosophie wird zur „Religionshermeneutik der Subjektivität". 49 (4b) Der enge Auslegungszusammenhang von Vernunft und Subjektivität kann dadurch bestritten werden, dass die primäre (transzendentale) Einheitsbildung der Vernunft, wie sie in Kants Subjektbegriff vorausgesetzt werden muss, abgelehnt wird. 50 Was spricht heute schon für eine systematische Einheitlichkeit dessen, was als Vernunft (im Blick auf 45 46
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48 49 50
R. Schaeffler (2006), 1. Kap.; vgl. Th. Rentsch (2004). Zum Logischen Empirismus vgl. H. Schrödter (1979), 46, 87-91; I.U. Dalferth (1981), Einleitung-, zur „analytischen Variante der Religionskritik" K. Wuchterl (1982), 26ff. K. Barth (1964), Bd. 1/1, 7 (in Abgrenzung gegenüber den von H. Scholz formulierten Mindestanforderungen durch den modernen Wissenschaftsbegriff). Zum Verständnis dieser Position vgl. I.U. Dalferth (2003), 120f. I. Kant, Die Religion, Werke Bd. 7 {Drittes Stück), A 130f. D. Korsch (2005), 28; vgl. U. Barth (2003); R. Barth (2004), Kap. 5. Vgl. Dalferth (2003), 366-374; Dalferth/Ph. Stoellger (2005), IX-XXVIII.
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49
Methoden- und Wissenspluralitäten) gilt? Aber auch in theologischem Interesse kann der subjektivitätstheoretischen Begründungsfigur widersprochen werden, weil die verbreitete Auffassung, der unverfügbare und dem Selbstbewusstsein zugleich klare Grund seiner Abkünftigkeit sei bereits das oder ein Gottesverhältnis, keineswegs zwingend - also möglicherweise gerade irreführend ist.51 Letzteres war der existentielle Einwand Kierkegaards gegen die Vermittlungsversuche der Philosophie des deutschen Idealismus und aller spekulativen Religionsphilosophie: „Die systematische Idee ist das Subjekt-Objekt, die Einheit von Denken und Sein; Existenz dagegen ist gerade die Trennung.'" 2 (4c) Die Religionsphilosophie der Gegenwart hat den rationalen Anspruch, „Religion" bzw. theologische Begrifflichkeiten widerspruchsfrei denken zu können, vielfach und wirksam erneuern können. Das ist möglich, weil wissenschaftstheoretisch gesehen nicht mehr eine bestimmte Metaphysik oder Onto-Logie entweder geteilt oder bestritten werden muss, sondern argumentationslogische Verfahren im Vordergrund stehen, deren Gültigkeit zu diskutieren ist. Die Religionsphilosophie wird so zum Übungsfeld für logische Errungenschaften; religiöse Aussagen werden zu Argumenten, die nach rationalen Verfahren zu prüfen sind, und es sind wiederum der Theismus und die Gottesargumente, denen dann erneut die Aufmerksamkeit gilt.53 Es können aber auch alle Religionen, ihre Wirklichkeitsauffassungen und religiösen Erfahrungen nach logischen Prüfverfahren buchstäblich durchgenommen werden 54 ; und im Ergebnis steht zumindest die Einsicht, dass der pure Vorwurf, religiöse Aussagen seien als unwissenschaftlich bzw. irrational einzustufen, so nicht aufrechterhalten werden kann. (4d) Wird aber der spezifische Sinn religiöser Aussagen durch rationale Rekonstruktionen nicht gerade verfehlt? Dieser Einwand kann aus philosophischem wie aus theologischem Interesse formuliert werden, denn eine „vernünftige" Religion 55 wäre entweder gar keine oder ein 51 52 53
54 55
Vgl. Dalferth (2003), 390f. S. Kierkegaard, Unwissenschaftliche Nachschrift, Erster Teil, SKS 7, 118; dt. Ges. Werke, 16. Abtig., 116. Vgl. B. Davies (Ed.) (2000), part III; Chr. Jäger (Hg.) (1998); W . Löffler (2000), (2006). - Zur Kritik des Theismus in Tradition und Gegenwart vgl. Dalferth (2003), 266-307. Vgl. K.E. Yandell (1999). W. Trillhaas (1972), 3; deutlich ist hier die sensible Abgrenzungssituation innerhalb der deutschen Theologie der 70er Jahre, aaO. V: „Für einen Teil der
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Einleitung
intellektuelles, letztlich unlebendiges und ungeschichtliches Konkurrenzunternehmen. In der theologischen Tradition ist diese Frage unter dem begrifflichen Gegensatz von Vernunft und/oder Offenbarung bekannt. Polemisch im 20. Jh. noch einmal überspitzt gesagt: „Religion ist [...] die Angelegenheit des gottlosen Menschen'" 6 ; oder methodisch ausgedrückt: Die Theologie denkt unter der in allem verbindlichen Voraussetzung der Unterscheidung von Schöpfer und Geschöpf „von oben nach unten", die Philosophie (und damit auch jede Religionsphilosophie) aber umgekehrt und wenn überhaupt „von der Vernunft zum Logos, von der Existenz zur Transzendenz" 37 - jedenfalls müsse sich das Verhältnis aus theologischer Sicht so darstellen. Die eine Wahrheit hätte dann zwei sich ausschließende Zugangswege, wenn nicht ohnedies von zwei Wahrheiten (s.o. 2d) ausgegangen werden soll. (5a) Existenz zu denken bedeutet, die wirkliche Lebenssituation mit dem Denken zusammenzuhalten, ohne die eine auf die andere Seite ziehen zu können. Der Begriff religiöser Erfahrung, wie W. James sie zum Gegenstand religionspsychologischer wie religionsphilosophischer Darstellung gemacht hat58, muss nicht unterstellen, seinen Gegenstand kontrollierend zu besitzen oder bestimmen zu wollen. Umgekehrt muss versucht werden, was erfahren wird im Denken darstellen zu können - unter Vorbehalt sozusagen. Schleiermachers Begriff des religiösen Gefühls hat eine solche Funktion 39 , und das hier in aller Konsequenz beanspruchte Denken will dann selbst weder ausdrücklich Religionsphilosophie oder Philosophische Theologie sein, sondern als Denkbemühung „religiös": Nicht eine Sparte von Philosophie oder Theologie, sondern eine erfahrungsgesättigte Sicht, die die „Philosophie
56 57
zeitgenössischen Theologie wird das Unternehmen einer Religionsphilosophie überhaupt unfaßlich sein." K. Barth (1960), Bd. 1/2, 327. K. Barth, Philosophie und Theologie (1960), 98f.; vgl. W. Härle/E. Wölfel (1986), VII; bereits in Hegels Religionsphilosophie tritt der eigenständige Anspruch „positiver" Religion neben ihrer philosophischen Reflexionsgestalt auf: „doppelte Buchführung im Religionsbegriff", vgl. J . Dierken (2003), 191.
58
W. James, Die Vielfalt religiöser Erfahrung (1997); vgl. den frühen Hinweis auf dieses Werk bei W. Dilthey, Das Problem der Religion (1911), Ges. Schriften VI (1958), 293f.
59
F. Schleiermacher, Uber die Religion (1799/1999), Zweite Rede-, Der christliche Glaube (1830/31), § 4; zur vermittelten Unmittelbarkeit des religiösen Glaubens (im Anschluss an Schleiermacher) vgl. D. Korsch: Unmittelbarkeit, in: R G G 4 8 (2005), 793f.
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im Ganzen" durchdringt, ein dem Denken vorausliegendes Vertrauen auf die Kraft des Denkens. 60 (5b) Umstritten bleibt in der Moderne, wie stabil (bei aller Vorsicht) der Verweis auf Gefühl, Glaube, Transzendenzen, Verantwortlichkeiten, Zwecksetzungen etc. überhaupt noch sein kann. Wenn menschliche Erfahrungen ausschließlich auf Kontingentes treffen (nichtnotwendiges Wirkliches, das auch anders sein könnte 61 ), dann steht die religiöse Lebensform in der Schwierigkeit, entweder doch Anderes als (nur) Kontingentes voraussetzen, suchen oder beanspruchen zu müssen62, oder allein am Kontingent-Wirklichen selbst - und gerade ohne religionsphilosophische „Letztbegründung" - den Gotteszusammenhang zu artikulieren. 63 (5c) Das schwierige Verhältnis von Glaube und Denken - soll die im Glauben gebundene existentielle Lebenssituation ernst genommen werden - lässt sich auch so lösen, dass um der religiösen Konkretion willen die Religionsphilosophie als „theologische Disziplin" betrachtet wird. 64 Das geschah nicht, um die Qualität kritischen Denkens zu relativieren, wohl aber aufgrund des Verdachts, dass Religion, würde sie nur allgemein, d.h. philosophisch gedacht, mit sich selbst in Widerspruch geriete. - Nun verhalten sich heute Philosophie und Theologie in einem gleichberechtigten Wechselverhältnis zueinander; auch in dem Bewusstsein, dass die in der europäischen Geistesgeschichte bekannten Vorrangstreitigkeiten nicht mehr von Bedeutung sein können. 65 Insofern wird der verständlichen Absicht, methodisches Denken über Reli60
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65
M. Theunissen, Religiöse Philosophie (2004), 105f.; vgl. (im Anschluss an Piaton und Aristoteles) 113: „Religiös wäre dann der Pistis-Glaube, sofern das Denken, das am Ende sich seihst übersteigt, als Vertrauen auf die Führungskraft des Logos sich schon überstiegen hat." Vgl. H. Posner/H. Deuser (1990); I.U. Dalferth/Ph. Stoellger (2000), Einleitung. Vgl. K. Wuchterl (1982), 30-43; U. Barth (2003), 16f. (zu „Kontingenzreduktion" [N. Luhmann] und „Kontingenzbewältigung" [H. Lübbe]), 419f. (zu Schleiermacher). I.U. Dalferth (2003), 165f. N.H. Soe (1967), 17 (im Verweis auf K. Barth und E. Brunner); vgl. E. Brunner (1948), 5: „Religionsphilosophie im eigentlichen Sinne kann es aber auf dem Boden der christlichen Theologie auch darum nicht geben, weil es die Theologie nicht mit der Religion, sondern mit der Offenbarung zu tun hat"; zur kritischen Auseinandersetzung mit Brunner vgl. H.G. Hubbeling (1981), lOOf. Vgl. zur diffizilen Verhältnisbestimmung I.U. Dalferth (1997), 140-159.
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Einleitung
gion auch innerhalb der Theologie wirksam einzusetzen, am besten durch die innertheologische Disziplin der Fundamentaltheologie entsprochen werden können. 66 (5d) Der persönliche Glaube - in Verbindung mit bestimmten individuellen Lebensformen, die den existentiellen Ernst desselben Glaubens bezeugen, d.h. das, was die theologische Tradition confessio nennt und worauf kirchliche Bekenntnisse und Lehren sich beziehen - kann aus philosophischen wie theologischen Gründen so verstanden werden, dass er sich allgemein gar nicht darstellen lässt. Mit Wittgensteins schönem Beispiel illustriert: „Man könnte vielleicht überrascht sein, dass es beim Glauben an die Auferstehung keine Gegenpartei gegeben hat, bei der es hieß ,Nun ja, vielleicht'." 67 Der springende Punkt liegt darin, dass die kritisch-vergleichende Einstufung der Möglichkeit von Auferstehung, etwa in historischer Forschungsabsicht, auf eine Weise verallgemeinern und rationalisieren muss, die dem Glaubenssatz gar nicht mehr entspricht. Das Urteilsvermögen in skeptischer oder affirmativer Verallgemeinerung liegt, wie Wittgenstein präzise folgert, „auf einer ganz anderen Ebene". Welche Verständigung über den konfessorischexistentiellen Glauben ist dann überhaupt möglich? - Die naheliegende und einfache Entgegensetzung von Allgemeinem und Besonderem trifft das Problem deshalb nicht, weil jede philosophische oder historische Allgemeinperspektive selbst wiederum ihren besonderen (kulturellen, gesellschaftlichen) Ort hat, und weil umgekehrt der religiöse Glaube selbst dazu führt und Anlass gibt, seine Weltsicht allgemein zu vertreten. 68 Führt diese Situationsbestimmung aber zu einem Streit u m die angemessene Sicht der Wirklichkeit, so kann auf diesem Stand der Differenzierung keine höhere Entscheidungsinstanz mehr angerufen werden. Bei aller religionsphilosophischer Wechselwirkung zwischen den verschiedenen Ebenen des Allgemeinen und Besonderen wäre dann doch immer - und sich gegenseitig ausschließend 69 - entweder die Perspektivierung des religiösen Glaubens oder des wissenschaftlichen Allgemeinbegriffs zu wählen. (6a) Die Kosmologie schien in der Moderne als philosophische Disziplin auszufallen und allein noch den Naturwissenschaften zuzugehören, entsprechend zurückgesetzt erschien die Metaphysik. Eine Neuorien66 67 68 69
Vgl. K. Stock (2005), 268ff. L. Wittgenstein, Vorlesungen und Gespräche (1971), 92. Vgl. Chr. Schwöbel (1996), 293. Ibid.
§ 2: Religionsphilosophie und Theologie
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tierung wird dann möglich, wenn die realistische Sinnbestimmung von Allgemeinbegriffen als prinzipiell unabgegoltene Aufgabe eingeräumt wird. Das ist gerade naturphilosophisch angezeigt, und insofern ist „Metaphysik [...] nichts anderes als die Beschreibung der allgemeinen Prinzipien, die sich auf alle Einzelheiten der Praxis anwenden lassen", und unter diesem Programm wird eine universalistische Kosmologie ebenso notwendig wie eine „spekulative Philosophie". 70 Die Religionsphilosophie ist damit wie von selbst legitimiert, weil (historisch gesehen) die Religionen zu Kosmologie und Metaphysik produktive Beiträge geliefert haben und weil (systematisch gesehen) das Einbezogensein des Menschen in seine Welt eben deren Abkünftigkeit und Unbedingtheit (s. § 1.4) aufscheinen lässt.71 In „mystischen Bewusstseinszuständen" (W. James) wäre dann der Schnittpunkt von Selbst- und Welterfahrungen zu suchen72, die selbst wieder in einer Phänomenologie für Beschreibungen zugänglich sind. (6b) Metaphysik, Kosmologie und Sinnzusammenhang können diskreditiert werden, wie Nietzsche zu tun nicht müde wird73, weil jedes Einheitskonzept die wirklichen Konfliktrealitäten zu vertuschen scheint. Natur, Leiblichkeit und Emotion erscheinen als das Nichtidentische und entziehen sich dem metaphysischen Einheitszwang.74 Solche nachmetaphysische Kritik bleibt aber bewusst oder unbewusst dem ausgeschlossenen Gegenüber, ihrem Anderen verpflichtet, die Vernunft der Natur - und diese dem Geist, der Einzelne dem Anderen; und „postmoderne" Wendungen können dann die Demontage der Meta-
70
A.N. Whitehead, Prozeß und Realität (1984), 48, 50.
71
Mit den Worten von P. Tillichs früher Religionsphilosophie (1925), Hauptwerke, Bd. 4 (1987), 121: „Metaphysik ist immer und notwendig eine religiöse Haltung. Sie ist Richtung auf das Unbedingte in der theoretischen Sphäre der Geistesfunktionen."
71 73
W. James (1997), Vorlesungen X V I u. XVII. Z.B. in: F. Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse (Nr. 4) zur „rein erfundenen Welt des Unbedingten", Werke II (1973), 569; vgl. KSA 5, 18. - Vgl. T. Borsche (1989), 29ff.
74
Th.W. Adorno, Negative Dialektik (1966), 396 (12. Meditation zur Metaphysik): „Das Absolute jedoch, wie es der Metaphysik vorschwebt, wäre das Nichtidentische, das erst hervorträte, nachdem der Identitätszwang zerging." - Vgl. J . Habermas, „Adorno über die Naturverflochtenheit der Vernunft", Zwischen Naturalismus und Religion (2005), 188f.
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physik umkehren in die Ausnahmesituation der Erfahrung von „Einzigartigkeit" vor dem „absoluten Anderen"/ 3 (6c) Universalistische Religionsphilosophie hat ihre theologische Entsprechung am deutlichsten im Gedanken der Kreativität als „Prozess": „Gott ist die Bewegung zum Endlichen, und dadurch als Aufhebung desselben zu sich selbst."76 Diese spekulative Idee aber muss heute mit einem Naturbegriff zusammengehen können, wie ihn die naturwissenschaftliche Forschung experimentell bewährt und denkt; und das ist vielversprechend, wenn diese Sicht der Natur zugleich bereit und offen ist für die reale Unterscheidung von empirischer, d.h. methodisch kontrollierter Gegenständlichkeit und deren kreativer Voraussetzung und naturgesetzlicher Verallgemeinerung. In dieser dreifachen Relation ergibt sich der Zusammenhang von Religionsphilosophie und Theologie ganz natürlich·. Menschen können nicht wissen, wer oder was oder wie Gott an sich „ist", die Schöpfungsvorstellung aber besagt, „dass der Gottesgedanke den höchsten Aufschwung zum Verständnis des Ursprungs des gesamten physiko-psychischen Universums darstellt, zu dem wir imstande sind." 77 (6d) Der schöpferische Zusammenhang, erst recht die mystische Einheit aller Formen von Religiosität in ihrer Naturalität wird bestritten, wenn einerseits die geistige Selbständigkeit des religiösen Glaubens und andererseits die naturalistische Autarkie der wissenschaftlichen Objektivität verteidigt werden sollen. Zwar hatte Schellings idealistische Naturphilosophie längst vor Darwin Formen organischen Wachstums und der Selbstorganisation gesehen, aber deren geistige Vermittlung war nur schwer darzustellen. 78 Der religiöse Glaube bleibt dann das Andere der Natur, deren Geschaffensein sich am Naturbegriff selbst nicht mehr fassen lassen will. Auf der anderen Seite aber wird kein Naturalismus überzeugen können, der die ethische und religiöse Frage des „Selbstseinkönnens" 79 nicht nur nicht beantworten, sondern nicht einmal mehr stellen kann.
75 76 77 78 79
J. Derrida, Den Tod geben (1994), 395; vgl. zum Problem der „Alterität" I.U. Dalferth (2003), 79f. G.W.F. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Religion, Teilbd. 1 (1993), 212 (Fußnotentext). Ch.S. Peirce, RS, 322. Vgl. U . B a r t h (2003), 470-481. J. Habermas (2002), 17 (im Anschluss an Kierkegaard).
§ 2: Religionsphilosophie und Theologie
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Es wäre zu einfach und zu schematisch, Religionsphilosophie nun nach diesen 24 Feldern jeweils ausführlich entwickeln zu wollen. Es bleibt hier bei diesem eröffnenden Mosaik, das mit immer noch kleineren und bunteren Steinen gedacht werden kann. Was gesucht wird, ist eine Linienführung, nicht nur die mehr oder weniger distanzierte Darstellungen von Sachverhalten und Modellen. Im Folgenden soll deshalb zunächst mehr historisch, dann mehr systematisch - versucht werden, bei allen multiplen Bezügen doch auch einen konstruktiven Zugang freizulegen. Im Gewinnen von Ubersicht - das Mosaik soll durchaus in seinen Hintergründen weiter ausgeleuchtet werden - darf doch das spezifische Interesse nicht verloren gehen.
I. Biblische, antike und scholastische Tradition § 3: Deuteronomium und vorsokratische Theologie Die Achsenzeit1 im östlichen Mittelmeerraum und im Alten Orient des 6. und 5. Jh. v.Chr. kennt konkurrierende Stadtkulturen ebenso wie sich gegenseitig überholende Großreiche. Syracus oder Athen, Jerusalem oder Babylon - gemeinsam ist ihnen die religionspolitische und kosmologische Legitimationsfrage im Zusammenstoß mit anderen Kulturtraditionen. Götter- und Heldengeschichten, die Mythen der Vorzeit begründen den Vorrang, die Erwählung, auch die Konflikte und späteres Scheitern. Je mehr die Schrift- und Lesefähigkeit aber zur genaueren Erinnerung imstande ist, je mehr Priester und Beamte, Propheten und Dichter immer neue Vergleiche der Zeiten und Räume ausbilden können, desto schneller wachsen die kritischen Instanzen: Intern sind die eigenen Götter und Helden an ihren erfolgreichen Voraussagen und deren Lebensdienlichkeit zu messen, extern müssen Rang, Qualität und Durchsetzungsfähigkeit der eigenen mythischen Begründungen an anderen und bislang fremden bewährt werden. Ein erster Weg dieser internen wie externen Rechenschaft und impliziten Distanznahme ist die antike Historiographie. Sie hat ihre europäisch maßgebende Form im 5. Jh. bei den griechischen Historikern Herodot (ca. 490-ca. 425) und Thukydides (ca. 460-ca. 400) gefunden, doch ihnen voraus gehen mythische wie sagenhafte Sammlungen, Reiseberichte, Völkertafeln, Genealogien, in denen vom ersten Anfang her (gr. arche [αρχη]; hebr. bereschit [„im Anfang": ΓΡΕ?ΝΊ3] in Gen 1,1) die Konstellationen beschrieben werden, aus denen sich die geschichtlich folgenden und bekannten Ereignisse und Lebensumstände begründen lassen. Ätiologien (gr. aitia [αίτια]: Ursache, Grund, Veranlassung) sind dem gemäß die literarischen Grundformen für ur-geschichtlich begründende Sammlungen und ihr Gegenwartsinteresse. Sie sind mythisch im Anknüpfung und Weiterführen des Allerersten-Typischen, das sich nur erzählen lässt, und sie sind zugleich historisch im immer genauer registrierten Vergleichsmaterial und der damit tendenziell gegebenen Kohärenzforderung des Berichteten. 1
S. S 1, Anm. 3.
§ 3: Deuteronomium und vorsokratische Theologie
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Ein zweiter Weg von Rechenschaft und Distanznahme, der ohne die mythisch-historischen Sammlungen gar nicht denkbar gewesen wäre, ist der des Sacharguments im kritischen Vergleich, in Bewertung, in Negation und Affirmation. Mit den vorsokratischen KosmosPhilosophien des 6. Jh. entstehen Wissens- und Erklärungsansprüche für immer bessere und überzeugendere Begründungen2, mit dem deuteronomistischen Geschichtswerk auf der Basis der Exilserfahrungen Israels (endgültig nach der Eroberung Jerusalems 587 v. Chr.) wird das Gottesverhältnis aufgrund historischer Argumentation prinzipiell neu bestimmt und universalisiert3. Religionsphilosophisch ist in beiden Fällen gerade der notwendige Zusammenhang zwischen Mythos, Kosmos und Historik auszuzeichnen. Denn dass der Mythos der Vorzeit durch zunehmende Rationalität bzw. den Logos einfach abgelöst würde, wie es eine bestimmte Tendenz europäischer Selbsteinstufung sich zugute hielt, muss für die vergangenen wie die gegenwärtigen Kulturepochen als höchst einseitiges Urteil empfunden werden. „Der Mythos selbst ist ein Stück hochkarätiger Arbeit des Logos" 4 - dieser Satz ist Beschreibung und Programm zugleich: Wenn schon im Mythos als Verarbeitung der Welterfahrung der Menschen eine aufklärende Leistung gesehen werden muss, die eben gerade nur so zustande kommen und wirksam sein konnte, dann ist im Logos der Wissenschaft, soll er entsprechend humane Bedeutung haben können, eine mythische Funktion nicht nur nicht auszuschließen, sondern zu erhoffen. Sonst wäre solcher Logos trost- und orientierungslos, wenn er dies, worin Mythen ihre Kraft hatten, ausschalten oder vermissen lassen würde. So gesehen muss auch das Verhältnis von mythischen Göttern zu ihrer philosophischen Kritik und die geschichtliche Umarbeitung in der Auffassung des biblischen Gottes als Arbeit von Mythos und Logos verstanden werden.
1. Deuteronomium: Das Gesetz und seine Wiederholung Die „Zweitschrift" der Tora (Dtn 17, 18) wird zur Metapher für ein ganzes Buch, und seine Absicht wiederum zum Namen für ein Geschichtswerk, das deuteronomistische (dtr.).5 Es umfasst zusammen mit 2
Vgl. K. Held (1990), Kap. 1.
3
Vgl. O . Kaiser (1993), §§ 9 - 1 2 .
4
H . Blumenberg (1996), 18; 33f. (zum Schema „vom Mythos zum Logos"); vgl. I . U . Dalferth (1993), Kap. 1.
5
Vgl. J . C h r . Gertz (2006), § 4.3 u. § 7.6.
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I. Biblische, antike und scholastische Tradition
dem namengebenden fünften Buch des Pentateuch - dem 5. Buch Mose, das die Septuaginta (die griech. Ubers, des Alten Testaments aus dem 3./2. Jahrhundert v. Chr.) mit dem Titel Deuteronomium überschreibt - die im Kanon folgenden Bücher Josua, Richter, Samuel und Könige. Die darin erzählte Geschichte reicht von den Reden des Mose am Ende des Wüstenzuges, d.h. noch vor der Landnahme (Dtn 1, 1), über die Zeit der Richter und Könige bis ins Exil und sein mit der Begnadigung Jojachins angezeigtes Ende (II Reg 25). Das Dtn selbst unterscheidet sich von den theologisch bewertenden Geschichtserzählungen der anderen Bücher klar dadurch, dass mit den Rahmenbildungen der MoseReden lange Passagen von Rechts- und Kultanordnungen verbunden sind: vor allem die Wiederholung des Dekalogs (in variierender Fassung, vgl. Dtn 5, 1-22 mit Ex 20, 1-21) und das Sammelwerk des „deuteronomischen Gesetzbuches" (Dtn 12-26, 15). Das regierende Schema der Darstellung liegt darin, den Zusammenbruch des Königreiches auf die Schuld der Könige und des Volkes im Gottesverhältnis zurückzuführen, während die Erneuerung - und die damit motivierte Wiederholung - des Gesetzes den alten Anspruch des Gottesverhältnisses unter neuen Bedingungen proklamiert: Die Exilskatastrophe wird zur geschichtlichen Erfahrung und religiösen Grundlage für die Kraft des Gesetzes auch ohne Kultort, Königtum und siegreiche Staatenbildung. Die Wiederholung - verstanden als produktiver Gegenbegriff zur bloß bestätigten Erinnerung, wie es S. Kierkegaard vorgeschlagen hat 6 restituiert nicht dasselbe, weil schon Bekannte, sondern ist aktiver Neubeginn, ein Sich-selbst-anders-verstehen-Können als zuvor. Auch wenn die geschichtliche Fiktion des dtr. Geschichtswerkes sich historisch an der originalen Stelle des erinnerten Ursprungs, der mosaischen Gesetzgebung, sieht, ihre gegenwärtige Situation prägt den neuen Zugriff. Mythisch gedacht muss sich die Wiederholung historisch tarnen, um zu ihrem Eigenen zu kommen; historisch gedacht ist die Tarnung zu erkennen und die Kraft der Wiederholung liegt am Tage. Wenn die dtr. These, die Königszeit sei schließlich ein verschuldeter Niedergang bis zur Katastrophe, sich auch im Ganzen als tragisches Geschichtswerk präsentiert 7 , so wird darin zwar nachprüfbare Erfahrung rationalisiert, aber mit dem Mythos der Gottesgeschichte vom Anfang her muss deshalb keineswegs gebrochen werden. Es entsteht auch keine sachliche Spannung dadurch, dass die theologischen Gesamtwerke der sog. Priesterschrift und des Jahwisten noch später ent6 7
S. Kierkegaard, Die Wiederholung (1843), SKS 4, 7-96; dt. Ges. Werke, 5. Abtlg. F.A.J. Nielsen (1997), 120: „The Tragic Leitmotif of the Deuteronomistic Historical Work".
§ 3: Deuteronomium und vorsokratische Theologie
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stehen (also: jüngeren Datums sind) und noch umfassender einsetzen nämlich mit der Schöpfung der Welt im Anfang. Nur wenn das dtr. Geschichtswerk als (tendenzieller und historisierender) Logos gegen Mythos interpretiert wird, erscheint die jüngere jahwistische Theologie als Mythologisierung der Historie. 8 Sollte letzteres aus neuzeitlichwissenschaftlicher Perspektive als Rückfall gemeint sein, so ist zu widersprechen. Der pejorative Sinn von Mythologisierung träfe nur dann, wenn als entschieden zu gelten hätte, dass Götter- und Heldenerzählungen in der Moderne prinzipiell durch pure Historik zu ersetzen wären - weil mehr und anderes gar nicht gewusst und also auch nicht verantwortlich ausgesagt werden könnte. Mythos und Geschichte wären dann sich ausschließende Alternativen. Dass dies nicht zutrifft, dafür sprechen nicht nur eine ganze Serie von neuen Einstufungen des Mythos gerade heute9, sondern schon die alten Textzeugen selbst: Sie verbinden Mythisch-Exemplarisches mit Geschichtlichem, machen immer wieder den Prozess der „Bewältigung eines uns entzogenen Zuvor" bestimmbar. 10 Die kritische Frage ist nur, wie dies jeweils legitim geschehen kann, so dass in diesem Sich-selbst-neu-verstehenKönnen wiederum begründet und auf Zukunft hin verantwortlich zu leben ist.
1.1. Die Heilung des Fremden durch den einen Gott (II Reg 5) Die Propheten der frühen Königszeit waren - im religionsgeschichtlichen Vergleich gesehen - Wundertäter, Zeichendeuter, Seher und Zauberer; sie wirkten als charismatische Gottesmänner, andere gehörten zum Kultpersonal oder lebten in ekstatischen Gruppen. 11 Elischa war offenbar ein solcher Wundermann mit „magischen Fähigkeiten", historisch ist er in das 9. Jh. v.Chr. zu datieren; was aber geschieht mit einer alten Prophetenerzählung in ihrer dtr. Wiederholung am Ende einer Epoche, die den Zusammenbruch der religiös-nationalen Erwartungen zu verarbeiten hat? Die alte Heilungsgeschichte wird wiedererzählt mit einer doppelten Voraussetzung: Elischa ist als wundertätiger Gottesmann bekannt und unbestritten (v. 8), doch nicht nur hinter ihm, sondern auch hinter 8 9
Vgl. J . Van Seters (1987), 9 1 - 9 5 ; vgl. 66f. Exemplarisch für die semiotischen Zugänge des 20. J h . ist E . Cassirer (1994), II: Das mythische Denken; vgl. H . Paetzold (1998); auch H . Deuser (1998).
10
H . Blumenberg, aaO. 22.
11
Vgl. O . Kaiser (1993), § 9.
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der Kraft des ebenso berühmten aramäischen Feldherrn Naaman steht der eine Gott. Jahwe ist der „Herr", der durch Naaman den Aramäern „den Sieg verliehen" hat (v. 1). Unter dieser Vorgabe geht die Geschichte ihren Gang: Der unheilbar kranke Feldherr wird über seine Frau und deren jüdische Sklavin auf den „Prophten in Samaria" aufmerksam gemacht, und auf diplomatisch höchster Ebene schickt der aramäische König seinen Militärchef mit Geschenken und persönlichem Schreiben zum König von Israel. Hier kommt es zu einem ersten überraschenden Knotenpunkt der Erzählung: Der König Israels ist entsetzt, denn er liest das überbrachte Schreiben, theologisch korrekt, als Zumutung und kann es folglich nur als politische Aggression verstehen. Denn der König Israels ist eben kein „Gott, der töten und zum Leben erwecken kann" (v. 7), genauer: Er darf der erwartete Heiler gar nicht sein, denn diese Macht ist aus der Sicht dtr. Theologie Jahwe selbst vorbehalten. Gottes schöpferische Kraft duldet keine Vermittlung über GottKönige, die sich wie Arzte aussuchen und bezahlen ließen. Dieselbe theologische Auffassung setzt sich auch in Elischa fort, der - zum Glück für die Erzählung - vom Entsetzen seines Königs hört und sich als Propheten ins Spiel bringt. Das ergibt den zweiten Knotenpunkt der Heilungsgeschichte, denn Elischa reagiert ebenfalls überraschend abweisend, respektiert weder den hohen Besuch noch spielt er die erwartete große Rolle des Wundertäters. Die Heilung wird zu einem Badeauftrag banalisiert (v. 10), und Naaman muss von seinem Gefolge erst überredet werden, seinen Zorn zurückzustellen und es wenigstens zu versuchen. Und als er befolgt, was der „Gottesmann befohlen hatte", wird er gesund (v. 14)! Dass diese Heilung gerade so, wie sie auf äußerste Distanz, nämlich als Gehorsamsakt zustande kommt, einem spezifisch theologischen Programm entspricht, zeigt der dritte Knotenpunkt der Erzählung: Elischa deckt jetzt auf, was eigentlich vor sich ging. Allein Jahwe hat gehandelt, in dessen Dienst steht der Prophet (v. 16). Deshalb sind Geschenke sinnlos, und die Nachgeschichte über den Geschenkbetrug (v. 19b-27) des Prophetenschülers unterstreicht nur dieselbe Lehre. Naaman kann jetzt in diese Sicht der Dinge mit voller Uberzeugung einstimmen: Er hat für die eigene Religiosität begriffen, dass dieser eine Gott alle Autorität beansprucht und dass deshalb - was der aramäische König noch nicht wusste! - „göttliche Gnadengaben in Israel ganz ohne Rücksicht auf die Hierarchie der menschlichen Gesellschaftsordnung verliehen" werden. 12 Doch das ist noch nicht alles, denn das eigentlich Uberraschende liegt darin, dass Naaman nicht nur ver-
12
G.v. Rad (1965), 39; vgl. V. Fritz (1998), 31; E. Otto (2007), 139.
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steht, sondern handelt. Theologischer Humor und diplomatische Rücksicht beschließen die Erzählung, wenn Naaman seine dtr. Entscheidung für den einen Gott (v. 17) dadurch materialisiert, dass er Erde des Gotteslandes mitnehmen wird, in dem er geheilt wurde; und er muss um Verständnis bitten, dass er zu einer konsequenten Monolatrie als Diener seines aramäischen Königs nur in gewissen Grenzen fähig sein wird (v. 18). Elischa wird den alles verstehenden, aber nichts Bestimmtes mehr fordernden Friedensgruß zum Abschied ganz kurz und mit einem Lächeln gesprochen haben (v. 19a). Doch ist dieser Elischa - der Theologe, Diplomat und Menschenfreund - derselbe wie der Wundermann des 9. Jh.? In der dtr. Theologie wird der Anspruch des einen und einzigen Gottes zum Prinzip, der „Alleinverehrungsanspruch"13 wird rehistorisiert, während die magischen Praktiken entmythologisiert erscheinen. In allem aber handelt eben der eine Gott (v. 1), und sofern Gottes Handeln gar nicht unmythologisch erzählt werden kann, bleibt gerade auch die dtr. Theologie in einem mythologischen Rahmen - den sie korrigiert. Zwischen dem wahren einen Gott Israels, der seit der Exilserfahrung in seiner monotheistischen Distanz gegenüber politischen wie religiösen Vermischungsangeboten gerade die alleinige Garantie der Weitergeltung seiner Verheißungen ist, und den Göttern, der Gotteserfahrung und den religiösen, kultischen, prophetischen Kämpfen der gesamten vorexilischen Zeit liegt ein Schnitt, bei dem es jetzt ums Ganze geht. Diese Exklusivität kann durchaus auch einen fundamentalistischen Ton annehmen14, sie kann aber auch humorvoll ausgehen wie im Friedensgruß Elischas und jener „Maultierlast Erde", die als Zeichen der Verständigung zwischen dem Fremden und dem Einen dienen soll. Tatsächlich, hier liegt das religionsphilosophische Problem, wie G. v. Rad humorvoll und ganz im Sinne der Wiederholung der Prophetenerzählung vermutet hat: Elischa wird „es für ganz in der Ordnung gehalten haben, dass Naeman in seiner Notlage seinem Glauben, wenn auch auf eine ungewöhnliche Weise, so etwas wie einen sakramentalen Halt zu geben versuchte. (In dem theologischen Gespräch zwischen dem biblischen Glauben und dem griechischen Geist, das im Abendland immer neu geführt werden muss, wird gerade jene Maultierlast Erde eine Rolle zu spielen haben.)"15 Das Vermittlungsproblem ist dem „biblischen Glauben" genauso eigen wie dem „griechischen Geist" - und damit
13 14 15
O. Kaiser, aaO. 190. Vg. O. Kaiser (1998), 49. G.v. Rad, aaO. 40.
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notwendig für die abendländische Tradition. Nicht zwischen Denken und Glauben, Historie und Mythos, F r e m d e m und Eigenem verläuft in Wahrheit der trennende Schnitt, sondern zwischen angemessener und nicht angemessener Wiederholung der T o r a und ihres göttlichen Sinnes. Die theologische wie historisierende Arbeit der dtr. Interpreten hat dies gespürt. Weil sie im Kontext der Gesamterzählung v o m handelnden Gott bleiben, können sie weiter - wenn auch distanzierter erzählen und damit an der eigenen Tradition arbeiten: im Wiederholen N e u e s am Alten freilegen.
1.2. Die Wiederholung im Geschenk des neuen Sich-selbst-Verstehens (Jer 31, 31-34) Wiederholungen werden zu Traditionsbildungen, und diese können dann nachträglich wie Versteinerungen besichtigt oder erneut in ihrer Entschlusskraft erlebt - und insofern lebendig weitergegeben werden. Die dtr. Interpretation ist eine solche überragende Traditionsbildung, die religiöse Verbindlichkeit festhalten will, während die geschichtlichen Realitäten ihr den Boden zu entziehen scheinen. Jeremía erlebt die nationale Krisenzeit vor und während der babylonischen Kriege und der folgenden Exilierung (597 und 587 v. Chr.), aber das heutige Prophetenbuch Jeremía ist eine vielfältig erweiterte Sammlung in der Auseinandersetzung mit Zeitbedingtem wie die Zeiten theologisch übergreifendem, politisch-religiösem Heil und Unheil, das im N a m e n Gottes angesagt wird: in prophetischer Verheißung, im persönlichen Eingreifen, Mitleiden und Ausgeliefertsein. 1 6 Diese immer beteiligte Stellungnahme wird in ihrer Traditionsbildung als mehr und anderes als Historie aufgefasst: Die theologische Interpretation geht nicht nur äußerlich weiter, sondern sie muss - unter krisenhaften Lebensbedingungen - wiederholt werden, den Grad der Selbstbeteiligung erklären können. Die Einfügung späterer Bearbeitungsschichten in einem Prophetenbuch ist deshalb keineswegs ein bibliographischer Reproduktionsvorgang, sondern die Fortsetzung der überlieferten Texte in ihrer eigenen Sache. Die prophetische Verheißung spricht zwar in ihrer Zeit, aber „nicht nur zu" dieser. 17 Die Geschichte der religiösen Verbindlichkeit wird weiter erzählt, das ist und bleibt ihr mythischer Zug.
16
S. Herrmann: Jeremia/Jeremiabuch, in: T R E 16 (1987), 568-586.
17
Κ. Schmid (1996), 357.
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Allerdings, je mehr diese Erzählung vom heilvollen und unheilvollen Gotteshandeln mit den geschichtlichen Realitäten konfrontiert und konsequent verglichen wird, desto mehr scheint sie aus heutiger Sicht problematisch. Hilft dann eine gegenläufige Distanz zum monotheistisch-abstrakten Einheitsgott zugunsten der konkreten Vielfalt der Götter: „die schöne, zur Kunstform einladende Menschengestaltigkeit der Olympier"? 18 Blumenbergs Unterscheidung zwischen dem disziplinierenden, projektiven „Feuerbach-Gott" und der polytheistischen Rettung unverzerrter, menschlicher „Unbestimmtheit", die der Mythos ausdrückt, macht aus der religionsphilosophischen Not nur eine religionsgeschichtliche Tugend. Die Vielgestaltigkeit religiöser Repräsentationen wäre nur dann für den respektvoll-phänomeologischen Umgang mit dem menschheitsgeschichtlich Unbekannten und Unbestimmten zwingend vorzuziehen, wenn die monotheistische Konzentration die Wahrung des Unbestimmten und Fremden der Gotteserfahrung ausschlösse. Das aber ist in der biblischen Traditionsbildung gerade nicht der Fall. Die Verantwortungsinstanz des einen Gottes als Adressat religiöser Erfahrung zeigt gegenüber polytheistischer Differenzierung ohnedies eine sachlich zwingende Tendenz: Vielheit tendiert zur Einheitsbildung, wenn der kritische Vergleich sonst konkurrierend zuständiger und sich relativierender Instanzen nicht gescheut wird; und die Einheitsbildung versagt umgekehrt gerade nicht die Wahrnehmung von „Unbestimmtheit" als „Rezeptionsbedingung von Religion". 19 Hier liegt jedenfalls ein entscheidendes Kriterium für die Güte und Berechtigung fortdauernder Auseinandersetzungen mit dem einen Gott. Die dtr. Theologie dokumentiert gerade in ihren spätdeuteronomistischen Interpretationsleistungen, wie unreglementiert produktiv die Gott-Rede der prophetischen Verheißung in konstruktiver Wiederholung aufgenommen werden konnte. Prophetenbücher sind fortgeschriebene „Auslegungsliteratur"20, aber durchaus so, dass die weitergehenden Auslegungen „das Buch als ganzes neu gestalten wollen." 21 Ein exzeptioneller Höhepunkt solcher Theo-Logie - in der göttlichen Autorität des prophetischen Wortes - ist die Verheißung des Neuen Bundes in Jer 31, 31-34: (31) Seht, es werden Tage k o m m e n - Spruch des Herrn - , in denen ich mit dem Haus Israel und dem Haus Juda einen neuen Bund schließen werde,
18
H . Blumenberg, aaO. 35.
19
M. Moxter (1998), 92.
20
Chr. Levin (1985), 67; vgl. K. Schmid, aaO. 27f.
21
K. Schmid, 34.
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(32) nicht wie der Bund war, den ich mit ihren Vätern geschlossen habe, als ich sie bei der Hand nahm, um sie aus Ägypten herauszuführen. Diesen meinen Bund haben sie gebrochen, obwohl ich ihr Gebieter war - Spruch des Herrn. (33) Denn das wird der Bund sein, den ich nach diesen Tagen mit dem Haus Israel schließe - Spruch des Herrn: Ich lege mein Gesetz in sie hinein und schreibe es auf ihr Herz. Ich werde ihr G o t t sein, und sie werden mein V o l k sein. (34) Keiner wird mehr den andern belehren, man wird nicht zueinander sagen: Erkennet den Herrn!, sondern sie alle, klein und groß, werden mich erkennen Spruch des Herrn. Denn ich verzeihe ihnen die Schuld, an ihre Sünde denke ich nicht mehr.
Die Bestätigung des Bundes in v. 33c („Ich werde ihr Gott sein, und sie werden mein Volk sein.") ist hier ebenso geprägte Sprache wie die wiederholte Prophetenformel „Spruch des Herrn" [ninrQiO] und die Einleitungsformef2 in v. 31 („Seht, es werden Tage kommen"). Dazwischen aber hebt sich etwas Anderes heraus, das sich zum Geprägten geradezu als sein Gegenteil verhält. Ein neuer Bund (v. 31) wird den alten ersetzen, der rückblickend in v. 32 noch einmal nacherzählt wird, und die Elemente des Neuen nehmen die bekannten auf und übersteigern sie. Das wird noch deutlicher im dtr. Vergleich23, etwa dem Vermächtnis des Mose in der Vorlage des Bundes in Dtn 29, 1 - 30, 20: Steht nach Dtn 29, 18 jedes Menschen Herz selbst in der Entscheidung, die der Gottesbund verlangt, so wird Gott jetzt direkt handeln und die Entscheidungen der Menschen nicht abwarten Qer 31, 33b); Mose hatte nach Dtn 5 Gottes Gebote vermittelt, jetzt aber „schreibt" Gott selbst „auf ihr Herz" (v. 33b); die Tora wird dann nicht mehr Vermittlungsgegenstand zwischen Menschen sein, die lesen, lernen und erkennen sollen, sondern die Gotteserkenntnis wird universal und bedingungslos da sein (v. 34a/b). Diese Verheißung des qualifiziert anderen und neuen Bundes macht dieses Prophetenwort einmalig, gerade in seinem deuteronomistischen - und diesen zugleich hinter sich lassenden - Kontext. Von menschlichen Voraussetzungen freie Zukunft wird im Prophetenwort Gegenwart, eine neue Realisierungsform in der Wiederholung des Gottesbundes, der im Herzen Ort und Zeit hat. Die neutestamentliche Abendmahlsüberlieferung wird hieran anknüpfen (Lk 22, 20).24 Die Wiederholung der Verheißungen - jetzt: des neuen Bundes geschieht jeweils unter anderen geschichtlichen wie individuellen Er-
22
Chr. Levin, aaO. 22ff.; vgl. K. Schmid, 6 9 - 7 4 .
23
Vgl. M. Rose (1994), 548ff.; K. Schmid, 66ff.
24
Vgl. Levin, 267, A n m . 4; Schmid, 69, A n m . 81.
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fahrungsbedingungen, die aber den traditionellen theologischen Verständigungsrahmen brauchen und weiterführen. Deuteronomistisch ist die Interpretation der Geschichte im Blick auf die Katastrophe der politisch-religiösen Exilierung; deuteronomistisch dann aber auch das Durchhalten dieser Negation im Blick auf Verheißung und Neuanfang danach. Das Prophetenbuch geht in seinen interpretativen Erweiterungen der Gottes-Worte diese theo-logische Arbeit mit 25 - bis in die antideuteronomistischen26 Akzente von Jer 31, 31-34: Der neue Bund wird ganz anders sein; er ist dann nicht mehr von der Gegenseitigkeitsbedingung abhängig; er ist dann dort schon aufgeschrieben, wo die symbolische Vermittlungsleistung von Buchstaben keinen Sinne mehr macht: im Herzen der Menschen. So nahe die proklamierte Tora den praktischen Lebensvollzügen im „Höre, Israel!" (Dtn 6, 4-9) auch schon gekommen ist, der genuin dtr. Umgang mit dem Bundesgesetz Gottes Tag und Nacht (v. 7) und an den Wänden geschrieben (v. 9) - gewinnt eine enorme Steigerung dadurch, dass Jer 31, 31-34 dies alles in seiner Wiederholung doch auch überholt 27 : Die Belehrungen (v. 34a) der symbolischen Kommunikation von Texten sind nicht mehr die Bedingung ihrer Befolgung als Herzenssache, sondern der innere Vollzug des Herzens (v. 33 b) geht schon voraus. Diese Wiederholung der Gott-Rede macht eine Voraussetzung, die keine mehr ist, denn sie besteht nicht mehr auf der menschlichen Bundeskorrespondenz. Die mythische Tradition des Gottes-Handelns in der Geschichte des Volkes und des Bundes ist entgegenständlicht bis in die allerletzten Gründe des Herzens, das schon bei seinem Gott ist. Das gibt Anlass, im religionsphilosophischen wie im theologischen Interesse von der Inhaltlichkeit des Mythos zu seiner Funktion überzuwechseln, den Mythos nicht etwa destruieren zu wollen, sondern nach seinem „geistigen Prinzip" 28 zu fragen. Dieses findet sich hier in der Steigerung von Wiederholungen traditioneller Prägung bis in die Gründe von Verheißungshoffnung im Herzen, die darum weiß, dass ihre gegenständlichen Korrelate Zeichen für etwas Anderes sind - nämlich ihre theo-logischen Voraussetzungen. Damit ist Distanz zur eigenen Geschichte und Traditionsbildung ebenso gegeben wie das innerliche Verhältnis zum eigenen Hoffnungsgrund, zwei Bedingungen dafür,
25
Vgl. Levin, 194ff. ; Schmid, 302ff.
26
Schmid, 299, vgl. 348.
27
Vgl. Schmid, 8 If.
28
E. Cassirer (1994), II, 16.
66
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dass anstelle von Mythos jetzt von Religion gesprochen werden sollte.29 Das muss nicht bedeuten, dass in einem imperialen Akt die polytheistische Unbestimmtheit ersetzt wird durch die zentristische Macht eines monotheistisch fixierten Autoritätsgottes.30 Jer 31, 31-34 zeigt, wie die kreative und trotz der geschichtlichen Hoffnungslosigkeit wiederholbare Verheißung gerade in ihrer Unbestimmtheit intensiviert werden kann - dort, wo sie am unwiderstehlichsten ist: im emotionalen Innern, das das Außere nicht nur reflektiert, sondern immer auch entwirft. Hier liegen die guten Gründe, dem gern akklamierten Ablösungsmechanismus vom Mythos zum Logos ebenso zu widersprechen wie der schnellen Verketzerung des Ubergangs vom Polytheismus zum Monotheismus. Dies sind gerade nicht die alleinigen Orientierungsmarken, und ihr jeweiliger Gegensatz verführt nur zu einem problematischen Etikett. Das Prophetenbuch, seine internen Wiederholungen und sein deuteronomistisch-antideuteronomistischer Prozesscharakter gewinnen die Zukunft einer Religiosität des entscheidend inneren Verhältnisses, ein Sich-selbst-Verstehen in Gott, das den mythischen Festlegungen wie ihren äußerlichen Erfolgskritiken nicht mehr unterliegt weder im deuteronomistischen 6./5. Jh. noch im religionskritisch selbstverpflichteten 20./21. Jh. Die religiöse Uberzeugungskraft ist dort real, wo ihre (menschlich gesehen) Unbestimmtheit entdeckt und als darum wissende Wiederholung der Tradition im Sich-selbst-Verstehen wirksam wird: im Prophetenbuch fortgeschrieben, in der Religion auf mythischer Traditionsbasis weiterentwickelt.
2. Der eine Gott anstelle der mythischen Götter (Xenophanes) Es war die Ausbreitung der persischen Macht, die um die Wende vom 6. zum 5. Jh. v.Chr. die politischen Rahmenbedingungen vorgab. Für Israel folgte daraus der Wiederaufbau des Tempels aufgrund des Kyrosediktes von 538, für Kleinasien und Griechenland folgten die Kriege in der Selbstverteidigung der Stadtstaaten. Die Umbruchszeit ist Judentum und Hellenismus gemeinsam, ob theologiegeschichtlich von der Zeit „zwischen den Testamenten"31 oder kulturgeschichtlich vom
29 30
Vgl. H . Deuser (1998), 1745f. (zur Unterscheidung von Ritual, Magie, Mythos und Religion). Zur Polemik des D t r . in diesem Sinne (am Beispiel des Bilderverbots) vgl. J . Assmann, Was ist so schlimm an den Bildern? (2006), 25f.
31
V g l . J . Maier (1990), 38f.
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„Durchbruch zur bewußten kritischen Wissenschaftsdebatte" 32 gesprochen wird. Jedenfalls liegt historisch wie religionsphilosophisch kein Grund vor, die offensichtlichen Unterschiede zwischen Athen und Jerusalem zu einer prinzipiellen Trennung zu stilisieren, zumal aus der Sicht des abendländischen Christentums seine regional unterschiedlichen Ursprünge in eine immer engere Verflechtung und tendenziell einheitliche Entwicklung geführt haben. Der apologetisch motivierte harte Schnitt zwischen Jerusalem und Athen gehört in Tertullians Rhetorik der Ketzerverfolgung und ist als solcher ein Teil jener Verflechtungen, in denen sich philosophisch und theologisch die christliche Religionsphilosophie herausgebildet hat. 33 Konzentriert ordnende Aufmerksamkeit auf die Geschichte wie die Natur, Vergleichsmöglichkeiten in der konsequenten Auswertung von Erfahrungen und die mit solcher Distanz sich zugleich einstellende neue Form menschlicher Selbsteinstufung - das sind Merkmale der sog. vorsokratischen Texte, die wir gewohnt sind, als Vorläufer der klassischen antiken Philosophie zu betrachten. Sie sind zweifellos von initialer Bedeutung für den Ubergang von der Mythologie zur selbstbewussten Religionsauffassung, d.h. der Beginn europäischer Wissenschaft fällt mit der erkenntniskritischen Distanzierung der Göttervielfalt zusammen. Xenophanes von Kolophon (ca. 570 - 475) liegt nicht nur zeitlich parallel zur Arbeit der deuteronomistischen Theologie, sondern auch im biographischen Schicksal der politisch unsicheren Zeit, seiner (hier freiwilligen) Emigration von Kleinasien über Griechenland nach Süditalien. Die wenigen erhaltenen Fragmente seines Gesamtwerks belegen kosmologische, theologische und erkenntniskritische Arbeiten eines Dichterphilosophen mit beeindruckender Prägnanz. 34 Was darin geschieht, steht religionsphilosophisch unter dem Motto der Götterkritik, der Ablösung der alltagsweltlichen und poetischen Selbstverständlichkeit des Mythos:
32 33
34
K. Popper II (1997), 592; vgl. R. Otto (1999), 450: „It is a theology which more and more tends to eliminate the mythical". Tertullian, De praescriptione haereticorum (um 200 η. Chr.), zit. nach W . Beierwaltes (1998), 7: „Was hat Athen mit Jerusalem zu tun? Was die Akademie mit der Kirche? Was die Ketzer mit den Christen?" - Zur historisch nicht mehr aufrecht zu erhaltenden Typologie des Gegensatzes zwischen Judentum und Hellenismus vgl. J. Maier, aaO. 35-37; O. Kaiser, Zwischen Athen und Jerusalem (2003), 1-38; zur Kritik der These von der „Hellenisierung des Christentums" (A. v. Harnack) vgl. M. Lutz-Bachmann (1992); auch R.C. Neville (1993), 135ff. Vgl. Chr. Schäfer (1996), 95-104.
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„Homer und Hesiod haben die Götter mit allem belastet, / was bei Menschen übelgenommen und getadelt wird: / stehlen und ehebrechen und einander betrügen." 33
Die Poeten des griechischen Götterhimmels, Homer (ca. 800 v. Chr.) und Hesiod (ca. 700 v. Chr.), rücken in den Hintergrund zugunsten einer kritischen Bearbeitung der Religion. 36 Der religions- und erkenntniskritischen Position korrespondieren die im engeren Sinne des Wortes theologischen Fragmente. Diese beiden Sachgruppen werden nachfolgend angeordnet und so zitiert, wie K. Popper seinen Xenophanes als Zeugen für die Wahrheitssuche aufgrund kritischer Forschung gelesen hat: „Stumpfe Nasen und schwarz: so sind Athiopias Götter. Blauäugig aber und blond: so sehn ihre Götter die Thraker. Aber die Rinder und Rosse und Löwen, hätten sie Hände, Hände wie Menschen, zum Zeichnen, zum Malen, ein Bildwerk zu formen, Dann würden Rosse die Götter gleich Rossen, die Rinder gleich Rindern Malen, und deren Gestalten, die Formen der göttlichen Körper, Nach ihrem eigenen Bilde erschaffen: ein jedes nach seinem. Nicht vom Beginn an enthüllten die Götter uns Sterblichen alles; Aber im Laufe der Zeit finden wir, suchend, das Bess're. Diese Vermutung ist wohl, ich denke, der Wahrheit recht ähnlich. Sichere Wahrheit erkannte kein Mensch und wird keiner erkennen Uber die Götter und alle die Dinge, von denen ich spreche. Selbst wenn es einem einst glückt, die vollkommenste Wahrheit zu künden, Wissen kann er sie nie: es ist alles durchwebt von Vermutung." 37 „Ein Gott nur ist der größte, allein unter Göttern und Menschen, Nicht an Gestalt den Sterblichen gleich, noch in seinen Gedanken. Stets am selbigen Ort verharrt er, ohne Bewegung, Und es geziemt ihm auch nicht, bald hierhin, bald dorthin zu wandern.
35 36 37
Zit. nach J. Mansfeld, Die Vorsokratiker I, Nr. 25 (= Diels/Kranz Β 11); vgl. Xenophanes, hg. v. E. Heitsch, 36f. Vgl. K. Held (1990), Kap. V; zu Hesiod vgl. die Edition von K. Albert (1983); zur Mythenkritik auch Chr. Schäfer, aaO. 146ff. Zit. nach K. Popper I (1994), 223f. - Den Versen entsprechen in der hier gegebenen Anordnung die Fragmente (nach Mansfeld I) Nr. 27, 29, 31, 39, 38; (nach Diels/Kranz) Β 16, 15, 18, 35, 34.
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Miih'los regiert er das All, allein durch sein Wissen und Wollen. Ganz ist er Sehen; ganz Denken und Planen; und ganz ist er Hören." 1 8
Die erste Textgruppe ist hier dreifach gegliedert: Die ersten 7 Zeilen (gebildet aus zwei Fragmenten) pointieren Xenophanes' Mythenkritik, die Zeilen 8 und 9 lesen sich heute wie eine evolutionäre Erkenntnistheorie, die Zeilen 10 bis 14 (gebildet aus zwei Fragmenten) liefern die der Erkenntnistheorie korrespondierende Wahrheitsauffassung.39 Mythenkritik kann innerhalb bestehender Mythologien deren Umformung oder Ablösung betreffen, sie kann aber auch - und das ist in theologisch eigenständiger Weise in der dtr. Theologie Israels wie hier bei Xenophanes der Fall - das Mythologische am Mythos selbst in Frage stellen. Dies geschieht am radikalsten dann, wenn nicht nur die Irrelevanz von Göttererzählungen (entgegen ihrem traditionell tief verankerten Erfahrungswert) einfach behauptet wird, sondern wenn ihr Zustandekommen als unsachgemäß gemessen am eigenen Anspruch entlarvt werden kann. Letzteres unternimmt Xenophanes in zwei Schritten: (1) Der kulturelle Vergleich - und dass dieser möglich geworden ist, setzt Wissen und Bewusstsein von kulturellen Differenzen, geschichtlichen Entwicklungen und individuell unterschiedlichen Lebensformen voraus - bewirkt um die Wende vom 6. zum 5. Jh. v.Chr. die Relativierung der Theogonien auf ihre geographischen Herkünfte. (2) Diese Relativität der alten Götter- und Ursprungserzählungen findet als menschliche Projektion ihre schlagende Erklärung: Götter erscheinen menschengemacht. Fehlerhaft wäre es allerdings, diesen kritischen Aufweis der Genese von Theogonien (Homer und Hesiod bleiben dafür die allbekannten Quellen) als Negation von Religiosität oder Vorwegnahme des neuzeitlichen Atheismus einzustufen. Xenophanes bleibt nicht nur im griechischen Erfahrungsraum von Götterkulten, sondern er hat auch ein spezifisch theologisches Interesse gerade in der Mythenkritik, wie der folgende Zusammenhang von Erkenntnistheorie und Gottesbegriff zeigen wird. D.h. die Fragmente des Xenophanes belegen mit der kulturell-historischen und kosmologisch-erfahrungsbezogenen Bewusst38
Zit. nach K. Popper, aaO. 212f. - Den Versen entsprechen in der hier gegebenen Anordnung die Fragmente (nach Mansfeld I) N r . 34, 36, 37, 35; (nach Diels/Kranz) Β 23, 26, 25, 24.
39
Vgl. hier wie im Folgenden die Xenophanes-Editionen und Kommentierungen von Heitsch, Lesher, Mansfeld und vor allem Chr. Schäfer.
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werdung des „vorsokratischen" Geistes der Wissenschaft seiner Zeit zugleich die Wendung von Mythologie zu Theologie: Was die Mythen zum Ausdruck bringen, hat einen unaufgebbaren Sitz im Leben, doch dieser ist solange nicht sachangemessen zum Zuge gebracht, wie Mythen in problematischer Weise Theogonien vorgeben, die in Wahrheit nichts als „Anthropogonien" sind. Das Argument der „Zoogonie": Rosse und Rinder würden Rosse und Rinder als „göttliche Körper" gestalten, trifft ins Zentrum. Die biblische Geschichte vom Goldenen Kalb als Abfall von Gott (Ex 32), die prophetische Kritik der Götterbilder und die atl. Umkehrung (gemessen an Xenophanes' zoogonischem Argument) von Urbild und Abbild: nämlich als ursprüngliches Handeln Gottes, dessen Bild die Menschen sind (Gen 1, 27), zeigen wiederum die epochale Nähe der (kulturell unterschiedlich bestimmten) Mythenkritiken. 40 Es ist insofern keineswegs aus der Luft gegriffen zu fragen, wie es Augustin noch im 8. Buch von De civitate Dei tut, ob schließlich Piaton nicht während seiner Ägyptenreise den Propheten Jeremía gehört oder zumindest prophetische Schriften dort gelesen habe. Augustin muss das - aus historisch-philologischen Gründen! dann doch verneinen und konzentriert die offenkundige Nähe griechischer Theo-Logie und atl. Gotteslehre auf Ex 3, 14: „und ich weiß nicht, ob es sich irgendwo in den Schriften von Vorgängern Piatos findet, außer eben dort, wo es heißt: 'Ich bin, der ich bin, und du sollst zu ihnen sagen: Der da ist, hat mich zu euch gesandt.'" 41 Für die folgenden Zeilen 8 und 9 von evolutionärer Erkenntnistheorie zu sprechen klingt vielleicht gewagter, als es gemeint ist. Durch die Mythenkritik motiviert und belehrt muss Erkenntnis aus Erfahrungen abgeleitet werden, die vielfältig, gewachsen und veränderbar sind. Diese Erfahrungsgesc¿zc¿íe (griech. [ionisch]: historie) mit all ihren kulturellen, technischen, ökonomischen Errungenschaften ist eben das Umfeld vorsokratischen Denkens. 42 Dann muss hier nicht ein moderner Sinn von (experimenteller) Forschung unterstellt werden, sondern „suchen" und „finden" sind einerseits als natürliches Forschungsverhalten aufzufassen, das andererseits aber - vielleicht erstmals - einen methodi-
40
41
42
Vgl. zur prophetischen Parallele Schäfer, aaO. 163; zu Gen 1, 27 (mit Hinweis auf G. v. Rad) E. Heitsch, aaO. 132; vgl. auch O. Kaiser, Zwischen Athen und Jerusalem (2003), 145-148. Augustin, De civitate Dei 8,11 (dt. Ausg. [1991], 391): „et nescio utrum hoc uspiam reperiatur in libris eorum, qui ante Platonem fuerunt, nisi ubi dictum est: ego sum qui sum, et dices eis: qui est, misit me ad uos [Ex3,14]." - Vgl. W. Jaeger (1953), 61. Vgl. Lesher, aaO. 154f.; Heitsch, aaO. 138f.
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sehen43 Sinne erhält: Die durch göttliche Vorgaben initiierte Naturund Erfahrungserkenntnis liegt nicht abgeschlossen vor, das besagen weder die Erzählungen vom Anfang noch die menschlichen Entdeckungen, sondern es handelt sich um einen Prozess aufgrund von Vielfalt und Veränderungen, der es als solcher wert ist, beachtet zu werden. Das impliziert weder Fortschrittsoptimismus noch, wie Popper44 es voraussetzt, „kritischen Rationalismus". Erkenntnis als Prozess schließt göttliche, menschliche und natürliche Quellen der Wahrheitsfindung nicht gegenseitig aus. Das belegen die folgenden Zeilen 10 bis 14 zur Wahrheitsauffassung, die dem Erkenntnisprozess genau entspricht: Was die Mythenkritik bereits durchführte, dass es falsche Auffassungen geben kann, hat einen prinzipiellen Grund: Bezüglich der Götter und aller Dinge, die Menschen erkennen, bleibt es - gerade wegen des Prozesscharakters der Erkenntnismöglichkeiten - bei Annahmen oder Vermutungen (griech.: dokos). Dass dieser Begriff für Xenophanes nicht negativ gemeint sein kann, sondern mit „vertrauenswürdig" 45 zu umschreiben wäre, ist dann einsichtig, wenn auch neuzeitlich „Vermutung" nicht mehr gegenüber absolutem Wissen pejorativ zu stehen kommt. Der Fallibilismus von Peirce und Popper hat in diesem Punkt zu einem wissenschaftlichen Umdenken geführt, das dann zu Recht bei Xenophanes wiedererkannt werden kann - wenn auch nicht zwingend so, als müsse dann auch Poppers Wahrheitsbegriff des „kritischen Rationalismus" akzeptiert werden. Fallibilität menschlicher Erkenntnis geht durchaus zusammen mit der potentiellen und ontologisch (im evolutionären Prozess) sich einstellenden Wahrheit, wie immer dieser Prozess - natürlich oder/und göttlich - verstanden wird. 46 Dass die Götter für Wahres und Falsches verantwortlich zeichnen, war seit Hesiods Theogonie ein bekannter Topos: „wir wissen viel Falsches zu sagen, dem Wirklichen Ähnliches, / wir wissen aber auch, wenn wir wollen, Wahres zu verkünden." 47 Xenophanes zerlegt diese Ambivalenz nicht in eine theoretischbegriffliche und eine natürliche Seite, so als müsse über Wahrheit/Falschheit entweder rational oder empirisch entschieden werden, wie Aristoteles es ihm später vorhalten wird: „Xenophanes dagegen, der zuerst die Einheit lehrte [...], erklärte sich nicht bestimmter und 43 44 45 46 47
Vgl. Lesher, 153; Schäfer, 126f. Vgl. K. Popper I (1994), 37f.; vgl. H. Deuser (1996/2000). Schäfer, aaO. 118-120. Vgl. Leshers, aaO. 164f., Einwände gegen Poppers Interpretation; auch Schäfer, aaO. 117f. Hesiod (1983), 43,27f.
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scheint gar nicht die eine oder die andere Natur berührt zu haben, sondern im Hinblick auf den ganzen Himmel sagt er, das Eine sei der Gott." 48 In dieser Bemerkung könnte die Erklärung für Xenophanes' Wahrheitsauffassung versteckt sein: Es ist seine Theologie, die sich gegen die Trennung von Rationalismus und Empirismus sperrt, und in den Zeilen 13 und 14 ist diese Theologie insofern mitzudenken, als der Glücksfall der „vollkommensten Wahrheit" dann nicht bloßer Zufall, sondern ein evolutionärer Fall des Prozesses ist, den Menschen gar nicht initiieren. Was ihnen darin zu-fällt, ist nicht Produkt ihres „Wissens", unterliegt auch nicht einem zugleich wirksamen theoretischen Selbst- oder Kontrollbewusstsein. Zwischen menschlichem Wissen und Glauben zu wissen liegt dann nicht nur eine erkenntnistheoretische Differenz gemessen an der immer begrenzten Erfahrbarkeit der Dinge49, sondern eine ebenso prozesshafte wie theologisch-pragmatistische Differenz zwischen (zu recht erfahrungssicherem) Glauben und (sachbegründetem) Zweifeln.D° Der Modus des Wissens deckt nicht die Bedingungen mit ab, unter denen es zur Wissensvermehrung oder ihrem Optimum jeweils gekommen ist, und der Zustand der Wahrheit ist insofern von solchem Wissen, das sich kontrollieren kann, unterschieden. Es ist Xenophanes' Theologie, die offensichtlich den Ausschlag gibt, auch für die erkenntnistheoretischen Positionen. 31 Die zweite Textgruppe, ebenfalls dreifach gegliedert, enthält in den Zeilen 1 und 2 die These vom Einssein Gottes, in den Zeilen 3 und 4 die Abgrenzung der göttlichen Transzendenz, und in den Zeilen 5 und 6 schließlich (gebildet aus zwei Fragmenten) den Versuch, Gottes Allmacht zu denken und in Worte zu fassen. Die Mythenkritik hatte bereits das Ungenügen von Gottesvorstellungen gezeigt, denen die Unstimmigkeit zwischen Bild- und Sachhälfte in diesem besonderen Fall noch nicht bewusst geworden ist; geschieht das aber, dann sind die menschlich-relativen Gottesbilder allesamt problematisch und mögliche Gottesaussagen massiv einzuschränken bzw. ganz anders zu konzipieren. Diese Einsicht der Theologie des Xenophanes wird üblicherweise unter dem Stichwort seiner Kritik des Anthropomorphismus diskutiert und der monotheistischen These vom Einssein Gottes zugeordnet. Mit Bedacht ist der Begriff des Anthropo48 49
Aristoteles, Metaphysik, Bd. 1 (1978), 34/35 (986b, 21-24). Vgl. zu dieser Interpretation Lesher, aaO. 166.
50
Vgl. zu Ch.S. Peirce' Begründung der pragmatischen instinkt (2004), 33ff.
51
Vgl. Schäfer, aaO. 106f.
Maxime H. Deuser, Gottes-
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morphìsmus aber bislang vermieden worden. Xenophanes' Mythenkritik bezieht sich auf die mythologischen Theogonien und stellt diesen einen prinzipiell abstrakteren oder theoretischen Gottesbegriff gegenüber (Z. lf.). Diese alternative Theologie aber ist von menschlichnatürlichen Vergleichsgesichtspunkten - auch wenn diese negativ (Z. 3f.) oder totalisierend (Z. 6) ausfallen - keineswegs frei, sie muss weder ihre Herkunft aus dem Mythos noch ihre anthropomorphen Züge künstlich verleugnen. Dieser Befund steht natürlich in Ubereinstimmung mit dem kulturellen Kontext der Fragmente: Xenophanes verleugnet weder Götter noch religiöse Kulte, und er vertritt auch keinen - gar theoretisch-begrifflichen - Monotheismus. Sein theologischer Anthropomorphismus ist subtil, tieferliegend 52 und entzieht sich noch der Unterscheidung Kants zwischen einem „dogmatischen" (der über die Vernunftgrenzen hinaus gegenständliche Gottesaussagen macht) und einem „symbolischen" Anthropomorphismus (der als modus loquendi zugelassen werden muss).33 Auch dann, wenn die Bestimmung des „Einen" Gottes attributiv und nicht prädikativ aufzufassen ist, d.h. als der eine und höchste Gott im Rahmen der mythischen Vorgaben, so hat Xenophanes damit eine theologische Abstraktionsfähigkeit gefordert und einen Weg betreten, der eben der der abendländischen Theologie geworden ist34: Gott muss universal, nicht partikular, er muss absolut, nicht relativ wie die Gottesbilder, er muss in Einheit, nicht in sich widerlegender Vielfalt gedacht werden („Ein Gott nur ist der größte" [Z. 1]). Und die Konsequenz dieser tendenziellen Vergeistigung der Gottesidee ist ihre Transzendenz·, weder räumlich gebunden noch auf Bewegungen angewiesen zu sein (Z. 3f.). Dann aber sind alle denkbaren Eigenschaftsbestimmung dieses Gottes solche von „Wissen und Wollen" (Z. 5), seine Sinnlichkeit ist von seinem Denken untrennbar, und alle diese Eigenschaften taugen nur noch als Totalbestimmungen einer Ganzheit Gottes („Ganz ist er Sehen; ganz Denken und Planen; und ganz ist der Hören" [Z. 6]), die folglich mit dem Begriff der Allmacht zu bezeichnen ist. Wenn insofern das göttliche - und darin einheitliche - Denken und Wissen (griech.: nous [Ζ. 5]) alles erfassen und bestimmen, dann liegt der gesuchte Zusammenhang zwischen Erkenntnistheorie, Wahrheitsbegriff und Gottesidee zutage: Xenophanes denkt den Inbegriff aller Realität zugleich personal und prozesshaft, und seine Erkenntnistheorie
52 53 54
Vgl. Schäfer, aaO. 172, 175. I. Kant, Prolegomena, Werke Bd. 5, § 57f. (A 175-180). Vgl. W J a e g e r , aaO. 61.
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behält, weil sie theologisch konzipiert ist, einen religiösen Zug55, ohne damit ihre Erfahrungsbindungen leugnen zu müssen. Entscheidend ist hier also nicht, wie weitgehend die Fragmente bereits Formen von negativer Theologie (göttliche Eigenschaften nur in negativen Bestimmungen: Z. 2ff.) und einer Gotteslehre via eminentiae (göttliche Eigenschaften nur in höchster Steigerung: Z. 6) enthalten, sondern über alle diese schwierigen Interpretationsfragen hinausragend ist das eine sicher: In der Kritik an der bislang offenbar nicht durchschauten Selbstrelativierung der mythischen Götter entwirft Xenophanes in der Ablösung von mythischen Vorgaben eine Theologie, die erkenntnis- und wahrheitstheoretisch konsequent der Erfahrungswelt eingefügt bleibt: Das Transzendenz- und Allmachtsproblem 36 stellt sich unvermeidlich aus Erfahrung. Insofern gehören Mythos, Religion und Theologie an verschiedene „Stellen" (Cassirer) des gleichwohl einheitlich zu betrachtenden Kulturprozesses, und Xenophanes hat zu dieser Einsicht einen entscheidenden Anstoß gegeben.37 Die polytheistische Vielfalt fällt zurück gegenüber göttlicher Einheit, die erkenntnisleitend und (naturbedingt) prozesshaft gedacht ist - und unter dieser Bedingung dann durchaus in kontrolliertem Anthropomorphismus, d.h. in begrifflichen Bildern zur Sprache kommen kann.
55
Vgl. Schäfer, 5 (für griech. vgl. B . Snell Lesher, aaO.
202; auch 197f.; zur Übersetzung von „Wissen und Wollen" in Z. „noou phreni") durch: „allein durch die Fähigkeit seiner Einsicht" (1975), 130; zur Diskussion der Stelle vgl. Heitsch, aaO. 156; 107ff.
56
Vgl. zur geistesgeschichtlichen Sonderstellung der Fragmente (hier vorgestellt im Kontext der Theologie W . Pannenbergs) J . Bauke-Ruegg (1998), 223ff.
57
E. Cassirer (1994) I, 13f; vgl. II, 11 zur „,Krisis' des Polytheismus" im Anschluss an Schelling.
§ 4: Hiob und der sokratische Dialog Werden theoretische Fragen in der literarischen Form des Dialogs vorgetragen, liegt ein besonderer Fall von Verständigungsabsicht vor. Der fiktive Dialog hat bereits seine festen Partner, deren Fragen und Antworten, Thesen und Gegenthesen brauchen scheinbar keine dritte Instanz mehr; der Autor bleibt die im Dialog versteckte dritte Stelle, während Leser und Leserin, auf subtile Weise involviert, zur eigentlichen Appellationsinstanz avancieren. Wird darüber hinaus die literarische Form noch gestuft angelegt, so dass Rahmenerzählungen, Dialogberichterstatter, eingelagerte Monologteile den Zugriff auf die jeweilige Meinung des Textes zusätzlich erschweren, so hat das Vorführen von Komplikationen Methode: Der Interpretation wird der direkte, unproblematische Zugang verweigert, um sie dadurch erst recht in den Text, in seine Produktions- und Themenschwierigkeiten hineinzuziehen. Es wird mehr verlangt als distanzierte Beteiligung in einem beiläufigen Lektüreurteil - nämlich Selbstthematisierung, das Sich-selbstVerstehen steht im Dialog auf dem Spiel. Die bis heute ungebrochene Faszination des Hiobbuches stammt aus dieser provozierenden - und in der Textgeschichte auch dieses Buches schon weitergeschriebenen - Dialogform; und ganz ähnlich versetzen Piatons Dialoge ihre begrifflichen Untersuchungen in das praktische Entscheidungsumfeld, wo die Thematik der Reden erst ihren Sinn hat: Dort, wo Gerechtigkeit und das Gute gelebt werden sollen. Die inhaltliche Absicht, das Sich-selbst-Verstehen als Aufgabe ins Spiel zu bringen, wird erreicht über interne „Authentizitätsrisiken", die von der Konstruktion der Dialogverhältnisse selbst hervorgerufen werden und die, aus Sicht der Interpretation, dann die „Transzendierung des Textes" wiederum provozieren. 1 Sich derart durch den Dialog doch ungesichert vorzufinden, hat Kierkegaard als sokratische Ironie aufgefasst: durch Selbstthematisierung die verantwortliche Subjektivität hervorzutreiben, damit das eigene Sich-selbst-Verstehen als Lebensaufgabe überhaupt erst entdeckt werden kann. Damit erhält die Philosophie, sofern sie bis dahin als staunende oder kritische Fragedistanz zu den Dingen gefasst war, einen neuen praktischen und humanen Sinn: „Ut a dubitatione philosophia sic ab ironia vita digna, quae hu-
1
Vgl. W . Kersting (1999), 12f.; zur „Mündlichkeit" der Lehre Piatons im Vorrang gegenüber der „Literalität" vgl. H. Krämer (1997), 180.
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mana vocetur, incipit."2 Hiobs Dialoge mit den Freunden könnten der literarischen Absicht nach ganz ähnlich aufgefasst werden: Die auf dem eigenen guten Recht insistierende Subjektivität bringt sich im Widerspruch zum gängigen Urteilsschema selbst ins Spiel: Wer leidet muss deshalb nicht schuldig sein! Die Situation extremen Leidens aber macht aus der Selbstthematisierung schnell den Ernst einer Frage, in der es um Leben und Tod geht; und die Prüfung auf höherer Ebene, wie sie gemäß der Rahmenerzählung zwischen Gott und dem Satan gegen Hiob quasi als Wette ausgemacht wird (Hi 1-2; 42, 7-17), rückt in den Reden des eigentlichen Dialogs sehr schnell immer näher: Es ist das jeweils eigene Leben, worauf die Dialoge über Gottes Gerechtigkeit zielen, und eine derartige Selbstprüfung fällt sozusagen aus dem Rahmen. Wiederum mit Kierkegaard gesagt: „Diese Kategorie: Prüfung ist weder ästhetisch, ethisch noch dogmatisch, sie ist ganz und gar transzendent."3 Insofern sind die Dialoge, der sokratische wie der des Hiobbuches, ganz nahe an menschlichen Erfahrungen, aber zugleich widerspenstig in ihrer Verwertbarkeit. Die sokratischen Gesprächsformen wollen vordergründig gar keine eindeutigen Resultate; auch Politela VI, das Sonnengleichnis, bleibt der Versuch einer Antwortrichtung, die das mythisch-theologische Medium - an philosophisch alles entscheidender Stelle - in Anspruch nimmt; und die Gottesreden am Ende des Hiobbuches beantworten Hiobs kritische Fragen ebenfalls nur sehr indirekt. Der die Texte transzendierende Effekt kommt zustande, weil und indem die systematisch aufgeworfenen Fragestellungen nicht umstandslos beantwortet werden können. Dem direkten Zugriff von Frage und Antwort würde sich die hier gewählte Thematik offenbar entziehen und darin gerade besteht die religionsphilosophische Bedeutung der Dialoge.
1. Die Gottesrede „aus dem Wettersturm" (Hi 38) Wie weit zurück die Kerne der Hiobüberlieferung in der Geschichte Israels auch reichen (Ez 14, 14.20 kennt Hiob als den Typus des Gerechten), die biblisch vorliegende Buchfassung geht auf mehrere Uberarbei2
S. Kierkegaard, Über den Begriff der Ironie (1841), 15. These der Dissertation, SKS 1, 65,3lf.; dt. Ges. Werke, 31. Abtig., 4: „Ebenso wie die Philosophie mit dem Zweifel, ebenso beginnt ein Leben, das menschenwürdig genannt werden kann, mit der Ironie."
3
S. Kierkegaard, Die Wiederholung Abtig., 80.
(1843), SKS 4, 77,3 lf.; vgl. dt. Ges. Werke, 5.
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tungen zurück, und deren Einordnung in die Weisheitsliteratur ist nachexilisch, vom 5. bis zum Beginn des 2. Jh. zu datieren, d.h. in die Perserzeit und den Ubergang zum Hellenismus. 4 Weisheit (hebr.: hakmah [ΓΟΕίη]) meint den in verschiedenen (poetischen) Gattungen gefassten Ausdruck von Lebenserfahrung, kulturell vielfältig belegt und insofern gerade nicht exklusiv biblisch, sondern menschheitlich allgemein - wie es vielleicht am besten in den lateinischen Wörtern sapientia und prudentia fassbar wird. Die Hiob-Dialoge belegen dies in vielen Variationen, z.B.: „Kann denn der Mensch Gott nützen? / Nein, sich selber nützt der Kluge" (Hi 22, 2). - „Die Weisheit aber, wo kommt sie her, / und wo ist der Ort der Einsicht? Verhüllt ist sie vor aller Lebenden Auge, / verborgen vor den Vögeln des Himmels" (Hi 28, 20f.). Hiobs Dialoge mit den Freunden und die Gottesreden am Ende des Buches zählen zur Weltliteratur, und der erzählende Rahmen (Hi 1 - 2; 42, 7-17) verstärkt noch diese Auszeichnung. Die Lebenserfahrung im Streit um Gerechtigkeit mit dem Gott, der als höchste Instanz diese Gerechtigkeit garantieren soll, präsentiert sich in aller Wucht, selbständig und profund in den großen Reden: Mit Hiobs Selbstverfluchung (Hi 3, 3f.), seiner ersten Rede (c. 3), beginnt der jetzt im Hiobbuch vorliegende Dialogzusammenhang. Die Freunde Elifas von Teman (c. 4f.; 15; 22 ), Bildad von Schuach (c. 8; 18; 25) und Zofar von Naama (c. 11; 20) gestalten dann - zusammen mit jeweils anschließenden Reaktionen Hiobs (c. 6f.; 9f.; 12f./16f.; 19; 21/23f.; 26f.) - drei Gesprächsrunden. Dabei bleibt die dritte Runde (ohne die dritte ZofarRede) unvollständig, wird andererseits aber erweitert durch das Weisheitskapitel 28, den großen Hiob-Monolog (c. 29-31) und die Einfügung der Elihu-Reden-Monologe (c. 32-37). Das Buch kommt dann abgesehen von der Rahmenerzählung - mit den beiden Gottesreden (c. 38f.; 40, 6 - 41, 26) und jeweils kurzen, einstimmenden Antworten Hiobs zum Abschluss (40,1-5; 42, 1-6). Höhepunkte in Hiobs Antworten sind die rücksichtslosen Angriffe gegen den Gott, der allein verantwortlich gemacht werden muss: „Schuldlos wie schuldig bringt er um. [...] Ist er es nicht, wer ist es dann?" (Hi 9, 22b. 24c). - „Warum bleiben Frevler am Leben, / werden alt und stark an Kraft?" (Hi 21, 7). - „Wüsste ich doch, wie ich ihn finden könnte, [...] Ich wollte vor ihm das Recht ausbreiten, / meinen Mund mit Beweisen füllen" (Hi 23, 3a. 4). - „Gäbe es doch einen, der mich hört. / Das ist mein Begehr, dass der Allmächtige mir Antwort gibt [...]" (Hi 31, 35). Diese Opposition ist dadurch motiviert und er4
Vgl. hier und im Folgenden O. Kaiser (1993), § 15; ] . Ebach: Hiob/Hiobbuch, in: TRE 15 (1986), 360-380; M. Witte (1994) u. in: J.Chr. Gertz (2006), § 14.
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zwungen, dass im Namen einer bestimmten theologischen Weisheitslehre die Korrespondenz von menschlichem Tun und Ergehen in diesem Leben als das allein wahre und gerechte Verhältnis galt: Wer Gutes tut, dem geht es auch gut - und umgekehrt. Hiobs Leiden forderte folglich die sich anpassende Erklärung, das Eingestehen einer Schuld, und genau diese Einräumung wird von ihm im Gesprächsgang mit den Freunden konstant verweigert. Das sichert Hiob Respekt selbst dort, wo in der Moderne die Gottes-Perspektive nicht mehr eingenommen werden kann. I. Kant lobt konsequent und mit größter Hochachtung Hiobs Charakter: „Hiob spricht, wie er denkt, und wie ihm zu Mute ist, auch wohl jedem Menschen in seiner Lage zu Mute sein würde; seine Freunde sprechen dagegen, wie wenn sie in Geheim von dem Mächtigern, über dessen Sache sie Recht sprechen, und bei dem sich durch ihr Urteil in Gunst zu setzen ihnen mehr am Herzen liegt als an der Wahrheit, behorcht würden. Diese ihre Tücke, Dinge zum Schein zu behaupten, von denen sie doch gestehen mussten, dass sie sie nicht einsahen, und eine Uberzeugung zu heucheln, die sie in der Tat nicht hatten: sticht gegen Hiobs gerade Freimütigkeit, die sich so weit von falscher Schmeichelei entfernt, dass sie fast an Vermessenheit grenzt, sehr zum Vorteil des letztern ab."1
Kant irrt nur insofern, als er ein Ergebnis des Hiobbuches: die „Freimütigkeit" schon als ethisch-theologische Voraussetzung bei den Freunden Hiobs erwarten möchte, während diese doch im Geist ihrer Zeit und Weisheitslehre zunächst mit guten Gründen ein Lebensverständnis verteidigen, das Leiden als Sünde - auch um deren Erklärbarkeit willen - zurechenbar machen möchte. In diesem Punkt allerdings variieren bereits die internen Erklärungsmuster des Hiobbuches: Wenn (literarisch gesehen) ursprünglich der bis in den Todeswunsch hinein trostlosen Klage Hiobs (Hi 3) die Gottesantwort des trotzdem alles überragenden Schöpfergottes einfach konfrontiert wurde (Hi 38f.), so suchen die (literarisch späteren) Zwischenreden und Erweiterungen nach Vermittlungen, um sich diese Art der göttlich-kosmologischen Antwort auf den von Hiob aufgerissenen Konflikt zwischen gerechtem Leben und grauenhaftem Leiden desselben gerechten Menschen erklären zu können: •
Wenn das Weisheitsschema vom notwendigen Zusammenhang zwischen gerechtem und gutem Leben (und umgekehrt!) gelten soll, dann ist Hiob schuldig, und Elifas trifft in seiner ersten Rede den richtigen Punkt: „Bedenk doch! Wer geht ohne Schuld zugrunde? / Wo werden Redliche im Stich gelassen?" (Hi 4, 7).
5
I. Kant, Uber das Mißlingen aller philosophischen Werke Bd. 9, A 214f.
Versuche in der Theodizee (1791),
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•
•
•
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Wenn Hiobs Handeln aber in keiner Weise als ungerecht angesehen werden kann, so bietet sich eine vermittelnde Interpretation dadurch, dass zwischen faktischem ungerechten Handeln und allgemeiner, „kreatürlicher Sündhaftigkeit des Menschen" 6 unterschieden wird. So denkt Hi 4, 12-21, und damit sind auch Hiobs Unterwerfungen - jeweils nach den beiden Gottesreden - motiviert (Hi 40, 1-5; 42, 1-6). Das konkrete Leiden ist dann mit dem schöpferischen Zusammenhang (Hi 38f.) und Hiobs berechtigtem Protest ausgleichbar, wenn das allgemeine Elend, die conditio humana, als Erfahrungswert zur Erklärung herangezogen wird: „Ist wohl ein Mensch vor Gott gerecht, / ein Mann vor seinem Schöpfer rein?" (Hi 4, 17). Wiederum auf der Basis der faktischen Berechtigung von Hiobs Klage kann ihm zugleich aber auch die darüber hinausgehende prinzipielle Einsicht in die kreatürliche Niedrigkeit auf der einen und die göttliche Erhabenheit auf der anderen Seite unterstellt werden. Dann wird Hiob selbst zum Lehrer der Weisheit, am besten belegt in Hi 26, das die schöpferische Kosmologie der Gottesrede „aus dem Wettersturm" schon einsichtig vorwegnimmt und mit dieser übereinstimmen kann 7 : „Siehe, das sind nur die Säume seines Waltens; / wie ein Flüstern ist das Wort, / das wir von ihm vernehmen. Doch das Donnern seiner Macht, / wer kann es begreifen.?" (Hi 26, 14). Schließlich kann diese Tendenz der belehrenden Einsichtigkeit (Hi 27, 11) so weit gehen, selbst das beklagte Leiden ethisch-positiv wiederum in das Weisheitsschema der Korrespondenz von gerechtem und gutem Leben einzugliedern, sozusagen auf höherer Stufe: belehrt durch die Realität des Leidens 8 oder als Hoffnung auf diesen Zusammenhang von Gerechtigkeit und Gelingen 9 aufgrund des Gottesverhältnisses.
Diese Variationen eines unauflöslich erscheinenden Konfliktes - wird konkretes Leiden nur ebenso ernst genommen wie die Größe der Schöpfung! - haben letztlich Hiobs Dialogen die Schärfe des Protests ebenso wenig nehmen können wie der Gottesrede das überragende Zeugnis einer Kosmologie, deren Erfahrung allgegenwärtig ist, deren Ursprung und Sinnstruktur sich menschlicher Kalkulation gleichwohl 6 7 8 9
M. Witte (1994), 224f. M. Witte, aaO. 226f.; vgl. die Analysen zu Hi 26, aaO. 144-154. Witte, 227. Vgl. J. Ehach, aaO. (s. Anm. 4), 367.
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entzieht. Gerade dies aber macht das wiederholende Zitieren dessen, was alle kennen, bedeutend, auch dann, wenn eine unmittelbar das individuelle Leiden erklärende Sinnstiftung dadurch nicht gegeben werden kann. Das Gottesverhältnis, wie es Hi 38 zum Ausdruck kommt, ist eine Proklamation menschlicher Erfahrungswelt aus kosmologischer Perspektive. Im folgenden Zitat wird die zweite Gottesrede (Hi 40f.) nicht berücksichtigt und die erste Rede auf ihre kosmologischen Hauptstücke konzentriert. Die Gottesrede (Hi 38) nimmt Hiobs Polemik in rhetorischer Gegenforderung auf: „Wer ist es, der den Ratschluss verdunkelt / mit Gerede ohne Einsicht? [...] Ich will dich fragen, du belehre mich!" (v.2f.) - und entwirft dann im Gegenzug die Weite kosmischer Erfahrungen 10 : Erde: (4) „Wo warst du, als ich die Erde gegründet? Sag es denn, wenn du Bescheid weißt." Meer: (8) „Wer verschloss das Meer mit Toren, als schäumend es dem Mutterschoß entquoll," Licht: (12) „Hast du je in deinem Teben dem Morgen geboten, dem Frührot seinen Ort bestimmt," Ursprünge: (16) „Bist du zu den Quellen des Meeres gekommen, hast du des Urgrunds Tiefe durchwandert?" (19) „Wo ist der Weg zur Wohnstatt des Lichts? Die Finsternis, wo hat sie ihren Ort," (24) „Wo ist der Weg dorthin, wo das Licht sich verteilt, der Ostwind sich über die Erde zerstreut?" Gestirnhimmel: (33) „Kennst du die Gesetze des Himmels, legst du auf der Erde seine Urkunde nieder?" Tierwelt: (39) „Erjagst du Beute für die Löwin, stillst du den Hunger der jungen Löwen," (40) „wenn sie sich ducken in den Verstecken, im Dickicht auf der Lauer liegen?"
Damit ist die Welt als Gottes Schöpfung so ins Bild gesetzt, dass nicht ihre theoretisch zu klärenden Gründe, sondern ihre tatsächlichen Erio
Zur Einzelerklärung von Hi 38 vgl. die Kommentierung bei V. Maag (1982), 11 Iff.; J. Ebach, T. 2 (1996), 122ff.
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fahrungen zählen. Der Schöpfungsbericht von Gen 1 wirkt demgegenüber weit abstrahierter, Hi 38, 16ff. sucht nicht im theoretischen (übertragenen) Sinne des Wortes nach „Quellen" (v. 16a) bzw. „Ursprüngen", sondern assoziiert den mythischen „Urgrund" (v. 16b); aber immer so, dass zugleich konkret die menschlichen Erfahrungsbedingungen präsent bleiben; jeweils an ihren Grenzen gerade immer so, dass das Geheimnis der Erhabenheit bestehen bleibt und sich aufdrängt11: Wasser, Finsternis, Tod, Erde, Licht, Wetter, Gestirne und die geordnete Welt der Tiere - was sonst bestimmt zuletzt menschliches Dasein? Nun könnte hier eingewandt werden, dass diese Gottesrede nicht nur keine konkrete Antwort auf Hiobs insistierende Klagen darstellt, sondern für die naturwissenschaftlich geprägte Moderne nicht einmal kosmologisch als Rede „aus dem Wettersturm" überzeugt. Worin besteht die Autorität der Gottesrede? E. Bloch hat rücksichtslos die moralische „Freimütigkeit" des aufgeklärten Hiob, wie Kant ihn geschätzt hat, religionskritisch durchfechten wollen: Der Gott aus dem „Wettersturm" ist ein Unterdrücker, der betrügerisch auf Geduld und Duckmäusertum setzt. Gegen kosmische Machtdemonstrationen aber gilt mit den unwiderruflichen Klagen Hiobs der Auszug aus jedem autoritären Gottesbild: „Ein Mensch überholt, ja überleuchtet seinen Gott - das ist und bleibt die Logik des Buchs Hiob"!12 Biblisch gesehen stellt Blochs Interpretation die Logik des Buches Hiob auf den Kopf: Nicht die menschlichen Kategorien - ob das Weisheitsschema von Gerechtigkeit und Gelingen oder die untröstliche Klage gegen unverschuldetes Leiden - können zuletzt irgendetwas erklären, sondern allein diejenige Erklärung hat Bestand, die das Sichselbst-Verstehen auf einer anderen Ebene platzieren kann; das gilt auch dann, wenn es zu einer direkten Antwort auf das Leiden (im Sinne der konkreten Klage) so nicht kommen kann. Das Gottesverhältnis überragt als Schöpfungszusammenhang alle menschlich denkbaren Bedingungen. Auf dem Hintergrund der Schöpfungsmythen tritt nachexilisch in Distanz und Anspruchnahme Gott in die Verantwortung für schlechterdings alles, was geschieht und geschehen kann. Diese nicht mehr (mythisch, polytheistisch) abgeschwächte Universalität des Gottesverhältnisses zeichnet diese neue Sicht der Religion aus, und die in Gen 1 wie in Hi 38 vorgetragene Kosmologie bezeugt Erfahrung der 11
12
Vgl. A. de Wilde (1981), 357ff.; J. L'Évêque (1994); zu den mythologischen Kontexten von Hi 38,16 vgl. de Wilde, aaO. 363f.; zur besonderen Lebenswelt der Tiere J. Ebach, T. 2 (1996), 132ff. E. Bloch (1968), 152.
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Natur und Transzendenz im Gegenüber zu den menschlichen Verhältnissen in einem. Weil Bloch der Kosmologie unmöglich theologischen Rang zusprechen kann - das verbieten die sich aufgeklärt gebende Naturwissenschaft wie Theologie seiner Zeit gleichermaßen - hat Hi 38 für ihn allein religionskritische Bedeutung. Doch treffen diese Voraussetzungen eigentlich zu? Hat Hi 38 seinen natürlichen Sinn, seinen Erfahrungswert verloren? Kann mehr als 2000 Jahre nach dem Hiobbuch auf v. 33 geantwortet werden: Ja, wir kennen „die Gesetze des Himmels", und die naturwissenschaftlichen Theoriebildungen sind die „Urkunde", vor deren Erstellung die Menschen damals noch hilflos kapitulieren mussten! - Es spricht alles dafür, dass eine solche Antwort haltlos wäre. Die Fragen der Gottesrede lassen sich heute fortsetzen: Wer kennt den Ursprung der Gravitation? Wer weiß die Garantien für die Bindungskräfte der Teilchen? Wer berechnet die Erdbebenwahrscheinlichkeit? Wer versteht den Zusammenhang der Galaxien? Wer hat die relativistische Raumzeit abgesteckt? Ist der Verhaltenssinn von Tieren auszurechnen, decken genetische Strukturen das Sich-selbst-Verstehen mit ab? - Es sieht alles danach aus, als ginge mit jeder neuen Erkenntnis und Berechenbarkeit eine weitere Welt von ungeklärten, aber wiederum auch potentiell zu klärenden Fragen auf.13 Die harte Klage Hiobs aber, die sich auch in der mehrfach bearbeiteten und tradierten Buchgestalt Geltung verschafft, bleibt produktiv bestehen: Zwischen „kognitiver und existentieller Dimension" 14 des Erfahrungskonfliktes reicht keine erklärende Theorie wirklich zu. Erreicht aber ist das unabweisbare Problemniveau des religiösen Gottesverhältnisses - und zwar in einem Ernst und einer Konsequenz, die biblisch ihre Fortsetzung im Leiden des gerechten Gottessohnes finden wird und die religionsphilosophisch als offene Frage der Zuordnung von Einzelerfahrung und kosmischem Ursprung bzw. Sinn gefasst werden kann. Die Gottesrede erst zeigt, warum und in welchem Bezugsrahmen Hiobs Klagen, und damit auch die Form seiner Dialoge, weitergehen werden; darin besteht Religion - im Anschluss an die mythischen Zeiten und Räume, die nun im Gottesverhältnis repräsentiert sind. Menschliche Dialogsituationen im Leiden und Gottesrede aus dem unbedingten Vorrang der Schöpfung sind seither nicht einfach äußer13
14
Vgl. K. Popper (1988); J.D. Barrow, Das l x l des Universums, 2006 (am Beispiel des Problems variierender Naturkonstanten). - Die Kosmologie der atl. Weisheit verarbeitet auf ihre Weise diesen Respekt vor der Schöpfung, vgl. am Beispiel von Ps 104 Th. Krüger (1997). J. Ebach, aaO. (s. Anm. 4), 368.
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lieh zu repetieren, als würde sich dasselbe immer wieder genauso abbilden lassen. Das Hiobbuch als ganzes zeigt bereits die Weiterarbeit an den Erfahrungen von Verlust und Wiedergewinn von allem, was Hiobs Leben lebenswert macht. Der Sinn von Wiederholung meint aufgrund der nicht auszurechnenden Situation der existentiellen Prüfung etwas Anderes: Lebensperspektiven auf jeweils neu gewonnener Verstehensebene. Kierkegaards Sympathien für diese leidenschaftliche Extremsituation des Gottesverhältnisses haben dieses Profil und diese Wendung der Dinge genau benannt: Nicht der in sein Schicksal scheinbar resignierend einstimmende Hiob (Hi 1,21: „Der Herr hat gegeben, der Herr hat genommen; / gelobt sei der Name des Herrn.") ist bemerkenswert, sondern die Darstellungskonsequenz in der Perspektive des Konfliktes zwischen menschlichem Insistieren und göttlichem Präsentieren. Es geht um „Grenzstreitigkeiten" 13 der Räume möglicher Selbstbehauptung und sich einordnender Geborgenheit. Deshalb gehört Hiobs Frömmigkeit mit seiner unwiderstehlichen Klage zusammen, und in der Unaufhaltsamkeit beider zeigen sich Grund, Recht und Geltungsbereich des religiösen Sich-selbst-Verstehens.
2. Piatons Sonnengleichnis (Politela VI) Die Ironie des sokratischen Dialogs tritt dadurch auf, dass die Möglichkeiten begründeten Wissens vom Standpunkt des Nichtwissens aus untersucht werden, und die damit ins Spiel gebrachte Unsicherheit wird all denen nachgewiesen, die von sicherem Wissen auszugehen meinen. Insofern bleibt der Dialog ohne festes Resultat - und darin gerade produktiv: Gefordert wird das Mitvollziehen des Fragens, das schließlich den fragenden Menschen mit thematisiert. Ironie schafft Distanz und gibt den entscheidenden Hinweis, dass der Blick gewendet werden muss: vom vermeintlich sicheren Gegenstand oder Begriff zu der Aufgabe, sich selbst vom Gerechten oder Guten her zu verstehen: „So sehen wir hier die Ironie in ihrer ganzen göttlichen Unendlichkeit, die überhaupt nichts bestehen lässt. Wie Samson umfasst Sokrates die Säulen, die die Erkenntnis trugen, und stürzt nun alles hinab in das Nichts der Unwissenheit." 16 Gleiches wird für die Reden Hiobs nur dann gelten können, wenn sie aus der Perspektive der Gottesrede, also vom Ende des Buches her, gelesen werden. Nicht dass es sich um gött15 16
S. Kierkegaard, Die Wiederholung, SKS 4, 77,21ff.; dt. Ges. Werke, 5. Abtig., 80. S. Kierkegaard, Begriff der Ironie (s. Anm. 2), SKS 1, 101,14 - 102,1; vgl. dt. Ges. Werke, 31. Abtig., 40; vgl. auch H.-G. Gadamer (2000), 41f., 44.
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liehe Ironie handeln würde, das ist in der übermächtigen - eben distanzlosen - Präsentation der Schöpfung in Hi 38 ausgeschlossen; aber die Unentrinnbarkeit der kosmologischen Perspektive bringt die Verteidigungsreden der Freunde wie den anklagenden Hiob selbst in eine ironische Situation: Die Gottesrede antwortet ihnen gar nicht, zeigt aber, dass sie sich verschätzt haben, und die Distanzierung des Nichtwissens wird ihnen vorgerechnet. Im VI. Buch der Politela17 ist der von Sokrates angeführte Dialog so weit vorangekommen, dass die Frage nach der Gerechtigkeit auf die Funktion der Philosophen für die Realisierung des gerechten Staates konzentriert werden kann. Denn diese allein sind es, die die begriffliche Verallgemeinerung so weit und so prinzipiell zu erfassen fähig sind, dass sie sich von dem, was durch „Entstehen und Vergehen" geprägt ist, lösen und das ins Auge fassen können, was „immer ist" (485b). Es ist diese Perspektive der „wahrhaften Philosophie" (486b), die „überall das Ganze und Vollständige anstreben soll, Göttliches und Menschliches" (486a), worin die prinzipiell überlegene Grundform aller anderen Hinsichten gefunden werden muss; und diese ist wegen der gesellschaftlichen Schwierigkeiten und Missverständnisse, was wahre Philosophie wirklich leisten könne und wie ein entsprechender Staat verfasst sein müsste, nur sehr schwer überhaupt abgrenzbar. Fest steht, dass gegenüber „der Menge" (498d), die davon nichts verstehen wird, der Philosoph sich heraushebt dadurch, dass er allein diese Perspektive, „soweit es nur dem Menschen möglich ist" (500d), zu vollziehen imstande ist: Wer „mit dem Göttlichen und Geregelten umgeht, wird auch geregelt [κοσμιος] und göttlich [θειος]" (500c). Insofern sind es die Philosophen, die in geradezu habitueller Konsequenz nicht anders können, als dass sie „das Seiende und die Wahrheit" lieben (501d); sie sind es deshalb, die den Staat zu führen haben (503b), weil sie allein sein Bestes sehen, wollen und gestalten können. Die eingenommene Perspektive „von jenem Sein, welches immer ist [της ουσίας της αεί ούσης]" (485b), wird für den Dialog aus drei Gründen notwendig: (1) Erkenntnistheoretisch muss gegenüber der Vielheit sich verändernder Einzelheiten deren allgemeine Bestimmbarkeit erreicht werden, und diese kann nur dort gesucht werden, wo nicht wiederum Veränderlichkeit herrscht.
17
Der Dialog wird nach Bd. 4 der zweisprachigen Ausg. v. G. Eigler zitiert (übers, v. F. Schleiermacher), die Belege finden sich (in Klammern) unmittelbar im Text gemäß den Randzahlen der Standardedition.
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(2) Kosmologisch muss gegenüber beliebigen Verursachungen ein prinzipieller Grund angebbar sein, um überhaupt zum wirklich und wahrhaft „Geregelten" vorstoßen zu können. (3) Theologisch muss dann - nach den Vorgaben des Xenophanes die Einheit des erkenntnistheoretisch wie kosmologisch gesuchten Grundes mit der göttlichen Instanz zusammenfallen und kann nicht mehr mythologisch als Vielfalt und Veränderlichkeit entworfen werden. Piaton zieht alle drei Konsequenzen und fasst sie in die Idee des Guten (505a), dessen, „in dem das Sein der Sache in seinem Gutsein, d.h. in dem, was es immer ist und zu sein hat, einsichtig ist".18 Sokrates aber muss nun in derselben Konsequenz diesen exzellenten Charakter der Philosophie begründen; und das Gespräch treibt ihn weiter, als es zunächst den Anschein hatte. Denn wenn es um die „größte Einsicht" (μεγιστον μαθημα [504e]) geht, taugt keinerlei Abschwächung, sondern allein äußerste Klarheit in der Untersuchung des Gegenstandes; und umgekehrt, „ohne das Gute" ist alles anderes nichts (505b). Auch die gesuchte Gerechtigkeit, sie war dreifach schon bestimmt als „Besonnenheit", „Tapferkeit" und „Weisheit" (504a), muss noch auf einen sie tragenden Grund bezogen werden, eben deshalb, weil allein das Gute den sinnhaften Horizont, der dann nicht mehr überstiegen werden kann, von buchstäblich allem anderen garantiert. Wie aber ist das zu denken? - fragen die Gesprächspartner den ihre Gedanken führenden und die offene Frage provozierenden Sokrates. Er müsste nun vortragen, was an letzter Stelle denn unter dem Guten zu verstehen sei. - Jetzt aber nimmt Sokrates überraschend den begrifflich gerade noch geforderten höchsten Anspruch zurück, will „das Gute selbst" (506d/e) für heute auf sich beruhen lassen und stattdessen nur etwas Abkünftiges, Vergleichbares, einen „Sprössling" des Guten präsentieren! Damit ist das Sonnengleichnis gesprächsweise motiviert und in seiner Sonderstellung zwischen Begriffserklärung und Vergleichsschauplatz auf den Weg gebracht. Seine sachliche Einleitung - die Ideenlehre in Erinnerung bringend - ist die folgende: „Vieles Schöne, sprach ich, und vieles Gute, was einzeln so sei, nehmen wir doch an und bestimmen es uns durch Erklärung. [...] Dann aber auch wieder das Schöne selbst und das Gute selbst und so auch alles, was wir vorher als vieles setzten, setzen wir als eine Idee [ιδεα] eines jeden, indem wir annehmen, dass sie nur eine ist, und nennen es jegliches, was es ist [δ' εστίν]. [...] Und von jenem vielen sagen wir, dass es gesehen werde, aber nicht gedacht; von den Ideen hingegen, dass sie gedacht werden, aber nicht gesehen" (507b/c).
18
H.-G. Gadamer, aaO. 49.
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In diesem erkenntniskritischen und logischen Begründungszusammenhang wird die unbestreitbar richtige Differenz19 vorgetragen zwischen dem, was empirisch vielfach vorkommt und wahrgenommen, hier vor allem: gesehen wird, und dem, was dieses Viele und Veränderliche zusammenfassend wahrzunehmen ermöglicht und deshalb jenem vielfach Gegebenen gegenüber dezidiert einfach und darin eben gedacht sein muss. Für diese Funktion der Begriffsbildung spricht Piaton von der „Idee"; und es ist klar, dass damit gerade nicht, wie der heutige deutsche Sprachgebrauch nahe legt, ein Einfall, eine Imagination, etwas Ausgedachtes gemeint ist, sondern umgekehrt die Denknotwendigkeit in begrifflicher Einheitsbildung - bezüglich dessen, was die Dinge in Wahrheit sind. Ist aber, was für die Idee von Gegenständen zutrifft, auch richtig für das Schöne und das Gute? Mit dieser Frage ist offenbar ein weites Tor geöffnet, dass nämlich - nachdem die Ideen zunächst erkenntnistheoretisch eingeführt wurden - überhaupt nach einem darüber hinaus lebensweltlich allgemeineren Horizont gesucht und noch einmal von Idee - nämlich der des Guten gesprochen werden kann und muss. Auf diese schwierige und vielfach kontrovers beantwortete Frage reagiert auf seine Weise das Sonnengleichnis·, und setzen wir mit Piaton einmal voraus, dass im Unterschied zu den anderen Sinnen allein beim Sehen zwischen der Wahrnehmungsfähigkeit und dem Wahrgenommenen etwas „Drittes" aktiv ist, nämlich das „Licht" (507c-e), so kommt es zur wirksamen Vergleichsrelation. Sokrates fährt fort: [1.] „Und von welchem unter den Göttern des Himmels sagst du wohl, dass dieses abhänge, dessen Licht mache, dass unser Gesicht auf das schönste sieht und dass das Sichtbare gesehen wird. [...] So auch die Sonne ist nicht das Gesicht, aber als die Ursache davon wird sie von eben demselben gesehen." [2.] „Und eben diese nun, sprach ich, sage nur, dass ich verstehe unter jenem Sprössling des Guten, welchen das Gute nach der Ähnlichkeit mit sich gezeugt hat, so dass, wie jenes selbst in dem Gebiet des Denkbaren zu dem Denken und dem Gedachten sich verhält, so diese in dem des Sichtbaren zu dem Gesicht und dem Gesehenen." [3.] „Die Augen, sprach ich, weißt du wohl, wenn sie einer nicht auf solche Dinge richtet, auf deren Oberfläche das Tageslicht fällt, sondern auf solche, die nur nächtliche Schimmer umgeben, so sind sie blöde und scheinen beinahe blind, als ob keine reine Sehkraft in ihnen wäre. [...] Wenn aber, denke ich, auf das, was die Sonne bescheint, dann sehen sie deutlich, und es zeigt sich, dass in eben diesen Augen die Sehkraft wohnt." [4.] „Ebenso nun betrachte dasselbe auch an der Seele. Wenn sie sich auf das heftet,
19
Vgl. T. Borsche (1996), 104-109; zum Interpretationshorizont in der (ungeschriebenen) Lehre des Einen vgl. H. Krämer (1997), 189.
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woran Wahrheit und das Seiende glänzt, so bemerkt und erkennt sie es, und es zeigt sich, dass sie Vernunft hat. Wenn aber auf das mit Finsternis Gemischte, das Entstehende und Vergehende, so meint sie nur und ihr Gesicht verdunkelt sich so, dass sie ihre Vorstellungen bald so, bald so herumwirft und wiederum aussieht, als ob sie keine Vernunft hätte." [5.] „Dieses also, was dem Erkennbaren Wahrheit mitteilt und dem Erkennenden das Vermögen hergibt, sage, sei die Idee des Guten; aber wie sie der Erkenntnis und der Wahrheit, soweit diese erkannt wird, Ursache zwar ist, so wirst du doch, so schön auch diese beiden sind, Erkenntnis und Wahrheit, doch nur, wenn du dir jenes als ein anderes und noch Schöneres als beide denkst, richtig denken. Erkenntnis aber und Wahrheit, so wie dort Licht und Gesicht für sonnenartig zu halten, zwar recht war, für die Sonne selbst aber nicht recht, so ist auch hier, diese beiden für gutartig zu halten, zwar recht, für das Gute selbst aber, gleichviel welches von beiden, anzusehen, nicht recht, sondern noch höher ist die Beschaffenheit des Guten zu schätzen. [···] Die Sonne, denke ich, wirst du sagen, verleihe dem Sichtbaren nicht nur das Vermögen gesehen zu werden, sondern auch das Werden und Wachstum und Nahrung, unerachtet sie selbst nicht das Werden ist. [...] Ebenso nun sage auch, dass dem Erkennbaren nicht nur das Erkanntwerden von dem Guten komme, sondern auch das Sein und Wesen habe es von ihm, da doch das Gute selbst nicht das Sein ist, sondern noch über das Sein an Würde und Kraft hinausragt" (508a-509b).
Das Sonnengleichnis versucht, etwas über den letzten Grund des Denkens zu erklären, was sich direkt nicht fassen lässt und folglich im Vergleich indirekt gesagt werden muss: So wie die Sonne dem Gesichtssinn (der Relation von Sehfähigkeit des Auges zum gesehenen Gegenstand) immer schon vorgegeben sein muss, so verhält es sich auch bezüglich der Relation von Denkfähigkeit zum gedachten Gegenstand. Im letzteren Fall, im Bereich des Denkens (vous), wären das bedingende Dritte dann offenbar die „Wahrheit und das Seiende" (vgl. 4. Abs.). Doch der Vergleich der beiden Relationen gipfelt in dem, was den Bereich des Denkens noch einmal übersteigt und insofern der Entzogenheit der Sonne entsprechen kann, dem, was in der Welt der Ideen Licht gibt und dadurch erst die Grundbedingung für die Wahrheit des Erkennens: das alles andere überragende Gute. - Von diesem Schluss wird Sokrates selbst offenbar überrascht. Glaukons Zwischenruf bringt ihn zu dem Eingeständnis, das Gespräch sei es gewesen, das ihn gezwungen habe, so weit zu gehen (509c). Zur kommentierenden Klärung deshalb noch einmal die Gedankenschritte im Einzelnen: (1) Sokrates erinnert ganz natürlich und selbstverständlich an die mythologische Ursprungsmacht: Die Sonne ist ein Gott (1. Abs.), deshalb stammt von ihr das Licht. Die Frage nach den lebensbegründenden Ursprüngen kann sich offenbar allein im Mythos orientieren, und Sokrates' Anknüpfung geschieht nicht, um damit demonstrativ den
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Mythos oder die Götter zu verabschieden. Die Wiederholung der mythischen Ursprungserklärung aber nimmt Distanz zu sich selbst, sie ist, mit einem Wort, religionsphilosophisch geworden. Piatons „Kunstmythen", wie Blumenberg sagt, zeigen mit dieser Distanz aber auch die originäre Wirksamkeit der religionsphilosophischen Ursprungsfrage. Die „Idee" ist kein „Apriori" im Sinne neuzeitlicher Wissenschaftsbegrenzung20, sondern sie repräsentiert die lebendigen Erklärungsmuster, die sich auf das beziehen und das anschaulich machen, was die spätere Wissenschaft nur noch lebensweltlich voraussetzen, nicht aber unter die eigene methodische Kontrolle bekommen wird: Sonne und Licht. Sie bleiben für die religionsphilosophische Wiederholung des Mythos nicht mehr ungebrochen (polytheistische) Gottheiten, aber kreative Ursprungskräfte, die gleichnishaft eingesetzt werden können. Für die Religionsphilosophie ebenso wie für die lebendigen Religionen und ihre Theologien wird alles davon abhängen, in der Wissenschaftsentwicklung der Moderne die Wiederholungsformen des Mythos: Metapher, Gleichnis und Symbol so zu fassen, dass ihre religiöse Kraft, Ursprungsmächte der Lebensorientierung wirksam sein zu lassen, nicht einer methodischen Reduktion auf (von derselben Wissenschaft definierte) empirische Sachverhaltsebenen zum Opfer fällt.21 Das Gottesverhältnis kann im Gleichnis eine neue Selbstverständlichkeit gewinnen und diese Auslegung der Idee des Guten ist nicht von vornherein auszuschließen. Der sokratische Gesprächsgang und seine herausgehobene Vergleichsrede, die Sonne als kreative Ursprungsmacht mit der Idee des Guten in Verbindung zu bringen, ist jedenfalls vom religionsgeschichtlichen Hintergrund her schon auf den ersten Blick sehr viel mehr als nur eine Illustration für ein erkenntnistheoretisches Problem. Das heute auch philosophisch wieder einzuräumen, setzt allerdings „radikale Selbstkritik" (G. Krüger) gegenüber neuzeitlichen Wissenspositionen voraus, denen das lebensorientierend eingesetzte sokratische Nichtwissen und die Suche nach dem ursprünglich Begründenden fremd geworden waren. Dann erst kann wieder entdeckt werden, was es - im Sinne des sokratischen Dialogs über Gerechtigkeit - heißen
20
H . Blumenberg (1996), 58. - W . Kersting (1999), 216ff., will diese Dimensionen des Textes vermeiden und interpretiert gegen sie.
21
Vgl. E . Cassirer (1994) II, 126: Die entmythisierte Bedeutung von Sonne und Licht, auf die Cassirer hinweist, kann bereits für Piaton in Anspruch genommen werden. - Blumenberg kritisiert zu Recht den, trotz allen Respekts, immer nur vorläufigen Status des Mythischen bei Cassirer und damit auch die Begrenztheit seines Symbolbegriffs, vgl. Blumenberg, aaO. 59.
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könnte: „Gerecht zu handeln bedeutet, das Gute zu tun" 22 ; und dann erst wäre Piaton wieder mehr als nur ein anachronistischer Autor, der in der schnelllebigen Zeitungswelt, in die ihn R. Musil ironisch kontrastierend versetzt hat, nur noch für ein paar Artikel gut wäre. Denn wollte er „eine seiner bekannten Ideen, die sich niemals ganz durchsetzen konnten" heute literarisch realisieren, würde ihn der Chefredakteur zwangsläufig in die „Unterhaltungsbeilage" verbannen („möglichst locker und flott, nicht so schwer im Stil").23 (2) Die zwei Seiten des Vergleichs erscheinen zunächst klar: Das Gebiet „des Sichtbaren" wird mit dem „Gebiet des Denkbaren" (2. Abs.) so parallel verstanden, dass dem Gesichtssinn und dem Gesehenen entsprechend das Denken und das Gedachte zugeordnet werden. Weil Piaton voraussetzt, dass Sehen - anders als die anderen Sinneswahrnehmungen - nur kraft Helligkeit überhaupt zustande kommt, ist das Licht der kreative Ursprung des gesamten Sehvorgangs einschließlich seines Gegenstandes; und dem müsste dann auf Seiten des Denkvorgangs einschließlich seines Gedachten etwas Lichtähnliches entsprechen. Die beiden Seiten des Vergleichs werden in diesem Sinne ausführlich illustriert am jeweiligen Gegenteil: dem Sehen im Dunkeln (3. Abs.) und dem denkerischen Erfassen (als Aktivität der Seele) im Licht der Vernunft bzw. ohne dieses Licht. Der Vergleich wird allerdings dadurch kompliziert, dass im Falle des Denkens zwei grundverschiedene Gegenstandsarten hinzukommen 24 , die unmittelbar mit ihrer Beleuchtung zusammenhängen: So wie im Dunkeln nichts zu sehen ist, so ist ohne das Licht der Vernunft nichts zu denken. Allerdings: Im Falle des Denkens ist noch einmal zu unterscheiden zwischen dem, was überhaupt denkmöglich ist (4. Abs.: „woran Wahrheit ist und das Seiende glänzt"), und dem Vielen und Veränderlichen, worüber sich als solches gar nichts einheitlich denken lässt. Auf der Seite des vernünftigen Denkens also kann es sich nur um diejenigen Gegenstände handeln, die im eigentlichen Sinne solche des Wissens - nämlich der Ideen - sind. Sie allein sind „unerschütterlich" und „unveränderlich" - „wie das Gu-
22 23 24
T. Borsche (1996), 99; zum hermeneutischen Einsatz der Platon-Interpretation aufgrund „radikaler Selbstkritik" vgl. G. Krüger (1992), XIVf. R. Musil (1996), 325. W. Kersting, aaO. 217, übertreibt diese Beobachtung zum Gegensatz von „Lichtverhältnissen" beim Sehen einerseits und unterschiedlichen „Gegenständen" beim Denken andererseits; W. Bröcker (1990), 269, vereinfacht die Verhältnisse in einem symmetrischen Schema.
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te, das wir durch sie zu erkennen streben."23 Damit aber wird der Vergleich auf der einen Seite übergewichtig, die „Seele" hat ambivalente Möglichkeiten, Vernunft oder bloßes Meinen (4. Abs.)! Diese Asymmetrie zwischen der Bildseite des Vergleichs (Sichtbares) und der Sachseite (Denkbares) korrespondiert mit einer ähnlichen Schwierigkeit in der Parallelität des Vergleichs im Bezug auf das Vergleichsdritte: Das gesuchte Licht auf Seiten des Sehens ist die Sonne - als „Sprössling des Guten" (2. Abs.); die „Idee des Guten" (5. Abs.) aber das Licht auf Seiten des Denkens (bzgl. Wahrheit und Erkennen). Das Gute steht also noch einmal hinter dem Licht der Sonne, aber auch in gleicher Abstufung hinter dem Licht des Denkens? - Andererseits wird in der Erläuterung der Schönheit der Erkenntnis und der Sonnenartigkeit des Sehens (5. Abs.) der Vergleich wiederum ganz parallel durchgeführt: Die Sonne wie das Gute sind als qualitativ eigenständig und höherwertig anzusetzen und reichen über das hinaus, was sie als Relation von Sehen und Gesehenem, Denken und Gedachtem beleuchten. Auch der Schlussgedanke ist wieder parallel konstruiert, dass die Sonne wie das Gute nicht nur das „Vermögen" von Sehen bzw. Erkennen vermitteln, sondern noch einmal grundsätzlicher: Dass diese überhaupt bestehen, stammt von ihrem Ursprung, in dessen Licht sie erkannt werden. Die sichtbare Seite aber repräsentiert dabei das „Werden" (γενεσις), die unsichtbare das „Sein und Wesen" von der Idee des Guten her (5. Abs.); und diese beiden Hinsichten unterliegen wiederum der im Bereich des Denkens regierenden Unterscheidung von Wissen (der Ideen) und bloßem Meinen (bezüglich des Vielen und Werdenden). Die Idee des Guten im Sonnengleichnis reicht also notwendig nicht nur wie die Sonne über die Lichtverhältnisse, die durch sie ermöglicht werden, hinaus, sondern sie müsste eigentlich auch als Ursprung überhaupt des Möglichwerdens von Licht (im Sehen wie im Denken) verstanden werden. Diese „Jenseitigkeit" 26 der Idee des Guten ist jedenfalls im Sonnengleichnis angelegt und hat zu Recht die religionsphilosophische Interpretation inspiriert. (3) Mit dieser Auszeichnung des religionsphilosophischen Interesses ist aber noch nicht die logische Schwierigkeit beseitigt, wie sich denn die eine und letzte Idee zu den anderen Ideen des Wissens verhalte, ob jene nicht doch vielleicht nur als illusionärer Überschritt in eine andere
25 26
T. Borsche, aaO. 97. G. Krüger, aaO. 219; vgl. R. Ferher (1989), 69; W. Janke (2007), Kap. 8.2f.
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Welt (die es nicht gibt) enttarnt werden müsse. Zur Diskussion dieser Frage sollen drei Problemkreise hervorgehoben werden: Erstens ist die Einheitsbildung der Ideen kritisch zu betrachten: Es kann sich bei Piaton eigentlich nicht um einen Klassenbegriff (für die Elemente des Vielen) handeln, sondern nur um ein universales Sein, ein Allgemeines als realer Inbegriff in Bezug auf Einzelnes. Dann aber entsteht das Problem, wie dieser Inbegriff der Idee von etwas selbst zu fassen ist und als solcher wiederum mit den Einzeldingen vermittelt gedacht werden kann. Piaton hat bekanntlich selbst (im Dialog Parmenides) diese Schwierigkeit gesehen, dass, wenn über große Dinge das Große begriffen und beides verglichen würde, dann „wiederum ein Großes" vermittelnd in Anspruch genommen werden müsste - und immer so fort! 27 Zweitens ist bezüglich der Idee des Guten zu fragen, wie ihre alles andere überragende Stellung („noch über das Sein [επεκεινα της ουσίας] an Würde und Kraft hinausragt" [5. Abs.; 509b]) gedacht werden soll oder kann. Hier ist entweder im Blick auf das Konzept des Einen im Anschluss an den Dialog Parmenides eine Lösung zu suchen (wie sie für den christlichen Piatonismus am zugänglichsten erscheinen musste), oder die Idee des Guten muss in ihrem mythisch-religiösen Hintergrund und ihrer normativ-lebensorientierenden Inanspruchnahme verstanden werden. Dann geht es nicht um einen Gegenstandsbegriff, sondern um einen vorbegrifflichen Orientierungshorizont, den Sokrates auch konsequent eben im Sonnengleichnis und nicht im Beweisverfahren präsentiert. Es geht um das Eine, „was einen selbst und alles was man tut, gut macht." 28 Drittens ist in den gezeigten Konstruktionsschwierigkeiten des Sonnengleichnisses jener ontologische Dualismus wirksam, der das Gute allein auf der Seite des Denkens (des Erkennens und der Wahrheit der Ideen), alles Werdende dagegen auf der ideen-unzugänglichen Seite des Sehens anordnet. Das hat Folgen für Piatons eigene Theologie, die (im Spätdialog Nomoi) Gott hinter allem Erkennbaren nach dem Muster einer vollkommenen Seele konzipieren muss. Sinnlichkeit und
27 28
Piaton, Werke Bd. 5 (1983), 214ff. (132a-b); Aristoteles, Metaphysik 1.9 (990b) zum Argument des „Dritten Menschen"; vgl. I.U. Dalferth (1993), 47. H.-G. Gadamer (2000), 40; vgl. H.M. Baumgartners ([1965], 99) Verteidigung des Vorrangs des Guten gegenüber dem Einen: „Wenn unter dem Namen ,das Gute' das Sinnmoment der Wahrheit begrifflich gefasst ist, dann impliziert dies, dass Wahrheit ursprünglich sein kann und sein soll."
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Geistigkeit treten auseinander und Gott kann immer nur von der einen Seite her begründet werden.29 (4) Alle drei Probleme lassen sich dann lösen, wenn in der Vergleichsrelation des Sonnengleichnisses die Reduktion auf eine bloße Zweistelligkeit vermieden wird. Die Analogie von Sehbarkeit und Denkbarkeit entsteht aufgrund eines produktiven Dritten: des Guten, das selbst nicht in dieser Verhältnisbestimmung aufgeht. Wird die Bildung dieses Zusammenhanges nicht aus einem Dritten hergeleitet, stehen sich Empirie (Sehen) und Denken fremd gegenüber und lassen sich immer nur probeweise aufeinander abbilden wie in einem nicht endenden Versuch. Soll diese Neutralisierung gegenüber den faktischen Lebensinteressen vermieden werden, muss der zwischen Denken und Sehen schon gestiftete Zusammenhang in seinen Ursprung zurückverfolgt werden. Dieser Ursprung kann in der theoretischen Rückfrage nicht anders als durch die Entdeckung der Zusammenhangsbildung selbst auftauchen und der darin liegenden Aufgabe des Sich-selbst-Verstehens aufgrund solcher Voraussetzungen. Das kann einerseits in myhisch-religiöser Anknüpfung geschehen, andererseits im „formalen" 30 Vollzug eines Verstehens, das sein Prinzip und seinen Ursprung in seiner Voraussetzungshaftigkeit, seiner Abkünftigkeit 31 erkennt: sich faktisch und normativ im Guten zu orientieren. Die Idee der Ideen entscheidet über die Güte von allem jeweils Begriffenen im lebenspraktischen Zusammenhang.32 Hinter dieser Voraussetzung als solcher braucht nichts anderes mehr gesucht zu werden, weil die produktiven Anwendungssituationen und Entscheidungen bezüglich des Guten immer wieder, formal gesehen, dieselben sein werden. Piatons sokratischer Dialog entwirft diesen Horizont einer prinzipiellen, d.h. unvermeidlichen Voraussetzung im religionsphilosophischen Kontext, und das Problem der Denkbarkeit der abschließenden Idee ist dann lösbar, wenn klar ist: Erstens, diese Idee des Guten kann nur die sein, von der alles andere ausgeht, also stellt sich der logische Regress des begrifflich-gegenständlichen Verallgemeinerns nicht mehr. Zweitens, die hier gesuchte Einheitsbildung ist dann doppelt zu bestimmen: Sie kann als ursprüngliche Kreativität gedacht werden, was 29
Vgl. I.U. Dalferth, aaO. 49-52 (im Verweis auf Nomoi, Buch VII, 821a; d.h. Piatons theologische Kosmologie der ewigen Bahnen der Gestirne, aaO. 822a).
30
H.-G. Gadamer, aaO. 56.
31 32
S. § 1. Vgl. N. Pappas (1995), 138; W. Wieland (1976), 24 u. 28ff. (zur immer in gleicher Weise vorrangigen „Teleologie" des Guten).
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dem christlichen Schöpfungsgedanken entspricht, von Piaton selbst so aber (noch) nicht gemeint sein kann; oder sie kann als sich immer wieder bildender Zusammenhang, also als Einheitsbildung aufgrund von Differenzen verstanden werden, und dabei wäre das Gute als Idee praktischer Lebensorientierung unersetzbar wirksam. Weil der sokratische Dialog im Blick auf diese Einheitsproblematik keine klare Entscheidung zulässt, ist drittens die theologische Platzierung des Gottesbegriffs durchaus möglich. Mit Bedacht kann dazu die kreative Indifferenz der Idee des Guten im Sonnengleichnis genutzt werden, ohne voreilig oder schematisch die Dualismen in der Vergleichsrelation zwischen Einem und Vielen, Denken und Sehen, Geist und Materie zu übernehmen. Das gründende und alle Zusammenhänge inspirierende Gute kann wie ein „Sprössling" Gottes aufgefasst werden. Dann ist der Mythos im Ubergang zur Religion auch mehr als ein vorübergehendes Hilfsmittel, um die faktische „Welt des Werdens" noch zum Ausdruck zu bringen 33 , während die Welt des Denkens und der Wahrheit sich solchen sinnlichen Vermittlungen ohnedies entzieht. In der Auslegung des Sonnengleichnisses zeigt sich exemplarisch die Richtigkeit von Whiteheads Bemerkung, die „philosophische Tradition Europas" bestehe „aus einer Reihe von Fußnoten zu Piaton".34 Die narrative Form des sokratischen Dialogs ermöglicht variationenreiche Vielfalt in der Gedankenführung ebenso wie immer wieder neu zu entdeckende Anknüpfungsmöglichkeiten. Das mythisch-theologische und religionsphilosophische Gespräch ist für das Hiobbuch wie für Piaton gerade in der Frage letzter Begründungen, der Idee Gottes wie der Idee des Guten, unvermeidlich; und die Antworten bleiben indirekt und fordern die Mitarbeit im Horizont der Interpretation: die aktive Selbstthematisierung der Menschen, die lesen oder hören. Als religionsphilosophischer Stand der Debatte kann zumindest soviel resümiert werden: Im 5./4. Jahrhundert v.Chr. kommt es, belegt durch die alttestamentliche Buchproduktion wie literarische Zeugnisse Griechenlands und vor allem in den sokratischen Dialogen Piatons, zur Ausarbeitung der überragenden Idealität des GuteniD bzw. des Göttlichen - und korrespondierend zur Bewusstwerdung menschlicher Selbständigkeit,36 Diese gewinnt sich selbst, indem sie die mythischen Er33 34 35 36
So E. Cassirers Interpretation ([1994] II, 4f.) der Notwendigkeit des Mythos bei Piaton. A.N. Whitehead (1984), 91. Vgl. zur entsprechenden Einstufung von Piaton und Hiob bei R.C. Neville (1993), 13 Off., 136f. V. Gerhardt (1999), 74f. (für Griechenland unter Berufung auf B. Snell [1975]).
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fahrungszeugnisse als solche distanziert und tendenziell in ein religiöses Gottesverhältnis verwandelt. Im Extrem der Gottesklage bleibt im Hiobbuch die religionsphilosophische Verhältnisbestimmung gerade in der unausgeglichenen Gerechtigkeitsperspektive durch die Autorität des Schöpfergottes bestehen, im Sonnengleichnis erscheint das Gottesverhältnis mit der Thematisierung des Guten als die notwendig alles andere begründende Lebensorientierung. Während die platonische Konzeption auf das Theorieproblem der Letztbegründung führt, kommt die kosmologische Gottesrede im Hiobbuch ohne erkenntnistheoretische Theoriefiguren aus. Nicht in der Leidensperspektive allein ist über Gerechtigkeit zu entscheiden, sondern beide Antwortversuche drehen sich um die vom Menschen her nicht einzusehende oder zu steuernde Instanz des Guten und des Weltzusammenhanges im Ganzen.37 Mit dieser Resultatlage belasten die Dialoge des Buches Hiob und des platonischen Sokrates die neu gewonnene Selbständigkeit des Menschen, sein Welt- und Gottesverhältnis seither. Die Schwierigkeiten, nun Gott oder das Gute als Allgemeinbegriff und Realität des verbindlichen Ursprungs nachzuweisen, stellt dem Denken eine neue Aufgabe, die mit einem Anspruch auf Konsistenz verbunden ist, wie ihn die Mythologie so noch nicht kannte. Das (religions-)philosophische Denken wird dabei immer in die Grenzbereiche dessen geführt, was begrifflich überhaupt erreichbar erscheint. Sokrates selbst aber bleibt sein „göttliches Zeichen" (496c), sein Daimonion und die mit ihm verbundene Handlungszuversicht im suchenden/wissenden Teilhaben an der Idee des Guten. 38 Hiob bleibt das unabgegoltene Recht seiner Klage gerade im Gegenüber des Gottesverhältnisses, dessen schöpferische Größe auch für sein Schicksal verantwortlich zeichnen muss. Mit der Selbständigkeit wächst der religionsphilosophische Begründungsanspruch, und der Verbindlichkeitsrahmen konzentriert sich vom Vielen auf Eines, von den Göttern auf Gott.
37
38
W . Kersting (1999), 64-68, kann das Gerechtigkeitsmotiv Hiobs im antiken Vergleich zwar platzieren, nimmt beidem aber den religionsphilosophischen Ernst und Kontext. Vgl. B. Snell, aaO. 177.
§ 5: Christliche Philosophie I: Augustin und der (Neu-)Platonismus Im Jahrtausend zwischen Deuteronomium, Hiobbuch, vorsokratischen und sokratischen Texten einerseits und den Schriften von Augustin, Boethius und Dionysius Pseudo-Areopagita andererseits liegt das Neue Testament etwa in der Mitte. Die in ihm sich aussprechende Religiosität stammt aus der Umbruchssituation von Hellenismus und jüdischer Diaspora: Der neu sich herausbildende Glaube bindet sich an die alttestamentlichen Gottesverheißungen, jetzt aber in der geschichtlichhumanen Konkretion Jesus Christus, und er gewinnt seine Selbständigkeit zugleich in der antiken Umwelt wie gegen sie. Die Kanonisierung der Textsammlungen über das messianische Auftreten Jesu (Evangelien) und der apostolischen Briefe, die die Gemeindegründungen begleiten, zu einem neuen Bundesdokument geschieht in Kontinuität wie in Diskontinuität mit der Gottvorstellung der jüdischen Uberlieferungen. Das im Christus-Glauben vollständig realisierte Gottesverhältnis proklamiert eine Nähe, die gemessen an den alttestamentlichen Erwartungshaltungen und den antik-philosophischen Ursprungsfragen umstürzend wirken musste - obwohl zur Ausdruckgabe der neuen Nähe Gottes allein die überlieferten Denkformen zur Verfügung stehen. Jer 31,33, das ins Herz geschriebene Gesetz Gottes, gilt im Geist Christi als jetzt geschehen (II Kor 3,3), Hiobs Klage um Gottes Gerechtigkeit wird - ohne die Leidenssituation zu reduzieren - in die Glaubensgerechtigkeit aufgenommen (Rom l,16f.), und den antik-griechischen Tempelkult des „unbekannten Gottes" in Athen will der Apostel Paulus (Act 17, 22-34) ersetzen durch den Namen Jesus Christus. Unter den Griechen, die über die neue Rede nicht spotten, ist ein gewisser „Dionysius, der Areopagit" (v. 34). Hellenismus - das ist die verändernd weiterwirkende Philosophie und Lebensart der griechischen Stadtstaaten in der römischen Kaiserzeit, vergrößert und verzweigt auf den gesamten Mittelmeerraum; Diaspora - das ist die kulturell-religiöse Präsenz des Judentums in demselben, weitgehend griechisch und lateinisch sprechenden Raum. 1 Hier
1
Vgl. L.A. Sinclair/A. Kasher: Diaspora, in: TRE 8 (1981), 709-717; H.D. Betz: Hellenismus, in: TRE 15 (1986), 19-35; Κ. Held (1990), Kap. XlIIff. - Zur schwierigen und umstrittenen, aber auch innovativen und durchsetzungsfähigen Stellung des Christentums in der Antike vgl. Chr. Markschies (2004).
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I. Biblische, antike und scholastische Tradition
konkurrieren nun die neuen christlichen Texte und ihr gesamtbiblischer Interpretationsanspruch mit der hellenistischen Alltagsphilosophie, und in der politischen Krisenzeit der immer gefährdeter sich darbietenden kaiserlichen Einheitsmacht ist zumindest ein generelles religiöses Motiv für das Christentum auszumachen: Die antike Philosophie als praktische Lebenslehre und Theorie einer politischen Stadtkultur zerbricht zugunsten von Sinnstiftungen des einzelnen Lebens, das aus der bedrohten Lebensordnung dieser Welt die Hoffnung der nichtsinnlichen, jenseitigen Welt in Anspruch nehmen muss. 2 Die klassische antike Philosophie kann in ihren vielfältigen Schulrichtungen für diesen Wandlungs- und Umgewichtungsprozess flexibel eingesetzt werden, und die christliche Neuentdeckung des existentiellen Glaubens erweitert und konzentriert zugleich die religiösen Orientierungsmöglichkeiten: Die christliche Kirche tritt das Erbe der kulturellen Einheitsidee an, garantiert das wirksame Zusammenspiel von göttlichewiger und irdisch-zeitlicher Räumlichkeit, und sie nimmt dafür die religionsphilosophischen Vorlagen der Antike in jetzt charakteristisch biblischen Neuinterpretationen auf. So weiß Augustin in der Schrift De vera religione (390 n.Chr.) Platon ganz auf der Seite der wahren Religion des Christentums, denn Piaton habe „seinen Schülern klargemacht, dass man die Wahrheit nicht mit leiblichen Augen, sondern nur mit reinem Geiste schaut"; Boethius, der letzte spätantike Repräsentant des philosophischen Lebensideals gelingender Staatsverantwortung, beruft sich im Gefängnis (524), vor der Vollstreckung der Todesstrafe, ausdrücklich auf Piaton und spricht die tröstende Philosophie selbst an: „Du und Gott, der dich im Geiste der Weisen angesiedelt hat, ihr seid mir Zeugen"; für den Pseudonymen Autor Dionysius Areopagita (um 500) ist der christliche Gott mit der platonischen Tradition die „übergöttliche Gottheit", die „durch ihr Sein auf alles Seiende ihre Gutheit erstreckt. [...] gleichwie unsere Sonne ohne Berechnung und ohne Wahl". 3
2 3
Vgl. K. Flasch (1988), 24f., und in: Augustinus, De vera religione (1997), 218f. (Nachwort). Augustinus (1997), De vera religione III.3.8; Boethius (1990), Trost der Philosophie I, 4.p.,25f.; Dionysius Areopagita, De divinis nominibus IV.1 (in: K. Flasch [Hg.], Mittelalter [1999], 139).
§ 5: Christliche Philosophie I: Augustin und der (Neu-)Platonismus
1. De vera
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religione
Augustin blickt bereits auf drei Jahrhunderte öffentlich-literarischer Verteidigung des Christentums als die bessere bzw. die Versprechungen antiker Philosophien nun wirklich erfüllende Religion zurück. Grundbegriffe christlicher Dogmatik liegen nach diffizilen Diskussionen von theologischen Schulen, Konzilien und politisch einflussreichen Instanzen ebenfalls vor, und die kirchlichen Väter - im Osten vor allem Clemens von Alexandrien und Origines, im Westen vor allem Irenaus von Lyon und Tertullian - haben den christlichen Glauben nicht nur kirchlich abgrenzbar, sondern auch philosophisch konkurrenzfähig gemacht. 4 Die Beurteilungsmaßstäbe, die dabei im öffentlichen Streit zur Geltung kommen, sind entweder biblisch-theologisch oder philosophisch. In dieser Zeit von Religionsphilosophie zu sprechen bedeutet deshalb, die selbstbewusste Entwicklung einer christlichen Philosophie auf biblischer und antik-hellenistischer Basis als geschichtliches Novum zu entdecken. Augustins frühe und bewusst christliche Schrift De vera religione hat alle diese Bewegungen, Motive und Gedankengänge aufgefangen, macht sich lustig über den gewöhnlichen Streit der philosophischen Schulen und stellt ihnen eine allgemeine „rechtgläubige" Wahrheit entgegen, die unter Berufung auf Piaton und Christus allem Bisherigen eindeutig überlegen ist (III.3; V.8f.). Wer bei Vernunft ist, wird dies anerkennen. Platonisches Gedankengut erscheint deshalb so umstandslos christlich anwendbar, weil zwei seiner Tendenzen, die gerade auch im Sonnengleichnis erkennbar waren, schematisch umgesetzt werden: Die sinnlich-sichtbare steht der geistig-unsichtbaren Welt ausschließend gegenüber, und die hinter allem Geistigen stehende allerhöchste Idee ist selbstverständlich die des einen biblischen Gottes; diese Idee wird allerdings neuplatonisch-ästhetisch eingeführt: dass „die Seele erst gesunden muss, um die unwandelbare Form der Dinge und die stets unveränderliche, sich gleichbleibende Schönheit [pulchritudo] zu schauen. Denn diese ist über räumliche Entfernungen und zeitliche Ubergänge erhaben und bleibt in jeder Hinsicht eine und dieselbe" (III.3.9).
4
Vgl. A. v. Harnack (1991), § 21-24; L.W. Barnard: Apologetik I, in: TRE 3 (1978) 371-411; O. Skarsaune: Apologetik IV.l, in: RGG 4 1 (1998), 616-620; und die Beispieltexte von Justin, Hermias, Tertullian, in: K. Flasch (1999), Kap. 2.
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I. Biblische, antike und scholastische Tradition
1.1. Das Schöne (Plotin) Soll der Begriff Piatonismus ausschließlich auf die erkennbaren Lehren Piatons selbst und ihre Wirkungsgeschichte bis zur Gegenwart bezogen werden, so muss davon die für die europäische Philosophie darüber hinaus so einflussreiche metaphysisch-theologische Lehre vom Einen, die vor allem auf Plotin (204/5-270 n.Chr.) zurückgeht, als Neuplatonismus unterschieden werden. 5 Piatons Akademie durchlief nach Piatons Tod verschiedene antik-hellenistische Schulbildungen, in den ersten drei Jahrhunderten n.Chr. aber ist das platonische Erbe wohl am stärksten dort, wo es von religiösen Strömungen beeinflusst zur philosophischen Erlösungslehre ausgearbeitet wird. Hinter dieser Bewegung und Schule, in der sich religiöse Sinnsuche, Geheimlehre und philosophische Traditionen der Antike konzentrieren, steht der Lehrer Plotins: Ammonios Sakkas (ca. 175-241/2) in Alexendria. 6 Sein Philosophieren war dem mündlichen, inspirierenden Vortrag verpflichtet, und sein asketisches Leben bezeugte die beispielhafte Willensstärke und Dominanz der göttlichen Seele gegenüber der Körperlichkeit. Was damit als Einheit von Leben und Lehre imponiert, ist wie eine religiöse Sokratik zu verstehen, die allerdings in der Aura des Lehrers deutlich auf Erlösung zielt und insofern kein methodisches und im Gespräch offen gehaltenes Suchprogramm mehr bleiben darf. Für Plotins Interpretation des platonischen Erbes ist das folgende Profil wirksam 7 : Zwischen Sinnlichem und Geistigem wird strikt getrennt, aber so, dass die menschliche Seele mit ihrer Denkfähigkeit an dem Einen-Geistigen Anteil hat, von dem sich die Gesamtwirklichkeit in Abstufungen herleitet. Das Höchste bzw. alles andere Begründende hat damit einen ur-produktiven, zugleich aber auch radikal transzendenten Charakter. Es ist direkt gar nicht beschreibbar, steht jenseits der menschlich (geistig) fassbaren Ideen - und damit ist die religionsphilosophisch entscheidende Frage erreicht, ob und wie Gott mit dem transzendenten Einen identifiziert werden kann. Wenn Gott als Geist gedacht in einer sich selbst denkenden Relation zu sich stünde, 5
6
7
Vgl. die Art. Neoplatomsm u. Platonum, in: OCP (1995), 612ff., 686ff.; K. Held (1990), Kap. XVIII.; G. Siegmann: Plotin, in: TRE 26 (1996), 712-717; J. Halfwassen (2004); zur Forschungsdiskussion um „Piatonismus und Christentum" vgl. A.M. Ritter (1984). Leben und Bedeutung des Ammonios lassen sich vor allem über den Bericht des Porphyrius, Plotins Schüler, rekonstruieren, vgl. H. Dörrie: Ammonios Sakkas, in: TRE 2 (1978), 463-471. Vgl. F.-P. Hager (1985); W. Beierwaltes (1998), 172ff.
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dann wäre damit bereits eine bestimmte (erste) Formierung des eigentlich gänzlich indifferenten Einen vollzogen, nicht aber dieses selbst zum Ausdruck gekommen - eben weil sein Zum-Ausdruck-Kommen schon nicht mehr es selbst (im ursprünglichen und strikten Sinne von Eines) sein kann. Es ist dieser Doppelaspekt des Guten, der bereits das Sonnengleichnis am Ende auszeichnete: Dass die im Vergleich zur Sonne fungierende Idee des Guten dann auch noch über alles andere „hinausragend" - und dieses nicht nur in seinem „Erkanntwerden", sondern auch in seinem „Sein und Wesen" erst ermöglichend - und also als das jenseitige Gut-Sein gedacht werden soll. Das επεκεινα τη$ ουσίας [noch über das Sein hinaus] in Piatons Sonnengleichnis könnte dann als die bewusst eingesetzte Grenze verstanden werden, die Plotin versucht auf den Begriff des Unbegrifflichen zu bringen8: Die Idee des Guten, die sich denken ließe, wäre nicht das Gute selbst, von dem her - weil kein Bestimmbares, sondern „jenseits des Seienden" [επεκεινα οντος] - überhaupt erst alles andere herkommend gedacht wird. So kann Plotin sogar sagen, dass „Schönheit" und „geistiger Kosmos" zugleich eine Vorstellung „auch von dessen Vater, dem jenseits des Geistes Gelegenen" vermitteln können.9 Wie dies sagbar, in welchen Bildern - die bloße Abbilder sein müssen - vorstellbar sein kann, das setzt Plotin im Gleichnis der Schönheit in Szene, noch bevor von dem eigentlich und gänzlich Einen-Guten die Rede ist, das genau genommen nicht sagbar als das „Ubergute" [υπεραγαθον] zur Sprache kommen muss.10 Was wahrhaft schön ist, ist immer Gleichnis des Höchsten, dessen, was ungemischt mit materiellen Veränderlichkeiten Eines ist - und doch in jenen Erfahrungsdingen, ihnen in ihrer Form am Schönen Anteil gebend, wirksam wird11: „Dieses also sieht Zeus, und wer von uns etwa von der gleichen Liebe getrieben wird, und sieht zuletzt die über allen anderen verharrende Schönheit als Ganzes, indem er Teil erhält an jener oberen Schönheit. Denn diese glänzt hell in allem und erfüllt die dorthin Gelangten, dass auch sie schön werden; so wie oft Menschen, die auf hohe Berge steigen, wo die Erde eine braune Färbung hat, ganz von diesem
8
9 10 11
Zu Politela 509b s. § 4.2 (3); vgl. Plotin V 5, 6,10f. (Bd. IILa, 84/85); zur PlotinInterpretation: W. Beierwaltes (1998), 175; zum Anschluss Plotins an das Sonnengleichnis: K.F. Johansen (1964), 126; W. Janke (2006), 417f. Plotin V 8, l,3f. (Bd. IILa, 34/35). Plotin VI 9, 6,41f. (Bd. La, 190/191). Das folgende Zitat stammt aus Enneaden V 8, 10,10-43 (Bd. IILa, 60/61), dem Text Uber die geistige Schönheit (die Zeilenzahlen hier im Nachweis beziehen sich auf die griech. Textausgabe).
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Braun gefärbt sind, weil sie gleich dem Boden werden, auf den sie treten; nur dass in jener Welt die Farbe, die an der Oberfläche erblüht, die Schönheit ist, oder richtiger, es ist ganz Farbe und aus der Tiefe her Schönheit, denn das Schöne ist ja nicht von ihm verschieden, dass es auf ihm erst erblühen müsste. Indessen denen, die nicht das Ganze sehen, kommt nur der äußere Eindruck in Besitz, die andern aber, die gleichsam durch und durch sich angefüllt haben mit diesem Nektar und von ihm trunken sind, da die Schönheit ihre ganze Seele durchdrungen hat, sie sind nicht mehr bloß Schauende: denn da gibt es nicht mehr hier das Objekt draußen [το μεν εξω], und dort das es von außen sehende Subjekt [το δ'αυτο Θεωμενον εξω], sondern der scharf Blickende hat das, was er sieht, in sich selber, nur, indem er es hat, weiß er meist nicht, dass er es hat, und schaut es daher, als wäre es draußen, weil er es als ein Sichtbares schaut und weil er eben schauen möchte; alles aber, was man als Schaubares sieht, sieht man draußen. Man muss es aber in sich selbst hineinversetzen, es erblicken als Einheit und es erblicken als das eigne Selbst, so wie ein vom Gott Gepackter, ein von Phoibos Ergriffener oder von einer Muse, in sich selber wohl die Schau des Gottes bewirkte, wenn er denn die Kraft hat, Gott in sich selbst zu erblicken."
(1) Die Ästhetik des Schönen wird als spezifisches Wahrnehmungsverhältnis vorgestellt, allerdings bereits auf der Ebene der geistigen und göttlichen Wahrnehmung, für die die sinnlichen Dinge gleichnishaft zurückbleiben. Die „Schönheit als Ganzes" [ολον το κάλλος] ist indirekt zugänglich über Partizipation („Teil [...] an jener oberen Schönheit"), und das setzt einen göttlichen Augenblick voraus: Solche Leidenschaft, „Liebe" und Trunkenheit („von ihm trunken sind"), wie sie für religiöse oder ästhetische Ekstase („ein vom Gott gepackter") die Bedingung sind. Aus Phoibos, dem Kultnamen Apolls, des Sonnengottes: der Leuchtende, wird das Adjektiv „phoiboleptos" für den Zustand der Ergriffenheit.12 Im Bild gesagt: Wie Menschen auf Bergen der dort herrschenden Färbung gleich werden („gleich dem Boden werden, auf den sie treten"), so wird schön, wer in den Bereich der Schönheit eintritt. (2) Die Schönheit aber ist, genau genommen, nicht etwas erst äußerlich (wie Farbe) Hinzukommendes, sondern wie die göttliche Ganzheit eine Einheit („ganz Farbe und aus der Tiefe her"): Dann ist die InnenAußen-Differenz aufgehoben und damit die Beobachterdistanz („nicht mehr bloß Schauende"). Die übliche, darüber unaufgeklärte Wahrnehmung, weiß dies nicht und meint deshalb, „draußen" etwas zu sehen, was doch eigentlich in der sehenden Instanz selbst ist („was er sieht, in sich selber"). Diese ästhetische Einheit jenseits von erkenntnistheoretisch orientierten Unterscheidungen macht eben die Teilhabe am Einen aus, das als solches, wird es zu bestimmen versucht, immer nur in die12
Vgl. die engl. Übers, in: Plotinus (1954), 431.
§ 5: Christliche Philosophie I: Augustin und der (Neu-)Platonismus
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sen teilnehmenden Prozessen des von ihm Herkommens oder auf es Hinführens beschreibbar wird: „Das Eine ist das Uber-hinaus selbst", und die Schönheit, sofern sie als geistige daran zu messen ist, seine „anziehende Ausstrahlung".13 Der Ort des Ereignisses der Schönheit ist nicht gegenständlich zu fassen, sondern dort, wo es zur Einheit von Betrachtung und Betrachtetem kommt: im Selbst eines Menschen - der dann, in anderer Perspektive, eben nicht mehr er selbst sein kann („ein vom Gott Gepackter"). Das ist der göttliche Augenblick der Leidenschaft, in die zu gelangen die neuplatonische Lehre helfen will. Ihre aufklärende und einladende Tätigkeit entspricht dem, was von jedem Menschen erwartet wird, der „die Kraft hat, Gott in sich selbst zu erblicken."
1.2. Das Gute (Boethius) Der gefangene und die Hinrichtung erwartende Boethius (ca. 480-524) stellt die großen philosophischen Sinnfragen nicht nur in theoretischer, neuplatonischer Aneignung der überlieferten Lehren, sondern in eigener Not. Das Gespräch mit der therapeutisch und belehrend auftretenden Frau Philosophie ist ein tröstender und noch einmal ein sokratischer Dialog: Gesucht wird Glückseligkeit (beatitudo), die „nicht angstund trauererfüllt" ist, ohne „Schmerz und Trübsal".14 Den direkten Zugriff auf die Lehre des Einen und Guten sichert sich Boethius dadurch, dass er in seiner Universalienlehrels die unterschiedlich möglichen Antworten der (vor allem platonischen und aristotelischen) Vorgänger in ein Konzept integriert: Die Welt der Sinnlichkeit ist von der des Geistigen entsprechend der neuplatonischen Bewertung und Hierarchie zu unterscheiden, aber die Begriffe (die allgemeinen Formen) sind zugänglich an den Dingen, sofern diese alle teilhaben am natürlich und vernünftig geordneten Auftreten jener. Weder sind nur Einzeldinge, noch nur ideale Formen real, sondern letztere an ihrem wirklichen Vorkommen. Diese Wirklichkeit aber ist eine Bewegung zum Guten;
13
14
15
G. Siegmann, aaO. (s. Anm. 5), 714,43 u. 715,50f. - Zur Lichtmetaphorik der neuplatonischen Philosophie vgl. W. Beierwaltes: Licht, in: H O T 5 (1980), 282-286. Boethius' Trost der Philosophie (1990) wird zitiert nach den fünf Büchern (röm. Zahl) und den einzelnen Liedern (c.) bzw. Prosastücken (p.) mit anschließenden Zeilenziffern entsprechend dem lat. Text; hier: III, 2.p.,69f. - Zu Leben und Werk vgl. L. Pozzi: Boethius, in: TRE 7 (1981), 18-28; J. Gruber (1978). Vgl. die Darstellung von K. Flasch (1988), 48-55.
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I. Biblische, antike und scholastische Tradition
und mit dieser Verknüpfung des aristotelischen Bewegungsbegriffs und des platonischen Ideenbegriffs des Guten ergibt sich der im III. Buch durchgeführte Gottesbeweis: Die Einheit des Guten, der Glückseligkeit und Gottes folgt daraus, dass die Dinge sich nicht von allein und aus ihrer Vielfalt heraus aufbauen können (das entspräche erst einem nachneuzeitlich-evolutionistischen Bild des Weltprozesses), sondern dass sie teilhabend an Vollkommenheit (perfectum) von dieser her gesehen als weniger vollkommene zugeordnet werden müssen; d.h. Vollkommenheit selbst muss immer vorausliegend gedacht werden (III, 10.p.,l-43) und kann selbst nicht vielfältig sein. Der Vorrang der Vollkommenheit gebührt dem Guten und damit selbstverständlich und zugleich der Glückseligkeit und Gott. Dieser lässt sich damit sogar formal bestimmen, ganz wie es später Anselms Proslogion übernehmen wird, als „id, quo melius nihil est" (III, 10.p.,26). Diese Logik ist zwingend und gilt zugleich für Gott, die Glückseligkeit und das Gute, und diese Einheit ist immer gegenüber dem Vielen und an ihm selbst zu profilieren: [1] „Haben wir nicht, sprach sie [sc. die Philosophie] gezeigt, dass das, was die meisten erstreben, deshalb nicht wahre und vollkommene Güter sind, weil diese Dinge wechselweise von einander unterschieden sind, und dass sie ein volles und vollkommenes Gutes nicht herbeizuschaffen vermögen, da immer dem einen fehlt, was das andere besitzt? Dass aber das wahre Gute dann entstehe, wenn sie sich gewissermaßen zu einer einzigen F o r m und Wirksamkeit sammeln, so dass, wo Genügen ist, auch zugleich Macht, Ehre, Glanz und Freude ist, und dass alle diese Dinge nur dann unter das Erstrebenswerte gezählt werden dürfen, wenn alles eins und dasselbe ist? [···] [2] Was also, solange es verschieden ist, keineswegs gut ist, sobald es aber eins zu werden beginnt, gut wird, wird das dann nicht gut durch das Erlangen der Einheit? [...] Gibst du nun aber zu, dass alles, was gut ist, durch Teilhaben am Guten gut ist, oder nicht? [...] So musst du auch gleicherweise zugeben, dass das Eine und das Gute dasselbe sei. Die Substanz nämlich ist dieselbe bei Dingen, deren Wirkung von Natur nicht verschieden ist. [...] Weißt du nun, dass alles, was ist, solange bleibt und besteht, als es eines ist, dagegen sofort untergeht und sich auflöst, sobald es aufhört eines zu sein? [...] [3] Wie bei den Lebewesen, sagte sie; wenn Seele und Körper zu Einem zusammenkommen und darin verharren, so heißt dies ein Lebewesen. Wenn sich aber diese Einheit durch Trennung beider löst, so ist klar, dass das Lebewesen untergeht und nicht mehr besteht. Auch unser Körper selbst wird, solange er durch die Fügung der Glieder in Einer F o r m verharrt, als menschliche Erscheinung betrachtet. Aber wenn die Teile des Körpers getrennt und gesondert die Einheit zerrissen haben, hört er auf zu sein, was er war. W e r auf diese Weise auch das übrige durchgeht, dem wird sich ohne Zweifel ergeben, dass ein jegliches besteht, solange es eine Einheit ist, aber untergeht, wenn es dies zu sein aufhört" (III, l l . p . , 1 0 - 4 8 ) . [4] „Da nun alles des Guten wegen erstrebt wird, so begehren auch alle nicht so sehr jenes als vielmehr das Gute selbst. Aber dass es die Glückseligkeit [beatitudo] sei, um derentwillen alles andere gewünscht wird, haben wir zugestanden; deshalb wird auch
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so betrachtet allein die Glückseligkeit gesucht, woraus klar erhellt, dass die Substanz der Glückseligkeit und des Guten eine und dieselbe ist. [...] Dass aber Gott und die wahre Glückseligkeit ein und dasselbe sind, haben wir gezeigt. [...] Also dürfen wir unbesorgt schließen, dass auch die Substanz Gottes im Guten selbst und nicht sonstwo gelegen ist" (III, 10.p.,144-156).
(1) Der Textauszug summiert noch einmal, wie das Eine notwendig dem Vielen vorgeordnet sein muss. Denn was wechselnd auftritt kann niemals das wahrhaft Gute, das Eines sein muss, erreichen (1. Abs.). Das Gute ist dabei lebensdienlich vorgestellt, und so waren im III. Buch zuvor die fünf verschiedenen Zielgebungen („Genügen", „Macht", „Ehrwürdigkeit", „Glanz", „Freude"; vgl. z.B. zusammenfassend III, 9.p.,4-7) in ihrer Defizienz durchgenommen worden, um wiederum zu zeigen, wie sich einzelne Zielgebungen der Vielfalt und Widerlegung permanent ausgesetzt finden müssen. Deren höhere Einheit erst trägt das Lebensziel; das aber setzt für diese Einheitsbedeutung voraus, dass es eine Teilhabe an dem Guten als solchen geben muss (2. Abs.). Der aristotelische Substanzbegriff, dessen, was als ein Erstes aus sich selbst bestehen kann, stützt in gleicher Weise den lebensdienlichen Gedanken der Glückseligkeit (4. Abs.), die höchste Idee aller Realisierung: des Guten (2. Abs.; 4. Abs.) - und damit auch den theologischen Begriff aller Vollkommenheit: Gott. (2) Boethius' Theologie erscheint einerseits rein philosophisch begründet, er bestimmt ,,,Gott' vom höchsten Gut her, nicht umgekehrt" 16 wenn diese Zugangsdifferenz für Boethius selbst überhaupt aussagekräftig sein sollte. Denn andererseits geht seine Einheitsinterpretation so weit, dass in der Glückseligkeit, dem göttlich Einen, ein Austausch von Gott und Mensch stattfindet: „Omnis igitur beatus deus" („Jeder Glückselige also ist Gott"; III, lO.p., 93f.), und das gilt in Teilhabe („participatione") des glückseligen Menschen am Göttlichen, im Akt der Einheit beider. Diese Konsequenz zeigt die soteriologische Seite der neuplatonischen Religionsphilosophie; dass sie dabei in antiker Tradition bleibt, bestätigt die ausgeführte Kosmologie, die dem Menschen das Teilhaben naturaliter vorzeigbar werden lässt (3. Abs.). Einheit ist sichtbar, wenn sie verstanden wird. (3) Worin aber unterscheidet sich diese divinatorische Kosmologie in soteriologischer Absicht von der des Hiobbuches (Hi 38)? Der die Welt lenkende Gott ist in Gestirnhimmel und Elementen, in all dem, was menschlichen Steuerungszugriffen vorgeordnet bleibt, für Hiob so 16
K. Flasch, aaO. 66.
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I. Biblische, antike und scholastische Tradition
gewaltig präsent wie für Boethius. Die zusätzliche Klärungsabsicht des neuplatonischen Philosophen, der als solcher ein römischer Christ war, liegt im kosmisch-seelischen Ineinander dessen, was als das Gute zugleich im Menschen und in Gott vorausgesetzt und als Eins gedacht werden muss. Die scholastische Theologie des Mittelalters hat hier einen ihrer ambivalenten Ausgangspunkte in der ungelösten Frage, wie neuplatonische Einheitslehre des summum bonum und christlicher (trinitarischer) Gottesglaube miteinander zusammenhängen oder voneinander zu trennen sind. Dass hierin schon für Boethius selbst ein Problem lag, zeigt die Tatsache, dass sein (philosophischer) Trost im Leben und Sterben ganz ohne christliche Elemente auskommt. Die scholastische Tradition hat dies anders gesehen, Boethius gilt ihr als Märtyrer, der folglich auch in Dantes Paradies seinen Platz unter den großen Lehrern der Kirche findet. 17 Erst die kritische Forschung hat die Differenzen zwischen dem kirchlichen Erlösungsglauben im Geiste des späten Augustin und dem neuplatonischen Trost der göttlichen Seele wieder ins Bewusstsein gehoben. Die Schöpfungsvorstellung war zwischen den beiden Traditionen schneller vermittelbar als die biblische Signatur des Gottesverhältnisses im Glauben an den trinitarischen Gott. Schon die Konfliktlage Hiobs ist anders: Die kosmologische Deklaration des Schöpfergottes folgt zwar auf die Klagen Hiobs und beantwortet sie insofern allein schon durch den Perspektivenwechsel. Doch damit sind die Klageinhalte nicht integrativ und sinngebend in einem höheren Prinzip aufgehoben. Die Kosmosverlässlichkeit kann nicht in weltabsagende Tugend oder seelische Schönheit göttlicher Qualität verwandelt werden; hier bleibt eine Bruchstelle. Die neuplatonische Synthese allerdings kennt einen Weg zur Vermeidung des Bruches: im Einen, d.h. im erlösenden Gestus der philosophischen höchsten Einsicht kommen die Klage-Differenzen zur Aufhebung. Mit den hymnischen Worten des Boethius, dem neunten carmen des III. Buches 18 :
17
Dante Alighieri, Paradiso X , 124-129 ("Cieldoros Schrein" bezieht sich auf Boethius' Grabstätte, seit dem 8. Jh. in Pavia, San Pietro Ciel d'Oro). - Eine analoge Nähe und Distanz des Boethius zum Christentum lässt sich unter dem Aspekt der antiken/christlichen Vorsehungslehre nachweisen, vgl. R. Leonhardt (2007), 225-230.
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III, 9.C., aaO. S. 128f./129f.
§ 5: Christliche Philosophie I: Augustin und der (Neu-)Platonismus O qui perpetua mundum ratione gubernas, Terrarum caelique sator, qui tempus ab aevo Ire iubes stabilisque manens das cuncta moveri, Quem non externae pepulerunt fingere causae Materiae fluitantis opus, verum insita summi Forma boni, livore carens tu cuncta superno Ducis ab exemplo; pulchrum pulcherrimus ipse Mundum mente gerens similique in imagine formans Perfectasque iubens perfectum absolvere partes. Tu numeris elementa ligas, ut frigora flammis Arida conveniant liquidis, ne purior ignis Evolet aut mersas deducant pondera terras. Tu triplicis mediam naturae concta moventem Connectens animam per consona membra resolvis. Quae cum secta duos motum glomeravit in orbes, In semet reditura meat mentemque profundam Circuit et simili convertit imagine caelum. Tu causis animas paribus vitasque minores Provehis et levibus sublimes curribus aptans In caelum terramque seris, quas lege benigna Ad te conversas reduci facis igne revertí. Da, pater, augustam menti conscendere sedem, Da fontem lustrare boni, da luce reperta
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Der du lenkest die Welt nach dauernden, festen Gesetzen, Schöpfer des Himmels, der Erden, der du von Ewigkeit ausgehen Heißest die Zeit, selbst nimmer bewegt, bewegend das Weltall! Keine äußere Macht trieb dich, aus wogenden Massen Deine Schöpfung zu formen, in dir nur trägst du des höchsten Guten Gestalt, bist frei von Missgunst. Das All vom Urbild Leitest du her; die herrliche, Herrlichster selber, Trägst du im Geiste, die Welt, und formst sie zu ähnlichem Bilde, In der vollendeten schafft dein Befehl vollkommene Teile. Bindest mit Zahlen die Elemente, dass Hitze und Kälte, Regen und Dürre ihr Maß einhalten; die reinere Flamme Nicht emporflieh, die Last nicht abwärts ziehe die Erde. Aus der Mitte der Drei-Natur entlässt du die Seele, Die das Weltall bewegt, hüllst sie in harmonische Glieder. Wenn sie getrennt, ballt sie das Bewegte in zweifache Kreise, Kehrt sie wieder in sich zurück, umschreitet des Geistes Tiefen sie und verwandelt nach ähnlichem Bilde den Himmel. Auch die geringeren Wesen und Seelen aus gleichem Grunde Führest hervor du; und die in der Höhe fügend an leichte Gefährte, Teilst du sie aus in Himmel und Erde; nach gütgem Gesetz Rufst sie wieder dir zugewandt mit rückführendem Feuer. Vater, verleih meinem Geist, den himmlischen Sitz zu ersteigen, Gib ihm zu schauen die Quelle des Guten, gib du ihm wieder
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I. Biblische, antike und scholastische Tradition
In te conspicuos animi defigere visus.
Licht des Geistes, dass er auf dich nur
Dissice terrenae nebulas et pondera
richte die Augen. Scheuche die irdischen Nebel, zerstöre
molis Atque tuo splendore mica; tu namque serenum, T u requies tranquilla piis, te cernere finis, Principium, vector, dux, semita, terminus idem.
die wuchtenden Lasten. Leuchte du auf mit deinem Glanz; denn du bist die Helle, D u besel'gende Ruh den F r o m m e n , dich schauen ist Ende, Ursprung, Führer, Erhalter und Weg und Ende du selber.
Das christlich-religiös ganz nahe erscheinende Gebet ist doch ein neuplatonisch-religiöser Hymnus: Die gelehrte Kommentierung19 belegt die klassische Versform der Hexameter, die Dreiteilung (vv. 1-5, w . 6 21, w . 22-28) und die durchgängige Zitierung und anklingende Präsenz antiker Literatur, immer wieder zurückgehend auf Piatons Dialog 7zmaios. Das Lied ist insofern auch ein Lehrstück, eine literarische Collage aus religionsphilosophischen Elementen spätantiker Bildung. Die Anrufung von Gott als Vater oder Schöpfer, die Unterscheidung von Ewigkeit und Dauer der Welt, die Zahlen und die Elemente - all dies hat sein Vorbild im Timaios20; die Unbeweglichkeit des alles Bewegenden (v. 3) in Aristoteles' Metaphysik; die Drei-Natur (v. 13) geht wiederum auf den Timaios zurück: Die Seele wird erschaffen als Drittes aus dem unteilbaren Sein und körperlich Werdenden.21 Zumal der letzte Teil des Hymnus aber repräsentiert die neuplatonische Religiosität der Rückkehr der Seele zu Gott, gehalten in der Metaphorik des Lichts und der wiedergewonnen Einheit von Anfang und Ende im Guten (w. 22-28). Das alles scheint hier, so zeigt die historischkritische Interpretation, „ohne Christentum möglich"22; aber es ist dem Christentum, dem biblischen Schöpfungsgedanken wie der Trinitätslehre, so nahe und so fern wie der Christ Boethius der christlichen Philosophie.
19
J . Gruber (1978), 277ff.
20
Vgl. hier z.B. Timaios (37d-38b), in: Piaton, Werke Bd. 7, 5 2 - 5 7 .
21
Timaios (34a-35c); vgl. J . Gruber, aaO. 282f.
22
W . Theiler (1964), 360; mit etwas anderem Akzent spricht W . Beierwaltes (1985), 321ff., von der „Schwebe zwischen Christentum und Piatonismus".
§ 5: Christliche Philosophie I: Augustin und der (Neu-)Platonismus
107
1.3. Das Wahre (Augustin) Als Augustin De vera religione schreibt (ca. 390), war er seit drei Jahren getauft, hatte sich losgesagt vom Manichäismus und inzwischen Plotin gelesen.23 Dass das kirchliche Christentum die wahre Religion sei, wird seither für Augustin zu einer argumentativen wie autoritativen Selbstverständlichkeit. Er kann und will nachweisen, was allgemein gültig geglaubt werden muss. Damit sind in der europäischen Geistesgeschichte die für die folgenden Jahrhunderte wirksamen religionsphilosophischen Synthesen auf den Weg gebracht und jedenfalls ihrem Anspruch nach formuliert: Die biblischen, antiken, hellenistischen Denktraditionen des Gottesverhältnisses werden in theoretischphilosophischer und praktisch-religiöser Anstrengung gebündelt unter dem Namen der wahren Religion. Denn in der Konkurrenz der umlaufenden Philosophien und Religionen, welche von ihnen die überzeugendste Lebensorientierung und Erlösungskraft besäße, und im Werben um politisch-öffentliche Anerkennung für das jeweilige Lehrsystem wird nur das höchste Anspruchsniveau durchsetzungsfähig und aussichtsreich sein. Die wahre Religion muss so universal gelten und auf Einheit zielen bzw. von dieser herkommen, wie es die biblische Tradition des einen Gottes fordert und wie es dem (neuplatonischen Denken der ersten, idealen geistigen Wirklichkeit gemäß ist. Damit synthetisiert Augustin nicht etwa verschiedene religiöse Strömungen, sondern eine bestimmte (biblische) Theologie mit bestimmter (neuplatonischer) Philosophie. Religionsphilosophie ist hier keine philosophische Disziplin im Bezug auf Religion, sondern sie entsteht aus Philosophie und Theologie in einer Zeit, als diese Disziplinen noch gar nicht abgegrenzt vorliegen. Weil es in verschiedener Weise wirksame Religionen und Philosophien gab - und Augustin selbst hat sich in eigener Orientierungssuche diesem Experiment ausgesetzt - , wird deren Einheit (religionsphilosophisch) aus dazu geeigneter Philosophie und Theologie gebildet: Christliche Philosophie wäre dann epochenbezeichnend die richtige Charakterisierung.24 Weil die beteiligten anderen Religionen konsequent in der Perspektive ihrer religionskritischen Abwertung erscheinen, verlangt Augustins philosophisch ausgebildeter und biblisch geübter Religionsbegriff zwingend auch eine theoretische Begründung. Diesen Ansprüchen will sein Werk intellek-
23
Vgl. K. Flasch (1980), Teil I; J . Kreuzer (2005), Kap. 2; zu Voraussetzungen und Wirkungen der religiösen Lehre des Manichäismus
vgl. A. Böhlig, in: T R E 22
(1992), 2 5 - 4 5 ; G. Wurst, in: V . H . Drecoll (2007), 8 5 - 9 2 . 24
S. § 2.2 (lc).
108
I. Biblische, antike und scholastische Tradition
tuell genügen, und dadurch entsteht ein unvergleichlicher, neuer und (rückblickend gesprochen) religionsphilosophischer Maßstab. So vieldeutig und schwer abgrenzbar der Religionsbegriff in dieser Zeit auch benutzt wurde, Augustin selbst zögert nicht ihn einzusetzen: Er steht für die religionsphilosophisch begründete Wahrheit des Christentums im römischen Staat, im gesamten hellenistischen Mittelmeerraum und seiner kulturellen Umbruchszeit.25 Religion bedeutet allgemein die Pflege des Gottesverhältnisses, und dies schließt die persönliche Frömmigkeit (pietas) ebenso ein wie den öffentlichen Kult. Wahre Religion ist demgegenüber der religionsphilosophisch begründete Vorzug des - über die Vielheit faktischer wie denkbarer Abweichungen dominierenden - Christentums, das in einer Serie von Negationen von anderen Religionen abzuheben ist: Die wahre oder unsere Religion ist nicht mehr orientiert an „Phantasiebildern", „menschlichen Kunstwerken", „verstorbenen Menschen", am „Kult der Dämonen", an „Erde und Gewässern" etc., sondern ihr Kriterium ist das „vernünftige" und „vollkommene" Leben, das der „unwandelbaren Wahrheit" gehorcht, „die innerlich geräuschlos zu ihm spricht".26 Die neuplatonisch gelernte Einheit des Allerhöchsten ist die in allem wirksame Wahrheit des einen biblischen Gottes (LV.113; XXV.46f.), weil Einheit, Gott und Wahrheit zusammenfallen; und weil hierin die Hierarchie des Höchsten über das Niedere triumphiert, muss diejenige Religion die wahre sein, die genau in dieser Synthese von philosophischer Begründung (Einheit) und theologischer Einsicht (höchster Gott als „unwandelbares Wesen") besteht (XXXI.57f.). Dass diese Wahrheit erkannt werden kann, hat wiederum zur Voraussetzung, dass zwischen der sichtbaren und der unsichtbaren Welt konstruktiv, d.h. zugunsten der höheren Einsicht im Sinne des Unsichtbaren, zu unterscheiden ist: Menschen haben „inwendige Augen" und können „Unsichtbares sehen" (XXXII.59: intrinsecus oculatum et invisibiliter videntem). Augustins Pathos der wahren Religion stammt in dieser Zeit aus der Uberwindung der dualistischen Heilslehre des Manichäismus, der aus dem kosmologischen und (der Intention nach) die Seelenlage erklärenden wie rettenden Gegensatz von Licht und Finsternis ein Doppelprinzip etablierte, das zwar für moralischen Rigorismus taugte, aber 25
De vera religione LV. 107-113; vgl. explizit zum Religionsbegriff (von „religare": binden; bzw. „religere": wiederlesen) in L V . l l l und Retractationes XII.9, abgedruckt in: Augustinus, De vera religione (1997), 199; vgl. auch E. Feil (1986), 68-75 (unter Hinweis auf De civitate Dei X . l ; vgl. Augustinus, Vom Gottesstaat, Bd. 1 [1991], 463ff.).
26
De vera religione LV.llO.
§ 5: Christliche Philosophie I: Augustin und der (Neu-)Platonismus
109
philosophisch im Dilemma eben dieses Gegensatzes hängen blieb. Augustin selbst referiert die Lehre des Manichäismus genau im Blick auf diesen unauflöslichen Kampf der „zwei Naturen oder Wesen" bzw. der „zwei Seelen [...] in einem Leibe"27, und seine religionsphilosophische Antwort besteht darin, den Mythos vom Prinzipiengegensatz zwischen Licht und Finsternis zu entmächtigen. Das geschieht durch den Nachweis, dass im Modell des Gegensatzes zwar die Konfliktgestalten unserer Erfahrungswelt eindrucksvoll abgebildet werden können, gerade nicht aber der gesuchte - einheitliche - Ursprung, hinter den zurück nicht mehr gefragt werden müsste. Nichts und Tod sind keine Eigenmächte, sondern nur als Abweichungsformen von Schönheit, Einheit und Harmonie her zu erklären (XI.21), wie Plotin es entworfen hatte und wie Boethius es noch hundert Jahre nach Augustin wiederholen wird. Die Souveränität des Einen Gottes hängt einfach daran, dass es zu ihm kein Gegenprinzip geben kann und darf, von dem er, sich abgrenzend, abhängig wäre: „Das höchste Sein [summa essentia] hat ja alles ins Sein gerufen, was ist, darum heißt es auch das Sein" (XI.22); insofern ist es zugleich das Gute (vgl. XVIII.35), und die Faktizität des Bösen erklärt sich dann notwendig aus den abweichenden Aktivitäten des Willens (XX.38).28 Gerade mit dieser letzten Wendung wird klar, dass Augustins (neuplatonische) Religionsphilosophie eine äußerst kreative Phase seines Gesamtwerkes einleitet, in der sich aus Gründen der entworfenen Synthese wahrer Religion neue Konsequenzen einstellen. Das Kapitel über Schönheit, Wahrheit, Zweifel und Gewissheit (XXXIX.72f.) belegt diese Innovation29: [1] „Nichts gibt es, was nicht die Seele an ihre verlorene ursprüngliche Schönheit [prima pulchritudo] erinnern könnte. [...] Frag nur, was an leiblichem Genuss dich fesselt. Du wirst nichts anderes finden als Ubereinstimmung [convenientia]. Denn wenn Unstimmigkeit schmerzt, erzeugt Ubereinstimmung Genuss. [2] So erforsche denn, welches die höchste Ubereinstimmung ist. Geh nicht nach draußen, kehr wieder ein bei dir selbst! Im inneren Menschen wohnt die Wahrheit [in interiore homine habitat Veritas]. Und wenn du deine Natur noch wandelbar findest, so schreite über dich selbst hinaus! [3] Doch bedenke, dass, wenn du über dich hinausschreitest, die vernünftige Seele es ist, die über dich hinausschreitet [ratiocinantem animam te transcendere]. Dorthin also trachte, von wo der Lichtstrahl kommt, der 27 28
29
AaO. IX. 16; zum manichäischen Mythos vgl. A. Böhlig, aaO. 3 Iff. Vgl. K. Held (1990), 285f.; zur Entdeckung des Willens bei Augustin auch V. Gerhardt (1999), 260f. (unter Berufung auf H. Arendt); zu Augustins Auffassung des Bösen als „privatio boni" im Kontext neuplatonischen Denkens vgl. F. Hermanni (2002), 31-44. Zur Auslegung von De vera religione XXXIX.72f. vgl. J. Kreuzer (2005), 21ff.
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I. Biblische, antike und scholastische Tradition
deine Vernunft erleuchtet. Denn wohin sonst gelangt, wer seine Vernunft recht gebraucht, wenn nicht zur Wahrheit? [...] [4] D e n n sie selbst sucht sich nicht, du aber bist suchend zu ihr gelangt, nicht einen R a u m durchmessend, sondern von Sehnsucht des Geistes [mens] getrieben. So möge denn der innere Mensch mit ihr, die bei ihm Wohnung genommen hat, nicht zu niederstem und fleischlichem, sondern zu höchstem und geistigem Genüsse übereinstimmen. [5] Aber wenn du nicht einsiehst, was ich sage, und zweifelst, ob es wahr sei, so sieh zu, ob du auch daran zweifelst, dass du es bezweifelst. U n d wenn es gewiss ist, dass du zweifelst [si certum est te esse dubitantem], so forsche, woher diese Gewissheit k o m m t . D a wird dir nicht, ganz gewiss nicht, das Licht dieser unserer Sonne begegnen, sondern ,das wahre Licht, das alle Menschen erleuchtet, die in diese Welt k o m m e n ' [vgl. J o h 1,9]. Das aber kann nicht mit unseren leiblichen Augen gesehen werden [...]. [6] So ergibt sich folgende Erkenntnisregel: Jeder der einsieht, dass er zweifelt, sieht etwas Wahres ein und ist dessen, was er einsieht, auch gewiss. Also ist er eines Wahren gewiss. Jeder also, der daran zweifelt, ob es eine Wahrheit gibt, hat in sich selbst etwas Wahres, woran er nicht zweifelt. D a nun alles Wahre nur durch die Wahrheit wahr ist, kann niemand an der Wahrheit zweifeln, der überhaupt zweifeln kann. W o man dies sieht, glänzt jenes Licht, das nichts von Raum- und Zeitgrößen, auch nichts von räumlich oder zeitlich gedachten Phantasiebildern weiß. [...] der Vernunftgebrauch bringt es nicht hervor, sondern findet es [ N o n enim ratiocinatio talia fecit, sed invenit]. Ehe es aber gefunden wird, beruht es in sich, und wenn es gefunden wird, erneuert es uns."
(1) Mit Plotin und gegen den manichäischen Dualismus gilt für Augustin jetzt die (neu-)platonische Idee des Schönen als HarmonieVoraussetzung, von der her überhaupt jede andere Wahrnehmung der Dinge motiviert und gehalten ist (1. Abs.). Da die eigentliche Schönheit zwar die äußeren Dinge zum Anlass nimmt, nicht aber als solche an ihnen sichtbar werden kann, ist der Weg nach innen vorgezeichnet, um dem Höchsten zu entsprechen (2. Abs.). Dieser Weg nach innen ist zugleich die Bewegung des Transzendierens (3. Abs.), und das wiederum so, dass diese Wahrheitsinstanz nicht eigenmächtig beansprucht werden kann, sondern so, dass sie sich kraft „vernünftiger Seele" im und mit dem Menschen vollzieht. Augustin entdeckt den Innenraum der menschlichen Seele als philosophischen Ort. (2) Im nächsten Schritt wird nun versucht, diese höchste Stelle von Schönheit, Einheit, Wahrheit und Vernunft tatsächlich als solche, d.h. als nicht mehr zu hintergehenden Ausgangspunkt geistiger Realisierung zu erfassen (sofern das überhaupt möglich ist): Denn die menschliche Suchbewegung (4. Abs.) kann immer nur von unten nach oben vorgestellt werden, während die höchste Stelle konsequent gerade von oben nach unten wirksam wird, als solche autark bleibt und nichts Anderes, auch sich selbst nicht „suchen" muss, weil sie prinzipiell schon bei sich
§ 5: Christliche Philosophie I: Augustin und der (Neu-)Platonismus
111
selbst ist. Diese Logik, Erkenntnis und Überzeugungskraft des einen Ursprungs kann nicht anders als im Anklang an das Sonnengleichnis30 ins Bild gesetzt zu werden. Der Mythos des Lichts erhält erkennbar entmythisierend-theoretische Funktion: das Licht der Vernunft (3. Abs.). Die übertragene Rede sichert sich durch die Unterscheidung von innen und außen, „fleischlich" und „geistig" (4. Abs.); und die Wendung nach innen ist unvermeidlich und voller Verheißung, weil die hier zur Debatte stehenden Bewegungen keine raumzeitlichen mehr sind. Allerdings lebt die Entdeckung des neuen Innenraumes auch von der Hierarchie der oberen Vernunft des Nicht-Sinnlichen gegenüber dem Leiblich-Gegenständlichen. Es gilt eine Ästhetik des „höchsten und geistigen Genusses" (4. Abs.), die insoweit den manichäischen Dualismus noch kultiviert, auch wenn die eine göttliche Wahrheit die Kräfte mythischer Desintegration unwiderruflich geschwächt hat. (3) Der Abschnitt wird darüber hinaus durch eine weitere Wendung bestimmt, die die eigentliche Neuerung gegenüber den synthetisierten Traditionen ausmacht: die Entdeckung der inneren Gewissheit! Lassen sich Dualismen auf Manichäismus, Einheit auf Piatonismus, der Eifer für die göttliche Wahrheit auf das Christentum zurückführen, so die skeptische Frage im Namen des Zweifels (5. Abs.) auf stoisches Gedankengut.31 Doch neu ist hier die Verbindung aller dieser Elemente am inneren Ort der philosophischen Wahrheit, der zugleich der Ort des religiösen Glaubens ist; und beides könnte ja bezweifelt werden! Das würde allerdings bedeuten, das innere Licht der Vernunft und Wahrheit zu bezweifeln, d.h. die Grundlage von allem in Frage zu stellen. Augustin sieht das Problem genau und kontert mit der Selbstanwendung des Zweifels auf sich selbst: In diesem besonderen Fall, wenn an der Wahrheit gezweifelt wird, kann die Zweifelsfrage auf zweiter Ebene auf sich selbst angewandt werden; und es ergibt sich, dass hier zu zweifeln Gewissheit - nämlich im inneren, selbstbewussten, existentiellen Akt des Zweifeins - voraussetzt. Dann ist die Lichtmetaphorik des Sonnengleichnisses auf der Gewissheitsebene wieder in Kraft gesetzt, biblisch bestätigt32 (5. Abs.) und in der Transzendenz der göttlichen inneren - Wahrheit zugleich entmythisiert: Einsicht ist Gewissheit (6. Abs.). 30
S. § 4.2.
31
Vgl. K. Flasch (1980), 23ff.
32
Das Zitat aus dem Prolog zum Johannesevangelium lautet 0 o h 1, 9, übers, nach dem griech. Text): „Das wahre Licht, das jeden Menschen erleuchtet, kam in die Welt."
112
I. Biblische, antike und scholastische Tradition
(4) Dass diese Wahrheit der Gewissheit dieselbe ist wie die, die mit Einheit, Schönheit, Vernunft und Gott bisher argumentativ vertreten wurde, setzt Augustin jetzt ebenso voraus wie die Ubereinstimmung mit der Bibel. Letztlich kann, dass hat der Gedankengang über Zweifel und Gewissheit nachgewiesen, an dieser Wahrheit, von der Menschen in allem, was sie sind und tun, abhängig bleiben, nicht gezweifelt werden. Augustins christliche Philosophie, die Neuentdeckung des Willens und der Gewissheit im Innenraum der Seele, bleiben der religionsphilosophischen Struktur des Sonnengleichnisses verpflichtet: Wo Wahres und Wahrheit erkannt werden, „glänzt jenes Licht" (6. Abs.); und weil dies wiederum auf der Basis des hierarchischen Gegensatzes von unwandelbarer Geistigkeit und wandelbarer Sinnlichkeit gedacht wird, folgt: Die göttliche Vernunft ist prinzipiell vorausliegend aufzufassen, so wie die Gewissheit nicht hinterfragt werden kann. Gottes Wahrheit ist die schöpferische Kraft, die „erneuert", wo sie wirkt. Den bloßen „Phantasiebildern" der anderen Religionen und Philosophien, die diese Denkbewegung der inneren und das raumzeitlich Außere transzendierenden Wahrheit als Gewissheit nicht gemacht haben, fehlt die entscheidende Einsicht - die umgekehrt allein die wahre Religion auszeichnet.
2.
Confessiones
Zur Theologie gehört die Bibelexegese. Als Christ überwindet Augustin die sonst philosophisch opportune Distanz gegenüber den nicht intellektuellen, bloß erzählenden und bekenntnishaften Texten Alten und Neuen Testaments; und so wird schließlich seit dem Jahr 396 eine weitere gravierende Wende seiner Religionsphilosophie manifest, die nun entschieden über die „Endpunkte antiken Denkens hinaus" geht, „in philosophischer Hinsicht ein Skandalon"33: Die Souveränität des neuplatonisch-christlichen „inneren Menschen", wie er noch in De vera religione konzipiert war, wird an der alles entscheidenden Stelle seiner inneren, göttlichen Gewissheit noch einmal problematisch. Das Böse ist nicht nur die - einsichtig zu machende - Abweichung vom Guten, sondern es wird in innerer, gebrochener Leidenschaft gegen sich selbst und gegen Gott als regierende Sünde erfahren. Dann aber ist der lichtvolle und Gewissheit garantierende höchste Punkt göttlicher Vernunft
33
J. Kreuzer (2005), 8; vgl. zu dieser Periode K. Flasch (1980), Kap. 11 u. 14.
§ 5: Christliche Philosophie I: Augustin und der (Neu-)Platonismus
113
und Wahrheitseinsicht zum tiefsten Punkt der Gnade Gottes geworden, die die Verzweiflung des Begnadigten umgreift. Augustins späte theologische Schriften nach 396 denken aus diesem inneren Konflikt, dem allein die göttlich grundlose - und doch nur so Grund sichernde - Gnade korrespondieren kann, und es ist ganz konsequent die literarisch-biographische Form der Bekenntnisse, der Confessiones (396-398), in der sich die Wahrheitserschließung des höchsten Gottes als tiefster emotionaler Konflikt der Selbsterfahrung beschreiben lässt. Dass für Augustin selbst dieser Schritt zum wahrhaften Christen, Asketen und Priester, gerade auch in seiner nachträglich stilisierten Beispielhaftigkeit, immer mit der Distanzierung der eigenen Sexualität plausibilisiert wird, war zwar für 1000 Jahre des nachfolgenden monastisch-idealisierten Christentums von enormer Wirkung, ist aber für die nicht biographische, sondern religionsphilosophisch allgemeine Bedeutung dieser Entdeckung existentieller Gewissheit und Wahrheit keineswegs notwendig. Der selbstgewisse Vorrang des inneren Menschen, wie ihn Boethius noch einmal zu realisieren sucht, wird von Augustin schon hundert Jahre zuvor in der hellsichtigen Analyse der eigenen Krisenerfahrung aufgegeben. „Zerrissenheit und Leidenschaftlichkeit"34 zeichnen jetzt die menschliche Selbsterfahrung vor Gott aus. Der neuplatonisch-christlich zu bearbeitende Gottesgedanke erhält damit einen Zuschnitt, der die antiken Theorieansprüche mit noch einmal gesteigerter Intensität auf die neue Zeit und ihre Katastrophenerfahrungen zu beziehen verlangt. Die Spannungsdistanz zwischen dem Gott der mythisch-philosophisch konzipierten höchsten (transzendenten) Einheit und dem Rückgang in den tiefsten Grund des inneren Menschen kann nur überbrückt werden, wenn sich dazwischen eine existentielle Gewisswerdung gerade aufgrund dieser Doppelerfahrung stabilisieren lässt. Gewissheitsbildung muss den irdischen Konfliktlagen standhalten können, sie wirklich in sich verarbeitet haben. Gleich der Doppelbewegung Hiobs, den höchsten Gott in Vernichtung und Wiedergewinnung des eigenen Lebens zu erfahren, sieht Augustins Sündenund Gnadenlehre die Wahrheit des Höchsten wirksam in der leidenschaftlichen Selbstgegenwart des Niedrigsten. Damit wird der Gottesgedanke selbst dynamisch, und dies wiederum setzt Beziehungen in Gott selbst voraus, wie sie sich trinitarisch auch denken lassen.33 34 35
K. Flasch (1988), 74. Vgl. zur Doppelbewegung J. Kreuzer (2005), 49ff.; zu Hioh und der Wiederholung (Kierkegaard) s. § 4.1; die trinitarische Dynamisierung des Gottesgedankens im Unterschied zu Plotin zeigt im Anschluss an Confessiones VII W. Beierwaltes (1998), 185f.
114
I. Biblische, antike und scholastische Tradition
Augustine religionsphilosophische Kreativität hat auch in den späten Schriften sachliche Gründe, die Denkanstrengung wird keineswegs abgebrochen, sondern soteriologisch verstärkt. Der Trost der Philosophie, wie Boethius sagen wird, ist als göttliche Gnade im Verzweiflungskonflikt des Willens theologisch zu reflektieren: Der manichäische Dualismus hält nicht stand, weil er Gottes Einheit nicht gerecht werden kann; der neuplatonische Gotteszugang im inneren Menschen nicht, weil er die Krisenerfahrung in der Emotionalität des Willens nicht ernst genug nimmt. Erlösung kann sich weder einem Dual von Böse und Gut, noch dem schlichten Weg zum Einen verdanken, sondern sie muss als vorausliegendes Geschenk im Konflikt der Selbsterfahrung zum Leuchten kommen. Die „Wahrheit" der Platoniker erfährt eine Korrektur, die Augustin am Ende des VII. Buches der Confessiones treffend mit dem Widerspruch im Willen des Menschen formuliert - im Zitat von Rom 7, 22f.: Die „Freude des inneren Menschen" am „Gesetz Gottes" (v. 22) wird konfrontiert mit dem „Gesetz der Sünde", das „mit dem Gesetz meiner Vernunft im Streit liegt" (v. 23) ,36 Diesen offenbaren Widersinn im Selbst eines Menschen empfindet Augustin wie einen Maßstab für die Leistungsfähigkeit der Philosophie, noch einmal mit Boethius gesagt: für den Trost der Philosophie; und die Platoniker werden an diesem Maß gemessen und als zu leicht befunden. Ihre Texte zeigen nicht „vultum [das Gesicht] pietatis [...], lacrimas confessionis" ( C o n f e s s i o n e s VII, 21,27). Dies aber einzugestehen, so Augustin im Schlusssatz dieses Buches, bedeutet, die ganz und gar irdische und menschliche Erfahrung in Gottes „Werken", d.h. in der Schrift zu entdecken, besser: aufgedeckt zu finden: „Deine Werke hatte ich betrachtet, - und ich war erschrocken." 37 Es ist der Bericht über die eigene Bekehrung (im VIII. Buch der Confessiones), worin Augustin die verzweifelte, widersprüchliche Selbsterfahrung und deren gnädige Lösung nicht nur autobiographisch erzählt und biblisch-theologisch begründet, sondern auch religionsphilosophisch auf ihre neue Begrifflichkeit bringt. Diese Passagen sind hier ausgewählt 38 : [1] „Der neue Wille aber, der in mir aufkam, dass ich frei Dir dienen und an Dir mich beseligen wollte, Gott, Du einzig sichere Wonne, - er taugte noch zu wenig, um den alten zu besiegen, der in langer Gewohnheit fest geworden war. So kämpften zwei Willen miteinander, beide die meinigen, der eine alt, der andere neu, vom 36 37 38
Zur Auslegung von Rom 7 vgl. W. Anz (1979); H. Deuser (1979), bes. 420-428. Confessiones VII, 21,27; vgl. J. Kreuzer, aaO. 40. Augustinus (1980), 381-405 (in Auswahl); zur religionsphilosophischen Stellung der Confessiones vgl. auch F. Ricken (2003), Kap. L.
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115
Fleische der eine, vom Geiste der andre, und ihre Zwietracht zerriss mir die Seele. [...] Mein Ich war freilich in beiden, aber Ich war ich mehr in dem, was ich in mir billigte, als in dem, was ich in mir missbilligte" (VIII, 5, 10-11). [2] „Du aber, Herr, D u wandest mich während meines Redens zu mir selbst herum, D u holtest hinter meinem eigenen Rücken mich hervor, w o ich mich eingerichtet hatte, dieweil ich mich nicht anschauen wollte, und stelltest mich meinem Angesicht gegenüber, damit ich sähe, wie hässlich ich sei, wie verkrüppelt und schmutzig, voll Sudel und Geschwür. U n d ich sah es und schauderte, und es war nicht, wohin ich hätte vor mir fliehen k ö n n e n " (VIII, 7, 16). [3] „Woher dies Unfassliche? W a r u m ist das so? Lass Dein Erbarmen leuchten, und ich will fragen, ob mir nicht Antwort käme aus dem Abgrund menschlicher Pein und der Leidensnacht der Adamskinder. W o h e r dies Unfassliche? Warum ist das so? Befehl gibt der Geist dem Körper, und sogleich wird gehorcht; Befehl gibt der Geist sich selbst, und da ist Widerstand [...] Er befiehlt, wie gesagt, dass er wolle, und er würde nicht befehlen, wenn er nicht wollte, und er tut nicht, was er befiehlt. Aber er will nicht ganz und gar [ex toto], also befiehlt er nicht ganz und gar. [...] Denn wenn er ungeteilt voll wäre, brauchte er sich nicht erst herbeizubefehlen, er solle dasein, weil er schon da wäre. Also nicht Unfassliches ist es, teils zu wollen, teils nicht zu wollen, sondern eine Schwäche des inneren Menschen, weil er nicht ganz sich aufrichtet, zwar gehoben vom erkannten Wahren, aber mehr noch hinabgedrückt von der Last der Gewohnheit. U n d deshalb sind zwei Willen da, weil der eine von ihnen nicht ganzer Wille ist und das, was dem einen fehlt, der andere hat" (VIII, 9, 21). [4] „Deshalb hatte ich Streit mit mir und spaltete mich von mir. U n d zwar geschah mir diese Spaltung wider meinen Willen, aber sie zeigte nicht das Wesen eines fremden Geistes an, sondern die Strafe des eigenen. U n d also war nicht eben ich es, der den Zwiespalt wirkte, .sondern Sünde war's, die in mir wohnte' [ R o m 7, 17] zur Strafe für eine Sünde, die aus größerer Freiheit geschehen war, - denn ich war ein Sohn Adams" (VIII, 10, 22).
(1) Die Willenskollision ist der Ort, an dem über Wahrheit und Unwahrheit, Gewissheit und Ungewissheit entschieden wird, und dieser Ort ist in biblischer Metaphorik zugleich der des Kampfes zwischen Geist und Fleisch, Neu und Alt. Antimanichäisch ist diese Beschreibung insofern, als kein äußerlicher Dualismus des guten und bösen Prinzips den Menschen zerreißt, sondern dass - hier ausdrücklich betont (1. Abs.) - dasselbe „Ich" in sich selbst den Gegensatz erfährt. In diesem ist nun die neuplatonische Hierarchie von oberer Einheit und unterer Vielheit ebenso wirksam wie die paulinische Differenz des alten (fleischlichen) und des neuen (geistlichen) Menschen. Die Verhaltensgewohnheit der Willensschwäche trotz besserer Einsicht wird damit vom gängigen lebenskundigen Topos transponiert in die Tiefenstruktur des emotional blockierten Geistes - und damit unwiderruflich als religionsphilosophisches Thema entdeckt.
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I. Biblische, antike und scholastische Tradition
(2) Die Umstellung vom Alten zum Neuen ist kein Schritt bloßer Theorie, sondern einer der Praxis und des existentiellen Ernstes der jeweils eigenen Lebenssituation. In ihr liegt die Befreiung ebenso wie der ihr gegenüber geleistete Widerstand. Augustin fasst dies treffend in das Bild, hinter dem „eigenen Rücken" hervorgeholt werden zu müssen (2. Abs.) - dies schon, räumlich vorgestellt, ein Widerspruch in sich; und dieses Versteck war zudem selbst gewählt aus Angst vor dem eigenen Anblick, so als könnte ein Mensch sich vor sich selbst aus dem Blick treten! Im Schrecken der Ehrlichkeit vor sich selbst liegt eben die Wendung in den Grund dieses Problems und dieser Art von Sichtbarmachung. (3) Dass damit die Ablösung auch von der neuplatonischen Souveränität der göttlichen Seele erreicht ist, zeigt die rhetorisch wiederholte Rückfrage nach der Aufklärung dieses „unfasslichen" Tatbestandes menschlicher Selbsterfahrung: Der „innere Mensch" selbst ist „Schwäche" (3. Abs.: „aegritudo animi"). Und diese ist eben nicht dualistisch zu verteilen, sondern als effektvoll verschränkte Hierarchie vorzustellen: des (eigentlich untergeordneten) Bösen im blockierten Guten, der in Gewohnheiten verwirrten Einheit, der in Vielheiten unwirksam gewordenen Ganzheit des Willens. Dass der Widerspruch von „zwei Willen" überhaupt erscheint, lässt sich daraus erklären, dass der eigentlich eine und gute Wille - eben dieser eine nicht aus voller Kraft mehr sein kann (3. Abs.: „er will nicht ganz und gar"). Sein Gegensatz, an dem er sich durchsetzen müsste, erscheint dann als zweiter Wille. Diese Einheit aber lässt sich nicht einfach durch die höhere Einsicht des wahren Einen erreichen, sondern diese bindet sich offenbar selbst - als entdecktes Licht der Gnade - an die Situation des Erfahrungsgegensatzes. (4) Damit ist wiederum Rom 7 erreicht (4. Abs.) und präzise vom manichäischen Dualismus und der neuplatonischen Seelensouveränität abgehoben: Auch innerhalb der Seele, dem „inneren Menschen", sind Gut und Böse, Oben und Unten nicht wie symmetrische Polarisierungen zu denken, sondern die Willensaufspaltung, wie sie am Gegensatz erlebt wird, ist selbst nicht willentlich, sofern der Wille die eigentlich selbstbewusste, geistige Aktivität repräsentiert. Augustin lokalisiert hier die entscheidungspraktisch erlebte Krisendifferenz von „Ich und Mich"', die aber im gelingenden Handeln zur Aufhebung kommen muss.39 Also liegt das Fremde im Eigenen, und zwar so, dass eine Ver39
Vgl. zum insofern doppelten Personhegriff (im Anschluss und in Korrektur an Nietzsche) bzw. zur „Person als Institution" V. Gerhardt (1999), 338f.
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antwortlichkeit für etwas gefordert - und durch Strafe bestätigt - wird, wofür im hellen Licht der Vernunft und eines sich frei entscheidenden Geistes gar keine Verantwortlichkeit gesehen werden kann. Die Sünde Adams, das peccatum originale, bezeichnet jenes Paradox der Verantwortung für das, von dem Menschen sich wider Willen haben bestimmen lassen. Dieser erniedrigenden Erkenntnis, die nur im emotionalen Konflikt vollziehbar ist, korrespondiert die Befreiung. Augustins Bekehrung, nachdem die biblische Schlüsselstelle gelesen war, endet mit einem erinnernd-kommentierenden Satz des Autors der Confessiones. Jetzt stimmen die (neu-)platonische Lichtmetaphorik mit dem biblischen Bild vom neuen Bund und neuen Herzen zusammen, und die existentielle Erfahrungssituation liegt aufgedeckt vor dem geistigen Selbst des Menschen, seiner Vernunft wie der göttlichen Wahrheit: „Denn kaum war dieser Satz zu Ende, strömte mir Gewissheit als ein Licht ins kummervolle Herz, dass alle Nacht des Zweifeins hin und her verschwand [quasi luce securitatis infusa cordi meo omnes dubitationis tenebrae diffugerunt]."40 Der kritische Punkt in Augustins Religionsphilosophie liegt deshalb nicht pauschal in seiner Gnadenlehre.41 Denn gerade diese zeigt die subtile Fortbildung philosophischer Traditionen durch biblische Theologie, und diese Verbindung bestimmt Augustins überragende Wirkung für einen nicht wegzudenkenden Strang in der christlichen Philosophie des Abendlandes. Schwieriger ist der autoritäre Zuschnitt und Auftrag, den Augustin schon früh im Kampf gegen Heiden und Häresien der „ecclesia catholica per totum orbem diffusa atque fundata" gegeben hat.42 Dieses Vormachtbewusstsein ist sicher aus der historischen Krisen· und Kampfsituation erklärlich, aber sachlich im Namen der Gewissheitsbildung in existentieller Konflikterfahrung nicht zu begründen. Denn gerade diese macht alle Menschen voreinander gleich, auch dann, wenn sie sich irren und voneinander abweichen. Dass in Augustins Religionsphilosophie eine Überlegenheit zum Ausdruck kommt, die andere Positionen in sich enthält bzw. deren Fehler aufdecken kann, ist etwas anderes. An dieser Stelle ist die Uberwindung anderer
40 41
42
Confessiones VIII, 12,29; zur biblischen Tradition s. § 3.1.2. Das muss gegen K. Flaschs ceterum censeo in der immer wieder als antiphilosophisch markierten Gnadenlehre gesagt werden, vgl. (nur die Kurzfassung) in: K. Flasch (1988), 36ff.; zum begründeten Votum für einen anderen Umgang mit Augustin in diesem Punkt J. Kreuzer, aaO. 51f. De vera religione XXV, 47, 128; insofern mit K. Flasch (1999), 68: „er [sc. Augustin] urgierte den institutionellen und autoritären Charakter der Kirche".
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Schulen legitim und der Überzeugungsbildung und ihrer Durchsetzung in geschichtlichen Situationen zu überlassen. Vorbildlich bleibt, dass Augustin die religionsphilosophischen Entdeckungen und Begründungen nie aufgegeben hat. Auch die im engeren Sinne kirchlichen Schriften zeigen sein Insistieren auf dem Nachdenken dessen, was sich dem Glauben erschließt. Das gilt ganz besonders für die durchgängig von den frühen bis zu den späten theologischen Schriften elaborierte Zeichenlehre, und zu ihrer Anwendung gehört zuletzt die Lehre vom inneren Wort in De trinitate (399-419). 43 Die Außen-Innen-Differenz hat durch Augustin eine Verfeinerung erfahren, die jeden Dualismus von Glauben und Wissen - auch innerhalb der jeweiligen Konzeptionen von Glauben oder Wissen - als überholt und unhaltbar ausschalten sollte.
3. Dionysius Pseudo-Areopagita Wenn Thomas v. Aquin in den Kapiteln 37-41 des I. Buches der Summa contra gentiles (geschrieben in der Mitte des 13. Jh.) Gott als gut, das Gutsein selbst, das Gute alles Guten und das höchste Gute nachweist, so sind die dafür - neben biblischen Belegen - zitierten Autoritäten ganz selbstverständlich „der Philosoph" Aristoteles und die beiden Theologen Augustin und Dionysius Pseudo-Areopagita. Letzterer wird hier explizit gar nicht genannt, sondern als pseudonymer, allgemein bekannter Autor vorausgesetzt, u m zu zeigen, Gott sei „in Wahrheit gut". Denn dazu gehört nicht nur, dass er selbst gut ist, sondern dass er zugleich auch alles andere schöpferisch in seinem Gutsein bewirkt·. „Propter quod dicitur bonum esse diffusivum sui et esse" („Deswegen sagt man, das Gute verströme sich und das Sein" [I, 37]). Für die Scholastik, die „mittelalterliche Gestalt von ,Wissenschaft' schlechthin" 44, wird sowohl das methodische Denken antiker Tradition (ratio bzw. schulmäßig die Dialektik) wie die über Textsammlungen sichergestellte auctoritas der philosophischen wie theologischen Väter verbindlich. Für die überragende Stellung des Corpus Dionysiacum ist 43
Vgl. St. Meier-Oeser (1997), Kap. 2.1 (Augustin) u. 2.2 (Boethius); K. Flasch (1980), 174f. (zu Augustins Bildungsprogramm); H. Deuser (2004), Kap. II.5 (zu den Begriffen Relation und verbum mtimum. in De trinitate}·, und i m Art. Semiotik I, in: TRE 31 (2000), 11 Off.; zur genauen Rekonstruktion von Augustins Semiotik vgl. G. Linde (2009), Kap. II.4.
44
W . Kluxen, zit. nach U . G . Leinsle (1995), 7; vgl. auch Leinsle: Scholastik I, in: T R E 30 (1999), 361-366; M . Grabmann I (1961), 178ff.
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hier besonders typisch, dass seine griechischen, neuplatonischen, darin wesentlich auf Proklos (412-485) zurückgreifenden und ohne Zweifel um 500 verfassten Schriften unter der apostolischen Autorität von Act 17, 34 (Areopagrede des Paulus) gelesen und anerkannt werden: Dionysius schreibt, der literarischen Fiktion nach, an seinen Mit-Presbyter Timotheus, der als Paulusschüler - und Dionysius selbst dann als ebensolcher, nämlich der Areopagit - zu verstehen gegeben wird.45 Erst durch die Ubersetzung ins Lateinische, zuletzt von Johannes Scotus Eriugena Mitte des 9. Jh., wird Dionysius (der bis in die Zeit des Humanismus, philologisch genau genommen bis Ende des 19. Jh. unerkannt-pseudonyme Areopagit) zur scholastischen Autorität mystischer Theologie: Die höchste Einheit in Gott ist absolut fern und doch auch nahe zugleich - das alle Wirklichkeit bestimmende, überfließende Gute.46 Die in Thomas' Summa contra gentiles indirekt angeführte Stelle lautet in Dionysius' Schrift Die Namen Gottes·. „Entstehung aber und Sein wird durch das Gute bewirkt [...]" - „was dem Guten mehr oder weniger nahekommt, wird angemessen gut sein, da ja die alles durcheilende unbeschränkte Güte [...] ein jedes Seiende an ihr teilhaben" lässt (IV, 20 [717 C/D]).47 Dieser Gedanke wäre im Rahmen des Neuplatonismus ganz unauffällig, wenn nicht im Kontext des von Dionysius überlieferten Gesamtwerkes zwei theologische Interpretationsintitiativen durchweg mitgehört werden müssten: Erstens wird - anders als bei Plotin und Proklos - keine Seinsabstufung vom höchsten Einen her entworfen, sondern dieses trinitarisch in sich selbst gegliedert gedacht: die „göttliche Einung [ενωσίζ] der Uberwesenheit [υπερουσιοτης]" ist „ureinheitliche Dreifaltigkeit [εναρχικη τριας]" (II, 4 [641 A]).48 Zweitens wird die Bewegung hin zum Unaussprechlichen als negative Theologie der positiven, der um Sprache ringenden Bewegung vom Göttli45 46
47
48
Vgl. G. O'Daly: Dionysius Areopagita, in: TRE 8 (1981), 772-780; Κ. Ruh, Bd. I (1990), 31-41; zu Proklos vgl. A. Louth: Proclus, in: TRE 27 (1996), 468-471. Vgl. M. Grahmann I (1961), 90ff., 202f.; K. Flasch (1988), 74ff.; (1999), 133-138; Th. Kobusch (1995); W. Beierwaltes (1998), 44-84; W. Schmidt-Biggemann (1998), 382ff. De divims nominibus wird zit. nach der griech. bzw. dt. Ausgabe von B.R. Suchla, vgl. hier (1990), 165 bzw. (1988), 56 (nach der Ziffer von Buch und Abschnitt des Dionysius-Textes wird die Spaltenzählung der Migne-Ausg. hinzugefügt). Vgl. zur Interpretation W. Beierwaltes, aaO. 58f; W. Schmidt-Biggemann, aaO. 115f.; zu den neuplatonischen Vorstufen in diesen Fragen, vor allem bei Iamblichus und Proklos, F.-P. Hager: Neuplatonismus, in: TRE 24 (1994), 341363.
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chen her, so gegenübergestellt, dass Gott-Charakterisierungen neuer Art möglich werden: In der Dialektik dessen, was Gott nicht ist, lebt das, was über alle Bestimmungen hinaus liegt und diesen doch immer erst Bestand gibt. Gott wird sozusagen „einschweigbar" (E. Jüngel). 49 Man könnte von der ersten Fassung der Lehre vom Deus absconditus/revelatus sprechen50: Anders als in der neuplatonischen Transzendenz des allerersten Einen zieht Dionysius die unerkennbare Ursprünglichkeit in den (trinitarischen) Gottesbegriff selbst; als seine urschöpferische Andersartigkeit, die wiederum in ihren offenbarenden Selbstdarstellungen - negativ wie affirmativ - erkennbar und erlebbar wird, die Grenze des Schweigens eingeschlossen. Diese beiden Interpretationskontexte, der trinitarisch verborgene wie offenbare Gott und die negative wie positive Theologie, wiederholen und erneuern das seit Piaton (Sonnengleichnis) und Plotin bekannte επΕκεινα, das Jenseits, aus dem her das Gute der Ursprung von allem ist, mit großer Eindringlichkeit: Das Eine ist nicht im Vielen kenntlich, sondern dreifach in sich und gerade so doch nicht gegenständlich. Je größer die Unbestimmbarkeit als Kraft erscheint, desto stärker wird die Abhängigkeit dieses Gedankens von seiner Rezeption im bild- und gefühlshaften Einstimmen: [1] „Intelligibles Licht wird also das jenseits [υ-ττερ τταν] von jedem Licht befindliche Gute genannt, das als quellhafter Strahl und als überströmender Lichtfluss aus seiner Fülle jedes Vernunftwesen, das weltliche Maßstäbe übersteigt und umfasst und vermittelt, beleuchtet, ihre gedanklichen Kräfte total verjüngt, sie alle, indem es über sie ausgebreitet ist, umfasst, ferner sie alle, indem es sie überragt, übertrifft, das außerdem als Urgrund des Lichts und höchste Leuchte schlechthin alle Gewalt der lichtspendenden Kraft in sich zusammenfasst, überragt und ehevor besitzt, alles mit Verstand und Vernunft Versehene zuammenhält und dicht zusammendrängt" (IV, 6 [701 A/B]). [2] „Die alles überragende Gottheit wird daher, auch wenn sie als Einzigkeit [μονάς] und Dreifaltigkeit [τριαξ] gepriesen wird, von uns oder von irgendeinem anderen Seienden nicht als Einzigkeit, aber auch nicht als Dreifaltigkeit erkannt, sondern vielmehr legen wir nur, um das Ubergeeinte und das Gottzeugende in ihr wahrheitsgemäß zu feiern, ihr als Uberwesenhafter die Namen ,Dreifaltigkeit' und ,Einzigkeit' bei, ihr als Uberwesentlicher die Namen von Seiendem. Keine Einzigkeit oder Dreifaltigkeit, weder Zählung noch Einheit oder Zeugungskraft noch irgend etwas des Seienden oder dessen, was irgend jemand vom Seienden eingesehen hat, deckt die jede Ratio und jeden Intellekt übersteigende Verborgenheit der alles überwesenheitlich überragenden Ubergottheit [υπερθεοτητοξ] auf, auch gibt es von ihr weder einen
49 50
E. Jüngel (1977), 351; vgl. K. Ruh, aaO. 43ff.; Th. Kobusch, aaO. 91; A.M. Haas (2007), 11 u.ö.; eine kritische Einstufung gibt K. Flasch (1988), 113ff. Th. Kobusch, aaO. 92ff.
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Namen noch eine Aussage, vielmehr ist sie in das Unzugängliche enthoben" (XIII, 3 [980 D/981 A]). 51
(1) Die positive (καταφατική; affirmativa) Theologie ist absteigend vom Lichtquell des Guten her konzipiert. Sie geht (platonisch: Sonnengleichnis; christlich: Schöpfergott) vom Ursprung selbst aus, indem neuplatonisch die Quellkraft des Einen als Entfaltungsweg genutzt und biblisch realisiert wird. Dieser Gedanke der Produktivität des Einen ist den neuplatonischen Rezeptionen von Piatons Dialog Parmenides vertraut, weil Eins streng genommen nur für sich selbst und doch auch, wenn es wirklich sein soll, im Unterschied zu sich und zu anderem bedacht sein will. 32 Die Lichtmetaphorik wirkt absteigend insofern positiv, weil sie im Lichtquell ihre bildstarke Bestimmung findet; sie ist aber immer auch nach oben hin gebrochen, weil ein geistiger Vor-gang des Lichtes „jenseits von jedem Licht" (1. Abs.) zu verstehen gegeben wird. Das Gute ist eben über allem Anderen und allem Weltlichen gegenüber - dieses aber organisierend vorzustellen. Die Bildung der Komposita mit der Vorsilbe „über" sind sprach- und sachtypisch für den Versuch, absteigend-positiv das höchste Eine und Gute in seinem „ehevor" (1. Abs.) überhaupt verbalisieren zu können. Licht über dem Licht ist gemeint, von dem alles Andere herkommt; und das heißt, Gott mit seinem Namen zu nennen. (2) Die negative (αποφατικη; negativa) Theologie ist aufsteigend, vom Vielen her ausgrenzend zum Einen und Guten hin konzipiert. So sehr es also Gottesnamen gibt, ihr eigentliches Wesen ist Unterscheidung, Negation im Verlassen von Positionen. Das gilt sogar in letzter Konsequenz für die Einheit und Trinität selbst (2. Abs.). Sie affirmativ so zu benennen, ist ein „Feiern" ihrer Leuchtkraft, keine Gegenstandsbestimmung; denn das Höchste ist anders als alles Andere: „überwesenhaft" (υπερουσιον). Jetzt abgrenzend, negativ gesagt bedeutet dies allerdings (2. Abs.): Nichts ist in diesem Punkt wirklich zu erkennen oder bestimmend zu sagen, selbst das Wort Gott muss in „Ubergottheit" verwandelt und damit überspielt werden. Das im strengen Sinne „Unzugängliche" kann eben nicht betreten werden, Geheimnis und Verborgenheit sind die Wesenszüge negativer Theologie.
51 52
Vgl. beide Texte auch (in anderer Übersetzung) in: K. Flasch (Hg.) 1999, Kap. 5, S. 144 u. 153f. Piaton, Werke Bd. 5 (1983), 233ff., 247ff. (137c - 142a; 142b - 155e); vgl. W. Beierwaltes, aaO. 59.
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(3) Religionsphilosophisch gesehen hat Dionysius damit dem europäischen Mittelalter die paradoxe Sprache und die Denkprobleme dessen geliefert, was er selbst bereits als Mystische Theologie bezeichnet hat.53 Die neuplatonische Lichtmetaphorik überschlägt sich sozusagen in der Wortbildung des „überlichthaften Dunkels".34 Doch ist damit eigentlich nichts anderes gesagt als das, was die negative Theologie als Grenze des Erkennbaren schon ausgezeichnet hatte: Wo die Lichtquelle als Metapher noch einmal überstiegen werden soll, da ist das Licht über dem Licht nichts anderes als das Dunkel der menschlichen Erkenntnismöglichkeiten. Hier gibt es kein lineares Steigern mehr, sondern nur noch ein Herkommen von und aus einem Höheren, das allerdings nicht mehr benannt, nur noch in seiner Wirksamkeit paradox umschrieben werden kann; so dass aus der bildhaften Spannung des „überlichthaften Dunkels" die Kraft des Unbegrifflichen vernommen wird. (4) Damit ist mehr gesagt, als dass nur eine Grenzbestimmung problematisiert würde. Zu fragen ist nach dem Modus solcher Erfahrung oder den Situationen, in denen sie erinnert wird. Denn über das Unbegriffliche zu sprechen, kann nur bedeuten, von ihm herkommend sich doch die Mühe begrifflicher Klärungen zu machen - und seien diese auch an paradoxe Bilder gebunden.33 Der Augenblick solcher Gegenwart, die dem Zeitablauf ebenso wenig zugehört wie bestimmten Zuständen der Ruhe oder Bewegung, erscheint als nicht greifbares Ubergangsphänomen intensiver Erfahrung, ohne dass diese direkt vermittelbar wäre. Auch die Entdeckung des unableitbar besonderen Augenblicks geht auf den Dialog Parmenides zurück (156c), und seine Erfahrung wird neuplatonisch36, für mystische Theologie seither wie für ästhetisch und existenzphilosophisch akzentuierte Zeiterfahrungen zur prägenden Instanz vorbegrifflicher, aber identitätserschließender Gegenwart.
53
54
Vgl. die Textauszüge bei K. Flasch (1999), 156ff.; K. Ruh, aaO. 53-71; A.M. Haas (2007), 127ff. (das „mystische Paradox"); grundsätzlich zur apophatischen Theologie auch M.A. Seils (1994), „Introduction/Unsaying". De mystica theologica II; vgl. dt. in: K. Flasch (1999), 158; K. Ruh, aaO. 65.
55
A.M. Haas, aaO. 74: Der „Weg der Apophatik fordert [...] durchaus die Anstrengung des Begriffs."
56
Vgl. W. Beierwaltes, aaO. 80-84 (zur Christologie bei Dionysius); auch im Verweis auf S. Kierkegaard, vgl. dazu im Begriff Angst (Einleitung zum 3. Kap.), SKS 4, 385ff.; dt. Kierkegaard (1992), 97ff.; im Kontext Augustins, vgl. J . Kreuzer (1998), 475 Anm. 65.
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Vom Sonnengleichnis Piatons über die neuplatonische Lehre des Einen bis zu Dionysius' mystischer Theologie des „überlichthaften Dunkels" ist insofern eine Klärung erfolgt, als nun das höchste Gute zweifellos nicht mehr als höchster Allgemeinbegriff verstanden werden kann (der in die Probleme des begrifflich infiniten Regresses führen müsste37). Die Lehre des Einen wie des schöpferischen Lichtes, das jenseits aller verfügbaren erkenntnistheoretischen und bildhaften Operationen gesucht wird, artikuliert eine philosophisch-religiöse Transzendenz, von der zu sprechen legitim und notwendig ist, wenn entsprechende Erfahrungsrelationen aufweisbar sind. Entscheidend bleibt allerdings, nach welchen Kriterien und mit welcher Autorität eine solche Lehre wird auftreten und sich begründen können. Die Neigung zur Geheimwissenschaft liegt ebenso nahe wie die zur institutionellen Hierarchie, die dann auch der jeweils ureigenen Erfahrungsinstanz keinen Freiraum mehr lassen würde. Denn eine intersubjektive Klärung, die allgemeine Anerkennung finden müsste, kann ja für Geheimnisse und ihre spezifischen Erschließungssituationen gar nicht erwartet werden. Im „Dunkel" das höchste Licht der Erkenntnis zu finden kann zwar für den inneren Erfahrungsursprung als überwältigend, autoritativ und allein kreativ ausgezeichnet werden, für äußere Anordnungen ist dieselbe Erfahrung aber schwerlich geeignet; jedenfalls sofort missbräuchlich, wenn aufgrund der Autorität des Unbestimmten bestimmte Einsichten von anderen Menschen oder Institutionen gefordert oder zur Bedingung gemacht werden sollten. Die große Denkleistung und Sensibilität des neuplatonischen Christentums bestand (in der hier gezeigten Entwicklungslinie) darin, von der erkenntnistheoretisch der Mythologie abgelauschten Idee des höchsten Guten und mit der ontologischen Begründung der Lehre vom Einen in die biblisch motivierte ur-schöpferische Qualität einer ersten, zudem trinitarischen, Transzendenz überzugehen. Die Sonne und das Gute sind für Dionysius wie selbstverständlich Stellvertreter für den (christlichen) Gott, der kosmologisch gedacht aller geschaffenen Gegenständlichkeit vorausgeht - ein Voraus, das raumzeitlich nicht mehr festzumachen ist, deshalb allein dem geistigen Licht über allem Licht anvertraut werden muss. In diesem Punkt gehen Begründungen in Beschreibungen über, das bleibt charakteristisch für diese christliche Philosophie. Allerdings gilt zugleich auch: Beschreibungen ohne Begründungen sind nicht ausreichend, das wäre wider den Geist derselben (neu-)platonischen Tradition. Ihr verdankt die Religionsphilosophie
57
Vgl. die Diskussion im Anschluss an das Sonnengleichnis, s. § 4.2 (3).
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unaufgebbare Grundbegriffe und bis heute wirksame Entwicklungsimpulse. Zwischen Licht und Dunkel herrscht eine reale Beziehung, die in Erfahrungen und deren Beschreibungen herausfordernd bleibt und kontrollierend gedacht werden will. Die Scholastik hat die geistigen Experimente in dieser Sache gründlich weitergeführt.
§ 6: Christliche Philosophie II: Aristotelismus und moderne Wissenschaft Aristoteles (384-322 v.Chr.) ist Schüler Piatons, und obwohl er den mythisch-dialogischen Stil sokratischer Tradition in die schulmäßige Bearbeitung von philosophischen Fachdisziplinen überführt und so zum Begründer des europäischen Verständnisses von Wissenschaft wird, bleibt er doch erkennbar im Fragehorizont der Idee des Guten.1 Allerdings steht diese Frage jetzt nicht mehr im Zentrum literarischer Umkreisungen, sondern sie wird selbst einer klaren Bestimmung unterzogen: Nach dem Guten streben die Menschen (Nikomachische Ethik I), das lässt sich an ihrem Verhalten ablesen; und zum Thema wird diese conditio humana konsequenter Weise in der praktischen Philosophie des Handelns, von der (neben den methodologischen, rhetorischen und naturphilosophischen Disziplinen) die theoretische Philosophie zu unterscheiden ist. Sie zielt auf das, was als Wahrheit der Dinge von keinem Handlungsnutzen abhängig ist und also die Wirklichkeit so vorstellt, wie sie selbst ist. Menschliche Wahrnehmungen, Erkenntnis-, Denk- und Sprachleistungen hängen trotz aller Vielfalt darin zusammen und scheinen die Frage nach diesem - über die jeweiligen Bezugnahmen hinausgehenden - Zusammenhang geradezu zu fordern: dieses eigentliche Wesen oder Sein aller Dinge bestimmbar zu machen. In diesem generellen Sinn von Sein, insofern es ist („το ov η ov" [Metaphysik IV, 1]), summiert sich die Aufgabenstellung der Metaphysik - des Textes, der in 14 Büchern basisontologischer Analysen überliefert ist, die Aristoteles selbst „Erste Philosophie" (Met. VI, 1) genannt hat und die dann als die Textsammlung „nach" oder „jenseits" der Physik zu ihrer systematischen Bezeichnung Meta-Physik gefunden hat.2 Dass etwas überhaupt ist - und wie es dazu, nach vernünftigen Gründen zu urteilen, kommen kann - , impliziert offenbar immer ein Doppeltes: einen (qualitativen) £iOMS-Charakter und einen (faktischen) /si-Charakter. In vereinfachender Distanz gegenüber den zahlreichen und schwer miteinander abzustimmenden Analyseschritten des Aristoteles soll diese metaphysische Grundeinsicht von einem allereinfachsten Satz aus
1 2
Vgl. O. Gigon: Aristoteles/Aristotelismus I, in: T R E 3 (1978), 726-768; Α. Graeser (1993), Kap. IV; H.-G. Gadamer (1991). Vgl. Th. Kobusch: Metaphysik II: Aristoteles, in: HWP 5 (1980), 1188-1196.
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nachvollzogen werden. Er drückt nichts aus als die allgemeinste Präsenz: Etwas ist da - und verlangt zumindest zwei Bestimmungsstücke, die der metaphysischen Denktradition seither eingezeichnet bleiben: „Etwas ..." - signalisiert eine zugrundeliegende Qualität, die in allen bestimmten Fällen durchaus nach ihren Implikationen und Folgen weiter untersucht werden kann, die im allgemeinsten Sinne aber immer zur Voraussetzung gemacht werden muss. Aristoteles spricht für die allgemeine Voraussetzung dessen, was da ist, von ousia, vom zugrundeliegenden Etwas in der Frage des ti esti („Was" [Met. VII,1, 1028a,llf.]). Für dieses Bestimmungsstück sei im Blick auf den Ausgangssatz „Etwas ist da" das Kunstwort Etwasheit erlaubt. Demgegenüber signalisiert „ ... ist da" eine Vorhandenheit, die ebenfalls in allen bestimmten Fällen durchaus nach ihren Bedingungen weiter untersucht werden kann, die im allgemeinsten Sinne aber immer zur Voraussetzung gemacht werden muss. Aristoteles spricht dafür hinweisend vom tode ti („Dieses-da"), und um diese Hinweisfunktion zugleich mit dem darin liegenden „ist" zum Ausdruck zu bringen, sei das Kunstwort Istheit erlaubt. Diese beiden Bestimmungsstücke zeigen, wie Wesen (Etwasheit) und Sein (Istheit) beständig aufeinander angewiesen sind und eigentlich nicht getrennt werden können. Aristoteles wird diesem Zusammen beider dadurch gerecht, dass er seinerseits den Kunstausdruck to ti en einai einsetzt ([το τι ην είναι] Met. VII,3, 1028b,34), um das konkret Begegnende in seiner metaphysischen Allgemeinheit in Worte zu fassen: „Was war das [für jedes Einzelding] wesensmäßige Sein"!3 Die Ausgangsorientierung in dem Satz „Etwas ist da" hat den weiteren Vorteil, nun mit Aristoteles auch die kategoriale Bestimmung der „ersten Ousia" mitvollziehen zu können. Deren Ableitung geschieht vom jeweils Zugrundeliegenden im Aussagesatz her: Was immer über etwas gesagt werden kann und was (metaphysisch) über sein Sein zu gelten hat, muss sich einheitlich auf gestaltgewordenes Selbständiges beziehen. Wissenschaft aber fragt nach Prinzipien und ersten Ursachen4 (arche, aitia [Met. IV, 1]), und was insofern als „das Erste" zugrunde liegt, ist „die Ousia" (das Wesen, die Substanz [Met. IV, 2, 1003b,16ff.]). Damit kann nun aber weder ein rein materielles noch ein platonisch ideelles Erstes gemeint sein, denn in beiden Fällen fehlte die charakteristische Gestalt, die ein Zusammenführen von Allgemeinem und Besonderem schon voraussetzt. Wenn also die erste Ousia, wie es 3
4
Zur Übersetzung und Kommentierung vgl. H. Seidl, Einleitung, in: Aristoteles, Metaphysik Bd. 1 (1978), XXXIff.; zur „Doppelgestalt" der „Ousia" im Anschluss an Met. VII,1, 1028a,llf. vgl. E. Vollrath (1969), 23ff. S. § 2.1.
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Aristoteles' Kategorienschrift vorträgt, das ist, was nicht von anderem ausgesagt werden oder in anderem enthalten sein kann (Kat. 5, 2a,llff.), so kommt dafür nur eine Individualität in Frage, die allem, was von ihr zu gelten hat, zugrunde liegen muss. Diese ist das Erste, woran aber wiederum zu entdecken ist, das weder eine bloße Etwasheit noch eine bloße Istheit zureicht, sondern nur deren Zusammengekommensein im „substanziellen Wassein" des to ti en einai.s Während die Frage nach der Substanz (ousia) zunächst so erscheint, als ginge es um ein unbestimmtes Etwas, über das etwas Anderes gesagt werden kann, stellt sich dann heraus, dass bereits das Zugrundeliegende keinen irgendwie erreichbaren neutralen Status haben kann, sondern selbst schon als gestaltgewordenes Selbständiges vorausgesetzt werden muß. Die Ursachenfrage der Metaphysik führt nicht auf eine Null zurück, sondern auf Zugrundeliegendes als schon gestaltgewordenes „Was war das [für jedes Einzelding] wesensmäßige Sein". Die analysierende Frage kann wiederum nach Etwasheit und Istheit differenzieren, sie geht damit aber künstlich (und für die Analyseschritte in klärender Absicht) hinter ihren notwendigen Ausgangspunkt, die wirkliche Substanzialität zurück. Aristoteles' Konzeption der Ousia widerspricht Piatons Ideenlehre, weil in der vorliegenden Substanzialität keine Distanz zum eigentlichen Sein der Idee mehr unterstellt zu werden braucht. Im Gegenteil: Die Idee des Guten („das Gute selbst") und das wirklich auftretende Gute („das Gut-sein") dürfen nicht getrennt werden, weil sonst die Idee nicht realisiert wäre; und was realisiert ist, wäre sonst bestimmungslos (Met. VII, 6, 103la,31 - 103lb, 11). Ganz analog wird diese Kritik auch in der Ethik vorgebracht (Nikomachische Ethik I, 4, 1096b - 1097a), obwohl diese selbstverständlich im Orientierungsfeld des Guten bleibt. Aber ein von den realisierten Gütern abgetrenntes Gutes erscheint nicht nur entbehrlich, sondern auch - weil nicht erreichbar - abwegig. Die platonische Transzendenz des Guten, die dort den eigentlichen Anreiz für Denken und Handeln ausmachte, scheint in Aristoteles' praktischer wie theoretischer Philosophie ausgemustert zu werden. Andererseits zeigt Aristoteles' Metaphysik aber auch, wie die platonische Fragestellung des allgemeinsten Horizontes philosophischer Verantwortung - bei aller Kritik der platonischen Ideen-Abtrennung erhalten bleibt. Das Epekeina der Idee des Guten aus Piatons Sonnengleichnis tritt aristotelisch im Telos bzw. im Worumwillen (to hou heneka [το ου ενεκα]) aller Bewegungen auf6, und dass damit gerade die 5 6
E. Vollrath (1978), 117; vgl. zum zugrundeliegenden Gemeinsamen des „Was und Das-da" H. Hüni (1992), § 25, S. 91. Vgl. H-G. Gadamer (1991), 200f., 209.
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Theologie in eine notwendige Funktionsstelle des Gesamtsystems rückt, zeigt eine weitere wissenschaftstheoretische Überlegung im Zusammenhang der Metaphysik: Im Unterschied zur praktischen Wissenschaft, die an veränderlichen Handlungszusammenhängen orientiert ist, bezieht sich die theoretische Wissenschaft auf das Seiende und seine Substanzialität.7 Diese ist notwendig so, wie sie ist, aber in unterschiedlicher Weise wissenschaftlich vergegenständlicht (Met. VI, 1; XI, 7): • Die Physik ist für Aristoteles die theoretische Wissenschaft, deren Gegenstände selbständige (also von anderem abtrennbare) Substanzen sind, die aber, weil stofflich gebunden, der veränderlichen Welt des Bewegten angehören. • Die Mathematik ist theoretische Wissenschaft, weil ihre gedachten (nicht stofflich gebundenen) Gegenstände der unveränderlichen Welt des Unbewegten angehören. Da sie als solche aber von einer Instanz (der menschlichen Seele) gedacht werden müssen und insofern davon abhängen, sind sie nicht selbständige Substanzen, also als nicht abtrennbar aufzufassen. • Die Theologie schließlich ist die theoretische Wissenschaft, die das bevorzugte Bestimmungsstück der Physik: selbständige Substanz {abtrennbar), mit dem bevorzugten Bestimmungsstück der Mathematik: Unbewegtheit verbindet. Auf die Frage, warum es überhaupt Theologie als Teil der Metaphysik geben müsse, wäre deshalb zu antworten: Erstens sind die bevorzugten Seinsbestimmungen unbewegter Substanzialität nur so vollständig und in ihrer Vollkommenheit erfasst8; und zweitens hat dieser Systemzwang seinen Sinn darin, dass die Ursachenfrage im Blick auf die veränderliche Welt des Bewegten (der Physik) nur dann geklärt werden kann, wenn eine theoretisch höhere Instanz, die selbst nicht bewegt wird, für die Bewegung verantwortlich zeichnet. Im Unterschied zum platonischen Ersten der Idee des Guten verweigert sich Aristoteles der Vorordnung der Zahl Eins. Stattdessen gilt der Vorrang der wirklichen (physikalischen) Bewegung, an der dann allerdings erste Ursache und Teleologie der Bewegung (zum Guten) orientiert und entwickelt werden müssen.9 Die christliche Philosophie gewinnt damit - neben der platonischen Idee des Ersten Guten - ihr zweites Begründungsmuster in der göttlichen Substanz, wie sie Aristoteles' Metaphysik nachweist. 7 8 9
Vgl. hier und im Folgenden I.U. Dalferth (1992), 154-159; (1993), 52-55; K. Brinkmann (1979), 206ff.; s. § 2.2(la). Vgl. E. Vollrath (1978), 94. Vgl. H.-G. Gadamer (1991), 215f.; O. Gigon, aaO. 748.
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1. Das Gottesargument aus den metaphysischen Begriffen von Substanz, Sein und Bewegung 1.1. Der unbewegte Beweger (Aristoteles, Met. XII) Wird nach der Substanz gefragt (ousia [Met. XII, 1, 1069a,18ff.]), sofern darunter ein Erstes verstanden und dieses als „Ursache" und „Prinzip" gesucht wird, so muss die theoretische Philosophie das in den Blick nehmen, was „selbständig abtrennbar" und vor aller „Bewegung" anzusetzen ist (1069a,21-26). Im Ergebnis, das kosmologisch und theologisch zugleich gefasst ist, kann dann gesagt werden: „Das erste Sosein [to ti en einai] aber hat keinen Stoff, denn es ist Vollendung (Wirklichkeit). Eines also ist dem Begriff und der Zahl nach das erste bewegende Unbewegte; also ist auch das immer und stetig Bewegte nur Eines; also gibt es nur einen Himmel" (Met. XII, 8, 1074a,35-38). Wie aber genau verläuft das Argument in den Kernkapiteln 6 und 7 des Metaphysikbuches XII? Aristoteles' Gedankenführung enthält kosmologische, theologische und vernunftheoretische (spekulative) Motive; kausales, teleologisches und ontologisches Prinzipiendenken werden im Gottesgedanken zusammengeführt. Ohne in die schwierigen Einzelfragen zumal des kosmologisch (astronomisch und mathematisch) von Aristoteles hier vorausgesetzten Kontextes einzutreten, können doch die religionsphilosophisch entscheidenden Schritte der Argumentation in fünf ausgewählten Textpartien herausgehoben werden: [1] „Denn die Wesen [ousiai] sind von dem Seienden [ton onton] das Erste, und wenn alle vergänglich sind, so ist alles vergänglich. Unmöglich aber kann die Bewegung entstehen oder vergehen; denn sie war immer. Ebensowenig die Zeit; denn das Früher oder Später ist selbst nicht möglich, wenn es keine Zeit gibt. Die Bewegung ist also ebenso stetig [syneches] wie die Zeit, da diese entweder dasselbe ist wie die Bewegung oder eine Affektion derselben. Stetige Bewegung aber ist einzig die Ortsveränderung, und zwar unter dieser die Kreisbewegung" (1071b,5-11). [2] „Gäbe es nun ein Prinzip des Bewegens und Hervorbringens, aber ein solches, das nicht in Wirklichkeit wäre, so würde keine Bewegung stattfinden; denn was bloß das Vermögen (die Möglichkeit [dynamis]) hat, kann auch nicht in Wirklichkeit sein. [...] Also m u ß ein solches Prinzip [arche] vorausgesetzt werden, dessen Wesen Wirklichkeit ist [he ousia energeia]. Ferner müssen diese Wesen [ousiai] ohne Stoff [hyle] sein" (1071b,12-21). [3] „es gibt etwas, das sich immer in unaufhörlicher Bewegung bewegt, diese Bewegung aber ist die Kreisbewegung. Dies ist nicht nur durch den Begriff, sondern auch durch die Sache selbst deutlich. Also ist der erste H i m m e l ewig. Also gibt es auch etwas, das bewegt. D a aber dasjenige, was bewegt wird und bewegt, ein Mittleres ist, so muß es auch etwas geben, das ohne bewegt zu werden, selbst bewegt, das ewig [aidion] und Wesen [ousia] und Wirklichkeit [energeia] ist" (1072a, 21-26).
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[4] „Auf solche Weise aber bewegt das Erstrebte [orekton] und das Intelligible (Erkennbare [noeton]); es bewegt, ohne bewegt zu werden. [...] W i r erstreben aber etwas vielmehr, weil wir es für gut halten, als dass wir es für gut hielten, weil wir es erstreben. Prinzip [arche] ist die Vernunfttätigkeit [noesis]. Die Vernunft [nous] wird vom Intelligiblen [noeton] bewegt [...]; denn es gibt einen Zweck [hou heneka] für etwas und von etwas; jener ist unbeweglich, dieser nicht. Jenes bewegt wie ein Geliebtes, und durch das (von ihm) Bewegte bewegt es das übrige" (1072a,261072b,4). [5] „Denn die Vernunft [vous] ist das aufnehmende Vermögen für das Intelligible [noeton] und das Wesen [ousia]. Sie ist in wirklicher Tätigkeit, indem sie das Intelligible hat. Also ist jenes (das Intelligible) noch in vollerem Sinne göttlich als das, was die Vernunft Göttliches zu haben scheint, und die Betrachtung (theoretische Tätigkeit) ist das Angenehmste und Beste. Wenn sich nun so gut, wie wir zuweilen, der G o t t immer verhält, so ist er bewundernswert, wenn aber noch besser, dann noch bewundernswerter. So verhält er sich aber. U n d Leben wohnt in ihm; denn der Vernunft Wirklichkeit (wirkliche Tätigkeit) ist Leben, jener aber ist die Wirklichkeit (Tätigkeit), seine Wirklichkeit (Tätigkeit) an sich [kath auten] ist bestes und ewiges Leben. D e r Gott, sagen wir, ist das ewige, beste Lebewesen [zoon], so dass dem Gott beständige Ewigkeit zukommt; denn dies ist der Gott [touto gar ho theo s f (1072b,22-30).
(1) Die ontologische Frage nach „dem Seienden" wird verknüpft mit dem empirisch-kosmologischen Befund der Bewegung, und deren Verursachung oder erstes Prinzip wird wortwörtlich zur meta-physischen Problemlage. Wenn Substanzen (ousiai) immer vorausgehen, so müssen sie hier auf eine substanzgemäße wie kosmologische Ordnungsstruktur bezogen werden: Auf unterster Ebene 10 finden sich „bewegte" und „vergängliche" (1. Abs.), d.h. natürliche Substanzen, sie liegen kosmologisch in der sublunaren Welt menschlicher Erfahrungen, Substanzialität ist hier immer stofflich (materiell) vermittelt. Auf der nächst höheren Ebene des Fixsternhimmels sind die Substanzen ebenfalls „bewegt", aber „ewig" gedacht, und dem entspricht allein die Kreisbewegung (3. Abs.). Auf der höchsten Ebene schließlich kommen die Bestimmungen „ewig" und „unbewegt" zusammen - und das Problem der Argumentation besteht darin zu zeigen, dass und wie genau so gedacht werden muss, damit dieser höchsten Instanz für den Bestand der beiden unteren Ebenen Wirklichkeit zugesprochen werden kann. Die drei kosmologischen Ebenen zeigen eine gewisse Analogie zum System der drei theoretischen Wissenschaften; doch die Mathematik entspricht nicht dem Himmel, weil eine unterschiedliche Unselbständigkeit besteht: Die Zahlen haften (unbewegt) am menschlichen Denkvermögen, der Himmel ist zwar selbständig, aber bewegt. 10
Vgl. hier und im Folgenden K. Brinkmann (1979), 159ff.; H . Seidl (Kommentar), in: Aristoteles' Metaphysik (1980), 558ff.
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Das eigentliche erste Argument besteht nun darin, dass wegen der ewigen Kreisbewegung des Himmels Vergänglichkeit als Prinzip ausgeschlossen werden kann: Denn aus Vergänglichkeit kann nichts Ewiges (die Kreisbewegung) resultieren, also muss die vorausliegende erste Substanz ebenfalls ewig gedacht werden. Das ist dann überzeugend, wenn die kosmologische Bewegung kontinuierlich und ewig ist, daher der Zusammenhang von Bewegung und Zeit: Beide müssen anfangs- und endlos, aber auch ohne Unterbrechungen gedacht werden, insofern ist die Zeit eine „Affektion" (pathos), eine Wirkung oder Form von Bewegung (1. Abs.). Und welches Prinzip, welche erste Ursache könnte überhaupt für diese Bewegung/Zeit als ursprünglich gedacht werden? Sicher eine ebenso ewige, aber als Voraussetzung der (ewigen) Bewegung müsste sie zugleich anders als diese Bewegung sein. Dieser Gedankengang ist zwar einerseits an eine bestimmte Kosmologie gebunden (ewige Kreisbewegungen des Fixsternhimmels), andererseits aber auch hier schon metaphysisch selbständig und weiterwirkend, wenn generell an die Verhältnisbestimmung von Raumzeitlichkeit und ihre Ermöglichung gedacht wird. Der Begriff der Stetigkeit (1. Abs.) oder Kontinuität, d.h. die unendliche Teilbarkeit in einem Kontinuum11, wird dann zum Schlüssel für kosmologische Hypothesen und die Frage nach dem Grund. Wenn vorliegende Kontinuität erklärt werden soll - innerhalb derer im sublunaren Bereich wie in menschlicher Erfahrung durchaus auch Diskontinuitäten vorkommen - , so bleibt hier nur, die umfassende Ewigkeit der Welt begründend anzunehmen (so Aristoteles), oder die christlich-scholastische creatio ex nihilo.12 (2) Im zweiten Schritt des Arguments werden seine kosmologische und ontologische Bedingung insofern weiter präzisiert, als der Ausnahmefall der ersten Substanz in den Blick gefasst werden muss: Die vorausgesetzte kontinuierliche und ewige Bewegung wäre durch kein Bewegungsprinzip zu begründen, das selbst kontingent wäre, d.h. das wirksam sein könnte oder auch nicht. Daraus wäre nur die Möglichkeit der Verursachung von ewiger Bewegung zu folgern, was selbstwidersprüchlich wäre, weil ewige (kontinuierliche) Bewegung keine Unterbrechungen duldet. Die damit zu unterstellende Substanz ist eine be11
K. Brinkmann, aaO. 160f.; zur Wiederaufnahme der philosophischen Diskussion der Kontinuumsproblematik in der evolutionistischen Kosmologie von Ch.S. Peirce vgl. H . Deuser: Synechismus, in: H W P 10 (1998), 779ff.
12
H . Seidl, aaO. 559.
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sondere: Sie ist nicht nur nicht stofflich vermittelt, sondern sie ist Wirklichkeit als solche (2. Abs.)! Dass im folgenden Satz Substanzen (ousiai) im Plural erscheinen, macht noch deutlicher, wie sehr hier eine „Substanzhierarchie"13 mitgedacht werden muss. Das kosmologische Problem der Einordnung der Planetenbewegungen nämlich, die einerseits auch kreisförmig vorgestellt wurden, andererseits aber offensichtlich „unregelmäßige" Bewegungen vollführen, verlangte nach entsprechenden, also vielfältigen Bewegungsverursachern, die gleichwohl von der dann allerersten Substanz noch einmal unterschieden werden mussten. Denn die Verursachung durch ein erstes Prinzip, das einheitlich ewige und kontinuierliche Bewegung zu erklären hat, kann selbst nicht mehr vielfältig, nicht stofflich und nicht nur möglich sein. So kommt es zu der allein und gegenüber allem herausgehobenen Substanz, die reine Wirklichkeit sein muss. (3) Aus den beiden ersten Schritten (kosmologisch: ewige Kreisbewegung; ontologisch: besondere Verursachung des ewigen Himmels) folgt nun der explizite Schluss auf die höchste und letzte Ebene. Aristoteles präsentiert diesen Schluss im Bild der Relation von zwei Außenpunkten und ihrem „Mittleren" (3. Abs.), in der Substanzenhierarchie gesprochen: von der oberen und unteren Ebene und ihrem „Mittleren": Weil der Himmel zugleich „bewegt wird und bewegt", ist er das „Mittlere" zwischen (nach unten) der Ebene des allein Bewegten der Körperwelt und (nach oben) des allein Unbewegten des ersten Prinzips. Natürlich gibt es relative Eigenbewegungen in der Körperwelt (natürliche Substanzen), und es gibt, wie gesagt, offenbar unbewegte Beweger im kosmologischen System, aber entscheidend ist die Verursachungsfrage für den einen Himmel. Die vollkommenste Bewegung (der oberen Ebene) kann nicht wiederum durch ewige Bewegung, sondern nur durch ein Höheres als diese bewegt werden. Das verlangt das „Mittlere", wenn es nicht zum infiniten Regress der Verursachungen kommen soll. Dann bleibt allein das selbst unbewegte Bewegende als höchste Realisierung selbst - ewig, Wesen, Wirklichkeit - und damit Prinzip von allem Anderen. Mögliche Einwände sind vielfältig.14 Entscheidend ist der riskante Schritt des Arguments, dass die Ursache oder das Prinzip für die Erklärung der Himmelsbewegung (und der davon wiederum abhängigen begrenzten Bewegungen der Körperwelt) in einer ganz andersartigen
13
K. Brinkmann, 165; vgl. im Folgenden 171ff., 175ff.
14
Vgl. K. Brinkmann, 167ff.; T h . Leinkauf (1987).
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und allerersten Ermöglichung, die reine Wirklichkeit für sich selbst sein muss, gesucht wird. Immanente Selbstbewegungen als Verursachungen wären doch denkbar, kosmologisch wie ontologisch, warum der Uberschritt in eine bewegungstranszendente Verursachung bzw. Substanz? Ist der kosmologisch-empirische Ausgangspunkt (Fixsternhimmel) denn überhaupt spekulativ mit einem nicht mehr Empirischen als Ursprungswirklichkeit vermittelbar? (4) Für Aristoteles ist Metaphysik deshalb möglich und notwendig, weil er den kosmologischen Befund ebenso wie die ontologische Substanzenhierarchie nicht nur kausal, sondern auch teleologisch interpretieren kann. Nach dem ersten Prinzip der Bewegung zu fragen, scheint mechanistisch in Ursache-Wirkungs-Konnexen gedacht zu sein; doch diese sind konzipiert als verhaltensleitende Motivstrukturen. Wenn sich auch die Kosmologie in der Suche nach dem Ersten gegen die platonische Ideenlehre ausdrücklich abgrenzt: diese könne nichts wirklich Bewegendes nachweisen (1071b,15f.), so ist doch der Horizont der Prinzipienfrage weiterhin aus der Kraft des Schönen und Guten zu beschreiben: Der Zweck - das Worumwillen (to hou heneka) - ist an die Stelle des platonischen Epekeina der idealen Transzendenz getreten.13 Nur so ist es erklärlich, dass Aristoteles in der Argumentation für den unbewegten Beweger ganz umstandslos von der zunächst kausal erscheinenden ersten Substanz auf das (praktisch-philosophische) „Erstrebte" und das (philosophisch-spekulative) „Intelligible" überwechseln kann. Es ist ein geistiges Verhaltensprinzip, vom Guten und Erstrebten - wie von einem „Geliebten" - her bewegt zu werden (4. Abs.); und dabei ist das Gute selbst offenbar nicht derselben Bewegung unterzogen, die es beim liebenden, strebenden Menschen bewirkt. Damit ist einerseits nun doch ein Kausalverhältnis ins Bild gesetzt, andererseits aber wird es überholt von der Verhaltenswirkung, die in ihrer Aktivität eine ihr vorausliegende unterstellt: unbewegt bewegen zu können. (5) Es handelt sich also um ein geistiges Selbst-Verhältnis, das durchaus beim Menschen vorkommt; das seine eigene Vollkommenheit aber erst dann findet, wenn gemäß der Substanzenhierarchie das Selbsthaben der vernünftigen Aktivität (he noesis noeseos [Met. XII, 9, 1074b,34f.]) ganz aus sich selbst bestehen kann und nicht mehr verkörpert gebunden bleiben muss: Die „theoretische Tätigkeit" (theoria) ist das Höchste 15
Vgl. H.-G. Gadamer (1991), 200f., 209f.; zum Umschlag von der Kosmologie zur Teleologie Κ. Brinkmann, 178ff.
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und das Göttliche selbst (5. Abs.). Damit ist die platonische Transzendenz in eigentümlicher Weise wieder erreicht: Das ideale Ziel ist (ewig und unbewegt) ganz außerhalb16 der Kausalvermittlung, als Substanz aber doch ganz Wirksamkeit. Und diese Wirklichkeit des Ersten ist sicher nicht als plotinisch-schöpferisches Erstes17 zu denken, wohl aber meta-physisch so, dass die Transzendenz bewegend an die Immanenz gekoppelt wird. Aristoteles distanziert damit die Mythologie, aber er interpretiert die Religion und gibt ihr einen theoretischen Status. Dem eingangs schon zitierten Resultat: der höchsten und ersten Substanz des ti en einai, des „bewegenden Unbewegten" (Met. XII, 8, 1074a,35ff.), folgt explizite Mythoskritik (1074b,Iff.) 18 : „Von den Alten und den Vätern aus uralter Zeit ist in mythische Form den Späteren überliefert [...]". Doch diese muss zusammengehalten werden mit dem lakonischen Satz, der auf die theoretisch begründete Ableitung des „ewigen, besten Lebewesens" folgt (5. Abs.): „denn dies ist der Gott"! Analog wird Thomas v. Aquin am Ende der summarisch aufgeführten Gottesargumente der Quinqué viae in der Summa Theologiae formelhaft sagen: „et hoc est quod omnes dicunt Deum". 19 Allerdings liegen die jeweiligen kulturellen und religiös-institutionellen Kontexte bei Aristoteles und Thomas geradezu unvergleichbar anders. Das aber macht den Theoriestatus des Gottesgedankens gerade interessant: Steht er so verallgemeinert, „abstrakt" und ohne „inhaltliche Bestimmung der göttlichen Noesis Noeseos"20 nicht über den Fronten unterschiedlich konkreter religionsgeschichtlicher Positionen und ist deshalb religionsphilosophisch tragfähiger als (religiös, theologisch oder philosophisch) regional begrenzte Wahrheitsbehauptungen, die sich theoretischer Philosophie gar nicht stellen können? Bemerkenswert bleibt, dass Aristoteles überhaupt Ursächlichkeit, Zweckhaftigkeit und Substanzialität in ein Erstes fasst, für das es dann nur einen Namen 21 , nämlich den „des Gottes" geben kann. Soll dieser 16
Vgl. K. Brinkmann, 183.
17
Vgl. H . - G . Gadamer, 204; im Folgenden 215f.
18
Vgl. I . U . Dalferth [1993], 56.
19
S T h I, q. 2, a. 3; vgl. H . Seidl, aaO. 568.
20
K. Oehler (1997), 56; vgl. K. Brinkmann, 198f. - Zur Diskussion um die mögliche inhaltliche Bestimmung der „Noesis Noeseos" im Kontext der aristotelischen Metaphysik und ihrer kosmologischen Implikationen (kritisch gegenüber der Position von K. Oehler) vgl. H . J . Krämer (1969).
21
Zu Aristoteles' „Prinzipienmonismus" vgl. K. Brinkmann, 187 u. A n m . 125.
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Name zugleich unmythologisch und prinzipientheoretisch gefasst werden, bleibt nur, menschlich gesprochen, die höchste Formalität des (theoretischen) Selbstverhältnisses. Seine Konkretionen wären entweder solche aus der Perspektive des Höchsten und Besten selbst, die wissenschaftlich eben nur als versuchte Grenzbegriffe eines Ersten zur Verfügung stehen, oder in der distanzierten Anerkennung der Mythen müsste deren unaufgebbare Funktion, die erfahrungsfähige Materialität des Höchsten und Besten erschließbar und umsetzbar zu halten, zugelassen werden. Das ergäbe theoretisch belehrte Religion11, die um die notwendige Bildhaftigkeit weiß und sich ihrer nicht schämt. Aristoteles entwickelt diese Dimension nicht, aber seine Metaphysik verlangt die ontologisch allgemeinste Einstufung von wirklicher Substanzialität, die folglich in allem anderen - auch erkenntnistheoretisch, kosmologisch und ethisch - schon zugrundeliegend gedacht und wirksam gesehen werden muss. Die Koppelung mit der Erfahrungswelt macht diese Ontologie zur Meta-Physik, sie ist fundierend als theoretische Wissenschaft Theo-logie1^, und gerade dieser Zusammenhang ist für die Scholastik von enormer Bedeutung. Denn die theoretische Verankerung der christlichen Lehre hatte nun neben der platonischen Tradition der Idealität des Guten und der kreativen Lichtmetaphorik eine wissenschaftstheoretisch sehr viel massivere Stütze: Dass Gott als substanziell Erstes Wirkliches gedacht werden muss. Die frühchristliche Vermittlung der Texte des Aristoteles blieb allerdings auf die logischen Schriften und die Kategorienschrift beschränkt. Prophyrios (234-304), der noch griechisch schreibende und das Christentum religiös wie philosophisch scharf ablehnende Schüler Plotins; Marius Victorinus (f nach 362), der christliche Rhetor und Ubersetzer ins Lateinische; Augustin und vor allem Boethius, der systematisch vorgehende Gelehrte und Ubersetzer des Aristoteles - sie alle geben den logischen Standard des aristotelischen Organon an das christliche Mittelalter weiter.24 Doch erst um die Jahrtausendwende kommt es zur wissenschaftlich umfassenden Wiederentdeckung, gefolgt von der rasanten, durch arabische Ubersetzungen vermittelten Aneignung des corpus Aristotelicum im 12. und 13. Jh. Der Wissenschaftsbegriff der christlichen Scholastik verdankt sich dieser - im kulturellen Austausch vorbildlichen und theologisch ebenso riskanten wie innovativen 22 23 24
S. § 2.1; vgl. zur Geschichte und Systematik des Verhältnisses von Metaphysik und Religion W. Sparn (2007). Vgl. Th. Kobusch (s.o. Anm. 2), 1194. Vgl. H. Dörrie: Aristoteles/Aristotelismus II, in: TRE 3 (1978), 768-776; Κ. Flasch (1988), 95ff., 103ff.
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Übersetzungs- und Interpretationsleistung.25 Sie integriert jetzt auch Aristoteles' wissenschaftstheoretische Schriften (z.B. die 2. Analytik und die Metaphysik), und damit tritt ein universaler, nicht genuin christlicher Wissenschaftsbegriff in Konkurrenz zur kirchlichen Universalität der Theologie. Sie galt bisher - in augustinischer, neuplatonischer Tradition - als höchste Weisheit und verkörperte damit zugleich die wahre Religion und die wahre Philosophie. 26 Jetzt muss der kirchliche Anspruch religionsphilosophisch auf neue Weise gegenüber einem allgemeinen rationalen Wissenschaftsstandard verteidigt oder mit diesem als vereinbar nachgewiesen werden. In dieser Aufgabe bewährte die Scholastik ihren Wissens- und Glaubensanspruch, und diesem gegenüber musste sich die methodische Eigenständigkeit der nachfolgenden neuzeitlichen Wissenschaft erst durchsetzen, um sich zu behaupten zu können. Die Bedeutung des Aristoteles reicht bald so weit, dass er für die christliche Philosophie des Hochmittelalters zum philosophischen Maßstab überhaupt wird, so dass in der Pariser Lehrverurteilung von 1277 (gegenüber dem radikalen Aristotelismus) als zu verwerfende Auffassung Nr. 145 notiert werden konnte: „Es gibt keine Frage, die vernunftgemäß zu erörtern ist, die der Philosoph nicht erörtern und entscheiden dürfte [...]." Der Philosoph ist im Sprachgebrauch des scholastischen 13. Jh. selbstverständlich Aristoteles, und seine alleinige Dominanz soll damit aus theologischen Gründen bestritten werden.27 Für die religionsphilosophische Kernfrage der Gottesauffassung ist aufgrund heutiger Textinterpretation, d.h. unter Einklammerung der scholastischen Lesart des Aristoteles, soweit uns das heute hermeneutisch-historisch möglich ist, zunächst Folgendes festzuhalten: • Aristoteles zeigt, dass es eine Wissenschaft vom Seienden als solchem geben muss, zu der an erster Stelle die Theologie gehört; doch der dadurch etablierte Gottesbegriff erscheint als entrücktes Selbstverhältnis reiner Verwirklichung 28 , allen religiösen Kontexten und der geschöpflichen Welt gegenüber frei und abgelöst.
25
Vgl. A.-T. Khoury: Arabisch-Islamischer Aristotelismus; H . Greive: Aristoteles und Aristotelismus im Judentum; W . Kluxen: Abendländischer Aristotelismus/Mittelalter, in: T R E 3 (1978), 7 7 7 - 7 8 9 ; Κ. Flasch (1988), Kap. 2 5 - 2 8 ; zur jüdischen und islamischen Religionsphilosophie des Mittelalters vgl. auch St. Grätzel/A. Kreiner (1999), Kap. II.5 u. III.3.
26
S. § 5.1.3; vgl. M. Lutz-Bachmann (1994), 220ff.; U . G . Leinsle (1995), 121ff.
27
Vgl. die Textauswahl bei K. Flasch (1999), 3 5 8 - 3 6 2 ; hier: 362; U . G . Leinsle,
28
Vgl. R . C . Neville (1993), 132f.
134ff.; V . Leppin (2000).
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Der Begriff der Substanz vereint Qualität und gestaltgewordene Existenz und kann in der Sonderstellung als erste Substanz auch für Gott Anwendung finden: „he ousia energeia"; doch gerade die (theologische) Vermittlung dieser Substanzialität bleibt unausgeführt. Die systematisch angelegte Wissenschaftstheorie bringt im Gottesbegriff die Religion an höchster Vernunftstelle zum Zuge; doch impliziert Aristoteles' Kosmologie den Gedanken der Ewigkeit der Welt29, was mit dem biblischen Vorrang der schöpferischen Transzendenz und der von ihr endlich geschaffenen Welt nicht zu vereinbaren ist. Die platonische Idee des Guten wird zur Zweckorientierung für Kosmologie, Ethik und Metaphysik; doch diese praktische, verhaltensbeschreibende Wendung verlangt ein - religionsphilosophisch noch unaufgeklärtes - Ineinander bzw. einen Ubergang zwischen Transzendenz und Immanenz. 1.2. Substantia prima simplex, quae Deus est (Thomas v. Aquin)
Die theologische Scholastik braucht Klärungen des vielfältigen und methodisch wie sachlich herausfordernden Materials der aristotelischen Uberlieferung. In religionsphilosophischem Interesse sollen hier zwei Felder herausgegriffen werden: Die wissenschaftstheoretische Klärung des Verhältnisses von scientia und theologia - und natürlich die Fortsetzungsgeschichte des aristotelischen Gottesarguments. Für die Stellung der Theologie an den Universitäten des 13. Jh. gibt es nur drei denkbare Möglichkeiten: (1) In der platonischaugustinischen Tradition gilt die Theologie als höchste Wissenschaft (sacra doctrina und sapientia) kraft kirchlicher Autorität, und der Wissenschaftsstatus rationaler Allgemeingültigkeit bleibt demgegenüber abhängig, zweitrangig, vortheologisch. (2) Im Pathos der neuen Aristoteles-Rezeption werden erkennbare Prinzipien, Gegenstandswissen und methodisch kontrollierte Beweisbarkeit für den Wissenschaftsbegriff verbindlich gesetzt, und die Theologie gerät demgegenüber in die akademische Isolation der unwissenschaftlichen, unselbständigen Autoritätsgläubigkeit. So kann es unter Nr. 152 der schon genannten Pariser Lehrverurteilung (1277) bezeichnenderweise heißen: „Die Reden des
29
Vgl. U.G. Leinsle, 124f.
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Theologen sind in Fabeln begründet." 30 (3) Die beiden Extreme können vermieden werden, wenn gezeigt wird, dass es sich bei der Theologie einerseits durchaus um scientia im modernen Sinn des 13. Jh. handelt; und dass andererseits die Sonderstellung der Theologie aufgrund der ihr vorausliegenden Gottesoffenbarung bzw. kirchlichen Autorität wissenschaftsverträglich ist. Diese letztere Integration oder Synthese hat Thomas (1225-1274) vorgeschlagen, fundiert in dem Gedanken, dass der Wissenschaftscharakter der Theologie eine doppelte Orientierung verlangt: Ihre Prinzipien sind der Theologie zwar entzogen (was bei anderen Wissenschaften ebenfalls vorkommt), durch die in Gottes Offenbarung mitgeteilten (geglaubten) Einsichten aber werden jene Prinzipien wissenschaftlich ersetzbar. 31 Damit steht die Theologie in der Perspektive Gottes selbst, ihr Gegenstand ist Gott (STh I, q. 1, a. 4), aber sie ist dessen - als natürlich-menschliche scientia - nur begrenzt mächtig. Diese Integrationsfigur von Wissenschaft und autoritativer Theologie macht allerdings eine allgemeine religionsphilosophische Voraussetzung: Dass Menschen von ihrer Natur her nicht nur generell zweckgerichtet agieren, sondern heilsbedürftig auf Gott angewiesen erscheinen, so dass die Gottesoffenbarung der wissenschaftlichen Rationalität gar nicht widersprechen, sondern deren Defizite gerade ausgleichen kann. 32 Hier ganz abgesehen von der durch die reformatorische Theologie dann aufgeworfenen Frage, ab das Verhältnis zwischen Gott und Mensch im religiös-existentiellen Sinne richtig getroffen ist33, die Integrationsfigur der thomasischen sacra doctrina ist deshalb problematisch, weil der spezifische Vorrang von Offenbarung und Glaube sozusagen vertikal und im Blick auf die Institutionsautorität der universalen Kirche der vera religio zur Geltung gebracht wird. Rein wissenschaftstheoretisch bleiben nämlich Glaube und Wissen im aristotelischen Modell Gegenstücke, die - wenn überhaupt - horizontal zu integrieren wären. Wenn Glaube dagegen selbst wissenschaftscharakteristisch und in seiner unabdingbaren Kreativität durchaus auch allgemein wäre 34 , dann erst stünden Wissen und rationales Handeln ihm nicht mehr ausschließend gegenüber, sondern diese Dimensionen wären zusammen in ei30 31
32 33 34
In: K. Flasch (1999), 362; s. Anm. 27. Summa theologiae I, q. 1, a. 2; vgl. hier und im folgenden W. Kluxen (1978), 185ff.; (1995), 197-200; M. Lutz-Bachmann (1994), 226ff.; U.G. Leinsle (1995), 155ff. STh I, q. 1, a. 1; Summa contra gentiles I, 7. S. § 7. S. § 1.4.
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nem kontinuierlichen Theorieentwurf vermittelbar zu denken; kurz: Glaube und Offenbarung gerieten gar nicht in den Verdacht, autoritär und heteronom eingreifen zu wollen. Die Anwendung des aristotelischen Wissenschaftsstandards auf die augustinisch-kirchliche Tradition aber ließ für Thomas eben nur den einen integrativen Spielraum, der sich dem puren Autoritätsmodell contra Wissenschaft ebenso entzieht wie dem puren Aristotelismus contra Theologie. Dass Gott als Gegenstand der wissenschaftlichen Theologie zu gelten hat, ist allerdings ein wichtiger religionsphilosophischer Akzent. Denn damit ist keine oberflächliche oder äußerliche Trennung zwischen Religion und Wissenschaft mehr vertretbar. Das theologische wie das wissenschaftliche Niveau werden nur dann gehalten, wenn der Standard der aristotelischen Metaphysik nicht unterschritten wird: zur theoretischen Wissenschaft gehört die Klärung des Gottesverhältnisses. Hierzu hat Thomas zugleich auch deutliche Veränderungen gegenüber Aristoteles angebracht - und als christlicher, der Kirche verpflichteter Ordenstheologe auch anbringen müssen. Das ist sehr schön in der Frühschrift (ca. 1255) De ente et essentia35 zu verfolgen, weil hier die aristotelischen Grundbegriffe der Metaphysik immer genau an die Grenze des jetzt vorauszusetzenden christlichen Gottesbegriffes stoßen. Die erste „ousia energeia" des Aristoteles (Met. XII, 6, 1071b,20) bleibt nur der Hierarchie nach unverändert, ihr Charakter als erste Substanz aber wird anders gedacht. Das ergibt sich daraus, dass Thomas zwar in aristotelischer Terminologie diskutiert, aber seinem dominierenden Interesse nach gar nicht mehr nach Bestimmungen der ousia forscht, sondern nach dem Sein, das der wirklichen Welt schöpferisch zugrunde liegt. Insofern ist schon der lakonische Satz am Ende des I. Kapitels der Schrift aufschlussreich: die „einfachen" Substanzen seien die Ursachen der „zusammengesetzten", das gelte „wenigstens [für] jene erste, einfache Substanz, die Gott ist" (ad minus substantia prima simplex, quae Deus est [I, 9,53]). Thomas unterscheidet in der geschaffenen Wirklichkeit zwar zwischen esse („Seiendes") und essentia („Wesenheit"), setzt aber substantia im Sinne von zugrundeliegender Ursache ein. Insofern kann von Gott natürlich (nach dem Vorbild des Aristoteles) von „erster Substanz" die Rede sein. Aber die Einfachheit führt zur einer Neubestimmung der gesamten Problemlage, weil in der ersten Substanz esse und essentia nicht mehr differenziert werden können. Die theologische
35
Der Text wird zitiert in der Ausgabe von H . Seidl, Über Seiendes und Wesenheit (1988), mit röm. Zahl der sechs Kapitel, Ziffer des Abschnitts (nach Seidls Gliederung) und Zeilenzahl im jeweiligen Kapitel (jeweils selbständig im lat. und dt. Text). - Vgl. im Folgenden auch J . F . Wippel (1982), 394ff.
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Voraussetzung des Schöpfergottes, ohne dass noch dahinterliegende Ursachen angenommen werden müssten, verlangt (über Aristoteles' Gottesargument hinausgehend) eine irgendwie seinsmäßig wirksam werdende Einfachheit. Sein (esse) und Wesen (essentia), Stoff (materia) und Form (forma), Möglichkeit (potentia) und Wirklichkeit (actus) geben dafür die Aufbaustruktur. Dem folgenden Textauszug aus dem IV. Kapitel geht der Gedanke voraus, dass zusammengesetzte Substanzen aus Form und Stoff gebildet werden (z.B. körperliche Substanzen), einfache Substanzen (wie Geistwesen oder Engel) dagegen sind ohne stoffliche Ausprägung und folglich über die Unterscheidung in Arten hinaus nicht weiter zu individuieren (IV, 66). Trotzdem sind diese einfachen Substanzen noch „nicht in jeder Hinsicht" von „Einfachheit" gekennzeichnet (IV, 67,103f.), und das erklärt sich aus der zusätzlich einzuführenden Unterscheidung von Möglichkeit und Wirklichkeit·. [67] „[...] Was nämlich nicht zum Begriff der Wesenheit [essentia] oder Washeit [quiditas] gehört, das k o m m t (zu ihr) von außen hinzu und bildet mit der Wesenheit eine Zusammensetzung. Man kann nämlich keine Wesenheit ohne das, was ihre Teile sind, einsehen. Jede Wesenheit oder Washeit kann aber eingesehen werden, ohne dass man etwas von ihrem Sein einsieht; denn ich kann (z.B.) einsehen, was der Mensch oder der Phönix ist, und doch nicht wissen, ob er ein Sein in der Natur der Dinge hat. Also leuchtet ein, dass das Sein verschieden ist von der Wesenheit oder Washeit. [68] Außer wenn es vielleicht ein Ding gibt, dessen Washeit das Sein selbst ist. U n d dieses kann nur eines und ein erstes sein; denn unmöglich kann eine Vervielfältigung von etwas stattfinden, außer entweder durch Hinzufügung eines Unterschiedes - auf diese Weise vervielfältigt sich die Natur der Gattung in die Arten - , oder durch die Aufnahme der F o r m in verschiedene Materien - und auf diese Weise vervielfältigt sich die Natur der Art in verschiedene Individuen [...] [69] W e n n man aber ein Ding annehmen kann, das nur Sein [esse tantum] ist und folglich das Sein selbst [ipsum esse], das für sich besteht [subsistens], so würde dieses Sein keine Hinzufügung eines Unterschiedes zulassen, weil es dann schon nicht mehr nur das Sein wäre, sondern das Sein und außer diesem noch eine F o r m . U n d viel weniger würde es die Hinzufügung einer Materie zulassen, weil es dann schon nicht mehr ein für sich bestehendes Sein wäre, sondern ein materielles. Daher bleibt nur übrig, dass ein solches Ding, das sein eigenes Sein ist, nur ein einziges sein kann [non potest esse nisi una]." „[72] U n d da alles, was durch etwas anderes ist, zurückgeht auf das, was an sich ist, wie auf eine erste Ursache [per se sicut ad causam primam], muß es ein Ding geben, das Seinsursache [causa essendi] für alle Dinge dadurch ist, dass es nur das Sein (selbst) ist. Sonst gäbe es bei den Ursachen einen Rückgang ins Unendliche, da jedes Ding, das nicht nur das Sein ist, eine Ursache seines Seins hat, wie gesagt. [...] U n d dies erweist sich als erste Ursache, die G o t t ist."
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(1) Möglichkeit und Wirklichkeit kommen im ersten Abschnitt [67] so zum Zuge, dass zwischen dem, was der Möglichkeit nach sein kann, und dem, was wirklich ist, so unterschieden wird wie zwischen gedachten Bestimmungen von etwas: seiner essentia oder quiditas, und dem „Sein in der Natur der Dinge", also dem wirklichen Dasein (esse). Diese Unterscheidung entspricht zunächst genau der (zum Verständnis der ousia-Lehre des Aristoteles) schon hilfsweise eingeführten zwischen Etwasheit und Istheit. Der Wesensaspekt einer Hinsicht auf Etwas, also die Etwasheit, heißt scholastisch jetzt essentia oder quiditas, und gemeint ist die Etwasbestimmung (z.B. ein Phönix, der so oder so - aus verschiedenen Bestimmungen zusammengesetzt vorgestellt werden kann), die von der Istheit offenbar unabhängig vorgenommen werden kann. Die folgenden Schwierigkeiten ergeben sich kosmologisch und theologisch motiviert erst dadurch, dass Thomas analog zur Wesenshierarchie des Aristoteles aufbauen will: So wie Aristoteles im Himmel ewige, wenn auch noch abhängige, Bewegung annimmt, hinter der dann allein die unbewegte Bewegung alles Anderen ursächlich gedacht werden kann, so will Thomas in kirchlich-biblischer Orientierung himmlische Geistwesen als Zwischenebene vor dem eigentlichen Seinsursprung denken. So kommt es, jetzt in scholastischer Terminologie, zur „berühmtesten Lehre" (A. Kenny) des Thomas in dieser metaphysischen Frage: Dass quiditas und esse bei allen Dingen voneinander unterschieden werden müssen, nur in Gott allein fallen beide zusammen.36 (2) Nun scheint es zunächst so, als sei mit dieser These nichts anderes gesagt als das, was auch Aristoteles für die vorrangige Wirklichkeit des Unbewegten Bewegers in Anspruch genommen hatte. Doch ist zu beachten, dass Aristoteles keinen theologisch ausgearbeiteten Gottesbegriff voraussetzt (was Thomas selbstverständlich tut, z.B. im Blick auf göttliche Schöpfung und endlich Geschaffenes), und dass Aristoteles im Blick auf die Substanz nicht von einer realen Differenz von Istheit und Etwasheit ausgeht. Das „Einheitliche" der Ousia initiiert Unterscheidungen37, ist also auf bestimmbare Aspekte aus, setzt deren Differenz aber nicht als Prämisse für den dann zu führenden Beweis der alleinstehend ersten Substanz als causa prima. Erst seit und nach Thomas bildet sich folglich der Begriff der Existenz im Gegensatz zur Essentia heraus, weil Thomas esse als selbständige Istheit, „esse [...] in rerum natura" (IV,
36 37
Vgl. A. Kenny (1999), 88ff. H. Hüni (1992), 90; vgl. E. Vollrath (1978), 116ff.
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67,91f.), unterscheiden kann. 38 Insofern klingt das Phönix-Beispiel ganz neuzeitlich, als ginge es um eine gesonderte Existenzbestimmung im Gegenüber zur quiditas. Dass das nicht beabsichtigt sein kann, zeigt der Kontext, in dem eben eine Seinshierarchie unterstellt wird, in deren Rahmen überhaupt nach einer verursachenden höchsten Instanz gefragt werden kann. Wäre die kosmologische Stufung von Körperwelt, Geistwesen und Gott nicht vorausgesetzt, würde sich die Analyse des zunächst getrennt zu Denkenden (Istheit/Etwasheit) und dann in einem Ersten Vereinigten gar nicht so ergeben, wie sie jetzt vorliegt. Denn wenn die reale Unterscheidung einmal gemacht ist, dass die Bestimmung des Wesens - oder (modern39 gesprochen) der Bedeutung von etwas - unabhängig davon erfolgen kann, ob dasselbe Etwas auch existiert oder nicht, fällt es schwer, den Sinn einer vorausliegenden Einheit noch mitzuvollziehen. Was kann es denn heißen, dass die (wesenhafte) Bedeutung von etwas - und sei es das Allerhöchste - darin aufgeht, da zu sein? (3) Thomas aber konzipiert den Gedankenschritt, dass es „ein Ding gibt, dessen Washeit das Sein selbst ist" [68], weil er aus Washeit allein gar keine Wirklichkeit begründen kann, diese muss folglich „von außen" [67] hinzukommen. Durch das aber, was hinzukommt, wird vervielfältigt: Durch begriffliche Differenzbestimmungen werden aus Gattungen Arten des Seienden; oder durch materielle Bestimmtheiten, so werden aus Arten individuelle Einzelsubstanzen [68]. Mit diesem Vervielfältigungsprozess ist aber nur in einer Richtung der Hierarchie, nach unten hin, etwas erklärt; die Verursachung nach oben hin bliebe offen - wenn nicht die anfängliche Einheit des Vielfältigen gedacht würde. (4) In einem Ersten müsste folglich sowohl die Zusammenwirkung von Stoff und Form wie die von Möglichkeit und Wirklichkeit suspendiert sein, und damit wären mögliche Vervielfältigungen eben ausgeschlossen [69]. Dieses Eine an erster Stelle ist für Thomas aber nicht Ousia oder Essentia, sondern jenes steht nur in der Funktion der ersten Substanz und heißt „ipsum esse" (IV, 69,105; 72,128). Wie kann aber etwas offenbar differenzlos - als „Sein" gedacht werden? Wiederum kann zunächst auf die kosmologischen Voraussetzungen verwiesen werden, dass die Welt des Veränderlich-Körperlichen über die Himmelsebene 38 39
Vgl. M. Willaschek: Existenz I, in: RGG 4 2 (1999), 1812. Vgl. hier und im Folgenden A. Kenny, aaO. 89; zur Distanz zwischen Thomas und Aristoteles auch K. Flasch (1988), 327; (1999), 288f.
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zum Unbewegten hin orientiert wird und dann von diesem her als verursacht gedacht werden muss. Wird aber diese - heute nur noch historisch verständliche - Kosmologie in Abzug gebracht, welche systematische Überlegung könnte Thomas' Seinshierarchie erklären? (5) Wenn Etwasheit und Istheit verbunden gedacht werden müssen, so ist im Rahmen der Frage nach dem Grund von Wirklichkeit überhaupt das Denken dieses Seienden kein neutrales Außenverhältnis mehr. Die notwendige Allgemeinheit des begrifflichen Denkens spielt entscheidend in die Bestimmung von Wirklichkeit hinein. Wird dies einmal zugestanden - im Blick auf Aristoteles gesagt: dass es der „Logos der Substanz" ist, worüber metaphysisch zu handeln ist40 - , so kann auch soweit mitgegangen werden, dass Wesen und Sein ohne stoffliche Vermittlung konzipiert werden können. Allgemeinbegriffe implizieren Bestimmungen im Blick auf Konkretionen (Individualitäten, Artbestimmtheiten, Gattungsunterscheidungen), wie Thomas sie untersucht; und diese sind dabei nicht nur ausgedachte Zusammensetzungen von Eigenschaften, sondern bestimmtheitsorientiert aufzufassen. So erklären sich die schwierigen Distinktionen der Bestimmtheitsstufungen von Materie, die Thomas im Blick auf weitergehende begriffliche Abstraktionsebenen vornehmen muss - damit diese nicht haltlos werden.41 Wenn also alles, was ist, in unterschiedlicher, aber gegliederter Weise aus der Zuordnung von Etwasheit und Istheit heraus verstanden werden muss, dann ist der verursachende Grund aller dieser Zuordnungen in gewissem Sinne außerhalb von diesen, aber doch so anzunehmen, dass er diese zu bestimmen in der Lage ist. Diese Rückfrage auf das hin, was nur zu verstehen ist als „per se sicut ad causam primam" (IV, 72,126), verlangt und entdeckt folglich esse als hinzukommende Bestimmungsfähigkeit für esentia; und weil den allgemeinbegrifflichen Washeiten durch diesen Bestimmungszuwachs von esse erst ihre jeweilige Wirklichkeit zukommt, kann die causa prima die causa essendi für alles Andere sein (72,127). Dass es in dieser Ursprünglichkeit absurd wäre, noch weitere Verursachungen anzusetzen, ist evident, sofern einmal die Ausgangslage und Seinshierarchie dieses aristotelischscholastischen Systems akzeptiert wird. Ein „Rückgang ins Unendliche" (72,162) erklärte gar nichts, also ist eine erste Ursache von Erklärungswert und insofern notwendig - und diese ist Gott (72,167).
40
E. Vollrath, aaO. 118; vgl. H . Hüni, aaO. 69: „Im Ausblick nach dem Grund des Seienden zeigt sich das Seiende als Grund."
41
Zur Unterscheidung von materia signata/non signata Seidl, in: Thomas v. Aquin (1988), XXIIIff., XLIIIff.
vgl. die Einl. von H .
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(6) Die erste Ursache ist insofern „transzendent"42, als mit ihr die Reihe der externen, d.h. der essentia gegenüber immer „ab alio" (IV, 71,124) hinzukommenden Seinsverursachungen, ihren höchsten Punkt erreicht hat. Wenn es überhaupt etwas gibt (was der Fall ist), und wenn esse zuletzt nicht aus essentia verursacht gedacht werden kann, dann muss eine erste Ursache von allem - und von außen kommend - angenommen werden. Dass diesem Argument heute eine verbreitete, vielleicht sogar notwendige Common-Sense-Plausibilität43 gerade auch auf dem Hintergrund der Grundlagendiskussionen der Naturwissenschaften und ihrer kosmologischen Modelle zukommt, sollte in der kritischen Betrachtung von Gottesargumenten dieser Art nicht unterschlagen werden; dieser Aspekt betrifft aber die platonische Tradition genauso wie die aristotelische.44 Neu diesen gegenüber ist bei Thomas der Akzent auf dem Begriff Sein. Denn die platonische Idee des Guten wie auch die aristotelische Erste Ousia bleiben im Blick auf eine erste vorauszusetzende höchste Erfüllung einerseits in theoriegeleiteter Distanz, andererseits religiös vieldeutig. Der Theologe Thomas aber hat die kirchliche Voraussetzung der Gottesoffenbarung im Sinn, die zu glauben ist. Doch religionsphilosophisch gesehen liegt der Effekt der Seinsbegrifflichkeit in möglichen induktiven Zugängen, und viel entschiedener als in der antiken Tradition werden die getrennten Perspektiven von Etwasheit und Istheit etabliert. Beide müssen für begriffliche Bestimmungen zwar immer wieder - je nach Seinsebene unterschiedlich - zusammenkommen, aber die Selbstverständlichkeit eines jeweils bestimmten Zusammen von quiditas und esse erscheint gebrochen. Anders gesagt: Wenn die Stufen des Seins nicht mehr notwendige Vermittlungsgestalten von Etwasheit und Istheit darstellen, dann sind sie kontingent. Hier liegt der Unterschied des christlichen Schöpfungsbegriffs im Vergleich zur aristotelischen Vorstellung von der Ewigkeit der Welt offen zutage45, und die Frage an das Gottesargument spitzt sich damit auf einen wirklichen Existenzbeweis zu: Ob nämlich auf wissenschaftlicher Basis (das ist für die Scholastik das corpus Aristotelicum) aus dem Zusammenspiel von Wesensbestimmungen und Existenz eben die notwendige Existenz Gottes gezeigt werden kann. Bereits in De ente et essentia geht
42 43 44 45
H. Seidl, Einl., aaO. XXXVIII. Vgl. zu den Überschneidungen von Religion, Metaphysik und spätmoderner Naturwissenschaft R.C. Neville (1993), Kap. 1. S. § 1.4.3 (zu den naturwissenschaftlichen Aspekten); § 4.1 (zur Kosmologie im Buch Hiob); § 5.1.2 (zur neuplatonischen Verehrung des Kosmos bei Boethius). S. § 6.1.1 (die dritte der vier Schlussfragen zu Aristoteles' Metaphysik); vgl. auch A. Kenny (1999), 91f.; K. Flasch (1988), 338.
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Thomas diesen Weg, von der Differenz beider (essentia und esse) auf deren vorausliegende notwendige Einheit zu schließen, diese aber ist die „causa essendi" (IV, 72,127), nicht mehr die Idee des Guten, auch nicht mehr die Erste Ousia. Aufgrund dieses scholastischen Entwicklungsstandes liegt es nahe, die Zuordnung von Etwasheit und Istheit als Problemanzeige weiter zu verfeinern. Dadurch dass Thomas faktisch den Existenzbegriff so gewichtet, dass in ihm der Gottesbeweis kulminieren muss, und dadurch dass er dies nur durchführen kann, wenn der metaphysische Sinn der aristotelischen Kosmoshierarchie in Kraft bleibt, bahnt sich eine neue Begriffsunterscheidung an: die zwischen „Sein" und „Existenz". Ob individuelle Einzelexistenz gemeint ist oder ein Seiendes immaterieller Istheit, das macht offensichtlich einen Unterschied. Im orientierenden Grundsatz Etwas ist da, sind dann nicht nur zwei, sondern drei Bestimmungsstücke voneinander abzuheben: • Etwasheit bleibt die zugrundeliegende Qualität, die Aristoteles in der regierenden Frage nach der ousia fasst, Thomas als essentia oder quiditas von der verursachenden Substanz unterscheidet. • Istheit muss für Thomas im Rahmen der metaphysischen Seinsfrage verstanden werden, und diese zielt gar nicht primär auf empirische Existenz, sondern auf die „Aktualisierung aller Akte"46 im Horizont der Potentia-Actus-Lehre, in der allerdings der ExistenzAspekt sich herauszuheben beginnt. • Damit ist drittens das Bestimmungsstück des einfachen Daseins entdeckt, also die raumzeitliche Anzeige der „individuellen Existenz « . 47 Auf der Basis dieser dreifachen (ontologischen) Unterscheidung lassen sich die vier (religionsphilosophischen) Problemfragen im Anschluss an Aristoteles wie folgt aufgreifen: • Die Metaphysik des Seienden als solchen wird von Thomas mit aller Kraft weitergeführt, und anstelle eines theologischen Defizits in der Sachhaltigkeit der Ersten Ursache tritt die Doppelstrategie: Was die Metaphysik nachweisen kann korrespondiert der Offenbarungslehre der Kirche, die über die Vollkommenheit Gottes immer schon mehr weiß, als der rationale Zugang wird zeigen können. Letzterer aber soll keineswegs geschmälert werden, damit 46 47
Vgl. das Zitat aus Thomas' Quaestiones aaO. 98. A. Kenny, 86.
Disputatae
de Potentin
bei A. Kenny,
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zwischen (aristotelischem) Wissenschaftsstandard des 13. Jh. und Glauben der Kirche kein Riss entsteht. Die Vorstellbarkeit und Wirksamkeit der Ersten Ousia erscheint für Thomas in anderem Licht, weil wiederum die schöpfungstheologischen (biblischen) Zusammenhänge parallel laufen. Was theoretisch zu zeigen ist, bleibt allerdings der Zusammenhang von Seinsgrund und kontingenter Wirklichkeit der geschaffenen Welt. An diesem Problem arbeitet Thomas - dann in der Summa theologiae - mit dem gebündelten Einsatz der induktiven Gottesbeweise. Dass Thomas die Ewigkeit der Welt mit aristotelischen Argumenten weder bestätigen noch widerlegen will, zeigt ein Dilemma. Kontingenz zeichnet sich ab48; und damit die Existenz der individuellen Einzeldinge als metaphysisches Problem. Erkenntnistheoretisch bleibt Thomas bei der Ablehnung der besonderen Welt der Ideen, doch (hier ganz abgesehen von der Entwicklung der Ethik des Guten) es entsteht eine Vermittlungsinstanz zwischen Geist und Natur im Konzept des „intellectus agens": der Aktivität des Denkens im Blick auf Wirklichkeit. 49 Die Frage bleibt, inwiefern diese Erkenntnistheorie mit Theologie vermittelt ist bzw. welche Bedeutung religionsphilosophisch der Eigenwirksamkeit des menschlichen Geistes zukommt.
1.3. Das Gottesargument ex parte motus (Thomas v. Aquin) Was für den kirchlich-autoritativen Glauben als Selbstverständlichkeit gilt, dass Gott ist, muss für die wissenschaftliche Theologie erst gezeigt werden; und es lässt sich auch zeigen, weil Gott, der als solcher menschlich bedingtem Denken natürlich entzogen ist, an seinen schöpferischen Wirkungen - nämlich als deren Ursache - erkannt werden kann. 30 Die mit Aristoteles gestellte Frage nach der Ersten Ousia wird zur Frage nach der ersten Wirklichkeit, die die Ursachenbedingungen für die sichtbaren Wirkungen in der physikalischen Welt der Bewegungen erfüllen kann. Die Wirklichkeit der Bewegungen sucht ihre eigene Verursachung, oder anders: Wie kann die Notwendigkeit der (Existenz
48 49 50
Vgl. K. Flasch (1988), 327. Vgl. STh I, q. 79, a. 3; dazu A. Kenny, Kap. 3, bes. 114ff. Vgl. W. Kluxen (1995), 201ff.; H. Seidl (Hg.), Gottesbeweise (1996), XHIff. (der Text aus Summa theologiae I, q. 2, a. 3 wird im Folgenden nach dieser Ausg. zitiert).
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der) ersten Substanz gezeigt werden? Das Grundmuster der Beweise gibt der erste der Fünf WegeDl\ „Der erste und augenfälligere Weg aber ist der, welcher von der Bewegung her genommen wird [ex parte motus], (a) Es ist nämlich gewiss und steht für die Sinneswahrnehmung fest, dass einige (Dinge) in dieser Welt bewegt werden. Alles aber, was bewegt wird, wird von etwas anderem bewegt [Omne quod movetur, ab alio movetur]. Nichts nämlich wird bewegt, außer sofern es sich zu dem in Möglichkeit verhält, wozu es bewegt wird. Etwas bewegt aber, sofern es in Wirklichkeit [actu] ist; denn bewegen heißt nichts anderes, als etwas aus der Möglichkeit in die Wirklichkeit überführen. [...] Es ist also unmöglich, dass etwas in derselben Hinsicht und auf dieselbe Weise bewegend und bewegt ist oder sich selbst bewegt. Alles also, was bewegt wird, muss von etwas anderem bewegt werden, (b) Wenn also das, wovon es bewegt wird, (seinerseits) bewegt wird, dann muss es auch selbst von einem anderen bewegt werden und jenes (wiederum) von einem anderen. Hier aber kann es nicht ins Unendliche gehen [non est procedere in infinitum], weil so nicht etwas erstes Bewegendes [aliquid primum movens] wäre, und infolgedessen auch kein anderes Bewegendes, weil die zweiten bewegenden (Ursachen) [moventia secunda] nur dadurch bewegen, dass sie von einem ersten Bewegenden [a primo movente] bewegt sind, wie z.B. der Stab nur dadurch (etwas) bewegt, dass er von der Hand bewegt ist. (c) Also ist es notwendig zu etwas erstem Bewegenden zu kommen, das von nichts bewegt wird [a nullo movetur]. Und dies verstehen alle als Gott [et hoc omnes intelligunt Deum]."
(1) Wenn hier von einem induktiven Beweis gesprochen wird52, so ist damit nicht der moderne, seit dem 17. Jh. eingeführte Begriff der empirischen Induktion gemeint, die auf dem auswahlweisen Sammeln von Erfahrungsdaten aufbaut, sondern der aristotelische Begriff des epagogischen Schlusses, der von erfahrbaren (besonderen) Wirkungen auf insofern nachweisbare (allgemeine) Ursachen schließt.53 Mit dem modernen Erfahrungsbegriff gemeinsam bleibt der Ausgang beim natürlich Gegebenen. Aristoteles und Thomas denken zugleich aber dieses Natürliche in seinem Ousia- bzw. Seinszusammenhang, weil es sonst gar nicht zu denken wäre! Dass auch das naturwissenschaftlich geprägte Weltbild dem Kausalzusammenhang und seinem besonderen Charakter, eben ein vernünftig bestimmbarer Zusammenhang zu sein, nicht entgeht, soll 51
Aus dem corpus von Art. 3, STh I, q. 2; H. Seidl (Hg.), aaO. 52-55. - Zur Sonderstellung des ersten Beweises und zu den aristotelisch-arabischen Vorlagen vgl. J . Clayton: Gottesbeweise II, in: T R E 13 (1984), 724-740; 732ff.
52
S. § 1, Schema 1.4; im weiteren Sinne handelt es sich also um einen schen Beweis, vgl. auch J . Schmidt (2003), 46ff.
53
Vgl. H . Seidl, aaO. XHIff., 119f.; dazu Aristoteles (1998), 364ff. (2. Analytik, I, 13). - Zum modernen Induktionsbegriff vgl. F. Bacon, Neues Organon (1999), 43ff.; 300/301 (zur „inductio legitima et vera"): „man soll auffinden, was die Natur macht oder bringt"; s. § 8.1.
kosmologi-
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hier schon festgehalten werden. 34 Dadurch kann zumindest Verständnis dafür geweckt werden, dass Thomas die Induktion in einem ontologischen Kontext platziert und theologisch als Argument einsetzt. (2) Logisch gesehen liegt hier ein Syllogismus aus zwei Prämissen (Obersatz und Untersatz) mit einem Mittelbegriff vor, nach dem Schema 55 : Cist A Β ist C .·. Β ist A Thomas nennt den Untersatz, d.h. den Ausgang bei der Erfahrung bzw. Wirkung, jeweils an erster Stelle, den Obersatz, d.h. die Kausalerklärung und ihre Denkbedingung, an zweiter Stelle; vereinfacht ausgedrückt (die römischen Zahlen zeigen die logischen Schritte an 56 , die Kleinbuchstaben entsprechen der Reihenfolge der Argumentationsschritte im dt. Text des „ersten Weges"): II.(a): Β ist C (Dinge sind bewegt [von anderem]) I.(b): C ist A (Bewegung hat [erste] Ursache) III.(c): Β ist A (Dinge haben eine erste Ursache) Die Schwierigkeiten des Beweises liegen nicht in seinem Schema, sondern in der jeweiligen Spezifikation der beiden Prämissen, die ein ganz bestimmtes Verständnis von Bewegung (II) und von Kausalität (I) unterstellen müssen, damit der Schluss auf die eine und erste Ursache: Gott (III) plausibel wird. Bewegung als die naheliegendste Erfahrung und Anschauung der Menschen muss bei Thomas offensichtlich zugleich physikalisch und ontologisch (metaphysisch) aufgefasst werden. Auch wenn der Grundsatz „omne quod movetur, ab alio movetur" (Abs. a) nach der Mechanik von Billardkugeln klingt 57 , dieser Vergleich trifft gerade nicht die kosmologischen Denkbedingungen eines Bewegungsbegriffs, der unterhalb des Himmels immer nur abhängige und unvollständige Bewegungsformen kennt. Bewegung impliziert hier die Frage nach der prinzipiellen Möglichkeit von Veränderung, kennt weder Trägheitsgesetz
54
55 56 57
Vgl. dazu Ch.S. Peirce' Induktionsbegriff (z.B. in EP 1 [1992], 186-199) und sein logisches „Prinzip": Jedes Ereignis muß eine Ursache haben", bzw.: „Es gibt einen vernünftigen Grund" (RS, 98, 349; vgl. 452 Anm. 24). Vgl. R. Ruzicka: Induktion I, in: HWP 4 (1976), 323-329; 324. Vgl. H. Seidl, aaO. 119. Vgl. hier und im Folgenden A. Kenny (1980); dessen Einwände im Uberblick bei H. Seidl, aaO. 136-140.
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noch Gravitation38 und sieht in der physikalischen Bewegung die ontologische Realisierung des Ubergangs von angelegter Möglichkeit in Wirklichkeit; und letztere zu erklären verlangt nach einer von außen kommenden wirklichen Verursachung. Thomas eigenes Beispiel, wie Feuer (als wirkliche Verursachung) Holz (das der Möglichkeit nach warm sein bzw. brennen kann) verändert, d.h. bewegt, zeigt alle Schwierigkeiten, aber auch die metaphysischen Voraussetzungen dieses Bewegungsbegriffs. Dass wir aus heutiger Sicht mechanische Bewegungen so nicht mehr konzipieren können, ist einerseits ein gravierender Einwand gegen die Schlüssigkeit des Bewegungsbeweises; andererseits aber geht es gerade auch heute um Bewegung/Veränderung in evolutionären Prozessen, d.h. um die durchaus nicht überholte Frage, wie es zu Neuem, Anderem, Verändertem, Ubergängen etc. kommen kann. In dieser Perspektive will Thomas die Außenverursachung gleich in seiner ersten Prämisse (Abs. a) festklopfen, weil zwischen der Möglichkeit, die im potentiell Bewegten angelegt ist, und der Wirklichkeit im Bewegenden immer so unterschieden werden muss, dass in dieser Hinsicht ein Ding nicht zugleich das eine und das andere sein kann. A. Kennys witziger Einwand, wenn die Wirklichkeit (als Ursache) bezüglich der Möglichkeit (im zu Bewegenden) vorausgehe, dann müsse einer, der Ochsen mäste, selbst fett sein39, ist eine Verzerrung des Problems. Denn das Verhältnis von Ursache/Wirklichkeit im Bewegenden zu Wirkung/Möglichkeit im Bewegten wird dann immer noch im Muster von anstoßenden Billardkugeln gedacht, während im Beispiel des Mästens (entgegen dieser Mechanik) eine intentionale Handlungsbeziehung dominiert, d.h. es handelt sich um mehrfach vermittelte Verursachungen. Für den Grundgedanken der ersten Prämisse würde es heute genügen festzuhalten, dass Veränderungen generell durch Verursachungen erklärt werden müssen, die gegenüber ihrer Wirkung nur von außen kommen können. Auch wenn von der (autopoietischen) Selbstorganisation von Systemen60 gesprochen wird, kann in diesen Prozessen dasselbe gezeigt werden: Jede Veränderung lässt sich nach Ursache und Wirkung - und dem Verstehen dieses Zusammenhanges -
58 59 60
Vgl. zur den Änderungen im Weltbild der Physik II. Prigogine/I. Stengers (1983), Teil I; St. Hawking (2001), Kap. 1 u. 2; A. Kenny, aaO. 22. Zu M. Eigens Begriff Selbstorganisation vgl. W. Stegmüller, Bd. III (1986), 209f.; auch Ii. Prigogine/I. Stengers, aaO. 189f. - Der Begriff der Selbstorgamsation findet sich bereits in F.W.J. Schellings Naturphilosophie und Trinitätslehre, vgl. U. Barth (2003), 470-481. - Zur Übernahme des Begriffs Autopoiesis von dem Biologen H.R. Maturana vgl. N. Luhmann (1987), 57ff. u. Anm. 58.
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beschreiben, d.h. es geht um die Relation „seinen Grund finden in", die wiederum auf dem Grundsatz beruht: ex nihilo nihil fit.61 (3) Nicht ohne Schwierigkeiten ist natürlich auch die zweite Prämisse (b), vor allem insofern sie eine erste, d.h. die Kausalverkettung verlassende, also transzendente Ursache verlangt. Nur dann nämlich, wenn die erste Ursache nicht in die Kette von Ursachen-Wirkungen gehört, ist sie selbst prinzipiell anders, d.h. unbewegt bewegend. Thomas führt dazu erstens den Gedanken an, der unendliche Regress auf immer weitere Verursachungen müsse ausgeschlossen werden, und zweitens das Beispiel vom Stab (Abs. b), der als mittleres (oder zweites) Bewegtes etwas anderes bewegt, weil ein erstes Bewegendes, die Hand die den Stab führt, voraus geht. Auch hier erscheinen beide Argumente in einem mechanistischen Bewegungsmodell nicht durchschlagend, weil sich in Verursachungsreihen eben immer nur frühere, aber nicht erste Ursachen zeigen lassen. Dann spricht auch gar nichts gegen unendliche Verursachungsketten, weil die Rückfragen rein pragmatisch an irgendeinem Punkt abgebrochen werden können, wo nach dem jeweiligen Bedarf ausreichend erklärt worden ist. Andererseits muss wiederum gesagt werden, dass für Thomas nicht das mechanistische Modell gilt, sondern das der gezielten Veränderung, die dann auch in bestimmter Weise verstanden werden muss. Wenn Menschen handeln oder eine Hand einen Stab führt, geht es nicht nur um materielle, sondern um immaterielle Verursachungen62, und bei diesen erscheint die Unterscheidung nach einer mittleren (instrumentellen) Ebene sinnvoll und zwingend, der gegenüber dann ein Erstes und Letztes benannt werden müssen. In diesem Fall wäre auch der infinite Regress tatsächlich destruktiv und würde nichts mehr erklären. Um also ein bestimmte Wirkung als beabsichtigte Veränderung zu verstehen63, helfen die vermittelnden Bewegungen (moventia secunda) nur dann, wenn auch die erste Bewegungsverursachung benennbar ist (primum movens), sonst wird der Vorgang zusammenhangslos. Die Relation „seinen Grund finden in" 64 erscheint also auch hier anwendbar und sinnvoll.
61
H . G . Hubbeling (1981), 89ff.
62
Vgl. H . Seidl, aaO. 145.
63
Z u m differenzierten Zusammenhang von Erklären und Verstehen s. § 1.4 u. §
64
Vgl. Hubbeling, aaO. 90f. (mit der zusätzlichen Voraussetzung, dass „die Zahl der Teilmengen von Teilmengen nicht unendlich ist"); zur Frage nach dem Grund s. auch § 2.1.
2.1.
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(4) Ob mit diesem letzten Grund aber zugleich das metaphysisch Erste zwingend gezeigt ist und ob dieses wiederum mit Gott gleichgesetzt werden kann, ist eine weitere schwierige Frage. Sie ist nur in bestimmten Interpretationskontexten und ihren jeweiligen religiösen wie philosophischen Traditionen zu entscheiden. Im Kontext der christlichen Philosophie ist dieser Zusammenhang für Thomas eine Selbstverständlichkeit, weil Gott als das (schöpferisch) Erste gedacht werden muss und weil die (aristotelische) Kosmologie diese erste Verursachung zur Erklärung und zum Verstehen des Ganzen braucht. Ein zwingender Beweis aber kann in diesem Punkt nicht geführt werden, weil jeweils geistesgeschichtlich und wissenschaftstheoretisch unterschiedliche Verständnisbedingungen erkenntnisleitend im Spiel sein können. Die faktische Tendenz der europäischen Neuzeit allerdings, naturwissenschaftliche Kosmologie und religiöse Erfahrung voneinander abzutrennen, könnte zum Nachteil beider ausschlagen und überhaupt ein Missverständnis sein. Die Frage nach der Relation der Dinge von einem Grund her führt religionsgeschichtlich zur Gottesvorstellung und naturwissenschaftlich zu Prinzipien, Mustern und erstrangigen Modellvorstellungen. Für Thomas und die christliche Philosophie war der Zusammenhang zwischen beidem jedenfalls aus guten Gründen naheliegend, und die Religionsphilosophie heute sollte weder den Metaphysikverlust des europäischen Christentums in der Neuzeit noch die empiristische Isolierung der vorherrschenden (naturwissenschaftlichen) Kosmologien als unveränderliche Errungenschaften preisen. Es handelt sich in allen denkbaren Richtungen um menschliche Interpretationshinsichten, die selbst aus dem Naturzusammenhang geworden sind und die diesen wiederum zu bestimmen suchen.63 Die Frage nach der Erstverursachung, d.h. nach dem Grund, kann nicht fallen gelassen werden, solange Intentionen und Ereignisse im Spiel sind, die niemals in mechanischen Verkettungen allein ausreichend erklärt sind: Sie wollen im Zusammenhang verstanden werden, und dieser Zusammenhang schließt die geistigen Kapazitäten der Menschen ein, die sich in dieser ihrer Selbst-Voraussetzung nicht selbst begründen können. In Thomas' Wissenschaftssystem sollten diese religiösen Vorgaben mit dem analytischen Geist seiner Zeit zusammenstimmen, und sein Gottesbeweis zeigt demgemäß die Ubergänge und Bruchstellen zwischen Glauben und Wissen.
65
Zur produktiven Veränderung des Naturhegriffs in der Spätscholastik vgl. W . Achtner (2008).
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2. Dialektische Theologie (Abaelard) Die Vermittlung zwischen aristotelischem Wissenschaftsstandard und kirchlicher Glaubensautorität musste keineswegs mit Notwendigkeit auf das thomasische Aufbaumodell von Glauben und Wissen hinauslaufen. Der rationale Anspruch scholastischen Denkens bedurfte auch nicht erst der das Hochmittelalter prägenden Rezeption der Hauptschriften des Aristoteles, sondern bereits die seit Boethius und Prophyrios dem lateinischen Mittelalter überlieferten logischen (aristotelischen) Schulbücher 66 waren ein Prüfstein richtigen Argumentierens. Die Frühscholastik, vor allem Anselm von Canterbury und Petrus Abaelardus, haben sich dieser Rationalität verpflichtet, Abaelard besonders dadurch, dass er die logische Prüfung kritisch auf das autoritative Zeugnis der Väter bzw. der kirchlichen Lehre bezieht. 67 Von dialektischer Theologie zu sprechen hat in diesem Kontext einen mehrfachen Sinn: (1) Abaelard ist ein leidenschaftlicher Philosoph. In der mittelalterlichen Schulbildung der Artes (der „Sieben Freien Künste") kommt Philosophie im Trivium·. Grammatik, Rhetorik, Dialektik, zu Darstellung, und Dialektik ist hier in der Tradition der boethianischen Logik zu verstehen. Abaelard hat sich dementsprechend auch selbst als „Peripatetiker" 68 gesehen, als Anhänger der aristotelischen Schulphilosophie. (2) Abaelards Theologie ist dialektisch, weil er wie Sokrates auf dem Vorrang der (göttlichen) Wahrheit besteht, der gegenüber menschliches Wissen immer nur unzureichend sein kann. 69 Trotzdem gibt es den Streit um die Wahrheit, und dieser Streit gehört demnach zur Situation der göttlichen Wahrheit unter menschlichen Bedingungen. Abaelard begründet dies ausführlich mit dem Kampf um die wahre Lehre des
66 67 68
69
S. § 5.1; vgl. K. Flasch (1999), 107ff. (Einl. zu Boethius). Vgl. die Einstufung Abaelards als „Schlüsselfigur des 12. Jahrhunderts" bei K. Flasch (1999), 221; zum Vergleich mit Anselm ebd. 224. So im Schlusssatz, der Unterzeichnung der frühen Schrift Theologia Summi boni (1120), 259; auch im autobiographischen Zeugnis {Erster Brief), Briefwechsel (1997), 6 (vgl. 388). - Zu den Bestandteilen der Sieben Freien Künste vgl. in TSB, aaO. 262 (Anm. 67, 16); zum Quadrivium gehören Arithmetik, Geometrie, Astronomie, Musik. TSB, 259: „Von der Wahrheit bekennen wir, sie nicht wissen zu können." Zur Interpretation von Abaelards Theologie vgl. auch H. Deuser, Gottesinstinkt (2004), Kap. I.3.B.
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christlichen Glaubens. Zur Dialektik gehört deshalb die Orientierung an der Instanz der Wahrheit, von der die um sie Streitenden zu unterscheiden sind. Abaelard ist so gesehen nicht nur Aristoteliker (der Logik/Dialektik wegen), sondern auch Platoniker (des Dialogs wegen) der „gallische Sokrates".70 (3) Abaelard aber schreibt keineswegs suchende, ein Thema umkreisende Dialoge, sondern logisch analysierende Texte. Der dritte Sinn von Dialektik ist demnach ein methodischer: Fragestellungen der Theologie sind begrifflich aufzulösen, logisch in ihre Denkmöglichkeiten zu zerlegen, um sie dann rationaliter einer sachgemäßen Beantwortung zuzuführen. Dass diese Art kritischer Theologie der kirchlichen Lehre und ihrer überlieferten Autorität nicht widersprechen kann und soll, ist dabei wie eine mitlaufende Voraussetzung; insofern dient die philosophische Klärung der theologischen Wahrheit. Umgekehrt aber braucht letztere offensichtlich diesen Klärungsprozess, solange Menschen und nicht Engel sich um sie bemühen, und eben diese Klärungsaufgabe ist dialektische Theologie - ganz ähnlich der modernen Begriffsbildung Religionsphilosophie also eine bewusste Zuordnung von Rationalität und religiösem Glauben. Abaelard ist im methodisch geleiteten Zugriff auf beide Seiten ein Meister gewesen. Abaelard (1079-1142), ca. 150 Jahre vor Thomas v. Aquin, studiert und lehrt an unterschiedlichen Schulen; immer wieder in Paris, aber noch vor der klar etablierten Universitätsorganisation, wie sie sich erst im 13. Jahrhundert herausbildet. Für Abaelards Zeit gilt: „Die Schule ist dort, wo der Lehrer ist"71, und er hat selbst diese charismatische Rolle des schulbildenden Magisters forciert. Er wurde verehrt und verachtet, kirchlich verurteilt und fachlich geschätzt. Seine Wirkung besteht zuletzt in der Durchsetzung der Forderung, die Glaubens- und Lehrtraditionen den Standards der rationalen Argumentation zugänglich zu machen. Am Beispiel seines frühen Traktats zur Verteidigung der Trinität, der Theologia Summi boni von 1120, sind dieses Verfahren und die damit - religionsphilosophisch gesehen - neue Problemlage sehr gut zu studieren.
70
71
Vgl. U. Niggli, TSB, XXXI (Einl.). - K. Flasch (1988), 211, zitiert Petrus Venerabilis, Abt von Cluny und Förderer Abaelards, mit den Worten, Abaelard sei „Sokrates Frankreichs", „Piaton des Westens" und unser „Aristoteles". U.G. Leinsle (1995), 33 (s. dort auch zur Entwicklung der unterschiedlichen Schulen seit dem 9. Jahrhundert); zu Abaelards Lebensdaten vgl. R. Peppermüller: Abaelard, in: TRE 1 (1977), 7-17; hier: 7-11; U. Niggli, aaO. (Einl.).
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Anders als Thomas v. Aquin treibt Abaelard nicht Seinsphilosophie im Anschluss an Aristoteles' Metaphysik 72 (die ihm noch gar nicht zugänglich ist), sondern er sucht primär logische und sprachphilosophische Klärungen auf der Basis von Rhetorik, Grammatik und vor allem der Kategorienlehre. Dass letztere dabei selbst auf dem Spiel steht und zumindest weiter bearbeitet werden muss, wird im 12. Jh. ebenso deutlich wie schon zur Zeit der frühen Kirche 73 : Denn es ist die göttliche Trinität, für die die logischen und grammatischen Mittel eingesetzt werden müssen und an der diese womöglich scheitern. Abaelard sucht einen mittleren Weg: Sich allein auf die autoritativ überlieferte Wahrheit der kirchlichen Lehre zu verlassen ist ihm ebenso unbefriedigend wie die wissenschaftlich-rationale Ablehnung ihrer Aussagen. Die Dialektik also soll für den Glauben eingesetzt werden, und so besteht die Theologia Summi boni in ihrem ersten Buch aus der positiv dargestellten kirchlichen Trinitätsauffassung, während das zweite und sehr viel umfangreichere Buch die subtilen begrifflichen Einwände dagegen vorlegt, die aufgrund eigener Begriffsklärungen dann im dritten Buch widerlegt werden. Als eine der gültigen Denkvoraussetzungen soll zunächst die Kategorientafel des Aristoteles erinnert werden74: Das einzelne Zugrundeliegende, die Substanz, wird demnach als ein Erstes von den neun weiteren Kategorien unterschieden und von diesen zugleich in verschiedenen Eigenschaften bestimmt: Akzidenzien (Quantität, Qualität, Relation, Ort, Zeit, Lage, Haben, Wirken, Leiden). Zudem sind Substanzen nach Gattung und Art zu ordnen, so wie ein einzelner Mensch („Sokrates") zur „Art" Mensch gehört, die wiederum als rationales Lebewesen von anderen „Arten" dieser „Gattung" unterscheidbar ist. Seit das frühe Christentum sich dieser Begrifflichkeit gestellt hatte - und das mit durchaus guten Gründen gemäß platonischer und aristotelischer Philosophie - , war als besondere erste Substanz Gott zu denken. Hat Gott aber Akzidenzien, und wie kann die erste und eine Substanz in den drei Personen der Trinität aufgefasst werden? Abaelard will keinen Existenzbeweis für die erste Substanz führen. Wenn aber in Gott, der ersten und einen Substanz, Istheit und Etwas-
72
S. § 6.1.2.
73
Zum Begriff der Relation in Augustins Trinitätslehre vgl. H. Deuser, Gottesinstinkt (2004), Kap. II.5.B.
74
Aristoteles, Kategorien, hg. v. K. Oehler (1984); vgl. PL, 56; J . Halfwassen: Substanz; Substanz/Akzidens I, u. B. Wald: Substanz; Substanz/Akzidens II, in: H O T 10 (1998), 495-507, 507-521.
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heit zusammenfallen75, wie ist dann diese Wirklichkeit Gottes zu denken? Wie passen die „Einerleiheit der göttlichen Substanz" mit „der Verschiedenheit der Personen [hanc identitatem illi diversitati]" widerspruchsfrei zusammen (TSB, 124/125)? Weil sich hier philosophische Probleme ergeben haben, weil logische Einwände erhoben wurden, muss die Philosophie (als Dialektik bzw. Logik) zum Einsatz kommen, um der Autorität des Glaubens beizuspringen. Abaelard unterscheidet folglich eine fehlerhaft eingesetzte Dialektik, die in Aufnahme antiker Polemik auch „Sophistik" genannt werden kann (TSB, 67), von der nützlichen und notwendigen Dialektik. Dazu der treffliche Vergleich: „Auch der Knabe David tötete im Vertrauen auf göttlichen Beistand den prahlerischen Riesen Goliath - mit dessen eigenem Schwert" (TSB, 81)! Die Bildrede gibt zu verstehen, wie ganz in der Tradition Augustine die allgemeine christliche „vera religio" selbstbewusst verteidigt wird: als überlegene Religion und auf höchstem philosophischem Erkenntnisstand (TSB, 57-61). Wo eine dieser beiden Säulen intern oder extern bestritten wird, da muss in der begrifflichen Auseinandersetzung eben die Dialektik, das Schwert der Gegner, gegen sie selbst gerichtet werden. Der Glaube braucht die Wissenschaft: „Nimmer geben wir zu, dass irgendeine Wissenschaft von Übel ist, auch nicht jene, welche das Übel abhandelt" (69). Abaelard will nicht kirchlichen Glauben durch Wissenschaft ersetzen, der Vorwurf des Rationalismus76 trifft ihn insofern nicht, aber er will „wenigstens etwas Wahrscheinliches [aliquid verisimile] und der menschlichen Vernunft Affines [humanae rationi vicinum], aber der Hl. Schrift nicht Konträres" vorbringen „gegen diejenigen, die sich rühmen, den Glauben mit menschlichen Argumenten anzugreifen" (83). Das hier exemplarisch vorliegende und in seiner traditionell kirchlichen Fassung „dialektisch" bestrittene Lehrstück ist die Trinitätslehre, deren nominalistische Kritik, hier vertreten durch Abaelards früheren Lehrer Johannes Roscelin v. Compiènge (ca. 1050 - ca. 1120), darauf hinauslief festzustellen: Weil konkret allein die drei Personen der Trinität bestimmt werden können, ist ihre Einheit in einem Gott eigentlich ein leerer, abstrakter Begriff, ein bloßer „Name" oder „flatus vo75 76
Zur Terminologie (im Anschluss an die aristotelische Problemstellung) s. § 6, Anm. 3. Vgl. zur älteren (vom lehramtlichen Standpunkt aus argumentierenden) Forschung M. Grahmann II (1961), 188-199; zur neueren Diskussion K. Flasch (1988), 216: „Abaelard erneuerte dieses [sc. antike] Selbstzutrauen der Vernunft"; K. Jacobi (2000), 64: „Der Christ erweist sich [...] als der bessere Philosoph."
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cis". Roscelin wird folglich der Häresie des Tritheismus bezichtigt und 1092 verurteilt und verbannt. 77 Abaelards Trinitätstraktat will diesen Fehler vermeiden und setzt deshalb umgekehrt ein: Die Einheit der Substanz muss mit den drei Personen zugleich gelten; wobei ausgehend von der Einheit Gottes dann die gegenteilige Häresie droht, nämlich die drei Personen nur „dem Namen nach" gelten zu lassen. Abaelard formuliert selbst die Häresie, traditionell die „des Sabellius" (89), und sucht sie zu vermeiden. Ob die ihn nun selbst verurteilende Synode von Soissons (1121) die subtile Diskussion überhaupt verstanden hat, kann hier ebenso offen bleiben wie die Einzelfragen der Trinitätslehre. Wesentlich ist die Beobachtung, wie es im 11./12. Jh. - in Aufnahme logischer Schemata antiken Philosophierens - zur neuen Kontroverse um die Realität von universalen Begriffen kommt. Die Trinitätslehre ist der Anlass für diese dialektische Problemlage. Abaelard muss versuchen, die Einheit Gottes mit der trinitarischen „Verschiedenheit" der Personen zusammen und darin real („in re" und nicht „in solis vocabulis") aussagen zu können (96/97). 78 Ausgesprochen modern ist diese Frage dadurch, dass es um das Verhältnis von Sprache und Denken auf der einen - und die Sachhaltigkeit des so Erfassten auf der anderen Seite geht. Versuchen wir die Klärung des Universalienproblems an Abaelards Auffassung der Trinität von einem Beispieltext aus zu verfolgen79: [1] „Wundere dich nicht, wenn in derselben göttlichen Substanz drei Personen unterschieden werden im erklärten Sinn. Denn auch nach der grammatischen Lehre [Priscians] geben wir zu, dass der eine Mensch drei Personen ist, eine erste demgemäß, dass er spricht, eine zweite insofern, als die Rede an ihn gerichtet wird, und endlich eine dritte, wenn einer zum anderen über ihn spricht. [2] Während sie dieselbe Substanz haben, kann die Verschiedenheit dieser Personen begrifflich nicht anders nachvollzogen werden als gemäß ihrem Proprium, welches durch die Definition ausgedrückt wird. Denn es gibt insofern, als er spricht, ein Proprium des Sprechenden, und ein anderes des Hörenden oder desjenigen, in bezug auf den der eine die Rede an den anderen richtet. Analog wurde die Verschiedenheit der göttlichen Personen nach den ihnen eignenden Definitionen bestimmt. Außerdem: So wie wir in der Grammatik, wenn wir von drei Personen sprechen, [darunter] in definierter Weise einen Sprechenden, einen, zu dem er spricht, und einen, über den er spricht, begreifen, so ist es angemessen, wenn wir sagen, ,es gibt in der
77 78
Vgl. U. Niggli, aaO. XXIVff. (Einl.), 280 (Anhang II). Vgl. dann TSB, 156: „in vocabulis an in re ipsa".
79
TSB, 149 (aus Buch II, Kap. 5); 183 (aus Buch III, Kap. 1). Die Hinzufügungen in eckigen Klammern sind teilweise aus der Ubers, übernommen, teilweise hier eingesetzte Gliederungsnummern und Ergänzungen der lat. Begriffe, oder sie bezeichnen Auslassungen.
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Gottheit drei Personen', darunter in definierter Weise (determinate) den Vater und den Sohn und den Hl. Geist zu hegreifen. Sonst würden wir vielleicht genötigt, in Gott mehr als drei Personen zu bekennen" (149). [3] „Meines Wissens wurde auch darüber diskutiert, dass der Name ,Gott' eher als ein Universale denn als ein Eigenname zu bezeichnen sei, da er auf verschiedene Personen angewendet wird. - Freilich besteht jene Verschiedenheit der Personen nicht in einer Unterscheidung der Essenz [discretione essentiae], sondern vielmehr [...] in der Verschiedenheit der Propria [in diversitate propriorum] analog zur Verschiedenheit der Personen, welche nach den Grammatikern Sokrates einwohnen und um derentwillen der Name ,Sokrates' nicht weniger ein Eigenname ist" (183).
(1) Zu den Voraussetzungen dieses Textes im Kontext der Schrift und der christlichen Philosophie Abaelards gehört die Einheit Gottes als summum bonum (TSB, 109). Derselbe Gott aber ist den „Philosophen" nur indirekt zugänglich, sie wollten „nicht den Anschein erwecken, über das Unaussprechliche zu sprechen, dessen Glanz sie irgendwie in den Geschöpfen, nicht in Ihm selber, aufspürten und anhand dieser beschrieben" (111). Auf „Analogien und Beispiele" ausweichen zu müssen, das erinnert an die apophatische Theologie des Dionysius PseudoAreopagita, vermittelt durch die Ubersetzung des Johannes Scotus Eriugena (ca. 810 - ca. 880).80 Doch neben diesem theologisch motivierten Respekt in platonisch-augustinischer Tradition steht sofort das Bemühen, aufgrund der aristotelischen Tradition die SubstanzAkzidenz-Unterscheidung zur begrifflichen Bearbeitung desselben Problems einzusetzen: Was real zugrunde liegt, das „Subsitierende", die „Substanz" (113), ist das, was durch sich selbst existiert („res per se existens") - und genau das gilt auch für Gott. Eine wechselnde Bestimmung durch Akzidenzien aber ist für Gott auszuschließen (115), so dass der Substanzbegriff in diesem und nur in diesem Falle „notwendig eine Art singulärer Bedeutung [singularem significationem] oder sogar Konstruktion [constructionem]" annimmt (116/117). (2) Die besondere Substanzeinheit Gott, die nicht von Akzidenzien gesondert gedacht werden kann, muss durch eine „Identität" [identitas] ausgezeichnet sein (125), die sich doch in drei Personen unterscheidet (1. Abs.). Zur Erklärung nutzt Abaelard - im Anschluss an Priscian81 den grammatisch-semiotischen Tatbestand, dass Rede und Verständigung auf eine bestimmte dreigliedrige Differenzierung notwendig angewiesen sind, in der gerade die Einheit der kommunikativen Situation
80 81
Vgl. TSB, 110 Anm. 87; s. § 5.3. - Vgl. im Hauptwerk des Johannes Scotus Eriugena, Uber die Einteilung der Natur (1994), 99 (I, cap. 64f.). Lat. Grammatiker (um 500), vgl. G. Manetti (1997), 882.
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besteht. D e r Allgemeinbegriff ist trotz und wegen dreifach zu spezifizierendem „Proprium" (2. Abs.) derselbe. Als Prädikabilien sind seither diese Sprachformen bezeichnet worden, die Allgemeines im Bezug auf Wirkliches zum Ausdruck bringen. 82 Die menschlich mögliche, begriffliche Zeichenbenutzung („ex institutione hominis" 8 3 ) gibt zugleich eine einheitliche wie unterscheidungsfähige Sachbeziehung. (3) Dieses Ergebnis wird zu Beginn des III. Buches festgehalten (156) als eines „in re ipsa", also nicht nur als Unterscheidung von drei Personen den Worten nach („in vocabulis"). Das kann aber nur durchgehalten werden, wenn die dreifache Unterscheidung als solche auch begründbar ist, denn sonst könnten ja noch ganz andere - und biblisch durchaus belegbare - „propria" Gottes aufgezählt werden (Gerechtigkeit, Liebe, Barmherzigkeit etc.). Die kirchliche Lehre aber spricht in der Personenunterscheidung (im Anschluss an Augustin) von genau drei propria, für Vater, Sohn und Geist, nämlich „Macht" (potentia), „Weisheit" (sapientia) und „Güte" (benignitas) (6/7; vgl. 147). Abaelards Analogie der Sprechsituation will und muss zeigen, dass es genau drei Bezugnahmen geben kann: die sprechende, die angesprochene und die besprochene (2. Abs.). Diese drei sind notwendig zu unterscheiden, alles weitere wären unwesentliche Vervielfachungen; etwa wenn mehrere sprechen oder über mehrere gesprochen würde. Abaelard ist durch sein Grammatik-Beispiel der semiotischen Begründung für die notwendige Dreistelligkeit aller Verstehens-Bezugnahmen jedenfalls sehr nahe gekommen. 8 4 (4) Ist Gott dann doch eher Begriff als „Eigenname" (3. Abs.)? 83 Eine Name gehört zu einer bestimmten Person oder Sache, es liegt eine indexikalische Beziehung vor, die im gegebenen Kontext eindeutig und wiederholbar ist. D e r (universale) Begriff dagegen ist nicht konkret gebunden, sondern auf Verschiedenes anwendbar. Im Falle Gottes droht dann eine „Abstraktion", die dem religiösen Gebrauch des Namens nicht mehr entsprechen könnte. Abaelard hat diesen Aspekt des
82 83 84 85
Vgl. H.M. Baumgartner/P. Kolmer: Prädikabilien/Prädikabilienlehre, in: HWP 7 (1989), 1178-1186; hier: 1179 (im Verweis auf Abaelard). Vgl. St. Meier-Oeser (1997), 990 (zu Abaelards „Klassifikation der Zeichen"). Zum dreistelligen Relationsbegriff im Anschluß Augustin und Ch.S. Peirce s. § 5.2, Anm. 43; § 1, Anm. 4. Vgl. TSB, 105 (Kritikargument Nr. XIV): Jnwiefern ist dieser Name ,Gott' ein Eigenname (nomen singulare) und nicht eher ein Universale, wenn es mehrere persönlich Unterschiedene, d.h. der Zahl nach Differente gibt [...]."
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Universalienproblems durch eine zusätzliche Unterscheidung zu lösen versucht 86 : „Abstraktionen" sind notwendige Verallgemeinerungen, die in der Perspektive und Aktivität Gottes unmittelbar real sind, „Werke Gottes" wie „Mensch, Seele oder Stein"; menschliche (verallgemeinernde) Konzeptionen dagegen, „wie Haus und Schwert", bleiben akzidentell, zur Kontrolle auf Erfahrung angewiesen, kurz: problematische Abstraktionen. Ihre Bedeutung kann nicht einfach als allgemein gültig („non ex natura") angenommen werden, sondern sie verdankt sich „menschlicher Konvention [ex placito hominum]" (TSB, 188/189). Deshalb darf dieser letztere Sinn von (menschlichem) Allgemeinbegriff nicht auf Gott in seiner „Essenz" angewandt werden (3. Abs.), und zurückkommend auf Priscians dreifach gegliederte Sprechsituation lässt sich das Trinitätsproblem dann wie zuvor lösen: „Sokrates" ist ein und derselbe Mensch, dem dieser Eigenname zukommt, auch dann, wenn er dreifach unterscheidbar der ist, der selbst spricht, zu dem und über den gesprochen wird (179) - und so auch in der Trinität. Ist Abaelard damit der Durchbruch gelungen, kann er gegenüber seinem Lehrer Roscellin den Nominalismus in der Trinität ausschließen? Dieser Fehler würde immer dann vorliegen, wenn entweder Gottes Wesen selbst eine bloß verallgemeinerte Begriffsbildung oder die drei Personen der Trinität bloß nominell unterschieden würden. Abaelard will beides vermeiden, indem er das Unterschiedensein der Personen als verträglich mit der Wesensbestimmung Gottes darstellt. Mit dieser Unterscheidung und im Festhalten an der „Substanz" oder „Essenz" Gottes geht er zwar nicht über die schon bei Augustin gefundene Lösungsstruktur hinaus, doch die Nutzung der grammatisch-semiotischen Sprechsituation als Analogie eröffnet neue Möglichkeiten der philosophischen und theologischen Orientierung: Die Realität des universal oder einzeln Behaupteten hängt von den Bezugnahmen ab, wie sie die Sprechsituation repräsentiert.
86
Vgl. Abaelards Logica ingredientibus, hier: S. 256.
Textauszug in K. Flasch (1999), Nr. 8.2;
160
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3. Nominalismus 3.1. Aliqua est natura in entibus effettiva - Von Duns Scotus zu Wilhelm v. Ockham Das durch die Trinitätslehre gestellte Problem, wesentliche Einheit (Essenz) mit konkreter Differenz zusammen zu denken, ist eine Spielart der Zuordnung von Etwasheit und Istheit87: Der Aspekt des Seienden (Istheit) wird dann nicht selbst zum Allgemeinbegriff abstrahiert (Sein), sondern deckt das Auftreten unterschiedener (existierender) Einzeldinge. Die Frage nach Gott als „erstem Prinzip [primum principium]"88 bleibt der Sonderfall, in dem Wesens- und Seinsbestimmung nicht getrennt werden können; und es ist offensichtlich, dass mit diesem Sonderfall die richtige Behandlung von Identität und Differenz, wie sie in der Trinität und in der Erkenntnis der Welt der Dinge verlangt wird, aufs engste verbunden ist. Duns Scotus (ca. 1265 - 1308), Fransziskanertheologe und christlicher Philosoph im Ubergang zur Spätscholastik, sieht - anders als Thomas v. Aquin89 - in den Dingen keine reale Unterscheidung bzw. „Komposition" von Essentia und Esse (woraus dann der ganz andere Sonderfall Gott abgeleitet werden kann), sondern eine - unumgängliche - distinctio formalis, die das Denken gegenüber dem einzelseiend Gedachten - nachträglich - vornehmen muss. Es handelt sich also weder um eine ii&z/distinktion, die sich auf individuell existierende Gegenstände bezieht, noch um eine Λ/ewtó/distinktion, wie sie begrifflich im Verstand vorgenommen wird, sondern um die Möglichkeit einer Unterscheidung von Denken und Einzelgegenstand nach dem selbständig und einheitlich vollzogenen Erkenntnisakt.90 Wenn vor jeder Unterscheidung eine einheitliche Wirkungsweise zugrunde liegen muss, so gilt dies erst recht an allererster Stelle. Der Gottesbeweis im III. Kap. der Abhandlung über das erste Prinzip beginnt mit dem Satz·. „Es gibt unter den Seienden eine Natur, die wirkfähig ist [Aliqua est natura in entibus effectiva]." - Was hier natura heißt, meint Etwasheit, Istheit und mögliche Einzelexistenz zugleich: „natura com87 88
89 90
S. S 6, A n m . 3; vgl. i m Folgenden J.F. Wippel (1982). Duns Scotus, Tractatus de primo principio/Abhandlung über das erste Prinzip (1974); im Folgenden zitiert nach Kap. und Abschnittsnummern (bzw. mit Seitenzahl des Kommentars) dieser Edition. - Vgl. auch O. Boulnois (2000); E. Wölfel (1965); H . Deuser, Gottesinstinkt (2004), Kap. I.3.C u. D. S. § 6.1.2.; vgl. J.F. Wippel, aaO. 394ff. Vgl. Wippel, 405ff.; A.B. Wolter (1962), 726ff.
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munis" 91 , wie Duns Scotus sagt, in der begriffliche Universalien und individuelle Einzelbestimmtheiten aufgrund der distinctio formalis zusammengehören. Solche „Natur" kennen alle Menschen aus Erfahrung: Wo Wirkungen sind, da ist Veränderung, Entstehen und Vergehen, d.h. kontingentes (wirkliches und nicht notwendiges) Geschehen, das in seiner Möglichkeit und Wirklichkeit bestimmbar ist und eine „Wirkfähigkeit" (natura effectiva) voraussetzt. 92 Die nominalistische Problemlage tritt nun dadurch wieder in Erscheinung, dass bezüglich desselben Begriffs Natur deren Realitätsstatus bezweifelt werden kann, wenn es doch um Wirkungen in der Erfahrung, d.h. um individuelle Einzeldinge zu tun ist. Diesen allein könnte ja Realität zukommen, nicht den (universalen) Begriffen. Die distinctio formalis löst dieses Problem bzw. hält es in einer gewissen Balance, weil die begriffliche Erfassung eben an das Einzelne vorweg gebunden bleibt - und umgekehrt. Denn sonst bestünde die Gefahr, die Dinge nur für real zu halten, weil und solange wir sie denken. 93 Wenn dies nicht der Fall ist, muss eine allein rationale Ableitung der Erkenntnis (nämlich über universale Begriffe) ebenso ausscheiden wie eine bloß zufällige, die (unerklärlich) am Einzeleindruck haftet. Begriffsbildung, d.h. Denken und Erkennen über bloße Wörter für demgegenüber beziehungslose Einzeldinge kommt also nicht in Frage, hier verläuft zwischen Nominalismus und Realismus die Scheidelinie, die die distinctio formalis begründet hat. Entsprechendes gilt nun für den Gottesbegriff. Anders als bei Thomas v. Aquin, der den Willen (Gottes) über die Vernunft vermittelt sein lässt, steht für Duns Scotus Gottes Wille als schöpferische Ursache gerade für die Kontingenz des Geschaffenen. 94 Freiheit, Selbstbestimmung, Kontingenz und Wille bedingen einander, sie alle aber sind in der Weise gegeben, dass sie nicht vorweg eingesehen oder abgeleitet werden können, sondern bereits aktiv sind. Theologisch liegt hier 91 92
93
94
W. Kluxen, Kommentar zu III.24, aaO. 164; vgl. Wolter, 734. III.25: Es gibt „kontingente (Naturen), diesen ist es also möglich, ,Sein nach Nicht-Sein' zu haben; also (sind sie) weder von sich selbst noch vom Nichts her [...]; also sind sie von einem Anderen bewirkbar." - So beginnt in III.25 der Gottesbeweis; vgl. zu Erläuterung W. Kluxen, aaO. 164ff. Vgl. Wolter, 729: What „he [sc. Duns Scotus] returns to again and again is that howsoever we may choose to conceive the thing, if our concepts reflect something about the latter, there must be something positive in that thing which corresponds thereto, and this positive entity or reality is not something that thing has only because we happen to be thinking about it." Vgl. E. Dekker (2000), 65-69; J. Disse (2001), 189ff.; T.-A. Ramelow: Wille II, in: HWP 12 (2004), 769-783, hier: 771-774.
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der Grund für die von Duns Scotus ausgeführte Lehre der potenia absoluta/ordinata9d: Dass Gott, obwohl er sich an die von ihm geschaffene Ordnung der Dinge gebunden hat, durchaus auch demgegenüber frei und ganz anders handeln könnte (potentia absoluta). Erkenntnistheoretisch liegt hier der Grund für die Vorrangigkeit und Gegebenheit der Dinge in einer noch unspezifischen Allgemeinheit, die erst nachträglich - und das nur formal, nicht real (distinctio formalis) - nach individueller Faktizität und begrifflicher Allgemeinheit unterschieden werden können. Es ist wiederum die natura communis, die effektiv, prinzipiell und unterscheidbar zugrunde liegt.96 In der Fähigkeit des Unterscheidens aber liegt eine eigene Aktivität des Geistes, die der „gemeinsamen Natur" Gestalt gibt. Thomas v. Aquins Diskussion des intellectus agens97 erscheint hier in verändertem Kontext: Begriffliches Denken gestaltet, und das ist erst recht und gerade deshalb notwendig, weil vorrangig die natura effettiva schon in Kraft steht - das gilt erkenntnistheoretisch genauso wie theologisch. Wilhelm v. Ockham (ca. 1285 - 1347), Franziskanertheologe wie Duns Scotus und dessen, zwar nicht unmittelbarer98, aber in der akademischen Rezeption doch sein wichtigster - nominalistischer - Schüler, nimmt die „wirkfähige Natur" wörtlich: Es sind Sätze, Propositionen, in denen über Wissen und Wahrheit entschieden wird, und die kritische Methode solcher Entscheidungen ist die Logik, genauer: die terministische oder Suppositionslogik.99 „Natur" ist ein Wort im Satz, 95 96
Vgl. E. Dekker, aaO. 67f.; ]. Disse, aaO. 191; V. Leppin (2003), 32f. Vgl. A.B. Wolter, 733f.: „Scotus insisted that what is given in what we understand about things is not the intelligible nature as formally individualized but as formally indifferent to being just this. What we must explain, then, [...] is how this indifferent nature is individualized in existing things, and how it becomes completely universal." - Die Nähe zu Ch.S. Peirce' Kategorienlehre (s. § 1, Anm. 4) ist hier mit Händen zu greifen: „indifferent nature" (Firstness), „existing things" (Secondness), „universal" (Tbirdness); vgl. Peirce' frühe Rezeption von Duns Scotus in der Berkeley-Rezension von 1871, EP 1, 93: „The truth is, therefore, that that real nature which exists m re, apart from all action of the intellect, though in itself, apart from its relations, it be singular, yet is actually universal as it exists in relation to the mind. But this universal only differs from the singular in the manner of its being conceived (formaliter), but not in the manner of its existence (realiter)."
97
S. § 6.1.2, Anm. 49; zum „agent intellect" bei Duns Scotus vgl. Wolter, 734; zur diesem Lehrstück unter den Bedingungen des Nominalismus (am Beispiel von B. Arnoldi v. Usingen) S. Lalla (2003), 215ff. Vgl. V. Leppin (2003), 25, 30f. Ockham greift damit zurück u.a. auf die satzlogischen Arbeiten von Petrus Hispanus, Syncategoreumata (1992); Wilhelm v. Ockham, Summe der Logik
98 99
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das in genau zu bestimmender Weise und im Zusammenhang mit anderen Satztermen „für etwas steht" (supponiert), in dieser Funktion aber gerade nicht die Realität der Natur als begriffliches Universale zu repräsentieren vermag. Die logische Wahrheit überholt die metaphysische Realitätsfrage, weil die Erkenntnisfunktionen an die Einzeldinge und Einzeleindrücke gebunden sind, deren Vertretungen im Satz dann auf einer anderen, begrifflichen und allgemeinen, deshalb aber nicht mehr realistisch auszuweisenden Ebene zur Verfügung stehen: [1] „Das Universale wird stofflos aufgenommen [recipitur immaterialiter], weil das Erkenntnisbild [species intelligibilis] oder die Erkenntnis [cognitio], durch die es aufgenommen wird, stofflos sind [...]; folglich wird das Aufgenommene nur deshalb stofflos aufgefasst, weil es selbst stofflos ist: Die Einzelerkenntnis [cognitio singularis] könnte aber ebenso stofflos sein, wie es die Allgemeinerkenntnis [cognitio universalis] ist. Also widerspricht es deswegen dem Einzelnen nicht, dass es zuerst aufgefasst wird oder vom Intellekt erkannt wird." [2] „Eine bestimmte Einzelerkenntnis [notitia singularis] kann intuitiv [intuitiva] sein, weil sonst keine kontingente Wahrheit mit Evidenz vom Intellekt erkannt werden könnte. Aber die intuitive Erkenntnis [notitia intuitiva] eines Dinges ist nicht später als die abstraktive. Also ist die intuitive Erkenntnis eines Einzeldings die absolut erste [simpliciter prima]." [3] Ich sage, „dass die sinnliche Einzelerkenntnis [notitia singularis sensibilis] in diesem Leben die absolut erste [simpliciter prima] ist: Dasselbe Einzelne, das zuerst vom Sinne erfasst wird, wird als solches und unter der gleichen Bestimmtheit zuerst vom Intellekt [ratione primo] intuitiv erkannt [intelligitur intuitive ab intellectu]." 100
(1) Aufgrund der für Ockhams Logik ausschlaggebenden Satzebene stehen die Termini des Satzes „für etwas"101 - sie sind Zeichen; und was sie bezeichnen ist selbst nicht in den Begriffen, diese sind folglich „immaterialiter" aufzufassen (1. Abs.). „Species" steht dann nicht mehr für eine Realkategorie, sondern nur noch für eine „intelligible" Begriffsbildung; und die gedankliche Leistung (cognitio), die diese Zeichenverhältnisse beschreibt, ist selbst ebenso „immaterialiter", so dass auf dieser Ebene der „cognitio" sowohl die Einzel- wie die Allgemeinerkenntnis (singularis/universalis) gleichermaßen nur begrifflich, d.h. nicht
(1999); vgl. T h . Kobusch: Nominalismus, in: T R E 24 (1994),589-604, hier: 591f.; V. Leppin, aaO. 60ff.; L. Honnefelder (2000), 253, 257; J . Disse, aaO. 18 Off. 100 Wilhelm v. Ockham, Sentenzenkommentar I, 3, 6, Abschn. 6-10, in: Texte zur Theorie der Erkenntnis, hg. v. R. Imbach (1996), 174-177. 101 Wilhelm v. Ockham, Summe der Logik, aaO. 27: Es gilt, „dass ein Terminus in einem Satz, zumindest dann wenn er signifikativ aufgefasst wird, allein für dasjenige supponiert, wovon er wahrhaft ausgesagt wird." - Vgl. St. Meier-Oeser (1997), 1006-1008.
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mehr realistisch zu verstehen sind. In diesem Punkt kann von Ockhams erkenntnistheoretischem Nominalismus gesprochen werden, weil der Vorrang der Einzelerkenntnis noch die Differenz „konkret/ abstrakt" als untauglich suspendiert102: Nicht Einzelerkenntnis ist konkret und Allgemeinerkenntnis dagegen abstrakt; denn diese Unterscheidung ist selbst ein Charakteristikum des Gebrauchs von Zeichen, keine Differenz der Sachhaltigkeit! Die „cognitio", als einzelne wie als allgemeine, ist und bleibt ein Zeichenverhältnis, das als solches nicht realistisch (wie dann bei Ch.S. Peirce103), sondern als bloße Bezugnahme der Supposition konzipiert wird. Insofern störte es die (vorrangige) Einzelerkenntnis keineswegs, wenn sie vom „Intellekt" ausgehen sollte. (2) Allerdings bleibt dieser nominalistische Zeichenbezug angewiesen auf eine ontologische Grundlegung. Wie sollte sonst die Sachhaltigkeit der Begriffszuordnungen im Satz begründet werden? Der für Ockham in dieser Hinsicht entscheidende Zug ist der einer „intuitiven" Einzelerkenntnis (jetzt: „notitia" [2. Abs.], nicht „cognitio"), die vom Einzelnen ausgeht und damit die Unterscheidung von (universalem) Denkakt und (singulärer) Einzelkontingenz unterläuft. Wenn Kontingentes und daraus besteht die geschaffene Welt - überhaupt erkannt werden kann, dann aufgrund der „notitia singularis intuitiva". Damit wird ein ursprünglicher Zusammenhang im Sinne einer unbedingten (simpliciter prima) Prämisse geltend gemacht, in der Denken und Sein in der primären Auffassung des Einzelseienden zusammen bestehen: Die Begriffe im Satz sind dann „natürliche Zeichen".104 Und dieses Zusammenbestehen ist durch Gottes Schöpfung, wie sie geordnet ist, garantiert; hier ist also, wenn nicht im realistischen Sinn von Universalien, dann doch von der (realen) Gegebenheit einer vertrauenswürdigen Ordnung auszugehen.105 (3) Was auf den ersten Blick erstaunt, ist dann nur die andere Seite derselben Sicht der Dinge: Die primäre sinnlich-intuitive Einzelerkenntnis ist im gleichen Akt „ab intellectu" (3. Abs.), d.h. wiederum: 102 Gegen Thomas v. Aquin, vgl. Ockham, Texte zur Theorie der Erkenntnis, aaO. 179 (Abschn. 14). 103 Vgl. St. Meier-Oeser, aaO. 1008 (der neben Peirce auf Johannes a Sancto Thoma [17. Jh.] verweist). 104 Ch.S. Peirce, Berkeley-Rezension von 1871, EP 1, 93: „Ockam always thinks of a mental conception as a logical term, [...] a conception is a natural sign". 105 Vgl. Meier-Oeser, ebd.; Leppin (1998), 178ff.; (2003), 69ff.; W. Achtner (2008), 254ff.
§ 6: Christliche Philosophie II: Aristotelismus und moderne Wissenschaft 165
Ein Unterschied zwischen der Allgemeinheit des Denkens und der Einzelheit sinnlicher Erkenntnis muss gar nicht mehr durchgeführt werden, sie sind beide primär („simpliciter prima" [2. Abs.] und „ratione primo" [3. Abs.]). Etwasheit und Istheit fallen zusammen - jetzt nicht im Sinne eines Arguments für die Sonderstellung des Gottesgedankens 106 , sondern im Interesse an der Erkenntnis der „Faktizität" 107 : von der sinnlich intuitiven Kenntnisname („notitia" [2. Abs.]) über die Zeichenrelationen im Satz („cognitio" [1. Abs.]) bis zum intuitiven Intellekt (3. Abs.). Ockham hat mit dieser Einheitsorientierung auf die Einzelerkenntnis Duns' Scotus distinctio formalis widersprochen. Anstelle der gemeinsamen Realität von begrifflicher Relation und nur formal unterschiedenem Einzelfall, wie sie gerade für das widerspruchsfreie Verständnis der Trinität ausschlaggebend war, steht dann die intuitive Evidenzbindung an die Einzelerfahrung (notitia intuitiva) und die schöpfungstheologische Vertrauensbindung an Gottes potentia ordinata, während der Glaube dem allem vorgeordneten Willen und der Freiheit Gottes (seiner potentia absoluta) korrespondiert. 108 Dieser (religiöse) Glaube aber macht die Theologie zu einer besonderen Wissenschaft: Ihr Gegenstand - das gläubige Gottesverhältnis - entzieht sich der Beweisbarkeit einer (aristotelisch) strengen Wissenschaftlichkeit 109 , und der Glaube - wie Intuition und Wille - tendieren zu psychologischen Phänomenen der Uberzeugungsbildung. Dass Ockham schließlich die distinctio formalis allein für den Fall der Trinitätslehre zulässt, um einen Widerspruch zu vermeiden 110 , zeigt überdeutlich, dass allgemeiner Wissenschaftsbegriff und Theologie sich voneinander zu entfernen beginnen. Der Dreh- und Angelpunkt dieser (nominalistischen) Entwicklung aber liegt in der Distanzierung von Realitätsbegriff und Einzelexistenz 111 : Real sind für Ockham allein die existierenden Einzeldinge, und sie sind real unter-
106 S. § 6.1.2, Anm. 36; § 6.3.1, Anm. 87. 107 Vgl. R. Imbach, in: Ockham, Texte zur Theorie der Erkenntnis, aaO. 171. 108 S. Anm. 95; zur (modifizierten) Rezeption dieser Gotteslehre durch Ockham vgl. Th. Kobusch, aaO. (s. Anm. 99), 596ff.; V. Leppin (1998). 109 Vgl. Ockham, Texte zu Theologie und Ethik (2000), 45 (Sentenzenkommentar, Prol., q. 7); vgl. V. Leppin (2003), 50ff.; J. Disse, aaO. 185ff. 110 Vgl. Ockham, aaO. 86-95 (Summe der Logik, III, 4, c. 11); vgl. H. Deuser, Gottesinstinkt (2004), 62; V. Leppin (2003), 78-81. 111 Vgl. Ch.S. Peirce, aaO. EP 1, 94: „Against Scotus's dottrine [...] he [sc. Ockham] objects that it is impossible there should be any distinction existing out of the mind except between things really distinct."
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I. Biblische, antike und scholastische Tradition
schieden; die Unterscheidungen durch Begriffe aber und ihre Relationen sind bloße Zeichen, denen als solchen (allgemeine) Realität natürlich nicht zuerkannt werden kann. 3.2. Via moderna Summarisch gesagt: Die via moderna der aristotelischen Scholastik, der eine Zug der christlichen Philosophie des Mittelalters, der bis in die Neuzeit reicht, ist nominalistisch; und die europäische (religionsphilosophische) Moderne112 seit 1800 erbt die Emphase dieses Reformeifers neu gegen alt. Die via antiqua bezeichnet in der Scholastik die Schulen, die in antik-mittelalterlicher Tradition an der realen Bedeutung von Begriffen, Relationen und Sätzen (Universalien) festhalten, die via moderna dagegen die philosophische Logik, Sprach- und Wissenschaftsauffassung, die Realität nur den Einzeldingen zusprechen und allgemeine Begriffe nur als Zeichenformen auffassen kann.113 Die theologischen Debatten, immer herausgefordert durch die Trinitätslehre, laufen dazu parallel. Wir haben gesehen, wie es bei Abaelard exemplarisch zur Diskussion des grammatisch motivierten Nominalismus kommt: ob und wie sprachliche Zeichen und Namen Realität darstellen können, die substanzielle der Einheit Gottes und die relative der trinitarischen Personen; und wie es in der terministischen Logik Ockhams zum erkenntnistheoretisch motivierten Nominalismus kommt: dass der Begriffsbildung gegenüber den Einzeldingen kein Vorrang mehr gebührt. Von ontologischem Nominalismus wäre allerdings erst dann zu sprechen, wenn überhaupt und exklusiv nur den Einzeldingen Realität zukäme, die sich darüber hinaus immer nur versuchsweise, unter Vorbehalt, eigentlich also gar nicht darstellen ließe. Diese letztere Position war in radikalen Schulen der via moderna zwar schon formuliert, doch blieben auch diese aufgrund der Rahmenbedingungen des christlichen Seins-, Gottes- und Schöpfungsbegriffs in gewissem Sinne noch auf eine vorauszusetzende Realität bezogen, die nicht als Einzelding verstanden werden konnte. Erst die naturwissenschaftliche Quantifizierung der Weltbeschreibung kann durchgängig 112 S. § 1.1. 113 Vgl. A.G. Weiler: Antiqui/moderni (via antiqua/via moderna), in: H W P 1 (1971), 407-410; F. Hoffmann: Nominalismus I, in: H W P 6 (1984), 874-884; S. Knuuttila: Nominalismus, in: EKL3 3 (1992), 766-769; S. Lalla (2003), Kap. II.3 (zur Forschungslage) u. II.4 (zur Diskussion mit H. Blumenbergs NeuzeitBegründung).
§ 6: Christliche Philosophie II: Aristotelismus und moderne Wissenschaft
167
nominalistisch agieren, und deren Voraussetzungen entwickeln sich im 14. Jh.: Die Begriffe von Raum, Zeit und Materie werden in Auseinandersetzung mit den aristotelischen Vorlagen von ihren substanzontologischen Bestimmungen abgelöst. Ockham führt „Distanzen" als Merkmal ein114, die Zeit wird zunehmend an Messungen orientiert, die Materie als räumlich beschreibbar; kurz: Neben die bislang dominierende (aristotelische) Kategorie der Substanz tritt die der Quantität, eine Weltbeschreibung durch Messgrößen wird möglich. Dass geistesgeschichtlich gesehen der Nominalismus sich durchsetzen konnte, mag auch daran liegen, dass die logisch gesehen in gleicher Weise differenzierte Schule im Anschluss an Duns Scotus sich wegen der Kompliziertheit ihrer Theoriebildungen nicht behaupten konnte. Der philologisch orientierte (Renaissance-)Humanismus (15./16. Jh.) hat sich schließlich mit dem Nominalismus verbünden können, weil auch dieser, nicht zuletzt aus theologischen Gründen, an den Quellentexten der eigenen Traditions- und Glaubensbindung interessiert war.llD Die Plausibilität der empirischen Orientierung an Fakten wächst unaufhaltsam, damit wird aber zugleich der Realitätsstatus der Vermittlungsleistungen des Denkens zu einem schwer lösbaren Problem - auch und gerade für die moderne Naturwissenschaft des 20. Jh.: „Vorerst wird es genügen, Klassen, Eigenschaften, Propositionen, Zahlen, Relationen und Funktionen als typische abstrakte Gegenstände und physikalische Gegenstände als konkrete Gegenstände par excellence anzuführen und das Problem der Ontologie insoweit zu betrachten, als es solche typischen Fälle berührt."116 Der wissenschaftliche Triumphzug der via moderna hat einen Pfahl im Fleisch: Die Realität der Dinge, so
114 Vgl. W. Achtner (2008), 259, 332; im Folgenden aaO. 277ff., 290ff.; zu Ockhams Erfahrungsbegriff und zur Naturphilosophie des Nominalismus Th. Kobusch, aaO. (s. Anm. 99), 591, 599f. 115 Vgl. Ch.S. Peirce (Briefdokument von 1905), RS, 298: „Manche Humanisten waren aufgeweckte Geister, aber weil sie so vollständig mit Literatur beschäftigt waren, haben sie niemals gründlich Philosophie studiert. Sie hassten die Dunses [sc. die Anhänger des Duns Scotus], und so war es nur natürlich, dass sie die einfachere Lehre Ockhams übernahmen, während sie es ablehnten, darüber zu disputieren oder zu streiten. Durch die Reformation und auch weil die Scholastik alle ihre wesentlichen Fragestellungen erschöpft und es dazu gebracht hatte, sich mit Unsinn zu befassen, setzten sich die Humanisten auf der ganzen Linie durch und bekamen die Kontrolle über die Universitäten. Das führte dazu, dass die gesamte moderne Philosophie nominalistisch ist." - Vgl. auch F. Hoffmann, aaO. (s. Anm. 113), 880. 116 W.V. Quine (1980), 402f. (§ 48); vgl. H.-J. Schneider: Nominalismus II, in: H O T 6 (1984), 884-888.
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I. Biblische, antike und scholastische Tradition
wie sie wahrgenommen, erkannt und gedacht werden, muss geklärt und will verstanden werden. Dass die Religionsphilosophie an dieser Klärung größtes Interesse hat, war für die christliche Philosophie der Scholastik eine - immer leidenschaftlich umstrittene - Selbstverständlichkeit; und so ist es auch heute, soll der religiöse Glaube nicht subjektiv auf ein Phänomen der Psychologie und objektiv auf die Instanz religionsgeschichtlicher Textzeugnisse beschränkt werden.
II. Reformatorische und neuzeitliche Tradition Mit (Renaissance-)Humanismus und Reformation kommt es in Europa unter nominalistischen Voraussetzungen zu einer gesteigerten Intensität der Suche nach Realität und Gewissheit des religiösen Glaubens.1 Denn das wissenschaftlich ausgeprägte Methodenbewusstsein aufgrund aristotelisch-scholastischer Logik setzt im Gegenüber die Persönlichkeit frei, die ihr Handwerk beherrscht und trotzdem mit sich selbst noch nicht zu einem guten und sicheren Ende gekommen ist. Epochemachend ist die Umstellung in der (wissenschaftlichen) Gewichtsverteilung von Glaube und Vernunft: Es ist vernünftig zu glauben, aber der Glaube ist als solcher gerade nicht erschließbar für die Vernunft. Das hatte die kirchliche Autorität der scholastischen Tradition zwar schon immer gesagt, aber anders verstanden. Wenn jetzt (nach nominalistischer Lehre) Erfahrung und affektbestimmter Wille die Person wesentlich ausmachen, dann ist - analog zum Gottesbegriff der potentia absoluta2 - die Vernunft zwar funktionalisiert mitentscheidend, aber als letzte Autorität relativiert. Zugleich wird der Erfahrungsbegriff, auf dessen Prüfinstanz das nominalistische Pathos in der Orientierung am Einzelnen hinauswollte, doppeldeutig einsetzbar: Einerseits öffnet sich Erfahrung (im empirischen Sinn) tendenziell grenzenloser Quantifizierung und dient damit dem induktiven Zugriff durch die neuzeitlichen Naturwissenschaften; andererseits wächst die Qualifizierung der Erfahrung (im existentiellen Sinn) in ebenso fraglicher wie unvermeidlicher Lebensorientierung, die sich überkommenen Fremd-Autoritäten zu-
1
Die Zusammenziehung der europäischen Bewegungen von Renaissance und Humanismus erscheint legitim unter dem Aspekt der (Wieder-)Entdeckung antiker Literatur, der Verehrung klassischer Texte wie der neuen Autorität von Schrift und Philologie - unter den geltenden Bedingungen christlicher Kultur und in deutlicher Kritik an deren scholastischer Uberformung im Wissenschaftsbetrieb, vgl. L.W. Spitz: Humanismus/Humanismusforschung, in: TRE 15 (1986), 639-661, hier: 639f., 651f.; A. Buck: Renaissance, in: EKL3 3 (1992), 1623-1631, 1629f.; zur Wissenschaftsreform der Humanisten (am Beispiel der Universität Erfurt) vgl. M. Brecht, Bd. 1 (1981), Kap. II; H.A. Obermann (1981), Kap. IV.
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S. §6.3.1, Anm. 108.
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II. Reformatorische und neuzeitliche Tradition
gunsten der Überzeugungskraft von Selbst-Erfahrung entzieht. Entsprechend verliert die (religionsphilosophische) Begründung des Gottesbegriffs - der Gottesbeweis - an Plausibilität, weil der neue Begriff empirischer Erfahrung dafür den Boden nicht mehr abgibt und die existentielle Erfahrung den theoretischen Beweis gar nicht braucht; mehr noch, ihn als Missverständnis und Abkehr von der allein überzeugenden religiösen Gewissheit brandmarkt. So kommt es zu vielfältigen und neuen Verflechtungen von Tradition und Moderne, wobei die scholastische Prägung als ganze wie eine via antiqua erscheinen kann, während die nominalistische via moderna versucht sich empirisch oder existentiell abzusichern. Methode und Gewissheit werden zu den (religionsphilosophisch) regierenden Begriffen der Neuzeit.
§ 7: Glaube und Vernunft (M. Luther) Bis heute gilt M. Luthers (1483-1546) Auseinandersetzung mit Erasmus von Rotterdam (1469-1536) zu Recht als wirkungsgeschichtlich exemplarischer Knotenpunkt für das Verständnis, die Akzeptanz und die Legitimität der Reformation. In religionsphilosophischen Lehrbüchern findet sich dieser Disput allerdings selten. Das mag an den ausführlichen exegetischen Exkursen dieser Streitschriften liegen, wohl aber auch daran, dass in moderner Perspektive bereits wertend zwischen im engeren Sinne theologischen, d.h. auf Offenbarung und Glaube konzentrierten Positionen und demgegenüber ungebunden erscheinenden religionsphilosophischen Argumentationen unterschieden wird; und diese Einstufung ist dann selbst ein Produkt reformatorischer wie neuzeitlicher Entwicklungen und ihrer Effekte: Die theologische Positionsbildung wird zwar in der Regel respektiert, aber zugleich im Namen universal begründeter Philosophien als randständig bzw. überholt angesehen. U m genau diese Konstellation geht es nun allerdings schon in jenem Konflikt selbst, in Luthers überraschend hartem Widerspruch gegen die modern erscheinende und ethisch motivierte Kompromisslinie des Erasmus. Dieser hatte, nach anfänglichen Sympathien für Luthers - und der allgemein humanistischen - Forderungen nach Anerkennung des Schriftprinzips und Reformen der Kirche, 1524 doch mit einer deutlichen Luther-Kritik reagiert 3 , um sich von dessen Denk- und 3
Gespräch über den freien Willen/De libero arbitrio διατριβή sive collatio, vgl. zur diesem wie den folgenden Erasmus-Texten gegen Luther die Ubersicht bei M . Brecht, Bd. 2 (1986), Kap. V; V. Leppin (2006), 246ff.; die Streitpunkte aus der Sicht des Erasmus referiert Ch. Trinkaus (1976).
§ 7: Glaube und Vernunft (M. Luther)
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Schreibstil4 und damit von Luthers theologischem Kernargument abzugrenzen. Letzteres bestand darin, in der für Luthers Auffassung des Christentums buchstäblich alles entscheidenden Frage der Rechtfertigung des sündigen Menschen vor Gott - der Gnade Gottes alles, der Aktivität des Menschen nichts zuzuschreiben. Dieser einfache, der Paulus-Lektüre und der augustinischen Gnadenlehre verpflichtete Grundsatz hatte allerdings Implikationen, deren Radikalität Luther zunehmend zum theologischen Programm erklärte, die Erasmus aber mit wissenschaftlicher Vorsicht, am Gespräch der Gelehrten interessiert und harte Entscheidungen suspendierend, behandelt wissen wollte5: • Wenn definitiv keine Beteiligung des Menschen an seinem religiösen Neuwerden vor Gott in Frage kommt, dann fällt eine (freie) Willensentscheidung in dieser Sache vollständig aus. - Erasmus sucht hier eine Kompromisslinie zwischen Willen und Gnade zu verteidigen, wie es seiner Sicht der (vielfältigen und uneinheitlichen) Zeugnisse zu dieser Frage in der Bibel wie in den kirchlichtheologisch autoritativen Schriften der Väter entspricht. • Wenn Gottes Gnade allein den sündigen Menschen freispricht, dann verlieren die sog. „guten Werke", die dem Gnadenzuspruch dienen sollen (wie es der nominalistischen Gnadenlehre der Zeit entsprach), nicht nur ihre Funktion, sondern sie werden zu einem gefährlichen Missverständnis. - Erasmus sucht auch hier den Kompromiss, dass „gute Werke" auf Gottes Einwirken zurückgehen, gleichwohl vom Menschen als „gute Werke" aber auch zu leisten sind. • Wenn außer Gottes Wirken keine selbständigen schöpferischen und das Gottesverhältnis heilende Kräfte in Frage kommen, dann muss letztlich Gott auch für alles Widrige, Böse und unheilbar Verlorene verantwortlich gemacht werden, d.h. Providenz (Vorsehung), Präszienz (Vorherwissen) und Prädestination (Gnadenwähl zur Erlösung oder Verwerfung) von Seiten Gottes gelten entweder 4
5
Vgl. Leppin, aaO. 256: „Luther hatte sich in den Augen des Erasmus und vieler anderer als einer entlarvt, der viel zu lange im Fahrwasser des Humanismus mitgezogen worden war und der nun sein tatsächliches Antlitz zeigte: nicht bereit oder vielleicht nicht fähig zur Diskussion, sondern ein Verkündiger und Polterer, der dekretierte statt zu diskutieren." Vgl. W. Härles Resümee in der Einleitung zur Textausgabe von Luthers Schrift De servo arbitrio/Vom unfreien Willensvermögen (1525), in: LDStA 1 (2006), XXIVf. (zu Erasmus), XXVI-XXXVI. - Luthers Schrift wird im Folgenden nach Seiten- und Zeilenzahlen (lat. u. dt.) dieser Ausg. zitiert (unter Hinzufügung der Seitenzahl der Weimarer Ausg. [WA] in Klammern).
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•
II. Reformatorische und neuzeitliche Tradition
ganz oder sie gelten gar nicht. - Erasmus sieht hier negative Folgen für die (ethische) Verantwortlichkeit von Menschen gegenüber dem Leben und ein verdunkeltes Gottesbild, das nur verstörend wirken kann, es sollte folglich nicht Verbreitung finden. Wenn Luthers Schriftauslegung korrekt ist, dann kann methodisch keine Zurückhaltung in religiös und theologisch derart gravierenden Punkten empfohlen werden, sondern nur unbedingte Entschiedenheit. - Erasmus' Distanznahme ist in diesem Punkt ganz besonders deutlich, weil es ihm hier darum geht, die humanistisch gewonnene wissenschaftliche Selbständigkeit, die in diplomatischer Reverenz 6 gegenüber den kirchlich-theologisch autoritativen Instanzen immerhin vertreten werden kann, durch eine neue Gehorsamsforderung 7 nicht wieder aufs Spiel zu setzen.
Religionsphilosophisch gesehen sind alle vier Punkte von Belang. Sie entscheiden nicht nur über bestimmte Lehrauffassungen, sondern auch über den Charakter des religiösen Glaubens (hier im Rahmen bestimmter Entwicklungen des Christentums seit dem 16. Jh.), seine Selbstdarstellung, seine wissenschaftliche Vertretbarkeit und seinen Wahrheitsanspruch.
1. Der Wille als unfreies Willensvermögen Dass Menschen willentlich handeln ist offensichtlich; fraglich bleibt nur, ob der aktive Wille vernünftig kontrolliert ist, im Abwägen von Alternativen also frei genannt zu werden verdient - oder nicht; und fraglich bleibt zugleich, wie das im Handeln erstrebte Gute bzw. die Güte des Handelns selbst mit dem aktiven Willen schon gegeben ist; wenn ja, warum gibt es dann einen bösen Willen und schlechtes Handeln?
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Vgl. das Erasmus-Zitat in LDStA 1, Einl., XXVIf., er werde sich der „Heiligen Schrift" und den „Entscheidungen der Kirche" unterwerfen, „oh ich nun verstehe, was sie vorschreibt, oder ob ich es nicht verstehe". Zu Luthers Forderung nach Entschiedenheit („assertio") in der Sache wie im Ton vgl. aaO. 661,3-7 (WA 18, 787): „Ich aber habe in diesem Buch nicht [Meinungen] zusammengestellt, sondern die Wahrheit bezeugt, und ich bezeuge die Wahrheit [„assero"]. Und ich will keinem das Urteil überlassen [wie Erasmus das will], sondern ich rate allen an, Gehorsam zu leisten." - Vgl. auch Th. Wabel (1998), 232ff.
§ 7: Glaube und Vernunft (M. Luther)
173
Die Grundbegriffe dieser ethischen Fragstellungen gehen selbstverständlich auf Aristoteles zurück8, doch vor allem die franziskanische Theologie (Duns Scotus9) hat dem - vor der Vernunft schon wirksamen und darin exklusiv schöpferischen - Willen Gottes eine absolute Stellung eingeräumt und insofern der 'Willensfreiheit (auch des Menschen) erst die bis heute überragende Bedeutung verliehen. Doch ist diese Verknüpfung von Wille und Freiheit überhaupt legitim? Handelt es sich nicht, wie John Locke einwandte, um zwei unterschiedliche „Kräfte", die nicht einander zugesprochen werden können?10 So wie im heutigen Sprachgebrauch z.B. das Wort „Beinfreiheit" nicht so verstanden werden kann, als sei ein Bein selbst frei, sondern nur so, dass Freiraum, Freizügigkeit etc. für Beine zur Verfügung stehen oder nicht. Luther führt den inneren, theologischen Fehler in der Bestimmung der Willensfreiheit darauf zurück, dass aus einer philosophischen (aristotelischen) Begrifflichkeit etwas für das - rettende, heilsame, vergebende, kurz: das soteriologische - Gottesverhältnis gefolgert wird, ohne die entscheidende Differenz zwischen diesen Sphären zu beachten. Denn dass sich Menschen in menschlichen Belangen willentlich entscheiden und darin mehr oder weniger frei sind, muss natürlich nicht beanstandet werden: „Denn kein Mensch hat kein freies Willensvermögen [liberum arbitrium]." - „Wir wissen, dass der Mensch als Herr über das unter ihm Liegende [inferioribus] gesetzt ist; dem gegenüber hat er ein Recht und freies Willensvermögen, und es gehorcht folglich und tut, was er will und sich vorstellt."11 Wille und Handlungs-
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Vgl. Nikomachische Ethik, Buch I (zur Gliederung der rationalen und nichtrationalen Seelenvermögen), Buch III.4 u. 5 zum begründeten, überlegten Entscheiden (prohairesis); vgl. Chr. Horn: Wille I, in: HWP 12 (2004), 763-769, hier: 764f. S. § 6.3.1, Anm. 94. - Zur Lehrbildung in der via moderna bis zu Luther vgl. V. Leppin (2005), bes. 60ff. J. Locke, Versuch über den menschlichen Verstand (1690), Bd. I (1981), 280-298 (2. Buch, XXI.5-28); J. Edwards (1703-1758), der Begründer nordamerikanischer Philosophie und Theologie, hat sich in seinem großen Traktat Freedom of the Will (1754) dieser Position angeschlossen, vgl. Edwards (1995), 204: „And therefore to talk of liberty, or the contrary, as belonging to the very will itself, is not to speak good sense". LDStA 1, 641,15f. u. 645,1-4 (WA 780/781); mit dieser Übersetzung wird im Folgenden (in der Regel) „arbitrium" mit „Willensvermögen" und „voluntas" mit „Wille" wiedergegeben. Damit kann schon vom Wort her auf den Unterschied zwischen dem menschlich aktiven Willen in Handlungsspielräumen und dem Willen als solchem, dem Willensvermögen Gott gegenüber, aufmerksam gemacht werden.
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II. Reformatorische und neuzeitliche Tradition
freiheit bilden in dieser Hinsicht durchaus ein zusammen passendes, kooperierendes „Vermögen". Das bedeutet aber nicht, der Wille sei selbst und als solcher frei auch in der Gottesrelation, denn dann wäre er selbst absolut; und erst diese Sicht der Dinge ist es, die nach Luthers Soteriologie der Alleinwirksamkeit der Gnade Gottes und nach Luthers Kosmologie der Alleinwirksamkeit des Schöpfergottes widerspricht: [1] (Luther, Erasmus wohlwollend interpretierend:) „Mit dieser Wahrheitsbezeugung sagst du gewiss zugleich als wahr aus, allein das Erbarmen Gottes tue alles und unser Wille nichts, vielmehr lasse er es an sich geschehen, denn sonst würde nicht alles Gott zugeschrieben." [2] „Und auch dies also ist für einen Christen vor allem notwendig und heilsam zu wissen, dass Gott nichts zufällig [contingenter] vorherweiß, sondern dass er alles mit unwandelbarem, ewigem und unfehlbarem Willen [voluntas] vorhersieht, beschließt und ausführt. Durch diesen Blitzschlag wird der freie Wille [liberum arbitrium] vollständig zur Strecke gebracht und vernichtet." [3] „Alles, was wir tun, alles, was geschieht, geschieht - auch dann, wenn es uns veränderlich und zufällig [mutabiliter et contingenter] zu geschehen scheint - in Wirklichkeit notwendig und unveränderlich, wenn du Gottes Willen betrachtest. Denn der Wille Gottes ist wirksam, er kann nicht gehindert werden, weil er Gottes natürliche Macht selbst [naturalis ipsa potentia] ist. Dann ist er auch weise, so dass er nicht getäuscht werden kann [falli non possit]." 12
(1) Luthers Sicht der menschlichen Realität geht einerseits von der bestehenden Sünde aus, d.h. vom Fehlen der Kraft, aus Gottes Perspektive gesehen wirklich Gutes tun und sich dafür frei entscheiden zu können; andererseits von der Befreiung aus diesem Zustand kraft der Gnade („Erbarmen" [1. Abs.]) Gottes, so dass gelingendes Leben und Tun des Guten sich genau dieser dialektischen Situation verdanken. Spezifisch religiös ist diese Situation, weil die Unbedingtheit 13 des doppelten Selbstverhältnisses (in Verlorenheit und Befreiung) zugleich und ausschließlich in der Gottesrelation ihr Bestehen hat. Radikal ist Luthers Position gegenüber Erasmus allein dadurch, dass er die Spannung innerhalb der dialektischen Situation nicht mehr abschwächen lassen will, wie es durch jede Form der willentlichen Einsichts- und Leistungsfähigkeit der Fall wäre - dann „würde nicht alles Gott zugeschrieben" (1. Abs.). Der Wechsel vom Bösem zum Guten muss demnach in einem eigentümlichen Medium geschehen, jedenfalls nicht primär in vernünftiger Einsicht und auch nicht bedingt durch moralischen Einsatz, sondern so, dass mit dem Wechsel vom Bösen zum Gu-
12 13
LDStA 1, 249,7-10; 251,16-20; 253,1-4 (WA 614/615). S. § 1.4.
§ 7: Glaube und Vernunft (M. Luther)
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ten sich das Gottesverhältnis selbst als wirksam darstellt. Das geschieht im Medium des religiösen Glaubens14, für den deshalb im Gleichklang mit der Wirksamkeit und Weisheit des Willens Gottes gesagt wird: Er kann „nicht getäuscht werden" (3. Abs. u. LDStA 1, 323,13f.)!15 Eine solche Beschreibung verdankt sich zwar nicht mehr den aristotelischscholastischen Ethik-Grundsätzen und ihrer Gnadenlehre, ist deshalb aber keineswegs unvernünftig oder wissenschaftlich nicht mehr darstellbar. Religionsphilosophisch ist aber festzuhalten, dass das Phänomen des existentiellen Glaubens die Art und Weise seiner Zugänglichkeit betrifft und damit einen höheren und weitergehenden Anspruch stellt als bisher. Dass in diesem Punkt, und anders als von Erasmus empfohlen, die gelehrte Distanz zum Gegenstand nicht immer durchgehalten werden kann, muss als Argument in der Sache anerkannt werden. Nur unter dieser Bedingung ist der Vorwurf, Luther rede autoritär und umgehe damit das wissenschaftliche Gespräch16, unberechtigt. Es müssen also Gesprächsformen entwickelt werden, die dem entdeckten Medium des (existentiellen) Glaubens entsprechen können. (2) Dem soteriologischen Argument Luthers korrespondiert das kosmologische bzw. schöpfungstheologische: Wenn Gott tatsächlich „alles [...] zugeschrieben" werden muss (1. Abs.), dann gilt das auch für alles, was in der geschaffenen Welt geschieht; und weil es sich um Gottes Wirken handelt, geschieht nichts beliebig, nichts ist zufällig (1./2. Abs.), sondern alles geschieht - „wenn du Gottes Willen betrachtest" (3. Abs.) - mit einer gewissen Notwendigkeit. Dass „nicht getäuscht werden kann", hat also einen doppelten Grund: Der Glaube an Gott kann nicht anders als sich auf seine Befreiung unbedingt zu verlassen; und diese kann sich in allem auf die Wirksamkeit Gottes verlassen, sie geschieht „notwendig und unveränderlich" (3.Abs.). - Doch wie ist diese Notwendigkeit zu verstehen? An zahlreichen Stellen in Luthers Schrift werden Klärungen zu dieser Frage versucht. Festzuhalten ist, 14
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Aus der Sicht des christlichen Glaubens ist dessen dialektische Situation im Sinne Luthers wie folgt zu formulieren, vgl. H. Schulz (2001), 325: „Wie muss das ursprüngliche religiöse Verhältnis zum Unbedingten beschaffen sein, wenn (a) die Sündenerfahrung als Erfahrung der hinreichenden Bedingung seiner (epistemischen wie ontologischen) Kontrapossibilität sowie (b) die der Selbstmitteilung desjenigen Gottes, der sich in Christus, jene überwindend, als heilschaffend offenbart hat, möglich sein soll?" Vgl. LDStA 1, 322,10 (WA 652): „Quia fidei est, non falli." - Vgl. E. Herms (2000), 25. Vgl. V. Leppin (2006), 256f. (zu Luthers „prophetischem Gestus" und seinem bloßen Behaupten statt zu argumentieren).
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II. Reformatorische und neuzeitliche Tradition
dass Luther keinen kosmologischen Determinismus lehrt, dafür steht der Begriff des „Zwanges [coactio]", der ausgeschlossen werden soll zugunsten von Gottes „Unveränderlichkeit [immutabilitas]". 17 Mit letzterem Begriff versucht Luther die scholastische Unterscheidung einer „necessitas consequentiae" („Notwendigkeit der Folge") von einer „necessitas consequentis" („Notwendigkeit des Folgenden") zu überholen18: Während diese Unterscheidung den Determinismus bestimmter Ereignisfolgen (des jeweils bestimmt Folgenden: „consequentis") ausschließen will, indem sie sekundäre Handlungsfreiräume im Rahmen einer Gesamtheit von Ereignismöglichkeiten („consequentiae") denkbar macht, will Luther an der Notwendigkeit (gegen Schlupflöcher für das „liberum arbitrium" [2. Abs.]) unbedingt festhalten, sie aber allein aus der Perspektive der Wirksamkeit Gottes denken. 19 Gottes Unveränderlichkeit meint folglich den Schöpferwillen, und hier ist es wiederum dessen existentielle Präsenz in der leidenschaftlichen Situation des Glaubens, um die sich alles andere dreht: Gottes Wirken im - insofern - unfreien Willensvermögen des Menschen ist keine „schnarchende und faule Sache", sondern eine „Bewegung", durch die er „hinreißt", deren Notwendigkeit anstachelt „zur Furcht gegen Gott", deren „Ungewissheit" aber „Zuversicht" hervorbringt, „damit wir nicht verzweifeln." 20
2. Glaube als rezeptive Gewissheit Der polemische Stil in Luther Auseinandersetzung mit Erasmus - sofern Eitelkeiten, Motive aus zeitbedingten Schulstreitigkeiten und Geltungsbedürfnis in Abzug gebracht werden können - hat einen Sachgrund: Leidenschaftlich, „recht heftig" vorzugehen, ja „bis zum Äußersten" zu gehen, deckt erst die Konfliktsituation um den Willen wirklich auf, liefert die eine überwältigende Perspektive (dass „alles auf 17 18
19
20
LDStA 1, 289,22f. (WA 634); vgl. 425,19ff. (WA 694); 555,39f. (WA 747) u.ö. Vgl. LDStA 1, 255,7ff. (WA 617); dazu H J . McSorley (1967), 147, mit dem Hinweis auf dieselbe Unterscheidung hei Thomas v. Aquin auch als „de dicto" (für necessitas consequentiae) und „de re" (für necessitas consequentis). Vgl. E. Herms' (2000), 30f., Begriff der „Geschehensnotwendigkeit" (die hier allerdings mit der „necessitas consequentiae" verknüpft wird), die aus der Perspektive Gottes unveränderlich, aus der Perspektive des Geschaffenen aber gerade an Geschehenskontingenz gewiesen ist. Vgl. W. Härle, Einl., in: LDStA 1, XXVIIf. mit der Erklärung der „necessitas immutabilitatis" durch die Unterscheidung von Gottes „Allmacht" nicht als „Alleinwirksamkeit", sondern als „Allwirksamkeit". Letztere schließt die Kooperation mit den Menschen ein. LDStA 1, 555,41; 557,2f.; 555,14ff. (WA 747).
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Gott zurückgeführt wird") und zeigt, dass „die Schriften sich nicht widerstreiten" bzw. dass „das Unbequeme" an ihnen, „wenn es auch nicht aufgehoben", so doch „ertragen" werden kann.21 Ist diese Perspektive einzunehmen berechtigt? Im Wirkungsbereich der Humanisten und der via moderna war die vorrangige Stellung der Schrift längst eine Selbstverständlichkeit, Luther war als Bibelprofessor ausgebildet und hat nur noch vorübergehend das aristotelisch-scholastische Lehrprogramm vertreten.22 Der Streit geht folglich um die richtige Auslegung der Schrift, genauer: um die richtige Haltung im Blick auf die Auslegung, weniger um den Gelehrtendisput um einzelne Stellen und Ubersetzungen, so wichtig diese auch sind. Wo Erasmus die Fülle sich durchaus auch widersprechender Auslegungen sieht und deshalb zurückhaltend vorgehen will, sucht Luther - um des befreienden Glaubens willen - die „Klarheit der Schrift".23 Gesteigert wird die Kontroverse noch dadurch, dass Erasmus sich gerade nicht zu bestimmten Auslegungen, auch nicht zu einer bestimmten Hermeneutik zwingen lassen will und deshalb sogar das skeptische Aussetzen von Entscheidungen in aller Deutlichkeit Luthers Forderung nach Beachtung der existentiellen Wahrheitsbehauptung vorzieht. Hier liegt nun der Angelpunkt reformatorischer Religionsund Christentumsauffassung: Entweder ist der Text der Bibel in seinen entscheidenden Zeugnissen klar erfassbar und dient der Gewissheit des Glaubens, oder er ist es nicht und bleibt ein nur relativ interessantes Dokument im Gelehrtenstreit seiner Auslegungsgeschichte. Die hier verborgene Frage der Autorität der Schrift hatte Erasmus selbst auf ganz unbefriedigende Weise gelöst, indem er die externe, sogar die unbegriffene Autorität des kirchlichen Lehramts anerkannte und zugleich die allgemeine Öffentlichkeit nicht am Disput um die Wahrheit der Schrift beteiligen wollte.24 Nicht nur diese Zurückhaltung kommt für Luther und die Reformation nicht mehr in Frage, schwerwiegender ist der Widerspruch zur Skepsis, wie sie Erasmus hatte durchblicken lassen. Luther setzt dem entgegen: „Der Heilige Geist ist
21 22
23 24
AaO. 577,21-24;37ff. (WA 756). Vgl. M. Brecht, Bd. 1 (1981), Kap. IV u. V; H.A. Obermann (1981), 228ff.; zur Bedeutung von Luthers Erfurter Lehrern der via moderna, Jodocus Trutfetter und Bartholomäus Arnoldi v. Usingen, vgl. J. Pilvousek (2002), S. Lalla (2003). LDStA 1, 239,24-39 (WA 609). S. Anm. 6; vgl. LDStA 1, 231,28-40 (WA 605); 239,36-39 (WA 609) zu „äußeren Klarheit" der Schrift als öffentlicher Text; 621,16ff. (WA 621) zu Zurückhaltung auch von wahrem Wissen gegenüber der allgemeinen Öffentlichkeit.
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II. Reformatorische und neuzeitliche Tradition
kein Skeptiker!" 25 D.h. die „innere Klarheit" der Schrift besteht in der Situation der religiösen Aneignung, des befreienden Glaubens. Hier kann es keine Neutralität, keine Suspendierung von Entschiedenheit und Leidenschaft geben, weil diese Gewissheit existentiell ausschlaggebend ist. Luthers Protest ist also nicht gegen gelehrte Schriftauslegung und historische Forschung gerichtet, sondern gegen deren Absolutsetzung - die Gewissheit ausschließt. Insofern gibt es eine gewisse Berechtigung zu dem Urteil, Luther ,,witter[e] in dem Holländer [sc. Erasmus] den ersten christlichen Atheisten." 26 Scholastische Rationalität und nominalistische Empirie können das Gottesverhältnis nicht mehr absichern. Luther zieht daraus aber nicht die Konsequenz des skeptisch distanzierten Wissenschaftlers, sondern er entdeckt in der verschärften Frage nach dem, was Gewissheit gibt, dass diese in der eigenen Realität des rettenden Glaubens selbst bestehen muss.27 So ist die Schrift zu lesen, denn dies ist ihr Inhalt. Diese Gewissheit ist nun weit mehr als nur ein texthermeneutisches Stichwort. Was Gott gegenüber gilt, betrifft die Fundamente der Erkenntnis der Welt (kosmologisch) und der Menschen (soteriologisch); und am Fußpunkt jeder zugänglichen Erkenntnis steht diese Gewissheit, die ihre Gegenstände im Vertrauen empfangen hat, bevor sie daran gehen kann, sie darzustellen oder im Handeln mit ihnen umzugehen. Ihr Ort ist das „Herz" oder das „Gewissen"28, im religiösen Selbstund Gottesverhältnis der Glaube. Im neuzeitlichen Vergleich zu Descartes' Bestimmung der Erkenntnisgewissheit im „Ich denke, also bin ich", was zugleich „ganz klar und deutlich" begriffen werden kann 29 , hat Luther ca. 100 Jahre früher die fundierende Erkenntnisgewissheit als nicht-rationale Gegenstandsvertrautheit entdeckt. Sie hat den Vorteil, rationale Erkenntnis keineswegs auszuschließen, aber Welt- und Selbsterfahrung nicht primär im konstruktiven Denken, sondern im rezeptiven Vertrautsein - eben des religiösen Glaubens - zu fundieren. 25 26 27 28 29
AaO. 233,39 (WA 605); vgl. G. Wenz (1992), 155f.; H.A. Obermann, aaO. 230f. Obermann, aaO. 228. Das Christuszeugnis ist der Schlüssel zum Verständnis der Schrift, vgl. LDStA 1, 235,38 - 237,4 (WA 606); s. Anm. 7 (zu Luthers Begründung der „assertio"). Vgl. LDStA 1, 301,22 - 303,13 (WA 641). R. Descartes, Discours de la Méthode (1637), IV.3, (1964), 55; vgl. den Hinweis auf diesen Vergleichspunkt bei E. Herms (2000), 26: Die Glaubensgewissheit bei Luther entspricht der „cogitatio sui" und ihrer Gewissheit: „So wenig für Descartes in der cogitatio sui eine Täuschung über die Existenz und über die Wesensbeschaffenheit von deren Gegenstand herrschen kann, so wenig für Luther im Glauben."
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3. Gottes kreative Vorrangigkeit [1] „Allmacht Gottes aber nenne ich nicht die Macht, mit der er vieles nicht tut, was er kann, sondern jene wirksame, mit der er machtvoll alles in allem tut. Auf diese Weise nennt die Schrift ihn allmächtig. Diese, sage ich, Allmacht [omnipotentia] und das Vorherwissen [praescientia] Gottes vernichten von Grund auf das Lehrstück vom freien Willensvermögen. [...] Die Sache ist offen und leicht, auch nach dem allgemeinen, natürlichen Urteil der Erfahrung [communi sensus iudicio naturali probata] bewährt, so dass auch eine noch so lange Reihe von Jahrhunderten, Zeiten, Personen, die anders schreiben und lehren, nichts ausrichtet. [2] Freilich, das erregt in höchstem Grade Anstoß bei jenem allgemeinen Empfinden oder der natürlichen Vernunft [rationem naturalem], dass Gott aus seinem bloßen Willen die Menschen im Stich lässt, verstockt, verdammt. [...] Ich selbst habe nicht nur einmal Anstoß genommen bis hin zum tiefsten Abgrund der Verzweiflung [abyssum desperationis] - bis ich sogar wünschte, dass ich niemals als Mensch geschaffen worden wäre. Das war, bevor ich wusste, wie heilsam diese Verzweiflung ist und wie nahe der Gnade." 30
(1) Luthers Gottesbegriff, den er als schriftgemäß gegen (bestimmte) scholastische Traditionen und gegen Erasmus' Skepsis ausspielt, ist eine Konsequenz der existentiellen Glaubensgewissheit. Wenn Gott (nach biblischem Zeugnis) alles wirkt, dann ist das Willensvermögen demgegenüber genauso wenig frei wie alles andere Geschehen, Gutes wie Böses, das in menschlicher Erfahrung auftritt; umgekehrt gesagt: Gott ist für alles verantwortlich zu machen! - Wie lässt sich das, ohne eine deterministische Kosmologie und Theologie zu vertreten, denken? Luther arbeitet einerseits begrifflich („Allmacht Gottes aber nenne ich nicht ..." [1. Abs.]"), andererseits will er sich im Verweis auf die Schrift der geltenden (scholastischen) Begriffslogik entziehen. Der „sensus communis", das „natürliche Urteil" weiß wie die Schrift, was die philosophisch-theologische Schulweisheit und die kirchlichautoritativen Texte verdunkelt haben: Gottes Wirken ist uneingeschränkt, nur so kann es der Glaube verstehen. Die begriffslogischen Probleme, die Luther damit hinter sich lassen möchte, bleiben dann natürlich auf ihre Weise - und bis heute - bestehen. Am Beispiel von Allmacht und Vorherwissen gezeigt: Es kann religionsphilosophisch immer weiter, detaillierter und unter Zuhilfenahme elaborierter Logik überprüft werden, ob und wie sich theistische Totalbegriffe für Eigenschaften Gottes überhaupt fassen lassen. Kann Allmacht widerspruchsfrei alle irgend denkbaren Handlungen oder Geschehnisse einer sie bewirkenden Instanz bedeuten, auch die der Selbstaufhebung oder logisch widersinniger Dinge? Kann Vorherwissen strikt (unfehlbar) 30
LDStA 1, 487, 7-30 (WA 718f.).
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II. Reformatorische und neuzeitliche Tradition
von der Vergangenheit und Gegenwart aus für zukünftige Handlungen und Geschehnisse gelten, ohne dass es zu einem Determinismus kommt, der Handlungsentscheidungen und kontingente Ereignisse ebenso strikt ausschließt?31 In allen Fällen ist es so, dass begriffliche Problemlösungen Einschränkungen machen müssen, dass Gottes Allmacht z.B. nicht total, Gottes Vorherwissen z.B. nicht zeitlich verstanden werden dürfen, damit es nicht zu inkonsistenten Begriffsbildungen kommt. Abgesehen von der Frage, was solche Einschränkungen für den philosophischen Gottesbegriff bedeuten, bleibt aus Luthers Sicht vor allem der Einwand, ob derartige Differenzierungen dem religiösen Glauben gemäß sein können, der offenbar in ganz anderer Weise aufs Ganze geht. Was Luther dem „natürlichen Urteil" in dieser Sache zuspricht (1. Abs.), kann die „natürliche Vernunft" deshalb nicht mit vollziehen (2. Abs.); und es ist diese Unterscheidung - die keineswegs pauschal Glaube gegen Vernunft ausspielt, sondern bestimmte Ansprüche bestimmter Rationalitäten im Namen des religiösen Glaubens für unbrauchbar hält - , auf der Luthers massive Kritik der aristotelischen Scholastik beruht. An berühmter Stelle, in den Thesen zur Disputation gegen die scholastische Theologie (1517) kann es deshalb heißen: (These 42) „Nicht indem wir gerecht handeln, werden wir gerecht, sondern [indem w i r ] gerecht geworden [sind], handeln wir gerecht. Gegen die Philosophen." - (These 46) „Vielmehr wird man ein Theologe nur, wenn man es ohne Aristoteles wird." - (These 47) „Zu sagen, ein Theologe, der kein Logiker ist, sei ein ungeheuerer Häretiker, ist eine ungeheuere und häretische Rede [...]." - (These 52) „Kurzum: Der ganze Aristoteles verhält sich zur Theologie wie die Finsternis zum Licht [...]. 32
Eine bestimmte Art zu denken ist es, die den eigentlichen Grund des religiösen Glaubens unzugänglich macht, hier z.B. die der aristotelischen Ethik zugehörige Annahme, gerechtes Handeln sei Menschen möglich und mache sie gerecht - was die Gerechtigkeit allein aus Glauben ausschließt. Das mit diesem Dissens weder alle Philosophie noch vernünftiges Argumentieren ausgeschlossen werden sollen, zeigt die Praxis des Disputierens (nach bestimmten logischen Prinzipien) selbst, aber auch Thesen (der Heidelberger Disputation [1518]) wie diese:
31
32
Vgl. J. Hoffman/G. Rosenkrantz: Omnipotence, in: Ph.L. Quinn/Ch. Taliaferro (Ed.), A Companion (1999), 229-235; L. Zagzehski: Foreknowledge and human freedom, ebd. 291-298; entsprechend zu den anderen Eigenschaften Gottes, aaO. part V („The Theistic Conception of God"); vgl. auch H. Deuser, Vorsehung I (2003), 316f. („Analytisch-semantische Modelle"). LDStA 1, 25/27 (WA 1, 226). - Vgl. dazu W. Härle, Einl., ebd. XIVf.
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(These 36) „Aristoteles rügt und verlacht auf üble Weise die Philosophie der Platonischen Ideen, die besser ist als seine." - (These 38) „Die Abhandlung des Aristoteles gegen jenes Eine des Parmenides ist, einem Christen sei es verziehen, ein Schlag in die Luft." - (These 39) „Wenn Anaxagoras das Unendliche als Gestalt behauptet hat, wie es scheint, ist er der beste aller Philosophen gewesen, auch gegen den Willen des Aristoteles." 33
Damit ist ein deutlicher Beleg erbracht, dass es sich hier zumindest auch um einen Streit bestimmter Schulen christlicher Philosophie 34 handelt, in denen die Zuordnung von rationaler Argumentation und Gottes „unveränderlichem Ratschluss", der „in den Herzen aller geschrieben" steht33, unterschiedlich vorgenommen werden kann. Luther argumentiert auch im Namen natürlicher Plausibilität: Entweder wirkt Gott ganz und alles - oder gar nicht. Wenn er ganz und alles wirkt, dann liegt deshalb kein Determinismus vor, weil es gar nicht um den freien Willens-, d.h. Entscheidungsspielraum geht (z.B. ob Judas so zu handeln gezwungen war oder willentlich so gehandelt hat, also auch anders hätte handeln können) 36 , sondern um Gottes vorrangiges Wirken, das - generell - zu jedem Handeln bestimmt (das Willensvermögen also von sich abhängig macht), ohne dass dadurch die jeweils einzelne Willensäußerung (vorher) gewusst oder fixiert worden wäre. Für diese Sicht, hier zunächst aus der Perspektive Gottes, von einer „Notwendigkeit der Unveränderlichkeit" zu sprechen 37 , vereint in sich das geschöpfliche Wollen-Müssen (des darin unfreien Willensvermögens) mit dem durchaus kreativen Einzelwillen, sofern dieser mit Gottes vorrangigem Wirken - im Glauben - zusammenstimmt. Das einzelne Geschehen ist aus Gottes Schöpfungsperspektive notwendig und kreativ zugleich, und diese Vorrangigkeit ist unvermeidlich. (2) Die Schwierigkeiten, in die Luthers Position gerät, liegen nun auf der anderen, der menschlichen Seite darin, Gott konsequent so verstehen zu müssen, dass auch das Misslungene und Böse in der Welt, dass auch das verzweifelte Gewissen mit Gottes Wirken im Zusammenhang stehen müssen. Auch in diesem Punkt polemisiert Luther gegen die aus der scholastischen Diskussion angebotenen Unterscheidungen, hier die 33
34 35 36 37
LDStA 1, 69 (WA 1, 355). - Zur ausdrücklich philosophischen Begriffsarbeit Luthers in dieser Frühzeit und seinen produktiven aristotelischen Anknüpfungen vgl. Th. Dieter (2001). S. § 5 u. 6. LDStA 1, 489,14f. (WA 18, 719). Vgl. aaO. 491,36ff. (WA 721). AaO. 491,28 (WA 720); s. § 7.1.
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II. Reformatorische und neuzeitliche Tradition
der potentia Dei ordinata et absoluta3S, weil er wiederum der Begriffslogik als solcher misstraut. Distinktionen dürfen sich nicht an die Stelle der Erfahrung setzen, und deren Recht wird mit derselben Konsequenz betrieben wie zuvor der Gedanke der Notwendigkeit: Was die „natürliche Vernunft" (2. Abs.) nicht wahrhaben kann, ist die ursächliche Verbindung alles Bösen mit dem Wirken Gottes; Luther, umgekehrt, muss dies nun tun, und die (existentielle) Erfahrungskonsequenz besteht im Aufdecken und Einräumen der Tiefgründigkeit des inneren Widerspruchs der Verzweiflung („abyssum desperationis"), die trotzdem und deswegen der „Gnade" nahe ist (2. Abs.). Wenn Luther hierzu die überkommene Begrifflichkeit des Deus absconditus aus der Tradition der via moderna selbständig und anders einsetzt39, so liegt das daran, dass das Gottesbild, gemessen an der Situation der Verzweiflung, nicht unbeeindruckt bleiben kann. Luther kann nicht einfach bestimmte Funktionen im Gottesbegriff, die aus menschlicher Sicht zugänglichen und die entzogenen, arbeitsteilig differenzieren, sondern er muss demselben Gott alles zuordnen: die Verzweiflung des Menschen der Verborgenheit Gottes - um seiner Präsenz im Glauben willen. Die Situation der Verzweiflung hat, analog zur Diskussion um die Notwendigkeit, zwei Dimensionen40: die kosmologische und die soteriologische; und Luthers Sicht der Dinge ist vielleicht am besten summiert in den beiden Bildern vom Zug- bzw. Reittier. Das erste41 und bekanntere sieht das freie Willensvermögen des Menschen dadurch ausgeschaltet, dass der Mensch „wie ein Zugtier" entweder von Gott oder vom Satan bestimmt wird, dem Menschen also „in die Mitte gestellt" keine eigene Initiative bezogen auf diese Alternative bleibt. Rettung wie Verlorenheit ergeben sich dann von außen her, und der (soteriologische) Sinn dieses Bildes liegt sicherlich in der enormen (existentiellen) Spannung, die es zum Ausdruck bringt, nicht etwa in 38
A a O . 486,27 (WA 719), (hier als „de volúntate Dei ..."); 487,32f. („des geordneten und des absoluten Willens Gottes"); s. A n m . 2.
39
Vgl. V . Leppin (2005); (2006), 254f.; auch Ch. Trinkaus (1976), 16f. - Z u m Verständnis der „Verborgenheit" Gottes auf der Basis solcher Erfahrungen von „Anfechtung" vgl. D . Korsch (2007), Kap. V.2 u.3.
40
S. § 7 . 1 .
41
L D S t A 1, 2 9 1 , 3 3 - 3 9 (WA 635); vgl. W . Härle, Einl., ebd. X X X I V : „Das von Luther verwendete Bild enthält freilich auch einen dualistischen und deterministischen Zug, durch den nicht mehr hinreichend klar zum Ausdruck k o m m t , dass das menschliche Willensvermögen an der Entscheidung für das Böse nicht für das Gute! - ursächlich beteiligt ist." - Zur Traditionsgeschichte dieses Bildes und seiner neuen Akzentuierung durch Luther vgl. H J . McSorley (1967), 309-313.
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einem kosmologischen Dualismus von Gott und Satan, sofern es in der Bildanwendung um das unfreie Willensvermögen geht. - Das zweite Bild vom Reittier dagegen steht im kosmologischen Kontext der Frage nach der Allwirksamkeit Gottes gerade auch in der von ihm abgewandten Realität des Bösen: „wie wenn ein Reiter ein drei- oder zweifüßiges Pferd reitet, dann reitet er es jedenfalls so, wie das Pferd beschaffen ist, das heißt, das Pferd geht schlecht." 42 Der Reiter ist Gott selbst, der auch hier (als Reiter) alles wirkt, doch aber selbst „nicht böse" handelt, „mag er auch Böses durch Böse tun". Die vermittelnde, wie ein „Werkzeug" agierende Schöpfung schließt in diesem Sinne das Böse ein, der universalen Konflikterfahrung wird Ausdruck gegeben und die Verborgenheit Gottes ist jenes „Geheimnis der göttlichen Majestät", das als die nicht sichtbare Seite seiner „Barmherzigkeit" zu dieser selbst gehört. 43 Luther ist - zumal mit dem zweiten Bild vom Reittier - der menschlichen Erfahrung sicherlich in einer Weise gerecht worden, die billige Vertröstungen gegenüber dem schlechten Weltlauf nicht mehr nötig hat. Geradezu umgekehrt lässt sich sagen: Gottes Allwirksamkeit wird in das Elend der Welt hineingezogen 44 , und es ist allein diese dialektische Situation, in der der Glaube trotz allem seine Gewissheit finden kann: in der kreativen Vorrangigkeit Gottes.
4. Unbedingtheit in rhetorischer Bild- und Uberzeugungskraft Es sind die Bilder, die Luthers Schrift ihre Kraft verleihen; doch nicht in dem Sinne, als stünden sie anstelle vernünftiger Argumentation. Wenn Gottes „Allmacht" uns „fortreißt", wenn der „allmächtige Treiber [omnipotens actor]" mit „unvermeidlichem Antrieb treibt" 45 , so wird das Spezifikum des Glaubens, sich nicht distanziert zu sich selbst 42 43 44
45
LDStA 1, 465,6ff. (WA 709); vgl. im Folgenden ehd. 465,8-16. AaO. 405,5-11 (WA 684), hier im Kontext des Problems der Prädestination. Vgl. J. Bauke-Ruegg (1998), 497f.: „Luther [...] ist der abendländische Theologe, der die Allmacht Gottes in bislang unüberboten radikaler Art und Weise zu denken versuchte, indem er Gott nicht aus der Faktizität dieses Weltgeschehens herausnahm, sondern ihn gerade auch mit den schlimmsten Momenten und Ereignissen konfrontierte." - In der Interpretation von Gottes umfassender Kreativität, die zugleich an die widersprüchliche Lebenserfahrung gebunden bleibt, erscheint die kritische Rückfrage, wie Gottes Verborgenheit der „Ermöglichungsgrund" für seine Barmherzigkeit sein könne (V. Leppin [2005], 59f.), abstrakt gestellt. Denn Allwirksamkeit ist der schöpferische Grund für Barmherzigkeit und Verborgenheit. LDStA 1, 467,42f.; 469,33f. (WA 711).
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II. Reformatorische und neuzeitliche Tradition
verhalten zu können, in Sprachbildern argumentierend gegen Erasmus' Skepsis vorgetragen. Umgekehrt hatte Erasmus die Klarheit der Schrift immer dort in Frage gestellt, wo es sich um „Bildrede" (Tropen) handele46, die folglich nicht direkt auszulegen sei. Das Motiv der Verborgenheit Gottes wird dementsprechend von Erasmus auf die Verborgenheit von Schriftstellen übertragen, ein - aus Luthers Sicht - fundamentaler Fehler skeptischer Hermeneutik, die der Gewissheit des Glaubens a priori aus dem Weg geht.47 Die Klarheit der Schrift über Gottes Allwirksamkeit aber muss nur dann in Zweifel gezogen werden, wenn eine durchgängig rationale und ethische Vertrauenswürdigkeit des Menschen vorausgesetzt wird, der selbst seine Gerechtigkeit einsehen und prinzipiell auch realisieren können soll; dann kollidiert diese allgemeine und tendenzielle Vernünftigkeit mit einem Gottesbild, das widersprüchliche Leidenszüge nicht scheut. Für Luther aber, der der (soteriologischen) Durchgängigkeit menschliche Rationalität zutiefst misstraut, sind die fraglichen Schriftstellen klar und deutlich, und gerade aus ihnen ergeben sich existentielle Konsequenzen, nämlich die Differenz-Erfahrung von Gottes Verborgenheit und Barmherzigkeit aufgrund seiner kreativen Wirksamkeit in dieser Welt. So liest und erfährt der Glaube die Schrift, und er unterscheidet sie damit deutlich von Gott selbst.48 Die Gründe für Luthers Vorgehen liegen einerseits in einer Schrifthermeneutik, die sich von den scholastischen Vorgaben frei macht - und insofern gegen die aristotelische Schulphilosophie polemisiert - , andererseits aber in einer eigenständigen Anwendung der antikmittelalterlichen Rhetorik auf die vernünftige und dem Glauben angemessene theologische Argumentation.49 Das scholastische Trivium gewinnt neue Bedeutung: Zu unterscheiden sind die Sprachzeichen (Grammatik), der Sachbezug der Zeichen (Dialektik) und die Rezeption beim Hörer (Rhetorik); und im letzteren Aspekt geht es um Uber-
46
LDStA 1, 441,24 (WA 700); vgl. 461,29f. (WA 708); dazu E. Herms (1997), 18ff.
47 48
Vgl. Th. Wabel (1998), 215ff. Vgl. LDStA 1, 235,18f. (WA 606): „Zwei Dinge sind Gott und die Schrift Gottes. Und zwar nicht weniger, als auch Schöpfer und Geschöpf Gottes zwei Dinge sind."
49
Neuere Forschungen haben diese zeichentheoretischen Traditionen, die durch den Humanismus vermittelt von Luther aufgegriffen werden, in ihrer überragenden Funktion nachweisen können: z.B. den Einfluss antiker Grammatiktheorie (Quintilian [ca. 50 - ca. 96]) und der Rhetorik (Rudolf Agricola [1443/44 - 1485]), vgl. G. Linde (2009), Kap. III.
§ 7: Glaube und Vernunft (M. Luther)
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zeugungsbildung, Affekte, kurz: den Glauben.30 Das Hören einer Rede wird damit zur Instanz von eigenem Gewicht: Ohne affektive Beteiligung des Herzens gibt es kein Verstehen, Verzweiflung schließt von Gewissheit aus, die formale Wahrheit des Satzes kann deshalb nicht die Uberzeugungsbildung (Glaube) ersetzen, und zur Uberzeugung kommt es „durch argumentierende Rede".31 Zu dieser, der aristotelischen Scholastik gegenüber neuen Zuordnung von Vernunft und Glaube gehört konstitutiv die Kraft der (Sprach-)Bilder. Denn Zeichen, auch in der Sprache, repräsentieren sinnlich; und dieser Sinnlichkeit und ihrer Uberzeugungskraft kann in der Rede wiederum nur bildlich entsprochen werden, Zeichen haben eine - für die Uberzeugungsbildung unersetzbare - „Bildqualität": Menschen denken „in Bildern", die religiöse Kraft des Glaubens liegt in der „Ein-Bildung" seines Gegenstandsbezugs.32 Während Erasmus die bildliche Rede für die Mehrdeutigkeit der Schrift, d.h. für die - bzgl. der Wahrheitsfrage - skeptische Zurückhaltung der Interpretation in Anspruch nimmt, gibt es für Luther keine überzeugende Wahrheit ohne die Kraft der Bilder, die allein zu Herzen gehen und Gewissheit verbürgen. Luthers Argumentation, ins Bild gefasst, lautet dann am Ende so: „Weiter ist der Unglaube [incredulitas] kein grober Affekt [crassus affectus], sondern der höchste, der in der Burg des Willens [voluntatis] und der Vernunft [rationis] sitzt und regiert. Wie auch sein Gegenteil, nämlich der Glaube." 53
(1) In diesem Bild der Burg - gesichert, gefestigt und ganz oben - ist zunächst festgehalten, dass am Ort höchster Autorität im Menschen nicht etwa die Vernunft allein sitzt, sondern gleich drei: Vernunft, Wille und Glaube/Unglaube. Dieses Menschenbild ist einheitlich in dem Sinne, dass gestufte Vermögen, die Hierarchie des Geistigen über dem Willentlichen und schließlich dem Sinnlichen, hier nicht mehr den Ausschlag geben.54 Wie immer die Verteilung der Zuständigkeiten 50
Zum scholastischen Trivium s. § 6.2, Anm. 68; vgl. G. Linde, aaO. Kap. III, Anm. 4: „Diese Konstruktion des Triviums kann als entfernte Vorläuferin der 1938 von Charles W. Morris [...] getroffenen und durch Charles S. Peirce inspirierten Unterscheidung zwischen Syntaktik, Semantik und Pragmatik betrachtet werden"; zur rhetorischen Bedeutung der Affekte vgl. ebd. Kap. III.1.2.1.
51
G. Linde, Kap. III.1.3.
52
Vgl. G. Linde, Kap. III.3.2.
53 54
LDStA 1, 641,40 - 643,1 (WA 780). Zu den anthropologischen Denkmodellen der scholastischen Tradition, die die gegenseitige Selbständigkeit oder Abhängigkeit von Vernunft, Wille und Affekt ganz unterschiedlich darstellen konnten, vgl. K.-H. zur Mühlen: Affekt II, in: T R E 1 (1977), 599-612; hier: 599-605.
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II. Reformatorische und neuzeitliche Tradition
von Willen und Vernunft auch konzipiert werden, sie gehören beide in ein Zentrum, das affektiv bestimmt bleibt. In der Frage nach dem religiösen Glauben - für Luther: nach dem (nicht vertretbaren) freien Willensvermögen Gott gegenüber, d.h. in der Frage nach dem Unbedingten - zieht die affektive Bestimmtheit das ganze Interesse auf sich. Die situationsbestimmte Affektivität, die Zustimmung oder Abwehr des Herzens, der Glaube oder Unglaube, beeinflussen jedes Urteil: in der Gottesrelation vollständig, in allen anderen gegenständlichen und alltäglichen Urteilen mehr oder weniger mitlaufend. Aus diesem affektiven Urteilsvermögen heben sich Wille (als Kraft der Entscheidung gegen Widerstände) und Vernunft (als partielle Selbstkontrolle im Entscheiden und Denken) heraus - und ihnen gebühren Ehre und Anerkennung. In letzter Instanz aber, die keineswegs immer bemüht und ausdrücklich gemacht werden muss, sind es fundierende Qualitäten, die sich in Gefühlen, Haltungen, Einstellungen, Uberzeugungen, Vertrauen/Misstrauen, Gewissheiten/Ungewissheiten, kurz: im Glauben bzw. Unglauben schon längst einflussreich bemerkbar gemacht haben. Dass diese wirksame Innensteuerung gerade (unkontrollierbar) von außen kommt - aus der Unbedingtheit der Gottesrelation, ihrem Gelingen oder Misslingen, das hat Luther in der Bestreitung des freien Willensvermögens eines Menschen sagen wollen. So wie diese Einsicht auf Bildqualitäten beruht, so ist sie angemessen auch in Bilder zu fassen: In der Burg ganz oben sitzen drei, die zusammengehören: Wille, Vernunft und Glaube/Unglaube. (2) Dass ausgerechnet mit dem Glauben auch der Unglaube an dieser Stelle seinen Ort hat, macht das Bild der Burg ambivalent. Es ist jedenfalls nicht so, dass Wille, Vernunft und Glaube sich vor dem Unglauben in die Burg haben retten und die Brücke hinter sich haben hochziehen können. Der Unglaube ist eben nicht jener unzivilisierte, ausgestoßene, als unakzeptabel leicht erkennbare „crassus affectus", so als könnten wir immer klar und souverän zwischen den abzuwehrenden „groben Affekten" und dem „Besten und Vornehmsten"55 im Menschen wirksam unterscheiden. Beide, Glaube und Unglaube haben ihren Sitz im Herzen eines Menschen, wenn auch in der Folge Misslingen und Gelingen des Gottesverhältnisses den Unterschied zeigen werden. Luther sieht genau diesen Unterschied aber nicht mehr begründet in höheren und niedrigeren Vermögen im Menschen, sondern in der grundsätzlich alternativen Orientierungsrelation: zum Guten oder zum
55
LDStA 1, 643,7ff. (WA 780).
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Bösen; paulinisch ausgedrückt im Gegensatz von Geist (spiritus) und Fleisch (caro).36 Es ist demnach das einheitliche Selbstverhältnis des Menschen, über das in der Tiefenrelation des Glaubens bzw. seines Gegensatzes, der misslingenden Relation des Unglaubens, entschieden wird. Das Bild von der Burg lässt keinen Zweifel, dass es auch um eine Machtfrage geht: Wer an oberster Stelle sitzt, hat zu entscheiden. Die Grenze des Bildes ist allerdings erreicht, wenn nach dem Erkenntnisoder Erfahrungsgrund für die richtige, die nicht misslingende Entscheidungsrelation gefragt wird. Hierauf kann Luther nur mit der Allwirksamkeit Gottes antworten: Im Blick auf das unfreie Willensvermögen muss zunächst (Gott gegenüber) festgehalten werden, „dass wir nichts können"; dann aber auch: „dass, wenn wir etwas tun, Gott in uns wirkt". Aus dieser, menschlich gesprochen, widersprüchlichen Situation, gibt es kein Entkommen, der Glaube aber hält sich in der Allwirksamkeit Gott, sein Wirken geschieht insofern aus und in der Unbedingtheit der Kreativität Gottes; und in dieser Perspektive kann sogar gesagt werden, dass wir Menschen „zugleich alles können, wobei wir [...] dieses der Gnade Gottes zuschreiben." 57 Für die europäische Neuzeit gehört dieser Grenzfall der Vernunft fortan zu ihren unabänderlichen Aufgabenstellungen: Methodologisch in der Frage der Gewissheitsbildung, ontologisch im Problem der Erfahrungserkenntnis in einer Welt, deren Tiefenstruktur und letzte Perspektive der objektivierbaren Rationalität und Empirie notwendig entzogen bleiben muss. Dass der religiöse Glaube kosmologisch, d.h. aufgrund seiner Unbedingtheit auch real von herausragender Bedeutung für die wissenschaftliche Einstellung ist - und nicht nur psychologisch im Sinne diagnostischer Beschreibungen bzw. therapeutischer Maßnahmen bearbeitet werden muss - , bleibt umstritten und wird so zum kennzeichnenden Thema für die Religionsphilosophie der Moderne.
56 57
AaO. 649,24ff. (WA 783); vgl. K.-H. zur Mühlen, aaO. (s. Anm.54), 607ff.; H. Deuser (1979), 415ff. LDStA 1, 421,22f. u. 28f. (WA 691); vgl. J. Bauke-Ruegg (1998), 503; zum hier mit angesprochenen Problem von Providenz und Prädestination H. Deuser, Vorsehung (2003), 307ff.
§ 8: Religionskritik 1. Induktion und Erfahrung (F. Bacon) Francis Bacons Novum Organum, das programmatisch die aristotelische Scholastik beendet, das experimentelle Kausaldenken der Moderne auf den Weg bringt und damit die zweite, die nicht-existentielle Seite des - dann empirischen - Erfahrungsbegriffs1 zum Maßstab der Wissenschaften erhebt, erscheint 1620: als zweiter Teil eines geplanten Jahrhundertwerkes, der Instauratici magna, der Großen Erneuerung der Wissenschaften, die Fragment geblieben ist. I. Kant stellt der 2. Aufl. seiner Kritik der reinen Vernunft (1787) ein emphatisches Stück aus Bacons Vorrede zur Instauratio magna als Motto voran, und dieser Akt hat tiefere Bedeutung: Die Wendung zur Moderne im Wissenschaftsbegriff hat stattgefunden, Kant bestätigt die europäische Aufklärung, gibt ihr endgültig ein begriffliches Gerüst und formuliert zum Wohle der Menschheit ihr Zukunftsprogramm; und wenn Kant zu Beginn der „Methodenlehre" der Kritik der reinen Vernunft seine frühere vorkritische philosophische Arbeit in das Bild eines „Gebäudes" der Vernunft fasst, dessen spekulative Großdimensionen nach dem Vorbild des Turmbaus zu Babel scheitern mussten, so hat die jetzt nachgewiesene Limitierung der Leistungsfähigkeit der Vernunft immerhin ergeben, dass es, im Bild gesprochen, doch „zu einem Wohnhause zureichte, welches zu unseren Geschäften auf der Ebene der Erfahrung gerade geräumig und hoch genug war, sie zu übersehen"!2 Vorbild dieser arroganten Bescheidenheit in praktischer Absicht ist F. Bacon, den Kant als Vorläufer der empirischen Orientierung an der Natur, d.h. für „den Heeresweg der Wissenschaft" ausdrücklich nennt3, und der im Motto mit dem Grundsatz zitiert wird, es ginge nicht mehr um „irgendeine Sekte oder Lehrmeinung", sondern um den „Nutzen für die Größe der Menschheit".4 1 2 3 4
S. Teil II, Einl.; s. § 6.1.3, Anm. 53. I. Kant, KrV, Werke Bd, 4, Β 735; vgl. zum Kontext dieser Stelle V. Gerhardt (1998), 573. Vgl. KrV, Werke Bd. 3, Β XII. Vgl. KrV, Β II (Motto aus „Baco De Verulamio. Instauratio magna. Praefatio"); hier zit. nach der Ubers, in: F. Bacon (1999), Bd. 1, 33/35: „Von mir selbst schweige ich; um der Sache willen aber, die erörtert wird, bitte ich, dass die Menschen sie nicht für eine vorgefasste Meinung halten, sondern als ein ernstes
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F. Bacon (1561-1626), Jurist, Lordkanzler unter James I. in England, Wissenschaftsphilosoph und Apologet des Fortschritts der Menschheit registriert genau die gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Veränderungen seiner Zeit: Selbst kein praktizierender Naturwissenschaftlicher ist er Kritiker der alten (antiken und scholastischen) Wissenschaftseinstellung, um dem Vorrang der Natur zum Durchbruch zu verhelfen. Denn allein die darauf gerichtete Methode verspricht „eine Erleichterung und Verbesserung der Lage der Menschen" 3 , und es ist dieses Motiv, das Bacons Wissenschaftsbegriff in Kritik und Gestaltung bestimmt. Während die alte Wissenschaft in der Subtilität ihrer Begriffsakrobatik (der Dialektik seit Aristoteles) die Naturbedingungen allzu schnell hinter sich gelassen hat, ist die Wahrheit der Dinge nur durch bewusste, d.h. methodisch überprüfte Nähe zur Natur wiederzuentdecken. Bacon fordert Induktion und Experiment, doch anstelle des mathematischen Zugriffs zur Quantifizierung der Naturbeobachtung schwebt ihm noch ein qualitativer Naturbegriff (in der Tradition der Alchemie) vor - dieser aber soll so nahe wie möglich am Fußpunkt der Naturbeobachtung orientiert bleiben. Geschähe dies, so käme es (nach H. Blumenbergs Einstufung) durch moderne Wissenschaft zur „Wiederherstellung des Paradieses"; denn „mit der Wiederfindung des ursprünglichen Namens aller Dinge" wäre die eigentliche Ordnung zum Nutzen der Menschheit wieder erreicht. 6 Das biblische dominium terrae (Gen 1, 26-29) in Verbindung mit der Namengebung (Gen 2, 19f.) bleibt für Bacon wie eine Gegenutopie zum puren Empirismus, den er aber faktisch vorantreibt. Denn die Praxis der Wissenschaften soll der Menschheit weiterhelfen, und dazu muss die alte, kontemplative Einstellung, die durch Idole korrumpiert ist, durch die Beachtung der natürlichen Einzeldinge (particularia7) abgelöst werden. Idole verdunkeln das eigentliche Licht der Natur. 8 Bacon unterscheidet die menschliche Gattungs- und beschränkte Einzelperspektive („Idol des Stammes" und „Idol der Höhle"), die gesellschaftlich beding-
5
6
Werk anerkennen und sich überzeugen, dass ich nicht Grundlagen für irgendeine Sekte oder Lehrmeinung erstrebe, sondern Nutzen für die Größe der Menschheit suche [...]." Bacon, Bd. 1, aaO. 157 (Aphorismus Nr. 73); vgl. zu Leben und Werk die Darstellung von W. Krohn in der Emi. ebd., und in: O. Höffe (Hg.), Klassiker der Philosophie, Bd. 1 (1985), 262-279. H. Blumenberg (1996), 45.
7
Vgl. Bacon, Bd. 1, Nr. 36; oder in der Vorrede, aaO. 14/15.
8
AaO. 49.
190
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ten Bindungen („Idol des Marktes") und die philosophische Öffentlichkeit der Schulmeinungen („Idol des Theaters") 9 - sie alle verfehlen die wahre „Interpretation der Natur", erzielen weder „Nutzen" noch „Ergebnisse"10 und erreichen nichts „Gewisses oder Gesundes"11, weil die Kontrolle der Naturbedingungen überspielt worden ist. Das gesuchte Gegenprogramm lautet wie folgt12: „[Nr. 104] Doch ist nicht zulässig, dass der Geist [intellectus] von den Einzeldingen [a particularibus] zu den entlegenen und allgemeinsten Sätzen [axiomata], den Prinzipien der Künste und der Dinge, wie sie genannt werden, planlos hinüberspringt, wobei deren Wahrheit dann für unveränderlich gilt und die mittleren Sätze [axiomata media] nach ihnen eingerichtet werden. Allerdings lässt sich der Geist dazu durch einen natürlichen Drang verleiten. Er ist dazu auch durch syllogistische Beweisführungen immer erzogen und abgerichtet worden. Aber für die Wissenschaften wird man erst dann Hoffnung schöpfen können, wenn man auf einer richtigen Leiter und auf zusammenhängenden Stufen ohne Unterbrechung von dem Einzelnen [a particularibus] zu den unteren Grundsätzen aufsteigt [axiomata minora], dann zu den mittleren, von denen die einen höher als die anderen liegen, und erst zuletzt zu den allgemeinsten [generalissima]. Denn die untersten Sätze sind wenig von der bloßen Erfahrung verschieden. Aber jene höchsten und allgemeinsten sind Ausgeburten des Denkens, abstrakte Dinge ohne Zuverlässigkeit. Dagegen sind die mittleren Sätze jene wahren, zuverlässigen und lebendigen, auf denen das Leben und das Glück der Menschen beruht. Uber diesen liegen endlich jene ganz allgemeinen Sätze, die nicht mehr völlig leer, sondern durch diese mittleren angemessen bestimmt sind. Daher soll man den menschlichen Geist nicht mit Flügeln, sondern eher mit Bleigewichten versehen, um so jedes Springen und Fliegen zu verhindern. Bis jetzt ist dies noch nicht geschehen; wenn es in der Tat geschehen sollte, darf man Besseres von den Wissenschaften erhoffen. [Nr. 105] [...] Aber die Induktion, die für die Entdeckung und Beweisführung von Wissenschaft und Kunst dienlich sein soll, muss die zu untersuchenden Fälle durch gebührende Zurückweisungen und Aussonderungen trennen, und dann muss sie, je nachdem es die verneinenden Fälle zulassen, aus den bejahenden Schlüsse ziehen. [...] [Nr. 106] Bei der Aufstellung von Grundsätzen mittels dieser Induktion muss auch geprüft werden, ob der so ermittelte Satz nur dem Maß der Einzelfälle, aus denen er abgeleitet worden ist, entspricht, oder ob sein Umfang weiter und größer ist. Ist letzteres der Fall, so ist zu prüfen, ob er diese Weite und diesen Umfang durch Angabe von neuen Einzelfällen [per novorum particularium] gleich Bürgen bestätigen kann, damit wir weder im bereits Bekannten hängenbleiben, noch durch eine zu weite Fassung etwa zu Schattenbildern und abstrakten Formen abgleiten, sondern zu festen und bestimmten Dingen gelangen. Erst dann wird mit Recht eine sichere Hoffnung aufglänzen, wenn dies Verfahren angewendet wird."
9 10 11 12
AaO. AaO. AaO. AaO.
Nr. 39 - und die Erläuterungen dazu in den folgenden Aphorismen. 77. Nr. 76. Nr. 104-106.
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191
(1) Bacon will die „allgemeinsten Sätze", d.h. die Begriffsarbeit der scholastischen Metaphysik, kontrollierend zurückbinden an die Beobachtung der Natur. Erst dann kann die Wahrheit allgemeinster Sätze verantwortet werden: ob sie wirklich „real" sind und nicht vielmehr bloß „nominal" (vgl. Nr. 63). Die Syllogismen der aristotelischen Logik garantieren die gesuchte praktische Realität begrifflicher Aussagen gerade nicht, ihre „Dialektik" lebt von bloß begrifflichen, abstrakten, theoretischen Distinktionen, denen die Bodenhaftung verloren gegangen ist.13 Dass die alten Syllogismen trotzdem immer noch als plausibel gelten können, kann Bacon als „natürlichen Drang" und anerzogene Gewohnheit der Menschen erklären - darin schon ganz ähnlich Kants Nachweis in der „transzendentalen Dialektik" in der Kritik der reinen Vernunft, dass der Versuch der Vernunft, ein „transzendentales Ideal", d.h. Gott begrifflich zu erfassen, unmöglich, aber doch als „natürliche[n] Illusion" verständlich zu machen sei.14 (2) Geht der menschliche Geist aber strikt von dem aus, was er beobachtet, den „Einzeldingen", so kommt es zu Stufen der Verallgemeinerung, die nur mit Vorsicht jeweils zu betreten sind. Was Kant später - im Unterschied zur Vernunft - als Verstand bezeichnen wird: die begriffliche Leistungsfähigkeit der Menschen im Bezug auf die empirischen Dinge, das grenzt Bacon hier als „mittlere Sätze" ab, die direkt aus Erfahrungssätzen gefolgert werden können und von deren Geltung die möglicherweise zu rechtfertigenden „allgemeinsten Sätze" abhängig gemacht werden müssen. Von der „bloßen Erfahrung" möglichst „wenig [...] verschieden" zu sein (Nr. 104), gilt als entscheidendes Kriterium und Basis der Wissenschaft. - Wiederum in Analogie zu Kant könnte gesagt werden: Die Basisleistungen der Gegebenheit der Dinge im Rahmen von Gegenstandserfahrung, wie sie die transzendentale Ästhetik beschreibt13, sind grundlegend für die Verstandesbegriffe der „transzendentalen Analytik" (Bacons „mittlere Sätze" [Nr. 104]16), und erst unter diesen Voraussetzungen und Bedingungen kann über eine Leistungsfähigkeit allgemeiner Vernunfturteile (im Rahmen der „transzendentalen Dialektik") kritisch befunden werden. Kants GebäudeMetapher17 bestätigt sich auch hier: Allein auf das (empirische) Erfah13
Vgl. aaO. Einleitung, 45/47; Vorrede, 71.
14
Vgl. KrV, A 582.
15 16
Vgl. KrV, Β 33ff.; oder nach der „transzendentalen Deduktion" der 1. Aufl. der KrV: in der „Synthesis der Apprehension in der Anschauung" (KrV, A 98f.). Vgl. auch Bacon, aaO. Nr. 19.
17
S. Anm. 2.
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rungsfundament kann gebaut werden; nicht in den Himmel spekulativer Begriffe - „allgemeinster Sätze", wie Bacon sagt - , sondern immer nur bis zur mittleren Wohnlichkeit. Damit diese nicht zu Unrecht übersprungen werden kann, sind dem menschlichen Geist einstweilen „Bleigewichte" statt „Flügel" zu wünschen (Nr. 104)! (3) Das von Bacon neu konzipierte Verfahren ausgewiesener Wissenschaftlichkeit ist die Induktion. Im Unterschied zur aristotelischen Logik18 erschließen die Einzelwahrnehmungen nicht den Seinszusammenhang (von Ursache und Wirkung), der schon real in den Dingen vorausgesetzt werden kann, sondern was zu Recht verallgemeinert werden soll, muss sich aus den Einzeldingen selbst erst ergeben. Diese Intensivierung der Einzelbeobachtung ist jedenfalls der entscheidende Schritt zur sachgemäßen und metaphysikkritischen Interpretation der Natur in der Moderne, auch wenn Bacon selbst noch nicht über mathematische Verfahren zur Präzisierung des Induktionsschlusses verfügt. Dem Ansatz und der Absicht nach kann schon für Bacon gelten, was Ch.S. Peirce in einfachster Form für die Induktion geltend macht: „Um eine Induktion handelt es sich, wenn wir eine Anzahl von Fällen, für die etwas wahr ist, verallgemeinern und schließen, daß dasselbe von der ganzen Klasse wahr ist."19 Bacon beginnt zumindest mit der Formalisierung des Verfahrens, indem er drei Forderungen an die gültige Induktion stellt: Es müssen, erstens, bestimmte „Fälle", die aussagefähig sind, klar ausgesondert werden; es muss, zweitens, auf die „verneinenden Fälle" geachtet werden; und es muss, drittens, die Verallgemeinerung im Blick auf die Prognose von „neuen Einzelfällen" geprüft werden (Nr. 105 u. 106). Das erste Kriterium führt zum bewusst eingesetzten Experiment, denn nur durch dessen kunstvolles Arrangement, die „Feinheit der Experimente" 20 , können die sonst immer wieder auftretenden spontanen Fehlurteile der Menschen reduziert werden. Mit dem zweiten Kriterium nimmt Bacon Κ. Poppers Falsifikationsprinzip vorweg, das wissenschaftliche Uberprüfbarkeit als die Möglichkeit der Widerlegung fasst; in Bacons Worten: „ja, bei der Aufstellung eines wahren Satzes ist sogar die Kraft des verneinenden Falles die stärkere
18
S. § 6.1.3, Anm. 53; vgl. R. Ruzicka: Induktion I, in: HWP 4 (1976), 323-329; 324.
19
EP 1, 189 (Deduction, Induction, and Hypothesis [1878]); dt. in: SP, 232; vgl. S. Körner: Induktion II, in: HWP 4 (1976), 329-332; zu Bacon ehd. 329. Bacon, Bd. 1, 49; vgl. 57, Nr. 24, Nr. 83 u.ö.
20
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193
von beiden." 21 Das dritte Kriterium schließlich bezeichnet die entscheidende Ablösung der scholastischen Wissenschaftstradition, die das aristotelische Organon tatsächlich durch ein neues ersetzt 22 : Es geht nicht mehr um eine einheitliche, kontemplative Theoriebildung, sondern um die Voraussage- und Korrekturfähigkeit empirisch gefundener Regelzusammenhänge, die Neues erschließen. Diese Wahrheit muss erforscht werden, die Induktion geht auf den Grund der Dinge der Natur, und die „Freiheit des Urteils" ist nicht durch schon feststehende Theorievorgaben limitiert. 23 (4) Bacons Äußerungen zu Religion, Theologie und Glaube sind einerseits von Vorsicht und Respekt, andererseits von vehementer Kritik geprägt. Dass Kirche und Staat zu seiner Zeit als Machtfaktor zu gelten hatten, erklärt die eine Seite, Bacons Idolenlehre 24 die andere. Denn als Macht der Tradition blockiert die Theologie die „Freiheit des Urteils": Die „Beimischung der Theologie" zur Philosophie ist ebenso verderblich wie der „Aberglaube". 23 Die neu gesuchte wissenschaftliche Naturphilosophie steht insoweit natürlich gegen die Religion, genauer: „den Aberglauben und einen blinden und maßlosen Religionseifer". 26 Das schließt aber nicht aus, dass eine andere Lagebeschreibung zumindest denkbar erscheint, wenn die Religion, „welche am meisten auf die Herzen der Menschen wirkt" 27 , sozusagen nur die Seiten wechseln könnte - und dafür gibt es Gründe: Bacon greift selbst auf die Paradieseserzählung zurück und zeigt, dass die Namengebung durch Adam (Gen 2, 19f.) in keiner Weise zum Sündenfall führt, dass also zwischen der moralisch verwerflichen Begierde, „über Gutes und Böses" entscheiden zu wollen, und der „Liebe" zur Wissenschaft ein Unterschied ums Ganze besteht: Erstere führt zum Sündenfall, letztere „zur Wohltat und zum Nutzen fürs Leben". 28 Es gäbe also eine „reine und unbe-
21
22 23 24 25 26 27 28
Bacon, Bd. 1, Nr. 46, S. 109 (vgl. auch Bd. 2, Nr. 15); vgl. K. Popper, Bd. I (1994), 51 (zur Falsifikation); 19-21 (zur Interpretation von Bacons Naturauffassung). Vgl. W. Krohn, Einleitung, in: Bacon, Bd. 1, XXV. Bacon, Bd. 1, Nr. 77, S. 165: „Denn die wahre Ubereinstimmung ist jene, die aus der Freiheit des Urteils, nachdem zuvor die Sache erforscht ist, entsteht." S. Anm. 9. AaO. Nr. 65; vgl. Nr. 46, Nr. 62 u.ö. Nr. 89, S. 195/197. Nr. 89, S. 201. AaO. Vorrede, 33.
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II. Reformatorische und neuzeitliche Tradition
fleckte Naturerkenntnis" 29 auch in theologischer Perspektive. Bacon spricht in der Form des Gebets, wenn ihm seine Wissenschaftsauffassung auf einen unverstellten Gottesglauben rückführbar erscheint.30 Was bedeutet es, in diesem Kontext die Wissenschafts/>nms als wahren Fortschritt zu suchen, weil es um das „Glück der Menschheit" zu tun ist - aber auch um „die Macht zu allen Werken"? 31 Es bedeutet als Programm den Aufruf zur Hoffnung (Nr. 104, 106) auf eine veränderte Situation, die den Wissenschaften günstig wäre, und das Aufdecken der faktischen „Mutlosigkeit der Menschen"32, die sich dieser neuen Einsicht bislang verschließen. (5) Ist es berechtigt, wenn M. Horkheimer und Th.W. Adorno ihre Kritik an der zweischneidigen Machtergreifung der Aufklärung damit eröffnen, dass sie Bacon als Gewährsmann ungehemmter Naturbeherrschung zitieren? Bacon, der geistige Instanzen, Kontemplation, Philosophie aufgibt zugunsten der praktischen Fortschritte in Technik und Zivilisation - deren immer auch böse Folgen seit dem 20. Jh. offen zutage getreten sind? Wissenschaft im theoretischen Sinn gehörte dann (mit Bacons Idolenlehre) zu den „Idola Theatri der alten Metaphysik", während Naturwissenschaft und Technik sich auf das Machbare reduzierten und damit jede kritische Distanz zum Faktischen aufgegeben hätten.33 Gerade weil die Initiative der Aufklärung, die Welt vernünftig zu verstehen und zu gestalten, aufgenommen und fortgeführt werden soll, muss die Dialektik der Vernunft aufgedeckt werden: Dass dieselbe Vernunft irrationale Gewalt in der Moderne zugleich auch forciert hat. Allein die Kunst und in gewissem Sinne die nicht korrumpierte Religion (des Judentums) könnten als Korrektive einer gewaltlosen Vernunft in Anspruch genommen werden 34 , sofern sie sich dem Einheitszwang der Wissenschaftstechnik, die alles mit allem nivelliert und Alternativen mit dem Faktischen vereinheitlicht und damit ausschaltet, entziehen konnten. 33
29 30 31 32 33 34 35
Ebd.; s. Anm. 6. Vgl. aaO. 31, 65; vgl. Nr. 93. AaO. 65. Nr. 92, S. 203. M. Horkheimer/Th.W. Adorno (1969), 9-11. Vgl. M. Lutz-Bachmann (2002), 95ff.; (2003), 19ff. M. Horkheimer/Th.W. Adorno, aaO. 13f.: „Die bürgerliche Gesellschaft ist beherrscht vom Äquivalent. Sie macht Ungleichnamiges kompatibel, indem sie es auf abstrakte Größen reduziert. Der Aufklärung wird zum Schein, was in Zahlen, zuletzt in der Eins, nicht aufgeht; der moderne Positivismus verweist es
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Bacon aber könnte nur dann für die (zunächst) unbewusst gebliebene, ungebremste und kritikunfähige Gewalt der Dialektik der Aufklärung verantwortlich gemacht werden, wenn seine Forderung nach dem Vorrang methodisch kontrollierbarer Induktion anstelle willkürlicher axiomata generalissima (Nr. 104) als solche mit einer Reduzierung des Vernunftbegriffs, also mit einer Rücknahme des kritischen Anspruchs von Philosophie zu identifizieren wäre. Zwar klingt die Empfehlung, den „menschlichen Geist" eher „mit Bleigewichten" als „mit Flügeln" zu „versehen" (Nr. 104) nach einer solchen Bremswirkung gegenüber spekulativer Philosophie. Doch im Kontext seiner Zeit ist klar, dass die Bleigewichte gegen die Höhenflüge scholastischer Disputierkunst zum Einsatz kommen sollen, die wirklichen Flügel aber dem ab jetzt gültigen neuen Wissenschaftsbegriff gehören werden. (6) Bacon hat - anders als John Locke 36 - nicht die Sinneseindrücke zur Basis vernünftiger Erkenntnis in den Wissenschaften erklärt, sondern er verlangt - und setzt voraus - einen immer weitergehend überprüfbaren Entdeckungszusammenhang, d.h. eine Wissenschaft, deren Verfahren letztlich darin gipfelt, sich selbst immer wieder in Frage stellen zu können. Was Ch.S. Peirce als Methodengrundsatz des Fallibilismus herausgestellt hat, findet in Bacon einen würdigen Vorgänger: „Dem Menschen ist nur vergönnt, über verneinende Fälle voranzuschreiten, um am Ende nach gänzlichem Ausschluss alles Abwegigen zu einer Bejahung zu gelangen."37 Dieses Prinzip sieht die Methode der Wissenschaft in einem Zusammenhang der Realität, die zu keinem Zeitpunkt als nicht vorhanden, schon feststehend oder abgeschlossen behauptet werden kann; und umgekehrt besteht Bacons Einwand gegen die scholastische Methode darin, dass ohne gründliche Prüfung an den Einzeldingen doch Generelles und Abschließendes über diese behauptet wird. Wirkliche Forschung aber weiß nicht, was sich am Ende herausstellen wird, und gerade so muss der Begriff der Realität der Natur ermittelt werden, wie Peirce später sagen wird: Realität ist allgemein, sofern die Methode der Forschung ihr zu entsprechen versucht, und diese vér-
in die Dichtung. Einheit bleibt die Losung von Parmenides bis auf Russell. Beharrt wird auf der Zerstörung von Göttern und Qualitäten." 36
37
Vgl. W. Krohn, Einl., in: F. Bacon, Bd. 1, aaO. XXVIf.; vgl. J . Locke, Bd. I (1981), (2. Buch, 1.5), 109: „Die äußeren Objekte versehen den Geist mit den Ideen der sinnlich wahrnehmbaren Qualitäten [...]; der Geist versieht den Verstand mit Ideen seiner eigenen Operationen." Bacon, Bd. 2, Nr. 15, S. 351. - Zum Falsifikationsprinzip nach K. Popper s. Anm. 21; zu Peirce' Auffassung des Fallibilismus vgl. RS, 176ff., 188f.
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nünftige Form ist es, auf die Menschen sich verlassen und auf die sie hoffen müssen (Nr. 106).38 Dieses Zutrauen zur Wissenschaft aus Erfahrung versetzt diese in den teleologischen Zusammenhang der Wahrheit, die es verpflichtend macht, sich mit bestem Wissen und Gewissen am Prozess der Forschung zu beteiligen.39 Mit diesen Zuordnungen von Bacons Induktionsforderung im Rahmen von Fallibilismus, Forschungsteleologie und Wissenschaftspragmatik lässt sich zeigen, dass Bacon jedenfalls nicht ohne weiteres dem reduktionistischen Wissenschaftsbegriff der Moderne - dem positivistischen Nominalismus'0, um mit Peirce zu sprechen - ausgeliefert gesehen werden muss; im Gegenteil, er hat noch vor dem wirklichen Auftreten der naturwissenschaftlichen Triumphe des 18./19. Jh. eine Weite der philosophischen Fragestellung vor Augen, die jene Verengungen hätte vermeiden helfen können. Kant schätzt an Bacon das Insistieren auf dem kritischen Geist der wissenschaftlichen Methode und soweit ist zuzustimmen. Andererseits ist aber darauf zu achten, dass die wissenschaftliche Methode sich nicht selbst auf sogenannte Fakten reduziert und das notwendige Theoriebilden im forschungsgeschichtlichen und gesellschaftlichen Zusammenhang unreflektiert einfach nur mitlaufen lässt. Wissenschaft treiben heißt, die Welt interpretieren; und ihr antinominalistisches Kriterium lautet: „Die Methode der Forschung soll so gestaltet sein, daß der Gang der Forschung nicht blockiert wird." 41 Der Ausschluss von Religion und Theologie wäre dazu eigentlich nicht notwendig, wenn sich deren Wissenschaftsauffassung von fixierten Realitätsbehauptungen scholastischer Tradition emanzipieren könnte. Doch Bacons Religionskritik belegt ebenso exemplarisch wie polemisch, dass er im Kontext seiner Zeit und im Aufbruch der empirisch orientierten Naturwissenschaften Kirche und Theologie ein erneuertes Methodenbewusstsein nicht mehr zugetraut hat. Das dokumentiert eine der entscheidenden Wurzeln der neuzeitlichen Religionskritik: Der neue Geist der Wissenschaften erscheint als das methodische Gegenteil des religiösen (unkritischen) Glaubens und
38
Vgl. W . K r o h n , in: Bacon, Bd. 1, X X : Bacons „Lösung: Wissenschaft muss so angelegt sein, dass sie in der Zeit fortgesetzt werden kann." - Weitergehend folgt daraus, vgl. Peirce, RS, 237: „Also besteht die Realität im Gesetz, und sie ist in sich selbst von der Natur des Denkens, das im Einzelfall an ein Hiersein und Jetztsein gebunden ist."
39
Vgl. Bacon, Bd. 2, N r . 4, S. 287: „was im Tätigsein am nützlichsten, ist im Wissen reine Wahrheit."
40
S. § 1.4.3, A n m . 59; s. § 6.3.2, A n m . 116.
41
Peirce, RS, 240.
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seines kirchlich-autoritativen Lehrbestandes, deren überkommene (scholastische) Wissenschaftsauffassung nicht mehr haltbar ist. Kants aufgeklärte Religionskritik liegt auf derselben Linie, nur dass er selbstbewusst und kritisch gegen die kirchlichen Auffassungen seiner Zeit sich eine eigene Religionslehre zu entwickeln zutraut: Die Religionsphilosophie als wissenschaftliche Disziplin ist Ausdruck dieses neuen Selbstbewusstseins.42
2. Empirie, Autonomie und Selbstbewusstsein (I. Kant) 2.1. Empirie und Mechanik In den 160 Jahren zwischen Bacons Novum Organum (1620) und Kants erster Kritik (1781) haben sich die empirischen Naturwissenschaften und die Mathematik als Leitbilder des Fortschritts durchgesetzt. Mit I. Newtons 43 Philosophiae Naturalis Principia Mathematica (1687) galten die Gesetze der Mechanik als vorbildlich für Wissenschaft und Welterklärung überhaupt, wenn auch Theologie und (philosophische) Metaphysik an den Rändern dieses Weltbildes durchaus noch im Spiel bleiben. Naturbild und Religion „stützen sich gegenseitig"44, und noch in Kants Frühschrift Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels (1755)45 wird notiert, dass selbst Newton, der mit der Entdeckung der Schwerkraft (Gravitation) die Planetenbewegung mechanisch erklären und berechnen konnte, bezüglich des Auftretens dieser „den Planeten beiwohnenden Schwungkräfte" als solchen aber auf die „Anführung des unmittelbaren Willens Gottes" nicht verzichten konnte. 46 Diese Lösung im Blick auf die Erklärung des Ursprungs der Mechanik beeinflusst aber in keiner Weise die ansonsten vollständige mechanische Erzeugung der Welt gemäß „allgemeinen Naturgesetzen" 47 , deren Zusammenhang mit „einem gewissen Grundwesen [sc. Gott]" die Naturanschauung zwar „würdiger" macht, in der Sache, d.h. im Blick auf die
42
S. §1.1.
43 44
Vgl. E. Wölfel (1994), 191ff. E. Wölfel, aaO. 191.
45
Vollständiger Titel: Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels, oder Versuch von der Verfassung und dem mechanischen Ursprünge des ganzen Weltgebäudes nach Newtonischen Grundsätzen abgehandelt, vgl. in: Werke Bd. 1, 219396.
46
Kant, aaO. A 156.
47
A 149.
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Mechanik, aber nichts hinzufügt. Würde die Wissenschaft weiterhin Gott in der Natur erkennen wollen, liefe das nur darauf hinaus, „die ganze Natur in Wunder zu verkehren" bzw. einen „Gott in der Maschine" zu konzipieren - was sowohl dem Interesse der Religion wie der physikalischen Mechanik widerspräche! 48 Diese Positionsbestimmung hat zwei bemerkenswerte Konsequenzen: (1) Wenn es denn eine Relation zwischen Gott und Welt weiterhin geben soll, so kann die Schöpferkraft Gottes nicht mehr in den Begrenzungen der vorhandenen Welt vergegenständlicht gesehen werden: „Man kommt der Unendlichkeit der Schöpfungskraft Gottes nicht näher, wenn man den Raum ihrer Offenbarungen in einer Sphäre, mit dem Radius der Milchstraße beschrieben, einschließet, als wenn man ihn in eine Kugel beschränken will, die einen Zoll im Durchmesser hat. [...] Ist es nicht vielmehr anständiger [...], den Inbegriff der Schöpfung so anzustellen, als er sein muss, um ein Zeugnis von derjenigen Macht zu sein, die durch keinen Maßstab kann abgemessen werden? Aus diesem Grunde ist das Feld der Offenbarung göttlicher Eigenschaften eben so unendlich, als diese selber sind."49
Mit dieser göttlichen Unendlichkeit der Welt bricht sich in der Moderne der Gedanke eines Prozessuniversums Bahn. Die neuplatonische Kosmologie des Nikolaus von Kues (1401-1464) war in dieser Frage eine Vorgängerin von Kants Konzeption einer zwar mechanischen, aber doch unendlichen Welt: Denn die Perspektiven von Mittelpunkt (um den sich alles dreht) und Peripherie (die gedreht wird) sind in ihrer nicht mehr fixierbaren Relativität erkannt 50 , die Sphären gehen ineinander über, und das wird längst vor den astronomischen Revolutionen des 16./17. Jahrhunderts (N. Kopernikus, J. Kepler) entdeckt. (2) Was Kant 1755 noch zur Gott-Hypothese zwingt, dazu, „den Finger Gottes" und dessen „Wink" 31 nicht zu ignorieren, ist vor allem aber darin begründet, dass ohne die „Hand Gottes" die vorliegende „Ordnung", wie sie in den Naturgesetzen zu greifen ist, nicht verständlich gemacht werden kann; es müsste sonst alles „dem Zufalle, und einem
48 49 50
51
A 145f. A 105f. Vgl. H. Blumenberg (1976), 99; K. Flasch (1999), 500ff. - Vgl. z.B. die Wirksamkeit der (göttlichen) Unendlichkeit in der Vermittlung von Urbild und Abbild, in: Nikolaus von Kues, Gespräch über das Globusspiel von 1462/63 (1999), 136-139 (11.118). Kant, Naturgeschichte, aaO. A 156.
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glücklichen Ohngefähr" zugeschrieben werden 32 , was gerade keinen vernünftigen Erklärungswert hat. In diesem Punkt ist Kants Vorrede der Schrift von 1755 an Deutlichkeit nicht zu übertreffen: „es ist ein Gott eben deswegen, weil die Natur auch selbst im Chaos nicht anders als regelmäßig und ordentlich verfahren kann.'" 3 - Und nicht nur das: Uber die anders nicht zu erklärende Ordnung hinaus bleibt auch der Ausgangspunkt der vorhandenen „Materie" für Kant unergründlich. Sein Ausruf: „Gebt mir Materie"! führt auf zwei Leerstellen: Unter der Voraussetzung von Materie meint Kant, alle Bewegungen im Prinzip d.h. unter den Bedingungen von Newtons Mechanik - erklären zu können, doch die Materie als solche bleibt eben vorausgesetzt; und zweitens ist die Ausweitung dieses Materiebegriffs auf die organische Natur für Kant noch ganz unvorstellbar: „Kann man aber wohl von den geringsten Pflanzen oder Insekt sich solcher Vorteile rühmen? Ist man in Stande zu sagen: Gebt mir Materie, ich will euch zeigen, wie eine Raupe erzeugt werden könne?" 34 Ob ein mechanisch konzipierter Materiebegriff heute zu Recht auf alles Leben, also auch auf den Begriff des Menschen und seine Personalität, angewandt wird, ist eine Frage, die Ende des 18. Jh. aufbricht. Was bedeutet die mathematische Quantifizierung der Natur und ihre Erklärung durch Kausalverknüpfungen für den Religions- und Gottesbegriff? Das seit Bacon geforderte Wissenschaftsideal, auf die empirisch bestimmbaren und quantifizierbaren particularia zu achten und davon die axiomata der Vernunft abhängig zu machen, wird Kants kritische Philosophie methodisch durchführen. Die demgegenüber 1755 noch nicht weiter differenzierte Antwort bleibt im Grunde bestehen: Die Empfindung des „bestirnten Himmels" zeigt für Menschen („edle Seelen") immer noch „unendlich" mehr als jede kosmologische Mechanik wird erklären können. Doch jenes geschieht in einer „unnennbare[n] Sprache, und gibt unausgewickelte Begriffe, die sich wohl empfinden, aber nicht beschreiben lassen."55 - Hier hat die Religionskritik der Moderne ihren Grund: Das neue Wissenschaftsprogramm verlangt ausgewickelte, d.h. empirische Begriffe, mit denen gearbeitet werden kann. Zu diesem Zweck trennt Kant die theoretische (Wissenschaftsthe52 53 54 55
A 144. A XXIXf. A XXXIVf. A 200; auch hier gilt bereits das Statement von V. Gerhardt (2002), 14: „Gott steht im Hintergrund aller ernst zu nehmenden philosophischen Fragen Immanuel Kants. Daran ändert die kritische Einsicht in die Unmöglichkeit der Gottesbeweise nichts."
II. Reformatorische und neuzeitliche Tradition
200
orie) von der praktischen Philosophie (Ethik), weil jene die Theorie bezogen auf empirisches Wissen zu liefern hat (in dem Gott und religiöser Glaube keinen begründbaren Ort mehr haben), während diese auf idealen Voraussetzungen beruht, die Lebensorientierung auf kontrollierte Weise ermöglichen sollen (und im Rahmen der Ideale entsteht neuer Raum für eine ethisch begründete Religion).
2.2. Empirie, Mathematik und Kritik der Spekulation In Kants „Transzendentaler Methodenlehre", dem zweiten Hauptteil der Kritik der reinen Vernunft, findet sich ein 1. Hauptstück zur „Disziplin der reinen Vernunft".56 Was hier Disziplin heißt, resümiert die vorausgegangenen Ableitungen und Abgrenzungen menschlicher Vermögen: Die Bedingung der Sinnlichkeit aller Empfindungen, wie sie sich darstellen in den Formen von Raum und Zeit (transzendentale Ästhetik); die Bedingung der Verstandeskategorien zur begrifflichen Gegenstandserkenntnis (transzendentale Analytik); die daraus folgende negative Bedingung, dass den Vernunftbegriffen der Tradition (wie z.B. Seele, Substanz, Welt, Gott) kein eigentlicher Gegenstand mehr zugesprochen werden kann (transzendentale Dialektik). - Was damit geschehen ist heißt „Kritik der Vernunft im empirischen Gebrauche, weil ihre Grundsätze am Probierstein der Erfahrung einer kontinuierlichen Prüfung unterworfen werden".37 Disziplin ist also in dem Sinne nötig, dass keine Grenzüberschreitung an der Linie mehr vorkommen soll, die den empirisch legitimierten Begriffs- bzw. Verstandesgebrauch einerseits vom anders verfahrenden Begriffsgebrauch in Fragen der praktischen Philosophie bzw. der Idealität allgemeiner Vernunft andererseits trennt. Anders gesagt: Die Möglichkeitsbedingungen der traditionellen Metaphysik, d.h. die Berechtigung der allgemeinsten Sätze, der axiomata im Sinne F. Bacons (Es ist ein Gott wäre ein solcher Satz), wird durch diese Vernunftkritik radikal und religionskritisch eingeschränkt: „Aus allem diesem folgt nun, dass es sich für die Natur der Philosophie gar nicht schicke, vornehmlich im Felde der reinen Vernunft, mit einem dogmatischen Gange zu strotzen und sich mit Titeln und Bändern der Mathematik auszuschmücken, in deren Orden sie doch nicht gehöret, ob sie zwar auf schwesterliche Vereinigung mit derselben zu hoffen alle Ursache hat. Jene sind eitle Anmaßungen, die niemals gelingen können, vielmehr ihre Ansicht rückgängig machen müssen, die Blendwerke
56
S. § 8.1, A n m . 2.
57
K r V , Β 738f.
§ 8: Religionskritik
201
einer ihrer Grenzen verkennenden Vernunft zu entdecken, und, vermittelst hinreichender Aufklärung unserer Begriffe, den Eigendünkel der Spekulation auf das bescheidene, aber gründliche Selbsterkenntnis zurückzuführen." 58
(1) Das hier an oberster Stelle angesetzte Wissenschaftsideal vertritt die Mathematik, in Kants Sicht dadurch, dass bei rein gedachten (konstruierten) Begriffen zugleich deren gegenständliche Anschauung gegeben ist - und folglich auch allein a priori analysiert werden kann. Das Beispiel des geometrischen Dreiecks („Triangel'"9) und die daraus folgende Ableitung der Winkelsumme zeigt, wie hier die Vernunft „Meister über die Natur" sein kann.60 Allein die Mathematik vermag es, die Verallgemeinerung des Begriffs („Dreieck") zugleich im „Einzelnen" anzuschauen - und das geschieht auf der Ebene der Konstruktion ohne Zuhilfenahme bestimmter Erfahrungen im Umgang mit empirischen Gegenständen. Die Philosophie dagegen muss „das Besondere" der wirklichen Erfahrungsgegenstände immer „im Allgemeinen" des Begriffs betrachten, ist damit also auf einen doppelten Zugang61 angewiesen: (empirsch-sinnliche) Anschauung und (allgemeinen) Begriff. Weil diese Doppelung für die Philosophie grundsätzlich nicht übersprungen werden kann (sie ist niemals „Meister über die Natur"!), muss die problematische Zusammenstimmung von Anschauung und Begriff eigens zum Thema gemacht werden; in Kants Terminologie: „Wie sind synthetische Urteile a priori möglich?"62 (2) Analytisch ist ein Urteil dann, wenn das, was in ihm gefolgert wird, im Begriff schon enthalten war (z.B. „alle Körper sind ausgedehnt"63); synthetisch ist es dann, wenn das, was gefolgert wird, über den ersten Begriff aufgrund von zusätzlicher Erfahrung hinausgeht (z.B. „alle Körper sind schwer"64). Es ist klar, dass das letztere Urteil immer auf Anschauung bzw. Erfahrung notwendig angewiesen ist. Wie es aber zur entscheidenden Verknüpfungsleistung in diesem Urteil überhaupt kommen kann, bleibt die Frage. - Kants Schritt zur neuen Transzendentalphilosophie besteht darin, die Möglichkeitsbedingung dieser 58 59
Β 763. Β 744f.
60 61
Β 753; vgl. P. Bahr (2004), 177. Vgl. die Ableitung dieser „Zwei-Quellen-Theorie" philosophischer Erkenntnis bei R. Barth (2004), Kap. 3.2. KrV, Β 19; vgl. V. Gerhardt (2002), 149ff. ; R. Barth, aaO. 133ff.
62 63 64
KrV, Β 11. Ebd.; vgl. im Kontext der Methodenlehre 551.
die Darstellung von P. Rohs (1998),
202
II. Reformatorische und neuzeitliche Tradition
fraglichen Verknüpfungsleistung als notwendig und im Menschen selbst angelegt nachzuweisen: A priori ist das, was allen anderen Bestimmungen schon voraus liegt, jedenfalls nicht von empirischen, sinnlichen, a /»osímorz-Bedingungen abhängig sein kann, sondern deren Zusammensetzung überhaupt erst ermöglicht.65 Wie aber können Sinnlichkeit und Begrifflichkeit zusammenkommen? Es muss offenbar eine wirksame Verknüpfungsfähigkeit ganz prinzipiell angenommen werden - und genau darin besteht die Synthese a priori·, konkrete Anschauung und Begriff miteinander zur Einheit zu bringen. Was diese Apriorität selbst ist, lässt sich nicht mehr anders sagen als so, dass es sich jedenfalls nicht um einen irgendwie gegenständlich gedachten Bereich (etwa des Transzendenten) handelt, sondern allein um die Möglichkeitsbedingung für Erkenntnisfähigkeit. Deren Apriorität im Blick auf synthetische Urteile zu bestimmen ist Transzendentalphilosophie. Sie muss einen spontanen Ausgangspunkt voraussetzen66, der im Menschen aktiv ist und die Verbindung von Sinnlichkeit und Verstand garantiert. Metaphysische Begriffe (wie Gott, Welt, Freiheit, Unsterblichkeit, Seele etc.) sind in ihrem Realitätsstatus seither davon abhängig, wie die Transzendentalphilosophie über sie befindet, darin liegt ihr religionskritisches Potential. (3) Die Mathematik bleibt von diesen Schwierigkeiten insofern ausgenommen, als sie eben das vermag, was der menschlichen und philosophischen Erfahrungserkenntnis versagt bleibt: Synthetisch (d.h. auf die Anschauung z.B. geometrischer Objekte bezogen) und apriorisch (d.h. auf Begriffe bezogen) zugleich und auf derselben Ebene zu operieren. Das ist ausnahmsweise und nur mathematisch möglich, weil es sich um eine konstruierte, aber eben darin anschauliche Gegenstandswelt handelt.67 Die wirkliche Welt aber ist auf „mögliche Erfahrung" angewiesen, und die ist „etwas ganz Zufälliges"68, d.h. weder notwendig noch allgemein; und letzteres kann die Philosophie erst über die Apriorität
65
Vgl. R. Barth, aaO. Uli.,
66
Vgl. V. Gerhardt, aaO. 147; 148: Transzendental heißt das, „was sich mit den apriorischen Bedingungen unserer Erkenntnis befasst, a priori aber das, was nur aus uns selber kommt und wovon auch nur der wissen kann, der es von sich selbst her kennt." KrV, Β 746. - Die hierbei unterstellte Anschauung ist die der Geometrie Euklids, die als Grundmuster mathematischen Denkens heute nicht mehr gelten kann, vgl. P. Rohs, aaO. 552f.; E. Nagel/J.R. Newman (1964), 14ff.; A. Beutelspacher (2001), 64, 108. KrV, Β 765.
67
68
128.
§ 8: Religionskritik
203
in der Anwendung auf synthetische Sätze versuchen herzustellen. Weil die Vernunft in ihrer philosophischen Tätigkeit nicht der Mathematik gleich kommt (obwohl dieses Ideal im Sinne einer Annäherung nicht aufgegeben wird!), muss sie sich zur Disziplin zwingen - oder gezwungen werden: die „Blendwerke" aufzugeben, d.h. sie als solche zu enttarnen. Anders gesagt: Wenn die Mathematik ihre Gegenstände zur Anschauung bringt, so handelt es sich weder um empirische noch um „hyperphysische" (wie Kant später sagt69) Gegebenheiten, sondern um eine aus Begriffen legitim und synthetisch konstruierte Anschauung, die folglich den Status der Apriorität hat. Versucht die Philosophie entsprechend zu verfahren, so überschreitet sie die ihr „angewiesene Grenze, nämlich die der Natur"!70 Denn die (empirischen) Naturbedingungen müssen der Begriffsbildung des Verstandes korrespondieren können, ohne dass die Eigenständigkeit sinnlicher Erfahrungen, über deren Möglichkeitsvielfalt Menschen keine Verfügungsgewalt zusteht, limitiert werden könnte. Wenn die Vernunft dagegen in der Bestimmung ihrer Allgemeinbegriffe ein gegenständliches Korrelat sucht (etwa den Gegenstand des Begriffs Gott71), so kommt es zu unlösbaren Schwierigkeiten, eben weil die Grenze der Natur überschritten wurde: Menschen geraten „unvermerkt, von dem Felde der Sinnlichkeit, auf den unsicheren Boden reiner und selbst transzendentaler Begriffe, wo der Grund [...] ihnen weder zu stehen, noch zu schwimmen erlaubt, und sich nur flüchtige Schritte tun lassen"; und das Feld, auf dem wir uns jenseits „der Grenzen der Erfahrungen" befinden, nennt Kant hier, ganz im Bild bleibend, „die reizenden Gegenden des Intellektuellen".72 Erst dann, wenn dieses Feld der „Spekulation" aufgegeben wird, kommt es zum wissenschaftlichen Fortschritt, und das bedeutet im Ergebnis: zur ,,gründliche[n] Selbsterkenntnis".73
69
Β 801
70
Β 753.
71
Vgl. den Beispielsatz bei P. Rohs, aaO. 558: „Alle Substanzen sind unzusammengesetzt", der als metaphysischer keiner Anschauung entsprechen kann und als analytischer Satz keinen Erkenntnisfortschritt bringt; während der Satz: „Alle Dreiecke haben eine Winkelsumme gleich zwei Rechten", in der reinen Anschauung der Mathematik bewiesen werden kann.
72
K r V , Β 753f.
73
Β 763 (s. A n m . 58).
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II. Reformatorische und neuzeitliche Tradition
2.3. Autonomie und Selbstbewusstsein Der Gewinn an Selbsterkenntnis74 wird in Kants Transzendentalphilosophie erreicht über einen methodisch eingeschränkten Naturbegriff: Nur was empirisch gegeben sein kann ist zur Bestimmtheit eines Begriffs zugelassen. Was diese Anschauungsbedingung nicht erfüllt, ist nicht Natur (im Sinne der Begriffsbildung der theoretischen Philosophie). Im Vergleich zur Mathematik zeigt sich noch einmal die Fragilität und kritische Grenze des Philosophierens: Allein mathematische „Definitionen können niemals irren" 73 , weil diese mit der Definition den Begriff geradezu herstellen (der im Übrigen seine Anschauung auch noch mitbringt); philosophische Definitionen bleiben dagegen immer nur eine „Erklärung" von empirisch bezogenen Begriffen, deren abschließende Erklärungsleistung niemals garantiert werden kann. 76 Dieser Nachteil an Ungenauigkeit, der sich gegenüber dem Ideal der Mathematik einstellt, muss ausgeglichen werden durch die Grenzziehung gegenüber der Natur: „Nun enthält die ganze reine Vernunft in ihrem bloß spekulativen Gebrauche nicht ein einziges direktsynthetisches Urteil aus Begriffen. Denn durch Ideen ist sie [...] gar keiner synthetischer Urteile, die objektive Gültigkeit hätten, fähig; durch Verstandesbegriffe aber errichtet sie zwar sichere Grundsätze, aber gar nicht direkt aus Begriffen, sondern immer nur indirekt durch Beziehung dieser Begriffe auf etwas ganz Zufälliges, nämlich mögliche Erfahrung". 77
Direktsynthetisch wäre der Fall, den Kant ein „Dogma" nennt: Ein in seiner Notwendigkeit (apodiktischer) Satz, der aus Begriffen folgt und genau das ist für die Philosophie ausgeschlossen, weil so Anschauung und Erfahrung übersprungen würden (während entsprechend in der Mathematik diese Sätze aufgrund von Begriff und Anschauung möglich sind und im Unterschied zu „Dogma" dann „Mathema" genannt werden 78 ). Die Ideen der Vernunft dagegen, die Kant am Ende der Transzendentalen Dialektik als die drei „regulativen Prinzipien" Ich selbst, Welt und Gott angegeben hatte 79 , definieren keinen Begriff, sondern wollen eine bestimmte Betrachtungsweise von Erfahrungen bezüglich meiner selbst, der Welt und der höchsten Vollkommenheit
74 75 76 77 78 79
Vgl. V. Gerhardt (1998), 573f. KrV, Β 759. Β 757f. Β 764f. Β 764. Β 710-714.
§ 8: Religionskritik
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anzeigen und als notwendig erscheinen lassen. Philosophische Dogmata kann es also nicht mehr geben80, und begriffsgegenständliche „objektive Gültigkeit" wird nur nach dem Verfahren der Verstandesbegriffe (im Rahmen der Kategorien81) erreicht: Notwendige Verallgemeinerung geschieht dort korrespondierend mit der Anschauung, d.h. die dazu immer relativ mögliche Begriffsbildung ist folglich vom Erfahrungsbezug abhängig, das allein gibt ihr eine gewisse Sicherheit, aber keineswegs die unbedingte Klarheit des mathematischen Definitionsbegriffs. Jetzt wird noch einmal deutlich, warum die vernunftkritische Philosophie sich davon verabschieden muss, „mit einem dogmatischen Gange zu strotzen" 82 : Dogmatisch bezeichnet, kritisch gesagt, eine begrifflich unabgesicherte Gegenstandsbehauptung in einem Feld, das sich der Kontrolle durch das Zusammenspiel von Anschauung und Begriffbildung entzieht. Dass hier die Grenze gezogen werden muss, so bekennt Kant einleitend in den Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können (1783), sei ihm durch die empiristischen Einwände D. Humes gegenüber der „spekulativen Philosophie" zwingend geworden: Erfahrung ist für die kontrollierte Begriffsbildung unabdingbar; dies zu ignorieren führt zum „dogmatischen Schlummer", den erst die Anerkennung Humes (in diesem Punkt) für Kant „unterbrach". 83 Die Transzendentalphilosophie ist deshalb religionskritisch, sofern der religiöse Glaube und die Theologie dogmatische Gegenstandsbehauptungen aufstellen, d.h. Begriffe für eine Realität einsetzen, der notwendigerweise die Anschauung fehlen muss: „supernaturalium non datur scientia" lautet der Grundsatz, nach dem Kant zwischen (unwissenschaftlichem) „Bibelglauben", der historischen und textlichen Zufälligkeiten verpflichtet ist, und „Vernunftreligion", die im Rahmen von Kants Moralphilosophie legitimiert wird, trennt. 84 Durch diesen Abstoßeffekt von nicht mehr zulässigen äußeren Gegenstandsbehauptungen kommt es aber umgekehrt dazu, dass den subjektiven Möglichkei-
80
Vgl. P. Rohs, aaO. 564.
81
Vgl. KrV, Β 106; und im Rückblick, Β 752.
82
Β 763 (s. Anm. 58).
83
Prolegomena, in: Werke Bd. 5, A 13; vgl. summarisch zur Ablehnung dogmatischer Metaphysik, in: KrV, Β 23 (Einleitung zur 2. Aufl.); vgl. dieselbe Metapher vom „dogmatischen Schlummer" auch in einem Brief Kants von 1798 (an Chr. Garve) , zit. in: R. Barth, aaO. 188.
84
Der Streit der Fakultäten (1798), in: Werke Bd. 9, A 107 (Anm.); A 105; Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (1793), in: Werke Bd. 7, A 157.
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II. Reformatorische und neuzeitliche Tradition
ten des menschlichen Selbst ein enormes Gewicht zuerkannt werden muss. Im menschlichen Selbstbewusstsein geschieht die Aufklärung über die Grenzen der Vernunft, und deren Vorrang wird eigens für die praktische Philosophie im Gegenüber zur naturgebundenen Erkenntnis abgeleitet. Kant trennt zu diesem Zeck die (empirische) Welt der Dinge von der (intelligiblen) Welt des Denkens, und dass die Dingwelt von der Denkwelt her entworfen ist (und nicht umgekehrt), das hat Kant als seine eigentliche Entdeckung angesehen und als kopernikanische Wende der Philosophiegeschichte bezeichnet.83 Dass „Göttliches" dann dezidiert nicht mehr in einer wie auch immer bestimmten Gegenstandswelt, sondern, wenn überhaupt, „im Menschen" gesucht werden muss86, wird seither zu einer - religionskritischen - Selbstverständlichkeit. Im Rahmen der empirisch-gegenstandsbezogenen Verstandeskategorien kann Gott gar nicht gedacht werden, wohl aber in den „Prinzipien" und „Ideen" der Vernunft, in denen Begriffe wie Einheit, Ganzheit, Welt etc. konzipiert werden können. Allein schon in dieser transzendentalphilosophisch begründeten Unterscheidung von Vernunft und Verstand liegt der entscheidende Grund für Kants dann folgende Bestreitung aller Gottesbeweise und aller dogmatisch-traditionellen Religionsauffassung: Ideen haben keinen Objektbezug im anschaulichen Sinn, sondern allein „regulative" Funktion87, d.h. ihre Wirkungs- und Bestimmungsweise ist gänzlich anders einzuschätzen als die der kategorialen Verstandesleistungen. Religionsphilosophie und Religionskritik werden in ihrer modernen Gestalt möglich, weil ein substanzielles (quasi empirisch aufgefasstes) Korrelat im Falle religiöser Gegenstände gar nicht mehr erwartet werden kann. Wird dies trotzdem versucht, so spricht Kant von der Denkunmöglichkeit und zugleich der „natürlichen Illusion" des „transzendentalen Ideals"88: Wir neigen dazu, aus der offensichtlich not-
85
Vgl. K r V , Β XVIff.; V . Gerhardt (2002), 141ff.
86
V . Gerhardt, aaO. 148.
87
K r V , A 644 („Anhang zur transzendentalen Dialektik"): „Ich behaupte demnach: die transzendentalen Ideen sind niemals von konstitutivem Gebrauche, so, dass dadurch Begriffe gewisser Gegenstände gegeben würden, und in dem Falle, dass man sie so versteht, sind es bloß vernünftelnde (dialektische) Begriffe. Dagegen aber haben sie einen vortrefflichen und unentbehrlichnotwendigen regulativen Gebrauch, nämlich den Verstand zu einem gewissen Ziele zu richten, in Aussicht auf welches die Richtungslinien aller seiner Regeln in einen Punkt zusammenlaufen, der, ob er zwar nur eine Idee (focus imaginarius), d.i. ein Punkt ist, aus welchem die Verstandesbegriffe wirklich nicht ausgehen, indem er ganz außerhalb den Grenzen möglicher Erfahrung liegt, dennoch dazu dient, ihnen die größte Einheit neben der größten Ausbreitung zu verschaffen."
88
K r V , A 571ff., 582; vgl. im Folgenden A 576.
§ 8: Religionskritik
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wendigen Idee der Vernunft ein Ideal zu machen, die Vorstellung eines „Dinges an sich selbst", eines höchst realen Wesens, eines „entis realissimi". Doch aus dieser Neigung, analog wie bei den kategorial bestimmten Verstandesbegriffen verfahren zu wollen, folgt keineswegs, dass es sich bei den Vernunftideen wirklich auch genauso verhält. Auch wenn die höchste Idee als Realitätsfülle angenommen werden muss, heißt das doch nicht, dass hier „das objektive Verhältnis eines wirklichen Gegenstandes zu den andern Dingen" vorläge; es geht allein um die „Idee zu Begriffen", und das „lässt uns wegen der Existenz eines Wesens von so ausnehmendem Vorzuge in völliger Unwissenheit"89; kurz: das unterstellte „Ideal" ist „nur die Idee"90. Es ist Kants praktische Philosophie, die zur Begründung einer - weiterhin kritischen - Religions- und Gottesauffassung herangezogen wird, die dann dem Missverständnis des „transzendentalen Ideals" nicht mehr ausgesetzt wäre. Denn in Sachen Freiheit, Moral, Pflicht, Gesetz und Gewissen wird von vornherein nicht mit einem Gegenstandsbegriff der Dingwelt operiert. Kants dem entsprechende praktische Begründung der Religion lässt sich sehr kompakt an einer längeren Anmerkung aus der Vorrede der Religionsschrift belegen91: [1] „Der Satz: es ist ein Gott, mithin es ist ein höchstes Gut in der Welt, wenn er (als Glaubenssatz) bloß aus der Moral hervorgehen soll, ist ein synthetischer a priori, der, ob er gleich nur in praktischer Beziehung angenommen wird, doch über den Begriff der Pflicht, den die Moral enthält, (und der keine Materie der Willkür, sondern bloß formale Gesetze derselben voraussetzt), hinausgeht und aus dieser also analytisch nicht entwickelt werden kann. [...] [2] Zweck ist jederzeit der Gegenstand einer Zuneigung, das ist, einer unmittelbaren Begierde zum Besitz einer Sache vermittelst seiner Handlung, so wie das Gesetz (das praktisch gebietet) ein Gegenstand der Achtung ist. Ein objektiver Zweck (d. i. derjenige, den wir haben sollen) ist der, welcher uns von der bloßen Vernunft als ein solcher aufgegeben wird. Der Zweck, welcher die unumgängliche und zugleich zureichende Bedingung aller übrigen enthält, ist der Endzweck. Eigene Glückseligkeit ist der subjektive Endzweck vernünftiger Weltwesen (den jedes derselben vermöge seiner von sinnlichen Gegenständen abhängigen Natur hat, und von dem es ungereimt wäre, zu sagen: dass man ihn haben solle) [...]. [3] An diesem Zwecke nun, wenn er gleich durch die bloße Vernunft ihm vorgelegt wird, sucht der Mensch etwas, was er lieben kann; das Gesetz also, was ihm bloß Achtung einflößt, ob es zwar jenes als Bedürfnis nicht anerkennt, erweitert sich doch zum Behuf desselben zu Aufnehmung des moralischen Endzwecks der Vernunft unter seine Bestimmungsgründe, das ist, der Satz: mache das höchste in der 89
A 579.
90
A 578. - Zu den Konsequenzen bezüglich der metaphysischen Begriffe von Seele, Welt und Gott vgl. W. Pannenberg (1996), 192ff. Die Religion, in: Werke Bd. 7, A I X - X I I I , Anm. (Vorrede zur 1. Aufl.).
91
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II. Reformatorische und neuzeitliche Tradition
Welt mögliche Gut zu deinem Endzweck; ist ein synthetischer Satz a priori, der durch das moralische Gesetz selber eingeführt wird [...], d. i. die Moral führt unausbleiblich zur Religion."
(1) Kants konstruktiver Einstieg in die Gottesfrage ist von Beginn an ausschließlich moralphilosophisch (d.h. praktisch) begründet. In der Kritik der praktischen Vernunft (1788) zeigt Kant am Ende, dass es sich bei den Begriffen Gott, Freiheit und Unsterblichkeit der Seele um Vernunftbegriffe als Postulate handeln muss, die aus der prinzipiellen Einsicht in die Pflicht, aufgrund von Freiheit gut handeln zu wollen, notwendig zu folgern sind. Weil Menschen aber nicht nur aufgrund von (theoretisch zwingender) Einsicht handeln, sondern zuletzt die gelungene Realisierung der eigenen Spontaneität (Freiheit), der eigenen Existenz (Unsterblichkeit) und des erwarteten Guten (Glückseligkeit) als Handlungsziel brauchen - auch dann, wenn diese gelungene Realisierung in der empirischen Welt und aufgrund eigener Aktivität gerade nicht zu erwarten ist - , deshalb ist Gott ein notwendiges Postulat, um in ihm die Einheit von „Sittlichkeit" und „Glückseligkeit" zusammendenken zu können.92 Nun ist damit aber keine selbständige religiöse Erfahrung oder durch die Hintertür ein Eigenrecht theologischer Begriffe eingeführt, sondern der Sinn der Postulate bleibt moralphilosophisch definiert, und zwar in den berühmten Satz gefasst: Das „moralische Gesetz" führe „durch den Begriff des höchsten Guts, als das Objekt und den Endzeck der reinen praktischen Vernunft, zur Religion, d.i. zur Erkenntnis aller Pflichten als göttlicher Gebote"!93 Die kritische Frage, ob die Religion vollständig durch die Moral begründet sei oder doch über sie hinausgreife, nimmt Kant zum Anlass einer Suchbewegung an den Grenzen seines Systems. Wenn der Satz „es ist ein Gott" nicht „analytisch", d.h. nicht als im Begriff der Moral enthalten aus dieser gefolgert werden kann, dann kommt auf dem Wege von der Moral (und ihrem Pflichtbegriff) zur Religion noch etwas hinzu weshalb von einem „synthetischen" Satz gesprochen werden muss. Ist dieser darüber hinaus auch „a priori" einsichtig zu machen?
92
Vgl. KpV, Werke Bd. 6, A 224f. ; zur Unsterblichkeit der Seele und zu den Postulaten im Ganzen vgl. A 220ff. u. 238ff.; W . Pannenberg (1996), 195ff.; B. Davies (Ed.), (2000), chap. 58.
93
KpV, A 233; vgl. entsprechend im „Vierten Stück", in: Die Religion, A 215. Vgl. H . Schulz, Jenseits von Apologie (2003), 4 7 - 5 7 , der auch auf die unterschiedlichen Fassungen aufmerksam macht und diese zur Interpretation heranzieht: Wenn Religion praktisch gesehen notwendig ist, muss sie zur Erkenntnis „aller unserer Pflichten" herangezogen werden, es handelt sich dann nicht um eine distanzierte Einstufung, „als o b " es so wäre, ebd. 53f.
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(2) Kant beginnt seine Begründung der Apriorität mit einer Erläuterung des Zweckbegriffs 94 : So wie das moralische Gesetz zu seiner Anerkennung und Befolgung Achtung verlangt, so der „Zweck" im Blick auf seine Verfolgung „Zuneigung"; mehr noch: Hinter der Verfolgung von Zwecken stehen Handlungen, denen wiederum „Begierde zum Besitz einer Sache" (2. Abs.) zugrunde liegt, d.h. es geht hier um die stärksten Motive im menschlichen Lebensinteresse! - Dieser Begriffsklärung folgt eine zweite, dass nämlich zwischen „objektiven" und „subjektiven" Zwecken zu unterscheiden ist, die beide zusammengefasst werden im „Endzweck", dem Inbegriff aller Zwecke von praktischer Notwendigkeit. Subjektiver Endzweck nun ist das Interesse am Gelingen des eigenen Lebens, die Glückseligkeit; objektiv aber wird diese erst dann, wenn sie nicht nur natürlich und empirisch festgestellt, sondern allgemein-vernünftig gefordert und insofern eingesehen wird. Geschieht dies aber, wird über das allgemein moralische Sollen (der Gesetzesbefolgung im Sinne des kategorischen Imperativs95) tatsächlich hinausgegangen, weil in Verfolgung der Glückseligkeit diese nun verallgemeinerungsfähig („objektiv-praktisch") wird. - Doch liegt hier nicht ein innerer Widerspruch verborgen, wenn Verallgemeinerungsfähigkeit an einer Stelle verlangt wird, die auf Realisierung im persönlichen Leben aus ist? Die Autonomie der moralisch-praktischen Einsichts- und Verallgemeinerungsfähigkeit besteht doch gerade darin, objektiv zu fordern, wie auch immer die Erfolgsaussichten in zufällig gegebenen Lebenssituationen aussehen mögen; und genau dies erscheint für den Endzweck der Glückseligkeit subjektiv wie objektiv desaströs: Zweckorientierung ohne Realisierungsaussichten, ohne sinnvolle Motivationsgrundlagen wäre nichtig, bloß abstrakt. U m dieses Scheitern auszuschließen, soll Religion (ohne dadurch eine heteronome Moralbestimmung zuzulassen) als notwendige Fortsetzung der Moral (bei weiter geltender Autonomie) aufgefasst werden. 96 (3) Der Mensch sucht, „was er lieben kann" (3. Abs.), das ist es, was zum abstrakten Pflichtgehorsam hinzukommen muss: der Endzweck als höchstes und geliebtes Gut. Ohne diese Treibfeder, ohne diese Finalität wären Handlungen letztlich nicht mehr zu fordern. Weil diese Einsicht aber zugleich verallgemeinerungsfähig, vernünftig und für alle Menschen objektiv gültig ist, ist damit der „synthetische Satz a priori"
94 95 96
S. Anm. 91. Zu Ableitung, Formulierung und Belegstellen vgl. V. Gerhardt (2002), 221-224. Vgl. B. Dörflinger (2004), 207ff.
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bestätigt (1. Abs.): „es ist ein Gott"! - Allerdings gilt dies dezidiert „nur", wie Kant sein Werk hindurch gerne sagt, in praktischer Hinsicht. Es geht hier nicht um einen Gottesbeweis der theoretischen Vernunft, wohl aber um den Nachweis, dass ohne „Gottesglauben"'17 endzweckorientierte Handlungen letztlich nicht gedacht werden können. Damit öffnet Kant den Erfahrungsbegriff für menschliche Selbsterfahrung - aufgrund des moralisch autonomen Selbstbewusstseins: Erfahrung, die sonst restriktiv dem Verstandesgebrauch untergeordnet blieb, wird jetzt überraschend auf die allgemeine Zweckhaftigkeit der Handlungsorientierung beziehbar und darf die moralischen Begriffe synthetisch ergänzen. Ist diese nur praktische Realität, deren „Bedürfnis" für die bleibend autonome Moralbegründung nicht einmal anerkannt wird (3. Abs.), aber nicht doch eine reduzierte Form von Religiosität, die ihre Eigenständigkeit verloren und damit auch ihre Uberzeugungskraft eingebüßt hat? Wie die moralische Autonomie ihren Ort der verallgemeinerungsfähigen Einsicht im Selbstbewusstsein hat - so auch die moralisch legitimierte Religion. Religionskritik wird ihr ständiger Begleiter. Kants Religionsschrift führt dieses Zusammenspiel von moralischrational gebundener Religionsphilosophie und massiver Religionskritik in einem großen Reichtum an Details und theologischer Fachkenntnisse konsequent durch. Zu den vier Stücken der Religionsschrift ist im Uberblick festzuhalten: Jirstes Stück. Von der Einwohnung des bösen Prinzips neben dem guten: oder über das radikale Böse in der menschlichen Natur"; nach den Disziplinbegriffen der theologischen Dogmatik geht es um Anthropologie bzw. Sündenlehre·. a) Religionsphilosophisch konstruktiv entwickelt Kant, dass und wie Menschen gerade unter der Voraussetzung von Freiheit sich deren Spontaneität im Blick auf Handlungen in bestimmter Weise jeweils zu eigen machen müssen. Diese Ebene der Vor-Entscheidung nennt Kant, einer Maxime folgen; und hier kommt es faktisch zum Einsatz von guten oder bösen Maximen, je nach dem, ob das moralische Gesetz befolgt wird oder nicht. Diese Befolgungssituation ist also von „Natur" aus problematisch, liegt nicht mit Notwendigkeit fest (das widersprä97
Vgl. H. Schulz, aaO. 54; zu Kants dann konsequentem „moralischen Beweise des Daseins Gottes" vgl. Kritik der Urteilskraft (1790), § 87, in: Werke Bd. 8, A 414ff.; auch B. Dörflinger, aaO. 212ff., 217 (zum moralisch erweiterten religiösen Selbstverständnis), 221ff. (zum Charakter der „Wahl" im religiösen Selbstbewusstsein).
§ 8: Religionskritik
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che der Freiheit), sondern ereignet sich eben jeweils in der Maximenwahl, für die es außerhalb derselben keinen weiteren Grund geben kann.98 Weil dies für die Gattung Mensch gilt, spricht Kant (theologisch geschickt formuliert) von einem allgemeinen „Hange zum Bösen"99, d.h. Menschen sind nicht naturnotwendig böse, aber in ihrer Natur liegt eine Tendenz, unmoralisch sein zu können. Die jeweilige Entscheidungslage ist die zwischen dem guten oder dem bösen Herzen.100 Weil dieser Hang zum Bösen aber, wie Kant konsequent reformatorisch101 weiter analysiert, nicht nur einen problematischen Teilbereich der Handlungsverantwortung betrifft, sondern den Menschen - von der obersten bösen Maxime her - ganz und gar, ist vom radikal Bösen zu sprechen: „welches [...] den faulen Fleck unserer Gattung ausmacht".102 Der „Vernunftursprung" muss in diesem Punkt „unerforschlich" bleiben - ganz wie in der biblischen Sündenfallerzählung, auf die Kant ausdrücklich zurückgreift.103 b) Religionskritisch aber gilt zugleich, dass zwischen der „Geschichtserzählung"104 der Bibel und der moralischen Vernunftreligion das klare Begründungsdefizit bzw. Begründungsverbot der einen Seite bestehen bleibt: Der historische Text bebildert nur, erklärt aber nichts und darf nichts erklären. Gegen die bloße Erbaulichkeit des kirchlich-biblischen Textes steht für Kant die innere (autonome, selbstbewusste) Einsicht in die gute Maxime, auf deren Befolgung es allein ankommt. Religionskritik wird zwingend, wo diese Grenzlinie zwischen unmoralischer, das Handeln des Guten überspielender Kultreligion bloßer „Gunstbewerbung" einerseits und „Religion des guten Lebenswandels" andererseits nicht mehr respektiert wird103: Dann „bietet" die „verdrossene Vernunft unter dem Vorwand des natürlichen Unvermögens allerlei unlau-
98
Die Religion, Werke Bd. 7, Β 7, Anm.: „Dass der erste subjektive Grund der Annehmung moralischer Maximen unerforschlich sei, ist daraus schon vorläufig zu ersehen: dass, da diese Annehmung frei ist, der Grund derselben (warum ich eine böse und nicht vielmehr eine gute Maxime angenommen habe) in keiner Triebfeder der Natur, sondern immer wiederum in einer Maxime gesucht werden muss".
99
A a O . , Β 20ff.; vgl. F . Ricken (2003), 216ff.
100 Β 21; Β 36. 101 S. § 7.4, A n m . 56. 102 Β 35; Β 38. 103 B 4 7 f . u. A n m . 104
Ebd.
105 Β 6 If.
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tere Religionsideen auf (wozu gehört: Gott selbst das Glückseligkeitsprinzip zur obersten Bedingung seiner Gebote anzudichten)." „Zweites Stück. Von dem Kampf des guten Prinzips, mit dem bösen, um die Herrschaft über den Menschen"; nach den Disziplinbegriffen der theologischen Dogmatik geht es um Christologie: a) Religionsphilosophisch konstruktiv entwickelt Kant, dass und wie auf das „böse Prinzip" das rettenden Ideal zu folgen hat: Das „gute Prinzip", das in christlicher Tradition in Jesus Christus, dem „Urbild" des „göttlich gesinnten Menschen", als „personifizierte Idee" vorgestellt wird.106 Kant entwirft tatsächlich eine philosophische Christologie, „entkleidet" von aller Offenbarungsgläubigkeit, Mythologie und „mystischen Hülle".107 Der biblisch-christliche Stoff ist moralisch auslegungsfähig: „Es ist eine Eigentümlichkeit der christlichen Moral: das Sittlichgute vom Sittlichbösen nicht wie den Himmel von der Erde, sondern wie den Himmel von der Hölle unterschieden vorzustellen; eine Vorstellung, die zwar bildlich, und als solche empörend, nichts destoweniger aber, ihrem Sinn nach, philosophischrichtig ist. - Sie dient nämlich dazu, zu verhüten: dass das Gute und Böse, das Reich des Lichts und das Reich der Finsternis, nicht als an einander grenzend, und durch allmähliche Stufen (der größern und mindern Helligkeit) sich in einander verlierend gedacht, sondern durch eine unermeßlich Kluft von einander getrennt vorgestellt werde." 108
b) Religionskritisch aber gilt zugleich die Abwehrlinie, dass der Grund für das moralische „Urbild" Jesu nicht in seiner Person, sondern in jedem Menschen - „immer in uns" - gesucht werden muss. Eine religiöse Ubernatürlichkeit Jesu anzunehmen, die diesen „Menschen hypostasiert", ist überflüssig und wäre schädlich.109 Sie ist andererseits aber, ähnlich der menschlichen Bemühung um Gottesbeweise, durchaus verständlich: Dass sich eine „Analogie" zwischen moralischem Urbild und einem wirklichen „Naturwesen" - um der wirksameren Vorstellungskraft willen - bildet. Diese Analogie darf aber keinesfalls als „Objektbestimmung" begriffen werden, denn dann käme es zu einem „Anthropomorphismus" der „nachteiligsten Folgen"110: Die analoge Übertragung würde nicht mehr in ihrer Hilfsfunktion durchschaut und philosophisch interpretiert, sondern fälschlich als sachhaltiger Begriff mit eigener Gegenständlichkeit gelesen. Dieser kritische Zug gilt für alle religiösen Vorstellungen und dogmatischen Lehren. Das Religiöse 106 107 108 109 110
Β Β Β Β Β
73ff. 114; vgl. H. Rosenau (1985), Kap. 1.1. 73 Anm. 79. 82f. Anm.; zum „Schematismus der Analogie" vgl. F. Ricken (2003), 221ff.
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darf nicht das Moralische ersetzen oder überspielen wollen, das wäre wie „Opium fürs Gewissen zu geben", eine „Verschuldigung an ihm selbst"!111 „Drittes Stück. Der Sieg des guten Prinzips über das böse, und die Gründung eines Reichs Gottes auf Erden"; nach den Disziplinbegriffen der theologischen Dogmatik geht es um Eschatologie und allgemeine Ekklesiologie: a) Religionsphilosophisch konstruktiv sucht Kant die Heilung der problematischen Natur des Menschen nicht nur in der moralischen Einzelentscheidung, sondern in der Sozialität der Menschheit, im Reich Gottes; philosophisch gesprochen im „Ideal eines Ganzen", das ein „ethisches gemeines Wesen" aller Bürger wäre. 112 Die „wahren Pflichten" der Menschen können dann durchaus als „göttliches Gebot" aufgefasst werden; wie wäre es sonst zu motivieren, dass „aus so krummen Holze [sc. der Menschennatur] etwas völlig Gerades gezimmert werde?" Die christliche Kirche vertritt diese Idee unter geschichtlichen Bedingungen. 113 b) Religionskritisch aber gilt zugleich, dass die beanspruchte Gottesinstanz selbstverständlich allein nach „moralischen Triebfedern" zu bemessen ist, „vom Blödsinn des Aberglaubens" ebenso gereinigt wie vom „Wahnsinn der Schwärmerei". 114 Kant wählt für diesen moralisch aufgeklärten Zustand den Begriff des „reinen Religionsglaubens", der sich von aller kirchlichen Engstirnigkeit, Orthodoxie und bloß „doktrinalem" Glauben abhebt. 115 Das „Reich Gottes" darf nicht „nach einem besonderen Bunde (kein messianisches)" vorgestellt werden, sondern nur als „ein moralisches". 116 „ Viertes Stück. Vom Dienst und Afterdienst unter der Herrschaft des guten Prinzips, oder von Religion und Pfaffentum"; nach den Disziplinbegriffen der theologischen Dogmatik geht es um spezielle Ekklesiologie als Kirchenkritik: a) Religionsphilosophisch konstruktiv ist hier vor allem der Gestus durchgreifender Kritik. Aus Kants scharfer Trennung zwischen „statu111 Β 105 Anm. 112 Β 13 Iff. 113 Β 139 Anm.; Β 141; Β 142ff.; zur theologisch für Kant sehr brauchbaren Unterscheidung zwischen sichtbarer und unsichtbarer Kirche, d.h. zwischen Volk Gottes nach „statutarischen" und nach „Tugendgesetzen" vgl. F. Ricken, aaO, 225ff. 114 Β 143. 115 Β 156ff.; Β 166 116 Β 206 Anm.
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tarischer" Kirche und Vernunftreligion folgt: Wo die Zwangs- und Gehorsamsformen kirchlichen Verhaltens die ethische Einsicht Lügen strafen, dort ist von „Afterdienst" zu sprechen. 117 Demgegenüber demonstriert Kants Auslegung der Bergpredigt, wie eine „vollständige Religion" für die Menschen und ihre „Vernunft faßlich und überzeugend vorgelegt werden kann". 118 b) Religionskritisch aber gilt immer zugleich die Warnung vor dem „Religionswahn", der auftritt, wenn Menschen dazu gebracht werden, über den „guten Lebenswandel" hinaus Gott gegenüber, um ihm „wohlgefällig zu werden", noch mehr meinen tun zu müssen.119 Kants Kirchenkritik ist gut informiert, dokumentiert Erfahrungen und setzt protestantische Akzente. Seine Beispiele, z.B. für „Pfaffentum", sprechen für sich: „Fetischdienst" und „Prinzipien der Sittlichkeit" schließen sich aus.120 - Während diese Grenzlinien zwischen religiösen Fehlformen und religionsphilosophischer Konstruktivität bis heute einleuchten, Kant sagt religionskritisch auch mehr, als im Programm der moralischen Verteidigung der Vernunftreligion zu erwarten wäre: Während er vor dem „Anthropomorphismus" warnt, dem „Religionswahn", der sich seinen eigenen opportunen Gott dichtet, kommt es in einer anmerkungsweisen Umkehrung der Perspektive zu der folgenden rasanten Überlegung 121 : „Es klingt zwar bedenklich, ist aber keineswegs verwerflich, zu sagen: dass ein jeder Mensch sich einen Gott mache, ja nach moralischen Begriffen [...] sich einen solchen selbst machen müsse, um an ihm den, der ihn gemacht hat, zu verehren."
Kants Begründung für diese Wendung liegt darin, dass an Gott zu glauben nur unter der Bedingung moralisch-philosophischer Prüfung gerechtfertigt sein kann. Das schließt eine unprüfbare, überraschende, heteronome Offenbarungsreligion aus; und insofern bildet sich ein verantwortlich denkender Mensch seine Gottesvorstellung, „macht" in gewissem Sinne seinen Gott, um ihn als Gott, d.h. aus Moral mit Berechtigung folgend anzuerkennen und einzusehen. Diese Wendung ist riskant, weil sie keineswegs religionsphilosophisch konstruktiv ausgelegt werden muss (was Kant versucht), sondern noch einmal religions-
117 118 119 120 121
Β 228f. Β 239ff.; Β 245. Β 260f. Β 269ff.; Β 276f. Β 257 u. Anm.; vgl. C. Dierksmeier (1998), 1. - Zur Kritik des Anthropomorphismus s. Anm. 110.
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kritisch destruktiv gewendet werden kann. Die auf Kant folgenden religionskritischen Philosophien werden so verfahren.
3. Metaphysikverlust (L. Feuerbach, F. Nietzsche) 3.1. Hegels spekulative Systemphilosophie als Hintergrund Die unter dem Stichwort der Religionskritik122 berühmt gewordenen Autoren des 19. Jh., vor allem L. Feuerbach, K. Marx und F. Nietzsche, schließen nicht unmittelbar an Kants Transzendentalphilosophie an, sondern an deren inzwischen erfolgte Uberbietungen durch Hegels allumfassende Systemphilosophie bzw., im Fall Nietzsches, durch A. Schopenhauers Willenslehre. Durch diese Vermittlungen ist es auch bedingt, dass nicht mehr in erster Linie der naturwissenschaftliche (empirische) Begriff von Erfahrung gegen die traditionelle Religion ausgespielt wird, obwohl dieser Einwand wirksam bleibt, sondern dass jetzt um den Status der anthropologischen, gesellschaftlichen und psychologischen Erfahrungswerte 123 im gattungsspezifischen, faktischen und existentiellen Sinn des Begriffs gestritten wird. Diese Entwicklung der Diskussionslage über Religion wurde vor allem dadurch provoziert, dass in Hegels idealistischer Philosophie die unausgestandenen Gegensätze, die Kant ausdrücklich als solche bearbeitet hatte, aufgehoben oder versöhnt werden sollten. Vernunft und Offenbarung, Wissen und Glauben, Pflicht und Neigung, Objekt und Subjekt etc. werden dadurch als Gegensätze überstiegen, dass ihr weltgeschichtlicher Prozess und der Vollzug ihres Begreifens als geistige Realität eines Ganzen eingestuft werden, das in dieser Weise realiter ist und um sich weiß jedenfalls auf der höchsten Ebene des philosophischen Systemdenkens. Im Blick auf die Religion formuliert, wobei die christliche Religion diese geistige Prozessualität bereits selbst schon darstellt, liest sich die Vollzugsform des Geistes (im Kapitel „Die offenbare Religion" der Phänomenologie des Geistes [1807]) z.B. so: ,Αη sich ist das Wissen diese in sich gewordne sich selbst. Dies Ansich eines Seienden und ihm
von der Natur als dem unwahren Dasein des Geistes, und Allgemeinheit des Selbsts die Versöhnung des Geistes mit erhält für das nicht hegreifende Selbstbewusstsein die Form Vorgestellten. Das Begreifen also ist ihm nicht ein Ergreifen
122 Vgl. H. Deuser, Religionsphilosophie (2004), 362f.; I.U. Dalferth/H.-P. Grosshans (2006). 123 Damit kommt der neuzeitlich doppelseitige Erfahrungsbegriff (s. § 8.1, Anm. 1) nun religionskritisch voll zur Geltung.
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dieses Begriffes, der die aufgehobne Natürlichkeit als allgemeine, also als mit sich seihst versöhnte weiß, sondern ein Ergreifen jener Vorstellung, dass durch das Geschehen der eignen Entäußerung des göttlichen Wesens, durch seine geschehene Menschwerdung und seinen Tod das göttliche Wesen mit seinem Dasein versöhnt ist." 124
Für die Bewertung der Religion ergibt sich - auch in Hegels groß angelegten Vorlesungen über die Philosophie der Religion - im Resultat die „Zweischneidigkeit"125, dass sie entweder begrifflich in der Philosophie vollständig gedacht und damit gegenüber der Kritik der Aufklärungsepoche gerettet erscheint, oder sie ist, weil sie selbst bloß den Modus der Vorstellung und nicht des Begriffs erreicht, in der Sache relativiert, begrifflich überholt und damit geschichtlich in ihrer Eigenständigkeit überflüssig geworden. Für die kritischen Schüler Hegels in der folgenden Generation kommt hinzu, dass Hegels spekulatives Systemdenken, das Vermitteln auf der Ebene des absoluten (geistigen) Begreifens, mit dem schneidenden Einwand der realen Lebensverhältnisse konfrontiert wird. Die Metaphysik eines umfassenden Systemganzen, das ausdrücklich gegen Kant den Begriff des Spekulativen als Gipfel und Durchdringung allen Wissens wieder etabliert, erscheint dann schnell als Programm ohne Fundament. Hegels „spekulativer Begriff", die geistig überlegene, weil konkret am geschichtlichen Lebensvollzug entwickelte Vermittlung des Endlichen mit dem Unendlichen126 verdankt sich der christlichen Theologie127 und ihrer religiösen Vorstellung; und wird jener Begriff der Spekulation nicht mehr akzeptiert, so verfällt damit auch - philosophisch gesehen zentral - die Religion der Kritik. L. Feuerbach (1804-1872), Hegel-Schüler aus der Berliner Zeit, hat diese Wendung exemplarisch vollzogen, K. Marx hat sie aus der Perspektive der gesellschaftskritischen Supervision als berechtigt, aber als nicht weitgehend genug eingestuft. In der 7. These über Feuerbach moniert er, dass Feuerbachs Erklärung der religiösen Inhalte als ausschließlich fundiert im „religiösen Gemüt" noch „das abstrakte Individuum" un-
124 G.W.F. Hegel, Phänomenologie (1952), 544f.; vgl. (1980), 418; s. § 1.1, A n m . 11. 125 W . Jaeschke, zit. bei J . Röhls (2006), 18; vgl. Hegel, Vorlesungen (1993-1995). 126 Vgl. Hegel, Vorlesungen, Teilbd. 1 (1993), 215; 212: „So ist denn das Endliche Moment des göttlichen Lebens, und so sieht man, was es ist, w e n n man einen wahrhaften Inhalt in Sätzen ausdrücken will"; s. § 2.2, A n m . 76. 127 Zum Begriff der (spekulativen) Wissenschaft als System, als (göttliche) geschichtliche Bewegung des Absoluten und in A u f n a h m e der christlichen Trinitätslehre vgl. M . Theunissen (1970), 64ff. (im Anschluss an Hegel, aaO. Teilbd. 1, 55 [Einl. der Vorlesungen von 1824]).
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terstelle, das selbst wiederum aus „einer bestimmten Gesellschaftsform" erklärt werden könne und müsse.128 So schieben sich funktionale Erklärungen an die Stelle der Inhalte, doch werden letztere dadurch zum Verschwinden gebracht oder vielleicht nur verlagert? Feuerbach jedenfalls hat weniger die „religiösen Inhalte" kritisiert als vielmehr „deren Verlegung in ein Jenseits und damit die Schwächung des Menschen und seines Diesseits."129
3.2. Erklärte und durchschaute Religion Im Winter 1848/49 hält Feuerbach in Heidelberg öffentliche Vorlesungen, sein Hauptwerk Das Wesen des Christentums war 1841 in 1. Aufl. erschienen, und unter seinen Heidelberger Hörern ist auch der junge Gottfried Keller, der in diesen Jahren an seinem kritischen Bildungsroman, Der grüne Heinrich, arbeitet. Der Roman erscheint in seiner ersten Fassung ab 1853 und gibt ein herausragendes, feinfühliges und zeittypisches Bild der - inzwischen populär gewordenen - religionskritischen Einstellung 130 : „Der Satz, dass die Erde sich um die Sonne bewegt, wird in allen Kinderschulen gelehrt, und die Kinder nehmen ihn in ihr Wissen auf, ohne die physikalische Untersuchung seines Beweises anzustellen, während sie für ein einziges religiöses Dogma his zu ihrer Mündigwerdung mit allem katechetischen Apparate unterwiesen werden, ohne am Ende mehr zu wissen als am Anfang und ohne wider den Zweifel geschützt zu sein. Noch nie hat es einen Krieg gegeben wegen verschiedener Meinungen über Naturgesetze, weil ihre Art friedfertig, rein und genügend ist [...]; Religionskriege aber wird es geben, solange es Priester, Dogmen und Bekenntnisse gibt."
Der Vorrang der naturwissenschaftlichen Natur gegenüber dem dogmatischen Gottesbegriff gilt als selbstverständlich, die Kirchenlehre erscheint künstlich, unpädagogisch und in ihrer Absicht nicht nur lebensfern, sondern gefährlich: Dogmatisierte Religion sucht notwendigerweise Streit, die wissenschaftliche Einstellung dagegen entspricht dem Common Sense und ist friedfertig. Kellers religionskritische Reflexionen kehren mit Schwung und im Geist der Zeit Luthers Bild vom Reittier in die entgegen gesetzte Richtung: Der „gute menschliche Wille" sitzt auf dem Pferd, dem ,,materielle[n] Organ", und „trachtet" da128 Vgl. K. Marx, Thesen über Feuerbach (1845), in: Bd. II (1968), 372. 129 E. Bloch (1967), Bd. 1, 309. 130 Vgl. A. Muschg (1980), bes. 1761, 290; G. Keller, Der grüne Heinrich, Fassung, IV. Bd., 2. Kap., (1978), 2. Teil, 223.
Erste
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nach, zum „freien Willen" zu werden.131 Der humane Einsatz verspricht Selbstkontrolle, Wissen und moralisches Handeln, während die (christliche) Religion auf allen Gebieten eine problematische Tradition repräsentiert; sie bleibt nur deshalb noch wirksam, um auf ihrem Hintergrund und wie zu ihrer Humanisierung diese Konfliktfragen aufwerfen zu können. Welche philosophischen Begründungen hatte Feuerbach für diese religionskritische Wendung gegeben? Seine hegelkritische Philosophie baut auf eine allgemeine Anthropologie 132 , nach der Menschen in ihrem Fühlen, Denken und Wollen sich als Individuen und immer zugleich als Gattungswesen erfassen; und während zum Gattungsbezug ganz natürlich die Prädikate der Vollkommenheit, Absolutheit und Unendlichkeit gehören (die Gottes-Prädikate der theologischen Tradition!), sieht sich das Individuum begrenzt und endlich - und reagiert auf die irrtümliche Verallgemeinerung diese Sichtweise mit „Schamgefühl" (analog der Sündenfalllehre der theologischen Tradition!), das den wahren Gattungszusammenhang verliert. 133 Diese ins Psychologische übergreifende Erklärung korrespondiert nun direkt mit der religionskritischen These, es sei dasselbe Missverständnis, das alle Religion bestimme und nur über die Religion wieder aufgedeckt werden könne: Weil der Mensch seine individuelle Begrenztheit fälschlich als Gattungsproblem einschätzt, überträgt er (zunächst unbewusst) die Prädikate der Vollkommenheit etc. auf eine jenseitige Welt der Götter bzw. eines als Subjekt vorgestellten Gottes, um von dort aus wieder aller gottmenschlicher Eigenschaften teilhaftig zu werden. 134 Wird dieser Mechanismus durchschaut, so scheint der Religion der Boden entzogen. Feuerbach stützt diese Kritik durch ein logisches Argument, dass es nämlich geboten und erlaubt sei, Subjekt und Prädikat religiöser Aussagen so umzutauschen, dass anstelle der Eigenschaften, die die Religion dem Subjekt Gott zuspricht, diese Eigenschaften (dann als mensch131 G. Keller, aaO. 231; zu Luthers Bild vom Reittier s. § 7.3, Anm. 41. 132 L. Feuerbach, Das Wesen des Christentums (1841), in: Werke Bd. 5, 17ff. („Einleitung: Das Wesen des Menschen im allgemeinen"); vgl. H. Schulz (2006), 119ff. 133 Feuerbach, aaO. 22-42; zu Analogie und Differenz zwischen dieser anthropologischen Grundlegung und der Kierkegaards vgl. H. Schulz, aaO. 128-131, 133f. 134 Feuerbach, aaO. 30ff. („Das Wesen der Religion im allgemeinen"); S. 44: „Der Mensch - dies ist das Geheimnis der Religion - vergegenständlicht sich sein Wesen und macht dann wieder sich zum Objekt dieses vergegenständlichten, in ein Subjekt verwandelten Wesens"; vgl. Schulz, aaO. 122ff. (zum sog. Projektionsmodell der Religionskritik).
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liehe) zum Satzsubjekt werden, dem dann göttliche Qualität (jetzt auf die Gattung Mensch bezogen) zukomme. 135 Dass dieser Mechanismus für die hier fraglichen Relationen gerade nicht gebilligt werden kann und auch nicht durch aristotelische Logik gedeckt ist, wie Feuerbach selbst annahm, ist inzwischen gezeigt worden. 136 Hinzu kommt, dass Feuerbachs kritisches Denken sich in allen Punkten der Religion verdankt, die er durch Erklärung ihrer unbewussten Mechanismen zur Auflösung bringen möchte, d.h. die Kritik der Religion bedarf der Religion selbst.137 Auch wenn Feuerbachs Religionskritik - so sehr die zeit- und institutionenkritischen Klagen und Beispiele überzeugen mögen - vom philosophischen Argument her gesehen und gemessen am Phänomen der Religiosität letztlich nicht durchschlagend erscheinen kann, bedenkenswert und kraftvoll bleibt die anthropologische Rückbindung aller Erklärungen. Nach Hegel und gegen dessen Versuch, Metaphysik, d.h. den vernünftigen Zusammenhang von Geist und Wirklichkeit im geschichtlichen Prozess sichtbar machen und im Begriff darstellen zu können, kommt es seither zum nicht mehr überhörbaren Protest und damit Metaphysikverlust·. Dass Wirklichkeit nicht an ihrem Begriff, sondern allein am gegebenen Zustand und Befinden der Menschen zu messen sei, also an den natürlichen Erfahrungs- und Lebensbedingungen.138 Diesen wären - wenn überhaupt - religiöse Erfahrungen, Inhalte, Prädikate etc. zuzuordnen. Religion und ihre (begrifflichen) Inhalte werden dann nicht mehr eigenständig in einem System des Geistes und als Prüfstücke für dieses - entfaltet, sondern nur noch in ihrer Funktion für etwas anderes eingestuft, d.h. Religion wird zum Gegen-
135 Feuerbach, aaO. 68: „Was nämlich die Religion zum Prädikat, das dürfen wir nur immer zum Subjekt, und was sie zum Subjekt, zum Prädikat machen, also die Orakelsprüche der Religion umkehren [...]. Gott leidet [... heißt dann] Nichts anderes als: Leiden für andere ist göttlich". 136 Vgl. E. Jüngel (1977), 19l£; H. Schulz, aaO. 135ff. 137 H. Schulz, 139f., spricht in diesem Zusammenhang von einem „parasitären Reduktionismus". 138 Vgl. Feuerbach, Grundsätze der Philosophie der Zukunft (1843), in: Werke Bd. 3, § 32: „Das Wirkliche in seiner Wirklichkeit oder als Wirkliches ist das Wirkliche als Objekt des Sinnes, ist das Sinnliche. Wahrheit, Wirklichkeit, Sinnlichkeit sind identisch. Nur ein sinnliches Wesens ist ein wahres, ein wirkliches Wesen, nur die Sinnlichkeit Wahrheit und Wirklichkeit."
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stand von Religionsgeschichte und (empirischer bzw. psychologischer) Religionstheorie.139 Die Funktionalisierung der Religion kann durchgeführt werden als erklärende Beschreibung, als vernichtende Kritik aufgrund von Erklärung der wahren Zusammenhänge und schließlich als ein vollständiges (entlarvendes) Durchschauen mit der eifrigen Tendenz zur Beerbung. Letzteres ist der Fall in F. Nietzsches (1844-1900) humanistischer Gegenlehre zum Christentum. Sie setzt neben der naturwissenschaftlichen Wende zur Empirie und dem anthropologisch-psychologischen Begriff von (Lebens-)Erfahrung betont auch philologisch-historischen und ästhetischen Umgang mit der Sprache voraus.140 Mit Religion kann von da an kritisch und frei spielend umgegangen werden. Thomas Mann hat, von Schopenhauer und Nietzsche inspiriert, diese Freiheit beispielhaft genutzt - und mit Willen und Wissen den religiösen Mythos artistisch inszeniert. In der Romantetralogie Joseph und seine Brüder (1926-1942) endet der Eingangstext („Vorspiel: Höllenfahrt") mit einer Feier des Mythos: „Denn es ist, ist immer, möge des Volkes Redeweise auch lauten: Es war. So spricht der Mythus, der nur das Kleid des Geheimnisses ist; aber des Geheimnisses Feierkleid ist das Fest, das wiederkehrende, das die Zeitfälle überspannt und das Gewesene und Zukünftige seiend macht für die Sinne des Volks. [...] - Fest der Erzählung, du bist des Lebensgeheimnisses Feierkleid, denn du stellst Zeitlosigkeit her für des Volkes Sinne und beschwörst den Mythus, dass er sich abspiele in genauer Gegenwart!"141
Religion und Mythos überleben als Kunstformen der Erzählgegenwart die Religionskritik. Denn deren Funktionserklärungen werden gebraucht, um im Gestus des Durchschauens die Tradition einerseits radikal in Frage zu stellen, während andererseits dieselbe religiöse Welt für diesen exemplarischen Akt der sie beerbenden Kritik nicht entbehrt werden kann. Das alles ist gebündelt in Nietzsches bekanntem Satz der Fröhlichen Wissenschaft (1882): „Gott ist tot! Gott bleibt tot! Und wir 139 Zur Wiederaufnahme des Metaphysikbegriffs unter anderen Bedingungen s. § 1.4.3, Anm. 61; in der Zuordnung zum Religionsbegriffs s. § 2 (Schema 2), 6.ad; vgl. W. Sparn (2007). 140 Vgl. J. Figi (1984); M. Fleischer, Nietzsche, in: TRE 24 (1994), 506-524; G. Figal (2001). 141 Th. Mann, Joseph und seme Brüder. Die Geschichten Jaakohs (1983), 52; zu Th. Manns Mythos-Begriff vgl. H. Deuser (1988), 290ff.; J. Assmann, Mythos (2006); zum Einfluss Schopenhauers auf Nietzsche J. Figi, aaO. 114ff.; T. Borsche (1989), 24ff.; V. Gerhardt (1996), 52ff.; zu Schopenhauers problematischer Anknüpfung an Kant vgl. B. Recki (2006); s. auch § 8.3.1, Anm. 123.
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haben ihn getötet!"142 Nietzsches Diagnose zielt auf die Verwirrung eines Zeitgeistes143, in dessen Namen bewusst oder unbewusst „getötet" wurde, weil bisher als sicher verbürgte Gewissheitsfundamente und Sinnhorizonte verloren gegeben werden mussten; und das gleich in doppelter Hinsicht: Die Wissenschaftsgläubigkeit erscheint als dünne und letztlich unwahre Abstraktion vom Leben - und das Christentum als Verdrehung der gesunden, selbstwirksamen Lebensinstinkte in schwächliche, moralisierende und idealisierende Frömmelei. Textstücke aus der späten Schrift Götzen-Dämmerung oder Wie man mit dem Hammer philosophiert (1889) können diese Entlarvungspsychologie in religions- und zeitkritischer Absicht genauer illustrieren, diesen voran zwei aus der Reihe der einleitenden Aphorismen144: „Wer seinen Willen nicht in die Dinge zu legen weiß, der legt wenigstens einen Sinn noch hinein: das heißt, er glaubt, dass ein Wille bereits darin sei (Prinzip des ,Glaubens')." „Der getretene Wurm krümmt sich. So ist es klug. Er verringert dadurch die Wahrscheinlichkeit, von neuem getreten zu werden. In der Sprache der Moral: Demut. -"
(1) Glaube - und dahinter stehend Gottesglaube, Religion und Moral sind Ergebnis einer Enttäuschung und eines Scheiterns. Was wir gerne in den Dingen sähen, legen wir in sie hinein. „Sinn" und „Werte"143 werden folglich konstruiert, menschlich produziert. Was uns als Glaube und Moral gilt, ist bloß ersonnen, um negative Selbsterfahrungen zu kaschieren. Die wahren Gründe wieder aufzudecken, das ist Nietzsches philosophisch-psychologische Absicht, sein anti-religiöses Bekenntnis. In den Texten unter der Uberschrift „Die vier großen Irrtümer"146 formuliert Nietzsche dazu die Thesen vom „Irrtum der Verwechslung von Ursache und Folge" bzw. vom „Irrtum einer falschen Ursächlich-
142 F. Nietzsche, Werke Bd. II, 127 (3. Buch, Nr. 125); vgl. KSA 3, 481. - Vgl. zur Auslegung des Satzes G. Figal, aaO. 176ff.; A. Gran (2006), 148ff.; W. Janke (2007), Kap. 1.2; E. Tugendhat (2007), 14f.; zu den Vorläufern in der Konstatierung vom Tode Gottes, Hegels Trinitätslehre und Jean Pauls „Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, dass kein Gott sei" (im Roman Siebenkäs [1796/97]) vgl. E. Jüngel (1977), 111. 143 Nietzsche, darin ganz ähnlich wie Kierkegaard, empfindet sich selbst als „exemplarische Existenz", deren „Selbsterfahrung zum Okular der Epochendiagnose wird", vgl. V. Gerhardt, aaO. 87. 144 „Sprüche und Pfeile", Nr. 18 u. 31, in: Nietzsche, aaO. 945/947; vgl. KSA 6, 61f./64. 145 Zum Begriff Wert, der das - im Sinne der philosophischen Tradition - objektiv gedachte Gute ersetzt, vgl. H. Joas (1999), 39ff. 146 Götzen-Dämmerung, aaO. 971-978; vgl. KSA 6, 88-97; im Folgenden im Text zitiert nach den einzelnen Abschn.-Nr. 1-8.
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keit" und „Irrtum der imaginären Ursachen": Wenn beispielsweise eine bestimmte Diät als Ursache für die Folge eines langen Lebens angegeben wird, so zeigt sich eine solche Verwechslung. Denn die wahre Ursache ist eine bestimmte (biologische) Konstitution des Stoffwechsels, dessen Folge die entsprechend angepasste Diät sein muss (vgl. Nr. 1). Die proklamierte (fälschliche) Umkehrung dagegen ergibt den typischen Fall von Moralisierung: Ein Sollensprogramm wird als Verursachung ausgegeben, während in Wahrheit nichts als Stoffwechsel dahinter steht. Daher: Moral und Religion mit ihrem „Du sollst" verschleiern die wahren Ursächlichkeiten und verderben die gesunde Einsicht in das, was dem willensstarken Menschen alleinige Basis sein kann: „Instinkt-Sicherheit" (Nr. 2)! So gesehen kommen Glaube, Werte, Sinngebungen immer zu spät, sie sind nicht nur sachlich falsch, sondern geradezu gefährlich, weil sie die eigentlichen Bedingungen verdecken. Moral und Religion sind nicht ehrlich. Wie es der Aphorismus zu Beginn sagt: Das „Prinzip des ,Glaubens"' ist nur das armselige Ausweichen vor der Realität. Tugenden und Glaubensgegenstände sind bloß sekundär, und Nietzsches psychologische Analytik versteht es, diese verkehrte Natur zu sezieren: Wer Moral und Religion, Sollensgebote und Glaubenströstungen nötig hat, ist nicht mehr gesund, ist schon gescheitert, längst verdorben; „leicht, notwendig, frei" dagegen ist das „Gute" - verstanden als Instinkt (Nr. 2)! Was aber ist dieser Instinkt? Das Gegenteil zu allen geistigen Ideen und Verursachungen: Die menschlich ureigene Sinnlichkeit im unmittelbaren Verhältnis zu sich selbst, so lehrt es Zarathustra: „Aber dies bedeute euch Wille zur Wahrheit, dass alles verwandelt werde in Menschen-Denkbares, Menschen-Sichtbares, Menschen-Fühlbares! Eure eignen Sinne sollt ihr zu Ende denken!"147 (2) Besonders die neuzeitliche - und vielleicht alle bisherige Philosophie des Geistes wird damit zurückgestürzt in einen Naturgrund, von dem sie sich (zu Unrecht) abzuheben meinte. Die idealistisch gedachten Kausalitäten (einschließlich der naturwissenschaftlichen!) verfallen der Kritik, und das liest sich so (Nr. 3): „Und wir hatten einen artigen Missbrauch mit jener ,Empirie' getrieben, wir hatten die Welt daraufhin geschaffen als eine Ursachen-Welt, als eine Willens-Welt, als eine Geister-Welt. Die älteste und längste Psychologie war hier am Werk, sie hat gar nichts andres getan: alles Geschehen war ihr ein Tun, alles Tun Folge eines Willens, 147 Also sprach Zarathustra (1883-85), 2. Teil, in: Nietzsche, aaO. 344; vgl. KSA 4, 109f. - Zur Bestreitung des Gottesbegriffs in diesen Zarathustra-Stellen vgl. die Kommentierungen von E. Jüngel (1977), 197ff.
§ 8: Religionskritik
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die Welt wurde ihr eine Vielheit von Tätern, ein Täter (ein .Subjekt') schob sich allem Geschehen unter. Der Mensch hat seine drei ,inneren Tatsachen', das, woran er am festesten glaubte, den Willen, den Geist, das Ich, aus sich herausprojiziert - er nahm erst den Begriff Sein aus dem Begriff Ich heraus, er hat die ,Dinge' als seiend gesetzt nach seinem Bilde, nach seinem Begriff des Ichs als Ursache. Was Wunder, dass er später in den Dingen immer nur wiederfand, was er in sie gesteckt battei - Das Ding selbst, nochmals gesagt, der Begriff Ding ein Reflex bloß vom Glauben ans Ich als Ursache ... Und selbst noch Ihr Atom, meine Herren Mechanisten und Physiker, wie viel Irrtum, wieviel rudimentäre Psychologie ist noch in Ihrem Atom rückständig! - Gar nicht zu reden vom ,Ding an sich', vom horrendum pudendum der Metaphysiker! Der Irrtum vom Geist als Ursache mit der Realität verwechselt! Und zum Maß der Realität gemacht! Und Gott genannt! - "
Hier wird nicht Gott (atheistisch) geleugnet zugunsten einer angeblich empirischen Wirklichkeit, sondern jede Art von Kausalerklärung wird als unzulässige, psychologisch erklärbare Fehltheorie angeprangert. Vom alltäglich plausiblen Schema Wille/Handeln her wurde eine geistige, subjektive, mechanistische Ursache-Folge-Relation als tatsächlich („empirisch") ausgegeben, die doch immer nur Denkprodukt, besser: Glaubensprodukt des Menschen war. Es gibt überhaupt keine Ursachen „an sich", weder physisch noch metaphysisch; und dieser Widerspruch zur Tradition stürzt das Denkmal Gottes, des Inbegriffs aller Letztverursachung (in christlich-scholastischer Tradition). Dabei geht für Nietzsche schon ganz selbstverständlich voraus, dass Gott wissenschaftlich nicht bewiesen werden kann, weil die Methode der Wissenschaft sich vom religiösen Glauben zwingend unterscheidet: Der Glaube betrifft die existentielle Einstellung, die moderne Wissenschaft objektiviert. 148 Nietzsches Position nach Kant besteht eben nicht darin, in der Frage Theismus/Atheismus nun Objektivität gegen Existentialität auszuspielen, sondern beides zu destruieren. Schon in seiner Studentenzeit notierte Nietzsche den Satz: „Die Wissenschaft hat etwas Todtes" 149 , d.h. von ihrer Objektivierungs- und Quantifizierungsleistung ist genauso wenig Hilfe zu erwarten wie von den verfehlten (idealistischen) Verursachungstheorien, die besonders folgenschwer in Moral und Religion ihr Un-Wesen treiben. Noch anders gewendet: Weil Wissenschaft für das (emphatisch bestimmte) Leben nichts hergibt, ist Nietzsche so erpicht auf die Religion und ihre Fehler. Denn
148 Vgl. die Nachweise bei J . Figi, aaO. 62-71. 149 Vgl. bei Figi, 258; dazu auch die Textgruppe „Die .Vernunft' in der Philosophie" in: Götzen-Dämmerung, aaO. 957 (Nr. 1); vgl. KSA 6, 74: „Alles, was die Philosophen seit Jahrtausenden gehandhabt haben, waren Begriffs-Mumien; es kam nichts Wirkliches lebendig aus ihren Händen. Sie töten, sie stopfen aus, diese Herren Begriffs-Götzendiener [...]."
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II. Reformatorische und neuzeitliche Tradition
gegen die wissenschaftlichen Abstraktionen müsste das Leben selbst zum Zuge kommen, was die Religion verspricht, Nietzsche ihr aber gerade nicht mehr zutraut. Im Gegenteil: Religion hat dazu gedient, die Lebendigkeit der Frage nach dem Leben zu verschütten und zu ersetzen durch Schwächeerklärungen, wie sie beispielhaft der zweite Aphorismus gleich zu Beginn als die Demut des Wurmes anprangert: Purer Kampf ums Dasein führt zu einer bestimmten Reaktion, die als solche lobenswert, klug und gut genannt werden muss; doch der religiöse und moralische Dreh unterstellt ein frommes Motiv, wo es ums nackte Uberleben geht. Solche falschen Verursachungstheorien nennt Nietzsche „imaginär" (Nr. 4)! (3) Die kritische Aversion: Glaube, Moral und Religion beruhten auf imaginären und also verirrten Verursachungszuschreibungen, begründet sich nicht in einem theoretisch zu führenden Gottesbeweis mit negativem Ausgang, sondern gibt sich als genealogische, psychologische Erklärung (Nr. 5)1d0: Mit gewohnten, eingefahrenen Mustern („Der Bankier denkt sofort ans ,Geschäft', der Christ an die ,Sünde', das Mädchen an seine Liebe.") versuchen wir zu begründen, was uns als Unerklärbares widerfährt. Hier legt nun Nietzsche nicht ein reales Widerfahrnis zugrunde, sondern er geht auf den körperlichen Instinkt zurück, auf „drückende Vorstellungen" (Nr. 5), „physiologische Notstände", „Lust- oder Unlust-Gefühle" (Nr. 6). Diese sind die wahren Ursachen, aus denen die psychologisch verständlichen Fehlerklärungen höherer Verursachungen stammen. Sünde etc. - das sind die Folgen (von körperlichen Zuständen), keineswegs die Ursachen. Doch darf diese Erklärung nicht missverstanden werden als irgendeine Form von materialistischer oder naturalistischer Weltanschauung - denn dann wäre sie selbst wieder eine verfehlte Ursachentheorie. Nietzsche ist konsequent auch im Blick darauf, dass dem Muster der Verursachung (dem der kosmologische Gottesbeweis entspricht) das Muster des Zweckes korrespondiert (zu dem der teleologische Gottesbeweis gehört). Nichts dergleichen ist anzuführen, nichts dem Menschen als Instinktwesen Fremdes kann gelten! Das erst erklärt Nietz-
150 Vgl. die bei Figi, 263, zitierte Stelle aus der Morgenröte (1881; in: Nietzsche, Werke Bd. I, 1073 [Erstes Buch, Nr. 95]; vgl. KSA 3, 86): „Ehemals suchte man zu beweisen, dass es keinen Gott gebe, - heute zeigt man, wie der Glaube, dass es Gott gebe, entstehen konnte und wodurch dieser Glaube seine Schwere und Wichtigkeit erhalten hat: dadurch wird ein Gegenbeweis, dass es keinen Gott gebe, überflüssig." - Zur kritischen Darstellung von Nietzsches Begriff und Praxis der „Genealogie" vgl. H. Joas (1999), 42ff.
§ 8: Religionskritik
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sches verbissenes Insistieren auf der ganz und gar menschlichen Eigenerfahrung ohne jede theoretische Herleitung (Nr. 8): „Was kann allein unsre Lehre sein? - Dass niemand dem Menschen seine Eigenschaften gibt, weder Gott, noch die Gesellschaft, noch seine Eltern und Vorfahren, noch er selbst [...]. Niemand ist dafür verantwortlich, dass er überhaupt da ist, dass er so und so beschaffen ist, dass er unter diesen Umständen, in dieser Umgebung ist [...] - es ist absurd, sein Wesen in irgendeinen Zweck hin abwälzen zu wollen. Wir haben den Begriff ,Zweck' erfunden: in der Realität fehlt der Zweck ... Man ist notwendig, man ist ein Stück Verhängnis, man gehört zum Ganzen, man ist im Ganzen, - es gibt nichts, was unser Sein richten, messen, vergleichen, verurteilen könnte, denn das hieße das Ganze richten, messen, vergleichen, verurteilen ... Aber es gibt nichts außer dem Ganzen! - Dass niemand mehr verantwortlich gemacht wird, dass die Art des Seins nicht auf eine causa prima zurückgeführt werden darf, dass die Welt weder als Sensorium, noch als ,Geist' eine Einheit ist, dies erst ist die große Befreiung - damit erst ist die Unschuld des Werdens wieder hergestellt ... Der Begriff ,Gott' war bisher der größte Einwand gegen das Dasein ... Wir leugnen Gott, wir leugnen die Verantwortlichkeit in Gott: damit erst erlösen wir die Welt. - "
Kein Verlustgefühl soll hier mehr aufkommen dürfen: Dass die causa prima, der christlich-scholastische Ordnungs- und Seinsbegriff entfällt, wird als Erlösung gefeiert; dass Ursachen und Zwecke psychologisch in ihrer Entstehung erklärt werden können, führt nicht zum respektablen Konstatieren einer „natürlichen Illusion", womit Kant seine Kritik des „transzendentalen Ideals" immerhin verständnisvoll beschließen konnte131, sondern zum neu-religiösen Gegenprogramm: der Verkündigung der endgültigen Befreiung des Menschen zu sich selbst. In seinem Werden erst kommt der Mensch instinktiv und also sinnlich und wirklich zu sich selbst. Erfahrung und Selbsterfahrung als letzte Instanz sind für Nietzsche keine Begründung, sondern ein Selbstvollzug, der freigegeben werden muss. Der Gottesgedanke erscheint demgegenüber als die Verhinderung dieses Werdens und Selbstwerdens; eine psychologisch erbärmliche Konstruktion, die nicht den Mut hatte, dem eigenen ungeschützten Werden ins Angesicht zu blicken. Auf diesen Punkt starrt Nietzsches Religionskritik, das ist ihre spezifische Erfahrung. Würde Religion dem Werden standhalten können, würde die offen und ehrlich gesuchte „radikalere Immanenz"152 entdecken, dass sie ohne künstliche Jenseitsfixierungen auskommen und doch religiös transzendierend gerade zu dieser Welt und den Menschen zurückkehren kann dann wäre Nietzsches Gewaltakt einer alles vernichtenden Autarkie1=3
151 S. § 8.1, Anm. 14; § 8.2.3, Anm. 88. 152 A. Gran (2006), 151; vgl. 161f. 153 G. Figal (2001), 223ff.
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II. Reformatorische und neuzeitliche Tradition
des Machtwillens, der nur noch sich selbst kennt, metakritisch aufgelöst. Der schwerfällige Gestus, zugleich alle Wissenschaft, jede Generalisierung und alle Gefühlswelten entlarven zu müssen, wäre als unzulässige Verzerrung zur Kenntnis zu nehmen154; und es würde wieder Platz geschaffen für die Einsicht, dass Erfahrung sich mehrfach zusammensetzt und genealogische Zwangsmaßnahmen nicht verträgt: Die Eigenständigkeit des (instinktiv wirkenden) Gefühls gehört zu ihr ebenso wie die sinnliche Welt der Dinge und die (überprüfbare) Generalisierungs- und Zuschreibungsfähigkeit des Denkens. 1 " Diese Zuordnung kann dem radikalen Werden gerecht werden, das jedenfalls müsste neuzeitlich gesehen die Religionsphilosophie leisten können.
154 Dafür hat, i m N a m e n des amerikanischen Pragmatismus und seiner Wissenschafts- wie Religionsauffassung, W . James, Die Vielfalt religiöser Erfahrung ([1901/02] 1997, 71) ein scharfes Plädoyer gegeben: „Die Gefühlslage eines Schopenhauer oder Nietzsche [...] ist fast ebenso oft von erhebender Traurigkeit wie von bloßer Ubellaunigkeit, die sich - ihre Beute i m Maul - davonmacht. Ein ums andere Mal erinnern einen die beiden deutschen Schriftsteller an das kranke Pfeifen zweier Ratten i m Todeskampf. Ihnen fehlt der reinigende Ton, den religiöse Traurigkeit freisetzt." 155 S. § 1, A n m . 4; § 1.4.3, A n m . 56; zur Kontingenz des Werdens s. § 2.2.5.a) u. b).
§ 9: Religion: Glaube und Handeln Kants Religionskritik war nicht unangreifbar, trotzdem aber von großer Wirkung. Denn sie lieferte nicht nur destruierende Erklärungen, sondern zugleich religionsphilosophisch wohl begründete Alternativen; und die zwingende Koppelung von Religion mit Moral, d.h. mit Gewissen, gutem Willen und wirklichem Tun des Guten, konnte sich auf integere Motive berufen, die der Religion zu neuer Anerkennung verhalfen. Tatsächlich bedeutet die transzendentalphilosophisch eröffnete Sonderstellung der Freiheit und des (vernünftigen) Religionsglaubens gegenüber der strengen Begriffsbildung des (naturwissenschaftlich orientierten) theoretischen Wissens bis heute die Chance, einen wissenschaftlich abgesteckten Freiraum zu nutzen1: In Religionsdingen müssen nicht mehr objektivierbare Gegenstände verteidigt werden, sondern die Bedingungen und Zielgebungen der Frage „Was darf ich hoffen?"2 sind das Maß dessen, was geglaubt werden kann. Zum Thema wird damit zugleich, welcher Begriff von Glaube zugrunde gelegt werden muss, und weil theoretisches und objektivierbares Wissen hierfür nicht in Frage kommen, ist es der (moralische) Horizont des Handelns, worin diese Thematik ihren Platz findet. Dementsprechend hat Kant 1
S. § 8.2. - Vgl. als frühes Beispiel für eine Theologie im Anschluss an Kant den Tübinger Philosophen und Theologen Gottlob Christian Storr, der bereits 1794 entdeckt, dass die Transzendentalphilosophie für „übersinnliche Gegenstände", die sie ausschließt, zugleich die Zuständigkeit verloren hat (G.Chr. Storr [1968], § 1 u. 5). - Theologie und Religionsphilosophie haben im 19./20. Jh. in unterschiedlichen Schulbildungen an die von Kant eröffneten Freiräume Subjekt- und moraltheoretisch anknüpfen können (vgl. R. Malter: Kant/Neukantianismus I, in: TRE 17 (1988), 570-581, hier: 576-580). Damit mussten aber die Voraussetzungen der Transzendentalphilosophie (s. § 8.2.3) übernommen werden, d.h. die (geisteswissenschaftliche) Trennung der Religionsphilosophie von den theoretischen Wissenschaften (im Sinne Kants) wird zur Selbstverständlichkeit. Zur den bekannten Positionen im dt. Idealismus 0.G. Fichte, Hegel und Schelling) vgl. in: N. Fischer (2004) die Beiträge v. E. Düsing, R.J. Berg, R. Langthaler; zur ev. Tradition exemplarisch E. Troeltsch (1998), 99f. u. Anm. (im Vgl. zu W . Herrmann), und H. Scholz' (1922), 234f., Verteidigung des „religiösen Existentialurteils"; zur kath. Tradition A. Winter (2000), P h J . Rossi (2005).
2
Vgl. die Erörterung der drei Grundfragen „Was kann ich wissen?"/„Was soll ich tun?"/,,Was darf ich hoffen?" im zweiten Hauptstück („Der Kanon der reinen Vernunft") der „Transzendentalen Methodenlehre" der KrV, Werke Bd. 4, A 804ff.
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II. Reformatorische und neuzeitliche Tradition
selbst „Glauben" als eine Form des „Fürwahrhaltens" bestimmt, das als „subjektiv zureichend" gilt, „objektiv" aber nicht; ist auch diese letztere Bedingung erfüllt, handelt es sich um - folglich höherrangiges - „Wissen".3 Was das „theoretisch unzureichende" am Glauben aber ausgleicht, ist seine „praktische Beziehung", d.h. die Bindung an die Moralphilosophie („Sittlichkeit") oder eine praktische Situation („Geschicklichkeit"); und es ist ebenfalls Kant, der den Begriff des „pragmatischen Glaubens" ins Spiel bringt, nämlich dann, wenn eine gegebene Handlungssituation (z.B. die des Arztes, der eine Entscheidung treffen muss) es unvermeidlich macht 4 : Glauben und Handeln korrespondieren. Allerdings in einer Sphäre, die vom Wissen deutlich unterschieden werden muss. Die Situation des Glaubens mag so ernst wie nur möglich genommen werden, analog der Freiheit (in der praktischen Philosophie) und der Betrachtung der Natur (gemäß der Urteilskraft) bleibt es bei einer - theoretisch eigentlich unzulässigen, jetzt aber gebotenen und dem jeweiligen Zweck entsprechend nützlichen - „Ansehung" im Sinne eines „Als-ob" in „Glaubenssachen'T Die Ernsthaftigkeit des Glaubens zugestanden bleibt er doch dem Wissen unterlegen und vom Maß der Moral abhängig. Letztlich ist es der kontrollierende Vorrang der Vernunft, der regiert, um Aberglaube, Schwärmerei etc. prinzipiell ausschließen zu können. Kritik an dieser Unterordnung der Religion wurde schon früh und mit gewichtigen Einwänden vorgebracht. Nicht um Einzelzüge musste gestritten werden, sondern um die Stellung der Vernunft: J.G. Herder (1744-1803) und J.G. Hamann (1730-1788) protestieren gegen eine 3
4
5
KrV, A 822. - Aus Kants eigener Sicht gilt allerdings (Vorrede zur 2. Aufl.), KrV, Β XXX: „Ich musste also das Wissen aufheben, um zum Glauben Platz zu bekommen"; d.h. die deutliche Absetzung des Glaubens gegenüber dem Wissen wird als Errungenschaft zur Verteidigung des ersteren ausgegeben. KrV, A 823f. - „Pragmatisch" nennt Kant die Wissenschaft, z.B. die „Anthropologie in pragmatischer Hinsicht" (1798), wenn sie „Menschenkenntnis" zur Voraussetzung hat, vgl. Werke Bd. 10, IVff.; vgl. G. Kühne-Bertram: Pragmatisch, in: HWP 7 (1989), 1241-1244. Vgl. KU, in: Werke Bd. 8, A XXVI (Vorstellung der „Zweckmäßigkeit der Natur [...] als ob"); KU § 32, A 134 (das „Geschmacksurteil bestimmt" das „Wohlgefallen", „als ob es objektiv wäre"); KU § 91, Β 457f. (was moralisch gesehen „angenommen werden muss [...] sind Glaubenssachen"); Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, in: Werke Bd. 6, A lOOf. (Handeln aus Freiheit muss dem Vernunftwesen zugesprochen werden, Vernunft muss „von ihr selbst als frei angesehen werden"); Die Metaphysik der Sitten, in: Werke Bd. 7, A 174 (ein heiliges Gesetz „wird so vorgestellt, als ob es nicht von Menschen" herkomme). Vgl. H. Deuser, Gottesinstinkt (2004), llf.; zur Verteidigung von Kants Position J. Simon (2006), 7ff.
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Vernunft ohne die vorrangige Anerkennung der (geschichtlichen) Sprachen, genauer: Sprache tritt unvermeidlich und „natürlich" mit der Reflexionsfähigkeit auf, sie wird zum „Kriterium der Vernunft" (Herder) 6 ; und in der Grundkonstellation der Transzendentalphilosophie deckt F.H. Jacobi (1743-1819) die Unstimmigkeit auf, dass Begriffe aposteriorisch an Sinnlichkeit gebunden sein sollen, während doch die „kopernikanische Wende" die Kategorien allein apriorisch begründet sehen muss. 7 Zur Wirklichkeit der Dinge kann die Philosophie aber nur gelangen, wenn sie mit der Vorgabe geschichtlichen Gewordenseins und Werdens einsetzt - und die Wirklichkeit nicht selbst konstruieren will: „wir alle werden im Glauben gebohren, und müssen im Glauben bleiben, wie wir alle in Gesellschaft gebohren werden, und in Gesellschaft bleiben müssen", schreibt Jacobi an seinen Mitstreiter in der Debatte um aufgeklärte Religionsphilosophie, Moses Mendelssohn (1729-1786). 8 In dieser Weise die Beachtung des Glaubens zu fordern bedeutet nicht, in ein Jenseits der Vernunft springen zu wollen, sondern vernünftig auf Bedingungen der Vernunft zurückgreifen zu müssen. Ein solches unmittelbares Verhältnis zu sich und den Dingen, das die theoretische Vernunft nicht entwickeln kann, primären Glauben also, hatte Kant an der Religion kritisiert, dabei aber übersehen, dass er selbst der „Vernunft, ihren Grundurtheilen, unbedingt vertraute"; und dieses Selbstmissverständnis der theoretischen Vernunft (in Kants erster KritiU), einmal geschehen, war dann durch die „praktische Vernunft" (Kants Moral- und die davon abhängige Religionsphilosophie) nicht mehr zu heilen: „was die theoretische (der Verstand) für Wissenschaft und Erkenntniß zerstört hatte, [konnte man] nicht außerhalb des Gebietes der Wissenschaft und Erkenntniß für den Glauben wieder auf-
6
7
Zur frühen These des gemeinsamen (natürlichen) Auftretens von Sprache und Denken vgl. J.G. Herder, Abhandlung über den Ursprung der Sprache (1772), Bd. 5 (1891), 34f.; zur späteren Position vgl. Verstand und Erfahrung. Eine Metakritik [...] (1799), Bd. 21 (1881), 317; vgl. E. Herms, Herder, in: TRE 15 (1986), 7095, 81f.; St. Majetschak: Sprache III, in: HWP 9 (1995), 1468-1495, 1480f.; O. Bayer (2002); zum Kontext der Dehatte um „Gott", angeregt durch Spinoza und geführt von M. Mendelssohn, Jacobi, Herder u.a. vgl. M. Bienenstock (2005). F.H. Jacohi, David Hume über den Glauben oder Idealismus und Realismus. Ein Gespräch (1787), Werke Bd. 2,1 (2004); vgl. E. Herms (1976); W. Metz (2004), 48.
8
F.H. Jacobi, Uber die Lehre des Spinoza m Briefen an den Herrn Moses Mendelssohn (1785), Werke Bd. 1,1 (1998), 115; vgl. G. Gabriel (2004), 153.
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richten". 9 Wenn Jacobi (im Gespräch mit Lessing und im Brief an Mendelssohn) die zwingende Rationalität in Spinozas Systemphilosophie für undurchführbar hält, wenn er daraus folgenden Fatalismus und Determinismus vermeiden will, so hilft nur eine radikale Drehung der Perspektive, um Handlungsfreiheit zurück zu gewinnen: Der „salto mortale", ein „Kopf-unter" garantieren eine „elastische Stelle"10, auf der ein wirklicher Mensch stehen, springen und sich fortbewegen kann. Die Welt so zu sehen aber heißt, Voraussetzungen machen zu müssen: Vorgängige „Gewissheit", ohne Gründe an erster Stelle anführen zu können, d.h. Glaube an sich selbst und die Dinge (eine „wahrhafte, wunderbare Offenbarung") geht ganz prinzipiell den „Vernunftgründen" voraus. 11
1. Belief und Faith (D. Hume, J.G. Hamann) In dieser Perspektive der Vernunftkritik überhaupt von Glaube zu sprechen, dazu hatte ausgerechnet die empiristische Erkenntnislehre D. Humes (1711-1776) Gelegenheit gegeben: „ I C H . [...] Hume's Essays! ER. Also wider den Glauben? ICH. Für den Glauben!" 12 - Diese Sichtweise wurde dadurch möglich, dass Hume außer Sinneswahrnehmungen und ihnen folgenden „Vorstellungen" („ideas") keine anderen Erkenntnisursprünge zuließ, die Ordnung der Dinge also nicht durch ideal vorgegebene oder allgemein gesetzlich (objektiv) geltende Zusammenhänge erklären konnte. Da zudem unbedingtes (sicheres) Wissen Mathematik und Logik anvertraut sind, kommt im Bezug auf Wirklichkeitserkenntnis, d.h. die Relation zwischen den Dingen (z.B. im Sinne des Kausalitätsprinzips), nur die aus Gewohnheit begründbare Stiftung von Zusammenhangsbildung durch Glauben in Frage. 13 Glaube 9 10
11 12 13
F.H. Jacobi, Von den göttlichen Dingen und ihrer Offenbarung (1811), Werke Bd. 3 (2000), 88. Jacobi, Uber die Lehre des Spinoza, aaO. 20,16£; 30,10-14. - Das Bild vom Sprung könnte hier bereits von Lessing veranlasst sein, vgl. den Kommentar zur Stelle, in: Werke Bd. 1,2, S. 398. S. Kierkegaard wird sich in seiner Anknüpfung an Lessing ausdrücklich darauf beziehen, vgl. Unwissenschaftliche Nachschrift, Erster Teil (1846), SKS 7, 97ff.; dt. Ges. Werke 16. Abtig., 92ff.; vgl. K.-M. Kodalle (2004), 395ff., 411ff. Jacobi, aaO. 115f. Jacobi, David Hume, aaO. 13. - Vgl. E. Herms (1992), 468f. (auch zur Unterscheidung von „belief" und „faith"); H. Schulz (2001), 12. D. Hume, Em Traktat über die menschliche Natur (1739), Buch I (1989), 131 (Teil III, Abschn. 7): „Die Vernunft kann uns niemals überzeugen, dass die
§ 9: Religion: Glaube und Handeln
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(belief) in dieser allgemeinen, erkenntnistheoretisch notwendigen Stellung ist also eine natürliche (instinktive) Gewohnheitsreaktion 14 , die sich von bloßer Einbildung wiederum dadurch unterscheiden lassen muss, dass ebenso naturgegeben sich durch „Empfindung" („feeling") und „Gefühl" („sentiment") eine Intensitätsdifferenz einstellt: „Hierin bestellt das ganze Wesen des Glaubens [belief]. Denn da es keine Tatsache gibt, an die wir so fest glauben, dass wir nicht ihr Gegenteil vorstellen könnten, so gäbe es keinen Unterschied zwischen dem Vorstellungsbild, dem man zustimmt, und jenem, das man verwirft, wenn es nicht ein Gefühl gäbe, das eines vom anderen unterscheidet."1''
Uber die Wahrheit des Glaubens entscheidet das ihn begleitende und dadurch sich auszeichnende Gefühl! Hume kann für die Differenz zwischen berechtigtem Glauben und falschem Vorstellungsbild keine anderen Kriterien oder Gegenstandsmerkmale geltend machen als allein die besondere „Art" der Empfindung, die jeder Mensch kennt und problemlos unterscheiden kann. Eine darüber hinausgehende Erklärung dieser Empfindung kann nicht geben werden.16 Es ist bereits dieser allgemeine Sinn von belief als gewohnheitsmäßige, gefühlsbegleitete Uberzeugungsbildung, die die aufgeklärten Kritiker der vernunftreglementierten Religionsdarstellung Kants veranlasste, auf Hume zurückzugreifen. Erst recht aber Humes - wenn auch von massiver Religionskritik begleitete - Verteidigung des religiösen Glaubens (faith) als gerade nicht durch Vernunftgründe beweisbar17, musste den Blick auf Funktion und Begriff des Glaubens schärfen. Etwas zu glauben ist dann nicht durch bloßes Defizit an Wissen abgeExistenz eines beliebigen Gegenstandes die eines anderen in sich schließe. Wir werden also, wenn wir vom Eindruck eines Gegenstandes zur Vorstellung oder zum Glauben an einen anderen übergehen, nicht durch die Vernunft, sondern durch die Gewohnheit oder ein Prinzip der Vorstellungsverknüpfung geleitet." - Vgl. E. Herms (1983); J . Kulenkampff (1989), 75ff.; K. Huxel (2004), 63-67. 14
Vgl. D. Hume, Eine Untersuchung (1973), 59f. (V. Abschn.).
über den menschlichen
Verstand
(1748),
15
Hume, aaO. 61.
16
AaO. 61f.
17
Vgl. aaO. 154 (X. Abschn.: „Uber Wunder"): „Ich bin mit der hier entwickelten Methode der Vernunfttätigkeit um so zufriedener, als sie meines Erachtens dazu dienen kann, jene gefährlichen Freunde oder versteckten Feinde der christlichen Religion abzuführen, die es unternommen haben, sie mit den Prinzipien der menschlichen Vernunft zu verteidigen. Unsere allerheiligste Religion gründet sich auf Glauben, nicht auf Vernunft." - Zu Humes Wunderkritik vgl. H. Schulz (1996), bes. 35ff.; zu Humes Kritik des Theismus H. Deuser, Gottesinstinkt (2004), Kap. 9.
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II. Reformatorische und neuzeitliche Tradition
stuft, sondern umgekehrt durch eine Zusammenhang bildende Weltsicht ausgezeichnet, die der reflektierenden Vernunft sonst gar nicht zugänglich werden würde, jedenfalls durch sie selbst nicht ableitbar erscheint. J.G. Hamann hat sich in diesem Punkt am entschiedensten auf Hume berufen und ihn im Blick auf den religiösen Glauben auch am schwungvollsten überholt: „Unser eigen Daseyn und die Existentz aller Dinge ausser uns muß geglaubt und kann auf keine andere Art ausgemacht werden. Was ist gewisser als des Menschen Ende, und von welcher Wahrheit gibt es eine allgemeinere und bewährtere Erkenntnis? Niemand ist gleichwohl so klug solche zu glauben, als der, wie Moses zuverstehen giebt, von Gott selbst gelehrt wird zu bedenken, daß er sterben müsse. Was man glaubt, hat daher nicht nöthig bewiesen zu werden, und ein Satz kann noch so unumstößlich bewiesen seyn, ohne deswegen geglaubt zu werden. [...] Der Glaube ist kein Werk der Vernunft und kann daher auch keinem Angrif derselben unterliegen; weil Glauben so wenig durch Gründe geschieht als Schmecken und Sehen.«1*
(1) Der erste Satz dieser Textpassage resümiert Hamanns HumeLektüre 19 : Das Selbst- und Weltverhältnis ist Gegenstand von beliefs, die auf naturalen Gewohnheitsbildungen und Gefühlsgewissheiten basieren. Insofern ist Glaube die allgemeine und notwendige Voraussetzung aller Sachverhaltsurteile. Hamann geht mit dem zweiten und dritten Satz aber sofort über diesen allgemeinen Befund hinaus und greift das existentielle Phänomen auf, dass die allgemeine conditio humana, sterben zu müssen, gleichwohl nicht einem ebenso gewissen und wirksamen belief entspricht, sondern dass hier als Zusatzproblem die Verbergung des Offensichtlichen dazwischen kommt. Im Verweis auf Psalm 9020 wird deshalb als allein problemlösend ein zweiter Begriff von Glaube (im Sinne von faith) eingeführt: Der Glaube bezüglich Anfang und Ende der Existenz ist ebenso eine gegebene Voraussetzung, aber nicht aufgrund naturaler Gewohnheitsbildung, sondern aufgrund einer kreativen Beziehung zum Unbedingten: „von Gott selbst gelehrt". So hatte es Hume nicht gesehen, und diese Doppelbödigkeit im Umgang mit der Vorlage macht für Hamann gerade den Effekt und ist ihm 18 19
20
J.G. Hamann, Sokratische Denkwürdigkeiten (1759), (1974), 51 (Nadler, Bd. II, 73 f.). Sie ist zeitgleich belegt im Brief an J.G. Lindner vom 3.7.1759, in: Briefwechsel, Bd. 1, 353ff., hier: 355f.; vgl. den Kommentar zur Stelle v. Sv.-Aa. Jorgensen, in: Hamann, Sokratische Denkwürdigkeiten, aaO. 50; O. Bayer: Hamann, in: TRE 14 (1985), 395-403, 396f. Ps 90, 12: „Unsere Tage zu zählen lehre uns!/Dann gewinnen wir ein weises Herz." - In M. Luthers Ubers.: „Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden."
§ 9: Religion: Glaube und Handeln
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durchaus bewusst. Humes Religionskritik wird kraft seines Glaubensbegriffs gegen ihn selbst gewendet und ganz anders verstanden: „Wie die Natur den Boden giftiger Kräuter mit Gegengiften in der Nähe beschenkt; und der Nil den Crocodil mit seinem Meuchelmörder zu paaren weiß: so fällt Hume in das Schwerdt seiner eigenen Wahrheiten." 21 (2) Das Verhältnis von Glaube und Vernunft ist dann nicht mehr eines, in dem die aufgeklärte Vernunft die Bedingungen diktiert, sondern das fundamentale Eigenrecht des Glaubens tritt ins Licht: Glaube liegt guten Gründen schon voraus. Hamann und Jacobi sind in dieser, vor allem gegen Kant gerichteten Kritik der Vernunftansprüche einig gewesen. In seiner Metakritik über den Purismum der Vernunft (1784) hat Hamann ausdrücklich Kants Trennung der „Stämme der menschlichen Erkenntnis": „Sinnlichkeit" und „Verstand" als künstlich und unangemessen verworfen. Im Bild gesprochen: „so würd' ich dem Leser die Augen öffnen, dass er vielleicht sähe - Heere von Anschauungen in die Veste des reinen Verstandes hinauf- und Heere von Begriffen in den tiefen Abgrund der fühlbarsten Sinnlichkeit herabsteigen". 22 Kants Ausgangspunkte derart fundamental in Frage zu stellen betrifft damit die Möglichkeit, überhaupt von der (höherrangigen) Reinheit des Begriffs zu sprechen. Es geht deshalb auch nicht um eine anders gelagerte Grenzziehung zwischen Vernunft und Glaube, sondern um die ganz andere Zuständigkeit des Glaubens. Denken und Glauben liegen offenbar auf anderen Ebenen, und das Geglaubte muss gar nicht verteidigt werden - wie es die Sokratischen Denkwürdigkeiten mit Macht zum Ausdruck bringen. Besonders aufschlussreich ist die dafür gewählte Analogie von „Schmecken und Sehen"·. So wie sinnliche Gewissheiten weder Beweis noch Gründe brauchen, so auch der Glaube (als belief und erst recht als faith). Begriffe folgen aus dem kreativen Vorrang der Sinnlichkeit, und diese hat ihren Ort in der Bildkraft der Sprache. (3) Glaube, Sprache und Bilder gehören auf die Ebene der Sinnlichkeit, unterliegen gar nicht dem direkten Zugriff der deduktiven Begrifflichkeit. Es ist Gottes Schöpferkraft, die allem vorausliegend bildkräftig wirksam wird: „Sinne und Leidenschaften reden und verstehen nichts als Bilder. In Bildern besteht der ganze Schatz menschlicher Erkennt-
21 22
Briefwechsel, aaO. 355. Hamann, Metakritik, in: Nadler, Bd. III, 286, 287; vgl. O. Bayer (2002), 337ff., 362ff. ; s. § 8.2.3, Anm. 85.
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II. Reformatorische und neuzeitliche Tradition
niß und Glückseeligkeit. [...] in dem Worte: Es werde Licht!"23 - Aufklärung bleibt Erleuchtung, aber mit der Gewähr sinnlicher Nähe. Dass diese Nähe zugleich verborgen und sokratisch unwissend sein muss, macht ihren existentiellen und dialektischen Ubergang zum Denkvermögen aus. Bildhaft zu verstehen setzt die lebensweltlich unmittelbare Situation der „Gotteskindschaft"24 voraus, der Erniedrigung zum Entdecken des Höchsten. Schöpfung, Poesie, Bildkraft und Glaube (faith) haben ein gemeinsames, für humanes Selbst- und Welt- Verstehen konstitutives Zentrum. (4) Dass „Glaube kein Werk der Vernunft" ist, bedeutet nicht, es ließe sich vernünftig nichts über den Glauben sagen oder ermitteln. So literarisch gespickt, existentiell indirekt und die Strategie der Anspielungen auf die Spitze treibend Hamann auch vorgeht, es gibt Gründe dafür, dass der (allgemeine wie der religiöse) Glaube nicht unterschätzt werden dürfen. Humes erkenntniskritische Auszeichnung des Glaubens ( b e l i e f ) und sein davon noch einmal unterschiedener Sprachgebrauch von faith waren für Hamann der willkommene Anlass, im sokratischen Nicht-Wissen die vernünftige Begründung für das generelle Vorrecht des Glaubens zu sehen: „Die Unwissenheit des Sokrates war Empfindung,"23 Damit ist dem Wissen gegenüber kein Nachteil angezeigt, sondern der Vorteil, sich nicht über Sinnlichkeit, Sprache und den jeweiligen Lebens- und Handlungszusammenhang hinwegsetzen zu müssen. Für all dies steht der Glaube, aus Hamanns Sicht als belief und faith, die beide ihre Leistungsfähigkeit nicht in der vernünftig ableitbaren Wahrheit oder Falschheit eines prüfbaren Satzes haben, sondern diesen Verfahren vorausgehend und immer mitlaufend im produktiven Horizont des nicht-wissenden, mitempfindenden Glaubens. Glaube, so fundamental verstanden, gilt der Selbst- und Welter23
24
25
Hamann, Aesthetica in nuce (1974), 83 (Nadler, Bd. II, 197); vgl. im Brief an Lindner vom Aug. 1759, in: Briefwechsel, Bd. 1, 393f.: „Ist es nicht eine Erniedrigung für unsere Gedanken, dass sie nicht anders sichtbar gleichsam werden können, als in der groben Einkleidung willkürlicher Zeichen und was für ein Beweiß Göttlicher Allmacht - und Demuth". Vgl. Hamanns Fünf Hirtenbrife das Schuldrama betrffend (1763), in: Nadler, Bd. II, 351-368, hier bes. 363; dazu O. Bayer (1987), 61; und besonders schön entwickelt in der Auslegung von S. Kierkegaards (von Hamann abhängigem) Fragment Uber die Kunst, Kindern Geschichten zu erzählen (vgl. DSKE 1, 132— 143 [Journal BB:37] bei H. Steffes (2006), 173-187, hier bes. 185. Sokratische Denkwürdigkeiten, aaO. 49 (Nadler, Bd. II, 73); vgl. ebd.: „Zwischen Empfindung aber und einen [sie!] Lehrsatz ist ein grösserer Unterschied als zwischen einem lebendigen Thier und anatomischen Gerippe desselben."
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fahrung in einer Ganzheit, die dem Wissen in dieser Weise entzogen bleiben muss, die sich aber dem religiösen (empfindenden) Glauben im Verhältnis zum so thematisch werdenden Unbedingten: im Gottesverhältnis - erschließt. Wird aus heutiger Sicht der Glaubensèegrzj/^ genauer analysiert und von einer prinzipiellen Unterscheidung in drei Grundformen ausgegangen26: • • •
doxastischer Glaube („glauben, dass") testimonialer Glaube („jemandem etwas glauben") personaler Glaube („an jemanden glauben"),
so läge es zunächst nahe, alle drei Formen als belief einzustufen, von denen dann drei Formen von faith abzuheben wären für den Fall, dass eine Unbedingtheitsrelation ins Spiel kommt. Nun ist aber bereits in der Definition dieser Glaubensformen als „gefühlsdispotionelles Fürwahrhalten" 27 nicht nur deren Ereignis-, Akt-, Zustimmungs-, Handlungs- oder Einstellungszusammenhang mit gemeint, sondern auch ein Ganzheitsaspekt „impliziten Wissens" (M. Polanyi), der vorbewusst im synthetischen Erfassen der Dinge aktiv ist und insofern mit dem Charakter des Unbestimmten, aber zugleich Unvermeidlichen und Unbedingten auftritt.28 Das gilt erst recht für den personalen Glauben, der im Akt des „Vertrauens" und des „Sichverlassens"29 schon auf den ersten Blick eine Unbedingtheit ins Spiel bringt, wie sie für den religiösen Glauben dann thematisch und allein ausschlaggebend ist. Für Hamann liegt der integrierende Gesichtspunkt für die ontologische, d.h. die schöpferische Einheitlichkeit von belief und faith einfach in der Tatsache, dass und wie Menschen auf Zeichenvermittlung, Bilder, Sprache und lebendigen Sprachgebrauch angewiesen sind.30 Diese Angewiesen26
H . Schulz (2001), 229; zur Ahgrenzharkeit der drei Grundformen und jeweils verwandter Begriffe vgl. aaO. § 13-15.
27
A a O . 232ff. (§ 13). - „Disposition" wird hier (mit R . Audi) gefasst als „die latente Bereitschaft oder Tendenz [...], ,to act or react in characteristic ways in certain situations'" (aaO. 234).
28
Vgl. Schulz, aaO. 2 6 0 - 2 6 5 ; vgl. M. Polanyis Programm zusammengefasst in dem Satz (zit. nach Schulz, 260): „All knowledge is fundamentally tacit, ... it ... includes far more than we can tell".
29
Vgl. Schulz, § 15; zur Differenzierung von „Vertrauen" und „Sichverlassen" §
30
Vgl. zur Auslegung von Hamanns These, die Sprache sei „das einzige erste und letzte Organon und Kriterion der Vernunft, ohne ein ander Creditiv als Ueberlieferung und Usurn" (Metakritik, Nadler, Bd. III, 284), J . Kreuzer (2004). Die Verbindungslinien in der Sprachauffassung mit Augustin, Meister Eckhart und
16.
236
II. Reformatorische und neuzeitliche Tradition
heit in allen Erkenntnis-, Lebens- und Handlungssituationen ist unbedingt, ihr Medium ist die Empfindung und die allein angemessene Reaktionsform der Glaube.
2. Gott und Welt - Zweifel und Existenz Welcher wissenschaftliche Status dem Glauben generell noch zugesprochen werden konnte, war seit den großen philosophischen Systemen des 17. Jh. abhängig davon, wie die Welt, Gott und deren Verhältnis zueinander gedacht werden konnten. In der Ablösung von den Vorgaben der Scholastik ist es eine sehr aktive neuzeitliche Metaphysik, die sich immer mehr am naturwissenschaftlich-mathematischen Erkenntnisideal orientiert, deshalb die vorneuzeitlichen Traditionen und ihre Autoritäten kritisch distanziert und theologische Fragestellungen in eigener Regie wahrnimmt. Zwischen Kirche und ihrer Theologie einerseits, Metaphysik und ihren theologischen Implikationen andererseits muss immer deutlicher getrennt werden, und es sind nicht zuletzt Verfolgungen durch kirchliche oder staatliche Behörden, die die kritische Philosophie in die Selbständigkeit zwingen - und damit die Eigenständigkeit der Religionsphilosophie Ende des 18. Jh. vorbereiten. Herausragend für das 17. Jh. sind Leben und Werk von R. Descartes (15961650), Β. de Spinoza (1632-1677) und G.W. Leibniz (1646-1716). 31 Rationalität der wissenschaftlichen Methode, konsequente Anwendung der neuesten metaphysischen Begriffsbildungen auf den Gottes- bzw. Weltbegriff und zentrale Orientierung an der Lebenseinstellung bzw. Ethik sind diesen Autoren gemeinsam. Es sind die Reflexionen zur Methode der Wissenschaft, mit denen Descartes das Programm dieser neuzeitlichen Metaphysik vorgibt, und es ist der neu eingesetzte Begriff der Substanz 32 , mit dem er die Ablösung von der scholastischen Tradition vollzieht. Spinoza und Leibniz haben diese Programmatik aufgenommen und entscheidend verändert 33 , es bleibt aber bei der neuen
31 32 33
Nikolaus von Kues lassen sich bündeln in der Begriffsbildung einer „apriorischen Aposteriorität" (Kreuzer, aaO. 68) der Sprache, einem „Universum kreatürlicher Zeichen", dem gegenüber die Vernunft nicht „den Status eines externen Beobachters" einnehmen kann (aaO. 70). Vgl. H . Poser (2003); Kl. Hammacher: Spinoza/Spinozismus, in: TRE 31 (2000), 687-695; W . S p a m (2001). S. § 6.1. Vgl. St. Grätzel/A. Kreiner (1999), 29ff.; H. Poser (2003), 15f. u.ö.; zur Bedeutung von Leibniz' Theodizee s. § 18.2.
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Autorität der wissenschaftlichen Methode: Ihre Rationalität ist eine Forderung an die Klarheit der Begriffe, und deren (rationale und/oder empirische) Begründbarkeit führt zugleich zur Kritik und Anwendung kritischer Verfahren gegenüber den Texten, die bisher autoritativ in Geltung standen. Spinoza ist der innovative und weithin wirkende Lehrer in beiden Punkten, G.E. Lessing34 wird dann die (biblische) Textkritik im Name der Aufklärungsepoche und gegen die (kirchliche) Theologie unabdingbar machen. Beides, die rationale Einstellung mit theologischem Interesse und die radikal veränderte Einstellung zu den autoritativen Texten, lässt sich in markanten Zitaten illustrieren: (1) Descartes schreibt in der Widmung seiner Meditationen theologische Fakultät zu Paris:
(1641) an die
„Ich bin immer der Ansicht gewesen, dass es gerade die beiden Fragen über Gott und die Seele sind, die man eher mit den Mitteln der Philosophie als mit denen der Theologie zu beantworten habe. [...] Es ist durchaus wahr, dass man an Gottes Dasein glauben muss, da es ja in den heiligen Schriften gelehrt wird, und umgekehrt, dass man an die heiligen Schriften glauben muss, da sie ja von Gott stammen [...] - dennoch, Ungläubigen kann man dies nicht vorhalten, denn sie würden es für einen Zirkelschluss erklären." 35
Es trifft zu, dieser Zirkelschluss wird nicht nur Ungläubigen, sondern allen („vernünftigen") Menschen auffallen 36 . Doch Descartes' Schrift wird allen Ernstes einen doppelten Gottesbeweis (in der 3. und der 5. Meditation) vorlegen 37 , der die Theo-logie im strengen wissenschaftlichen Sinn der (kirchlichen) Theologie entzieht, für die Metaphysik reklamiert und damit bereits Religionsphilosophie praktiziert. (2) I. Kant schreibt, die Bedeutung der historischen Kritik für die Theologie bereits resümierend, am 8. April 1774 an J.G. Hamann - und diese Bemerkung spricht für sich selbst: „Wenn eine Religion einmal so gestellet ist, dass critische Kenntnis alter Sprachen, philologische und antiquarische Gelehrsamkeit die Grundveste ausmacht, auf die sie 34 35 36
37
Zum Einfluss Spinozas s. § 9, Anm. 6 u. 8. R. Descartes, Meditationen, (1960), lf. So der Theismus-Kritiker und -Experte J.L. Mackie (1985), 16, der in ironischer Absicht auf dieses „ironische Widmungsschreiben" Descartes' aufmerksam macht. H. Poser (2003), 99ff., spricht von drei Beweisen, nämlich zwei unterscheidbaren in der 3. Meditation (dem Gottesgedanken aus der vorgefundenen Klarheit „natürlicher Einsicht" und der mit dem Geschaffensein der Welt vorauszusetzenden „Substanz" Gottes).
238
II. Reformatorische und neuzeitliche Tradition
durch alle Zeitalter und in allen Völkern erbauet seyn muß, so schleppt der, welcher im Griechisch-Hehräisch-Syrisch arabischen pp imgleichen in den Archiven des Alterthums am besten bewandert ist, alle Orthodoxen, sie mögen so sauer sehen wie sie wollen, als Kinder, wohin er will; sie dürfen nicht muchsen". 3 8
2.1. Substanzen ohne Zweifel (R. Descartes) Descartes ist Mathematiker und Naturwissenschaftler, und die Klärung der wissenschaftlichen Methode erfolgt im Horizont der hier erwarteten Genauigkeit, Abgrenzbarkeit und Durchsichtigkeit der Begriffsbildung. U m dies zu erreichen, die Grundbegriffe des Denkens überhaupt zu klären, ist Descartes aber zugleich auch Metaphysiker. Er muss also zeigen, wie Klarheit und Sicherheit im Umgang mit den Dingen - trotz und wegen der unvermeidlichen Perspektivierung durch das menschliche Denken - erreichbar sind; kurz: Wie Gewissheit möglich sein soll, wenn in den Dingen selbst diese Gewissheit ja nicht liegen kann. Wenn auch alle diese Fragen vorneuzeitlich gesehen durchaus nicht fremd sind, neu ist die Radikalität der autoritätskritischen Gewissheitsfrage, die sich allein an ihrem ausschließenden Gegenteil messen lassen will: dem absoluten Zweifel. Die Rede ist hier nicht von Skepsis, die sich distanziert zu verbindlichen Urteilen verhält 39 , sondern von einem Zweifel an jeder sachhaltigen Erkenntnis und Theoriebildung überhaupt. Gewissheit wäre allerdings dann erreicht, wenn dieser radikale Zweifel ausgeschaltet, wenn er auf seinem eigenen Feld, in seiner eigenen Stärke überwunden werden könnte: „Indessen, ich habe mir eingeredet, dass es schlechterdings nichts in der Welt gibt: keinen Himmel, keine Erde, keine denkenden Wesen, keine Körper, also doch wohl auch mich selbst nicht? Keineswegs; sicherlich war ich, wenn ich mir etwas eingeredet habe. - Aber es gibt einen, ich weiß nicht welchen, allmächtigen und höchst verschlagenen Betrüger, der mich geflissentlich stets täuscht. - N u n , wenn er mich täuscht, so ist es also unzweifelhaft, dass ich bin. E r täusche mich, so viel er kann, niemals wird er doch fertig bringen, dass ich nichts bin, solange ich denke, dass ich etwas sei. U n d so k o m m e ich, nachdem ich nun alles mehr als genug hin und her erwogen habe, schließlich zu der Feststellung, dass dieser Satz: ,Ich bin, ich existiere', sooft ich ihn ausspreche oder in Gedanken fasse, notwendig wahr ist." 4 0
38
Hamann, Briefwechsel, Bd. III, 86.
39
Vgl. die Rekonstruktion des Zweifelsarguments bei K. Schäfer (1968), 287 (Anm. 185).
40
Descartes, Meditationen, aaO. 21f. (2. Meditation, N r . 3).
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(1) Der radikale Zweifel hat zwei Begründungen: Das Traumargument besagt, alles Wirkliche könnte eine unentscheidbare Täuschung sein (daher: möglicherweise gibt „es schlechterdings nichts in der Welt"); das metaphysische Täuschungszrgument besagt, eine höhere Macht, ein „Genius malignus", verdrehe sozusagen hinter dem Rücken des erkennenden Menschen alle vermeinte Wirklichkeit oder Einsicht in Täuschung; und in diesem Fall gäbe es aus menschlicher Perspektive absolut keine Anhaltspunkte zur Korrektur mehr, nicht nur alle Wirklichkeitseinstufungen, sondern auch die reinen Vernunfteinsichten der Mathematik fielen ins Bodenlose. 41 (2) Die Wendung der Situation absoluten Zweifels geschieht durch einen plötzlichen Rückschluss, die Aufdeckung einer doppelten Selbstbeziehung: Die Instanz des Getäuschtwerdens muss ja als vorhanden angenommen werden, und diese Instanz identifiziert sich selbst als Denken. Aus beidem folgt: Die mögliche Instanz des Getäuschtwerdens, das Denken, muss notwendigerweise vorhanden sein: Denken heißt Existieren. 42 Dass diese Entdeckung der Selbstbeziehung schon auf Augustin 43 zurückgeht, ändert nichts daran, dass im Kontext des von Descartes methodisch und radikal eingesetzten Zweifelsarguments hier epochal Neues projektiert wird: Als allererstes wird Selbst-Denken als Substanz, d.h. als allem Bestimmbaren zugrunde liegend, erfasst; und zwar so, dass damit die Eigenexistenz und daraus dann folgend die Existenz Gottes und der (geschaffenen) Welt ebenfalls als Substanzen gedacht werden können. Substanz steht dann nicht mehr im Horizont einer Wesens- und Seinsphilosophie, sondern sie deckt das ab, was dem theoretischen Zweifel standhält. Das ist zuerst die Denkinstanz, ge-
41
42
43
Zur genaueren Darstellung der Zweifelsargumente (der 1. Meditation), auch im Vergleich zum Discours de la Méthode (1637), vgl. H. Poser (2003), Kap. 4.1; J. Disse (2001), 202f. Die Formel „Ego sum, ego existo" im Kontext der 2. Meditation hat im Discours (1637) die Fassung „je pense, donc je suis" ([1964], 54 [4. Teil, Nr. 3]), in den Principia Philosophiae (1644) „cogito ergo sum" („ich denke, also bin ich"); vgl. Poser, 62. In De libero arbitrio (II, 3,7), De trinitate (X, 10,14), De civitate Dei (XI, 26); vgl. die Nachweise bei K. Flasch (1980), 59. - Das Täuschungsargument findet sich in De civitate/Vom Gottesstaat, Bd. 2 (1991), 43: „Wenn ich mich täusche, bin ich ja. Denn wer nicht ist, kann sich auch nicht täuschen"; das Gewissheitsargument in De trinitate (2001), 119: „wenn man zweifelt, sieht man ein, dass man zweifelt; wenn man zweifelt, will man Gewissheit haben; wenn man zweifelt, denkt man"; zum Gewissheitsproblem bereits in De vera religione s. § 5.1.3 (3).
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wonnen über Körperdistanzierung und ohne Gottesvoraussetzung: „Existenzgewissheit" 44 besiegt den Zweifel und macht die Substanz zu einem von dieser Gewissheit aus entworfenen Begriff für das, was prinzipiell als selbständig gedacht werden muss: Gott und (von ihm abhängig, wenn auch die Ableitungsreihenfolge anders verlief) Denken (res cogitans) und Körperwelt (res extensa). Bei aller Notwendigkeit des Gotteszusammenhanges, den die Meditationen herstellen, ihr Ausgangspunkt ist die denkend-existierende Substanz, die den Zweifel besiegt - das Modell neuzeitlicher Subjektivität. 43 (3) Die Selbsterfassung des menschlichen Subjekts, der denkenden Substanz Descartes', hat etwas Verführerisches. Der „Satz: ,Ich bin, ich existiere'", soll „notwendig wahr" sein, „sooft ich ihn ausspreche oder in Gedanken fasse"! Eine Rückschlussnotwendigkeit, die immer nur aktuell gilt, gebunden an den Sprech- bzw. Denkakt? 46 - Wäre das der Fall, fehlte der erschlossenen Existenz jede Beständigkeit. Oder es würde immer aktuell auf einen schon vorliegenden Zusammenhang zurückgeschlossen, dann aber wäre der Denkakt angewiesen auf die Substanzen Gott und Körperwelt, selbst also von diesen abgeleitet zu denken und nicht mehr ursprünglich und autark in der Lösung des absoluten Zweifels. In der Wirkungsgeschichte des cartesianischen Zweifelsarguments sind zwei Einwände für die Religionsphilosophie besonders charakteristisch: Der erste, den S. Kierkegaards Frühwerk vorbringt, geht dahin zu zeigen, dass der Zweifel allerdings menschlich beachtenswert ist, weil er in einer Gegenbewegung Gewissheit will - das hat Descartes gesehen; nicht angemessen ausgelegt aber hat Descartes, dass zu zweifeln die Differenz zwischen Wirklichkeit und Idealität (des Denkens) schon voraussetzt und dass das bewusste Zweifeln-Wollen, wie Descartes es methodisch einsetzt, als solches Wollen ein Interesse mit sich
44
45
46
Vgl. Poser, 64; zur Ableitung von res cogitans und res extensa aaO. 72ff. u. Kap. 4.5; zum Substanzbegriff vgl. H.W. Arndt: Substanz III, in: HWP 10 (1998), 521-532, hier: 521f.; s. § 6.2, Anm. 74; § 9.2, Anm. 32. - Zur Unterscheidung der Argumentation gegenüber Augustin (der den Lebens-, Welt- und Gotteszusammenhang voraussetzt) vgl. K. Flasch, aaO. 60f. Vgl. Poser, 65, 71; zum Problem, die res cogitans individuell oder allgemein zu denken, und den konträren Lösungen der einen (allgemeinen) Substanz bei Spinoza und der (individuellen) Monade bei Leibniz, vgl. aaO. 74f. Um dieses Problem zu lösen, braucht Descartes in der 3. Meditation das Gottesargument, vgl. Poser, Kap. 4.4; s. Anm. 37.
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führt. Nun ist diesem Interesse an der eigenen Existenz natürlich nicht gedient, wenn der Zweifel bloß theoretisch experimentiert wird, also in Denkmöglichkeiten verbleibt und die - eigene - Wirklichkeit (zur der entscheidend ihr Wollen und ihr Interesse gehören) dann gar nicht erreichen kann. Im Ernst zu zweifeln aber heißt, sich selbst aufs Spiel gesetzt vorzufinden; dann aber geht offensichtlich ein leib-seelisches Selbstverhältnis, auf das Descartes' Demonstration hinaus will, längst voraus, und der Zweifel deckt diese ethische Verantwortung für das eigene Leben auf. In diesem, Descartes korrigierenden Sinn kann Kierkegaard sagen: „Diese Möglichkeit des Zweifels ist dem Dasein wesentlich, ist das Geheimnis der menschlichen Existenz."47 - Der Begriff einer denkenden Substanz aber kann dann aufgegeben werden. Der zweite Einwand, wie ihn Ch.S. Peirce' frühe wissenschaftstheoretische Debatte um doubt - belief - action vorbringt, hakt wie Kierkegaard zunächst bei der künstlichen (theoretischen) Setzung des Zweifels ein, entwickelt sich dann aber selbst zu einem Gegenargument der wissenschaftlichen Methode. Das Apriori des sich durchsichtigen Selbstbewusstseins steht zwar kritisch gegen die scholastischen Autoritäten (von Institutionen und Texten), will aber selbst eine letzte Autorität etablieren, die vor aller Erfahrung zu rangieren scheint. Die Forschungspraxis der Naturwissenschaften aber besteht demgegenüber darin, vor jeder bewussten und kontrollierten Prüfung natürliche beliefs unbefragt voraussetzen zu dürfen und zu müssen, die erst aufgrund bestimmter und konkreter Erfahrungen in Zweifel stehen, dann und deshalb überprüft und im Blick auf bestimmte Handlungen in erneuerte beliefs überführt werden.48 Auf dieser Basis ist jede Apriori-Autorität
47
48
S. Kierkegaard, Pap. IV, Β 10,11; zit. nach M. Kleiner! (2005),165. - Der Satz findet sich im Material zu der fragmentarischen (unveröffentlichten) Schrift Johannes Climacus oder De omnibus dubitandum est. Eine Erzählung (1842/43); dt. Ges. Werke, 10. Abtig., 109-164. Kierkegaard diskutiert Descartes' Programmformel im Kontext des zeitgenössischen Hegelianismus (vor allem bei J.L. Heiberg u. H.L. Martensen), d.h. als Kritik an einer Reflexionsphilosophie, die sich auf den theoretischen Zweifel als ihren neuzeitlich-epochalen Ausgangspunkt berief, vgl. J. Stewart (2003), chap. 5; (2007), 78f., 188ff.. - Zu Kierkegaards Argumentation im einzelnen vgl. K. Schäfer (1968), 134f.; M. Kleinert, aaO. Kap. 3.4; H. Deuser, Existenz-Mitteilung (2006), 206ff. Ch.S. Peirce, The Fixation of Belief (1878), EP 1, 114: „The feeling of believing is a more or less sure indication of there being established in our nature some habit which will determine our actions. [...] Doubt is an uneasy and dissatisfied state from which we struggle to free ourselves and pass into the state of belief"; vgl. SP, 156; Peirce' explizite Auseinandersetzung mit Descartes in How to
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II. Reformatorische und neuzeitliche Tradition
unmöglich, das Selbstbewusstsein verfügt nicht über Selbstdurchsichtigkeit (die Fähigkeit der Introspektion49), Denken ist immer als Vermittlungsgeschehen durch Zeichen aufzufassen, und der reale Zweifel im Erfahrungszusammenhang ist methodisch zu achten, der theoretische Zweifel wird überflüssig. Mit dieser Wissenschaftsauffassung rücken dann die (neuzeitlichen) apriorischen Begriffe von Substanz und Subjekt aus dem Zentrum des Interesses, und an ihrer Stelle sind es Glaube und Handeln, die nicht zuletzt religionsphilosophisch bedeutsam werden. Sub contrario hat Descartes' Zweifelsargument auch dafür den Weg bereitet. Es ist der Horizont des Handelns, d.h. der Ethik, worin die wissenschaftliche Methode und die Bedeutung des (religiösen) Glaubens ihre neue Begründung finden.30
2.2. Textkritik und Ethik (G.E. Lessing) B. de Spinozas Tractatus theologico-politicus, 1670 anonym publiziert, proklamiert die konsequente Anwendung alleiniger Vernunftgründe auf die Schriftauslegung. Wenn das öffentliche Vernunftziel (des Staates) - aufgrund der Erfahrung anhaltender Religionsstreitigkeiten und vernichtender Konfessionskriege - der Friede im Zusammenleben der Menschen sein muss, und wenn die populäre Religion wesentlich als Aberglaube, motiviert aus Furcht, angesehen wird, dann hilft allein dieser Weg einer textkritischen Hermeneutik, deren Maßgabe das vernünftige Urteil, das lumen naturale ist.Dl Descartes' Forderung nach Make Our Ideas Clear (1878), EP 1, 125f.; vgl. SP, 183ff.; und den späteren Text (1893), in: SP, 178f. (Anm. 30). - Zum Begriff belief bei D. Hume s. § 9.1! 49
Das war Peirce' These bereits in den frühen erkenntnistheoretischen Aufsätzen von 1868 (auch hier kritisch gegenüber Descartes), vgl. Some Consequences of Four Incapacities, EP 1, 28ff.; vgl. SP, 40ff.; dazu H. Deuser, Gottesinstinkt (2004), 28f.
50
Peirce' Kritik des theoretischen Zweifels findet sich gerade auch im Gottesargument (1908), RS, 374: „der Zustand des cartesianischen Zweifels ist bloßer Schein oder Selbstbetrug. Denn wirklicher Zweifel ist höchst beunruhigend [...]. Wir können nicht von Zufriedenheit zur Unzufriedenheit übergehen, bloß weil wir mit der Zufriedenheit unzufrieden sind. [...] Forschung hat ihren Ausgangspunkt in einer überraschenden Erfahrung." Vgl. ähnliche Textbelege in RS, 500 (Anm. 10 u. 11). - Zur Descartes' ethischen Auffassungen, die sich aus der Relation von Gewissheit und Handeln, d.h. im Namen der wissenschaftlichen Methode ergeben, vgl. Poser, aaO. Kap. 5.4.
51
B. de Spinoza, Tractatus (Vorrede), Bd. 1 (1979), 15/17: „Da ich bei mir bedachte, dass das natürliche Licht [lumen naturale] nicht bloß geringgeschätzt, sondern von vielen geradezu als Quelle der Gottlosigkeit verdammt wird, dass
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methodischer Klarheit wirkt hier nach, und Spinoza steigert noch die ethischen Implikationen dieses Vernunftprogramms: Dass die menschlich unvermeidlichen Affekte allein durch vernünftige Urteilsbildung unter Kontrolle zu bringen sind.32 Die Kraft der Kritik liegt in der individuellen Beurteilungsautorität, die im Namen einer vernünftigen Klärung den religiösen Glauben von irrationalen Vorurteilen reinigt und nach seiner Handlungsrelevanz hin bestimmt. G.E. Lessing (17291781), spät bekennender Anhänger Spinozas (nach Jacobis Briefen33), hat hundert Jahre danach beides wirksam umgesetzt: Bibelkritik gegen den (historisch gesehen unhaltbaren) Kirchenglauben und vernünftige Religion im Namen der Ethik. Lessings kritische Intellektualität hat mit voller Uberzeugung die textkritische Philologie unterstützt, selbst praktiziert und mit der Publikation der Fragmente des Wolfenbütteischen Ungenannten (1778/79)34 deren öffentliche Diskussion erzwungen; er hat aber zugleich in seiner Erziehung des Menschengeschlechts (1780) eine geschichtliche Entwicklungslehre entworfen, worin die (historisch-kulturelle) Bedingtheit der Offenbarungszeugnisse mit dem jeweils relativen Erkenntnisstand der Menschheit stufenweise zugeordnet werden kann. 55 Das hat allerdings zur Folge, dass die Wahrheitsbindung und exklusive Autorität be-
menschliche Erdichtung für göttliche Lehre gehalten, Leichtgläubigkeit als Glaube geschätzt wird, [...] dass wütender Hass und Zwist [...] davon die Folge ist, so habe ich mir fest vorgenommen, die Schrift von neuem mit unbefangenem und freiem Geist zu prüfen und nichts von ihr anzunehmen oder als ihre Lehre gelten zu lassen, was ich nicht mit voller Klarheit ihr selbst entnehmen könnte." - Vgl. K. Hammacher, aaO. (s. Anm. 31), 690f.; s. Anm. 34. 52
53 54
55
Vgl. Tractatus, aaO. 19/21: „dass der Glaube eines jeden, ob er fromm oder gottlos, einzig nach seinen Werken zu beurteilen ist. Nur so werden alle von ganzem Herzen und freien Sinnes Gott gehorchen können, und nur so werden Gerechtigkeit und Liebe von allen hochgehalten werden." - Vgl. dann Spinozas Ethik (postum 1677), die nach den Themen Gott und Natur (Teile I u. II) in den Teilen III u. IV die Affekte und in Teil V die Freiheitslehre behandelt („Von der Macht des Verstandes oder von der menschlichen Freiheit"). S. § 9, Anm. 8; vgl. G. Hornig: Lessing, in: T R E 21 (1991), 20-33, 23; J.-O. Henriksen (2001), 20. Es handelte sich um die postumen bibelkritischen Schriften von H.S. Reimarus (1694-1768) aus Hamburg, vgl. die Textedition in: G.E. Lessing, Bd. 7 (1976), 313-457; H. Schultze: Reimarus, in: T R E 26 (1997), 470-473. Vgl. G.E. Lessing, Bd. 8 (1979), 506 (§ 76): „die Ausbildung geoffenbarter Wahrheiten in Vernunftswahrheiten ist schlechterdings notwendig, wenn dem menschlichen Geschlechte damit geholfen sein soll. Als sie geoffenbaret wurden, waren sie freilich noch keine Vernunftswahrheiten; aber sie wurden geoffenbaret, um es zu werden."
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überholt
werden:
D i e w a h r e (vernünftig-religiöse) A u f k l ä r u n g w i r d für die Z u k u n f t erwartet!56 D e r h i s t o r i s c h e n K r i t i k geht es f o l g l i c h u m die S a c h a u t o r i t ä t der T e x t e , u n d Lessing hat in dieser F r a g e m i t sehr s u b t i l e n u n d n e u in die D i s k u s s i o n g e b r a c h t e n D i f f e r e n z i e r u n g e n gearbeitet. W a s E . T r o e l t s c h a m E n d e des 19. J h . als o b s o l e t g e w o r d e n e „ W u n d e r - K a u s a l i t ä t " aus dem
Kanon
wissenschaftlicher
Begründungen
längst
ausgemustert
sieht 3 7 , das u n t e r l i e g t z u Lessings Z e i t n o c h d e m h e f t i g s t e n Streit u m die religiöse W a h r h e i t : „Daran liegt es: dass dieser Beweis des Geistes und der Kraft itzt weder Geist noch Kraft mehr hat; sondern zu menschlichen Zeugnissen von Geist und Kraft herabgesunken ist. Daran liegt es: dass Nachrichten von erfüllten Weissagungen nicht erfüllte Weissagungen; dass Nachrichten von Wundern nicht Wunder sind. [...] wer leugnet es, - ich nicht - dass die Nachrichten von jenen Wundern und Weissagungen eben so zuverlässig sind, als nur immer historische Wahrheiten sein können? - Aber nun: wenn sie nur eben so zuverlässig sind, warum macht man sie bei dem Gebrauche auf einmal unendlich zuverlässiger? [...] Das ist, zufällige Geschichtswahrheiten können der Beweis von notwendigen Vemunftswahrheiten nie werden. [...] Wenn ich historisch nichts darwider einzuwenden habe, dass dieser Christus selbst von dem Tode auferstanden: muss ich darum für wahr halten, dass eben dieser auferstandene Christus der Sohn Gottes gewesen sei? [...] Wollte man mich noch weiter verfolgen und sagen, ,Ο doch! das ist mehr als historisch gewiss; denn inspirierte Geschichtsschreiber versichern es, die nicht irren können': So ist auch das, leider, nur historisch gewiss; dass diese Geschichtsschreiber inspiriert waren, und nicht irren konnten. Das, das ist der garstige breite Graben, über den ich nicht kommen kann, so oft und ernstlich ich auch den Sprung versucht habe." 58 (1) Lessing m a c h t den n i c h t z u b e s t r e i t e n d e n U n t e r s c h i e d e i n e m h i s t o r i s c h e n E r e i g n i s selbst u n d d e m B e r i c h t über
zwischen
ein s o l c h e s
E r e i g n i s i m w a c h s e n d e n h i s t o r i s c h e n A b s t a n d (das gilt f ü r
Wunder
genauso w i e f ü r die I n s p i r a t i o n d e r S c h r i f t e n ) . A u f der E r e i g n i s e b e n e 56
Vgl. aaO. 508 (§ 86): „Sie [s.c. die „Aufklärung und Reinigkeit", § 81] wird gewiß kommen, die Zeit eines neuen ewigen Evangeliums, die uns selbst in den Elementarbüchern des Neuen Bundes versprochen wird." - Vgl. J.-O. Henriksen, aaO. 41ff.
57
E. Troeltsch, Die Absolutheit des Christentums (1902/1912), (1998), 133; vgl. 125.
58
G.E. Lessing, Uber den Beweis des Geistes und der Kraft (1777), Bd. 8 (1979), 1013. (Der Titel der Schrift ist eine Anspielung auf ein Origenes-Zitat bzw. auf das Neue Testament (Act 6, 8), wo Stephanus in der Kraft Gottes Wunder tut, die für das Christentum zeugen.) - Vgl. Henriksen, 36ff.
§ 9: Religion: Glaube und Handeln
245
selbst kann ein historisches Geschehen in seiner Faktizität gar nicht mit zwingenden Gründen behauptet oder bestritten werden, weil kontingente Ereignisse immer so oder anders sein können, jedenfalls nicht mit Notwendigkeit sind oder nicht sind. Denn letzteres gehört in den Geltungsbereich der vernunfteinsichtigen notwendigen Wahrheiten, die aus geschichtlichen Ereignissen gerade nicht hergeleitet werden können. (2) Daraus resultiert der Perspektivenwechsel, dass die historische Wunder- bzw. Verifikationsfrage religionsphilosophisch gar nicht mehr entscheidend ist. Das Historische bleibt immer nur relativ zugänglich, sicher, überzeugend etc. („zufällige Geschichtswahrheiten"), das Vernunfturteil („notwendige Vernunftswahrheiten") aber ist ausschlaggebend, wenn es sich um die Wahrheit der Religion handeln soll - und darum geht es Lessing. Das (orthodoxe) Festhalten an historischen (übernatürlich wahren) Gegenständen ist seither als Missverstehen gerade des religiösen Glaubens enttarnt; ein Missverstehen, das erst aufkommen konnte, seit historische Kritik die Ereignisse von den Berichten über sie (im Medium der Uberlieferung) zu unterscheiden gelehrt hatte. Wer sich dieser Differenz nicht stellen wollte, musste Faktenbehauptungen als Glaubensbasis ausweisen - oder der Glaube wurde reiner Uberzeugungsakt, ohne sich der historischen Textzeugnisse noch versichern zu können. Auf der Seite der vernünftigen Religion allerdings verleitet die Relativität der Historie zur Distanzierung von geschichtlicher Vermittlung überhaupt, die der Vernunftwahrheit gegenüber nur noch sekundäre Bedeutung hat. Die eingesehene „Erziehung des Menschengeschlechts" kennt den vernünftigen Ausgang der Dinge, zu dem der religiöse Glaube, aus seiner jeweils beschränkten Sicht, immer nur eine Vorstufe hat sein können. (3) Der heute schon sprichwörtliche „garstige breite Graben", der geschichtliche von unbedingten Wahrheiten trennt, ist allerdings nicht Lessings letztes Wort. Wenn er auch den völlig unbegründeten „Sprung" zu Recht verweigert, er sucht doch eine Vermittlungsfigur zugunsten einer (religiösen) Wahrheit, die zugleich geschichtlich und vernünftig orientiert sein kann. Da ist zum einen Lessings Feststellung in der Erziehung des Menschengeschlechts (§ 76f.), die „Geheimnisse der Religion" und ihre „historische Wahrheit" könnten und müssten durchaus zur Einsicht in „Vernunftswahrheiten" herangezogen werden: für „bessere Begriffe vom göttlichen Wesen, von unserer Natur,
246
II. Reformatorische und neuzeitliche Tradition
von unseren Verhältnissen zu Gott"! 59 Und da ist zum anderen Lessings souveräne Wahrheitslehre, die aus lebenspraktischen Gründen Toleranz und Respekt fordern kann, weil sie den Wahrheitsfanatismus auszuschließen versteht. Ironisch und religionskritisch im Ton der theologischen Streitschrifien gefasst: „Wenn Gott in seiner Rechten alle Wahrheit, und in seiner Linken den einzigen immer regen Trieb nach Wahrheit, obschon mit dem Zusätze, mich immer und ewig zu irren, verschlossen hielte und spräche zu mir: wähle! Ich fiele ihm mit Demut in seine Linke und sagte: Vater gib! Die reine Wahrheit ist ja doch nur für dich allein!"60
Die ernste Anwendung dieser vermittelten, immer erstrebten und am guten Handeln gemessenen Wahrheit gibt dann Lessings „dramatisches Gedicht" Nathan der Weise (1779).61 (4) Es ist wiederum S. Kierkegaard, der ganz ähnlich wie im kritischen Anschluss an das Zweifelsargument Descartes' auch Lessing ausgesprochen produktiv, tiefsinnig und geschickt aufzunehmen versteht. 62 In beiden Fällen, Lessings (moralischem) Streben nach Wahrheit und dem verweigerten Sprung über den Graben zwischen unbedingter Vernunftwahrheit und historischem Zeugnis, äußert Kierkegaard deshalb Begeisterung für Lessing, weil seine Problemzuspitzung die Sache wirklich auf den Punkt bringt: Dieser ist dann aber, anders als bei Lessing selbst, die leidenschaftliche Situation eines Menschen, der sich - als existierender Mensch - zur Wahrheitsproblematik verhält, d.h. konkret im eigenen Leben sich entscheiden, sich verlassen, Gewissheit und Vertrauen finden muss etc. In dieser Lage gibt es keine vernünftig59
AaO. Bd. 8, 506f.; s. Anm. 55. - Die in § 4 der Erziehung behauptete inhaltliche Autarkie der Vernunfteinsicht lässt sich mit § 77 überein bringen, wenn beide, Vernunft und Offenbarung, im Kontext menschlicher Geschichte, d.h. praktisch gedacht werden, vgl. Henriksen, 49ff.
60
EineDuplik
61
Vgl. J . v. Lüpke (1989), 9. Kap; zur Auslegung von Lessings Toleranzauffassung Henriksen, 59-69. Zu Descartes s. Anm. 47. - Die Rezeption von Lessings Thesen zum historischen Problem sind Ausgangspunkt der beiden Schriften des Pseudonyms Johannes Climacus: Philosophische Brocken (1844) und Abschließende unwissenschaftliche Nachschrift zu den Philosophischen Brocken (1846). Im ersten Buch steht Lessings Frage nach dem „geschichtlichen Ausgangspunkt" für „ein ewiges Bewusstsein" bereits als Motto auf dem Titelblatt; im zweiten Buch ist Lessing dann ein eigener Abschnitt von ca. 50 S. gewidmet, der mit einem ironischsympathischen „Wort des Dankes an Lessing" einsetzt (Zweiter Teil, erster Abschnitt, Kap. 1).
62
(1778), Bd. 8, 33 (I. Abschn.).
§ 9: Religion: Glaube und Handeln
247
systematisch schon vorweg gültige Gesamtperspektive, diese ist „nur für" Gott „allein"; für die humane Situation aber gilt - so Kierkegaards Anwendung von Lessings Lehre: „ein System des Daseins kann es nicht geben."a So gesehen kann der von Lessing (negativ verstandene) Sprung dann ganz anders verstanden und positiv aufgenommen werden: Existentiell gesehen ist keine Entscheidungssituation durch „Reflexion", allgemeine Wahrheiten, Logik etc. zu ersetzen oder zu bewältigen, sondern es kommt umgekehrt darauf an: Dass und wie „die Reflexion zum Stehen gebracht wird", und dass geschieht „durch einen Sprung". 64 Es ist diese existentielle Kategorie, mit der Kierkegaard auf eine Beschreibung der Situation des religiösen Glaubens zielt, dessen Lebenszusammenhang in „Entschluss", „Entscheidung" und Handlung 63 , d.h. in ethischen Situationen und nicht in Reflexionsbegriffen besteht; und um diese tiefere Sicht der menschlichen Existenz zu profilieren, wird aus Lessings Metapher das ontologische Problem des Sprungs von der historischen Betrachtung in die existentielle Entscheidungssituation. Von Notwendigkeit kann in beiden Fällen keine Rede sein66, auch nicht von einem Rückfall in vorkritisches historisches Behaupten von Unbedingtheit; mit Lessing aber entdeckt Kierkegaard die Unbedingtheitsrelation von Glauben und Handeln. Sie wird beschreibbar in der neuen Kategorie des Sprungs.
3. Die Pragmatik der Selbst- und Gottesrelation 0. Edwards) Die Besonderheit der American Philosophy verdankt sich ihrer Herkunft aus dem Puritanismus. Der calvinistische Theologe J. Edwards (1703-1758) schreibt die ersten großen philosophischen Werke Neuenglands, und es ist die reformatorische Frage nach dem Glauben puritanisch zugespitzt: nach seiner Erkennbarkeit - , die die Untersu-
63
64 65 66
Kierkegaard, Unwissenschaftliche Nachschrift, Erster Teil, SKS 7, 105; dt. Ges. Werke, 16. Abtig., 101. - Mit dieser These korrespondiert (auf Lessings notwendige Vernunftwahrheiten bezogen), aaO.: „ein logisches System kann es geben". - Kierkegaards Interpretationsperspektive ist sehr schön gefasst in der Bemerkung: „Dem Existierenden, der alle seine Aufmerksamkeit darauf richtet, dass er existierend ist, wird auch jenes Lessingwort von dem fortgesetzten Streben wie ein wunderbarer Ausspruch zulächeln" (SKS 7, 116; dt. aaO. 113). SKS 7, 110, 112; dt. aaO. 106, 108; s. Anm. 10. Vgl. SKS 7, 117; dt. aaO. 114: „Das fortgesetzte Streben ist der Ausdruck für die ethische Lebensanschauung des existierenden Subjekts." Vgl. SKS 7, 96f.; dt. aaO. 90f.; vgl. K. Schäfer (1968), 276 (Anm. 163).
248
II. Reformatorische und neuzeitliche Tradition
chung seiner Zeichen-, Handlungs- und Erfahrungsrelation antreibt. Die Zuordnungsfrage von Glaube, Wille und Vernunft, wie sie durch M. Luthers Theologie seit dem 16. Jh. dominierte 67 , wird neuzeitlich umformuliert in die Frage nach der wahren Religion und woran diese denn zu messen sei.68 Der Puritanismus verlangt politische Reformen (gegenüber dem Absolutismus in Kirche und Staat), will religiöse Toleranz auf der Basis der Gleichheit der Menschen und fordert Konsequenzen aufgrund der „religiösen Revolution", die darin besteht, dass vor Gott alle Menschen, arm oder reich, gleich viel wert sind.69 Dies ist nur möglich auf der Basis eines Glaubens, der die Nähe Gottes den Einzelnen zuspricht und sie damit für die konkrete Lebensführung und die Gestaltung aller Gemeinschaftsformen direkt verantwortlich macht. Diese unvermittelt erscheinende Konsequenz ist fundiert in Gottes Majestät, die gegen die Welt der Sünde die Heiligkeit der Menschen will. Zwischen beidem steht die Gnade desselben Gottes, die aber eben allein als Gnade die alles entscheidende Vermittlung darstellt. Weil im Calvinismus aber Gottes Gnadenentscheidung als doppelte Prädestination gelehrt wird 70 , kommt es zu der schwer auflösbaren Schwierigkeit, über die eigene (aus Gottes Perspektive schon entschiedene) Erwählung zum Guten oder Verwerfung zum Bösen nichts wissen zu können, während diese Frage doch für die Lebensgestaltung unentrinnbar entscheidend ist. Es war die aus dieser Aporie sich entwindende Lehre der Arminiawer71, die in einem zumindest partiellen Rückgriff auf den mittätigen Willen des Menschen, der damit dem Geschenk der Gnade korrespondiert, Freiheit, Glaube und Handeln nicht im ungewissen Dunkel einer 67 68
69 70
71
S. §7.1. Vgl. die ersten Sätze in J. Edwards A Treatise Concerning Religious Affections (1746), The Works of J.E., vol. 2 (1959), 84 („Author's Preface"); auch in: J.E. Reader (1995), 137: „What is the nature of true religion? and wherein do lie the distinguishing notes of that virtue and holiness, that is acceptable in the sight of God." - Zur Bedeutung von J. Edwards für die American Philosophy vgl. G.R. McDermott: Edwards, in: RGG4 2 (1999), 1063f.; H. Deuser, Gottesinstinkt (2004), 1-4. R.C. Neville (1987), 16; vgl. Ch.L. Cohen/J.R.D. Coffey: Puritaner/ Puritanismus, in: RGG4 6 (2003), 1831-1839. Vgl. Th. Mahlmann: Prädestination V, in: TRE 27 (1997), 118-156, hier bes. 122ff., 13Off.; G. Röhser/Chr. Link: Prädestination I-III, in: RGG4 6 (2003), 1524-1532. Jacobus Arminius (1560-1609), vgl. Th. Kaufmann: Arminius, in: RGG4 1 (1998), 778f.; Th. Kaufmann/C. Bangs: Arminianer, in: RGG4 1 (1998), 772778; R.W. Jensen (1992), 53ff.
§ 9: Religion: Glaube und Handeln
249
göttlichen Vorwegentscheidung untergehen lassen wollte. Die in ihrem Kontext des 18. Jh. neue Konstellation eines seit Augustin und Luther klassischen Problems zeigt sich darin, dass jetzt in der Gewissheits- und Handlungsdimension individuell offener und bewusster Entscheidungen der Lebensführung nach der Erkennbarkeit der Gnade - und damit nach der „wahren Religion" und schließlich der Bedeutung von Religion überhaupt - gesucht werden muss. Was die puritanisch inspirierte Westminster Confession (1647) als Folge ihrer Erwählungslehre gefordert hatte72: Achte unbedingt auf den konstitutiven Zusammenhang von Glauben und Handeln - das wird im Nordamerika des 18. Jh. zum kreativen Potential für eine religiöse Erweckungsbewegung (Great Awakening), für emanzipative Religionskritik, für philosophische Untersuchungen des Willensproblems im Zeitalter des Empirismus und naturwissenschaftlicher Rationalität - und an alldem ist J. Edwards aktiv und tonangebend beteiligt.73
3.1. Religious
Affections
Edwards erarbeitet seine Antwort auf die Frage nach der „wahren Religion" durch die Analyse der Religious Affections. - Affection, ins Deutsche schwer zu übersetzen, ist ein gesteigertes Seelenvermögen oder die 72
Chap. XVIII.3: „And therefore it is the Duty of every one, to give all Diligence to make his Calling and Election sure", in: E.F.K. Müller (1999), 580.
73
Zu Edwards Bedeutung für die nordamerikanische Erweckungsbewegung und ihre Auslöserfunktion für seine wissenschaftlichen Arbeiten vgl. J.E. Smith, Editor's Introduction, in: The Works of J.E., vol. 2, aaO. 2ff. - Wie sehr Edwards selbst an einem dogmatisch produktiven Vergleich von Arminianismus und Calvinismus interessiert ist, zeigt eine Stelle aus dem Vorwort zur Schrift über die Willensfreiheit, A Careful and Strict Inquiry into the Modern Prevailing Notions of that Freedom of the Will, Which Is Supposed to Be Essential to Moral Agency, Virtue and Vice, Reward and Punishment, Praise and Blame (1754), in: The Works of J.E., vol. 1 (1957), 131; auch in: J.E. Reader (1995), 192f.: „And therefore I must ask the excuse of such as are apt to be offended with things of this nature, that I have so freely used the term ,Arminian' in the following discourse. I profess it to be without any design, to stigmatize persons of any sort with a name of reproach, or at all to make them appear more odious. [...] However the term ,Calvinist' is in these days, among most, a term of greater reproach than the term ,Arminian'; yet I should not take it at all amiss, to be called a Calvinist, for distinction's sake: though I utterly disclaim a dependence on Calvin, or believing the doctrines which I hold, because he believed and taught them; and cannot justly be charged with believing in everything just as he taught."
250
II. Reformatorische und neuzeitliche Tradition
Gemütsbewegung affektiver Beteiligung, und „wahre Religion" besteht zu einem wesentlichen Teil in dieser ausgezeichneten Gefühlslage und Neigung des menschlichen Herzens.74 Hinzu kommt, dass Handlungen (actions) ihren Ursprung in jenen Gefühlslagen haben73, so dass mit den affections das motivierende Prinzip menschlichen Verhaltens und Handelns gefunden ist. Die wahre Religion, wenn nach der Wirkung des heiligen Geistes im Menschen gefragt wird, lehrt genau dies76: „From hence it follows, that in those gracious exercises and affections which are wrought in the minds of the saints, through the saving influence of the Spirit of God, there is a new inward perception or sensation of their minds, entirely different in its nature and kind, from everything that ever their minds were the subjects of before they were sanctified. F o r doubtless if God by his mighty power produces something that is new, not only in degree and circumstances, but in its whole nature, and that which could be produced by no exalting, varying or compounding of what was there before, or by adding anything of the like kind; I say, if G o d produces something thus new in a mind, that is a perceiving, thinking, conscious thing; then doubtless something entirely new is felt, or perceived, or thought; [...] a new spiritual sense that the mind has, or a principle of new kind of perception or spiritual sensation, which is in its whole nature different from any former kinds of sensation of the mind, as tasting is diverse from any of the other senses; [...] This new spiritual sense, and the new disposition that attend it, are no new faculties, but are new principles of nature. I use the word .principles', for want of a word of a more determinate signification. B y a principle of nature in this place, I mean that foundation which is laid in nature, either old or new, for any particular manner or kind of exercise of the faculties of the soul".
(1) Der unbedingte Vorrang und das radikal Neue von Gottes Gnade ist gewahrt, aber dazu gehört - aufgrund der Lehre der Religious Affections - die Erfahrbarkeit eben dieser neuen Disposition des Herzens und damit auch des Willens. Die Gnadenwirkung steht in gewissem Sinne in Kontinuität mit den natürlichen Bedingungen77, und ihre Erfahrung muss im Natürlichen, obwohl ganz anders als zuvor disponiert, auch erkennbar werden. Genau danach fragen die Zeichen der wahren Religiosität; und weil die Wirkung des Geistes Gottes mit der Basisänderung im Herzen auch den ganzen Menschen verwandelt, kann seine wirkliche Handlung zuletzt nicht anders als in Entsprechung zum Neuwerden aufgrund der Gnade erwartet werden. So heißt es bereits in
74
Religious Affections, aaO. 9 6 - 9 9 ; vgl. Reader, aaO. 141 (in Auswahl).
75
A a O . lOOf.; Reader, 144f.
76
A a O . 205f. („Part Three. Showing What Are Distinguishing Signs of Truly
77
Vgl. zu dieser ausdrücklichen Kontinuität trotz entscheidender Differenz zwi-
Gracious and H o l y Affections. First Sign"); vgl. Reader, 160f. schen Natur und Gnade J . E . Smith (1992), 39.
§ 9: Religion: Glaube und Handeln
251
den Ausführungen zum ersten der zwölf Zeichen78, dass im geheiligten Menschen nicht nur die Gottes-Relation, sondern der Mensch selbst wirksam verändert ist, weil der Geist in ihm „wohnt" („dwelling") „as an abiding principle of action". 79 Das zwölfte Zeichen wird darauf zurückkommen: „Christian practice is the greatest sign of grace. [...] the principal sign", und das von Christus selbst eingesetzte Zeichen (Mt 7, 16): „Ye shall know them by their fruits".80 (2) Mit der Relation von Glauben und Handeln ist wiederum das reformatorische Kernproblem erreicht, dass niemals die Gnade aufgrund bestimmter Werke, d.h. menschlich korrespondierender Leistungen, sozusagen verdient werden kann. Das Praxiskriterium darf folglich nicht mit seinem inneren, geistlichen Ursprung („a new spiritual sense that the mind has") verwechselt werden; trotzdem aber gilt es! Edwards will beides sicherstellen, indem er (neben biblischen Belegstellen) immer wieder an die alltägliche, vernünftige Einsicht appelliert: Das Selbstverhältnis eines Menschen wie seine Beurteilung anderer Menschen überprüft sich zwangsläufig am praktischen Verhalten und Handeln; nicht so, als könne ein äußeres Zeichen den vollständigen Rückschluss auf die innere Einstellung erlauben - dieser Einblick ist Menschen nicht möglich81; wohl aber so, dass sich die Güte eines Menschen in seiner Lebenspraxis zeigt. Nur wenn die „Werke" eines Menschen eingesetzt würden, um die Gnade Gottes zu erlangen, käme der Fehler zustande, keineswegs aber dann, wenn die Werke „Zeichen" der Gnade sind.82 Das Selbstverhältnis ist handlungsorientiert-pragmatisch, das Gottesverhältnis aber muss gerade dafür vorrangig bleiben, sonst würden seine Zeichen sinnverkehrt verstanden.
78
Im III. Teil der Schrift (s. Anm. 76) diskutiert Edwards diese Zeichen der Unterscheidung, am ausführlichsten das letzte.
79
Religious Affections, 202; Reader, 158.
80
AaO. 406f.; Reader 165f. - Ch.S. Peirce hat in einer späteren Notiz (1893) zu seiner pragmatischen Maxime (1878) diesen Satz wiederholt und damit auch (ungenannt) J . Edwards zitiert, vgl. CP 5.402, η. 2; dt. SP, 211, Anm. 19.
81 82
Vgl. J.E. Smith, Editor's Introduction, in: Religious Affections, 40. Religious Affections, 455: „'Tis our works being the price of God's favor, and not their being the sign of it, that is the thing which is inconsistent with the freeness of that favor."
252
II. Reformatorische und neuzeitliche Tradition
3.2. Freedom of the Will Der arminianischen Kritik ging es in humaner Perspektive darum, dass die menschliche Freiheit durch den Vorrang der Gnade nicht ausgeschlossen werden dürfe.83 Edwards dagegen möchte auch in diesem Punkt die reformatorische Position verteidigen, dass Gott gegenüber von einem menschlich freien Willen, also einer neutralen Entscheidungsfreiheit, nicht die Rede sein kann. Die Widerlegung der Arminianer wird nun so aufgebaut, dass zunächst eine metaphysische Klärung der Begriffe Freiheit und Wille vorgenommen wird, bevor dann im Namen vernünftigen Denkens, des Common Sense, die offensichtliche Abwegigkeit der arminianischen Position demonstriert werden kann. Entscheidend für Edwards Argumentationsstruktur ist aber folgende Beobachtung: Die Willensfreiheit wird von arminianischer Seite um der Handlungsinstanz und Verantwortlichkeit des Menschen willen verteidigt, d.h. es handelt sich um ein moralphilosophisches Problem. Hinter dieser Problemoberfläche aber legt Edwards nicht nur begriffliche Schwierigkeiten frei, sondern zugleich auch die metaphysische und für die Gottesauffassung der Moderne entscheidende Bestimmung von Verursachung. Dass diese Verflechtung nicht gesehen wird, ist der hinter allem stehende Basiseinwand gegen die arminianische Position, und dabei geht es um den kosmologischen Zusammenhang in der Stellung der Menschen: Ist der Mensch aus dem Verursachungszusammenhang der geschaffenen Welt herausgelöst, also als Selbstverursacher zu verstehen - oder nicht? Zunächst aber zur begrifflichen Analyse der Willensfreiheit. In J. Lockes erkenntniskritischer Bestimmung menschlicher Denkund Darstellungsfähigkeiten sind es prinzipiell zwei Wege, die zur Bearbeitung von Ideen führen: sinnliche Wahrnehmung [Sensation] und geistige Wahrnehmung [Reflection]. 84 Unter den so entstandenen Ideen sind bezüglich menschlicher „Tätigkeiten" zwei, nämlich die des „Denkens" und die der „Bewegung", auf die hin die ihnen schon zugrunde liegende Idee der „Kraft" auszulegen ist: Die geistige Kraft nutzt die Bewegungsspielräume aus, und zwar einerseits aufgrund des ihr bewussten Willens, andererseits im Rahmen möglicher Freiheit.85 Die Freiheit bzw. Unfreiheit liegt in der (begrenzten) Macht der menschli83
Vgl. die Kurzdarstellung bei J.E. Smith (1992), 57f.; s. Anm. 71; und]. Edwards Freedom of the Will, s. Anm. 73.
84
Vgl. J. Locke, An Essay Concerning Human Understanding ([1690] 1979)/ Versuch über den menschlichen Verstand, Bd. I (1981), 108f. (2. Buch, 1.2-4). AaO. 276-283 (XXI. 1-8); s. § 7.1, Anm. 10.
85
§ 9: Religion: Glaube und Handeln
253
chen „Person", der Wille dagegen ist die Kraft, Handlungsentscheidungen vornehmen zu können. So wird verständlich, dass die klassische Frage, „ob der Wille des Menschen frei sei oder nicht", falsch gestellt ist. Wille und Freiheit sind beide (unterschiedliche) „Kräfte" des Menschen, also kann die eine nicht „Attribut" der anderen sein.86 Es geht also gar nicht darum, den Willen als solchen, abgesehen von Bevorzugungsoder Ablehnungssituationen, bestimmen zu wollen; und Freiheit ist einerseits Bewegungsfreiheit und andererseits Handlungsfreiheit, jeweils relativ zu ihren jeweiligen Spielräumen. Edwards nutzt diese Vorlage zur Abwehr des arminianischen Angriffs auf die reformatorische Gnadenlehre: Ein Wille, der selbst frei genannt werden soll, also das Freisein auf sich selbst anwendet, stürzt in die Bestimmungslosigkeit eines infiniten Regresses, wie Locke es bereits gezeigt hatte.87 In Edwards Worten 88 : „The plain and obvious meaning of the words ,freedom' and ,liberty', in common speech, is power, opportunity, or advantage, that anyone has, to do as he pleases. [···] If this which I have mentioned be the meaning of the word ,liberty', in the ordinary use of language; as I trust that none that has ever learned to talk, and is unprejudiced, will deny; then it will follow, that in propriety of speech, neither liberty, nor its contrary, can properly be ascribed to any being or thing, but that which has such a faculty, power or property, as is called ,will'. [...] And therefore to talk of liberty, or the contrary, as belonging to the very will itself, is not to speak good sense; if we 86
AaO. 284-288 (XXI. 10-15); vgl. T.-A. Ramelow: Wille II, in: HWP 12 (2004), 769-783, 778.
87
AaO. 296 (XXI.25): „Es ist somit klar, dass der Mensch in den meisten Fällen nicht die Freiheit hat zu wollen oder nicht zu wollen (denn wenn eine in seinen Kräften stehende Handlung vor seinen Gedanken auftaucht, kann er eine Willensäußerung nicht unterlassen, er muss sich in der einen oder andern Richtung entscheiden). Folglich lautet die nächste Frage, ob der Mensch die Freiheit habe, von den zwei Möglichkeiten der Bewegung oder Ruhe diejenige zu wollen, die ihm beliebt. Die Absurdität dieser Frage liegt so deutlich zutage, dass uns das schon hinreichend davon überzeugen könnte, dass die Freiheit nicht den Willen betrifft. Denn wenn man fragt, ob der Mensch die Freiheit habe, Bewegung oder Ruhe, Reden oder Schweigen zu wollen, je nachdem es ihm gefällt, so heißt das, man fragt, ob jemand wollen kann, was er will, oder ob ihm gefallen kann, was ihm gefällt. Das ist eine Frage, die, so denke ich, keine Antwort erfordert. Wer sie aber aufwerfen kann, muss einen Willen annehmen, der die Akte eines andern bestimmt und seinerseits wieder durch einen dritten bestimmt wird und so fort m infinitum".
88
J . Edwards, Freedom of the Will, aaO. 163; Reader, 204. - Vgl. auch die explizite Übernahme von Lockes Definition des Willens bereits aaO. 138; Reader, 194; und die weitere Ausführung des Widerspruchs aufgrund von infinitem Regress aaO. 172f.; Reader, 207f.
254
II. Reformatorische und neuzeitliche Tradition
judge of sense and nonsense, by the original and proper signification of words. For the will itself is not an agent that has a will: the power of choosing, itself, has not a power of choosing. That which has the power of volition or choice is the man or the soul, and not the power of volition itself."
(1) Theologisch gesehen hat Edwards damit erreicht, dass eine vernünftige, vom Common Sense getragene und sprachlich korrekte Auffassung des Willens mit seiner Lehre der Religious Affections und der reformatorischen Theologie übereinstimmen kann: Wenn auf den Willen die Frage nach der ihm etwa zukommenden Freiheit oder Unfreiheit gar nicht anwendbar ist, kann die arminianische Rückfrage nach der moralischen Verantwortlichkeit nicht mehr als Einwand geltend gemacht werden. Der Wille ist situativ gesehen immer ein aktiver Wille, „a prevailing inclination of the soul".89 Sich in solcher „Neigung" immer schon zu befinden heißt aber, dass es keinen neutralen (freien) Willenszustand gibt. Wille und Indifferenz schließen sich aus, der Wille will immer etwas bestimmtes bzw. schließt etwas anderes aus, und darin drängt er auf Handlung. Diese pragmatische Sicht des Willens ist hier ganz in Ubereinstimmung mit den religiösen Affekten: Was den Willen antreibt, sind seine „Motive", und was ihm direkt vorliegt, das wird als gut angesehen und deshalb gewollt. 90 (2) Diesen Konnex von Wille und Handlung entwickelt Edwards in einem parallelen Gedankengang unter dem Begriff der Notwendigkeit. Moralische Verursachungen haben strukturähnlich den natürlichen Verursachungen eine jeweils eigentümliche Notwendigkeit, die darin besteht, unter bestimmten Bedingungen unvermeidlich im UrsacheFolge-Zusammenhang verknüpft zu sein.91 Diese Willensbestimmtheit und moralische Notwendigkeit widerspricht insofern nicht der menschlichen Freiheit, weil diese ja nicht auf den Willen selbst, sondern nur auf die Durchführungsspielräume menschlicher Wirksamkeiten angewandt werden soll. Und damit stehen die arminianischen Thesen im Leeren92: Freiheit auf den Willen als Selbstbestimmung anzuwenden wirkt als Begriffsverwirrung; eine Neutralität des Willens, einen Zustand „in equilibrio" vor der eigentlichen Entscheidung anzunehmen, widerspricht dem, was der Wille als motivierte Neigung eigentlich nur sein kann; und Notwendigkeiten zugunsten jeweiliger Kontingenz zu bestreiten, liefe auf Grundlosigkeit, d.h. die Negation von 89 90 91 92
AaO. 140; Reader, 195. Vgl. aaO. 14Iff.; Reader, 196f. Vgl. aaO. 156-159; Reader, 200-203. Vgl. aaO. 164f.; Reader, 205.
§ 9: Religion: Glaube und Handeln
255
Verursachungen hinaus. Es ist dieser letzte Punkt, der wegen seiner kosmologischen Implikationen noch besondere Beachtung verdient.
3.3. Kosmologie und Gottesrelation Wenn der Wille als moralische Ursache betrachtet wird, dann muss geklärt sein, was unter einer Ursache zu verstehen ist. Edwards will zeigen, dass bei aller Verschiedenheit zwischen moralischen und natürlichen Verursachungen es in beiden doch gleichermaßen um eine notwendige Ursache-Wirkungsbeziehung geht. Ursache im weitesten Sinne umfasst dann alle Begründungszusammenhänge, dass etwas so und nicht anders geschehen ist; und diese Verbindung zwischen Ursache und Folge, zwischen „antecedent" und „consequent" ist so notwendig wie die Verbindung von Subjekt und Prädikat in einem Satz, sofern er eine wahre Aussage darstellt. 93 Hier handelt es sich um einen spezifisch „philosophischen" Sinn von Notwendigkeit, den Edwards zuvor als seinen Sprachgebrauch herausgearbeitet hatte: Dass die feststehende und eindeutige Verbindung von Subjekt und Prädikat in einem Wahrheit behauptenden Satz nicht nur als logische Notwendigkeit angesehen wird, sondern für die „Existenz" des jeweiligen Gegenstandes als „metaphysische" Notwendigkeit gilt.94 Damit soll nichts Geringeres gesichert werden als der Erfahrungszusammenhang zwischen Menschen und ihrer Welt: Was in sich konsequent gedacht und gesagt werden kann ist nicht anders, als wie die Dinge selbst sind. Der UrsacheWirkung-Konnex ist Zeichen dieser Stabilität, ohne die alles in Einzelheiten zerfallen müsste; und damit zerfiele vor allem auch der - insofern kosmologisch mitzudenkende - Gotteszusammenhang. Dieser philosophisch-theologische Höhepunkt der Argumentation wiederum in Edwards eigenen Worten 93 : „Having thus explained what I mean hy cause, I assert, that nothing ever comes to pass without a cause. What is self-existent must be f r o m eternity, and must be unchangeable: but as to all things that begin to be, t h e y are not self-existent, and therefore must have some foundation of their existence without themselves. [...] But if once this grand principle of common sense be given up, that what is not necessary in itself, must have a cause; and we begin to maintain, that things m a y come into existence, and begin to be, which heretofore have not been, of themselves, without any cause; all our means of ascending in our arguing from the creature to
93 94 95
A a O . 180f.: Reader, 209f. Vgl. aaO. 152-155; Reader, 199f. (in Auswahl). A a O . 181-183; Reader, 210f.
256
II. Reformatorische und neuzeitliche Tradition
the Creator, and all our evidence of the being of God, is cut off at one blow. In this case, we can't prove that there is a God, either from the being of the world, and the creatures in it, or from the manner of their being, their order, beauty and use. For if things may come into existence without any cause at all, then they doubtless may without any cause answerable to the effect. [...] if things may be without causes, all this necessary connection and dependence is dissolved, and so all means of our knowledge is gone. If there be no absurdity or difficulty in supposing one thing to start out of nonexistence, into being, of itself without a cause; then there is no absurdity or difficulty in supposing the same of millions of millions. For nothing, or no difficulty multiplied, still is nothing, or no difficulty; nothing multiplied by nothing don't increase the sum."
(1) Diese Passage hat etwas Ergreifendes und Dramatisches, denn sie sieht weiter in die Moderne, als es den aktiven Geistern der Arminianer wohl bewusst gewesen ist. Edwards selbst braucht im eigenen Kontext den kosmologischen Gedanken der Verursachung, u m die calvinistische Lehre von der Vorsehung Gottes zu verteidigen. 96 Aber auch ganz unabhängig davon ist der Kern des Arguments bemerkenswert: Alles, was in der Welt des Geschaffenen existiert, ist nicht notwendig aus sich selbst (das kann nur für Gott, die Ewigkeit des Unveränderlichen, angenommen werden), sondern unterliegt dem Werden und Vergehen, hat einmal begonnen und wird enden. Dass in diesen Werdeprozessen aber ein Zusammenhang vorliegt und gedacht werden kann, ist allein dem Verursachungsprinzip zuzuschreiben. Es verknüpft mit Notwendigkeit Ursache- und Folgezusammenhänge. Nicht die einzelnen Ereignisse sind notwendig, aber ihr Konnex. Deshalb wäre es eine kosmologische Katastrophe und wider allen C o m m o n Sense, wenn diese Kausalnotwendigkeit gelockert würde: Die Dinge müssten jeweils allein aus sich selbst erklärt werden und entstanden sein, d.h. anstelle einer Ordnung der Dinge stünde radikale Kontingenz 97 ; und die Gottesrelation wäre nicht mehr demonstrierbar, d.h. die Schöpfung aus dem Nichts wäre nicht mehr der Anfang von allem - durch diesen Akt sinnvoll - Geschaffenen, sondern das ursachenlose ex nihilo gälte für alles, was ist: eine millionenfache unzusammenhängende Absurdität! (2) Edwards kann sich in seiner A b w e h r der radikalen Kontingenz auf große Traditionen berufen. Der kosmologische Gottesbeweis, an den die Textstelle deutlich anspielt, wenn von der Welt und dem Geschaffenen her („their being, their order, beauty and use") auf Gott geschlossen
96 97
Vgl. J.E. Smith (1992), 71ff. Zum (religionskritischen) Problem des Werdens s. § 8.3.2, Anm. 155.
§ 9: Religion: Glaube und Handeln
257
werden soll, ist eine dieser Traditionen. 98 Dann ist es wiederum J . Locke, in dessen Geist Edwards spricht: „Wenn wir demnach wissen, dass es ein reales Dasein gibt, und ferner, dass das Nichtsein ein solches nicht hervorbringen kann, so ist es offensichtlich bewiesen, dass von Ewigkeit her irgend etwas bestanden hat-, denn was nicht von Ewigkeit her dagewesen ist, hat einen Anfang gehabt; was aber einen Anfang gehabt hat, muss durch etwas anderes hervorgebracht sein."99
(3) Auch für Locke führt diese Offensichtlichkeit aufgrund aller Erfahrung zu einem „Beweis" für die Existenz Gottes 100 , und noch für Ch.S. Peirce ist es die Kontinuierlichkeit des Natur- und Denkzusammenhanges, die bei allen inzwischen einzubauenden Vorbehalten bezüglich der Exaktheit solcher Entwicklungsprozesse doch noch an dem Prinzip hängt: „Jedes Ereignis muss eine Ursache habend1 Allerdings wird Peirce im Rahmen seiner Kosmologie auch den Zufall denken und in sein Verständnis der Evolution integrieren können. 102 Kontingenz bedeutet insofern nicht das Ende von Erfahrungszusammenhängen, sondern eher deren Kraft zur Erneuerung. Exemplarisch aber bleibt Edwards warnendes Insistieren auf einer kosmologischen Erklärung, die mit Gottes Schöpfung harmoniert und deshalb nicht dem Nichts unerklärlicher Einzeldinge ausgeliefert ist. (4) Edwards Kosmologie baut insofern auf der Lehre der Religious Affections auf, als der „freie Wille", soll er außerhalb von Notwendigkeit und Verursachung stehend aus sich selbst erklärt werden, in seiner „Indifferenz" nicht nur abstrakt gegenüber jeder wirklichen Entscheidungssituation erscheint, sondern auch „kalt": Das Herz, die Gemütsbewegungen und Gefühlslagen müssten zwangsläufig unbeteiligt bleiben. Ist das aber die zutreffende Beschreibung für die Erfahrungen im wirklichen Lebens- und Forschungszusammenhang?103 Wenn nicht, so ist gerade auch für Situationen des Erkennens zu entdecken, dass aus 98
Vgl. den Hinweis bei J.E. Smith, aaO. 80 (n. 10), dass Edwards sonst nicht den kosmologischen, sondern eher den ontologischen Beweis bevorzugte.
99
J . Locke, Bd. II (1981), 296 (4. Buch, X.3).
100 Vgl. aaO. IX.2; aber auch die vorsichtigen Äußerungen in X.7. 101 Ch.S. Peirce, RS, 98 (Die Ordnung der Natur [1878]). 102 Vgl. z.B. RS, Text ILIO (Antwort auf die Nezessitaristen [1893]). - Edwards Sicht der (deterministischen) Notwendigkeit steht zu seiner Zeit unter dem dominanten Einfluss von Newtons Mechanik. Locke und Newton waren zu Edwards Studentenzeit Gegenstände des Curriculums in Yale; vgl. Smith, aaO. 24, 74. 103 Vgl. J . Edwards, Freedom of the Will, aaO. 320f.; Reader, 213f.
258
II. Reformatorische und neuzeitliche Tradition
affektiver Prägung, aus bestimmter „Neigung" des Willens heraus agiert wird. 104 Peirce wird später in diesem kosmologischen bzw. evolutionären Sinn der Natureinbindung des Geistes von „Instinktbegabung" sprechen. 103 Für Edwards ging es zuerst und vor allem um die Beteiligung des Herzens und den Nachweis, dass es gerade diese Affektlage ist, die mit Gott zu tun hat. Damit ist nicht nur ein glaubensinnerlicher Aspekt genannt, sondern eben ein kosmologischer; und in diesem doppelten Sinn, noch bevor diese beiden Aspekte dann wissenschaftsgeschichtlich auseinander treten werden, hat Edwards in der philosophisch-theologischen Verteidigung des reformatorischen Grundgedankens und des vernünftigen Common Sense der Aufklärung die Einheit der Erfahrung zusammenzuhalten versucht. Ihr Inbegriff ist „experimental", „experiental" oder „heart religion". 106 Die Selbst- und Gottesrelation standen so in einem Kontinuum, das durch Verursachung, Glaube und Handeln, zusammengehalten wurde.
104 AaO. 359; Reader, 218: „Nor have men commonly any notion of freedom consisting in indifference. For if so, then it would be agreeable to their notion, that the greater indifference men act with, the more freedom they act with, whereas the reverse is true. He that in acting, proceeds with the fullest inclination, does what he does with the greatest freedom, according to common sense." 105 RS, 100; vgl. 199 u.ö. 106 Vgl. zu diesen für Edwards gleichbedeutenden Begriffen bei Smith, 54, 56 (n. 17).- Zum experimentellen Geist der American Philosophy gehören seither auch Uberprüfung und Korrekturfähigkeit im Erfahrungsprozess, vgl. D.R. Anderson (2006), 32: „In a way, like Jonathan Edwards's Calvinistic uncertainty concerning the authenticity of his own conversion, the origins of pragmatism call for an awakening to the need for ongoing awakenings - to the fact that we live in risk, in the precarious, and in the instability of fallibility."
§ 9: Religion: Glaube und Handeln
259
III. Das Unbedingte: Ausarbeitung von Kreativität Zwei begriffliche Entscheidungen liegen dieser programmatischen Uberschrift zugrunde: Kategorial gesehen steht das Unbedingte an der Stelle des Ersten und ist weitgehend deckungsgleich mit verwandten Begriffen wie das Unverfügbare, Absolute, Ultimative; metaphysisch gesehen wird dieses Unbedingte zugleich als Kreativität, d.h. als immer wirksame ursprüngliche Ermöglichung aufgefasst, so dass die kategoriale Bedeutung des Ersten in einer evolutionären Metaphysik ausgelegt werden kann.1 Diese begrifflich-kategoriale Ausgangsbestimmung bleibt gegenüber der religiösen Erfahrung und ihren Äußerungen aber abstrakt, wenn es nicht gelingt, an den jeweiligen Phänomen den Aneignungs-, Darstellungs- und Auslegungszusammenhang so nachzuweisen, wie er der begrifflichen Struktur entspricht. Die Religionsphilosophie hat hier ihre eigentliche Bewährungsprobe: Wie lassen sich Phänomene des Unmittelbaren verstehen, wie werden sie angeeignet, welche fundamentale Rolle spielen Gefühle, genauer: Gefühlsqualitäten? - Wie kommt die Unbedingtheitsrelation in Wahrnehmungen vor und wie sind diese darstellbar? - Wie lässt sich eine Theorieform auf dieser Basis ausbilden, eine Auslegung dessen, was selbst und als solches sich dem Zugriff entzieht, wie es die Mystik lehrt? - Das Unbedingte, jener „wahre Abgrund für die menschliche Vernunft", von dem Kants Kritik unberechtigter Vernunftbegriffe noch mit einer gewissen Wehmut des Verlustgefühls gesprochen hatte2, hat heute einerseits keine fraglose begriffliche Sicherheit mehr, vertritt aber andererseits die Stelle der unaufgebbaren Abkünftigkeit aller Erkenntnis und so auch aller Din-
1
S. § 1.4 (u. Schema 1.2); § 16-18.
2
I. Kant, K r V , A 613. - Kant selbst bezieht sich zur Illustration auf eine kosmologische Klage über das Weltgeschick, die „Unvollkommene Ode über die Ewigkeit", seines Zeitgenossen, des Physiologen und Dichters Albrecht von Haller (1708-1777), (1923), 181-185; D . Henrich (1967), 164, verweist auf den „Abgrund des Seins" im Sinne von J . Taulers (1300-1361) mystischen Predigten, vgl. Tauler (1968), 331 (Nr. 61): „Dis gat in ein abgrúnde; in disem ist eigenlich Götz wonunge verre [weit] me [mehr] denne in dem himel oder in allen creaturen [...]. Abyssus abyssum invocat"; s. § 5.3 (zur neuplatonischen Tradition) u. § 7.3, Anm. 30 (zur Verwendung der Metapher des Abgrundes bei Luther).
260
III. Das Unbedingte: Ausarbeitung von Kreativität
ge.3 Die Religionsphilosophie wird dies nicht einfach als Faktum vorausgesetzt sein lassen (wie empirische Einzelwissenschaften es tun können), sondern ihre Aufgabe darin sehen, generell - und in Ubereinstimmung mit der religiösen Erfahrung - die Phänomene dieser Vorausgegebenheit als solche und in ihrer realen Wirksamkeit zu bestimmen. Es muss also versucht werden, Kreativität und Abgründigkeit zusammen zu denken.
§ 10: Gefühlsqualität 1. Das Paradox der Unmittelbarkeit Die erkenntnistheoretischen Debatten der Moderne und die Philosophie des deutschen Idealismus haben Metaphysik, Religionsphilosophie und Wissenschaftstheorie gleichermaßen ein Problem aufgegeben, das sich bis heute in anhaltend umstrittenen Lösungen präsentiert: Ist die unwiderlegliche, erste Evidenz des Wissens um Dinge und sich selbst ein (gefühlsbestimmter) Glaube, ein innerer Effekt der Reflexion oder immer nur Teil eines Prozesses, in dem Unmittelbarkeit eben nur vermittelt konzipiert werden kann? Die empiristische Denktradition bestreitet jede gesetzhaft-reale Brückenfunktion zwischen Denken und Sein: Evidenzgefühle sind Sache von Gewohnheit und Glaube (D. Hume), und in metaphysischer Anknüpfung und religionsphilosophischer Anwendung wird daraus die eigene Welt einer GlaubensUnmittelbarkeit, die dem immer unfertigen und seiner selbst nicht gewissen Wissen abgewonnen werden kann (F.H. Jacobi). 4 Die rationalistische Denktradition (R. Descartes) dagegen optiert für die Selbstgewissheit des Wissens aus sich selbst - belastet mit der Frage, ob dies überhaupt möglich sei und gesteigert in der idealistischen Wendung, das Absolute selbst präsentiere sich derart unmittelbar 0.G. Fichte). 5 Die Prozessualität der weltgeschichtlichen Darstellungsformen (G.W.F. Hegel) 6 bestreitet schließlich die empiristisch-rationalistische Alternati3 4
5
6
Vgl. E.-O. Onnasch: Unbedingte, das, in: H W P 11 (2001), 108-112. S. § 9.1. - Vgl. E. Herms (1976), 158: „.Unmittelbarkeit' bezeichnet bei Jacobi nicht wie in der Kantschule die Weise der Erschlossenheit allen Wissens für das Wissen, sondern eine bestimmte Weise von Wissen selber." S. S 9.2.1. - Vgl. R. Barth (2004), Kap. 5; D. Henrich (2004), 227: „Fichte hat die wissende Selbstbeziehung, die wir als im Subjekt vollzogen ansetzen, mit einem überindividuellen [sc. absoluten] Ich-Gedanken verbunden." Vgl. L. Hühn/D. Korsch: Unmittelbarkeit, in: RGG 4 8 (2005), 793f.
§ 10: Gefühlsqualität
261
ve und will doch beiden Seiten Recht geben, allerdings nur in der realen Vermitteltheit des Unmittelbaren. Was aber geht verloren, wenn den offensichtlichen Gewissheitslücken des distanzierten Reflexionswissens wieder nur auf dem Vermittlungswege Gerechtigkeit werden soll? Das Problem löst sich jedenfalls nicht so, dass alle geistigen Aktivitäten entweder als unbegriffene Unmittelbarkeiten oder umgekehrt als gefühlsfremde Vermittlungsleistungen ausgegeben werden. Beide Extreme kommen mit der Selbsterfahrung der Menschen nicht zur Deckung, die sowohl sich selbst immer mitempfinden als auch die unmittelbare Sachhaltigkeit im Wissen um die Dinge problemlos voraussetzen. Im Wahrnehmen, Erkennen und Denken hängen diese beiden Seiten aber wiederum aufs engste zusammen, sodass der höchste Punkt dieser Problemkonstellation dann erreicht ist, wenn an der Kreuzung von objektiver und subjektiver Ausrichtung gefragt wird, ob denn ein unmittelbares Selbstbewusstsein möglich oder ein innerer Widerspruch wäre. S. Kierkegaard hat in seiner Kritik an der philosophischen Denkbedingung des methodischen (cartesischen) Zweifels7 und im Namen der existentiellen Selbstgegenwart das unmittelbarmittelbare Verhältnis in gegenseitig unzugängliche Ebenen auseinander gelegt und schließlich von einem unvermeidlichen Paradox gesprochen: „Kann denn das Bewusstsein nicht in der Unmittelbarkeit bleiben? Das wäre eine törichte Frage; denn wenn es das könnte, wäre gar kein Bewusstsein da. Wie aber wird dann die Unmittelbarkeit aufgehoben? Durch die Mittelbarkeit, die die Unmittelbarkeit aufhebt, indem sie sie voraussetzt. Was ist dann die Unmittelbarkeit? Es ist die Realität. Was ist die Mittelbarkeit? Es ist das Wort. Wie hebt diese jenes auf? Indem sie sie ausspricht; denn das, was ausgesprochen wird, ist stets vorausgesetzt. [...] In dem Augenblick, in dem ich die Realität aussage, ist der Widerspruch da; denn was ich sage ist die Idealität."8 „Aber was ist denn dieses Unbekannte, an dem sich der Verstand in seiner paradoxen Leidenschaft stößt und das dem Menschen sogar seine Selbsterkenntnis stört? Es ist das Unbekannte. Aber es ist ja nicht irgendein Mensch [...] oder irgendein anderes Ding, das er kennt. So lasst uns dieses Unbekannte den Gott nennen."9
Paradox wird hier der Widerspruch genannt, dass etwas nichtbegrifflich Reales mit den Mitteln der Idealität nicht adäquat erfasst werden kann, gleichwohl aber mit Leidenschaft erfasst werden soll. Was 7 8 9
S. §9.2.1, Anm. 47. S. Kierkegaard, Pap. IV, Β 1, S. 146; dt.Ges. Werke, 10. Abtig., 154f.; vgl. H. Deuser, Existenz-Mitteilung (2006), 206ff. Kierkegaard, Philosophische Brocken, SKS 4, 244f.; dt. aaO. 37 (Kapitel III: Das absolute Paradox).
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III. Das Unbedingte: Ausarbeitung von Kreativität
der Verstand nicht vermag, Unmittelbarkeit im darstellenden Vermitteln zu bewahren - an dieser Sachhaltigkeit der Darstellung haben Menschen zugleich das allergrößte und allernatürlichste Interesse. Im höchsten Exempel, dem Gottesgedanken, bedeutet dies, negativ gesagt, dass ein Gottesbeweis nicht möglich ist, weil aus einer berechtigten Idealität nicht auf Realität geschlossen, sondern diese eben immer nur vorausgesetzt werden kann; positiv gesagt verweist das Paradox der theoretisch uneinholbaren Unmittelbarkeit (weil es sich um ein leidenschaftliches Verhältnis handelt) auf die Wendung des ganzen Ansatzes, den „Sprung", es gar nicht mehr theoriegeleitet zu versuchen, sondern von der Vorgegebenheit des Daseins ausgehend das Gottesverhältnis als vorrangig wirksam anzuerkennen.10 Dann allerdings verbietet sich die Demonstration über Vermittlungsleistungen des Bewusstseins, infrage kommen dagegen indirekte Redeformen, die die Existenzbedingungen eines Menschen auslegen und damit die hier gesuchte Unmittelbarkeit thematisieren helfen. Genau diese Funktion hat das von Kierkegaard der Sache und der Person nach für diese Sicht der Dinge eingesetzte Pseudonym Johannes Climacus, der fiktive Autor der (unpublizierten) philosophiekritischen Schrift De omnibus dubitandum est wie nachfolgend der Philosophischen Brocken (1844). Das Paradox wird zum Warnzeichen vor der unzugänglichen Unmittelbarkeit, um diese Situation dann doch für die Auslegung der menschlichen Existenz im Gottesverhältnis produktiv werden zu lassen. Uberraschenderweise taucht schon bei Kant der Begriff eines „unmittelbaren" Bewussteins bzw. Selbstbewusstseins auf (d.h. Schleiermachers Grundbegriff11), wenn es darum geht, die Sittlichkeit in der Kausalität der Freiheit als eigentümliche Aktivität des Selbstbewusstseins verstehen zu müssen: Dann können „Verstandeswelt" und „Sinnenwelt" nicht nach dem Muster der theoretischen Vernunft (d.h. der Kategorien) miteinander verbunden gedacht werden, sondern nur so, dass das aktive Subjekt sich seiner selbst „unmittelbar" bewusst werden muss.12 Damit ist im Kontext zunächst nur gemeint, dass keine „Affi-
10
11
12
Zur Ablehnung des Gottesbeweises aus der Idealität des Begriffs vgl. die sog. Spinoza-Anm., aaO. SKS 4, 246f.; dt. aaO. 39f.; zur konstruktiven Wendung im „Sprung" SKS 4, 247f.; dt. aaO. 40f.; s. § 9.2.2, Anm. 62f. Vgl. F. Schleiermacher, Der christliche Glaube (1830/31), § 3: „Die Frömmigkeit [...] ist rein für sich betrachtet weder ein Wissen noch ein Tun, sondern eine Bestimmtheit des Gefühls oder des unmittelbaren Selbstbewusstseins." Vgl. E. Herms (2003), 289f.; I. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (3. Abschn., „Von dem Interesse, welches den Ideen der Sittlichkeit anhängt"), Werke Bd. 6, A 106f. : „nach der Kenntnis, die der Mensch durch innere Emp-
§ 10: Gefühlsqualität
263
zierung der Sinne" vorliegt; aber immerhin ist die Stelle genau markiert, an der der Unmittelbarkeit eine Funktion zukommt, die durch reflektierte oder empirisch-synthetische Vermittlungsleistungen nicht mehr erreicht wird, sondern von diesen - paradox - schon vorausgesetzt werden muss. Unmittelbarkeit ist insofern unabdingbar, wenn auch schwer greifbar. Schleiermacher hatte bereits in den Reden Uber die Religion (1799) aus dieser Not die Tugend der Einheit von „Anschauung" und „Gefühl" gemacht, die fundierend alles bewusste und unbewusste Leben begleitet; und er hat - wird jene Einheit als solche, als jener „erste geheimnißvolle Augenblik" zum Gegenstand der Betrachtung - damit zugleich eine moderne Religionstheorie begründet.13 Was unmittelbar (im Augenblick) war - ist vergangen, wenn es kommuniziert werden soll. Raumzeitlich gesehen ist das Unmittelbare also gar nicht als solches zu bestimmen, es ist sozusagen (räumlich wie zeitlich) vor den Bestimmungen, ohne deren Vermittlung die Kommunikation aber gar nicht anlaufen könnte. Es sind die Phänomene der „Anschauung", die wir als erstes antreffen, so wie und weil sie uns bedrängen. Kant hat für diesen Bereich der phänomenalen Voraussetzungen von „transzendentaler Ästhetik" gesprochen und Raum und Zeit als die Bedingungen genannt, unter denen eine Kommunizierbarkeit von Anschauung überhaupt nur gedacht werden kann. Was vor den raumzeitlichen Anschauungsformen liegt, wäre demnach die gänzlich unanschauliche Voraussetzung aller Sachgegebenheit. - Wird diese Zuordnung von Unbestimmtheit und Bestimmung über ihr erkenntniskritisches Muster hinausgehend auch kosmologisch angewandt, so muss die im Unmittelbaren vorausgesetzte Bestimmungsmöglichkeit (für Kant liegt sie in den geheimen „Grundquellen des Gemüts"! 14 ) offenbar selbst als Ursprung (ex nihilo) für die Herausbildung nicht nur raumzeitlicher, sondern aller generalisierenden Bestimmungen ange-
findung von sich selbst hat, darf er sich nicht anmaßen zu erkennen, wie er an sich selbst sei. [...] , indessen er doch notwendiger Weise über diese aus lauter Erscheinungen zusammengesetzte Beschaffenheit seines eigenen Subjekts noch etwas anderes zum Grunde Liegendes, nämlich sein Ich, so wie es an sich selbst beschaffen sein mag, annehmen, und sich also in Absicht auf bloße Wahrnehmung und Empfänglichkeit der Empfindungen zur Sinnenwelt, in Ansehung dessen aber, was in ihm reine Tätigkeit sein mag (dessen, was gar nicht durch Affizierung der Sinne, sondern unmittelbar zum Bewusstsein gelangt), sich zur intellektuellen Welt zählen muss, die er doch nicht weiter kennt"; s. § 8.2.3. 13
Vgl. Herms, aaO. 290f.; F. Schleiermacher (1999), 89 (2. Rede).
14
Kant, K r V , A 50 (erster Satz der „Transzendentalen Logik"). - Zur schwierigen und vielsagenden Konzeption des „Gemüts" innerhalb der transzendentalen Ästhetik vgl. R . Brandt (1998), 94f.
264
III. Das Unbedingte: Ausarbeitung von Kreativität
nommen werden: Die mögliche Bestimmbarkeit muss der Regelmäßigkeit der Dinge voraus liegen und bleibt der Motor evolutionären Wachstums, wie Ch.S. Peirce' Kosmologie gezeigt hat. b Unmittelbarkeit als Unbestimmtheit ist in Vermittlungen aktiv, steht also in den bedingten Vermittlungen produktiv vorausgehend in der Kraft des Unbedingten. Zwischen Wahrnehmungstheorie, Kosmologie und Religionsphilosophie muss keine künstliche Brücke gebaut werden, der genuine Zusammenhang liegt schon vor. Unmittelbarkeit und Vermittlung müssen dann nicht mehr als Alternativen aus getrennten Welten gelten (wie Kant es für die Neuzeit exemplarisch konzipierte), sondern sie können perspektivisch als ständig miteinander korrespondierend verstanden werden. Unmittelbarkeit als solche anzuerkennen muss nicht heißen, Vermittlung sei dadurch entwertet; und Vermittlungen in logischen Schlussformen einzusetzen muss nicht heißen, Unmittelbarkeit sei bloßer Schein. Wird dies beachtet, droht auch kein Rückfall in vorkantischen Dogmatismus (der theoretischen Behauptung von nicht-sinnlichen Gegenständen) und kein Fehlgriff aufgrund nachkantischer empirischer Verhärtungen der Religionsausfassung (die Religiosität durch religionswissenschaftlich beschreibbare Funktionalität ersetzt16). Peirce' kategoriale Semiotik - wird sie nicht nur formalisiert, sondern im Sinne ihres philosophischen Gesamtanspruchs aufgenommen17 - liefert die gesuchte Perspektivität einer Denk- und Erfahrungsstruktur, in der die Unmittelbarkeit der (Selbst-)Wahrnehmung unverkürzt mit den vermittelnden Denkformen zusammen bestehen kann. Dazu wird ein infinit differenzierbares Kontinuum der Realität vorausgesetzt, in dessen Zeichenstrukturiertheit die qualitativ auftretende Möglichkeit ebenso konstitutiv ist wie gegenständliche Existenz und gesetzmäßige Zusammenhänge. Dann ist zum „Phänomen der Persönlichkeit" zu sagen: „Persönlichkeit [personality]" ist „eine gewisse Art der Koordination oder Verknüpfung von Ideen. [...] W e n n wir indessen in Erwägung ziehen, dass dem von uns entworfenen Prinzip zufolge eine Verknüpfung von Ideen selbst eine allgemeine Idee ist und dass eine allgemeine Idee ein lebendiges Gefühl [living feeling] ist, dann wird klar, dass wir im Verstehen der Persönlichkeit einen merklichen Schritt vorwärts gemacht haben. Diese Persönlichkeit ist wie eine allgemeine Idee nichts, was in einem Augenblick [instant] wahrzunehmen ist. Sie muss in der Zeit gelebt werden;
15
S. § 1.4, A n m . 26ff.; vgl. Peirce, Eine Vermutung über das Rätsel [der Sphinx] (1887/88), in: RS, N r . II.4, S. 167-170; in: EP 1, no. 19, p. 277ff.; ders., T h e Logic of Continuity (1898), in: R L , 2 5 8 - 2 6 8 ; dt. in: L U , 346-359.
16
S. § 14.3.
17
S. S 1, A n m . 4; § 10.2 u. 10.3.
§ 10: Gefühlsqualität
265
freilich kann keine endliche Zeit sie in ihrer ganzen Fülle enthalten. Gleichwohl ist sie in jedem infinitesimalen Zeitintervall gegenwärtig und lebendig, wenn auch speziell gefärbt durch die unmittelbaren Empfindungen in diesem Augenblick [moment]. Insofern sie in einem Augenblick [moment] wahrgenommen wird, ist die Persönlichkeit unmittelbares Selbstbewusstsein." 18
(1) Die so beschriebene Unmittelbarkeit ist Selbstgefühl, ohne als Bruch mit der vermittelnden Reflexion aufgefasst werden zu müssen. Denn die Kontinuität der Ideen durchläuft das Selbst eines Menschen semiotisch strukturiert; und ob das unbewusst, bewusst oder selbstbewusst geschieht, ist eine von jenen Prozessen und ihren jeweiligen Darstellungsformen abhängige Frage, die nicht mehr an erster Stelle steht. Unmittelbarkeit ist insofern als Aufbauelement aller geistigen Prozesse anzuerkennen, sich darin als ein Selbst bewusst zu werden ein spezieller Fall von Wahrnehmung. (2) Die so beschriebene Unmittelbarkeit ist in der Zeit, wenn sie auch als Zeitpunkt (instant) niemals vollständig erfasst werden kann; sie ist im Augenblick (moment), die Fülle der Zeit, das aber nur so, wie die Zeit „infinitesimal" aus der bloßen Serie von Zeitpunkten ausbricht und als Ereigniszeit aufgefasst werden muss. Hier liegen Gefühlsqualität und Ermöglichung ineinander, das hatte Schleiermacher auf seine Weise als den ersten geheimnisvollen Augenblick19 bezeichnet. (3) Peirce hat an derselben Stelle die evolutionistischen, metaphysischen und religionsphilosophischen Implikationen der kategorialen Semiotik ausdrücklich benannt: „Wachstum und Leben" sind die universalen Kennzeichen der Ausbildung von Ideen - damit auch der Persönlichkeit und der „Idee eines personalen Schöpfers". 20 Die auf das unmittelbare Selbstbewusstsein gegründete Religionstheorie hat dann einen neuen systematischen Denkzusammenhang gefunden, der dem Paradox der Unmittelbarkeit gerecht wird. Gegen diese Auslegung des unmittelbaren Selbstbewusstsein könnte der Einwand erhoben werden, sie verdanke sich einem nicht legitimierten Übergang von einem wahrnehmungstheoretischen und erkenntniskritischen Tatbestand auf ontologische bzw. kosmologische Spekulationen - bestenfalls Hypothesenbildungen: Aus dem Faktum, 18
Peirce, Das Gesetz des Geistes (1892), in: N Z , 206 (hier wird „feeling" mit „Empfindung" übers, und „Augenblick" an der zweiten Stelle mit „Moment"); E P 1, 331.
19
S. A n m . 13.
20
Peirce, N Z , 207; vgl. RS, 329ff.
266
III. Das Unbedingte: Ausarbeitung von Kreativität
dass jedes Wahrnehmungsurteil auf Prämissen unmittelbarer Anschauung zurückgreifen müsse, dass insofern die Vermittlungsleistung im Urteil jeweils vergangene Unmittelbarkeit konstitutiv voraussetze, folge nicht ohne weiteres, dass der hier Unmittelbarkeit genannten Vorgabe auch die reale Potentialität für Ereignisse einschließlich Wahrnehmungsurteile zukomme. - Diesem Einwand gegenüber ist vor allem daran zu erinnern, dass die kategoriale Semiotik nicht mehr unter transzendentalphilosophischen Voraussetzungen operiert: Die Abtrennung der empirischen Verstandesbegriffe vom Vernunftbegriff muss vorweg gar nicht vollzogen werden, weil Denken ebenso wie Erkennen und Wahrnehmen immer zeichenvermittelt und gegenstandsbezogen strukturiert sind. Dann wird die Unmittelbarkeit des anschaulich Gegebenen zum konstitutiven Merkmal in allen Zeichenprozessen. Dass Neues entdeckt und entworfen werden kann, ist allein durch die produktive Instanz zu erklären, die wir in verarbeitenden Zeichenvermittlungen jeweils voraussetzen - wie sollten sonst Wirklichkeit, Welt, Wahrheit und ihre Prozessualität sein können? Zwischen den fachlichen Disziplinunterscheidungen von Wahrnehmungstheorie, Erkenntniskritik, Kosmologie, Ontologie, Metaphysik und Religionsphilosophie waltet also eine Strukturanalogie, der gemäß jeweils Unmittelbarkeit und Vermittlung aufbauend und real wirksam miteinander im Spiel sind. Um mit der phänomenalen Verflechtung von Unmittelbarkeit und Vermittlung noch einmal einzusetzen: Denken wir uns ein Bühnenbild und eine Theatergruppe, die für uns als Zuschauer Szenen eines bestimmtes Stückes spielt, daneben aber - am Rande der Szene oder als Unterbrechungen - zugleich auch Bühnenumbau, Regieelemente, Kostümwechsel etc. bewusst sehen lässt. Das Szenen- und Bühnenbild wird also in seiner Künstlichkeit zugleich dekuvriert und immer wieder neu herbeigeführt, die Unmittelbarkeit des Miterlebens wird durch die Vermittlung des Herstellungsprozesses kontrastiert, aber letztlich nicht zum Verschwinden gebracht. Es wird gespielt, aber im unmittelbaren Miterleben ist es ernst - auch dann, wenn gelacht wird! Die zugleich aufgedeckte Machart, das Wissen um die Fiktion, wirkt als Unterbrechung der Unmittelbarkeit und eröffnet Distanz, doch diese Brechung der Zuschauerperspektive dementiert nicht die Ernsthaftigkeit unmittelbaren Sehens immer dann, wenn es wieder auftritt. So bleibt die Bühne der Schauplatz unmittelbarer Wahrnehmung auch dann, wenn dasselbe Stück wiederholt gezeigt wird, und nur die Häufigkeit und jeweilige Konstellation unmittelbarer Wahrnehmung im Wechsel mit distanzierendem Wissen aufgrund von Vergleichsmöglichkeiten variie-
§ 10: Gefühlsqualität
267
ren. Der Bühnenblick illustriert, dass Wahrnehmungsunmittelbarkeit und Vermittlungsbewusstheit durchaus miteinander bestehen, und das gilt entsprechend für die Selbstwahrnehmung: ihre (unmittelbare) Gefühlsqualität. Das Selbst baut sich in komplexen Strukturen auf, zu denen schließlich auch die bewertende Reflexion gehört, die sich auf das Verhältnis zwischen dem unmittelbaren und dem vermittelnden Blick noch einmal beziehen kann. Dann werden die beiden vorausgehenden Blicke verarbeitet, es kommt zu einer Gesamtreaktion und Interpretation des Ereignisses, in das der unmittelbare Blick ebenso eingeht wie das Wissen um seine Vermittlung. Diese dritte Instanz kann im vorliegenden Beispiel auch verallgemeinert als Theorie des Theaters oder Theorie des Selbst(-Bewusstseins) ausgearbeitet werden, und als solche können diese dann der kommenden Erfahrung schon voraus liegen. Trotz dieser Interpretationsvorgabe aber wird weder auf die Wahrnehmungsunmittelbarkeit und Gefühlsqualität noch auf die Vermittlungsbewusstheit Verzicht geleistet. Die drei Aspekte: Unmittelbarkeit, Vermittlungssituation und Interpretation sind auf allen Stufen unreduzierbar und kommen doch im Zeichenereignis in jeweils einheitlicher Perspektive zur Darstellung. Das Paradox der Unmittelbarkeit hat seinen Ort gefunden.
2. Die semiotische Lösung: Ikonizität Die Theorie der Zeichen liefert eine Perspektivierung, die phänomenologischen Kategorien gestatten eine Aspektuierung - zusammengefasst: kategoriale Semiotik21, die sich hermeneutisch und lebensweltlich überprüfen, aber auch in ihrer universalen Struktur formalisieren lässt. Von den Phänomenen der unmittelbaren Gefühlsqualität bis zur Uberzeugungsbildung, Handlungsorientierung und Schlusslogik von Sätzen reicht das Kontinuum unterschiedlicher, aber strukturell einheitlicher, immer vergleichbarer, für alle Wahrnehmungs-, Erkenntnis- und Denkprozesse iterativ und selbstbezüglich anwendbarer Darstellungsformen, die sich im Anschluss an Peirce' wie folgt klassifizieren las-
21 22
S. Anm. 17. Peirce' Bemühungen um eine ausreichend differenzierte Klassifikation der Zeichentrichotomien haben ihren wichtigsten Vorläufer in seiner früheren Kategorienschrift (1867), vgl. EP 1, no. 1 (dt. in: SS 1, Nr. 5), und ihren ersten Höhepunkt für die Spätphilosophie in seinem Syllabus von 1903, vgl. EP 2, no. 21: „Nomenclature and Divisions of Triadic Relations, as Far as They Are De-
268
III. Das Unbedingte: Ausarbeitung von Kreativität Schema 3: Zeichenklassifikation
GQ - Gefühlsqualität (quality of feeling), Ermöglichung, Erstheit E - Existenzrelation, (unmittelbares/dynamisches Objekt), Zweitheit R - Relationalität, (unmittelbarer/dynamischer/normaler Interprétant), Gesetz, Drittheit R: Triadische Relation / Zeichenereignis / Repräsentation I Zeichen
1 E
GQ 1
Objektrelation
Interprétant Zeichenklassen
Trichotomien
GQ
1
1
R
'
unmittelbares Objekt
1 dynamisches Objekt
CQ
E
1
1
unmittelbarer Interprétant
dynamischer Interprétant
GQ
GQ
GQ
GQ
E
I.
II.
III.
IV.
'
i normaler Interprétant
E
»S
R ·*
GQ
GQ
E
GQ
E
R
V.
VI.
VII.
Vili.
IX.
Χ.
Quali
Ikon
Rheme
Sin
Index
Dicent
Legi
Symbol
Argument
Ein einheitlich auftretendes Zeichenereignis ist - in seiner semiotischen Perspektivierung und kategorialen Aspektuierung betrachtet - dreigliedrig (triadisch), d.h. prinzipiell zerlegbar: Seine Relationalität (R, verstanden als Drittheit) gliedert sich in den Bezug auf das Zeichen selbst (GQ, verstanden als Erstheit und Ermöglichung), seinen Objektbezug (E, verstanden als Zweitheit) und - den wiederum gliederungsfähigen Selbstbezug des Interpretanten (R). Schema 3 zeigt nun, dass diese Differenzierungsschritte auf drei Stufen erfolgen (im Schema: von oben nach unten) und so zu 10 Zeichenklassen23 führen (im Schema: von termined" (dt. in: PhL). Darauf folgend hat Peirce bis 1907 an den Details dieser Klassifikation gearbeitet, und dieser Prozess ist jetzt aufgeschlüsselt und rekonstruiert, vgl. G. Linde (2009), Kap. IV.2 u. 3. - Im Folgenden wird ein Schema geboten, das die Ableitung der 10 Klassen nach den Kategorien „Möglichkeit", „Existenz", „Gesetz" (vgl. H. Pape [1989], Kap. 10.3 [im Anschluss an Peirce' Syllabus]) mit der weit detaillierteren Rekonstruktion von G. Linde (im Anschluss an Peirce' späte Manuskripte; vgl. auch G. Linde [2006]) verbindet und vereinfacht auf die drei Trichotomien, wie sie Peirce 1903 exponiert hatte, darunter exemplarisch die Objektrelationen von „Ikon", „Index" und „Symbol". 23
Vgl. Peirce, EP 2, 290, wo dazu zwei analoge Verfahren genannt, dann drei Trichotomien definiert und diese dann zu 10 Klassen kombiniert werden; vgl. H. Pape (1989), 486ff.
§ 10: Gefühlsqualität
269
links nach rechts), wobei die Gefühlsqualitäi124 selbst nicht gegliedert, aber in jeder Gliederung konstitutiv weiter besteht. Das unmittelbare Objekt bildet das Gegenüber in der Existenzrelation qualitativ ab, das dynamische steht für den externen Wirklichkeitsbezug; und die entsprechende Doppelperspektive wiederholt sich in der Gliederung des Interpretanten. Entscheidend ist hier, dass Unmittelbarkeit als Gefühlsqualität in Abstufungen und vielfach differenziert immer präsent bleibt, auch durch die höchsten Reflexionsleistungen nicht weggekürzt werden kann; im Gegenteil: Ohne Gefühlsqualität keine Darstellungsfähigkeit in Wahrnehmen, Erkennen und Denken. Die drei hier ausgewählten Trichotomien der ersten, vierten und zehnten Klasse23 zeigen darüber hinaus, wie Zeichenformen noch einmal unterscheidbar werden im Blick auf die Art, Gefühlsqualität als solche (erste Trichotomie), den Objektbezug als solchen (vierte Trichotomie) und das Denken selbst (zehnte Trichotomie) zur Darstellung zu bringen. Die Basisbeziehung zum Objekt, das Ikon (das jeweils als Zeichen die Gefühlsqualitäten der vorangehenden Trichotomien sozusagen in sich trägt) wird im Folgenden im Zentrum des semiotischen Lösungsmodells stehen. Ein Ikon, prinzipieller gefasst: Ikonizität vertritt auf verschiedene Weisen die Qualität dessen, was wahrgenommen werden kann. Diese qualitative Objektbeziehung ist von den beiden anderen Zeichenformen abzuheben, deren Objektbeziehung im Falle des Index auf einer realen Wirkung des bezeichneten Objekts auf das Zeichen besteht, im Falle des Symbols auf vereinbarten Regeln zu seiner Anwendung.26 Es sind also Qualität und Möglichkeitshorizont, die die ikonische Wahrnehmung auszeichnen, und diese beruht jeweils auf unterschiedlich akzentuierten Formen von Ähnlichkeit, die in einem Ikon zum Aus24
25
26
Vgl. Peirce's Begriff „quality of feeling" z.B. in: EP 2, 190f. (im Kontext der Wahrnehmungstheorie), RS, 336 (im Gottesargument) und RS, 258ff. (in der kosmologischen Begründung des „QzWe-Bewußtseins"). Entsprechend der Terminologie in EP 2, 29 lf. (mit Beispielen und Worterklärungen [vgl. dt. in: PhL, 123ff.]); zur Begründung auch aller anderen Trichotomien (z.T. in anderer Terminologie) vgl. G. Linde (2009), Kap. IV.2 u. 3. Vgl. die hilfreiche Unterscheidung der drei Zeichenformen durch Analogien der Grammatik, in: SS 1, 211 („Kurze Logik" von 1895): „Ikons und Indizes behaupten nichts. Wenn ein Ikon durch einen Satz interpretiert werden könnte, so müßte dieser Satz in einer ,Möglichkeitsform' formuliert sein [...]: .Angenommen eine Figur hat drei Seiten' usw. Hätte man einen Index so zu interpretieren, so müßte es eine Befehls- oder Ausrufeform sein, wie ,Schau nach dort!' oder ,Gib acht!' Die Art von Zeichen [sc. Symbole] jedoch [...] stehen von ihrer Natur her im Indikativ oder, wie man besser sagen sollte, Deklarativ."
270
III. Das Unbedingte: Ausarbeitung von Kreativität
druck kommen können. Diese Strukturbestimmung des Ikons lässt sich konkretisieren und in Anwendungsfällen illustrieren durch drei weitere Funktionsweisen, die Peirce zur Differenzierung der Darstellung qualitativer Möglichkeit vorgeschlagen hat: Ein Ikon hat die unmittelbare Qualitätsausstrahlung eines Bildes (image), es macht als Diagramm auf einen Blick Relationen deutlich, und es entwirft als Metapher die ikonische Ähnlichkeit in einer übertragenen Parallelität. 27
2.1. Bild Bilder können gefangen nehmen. Ihre Ähnlichkeit mit dem, was dargestellt wird, ist wie die Sache selbst - aber doch auch ,nur' ihr Bild! In dieser Spannung zwischen dem unmittelbaren Bildeindruck und der immer wieder möglichen Reflexion auf die Vermittlungsleistung eben desselben Bildes bestehen zugleich Macht und Ohnmacht des Bildes. Im Miterleben dramatischer Filmszenen, die keine Distanz mehr erlauben wollen, müssen Erwachsene nicht (wie Kinder es tun), um zu entkommen, die Augen schließen, sondern es hilft schon der dazwischentretende Gedanke: Dass die Bildsequenzen gerade nicht die Wirklichkeit, sondern nur ihr fiktionales Abbild darstellen können. Religions- und kunstgeschichtlich, so hat Aby Warburg seine Erfahrungen bei Pueblo-Indianern in Neu-Mexiko ausgewertet, stellen Rituale bildhaft und wiederholbar etwas nach, was sie zugleich haben und nicht haben: „Du lebst und thust mir nichts." 28 Ein Bereich zwischen Magie („Greifmensch") und Kausalbewusstsein („Denkmensch") bildet sich heraus, der zugleich lebensnotwendig und unbegrifflich erscheint. 29 Ganz ähnlich hat H. Blumenberg dieses menschliche Urverhalten als „actio per distans" bezeichnet 30 : Sie provoziert Gegenstände im Vorausschauen der Bilder, und das gilt für die in Ritual und Bild
27 28 29 30
PhL, 157 (CP 2.277); vgl. D.R. Anderson (1987), 67ff.; M. Vetter (1999), 96; H. Deuser, Gottesinstinkt (2004), 45. H. Bredekamp (1991), 3 (der hier zitierte Satz steht als Motto Warburgs „Kunstpsychologie" voran). A.M. Warburg (1996), 24; vgl. 10, 56. H. Blumenberg (2007), 10: „Der Mensch, das Wesen, das sich aufrichtet [...] handelt an Gegenständen, die er nicht wahrnimmt. In den Höhlen, die seine erste Unterkunft sind, zeichnet er die Gegenstände seines Begehrens und seines Kampfes ums Dasein an die Wände." - Warburg, aaO. 25: „Durch Hineinschlüpfen in die Tiermaske wird beim Jagdtanz das Tier gleichsam durch Vorgreifen angeeignet".
§ 10: Gefühlsqualität
271
dargestellten Tiere wie zuletzt auch für die wissenschaftliche Betrachtung, die ihrem Gegenstand gemäß sein will. Das Bild bildet die wirkliche Gefahr ab und macht sie dadurch handhabbar; in ihrer Darstellung wiederholt sich das Furchtbare im Medium der Möglichkeit, ist also da und auch nicht da; und so erst wird die Verarbeitung der Realität freigesetzt. Die „Macht der Bilder" ist in Kraft und doch auch gebrochen. Dieser Zug, wie minimal und unbemerkt auch immer, eignet allen Bildern (im Erschrecken wie in Begeisterung) und ist am massivsten für ihre Erstwahrnehmung in Anschlag zu bringen. Auf der Ebene des spontanen Eindrucks ist die Rezeption wehrlos - ausgeliefert dem, was zwar von außen kommt, sich in seiner Bildqualität aber so einprägt, dass zunächst keine Distanzmöglichkeit bleibt. Der Rückzugsraum des distanzierenden Gedankens, dass die Bildqualität doch auf Ähnlichkeit beruht, also vermittelt auftritt, ist immer sekundär. Ikonizität ist als Zeichenereignis selbstverständlich ein Vermittlungsvorgang, aber ein solcher, der das unvermittelte Erlebnis in sich selbst voraussetzt und mitliefert. Dieser Befund lässt sich in der triadischen Semiotik des Bildes erklären, ohne dass die wirkliche Bildwahrnehmung dadurch präformiert oder ersetzbar wäre, und in diesem Punkt liegt die deutliche Parallele zum hermeneutischen Begriff des „Erlebens" oder „Erlebnisses", wie ihn W. Dilthey zur methodischen Auszeichnung der Geisteswissenschaften geprägt hat31: Diese spezifische conditio humana kann in ihrem Vollzugscharakter gar nicht als Datum objektiviert werden, sondern sie ist zum „Ausdruck" zu bringen und zu „verstehen". 32 Daran hängt die Authentizität von Lebenserfahrungen, und es ist die ursprüngliche Kreativität der Bilder, die - vom ersten Eindruck unterschieden - zum Ausdruck kommt und zum Verstehen führt. Diese Dreigliedrigkeit ist in ihrer genuinen Funktion nicht ersetzbar, und Außenbetrachtungen durch empirische Theorien können nur Daten aus ihren jeweils zugeschnittenen Perspektiven liefern, nicht die erfahrene Bildqualität selbst wiederholen. Aus dieser (semiotischen) Strukturgegebenheit folgt, dass die Darstellbarkeit von Bildern auf dem ontologischen Vorrang der primären Bildwahrnehmung beruht, deren Vollzug für objektivierende Beobachtungen und empirische Theoriebildungen unanschaulich bleiben muss.
31 32
Vgl. H.-G. Heimbrock (2007), 140. Vgl. M. Jung (1996), 161, w o es zu Diltheys Spätwerk heißt: die „zweigliedrige Struktur ,Erlebnis-Verstehen'" werde „abgelöst von der dreigliedrigen Struktur , Erlebnis- Ausdruck-Verstehen'."
272
III. Das Unbedingte: Ausarbeitung von Kreativität
2.2. Diagramm Ein Diagramm gibt strukturelle Merkmale an, in denen die ikonische Ähnlichkeit sichtbar wird. Eine technische Zeichnung z.B. ist, ikonisch gesehen, in bestimmten Merkmalen genau so wie das, was sie darstellt; aber auch hier liegt das Entscheidende nicht im Durchgreifen auf die Gegenständlichkeit, sondern in der Qualität und Möglichkeit, die das Diagramm, wie vermittelt es auch hergestellt sein mag, in den Blick zieht. Dass Gegenstände an erster Stelle derart qualitativ einleuchten ist wiederum die Basis von Verstehensprozessen, und es ist diese Spontaneität, die Peirce naturgeschichtlich mit Zufall, Neuem und abduktiver Entdeckung in Zusammenhang gebracht hat: Was Ch. Darwins Begriff der Zufallsvariation an Kreativität für die Evolution bedeutet, zeigt sich als ikonische Leistungsfähigkeit der Natur selbst wie ihrer erklärend-verstehenden Betrachtung. 33 H. Bredekamp und J. Voss haben die kunst- und wissenschaftsgeschichtliche Rolle von Darwins Bildern und Evolutionsdiagrammen daraufhin untersucht, welche Erschließungsfunktion und Erkenntnisfortschritte durch Kreis-, Baum- oder Korallenbilder für den wissenschaftlichen Gegenstand ins Spiel kommen. 34 Festzuhalten ist zunächst, dass Darwin gegenüber der wissenschaftlich wie weltanschaulich festgefügten Auffassung seiner Zeit, die organisches Leben nicht als geschichtliches Werden und Entwicklung von Artenvielfalt zu denken vermochte, eine „radikale Neuorientierung" 33 auch bei sich selbst, d.h. in der eigenen Anschauung der Dinge, durchsetzen - und zu aller erst entdecken musste: indem er die gemachten „Funde anschaute", indem ihm eine „Idee vor Augen trat" 36 ; indem er das „Modell eines sich spreizenden Baumes" ikonisch gegen die herrschende Auffassung der Konstanz der Arten richtete 37 ; indem er den offensichtlichen Selektionsmechanismus der Natur „im Diagramm [...] als abreißende Linie, die das Aussterben einer Art in der Geschichte bezeichnet", darstellte. 38 Die Leistungsfähigkeit des Diagramms liegt also längst nicht im bereits fertigen Wissen um die Dinge, sondern im neu ermöglichten Sehen als solchem. 33 34 35 36 37 38
Vgl. Peirce' wissenschaftstheoretische Begriffe von Fallibilismus (1892), in: RS, 190ff:, dazu D.R. Anderson (1987), 153f. H. Bredekamp (2006); J. Voss (2007). E.P. Fischer (2003) 14. Fischer, aaO. 22. Bredekamp, aaO. 12. Voss, aaO. 21.
und
Evolution
§ 10: Gefühlsqualität
273
Bredekamps Interpretation geht nun dahin zu zeigen, wie Darwin im berühmten Evolutionsdiagramm von 1857/59, das in gepunkteten und gestrichelten Linien Verzweigungen und Wege zur Artenvielfalt darstellt 39 , Korallenmuster nachahmt, die ihm erst die Möglichkeit geben - im Gegenzug zum Baum-Modell - auch „abgestorbene Stämme", eine „wuchernde Struktur", kurz: nicht-hierarchische Linienbildungen, d.h. „Regelwerk und Zufall" diagrammatisch aufzudecken. 40 Entscheidend ist, dass in und mit der Zeichnung Neues nicht nachträglich illustriert, sondern überhaupt erst erschlossen wird 41 - weil es anders gar nicht möglich wäre. Das wird erst recht dadurch einsichtig, dass das Evolutionsdiagramm Zeiten und Räume riesigen Ausmaßes überbrückt 42 , die Merkmale des Diagramms - seine gepunkteten, gestrichelten, durchlaufenden oder abgebrochenen Linien, seine Buchstabenbezeichnungen verschiedener Größe etc. - machen sichtbar, was nicht mehr sichtbar sein kann: die Geschichte der Natur in ihren unermesslich erscheinenden Zeiträumen, die gleichwohl als Wachstum, Entwicklung und Artenvarianz verstanden werden können. Zwei exemplarische Bilderschließungen hat Voss in Darwins Zeichnungen und ihrer Wirkungsgeschichte besonders überzeugend hervorheben können: Das berühmte Skizzenbild mit den vier Köpfen der Galápagosfinken und die Vorzeichnungen bzw. Holzstiche der Augenornamente auf den Federn des Argusfasans. An der Zeichnung der Finkenköpfe ist zunächst bemerkenswert, dass sie 1845 im Frühwerk Darwins, einem Reisebericht, auftauchen, noch ohne dass von Evolution die Rede wäre. 43 Die Abbildung der vier Finkenköpfe wird dann zum erschließenden Diagramm der Evolution, weil Einheitlichkeit und Varianz, Entwicklungsgeschichte desselben Merkmals (Schna39 40
41
42 43
Vgl. das sog. „Urdiagramm" und das Diagramm aus der Publikation von 1859 bei Bredekamp, 45ff., 50-54. AaO. 20, 22, 28. - J. Voss hat Bredekamps scharfe Gegenüberstellung von Baum-Modell und Korallen-Diagramm auf der Basis der Quellen relativiert, vgl. Voss, aaO. 17, 25 Anm. 10; diese unterschiedliche Bewertung kann und muss hier nicht entschieden werden und ändert nichts an der gemeinsamen These der Kreativität der Bilder bzw. Diagramme für das ursprüngliche Verstehen der Evolution. Bredekamp, 22/24: Darwin hat „in diesem Glücksmoment der Wissenschaftsgeschichte über der Skizze das Motto eingetragen: ,1 think', um das Medium der Zeichnung als Membran des Denkens zu definieren. Das Bild ist nicht Derivat oder Illustration, sondern aktiver Träger des Denkprozesses. ,1 think' schreibt der Denker - und spricht die Skizze." Vgl. Voss, 140. Voss, 32.
274
III. Das Unbedingte: Ausarbeitung von Kreativität
beiform und -große) und Verlauf in der Zeit (in der Reihenfolge der vier Köpfe) unübersehbar den Artenwandel in der Zeit sichtbar machen44, auch wenn es dafür noch keinen eingeführten Begriff gibt. Noch weitergehend ergibt sich diese Funktion des Diagramms in den Fasanzeichnungen aus dem Spätwerk Darwins 43 , denn diese finden sich im Kontext der Frage nach der Abstammung des Menschen (1871). Das Augenornament in wunderbarer Schönheit und Geometrie erscheint rätselhaft, sollte es durch einen Selektionsvorteil erklärt werden 46 ; und tatsächlich wird dieses Rätsel nur dadurch lösbar, dass Darwin die Zeichnungen in einer Reihefolge zur Darstellung bringt, durch die sie wiederum zum Diagramm werden: An den Merkmalsvarianten wird Entwicklung sichtbar, die sonst verborgen bliebe. 47 Darwins Text muss die Bilder mühsam erläutern, dem Diagramm in der Form des „Hintereinanderschaltens mehrerer Bilder" gebührt eindeutig der Vorrang. 48 Was aber spricht dafür, die Erschließungskraft und Produktivität der Bilder nicht nur auf der Ebene und in der Perspektive der wissenschaftlichen Modellbildung, sondern in der Natur selbst in Anschlag bringen zu wollen? Ist die Erschließungsmöglichkeit des Diagramms eine reale Wirkung, d.h. die Wahrnehmung einer Qualität, die genau so ist wie sie gesehen wird? - Die Sprache der Evolutionsbiologie vermittelt oft den Eindruck, als agiere die Evolution selbst; doch das könnten in Wahrheit unkontrollierte Redeformen sein, die die menschliche Handlungsintentionalität grundlos auf die Natur selbst abbildeten. Was hier auf dem Spiel steht, lässt sich in der Diskussion um Kausalität und Teleologie verfolgen, wie sie seit dem 19. Jh. das Gegenüber von Geistes· und Naturwissenschaften markiert: Wenn Darwin Recht hat, erklärt (zumindest: beschreibt) der kausal verstandene Mechanismus der Selektion die Entwicklung der Natur. Zweckorientierungen des Naturgeschehens dagegen werden durch statistische Methoden und partielle Kausalerklärungen ersetzt. 49 Wenn das alles ist, fallen die Naturbe-
44 45 46 47 48 49
Vgl. Voss, 33ff. Vgl. Voss, 3. Kap. Vgl. auch E.P. Fischer (2003), 30, 33ff. Vgl. Voss, 178. AaO. 180, 225. Vgl. G. Härtung: (2006), Kap. 2 („Wahrheit und Irrtum des Darwinismus"), bes. 45f. - Besonders konsequent will N. Hartmann (1966), den (natürlichen) Irrtum des Zweckdenkens bzgl. der Natur nachweisen; dem stehen dann allerdings die teleologischen Reflexionsleistungen des Menschen (im Sinne von Kants Kritik der Urteilskraft) gegenüber, vgl. zu Hartmanns Naturphilosophie bei Härtung, aaO. 192ff.
§ 10: Gefühlsqualität
275
Schreibung der objektivierenden (nicht-teleologischen) Wissenschaften und die für Menschen unumgängliche (zweckhafte) „Naturdeutung" auseinander. 30 Hier anders zu urteilen ist nur dann möglich, wenn die Naturbetrachtung, das spezifische Sehen, die ikonische Wahrnehmung als eingelassen in die Natur selbst aufgefasst werden können - was seit der Philosophie Kants für die Wissenschaften in der Regel ausgeschlossen wurde, was durch die semiotische Kreativität der Bilder aber, damit über Kants Restriktionen hinausgehend, wieder begründet werden kann: (1) Wenn das Modell der Evolution universal gelten soll, dann ist zwischen menschlicher Wissenschaft (ihrer Beschreibung, Erklärung und menschlichem Verstehen) und den Naturbedingungen selbst ein Kontinuum 31 anzunehmen, das zu der Hypothese berechtigt, die für die menschliche Wahrnehmung strukturell gültige Ikonizität bilde die Realität der Natur selbst ab. (2) Zwar können Diagramme falsch entdeckt, ausgedacht oder konstruiert sein, doch sind sie in dieser Perspektive wiederum nur durch Diagramme zu verbessern und zu ersetzen. Wahrnehmung und wissenschaftliche Theoriebildung bleiben an die bildhaften Ersteindrücke gebunden, die aber im Prozess der Darstellung der Kontrolle unterliegen ( F a l l i b i l i s m u s w ) . (3) Die Produktivität der Bilder ist folglich realistisch zu interpretieren, d.h. in der Natur der Dinge selbst stecken Kreativität und Spontaneität, die sich im Wahrnehmungsakt ikonisch Bahn brechen. 53 (4) Ikonizität impliziert strukturell einen ontologischen Aspekt, dessen man allerdings nicht im Sinne traditioneller Ontologie als Substanz oder Zweck habhaft werden kann, der aber als reale Qualität der Ermöglichung in jeder Wahrnehmung steckt und in ihrer Darstellung nachwirkt. 34 In diesem Sinne sind Ikons vermittelnde - und darin kreative Zeichenereignisse.
50 51 52 53
54
Vgl. G. Härtung (2003) 188. S. § 16ff. S. Anm. 33. Vgl. Bredekamp, aaO. 76 (über Darwins Diagramme): „Das Bild wurde zur wahren Natur der Evolution. Nicht als Naturbeschreibung, sondern als Kommentar zu einem Diagramm hat Darwin die Essenz seiner Evolutionstheorie formuliert." S. Anm. 22 u. Schema 3.
276
III. Das Unbedingte: Ausarbeitung von Kreativität
2.3. Metapher Eine Metapher wirkt (in ihrer ikonischen Ähnlichkeit) durch eine übertragene Parallelität. 55 Das ist überall da möglich, wo eines durch ein anderes dargestellt wird, so dass das Objekt im Ikon verdoppelt erscheint, obwohl ein einheitlicher Bezug vorliegt: Glaube versetzt Berge! Berge zu versetzen, z.B. durch Bagger, ist eines; der weltverändernde Glaube ein anderes - was jetzt aber ikonisch, d.h. qualitativ neu erfasst werden kann. In diesem Sinne können Metaphern überall vorkommen, ganz besonders naheliegend aber in der Poesie, deren Lebendigkeit in der ikonischen Ubertragungsleistung besteht. Das hier als Beispiel gewählte Gedicht steht dem deutschen Expressionismus nahe, die deutsch-jüdische Autorin Gertrud Kolmar (1894-1943) ist aber so eigenständig und von schulmäßigen Interpretationen noch wenig belastet, dass ihr Gedicht ganz für sich genommen werden darf.36 Getrud Kolmar Der schöne A bend
Schnellzug mit dem schnellen, wilden Tritt, Hier bin ich, die Seele; nimm mich mit!
Abend, beide Hände voller Glück, Eile nicht so, bleibe, komm zurück!
Weil dein Rauchgelock so weiß verschäumt, Deine Flanke zitternd heiß sich bäumt,
Auf den Gassen kehrt der Feger Gold, Denn ich schaue, wie es flirrt und rollt.
Jag ihn, deinen heißen Leib, in Nacht, Der dir roter Wünsche Funksaat facht.
Sonne tanzt, ein roter Kinderball, Denn ich fühle seinen Sprung und Fall.
Flamm mit deinen Lichteraugen drein, Wirf dich ganz ins warme Land hinein!
O ihr Sterne aus dem finstren Haus, Kommt, lacht diese tolle Sonne aus!
Röhre tief; mein Seelchen pfeift und zischt, Hüpft am Schornsteinrand im Wirbelgischt.
O du Luft, du Duft von Blumenwein, Stürz in meinen Becher dich hinein!
Lautlos endlich übers dunkle Land Geht ein stilles Antlitz, Fuß und Hand.
Die ihr euch in weißen Schleiern weht, Bäume, o entwurzelt euch und geht!
Meine Seele hebt sich hoch und bebt, Da sie hauchbleich seine Wege schwebt.
Winde, die ihr weiße Tücher schwenkt, Weist mir den, der eure Arme lenkt! -
Uber einer grauen Mütze fern Glitzert Abend noch, ein blühnder Stern,
Meine Seele saß am Schienenstrang.
Sinkt, die zarten Lider müd von Glück,
Aus den Gleisen schütterte Gesang.
Klein und golden in die Nacht zurück.
55 56
S. A n m . 27. Das Gedicht stammt aus Früher Zyklus II (1918-22), in: G. Kolmar (1987), 633f.; vgl. B. Eichmann-Leutenegger (1993).
§ 10: Gefühlsqualität
277
Sprachentstehung, Sprachlernen und Sprachbenutzung einmal vorausgesetzt, kann das Wort „Abend" (Strophe 1 u. 16) zunächst unmittelbar in seiner Bildqualität nachempfunden werden. Ihre Besonderheit tritt dann zutage, wenn um der semiotischen Analyse willen die symbolische Schicht der Alltagsverständigung darüber, was unter Abend allgemein zu verstehen ist, abgetragen wird; ebenso mit der indexikalischen Schicht dessen, was mit Abend konkret bezeichnet werden kann. Im Sinne solcher Sprachregelungen oder Terminangaben gerade nicht zu funktionieren, darin bestehen die Erwartungen an ein Gedicht. Selbst wenn es detaillierte Angaben enthält, machen diese nicht seine Bedeutung aus. „Abend" also wird in unterschiedlichen Perspektiven auch unterschiedlich gebraucht; in all diesen aber ist eine für jedes Verständnis konstitutive Grundeigenschaft mitempfunden, die als seine Bildqualität anzusprechen ist. Vielleicht bedarf es eines solchen Gedichtes, um sich dessen bewusst zu werden: Dass „Abend" die Stimmung und das Befinden aufgrund des Wechsels von Tag zu Nacht, von Helle zu Dunkelheit, von Arbeit zu Ruhe etc. auszudrücken vermag. Weitere eigenständige und neue Empfindungen entstehen durch die ikonische Funktion des Diagramms, wenn z.B. strukturelle Merkmale wie Reime einzelne Bilder über die Satzgrammatik hinaus deutlicher zusammenbinden (so vor allem „Glück" und „zurück" in Strophe 1 u. 17). Doch wenn die „Sonne" wie ein „Kinderball" springt, tanzt und fällt (Strophe 3), ist die Metapher erreicht. Die Übertragung von einem zum anderen zeigt etwas an der Sonne, was gedichtextern kaum passend erschiene. Gedichtintern aber, im Zusammenhang der hier aufgebauten Bildqualitäten, lässt sich die spielerische Abwärts- und Aufwärtsbewegung der Sonne mit der Situation Abend verbinden. Die Metapher ist nicht einfach eine Qualität, wie das Bild, sie entpricht auch nicht einfach, wie das Diagramm, sondern sie produziert eine eigene, neue Ähnlichkeit, die sonst gar nicht entdeckt werden würde. In diesem Sinne nutzt Kolmars Gedicht ganze Serien von Metaphern: Sterne, die lachen (Strophe 4); „Blumenwein" (Strophe 5); Wind, Schleier, Tücher (Strophe 6 u. 7); Nacht, Schnellzug, Seele (Strophe 8 - 13); Antlitz, Land (Strophe 14); ja, das Gedicht als ganzes ist metaphorisch im Zusammenziehen von Abend, Nacht und Glück (Strophe 15 - 17). Was dabei geschieht, muss als diejenige Kreativität ausgezeichnet werden, die nicht nur Strukturanalogien nutzt, sondern aus Verschiedenem ein qualitativ Neues bildet. 57 Die Poesie gibt dafür die authentischsten 57
D.R. Anderson (1987), 72, spricht dafür von „isosensism" - „it is the poet who is interested in what is antecedentless and spontaneous".
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III. Das Unbedingte: Ausarbeitung von Kreativität
Beispiele, weil sie im Medium der (sprachlichen) Möglichkeiten bleibt, deren (qualitative) Realität im empirischen Sinne nicht objektiviert werden kann. Damit steht die poetische Kreativität exemplarisch für jede andere Form der Entdeckung von Neuem 58 , wie sie natürlich auch im Alltäglichen und in den Wissenschaften auftritt. Ikonizität ist am überzeugendsten in dem, was sich zum ersten Mal sehen lässt und produktive Kräfte und Folgen für Erklären, Verstehen und Handeln entfaltet. Dass Religion und Theologie davon häufig abgekoppelt erscheinen, beruht auf einem Missverständnis der Moderne. Weil Religion, Kunst und Wissenschaften sich konkurrierend, separierend und unterschiedlich schnell entwickelt haben, wurde das schöpferisch Neue nicht mehr als einheitliches Phänomen verstanden. Doch so wie die Künste und Wissenschaften an intensiver Wahrnehmung und kreativem Entdecken interessiert sind, so müssen sie auf die ursprüngliche Ermöglichung durch Ikonizität stoßen, den Grundsinn von Religiosität.59 Das Gedicht ist auch dafür sprechendes Beispiel, weil seine Metaphernreihen ohne die kosmologische und anthropomorphe Inklusion Gottes nicht auskommen (Strophe 14); fast ungenannt und ganz indirekt, aber personal eingefügt in die Seelenwelt des Gedichts. Ikonizität ist Kunst, Wissenschaft und Religion gemeinsam. Die ursprüngliche Ermöglichung, die ikonische Kreativität aber wird auch unterschiedlich zur Geltung kommen: Die Kunst der Moderne ,macht' sie, deckt sie auf, konstruiert Metaphern, um auf das Neue zu stoßen, es zu provozieren; die (christliche) Religion verdankt sich der vorausliegenden Kreativität (Schöpfung), deren Impulse gleichwohl wahrgenommen und zum Ausdruck, zur religiösen Darstellung gebracht werden; die Wissenschaften leben, ob sie es wissen und thematisieren oder nicht, von der kreativen Hypothese, von der überraschenden (ikonischen) Ähnlichkeit, vom Neuen im Prozess der Natur (Evolution) wie der Forschung. In den Bildern steckt ihre ursprüngliche Ermöglichung; 58
C . R . Hausman (1995), 173-178, hat deshalb die Metapher strikt von der Analogie unterschieden. Während letztere in der Entsprechung auf schon Bekanntes setzt, zielt und wirkt die „kreative Metapher" radikal Neues; sie ist, anders gesagt, charakterisiert durch „Novelty Proper", vgl. ders. (1975), 117: „The unexpectedness of the metaphor is more like inconceivability than unpredictability - inconceivability with respect to the demand of the spectator for coherence with his established conceptual perspective toward that which is deemed rational." - Zur klassisch-hermeneutischen Matapherntheorie des 20. J h . vgl. P. Ricœur, Die Metapher und das Hauptproblem der Hermeneutik (1972), in: ders. (2005), 109-134; E. Jüngel (1977), 396ff.
59
S. A n m . 1.
§ 10: Gefühlsqualität
279
dass darin Gottes Kreativität zum Ausdruck kommt, muss nicht verborgen bleiben.
3. Das kreativ Unbedingte: Gefühlsqualität Das Wort Gefühl - im literarischen 18. und 19. Jh. wie für die religiöse Erfahrung der Epochen von Sturm und Drang, Empfindsamkeit und Romantik ganz unentbehrlich - war der deutschen Theologie und Philosophie des 20. Jh. verdächtig geworden und verschwand aus der Wissenschaftssprache fast vollständig. An seine Stelle trat, um Entscheidendes über den Menschen in seinem Verhältnis zu sich selbst zu sagen, der Begriff der Existenz oder des (leidenschaftlichen) Existierens. R. Bultmanns zu Recht berühmter Gottes-Aufsatz von 1925 ist dafür der sprechende Beleg, denn er meidet zur Beschreibung der religiösen Wirklichkeit und Erfahrung bewusst alles, was als psychologisch', d.h. bloß subjektiv-weltanschaulich, missverstanden werden könnte - und damit entfällt das Stichwort Gefühl zugunsten von: „im eigentlichen Sinne existieren"! 60 Damit kommt nur auf den ersten Blick eine ganze andere Kategorie ins Spiel, denn im Anschluss an Kierkegaard meint „Existenz" hier das eigene körperliche Dasein in seinem unverlierbaren Anspruch 61 : das Selbst als ein Verhältnis zu sich selbst. „Existenz" zielt also auf die Innerlichkeit des Menschen. Auch Erkenntnistheorie und Logik verachten im 20. Jh. als Psychologismus, was die subjektive Zugänglichkeit ins Spiel bringen könnte; eine philosophische Einstellung, an der durchaus auch Peirce' Wissenschaftstheorie beteiligt ist, ohne dass letztere allerdings die Eigenständigkeit logischer Analysen für die Wirklichkeit überhaupt ausgegeben hätte. 62 In Frage also steht die konstitutive Beteiligung des (für die menschliche Selbsterfahrung unbestreitbaren) inneren Gefühls an der Bestimmung und Erschließung von Realität, und es sind unab-
60
61 62
R. Bultmann (1993), „Welchen Sinn hat es, von Gott zu reden?", hes. Teil IV u. V. - Vgl. zur Begriffsgeschichte H. Emmel: Empfindsamkeit; O. Neumann: Empfindung, in: H W P 2 (1972), 455-474; U. Franke/G. Oesterle/H. Emmel/S. Rücker/O. Ewert: Gefühl, in: H W P 3 (1974), 82-96. S. § 9.2.2, Anm. 63ff. Vgl. P. Janssen: Psychologismus, in: H W P 7 (1989), 1675-1678. - Zur Metakritik der mathematischen Logistik und des logischen Positivismus B. Russells u.a. vgl. I.U. Dalferth (1981), Einl.; U. Kropac (1999), Kap. 3.3; zur differenzierten Problemstellung hei Peirce vgl. RS, 412ff. (§ 3: zum Verhältnis von Logik, Freiheit und Uberzeugungsbildung).
280
III. Das Unbedingte: Ausarbeitung von Kreativität
hängig voneinander die Religionsphilosophien F. Schleiermachers und des amerikanischen Pragmatismus, die hier anders als die (deutschen) Wissenschaftsauffassungen nach Kant einen alternativen Weg haben verfolgen können.63 Die Diskussion zu Beginn des 19. Jh. wird in Deutschland durch Kants Abgrenzung suchende Begriffsbestimmung geprägt, dass „Empfindung" für die (äußere) Sinneswahrnehmung steht, während „Gefühl" für den inneren Sinn reserviert wird, das „subjektive" Miterleben, das deshalb von der „objektiven" Gegenstandswahrnehmung ausgeschlossen bleibt.64 Diese Subjektivierung des Gefühls muss Kant gerade gegen die neu entstehende, die Romantik vorbereitende Religionsauffassung seiner aufgeklärten Kritiker - allen voran F.H. Jacobi65 - verteidigen, weil diese in partiellem Anschluss an Kants Restriktionen der theoretisch-wissenschaftlichen Vernunft nun die Inhalte der Religion auf die innere Autorität des religiösen Gefühls zu gründen versuchen. Dieser Ausweg ist für Kant inakzeptabel, weil seine Einführung des Gefühls in der Ästhetik wie in der Moralphilosophie nicht theoretisch begründend verstanden werden darf. Sonst würde Psychologisch-Empirisches, das unter die menschlichen „Neigungen" fällt, mit der Apriorität der Einsicht in die Notwendigkeit des freien Willens, der entsprechenden Objektivität des moralischen Gesetzes und der Gehorsamspflicht vermengt. Das Gefühl bleibt immer sekundär, die bloß subjektive Begleiterscheinung, z.B. als „Gefühl der Achtung fürs moralische Gesetz"; d.h. „ein moralisches Gefühl" stellt sich ein und ist der Moralauffassung dann auch nützlich, aber die theoretische Einsicht und Begründung der guten Handlung stammt gerade nicht aus einer solchen Gefühlslage.66 Diese Trennung zwischen der Objektivität philosophischer Begründung und der gefühlsbestimmten Subjektivität menschlicher Selbstgegebenheit hatte Kant bereits in seiner Frühschrift Träume eines Geistersehers, erläutert durch Träume der Metaphysik (1766) am schlagen-
63
Zur Bedeutung der amerikanischen Philosophie vgl. R . C . Neville (1992), chap. 7; R . Lundin: Transzendentalismus III, in: R G G 4 2 (1999), 544f.; zu Schleiermachers Nähe zur Naturwissenschaft, seiner Wissenschaftstheorie und Semiotik vgl. J . Dittmer (2001), Kap. 1.2 u. Kap. 3; zum Einfluss Schleiermachers auf die theologischen (kritischen) Positionen der Transzendentalisten und damit auf R . W . Emerson vgl. E . Hürth (2007).
64
I. Kant, Kritik der Urteilskraft (1790), in: Werke Bd. 8, A 9.
65
S. § 9.1 u. § 10.1, A n m . 4; vgl. J . Clayton (2000), 187f.
66
I. Kant, Kritik der praktischen Vernunft (1788), in: Werke Bd. 6, A 128-135; A 134: „Hier geht kein Gefühl im Subjekt vorher, das auf Moralität gestimmt wäre. D e n n das ist unmöglich, weil alles Gefühl sinnlich ist".
§ 10: Gefühlsqualität
281
den Gegenbeispiel des schwedischen Naturforschers, Ingenieurs und Pneumatikers Emanuel Swedenborg (1688-1772) vorgeführt. 67 Nachdem Kant im ersten Teil dieser Schrift den Gegensatz und wissenschaftlich sehr unterschiedlichen Wert von Geist und Materie dargelegt und eindeutig für den vernünftigen Vorrang von allgemeinen Erfahrungsbegriffen votiert hat, kommt er erst zu Beginn des zweiten Teils auf den eigentlichen Anlass zu sprechen, und zwar so: „Es lebt zu Stockholm ein gewisser Herr Schwedenberg, ohne Amt oder Bedienung, von seinem ziemlich ansehnlichen Vermögen. Seine ganze Beschäftigung besteht darin, dass er, wie er selbst sagt, schon seit mehr als zwanzig Jahren mit Geistern und abgeschiedenen Seelen im genauesten Umgange stehet, von ihnen Nachrichten aus der andern Welt einholet und ihnen dagegen welche aus der gegenwärtigen erteilt, große Bände über seine Entdeckungen abfasst und bisweilen nach London reiset, um die Ausgabe derselben zu besorgen. Er ist eben nicht zurückhaltend mit seinen Geheimnissen, spricht mit jedermann frei davon, scheint vollkommen von dem, was er vorgibt, überredet zu sein, ohne einigen Anschein eines angelegten Betruges oder Scharlatanerei. So wie er, wenn man ihm selbst glauben darf, der Erzgeisterseher unter allen Geistersehern ist, so ist er auch sicherlich der Erzphantast unter allen Phantasten". 68
Während Kant sich auf dem erfolgversprechenden Weg der aufgeklärten und empirisch angeleiteten Vernunftkritik befindet, um am Maßstab der „Erfahrungsbegriffe" genau einzugrenzen, „was man wissen kann" - um von diesem Wissbaren die Dinge auszuscheiden, wovon Menschen „niemals den mindesten Begriff ihrer Möglichkeit haben" können, die folglich als „pneumatisch", „schöpferisch" oder „chimärisch" zu charakterisieren und von wirklichem Wissen zu trennen sind69 - , bleibt Swedenborg gegenüber dieser neuzeitlich-nüchternen Begrenzung menschlicher Fähigkeiten bei der Behauptung von Erkenntnissen, die sich jenem Schnitt zwischen Denken und Sein, Materie und Geist nicht fügen wollen. Ohne Swedenborgs Auffassung naturwissenschaftlicher Methoden heute noch wiederholen zu wollen, muss immerhin gesagt werden, dass in England und Neu-England die naturphilosophisch-kosmologische Hypothese eines Zusammenhangs von Geist und Materie intellektuelle Nachwirkung gezeigt hat. In der zunächst unitarischen, dann transzendentalistischen Bewegung - für sie steht der religiös-philosophische Schriftsteller Ralph Waldo Emerson
67
68 69
Vgl. H. Lenhammar: E. Swedenborg, in: TRE 32 (2001), 472-476; zum Einfluss Swedenborgs auf die amerikanische Religionsphilosophie des 19. Jh. M. Pütz, in: R.W. Emerson (1990), 305f. Anm. 29; RS, 447 Anm. 1. I. Kant, Träume eines Geistersehers, in: Werke Bd. 2, A 84. AaO. A 1 1 5 f . ; A 1 2 2 f .
282
III. Das Unbedingte: Ausarbeitung von Kreativität
(1803-1882)70 - wird die Realität des seelisch-universal Göttlichen gerade im Einklang mit der menschlichen inneren wie äußeren Erfahrung gesucht; eine Konsequenz, die das neuzeitlich-kontinentale wissenschaftliche Standardbewusstsein schnell aufzugeben breit war. Die Gegründetheit der Seele in der Natur, das göttliche Universum und die menschlich-weltliche (wissenschaftliche) Erfahrung bilden letztlich eine Einheit: „Wir wissen mehr von der Natur, als wir nach Belieben mitteilen können. Ihr Licht überflutet ständig unseren Geist, und wir vergessen ihre Gegenwart." - „Der Mensch ist ein Strom, dessen Quelle verborgen ist. Unser Dasein geht beständig in uns ein, ohne dass wir wissen woher. [...] Ich bin in jedem Augenblick gezwungen, für Ereignisse einen höheren Ursprung als den Willen, den ich mein eigen nenne, anzuerkennen."71
Kant kommt diesem Gefühl der Ubereinstimmung (in der Schrift gegen Swedenborg) insoweit entgegen, dass er durchaus solche „Empfindungen" anerkennt, die im menschlichen „Herzen" dieses sozusagen aus kollektiven Gründen bewegen, weil Menschen miteinander umgehen und ganz natürlich diese Wechselseitigkeit in sich selbst zur Wirkung kommen lassen, so dass es so etwas wie „eine moralische Einheit [...] nach bloß geistigen Gesetzen" zu geben scheint, ein „sittliches Gefühl". Doch die konkreten Ursachen dafür sind eben für dieselben Menschen nicht „auszumachen"72, so dass die quasi empirische Realitätsunterstellung dieser (geistigen) Gefühlswelten als Missverständnis enttarnt werden muss. Er waren F. Schleiermachers Reden Uber die Religion (1799), die der Position Kants früh widersprochen haben, die aber die Entwicklung des öffentlich-wissenschaftlichen Bewusstseins (außerhalb von Theologie, Literatur und den späteren Geisteswissenschaften) letztlich nicht mehr prinzipiell beeinflussen konnten. Mit der Wiederentdeckung des ungebrochenen Eigenrechts von Religion und Religiosität zu Beginn des 21. Jh. aber kann und muss an Schleiermachers Reden erinnert werden, „eines der bedeutendsten Werke jener großen Zeit um 1800"73; vor allem an jene zweite Rede: Über das Wesen der Religion, die dem religiösen Gefühl gerade neben und anders als Metaphysik und Moral unreduzierbare Selbständigkeit zuerkennt: Während Metaphysik
70 71 72 73
S. Anm. 63; vgl. die Einl. v. M. Pütz, in: R.W. Emerson (1990). R.W. Emerson (1990), 105 (Die Natur [1836] ); aaO. 181 (Die All-Seele [1841] ). Kant, aaO. A 42f. Vgl. C.H. Ratschow (1993), 216. - Die Reden werden zitiert nach der Werkausg. v. 1999.
§ 10: Gefühlsqualität
283
- und zeitgemäß für Schleiermacher: Transzendentalphilosophie - das Universum nach Gesetzen klassifiziert, Wirklichkeit also konstruiert; und Moral Handlungen vorschreibt und verbietet, also ihrerseits Gesetzessystematiken entwirft, hat die Religion aus diesem Grunde mit beiden gerade nichts zu tun74: Religion „begehrt nicht das Universum seiner Natur nach zu bestimmen und zu erklären wie die Metaphysik, sie begehrt nicht aus Kraft der Freiheit und der göttlichen Willkühr des Menschen es fortzubilden und fertig zu machen wie die Moral. Ihr Wesen ist weder Denken noch Handeln, sondern Anschauung und Gefühl. Anschauen will sie das Universum, in seinen eigenen Darstellungen und Handlungen will sie es andächtig belauschen, von seinen unmittelbaren Einflüßen will sie sich in kindlicher Paßivität ergreifen und erfüllen laßen." [50] - „Die Religion lebt ihr ganzes Leben auch in der Natur, aber in der unendlichen Natur des Ganzen, des Einen und Allen; [...] das will sie in stiller Ergebenheit im Einzelnen anschauen und ahnden." [51] - „Praxis ist Kunst, Spekulazion ist Wißenschaft, Religion ist Sinn und Geschmak fürs Unendliche. [...] Wie k o m m t sie zu der armseligen Einförmigkeit, die nur ein einziges Ideal kennt [...]? Weil es Euch an dem Grundgefühl der unendlichen und lebendigen Natur fehlt, deren Symbol Mannichfaltigkeit und Individualität ist." [52/53] - „Anschauen des Universums [...] ist die allgemeinste und höchste Formel der Religion [...]. Alles Anschauen gehet aus von einem Einfluß des Angeschaueten auf den Anschauenden [.../...]; das Universum ist in einer ununterbrochenen Thätigkeit und offenbart sich uns jeden Augenblik." [55/56] - „So die Religion; bei den unmittelbaren Erfahrungen vom Dasein und Handeln des Universums, bei den einzelnen Anschauungen und Gefühlen bleibt sie stehen; [...] alles ist in ihr unmittelbar und für sich wahr." [58]
(1) Der grundlegende Begriff des Universums - „eine lebendige Binnendifferenzierung des Ganzen"73 - wird mit und gegen Kant eingeführt: Mit Kant wird die Unterscheidung von theoretischer und praktischer Philosophie akzeptiert als Metaphysik („Denken", der „Natur nach") und als Moral („Handeln", „aus Kraft der Freiheit"), aber zugleich ausgegrenzt zugunsten des Eigenbereichs der Religion: „Anschauung und Gefühl".76 Damit wird eine dritte und ursprüngliche Zugangsweise zur Realität (dem Universum) behauptet, die sich den beiden anderen nicht erschließt: Ahnen, Fühlen, Einstimmen, Empfinden etc. sind die Modi dieser allerersten Umgangserfahrung, die der schematischen Reflexions-
74
F. Schleiermacher (1999), 7 9 - 8 3 (in eckigen Klammern mit den Seitenzahlen der Erstausg. [als Randzahlen in dieser Ausg. von 1999]).
75
D . Korsch (2005), 65 (Kap. II.B: „Theismus - Atheismus - Pantheismus: Schleiermachers Kritik der rationalen Theologie und seine Grundlegung der Religion").
76
S. § 10.1, A n m . 13.
284
III. Das Unbedingte: Ausarbeitung von Kreativität
aktivitität in Denken und Handeln offenbar voraus liegt. 77 Trotzdem aber wird vom Universum gesprochen, nicht von einer bestimmten Einzelempfindung oder Gegenständlichkeit. Die Eindrücklichkeit von „Anschauung und Gefühl" [50] bleibt vage im Unbestimmbaren, geht aber doch aufs Ganze, hat Anschauung im Allgemeinen und stammt doch aus dem Wahrnehmungsgefühl eines besonderen Ereignisses - all das, was Kants Unterscheidungen auszuschalten versuchten. (2) Schleiermacher kehrt im Anschauungsbegriff Kants philosophische Interessen um: In der Anschauung kommen nicht einfach materielle Sinnlichkeit und subjektive Anschauungsformen zusammen 78 , sondern einem solchen Zusammenkommen vorausliegend verweist die Anschauung gerade als Gefühl (der Wahrnehmung) auf seine Passivität, das Empfangen, die kindliche Haltung des Noch-nicht-Bescheidwissens; kurz: Das Universum wird nicht konstruiert, sondern präreflexiv rezipiert. Nicht die subjektiv-intentionale Darstellung und Handlung stehen dabei im Vordergrund, sondern die „eigenen Darstellungen und Handlungen" [50] des Universums selbst. Diese Umkehrung der Perspektive im Gegenzug zu den von Kant gesuchten subjektiven Leistungen der Apriorität 79 der Anschauungsformen als objektiv zu bezeichnen, würde an der Sache, die hier im Blick ist, vorbeigehen. Etwas „andächtig belauschen" passt nicht zu Objekten - die neuzeitlich konzipiert ja längst planvoll reflektierende Subjekte voraussetzen - , sondern verlangt eine eigene Kategorie. In der Terminologie der kategorialen Semiotik ist es Erstheit, von der hier die Rede ist; für den Schleiermacher der Reden ist es Religion. (3) Die Vagheit dieses religiösen Gefühls zählt hier nicht als Schwäche, sondern als Stärke: „anschauen und ahnden" [51] gehen im Sinne ihrer ursprünglichen Unbestimmtheit und - daher - Ursprünglichkeit auf die „unendliche Natur des Ganzen, des Einen und Allen", und das „in der Natur"! Das „Gefühlsleben" 80 ist und bleibt ein sinnlicher, leibli77
78 79
80
Vgl. Korsch, aaO. 64: „Dann fangen wir an, etwa von dem Zusammenhang zu ahnen, in dem alles steht, dann beginnen wir mit einer Erfassung des Ganzen, dann erfüllt uns eine Intuition des Universums, dann haben wir Religion." S. § 8.2.2. Zu diesem strikten Begriff von (transzendentaler) Apriorität im Vergleich zum Konstitutionsbegriff der Transzendentalphilosophie vgl. M. Moxter (1994), 134ff. Vgl. Korsch, 67; 66: „Gefühl, so darf man fortsetzend sagen, ist die leibliche Basis von Bewusstsein und in gewisser Weise diesem analog strukturiert. Zuge-
§ 10: Gefühlsqualität
285
cher, natürlicher Ort, der aber semiotisch gesehen den Denkprozessen nicht äußerlich bleibt, sondern deren vorausliegende Verwandtschaft bezeugt. Ganz prinzipiell aber auf die Vorgegebenheit des Universums und die jeweils vorgängige Unmittelbarkeit des rezeptiven Gefühls als eines solchen (empfangenden, ahndenden, anschauenden) zurückzukommen, das zeichnet die Religion aus. Ihr Ganzes ist die Vagheit eines Ersten - im sich unendlich differenzierenden Vielen des Wachstums der Natur; ihr Eines und Alles ist die Potentialität von Bestimmungsmöglichkeit im noch produktiv Unbestimmten; deshalb kann dies im Akt einerseits „stiller Ergebenheit" andererseits „im Einzelnen" erlebt, d.h. angeschaut [51] werden. (4) Es ist die unkontrollierbare Vielfalt des Unendlichen [53], die sich in „Sinn und Geschmack" präreflexiv empfinden lässt. Hier liegt, noch einmal, die Differenz zur Kunstfertigkeit menschlichen Handelns und zur Reflexionsfähigkeit menschlicher Wissenschaft. Anstelle von aktiven Vermittlungsleistungen und reflexiven Zweck-Mittel-Unterscheidungen besteht die Religion in der Rezeptivität gegenüber dem „Angeschaueten", dem Universum in seiner „ununterbrochenen Thätigkeit" in jedem „Augenblik" [55/56], Die Vagheit des Gefühls, die Bindung an Sinnlichkeit, die Erstheit des Eindrucks verhindern gerade nicht, Wachstum und Entwicklung, organische Vielfalt, vorausliegende Aktivität wahrzunehmen; deshalb wird diese empfangende Hinwendung der Religion als „unmittelbar" festgehalten [58]. Der erste Eindruck ist „für sich wahr", weil die Vermittlungen des bewussten Denkens noch nicht bestehen und die Wahrheitsentscheidung des Urteils noch fehlt. Letztere ist nur unter den Bedingungen des schlussfolgernden Denkens klüger und weiter; gemessen an vorgängigem Anschauen und Gefühl aber sekundär. Die hier gesuchte Unmittelbarkeit ist sich ihrer selbst gerade nicht mächtig, setzt sich nicht selbst, weiß sich nicht selbst81, sondern empfängt sich als religiöse Rezeption des Universums. Dessen aktive und produktive Vorgängigkeit begründet den Charakter des Unbedingten, der im religiös Unmittelbaren wahrgenommen wird. 82
81
82
spitzt kann man formulieren: Das Bewusstsein ist seihst eine Rückkopplung des Gefühls." Vgl. Korsch, 67, Anm. 25 (zum Verhältnis zwischen der „Unmittelbarkeit" in den Reden und dem „unmittelbaren Selbstbewusstsein" in Schleiermachers Glaubenslehre)·, letzteres kann nur verstanden werden, „wenn von einem ursprünglichen Selbstvollzug als Selbstsetzung abgesehen werden darf"; s. § 10.1, Anm. 11. S. § 1.4, Anm. 25, u. Schema 1.2.
286
III. Das Unbedingte: Ausarbeitung von Kreativität
(5) Im Wortsinne un-bedingt ist das, dessen Bedingungen bei seinem Eintreten nicht vorliegen; und das nicht nur, weil Menschen sie in der gegebenen Situation nicht kennen (aber vielleicht kennen könnten), sondern weil bei einem ursprünglich Ersten gar keine vorausliegende Bedingung denkbar ist. Denken aber braucht Voraussetzungen, und diese sind in ihrem Auftreten un-bedingt - wenn sie auch als solche immer nur unter Bedingungsangaben zum Ausdruck gebracht werden können. Die Religion aber vertritt auf ihre Weise - im „Grundgefühl" [53] des Universums - die Unbedingtheit, d.h. die Vorausgesetztheit und Wirksamkeit der ersten Gefühlsqualität. H. Scholz hat in diesem Sinne von dem „Unabweislichkeitsgefühl" des „religiösen Fundamentalurteils" gesprochen; P. Tillich von dem, „was uns unbedingt angeht", R. Neville von „ultimate realities".83 Wird dies anerkannt, so folgt daraus erstens, dass Ausdrucksmedien spezifischer - indirekter - Darstellungsformen angenommen werden müssen, die allein solcher Unbedingtheit entsprechen können. Zweitens ist aus der Vorrangigkeit der Gefühlsqualität zu folgern, dass zwischen einem Ereignis selbst und seinem (bewussten und nachfolgenden) Ausdruck unterschieden werden muss. Das religiöse Ereignis selbst (mit Schleiermacher: die Einheit von Anschauung und Gefühl des Universums) ist zwar nicht unzugänglich, aber jede Beschreibung und Verständigung unterliegt zusätzlichen Bedingungen, die dem unbedingten Erstereignis selbst nicht eigen waren. Drittens muss gesagt werden, dass das Unbedingte wegen seiner Darstellungsfähigkeit beschreibende Verständigung und folgende Interpretationen nicht nur zulässt, sondern diese von sich aus ermöglicht und damit auch fordert: Das Unbedingte als Ereignis ist kreativ für alles Folgende. Solche Kreativität eines Ersten verlangt seine Ausarbeitung in Darstellungen - in der Welt selbst (evolutionäre Kosmologie) wie im Verhältnis der Menschen zur Welt (Schöpfungsglaube). Die Religion ist zuständig für die ontologische Vorrangigkeit des (kreativ) Ersten.84 (6) In Schleiermachers spätem theologischen Hauptwerk, der Glaubenslehre, findet sich die gleiche Markierung des Ursprungs aller Religiosi83
84
H. Scholz (1922), 309; zur entsprechenden Kant-Kritik vgl. aaO. 307f.; P. Tillich, Systematische Theologie (1987), Bd. I, 17ff.; R.C. Neville, Ultimate Realities (2001), Iff. S. § 10.2.2, Anm. 54. - Vgl. Ch. S. Peirce, Die Vermählung von Religion und Wissenschaft (1893), in: RS, 208f.: „Und was ist Religion? Sie ist eine Art Gefühlsregung in jedem einzelnen Menschen, oder auch: eine verborgene Wahrnehmung - eine tiefe Erkenntnis von etwas im uns umgebenden All".
§ 10: Gefühlsqualität
287
tat bzw. Frömmigkeit im Gefühl. In der Einleitung der ersten Ausgabe (1821/22) heißt es in den §§ 8 und 9: „Die Frömmigkeit an sich ist weder ein gung und Bestimmtheit des Gefühls." gen, also das Wesen der Frömmigkeit schlechthin abhängig bewusst sind, das Gott." 85
Wissen noch ein Thun, sondern eine Nei„Das gemeinsame aller frommen Erregunist dieses, dass wir uns unsrer selbst als heißt, daß wir uns abhängig fühlen von
Die explizite Einordnung dieser beiden Grundsätze als „Lehnsätze aus der Ethik", wie sie die zweite Ausgabe (1830/31) vornimmt, verweist auf Schleiermachers System der Wissenschaften und zeigt, dass die für die christliche Glaubenslehre fundamentalen Bestimmungen des religiösen Gefühls einer anderen, übergeordneten und allgemeineren Disziplin entstammen: Der Ethik, und diese gründet - parallel zur Physik - in der Dialektik, dem höchsten Einheitspunkt von Denken und Sein. Im Unterschied zur Philosophie des deutschen Idealismus 86 will Schleiermacher aber nicht diesen höchsten Punkt als Unbedingtes zum Ausgangspunkt machen oder als Ursprung des Handelns theoretisch ausweisen, sondern anknüpfend an die Form und das Philosophieren der Dialoge Piatons wird die letzte Instanz in einem umkreisenden, kommunikativen Verfahren mehr gesucht als identifiziert. Ethik und Physik, menschliches Leben und Naturverhältnis sind der Ort und die Zeit, worin sich die allgemeine Vernunft geschichtlich realisiert. Schleiermacher hält hier in einer Weise Natur- und Kulturwissenschaft zusammen, wie das im 19. Jh. sonst kaum mehr möglich war. 87 Die Physik wird dabei gedacht als allgemeine Gesetzlichkeit der Natur, insofern im Naturgesetz generell dieses selbst und seine natürlichen Anwendungsfelder einheitlich auftreten; genau die Einheit, die ethischgeschichtlich nicht erreicht werden kann. Denn Ethik muss verstanden 85
86
87
F .D.E. Schleiermacher, Der christliche Glaube (1821/22), Bd. 1 (1984), 26, 31. Die zweite Ausgabe (1830/31), Bd. 1 (1960), 14, 23, gibt den gleichen Text mit erläuternden Zusätzen: „Die Frömmigkeit, welche die Basis aller kirchlichen Gemeinschaften ausmacht, ist rein für sich betrachtet weder ein Wissen noch ein Tun, sondern eine Bestimmtheit des Gefühls oder des unmittelbaren Selbstbewusstseins" (§ 3). - „Das Gemeinsame aller noch so verschiedenen Äußerungen der Frömmigkeit, wodurch diese sich zugleich von allen anderen Gefühlen unterscheiden, also das sich selbst gleiche Wesen der Frömmigkeit, ist dieses, dass wir uns unserer selbst als schlechthin abhängig, oder, was dasselbe sagen will, als in Beziehung mit Gott bewusst sind" (§ 4); s. § 10.1, Anm. 11. Vgl. W. Janke: Idealismus, in: TRE 16 (1987), 1-20. - Zu Schleiermachers Theorie des Gefühls im Kontext der Philosophie seiner Zeit vgl. M. Frank (2002), 190-198; A. Krichbaum (2008), Kap. 6.1. Vgl. J. Dittmer (2001), Kap. 1.1 u. Kap. 2.
III. Das Unbedingte: Ausarbeitung von Kreativität
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werden als die Aufgabe, jene Einheit des Idealen und Realen menschlich aufzufassen und so umzusetzen, wie sie sich individuell und geschichtlich darstellt. „Lehnsätze aus der Ethik" bedeutet dann: Das Gefühl als menschliche Grundgegebenheit hat seine wissenschaftlich allgemeine Ableitung in der Ethik bereits gefunden, seine jeweilige Ausprägung als „Frömmigkeit" gehört in die geschichtlich-kulturell bestimmten Religionen (und deren Theologien). (7) Die Unbedingtheit des Gefühls, das ist neu gegenüber den Reden, wird in der Glaubenslehre in der „schlechthinnigen Abhängigkeit" zum Ausdruck gebracht, und diese steht in der 2. Ausgabe parallel zur Erläuterung des Gefühls als „unmittelbares Selbstbewusstsein". Beides soll der Unbedingtheit des jedem Menschen bekannten ersten Zustandes entsprechen, worin wir uns vor allem Zweifel ganz und gar sicher sind, uns eben genau so selbst zu befinden/zu fühlen. Schleiermacher nennt als treffende Beispiele „Freude und Leid", und diese liegen jeweils im „Augenblick"; als Gegenbeispiele „Selbstbilligung und Selbstmissbilligung"88, d.h. im letzteren Fall Selbstverhältnisse in der Form einer bereits dazwischen eingetretenen Beurteilung, und insofern ist das Gefühl dann nicht mehr im gesuchten Sinne unmittelbar.89 Es bleibt insofern dabei, dass die Eigenständigkeit und primäre Rolle des Gefühls damit begründet wird, dass es etwas Allererstes repräsentiert, das durch Wissen oder Tun gar nicht mehr erreicht werden kann. Neu gefasst aber sind Schleiermachers Bemühungen um eine Begründung: Wenn das Leben der Menschen überhaupt aufzufassen ist als ein Zusammen von „Insichbleiben und Aussichheraustreten des Subjekts", so ist das unmittelbare Gefühl eben die ausgezeichnete Stelle, wo das „Insichbleiben" ungestört rezeptiv sein darf, es ist reine „Empfänglichkeit".90 Hinzu kommt nun aber die Unterscheidung zwischen solcher Unmittelbarkeit im Gefühl allgemein und dem spezifisch religiösen Gefühl „schlechthinniger Abhängigkeit".91 Schleiermacher versucht den Nachweis des Unbedingten über die Ambivalenz der Gefühle („Lust und Unlust"), leugnet diese auch nicht im Falle des Religiösen92, will
88
D e r christliche Glaube (1830/31), aaO. 16f. (§ 3.2).
89
Vgl. J . Röhls (1985), 249.
90
Schleiermacher, aaO. 18 (§ 3.3).
91
Vgl. H.-J. Birkner: Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit, in: H W P 3 (1974),
92
Vgl. Schleiermacher (1821/22), aaO. 33 (§ 10): „Die Frömmigkeit ist die höchste Stuffe des menschlichen Gefühls, welche die niedere mit in sich aufnimmt, nicht aber getrennt von ihr vorhanden ist" (vgl. entsprechend § 5 der 2. Ausgabe).
98.
§ 10: Gefühlsqualität
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letzteres aber dennoch als eigenständig verteidigen: Analog zu J.G. Fichtes Unterscheidung von Ich und Nicht-Ich 93 trifft Schleiermacher die zwischen „Sichselbstsetzen" und „Sichselbstnichtsogesetzthaben" 94 und interpretiert das erste als Freiheit, das zweite als Empfänglichkeit bzw. Abhängigkeit. Dann muss eine „Wechselwirkung" von Abhängigkeits- und Freiheitsgefühl angesetzt werden, worin die Menschen sich in ihrer „Welt" vorfinden. 95 Worin aber liegt dann das Unbedingte? - Schleiermacher zeigt, dass es ein „schlechthinniges Freiheitsgefühl" gar nicht geben kann, denn die selbstbestimmende Aktivität eines Menschen bedarf ja immer eines Gegenübers, seiner „Welt", sonst könnte das Freiheitsgefühl gar nicht sein, was es ist; kurz: Absolute Freiheit ist menschlich gesehen nicht denkbar. 96 Auf der Gegenseite der Abhängigkeit aber ist ein Unterschied zu machen, auf den es nun allerdings ankommt: Zwar gilt zunächst, dass bezüglich „gegebener Gegenstände" immer auch Freiheits- und Abhängigkeitsgefühl zusammen auftreten müssen, weil wir zu diesen immer schon in einem Verhältnis stehen, also auf unsere Freiheit der Einwirkung allenfalls aus freien Stücken verzichten können; niemals aber kann es deshalb zu einer absoluten Abhängigkeit im Gegenstandsverhältnis kommen. Daraus zieht die 1. Ausgabe der Glaubenslehre im Blick auf das „fromme Gefühl" den umgekehrten den Schluss: „Dass nun das fromme Gefühl in allen seinen noch so verschiedenen Gestaltungen immer ein reines Gefühl der Abhängigkeit ist, und nie ein Verhältniß der Wechselwirkung bezeichnen kann, dies wird vorausgenommen als ein nicht abzuläugnendes." 97 Die 2. Ausgabe versucht, dieses Faktum besser zu begründen, und zwar durch die problematische Wendung: Dass bereits die Anerkennung, absolute Freiheit der Welt gegenüber könne es nicht geben, impliziere, dass das Gefühl der Abhängigkeit absolut sein müsse. Weil wir die Freiheit nicht absolut denken können, deshalb müssen wir umgekehrt die Herkunft von Welt und „Selbsttätigkeit" absolut, d.h. außerhalb des Wechselverhältnisses voraussetzen. 98 Wenn derart
93 94 95 96 97 98
Vgl. W. Janke (s. Anm. 86), 7. Schleiermacher (1830/31), aaO. 24 (§ 4.1). AaO. 25ff. (§ 4.2); vgl. A. Krichbaum (2008), 226ff. AaO. 27f. (§ 4.3). Schleiermacher (1821/22), aaO. 32 (§ 9.3). Schleiermacher (1830/31), aaO. 28 (§ 4.3): „Allein eben das unsere gesamte Selbsttätigkeit, also auch, weil diese niemals Null ist, unser ganzes Dasein begleitende, schlechthinnige Freiheit verneinende Selbstbewusstsein ist schon an und für sich ein Bewusstsein schlechthinniger Abhängigkeit; denn es ist das Bewusstsein, dass unsere ganze Selbsttätigkeit ebenso von anderwärts her ist, wie dasjenige ganz
290
III. Das Unbedingte: Ausarbeitung von Kreativität
das Unbedingte als Ergebnis eines rationalen Schlußverfahrens nachgewiesen werden soll, handelt es sich offenbar um (traditionelle) Metaphysik. Der hier vorgeführte Schluss gilt aber natürlich nur dann, wenn die Notwendigkeit eines absoluten Verhältnisses schon vorausgesetzt wird. Die Reden demgegenüber sind nicht von einem solchen Nachweis ausgegangen, sondern vom Phänomen der Gefühlsqualität und seiner Unbedingtheit: Dass es ein Erstes geben muss, drängt sich auf und ist insofern einfach nicht zu leugnen. (8) Enthält das primäre („schlechthinnige"), prägende und alles bestimmende Gefühl der Empfänglichkeit bereits das darin „mitgesetzte Woher", nämlich „Gott"? Schleiermacher bleibt konsequent, wenn er diesen Gedanken ausdrücklich ohne „vorheriges Wissen um Gott", allein im „Gefühl" fundiert sehen will." Dann aber muss die religiöse Relation allein auf die Gefühlsqualität zurückgeführt werden, obwohl jede ihrer Darstellungen - schon der „Ausdruck Gott" - auf geschichtlich-kulturelle Bedingungen angewiesen bleibt.100 Bei aller Darstellungsabhängigkeit ist die Gefühlsqualität aber auf keinen Fall zu vernachlässigen, so als handelte es sich um ein vorübergehendes Durchgangsstadium, wie Hegel es als Apologet des Begriffs gesehen hat: „Das Bewusstsein ist die Auswerfung des Inhalts aus dem Gefühl, eine Art der Befreiung."101 - Nein, Befreiung geschieht in umgekehrter Richtung dann, wenn die Darstellung und Ausarbeitung kreativer Gefühlsqualität gelingt. Jede Aneignung eines solchen Gelingens ist dann der existentielle Vollzug dessen, was semiotisch-strukturell mit der vorausgesetzten und damit unbestimmten Stelle der Gefühlsqualität, der Unmittelbarkeit in den Vermittlungen, zu sagen versucht werden muss.102 Religiosität ist, in gewissem Sinne, Gefühlsqualität, obwohl sie von uns her sein müßte, in Bezug worauf wir ein schlechthinniges Freiheitsgefühl haben sollten. Ohne alles Freiheitsgefühl aber wäre ein schlechthinniges Abhängigkeitsgefühl nicht möglich." 99
A a O . 28f. (§ 4.4).
100 Vgl. E . Herms (2003), 292: „Religion ist diejenige geschichtlich gewordene besondere Bewusstseinslage eines Menschen, in der er der Möglichkeitsbedingung allen Handelns (also auch des Wissens) inne ist." 101 G . W . F . Hegel, Philosophie der Religion, Bd. 1 (1993), 288; vgl. ebd.: „Indem man dabei verweilt, dass dieser Inhalt im Gefühl mit uns identifiziert ist, so geschieht es, dass man die Vorstellung hat, das Gefühl sei die Quelle dieses Inhalts". 102 E . Herms, ebd., schlägt zur Interpretation Schleiermachers vor, zwischen der prinzipiellen „Möglichkeitsbedingung" („von Handeln und Wissen") im Gefühl bzw. „unmittelbaren Selbstbewusstsein" und den geschichtlichen Realisierun-
§ 10: Gefühlsqualität
291
sich als solche nicht unmittelbar präsentieren kann. Die Ausarbeitungen dieser Grundkonstellation, ihrer Kreativität, Darstellungs- und Korrekturfähigkeit machen den religiösen Sinn des Unbedingten aus. Dies wiederum darzustellen ist Aufgabe der Religionsphilosophie.
gen des „unmittelbaren Selbstbewusstseins" zu unterscheiden. Religion ist dann anzusprechen als „das gewordene Innesein dieser Möglichkeitsbedingungen [sc. von Handeln und Wissen]", nicht diese (unmittelbar) selbst. Dann erscheint die (religiöse) Unmittelbarkeit als der „transzendentalphilosophische" Fluchtpunkt eines geschichtlichen Selbstbewusstseins, das seine kreative Herkunft formalisiert.
§11: Wahrnehmungsaugenblick Wenn Gefühlsqualität als ein Erstes allem Anderen vorausgeht, folgt die Frage, wie derart Unbedingtes denn in vermittelnder Wahrnehmung auftreten kann. Gemeint ist hier nicht die erkenntnistheoretische Differenz zwischen Subjekt und Objekt, sondern der Fußpunkt allen Erkennens, die Wahrnehmung als Einheit von Wahrnehmen und Wahrgenommenem. Sie impliziert allerdings raumzeitliche Gegebenheiten, sieht die Gefühlsqualität unter bestimmten Bedingungen, und deren Auftreten geht in alle folgenden Erfahrungen ein. Was raumzeitlich ist und doch noch nicht als analytische Differenz konstruiert wird, liegt im Augenblick1 und wird in ihm Ereignis. Die Kreativität zeigt sich in der Fülle der Zeit, im Offenbarwerden unter Bestimmungen.
1. Zeitproblem und Augenblick Zeichenvermittelt Realität wahrzunehmen bedeutet: Dem nachzugeben, was widerständig und nicht „zum Verschwinden" zu bringen ist, was sich mit „Beharrlichkeit" geradezu aufdrängt und damit „Lebendigkeit" zeigt. 2 Wenn ich vor mir z.B. ein „Tintenfass" sehe, dann bildet sich diese Wahrnehmung von einem ersten Eindruck her aufbauend, durch vergleichende und wiederholende Blicke im Raum, zu einer spezifischen Einheit. Der vor dem eigenen Bewußtsein „innere Gegenstand meiner Gedanken" ist eine eingeräumte „Hypothese" aufgrund des damit bestätigten „externen Objekts". 3 Gegen diese Rezeptivität der Wahrnehmung kann sich niemand wehren, und in ihrer „Lebendigkeit" liegt die Kreativität des Realen: Es geht also nicht u m tote Objek-
1 2
3
S. § 10.1, Anm. 19. Ch.S. Peirce, Bedeutungslehre und Logik (1909), in: RS, 389. Es handelt sich hier um eine knappe Zusammenfassung der Wahrnehmungstheorie zur Kritik des Nominalismus (ebd. 388) und zur Verteidigung des Gottesarguments im Blick auf die Gott-„Hypothese" und den Glauben als „natürlichen Instinkt" (ebd. 391). Ebd. 389. Semiotisch gesehen ist hier zugleich die Unterscheidung von „unmittelbarem" und „dynamischem" Objekt in Kraft, s. § 10.2 (Schema 3).
§ 1 1 : Wahrnehmungsaugenblick
293
te oder Gegenstände an sich, sondern um das Wahrnehmungsereignis, das sich selbst darstellt - und darin die Realität, wie sie ist.4 Der doppelte Sinn des Begriffs Wahrnehmung, ihre Rezeptivität einerseits und ihre Aktivität (Hypothesenbildung) andererseits, lässt sich in einem weiteren Schritt durch terminologische Unterscheidungen klären: Wahrnehmung hat, erstens, einen unkontrollierbaren Aspekt, sie entsteht in unvermeidlicher Rezeptivität3; sie ist aber, zweitens, aktiv als Wahrnehmungsurteil (perceptual judgment), das graduell bewusst und dann auch kontrollierbar ist6; und Wahrnehmung ist, drittens, um die Lücke zwischen bewusstem Urteil und vorbewusster Wahrnehmung zu schließen ein „percipuum"7, das beide Aspekte abdeckt, d.h. als Wahrnehmungsereignis angesprochen werden muss: In ihm ist zugleich die Unentrinnbarkeit der Wahrnehmung (aufgrund ihrer gegenwärtigen, einmaligen Qualität) und die logische Funktion der davon abhängig geprägten Stellungnahme gewahrt, auf die dann erst weitergehende Interpretationen, kritische Vergleiche und Korrekturen folgen können. In der Frage der Abgrenzung dieser besonderen Stellung des Wahrnehmungsereignisses ergibt sich schon aus der jeweiligen Aufmerksamkeit einerseits die räumliche Bestimmtheit qualitativer Eindrücke und Differenzen, andererseits aber auch die Unterscheidung der Wahrneh4
Vgl. R S , 390: „Was die Zeichen nachweisen, und zwar so gründlich, wie irgendein TATBESTAND [ACTUAL FACT] nur nachgewiesen werden kann, ist dies, dass wirkliche WAHRNEHMUNGEN ihrer Qualität und ihrer Veranlassung nach TATSACHEN repräsentieren, die sich auf DINGE [Matter] beziehen, die unabhängig von den WAHRNEHMUNGEN selbst sind."
5
Peirce in einem Ms. unter dem Titel „Telepathy" von 1903 (CP 7 . 5 9 7 - 6 8 8 ; bzw. M S 881; vgl. zu diesem Text in: R S , 454), hier C P 7.621: „It [sc. the percept] silently forces itself upon me."
6
Vgl. C P 7.628: Weil das Wahrnehmungsurteil ein (logischer) Schluss ist, die (rezeptive) Wahrnehmung im ersten Sinn aber keine Satzform haben kann, muss gesagt werden: „the perceptual judgment, does not represent the percept
logically." 7
D e r Begriff wird in einem Nachtrag im Ms. ausdrücklich neu eingeführt (CP 7.629; vgl. M S 881, p. 34) als analoge Wortbildung zu „praecipuum" („Vorzug" [von „praecipio"]). Die folgende Interpretation, das Precipuum als spezifische Zwischenstellung, d.h. im Sinne eines „unmittelbaren O b j e k t s " aufzufassen, schließt an die genaue Untersuchung dieser Texte an, wie sie C . R . Hausman (1990) durchgeführt hat. - Aufgrund von Peirce' Hinweis auf den „Index" (CP 7.628: „forced by blind fact to correspond to its object") ist hier an die IV. T r i c h o t o m i e zu denken (s. § 10.2, Schema 3); vgl. auch C P 7.643: „the .percipuum' [...] is what forces itself upon your acknowledgement [...] so, all y o u can say is, ,1 can't help it. That is h o w I see it."'
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III. Das Unbedingte: Ausarbeitung von Kreativität
mungsgegenwart von Vergangenheit bzw. Zukunft. Das Percipuum lehrt, dass Vergangenheit und Zukunft immer bestimmungsoffen und ergänzungsfähig bleiben 8 , sie werden „generalisierend" 9 konzipiert. Die Wahrnehmungsgegenwart dagegen ist in sich einmalig und vollständig, eine „Singularität" 10 - zwar auch „Zeitfluss" und Gefühl für „Wechsel", dies aber gerade nicht gedacht in der Serie von Zeitpunkten („instants"), sondern im Augenblick („present moment"). 11 An Kants Zeitvorstellung zeigt Peirce, dass die eigentlich richtige (mathematische) Vorstellung unendlicher Teilbarkeit dann nicht weiterführt, wenn immer wieder feste Teilstücke (Intervalle) weiter geteilt werden. Denn so wird einerseits mit bestimmbaren Größen gerechnet, während andererseits deren Teilbarkeit keine Grenze hat, es also keinen „absoluten Zeitpunkt" („absolute instant") gibt. Das Percipuum aber verlangt die qualitative Gegenwart, den Wahrnehmungsaugenblick, damit überhaupt Aussagen über etwas zustande kommen können. 12 Zeit in diesem (qualitativen) Sinn also muss als „Unterbrechung der [sc. quantitativen] Zeit" („lapse of time") verstanden werden: der „gegenwärtige Augenblick" („present moment"). 13 So gehören Teilbarkeit und Augenblick in der Zeit zusammen, nicht als Serie von Zeitpunkten, sondern als qualitative Augenblicke, die Veränderung und Ubergänge durchaus spüren lassen, d.h. Kontinuität zum Ausdruck bringen. Die Gegenwart wird dadurch nicht absolut gesetzt, sie bleibt teilbar, hat Ränder zur Vergangenheit und Zukunft; sie hat aber klar bestimmbare Intervallgrenzen, Anfang und Ende, mit denen das Percipuum aus der Serie der Zeitpunkte heraustritt. 14 Zeiterfahrung, Wahrnehmungsereignis und Augenblick gehören offenbar in spezifischer Weise zusammen. Es sind die für das Weltbild in Physik und Kosmologie einschneidenden Neuerungen seit der Wende zum 20 Jh., die die Begrifflichkeit von Zeit und Wahrnehmung generell verändert haben und dem Be-
8 9 10 11 12
13 14
Vgl. die detaillierte Diskussion des Zeitproblems in CP 7.625 u. (im Folgenden) 7.648f. CP 7.649. CP 7.625, p. 372.. CP 7.649ÍÍ.; vgl. MS 881, p. 56. Vgl. MS 881, p. 56f.; CP 7.652; 7.653: „if there is no such thing as an absolute instant, there is nothing absolutely present either temporarily or in the sense of confrontation." CP 7.653; s. § 10.1, Anm. 18. Vgl. CP 7.655ff., 7.675. - Zum hier zugrunde liegenden (mathematischphilosophischen) Begriff der Kontinuität vgl. C.R. Hausman (1990), 298-306; (1997), chap. 4; s. § 11.1.2, § 1.4, Anm. 36, u. § 18.
§ 1 1 : Wahrnehmungsaugenblick
295
fund, wie Peirce ihn auf mathematischem Hintergrund entworfen hatte, durchaus entsprechen: Raum und Zeit werden nicht mehr als absolute Bezugsgrößen angesehen (wie in der neuzeitlichen Physik I. Newtons), sondern müssen - aufgrund der Endlichkeit der Lichtgeschwindigkeit (A. Einsteins „spezielle Relativitätstheorie" [1905]) - relativ zu den Ereignissen raumzeitlich konzipiert werden. Daraus folgt, dass die ,Wirklichkeit' physikalischen Geschehens im Bild zweier Kegel vorgestellt wird, die mit ihrer Spitze (wie eine Sanduhr) aufeinander stehen: Im Schnittpunkt das gegenwärtige „Ereignis", im oberen Kegel die möglichen Zukunftslinien (physikalisch: die Bahnen eines Lichtimpulses), im unteren Kegel die entsprechenden Linien der Vergangenheit. 13 Was sich ereignet, liegt im Bereich dieser Kegel; die Gegenwart erscheint physikalisch als Punkt; und alles Andere liegt im fremden Außerhalb, wo sich nichts ereignet. - Die philosophische Zeitanalyse kann dem entsprechen, hält aber fest, dass ein Ereignis als bloßer Punkt unterbestimmt bleibt. Der Wahrnehmungsaugenblick lehrt, dass Gegenwart und Gefühlsqualität von eigener Intensität sind und so auch ausgelegt werden müssen. Die raumzeitliche Ereignisrelativität aber passt in das gemeinsame Bild einer Realität des - messenden oder erlebenden - Beteiligtseins: Naturwissenschaft und Hermeneutik nähern sich einander an. Das liegt kosmologisch gesehen erst recht nahe, wenn die Begriffe der Unendlichkeit und des Kontinuums, wie Peirce sie in die Diskussion eingeführt hat, auch naturwissenschaftlichen Modellen zugrunde gelegt werden. Anfangs- und Endzustände des Universums, sog. „Singularitäten", entziehen sich den gewöhnlichen physikalischen Beschreibungsmöglichkeiten, liegen jenseits des „Ereignishorizonts" und wären von anderer Kategorie, d.h. zugänglich durch mathematisch-philosophische Begriffe des Unendlichen. 16 Wenn Peirce in der Diskussion des Wahrnehmungsproblems von „Singularität" sprechen konnte, so war damit im Kontext zwar nicht ein kosmologischer Grenzfall gemeint, wohl aber - und noch fundamentaler - die Nicht-Auflösbarkeit qualitativer Wahrnehmung in quantifizierbare Reihenvorstellungen. 17 Ohne diese kreative Bedingung des Bedingten wären gehaltvolle Aussagen 15
16 17
Vgl. die anschaulichen Ableitungen und Erklärungen von St. Hawking (2001), 36-44; zur Lichtgeschwindigkeit als Konstante J.D. Barrow, Unendlichkeit (2006), 226ff. Barrow, aaO. 112-117. S. Anm. 10; Peirce, CP 7.625, p. 372: „the singularity, or singleness, of the percept, the one making it individual and the other positive. The percept is, besides, whole and undivided."
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III. Das Unbedingte: Ausarbeitung von Kreativität
über das Universum gar nicht denkbar. Das ist religionsphilosophisch von größtem Belang, weil hier die Uberschneidung zwischen Naturund Kulturwissenschaften zu greifen ist: Religionen als geschichtliche Größen, Religiosität in Ritualen und Religionsphilosophie in Theoriebildungen thematisieren und praktizieren den Wahrnehmungsaugenblick wie er von sich aus wirkt: in seiner kreativen Vorausgesetztheit. Alle anderen alltäglichen, ästhetischen, wissenschaftlichen Zugänge, Verhaltens- und Handlungsweisen implizieren (in irgendeiner Form) dieses Erste, indem sie (jeweils auf ihre Weise selbständig) seine Wirksamkeit in den Natur- und Kulturprozessen des Universums explizieren.
1.1. Augenblick und Zeitlichkeit Die Entdeckung der besonderen Vermittlungsleistung des Augenblicks ist zunächst Augustin zu verdanken; daran in weitem Bogen anschließend und in moderner Fassung - als Vorrecht qualitativer Wahrnehmung in der Zeit - Kierkegaards Existenztheologie. Augustin hat an berühmter Stelle, im 11. Buch der Confessiones, auf die Frage nach der Zeit geantwortet, sie sei nicht natürlich gegeben (wie die Dinge oder die Bewegungen im Raum); und dass wir Zeit messen können, muss folglich als innere Leistung der Seele verstanden werden: Dann ist die Zeit nicht irgendwo draußen, sondern jeweils Erlebnisgegenwart, von der aus erst Vergangenheit und Zukunft erinnert bzw. erwartet werden. 18 Was diese Wendung nach innen bedeutet, dass hiermit ein komplexeres, nicht einfach distanziert zu handhabendes Verhältnis in den Blick kommen muss, zeigt bereits Augustins Satz zur Eröffnung der Untersuchung „Was ist also ,Zeit'?": Solange nicht nach der Zeit gefragt wird, „weiß ich es; will ich einem Fragenden es erklären, weiß ich es nicht." 19 Unmittelbares Zeitverhältnis und Zeitbewusstsein lassen sich nicht ohne weiteres voneinander abheben, denn das Entscheidende hängt an der Wahrnehmung des Gegenwärtigen, das zugleich im Fluss der Zeit verschwindet. „Ewigkeit" wäre demgegenüber eine Gegenwart, die ohne Zeitfluss, d.h. ohne Vergangenheit und Zukunft, immer anhielte. - Ewigkeit als bloß angehaltene Zeit aber 18
19
Augustinus (1980), Buch XI.14-30; s. § 5.2; vgl. P. Frederiksen, in: V.H.Drecoll (2007), 304-309; zum Kontext der seit Augustin diskutierten Zeitbegrifflichkeit H. Deuser, Die Freude des gelebten Augenblicks (1996). Confessiones (1980), XI.14.17: „Quid est ergo ,tempus'? Si nemo ex me quaerat, scio; si querent! explicare velim, nescio".
§11: Wahrnehmungsaugenblick
297
wäre unproduktiv, stumpf, mit Schöpfung und Lebendigkeit unvereinbar.20 Der Wahrnehmungsaugenblick dagegen ist derjenige kreative Ubergang, in dessen qualitativer Intensität gleichwohl noch nicht wirklich heraus ist, worum es sich handelt: Beim Zukünftigen kann entworfen und geplant werden, beim Vergangenen können Bestimmungen distanziert und gewusst werden, das Gegenwärtige aber ist in der Zeit und doch nicht wie die Zeit. Hinzu kommt, dass mit der Einsicht in diese Sonderstellung der Gegenwart auch ihr Vergehen offensichtlich wird: Zum (im gewissen Sinne nicht-zeitlichen) Augenblicksein gehört sein Vergehen, die Grenze, das Nichtsein.21 Auch diese Bobachtung hat Augustin notiert und damit die Endlichkeit, Leben und Tod mit dem Zeitbewusstsein aufs Innerste verbunden gesehen. Kierkegaard hat diese mehrdeutige Gegenwärtigkeit entschieden als Augenblick konzipiert; und zwar so, dass dessen Vorrangigkeit am Zeitverhältnis selbst entwickelt werden soll. Dann sind zunächst die folgenden Unterscheidungen22 zu treffen: Erstens fällt der Gegensatz zwischen einem bloßen (quantitativen) Zeitablauf („Sukzession"23) und den Qualitätsdifferenzen von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft auf. Die rein quantitative Zeitvorstellung gibt keine Garantie, daß nicht nur „Momente", d.h. Zeitpunkte24 seriell wechseln, ohne dass es je zu einem hervorgehobenen Wahrnehmungsaugenblick kommen kann. Dieses Modell erklärt also die spezifisch menschliche Zeiterfah20
21
22
23 24
Zur Interpretation von Conf. XI.14.17 vgl. J. Kreuzer (1995); 176: „Nicht deshalb wird die immer stehende Ewigkeit als schöpferische gedacht, weil sie eine endlos lange Gegenwart wäre. Sie ist keine - gerade keine nicht endend lange - Zeit in der Zeit. Die immer stehende Ewigkeit ist die zeitlose Gegenwart des schöpferischen Augenblicks"; ebd. 177, Anm. 189: „Die Vorstellung einer Gegenwart, die ,es gibt', gibt es erst, wenn das Zukünftige in Vergangenes, in Gewesenes übergegangen ist. Dieser Ubergang vollzieht sich im Augenblick." Augustin, ebd.: Von der Gegenwart gilt, „causa, ut sit, illa est, quia non erit, ut scilicet non vere dicamus tempus esse, nisi quia tendit non esse" („dass sie ist, da doch ihr Seinsgrund eben der ist, dass sie nicht sein wird? Rechtens also nennen wir sie Zeit nur deshalb, weil sie dem Nichtsein zuflieht"). - Vgl. zur Auslegung im Blick auf Endlichkeit und Tod, bei Augustin selbst wie im Blick auf M. Heideggers Todesanalyse in Sem und Zeit (§ 51ff.), Kreuzer, aaO. 176ff. Anm. 189. S. Kierkegaard, Der Begriff Angst (1992), Kap. III (Einleitungsabschnitt); vgl. die historischen Erläuterungen im Realkommentar der dänischen Ausg., SKS K4, 448-470; zur Auslegung H. Schulz (1994), 408-422; E. Gräb-Schmidt, Leben (2006), 696ff.; A. Krichbaum (2008), 258ff. Kierkegaard, SKS 4, 398ff.; dt. aaO. lOOff.. S. § 11.1, Anm. 11.
298
III. Das Unbedingte: Ausarbeitung von Kreativität
r u n g n i c h t . - D e n k t m a n d e m g e g e n ü b e r die A u g e n b l i c k e „spatiiert" 2 3 , w i e K i e r k e g a a r d sagt, d.h. w i e ausdehnungsfähige I n t e r v a l l e , so ist n o c h n i c h t k l a r , o b die P u n k t r e i h e d a d u r c h w i r k l i c h d e m e n t i e r t w u r d e o d e r n u r eine e i g e n t l i c h
sachfremde Vorstellung
erlebter
Zeit
künstlich
nachgetragen wird. Z w e i t e n s w i r d d a n n k l a r , dass das „ G e g e n w ä r t i g e " als e r f a h r e n e Q u a l i t ä t o f f e n b a r gar k e i n Z e i t b e g r i f f (etwa i m S i n n e b l o ß e r Sukzessio n ) sein k a n n . E s u n t e r b r i c h t den A b l a u f n i c h t n u r (wie ein d i s k r e t e r P u n k t das K o n t i n u u m ) , s o n d e r n es ist n i c h t - z e i t l i c h : also das „ E w i g e " 2 6 , d.h. Z u s a m m e n h a n g u n d erfüllte G e g e n w a r t . D r i t t e n s w i r d n u n erst R e c h t die Z u o r d n u n g beider Z e i t v o r s t e l lungen dringlich: W i e k o m m e n bloßer A b l a u f und reine
Gegenwart
d e n n z u s a m m e n , w i e es der m e n s c h l i c h e n Z e i t e r f a h r u n g erst g e m ä ß w ä r e ? D a m i t e r r e i c h t K i e r k e g a a r d den n e u e n Z e i t b e g r i f f der existentiellen „ Z e i t l i c h k e i t " , den „ z w e i d e u t i g e n " W a h r n e h m u n g s a u g e n b l i c k : „[1] Der Augenblick bezeichnet das Gegenwärtige als solches, das kein Vergangenes und kein Zukünftiges hat, denn gerade darin besteht die Unvollkommenheit des sinnlichen Lebens. Auch das Ewige bezeichnet das Gegenwärtige, das kein Vergangenes und kein Zukünftiges hat, und dies ist die Vollkommenheit des Ewigen. [2] Wenn man nun den Augenblick gebraucht, um damit die Zeit zu bestimmen, und ihn das rein abstrakte Ausschließen des Vergangenen und des Zukünftigen und des Gegenwärtigen als solchen bezeichnen lässt, dann ist er gerade nicht das Gegenwärtige, denn ein rein abstrakt gedachtes Dazwischenliegendes zwischen Vergangenem und Zukünftigem gibt es gar nicht. Doch auf diese Art ist zu sehen, dass der Augenblick nicht nur eine Bestimmung der Zeit ist, denn die Bestimmung der Zeit ist nur die, vorbeizugehen, weshalb sie, sofern sie durch eine der in der Zeit sich offenbarenden Bestimmungen bestimmt werden soll, die vergangene Zeit ist. Sollen sich aber Zeit und Ewigkeit berühren, dann muss das in der Zeit sein, und jetzt sind wir beim Augenblick. [3] Der .Augenblick' ist ein bildlicher Ausdruck und insofern nicht so gut zu handhaben. Doch für den, der darauf achten will, ist es ein schönes Wort. Nichts ist so schnell wie der Blick des Auges, und doch ist er kommensurabel für den Gehalt des Ewigen. Wenn also Ingeborg über das Meer Ausschau nach Frithjof hält, dann ist dies ein Bild dafür, was der bildliche Ausdruck bedeutet. Ein Ausbruch ihres Gefühls, ein Seufzer, ein Wort enthält schon als Laut mehr von der Bestimmung der Zeit und ist mehr gegenwärtig in Richtung Verschwinden und enthält nicht so sehr die Gegenwart des Ewigen, weshalb ja auch ein Seufzer, ein Wort usw. die Macht besitzt, der Seele das Belastende abzunehmen, gerade weil das Belastende, wird es nur ausgesprochen, schon ein Vergangenes zu werden beginnt. Ein Blick ist deshalb eine 25
SKS 4, 389; dt. aaO. 101. - Von der Dehnung der Zeit hatte bereits Augustin gesprochen (Conf. XI.15.20); dass die Zeit als „lang" (ebd.; vgl. XI.16.21) empfunden werden kann, ist der zwingende Anlass, auf die Besonderheit der Gegenwart aufmerksam zu werden.
26
SKS 4, 389; dt. 102.
§11: Wahrnehmungsaugenblick
299
Bezeichnung der Zeit, doch wohlgemerkt der Zeit in jenem schicksalhaften Konflikt, da die Ewigkeit sie berührt. Was wir den Augenblick nennen, das nennt Plato τό εξαίφνης. Wie man dieses Wort auch etymologisch erklärt, so steht es doch in Beziehung zur Bestimmung des Unsichtbaren, denn Zeit und Ewigkeit wurden gleich abstrakt aufgefasst, und zwar deshalb, weil der Begriff Zeitlichkeit fehlte, was darin begründet war, dass man den Begriff Geist nicht hatte. Auf lateinisch heißt es momentum, und die Ableitung des Wortes (von movere) drückt nur das bloße Verschwinden aus."27 „[4] Der Augenblick ist jenes Zweideutige, in dem sich Zeit und Ewigkeit berühren, und damit ist der Begriff Zeitlichkeit gesetzt, wo die Zeit ständig die Ewigkeit abschneidet und die Ewigkeit ständig die Zeit durchdringt. Jetzt erst bekommt jene erwähnte Einteilung ihre Bedeutung: die gegenwärtige Zeit, die vergangene Zeit, die zukünftige Zeit."28
(1) Wird das Ewige als Aufhebung des Zeitverlaufs verstanden, so ist in Anwendung auf die reine Gegenwart eine doppelte Auslegung möglich: Unterbrechung des Zeitverlaufs, d.h. Zeit ohne die Dimensionen von Vergangenheit und Zukunft - was dem „sinnlichen Leben" fremd und unmöglich erscheint; oder Fülle der Zeit, d.h. einschließlich der Zeitdimensionen, was nur dem Ewigen selbst, außerhalb des Zeitverlaufs zugesprochen werden kann (1. Abs.). (2) Als (chronologische) Zeitbestimmung verwendet könnte der Augenblick als „Dazwischenliegendes" (2. Abs.), zwischen Vergangenheit und Zukunft, vorgestellt werden. 29 Damit wären zwar Vergangenheit und Zukunft zu unterscheiden, der jeweilige Unterscheidungszeitpunkt selbst aber, das „Gegenwärtige als solches", wäre immer nur als Umschlagspunkt „rein abstrakt gedacht". Damit ist bereits als Gegenmodell ein qualitativer Wahrnehmungsaugenblick ins Feld geführt: Gesucht wird ein Verständnis für erlebte Gegenwart, nicht nur ihre bloß punktuelle Markierung auf einem Zeitstrahl, und daran hängt mit der Bestimmung von Gegenwart auch die gehaltvolle Unterscheidung von Vergangenheit und Zukunft. Wenn Gegenwart nicht mehr lebendig wahrgenommen werden kann, wird auch der Sinn der Zeitdimensionen (Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft) hinfällig. (3) Das Vorübergehen der Zeit (2. Abs.) bleibt allerdings die wesentliche Charakteristik auch der erlebten Zeit. Daran allein aber den quali27 28 29
SKS 4, 390f.; dt. 102f. SKS 4, 392; dt. 105. Etwa als Ereignispunkt, als Schnittpunkt in der Spitze der beiden Lichtkegel, gemäß dem Denkmodell der relativistischen Physik, s. § 11.1, Anm. 15.
300
III. Das Unbedingte: Ausarbeitung von Kreativität
tativen Sinn von Zeit zu heften, würde Zeit immer zur „vergangenen Zeit" stempeln, „vorbeizugehen" wäre alles, was über Zeit zu erfahren und zu sagen wäre. Dann aber wären Gegenwart und Wahrnehmungsaugenblick aufgelöst. (4) Soll doch eine Qualitätswahrnehmung, erlebte Gegenwart als Augenblick ermittelt werden, so muss etwas namhaft gemacht werden, das nicht dem Zeitablauf unterliegt und doch in ihm als sein Anderes vorkommt: die Ewigkeit - die die Zeit in der Zeit „berührt" (2. Abs.). Mit dieser Metapher 30 des Berührens wird ausgedrückt, dass die Zeit weder in der Ewigkeit verschwindet noch der Zeitablauf die jeweilige Qualitätswahrnehmung überrollt: In der Zeit selbst liegt zugleich das Andere der Zeit; ein beständiges Berühren im Zeitverlauf, kein abstraktes Außenverhältnis. (5) Metaphorisch ist auch der qualitative Sinn des Augenblicks selbst (3. Abs.). Der „Blick des Auges" im Kommunikationsverhältnis steht für die Doppelbestimmung der Zeit: Er ist einerseits äußerst kurz bemessen, andererseits „kommensurabel für den Gehalt des Ewigen", d.h. für die Qualitäten, die nicht zeitabhängig (im Sinne der bloß verlaufenden Zeit) sind. So kann gegenseitiges Verstehen zwar allein zeit-, zeichenbzw. sprachvermittelt zur Darstellung kommen 31 , sein Gelingen aber ist daraus nicht ableitbar und nicht zu garantieren. Nicht der bewusst gemachte Ausdruck als solcher ist der eigentliche „Blick", sondern das in ihm durch „Berühren" zum Ausdruck Gebrachte; das, was als das Andere der Zeit benannt werden muss.32 Augustin hat im literarisch berichteten Gespräch mit seiner Mutter solch einen Augenblick zugänglich machen wollen: Das Abschiedsgespräch gipfelt genau in der Wendung, worin Zeitliches auf sein Anderes trifft: „dort ist das Leben die Weisheit, die Weisheit, durch die alles Geschöpfliche entsteht [...], und sie selbst ist ohne Werden [...], es gibt in ihr kein Gewesensein noch ein Künftigsein [...]. Und während wir so redeten von dieser ewigen Weisheit, voll
30 31 32
S. § 10.2.3. Zu Kierkegaards literarischem Beispiel der Frithiofs saga vgl. SKS K4, 465. Hegels Bemerkung, es liege eine „Befreiung" im Bewusstwerden der Gefühlsqualität (s. § 10.3, Anm. 101), wird durch Kierkegaards Beispiel einerseits bestätigt („der Seele das Belastende abzunehmen" [3. Abs.]), andererseits insistiert Kierkegaard gerade auf der umgekehrten Richtung des Verstehens, die aus der Gefühlsqualität bleibend herkommt („da sie die Ewigkeit berührt").
§ 1 1 : Wahrnehmungsaugenblick
301
Sehnsucht nach ihr, da streiften wir sie leise in einem vollen Schlag des Herzens [attigimus earn modice toto ictu cordis]".33
(6) Noch einmal aber zur Unterscheidungsfähigkeit zwischen dem qualitativen Wahrnehmungsaugenblick und dem bloßen Ubergang im Zeitverlauf. Piatons Entdeckung des Phänomens im Dialog Parmenides54 ist, so Kierkegaard, treffend, aber unzureichend: Zwischen Ruhe und Bewegung muss ein „Ubergang" liegen, das „Plötzliche" (το Εξαίφνης), wie Platon sagt, „jenes Wunderbare" oder Dunkle, das wir nicht recht fassen können. Schleiermacher hat hier mit „Augenblick" übersetzt35 und damit die Wahrnehmungsqualität eingetragen, die Piaton selbst (aus der Sicht Kierkegaards) noch gar nicht entwickeln konnte. Denn der qualitative Augenblick setzt die durch das Christentum erst voll qualifizierte Gegenwart des Göttlichen in der Zeit voraus, die Inkarnation in der „Fülle der Zeit" (Gal 4, 4)36 als Bedingung zum Verstehen der menschlichen (geistigen) Selbst-Gegenwart. Denn solange (nach platonischem Verständnis) die göttliche und ideale Wahrheit in der Ursprungserinnerung liegt, die diesseits nur - rückwärtig sozusagen - ent-deckt wird37, kann der Augenblick allein im Vorübergehen konstatiert werden. Anders dann, wenn das „momentum" (3. Abs.) nicht bloß einen „abstrakten" oder quantitativ punktuellen Ubergang des 33
Coni., aaO. EX. 10.24; vgl. J . Kreuzer (1995), Kap. 3.4.2; H. Deuser, Semiotik (2000), Abschn. 2.3; zur Bedeutung dieses Textes in der Traditionsbildung der Mystik K. Ruh, Bd. I (1990), 109ff.
34
Piaton, Werke Bd. 5 (1983), 288f. (156c-d); s. § 5.3, Anm. 56. - Zu Piatons Zeitanalysen im Rahmen antiker Philosophie vgl. J . Kreuzer (2007), 19ff., 23ff.
35 36
Vgl. SKS K4, 451f., 465. Vgl. Kierkegaard, Philosophische Brocken, SKS 4, 226; vgl. dt. Ges. Werke, 10. Abtlg., 16: „Ein solcher Augenblick ist von eigener Natur. Er ist wohl kurz und zeitlich, wie es der Augenblick ist, vorübergegangen, wie es der Augenblick im nächsten Augenblick ist, und doch ist er das Entscheidende, und doch ist er erfüllt von dem Ewigen. Ein solcher Augenblick muss doch einen besonderen Namen haben, lass ihn uns nennen: die Fülle der Zeit." - Das von Kierkegaard sog. „Denkprojekt" (Philosophische Brocken, Kap. I) stand von Beginn an unter der (hypothetischen) Voraussetzung, dass dem Augenblick (antisokratisch/platonisch) „entscheidende Bedeutung" zukomme. - S. § 9.2.2, Anm. 62, zur verwandten Kategorie des Sprunges: Der Sprung bezeichnet den spezifischen Ubergang theoretischer Ableitungen (Idealität) in existentielle Verhältnisse (Realität), der Augenblick den entsprechend komplexen Ubergang in der Zeit.
37
S. § 4.2. - Zur platonischen Anamnesis, dem „Tod Gottes" und der „Eskalation des Gottesbegriffs" (philosophie- und theologiegeschichtlich) vgl. H. Blumenberg (1988), 301-304.
302
III. Das Unbedingte: Ausarbeitung von Kreativität
„Verschwindens" ausdrückt, sondern eben das zur WahrnehmungKommen von unbedingter Gegenwärtigkeit. Dann ist der Augenblick wahrhaft grundlegend, entscheidend und seine neue Zeitbestimmung ist die „Zeitlichkeit" (4. Abs.): Leben und Tod in den drei Zeitdimensionen (Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft) unter der Voraussetzung des Wahrnehmungsaugenblicks. (7) Schließlich ist für die Struktur der Zeitlichkeit festzuhalten: Ihre Doppelbestimmung besteht nicht einfach darin, zusammengesetzt zu sein, sondern darin, dass das Berühren des Ewigen und des Zeitlichen in der Zeit geschieht. Dadurch wird eine beständige Spannung in der eigenen Endlichkeit und (gelebten) Zeitlichkeit ausgelöst: Der Zeitablauf „schneidet" immer wieder die Ewigkeit „ab", und die Ewigkeit qualifiziert immer wieder die Zeit (4. Abs.). Weil dieses Spannungsverhältnis „zweideutig" bleibt, taugt gerade dieser Wahrnehmungsaugenblick für Kierkegaards Analysen der Angst im Kontext dieser Schrift. Die Zeit führt in ihrer Erwartungsdimension (im Sinne zukünftiger Möglichkeiten) Handlungsmotive und Konsequenzbefürchtungen mit sich, die einerseits Phänomene des Schuldigseins begründen, andererseits tiefer liegend menschliche Verantwortlichkeit und Freiheit, die Möglichkeit des Könnens, aufdecken. Diese mögliche Freiheit ängstigt, sie ist Ausdruck des geistigen Verhältnisses zu sich selbst und zugleich verbunden mit der beunruhigenden Frage nach dem Grund desselben Verhältnisses. 38 Beides, Freiheitsmöglichkeit und Grundverhältnis zeigen sich im Augenblick. Psychologisch gesehen als Angst, ontologisch als Zeitlichkeit, die im Augenblick als gegenwärtig und sich entziehend wahrgenommen wird. Diese Spannung von Präsenz und immer vermittelnder (indirekter) Darstellung zeichnet den Wahrnehmungsaugenblick aus.
1.2. Zeitintervall qualitativ Gibt es neben der existentiell überzeugenden, phänomenologisch nahe liegenden Verteidigung des qualitativen Augenblicks auch Mittel seiner analytischen Erklärung? Peirce hat im Rahmen seiner Philosophie des Kontinuums geistiger (semiotisch strukturierter) Prozesse dazu ein Modell vorgelegt, das das Wachstum von Ideen in der Evolution mit
38
Vgl. H. Schulz (1994), 414ff. - S. § 10.3.(8) zu Schleiermachers Begriff des im Selbstbewusstsein „mitgesetzten Woher".
§ 1 1 : Wahrnehmungsaugenblick
303
der subjektiven Zeitwahrnehmung zu verbinden in der Lage ist.39 Das Modell impliziert, dass universale Prozesse letztlich erklärbar sind, weil Entwicklungsschritte vorliegen, in denen sich - wie in der Logik des Schließens - Prämissen und Folgerungen real unterscheiden lassen. Das schließt die produktive Rolle des Zufalls ebenso ein wie die Ausbildung von Regelmäßigkeiten in Natur und Kultur; und auf diese Weise kommt es zur Assoziation von Ideen·, „sich kontinuierlich auszubreiten und gewisse andere zu beeinflussen".40 Das Zeitbewusstsein steht nun ganz in diesen Folgebeziehungen, und die Frage ist, wie Gegenwart aufgrund von Vergangenheit überhaupt unterschieden und mit eigenem Gewicht wahrgenommen werden kann. Die Antwort setzt auf unendliche Teilbarkeit, die gleichwohl qualitative Bereiche ermöglicht41: „Wie kann eine vergangene Idee gegenwärtig sein? [...] nur durch unmittelbare Wahrnehmung [direct perception]. [...] Das heißt, sie kann nicht gänzlich vergangen sein; sie kann nur dabei sein, infinitesimale Vergangenheit zu werden, [...] dass die Gegenwart mit der Vergangenheit durch eine Reihe wirklicher [real] infinitesimaler Schritte verknüpft ist. [.../...] in diesem infinitesimalen Intervall ist das Bewusstsein nicht nur in einem subjektiven Sinn, d.h. insofern kontinuierlich, als es als Subjekt oder Substanz betrachtet wird, die das Attribut der Dauer besitzt, sondern auch sein Objekt ist ipso facto kontinuierlich, weil es unmittelbares Bewusstsein ist. In Wirklichkeit [In fact] ist dieses infinitesimal ausgedehnte [spread-out] Bewusstsein ein unmittelbares Empfinden [feeling] seiner Inhalte als ausgedehnter Inhalte. [...] In einem infinitesimalen Intervall nehmen wir das zeitliche Aufeinanderfolgen seines Beginns, seiner Mitte und seines Endes unmittelbar wahr [...]. Nun folgt auf dieses Intervall ein anderes, dessen Anfang die Mitte und dessen Mitte das Ende des vorhergehenden ist. Hier haben wir eine unmittelbare Wahrnehmung des zeitlichen Aufeinanderfolgens seines Anfangs, seiner Mitte und seines Endes oder, wenn man so will, des zweiten, dritten und vierten Zeitpunktes [instants]. Aus diesen beiden unmittelbaren Wahrnehmungen gewinnen wir eine mittelbare oder erschlossene Wahrnehmung der Beziehung zwischen allen vier Zeitpunkten. Diese mittelbare Wahrnehmung erstreckt sich objektiv bzw. in bezug auf die dargestellten Objekte über die vier Zeitpunkte; aber insofern sie subjektiv bzw. selbst Subjekt der Dauer ist, ist sie völlig im zweiten Moment eingeschlossen. (Der Leser wird bemerken, dass ich das Wort Zeitpunkt [instant] verwende, um einen Punkt in der Zeit, und das Wort Moment [moment], um eine infinitesimale Dauer [duration] zu bezeichnen.)"
39
S. § 1.4; § 10.1, Anm. 18. - Zu Peirce' Kosmologie (Zufall, Wachstum, Kontinuum) als Bedingungen der Zeitanalyse vgl. H. Pape (1993).
40
Peirce, Das Gesetz des Geistes (1992), in: NZ, 180; vgl. EP 1, 313. - Vgl. Pape, aaO. 60: ,„Ideen' sind bei Peirce die in allen Zeichen und geistigen Ereignissen instantiierten, d.h. verkörperten, begrifflichen Gehalte. [...] wegen ihrer nicht zu beseitigenden Unbestimmtheit stellt jede Idee ein Kontinuum ähnlicher begrifflicher Gehalte dar".
41
NZ, 182f.; vgl. EP 1, 314f. - Zur Auslegung des Textes vgl. Pape, aaO. 63ff.; C.R. Hausman (1990), 301ff.
304
III. Das Unbedingte: Ausarbeitung von Kreativität
(1) Wählen wir für „moment" im Deutschen besser Augenblick, so ist diese Textstelle problemanalog zu Kierkegaards Zeitanalyse: Das Zeitgefühl der „Dauer" verlangt den qualifizierten Augenblick als Alternative zum Modell der Serie von Zeitpunkten. Das geschieht hier allerdings so, dass im mathematisch-naturwissenschaftlichen Theoriezusammenhang um die Wende zum 20. Jh. ein prozessuales Werden universal zugrunde gelegt werden kann, dessen Vorstellung hier von mechanistischen Mustern prinzipiell frei und für (semiotisch strukturierte) qualitative Wahrnehmungen offen ist. Denkbar wird diese mathematischphilosophische Konzeption des Kontinuums dadurch, dass die Entdeckung transfiniter Mengen (G. Cantor) zu reicheren Modellen von Entwicklung, Wachstum, Naturgesetz, (Selbstbewusstsein und Zeitfluss führt, als das in der Wissenschaftsgeschichte zuvor je möglich gewesen wäre. 42 Peirce' eigene Definition 43 zielt auf einen Begriff realer, unerschöpfbarer Möglichkeit, die vorgängig Zufall, Wachstum und Regelmäßigkeit grundiert, semiotische Prozesse begründet, die Partizipation menschlichen Verhaltens und Handelns erklärt - und deshalb religionsphilosophisch Geschaffensein und Schöpfer als angemessene symbolische Ausdrucksformen legitimiert. 44 (2) Die Gründe für diese religionsphilosophischen Konsequenzen, auch wenn sie hier christlich-theologisch gefasst sind, sind wissenschaftstheoretisch allgemeiner Natur und liegen im Begriff der „unmittelbaren Wahrnehmung". Sie allein ist prägend, notwendige Prämisse für das aus ihr Folgende, das als Vergangenes gefolgert erscheint und als solches wiederum präsent sein muss. Dieser komplexe Verlauf wird nun so rekonstruiert, dass „infinitesimale Intervalle" subjektiv gefühlt und damit zugleich (semiotisch) objektiv vorgestellt werden, es kann sich nur um eine „ausgedehnte" Wahrnehmungsqualität handeln, zu der die 42 43
44
S. § 1.4, Anm. 32f.;§ 11.1, Anm. 16. CP 6.170 (1902): „A true continuum is something whose possibilities of determination no multitude of individuals can exhaust." - Vgl. H. Deuser, Evolutionäre Metaphysik (2004), 61; zu Peirce' unabgeschlossenen Versuchen, das Kontinuum zu bestimmen, Pape, aaO. 64ff. S. § 10.1, Anm. 20; vgl. NZ, 209 (EP 1, 332f.): „Bei der Betrachtung der Persönlichkeit ist diese Philosophie gezwungen, die Lehre eines personalen Gottes anzuerkennen; [...] sie kann nicht umhin zuzugeben, dass wir dann, wenn es einen personalen Gott gibt, eine unmittelbare Wahrnehmung [direct perception] von dieser Person haben und sogar in persönlicher Kommunikation mit ihr stehen müssen." - Vgl. D. Evers (2005), 116: „Gott" ist kein „transmundaner Ingenieur oder Programmierer", sondern „zu preisen [...] als die Quelle, der Grund und der Antrieb der Fülle von Möglichkeiten".
§11: Wahrnehmungsaugenblick
305
Abfolge von „Beginn", „Mitte" und „Ende" gehört. Dass diese nun nicht als unterbrechende Zeitpunkte und wieder dem Paradox ausgeliefert erscheinen, Serie und Unmittelbarkeit zugleich repräsentieren zu müssen, wird durch folgendes Bild-Diagramm sichergestellt: Es geht nicht um Punkte in einer einfachen Reihe, sondern um sich überlagernde Intervalle, wobei das zweite in der Mitte des vorigen beginnend gedacht wird, so dass das Ende des ersten zur Mitte des zweiten zu stehen kommt etc. Dieses Bild lässt sich in der (sich überlagernden) Abfolge von vier Zeitpunkten abstrahiert lesen: Anfang - Mitte /Anfang - Ende/Mitte - Ende; aber als „unmittelbare Wahrnehmung" der „Dauer" enthält das zweite Intervall das erste, nimmt es in sich auf, und diese Wahrnehmung hat die Qualität des Augenblicks. (3) Der „Fluss der Zeit"45 verlangt die Vorstellung qualitativer Gegenwart, sonst gäbe es keine Unterscheidung der Zeitdimensionen, keinen Begriff von realen Abfolgen und Entwicklungen; und das Ubergangsproblem im Augenblick lässt sich lösen, wenn infinitesimale Intervalle und diskontinuierliche Grenzen im Kontinuum zusammen vorgestellt werden können. Das ist möglich, wenn unser Vorstellungsraum um transfinite Mengen erweitert wird, in denen Nähe und Ferne, Grenze und Übergang nicht mehr auf lineare Modelle fixiert bleiben müssen. Mit Unendlichkeit (der Teilbarkeit etc.) zu rechnen, betrifft dann auch die Funktion des klassischen Begriffs der Ewigkeit, wie er in Kierkegaards Zeitanalyse eingesetzt wurde. Beide Vorstellungen relativieren den Zeitfluss, wollen an ihm aber erkennbar sein; und es ist der Wahrnehmungsaugenblick, der diese Doppelfunktion erfüllt. Als ewig kann gelten, was dem zeitlichen Wechsel nicht unterliegt, trotzdem aber in der Zeit vorkommt und qualitativ (gefühlsintensiv) wahrgenommen wird, z.B. Normativität und „moralische Identität". 46 Als unendlich im Sinne infinitesimaler Teilbarkeit und transfiniter Mengen kann die Zeitvorstellung gelten, in der die Unterbrechung der Zeit als diskonti45
46
S. § 11.1, Anm. 11. - Vgl. R.C. Neville (1993), 104: „Because time is not a container hut a characteristic of temporal things, it is a bit misleading to say that time flows. Rather, temporal things have a flowing character such that each of their dates is future to antecedents, past to consequents, and present to contemporaries." Neville, aaO. 195: „The issue eternity presents for our temporal situation is that any temporal worth to our present actions has larger consequences in establishing our eternal moral identity. [...] Our moral identity is eternally what it is." - Zeitunabhängig erscheinen auch „Wissen" und „Wollen", vgl. E. Stump/N. Kretzmann, in: E. Stump/M.M. Murray (1999), 51 (hier im Kontext der Diskussion des Begriffs der Zeitlosigkeit Gottes abgeleitet).
306
III. Das Unbedingte: Ausarbeitung von Kreativität
nuierliches Ereignis im Kontinuum ihren Ort hat. 47 Die Endlichkeit ist Teil des (infinitesimal) Unendlichen. (4) Religionsphilosophisch gesehen ist damit der Nachweis erbracht, dass vormals als ,metaphysisch' (im schlechten Sinne) gebrandmarkte Begriffe (Unendlichkeit und Ewigkeit als Gottesprädikate) unter wissenschaftstheoretisch veränderten Rahmenbedingungen neu verstanden und eingesetzt werden können. Dass der Begriff der (göttlichen) Ewigkeit in scholastischer Tradition in sich unstimmig bleibt, lässt sich schnell demonstrieren: Soll ewiges Leben, nach Boethius 48 , zugleich unbegrenzt, von Dauer und zeitlos sein, so lassen sich zeitliche Gegenwart und ewige Gegenwart nicht mehr spannungsfrei miteinander vermittelbar denken. Die beiden Perspektiven schließen sich aus, weil ewig gesehen auch Vergangenes und Zukünftiges schon ,zugleich' sind, während dieselben Ereignisse zeitlich gesehen reale Abstände nicht überspringen können. 49 Hinzu kommt, dass der klassische (neuplatonische) Begriff der Ewigkeit im Gegenzug zu zeitlichem, bedingten bloßen Werden gebildet wurde und insofern „zeitlose Dauer" vom Motiv her verständlich, gleichwohl aber widersprüchlich erscheint. „Dauer" bleibt an zeitlichen Verlauf, Entwicklung etc. gebunden 30 , und all dies soll vom (klassischen) Begriff der Ewigkeit gerade ausgeschlossen sein. Aus den Schwierigkeiten der begrifflichen Semantik dieser (scholastischen) metaphysischen Tradition gibt es kein Entkommen; wohl aber lassen sich, wie gezeigt, die wissenschaftstheoretischen Rahmenbedingungen seit dem 19./20.Jh. so umstellen und an Prozessmodelle mathematisch-naturwissenschaftlichen Denkens anschließen, dass - am Beispiel des Zeit- und Wahrnehmungsproblems gesagt - aus der Vorausgesetztheit qualitativer Wahrnehmung im Augenblick Prozess und
47
Peirce hat das im Beispiel einer zweifarbigen Fläche illustriert, nämlich an der Grenzlinie zwischen den beiden sonst eindeutig getrennten Farben bzw. Farbpunkten: Die Grenzlinie müsste aus Punkten bestehen, die je zur Hälfte aus den beiden Farben bestünden; angewandt auf den Wahrnehmungsaugenblick: „Die Gegenwart ist somit halb vergangen und halb zukünftig. [...] So ist mein unmittelbares Empfinden [feeling] mein Empfinden [feeling] während einer infinitesimalen Dauer, welche den gegenwärtigen Zeitpunkt [instant] einschließt" (NZ, 194; EP 1, 322; vgl. Pape, aaO. 64f.).
48
Vgl. zu dieser klassischen Begriffsbildung in Darstellung und Kritik E. Stump/N. Kretzmann, aaO. 42-51; zu Boethius s. § 5.1.2. Stump/Kretzmann, aaO. 48ff.
49 50
AaO. 51: „The apparent incoherence in the concept is primarily a consequence of continuing to think of duration only as persistence through time"·, zum Neuplatonismus s. § 5.1.1.
§ 1 1 : Wahrnehmungsaugenblick
307
Realität des Universums bestätigt, quantitative (empirische) Forschung gefördert und religionsphilosophische Implikationen neu ermöglicht werden.51 Die Endlichkeit der Zeitintervalle gilt zugleich mit der Unmittelbarkeit des Augenblicks; und in diesem melden sich nichtzeitliche Prämissen des Zeitgefühls, Qualitäten, die der Verlaufszeit nicht unterliegen und als solche in den Religionen, d.h. religiös zum Ausdruck gebracht werden. Die raumzeitlichen Ereignisse im Prozess sind Gegenstände der Wissenschaften wie Instanzen der religiösen, theologischen und religionsphilosophischen Kommunikation.
2. Ereignisontologie A.N. Whitehead hat im 20. Jh. die Anwendung moderner Mathematik und Naturwissenschaften auf Metaphysik und Religionsphilosophie am konsequentesten durchgeführt. Seine programmatischen Arbeiten Prozess und Realität und Wie entsteht Religion? [Religion in the Making] versuchen, ein universalistisches System von Kategorien zu entwerfen, nach dem die (kosmologische) Wirklichkeit als Prozess, d.h. in ihrem Konkret-Werden beschrieben werden kann, zu dem notwendig als formierende Größen auch Religion und Gottesbegriff gehören.32 Konstitutiv ist die Rolle der Mathematik, ähnlich wie bei Ch.S. Peirce, dadurch, dass abstrakte Relationenbildungen, wie sie in Algebra und Logik vorliegen, auf die Darstellung von Wirklichkeitsprozessen in komplexer Weise rückbezogen werden.53 Es kann und muss dann nicht mehr primär zwischen substantieller Wirklichkeit und subjektiver Aneignung kategorial unterschieden werden, sondern dieses (erkenntnistheoretische) Grundproblem der neuzeitlichen Philosophie wird relativiert durch die funktionale und relationale Betrachtung raumzeitlicher Ereignisse.34 Das Sein der Dinge - und damit die Realität - be-
51
52 53 54
H. Blumenherg (1988), 11: „Zeit und Raum sind die wesentlichen Merkmale einer Welt, insofern in ihr nicht mehr alles ineins und auf einmal möglich ist. Die Erschaffung einer Welt aus dem Nichts endete Das-Ganze-auf-einmal, das toturn simul, einer leeren Ewigkeit." Vgl. R. Wiehl, Einl., in: H. Holzhey/A. Rust/R. Wiehl (1990), 9ff. ; M. Hampe (1998); H. Maaßen: Whitehead, in: T R E 35 (2003), 730-733. Zum Einfluss von Peirce auf Whitehead (und der Algehra von G. Boole) vgl. H. Putnam (1990), 253-260; Chr. Wassermann (1990). M. Hampe (1998): „Ereignisse sind einmalig, unwiederbringlich, Objekte oder Eigenschaften werden wiedererkannt, erinnert, sie wiederholen sich. [...] Wir müssen die Relationen der Objekte zu den Ereignissen studieren"; vgl. ders.
308
III. Das Unbedingte: Ausarbeitung von Kreativität
steht in ihrem Prozess, und dieser wiederum besteht aus „wirklichen Ereignissen".
2.1. Ereignis und Konkretisierung Wirkliche Ereignisse [actual occasions55] beschreiben, wie Gegenwart wird, wie Neues entsteht, und dieser spezifische Vorgang heißt „Konkretisierung". Was ihm noch zugrunde liegend angesetzt werden muss ist die offensichtliche „Kreativität", die (zusammen mit „viele" und „eins") „ultimative", d.h. unbedingte Kategorie, die den aristotelischen Begriff einer „ersten Substanz" ablöst.36 (1) Kosmologien im Rahmen aristotelischer Scholastik und christlicher Neuzeit legen in irgendeiner Form ein substanzielles ,Etwas' zugrunde. Veränderungen geschehen immer an einer solchen Substanz, während sie selbst identisch bleibt - und letzteres machte diesen Begriff auch geeignet, theologisch, d.h. auf die Gottesvorstellung angewandt zu werden. Demgegenüber sind heute, wissenschaftstheoretisch gesehen, zumindest zwei mit dem Substanzdenken konkurrierende Grundierungen der Wirklichkeit zu nennen: Erstens die Phänomenologie (seit E. Husserl) bzw. das Existenzdenken (seit S. Kierkegaard), die sich vom naturwissenschaftlichen, meist materialistisch oder mechanistisch verstandenen Modell der Substanz als Materie gelöst und als primär zugrunde liegend die Erfahrung des menschlichen Daseins verstanden (2006), 34ff. - Z u m neuzeitlichen Substanzbegriff (am Beispiel R . Descartes') s. §9.2.1. 55
A . N . Whitehead, Process and Reality (1978), 18: .„Actual entities' - also termed ,actual occasions' - are the final real things of which the world is made up. [...] G o d is an actual entity, and so is the most trivial puff of existence in far-off empty space. [...] drops of experience, complex and interdependent." - Die dt. Ubers., vgl. Whitehead (1984), 57f., spricht für „actual entities" von „wirklichen Einzelwesen"; im Folgenden wird durchgängig mit „wirkliche Ereignisse" übersetzt - im Bewusstsein dessen, dass dieser Ausdruck allein für Gott (als das zeitlose „wirkliche Einzelwesen") nicht zulässig ist, vgl. aaO. (1978), 88; dt. aaO. 175.
56
A a O . (1978), 20ff.; dt. 61ff. (die dt. Übers, wählt „elementar" für „ultimate", was hier nicht übernommen wird); zum aristotelischen Substanzbegriff s. § 6.1.1. - Die Diskussion von Whiteheads Ereignisontologie wird im Folgenden beschränkt auf die Kontexte von Gefühlsqualität und raumzeitlicher Wahrnehmung, d.h. einzelne Elemente seiner „Theorie des Erfassens [Theory of Prehension]" (Prozess und Realität, III. Teil); vgl. zur Darstellung R . C . Neville (1993), 39ff.; (1981), 68ff.; K. Huxel, Whitehead (2000), 261ff.
§ 1 1 : Wahrnehmungsaugenblick
309
haben57; und zweitens die Prozessphilosophie Whiteheads, die im Begriff des Ereignisses gerade aus Gründen der modernen Naturwissenschaft die traditionelle Metaphysik der Orientierung an Gegenständlichkeit ersetzt: Jedes Etwas ist als solches ein Vorgang, in dem Istheit und Etwasheit58 zusammengehören und in dem sich, wie minimal oder maximal auch immer vorgestellt, etwas Eigenes und Eigentümliches ereignet. Die dann passende Frage richtet sich nicht mehr isoliert auf ein Was, sondern auf das Wie; und ein Ereignis (occasion) wäre dann zu definieren als der Vorgang, in dem sich etwas welthaft zu einem harmonisch-individuell Bestimmten erfasst.39 Die Differenz von Außenund Innenwelt, wie sie dem Bewusstsein häufig als allein maßgeblich unterstellt wird, ist damit fundiert in dem zugrundeliegenden Erfassungsereignis der gelingenden (harmonischen) Konkretisierung. (2) Wie es auf diesem Wege zur ereignisbestimmten Einheit der Wahrnehmung, des Bewusstseins oder des Denkens kommen kann, lässt sich sehr schön semiotisch dreigliedrig darstellen60: Erstens ist ein Was- oder Objektbezug notwendig impliziert, d.h. das Aufnehmen der „initial data" im Sinne Whiteheads 61 , die erfasst werden und im Ereignis eine neue Wie-Verfasstheit gewinnen. Solches Erfassen bedeutet nicht, eine Ursachenrelation vorauszusetzen, sondern diese baut sich erst aus der Gegenwart her ereignishaft auf62 und ist dadurch zukunftsbestimmend. 57
Hier ist vor allem an E. Husserls „Phänomenologie der Lebenswelt" zu denken, vgl. Husserl (1986), Einl. v. K. Held, ebd. 5-53; D. Zahavi (2007), 14: „Kennzeichnend für die Phänomenologie ist also die Auffassung, dass die Welt, wie sie uns erscheint - sei es in der Wahrnehmung, im praktischen Umgang oder in wissenschaftlichen Analysen - , die einzig wirkliche Welt sei." Damit sind Szientismus (die Naturwissenschaft allein bestimmt über die Wirklichkeit) und Objektivismus (Wirklichkeit ist ohne Subjektrelation zu bestimmen) wissenschaftstheoretisch ausgeschlossen, vgl. Zahavi, aaO. 33ff. - Zu Kierkegaard s. § 11.1.1.
58
S. § 6 Einl.; § 6.2, Anm. 75.
59
Neville (1981), 69: „An ,occasion' is the prehending of the world into a harmonious, definite individual." - Nicht eingegangen wird hier und im Folgenden auf den Ereignis-Sprachgebrauch in M. Heideggers Spätphilosophie, vgl. D. Sinn: Ereignis, in. HWP 2 (1972), 608f.; auch nicht auf U. Meixner (1997): ein metaphysisches (analytisches, anti-naturalistisches, theistisches) Denkmodell, das (kontingente) Ereignisse von (transzendenten) Substanzen unterscheidet.
60
Neville, aaO. 71, erklärt Whiteheads Grundlegung der Kosmologie bevorzugt in einzelnen Hypothesen (hier zunächst drei), daran anschließend in sechs Merkmalen („features", aaO. 72ff.).
61 62
Vgl. Whitehead (1978), part III, chap. II, section 1; dt. (1984), 432ff. Neville, 70: „the emerging occasion is self-creating".
310
III. D a s U n b e d i n g t e : A u s a r b e i t u n g v o n Kreativität
- Dieses Erfassen ist, zweitens, „spontan", seine Kreativität liefert eine Qualität gerade so, wie semiotisch das Zeichen qualitativ das Objekt repräsentiert. Das geschieht in der Fülle abgestufter und koordinierter Kontexte von Zeichenbildungen, d.h. in einem Zeitkontinuum. 63 Dazu gehört, drittens, die Erfassung des damit neu bestimmten Ereignisses selbst, semiotisch gesprochen der Interprétant, der dann wiederum in weiteren Ereignissen erfasst und zum vorausgehenden Datum werden kann. 64 (3) Entsprechend dieser Dreigliedrigkeit des Gesamtereignisses sind seine Merkmalimplikationen zu begreifen: Weil die spontane Qualität immer nur zugleich mit den objektiven Daten und ihrer Interpretation („Erfassung") auftreten kann (obwohl in der inneren Logik des Ereignisses durchaus eine Reihenfolge erkennbar wird), sind hier materielle und geistige Prozesse nicht mehr prinzipiell getrennt. Denken ist Darstellen von gedachten Ereignissen 65 , und in diesem Sinne erhält der Begriff der Repräsentation einen neuen Sinn, der mit dem semiotisch dreistelligen übereinstimmt. So vorbewusst oder natural das Ereignis auch fundiert ist, in ihm sind geistige Elemente aktiv und können folglich verselbständigt werden. Deshalb kann Natürliches zum Zeichen für Geistiges werden, die Zwischenstellung des „Empfindens" („feeling") macht Objektives sozusagen subjektiv wirksam über Zeichen. 66 Diese Ubertragungsleistung ist Natur und Kultur nicht zu entwinden. Zusammenfassend gesagt handelt es sich wiederum um drei differenzierbare Stufen 67 : „Zunächst haben wir ein grundlegendes physisches E m p f i n d e n [basic physical feeling], aus d e m die ganze A b f o l g e v o n E m p f i n d u n g e n [sequence of feelings] für das jeweilige ,Subjekt' hervorgeht. A u s diesem physischen E m p f i n d e n [feeling] entsteht 63
Neville, 71: „ S p o n t a n e i t y m a y range f r o m mere repetition [...] t o highly creative rearrangements and reconstructions of objects, in order to p r o d u c e a genuinely new t h o u g h t " ; z u m kontinuierlichen raumzeitlichen Verhälltnis vgl. Neville (1993), 40.
64
Neville (1981), 71: „the t h o u g h t occasioned in the occasion is the result"; z u Peirce' Begriff des Interpretanten s. § 1, A n m . 4; § 10.2 (Schema 3).
65
Neville, a a O . 72: „thinking consists of occasions of t h i n k i n g " - damit grenzt Neville das Ereignisdenken v o m bloß zweistelligen Begriff der (neuzeitlicherkenntnistheoretischen) „ R e p r ä s e n t a t i o n " ab; vgl. H . D e u s e r , Gottesinstinkt (2004), 161ff.
66
Neville, a a O . 76: „What a nonintentional object feels like a m o n g initial data cannot be t h o u g h t about except b y being t r a n s f o r m e d into intentional f o r m , into a sign."
67
Whitehead (1984), 488 (III. Teil, K a p . V.4); vgl. (1978), 268.
§ 1 1 : Wahrnehmungsaugenblick
311
das aussageartige Empfinden [propositional feeling] von der Art, die als .wahrnehmend' [,perceptive'] bezeichnet wurde. Die bewusste Wahrnehmung [conscious perception] ist das vergleichende Empfinden [comparative feeling], das aus der Integration des wahrnehmenden Empfindens mit diesem ursprünglichen physischen Empfinden hervorgeht."
Es hilft zum Verständnis, „feeling" mit „Gefühl" zu übersetzen und damit (semiotisch) an die Gefühlsqualität68 zu erinnern, auf der Whiteheads Text - auf seine Weise - in jeder Ereignisbildung besteht: Die (physische) ikonische Gefühlsqualität wird im Ereignis überführt in ein „percipuum" 69 , das schon im Wahrnehmungsaugenblick Urteils- bzw. Satzgefühl in sich aufbaut, was schließlich in der „bewussten Wahrnehmung" aufgrund von Integration und Vergleich zur Darstellung kommen kann. Die Raumzeitlichkeit von Ereignissen tritt zugleich mit der Gefühlsqualität auf70, Objekte sind nicht mehr ohne ihre ereignishafte Wahrnehmung bestimmbar, auch wenn das Denken in immer weitergreifenden Abstraktionen sich von seinem „basic physical feeling" zu emanzipieren scheint. Denken als solches muss dann in seinen kosmologischen Verbindlichkeiten gesehen werden, die die (relativistische) Raumzeitlichkeit ebenso betreffen wie die in der gelingenden (harmonischen 71 ) Ereignisintegration angelegten Wertungen und die metaphysischen Bedingungen derselben Ereignisontologie, die den Gottesbegriff braucht.
2.2. Kreativität: Gott und die Welt Dass die Ereignisontologie nicht ohne Gottesbegriff auskommen kann, hat zwei systematische Gründe. Erstens: Das wirkliche Bestehen der offensichtlichen Ordnung des kosmologischen Prozesses (und nicht nur dessen bloße Möglichkeit oder beliebige Wirklichkeit), verlangt in aller sprudelnden Kreativität nach einer zentrierenden Einheitsbildung: Gott ist Garant dieser prozessualen Harmonie, und diesem Tatbestand korrespondiert die „religiöse Einsicht".72 Zweitens: Wirkliche Ereignis68 69 70 71 72
S. § 10. S. § 11.1, Anm. 7. S. § 10.1(2). S. Anm. 59; vgl. Neville (1981), 95ff., zur Begründung von Wert, Wertung und Normativität aus dem Element der „Harmonie" im Ereignisbegriff. Whitehead, Religion (1963), Kap. III.7; dt. (1985), 85: „Die feste Erde überlebt, weil der Kreativität eine Ordnung auferlegt ist, [...] ein Zentrum erfahrenen Wahrnehmungsvermögens [experienced perceptivity], welches das Universum
312
III. Das Unbedingte: Ausarbeitung von Kreativität
se gewinnen ihre Bestehen auch dadurch, dass sie nicht-zeitlichbedingte Formgebungen (das Potenzial von Allgemeinbegriffen) einbeziehen können, d.h. zu den „Kategorien der Existenz" gehören auch die „zeitlosen Gegenstände" („eternal objects") oder „reinen Potentiale" („pure potentials"). 73 Da Gott selbst auf den Prozess von Kreativität zu beziehen ist, muss er begrifflich als nicht-zeitliche Realisierung aller Potentialität (der Formen) aufgefasst werden - und insofern ist Gott auch als „wirkliches Einzelwesen" (nicht „Ereignis") anzusprechen, auf das dann entsprechend deren Struktur Anwendung findet. 74 Aus dieser systematisch abgeleiteten Wirklichkeit Gottes folgt seine Begrenzung: [1] „Etwas Wirkliches zu sein heißt, begrenzt zu sein. Ein wirkliches Ding ist ein hervorgelockter Empfindenswert [feeling-value], der sich als das Ergebnis eines abgestuften Einfangens der Elemente des Universums in die Einheit einer Tatsache analysieren lässt. Dieses Zusammenfassen kann eine Wahrnehmung genannt werden." 75 [2] „Unbegrenzte Möglichkeit und abstrakte Kreativität können nichts zuwege bringen. [...] daher benötigt der ganze Prozess selbst [...] ein begrenztes Einzelwesen, das unter den formgebenden Elementen bereits wirklich ist, als einen vorausgehenden Grund für den Eintritt der ideellen Formen in den abgegrenzten Prozess der zeitlichen Welt. [...] [3] Die Begrenzung Gottes ist seine Güte [goodness]." 76
(1) Das originäre Auftreten der Wirklichkeit gerade in ihren Begrenzungen durch Bestimmtsein, das ist es, was an Whiteheads Ereignisontologie gelernt werden kann. Die jeweils erfasste qualitative Ereigniseinheit lässt sich als „Wahrnehmung" (1. Abs.) verstehen, und insofern wird der bisher entwickelte Begriff des Wahrnehmungsaugenblicks auch kosmologisch bestätigt. Allerdings setzt der „hervorgelockte Empfindenswert [feeling-value]" eine selbständige Prozess-Kreativität voraus, in der wirkliche Ereignisse und pure Potentiale überhaupt zum zu einer Einheit fokussiert"; aaO. 90: „Die Ordnung der Welt ist kein Zufall [accident]. [...] Die religiöse Einsicht ist das Ergreifen dieser Wahrheit: [...] dass [...] diese Kreativität und diese Formen auch gemeinsam nicht in der Lage sind, Wirklichkeit zu erreichen ohne die vollendete ideelle Harmonie, und diese Harmonie ist Gott." - Vgl. zur Darstellung und Diskussion von Whiteheads Religionsphilosophie W . Jung (1965), hier: 619ff. 73 74
75 76
Whitehead, Prozess und Realität (1984), 63; vgl. (1978), 22. S. Anm. 55; vgl. Whitehead (1984), 174f. ; (1978), 87f. - Gott als „Urnatur", „Folgenatur" und ,„superjektive' Natur" durchläuft dann selbst Prozessstadien, vgl. aaO. (1984), 614ff. (V. Teil, Kap. II.2f.) ; (1978), 343ff.; vgl. W . Jung, aaO. 62Iff.; I.U. Dalferth (1992), 172-191. Whitehead, Religion (1985), 112 (Kap. IV.4); (1963), 144f. AaO. (1985), 113f.; (1963), 146f.
§ 1 1 : Wahrnehmungsaugenblick
313
Zusammenstimmen gebracht werden können, und von dieser Voraussetzung abhängig ist auch der Gottesgedanke. Gott hat zwar eine entscheidende Funktion im kreativen Prozess der Konkretisierungen, ist aber keineswegs die Kreativität selbst.77 Mag der Wahrnehmung Unbedingtheit im Augenblick zukommen, ein Gottesargument wird daraus deshalb nicht, weil die Gefühlsqualität Teil des Prozesses ist, zu dem (in anderer Weise) auch Gott gehört. Kurz: Gottes kreative Unbedingtheit kann für Whiteheads Kosmologie nicht (semiotisches) Implikat des Wahrnehmungsaugenblicks sein, sondern der Gottesgedanke ergibt sich als notwendige Funktion in der Systematik des Prozesses. (2) Diese theoretisch-allgemeine Ableitung des Gottesbegriffs folgt einem - kosmologisch durchgreifend modernisierten - aristotelischen Muster: Der „Prozess" ist es, der ein ganz bestimmtes „begrenztes Einzelwesen", Gott genannt, „benötigt" (2. Abs.), d.h. die Prozessabläufe sind (analog dem Bewegungsbegriff bei Aristoteles 78 ) nur dann konsequent zu denken, wenn Gott als diejenige Kraft ins Spiel kommen kann, die „unter den formgebenden Elementen bereits wirklich ist" (2. Abs.). Dann muss Gott allerdings als ein besonderer Fall von „actual entity" konzipiert werden, worin unendlich alle (möglichen) Formen schon vergegenwärtigt, aber gleichwohl an Prozesse in der Zeit verwiesen sind.79 Wie sollte diese schwierige Konstruktion mit den religiösen Ausdrucksformen übereinstimmen können, die Whitehead parallel dazu so emphatisch und virtuos ins Bild zu setzen versteht? Gott und Welt sind als Prozessgegenseitigkeit aufeinander angewiesen - dies aber nicht als qualitative Durchdringung aufgrund einer Kreativität, die göttlich allem vorausgeht; sondern als „Kontrast" 80 der Gegenseitigkeit, zu dem die „Kreativität" als dritte Größe aufspielt. (3) Derart „Begrenzung" und „Güte" Gottes zusammenzubringen (3. Abs.) ist dann die Folge dessen, dass die Autokratie eines (monotheisti-
77
Zur detailliert ausgeführten Kritik an Whiteheads Gottesbegriff vgl. I.U. Dalferth (1992), hier: 184, 189; ebenso Neville (1980), 14: „The ontological whole includes God plus the world."
78
Zu Aristoteles s. § 6.1.1. - Vgl. Dalferth, aaO. 170: „An die Stelle der aristotelischen Triade Substanz, Form und Materie tritt deshalb bei Whitehead die neue Triade wirkliches Einzelwesen, zeitloser Gegenstand und Kreativität"·, vgl. Neville (1981), 247.
79
Zur Problematik dieser Konzeption vgl. Dalferth, 182f.
80
Vgl. Whitehead (1984), 621 (V. Teil, Kap. II.5); vgl. (1978), 348 (die Reihe der 6 „Antithesen" über Gott und Welt).
314
III. Das Unbedingte: Ausarbeitung von Kreativität
sehen) Gewaltgottes 81 ausgeschaltet werden soll, während seine Herabstufung dann, von Gewalt unbelastet, im universalen Prozess funktional die werthafte und sympathetische Bestimmtheit fördert. 82 Umfassend aber ist die Kreativität; und so kann es als Entlastung des Gottesgedankens ausgegeben werden, gerade nicht „unendlich", d.h. nicht „sowohl böse als auch gut"83 sein zu müssen, sondern nur die harmonischen Prozessfortschritte zu garantieren, das Ideale im Realen in Bewegung zu halten. Whiteheads Religionsphilosophie ist einerseits ein großes Beispiel für die Ausarbeitung von Kreativität, sofern seine (kosmologische) Ereignisontologie den qualitativen Wahrnehmungsaugenblick aufdeckt und detailliert begründet; sie ist aber - bei allem bildstarken Eingehen auf religiöse Ausdrucksformen und sensiblen Beschreiben religiöser Erfahrung („Religion ist das, was das Individuum aus seinem Solitärsein macht." 84 ) - andererseits restriktiv in der Zulassung religiöser bzw. theologischer Unbedingtheit gemessen am schöpferischen Gesamt, das sich religionsphilosophische Potenziale einzugliedern vermag. Trotzdem, im Pathos des Kontrastes zwischen Gott und Welt, Zeitfluss und Dauer, Prozessualität und Trost der Konkretisierung ist es auch hier der „Augenblick" („moment"), in dem die qualitative Wahrnehmung aufleuchtet. Mit dem biblischen Satz, der wie allbekannt eingeführt wird: „Bleibe bei uns [...], denn es will Abend werden" 83 (Lk 24, 29), sind Ablauf der Zeit („flux") und tröstliche „Beständigkeit" („permanence") so ins religiöse Bild gesetzt, dass nicht die theoretische Konstruktion des Gottesbegriffs, sondern die Wahrnehmungsqualität und Unbedingtheit des Augenblicks: seine „angemessene Intensität" das letzte Wort behalten.
81
82
83 84 85
AaO. (1984), 611 ([1978], 342): Der transzendente (aristotelisch-christliche und islamische) Schöpfergott, „nach dessen fiat die Welt zu sein begann und dessen aufgezwungenem Willen sie gehorcht", gilt als zu überwindender „Irrglaube". Zur Problematik der so errungenen Freiheit durch das funktionale Auseinanderhalten von Gott und Kreativitätsprozess vgl. Neville (1980), 8ff. AaO. (1984), 618 ([1978], 346): Gott „schafft die Welt nicht, er rettet sie [...]: Er ist der Poet der Welt, leitet sie mit zärtlicher Geduld durch seine Vision von der Wahrheit, Schönheit und Güte." Whitehead, Religion (1985), 114; (1963), 147. AaO. (1985), 39; (1963), 47. Whitehead (1984), 604f. ; (1978), 338.
§ 12: Mystik Die Vielfalt der Phänomene, die religionsgeschichtlich, literarisch, philosophisch und theologisch unter dem Sammelnamen Mystik auftauchen, ist so gewaltig, dass vor Definitionen gewohnheitsmäßig gewarnt wird - wie es auch bei Religion der Fall ist. Wenn hier anders verfahren werden kann, so ist das aufgrund der vorausgehenden (kategorialsemiotischen) Bestimmungen der Gefühlsqualität und des Wahrnehmungsaugenblicks legitimiert: Mystik - im Aufgreifen ihrer europäischen (neuplatonisch-christlichen) Vorgeschichte seit Dionysius Pseudo-Areopagita1 - ist persönliche Erfahrung und theoretischer Versuch, Unmittelbarkeit in Vermittlungen als vorausgesetzt zur Darstellung zu bringen. Diese paradoxe Konstellation2 hat, religionsphilosophisch gesehen, zumindest drei Problemkerne: Erstens geht es der Sache nach um die Entdeckung der Einheit im Wahrnehmungsbezug, und das nicht nur generell bei aller Wahrnehmung, sondern vor allem im Bezug auf den Grund aller Dinge, d.h. im religiösen Verhältnis zum Unbedingten3; zweitens geht es im Vermittlungsproblem um Sprache, Bilder, indirekte Kommunikation, Schweigen etc., worin die religiöse Gefühlsqualität um ihren adäquaten Ausdruck ringt4; und drittens geht es um philosophisch-theologische Theoriekonzepte, die genau diese Erfahrungssituation und Problemkonstellation als solche zum Ausdruck zu bringen versuchen: Kreativität des Augenblicks, Vermittlung des Unvermittelbaren, Negative Theologie.
1. Einheits- und Grundbezug In einer schönen Bild-Szene hat S. Kierkegaard die Problemlage vor Augen geführt: 1
S. § 5.3, Anm. 53. - Gute Übersicht zur Entstehung, Verwendung und Kritik des Begriffs in Religions-, Philosophie- und Theologiegeschichte gehen P. Heidrich/H.-U. Lessing: Mystik, mystisch, in: H O T 6 (1984), 268-279; P. Gerlitz/A. Louth/H. Rosenau/K. Albert: Mystik I-IV, in: T R E 23 (1994), 533592; Μ. v. Brück/R.L. Gordon/Kl. Herrmann/J. Dan/U. Köpf/F. Gahbauer/St.T. Katz: Mystik I-IV, in: R G G 4 5 (2002), 1651-1675.
2
S. §10.1.
3
S. § 1.4.
4
S. § 10.3.
316
III. Das Unbedingte: Ausarbeitung von Kreativität
„Wie der stille See im tiefen Quell seinen dunklen Grund hat", so „lädt er dich zwar ein, ihn zu betrachten, doch die Dunkelheit des Spiegelbildes verbietet dir, ihn zu durchschauen" [...]; „wenn du meinst, ihn [den Grund] zu sehen, dann ist es ein Spiegelbild, das dich betrügt, so als wäre es der Grund, während es nur den tieferen Grund verbirgt." 5
Der gesuchte Grund, der die Einheit von Blick und Gesehenem garantieren würde - das percipuum im Wahrnehmungsaugenblick 6 - entzieht sich und muss doch vorausgesetzt werden; und die ins Bild gefasste Situation bringt genau diese Angewiesenheit zum Ausdruck, macht sie bearbeitbar. Trotz der Bedeutungsfelder des Wortes ,,μυειν", „μυστικός", die auf Verschließen, Geheimnis, Abgeschiedenheit etc. hindeuten, hat Mystik durchaus den klaren Sinn einer Form des Wissens von dem, was vor der differenzierenden Vermittlungsleistung des Verstandes liegt und davon ausgehend die folgenden Darstellungen abhängig sein lässt. Es geht um die Prägekraft und Wahrnehmungsqualität dessen, was vor dem Bestimmen dieses ermöglicht. Die wirksame, verstehbare Regelmäßigkeit und Entwicklung des Realen schließt das Besondere, Erste, Unableitbare, kurz: das Unbedingte ein, nicht etwa aus. Genau dies entspricht der Gefühlsqualität des Wahrnehmungsaugenblicks. Mystik ist dann das helle Bewusstsein dafür, was als Erstes vorausliegend schöpferisch wirksam ist. Klassisches und zugleich herausragendes Beispiel solcher Mystik geben die deutschen Predigten Meister Eckharts (1260-1328)7, in denen es bei aller spirituellen und theologischen Arbeit im Geist seiner Zeit immer auch ganz prinzipiell um die Grenzen und die Ermöglichung des Erkennens geht. Maß genommen wird an der Gottesvorstellung 8 : „Wie lieb wir Gott haben sollen, dafür gibt es keine < bestimmte > Weise: so lieb, wie wir nur immer vermögen, das ist ohne Weise [âne wise]. [...] Gott ist weder dies noch das. Und ein Meister sagt: Wer da glaubt, dass er Gott erkannt habe, und dabei irgend etwas erkennen würde, der erkennte Gott nicht." „In Gott sind aller Dinge Urbilder gleich [bilde glich]; aber sie sind ungleicher Dinge Urbilder. Der höchste Engel und die Seele und die Mücke haben ein gleiches Urbild in Gott."
5 6 7 8
Die Taten der Liehe [1847], SKS 9, 18,1-8 (Erste Folge, erste Rede); vgl. Ges. Werke, 19. Abtig., 12. S. § 11.1; vgl. Ch.S. Peirce, CP 7.561, η. 25: „that to see and to be seen are one and the same fact." Vgl. Κ. Flasch (1988), Kap. 38; (1999), Kap. 15; Κ. Ruh, Bd. III (1996), Kap. 36. Predigt Nr. 9, in: Meister Eckhart, Werke I (1993), 107,15-30; 109,8-10.
§ 12: Mystik
317
(1) Der Grund von allem, soll er als Einheitsgrund 9 konzipiert werden, entzieht sich der abgrenzenden Bestimmbarkeit. Von Robert Musils Mann ohne Eigenschaften, über L. Wittgensteins Bezugnahme auf „das Mystische" und bis zu Ernst Tugendhats Studie Egozentrizität und Mystik reichen Erfahrungen, Beschreibungen und Nachdenken über dieses „Gesammeltsein" (Tugendhat), das durch überraschende Intensität und widerstandslose Unbestimmtheit („ohne Eigenschaften") ausgezeichnet ist.10 Auf etwas „âne wise" bezogen zu sein, ist ein Grenz- und Sonderfall, aber darin ein alles Andere fundierender; er kommt deshalb indirekt auch in allen übrigen Bezugnahmen vor, doch ohne dass dies immer auffallen müsste: Die Unableitbarkeit der Dinge überhaupt liegt in ihrer kreativen Ursprünglichkeit. Wir leben von Voraussetzungen, und darunter ist eine ganz und gar nicht beliebige, nämlich der Einheitsgrund des Gesammeltseins; oder etwas vorsichtiger ausgedrückt: der Möglichkeit des Sich-Sammeln-Könnens. 11 (2) Das eigentliche Erkenntnisproblem, hier am höchsten Begriff: an Gott exemplarisch ausgeleuchtet, ist dieses: Dass wir Gegenstände im Ganzen oder in Teilen, die eigenschaftslos wahrgenommen werden müssten, überhaupt nicht erkennen könnten. Dieser Tatbestand erscheint hier ganz analog zu Kants erkenntniskritischer Grenzziehung der Vernunft: Was sich der Bestimmungen durch die (empirische) Anschauung entzieht, ist gar kein wirklicher Gegenstand; zwischen bloßen Ideen der Vernunft und gesicherten Verstandesbegriffen verläuft deshalb eine unverrückbare Grenze. 12 Doch ist gegenüber dieser Analogie nicht nur aus historischen Gründen, sondern auch begriffssyste9
Vgl. V. Leppin, Christliche Mystik (2007), 96ff.; 99: „Was wie eine Grenze zwischen menschlichem und göttlichem Sein erscheint, ist keine wirkliche Grenze, sondern eine Verkennung dieser völligen Verankerung des Menschen in Gott. Der mystische Weg aber hilft ihm, zu diesem Ursprung zurückzukehren." - Zum „Innewerden der Einheit" bei Eckhart vgl. auch R. Schönberger (2000), 213-217.
10
Vgl. zu R. Musil bei U. Reinhardt (2003); zu L. Wittgenstein (Tractatus [1968], Satz 6.522) vgl. E. Stenius: Mystische, das, in: H W P 6 (1984), 279f. ; E. Tugendhat (2006), 11 Iff. Vgl. Tugendhats Diskussion des Selbstbezugs in diesem Sinne, der etwas Spezifisches hat und nicht durch eine weitere Ich- oder Dingbeziehung ersetzt werden kann, aaO. 113: „Gibt es etwas, so lautet doch die Frage, das mir als Wollendem als Bezugspunkt dient, auf den hin ich mein einzelnes voluntatives Verhalten sammeln kann? Darauf kann man nicht antworten: ja, die Frage selbst. Denn damit hätte man der Frage ihren Gehalt genommen." S. § 8.2.
11
12
318
III. Das Unbedingte: Ausarbeitung von Kreativität
matisch ein Einwand geltend zu machen: Kants Denksystematik ist einerseits empirisch-gegenstandsbezogen, also substanziell; andererseits vernunftbezogen ideell. Eckhart dagegen nimmt eine Tradition der christlichen Philosophie des Mittelalters auf, kritisch gegen das große Vorbild des Aristoteles gar nicht mehr die Substanz, sondern die Relation als Grundbegriff des Erkennens vorzuziehen. 13 Dann stehen sich nicht mehr die subjektive Instanz des aktiven Erkennens und die objektive Instanz dessen, was erkannt wird, gegenüber; sondern zwischen Subjekt und Objekt ist ausschlaggebender als diese beiden Seiten - ihre Relation, genauer: der Akt des Erkennens. Das in diesem Kontext bestimmbare mystische Denken sucht Einheit in den Vorgegebenheiten der Relation. Im Modus der Zeit gesprochen geschieht der Akt des Erkennens, in dem das göttliche Relationsein mit dem menschlichen sich offenbar kreuzen, im „Nun" („nu"), das „alle Zeit in sich" begreift.14 (3) Allerdings: Was in Gott „gleich" ist, die Urbilder all derjenigen Dinge, die für sich genommen äußerst verschieden sind, das kann beim Menschen auch nur in dieser gegebenen Verschiedenheit (von „Engel", „Seele" und „Mücke") aufgefasst werden. Die Einheit ist der konstitutive Grenzfall der Verschiedenheit; umgekehrt verlangt die Bildrelation das Aufgeben der Verschiedenheitsbilder zugunsten der - menschlich gesehen - Bildlosigkeit („ohne Eigenschaften") im „Gesammeltsein". Für diese Intentions- und Bildlosigkeit hat Eckhart auch vom „Nicht" gesprochen, und wer diese Erfahrung noch nicht kennt, der hat, wie es in einer schönen Formulierung in Predigt 5b heißt, „noch nie nur einen Augenblick in diesen einfaltigen Grund gelugt."15 Der hier gesuchte Blick muss die menschlichen Bilder vermeiden und sich in einem ganz anderen Bild sammeln, das schon vorweg kreativ wirksam war,
13
Vgl. im Kontext der Predigt 9, aaO. 109,3-7: Die Kategorie der „Relation", die bei den Aristotelikern („kleine Meister", aaO. 107,37 u. K o m m . 842f.) die geringste Rolle spielt, „die ist in G o t t dem Allergrößten, das am meisten Sein besitzt"; s. § 11.2.1, A n m . 56 u. 58.
14
A a O . 105,33. - S. § 11.1.1; vgl. J . Kreuzer (1997), 267 (im Anschluss an Augustin und Eckhart): „Zeit - gleichsam in ihrer ,Abgründigkeit' - ist die Erscheinungsweise schöpferischer Ewigkeit."
15
Predigt 5b, aaO. 69,15f.; zum „Nicht" ebd. 69,21ff.; vgl. zu Bild und „Nichts" unter Eckharts Programmbegriff der „Abgeschiedenheit" M. Enders (1996), 75, 82ff.; zur Bildlosigkeit im Kontext von Predigt 2 bei K. Ruh, Bd. III (1996), 333-338.
§ 12: Mystik
319
und von dem gilt, dass „man wider îngebildet werde". 16 Diese einprägsame Metapher der Ein-Bildung muss heute schon mit Bindestrich und zwei Großbuchstaben geschrieben werden, um ihre Erneuerungskraft herauszuhören. Sie meint das gerade Gegenteil von dem, was das Wort inzwischen umgangssprachlich bedeutet: Nicht das aktive Fingieren von etwas, das es nicht gibt, sondern das passive Wirksamwerden von ursprünglicher Kreativität, die allem Wirklichen zugrunde liegt. Darin besteht hier die Wendung in der Auffassung der Bilder. Die Zerstreuung durch Spiegelung wird überwunden durch die Sammlung im Grund, die selbst - jetzt ohne Eigenschaften, ohne bestimmte Intentionen und ohne gemachte Bilder - doch Bildkraft ausstrahlt: „Man stellt die Frage, wo das Sein des Bildes ganz eigentlich sei: im Spiegel oder in dem, wovon es ausgeht? Es ist eigentlicher in dem, wovon es ausgeht. Das Bild ist in mir, von mir, zu mir." 17 Was hier konzipiert wird kann als dialektisches Bild bezeichnet werden, in der asymmetrisch sich bedingenden Relation von innen und außen, Gesammeltsein und Spiegelungen. (4) Es sind neuplatonische Denktraditionen 18 , in denen die mystische Theologie Eckharts die christliche Schöpfungslehre, Gottes- und Trinitätsvorstellung voraussetzt und transformiert. Die intellektuelle Klarheit wird dabei ebenso sichtbar wie der immer neue Versuch, die unerreichbare Bedingung des Grundes doch zum Ausdruck zu bringen, ihr Worte zu geben. In der Predigt über Lk 10, 38 (Maria-Martha-Predigt [Predigt 2]) findet sich am Schluss beispielhaft die Einheit von Gott und Grund der Seele formuliert. Voraus geht eine allegorischliturgische Auslegung der Bibelstelle (v. 38b+ c: „und er kam in ein Dorf. Eine Frau namens Martha nahm ihn freundlich auf."), d.h. Maria und Martha der ntl. Perikope werden aufgrund des Festkalenders (Mariä Himmelfahrt) ineinander gelesen mit der Jungfrau Maria, und das Dorf wird zum „Bürglein" und steht für den Raum der Seele, in den Christus, d.h. Gott eintritt. Bedingung ist das völlige (innere) Freisein
16
17
18
Predigt 53, aaO. 564,8f.; vgl. V. Leppin, Die christliche Mystik (2007), lOlff.; zu den sprachschöpferischen Leistungen der deutschen Mystik des 13./14. Jh. U. Köpf, in: RGG 4 5 (s. Anm. 1), 1666. Predigt 9, aaO. 113,17-20; vgl. 115,30-34 den dreifachen Sinn des schöpferischen „Wortes", dessen Ursprung im „Vater" liegt, „der es spricht, immerfort im Empfangenwerden und innebleibend. Vernunft ist stets nach innen wirkend." - Vgl. K. Flasch (1998), 198 (zur Interpretation von Predigt 52): „Eckharts These war: Wir müssen das selbige Selbst in uns begreifen." S. § 5.3.
320
III. Das Unbedingte: Ausarbeitung von Kreativität
der Jungfrau, dagegen steht das Frausein zugleich (und kritisch parallel) für die lebensgestaltende Wirksamkeit der Einheit des Grundes. Deshalb kann Meister Eckhart die Bibelstelle wie folgt übersetzten: „Unser Herr Jesus Christus ging hinauf in ein Burgstädtchen und ward empfangen von einer Jungfrau, die ein Weib war."19 Auf dieser Ubertragungsebene begründet sich Meister Eckharts Lehre: „so ganz eins und einfaltig ist dies Bürglein und so erhaben über alle Weise und alle Kräfte ist dies einige Eine, dass niemals eine Kraft oder eine Weise hineinzulugen vermag noch Gott selbst. In voller Wahrheit und so wahr Gott lebt: Gott selbst wird niemals nur einen Augenblick da hineinlugen und hat noch nie hineingelugt, soweit er in der Weise und ,Eigenschaft' seiner Personen existiert. Dies ist leicht einzusehen, denn dieses einige Eine ist ohne Weise und ohne Eigenheit [sunder wise und sunder eigenschaft]. Und drum: Soll Gott je darein lugen, so muß es ihn alle seine göttlichen Namen kosten und seine personhafte Eigenheit; das muß er allzumal draußen lassen, soll er je darein lugen. Vielmehr, so wie er einfaltiges Eins ist, ohne alle Weise und Eigenheit, so ist er weder Vater noch Sohn noch Heiliger Geist in diesem Sinne und ist doch ein Etwas, das weder dies noch das ist. Seht, so wie er eins und einfaltig ist, so kommt er in dieses Eine, das ich da heiße ein Bürglein in der Seele, und anders kommt er auf keine Weise da hinein; sondern nur so kommt er da hinein und ist darin. Mit dem Teile ist die Seele Gott gleich und sonst nicht.
Der Meister spricht ungewöhnlich von Gott, der Seele und der Trinität. Der Inquisitionsprozess, der in seinen letzten Lebensjahren gegen ihn eröffnet wurde, konnte in seinen Texten jedenfalls Anlässe genug finden. Doch hat sich Eckhart keineswegs gegen die Trinität ausgesprochen20, sondern es geht ihm darum, den ursprünglichen Zusammenhang zwischen Seele, Welt und Gott als Einheitsgrund zu denken. Konsequent kann in diesem Ursprung oder Grund auch Gott nur so vorgestellt werden, wie er unabhängig von allen begrifflichen (menschlichen) Erfassungen und Eigenschaften selbst sein müsste, d.h. „ohne Weise und Eigenheit". Dieses gesuchte „Eine" also ist ein gänzlich Unbestimmtes, insofern Unbedingtes, das sich unter den Vorschriften von Verstandesbegriffen und Anschauungen gerade nicht fassen lässt. Entsprechendes gilt für den (menschlichen) Seelengrund, wo solche allererste und unbedingte Einheit ihren Ort hätte. Ist die Einheit wirklich
19
Meister Eckhart, Werke I, 25,6ff.; zur Auslegung von „Jungfrau", 25,10ff.; zum „Burgstädtchen", 33ff.; vgl. die ausführlichen Kommentare, aaO. 759ff.; zum Aufbau der Predigt V. Leppin (1997); zur Interpretation der Gottes- und Seelenlehre Y. Schwartz (1998); zur zweiten Maria-Martha-Predigt (Predigt 86) vgl. J . Kreuzer (1997), 261ff. - Der folgende Textabschnitt steht am Schluss der Predigt 2, aaO. 35,23 - 37,5.
20
Vgl. z.B. Predigt 5B, Werke I, aaO. 66-75; dazu H. Deuser (1999), § 4.
§ 12: Mystik
321
dort (raum-bildlich gesprochen), so kann auch Gott, solange er als bestimmte trinitarische Einheit von Personen (mit „Namen" und „Eigenheit") gilt, dort nicht „hineinlugen". Denn unter menschlich bestimmbaren Vorstellungsbedingungen ist dort nichts zu entdecken. Die unbedingte Einheit im Ursprung ist zwar göttlich wie menschlich zugleich; doch nur dann, wenn für beide, Seelengrund wie Gott, Bestimmungslosigkeit in Anspruch genommen wird. Seele und Gott, so könnte verstanden werden, sind dann nicht vortrinitarisch gedacht, sondern die Trinität ist die Entfaltung und dreifache Darstellung des einen kreativen Grundes in ihr. (5) Sprache und Denkmotive der Mystik gehen der europäischen Theologie und Religionsphilosophie nicht mehr verloren, und es sind gerade die religionspluralen Bedingungen der Moderne, die Mystik zu einem einheitlichen Bezugspunkt werden ließen: Die sonst getrennt sich entwickelnden Religionen zeigen ihre „Besonderungen" 21 am Maßstab von Einheits- und Grundorientierung, und die Ubergänge zwischen Philosophie und Theologie in mystischen Texten machen diese zu exemplarischen Quellen von Religiosität im religionsphilosophischen Forschungsfeld der Moderne. Meister Eckharts Motive finden deutliche Fortsetzungen in den (neuplatonischen) Figuren des Denkens in Gegensätzen und der Unendlichkeit des Grundes bei Nikolaus von Kues (1401-1464) 22 , aber auch bei M. Luther und durch die Reformation geprägten Theologien. Luthers Bild von der „Burg" 23 des Glaubens steht in mystischer Tradition: Die Unmittelbarkeit und Nähe des Glaubens wird gewonnen trotz abgründiger Gottesferne 24 - und die
21
22 23 24
Mit diesem Begriff hatte R. Otto ([1926] 1971), 161ff., das „Wesen der Mystik" im Vergleich von Meister Eckhart und der „Mystik des Ostens" interpretiert, vor allem an Texten des hinduistischen Lehrers Sankara (um 800); zur hinduistischen Mystik vgl. F. Heiler (1999), 244-253; M. Horstmann, in: RGG4 5 (s. Anm. 1), 1679-1681. Zur Hauptschrift De docta ignorantia (1440) vgl. T. Borsche (1990), Teil IV; M. Enders (2002). S. § 7.4(1). Zur Aufnahme der mystischen Traditionen, vermittelt durch Johannes Tauler [1300-1361] und die von Luther seihst edierte Theologia Deutsch [1. Hälfte des 15. Jh.], vgl. B. Hamm/V. Leppin (2007), darin bes. B. Hamm: „Gott berühren": Mystische Erfahrung im ausgehenden Mittelalter. Zugleich ein Beitrag zur Klärung des Mystikbegriffs, 135f. (zum Kriterium der „Ferne und Nähe Gottes"); V. Leppin, aaO. 180, zur „Empfänglichkeit" für theologische Motive von Augustin und Tauler, weil hei Luther „verschiedene Stränge spätmittelalterlicher Immediatisierungstheologie zusammenkamen"; zur Metapher des „Ab-
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III. Das Unbedingte: Ausarbeitung von Kreativität
Verwandlung geschieht im dialektischen Bild der Rechtfertigung des gottlosen Menschen: Im „Glauben" geschehen Austausch und Einheit zwischen „Braut und Bräutigam", der „fröhliche Wechsel und Streit" zwischen der Seele und Christus 23 ; d.h. der Ort des Einheitsgrundes ist jetzt der Glaube·, der Ort des Herzens, der Gewissheit, des Vertrauens, der paradoxen Unmittelbarkeit und der Kreativität des Wahrnehmungsaugenblicks.
2. Vermittlungsproblem und Gefühlsausdruck Dass überhaupt von „Mystik" oder dem „Mystischen" im Wissenschaftskontext gesprochen wird, ist bereits eine moderne Reaktion auf die Kritik an der - nicht mehr problemlos zu erklärenden - Gegenständlichkeit religiöser Inhalte. 26 Die Instanz der Gefühle kann dann an die Stelle von theoretischen Uberzeugungen treten, und es ist die Sprache der Gefühle, die zum Indikator ihrer Überzeugungskraft wird. Rational gesehen sind es paradoxe Denkformen, die auf der anderen, der Seite des Gefühls, ihre Erfahrungs- und Prüfbedingungen finden müssen. Wenn Meister Eckhart formulieren kann: „Darum bitte ich Gott, dass er mich ,Gottes' quitt mache" 27 , so liegt hier auf den ersten Blick ein anstößiger Widersinn vor, der sich aber auflöst im Blick auf die Differenz von geschaffener Welt (Gott als Schöpfer) und ungeschaffenem Einheitsgrund (Gott als Unbestimmtheit des Grundes/Abgrun-
grunds" bei Augustin und Tauler vgl. J . Kreuzer (2000), 175; zu Taulers Predigten und Predigtsprache K. Ruh, Bd. III (1996), 40. Kap.; s. Teil III, Anm. 2. Zur protestantischen Mystik vgl. auch K. Dienst (2001). 25
Zu Luthers christologischem Bild des Glaubens vgl. V. Leppin, Transformationen (2007), 182f., im Verweis auf Luthers Schrift Von der Freiheit eines Christenmenschen (1520), WA 7, 25; vgl. Text und Komm., in: R. Rieger (2007), 178ff. (dessen Abwehr „mystischer" Textinterpretationen [aaO. 182] allerdings noch einmal die [verbreitet protestantische] Beurteilung wiederholt, die von Leppin, aaO. 165ff., als nicht mehr durchgreifend nachgewiesen wird). - S. § 7.2.
26
M.v. Brück, in: R G G 4 5 (s. Anm. 1), 1652, nennt für den dt. Sprachraum das 18./19. Jh. und namentlich F. Schleiermacher und W. James.
27
Meister Eckhart, Werke I, 561,19f. (Predigt 52); K. Flasch (1998), 179, übersetzt: „Darum also bitte ich Gott, dass er mich ablöse von Gott", und moniert zu Recht die vom Ubers. J . Quint eingefügten Anführungszeichen beim zweiten Auftreten des Wortes „Gott" (aaO. 188)! - Vgl. zur Stelle auch A.M. Haas (2007), 376ff.
§ 12: Mystik
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des28). Beides zusammen aber sucht und gewinnt seinen realen Ort erst als Gefühlsausdruck, der den Gottesverlust als Gottesgewinn zu ertragen vermag. Dann aber besteht Religiosität nicht mehr in gegenständlichen Bezügen, sondern in „innerer Erfahrung", in der, mit F. Schleiermacher gesagt, der Sinn von „Erlösung" nicht mehr handgreiflich, weder „magisch" noch „empirisch", sondern „mystisch" als Schnittpunkt oder Übertragung des Göttlichen und Menschlichen vorgestellt werden muss.29 Mit der kritischen Philosophie der Neuzeit und der zu ihr gehörenden naturwissenschaftlichen Kontrollfrage empirischer Uberprüfung hat die religiöse Erfahrung eine neue Umgebung betreten. Es kommt zum Verdacht der Illusion erst recht dann, wenn die überlieferte Autorität von Texten und Institutionen zur Begründung und Selbstverständlichkeit religiöser Inhalte nicht mehr ausreicht. Bereits zur Wende des 19./20. Jh. war es deshalb ein erstaunlicher Vorgang, dass der empirische Psychologe und Philosoph William James in der Vorlesungsreihe The Varieties of Religious Experience (1901/02) nicht nur den Anspruch religiöser Erfahrungsbehauptungen auf der Basis von Dokumenten einer Uberprüfung unterzog, sondern auch deren Wahrheitsanspruch ernst nahm, im religionsgeschichtlichen Begriff der Mystik kulminieren ließ - und deren Kraft, Wirklichkeit zu erschließen, mit der den Naturwissenschaften möglichen Einstufung von Realität kontrastiert hat. Nachdem W. James zu Beginn der Vorlesungen „Religion" definiert hatte als „die Gefühle, Handlungen und Erfahrungen von einzelnen Menschen in ihrer Abgeschiedenheit [solitude], die von sich selbst glauben, dass sie in Beziehung zum Göttlichen stehen"30, erreicht er mit den Kapiteln über „Mystik" den Höhepunkt und Inbegriff alles Religiösen: Persönliche Religiosität stammt aus „mystischen Bewusstseinszuständen", diese sind Gegenstand für die psychologische Analyse, und aus ihr ergibt sich die Frage nach Realität und Wahrheit dessen, was solche Zustände bezeugen. Aufgrund der ausgewerteten Dokumente kommt James zu den folgenden Bestimmungen, die für mystische „Erfahrung" charakteristisch sind31:
28
S. § 12.1(4f.).
29
F. Schleiermacher, D e r christliche Glaube (1830/31), 94ff. (§ 100.3); § 100 (Leitsatz): „Der Erlöser nimmt die Gläubigen in die Kräftigkeit seines Gottesbewusstseins auf, und dies ist seine erlösende Tätigkeit." - S. § 10.3.
30
W . James (1997), 63f. (Vorl. II; vgl. engl, in: James [1985]).
31
A a O . 383ff. (Vorl. X V I / X V I I ) .
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III. Das Unbedingte: Ausarbeitung von Kreativität
„Unaussprechbarkeif zeigt die besondere Qualität der „Gefühle" an, die mit mystischen Zuständen verbunden sind. Sie direkt zu erklären oder auf normalem Wege zu kommunizieren, erscheint unmöglich, Selbsterfahrung wird zum Verständnis vorausgesetzt. „Noetische Qualität" hat der mystische Zustand, weil in ihm, wie unvermittelbar auch immer, doch besondere „Einsichten" liegen, die anders gar nicht zugänglich wären: „Erleuchtungen, Offenbarungen, die bedeutungsvoll und wichtig erscheinen". „Flüchtigkeif zeigt im Zeitverhältnis die Nicht-Greifbarkeit des Zustandes an, er kann sich wiederholen, aber festzuhalten ist er nicht. „Passivität" bezeichnet entsprechend die Nicht-Herstellbarkeit des Zustandes, auch dann, wenn Vorbereitungen, Übungen etc. bekannt sind. Es dominiert das „Gefühl", der eigene „Wille sei außer Kraft gesetzt". Einheit, von James selbst in der Merkmalsreihe hier nicht genannt, bezeugt die erfahrene Auflösung der Subjekt-Objekt-Differenz. Vergegenständlichungen werden abgestreift, James zitiert vor allem und ausführlich aus den Religionen („Hindus, Buddhisten, Mohammedaner und Christen") und verweist vielfach auf die „Einheit des Menschen mit Gott".32 Der mystische Zustand und seine Erkenntnis sind dadurch aber nur beschreibend abgrenzbar geworden, über seinen Wahrheitsanspruch ist noch nicht entschieden. Um welche Basiserfahrung handelt es sich, wozu genau ist sie notwendig? Im Ergebnis kommt es zur folgenden wissenschaftstheoretischen Einstufung, einer Verteidigung und Kritik der Mystik zugleich: „1· Mystische Bewusstseinszustände [mystical states] einer bestimmten Entwicklungsstufe genießen bei den Individuen, denen sie zuteil werden, meist höchste Autorität [absolutely authorotative], und das mit gutem Recht. 2. Sie stellen für Außenstehende keine Autorität dar, die diese verpflichtete, ihre Offenbarungen unkritisch anzunehmen. 3. Sie brechen mit der Autorität des nicht-mystischen oder rationalen Bewusstseins, das allein auf dem Verstand und den Sinnen basiert. Sie zeigen, dass dies nur eine Art des Bewusstseins ist. Sie eröffnen die Möglichkeit einer anderen Wahrheitsordnung, der wir so lange Glauben [faith] schenken dürfen, als sie in uns eine lebhafte Resonanz auslöst [as anything in us vitally responds]." 33
32 33
AaO. 398ff., 415; vgl. in der Abschlussvorlesung die Formulierung „Gefühl der Einheit", aaO. 488 (Vorl. XX). AaO. 418 (diese drei Punkte werden zum Abschluss von Vorl. XVII näher ausgeführt).
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(1) Mystische Zustände ziehen ihre unwiderstehliche Überzeugungskraft - ihre „absolute" Autorität - aus der vorrangigen Perspektive der Betroffenen. Die von James ausführlich herangezogenen Beispiele, Dokumente und persönlichen Zeugnisse34 lassen auch für den Empiriker zunächst nur den Schluss zu, dass eine Abwertung dieser primären Autorität als „hypnoide Zustände", „Aberglaube" und dergleichen nicht in Frage kommt 35 - sofern es um den möglichen Erkenntnisgewinn aufgrund solcher Zustände geht. Schließlich beruht auch die moderne Wissenschaft auf gegebenen „Uberzeugungen", die sich auf „unmittelbare Tatsachenwahrnehmungen" gründen. 36 In dieser Weise auf ein Erstes an Uberzeugungseinheit im Gefühl der Wahrnehmung zurück zu gehen, ist dem rationalen Verfahren und dem mystischen Zustand gemeinsam, und letzterer ist synonym mit dem unhintergehbaren „Glaubenszustand". 37 Die Kraft solcher Mystik liegt in ihrer „unmittelbaren Anschauung [what seems immediately to exist]" und ihren „Vergegenwärtigungen [face to face presentations]". 38 Das Vermittlungsproblem, das Unmittelbare nicht als solches zum Ausdruck bringen zu können, kann dann nicht als Einwand gelten, sondern gehört zum charakteristischen Auftreten qualitativer, existentieller, rein perzeptiver Erfahrung in der Exklusivität der ersten Person. 39 In dieser 34
Vgl. z.B. die Bezugnahme auf Texte von Jakob Böhme (1575-1624), hei James, aaO. 556 (Anm. 30): „[...] Denn ich sah und erkannte das Wesen aller Dinge, den Grund und Abgrund und [...] den Ursprung der Welt [...]. Denn ich schaute in das Universum hinein wie in ein Chaos, in dem alle Dinge eingebettet und eingewickelt sind, aber es war mir unmöglich, dies zu erklären" (bei James zit. aus „Extracts of the Life of Jacob Behmen", in: Jacob Behmen's Theosophick Philosophy, ed. by Edward Taylor, London 1691, 427). - Zu Böhmes mystischer Theologie vgl. P. Steinacker (1981); F.v. Ingen, Böhme, in: RGG 4 1 (1998), 1668f.
35 36 37
James, aaO. 410. AaO. 419. Vgl. ebd.: „Es hilft dem Rationalismus nichts, darüber zu murren. Wenn die mystische Wahrheit sich als so stark erweist, dass der Mensch, zu dem sie kommt, von ihr leben kann, woher nehmen wir, die wir in der Mehrheit sind, das Recht, ihm zu befehlen, anders zu leben?" Ebd. Vgl. St.T. Katz, in: RGG 4 5 (s. Anm. 1): „Mystiker [...] haben, was Philosophen das .Wissen durch Umgang' im Gegensatz zum .Wissen durch Beschreibung' nennen. Sie besitzen ein existentielles Wissen aus erster Hand von dem, was andere nur durch Propositionen kennen"; I.U. Dalferth (2003), 426: „Lebenspraktische Gewissheit in der Perspektive der ersten Person (,Ich bin gewiss, dass ...') ist etwas anderes als die theoretisch erwiesene Unmöglichkeit des Zweifels in der Perspektive der dritten Person (,Es ist sicher, dass ...')."
38 39
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III. Das Unbedingte: Ausarbeitung von Kreativität
Perspektive wirklich überzeugt zu sein kann prinzipiell keinen Zweifel einschließen, das gerade ist die Auszeichnung dieser primären Zugänglichkeit von Realität. Als solche, wie immer sie sich Ausdrucksformen sucht, verdient sie unbedingt die Anerkennung auch der Wissenschaften. (2) James' Pragmatismus aber bleibt, an zweiter Stelle, selbstverständlich den empirischen Wissenschaften verpflicht. Jene primäre Autorität der Betroffenen kann nicht auf dieselbe Weise auch für „Außenstehende" verbindlich sein. Innen- und Außensicht sind zu unterscheiden wie die Standpunkte der ersten und dritten Person. 40 Das ist am besten so zu verstehen, dass die (kategorial-semiotische) Aspektuierung 41 jenen Sichtweisen jeweils eigenes Recht einräumt, Realität zu erfahren: In der Innensicht der ersten Person wird Gefühlsqualität als Voraussetzung des (möglichen) Umgangs mit der Realität erschlossen, also keine empirische Aussage gemacht, die mit der Außensicht der dritten Personen in Konkurrenz treten könnte; sondern diese hat ihr eigenes Recht in der methodisch reflektierten Uberprüfung von „Hypothesen", wie James sagt.42 Allerdings kann dann eine solche „Hypothese" nicht als zufällige oder willkürliche Idee aufgefasst werden, sondern zu ihr und ihrem Auftreten gehört die Qualität des spezifischen Wahrnehmungsereignisses. Die Innensicht der ersten Person hat einen ganzheitlichen Zug, der Einheit, Neues, Qualitatives erfasst; der affektiv, willentlich und kognitiv zugleich - und insofern vor allen empirischen Bestimmungen auftritt. 43 Nicht absolut genommene Objektivität ist dann die legitime philosophische Basisorientierung, sondern die (kategorial un-
40
41 42
43
Zu dieser, heute im Rückgriff auf Thomas Nagel gern genutzten grammatischen Analogie vgl. M. Jung (2004), 178ff., 181ff.; (2000), 148: Dass „dieses Leben aus der Innenperspektive heraus gelebt werden muss, also je meines ist." Kierkegaards Begriff der Existenz soll genau diese primäre Interessenbindung zum Ausdruck bringen; die vorgreifende und früheste Formulierung dazu findet sich in einer Journal-Aufzeichnung von 1835, in: DSKE 1, 24: „es gilt, eine Wahrheit zu finden, die Wahrheit für mich ist, die Idee zu finden, für die ich leben und sterben will." S. § 10.2, Anm. 21. James, aaO. 419; vgl. 422: „Was von dort [sc. dem mystischen Zustand] kommt, muss sortiert und geprüft und genauso wie alles, was aus der äußeren Sinnenweit kommt, in einer Art Spießrutenlauf in den Kontext der Gesamterfahrung gestellt werden." Vgl. M. Jung (2004), 186ff., zum Sachzusammenhang dieser Argumentationslinie in James' Pragmatismus mit W. Diltheys Hermeneutik; ebenso in Jung (2001), 135ff.; (2005), 202f.
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terschiedlichen) Bezugnahmen auf die Welt bestimmen den wissenschaftstheoretisch angemessenen Umgang.44 James' Texte sind in diesem Punkt allerdings noch auf der Suche nach einer abgestimmten Beurteilung: In methodischen Kontexten herrscht unvermittelt der alleinige Maßstab der Empirie, während in den religionsphilosophischen Kontexten plötzlich eine andere Sicht der Realität, nämlich ihre primäre Erschließung, gesucht und verteidigt wird. Die mystischen Erfahrungszeugnisse liefern das Material für beide Zugänge. (3) Die bisherige Interpretationsrichtung bestätigt sich an dritter Stelle insofern, als James programmatisch zu einer Verbindungsfigur vorstoßen will, die dem sog. „rationalen Bewusstsein" tatsächlich die Integration der „mystischen Zustände" zumutet. Als Kriterium wird aber zunächst nicht deren Erschließungskraft genannt, sondern im Sinne von James' Pragmatismus die „lebhafte [vitally] Resonanz", d.h. die lebensorientierende und alltagspraktische, dazu die Wissenschaften jedenfalls nicht ausschließende Uberzeugungsbildung.45 Das Stichwort der Lebendigkeit erinnert hier an James' Kriterien (in seiner Schrift The Will to Believe [1897]) für die Entscheidung („Option") im Falle konkurrierenden „Hypothesen", und als wichtigstes Kriterium gilt die „living option"46: Zwischen zwei gleichermaßen gewichtigen Hypothesen muss aufgrund nicht-rationaler Uberzeugungen entschieden werden, und darin liegt der (nicht-wissenschaftliche) Rechtfertigungsgrund für die Unumgänglichkeit des Glaubens. - Doch wird damit nicht der Gegensatz zwischen bloß subjektiver und wissenschaftlich-objektiver Theoriebildung erst recht bestätigt? Das träfe zu, wenn mit klarer Grenzlinie „Faktenlage" und „Mystik" gegenüber stünden; so ist es
44
45 46
Vgl. Jung (2004), 183: Für „unser menschliches Weltverhältnis" sind „primär" nicht Repräsentationen objektiver Sachverhalte, sondern Artikulationen, in denen der referentiell-objektive Aspekt unserer Weltbeziehung mit dem interpretativ-bewertenden [...] eine interne Beziehung eingeht." - Dass James mit Hilfe der Phänomene der Mystik genau diese Sicht der Dinge auf den Weg zu bringen sucht (wie der folgende Abschnitt noch deutlicher zeigt) steht außer Zweifel; deshalb geht es auch gar nicht um den „vermittlungsfrei gegebenen Gehalt" mystischer Religiosität (wie M. Jung kritisiert, vgl. [2000], 145), sondern um deren Erschließungskraft vor der Macht der Bestimmungen, d.h. zugunsten neuer Vermittlungen in Wertungen, Bestimmtheiten und Interpretationen. Vgl. die kommentierenden Interpretationen zu W. James' PragmatismusVorlesungen (1906) in: K. Oehler (2000). W. James (1979), 14; dt. (1975), 129f. - Vgl. H. Joas (1999), 70ff.; zur kritischen Diskussion des Arguments H. Schulz (2001), § 21.
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III. Das Unbedingte: Ausarbeitung von Kreativität
aber nicht 47 : „Tatsachen" sind niemals abschließend beschrieben, sondern sie sind offen für weiter greifende Interpretationen - und da liegt die entscheidende Vermittlungsstelle: Empirische Fakten und Methoden müssen immer mit neuen Bezugnahmen rechnen, und es sind die „mystischen Zustände", die deshalb - auch wissenschaftlich - anerkannt werden müssen als (möglicherweise) „höhere Gesichtspunkte [superior points of view]". Sie sind in ihrem lebendigen Gefühlsausdruck kreativ, im Bild gesprochen: wie „Fenster, durch die der Geist auf eine größere und umfassendere Welt hinausschaut." Eine Gegenstandswahrheit mystischer Einsichten ist philosophisch nicht zu beweisen, ihre Hypothesenkraft aber muss sehr ernst genommen werden. Die Religiosität bzw. das, was die Religionen Offenbarung nennen, kommt in dieser entdeckenden Kraft des Blickes aus dem Fenster zum berechtigten Ausdruck. Dieses Fenster trennt (nach hinten) den Raum der empirischen Quantifizierung und rationalen Kritik vom Außenbezug (nach vorne) ursprünglicher Qualität, auf die sich der Blick richtet. Ohne solche Eröffnungszüge und Blicke aus dem Fenster wäre Realität immer nur reduziert bestimmbar, und es ist die (mystische) Religiosität, die den Zusammenhang mit der Kreativität des Universums festhält.
3. Negativität kreativ Mystik und Negative Theologie sind von Beginn an verwandt. Das Vermittlungsproblem der unmittelbar gefühlten Qualität führt - exemplarisch an seiner höchsten Stelle: der Gottesvorstellung - zu einem unlösbar erscheinenden Konflikt, dem die apophatische oder negative Theologie 48 als sprach- und begriffsschöpferische Grenzreflexion zumindest ein strukturelles Gerüst geben konnte. Diese Möglichkeiten werden gerade auch in der von Religionskritik und Atheismus geprägten Moderne genutzt, und die folgenden religionsphilosophischen Denkfiguren realisieren je auf eigene Weise jenes - der Sache nach immer zugrunde liegende - Muster mystischer bzw. negativer Theologie. Franz Rosenzweig hat das unvermeidliche Denkproblem pointiert in den Satz gefasst: „Von Gott wissen wir nichts. Aber dieses Nichtwissen ist Nichtwissen von Gott." 49 47 48 49
W . J a m e s (1997), 422f. S. § 5.3(2); vgl. R. Stolina: Negative Theologie, in: RGG 4 6 (2003), 170-173. F. Rosenzweig, Stern der Erlösung (1993), 25 (Nr. 16). - Zur klärenden Analyse der Problemlage vgl. I.U. Dalferth (2003), 521ff.
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(1) Die Philosophie des Deutschen Idealismus zieht gegenüber dem Gottesbegriff entweder die kritische Grenze der Religionskritik oder sie versucht, das begrifflich nicht Fassbare gerade aus diesem Grund zum (absoluten) Prinzip zu erheben. Letzteres wurde dadurch gefördert, dass nach dem „Atheismusstreit" (1799)D° nicht nur der von diesem Vorwurf direkt betroffene J.G. Fichte in aller Öffentlichkeit deutlich machen musste, ob denn aufgrund des neuen - des transzendentalen, spekulativen oder idealistischen - Wissenschaftsbegriffs nun Gott als unwissenschaftlich auszuschließen oder als wissenschaftlich ausweisbar zu betrachten war. O b und wie Gott überhaupt gedacht werden könne bzw. müsse, das war die Frage; nicht mehr die nach einem Beweis für die Existenz Gottes, denn dies, so gefasst, brauchte nach Kants Kritik 31 nicht mehr gefragt zu werden. Wenn religiöser Glaube und Wissenschaft nicht voneinander getrennt werden sollten (so der Tendenz nach der Vorschlag F.H. Jacobis 32 ), dann musste begriffliches Wissen doch an dem beteiligt werden, was eigentlich - negativ als das Nichtbegriffliche, positiv als das Andere - vor ihm geschützt oder unzugänglich gehalten werden sollte. Die angebotenen Denkfiguren zur Problemlösung beschreiben den Spannungsbogen zwischen Reflexionswissen und Selbstbewusstsein einerseits und deren nicht zu leugnender Verwiesenheit auf die Vorgaben des natürlichen und sich bereits vollziehenden Selbstverhältnisses, für das jedes Wissen zu spät kommt, andererseits. Während Schelling53 „Natur" als (triadisches) Selbstverhältnis von Unmittelbarkeit, deren Begriff und der Synthese beider fasst, der gegen50
Vgl. L. Hühn: Atheismusstreit, in: R G G 4 1 (1998), 881; K.-M. Kodalle/M. Ohst (1999); St. Grätzel/A. Kreiner (1999), 57ff.; R. Barth (2004), 262ff.
51 52
S. § 8.2.2. S. § 9, Anm. 7ff. - Chr. Danz (1999), 159, eröffnet seine Präsentation von Schellings und Fichtes Antworten auf das Gottesprohlem mit einem entsprechenden Programm-Zitat Jacobis. Vgl. Danz, aaO. 161 £f. - unter Bezug auf Schellings Antwort auf Jacobi, in: Denkmal der Schrift von den göttlichen Dingen (1812), Sämmtl. Werke, Bd. I, 8 (1861), 19-136; und vor allem auf Schellings Weltalter-Fragment (1815), Sämmtl. Werke, aaO. 195-344; vgl. ebd.: „Also sind schon im Nothwendigen Gottes zwei Prinzipien; das ausquellende [...] Wesen, und eine ebenso ewige Kraft der Selbstheit, [...] des in-sich-Seyns" (211). - „Doch auch den Gegensatz erkennen ist nicht genug, wenn nicht zugleich die Einheit des Wesens erkannt wird, oder daß es in der That ein und dasselbe ist" (212f.). - „Uns allen wohnt das Gefühl bei, daß die Nothwendigkeit allem Daseyn als sein Verhängniß folgt. [...] Ein inniges Gefühl sagt uns, nur über dem Seyn wohne die wahre, die ewige Freiheit" (234). - Schelling hatte bereits in der .Freiheitsschrift' (1809) zur Klärung des „Absoluten", d.h. des Gottesgedankens, Denkformen der Mystik J. Böhmes aufgenommen, vgl. J . Hennigfeld (2001), 127-133.
53
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III. Das Unbedingte: Ausarbeitung von Kreativität
über der zur Verwirklichung notwendige Freiheitsakt fremd, transzendent, aber schon in Anspruch genommen erscheint54, setzt Fichte beim Denken des Unbegreiflichen ein: Dem Begreifenwollen bleibt sein eigenes Vorgehen entzogen, während dieses selbst aber, nämlich als Vollzug, schon in Kraft ist. Die der Mystik verpflichtete Denkfigur lautet: „denn nur an der Vernichtung des Begriffes leuchtet das Unbegreifliche ein"!DD - Und in beiden Fällen, ob vom Selbstverhältnis her der Freiheitsakt oder vom Begreifen her dessen Vorgegebenheit, ist das wissentlich Unableitbare das Absolute, d.h. Gott; und als Unableitbares ist es nachgewiesen und damit denknotwendig. - Die negative Theologie des Unbegrifflichen hat ihre spekulative Form gefunden. (2) Auf diesem Hintergrund der dialektisch gebrochenen Theorien des Absoluten ist F. Rosenzweigs pointierter Satz in seiner Mehrdeutigkeit zu lesen: „Negative Theologie" kann, erstens, nicht so verstanden werden, dass die Negation, Gott könne nicht gedacht werden, die Negation Gottes im Sinne einer destruierenden Auflösung eben dieses Denkproblems bedeutete.56 Dagegen richtet Rosenzweig die positive Wendung: „Nichtwissen von Gott", d.h. in irgendeiner Form ist hier eine religiöse Vorgabe trotz und wegen der Negation im Spiel. U m deshalb, zweitens, einen produktiven Sinn des Nichtwissens auf den Weg zu bringen, hat Rosenzweig seinen ersten Satz wie folgt fortgesetzt: „Als solches ist es [sc. das Nichtwissen] der Anfang unseres Wissens von ihm. Der Anfang, nicht das Ende. [...] Diesen Weg, der von einem vorgefundenen Etwas zum Nichts führt und an dessen Ende sich Atheismus und Mystik die Hand reichen können, beschreiten wir nicht, sondern den entgegengesetzten vom Nichts zum Etwas." Als Alternative zur mystischen Begriffsdialektik gilt die „Tatsächlichkeit" Gottes, seine „,Positivität"'. 57
54
Danz, aaO. 168: „Schellings Theo-Logie thematisiert damit die unreduzierbare Duplizität von Bestimmtheit und Sich Bestimmen, [...] von Natur und ewiger Freiheit."
55
J.G. Fichte, Die Wissenschaftslehre (18042), Gesamtausg. II/8, 56,36f.; vgl. Danz, 171: Die „Reflexionsform [sc. des Wissen und Begreifens]" muss „sich ihren Vollzug als nicht durch sie selbst gesetzt voraussetzen". Vgl. Dalferth, aaO. 517: „Die Aporie [sc. negativer Theologie] scheint unvermeidlich: Wenn radikal Anderes nicht gedacht werden kann und nichts Gott ist, was nicht radikal anders ist, dann lässt sich Gott nicht denken - weder im Blick auf das, was Gott ist, noch im Blick auf das, was Gott nicht ist." Rosenzweig, ebd. (s. Anm. 49).
56
57
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Doch so wie „Nichtwissen" doppeldeutig ist, so sind auch Atheismus und Mystik nicht einfach gleichzusetzen. I. Dalferth hat bereits festgehalten58, dass die Sinnlosigkeit des (atheistisch bestimmten) Gottesbegriffs etwas anderes ist als die Negativität einer als sinnvoll gesuchten Gottesvorstellung der Mystik; letztere könnte ja gerade den Weg vorzeichnen, den Rosenzweig mit dem „Anfang" beim „Nichtwissen" beschreiten möchte. Es kommt also, drittens, darauf an, die positiv verstandene Funktion von Nichtwissen zu erfassen, und das geschieht in der Metapher des Weges auf doppelte Weise: Die Negation des Ausgangspunktes im Nichtwissen wird auf dem Weg nach vorne zur „Bejahung" gegenüber dem „Nichtnichts"; zurückgewandt in der Negation jeden bedingenden Etwascharakters zur „Bejahung" gegenüber dem „Nicht-Ichts".59 Im Ergebnis dieser Doppelbewegung, die durchaus eine zwanglose Charakterisierung als negative (mystische) Theologie verdient (denn es geht Rosenzweig um den Gottesbegriff!), steht ein Sinn von „Nichts", der nicht mehr verallgemeinert-begrifflich-bestimmt verstanden werden soll (als solcher löst er sich auf), sondern „bestimmungerzeugend"60 eingesetzt wird. Die kreative Leistung aber erfolgt ja aus der Bestimmungslosigkeit heraus, so dass gesagt werden kann: „Es wird ein Unendliches bejaht: Gottes unendliches Wesen, seine unendliche Tatsächlichkeit, seine Physis."61 I. Dalferth hat Rosenzweigs Vorlage genutzt, um nach kritischer Durchsicht der Schwierigkeiten, Gott negativ zu denken62, eine nichtbegriffliche, aber pragmatische, „sprachphänomenologische"63 und als solche philosophisch wie theologisch legitime Lösung vorzuschlagen. An Rosenzweigs Pathos der „Tatsächlichkeit" Gottes kann angeknüpft werden, weil der Gottesbegriff nicht mehr konstruiert und nachgewiesen, sondern Gott in seinem faktischen Sprachgebrauch gezeigt und pragmatisch, d.h. in Lebens- und Handlungskontexten ausgelegt werden muss. Gott ist nicht mehr begrifflich-allgemein, sondern - sprach-
58 59
60 61 62 63
Dalferth, 521. Rosenzweig, aaO. 26f. (Nr. 17f.); Rosenzweig wählt die Neubildung „Icht" (ohne Negation und korrespondierend zu „Nicht") als „unbelastet" anstelle von „Etwas". AaO. 27 (Nr. 18). AaO. 29 (Nr. 19). - Die Komplexität von Rosenzweigs Gedankenführung ist damit nur angedeutet, keineswegs erschöpfend interpretiert. Vgl. Dalferth, aaO. 532-544, zur genauen Differenzierung der begrifflichen Funktionen von Andersheit und Negation. Vgl. aaO. 522, 525.
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III. Das Unbedingte: Ausarbeitung von Kreativität
lieh immer weiter vermittelt - singular, ein „ Verweiswort" ^ Von der (begrifflichen) Möglichkeit Gottes „kann man reden", von seiner Wirklichkeit (des „Einzigartigen") aber „muss man weiterreden'Religionsphilosophisch verallgemeinert folgt daraus, dass „philosophisches Nachdenken über Religion"66 bloßes Denken im Modus der Möglichkeit bleibt, während die Wirklichkeit des Religiösen denken zu wollen selbstwidersprüchlich wäre, es sei denn die (Religions-)Philosophie würde sich - fälschlich - einer theoretischen Absolutheits- oder Letztbegründungsposition67 verschreiben (die die Wirklichkeit bzw. Gott mit Notwendigkeit zu denken vorgibt). Doch diese Trennung der Sphären von Denkmöglichkeit und Glaubenswirklichkeit erscheint dann vermeidbar - und Wirklichkeit zu denken wäre möglich, ohne eine Letztbegründung zu implizieren - , wenn Denken nicht als Usurpation verstanden wird, das („in der Perspektive der dritten Person"68) die religiöse Wirklichkeit verfehlt, erübrigt oder gar seinerseits gewährleisten möchte; sondern wenn Denken als strukturbildender Suchvorgang konzipiert wird, der den existentiellen Vollzug des Gesuchten gerade offen hält und als wirkliche Möglichkeit oder mögliche Wirklichkeit zu gewichten und nahe zu legen versteht. Dann ist auch das doppelte Hase-und-Igel-Spiel69 vermieden, als könnte das Denken der Möglichkeit (Igel als Reflexionswissen) dem Hasen (als religiöser Lebenswirklichkeit) immer am (spekulativen) Ziel schon voraus angekommen sein; oder als könnte der religiöse Glaube an Gottes Wirklichkeit (Igel als lebensweltliche Gewissheit) dem Hasen (Reflexion fern der existentiellen Situation) gegenüber die (tatsächliche) Realität immer schon im voraus besetzt halten. Die Spiel-, Lauf- und Zielstruktur kann kategorial und semiotisch differenziert werden, dann lässt sich auch jene aporetische Doppelung vermeiden: Ausgangspunkt ist die kreative Ursprünglichkeit des Nichts an Bestimmungen; Laufweg ist die Ausarbeitung von kosmologischer wie existentieller Kreativität unter
64 65 66 67 68 69
AaO. 537, 546. AaO. 547. AaO. 65f. Beispiele dafür wären die idealistischen Theorien des Absoluten, s. Anm. 53ff.; vgl. C.F. Gethmann: Letztbegründung, in: HOT 5 (1980), 251-254. Dalferth, aaO. 120. Der Hase und der Igel, in: Kinder- und Hausmärchen (1999), 719-723. - Vgl. die Zuordnung von Wirklichkeit und Möglichkeit, wie sie der frühe Kierkegaard (1837) in einer Notiz ganz nebenbei gegeben hat: „Gott ist die Wirklichkeit des Möglichen", DSKE 1, 43 (Journal AA:22); Dalferth, aaO. 153; zum Kontext der Rezeption Schleiermachers durch Kierkegaard vgl. A. Krichbaum (2008), 82.
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bestimmten Bedingungen; das Ziel weiß - menschlich gesehen und wenn die Laufenden nicht betrogen werden - niemand voraus, aber seine Möglichkeiten und Verwirklichungen stecken in jedem Wahrnehmungsaugenblick wie im Prozess selbst. (3) Ausdrücklich an mystische Denktraditionen angeknüpft hat die Religionsphilosophie E. Blochs7° Er selbst hat dabei einen (materialistisch verstandenen) Materiebegriff zugrunde gelegt, auf dessen prozesshafte Ungewordenheit sich Entwicklung und Hoffnung auf Veränderung beziehen lassen. Dieser utopische, „exterritoriale" Zug aber hat seine eigentliche Uberzeugungskraft in der existentiellen Zeiterfahrung, dem „Dunkel des gelebten Augenblicks" oder der „dunklen DaßWurzel der Welt". 71 Das Nichts im Dunkel des Augenblicks wird als ein ,noch-nicht' von Bestimmtheit gedacht, das selbst negativ erscheint, sich aber der Negation des Todes entzieht. Das überwältigende Gefühl von Fülle und Nähe tritt auf mit der Entzogenheit des Augenblicks, und es sind Kunst und Religion, die allein dieser Situation mächtig sind. Die größten Hoffnungsbilder zeigen im Alltäglichsten ihre Spuren : „Jeder kennt doch das Gefühl, in seinem bewussten Leben etwas vergessen zu haben, das nicht mitkam und klar wurde. [...] Und verlässt man ein Zimmer, in dem man länger gewohnt hat, so sieht man sich sonderbar um, bevor man geht. Auch hier blieb noch etwas zurück, auf das man nicht kam. Man nimmt es ebenso mit und fängt woanders damit an."72
(4) Die Akzentuierung des Nichtidentischen wird in Th. W. Adornos „Meditationen zur Metaphysik" 73 als gesteigerte Form von unvermittelbarer, gleichwohl wirksamer Negativität eingesetzt. Denkformen und analog die gesellschaftlichen Lebensbedingungen sind nicht frei von Systemzwängen, Einheitsbildungen, „Identität" - so dass die dazu dringliche Freiheitsalternative, die die verändernde Kraft des Denkens sichern würde, nur im vollständigen Verlassen und Beenden der negativen Bedingungen bestehen kann. 74 Dieses „Nichtidentische" oder 70 71 72 73 74
Vgl. C.H. Ratschow: Bloch, in: TRE 6 (1980), 715-719; P. Steinacker (1975); H. Deuser/P. Steinacker (1983). E. Bloch, Das Prinzip Hoffnung (1967), 1385ff. (Kap. 52/V.); 1549 (Kap. 53/IIL). E. Bloch, Spuren (1967), 121. Th.W. Adorno (1966), Dritter Teil, Modelle III; vgl. A. Hutter (1998). AaO. 396 (12. Meditation): „Negation der Negation, welche nicht in Position übergeht. [...] Das Absolute jedoch, wie es der Metaphysik vorschwebt, wäre
III. Das Unbedingte: Ausarbeitung von Kreativität
334 „Absolute"
aber wird nicht m e h r
als distanziert
Ideales,
Geistiges,
T r a n s z e n d e n t e s etc. gesucht (das d e n b e g r i f f l i c h e n Z w ä n g e n n o c h unt e r l i e g e n m ü s s t e ) , s o n d e r n in e i n e r A n d e r s h e i t , die ans K r e a t ü r l i c h L e i b l i c h e 7 3 p a r a d o x g e b u n d e n b l e i b t u n d in dieser G e b r o c h e n h e i t , so sehr die c h r i s t l i c h e T r a d i t i o n sie b e z e u g t , in der M o d e r n e a m strengst e n in der Ä s t h e t i k u n d den K u n s t w e r k e n der A v a n t g a r d e zu e n t z i f f e r n ist. 7 6 I n e i n e m G e s t u s , der sich auf n i c h t s b e r u f e n k a n n , w i r d die N e g a tivität des N i c h t i d e n t i s c h e n d o c h z u r r a d i k a l e n A l t e r n a t i v e , die t r o t z a l l e m auf g e d a n k l i c h e o d e r ä s t h e t i s c h e G e s t a l t drängt. D i e
Tradition
der M y s t i k 7 7 , so hat es W . B e n j a m i n f o r m u l i e r t , w i r d gegenwärtig i m „ d i a l e k t i s c h e n B i l d " , das i m „ A u g e n b l i c k " den V e r l u s t des V e r g a n g e n e n , des Z e i t a b l a u f s ausgleichen k ö n n t e . 7 8 H i e r sind es k a u m G e f ü h l s m o m e n t e , a u c h k e i n e a n g e b b a r e n Q u a l i t ä t e n , die die S i t u a t i o n
der
N e g a t i v i t ä t z u r U m k e h r u n g i h r e r S i c h t der D i n g e b e w e g e n , s o n d e r n allein das i n t e l l e k t u e l l e P a t h o s des - e n t z o g e n e n u n d d e n n o c h gesucht e n - N i c h t i d e n t i s c h e n : D o r t , w o die R e c h n u n g e n der i d e n t i f i z i e r e n d e n B e g r i f f l i c h k e i t n i c h t m e h r aufgehen. 7 9
das Nichtidentische, das erst hervorträte, nachdem der Identitätszwang zerging·" 75
AaO. 357 (2. Meditation): „die armselige physische Existenz zündet ins oberste Interesse, das kaum weniger verdrängt wird, ins Was ist das und Wohin geht es."
76
AaO. 384 (8. Meditation): „Was von endlichen Wesen über Transzendenz gesagt wird, ist deren Schein, jedoch [...] ein notwendiger. Daher hat die Rettung des Scheins, Gegenstand der Ästhetik, ihre unvergleichliche metaphysische Relevanz."
77
AaO. 363 (3. Meditation): „die Mystik, deren Name die Unmittelbarkeit metaphysischer Erfahrung gegen ihren Verlust durch institutionellen Einbau zu retten hofft".
78
W. Benjamin (1980), 682 (Zentralpark, Nr. 33): „Das dialektische Bild ist ein aufblitzendes. So, als ein im Jetzt der Erkennbarkeit aufblitzendes Bild, ist das des Gewesenen [...] festzuhalten. Die Rettung, die dergestalt, und nur dergestalt, vollzogen wird, lässt sich immer nur als auf der Wahrnehmung von dem unrettbar sich verlierenden gewinnen"; vgl. aaO. 695 (Über den Begriff der Geschichte, Nr. V): „Nur als Bild, das auf Nimmerwiedersehen im Augenblick seiner Erkennbarkeit eben aufblitzt, ist die Vergangenheit festzuhalten." - S. § 12.1(3) u. (5) zum „dialektischen Bild" im Kontext der Eckhart-Interpretation.
79
Adorno, aaO. 398 (Schluss der 12. Meditation): „Die kleinsten innerweltlichen Züge hätten Relevanz fürs Absolute, denn der mikrologische Blick zertrümmert die Schalen des nach dem Maß des subsumierenden Oberbegriffs hilflos Vereinzelten und sprengt seine Identität, den Trug, es wäre bloß Exemplar. Solches Denken ist solidarisch mit Metaphysik im Augenblick ihres Sturzes."
§ 12: Mystik
335
(5) Noch einmal gesteigerte, darin teils dementierte, teils wiederholte Negative Theologie steckt in J. Derridas texthermeneutischem Programm der immer vorgängigen Differenz (différance): Nicht nur ist den metaphysischen Begriffen, d.h. jeder gegenständlichen oder sinnhaften Präsenz zu misstrauen, sondern prinzipiell auch jedem begrifflichen Umweg, der über Negativität dann doch „Supraessentialität"80 gründend denken zu können vorgibt. Derridas Differenzkonzept erhebt die begriffliche Ungreifbarkeit zur dynamischen Interpretationsoffenheit von Texten, und die künstliche - unhörbar andere - Wortbildung oder der bloße „Name" différance (aus différence) mag das schon selbst zum Ausdruck bringen.81 Was allerdings bleibt ist die „Spur", ein nie ganz zu fixierender (raumzeitlicher) Differenzbegriff, und die „Zeichen", die ohne Differenzbildung gar nicht gedacht werden können. 82 Die so begründeten Verfahren der Texterschließung setzten immer nur sich selbst voraus, die Kreativität solcher Differenzsuche aber geht nicht ins Leere, sondern sucht Bestimmungen aufgrund von methodischer Negationsbildung - darin liegt ihr mystischer Zug: Nun doch im Verschweigen Spuren offen zu halten. Was wir mit Bestimmtheit wissen können, bleibt verdächtig, was sich verschweigt könnte das Wesentliche sein.83 In dieser existentiellen Schwebe liegt aber zugleich auch ein Aufforderungscharakter, sich zum Leben im Ganzen wie im einzelnen Fall verhalten zu müssen. Derrida hat dies im Aufnehmen von Kierkegaards Auslegungen von „Isaaks Opferung" (Gen 22) durchgespielt und aus der Fremdheit und Andersheit Gottes die Totalisierung des Andersseins gefolgert: „Jeder andere ist ganz anders (absolut anders)", zugleich das „Paradoxon" der „Verantwortung jeden Augenblicks für jeden Mann und jede Frau". „Zugleich gibt es keine ethische Allgemeinheit mehr, die nicht bereits dem Paradoxon des Abraham zur Beute gefallen ist." 84
80 81
J . Derrida, Die différance (1997), 81. Vgl. aaO. 76ff., 109f.
82
AaO. 91, 85; vgl. M.T. Mjaaland (2008), 12f.; Cl. Welz (2008), 327ÍÍ. (zu Derridas Analyse der „Gegenwart" im kritischen Anschluss an E. Husserl). Vgl. zum Mystik-Kontext den Hinweis bei A.M. Haas (2007), 184f.; I.U. Dalferth (2003), 527f., spricht von der „epistemischen Version der Aporie" negativer Theologie, im Blick auf den Gottesgedanken gesagt: „Gott ist ganz anders als alles von uns Wissbare." J . Derrida (1994), 405; vgl. auch aaO. 444f. (Anm. 30) im Verweis auf E. Lévinas' Kierkegaard-Interpretation; zur Auslegung von Kierkegaards Furcht und Zittern (1843) im Blick auf Derridas Interpretation vgl. H. Deuser, Genesis 22 (2007), 11, 15f.
83
84
336
III. Das Unbedingte: Ausarbeitung von Kreativität
Am extremen Einzelnen die allgemeine Verantwortlichkeit zu zeigen ist in der biblischen (Nach-)Erzählung möglich und wirkt existentiell verbindlich, so weit mit Kierkegaard. Wenn es genau davon aber keinen allgemeinen Begriff geben darf, wird dieselbe Verantwortlichkeit prinzipiell unscharf - und das steht im Widerspruch zu ihrer Situationsbindung. Derrida hat die mystische Denkform radikal gesteigert, doch der verwendete Begriff des Zeichens als (zweistelliger) Differenzanlass85 lässt scheinbar nichts anderes als sich selbst zu. Dass zu jeder Differenzbildung im Zeichenereignis eine Interpretation gehört, die jeweils an dritter Stelle in gewissem Sinne Allgemeinheit darzustellen vermag86, würde auch dem Schweigen und der Spur einen - in der Zurückhaltung angemessenen - (nicht totalisierten) Rang zurückgeben können. (6) Das ,,Andere des Seins" mit all seinen Ambivalenzen doch ins Spiel zu bringen, riskiert ganz bewusst und phänomenologisch geschult E. Lévinas: „Transzendenz" nicht als „,Hinterwelt'" einer schlechten Theologie87, ausdrücklich auch keine „negative Theologie", die doch am Seinsbegriff orientiert bliebe88; aber, auf den zweiten Blick, doch die Grundstruktur, zumindest die „apophantische Episode", dass am (objektiv) „Gesagten" das „vor-ursprüngliche Sagen" sich zeigt; dass „Subjektivität" befreit wird auch noch vom Begriffspaar „Sein und Nichts"; dass eben am „Anderen" - hier: am Aufforderungscharakter des anderen Menschen, seinem Gesicht/Antlitz - sich unendliche Verpflichtetheit erschließt.89 Das „Unendliche" ist da, ohne bestimmbar zu sein, wird in seiner „Spur" wirksam, und für die „Subjektivität" war es schon vor allem Erfassen: „vollzieht sich als eine Passivität, die passiver ist als jede Passivität."90 Entsprechendes lässt sich von Gott sagen: Unbestimmbar, aber so doch über alle Maßen wirksam zwischen den Menschen, in ihrer Andersheit.91 - Dies alles aber sind Elemente mystischer, negativer Theologie, verfeinert und gesteigert in Verhältnisse der Sprache und Sozialität. So wie Nikolaus von Kues, in ganz anderer Zeit
85
S. Anm. 82.
86
Zur semiotischen Bedeutung der Interpretanten-Relation s. § 10.2 (Schema 3).
87 88
E. Lévinas, Jenseits des Seins (1992), 29. AaO. 31, 43: „die Nicht-Gegenwart des Unendlichen" ist „kein Ausdruck negativer Theologie." - Zur Interpretation der „Nicht-Gegenwart" vgl. Cl. Welz (2008), part III.A.
89
AaO. 3Of., 37, 43; vgl. Dalferth (2003), 14ff.
90
AaO. 45, 49.
91
Vgl. Welz, aaO, 315.
§ 12: Mystik
337
und unter ganz anderen Bedingungen, negative Theologie, die „Unausprechlichkeit Gottes", dann doch zur Sprache bringt - in Aufhebung der begrifflichen Bestimmungen der Trinität und ihrer ganz anderen, strukturellen Wiederholung: „Er ist nur der Unendliche. Die Unendlichkeit als solche aber ist weder Zeugen noch Gezeugtwerden noch Hervorgehen. [...] Hilarius von Poitier [... :] ,1m Ewigen Unendlichkeit, Idee im Bild, Ausübung in der Gabe'. [...] Sie ist deshalb Ursprung ohne Ursprung. ,Idee im Bild' bedeutet Prinzip vom Prinzip, ,Ausübung in der Gabe' bedeutet Hervorgang aus beiden."92
(7) Mystisches Denken, in allen seinen Variationen, nutzt die Negativität des Nichtbegrifflichen, des Nichtwissens, des Nichtidentischen, der radikalen Andersheit, des gänzlich Unsagbaren, um auf andere Weise und im Verweisen auf Anderes erst recht eine neue Darstellung zu gewinnen. Die modernen Formen negativer Theologie, ausdrückliche Anknüpfungen an die Tradition, aber auch Anspielungen und bloße Anklänge, versuchen allerdings nicht mehr das (paradoxe) Begreifen des Unbegreiflichen, sondern eher die verfremdete, immer negativ, d.h. durch Differenz akzentuierte Darstellung des Nicht-Gewussten, VorGewussten, das aber gerade so seine reale, ursprüngliche Kraft zeigt. Die Begriffsebene zu verlassen muss nicht den Verlust der Rationalität bedeuten. Selbst wenn das innere Gefühlsleben und seine vorrangige Unbedingtheit erst auf dem „Umweg" über Kollisionen und Differenzerfahrungen mit der Außenwelt entdeckt werden 93 , setzt dies ereignislogisch 94 gesehen die ursprüngliche Ermöglichung von Qualität voraus. Diese Einsicht in die kategoriale Struktur rechtfertigt entsprechend zurückhaltende und bewusst begrenzte Begriffsbildungen; und jenseits der Grenze geht es um Bedingungen von Kreativität, wie sie - als solche ernst genommen - nur der eigentümlich religiösen (mystischen, negativen) Darstellungsweise zugänglich werden.
92
Nikolaus von Kues, De docta ignorantia (1440), Buch I, Kap. 26 (1994), 111 (s. § 12.1, Anm. 22). Nikolaus beruft sich ausdrücklich auf „Dionysius" (s. § 5.3) und „Rabbi Salomon" (Moses Maimonides, s. § 1.1, Anm. 8); Hilarius v. Poitier (ca. 315-366), der Komm. z.St. verweist auf dessen Schrift De fide adversas Arlanos.
93
Vgl. V. Gerhardt (1999), 275: „So kommen wir, paradoxerweise, zu unserem emotionalen .Innenleben' gleichsam nur von .außen', also nur über den Umweg des Begriffs sowie über das von Begriffen angeleitete Wollen." S . § 11.2.1, Anm. 68f.
94
338
III. Das Unbedingte: Ausarbeitung von Kreativität
(8) Die wissenschaftstheoretische Berechtigung dieser Einsicht lässt sich schließlich im Pragmatismus zeigen, wird er als Vermittlungsfigur zwischen Hermeneutik, Phänomenologie und empirischer Theoriebildung verstanden.95 So hat /. Dewey das qualitative Denken gegen mechanische Labormodelle der empirischen Psychologie profilieren können: Am Beispiel des Kindes, das mit seinen Fingern nach einer brennenden Kerze greift und aufgrund der gefühlten Hitze die Hand wieder zurückzieht96, weist er nach, dass hier nicht zwei getrennte ReizReaktions-Ketten (vom Sehen zum Handeln und vom Fühlen zum Handeln) ablaufen, sondern diese beiden bereits so koordiniert sind, dass dabei Vorstellungen für künftiges Verhalten gelernt werden können. Sinneswahrnehmung und Handlungsreaktion sind grundgelegt im ,¿4kt des Sehens".97 Das Seh-Ereignis ist von eigener Qualität, hat seinen „Wert" und seine „Zweck"-Orientierung, in deren Struktur sich das Ereignis „Schmerz" koordinierend einfügen kann. Reiz und Reaktion lassen sich in Wahrheit nicht zerlegen, sondern sie bleiben eine Ereignis-Einheit in der Kontinuität der Erfahrung. Dewey benutzt für diese werthafte und in sich teleologische Ereignis-Einheit den Begriff des ,,sensorische[n] Quale"9S, d.h. die Grundphänomene der „Qualia", unter deren Voraussetzung Verhalten und Handeln überhaupt erst plausibel gemacht werden können.99 Die reine Analyse kommt demgegenüber immer erst nachträglich und verliert die qualitative Erfahrung, in der Werte und Ziele, Mittel und Zwecke, Wahrnehmung, Interesse und Handlungsorientierung bereits vorgegeben waren. - Allerdings bleibt der Begriff des Quale in der gegenwärtigen Diskussion bewusstseinstheoretischer Modelle100 (der Philosophie des Geistes) doppeldeutig: Er
95
Vgl. M. Jung (2001), 79f.; (2003), 81; (2005), 197, 215Í. (s. § 12.2, Anm. 43f.) unter Bezug auf J. Deweys Aufsatz „The Reflex Arc Concept in Psychology" (1886). Dieser Text ist in dt. Ubers, als Teil der späteren Aufsatzsammlung von 1931 unter dem geänderten Titel „Die Elementareinheit des Verhaltens" erschienen, in: J. Dewey, Philosophie und Zivilisation (2003), 230-244; vgl. das Original jetzt in: J. Dewey, The Early Works, vol. 5 (1972), 96-109.
96
Das Beispiel wird übernommen aus W. James, The Principles of Psychology (1890), (1981), 36ff. J. Dewey (2003), 231f.; im Folgenden aaO. 232ff. AaO. 231, 238 u.ö.; vgl. den Begriff auch bei W . James, bereits im Vorwort, aaO. V. M. Jung (2001), aaO. 80: „Ein rein kognitives Weltverhältnis wäre gar keines, weil allein der organismische Bedürfnischarakter des Lebens den Funktionskreis von Reiz, Deutung und Reaktion in Gang setzt."
97 98 99
§ 12: Mystik
339
kann wiederum atomistisch-analytisch als kleinste Einheit des Empfindens genutzt werden, oder er kann, kategorial und ontologisch verstanden, für den primären, phänomenologischen Begriff der Möglichkeitsfülle im Sinne einer evolutionären Metaphysik eingesetzt werden. 101 Dann erklärt sich mystische Unmittelbarkeit strukturell aus der Gefühlsqualität des Augenblicks 102 , und dieser enthält in seiner Spontaneität das Konkretwerden göttlicher Kreativität. 103 Chancen und Grenzen der Religionsphilosophie heute entscheiden sich auf der Basis dieser kategorial ersten Sicht aller Dinge.
100 Vgl. D. Sturma (2005), 93-102; Th. Metzinger (2005), 323ff.; Art. „qualia", in: OCP, 736. 101 Vgl. vor allem Ch.S. Peirce' Text „Ereignislogik" (1898), in: RS, Nr. 11.13, hes. 259ff. 102 Vgl. R.C. Neville (1993), 52. 103 AaO. 201: „The spontaneous creativity in the present is part of the divine creative act."
IV. Das Relative: Explikationen von Religiosität Mit dem Begriff des Relativen soll das bezeichnet werden, was sich in bestimmten Relationen zu anderem befindet, also als Bestimmtes vor Augen steht oder empirisch angetroffen wird. In diesem Sinne ist auch der Begriff der Erfahrung auf Bestimmtes zu beziehen und vom Begriff der Wahrnehmung (an erster Stelle: des Unbedingten) zu unterscheiden1. Wenn nun die genuine Aufgabe der Religion darin besteht, kreativ Unbedingtes zum Ausdruck zu bringen, so bedeutet das auch, dass Unbedingtes als bestimmbar, genauer: als sich bestimmend zur Darstellung kommt. Einerseits ist der Prozess des Zur-Bestimmung-Kommens religiös, d.h. in seinem Unbedingtheitscharakter auf spezifische Weise wirksam, wie dies die Analysen von Gefühlsqualität, Wahrnehmungsaugenblick und Mystik zeigen konnten; andererseits ist dieser Prozess aber durchaus auch von außen beschreibbar und kann in seinen jeweiligen Bestimmtheitsbedingungen auch distanziert kommuniziert werden. Für die wissenschaftliche Arbeit - jedenfalls in den Traditionsbildungen neuzeitlichen Denkens - kann dann bis zu einem gewissen Punkt offen bleiben, ob eine solche Darstellung in der Außenperspektive von einer korrespondierenden subjektiven Uberzeugung aus der Innenperspektive geleitet ist oder nicht.2 Es genügt einzuräumen, dass es letztere immer gibt und geben muss. Der Ort existentieller Uberzeugung ist unersetzbar und muss vorbehalten bleiben gerade dann, wenn es um seine - relativen - Ausdrucksformen zu tun ist. In diesem Kontext besteht das Relative der Religion darin, dass ihr beschreibbares Zustandekommen und ihre greifbaren Auswirkungen so genau wie möglich expliziert und die dazu nötigen wissenschaftlichen Standards phänomengerecht zur Anwendung gebracht werden. Dabei bleibt allerdings die immer schwebende Rückfrage bestehen, ob und wie, was „phänomengerecht" ist, denn selbst wiederum mit geeigneten Kriterien (im Bewusstsein und im Wechsel von Außen- und Innenperspektiven steigerbar) beurteilt werden kann. Die Geschichte der Religionswissenschaften gibt ein beredtes Zeugnis dieser Problemlage. 1 2
S. Teil III, Anm. 1. S. § 2.2.
342
IV. Das Relative: Explikationen von Religiosität
Doch mit den historischen, dann soziologischen und psychologischen Forschungsrichtungen, wie sie sich seit dem 19. Jh. entwickelt haben, kann immerhin gesagt werden, dass zunehmend - und auch philosophisch wie theologisch relevant - versucht wird, die Explikation der Bestimmtheiten von Religiosität so zu fassen, dass dem je vorausliegenden Rang des Unbedingten nicht per se zuwider gehandelt wird. Im Interesse der Religionsphilosophie ist es dann, das Zusammenspiel von methodisch reflektierter, (tendenziell) reiner Beschreibung und wirklichkeitskonstitutiver Uberzeugungsbildung zu beobachten und im Blick auf den Wahrheitsanspruch religiöser Interpretationen auszuwerten. Das geschieht im Folgenden so, dass die einschlägigen Fachdisziplinen gemäß ihrer genuinen Untersuchungsgegenstände in kategorialer Aspektuierung3 zum Zuge kommen und diskutiert werden: Es ist die Religionspsychologie, die dem Auftreten des qualitativ Ersten am nächsten steht und der Unbedingtheit des Wahrnehmungsvorrangs analytisch nachzugehen versucht; es ist die Religionssoziologie, die die Wirksamkeit dessen, was sich auf Unbedingtheit zurückführt gleichwohl aber relative Relationen braucht und in diesen massive soziale Folgen zeitigt - , erklären will; und es ist schließlich (nicht wissenschaftshistorisch, aber der Sache nach an dritter Stelle) die Religionsgeschichte, die seit dem dt. Idealismus Religiosität und Religion als Prozessualität ihrer selbst konzipiert hat.
§ 13: Religionspsychologie Entstanden Ende des 19. Jh. ist die Religionspsychologie nach Gegenstandsbestimmung und Methode bis heute derart vielfältig, dass sie kaum abgrenzbar erscheint. Von Therapieansätzen, Ritualstudien, empirischen Messungen zu Ekstase und Gebetsauswirkungen bis zur Religionskritik im Schema von neurophysiologischer Basis und illusionärem Uberbau erscheint alles möglich und praktikabel.4 Dabei bleibt
3
S. § 10.2, A n m . 21.
4
Vgl. K. Hoheisel/H.-G. Heimbrock: Religionspsychologie I/II, in: T R E 29 (1998), 1-19; hes. 7f. - Einen ausgezeichneten, nach Forschungsrichtungen und Beispielen aufgebauten Überblick gibt D . M . Wulff (1991); vgl. Chr. Henning/S. Murken/E. Nestler (2003); S. Heine (2005). - Die „Pioniere" der nordamerikanischen Religionspsychologie, auf deren Arbeiten sich W . James bereits stützen kann: Gr.St. Hall, J . H . Leuba, Edw.D. Starbuck u.a., werden ausführlich dargestellt und der Theologie bzw. Religionsphilosophie wissenschaftsgeschichtlich zugeordnet von K. Huxel, Psychologie (2000).
§ 13: Religionspsychologie
343
das Problem ebenso zentral wie umstritten, inwieweit überhaupt von religiöser Erfahrung nicht nur subjektiv, sondern - und in welchem Sinne - objektiv, d.h. intersubjektiv überprüfbar gesprochen werden kann. Das religionsphilosophische Interesse liegt natürlich an derselben Stelle, denn was „Erfahrung" ist kann weder ohne kategoriale Voraussetzungen noch ohne angemessene religiöse Phänomenbeschreibungen begründet werden. W. James' Vorlesungen von 1901/02 über Die Vielfalt der religiösen Erfahrung bleiben dafür der klassische Text, denn so sehr James als Psychologe die Pluralität von Erfahrungen demonstriert, so sehr zeigt er am Phänomen des Religiösen (und speziell der Mystik 5 ) die primäre Notwendigkeit einer Einheitsperspektive zur Erschließung der Realität - ein Nachweis, der für den Wissenschafts- wie für den Wahrheitsbegriff konstitutiv ist.6
1. W. James' wissenschaftliche und religiöse Fragestellung W. James ist seiner wissenschaftlichen Position und seiner Lebenseinstellung nach Psychologe und Philosoph zugleich, auch wenn das in den veröffentlichten Schriften nicht immer so dokumentiert ist und eher wie ein Nacheinander aussieht. Entsprechendes gilt für die Thematik des Religiösen, die James von Jugend auf beschäftigt und seine Lebenskrisen und wissenschaftlichen Positionsverschiebungen zumindest mit bestimmt, während in seinen Hauptwerken auch hier ein geradezu demonstratives Nacheinander auffällt: Im psychologischen Hauptwerk, den Principles of Psychology (1890), fehlt nämlich das Exempel religiöser Erfahrung völlig, während es im Spätwerk zum zentralen Thema avanciert. 7 In dem für die Religionsphilosophie berühmtesten Text, James' Vortrag The Will to Believe8, kann er zu Beginn sogar provozierend wie folgt einsetzen: Ich habe „heute abend so etwas wie eine Predigt über die Rechtfertigung durch den Glauben mitgebracht ich will sagen: einen Essay zur Rechtfertigung des Glaubens [justificati-
5 6
7
8
S. § 12.2. Vgl. E. Herms, Nachwort (1982); M. Jung, H. Deuser, in: M. Jung/M. Moxter/Th.M. Schmidt, Religionsphilosophie (2000), 144ff., 151-164; H. Deuser, Pragmatismus und Religion (2000); K. Oehler: James, in: RGG4 4 (2001), 367. Vgl. E. Herms (1982), 517; D.M. Wulff (1991), chap. 10; S. Heine (2005), Kap. 4. - In den Principles of Psychology, vol. I (1981), ist allerdings als Nahtstelle zur Religionsphilosophie besonders das Kontinuum der Selbsterfahrung (Chap. IX: „The Stream of Thought") zu beachten. S. § 12.2, Anm. 46.
344
IV. Das Relative: Explikationen von Religiosität
on of faith], eine Verteidigung unseres Rechts, in religiösen Fragen uns auf den Standpunkt des Glaubens [believing attitude] zu stellen, auch wenn unser rein logischer Intellekt sich nicht dazu gezwungen sieht."9 - Wie aber passen diese beiden Seiten zusammen? Wie kann es gelingen, zugleich Empirist und religiös zu sein? Die 1. Vorlesung der Gifford Lectures beginnt mit der für James' Fragestellung charakteristischen Uberschrift: „Religion und Neurologie". Darin schwingt etwas mit von dem Verdacht, Religionspsychologie könnte bloß dazu dienen, Religion auf Nervenkrankheit oder rein physiologische Bedingungen zu reduzieren. Diese szientistische Religionserklärung, die einen für das 19. Jh. - z.B. für S. Freud10 - typischen Determinismus zur Anwendung bringt, identifiziert James im Verlauf dieser 1. Vorlesung als „medizinischen Materialismus" und gibt dafür als Beispiel: „Medizinischer Materialismus schließt mit dem heiligen Paulus ab, indem sie [sc. diese Denkweise] seine Vision auf der Straße nach Damaskus eine Entladung aufgrund einer Läsion des Sehzentrums nennt: Paulus sei ein Epileptiker gewesen."11
Im Gegensatz dazu will James zeigen, dass religiöse Gefühle als Uberzeugungen (beliefs) gerade nicht mit ihren möglicherweise körperlichen Entstehungsanlässen identifiziert, d.h. nicht negativ (weg-)erklärt werden dürfen, obwohl er als Psychologe die psychophysischen Vermittlungen gerade nicht bestreitet. Die Argumentation ist also von dem Raster, nach dem wir häufig zu urteilen gewohnt sind: entweder szientistischer, positivistischer Reduktionismus - oder idealistischer, illusionistischer Offenbarungsglaube, klar unterschieden. Die verzerrte Blick9 10
W. James (1979), 13; dt. (1975), 128. Freuds Religionskritik bezieht sich nicht auf W. James, die beiden haben sich zwar 1909 während eines Kongresses in den USA getroffen (vgl. S. Heine [405], 149), bleiben aber unabhängig voneinander. Freud hat in seinen späten Arbeiten an religionsgeschichtlichem Material zumindest die Parallelität von Zwangsneurose und Religion nachweisen wollen (vgl. Totem und Tabu [1913], Ges. Werke Bd. IX), und er hat am kausalen Zusammenhang von Triebstrukturen und Krankheits- bzw. Kulturphänomenen immer festgehalten. Ob diese Einschätzung nur ein Selbstmissverständnis aufgrund einer ungebrochen positivistischen Wissenschaftsauffassung darstellt und ob Freuds kultur- und religionskritische Analysen nicht einer anderen und produktiveren Hermeneutik zugehören - beide Fragen sind aus heutiger Sicht naheliegend, vgl. E. Herms, Funktion (1982), 215ff.; P. Ricoeur (1969), 252: „strenggenommen gibt es für Freud keine Geschichte der Religion: sein Thema ist die Unzerstörbarkeit ihrer Ursprünge. Die Religion ist der Ort, wo sich die dramatischsten Gefühlkonstellationen als unüberwindbar erweisen".
11
W. James (1997), 46 (vgl. engl, in: James [1985]).
345
§ 13: Religionspsychologie
richtung des Wegerklärens wird schon im Ansatz und mit einem schlagenden Beispiel korrigiert: „In Naturwissenschaften und im Bereich der Technik passiert es nie, dass jemand versucht, bestimmte Ansichten mit dem Hinweis auf die neurotische Verfassung ihres Autors zu widerlegen. Individuelle Meinungen werden grundsätzlich durch Logik und Experiment überprüft, ganz gleich, zu welchem neurologischen Typ ihr Verfasser zählt. Mit religiösen Meinungen sollte es nicht anders sein. Ihr Wert kann nur durch spirituelle Urteile bestimmt werden, die sich auf sie selbst richten; durch Urteile, die sich primär auf unser eigenes unmittelbares Gefühl stützen und sekundär auf das, was wir aufgrund ihres Erfahrungszusammenhanges mit unseren moralischen Bedürfnissen und allem anderen, was wir für wahr halten, bestätigen können. Kurz: Unmittelbares Einleuchten, philosophische Verständlichkeit Nützlichkeit sind die einzigen brauchbaren Kriterien." 12
und
moralische
James ist ein positivismuskritischer Empirist.13 Die auf D. Hume zurückgehende strikte Unterscheidung von Sein und Sollen nimmt er auf in den methodischen Schlüsselfragen: „Was ist die Natur des Gegenstandes? [...]", und: „Was ist die Wertigkeit, die Bedeutung oder der Sinn eines Gegenstandes in seiner jetzigen Gegebenheit?" Diese Unterscheidung von „Existenzurteil" und „Werturteil" hat hier aber nicht den Sinn, daraus zwei getrennte Welten entstehen zu lassen.14 Es geht nicht um einen methodischen Dualismus, sondern um einen einheitlichen Erfahrungsbegriff, den James selbst im Programm des „Radical Empiricism" zu fassen sucht: Aus dem Begriff der Erfahrung ist nichts auszuschließen, was direkt erfahrbar ist.15 Emotionen und Uberzeugungen können insofern auf derselben Ebene stehen wie wahrgenommene empirische Gegenstände. Dann aber entfällt der rationalistische ebenso wie der medizinisch materialistische Verdacht gegenüber der (allenfalls als illusionistisch einzustufenden) religiösen Erfahrung: „Wenn wir denken, bestimmte Geisteszustände seien anderen überlegen, tun wir das jemals, weil wir etwas über ihre körperlichen Ursprünge wissen? Nein! Es geschieht stets aus zwei ganz anderen Gründen. Es geschieht entweder, weil wir ein unmittelbares Gefallen an ihnen finden; oder weil wir überzeugt sind, dass sie positive Auswirkungen auf unser Leben haben." 16
Die utilitaristische Tradition des englischen Empirismus kommt hierin ebenso zum Tragen wie die von James propagierte Philosophie des 12
James, aaO. 51.
13 14
Vgl. E. Herms, Nachwort (1982), 508. James, aaO. 39f.; vgl. Herms, aaO. 512ff.
15
Vgl. K. Oehler (2000), 9f.; E. Herms (1977).
16
James, aaO. 48.
346
IV. Das Relative: Explikationen von Religiosität
Pragmatismus·. Was als wahr eingestuft werden will, muss mit den ursprünglichen Interessen und der Brauchbarkeit im Rahmen menschlicher Erfahrungen in genuinem Zusammenhang stehen können. Das „empirische Kriterium" lautet dann: „An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen, nicht an ihren Wurzeln." 17 Das Zitat aus der Bergpredigt (vgl. Mt 7, 16-20) steht hier für die philosophische Einstellung, dass die Wahrheit nicht ideal, d.h. abstrakt gegenüber dem Erfahrungswissen, vorausgesetzt werden kann, sondern sich im Handlungs- und Lebenskontext herausstellen wird. Was wahr ist, wird sich zeigen; und zu diesem Prozess gehören Uberprüfung und Korrektur ebenso wie der immer neue Ausgangspunkt religiöser Gewissheit im Lebensentwurf. Die calvinistische Tradition des Begriffs der Heiligkeit wird wissenschaftstheoretisch fruchtbar gemacht.18
2. Die Definition von Religion Aus dem lebenspraktischen Interesse an religiöser Erfahrung folgt, dass James Religion nicht eingeschränkt, operational eng definieren kann. Dann müsste er sich von der Fülle der Phänomene wieder lossagen. Außerdem ist er sich darüber im Klaren, dass es eine ganze Palette von konkurrierenden Ansätzen gibt, Religion zu beschreiben.19 Es kann von den unterschiedlichsten Gefühlslagen und Zuständlichkeiten ausgegangen werden Qames nennt hier: Abhängigkeit, Furcht, Geschlechtsleben, Unendliches), um daran zu zeigen, was Religion sei; schließlich könnte Religion auch von ihrem institutionellen Charakter her angegangen werden oder von ihren geschichtlichen Frühformen wie Fetischismus und Magie. Doch all dies träfe längst nicht den entscheidenden Punkt, der im Interesse der Religionspsychologie für James allein generalisierungswürdig ist, „die persönliche Religion" 20 : „Daher soll Religion in dem willkürlichen Sinne, in dem ich sie jetzt aufzufassen bitte, für uns bedeuten: die Gefühle, Handlungen und Erfahrungen von einzelnen
17
AaO. 53; s. §9.3.1, Anm. 80.
18
Vgl. die Vorlesungen (XI, XII, XIII) zum Thema „Heiligkeit", in: James, aaO. 273-335; E. Herms, Nachwort (1982), 489ff.; 506: „Die Tradition der auf Erfahrung drängenden neuzeitlichen Erweckungsfrömmigkeit, die (in verschiedenen Schulen ausgearbeitete) Leitthematik der neuzeitlichen Metaphysik und das Fundament der positiven Wissenschaft werden zusammengeschaut."
19
James, aaO. 60ff. (Vorlesung II).
20
AaO. 62; das folgende Zitat 63f.
§ 13: Religionspsychologie
347
Menschen in ihrer Abgeschiedenheit [solitude], die von sich selbst glauben, dass sie in Beziehung zum Göttlichen stehen." (1) Dass Religion hier mit Gefühl und Persönlichkeit unmittelbar verbunden gesehen wird - und nicht mit Lehre und Bekenntnis, Kirche, Kult und Ritualen - , ist typisch für das protestantische 19. Jh.: Religiosität begründet sich gegen die Religionskritik (der Aufklärungstradition 21 ) als Gefühlsreligion, nicht in objektiven Gegebenheiten. Die deskriptiv uneinholbare Gefühlsbestimmtheit eines einzelnen Menschen, seine je eigene Situation genießt dann einen Vorrang, auf den sich zu beziehen durchaus nicht „willkürlich" ist; das scheint nur so gemessen an den bekannten wissenschaftlichen (historischen, institutionellen, philosophischen) Kontexten, in denen Religion bis dahin - überwiegend kritisch - diskutiert wurde. (2) Bemerkenswert ist, dass das persönliche Gefühl unmittelbar zusammen gesehen wird mit „Handlungen und Erfahrungen". Darin k o m m t die - gegenüber der dt. Tradition eigenständige - Zugangsweise des Pragmatismus zum Ausdruck: Innerlichkeit und Frömmigkeit werden in Handlungskontexten erkennbar. Schleiermachers Reden hatten die Religiosität eindeutig abgegrenzt nicht nur gegenüber der Metaphysik (dem stimmt James selbstverständlich zu), sondern auch gegenüber der Moral. 22 James sieht das Gefühl (der Gewissheit, der Uberzeugung, des Gottesglaubens) gerade im Blick auf die Bewährung in Handlungen, und beides im Zusammenhang von Erfahrungen. (3) James' Religionsdefinition hat eine deutliche Aufnahme und Parallele bei A . N . Whitehead gefunden: „Religion ist das, was das Individuum aus seinem eigenen Solitärsein macht [...]; und wer niemals solitär ist, der ist niemals religiös." 23 Was also Gefühl, Handlung und Erfahrung bündelt auf das hin, was wir eine religiöse Situation nennen können, das ist die Einsamkeit. Nicht ein sozialer Krisenfall, sondern die prinzipielle Selbstbegegnung, ganz auf sich zurückgeworfen zu sein in der 21
S. § 9.1 u. § 10.3; vgl. H . Joas (1999), 73f. (im Hinweis auf Parallelen zu Schleiermacher und Dilthey).
22
S. § 10.3, A n m . 74; vgl. aber bereits Kierkegaards ausdrückliche Verbindung von Religiosität mit Entscheidung und Handlung, s. § 9.2.2, A n m . 65. - D e n Handlungszusammenhang in James' Religionsdefinition zu betonen heißt nicht, Religion und Moral wären in ihren Handlungsbegründungen analog; im Gegenteil, Moral schränkt ein, Religion inspiriert; vgl. Joas, aaO. 78f.
23
A. N . Whitehead (1985), 15f., vgl. 39; s. § 11.2.2, A n m . 84.
348
IV. Das Relative: Explikationen von Religiosität
Umkehrung der Richtungsaktivierungen, die menschliches Wollen auf Welt und Realisierung hin sonst einzuschlagen gewohnt ist. Mit dieser Situation konfrontiert zu sein und umzugehen - das ist Religion. James' definierende Beschreibung von Religion entdeckt damit die Ausarbeitung von Kreativität (des einzelnen Menschen vor sich selbst) als Ursprungsort religiöser Bestimmungsleistungen.24 (4) Problematisch an James' Definition ist vor allem, wie das Verhältnis zum „Göttlichen" verstanden werden soll. Denn voraus gegangen war, dass zugunsten der rein „persönlichen Religion" weder die „kirchliche Organisation" noch „die systematische Theologie und ihre Gottesbegriffe" näher interessieren.25 Es handelt sich also weder um eine strikt neutral gehaltene religionswissenschaftliche Beschreibung noch um eine theologisch-dogmatische, die die Religion bzw. eine bestimmte religiöse Gemeinschaft von innen zu erschließen versucht; und die Abkehr von beidem bedeutet keineswegs Agnostizismus, Skeptizismus, Rationalismus oder irgendeine andere weltanschaulich geprägte Parteinahme. Allein die religiösen Phänomene selbst sollen rückhaltlos ernst genommen werden, ihre innere Konsequenz, ihre ganz persönliche, intime Erfahrung; und dieses radikale Interesse an Erfahrung bringt es auch mit sich, dass James nicht zurückhaltend ist bei dem, was er an Beispielen auswertet und vorführt. Je kurioser das Phänomen (Bekehrungserfahrungen, Telepathie, Heiligkeitsaskese, mystische Zustände etc.), desto besser. Das Normale, Angepasste, Bürgerliche erscheint als langweilig und nicht aussagekräftig, während das Uberragende, Extreme, Aus-dem-Rahmen-Fallende allein der psychologischen Studienarbeit wert ist. Religion nun gerade so zugänglich zu machen, das hat James mit L. Wittgenstein gemein, der in seinen Gesprächen über Religion z.B. dies zu bedenken gibt:
24
25
Freuds Religionsbegründung könnte dazu analog interpretiert werden, wäre da nicht die Sperre, dass Wünsche, Identifizierungen und Idealisierungen allesamt aus Verdrängungen, Verbotszwängen, Vatermord etc. erklärt werden müssen (exemplarisch in Der Mann Moses und die monotheistische Religion [1937/39], Ges. Werke Bd. XVI, 101-246; vgl. P. Ricceur [1969], 254: „Die Anzahl der gewagten Annahmen dieses Buches ist eindrucksvoll."), dass also ausschließlich negative Ursprünge die religiös-kulturelle Kreativität dominieren; vgl. J. Disse (2007), 164ff. - Immerhin ist es die persönliche, einzelne Krisensituation, der in der psychoanalytischen Traumdeutung Sprache gegeben und damit zur Bearbeitung verholfen wird, vgl. B. Boothe (2005). James, aaO. 62.
§ 13: Religionspsychologie
349
„Ein österreichischer General hat einmal zu jemandem gesagt: ,Ich werde nach meinem Tode an Sie denken, falls das möglich sein sollte.' Wir können uns vorstellen, wie eine Gruppe von Menschen dies lächerlich findet, eine andere nicht. (Während des Ersten Weltkrieges beobachtete Wittgenstein, wie Hostien in stahlgepanzerten Gefäßen transportiert wurden, und ihn berührte die Lächerlichkeit einer solchen Prozedur.) Wenn jemand an das Jüngste Gericht glaubt und ich nicht, heißt das, dass ich das Gegenteil dessen glaube, was er glaubt, nämlich dass es so etwas nicht geben wird? Ich würde sagen: ,Ganz und gar nicht, oder nicht in jedem Falle!'" 26
Worauf Wittgenstein damit hinaus will, das ist die Unterscheidung von verschiedenen Sinnrichtungen: Religiös sprechen wir nicht wie über Alltägliches oder empirische Fakten; religiös gesehen spielt der je eigene Lebensentwurf mit, rationalistisch gesehen ein gänzlich unbegründbarer Glaube, für den es gerade keine Beweise geben darf.27 Deshalb das Aufsuchen der religiösen Extremformen (konkret gedachte Auferstehungshoffnung oder das Jüngstes Gericht), denn diesem Ernst gegenüber gilt der überraschende, lakonische und das Herz berührende Satz: „,Für einen Fehler ist das einfach zu enorm.'"28 Eine persönliche Lebenseinstellung - und diese vor allem drückt sich im religiösen Glauben aus - verdient Achtung. James bringt sie in gleicher Weise der religiösen Erfahrung entgegen: „Religion ist, was immer sie noch sein mag, die Gesamtreaktion eines Menschen auf das Leben. Warum sollte man daher nicht sagen, dass jede Gesamtreaktion auf das Leben eine Religion ist?" 29
Daraus folgt nun allerdings, dass tatsächlich alle Menschen religiös sind, sofern eine solche „Gesamtreaktion" unvermeidlich erfolgen muss - zu unterschiedlichen Zeiten und in verschiedenen Graden freilich, vom Extrem bis zur Unkenntlichkeit. In diesem weiten Erfahrungsfeld jedenfalls will James sich bewegen, und deshalb hat die persönliche Religiosität den Vorrang des Interesses. In Anknüpfung an die Unbedingtheit der Religiosität gesagt: James respektiert Erstheit und Gefühlsqualität30, dafür sind die Phänomene des Religiösen nicht nur exemplarisch, sondern originär, weil sie den intimsten Kern der persönlichen Erfahrung in Selbst-Erfahrungen zum Ausdruck bringen. Zur Auszeichnung dessen aber bedarf es offenbar der Relation zum Göttlichen. 26 27 28 29 30
L. Wittgenstein, Vorlesungen und Gespräche (1971), 87; s. § 1.4.1, Anm. 43. AaO. 88-91. AaO. 98f. James, aaO. 67. S. § 10.2.
350
IV. Das Relative: Explikationen von Religiosität
(5) James' weit gefasste „Gesamtreaktionen auf das Leben" ist nicht ohne immanente Wertungen. Die Intention des religiösen Erfahrungsausdrucks ist „ernsthaft" in dem Sinne 31 , dass Selbstgefälligkeit, Ignoranz, Ironie, Weltdistanz aus Uberlegenheitsgefühl oder das weisheitliche „Alles ist eitel" doch eher nicht als genuin religiös angesehen werden können. Diese Abwehr gilt auch für eine (religionskritische) Polemik, wenn sie sich zur Lebenseinstellung verfestigt. James nennt Voltaire, Schopenhauer und Nietzsche 32 , denen gegenüber folgende Grenzziehung gilt: „Es muss etwas Feierliches, Ernsthaftes und Zartes über jeder Haltung liegen, die wir religiös nennen. Wenn sie fröhlich ist, darf sie nicht grinsen oder kichern; ist sie traurig, darf sie nicht schreien oder fluchen." 33
Das muss keineswegs bedeuten, dass die religiöse Äußerung auf biedere Wohlanständigkeit beschränkt würde; im Gegenteil, James sucht ja gerade den besonderen, extremen Ausdruck. Doch Religiosität kann nicht in sich selbst destruktiv sein, das widerspräche ihrer eigenen Grundlage: der persönlichen Integrität. Hieraus ergibt sich auch die spezifische Differenz zur Moral, denn Religiosität zielt nicht auf Gelingen und Leistung, sondern sie ist eine „Art höherer Gefühlserregung". 34 Ihre Stärke liegt darin, dass sie menschliches Elend meistert, indem sie tröstet - und unter diesem Aspekt ist die Wahrheit über die Menschen am besten über ihre negativen Seiten zu diagnostizieren: „Die Gesündesten und Besten von uns sind aus ein und demselben Stoff wie Geisteskranke und Gefängnisinsassen, und der Tod wird auch die Kräftigsten unter uns niederstrecken. Und immer, wenn wir dies spüren, überkommt uns bezüglich unseres Vorwärtsdrangs ein solches Gefühl von Vergeblichkeit und Vorläufigkeit, dass unsere ganze Moral wie ein bloßes Pflaster erscheint, das eine schwelende Wunde überdeckt, die es nicht heilen kann, und alles Gute, das wir tun, erscheint wie ein äußerst hohler Ersatz für jenes Gut-Sein, auf dem unser aller Leben begründet sein sollte, aber - leider Gottes! - nicht ist." 31
31 32
33 34 35
James, aaO. 68-71. Vgl. aaO. 70f.: „nach unserem normalen Sprachgebrauch verliert Schwermut jeglichen Anspruch auf den Titel religiös, wenn der Leidende - um es in Marc Aurels kernigen Worten zu sagen - einfach nur daliegt, um sich schlägt und schreit wie ein Schwein, das geopfert wird." - Zur Fortsetzung des Zitats s. § 8.3.2, Anm. 154. AaO. 71. AaO. 79. Ebd.
§ 13: Religionspsychologie
351
Diese Passage hat nun zweifellos den Rang des Moosbrugger-Motivs in R. Musils Mann ohne Eigenschaften·. Das Humane zeigt sich gerade auch in seiner gesellschaftlichen Umkehrung, wo wir nicht mit ihm fertig werden. 36 Die religiöse Erfahrung widerspricht hier nicht, sondern ihr gelingt die Übertragung: „Es gibt einen Bewusstseinszustand, den ausschließlich religiöse Menschen kennen, in dem an die Stelle unseres Selbstbestätigungs- und Selbstbehauptungswillens die Bereitschaft tritt, zu verstummen und zu einem Nichts zu werden in den Fluten und Orkanen Gottes."17
Die mystische Sprache ist hier die einzig mögliche 38 - ob das Phänomen aber physiologisch („als ein Geschenk des Organismus") oder theologisch erklärt werden muss, bleibt hier noch in der Schwebe. 39 James gibt zunächst vorwiegend Beschreibungen, auf die die Gesamtbewertung im Sinne des radikalen Empirismus aber folgen muss.
3. Religiöse Typologisierung Religiöse Phänomene und Erfahrungen haben einen „persönlichen Wert". 40 U m diesen richtig einzustufen, gibt James in den großen Kapiteln über Bekehrung, Heiligung und Mystik breit angelegte Beispielanalysen aufgrund von Dokumenten. Deren religionsphilosophische Beurteilung schließt dann die Vorlesungsreihe ab.41 Diese Überlegungen bauen aber nicht nur auf die schon besprochenen methodischen und wissenschaftstheoretischen Grundlegungen der Einleitungskapitel, sondern auch auf eine ebenso fundamentale Typologisierung 42 , in der die eigentliche Begründung für das produktive Zusammenspiel psychologischer, philosophischer und theologischer Perspektiven bereits zu finden ist. Denn tatsächlich, James beschreibt bevorzugt die „religiösen Virtuosen" 43 , d.h. die problematischen Fälle; offenbar deshalb, weil bei 36 37
38 39 40 41 42 43
Vgl. R. Musil (1996), Kap. 18 u.ö. James, ebd. - Der Begriff der Übertragung wird hier nicht psychoanalytisch im Sinne projektiver Illusionsmechanismen verstanden (vgl. J. Disse [2007], 169ff.; zum Begriff der Projektion P. Ricoeur [1969], 247ff.), sondern metaphorisch im Sinne der Entdeckung ursprünglicher Möglichkeiten, s. § 10.2.3. S. § 12.2. James, aaO. 80. AaO. 338. Vgl. die Vorlesungen XVIII-XX u. das Nachwort. Vgl. die Vorlesungen IV-VIII; dazu D.M. Wulff (1991), 485ff. F. Wagner (1986), 243.
352
IV. Das Relative: Explikationen von Religiosität
ihnen am deutlichsten wird, dass es persönlicher Religiosität nicht um abstrakte Annahmen geht, sondern um eine Gefühlswirklichkeit „in Gestalt quasisinnlicher Realitäten, die unmittelbar wahrgenommen werden."44 Diese nun können in umso kräftigeren Farben und Konturen beobachtet werden, je härter die persönliche Konfliktlage ist, in der die heilende Kraft religiöser Erfahrungen sich Geltung verschafft. Insofern ist die folgende Typologisierung selbst bereits ein Argument für die reale Kraft religiöser Uberzeugungen. (1) Die Religion des gesunden Geistes („healthy-mindedness")45 lebt aus einem unmittelbaren „Glücksgefühl"46, sie hat etwas Naives, Ungebrochenes, Menschliches und Natürliches. Das Böse in der Welt wird dabei durchaus nicht ignoriert, aber es ist immer schon aufgefangen, eingerahmt und kann folglich nicht bis zur inneren Verzweiflung an sich und der Welt vordringen. Auch alle Formen von oberflächlich vermittelten (quasi-)religiösen Glücks- und Heilungsgefühlen, wo immer deren Traditionen im Einzelnen herkommen, fallen unter diesen Typ. Was James zu seiner Zeit als „Mind-cure-Bewegung" identifiziert, hat bereits die Züge dessen, was heute unter dem Sammeltitel Esoterik bekannt ist47: Spirituelle Hygiene als Problemlösung; Furcht und Hölle
44
James, aaO. 95.
45
W . James (1997), llOff. - E . Herms, Nachwort (1982: d.h. in der ursprünglichen Ubersetzung von James [1997]), hatte mit „Religion der robusten Geistesart" übersetzt. Zur Parallelität dieser Typologisierung mit dem Religionskapitel in W . James' Pragmatismus-Vorlesung (1903) vgl. H . Deuser, Pragmatismus und Religion (2000), 197f.
46
James, ebd.
47
A a O . 125ff. - Aus der Fülle der Belege hier nur ein schlagendes Beispiel, zusammen mit James' kritischer (theologischer) Interpretation: „Eine Geschichte, die häufig von Erweckungspredigern erzählt wird, handelt von einem Mann, der bei Nacht auf einem Hang ins Rutschen k o m m t und in einen Abgrund zu stürzen droht. I m letzten Moment bekommt er einen Zweig zu fassen, an dem er sich in seiner N o t stundenlang festklammert, bis auch seine Finger sich nicht mehr halten können, und er sich mit einem verzweifelten Schrei vom Leben verabschiedet und fallen lässt. E r fällt ganze sechs Zoll tief. Hätte er den Kampf früher aufgegeben, wäre ihm der Todeskampf erspart geblieben. So wie ihn die Mutter Erde aufnahm, so - sagen uns die Prediger - werden uns die ewigen Arme auffangen, wenn wir ihnen nur absolut vertrauen und uns abgewöhnen, uns auf unsere persönliche Kraft zu verlassen [...]. Die Mind-curer haben für diese Art von Erfahrung den größtmöglichen Rahmen geschaffen. Sie haben bewiesen, dass eine bestimmte F o r m der Erneuerung durch Entspannung und durch Gelassenheit, die psychologisch von der lutherischen Rechtfertigung durch den Glauben und dem Wesleyschen Annehmen der freien Gnade nicht
§ 13: Religionspsychologie
353
sind dazu da, glatt überwunden zu werden; ursprünglich religiöse Lebensorientierungen werden zu Optimierungsstrategien, um dem säkularen Individuum zu helfen, die grauen Schleier von der Wirklichkeit wegzuziehen. So gesehen meint „gesund" einfach „Dickfelligkeit". 48 Entscheidend ist dabei für James' Einstufung solcher Oberflächentherapien, dass sie in gleicher Weise „theistische, pantheistisch-idealistische oder medizinisch-materialistische" Erklärungen finden können. 49 D.h. die unterschiedlichen Theoriekontexte werden nivelliert gegenüber dem psychologischen Effekt, und deshalb ist die „Religion des gesunden Geistes" so wenig aussagekräftig. (2) Die Religion der kranken Seele („sick soul") dagegen beginnt mit der Theodizee-Problematik 30 : Ist das Übel in der Welt nur ein vorübergehender Defekt, oder zeigt sich hier ein prinzipieller Fehler der menschlichen Natur? „Was ist das für eine Verfassung, von der man bestenfalls sagen kann: ,Gott sei Dank, diesmal bin ich noch unversehrt davongekommen!' Ist ihr Segen nicht eine brüchige Fiktion? Ist deine Freude darüber nicht eine sehr plumpe Schadenfreude, vergleichbar dem Gekicher eines erfolgreichen Gauners?" 5 1
Die Religion reagiert hierauf mit äußerster Sensibilität, sie geht in die tiefste Melancholie hinein, bis ins Pathologische: „es gibt eine Steigerung des Unglücks, die so weit geht, dass die natürlichen Güter vollständig aus dem Bewusstsein verschwinden.'" 2 James gibt ausführliche Berichte zu L. Tolstois Lebensbeschreibungen, die zeigen, wie die „kranke Seele" niedergedrückt wird und trotzdem aufersteht. Daraus ist zu folgern: Die kranken Seelen müssen „zweimal geboren werden". 33 Ihre Empathie mit dem Schicksal der Welt und der Menschen, ohne etwas zu überspielen, erscheint wahrer als die robuste Oberflächenform des „gesundes Geistes". Die ernsthafte Religiosität kann geradezu daran gemessen werden, wie weit sie sich auf diesen Riss - dessen Abunterschieden werden kann, auch für Menschen erreichbar ist, die kein Sündenbewusstsein haben und sich überhaupt nicht um lutherische Theologie kümmern. Es geht allein darum, das eigene kleine, private, verkrampfte Selbst zur Ruhe kommen zu lassen und festzustellen, dass ein größeres Selbst da ist" (aaO. 140f.). 48
A a O . 123.
49
A a O . 141.
50
A a O . 155ff.
51
A a O . 161.
52
A a O . 168.
53
A a O . 188; 172ff.
354
IV. Das Relative: Explikationen von Religiosität
bild die kranke Seele ist - wirklich eingelassen hat.34 - Es ergibt sich also für die religiöse Typologisierung: Die Religion des gesunden Geistes ist von Natur optimistisch gestimmt, vital, einmal geboren, und sie meistert das Leben geradlinig; die Religion der kranken Seele dagegen ist von Natur pessimistisch, im inneren Konflikt, zweimal geboren, und sie meistert das Leben immer nur auf Umwegen. Die beiden Typen stehen nicht symmetrisch zueinander, sondern allein dem zweiten Typ, der kranken Seele, ist die als „mystisch" zu bezeichnende Erfahrung der Einheit vorbehalten: „keine Erleichterung ist so groß wie die, die in religiöse Formen gegossen ist. Glückseligkeit!"33 (3) Freuds Erklärungen religiöser Konfliktlagen erscheinen auf den ersten Blick gegenläufig, weil ein negativ akzentuiertes Erklärungsschema greift, dem das erklärte Phänomen ersatzlos zum Opfer fällt.56 Religion selbst besäße also kein Existenzrecht, wären die Betroffenen nur vorweg schon aufgeklärt genug. Exemplarisch ist dafür Freuds abfertigende Behandlung des „religiösen Erlebnisses", von dem ihm (in missionarischer Absicht) ein amerikanischer Arzt berichtet hatte37: Eine Sinnkrise (Theodizee-Problem), ausgelöst in der Pathologie beim Anblick einer „lieben alten Frau", wird gelöst durch eine Gottesoffenbarung („eine Stimme in meiner Seele"). - Zur Diskussion steht hier nicht, wie existentiell tiefgründig oder oberflächlich dieses Zeugnis zu bewerten ist, sondern nur Freuds automatisches Erklärungsmuster ohne Rest: Die alte Frau ist die Mutter; Gott der Vater, der erst getötet wird, dem dann aber die „völlige Unterwerfung" gilt; kurz: eine „halluzinatorische Psychose" erklärt, was das „Schicksal des Ödipuskomplexes" schon „vorherbestimmte"! - Fraglich bleibt, ob Sinnkrisen und Lebensorientierungen auf diese Weise wirklich ernst genommen werden können. Auch von James aus gesehen muss keineswegs der psychologische Auslegungsvorgang als solcher bestritten werden: In Krisen kommt zuvor nicht bewusst Gewesenes zum Ausbruch, und eine Bekehrungserfahrung wäre dann in ihren Elementen (Träumen, Bildern,
54
Vgl. aaO. 187: „Die vollständigsten Religionen würden deshalb die sein, in denen die pessimistischen Elemente am besten entwickelt sind. A m besten bekannt sind uns davon selbstverständlich der Buddhismus und das Christentum. Sie sind dem Wesen nach Erlösungsreligionen: Der Mensch muss dem unwirklichen Leben sterben, bevor er zum wirklichen Leben geboren werden kann."
55 56
AaO. 197. Zur Problematik religionskritischer Erklärungen s. § 1.1 (zu psychologischhistorischen Erklärungen in der Moderne) u. § 8.3.2. S. Freud, Ein religiöses Erlebnis (1928), in: Ges. Werke Bd. XIV, 393-393.
57
§ 13: Religionspsychologie
355
Stimmen, Geschichten, Symbolen) zu interpretieren auf das hin, was lebensdienlich ist und anders gar nicht darstellbar wäre. Die Erklärung also sollte konstruktiv ausfallen, gerade dann wäre sie der Ausgangstheorie von der Rolle des Unbewussten gemäß, und das ergäbe eine produktive Religionspsychologie. Freud könnte zumindest - und auf den zweiten Blick - auch so verstanden werden. 38 Träume indizieren „Wunscherfüllungen", aber nicht nur in rückwärtiger Analyse, wie E. Bloch eingewandt hat, sondern auch als „Tagträume" nach vorne, in die aktive und nicht mehr zwanghafte Gestaltung einer neuen Welt. 59
4. Pragmatistische
Funktion der Religion
James' Vorlesungen sind zu verstehen als Apologie des gleichberechtigten physiologischen wie theologischen, psychologischen wie philosophischen Bezugs auf denselben „Sachverhalt": Dass in persönlichen (existentiellen) Krisen die Realität von Heilung einheitlich erfasst wird, dass „das neue Energiezentrum im persönlichen Unterbewusstsein [subconsciously]" erscheint und wirksam wird. 60 Was psychologisch gesehen hier geschieht, lässt sich im Falle von Bekehrungen beschreiben als das Ereignis eines sprunghaften und entscheidenden Wechsels: Was bisher „peripher" für das Bewusstsein eines Menschen war, steht plötzlich im Zentrum. Das „gewohnheitsmäßige Zentrum"' der „persönlichen Energie" eines Menschen wird ausgetauscht, und es sind „religiöse Ziele", die jetzt ins Zentrum treten. 61 Dass dies in wissenschaftlich geprägten Zeiten seltener auftritt oder als abwegig gilt, liegt nur daran, dass die Menschen verlernt haben, „von ihren Instinkten Gebrauch zu machen." 62 Denn was genau vor sich geht, wenn aus den Rändern des Bewusstseins das Zentrum neu bestimmt wird, entzieht sich gerade 58
59
60 61 62
Vgl. P. Ricoeur (1969), 504: „Schließlich muss man, in umgekehrter Richtung zur regressiven Bewegung, deren Theorie die Psychoanalyse aufstellt, eine Fähigkeit zur Progression voraussetzen, die von der analytischen Praxis zwar aktiviert, von der Theorie aber nicht thematisiert wird." - Zu Entdeckung des „Unbewussten" im Gegenüber zu klassischen Subjektivitätstheorien aaO. 430ff. E. Bloch, Prinzip Hoffnung (1967), 85-87; J. Disse (2007), 173, verweist zu Recht auf Blochs Stichwort der „finalen Richtungskraft" (Bloch, aaO. 192) eben den Gedanken einer progressiven Idealisierung, den Freud der Religion (eigentlich ohne stichhaltige Begründung, vgl. Disse, aaO. 171-175) nicht zugestehen will. James, aaO. 228. AaO. 216. AaO. 223.
356
IV. Das Relative: Explikationen von Religiosität
dem steuernden Zugriff desselben Bewusstseins. Hierfür ist die religiöse Erfahrung beispielhaft, und James wählt die Begriffe „unterbewusst" („subconscious") und „subliminal" (eher als „unbewusst" [„unconscious"]) für das, was grenzjenseitig das Bewusstsein doch real beeinflusst bzw. jederzeit beeinflussen kann.63 Für die religionsphilosophische Beurteilung ist entscheidend, dass James aufgrund von Heilung und (mystischer) Einheitserfahrung, die sich aus subliminaler Herkunft erklären, das Unterbewusste nicht für ein Konstrukt hält, sondern physiologisch und ontologisch64 voraussetzt: Das Unterbewusste ist schöpferisch, legt nicht nur Welt aus, sondern gehört in den Prozess der Weltauslegung selbst. Deshalb wird die religionsphilosophische Bewertung psychologischer Sachverhalte zu einer selbständigen Aufgabe. (1) Weil exemplarisch über die persönliche religiöse Erfahrung das Unterbewusste ins Spiel kommen kann und weil vom Unterbewussten die (mystische) Einheitssicht der Wirklichkeit abhängt, deshalb hält James die Realität religiöser Erfahrungen für begründet. Demgegenüber verliert die „wissenschaftliche Haltung" des Zeitgeistes an Uberzeugungskraft65, und dessen Abwertung von Religion und Gottesglaube James spricht von der sich ausbreitenden „Rudimenttheorie"66, d.h. alles Religiöse gilt nur noch als überholte Restbestände vergangener und eigentlich widerlegter Weltanschauungen - sticht nicht mehr, sobald Folgendes eingesehen wird: Die Verallgemeinerungen der Wissenschaften (auf der Basis empirischer Theoriebildungen) bis hin zum Begriff des „Kosmischen" sind und bleiben der Pluralität der Erscheinungen und Methoden ausgeliefert. Diese haben zwar den Vorteil empirischer Vergewisserung und methodischer Uberprüfung, das aber um den Preis des Verlustes an lebensorientierender Uberzeugungskraft. Deshalb haben wir es „mit Realität im vollen Wortsinn' gerade dann zu tun, „sobald wir uns mit privaten und persönlichen Phänomenen als solchen beschäftigen."67 Jetzt erst gewinnt auch die Religionsdefinition68 ihre wirkliche Bedeutung. Die naturwissenschaftlich üblichen Erfah-
63
A a O . 225; vgl. D . M . Wulff (1991), 489f.; S. Heine (2005), 137 (zum Vergleich zwischen James und Freud).
64
Vgl. E. Herms, Nachwort (1982), 518f.; K. Huxel (2004), 338 (zur modernen „Ontologie des seelischen Lebens", die dezidiert keine Suhstanzontologie mehr ist).
65
James, aaO. 481.
66
A a O . 480.
67
A a O . 481.
68
A a O . 63f.; s. § 13.2.
§ 13: Religionspsychologie
357
rungszugänge und Beschreibungen blenden das aus, was im Leben jedes Menschen mindestens so entscheidend ist: das Nadelöhr des ganz und gar Persönlichen. Die eigene Erfahrung mit den Dingen ist durch keine Beschreibung zu ersetzen, die „Speisekarte" ist „keine echte Mahlzeit", und das „Wissen über eine Sache ist nicht die Sache selbst."69 (2) Trotzdem versteht sich James als Empirist, jede dogmatisch oder spekulativ aufgefasste Theologie erscheint indiskutabel. Doch gegenüber den geltenden naturwissenschaftlichen Grenzziehungen verlangt er deren Aufbrechen. James' Empirizismus schließt das Wirken des Göttlichen nicht prinzipiell aus, sondern pragmatistisch und existentiell ein: „Aber genauso wie unser primäres, hellwaches Bewusstsein unsere Sinne für die Berührung durch die materiellen Dinge öffnet, ist es denkbar, dass, wenn es höhere spirituelle Instanzen gibt, die direkt auf uns einwirken können, die psychologische Bedingung dafür, dass sie es tun, ein unterbewusster Bereich sein könnte, der allein Zugang zu ihnen gewährt. Der Lärm des wachen Lebens könnte eine Tür schließen, die im träumerischen Subliminalen angelehnt ist oder offen steht. [...] Aber in jedem Fall müsste der Wert dieser Kräfte nach ihren Wirkungen bestimmt werden, und die bloße Tatsache ihrer Transzendenz würde für sich selbst genommen nicht das Vorurteil begründen, sie seien eher göttlich als teuflisch."70
Der durchgängige Konjunktiv dieser Passage belegt, dass hier Bedingungen von Erfahrung thematisiert werden, die als solche nicht garantiert werden können, die aber auch nicht als bloße Apriorität vor aller Erfahrung abständig zu halten sind, sondern aufgrund von Erfahrungen erst verifiziert werden müssen. Die pragmatistische (kritische) Uberprüfung wird so die heilsame Wirkung religiöser Erfahrungen bestätigen71, ihr theoretischer Status bleibt also immer hypothetisch. In diesem Sinne gehört die Hypothese allerdings zur existentiellen (persönlichen) Erfahrung, und es ist die Existenztheologie S. Kierkegaards gewesen, die bereits 1846 diese dialektische Zuordnung formuliert hat: 69 70 71
AaO. 476, 482. AaO. 258f. Vgl. am Beispiel der Heiligkeit, aaO. 375: „Glück, Reinheit, Nächstenliebe, Geduld, Selbstdisziplin - diese Vorzüge zeichnen den Heiligen in einer Vollständigkeit aus, wie sie größer nicht denkbar wäre. Aber auch alle diese Dinge zusammen machen einen Heiligen, wie wir gesehen haben, nicht unfehlbar. Ist dessen intellektuelle Ausrichtung beschränkt, verkommen sie zu allen möglichen Formen exzessiver Heiligkeit, zu Fanatismus oder theopathischer Versenkung, zu Selbstquälerei, Prüderie, übertriebener Gewissenhaftigkeit, Leichtgläubigkeit und krankhaftem Weltverlust"; s. § 13.2(5).
358
IV. Das Relative: Explikationen von Religiosität
„Auf diese Weise wird Gott freilich ein Postulat, aber [...] so dass das Postulat weit davon entfernt ist, das Willkürliche zu sein, sondern gerade Notwehr ist; so dass Gott nicht ein Postulat ist, sondern das, dass der Existierende Gott postuliert - eine Notwendigkeit ist."72
Ohne existentiellen Ernst, ohne eigene Leidenschaft und Personalität bleibt das Gottesverhältnis eine Denkmöglichkeit; in der religiösen Erfahrung aber gewinnt diese eine Qualität, die in der Hypothese nicht zum Ausdruck kommen kann: Ihre Notwendigkeit stammt nicht aus theoretischem Wissen, sondern aus der Lebenserfahrung. (3) Doch auch dann muss gefragt werden, ob denn der bei alledem in Anspruch genommene Gott real ist oder nicht? Anders gesagt, wie soll der praktische Wert der Religion gemessen werden, „ohne über die reale Existenz Gottes nachzudenken"?73 Die letzten Kapitel der Vorlesungsreihe gelten explizit dieser religionsphilosophischen Schlüsselfrage: „Ist das Empfinden göttlicher Gegenwart ein Empfinden von etwas objektiv Wahrem?74 James' Antwort fällt schwierig aus. Einerseits hält er wiederum fest, dass es der Theologie nicht gelungen ist (und auch nicht gelingen kann), die Objektivität dieser Wahrheit rational zwingend zu machen. Soll aber auf der Basis der religiösen Erfahrung geantwortet werden, so ist eine ganz andere philosophische Einstellung nötig als die der traditionellen (scholastischen, dogmatischen, spekulativen) Theologie, nämlich der „Grundsatz von Peirce, das Prinzip des Pragmatismus." James verwendet diese neue Philosophie allerdings in der vereinfachten Form eines Praxiskriteriums: Wissenschaft sucht Verfahrensregeln, und die ihnen entsprechenden Uberzeugungen und Begriffe beziehen sich auf Handlungskonsequenzen.75 Nun hatte sich Ch.S. Peirce 1877/78 zwar vorübergehend so ausgedrückt76, selbst diese Fassung der pragmatischen Maxime aber nicht als Negation einer realistischen Metaphysik aufgefasst; im Gegenteil: Das Gottesargument von 1908 zeigt dann, wie der Gottesbegriff kategorial und kosmologisch verteidigt werden kann, ohne dem reinen Nützlichkeitskriterium der
72 73 74 75 76
S. Kierkegaard, Unwissenschaftliche Nachschrift, Erster Teil, SKS 7, 183 (Anm.); dt. Ges. Werke, 16. Abtig., 191 (Anm.); s. § 1.4.2, Anm. 48. James, aaO. 337. AaO. 425. AaO. 437f. Vgl. die beiden programmatischen Aufsätze Fixation ofBelief und How to Make Our Ideas Clear, in: EP 1, no. 7/8; dt. in: SP, Nr. 6 u. 7.
§ 13: Religionspsychologie
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persönlichen Erfahrung ausgeliefert zu sein.77 Für James aber liegt der Sinn des Pragmatismus hier allein darin, dass es um „lebendige Religion" 78 gehen muss, nicht um abstrakt gedachte Eigenschaften Gottes. Dann nämlich greift seine Religionsdefinition: „die Sphäre des Gefühls" ist allein entscheidend, denn nur hier geht es um „direkte Erfahrung des Individuums".79 Dann und unter dieser Bedingung kann der religiöse Empirist James durchaus von einer „letzten Wirklichkeit" sprechen, die im religiösen Gefühl und nur dort - ebenso universal wie individuell - gegeben ist.80 Dies allerdings war wohl immer der Gebrauchssinn des Wortes Gott, d.h. einer Beziehungsgröße auf der Basis individuell unabweisbarer Erfahrung; psychologisch gesagt: des Unterbewussten bzw. Subliminalen. Psychologisch, kosmologisch (weil im Kontakt zur Basis aller Realität) und pragmatistisch im Sinne der Lebensorientierung ist dieser Gottesglaube also identisch mit dem „instinktiven Menschheitsglauben": „Gott ist wirklich, weil er etwas Wirkliches hervorbringt." 81 (4) Wird aus persönlicher Religiosität dann nichts anderes als eine psychologisch erklärbare Funktion des menschlichen Bewusstseins? Und warum wäre dies ein Einwand? James' physiologische wie ontologische Verortung der Religiosität in der Basiserfahrung des Bewusstseins zögert nicht, die religiösen Phänomene „zu den wichtigsten biologischen Funktionen der Menschheit zu rechnen." 82 Doch wenn Religion bloß funktioniert, ist sie dann nicht zu einem mehr oder weniger beliebigen Element des Lebensprozesses herabgemindert worden? - James verachtet, wie er immer wieder betont, die rationale Theologie und entsprechende philosophische Positionen der europäischen Tradition, und er empfiehlt eine Art beschreibender Religionswissenschaft („science of religions").83 Doch sein Erfahrungsbegriff deckt sich ja nicht mit der üblichen, tendenziell (medizinisch-)materialistischen Auffassung von empirischer Wissenschaft: James' Religionswissenschaft darf sich „niemals vom konkreten Leben entfernen" 84 , und dieses Leben schließt 77
Vgl. den Text des Neglected Argument, in: EP 2, no. 29; dt. in: RS, Nr. III.6; s. § 1.4.3, Anm. 59ff.
78
James, aaO. 440.
79
AaO. 446.
80
Vgl. aaO. 483.
81 82
AaO. 493. AaO. 486.
83
AaO. 447f.
84
AaO. 448; zum „medizinischen Materialismus" s. § 13.1, Anm. 11.
360
IV. Das Relative: Explikationen von Religiosität
persönliche religiöse Erfahrungen ein! Im heutigen Sinne der Begriffe Religionswissenschaft und Theologie bzw. Religionsphilosophie gehören James' Vorlesungen zumindest ihrer Intention nach gerade nicht nur auf die religionswissenschaftliche Seite.83 Der Funktionsbegriff ist offenbar kein funktionalistischer. (5) Dass James' Religionspsychologie an der Explikation von tät teilnimmt, dass er die Relation zum Unbedingten gerade senschaftlich zur Darstellung und Anerkennung zu bringen zeigt sich zuletzt in einer bildkräftigen Formulierung am Kapitels Philosophie·.
Religiosiauch wisversucht, Ende des
„In jedem lebendigen Akt der Wahrnehmung ist etwas Glitzerndes und Funkelndes, das sich nicht einfangen lassen will und für das die Reflexion zu spät kommt." 86
Reine Funktionalität würde bedeuten, dass der selbständige, allgemeine und reale Status von Religiosität bestritten werden müsste; real wäre allein (empirisch-religionswissenschaftlich gesehen) der Bewusstseinszustand von Menschen, der sich als „religiös" beschreiben lässt: entweder mit den Mitteln traditioneller Religionsauffassung (aus der Sicht der religiösen Menschen selbst) oder mit den Mitteln der Bewusstseinspsychologie, die die beschriebenen Vorgänge tendenziell erklärbar macht. James' religionsphilosophische Beurteilung geht aber gerade nicht diesen Weg. Zwar bleibt seine Abwehr jedes Versuchs einer begrifflichen Bestimmung Gottes bestehen87, doch zugleich gilt der Vorrang der „praktischen Religion", dessen, was „sich nicht einfangen lassen will", des „Glitzernden und Funkelnden", woran James letztlich alles liegt. Dann ist aber nicht mehr zwischen metaphysischer Substantialität einerseits und bloß (religionswissenschaftlicher) Funktionalität andererseits zu unterscheiden, sondern zwischen traditioneller Substanzmetaphysik, die James wie jede rationale Theologie ablehnt, und einer neuen pragmatistischen Funktionsbestimmung von Religion, die mit dem Funktionsbegriff selbst wissenschaftstheoretische Verallgemeinerungen keineswegs ausschließt. Dass religiöse Erfahrung funktioniert, liegt eben daran, dass persönliche (religiöse) Erfahrung über das Unterbewusste am Lebensprozess überhaupt partizipiert, und diese Zusammenhänge lassen sich darstellen. James hat dazu Peirce' Pragmatismus 85 86 87
S. § 1.3. James, aaO. 449. Vgl. aaO. 440: „Genug von den metaphysischen Attributen Gottes! Aus der Sicht der praktischen Religion ist das metaphysische Monstrum, das sie uns zur Verehrung anbietet, eine absolut wertlose Erfindung des scholastischen Geistes."
§ 13: Religionspsychologie
361
vor Augen, interpretiert diesen aber nicht im kategorialen (metaphysisch-realistischen) Sinn, sondern schwankt zwischen religionspsychologischer Beschreibung und trotzdem in ihr wirksamer, universaler Wahrheitspartizipation - aufgrund der gefühlsmäßig überzeugenden Primärwahrnehmung: „Einbrüche aus der transmarginalen Region haben eine besondere Uberzeugungskraft [...] viel stärker als ein Begriff".88 (6) Dass James in dieser Richtung eines religiös-pragmatistischen Funktionsbegriffs denkt, zeigt sich schließlich auch darin, dass er zum Ende der Vorlesungen persönlich konsequent und deutlich die eigene Position markiert: Auf religiösen Erfahrungen als Realität erschließenden Erfahrungen zu bestehen, nimmt theologisch gesehen die gebrochene Form eines „Supranaturalismus" an, James' „piecemeal-supernaturalism".89 Er kommt darin zum Ausdruck, dass die persönliche Erfahrung „an ein MEHR derselben Qualität angrenzt und in dieses, das im Universum außerhalb des Individuums tätig ist, übergeht"90; weil die Realität dieses „Mehr" von James weder rational-theologisch bestätigt noch auf der Basis der Vielheit der Religionen einfach als Faktum ausreichend erklärt werden kann, muss er auch hier die Vielheit in die (mystisch) höhere, gleichwohl aber als Erfahrung behauptete Einheit übersteigen: Das „Gefühl der Einheit" - und in seiner persönlichen (existentiellen) Anwendung „Uber-Glaube".91 Die Religionspsychologie macht diese Position verständlich, weil sie in den empirisch belegten Heilungen menschlichen Leidens durch religiöse Erfahrung den Beleg dafür sieht, dass es eine Kontinuität zwischen dem „unbewussten Selbst" und der Wahrnehmung des Universums im Sinne „eines größeren Selbst" gibt. Unter dieser Voraussetzung ist „religiöse Erfahrung" durchaus „objektiv wahr',92 88
A a O . 467; vgl. H . Joas (1999), 80ff.
89
James, aaO. 497.
90
A a O . 487f.
91
A a O . 488, 490; vgl. 495: „Diese durch und durch .pragmatische' Sicht der Religion war für die meisten Menschen immer etwas Selbstverständliches. [...] Worin diese charakteristischen göttlichen Tatsachen bestehen, abgesehen von der im Zustand des Vertrauens und Betens einströmenden Energie, weiß ich nicht. Aber der Uber-Glaube, für den ich persönlich einstehe, sagt mir, dass sie existieren."
92
A a O . 487, 490, 492; vgl. 501: „Die ideale Macht, mit der wir uns persönlich verbunden fühlen, der , G o t t ' der Durchschnittsmenschen, wird sowohl von Durchschnittsmenschen als auch von Philosophen mit einigen der metaphysischen Attribute versehen, die ich [...] mit so viel Respektlosigkeit behandelt habe. [...] Das einzige, was sie [sc. die religiöse Erfahrung] unzweideutig be-
362
IV. Das Relative: Explikationen von Religiosität
(7) H. Scholz hat die „praktische" Wahrheit dieser religionsphilosophischen Position bestätigt, eine theoretische Wahrheitsfindung in diesem Punkt aber ausgeschlossen.93 Das hängt damit zusammen, dass trotz seiner Hochschätzung der lebensorientierenden Philosophie des Pragmatismus dessen metaphysisch-kategoriale Implikationen (z.B. der evolutionären Metaphysik, wie sie von Peirce entwickelt94, von James aber nicht aufgenommen wurden) für H. Scholz noch im Dunkeln bleiben. Auch E. Herms' gründliche Interpretation von James' Religionspsychologie95 zieht im Verweis auf die Konstruktionsschwierigkeiten des radikalen Empirizismus doch eine transzendentalphilosophische Konstitutionsleistung des Erfahrungsbegriffs vor. Das geschieht aber ausdrücklich im Blick auf dessen ontologische (metaphysische) Bedeutung, wie sie James am religiösen Selbst (religionspsychologisch) nachgewiesen hat: Das personal-unterbewusst-universal bestimmte Bewusstsein ist es, ohne dessen Funktionen Realität nicht erfasst werden kann. Doch wie ist dieser Ort selbst zu denken? - Peirce hat, in Briefen an James, dessen Schwierigkeiten, die religiösen Sinndimensionen zugleich wissenschaftlich auszuzeichnen gesehen und kritisch kommentiert96:
zeugt, ist, dass wir die Vereinigung mit etwas, das größer ist als wir selbst, erfahren und in dieser Vereinigung unseren größten Frieden finden können. [...] Den praktischen Bedürfnissen und Erfahrungen der Religion scheint mir indessen durch den Glauben Genüge geleistet zu werden, dass hinter jedem Menschen und in gewisser Weise in Kontinuität mit ihm eine größere Macht existiert, die ihn und seinen Idealen wohlgesonnen ist." 93
Vgl. H. Scholz (1922), 257. - E. Troeltsch (.Empirismus und Piatonismus m der Religionsphilosophie [1912], in: Ges. Schriften II [1962], 364-385) hat einen detaillierten Vergleich kontinentaler (platonischer) und der von James entworfenen (empiristisch-psychologischen) Religionsphilosophie geliefert, in dem er am Ende zwar selbst (gegen James) für eine „apriorisch-transzendentale Philosophie" votiert, aber hinzufügt: „bei mir" wächst „der Eindruck der lebendigen, vorurteilsfreien, wirklichkeitsgesättigten Darstellung James' fortwährend" (aaO. 382f.); zu diesem Eindruck hat sicher auch die Entdeckung des „Unterbewusstseins" - anders als in „der Freudschen Schule" - geführt (aaO. 379). Ebenfalls aus dem Kontext kontinentaler Religionsphilosophie dieser Zeit findet sich eine freundliche Notiz zu James' „Werk über die Mannigfaltigkeit der Religionen" bei R. Eucken (1927), 360; ausführlicher (1912), Anhang, 171ff.
94
S. § 1.4.3 u. § 18; vgl. C.R. Hausman (1997); H. Deuser, Pragmatismus und Religion (2000), 201-210. Vgl. E. Herms (1977), IV. Teil; Nachwort (1982), 514-521. Vgl. die Briefe aus dem Jahr 1905, in: RS, Nr. III. 1 ; das folgende Zitat aaO. 286f.
95 96
§ 13: Religionspsychologie
363
„Allerdings halte ich mein Denken nicht für das dynamische Zentrum einer Kraft oder etwas derartiges. Mein Denken scheint auf das, was sich wirklich ereignet, in der gleichen Weise und Allgemeinheit bezogen zu sein, in der sich ein Naturgesetz auf die ihm entsprechenden Ereignisse bezieht. Dies ist die gleiche Art allgemeiner Relation, in der sich die Idee der Wahrheit und Gerechtigkeit auf wahre und gerechte Handlungen bezieht, die Idee der Schönheit auf schöne Gegenstände etc. Was ich also mit einem lebendigen Wesen meine, ist etwas, das einem Ideal nahe kommt. Ich bin zwar weit von einem Ideal entfernt, das ist wahr; aber die Unzulänglichkeiten, die dazu führen, stehen nicht in Einklang mit etwas anderem in mir, das mich zu einem ganz und gar lebendigen Wesen machen würde, gäbe es diese Mängel nicht. Mir scheint, dass in Wahrheit alle Menschen so denken. Allein die Notwendigkeit, Sachverhalte genau zu betrachten und zu definieren, führt dazu, dass die Menschen den Versuch machen, auch das zu definieren, wozu ihre Instinkte nicht geeignet sind. [...] wie die Versuche der Menschen, das Objekt ihrer Anbetung zu definieren, fehl gehen. [...] Dennoch geht es nicht um die Frage, „dem Instinkt zu vertrauen". Der springende Punkt ist der: Wenn man die Sache sorgfältig überdenkt, ist der Glaube [belief] absolut unwiderstehlich und unzweifelhaft." N i c h t geheimnisvolle Energieträger 9 7 w e r d e n h i e r gesucht, sondern eine (kategorial-semiotische) „ R e l a t i o n " , in der regelhaft Allgemeines m i t E i n z e l n e m z u s a m m e n h ä n g t ; u n d diese S t r u k t u r ist gefühlsmäßig so überzeugend wie wissenschaftstheoretisch, weil sie der Praxiserfahrung voll entspricht. A u c h der religiöse „ I n s t i n k t " muss dann gar n i c h t ausd r ü c k l i c h gesucht werden 9 8 , sondern w e n n er gilt, steht er in einer ursprünglichen K r a f t , der gar n i c h t w i d e r s p r o c h e n w e r d e n k a n n . Diese U n u m g ä n g l i c h k e i t 9 9 des G l a u b e n s aber gehört z u r S t r u k t u r b i l d u n g der Realität ü b e r h a u p t , u n d a m religiösen G l a u b e n lässt sich dies in besondere W e i s e darstellen. Z u dieser wissenschaftlichen E x p l i k a t i o n v o n Religiosität hat J a m e s ' R e l i g i o n s p s y c h o l o g i e i h r e n eigenen - empirizistischen 1 0 0 - Beitrag geleistet.
97 98 99 100
S. S. S. S.
Anm. Anm. Anm. Anm.
61. 62. 72. 15.
§ 14: Religionssoziologie Die Frage, wie und warum Religion funktioniert, lässt sich nicht nur in psychologischen Modellen, sondern empirisch orientiert auch in kulturellen und gesellschaftlichen Kontexten verankern. Durch die wachsenden Einsichten in die sozialen Konstitutionsbedingungen menschlicher Einstellungen, Selbst- und Weltauffassungen, kurz: in Gesellschaftstheorien kann Religion in Entstehung und Funktion beschrieben - und möglicherweise vollständig erklärt werden; und eine solche Erklärung 1 würde dann eine ontologische Begründung und die Problematisierung der Wahrheit der Religion, wie sie für W. James noch selbstverständlich war, schon aus methodischen Gründen erübrigen. Religion wird Gegenstand der Sozialtheorien von Beginn an. Zum selben Zeitpunkt, als sich Ende des 19. Jh. die Soziologie als eigenständige Wissenschaftsdisziplin etabliert, ist Religionssoziologie ein wesentliches Feld ihrer Selbstbegründung. Das gilt für E. Durkheim genauso wie für M. Weber: Religion - in der ebenfalls bereits selbstverständlichen religionskritischen Distanz empirischer Wissenschaftseinstellung - offenbart sich nicht in ihren originären Inhalten, sondern sie präsentiert sich in ihren Konsequenzen und Bedeutungen für den Aufbau sozialer Verhaltens-, Handelns- und Sinnstrukturen, ohne die eine Gesellschaft nicht hätte werden können, was sie in ihren Traditionsbildungen und Institutionen jeweils geworden ist.2 Eine eigentümliche Faszination geht von den weltweiten und kulturuniversalen Phänomenen der Religion offenbar auch dann aus, wenn an sie in ihren individuellen und sozialen Vollzügen - jedenfalls vonseiten der sich distanziert verhaltenden wissenschaftlichen Akteurinnen und Akteure natürlich nicht (mehr) geglaubt wird. In gewissem Sinne tritt an die Stelle des religiösen Geheimnisses das Problem der wissenschaftlichen Zugänglichkeit bzw. Unzugänglichkeit der Gesellschaft im Ganzen, dem sich speziell und ausdrücklich die Religionssoziologie stellt: „Uber Moral und Religion schafft die Gesellschaft sich selbst als diejenige 1 2
S. S 13.3(3), Anm. 56. Vgl. H.G. Kippenberg: Religionssoziologie, in: TRE 29 (1998), 20-33; H. Knoblauch (1999), Kap. I (zum „methodologischen Agnostizismus" der Religionssoziologie), Kap. II (zur Religionskritik des 19. Jh. bei A. Comte, L. Feuerbach, K. Marx, F. Nietzsche, S. Freud), Kap. III (zu M. Weber), Kap. IV (zu E. Durkheim); H. Deuser (2004), 259ff. ; Κ. Gabriel/H.-R. Reuter (2004), Kap. 1.
§ 14: Religionssoziologie
365
Transzendenz, die der in seiner Faktizität umstrittene Gott nicht mehr bieten kann." 3 Wird zugleich ideengeschichtlich (im europäischen Horizont) am Schema von wachsender Aufklärung, d.h. einer quasi notwendigen Entwicklung vom Mythos zum Logos bzw. von der Religion über Säkularisierung zur vollständigen wissenschaftlichen Rationalität festgehalten, so steht M. Webers Stichwort von der „Entzauberung" für die schließlich erkannte Triebkraft wissenschaftsgeleiteter Weltbilder, die die traditionellen Religionen überflüssig machen würde. 4 Dass sich diese Situationseinschätzung inzwischen so nicht mehr halten lässt, dass allein schon die kontinuierliche Bedeutung der Weltreligionen, aber auch das Faktum der wissenschaftstheoretisch wieder gesuchten Anhalte an lebensweltlich-religiösen Kontexten die Rationalisierungsthese nicht mehr umstandslos bestätigt, bringt die Religionssoziologie in eine neue Lage.3 Darauf kann unterschiedlich reagiert werden: Etwa so, dass die Beschreibungen der Religion deren Funktionen immer verfeinerter widerspiegeln, ihr ontologischer Status für die Konstitution von Individualität und Sozialität aber trotzdem unentschieden bleibt; oder so, dass die Funktionalität der Religion für die Gesellschaft derart gesteigert wird, dass diese Analytik selbst an die Stelle der Wesens-, Wahrheits- oder Substanzfrage tritt. Religion wäre dann durch Wissenschaft nicht nur erklärbar, sondern - freilich auf anderer Ebene - ersetzbar. Im Prozess des wechselseitigen Aufbaus von Individualität und Sozialität spielen religiöse Anschauungen und Lebensformen - in Geschichte und Gegenwart - eine konstitutive Rolle. Das bleibt auch gültig, wenn neben die bislang geschichtlich und geographisch dominierenden Religionen heute die synchrone Vergleichbarkeit und Mischung von Religionen und Weltanschauungen zunehmend ins Spiel kommt. Was diese - prinzipiell pluralistische - Situation für die jeweilige (traditionsbestimmte) Religion selbst, ihre Inhalte und das Wahr-
3
N. Luhmann (2000), 8 (über E. Durkheim).
4
Zum Schema vom Mythos zum Logos s. § 3, Anm. 4; zu M. Webers Begriff der Entzauberung vgl. H.G. Kippenberg, aaO. 25; J . Habermas (1988), Bd. 1, 262ff., 293-298; zur religionstheoretisch-theologischen Re-Lektüre von Habermas vgl. K.-M. Kodalle (2001).
5
Vgl. J. Habermas (2005), 145f.: „Vielmehr verdankt sich die Einsicht säkularer Bürger, in einer postsäkularen, auf das Fortbestehen religiöser Gemeinschaften auch epistemisch eingestellten Gesellschaft zu leben, einem Mentalitätswandel, der kognitiv nicht weniger anspruchsvoll ist als die Anpassung des religiösen Bewusstseins an die Herausforderungen einer sich immer weiter säkularisierenden Umgebung."
366
IV. Das Relative: Explikationen von Religiosität
heitsbewusstsein ihrer Gläubigen bedeutet, ist ein weiteres Problem, dem sich die Religionssoziologie nicht entziehen kann. Das weite Spektrum der soziologischen Beschreibungs- und Geltungsproblematik im Blick auf Religion soll im Folgenden in drei Schritten exemplarisch aufgenommen werden: In der Ausgangskonstellation bei M. Weber, in der funktionalistischen Zuspitzung bei N. Luhmann und in einer religionsphilosophischen Bewertung im Anschluss an die so erreichte Diskussionslage.
1. Vom Geisterglauben zum rationalen Handeln
(M. Weber)
Die religionssoziologischen Analysen M. Webers drängen sich auf im Rahmen von wirtschafts- und kulturgeschichtlichen Studien: Wie die moderne (kapitalistische) Wirtschaftsauffassung geworden ist, das muss an sozialen Bedingungen untersucht werden, und diese sind nur kulturell-religiös vermittelt aufzudecken. Da das Projekt kulturübergreifend durchgeführt werden soll, sind es die Weltreligionen und alle ihre erreichbaren Vorformen, an denen die These des sich bedingenden Zusammenhanges von Religion, Sozialität und Wirtschaftsformen verifiziert werden muss. Weber hat in mehreren Untersuchungen 6 und in großer Materialfülle gezeigt, dass und wie dieses Zusammenspiel wirksam war; und so entsteht wie von selbst eine Entwicklungsgeschichte von Religion generell - in der Explikation ihrer vielfältigen Mechanismen, wie sie sich an den Dokumenten gesellschaftlichen Lebens erheben lassen. Webers Hypothese zur „Entstehung" von Religion ist kulturanthropologisch universal7: Menschen machen die Erfahrung „außeralltäglicher Kräfte" 8 und reagieren darauf mit den entsprechenden Lebensäußerungen, Handlungs- und Sinnformen, wie sie durch die Religionsgeschichte überwältigend belegt werden können. Dass unser wissenschaftliches Zeitalter an Zauberei, Magie, Dämonen, Götter etc. nicht
6
Vgl. die Einleitung von H . G . Kippenberg zur Edition des Textes Religiöse Gemeinschaften (1913) im Rahmen von „Wirtschaft und Gesellschaft" (Ahtlg. I, Bd. 22, Teilbd. 2 der Max Weber-Gesamtausgabe [2001]); zu Webers vorausgehender Schrift Die protestantische Ethik und der, Geist' des Kapitalismus aaO. 6ff. (Die Studienausg. [2005] hat eine abweichende Paginierung, ihr fehlen zudem die Komm, und Anm. des Hg.). - Vgl. auch H . G . Kippenberg: Weber, in: T R E 35 (2003), 442-447.
7
Vgl. G. Thomas (2001), Kap. 3.2.
8
Weber (2001), 122.
§ 14: Religionssoziologie
367
mehr ,glaubt', wird stillschweigend vorausgesetzt, wenn es um die folgende Entwicklungsthese geht: Der „Geisterglaube' hatte eine offenbar notwendige Funktion für die Ausbildung menschlicher Individualität und Sozialität, und er ist produktiv geworden in den späteren, abstrakteren und immer weiter sublimierten Formen „,religiösen' Handelns" und der zugehörigen „Symbolik"? Die aus Religionswissenschaft und Theologie übernommenen Begriffe stehen deshalb gerne in distanzierenden Anführungszeichen. Auf ihre Gültigkeit kommt es hier nicht an, wohl aber auf den Fortbildungsprozess, den die Gesellschaften jeweils durchmachen und der eben exklusiv an den religiösen Formen und Begriffen rekonstruiert werden kann. So entwickelt sich aber auch die Kontinuität eines (christlichen) personalen Gottesbegriffs mit seiner Vorgeschichte im Geisterglauben. Religion wird der Sache nach ambivalent, einerseits aussagekräftig und kulturanalytisch notwendig, andererseits scheint sie sich selbst zu überholen10: „Wo der Geisterglauben zum Götterglauhen rationalisiert wird, also nicht mehr die Geister magisch gezwungen, sondern Götter kultisch verehrt und gebeten sein wollen, schlägt die magische Ethik des Geisterglaubens in die Vorstellung um: dass denjenigen, welcher die gottgewollten Normen verletzt, das ethische Missfallen des Gottes trifft, welcher jene Ordnungen unter seinen spezifischen Schutz gestellt hat. Es wird nun die Annahme möglich, dass es nicht Mangel an Macht des eigenen Gottes sei, wenn die Feinde siegen oder anderes Ungemach über das eigene Volk kommt, sondern dass der Zorn des eigenen Gottes über seine Anhänger durch Verletzung der von ihm geschirmten ethischen Ordnung erregt, die eigenen Sünden also daran schuld seien und dass der Gott mit einer ungünstigen Entscheidung gerade sein Lieblingsvolk hat züchtigen und erziehen wollen. [...] Dieser Gedanke, in allen denkbaren Abwandlungen überall verbreitet, wo die Gotteskonzeption universalistische Züge annimmt, formt aus den magischen, lediglich mit der Vorstellung des bösen Zaubers operierenden Vorschriften die ,religiöse Ethik': Verstoß gegen den Willen Gottes wird jetzt eine ethische ,Sünde', die das .Gewissen' belastet, ganz unabhängig von den unmittelbaren Folgen. Übel, die den einzelnen treffen, sind gottgewollte Heimsuchungen und Folgen der Sünde, von denen der Einzelne durch ein Gott wohlgefälliges Verhalten: .Frömmigkeit', befreit zu werden, .Erlösung' zu finden, hofft. [...] Nun aber kann eine Systematisierung dieser ethischen Konzeptionen eintreten, welche von dem rationalen Wunsch: durch gottgefälliges Tun sich persönliche äußere Annehmlichkeiten zu sichern, bis zu der Auffassung der Sünde als einer einheitlichen Macht des Widergöttlichen führt, in deren Gewalt der Mensch fällt, der .Güte' aber als einer einheitlichen Fähigkeit zur heiligen Gesinnung und einem aus ihr einheitlich folgenden Handeln und der Erlösungshoffnung als einer irrationalen Sehnsucht, .gut' sein zu können lediglich oder doch primär um des bloßen beglückenden Besitzes des Bewusstseins willen, es zu sein."
9
Weber, 124-127.
10
AaO. 174f.
368
IV. Das Relative: Explikationen von Religiosität
(1) Religion impliziert Entwicklung, und zwar vom unbegriffenen magischen Zauber zu einerseits immer abstrakteren, andererseits dadurch immer rationaler strukturierten Verständigungs- und Sinnformen; kurz: von den Geistern zum Geist, von den Göttern zu Gott. Diese Entwicklungsformen im religionswissenschaftlichen Detail zu studieren ist aussagekräftig für das Verständnis einer sich entwickelnden Wirtschaftsrationalität bis in die Moderne - soweit das soziologische Interesse. Was aber bedeutet dies für den damit weiterhin genutzten und benutzten Begriff der Religion? Wenn es solche Entwicklungsschübe gibt, dass gesagt werden kann: „magische Ethik" schlägt um „in die Vorstellung" ... - geschieht dies als Effekt von Religion oder als sozial-ethischer Effekt auf Kosten der (bisherigen) Religion? Ist Religion ein - tendenziell entbehrliches - Mittel der Transformation in Zustände wachsender Rationalität, oder ist Religion unentbehrliches Mittel für gesellschaftliche Transformationen, denen ein gewisser magischer Charakter immer anhaftet, wie es seit Urzeiten gewesen ist? Das Verstehen dieser Ubergänge, so rational, beschreibend und distanziert ihre Rekonstruktion auch ausfällt, wäre dann zumindest an die nicht und niemals vollständig verstandenen Kräfte gebunden, die die gesellschaftlichen Prozesse immer wieder antreiben? (2) Im Textbeispiel ist es die Leistung der Theologie Israels in biblischer Zeit, die einen solchen Umschlag von relativen, vielfältigen, unbegriffenen, magisch konnotierten Götteradressaten heraufführt: Gott als absolute Instanz ist für Alles zuständig, das Gute wie das Böse, Zorn wie Segen, Glück wie Unglück. Es sind diese „universalistischen Züge", die religionsgeschichtlich erkennbar sind, die zugleich aber sozialethisch enorme Folgen haben: Wenn ein und derselbe Gott auch für Niederlagen und Unglück verantwortlich ist, dann muss der Sinn solcher Ereignisse subtiler abgeleitet werden: Schuld und Sünde werden - in der Perspektive des einen Gottes - als Verhaltensbegründung der Menschen etabliert; während diese Verfehlungen und deren Aufhebung wiederum in der Perspektive des einen Gottes - in ethische Kategorien von Strafe, Vergeltung, Vergebung und Erziehung zum Guten gefasst werden können. Es ist dieser „universalistische" Gottesbegriff, dessen religiöse Kraft zugleich theologische Abstraktionen ermöglicht - und damit soziale Wirkung entfaltet. (3) Religionsgeschichtlich treffend und anthropologisch erhellend ist vor allem die Beobachtung, dass erst unter der Voraussetzung des universalistischen Gottesbegriffs auch die Begriffe Sünde und Gewissen
§ 14: Religionssoziologie
369
unabhängig von bestimmten Situationen und Ereignisfolgen Macht gewinnen können. Handlungsoptionen, Verfehlungen, Erfolge und Misserfolge sind nicht mehr direkt gekoppelt mit automatischer Sinngebung bzw. Sinndefizit, sondern ein allgemeines Bestimmtsein des gesamten Lebens in einer und derselben Gottesrelation erfordert die beständige Reflexionsinstanz für alle denkbare Situationen {Gewissen). Die mögliche Verschuldung der menschlichen Seite (samt der Reflexion dieses Zustandes) korrespondiert mit dem nicht vollständig durchschauten, deshalb aber um so gewaltiger erlebten Gegenüber des einen Gottes. (4) Für das menschliche Verhalten und Handeln in der Welt werden damit die einfachen, unmittelbaren Aktionen und Reaktionen als nicht ausreichend reflektiert durchschaut, und an ihre Stelle treten Lebensund Uberlebensstrategien, die aus der abstrakteren Gottesrelation folgen: Frömmigkeit als Basisverhalten, um der Gottesrelation entsprechen zu können, und Hoffnung auf Erlösung, um der permanenten Drohung von Schuld, Sünde und Übel in derselben Gottesrelation Ort und Zeit ihrer Uberwindung anweisen zu können. An späterer Stelle, im Zusammenhang von „Stände, Klassen und Religion" 11 , hält Weber zwischen allen religionswissenschaftlichen Bezügen lapidar fest: „Jedes Erlösungsbedürfnis ist Ausdruck einer ,Not"'. 12 Wenn nun Not in diesem generellen Sinne für menschliche Erfahrung invariant ist, gilt dies dann auch für das (religiöse) Erlösungsbedürfnis? - Oder gilt es nur für die immer wieder mit großem Schwung geschilderten „religiösen Virtuosen", in deren Sicht, d.h. „religiös gewendet" Leidenserfahrungen erst zu „Zuständen tiefster Gottverlassenheit" werden?13 (5) Webers eigenes Interesse an diesen Entwicklungsformen ist eindeutig nur insoweit, als es um Sinnstrukturen geht, in denen tendenziell „rationales Handeln" nachweisbar wird. 14 Das ist hier im Anschluss an
11
12 13 14
AaO. Abschn. 7, 218-290. - Die Frage der Erlösung hängt eng zusammen mit den Modellen der Theodizee im folgenden Ahschn. 8; vgl. G. Thomas (2001), 66ff. Weber, aaO. 253. AaO. 316; s. § 13.3, Anm. 43. AaO. 307 (hier im Kontext unterschiedlicher mystischer Verhaltensformen), wo es ausdrücklich heißt: „darauf kommt es für uns an", d.h. auf die rationalen Handlungsformen; vgl. aaO. 304: „Für uns kommt die Erlösungssehnsucht, wie immer sie geartet sei, wesentlich in Betracht, sofern sie für das praktische Ver-
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IV. Das Relative: Explikationen von Religiosität
die religiös-theologisch entwickelten Begriffe von Frömmigkeit und Erlösung durch folgende „Systematisierung" nachzuweisen: a) Verhalten und Handeln werden vom Motiv bestimmt, Gott zu gefallen („gottgefälliges Tun"), aber so, dass der Lebensegoismus dabei im Vordergrund steht („äußere Annehmlichkeiten"); b) Selbstanklage liegt dann umgekehrt im Motiv gesteigerten Sündenbewusstseins, das als solches die Gottesrelation festhält; c) positiv gewendet ist es Gottes Güte, die entweder zur „heiligen Gesinnung" werden und damit handlungsmotivierend sein kann, oder d) als die Gesinnung dominierendes religiöses Bewusstsein wie ein Glückszustand bloß innerlich erlebt wird. (6) Handlungsrationalität liegt hier deshalb vor, weil bestimmte Mittel gebraucht und Wege gesucht werden, um eine sinnhafte - religiöse Zielvorstellung erreichen bzw. ihr entsprechend leben zu können. Die zuletzt genannten Alternativen (c, d) hat Weber in ebenso zupackenden wie materialreich gestützten Analysen mit den religiös-ethischen Verhaltensformen von Askese und Mystik auf ihre Handlungsrelevanz hin profiliert: Askese (auf der Basis spezifisch-religiöser Gesinnungsethik) kann entweder „innerweltlich" ausfallen, dann kommt es direkt zu Handlungsimpulsen, oder „weltablehnend",b Im ersteren Fall folgt die von Weber mit besonderem Fleiß herausgearbeitete Berufsethik (vor allem) des calvinistischen Protestantismus; im letzteren Fall geht es um die Pflege individueller Glaubenszustände, Formen von Mystik, die noch dann, wenn sie sich aktiv ausgrenzen („Weltablehnung"), durchaus handlungsrelevant ausfallen können.16 (7) Wenn die gesuchte Handlungsrealität der Sinn aller religionswissenschaftlichen, theologischen und religiösen Detailstudien ist - was bedeutet dies für den Religionsbegriff selbst? Weber berichtet über Dämonen, Zauberer und Götter einerseits im Präsens, d.h. aus der Perspektive der jeweiligen Menschen einer bestimmten Religion, und andererseits im Bewusstsein der (religions)kritischen Wissenschaft, für
15 16
halten im Lehen Konsequenzen hat"; aaO. 332f: „[...] unsere rein empirische Betrachtung. Denn der Effekt im Handeln ist es, der uns angeht." AaO. 321. Vgl. aaO. 322, 324; zu Wehers Begriff der „protestantischen Ethik" als Berufsethik und Impuls kapitalistischer Wirtschaftserfolge H. Knoblauch (1999), 40ff.; H.G. Kippenberg, Einleitung, aaO. 17ff. („Max Webers Entdeckung"); zu den unterschiedlich handlungsrelevanten Formen von Mystik und Askese im Blick auf die Weltreligionen vgl. die Ubersicht bei Knoblauch, aaO. 56.
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die irrationale Zauberer so vergangen sind wie die rationalen Propheten der Gerechtigkeit. Was aber, wenn deren Charisma17 ausfällt? Historisch gesehen erscheint das undenkbar, aber für die Zukunft der Moderne jedenfalls nicht ausgeschlossen. Es geht der wissenschaftlichen Intention nach um die „Lebensführung'', deren Sinn, Einheit, Ganzheit aber wurden bislang - und gerade in den massivsten Transformationsprozessen - religiös buchstabiert. Blickt das wissenschaftliche Auge auf diese Phänomene so, dass sie „dem religiösen Postulat nach"18 real sind, nicht aber gemäß soziologischem Methodenbewusstsein empirischhistorischer Forschung? Zumindest das Problem der Erlösung bleibt bestehen, gerade auch für „Intellektuelle"; auch dann, wenn die religiösen Inhalte „entzaubert" erscheinen und in ihrem originären Sinn „nichts mehr ,bedeuten'".19 Religion bliebe dann allenfalls brauchbar für die Ungebildeten, denen wissenschaftliche Einsicht abgeht.20 Das alles spricht dafür, dass Weber die Religion funktional betrachtet und benutzt21, z.B. so: Die für den Erfolg der Weltreligionen typischen „Schichten" waren „für den Konfuzianismus der weltordnende Bürokrat, für den Hinduismus der weltordnende Magier, für den Buddhismus der weltdurchwandernde Bettelmönch, für den Islam der weltunterwerfende Krieger, für das Judentum der wandernde Händler, für das Christentum aber der wandernde Handwerksbursche, sie alle nicht als Exponenten ihres Berufs oder materieller ,Klasseninteressen', sondern als ideologische Träger
17
Vgl. zu diesem Grundbegriff in Webers Interpretation religiöser Wirkungen die - im Anschluss an Weber - von U . Oevermann (1995), 48, gewählte Definition: „Das Charismatische verkörpert [...] jenseits der undialektischen Dichotomie von Rationalität und Irrationalität [...] sowohl die Spontaneität des argumentationslosen Uberzeugt-Seins von etwas Positivem, Krisenlösendem [...], als auch die Verpflichtung auf die Geltung von etwas Allgemeinem, das sich in diesem Uberzeugt-Sein zuverlässig verbirgt und nachträglich durch Rekonstruktion argumentativ einzuholen ist"; H . Deuser, Gottesinstinkt (2004), 265ff.; zur Ableitung und (handlungstheoretischen) Kritik des Charisma-Begriffs H . Joas (1996), 6 9 - 7 6 .
18
Weber, aaO. 194. - Zur nicht überbrückbar erscheinenden Differenz wissenschaftlicher Rationalität und religiöser Sinngebung aufgrund „praktischer Wertung" vgl. W . Schluchter, Bd. 1 (1988), 358f.
19
A a O . 273. - Die Zukunft der Religion nach durchlaufener Säkularisierung, d.h. trotz und wegen „Entzauberung der Welt", wird damit zu einer dramatisch offenen Frage, wenn sonst nur schlechte Prophetie oder verkrampfte Wissensarroganz „die Alternativen" wären, vgl. Schluchter, Bd. 2 (1988), 533f.
20
Vgl. aaO. 233 A n m . die Anekdote des freigeistigen Offiziers, der in der Praxis doch der Linie folgt, dass „für die Rekruten die Kirchenlehre, wie sie sei, das beste Futter bilde."
21
Vgl. G. Thomas (2001), 69.
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IV. Das Relative: Explikationen von Religiosität
einer solchen Ethik oder Erlösungslehre, die sich besonders leicht mit ihrer sozialen Lage vermählte." 22
Doch ist auch, mehr zwischen den Zeilen, eine gewisse Sympathie für genuine Religiosität nicht gänzlich zurückzudrängen: Der „europäischen Bürokratie" wird „innere Verachtung aller ernst genommen Religiosität" nachgesagt 23 , und der „winselnde Tonfall" pietistischlutherischer „Kanzelreden" wird beklagt, weil er „kraftvolle Männer so oft aus der Kirche gescheucht hat." 24 - Setzt also die auf rationales Handeln hin funktional analysierte Religion doch auch ein gewisses existentielles Mitvollziehen im Sinne genuiner Religiosität voraus (nicht nur bei den Betroffenen, sondern auch zum Zweck der Analyse), also eine Perspektive der ersten statt allein der dritten Person? Weber hat diese Doppelperspektivität nicht noch einmal zum Gegenstand der Theoriebildung erhoben, wie es N . Luhmanns Systemtheorie versucht. Insofern denkt der Wissenschaftler Weber Religion von außen, aber er will sie zugleich so sehen, wie sie für die betreffenden Menschen im Vollzug ihres Verhaltens und Handelns real war. 23 Wie beides zugleich und wissenschaftlich gesehen konsequent bestehen kann, müsste religionstheoretisch gezeigt werden. Weber aber demonstriert im ebenso sympathetischen wie kritischen Engagement, mit dem er sein Material auswertet und seine These verfolgt, dass in den sozial-ethischen Transformationsprozessen vom „Geisterglauben" zum „rationalen Handeln" die Religionen und persönliche Religiosität eine kreativ impulsgebende, wenn nicht generell konstitutive Rolle spielen mussten. 26
2. Religion funktional: Sinnsystem und Kontingenz (N. Luhmann) Die „Funktion der Religion" lautet programmatisch der Titel von Luhmanns erster Monographie zur Religionssoziologie (1977). Ihr geht die Absicht voraus, Soziologie insgesamt als funktionale Systemtheorie zu entwerfen, Religion ist insofern ein Anwendungsfall für eine umfassende Theoriebildung, aber zugleich ein ganz besonderer, was noch einmal Luhmanns postum erschienene zweite Monographie zum Reli22
Weber, aaO. 282f.
23
A a O . 234.
24
A a O . 361.
25
G. Thomas, aaO. 78, spricht von einer „Operation des Beobachters", Religion ist dann ein „Beobachterkonstrukt". Vgl. G. Thomas' These, aaO. 113, der „impliziten Religion" - trotz und nach ihrer Kritik und (funktionalen) Beerbung.
26
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gionsproblem (2000) belegt.27 Das Beispielhafte dieser Sozialtheorie liegt darin, dass Luhmann mit einer subtilen und hochabstrakten Begriffsbildung dem Phänomen Religion bis in konkrete Gestaltungsvorschläge gerecht zu werden versucht. Dazu werden zwar auch Vergleiche der Religionen zugrunde gelegt, aber anders als bei M. Weber entsteht die funktionale These nicht aus dem materialgesättigten religionswissenschaftlichen Vergleichen, sondern aus dem konstruierenden Entwerfen notwendiger Funktionen von Religion generell. Unter der Voraussetzung, dass es soziale Systeme und ihr S¿rara-Problem aufgrund von Komplexität und Kontingenz gibt, ist Religion - oder ihr Ersatz in gewisser Weise notwendig. Die Gesellschaftstheorie, die im 19. Jh. aus religionskritischen Impulsen entstanden war und die in exakten, nach dem Vorbild der Naturwissenschaften eingesetzten (psychosozialen) Beschreibungen zu endgültigen, den künftigen Funktionsverlust beweisenden Erklärungen von Religion vorzustoßen schien, wandelt sich Ende des 20. Jh. in eine Theoriekonstruktion, die noch im Konstruieren dem fortbestehenden Religionsproblem dienlich sein will. Wie sind die Grundbegriffe dieser Theoriebildung begründet?
2.1. System und Komplexität System kann ganz allgemein definiert werden als ein bestimmter Zusammenhang von Elementen. Wie diese Bestimmtheit aussieht, in der die Elemente zueinander stehen, wie also hier Regeln, Gesetze, Strukturen, Ordnungen greifen, wie folglich Wechselverhältnisse, Abhängigkeiten etc. auftreten, genau das macht dann den jeweiligen Zusammenhang und folglich das System aus. In der deutschen Philosophie der Neuzeit und des Idealismus ist der System-Gedanke geradezu synonym geworden mit dem der Wissenschaft, sofern Philosophie die Einheitlichkeit von Verschiedenem „systematisch", d.h. aus einem Begründungszusammenhang vorzulegen und diesen in der Wirklichkeit zu bewähren hat: Als formale Forderung an die Wissenschaft in der architektonischen Einheit der Vernunft wie bei Kant oder als Wissenschaft im Vollzug, d.h. zusammen mit der (verschiedenen) Wirklichkeit, wie
27
Zu Luhmanns Systemtheorie in kritischer und selbständiger Weiterführung der Theorievorlagen bei Talcott Parsons vgl. H. Joas/W. Knöbl (2004), Kap. 1-3 u. 11; zur Religionssoziologie vgl. K. Gabriel/H.-R. Reuter (2004), Kap. 2.3; G. Thomas (2001), Kap. 8.2.
374
IV. Das Relative: Explikationen von Religiosität
im spekulativen Systembegriff Hegels.28 Man könnte diesen (traditionellen) Systembegriff als rationalistisch oder ontologisch bezeichnen, je nach dem, ob die Vernunftinstanz oder die Wirklichkeit die hervorragende Rolle darin spielen. Entscheidend ist, dass ganz anders als in dieser philosophischen Tradition System in einem konstruktivistischempirischen Sinn in naturwissenschaftlichen Modellen eine Rolle spielt und so in Kybernetik, Informationstheorien und auch in der Soziologie Anwendung findet. Der umfassende Anspruch von Luhmanns Systembegriffs stammt aus diesem Wissenschaftskontext, denkt Systeme als (notwendige, soziale) Organisationsformen und diese wiederum in einem gebrochenen Realismus29: Ein (soziales) System existiert nicht einfach, sondern entsteht über seine Beschreibung, d.h. die beschreibenden Instanzen sind selbst Teilnehmer im beschriebenen System; und dadurch kommt es zu einer - den Geisteswissenschaften durchaus geläufigen - Komplikation der Selbstanwendung, die von Luhmann allerdings als rein funktionalistische Sozialtheorie gehandhabt werden soll. Mit der behaupteten Allgemeinheit dieser (sinn-sozialen) Wirklichkeitserfassung kommt es gleichwohl nicht zu einem empiristischen Reduktionismus, weil die Systemtheorie auch das bedenkt und indirekt erfasst, was sich präziser Beschreibung und Bestimmung (noch) entzieht, unverstanden, unerkannt, und vom (natur-)wissenschaftlichen Erklären weit entfernt ist. Der Systembegriff will sein Anderes sozusagen immer mitlaufend berücksichtigen - die Umwelt (des jeweiligen Systems). Das Grundgeschehen, an dem die Systemtheorie entsteht, ist die problematische Relation von System und Umwelt. Während der übliche (kybernetische) Systembegriff sehr einfach zu veranschaulichen ist, wenn nach gängigem Sprachgebrauch z.B. von einem „Satzsystem" im grammatischen Sinn, einem Organ als System von bestimmten Funktionen oder von einem Regelkreis als System gesprochen wird, ist die System-Umwelt-Relation komplizierter angelegt und lässt deshalb auch kompliziertere Phänomenbeschreibungen zu.30 Elemente eines sozialen Systems können ganz unterschiedlich kombiniert und strukturiert werden, was jeweils sofort eine neue oder andere Umwelt-Relation impliziert. Neuere evolutionistische Modell28
Vgl. die Übersicht von Chr. Strub: System II, in: H W P 10 (1998), 825-856, 840ff.; zum Systembegriff im dt. Idealismus W . Janke: Idealismus, in: T R E 16 (1987), 1-20.
29
Vgl. die ganz auf den „Konstruktivismus" der Systemtheorie abzielende Beschreibung von St. Jensen: Systemtheorie; System, soziales, in: H W P 10 (1998), 862-869.
30
Vgl. Luhmann (1977), 13ff.
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Vorstellungen stehen hier Pate, etwa die Anordnung von Gasmolekülen oder Ordnungsfragen, wie sie die Chaosforschung zu beschreiben sucht, denn sie illustrieren (mit Luhmanns Begriff) eine Komplexität, die sich dem direkten Zugriff entzieht.31 Die jeweilige Sachlage unterliegt ihren eigenen Freiheitsspielräumen und Konstruktionszwängen. Es geht um Zustandsbeschreibungen, die niemals für alle Elemente zugleich deterministisch oder prognostisch auflösbar sein werden. Wird dieser Begriff von Komplexität auf die System-UmweltRelation angewandt, so kommt deren eigentliche Bedeutung erst zutage - und damit sowohl der Unterschied zum rein mechanisch gedachten Systembegriff als auch die dann wieder unvermeidliche Nähe zur philosophischen Tradition: Die Bildung von bestimmten Strukturen (wie auch immer diese evolutionistisch, psychologisch oder gesellschaftlich erklärt werden) bedeutet auf jeden Fall, dass aus einer vorliegenden Gesamtkomplexität sich ein System besonderer Ordnung von seiner Umwelt (größerer Unordnung bzw. Komplexität) ausgrenzt. Die gewonnene (neue) Zuordnung bleibt also in einer beständigen Spannung nach außen und nach innen im jeweiligen Wechselverhältnis. Komplexität charakterisiert dauerhaft auch das System selbst. Seine Leistung lag zwar darin, sich durch Eigenstrukturierung von der Umwelt zu unterscheiden, doch gerade dadurch bleibt ein „Komplexitätsgefälle" von der Umwelt zum System bestehen. Was das System zum System macht ist folglich ein Ausscheiden von bestimmten Möglichkeiten gegenüber der Umwelt; evolutionistisch ausgedrückt eine „Selektion": „Systemgrenzen wirken als hochselektive Kontaktverengungen", d.h. es kommt zur (gerade auch religionssoziologisch höchst interessanten) Reduktion von Komplexität,32 Systeme entstehen und erhalten sich also fortlaufend aufgrund von Selektionen und Komplexitätsreduktionen gegenüber ihrer jeweiligen (relativen) Umwelt, und dies impliziert den jeweils eigenen Systemstandort bzw. Umwelten, die selbst wiederum aus System-Umwelt-Relationen aufgebaut sind. Was da jeweils geschieht, kann also immer nur von einem relativ weniger komplexen Zustand aus betrachtet werden. Es gibt keinen absoluten Standpunkt (denn dieser müsste außerhalb der System-Umwelt-Relationen liegen, was ausgeschlossen ist): „Nur Komplexität kann Komplexität reduzie-
31
Vgl. Luhmann (1987), 46: „Als komplex wollen wir eine zusammenhängende Menge von Elementen bezeichnen, wenn auf Grund immanenter Beschränkungen die Verknüpfungskapazität der Elemente nicht mehr jedes Element jederzeit mit jedem anderen verknüpft sein kann." - Zu Luhmanns Aufnahme evolutionistischer Theoriemodelle R . Dahnelt (2009); s. § 6.1.3(2), A n m . 60.
32
Luhmann (1977), 14f.
376
IV. Das Relative: Explikationen von Religiosität
ren." 33 Das bedeutet aber auch, dass sich der Komplexitätsbegriff selbst verdoppelt, sofern eine „unfassbare Komplexität" von der „bestimmt strukturierten" abzuheben ist. Man könnte, in anderer Sprache, von einer absoluten Komplexität sprechen (entweder einer chaotischen Unbestimmtheits- oder einer endgültigen Erstarrungswelt, „wenn man alles mit allem verknüpfen würde" 34 ) im Unterschied zur relativen in unsere Welt, die durch Bestimmtheit aufgrund von Selektionsentscheidungen bearbeitbar geworden ist. Der Kontakt zum Thema Religion ergibt sich dann, wenn diese Seite der absoluten Komplexität wie eine Bedrohung, die relative Komplexität wie eine Erwartung interpretiert werden. Die (soziale) Realität erscheint systemtheoretisch gesehen immer schon vorsortiert (durch eingespielte Selektionen und Reduktionen), doch die Muster können durch die absolute Komplexität immer auch gestört oder zerrissen werden. Genau diese Spannungs- oder Krisenzustande aufgrund aktiver System-Umwelt-Relationen zwingen dann erneut zu Selektionen, und hier erscheint „das Bezugsproblem aller Religionsbildung" 33 : „Eine für ein System fungierende Umwelt ist deshalb notwendig eine zweiteilige Rekonstruktion der Umwelt seihst, ist Horizont und Transzendenz, Erwartung und Enttäuschung, Selektion und Risiko, Ordnung und Zufall." - „Unerwartetes, Überraschendes, Enttäuschendes ist nur momenthaft unfassbar wie der Knall hinter dem Rücken; es wird alsbald (nämlich in dem Maße, als Operationen des Systems anlaufen) über Reduktion, Typisierungen und Normalisierungsstrategien zur Realität." 3 6 „Das, was Religion als Ubernatürliches zu erfassen sucht, gehört zur Umwelt des jeweiligen Systems. Damit ist nicht gesagt, dass das Ubernatürliche innerhalb der Umwelt ein besonderes Segment, eine besondere Entität oder Variablengruppe wäre, die direkt oder als ,reinforcer' das System beeinflussen könnte. Vielmehr ist ein stets implizierter und sich selbst implizierender Hintergrund der Umwelt gemeint. In der Religion geht es um die Transformation unbestimmbarer in bestimmbare Komplexität, um jene Zweiteiligkeit der Umwelt, die durch Diskretierung entsteht und nur v o m Verfügungsbereich der Systemumwelten aus erfahrbar ist. Dies Problem katalysiert die religiöse Qualität von Lebenserfahrungen, katalysiert Assoziationszusammenhänge zwischen diffus anfallenden Erfahrungen dieser Art, dann religionsspezifische Typisierungen, Rollenverantwortungen und schließlich ausdifferenzierte Funktionssysteme für Religion innerhalb des Gesellschaftssystems. Das Problem ist unlösbar. Eben darauf beruht seine unabnutzbare Dauer, seine Eignung als Katalysator für Religionsentwicklungen, die je nach Materiallage zu sehr verschiedenen
33
Luhmann (1987), 49.
34
A a O . 50.
35
Luhmann (1977), 19.
36
A a O . 16/17.
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Formen führen können; von denen man aber auch sagen kann, dass sie ,immer dasselbe meinen'." 37
(1) Wo es hinter dem Rücken knallt, ohne dass es erwartet werden konnte, wo ein Krieg ausbricht, der alles Gewohnte vernichtet, wo durch Tod oder Krankheit Lebenskurven abreißen, da ist offensichtlich nicht einfach die relative Reduktion von Komplexitäten ausreichend, wie sie bei Orientierungsübungen oder einem Spielverlauf praktikabel ist, sondern da ist die Sprengkraft absoluter Komplexität drohend zugegen. Dafür stehen zu Recht Ausdrücke wie Transzendenz, Enttäuschung, Risiko und Zufall. Im Umgang mit diesen Situationen hat Religion ihren ganz unvermeidlichen Stellenwert. Das religiös „Ubernatürliche" ist nichts an sich (kein supra-naturaler Gegenstand), wird aber funktional und stellvertretend ,etwas', ein „Hintergrund"Phänomen in der System-Umwelt-Relation; bzw. umgekehrt: Diese macht auch hier noch die Krisenbewältigung verständlich. (2) Der äußerste Hintergrund von Umwelt, das Aschgraue und Bedrohliche, kann noch - wenn auch „unlösbar" - als Umwelt- und Horizontproblem in das Modell integriert werden. Religion wird erklärt, ohne sie (religionskritisch) wegzuerklären, ihren Sinn zu bestreiten oder sie zu einem pathologischen Phänomen abzustempeln. Das haben Luhmann und W. James gemeinsam: Beide wollen dem unbestreitbaren Phänomen der Religion (im individuellen bzw. sozialen Leben) mit den jeweiligen Mitteln ihrer wissenschaftlichen Beschreibungen gerecht werden: Die Erklärung nimmt zunächst einmal eine Ortsanweisung im Theoriemodell vor. Religion lässt sich zeigen und vertreten; nicht nur, weil sie faktisch vorkommt, sondern weil sie aus systematischen Gründen unentbehrlich erscheint - das ist der Stand ihrer Erklärung. Mit „Neurophysiologie" im Sinne einer „reduktiven ,Erklärung'" 38 ist hier nichts zu erreichen. (3) Während M. Webers Funktionsnachweise der Religion eher vom religionsgeschichtlichen Material ausgingen und aus dem Zusammenspiel von religiösen mit sozialen, ökonomischen etc. Faktoren ihre Erklärungskraft bezogen, geht es Luhmann primär um ein Theoriemodell. Von ihm ausgehend können Formen von Religion „innerhalb des Gesellschaftssystems" erklärt werden; und wie es zu geschichtlichen Unterschieden kommt ergibt sich dann „je nach Materiallage". Dann 37 38
AaO. 19f. Luhmann (1987), 99; s. § 13.1, Anm. 11.
378
IV. Das Relative: Explikationen von Religiosität
geht auch zusammen, was sonst an Divergenz kaum zu übertreffen ist: Vielfalt und Einheit des Phänomens Religion. Religion meint bei aller Vielfalt in gewissem Sinne doch auch „immer dasselbe".
2.2. System und Sinn religionssoziologisch Religion wird systemtheoretisch nicht auf ihre historische, erkenntnistheoretische oder ontologische Wahrheit hin untersucht, sondern dezidiert und allein im Blick auf ihre soziale Funktion: Was Religion ist, zeigt sich daran, wie sie ein bestimmtes System-Umwelt-Problem bearbeitet, bzw. dieses Bearbeitungsproblem ist Religion. Für diese Wechselseitigkeit der Bestimmung von Religion anstelle einer Definition steht der Begriff der funktionalen Äquivalenz.39 Das Ganze der Gesellschaft ist ein großer Funktionenteppich in Systemstruktur, und die Aufgabe der soziologischen Grundlagentheorie besteht darin, die einzelnen Aufbauelemente (im System-Umwelt-Schema) in ihrem Zusammenspiel so genau und sensibel wie möglich zu analysieren, zu rekonstruieren. Das Religionsproblem ist unvermeidlich, aber variantenreich besetzbar; und die geschichtliche Situation geht in ihrer faktischen Komplexitätsentwicklung jeder Beschreibung schon voraus. Solche Beschreibung oder „Rekonstruktion" 40 heißt später „Beobachtung" - auch und gerade zweiter Ordnung, die das Strukturproblem des Beobachtens mit beobachtet 41 - , und sie ist die eigentliche soziologische, immer mit betroffene und im Sozialprozess engagierte Erklärungsinstanz. In der Neuzeit z.B. kommt es zur „Krise der Religion" 42 , und die Systemtheorie vermag dies zu erklären; nicht etwa durch kurzatmige naturalistische, atheistische, deterministische, reduktionistische Thesen, die Religion tendenziell für abgeschafft halten, sondern als Anwendungsfall von neuen Relationenbildungen im System-UmweltProblem. Religion, auch in veränderten Lagen, ist so oder so funktional verankert in der Notwendigkeit ihrer spezifischen ^¿»»-Funktion. Der Systembegriff wird damit spezifiziert auf „sinnkonstituierende psychische und soziale Systeme" 43 , d.h. auf den „Bewusstseinszusammenhang" (bei psychischen Systemen) und den „Kommunikationszu39
Vgl. Luhmann (1977), 78; zur Darstellung und Kritik dieses Konzepts G . Tho-
40
Luhmann, aaO. 16.
mas (2001), 307ff. 41
Luhmann (2000), 15, 28ff.
42
Luhmann (1977), 17.
43
A a O . 20.
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sammenhang" (bei sozialen Systemen).44 Nun ist Sinn aber weder alltagsprachlich noch wissenschaftlich ein harmloser Begriff. Er bleibt meist dunkel und erklärt wenig, oder er wird in existentieller Begeisterung übersteigert und erklärt sozusagen zu viel. Beides will die Systemtheorie vermeiden, indem sie Sinn rein funktional präsentiert45: • Sinn wird nicht dadurch definiert, dass er das geisteswissenschaftliche Gegenüber zur Natur abgeben könnte. • Sinn ist ebenfalls nicht das Gegenstück zur existentiell erfahrenen Sinnlosigkeit. • Sinn ist also, kurz gesagt: ein Zusammenhang, der dort, wo er auftritt, sich immer schon selbst voraussetzt; ein „differenzloser" Begriff, „der sich selbst mitmeint". 46 • Sinn ist folglich als eine „evolutionäre Errungenschaft" 47 zu verstehen, die als besondere System-Umwelt-Erfassung dann auftaucht, wenn sie gebraucht wird: Für Zusammenhang stiftende und entdeckende Selbst- und Außenbeziehungen. Dass diese Argumentation im Kreis geht, dass Sinn dadurch erklärt wird, dass er immer schon wirksam ist bzw. dass sein Auftreten mit den psychischen und sozialen Systemen zusammenfällt, ist unvermeidlich. Was getan werden kann, ist allerdings zu zeigen, wie Sinn im einzelnen funktioniert; und wenn Sinn demnach synonym gesetzt werden kann mit Zusammenhang (was hier im Blick auf den Prozessbegriff des Kontinuums geschehen soll), dann allerdings macht es ,Sinn' zu sagen, aller Zusammenhang hat Zusammenhang.48 Religionsphilosophisch gesehen erübrigt sich damit aufs erste das Problem der Theodizee49 - oder anders gesagt: Es lässt sich genau angeben, wie es zu diesem Problem hat kommen können, wenn die Welt ontologisch, kosmologisch, subjekttheoretisch auf einen letzten Sinn bezogen werden soll, der faktisch gerade nicht verifizierbar ist. Für die Systemtheorie wechselt eine derart hoffnungslose Sinnfrage in die funktionale Analyse permanent geltender und immer wiederholbarer
44
Luhmann (1987), 92.
45
Luhmann (1977), 20f.
46 47
Luhmann (1987), 93; vgl. (2000), 31: „Sinn hat keine Exklusionsmöglichkeiten." Luhmann (1987), 92; vgl. (2000), 211f.
48
Vgl. Luhmann (1987), 113: „Aller Sinn hat Sinn, nur Sinn hat Sinn". - Zur religionsphilosophischen Bedeutung des Begriffs Kontinuum s. § 1.4, Anm. 36, u. § 16ff. Vgl. Luhmann (1987), 111.
49
380
IV. Das Relative: Explikationen von Religiosität
Zusammenhänge.50 Allerdings stellt sich dann die weitergehende Frage nach den Rahmenbedingungen, unter denen dieselbe Unterscheidung von System und Umwelt funktional erfolgreich immer wieder eingesetzt werden kann. Hier kommt es zu einer gewissen Abgründigkeit, in der die Selbstverständlichkeit von Sinn als solche problematisch wird und genau das taugt wiederum zur sozialen Erklärung von Religion: Sinn, d.h. Zusammenhang lebt von der „Grunddifferenz von Aktualität und Möglichkeitshorizont"51, denn nur so sind immer weitere System-Umwelt-Unterscheidungen, die neu getroffen werden können, auch systematisch sichergestellt: „Sinn oktroyiert eine F o r m für Erleben und Handeln, die Selektivität erzwingt. Sinn erscheint als Simultanpräsentation von Möglichem und Wirklichem, die alles, was intentional erfasst wird, in einen Horizont anderer und weiterer Möglichkeiten versetzt."'' 2
Um diese Konstellation zu deuten, macht die Systemtheorie Anleihen bei der Begrifflichkeit der (phänomenologischen) Philosophie E. Husserls, und erst so kommt es zur Identifizierung des „Bezugsproblems der Religion"53: Wenn etwas Bestimmtes als sinnvoll erlebt, d.h. in bestimmten Zusammenhängen ausgezeichnet wird (z.B. eine schöne Pflanze), so geschieht dies auswählend, unterscheidend, selektiv; und diese Aufmerksamkeitsakt führt implizit (ob subjektiv bewusst oder nicht) zur zusätzlich mitlaufenden Unterscheidung von wirklicher Bestimmtheit und möglichen anderen Bestimmungen (z.B. anderer Pflanzen, noch schöner denkbaren gleichen und anderen Typs); und in wiederum weiterer Perspektive eröffnet sich ein Hintergrund von Möglichkeiten überhaupt (z.B. dass es Pflanzen gibt). Dies alles zeigt sich zugleich mit der ersten Selektionsentscheidung als deren „Verweisungsüberschüsse"54: Was dabei direkt erfasst wird, nennt Luhmann (1977) „Repräsentation", was als „Gesamthorizont" mitschwingt „Appräsentation".33 Entscheidend ist hier, dass über diese Appräsentation 50
Luhmann (1987), 110: „Fär sinnkonstituierende Systeme hat alles Sinn;_/ar sie gibt es keine sinnfreien Gegenstände. Die Newton'schen Gesetze und das Erdbeben von Lissabon, die Planetenbewegungen und die Irrtümer der Astrologen, die Frostempfindlichkeit der Obstbäume und die Schadensersatzforderungen der Landwirte: alles hat Sinn."
51
A a O . 112.
52
Luhmann (1977), 21.
53
A a O . 25.
54
A a O . 21, vgl. 186.
55
A a O . 2 2 - 2 7 ; ebd. 22, A n m . 28 (zum ausdrücklichen Anschluss an E . Husserl); vgl. Luhmann (2000), 141: „Immer ist das jeweils Ausgeschlossene appräsen-
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„ w e l t k o n s t i t u i e r e n d e r S i n n " 3 6 a n s p r e c h b a r w i r d , ein H o r i z o n t b e g r i f f in d e m S i n n e , dass h i e r k e i n e G r e n z e , s o n d e r n eine i m m e r m i t w a c h s e n d e O r i e n t i e r u n g s l i n i e g e g e b e n ist. 3 7 D i e s e r n i c h t - d e f i n i t e S i n n v o n G r e n z e b z w . H o r i z o n t ist es n u n , an d e m R e l i g i o n sich a b a r b e i t e t u n d s o m i t i h r e n o r i g i n ä r e n P l a t z h a t . D i e Unformulierbarkeit
des W e l t h o r i z o n t e s
als a k t i v e r , m i t g e g e n w ä r t i g e r , u n ü b e r s p r i n g b a r e r H i n t e r g r u n d ist es, d u r c h die R e l i g i o n
als i m m e r
bestehende Aufgabe solcher
Hinter-
g r u n d b e s t i m m u n g des U n b e s t i m m t e n s y s t e m t h e o r e t i s c h plausibel gem a c h t w i r d . W a s L u h m a n n 1 9 7 7 ü b e r den p h ä n o m e n o l o g i s c h e n B e g r i f f der Appräsentation herleiten k o n n t e , wird 2 0 0 0 i m V o k a b u l a r
von
B e o b a c h t e n des N i c h t - B e o b a c h t b a r e n , der D e k o n s t r u k t i o n u n d S e m i o se, i m S c h e m a v o n E i n h e i t u n d D i f f e r e n z , M e d i u m u n d F o r m - in der G r u n d s t r u k t u r aber unverändert - z u m Ausdruck gebracht58: „Sinn ist danach [...] die Einheit der Differenz von Wirklichkeit und Möglichkeit [.../...] Da aber jeder Anschluss eine Form wählen, eine Unterscheidung treffen muss, regeneriert sich in allem sinnhaften Operieren zugleich das Medium der anderen Möglichkeiten und letztlich der unmarkierhare Weltzustand, der nichts mehr ausschließt. Immer bleibt etwas Ungesagtes vorbehalten, so dass alles, was bestimmt wird, auch dekonstruierbar bleibt. Jede Unterscheidung schafft sich eine Umgebung, in die weitere Unterscheidungen eingeführt werden können. [...] Sinn ist Verschiebung, ist ,différance' (Derrida), ist .unlimited semiosis' (Peirce), und doch muss man bei jeder Aktualisierung glauben können, dass es irgendwo einen festen Halt gibt, weil man schließlich sicher ist, dass es weiter geht." „Sinnformen werden als religiös erlebt, wenn ihr Sinn zurückverweist auf die Einheit der Differenz von beobachtbar und unbeobachtbar und dafür eine Form findet. Religion hat nichts mit ,Sinnkrise' zu tun, die es ja als Thema erst seit gut hundert Jahren gibt. Bei Themen wie ,Sinnverlust', ,Identitätsverlust', ,Weltverlust' handelt es sich nur um Phantomschmerzen nach großen historischen Amputationen - wie der Ermordung des Königs und der Entleerung des Hauses durch Schulen, tiert"; vgl. K. Held: Appräsentation, in: HWP 1 (1971), 458f.; E. Husserl (1986), 186ff. - Der Aspekt der „Selbstreferenz" des System, vgl. Luhmann (1977), 23, d.h. des zusätzlich mitlaufenden (bewussten) Wissens, wird hier nicht eigens thematisiert. Festzuhalten ist, dass zwischen den frühen (phänomenologischen) und den späteren (logisch-konstruktivistischen) Positionen kein Widerspruch besteht, was gerade die Weiterbenutzung des Begriffs der Appräsentation belegt. 56
Luhmann (1977), 22.
57
Vgl. Luhmann (1987), 114: „Der Horizont ist keine Grenze, man kann ihn nicht überschreiten." Luhmann (2000), 20/21, 35, 55; vgl. (1977), 25: „Die über Appräsentation im Prozessieren von Sinn ständig implizierte, ständig in Bezug genommene Welt bleibt unformulierbar, und genau darauf beziehen sich die Formulierungsprobleme der Religion." - Zum Verhältnis der frühen Religionsschrift zum erweiterten Theorierahmen der späteren Texte vgl. M. Pöttner (1994), 232f.
58
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IV. Das Relative: Explikationen von Religiosität
Fabriken und Büros; und wenn das zutrifft, wäre es eine Zumutung an Religion, sich damit zu befassen. Religion versteht Sinn auch nicht als ein ,Bedürfnis', das zu befriedigen wäre. Sie ist nicht dazu da, ,Sinnsuche' mit Aussichten auf Erfolg auszustatten. Das sind noch anthropologisch-funktionale Bestimmungen. [...] Die Frage bleibt, was unbeobachtet bleibt, wenn so oder auch anders unterschieden wird. Und das Problem der Religion, das sie von allen anderen Weltunternehmungen unterscheidet, ist nur: wie Sinn möglich ist, wenn dies so ist." „Hinter jeder bestimmenden Bezeichnung steckt immer die für sie unbeobachtbare Einheit ihrer Differenz. Und das heißt: eine Paradoxie."
(1) Eine „Unterscheidung" treffen zu müssen - steht jetzt als formalisierte logische Ausdrucksweise für das, was phänomenologisch bereits durch den übergreifenden Möglichkeitshorizont jeder (wirklichen) Bestimmung mitgedacht war: Eine Linie zu ziehen unterscheidet bekannten von unbekanntem Raum. Die Logik des „unmarkierten Weltzustandes" 59 gilt grundsätzlich und universal, sie ist anwendbar auf den nicht auszuschaltenden Gegensatz jeder Markierung im Verhältnis zu ihrem Anderen (dem von dieser Markierung Ausgeschlossenen), insofern erscheint sie lebensweltlich gedeckt und bleibt phänomenologieverwandt. Allerdings operiert Luhmann von da an spielerisch mit einer Zweistelligkeit (bekannt/unbekannt), die sich philosophischen Einordnungen und Rückfragen eher entziehen möchte. (2) Wenn immer „etwas Ungesagtes" bleibt, ist mit offenen Prozessen zu rechen, zu denen Überraschungen und grundlegende Neuerungen gehören. Allen Strukturbildungen muss dann der unbekannte Möglichkeitshorizont anzumerken sein. Luhmann sieht seine Unterscheidungstheorie deshalb in Verwandtschaft mit J. Derridas Differenzbegriff der immer effektiven Dekonstruktion (die allerdings an Sprache, Schrift und Text gewonnen wurde) 60 : Alles lässt sich von seinen Rändern her in Frage stellen, und gerade das gehört zur Sache, um die es geht. Das damit anvisierte kategorienlos Geheimnisvolle aber ist eigentlich nicht vergleichbar mit Ch.S. Peirce' Semiotik 61 , an die Luhmann hier zugleich appelliert. Der gemeinsame Punkt liegt allein in einer gewissen Unabschließbarkeit semiotischer Kettenbildungen. Genau 59 60 61
Zur Anknüpfung an das logische Modell von G. Spencer Brown vgl. Luhmann (2000), 25f.; zur genaueren Darstellung R. Dahnelt (2009). Vgl. J. Derrida (1997); s. § 12.3(5). Wie G. Spencer Brown schließen Peirce' Semiotik und Relationenlogik an die Algebra von G. Boole an, vgl. A.N. Prior (1972). Peirce aber operiert in einem vorausliegenden Diskursuniversum, in dem dreistellige Unterscheidungen vorgenommen werden; vgl. H. Papes Einleitung zu Peirce' graphischer Logik, in: SS 3 (1993).
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diese aber stehen in Peirce' dreistelliger Semiotik nicht für sich, sondern sind in pragmatische Entscheidungssituationen, die nicht als irrational ausgeschieden werden, eingebunden. Das von Luhmann gesuchte „glauben können" stellt wissenschaftstheoretisch erst die entscheidende Frage: Ob es dazu gehört oder aus dem System fällt. - Das damit artikulierte Problem aber gehört für Luhmann zur Sinnstruktur, jedenfalls zu der, die mit Religion bezeichnet zu werden pflegt. (3) Diese Verortung von Religion bleibt prekär: Sie steht dort, w o nichts Bestimmtes zu sagen ist und doch etwas zum Ausdruck kommen soll. Aus dem systemtheoretischen Ansatz folgt sogar, dass hier etwas zum Ausdruck kommen muss, der Möglichkeitshorizont nicht still gestellt werden kann, so dass der Religion eine notwendige soziale Funktion zukommt. Allerdings u m den Preis (wie es 1977 heißt), dass ihre Arbeit in einem „Leerhorizont" geschieht, im Sinne einer „religiösen Chiffrierung", die „keine Realität" hat. 62 Eine abgrenzbare (empirische) Bestimmtheit kann den religiösen Gegenständen nicht zukommen, auch mit sozialpsychologischen oder „anthropologischfunktionalen" Begründungen ist ihnen nicht gedient, auch wenn diese selbst in religionskritischen und säkularen Zeiten immer wieder Konjunktur haben. Nicht das subjektive „Bedürfnis" in Krisenzeiten spricht für Religion, sondern allein das fundamental-strukturelle Sinnproblem, das sich ganz prinzipiell dort ergibt, w o auch die Beobachtung der Beobachtung sich weder von hinten sehen kann noch sich je vollständig durchsichtig sein wird. (4) Deshalb und dafür nutzt Luhmann jetzt den zu allem quer stehenden Begriff des Paradox. Er zeigt an, dass sich die Religion an einer kritischen Stelle versuchen muss, w o immer erneut der Widerspruch aufscheint, sich gerade über das mitteilen zu wollen und zu müssen, was aufgrund der Grenze des Beobachtbaren nicht gesehen werden kann. Sinn ergibt sich über immer noch weiter reichende und von anderswo her beziehbare Bestimmungen, denn das Unterscheidenkönnen geht ebenso weiter wie die Interpretationsfähigkeit von Zeichenstrukturen. W i r d dieser unlimitierbare Uberschuss sozusagen zurückgewendet auf Bestimmbarkeit, so zeigt sich das Unbestimmbare als Bestimmbarkeitsproblem - und kann auf diese Weise kommuniziert werden. Genau das geschieht am sozial-kommunikativ-paradoxen Ort der Religion:
62
Luhmann (1977), 26, 33.
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Religion muss dann nicht mehr exklusiv auf existentiell verstandene Sinnangebote rekurrieren (nachdem ihre objektiv-institutionelle Verankerung in der Gesamtgesellschaft schwierig geworden ist), sondern sie ist tiefer liegend begründbar darin, dass der blinde Flecka aller Beobachtungs-, Bestimmungs- und Formulierungsleistungen als - paradox - bearbeitbar immer neu bestehen bleibt. Damit hat Luhmann ein wissenschaftliches Verfahren gefunden, „das Heilige mit unheiligen Mitteln zu analysieren" 64 , das Unbedingte also in seiner Funktion sichtbar zu machen. Doch dann ist der Sinnbegriff seinem alltäglichen Verständnis nicht mehr so fern, wie zunächst behauptet: Der Schrecken des sich aufdrängenden Leerhorizonts wird aufgefangen, wenn „so etwas wie Sinnvertrauen" entwickelt werden kann - und dafür ist die „Religion zuständig';· 6 :
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Religionsgeschichtlich hat diese systemtheoretische Verortung durchaus Plausibilität: Eine (traditionell gewachsene) Verehrung von Göttern ist so lange in gewisser Unbestimmtheit praktikabel, wie nicht nachgefragt wird, unter welchen Denk- und Realitätsbestimmungen denn das Auftreten von Göttern legitimiert ist oder nicht. Solange keine präzisere Horizontabgrenzung vorgenommen wird, bleibt ein ungenauer, damit aber auch weitläufig verwendbarer Anwendungssinn etwa von Götternamen, die mit Wetter, Schicksal, Gefühlen etc. unscharf, aber praktisch wirksam in Lebenszusammenhänge eingeholt werden können. Sobald aber z.B. monotheistische Rationalisierungen sich durchsetzen und Grenzen gegen andere Götter gezogen werden, muss die bisher zum Schweigen gebrachte Rolle des Leerhorizonts auffallen und in die neue Arbeit am Paradox eingehen. Daraus ergibt sich keine bewusstseinstheoretische, auch keine ontologische Absicherung, aber eine erneuerte Vertrautheit, in der die Paradoxie der Horizontauslieferung wiederum aufgefangen werden kann. 66
63
Luhmann (2000), 89: „Und im unmarked space bleiben [...] die Welt und der Beobachter als blinder Fleck seiner Beobachtungen zurück - unbeobachtbar, weil ununterscheidbar. Religion kann als der Versuch angesehen werden, dies Unvermeidliche nicht bloß hinzunehmen."
64
Luhmann (1977), 33.
65
Luhmann (2000), 47.
66
Beispielhaft ist Luhmanns Behandlung des Todesproblems, vgl. (2000), 47-52; 52: „Plausibilität gewinnen solche Deutungen nur als Religion, und das heißt: nur als System, das genügend Weltwissen mobilisieren, genügend Redundanzen aktualisieren kann, so dass der Tod als Fall, an dem Sinn selbst als paradox er-
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67 68
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Luhmanns ursprünglicher Einsatz von Chiffrierung67 war deshalb schwierig, weil er keinen zeichentheoretischen Kontext dafür namhaft machen konnte. Denn ein Zeichen, das auf nichts verweist, ist keines mehr. Das gilt auch dann, wenn die Funktion der religiösen Chiffrierung darin bestehen soll, den einmaligen Fall eines Sonderzeichens zur Verfügung zu haben. K. Jaspers hatte in diesem existentiellen Sinn von „Bedeutung" (der durchaus nicht funktional begründet war) den Begriff der „Chiffern" religionsphilosophisch und theologiekritisch verwendet: Chiffern repräsentieren für Jaspers die Transzendenz, aber etwas Bestimmtes kann damit nicht (mehr) gemeint sein: „Die Leibhaftigkeit des Transzendenten in der Welt ist nicht zu retten." 68 Wenn aber gelten soll, dass Religion nicht irgend etwas die Welt Belastendes bloß „kompensiert", sondern systemtheoretisch als „notwendige Bedingung jeder Festlegung" 69 mit im Spiel ist - nämlich bezogen auf die (unumgängliche) Aktualisierung der Hintergrundbedingungen eben jener Festlegungsmöglichkeiten, dann verweisen ihre Zeichenwelten auch nicht einfach auf Nichts70, sondern das Paradox von Beobachtung und Kommunikation ist gerade darin produktiv, dass auf anderer Ebene oder auf andere Art Zeichenverweisungen aktiv werden können: „Es geht [...] um religiösen Sinn, der in der Kommunikation als Sinn der Kommunikation aktualisiert wird." 71 Dieser Sinn soll systemtheoretisch so beschrieben werden, wie die Religion sich selbst beschreiben würde, wenn sie sich zugleich von innen, von außen und beides übergreifend beobachten könnte!
fahrbar wird, zurücktritt und aufgenommen wird in eine Welt, die als bekannt und vertraut behandelt werden kann." Luhmann (1977), 33; s. Anm. 62. K. Jaspers (1965), 133, Kap. X: Die Chiffern·, vgl. aaO. 132: „Die Bedeutungen, die nicht aufgelöst werden können durch Aufzeigen dessen, was sie bedeuten, nennen wir Chiffern. Sie bedeuten, aber bedeuten nicht Etwas. Das Was ist nur in der Chiffer, nicht ohne sie." Luhmann (2000), 36. AaO. 37. - Der Begriff der „Leere" hat deshalb bereits Nähe zur Religion, aaO. 124. AaO. 40.
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2.3. Kommunikation und Kontingenz Luhmanns Analysen der Religion der Gesellschaft setzen voraus, dass es einen folgenreichen gesellschaftlichen Wandel gegeben hat, der nachträglich beschreibbar ist und zum Verstehen der Gegenwart ausgewertet werden muss. Ursprüngliche „frühe Gesellschaftsformationen" waren „segmentar" gegliedert72, d.h. es gibt noch keine ausgeprägten Hierarchien oder ausgegliederte Funktionsbereiche, sondern wie ein Kreis in Segmente zerlegt werden kann, so ist dieses Gesellschaftssystem (Beispiel: Sippen- und Stammesreligionen im alten Israel, die Zeit der Mythen in Griechenland) auf einer Ebene gegliedert. Die faktische Religion ist sich selbst noch kein Thema in Distanz zu anderen gesellschaftlichen Funktionen. Das verschiebt sich bereits entscheidend in den als „stratifiziert" bezeichneten Gesellschaften: Durch soziale und ökonomisch-politische Schichtungen hierarchisierte Formen, in denen sich die uns bekannten Hochreligionen ausgebildet haben.73 Die Entwicklung des Gottesglaubens im Israel der Richter- und Königszeit findet so ihre gesellschaftstheoretische Beleuchtung in der funktionalen Differenzierung des Religionssystems: Dass Jahwe jetzt der sein kann, der unterschiedlich auf das Handeln (d.h. in gesellschaftlicher Differenzierung) des Königs, des Volkes, der Priester, der Propheten reagiert und doch als derselbe zu denken ist. Der Wechsel zur Moderne, d.h. zur tendenziell auch bewusst mitvollzogenen Aufgliederung der Gesellschaft in Teilsysteme, wird mit dem christlichen Mittelalter greifbar und ist in der Neuzeit vollzogen75: Jetzt wird nicht mehr einfach an Gott geglaubt, sondern zugleich thematisiert, ob und wie geglaubt werden muss, und die Kommunizierbarkeit von Glaube, Religion, Kirche, Dogmatik etc. wird nach innen wie nach außen für die Religion in der Gesellschaft unumgänglich. Gibt es in der Moderne seither „funktionale Äquivalente"76 für die sozialen Leistungen der traditionellen Religionen? Das wäre nur möglich, wenn die „säkularisierte Gesellschaft" das nachgewiesene „Bezugsproblem" der Religion im System-Umwelt-Aufbau erübrigen könnte. Da das systemtheoretisch ausgeschlossen werden kann, gilt umgekehrt, 72 73 74 75
76
Luhmann (1977), 37f. Ebd. Luhmann (2000), 115f. Vgl. (1977), 40f. - Diesen drei Epochen liegt also die „ganz grobe Unterscheidung von archaischen, hochkulturellen und neuzeitlich-industriellen Gesellschaften zugrunde", aaO. 93, Anm. 51; vgl. analog (2000), 168ff. Luhmann (1977), 45.
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dass konkret auftretende funktionale Äquivalente (seien es Wissenschaft, Politik, Aberglaube etc.) dann eben als (Ersatz für) Religion zu verstellen sind. Allerdings: Der Stellenwert des Religionssystem innerhalb der Gesellschaft macht den markanten Unterschied zur Tradition: Nicht mehr die Religion integriert das Gesamt der Gesellschaft, sondern diese hat ihr Teilsystem Religion 77 , das seine eigene Leistungsfähigkeit nach innen und nach außen jeweils neu unter Beweis zu stellen und vor sich und anderen zu thematisieren hat. Das ist die gegenwärtige Situation. Was darin die Religion auszeichnet, „ob und in welchem Sinne" sie ihre „spezifische, nirgendwo sonst relevante Funktion erfüllt", bündelt sich im Begriff der Kontingent - der praktischen Folgeerscheinung der Lokalisierung des Bezugsproblems Religion dort, wo das Unsagbare gesagt, das Nicht-Beobachtbare thematisch gemacht werden soll: Nichts mehr ist in sich notwendig, der Horizont alternativer Möglichkeiten ist unbegrenzt, alles Wirkliche ist auch anders denkbar. Die Spitze des Sinnproblems heißt Kontingenz, die Reaktion darauf Religion. (1) Als Kontingenzformeln bezeichnet Luhmann kollektiv wirksame Symbole, in denen Teilsysteme der Gesellschaft ihre entdeckte Paradoxie der Selbstbeobachtung im Horizontproblem auffangen und bearbeitbar machen. Als Beispiele nennt er die Kontingenzformeln „Gemeinwohl" oder „Legitimität" in der Politik, „Knappheit" in der Ökonomie, „Gerechtigkeit" im Rechtssystem - und dann eben Gott in der Religion. 79 Die Kontingenzformel steht immer genau an der Stelle, die die externe Beobachtung eines Systems (Beobachtung „zweiter Ordnung") als den prinzipiell unvermeidbaren „blinden Fleck" erkennt, der aber auch in der Außensicht nicht aufzuheben, sondern eben für das System zu konstatieren ist. Notwendige Komplexitätsreduktionen in Handlungsentscheidungen bleiben kontingent, das System deckt sie durch Kontingenzformeln. (2) Für die Religion gilt dabei (wie für alle Systeme), dass hier kein Ausweg in klassische (metaphysische) Modelle mehr möglich sein soll: Keine Seinslehre und keine Transzendentalität des Subjekts könnten soziale Kommunikation erklären, sondern immer nur umgekehrt: Der 77 78 79
Luhmann (2000), 125f.; zum systemtheoretischen Problembegriff Säkularisierung aaO. Kap. 8. AaO. (2000), 116f.; vgl. (1977), Kap. 3; (1987), Kap. 3; (2000), Kap. 4; H. Deuser: Kontingenz II, in: T R E 19 (1990), 551-559; 554ff. Luhmann (1977), 82f., 90f., 126f. u.ö.; (2000), 148f.
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IV. Das Relative: Explikationen von Religiosität
Rahmen der analytischen Möglichkeiten überhaupt ist die Kommunikation der Gesellschaft, der Rahmen der Systemaktivitäten und ihrer internen Analyse ist ihre Kontingenzformel. Je höher die Komplexität, desto größer der entwicklungsgeschichtliche Druck, so zu reagieren, und es könnte sein, dass die Krise der Religion in der Neuzeit dazu führte, dass das Religionssystem in der Kontingenzformel Gott zuerst „ausprobiert" hat, was inzwischen gesamtgesellschaftliches Schicksal geworden ist: Sich selbst permanent von innen und von außen zugleich sehen und beurteilen zu müssen; eine durchaus nicht einfache, schnell als lähmend empfundene Situation.80 Historisch aussagekräftig aber ist die Analyse der Religion - und hier besonders des Christentums -, weil durch die bestimmte Personalität Gottes schon im Alten Testament und besonders dann in der Christologie des Neuen Testaments das Kontingenzproblem im höchsten Begriff selbst erscheint. Denn mit dem Beobachtungsparadox kann sich das moderne Subjekt nur überlasten, es kann den Selbstwiderspruch an sich selbst nicht auflösen, taugt nicht für die Beobachterrolle im Horizontproblem des blinden Flecks und Erlösung steht in der Religion für die Rahmenbildung, wo keine andere Kommunikation mehr leistungsfähig erscheint.81 Der christologische Satz: „Gott selbst hat für uns gelitten"82 ist in diesem Sinne der Gipfel aller Kontingenz wie ihrer Bearbeitungsmöglichkeiten: Gott selbst hätte offenbar auch anders handeln können, er wird selbst zur religionskritischen Instanz der Warum-Frage; und solange die Geschichte nicht zu Ende ist und die Frage nach dem „Anders-seinkönnen" gestellt bleibt, impliziert der Kreuzesschrei Jesu zugleich die Kontingenzaussage: „Es war nicht notwendig!"83 Wenn die Theologie hier eingreift und nachträgliche (metaphysische) Notwendigkeiten konstruiert, macht sie einen Fehler.84 Die Alternative besteht darin, die klassisch-metaphysischen Modelle der Perfektion - sei es subjekttheoretisch, sei es ontologisch - aufzugeben zugunsten der konsequenten
80
81 82 83 84
(2000), 184; vgl. vor allem die resignative Lageeinschätzung in dem Satz: „Wenn es noch einen gesamtgesellschaftlichen Diskurs gibt, dann liegt er in den Händen der Intellektuellen, die sich unter der für sie angenehm unangenehmen Formel der Kritik damit beschäftigen, zu beschreiben, wie andere Intellektuelle beschreiben, was sie beschreiben." AaO. 130f.; zur fortgesetzten Aufnahme der Christologie vgl. aaO. 134f.; zum Personbegriff, 152ff. (1977), 199. AaO. 218. Luhmann versucht dies nicht nur zu belegen, sondern auch mit eigenen Vorschlägen zur Christologie zu beantworten, vgl. (1977), 199f.
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Personalität Gottes als Beobachter·. Gott als Person (als Handlungs- und Entscheidungsinstanz) steht für die radikale Kontingenz und macht diese bearbeitbar. 85 Dem Religionssystem würde es dann gelingen, die Beobachtungsparadoxie und ihre Kontingenz als Kommunikationsproblem der Gesellschaft auszuzeichnen: Gott steht systemanalytisch gesehen an der Stelle des blinden Flecks und ist doch selbst von ihm nicht betroffen! 86 Die Paradoxie hat dann einen Namen und in sich die Differenz, dass die volle Durchsichtigkeit eben der transzendenten Perspektive allein eignet, die sich darin von der immanenten abhebt. 87 Darin käme allerdings Gott eine Einheitsfunktion durchaus im Sinne der metaphysischen Tradition zu, die systemtheoretisch sonst nirgends akzeptiert erscheint. Immerhin: Das „Fragen" ist nicht „stillzustellen"! 88 Gott als „Beobachter" einzusetzen ist ein extern beschreibender Kunstgriff, der die Frage provoziert, wer diesen Beobachter wiederum sachgemäß, d.h. wie beobachtet. 89 (3) Dieser letzte Schritt im Zirkel der Beobachtungskonstruktionen fällt auf die Zuständigkeit der wissenschaftlichen Theologie zurück hier natürlich in systemtheoretischer Außensicht. Luhmanns Reichtum an diagnostischen Zugriffen ist beeindruckend 90 , bleibt aber immer seinem Theoriemodell sozialer Kommunikation unterworfen. Stets „nur negierbare Theorien formulieren zu können", muss heute der wissenschaftstheoretisch - und zumal semiotisch - belehrten Theologie und Religionsphilosophie gegenüber nicht mehr eigens gefordert werden, wie es Luhmann 1977 noch als Neuigkeit der theologischen Dogmatik ins Stammbuch schrieb. 91 Daraus folgt aber keineswegs, dass das
85 86 87 88 89 90 91
AaO. 219ff. - Mit der Ablehnung der Perfektion sind immer die Gottesbeweise der Tradition gemeint, vgl. (1977), 220ff.; (2000), 155f., 163. (2000), 158. AaO. 159. - Die Zuordnung „Immanenz/Transzendenz" hat Luhmann (vgl. [2000], Kap. 2.VI) als spezifische „Codierung" des Religionssystems benannt. Vgl. zum Problem der „Einheit" (2000), 148; zur systeminternen Perspektive und trotzdem geltenden Nichtstillstellbarkeit, aaO. 150. Vgl. aaO. 162f. Vgl. (1977), Kap. 3; (2000), 163-173. (1977), 200; Luhmanns Forderung (aaO. 223) ist zuzustimmen: „Das würde eine theologische Dogmatik erfordern, die ihre Dogmatizität reflektiert mit Hilfe einer Begrifflichkeit, die konsequent auf ,intrinsic persuaders' und Begründungssuggestionen verzichtet. Dabei müsste auch der Einsatz der Negationsverbote als systemspezifische Leistung transparent werden. Denn, heute zumindest, können nicht die Begriffe den Uberzeugungserfolg tragen, sondern
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I V . Das Relative: Explikationen von Religiosität
Unbedingte sich ausschließlich systemtheoretisch und konstruktivistisch im Zirkel des Beobachtungsproblems verfangen müsste. Denn im entscheidenden Punkt kann Luhmann (in der Rolle des wissenschaftlichen Beobachters) doch nur wieder von der Innen- zur Außenperspektive wechseln: Offenbarung ist dann selbstverständlich eine interne Kategorie, die sich der „Wahrheitsfrage (im Sinne von Wissenschaft)" entzieht, und Mystik, subtil im Beobachtungsparadox verankert als „Man sieht das Gesehensein unmittelbar", ist genau dadurch ohne greifbare Beurteilungskriterien.92 Dieses Dilemma entsteht nicht durch fehlende Sensibilität für religiöse Phänomene, sondern durch eine Blockade im Beschreibungssystem ausschließlich sozialer Kommunikation. Wenn Kontingenzformeln allgemein - und die religiöse Formel von Gott in Person ganz besonders - darin ihre Aufgabe erfüllen, „Inkommunikabilität" zu „kommunizieren"93, dann kann das hier immer mitschwingende (Paradox des) Unbedingte(n) entweder in wechselnden Beobachtungsperspektiven umspielt werden - das ist Luhmanns Zwang exklusiv systemtheoretischer Bezugnahmen; oder es müsste die Unbedingtheit als solche in ihren Wirkungen und Darstellungsweisen ernst genommen werden - was dann möglich ist, wenn die metaphysische Denktradition nicht pauschal verachtet und verabschiedet wird, sondern fallibilistisch, evolutionistisch und gleichwohl im Respekt vor den unumgänglichen Wahrnehmungsprämissen neu gefasst werden kann.94 Dass Luhmanns Distanzierung des alteuropäischen Denkens95- bei aller verständlichen Kritik zumal der darin auch gegebenen theologischen Naivität - nicht weiter hilft, zeigt sich im zuletzt nur resignativen Konzept des „Beobachtergottes"96: Es steht nur noch im Tempus der Vergangenheit, reagiert gerade nicht auf die epochalen Entdeckungen von K. Gödel, der als maßsetzend genannt wird, und teilt mit dem Dekonstruktivismus 0. Derridas) die Selbstauflösung aller realistischer Bezugnahmen.97 Dann bliebe nur, die Paradoxie als solche zur Meta-
nur die Systematisierungsleistungen im Erfahrungsbereich der religiösen Funktion." 92
(2000), 165, 167.
93
A a O . 168.
94
S. § 1.4.3 u. § 10.1.
95
(2000), 185; im Folgenden aaO. 184ff.
96
A a O . 184: „Der Beohachtergott hatte eine kaum zu ersetzende Orientierungssicherheit geboten. Wenn man ihn aufgibt, wird .Orientierung' zum Problem (und zum Modewort)."
97
Luhmann (aaO. 185) nennt Gödel gänzlich unkommentiert als Autorität dafür, dass die (alteuropäische, ontologische) Hierarchisierung der Seinspyramide, von
§ 14: Religionssoziologie
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physik zu erheben.98 Dass dieser methodische Leerlauf von (wissenschaftlicher) Kommunikation nicht zu empfehlen ist, liegt auf der Hand; dass darin nicht die einzige Beschreibungsmöglichkeit besteht, sollen zwei prinzipielle Einwände gegen Luhmanns Darstellungsmodell von Religion verdeutlichen: (a) Der existentielle Einwand besagt, dass der Geheimnischarakter aller Wahrnehmungsprämissen, der damit gegebenen Welt und ihrer Kommunikation weder durch Bebachtungsbeschreibungen (welcher Ordnung auch immer) aufgehoben werden kann noch zu entfallen hat, weil es letztlich keinen direkten Beschreibungszugang gibt. Luhmanns Bindung aller denkbaren Beschreibungen an soziale Kommunikation" will zwar beide Aspekte aufrecht erhalten, kann das aber nur durchhalten im spielerischen Positionswechsel von Perspektiven, denen analytische Kraft nicht abzusprechen ist, die die Nähe zum Phänomen aber jeweils zugunsten anderer (möglicher) Perspektiven wieder dementieren müssen. Dass das wissenschaftlich als faktischer Pluralismus so gesehen werden kann, ist hier so klar wie in den Analysen religiöser Wahrheit bei W. James100, dass damit aber das Zugangsproblem subjektiv-objektiver Erkenntnis noch nicht gelöst ist, wird wiederum überdeutlich. Dieser Einwand lässt sich (mit E. Herms101) in der Weise forderen Spitze aus alles Andere als stabil hergeleitet werden könnte, destruiert ist. - Godei hat gezeigt, dass die Widerspruchsfreiheit der Arithmetik „nicht durch irgendeinen metamathematischen Beweisgang gezeigt werden" kann, „der auf den Formalismus der Arithmetik ahhildbar ist", vgl. E. Nagel/J.R. Newman (1964), 94. Dieses Ergebnis öffnet aber gerade die Wissenschaften für die Anerkennung ihrer Voraussetzungen, zwingt nicht zur konstruktivistischen Zirkularität. 98
Luhmanns Resultat bleibt in der Schwebe, vgl. aaO. 186: „Mit all dem soll es heute zu Ende sein: mit der Geschichte, mit dem Menschen, mit der Metaphysik, mit der Kunst, mit dem Buch - mit Gott. Aber vielleicht haben wir nur zu lernen, welchen Unterschied es macht, wenn man etwas so bezeichnet."
99
Kommunikation wird damit, dezidiert anders als bei J. Habermas, nicht in tendenziell normativer Rationalität bestimmt (Luhmann [2000], 202); umgekehrt lautet der Vorwurf, dass Luhmann seinen Begriff von Gesellschaft systemtheoretisch-kommunikativ aus der Lebenswelt künstlich abtrennt, um seine Beschreibbarkeit zu garantieren, vgl. Habermas (1988), Bd. 2, 23 lf. 100 S. § 13.4. 101 E. Herms, Das Problem von „Sinn [...]", (1982), 202ff., Anm. 67 (Luhmanns Antwort, in: [1977], 21, Anm. 26, hilft nicht weiter). - Vergleichbar ist hier auch M. Pöttners Einwand der „epistemischen .Blindheit'" in Luhmanns Begriff von Gesellschaft, weil er triadische Relationen (Ch.S. Peirce) ebenso wenig in Betracht zieht wie die Ursprünglichkeit des religiösen Selbstbewusstseins (im Sinne Schleiermachers), um die Vermittlung von Unbestimmtheit zu Bestimm-
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IV. Das Relative: Explikationen v o n Religiosität
malisiert darstellen, dass die Beobachtungsbeschreibung menschlicher Intentionalität nur „reduzierend" erfasst ist, wenn darin nicht zugleich die in jedem Akt auftretende, selbst (aktiv) interpretierende Selbsterfassung mitlaufend und sich steigernd aufgenommen werden kann. D.h. Luhmanns Beobachtungsperspektiven unterstellen eine gleichbleibende quasi gegenständliche Erfassungsmöglichkeit sozialer Kommunikation, deren jeweiliges Unbestimmtheitsproblem (anders gesagt: deren existentiell mitlaufender Unbedingtheitscharakter aller Wahrnehmung) dann doch übersprungen werden kann. Alternativ dazu brauchte die Beobachtungsbeschreibung die Dreistelligkeit102 des (1) Vorgegebenen, des (2) vermittelt Gegebenen und der (3) intentional (interpretierend) aufgefassten Situation. Kann die wissenschaftliche Beschreibung sich von dieser Struktur aber nicht ausnehmen, so ist diese Strukturiertheit allgemein und unterliegt als solche nicht mehr beliebigen Perspektivenwechseln - schließt andererseits aber Kontingenz, Fallibilismus und evolutionistisches Prozessdenken gerade nicht aus. (b) Der semiotische Einwand greift zurück auf das Problem der Chiffrierung im „Leerhorizont"103 und richtet sich direkt gegen Luhmanns Konzept der Kontingenzformel als permanent schwebender Einheit·. „In funktionaler Perspektive u n d bei externer Beobachtung k a n n m a n die Einheit einer solchen F o r m e l wiederauflösen [sie!]. W i r hatten dafür bereits die paradoxe F o r m u l i e r u n g gewählt: das P r o b l e m trete als seine Lösung auf, das Differente sei Dasselbe." 104
Wiederum muss aus der Not des blinden Flecks die Tugend der Kontingenzformel gemacht werden, aber die Dialektik von Einheit und Differenz bleibt - unfassbar - daran haften. Das ist semiotisch gesehen deshalb unbefriedigend und unnötig, weil hier zunächst ein Zwang zum gegenständlichen Verweisen von Zeichen unterstellt wird, der dann dazu führt, dass in paradoxen Situationen der Verweisungssinn von Zeichen zu entfallen hat. Wird die Semiose dagegen so konzipiert103, dass zu ihr die Gefühlsqualität von Unbestimmtheit ebenso gehört wie die eigenständige Interpretation in bestimmbaren Bezügen, dann ist
barkeit als Zeichenverhältnis w i r k l i c h erfassen zu k ö n n e n , vgl. M . Pöttner (1994), 257ÍÍ. 102 S. § 1, A n m . 4. 103 S. A n m . 62 u. 68. 104 L u h m a n n (2000), 147; vgl. i m Folgenden aaO. 148. 105 Vgl. H . Deuser, Evolutionäre M e t a p h y s i k (2004), 59-63 (zu Peirce); 66-69 (zu Luhmann).
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überhaupt nicht mehr einzusehen, dass religiöse Kommunikation ihre spezifische Leistung im Leeren zu vollbringen habe - so reizvoll die Diagnose der Beobachtungsparadoxie auch ausgeführt wird. Luhmanns Denkansatz 106 , der sich immer neu aus der Dualität speist, nicht mehr mit althergebrachter (hierarchischer, stabiler) Ordnungsmetaphysik operieren will, sondern zugunsten offener Kontingenzen argumentieren muss, verliert dabei die Chancen dreigliedrigen (kategorialen) Denkens. In solcher Dreigliedrigkeit entfällt der Zwang, von Dualität zu Dualität zu springen, und es lässt sich festhalten, was Luhmann der Handlungssituation systematisch entzogen sehen will: das „Normale, alltäglich Erfahrbare". Denn dieses bleibt in gewisser Weise immer bestehen, auch wenn es methodisch gesehen ins „Unwahrscheinliche" 107 perspektiviert werden kann. Kontingenz muss dann nicht um ihrer selbst willen forciert werden, sondern sie gilt in Zusammenhängen. Luhmann sieht diese „schöpfungstheologische" Kontextualisierung von Kontingenz in „,Abhängigkeit von...'" durchaus, bewertet sie aber nur historisch im Ubergang von der scotistischen Tradition zur Modaltheorie der Handlungskontingenz. Kosmologie und Semiotik erscheinen demgegenüber unzuständig, und die theologische Tradition wird wiederum mit dem schnellen Hinweis auf die Problematik der „Perfektion" und das Ungenügen der Gottesbeweise abgewehrt. 108 Genau hier liegt das Defizit der systemtheoretischen Kommunikations- wie Kontingenzfigur: Sie will keinen Zusammenhang, kein Kontinuum gelten lassen, das sie nicht systemfunktional (in sinnkonstitutiven Mehrfachkontingenzen), d.h. konstruktivistisch selbst aufgebaut hat. Die konsequente Sicht von Handlungskontingenz verlangt aber nicht perspektivische Schwebezustände, sondern die realistische, d.h. semiotische Einbettung im Kontinuum des Weltprozesses.
3. Funktion, Handlung und Aneignung Sind menschliche Gemeinschafts- und Lebensformen funktional gesteuert - und die (historischen) Religionen bzw. Religiosität liefern der Forschung das (empirische) Anschauungsmaterial, wie solches Funktionieren in seinen Ursprüngen zu erklären ist? Oder ist es menschliches Handeln, dessen Grundlagen, Dispositionen und Zielgebungen die
106 Beispielhaft in N. Luhmann (2001), 8f. (die beiden methodischen Wege). 107 AaO. 9. 108 AaO. I i i .
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IV. Das Relative: Explikationen von Religiosität
sozialen Formen erklären - und wiederum wären es die Religionen, jetzt konstitutiv aber auch die persönliche Religiosität, die nach außen empirisch, nach innen unanschaulich zum verstehenden Erklären herangezogen werden müssen? Diese Akzentverschiebung im soziologischen Modell ist religionsphilosophisch entscheidend, weil die funktionale Erklärung eine Tendenz zur systemtheoretisch-funktionalistischen Autokratie hat109: Alles erklärt sich sozusagen von selbst aus den jeweiligen Entwicklungspotentialen, ontologische oder subjektive Verstehenszusammenhänge scheinen sich dann zu erübrigen. Der Rückgang auf Handlung dagegen setzt humane Selbstbestimmungsfaktoren voraus, deren Gründe sich gar nicht durchgängig in (empirischen) Beschreibungen angeben lassen. Hierin lag ja der Reiz und die Entdeckung der klassischen (Religions-)Soziologie bei E. Durkheim und M. Weber, gerade die ursprünglichsten, ältesten, vorindustriellen Religionsformen daraufhin zu untersuchen, was aus ihnen für die späteren Handlungs- und Sozialformen zu lernen sei: Uralte Rituale versinnbildlichen die soziale Symbolisierungskraft, ohne die keine solidarische Gesellschaftsform existieren könnte110; und die Grundstruktur solcher Symbolisierung scheint im (religions-)geschichtlichen Ursprung einfacher zu erkennen zu sein als dort, wo sie nur noch der vagen Erinnerung nach wirksam sein kann und kaum mehr beansprucht wird: Religion in der Moderne. Diese Sicht der Dinge aber enthält das ungelöste Problem: Ersetzt die funktionale Erklärung die authentische Wirkung, die genuine Uberzeugungskraft und den Wahrheitsanspruch einer bestimmten Religion, ihrer Rituale, Mythen, Glaubens- und Lebensformen - obwohl die wissenschaftliche Betrachtung all dieses ja voraussetzen muss, damit eine plausible Erklärung überhaupt zustande kommt? Die folgende Unterscheidung präzisiert die Fragestellung: • Funktional heißen alle Erklärungen von „Religion", wenn ihre Wirkungsweisen auf anderem als dem spezifisch religiösen Feld nachgewiesen werden können. Das gilt entsprechend auch handlungstheoretisch, wenn Entstehung, Durchführung oder Zielge-
109 Vgl. die Einwände von H . Joas (1996), Kap. 4, gegen den funktionalistischen und evolutionistisch begründeten - Gesellschaftsbegriff, z.B. in der Frage (aaO. 331): „Haben wir uns Differenzierungsprozesse so vorzustellen, dass sie gewissermaßen durch die Intentionen von Handelnden hindurchgreifen und sich unabhängig von diesen verwirklichen, oder brauchen Differenzierungsprozesse Akteure [...]?" 110 Vgl. zur Aktualität der Religionsstudien Dürkheims bei T . Parsons (1978), chap. 10.
§ 14: Religionssoziologie
•
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bung von Handlungen als mitbestimmt durch religiöse Elemente interpretiert werden können. Die soziale Funktion (F) von bestimmten Elementen einer Religion (R) führt dann zu einer Interpretation (T) in wissenschaftlich erklärendem Kontext: F(R) I(R). Funktionalistisch heißen dagegen solche Erklärungen von „Religion", wenn sowohl Handlungen als auch soziale Lebensformen ihre Eigenständigkeit verloren haben und durch den funktionalen Zugriff ohne Rest ersetzt werden können. Dann gilt: F(R) = R.
Diese Unterscheidung wird immer wieder dadurch unklar, dass die soziologischen Denkmodelle extensiv auf Rituale, Mythen, Symbolisierungen zurückgreifen, ohne zugleich deren ontologischen Status diskutieren zu wollen. T. Parsons' „Paradigm of Christian Symbolism" 111 gibt beispielsweise ein ebenso übersichtliches wie komplexes Schaubild der (mittelalterlich) christlichen Heilsgeschichte, Sakramentsauffassung, Christologie sowie des zugehörigen Gottes- und Menschenbildes; zugleich interpretiert in den psycho-sozialen (funktionalen) Bezügen von Männlichkeit (Vater/Sohn), Weiblichkeit (Mutter/Maria), Zeugung (Vater/Hl. Geist), Geburt (Mensch Jesus), Leben (Gottessohn) und Tod (Leib/Blut); hinzu kommen die genau beobachteten Funktionsänderungen z.B. der Sakramentsauffassung durch die Reformation.112 Hier wird sogar mit R. Bellahs Begriff der „civil religion" 113 eine positive Weiterwirkung von (christlicher) Religion über die Moderne und bis in die Gegenwart angenommen. Doch auch dies ändert nichts an dem generellen Befund, dass die soziologischen Erklärungskräfte es offen lassen müssen, aufgrund welcher Kriterien denn eine notwendig positive oder negative Zukunft von „Religion" in der Gesellschaftsentwicklungen gelten soll. Ob es säkulare Destruktionsformen oder zivilreligiöse Rest- bzw. Entwicklungsformen von „Religion" sind, die empirisch studiert werden können - ausschlaggebend und ausstehend bleibt die theoretische, religionsphilosophische Begründung für Religi111 T. Parsons, aaO. chap. 13, 301; vgl. als analoges Beispiel die sozialtheoretische Neuinterpretation des „Schöpfungs- und Erlösungsmythos" hei U. Oevermann (1995), 67ff.; s. Anm. 17. 112 Parsons, aaO. 305ff. 113 AaO. 308; vgl. H. Joas' Kritik an dem von Parsons nahe gelegten Zusammenspiel von Religion und Säkularität der Moderne 0oas [2002], 511): „Man könnte in parsonianischer Sprache sagen, dass er die Soziologie nicht als institutionelles Substitut für Religion betrachtet, wohl aber seine Theorie der ,human condition' als kognitive Ausarbeitung und Reformulierung von - ja und vielleicht sogar als Ersatz für - christliche Lehren auf der Ebene kognitiver Geltungsansprüche."
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IV. Das Relative: Explikationen von Religiosität
on und Religiosität, die unter den gegebenen Bedingungen überzeugen könnte. In Parsons' religionssoziologischer Analyse des Lebens als „Gabe" 114 lässt sich schließlich zeigen, wie z.B. der Wandel der Todesvorstellungen und Todeserfahrungen - gerade auch im Blick auf medizinethische Fragestellungen - in der Moderne allein auf dem Hintergrund religiöser und theologischer Voraussetzungen verstanden und kritisch entwickelt werden kann. Wenn der Tod aber - säkularisiert - zuletzt doch nur als Vernichtung, nur als „Macht der stärksten Nicht-Utopie" (E. Bloch 113 ), d.h. zusammenhangslos empfunden wird, welche Sinnbasis bliebe dann noch für die beschreibende Religionssoziologie? (1) Die Auslegung des Lebens als Gabe, der Menschen zu entsprechen suchen müssen, hat ihre kritische Grenze dort, wo ohne Wechselseitigkeit gegeben, d.h. jenseits ausgleichender Gerechtigkeit immer zu viel und über alle Maßen geschenkt wird. Der christliche Sinn des Liebesgebots fällt daher nicht mit dem Ideal der Gerechtigkeit zusammen, sondern bezieht sich auf eine „supramoralische Dimension" 116 ; mit S. Kierkegaard gesagt: Der religiöse Glaube bedeutet in spezifischen Situationen eine „Suspension des Ethischen" 117 , d.h. Ausdruckskraft, Wirksamkeit und Verpflichtung der Liebe sind nicht moralisch ableitbar, wohl aber qualifiziert die Liebe moralisches Handeln. Diese Grundlegung sozialen Handelns lässt zwar wiederum funktionale Explikationen zu; aber nicht so, dass jemals die Funktionsbestimmung mit Grund, Sinn und Wirksamkeit der Liebe bzw. des religiösen (unbedingten) Glaubens zusammenfallen würde. (2) Die (negativen und positiven) Lebenserfahrungen religiös aufzufassen ist weiterhin unter der Bedingung möglich, dass gerade kontingente Ereignisse mit Gott selbst in Verbindung gebracht werden können. Vorsehung und Heilsgeschichte wären missverstanden (und das nicht erst in der Moderne), wenn sie quasi objektiv (modern gesprochen:
114 „The ,Gift of Life' and its Reciprocation", in: T. Parsons (1978), 264-299; zur Darstellung und Kritik vgl. H . Joas (2002). 115 E. Bloch (1967), Kap. 52; vgl. zu dieser offenen Sinnfrage - trotz und wegen „Säkularismus" - auch W. Schluchter, Bd. 1 (1988), 361. 116 H . Joas (2002), 513. 117 S. Kierkegaard, Furcht und Zittern, SKS 4, 148ff.; dt. Ges. Werke, 4. Abtlg. (Problema I); zur Verteidigung dieses Projektes gerade in ethischem Kontext vgl. J . Boldt (2006).
§ 14: Religionssoziologie
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empirisch) genommen würden118; sondern es geht um die Unvermeidlichkeit und Konstanz der (religiösen) Aneignungssituation119, die den unbedingten Glauben auszeichnet. Der soziologisch nicht erfüllbare ontologische Sinn religiöser Symbolik muss genau in diesem Punkt orientiert werden: Das jeweilige (diskontinuierliche) Heraustreten von kontingenten Ereignissen aus realen Zusammenhängen (Kontinuum) wird selbst und jeweils wieder ereignishaft angeeignet. Die Unbedingt heit der Situationswahrnehmung enthält qualitativ Neues, das als solches wieder Zusammenhänge etablieren wird. Kontingenz ist dann nicht die bloße Formel für funktionale „Sinnkonstitution" 120 , sondern bezeichnet die herausstehende Relation von Ereignissen aus ihrem Zusammenhang in der Zeit (Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft). Darin liegt zugleich der religionsphilosophische Auftrag, Funktionen des religiösen Glaubens nicht ohne Klärung der ontologischen und kosmologischen Voraussetzungen zu beschreiben, d.h. Kontingenz nicht ohne Aneignungssituation und Kontinuum. (3) Unter diesen Bedingungen ist M. Webers typisierende Begriffsprägung der religiösen Virtuosität121 mit Zurückhaltung aufzunehmen, und das gilt erst recht für Webers auch selbstironisch genutzte Charakterisierung religiös musikalischer bzw. (was für ihn selbst gelten sollte) unmusikalischer Menschen.122 Unbedingtheit, Aneignungssituation, Kontingenzerfahrung und Kontinuum bezeichnen allgemeine Bedin118 Vgl. H. Deuser, Vorsehung (2003), 318-321. 119 S. Anm. 101 zu E. Herms' Einwand gegen Luhmann. - Luhmann hat an der von Joas als „blasphemisch" 0oas [2002], 512) bezeichneten Stelle (die Gabe des Lebens versetze den Empfänger in „Dauerschuld") immerhin den christologischen - und insofern paradoxen - Kontext hergestellt, das „Rationalitäts- und Begründungsproblem" werde „selbst in die Kontingenz gestoßen" (Luhmann [1977], 209 Anm. 51). - Der Begriff der „Aneignung" wird hier im Anschluss an S. Kierkegaard gebraucht, vgl. SKS 4, 322,29f. ; dt. Der Begriff Angst (1992), 19 Anm. (hier im Zusammenhang mit dem persönlichen Verstehensvollzug für „Wissenschaft", „Poesie und Kunst" gefordert; s. § 12.2, Anm. 40), aber zugleich auch bezogen auf den Wahrnehmungs- bzw. Ereignisbegriff (s. § 11.2). 120 Luhmann (1977), 201. 121 Vgl. Religiöse Gemeinschaften (2001), 317f.: „Ebenso wie die magisch qualifizierten Zauberer, so bildeten daher die ihre Erlösung methodisch erarbeitenden religiösen Virtuosen überall einen besonderen religiösen ,Stand' innerhalb der Gemeinschaft der Gläubigen"; s. Anm. 13. 122 Vgl. zu den Belegstellen bei G. Thomas (2001), 105, Anm. 105. - „Musikalität" bezeichnete dann so etwas wie einen „Glaubenssprung", der der wissenschaftlichen Einstellung gerade fremd bleiben muss, vgl. W. Schluchter, Bd. 1 (1988), 362.
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IV. Das Relative: Explikationen von Religiosität
gungen, denen gegenüber es strukturell gesehen keine Voraussetzungsdifferenzen oder Willküroptionen geben kann. Die psychologische wie soziologische Beschreibung von Funktionen der Religion kann auf die Dauer ohne eine solche Verankerung, was Religion selbst denn begründe und bedeute, auch gar nicht auskommen, sie würden sonst die authentische Erfahrungsbasis für das verlieren, was empirisch ausgewertet doch zu wahren Theorien sozialer Funktions- und Begründungszusammenhänge führen soll. Dass sich aber nachweislich Funktionen der Religion explizieren lassen, spricht für ihre Wirksamkeit und gibt erst recht Anlass, der Sache selbst auf den Grund zu gehen.
§15: Religionsgeschichte Die Spezialisierung von Religionspsychologie und Religionssoziologie zu eigenständigen Wissenschaftsdisziplinen Ende des 19. Jh. setzte bereits die Krise der Religionsbegründung voraus, wie sie durch die neuzeitliche Institutionen-, autoritäts- und textkritische Aufklärung im 17./18. Jh. eingeleitet worden war und zu einer Wissenschaftseinstellung geführt hatte, die rationales bzw. empirisches Wissen dem (kirchlich bestimmten) Glauben vorziehen musste. 1 Dadurch sollte und konnte aber Religion weder als Lebensorientierung noch als Theorieproblem an den Grenzen der Vernunft zum Verschwinden gebracht werden, wohl aber verschieben sich der gesellschaftliche Stellenwert der Religion und die Wirkungsfelder der wissenschaftlichen Theologie: Die scholastische Vorrangstellung beider wird entscheidend dadurch in Frage gestellt, dass ihre autoritativen Grundlagen als geschichtlich geworden relativiert werden und damit weltlichen Entwicklungslinien gleichgestellt erscheinen. Das gilt vor allem für die biblischen Texte selbst, aber auch für die gesamte kirchliche und theologische Uberlieferung. Sie konnte von da an entweder nur als rein dogmatisch, d.h. durch Lehrautorität gesetzt und insodern als wahr verteidigt werden, oder ihr Gewordensein musste in die Begründung ihrer Geltung mit einbezogen werden können. Zumal die protestantische Theologie hat sich, wenn auch niemals unumstritten, im akademischen Kontext früh für diese letztere Option entschieden und damit die historische Forschung und Methodendiskussion - ganz allgemein und in eigenem Interesse - vorangetrieben. 2 Dieser Prozess fällt nicht zufällig zusammen mit dem Aufkommen der selbständigen, d.h. nicht mehr von der kirchlichen Dogmatik abhängigen Religionsphilosophie 3 um 1800 und hält bis heute an. Die wissenschaftliche Selbstreflexion von Religion und Theologie geschieht in den Dimensionen des geschichtlichen Ver-
1 2
S. § 8 . 1 u. 2; S 9.2.2. Vgl. W. Pannenberg: Geschichte/Geschichtsschreibung/Geschichtsphilosophie Vili, in: TRE 12 (1984), 658-674, hier: 658ff.; in protestantischer Tradition historischer Quellenkritik und Forschung steht dann vor allem die „Religionsgeschichtliche Schule" (Ende des 19. Jh.), vgl. G. Lüdemann/A. Ozen, in: TRE 28 (1997), 618-624.
3
S. § 1.1.
400
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gleichs, kritisch gesagt: „Die Theologie selbst wird historisiert - und beteiligt sich daran."4 Von Beginn an gehört zu diesem geschichtlichen Vergleichen das wachsende Interesse an nicht-christlichen Religionen und die immer weiter greifende Erschließung von Quellen, Dokumenten und Anschauungsmaterial - von der europäischen Antike bis zur Entdeckung neuer Kontinente im Weltmaßstab. 5 Gerade durch diese Horizonterweiterung lässt sich die kulturelle Allgemeinheit des Phänomens belegen, dessen weltgeschichtliche Entwicklung nachzeichnen, aber auch die Kritik an abwegigen Ansprüchen und Praktiken der Religion vor dem Forum wissenschaftlicher Vernunft begründen. Im sog. ältesten Systemprogramm des deutschen Idealismus (1796/97), geschrieben wohl von Hegel - es atmet aber zugleich den Geist seiner revolutionären Freunde F. Hölderlin und F.W.J. Schelling - heißt es: „Umsturz alles Afterglaubens, Verfolgung des Priestertums, das neuerdings Vernunft heuchelt, durch die Vernunft selbst. - Absolute Freiheit aller Geister, die die intellektuelle Welt in sich tragen, und weder Gott noch Unsterblichkeit außer sich suchen dürfen." 6
Die wahre, geschichtlich und damit vernünftig legitimierte Religion wäre die der Freiheit, die dann das Göttliche nicht mehr als heteronomes, gegenständliches Außeres sucht, sondern als geistiges Selbstverhältnis erkennbar machen kann. Die Religion erkennt sich selbst als geistige Auslegung des Unbedingten. Ihr Kritikpotential stammt aus derselben Geschichte der Religion, in der sie sich expliziert und historisch relativiert. Der seither alles durchdringende „Sauerteig" der „historischen Methode"7 aber kann nur religionsphilosophisch mit neuem Selbstbewusstsein zugleich bestätigt und durchschaut werden. 1. Geschichte als Quellenkritik Die historische Kritik hat sich in philologischen (exegetischen), dogmengeschichtlichen, kirchengeschichtlichen und religionsvergleichen4 5 6 7
N. Luhmann (2000), 172 (zu Hegels „Vorlesungen über die Philosophie der Religion"). Vgl. B. Maier: Religionsgeschichte, in: TRE 28 (1997), 576-585, hier: 578-582; H.G. Kippenberg (1997). G.W.F. Hegel, Werke 1 (1971), 234-236, hier: 235; vgl. aaO. 628 zur Textgeschichte; F. Hölderlin (1965), 1015. E. Troeltsch, Uber historische und dogmatische Methode in der Theologie (1898), in: Ges. Schriften II (1962), 730.
§ 15: Religionsgeschichte
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den Methoden etabliert, weil auf diesem Wege - zugunsten von Vernunft und Frieden - unbegründbare Offenbarungsbehauptungen zunehmend relativiert werden konnten. Das gelingt, weil Widersprüche in den kanonischen Texten auf ihre Entstehung unter humanen, d.h. nicht irrtumsfreien Bedingungen verweisen; und weil die Bindung des Unbedingten an Bedingtes, sofern Menschen daraus widerstreitende Ansprüche und prinzipielle Feindschaften folgern, überhaupt in Zweifel gezogen werden muss. Erfolgreiche Quellenkritik liefert Gründe und enttarnt Motive dafür, dass verfehlte Rituale den Menschen anstelle der Wahrheit nur „Phantasiegebilde" eingebracht haben, so B. de Spinoza im Tractatus theologico-politicus (1670).8 In ähnlicher Absicht entwickelt D. Hume rund hundert Jahre später die These einer „natürlich" erklärbaren Entstehung der Religion in der Menschheitsgeschichte. Diese Natural History of Religion (1757) entzieht allen supranaturalen Wahrheitsbegründungen die Autorität eben dadurch, dass ein historisch-vernünftiges Zustandekommen alles dessen plausibel gemacht werden kann, was nur aus sturem und rückständigem Unwissen immer noch auf außergewöhnliche, irrationale Verursachungen zurückgeführt wird. Die religiöse Innensicht wird schließlich an der religionsgeschichtlichen Erklärung in der Außenperspektive scheitern. 9 Hume ist seiner Sache deshalb so sicher, weil er wissenschaftssystematisch mit den folgenden Unterscheidungen operiert: • Die allein rationale Seite der Religion, der Gottesbeweis, wird von ihm zwar sehr kritisch diskutiert, als Theorieentscheidung in einem philosophisch-allgemeinen Sinne aber letztlich akzeptiert: die „Welt verrät einen intelligenten Urheber". 10 • Daneben steht der erkenntnistheoretische Empirismus, der die Zusammenhangsbildung von einzelnen Sinneswahrnehmungen nicht apriorischen Prinzipien zuschreibt, sondern allein der Gewohnheit und dem Glauben.11
8 9
Vgl. Spinoza (1979), 7; s. § 9.2.2, Anm. 51f. Vgl. D. Hume (1984), 47: „Jeder Außenstehende (aber unglücklicherweise gibt es nur wenige Außenstehende) wird leicht einsehen, dass, wenn nichts weiter zur Errichtung eines Systems unter dem Volke erforderlich wäre als die Absurditäten anderer Systeme herauszustellen, jeder Anhänger jeden Aberglaubens einen hinreichenden Grund für seine blinde und ergebene Anhänglichkeit an die Prinzipien anführen könnte, unter denen er erzogen wurde."
10
Hume, aaO. 1; zur kritischen Analyse des teleologischen Beweises vgl. Hume, Dialoge über natürliche Religion (1980); vgl. H. Deuser, Gottesinstinkt (2004), Kap. III.9. S. § 9.1, Anm. 13ff.
11
402
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Der erkenntnistheoretisch notwendige Glaube aber wird vom religiösen Bereich dadurch ferngehalten, dass die Entstehung der Religion gerade nicht in „einem ursprünglichen Instinkt oder einem ersten Eindruck der Natur" gesucht wird, sondern im Gegenteil in kulturgeschichtlich zufälligen Bedingungen.12
Unter diesen Voraussetzungen kann Hume die Religion rein naturgeschichtlich und psychologisch, d.h. empirisch behandeln; und gegen alle Dogmatik seiner Zeit überrascht er die Leser mit der religionsgeschichtlichen These, dass die Religion nicht mit dem (biblischen) Monotheismus, sondern mit dem Polytheismus begonnen haben muss, denn das ist den „historischen Tatsachen" näher und keine bloß „spekulative Meinung".13 Alle Aussagen über Religion in diesem Kontext sind folglich an der Erfahrung zu messen, so wie Hume mit Argumenten der Tatsachenevidenz zuvor schon (1748) gegen die Gültigkeit und Uberzeugungskraft von Wundern Stellung genommen hatte.14 Das Beurteilungsverfahren in diesen Fällen, das hat Hume gesehen, läuft dann auf die Abwägung von Wahrscheinlichkeiten (der vorhandenen Zeugnisse über Tatsachen) hinaus. Das bedeutet aber, ein Beweis im Sinne einer demonstrierten Notwendigkeit kann auf diesem Feld nicht mehr geführt werden15, d.h. das religionsgeschichtlich-empirische Argument begrenzt sich selbst gegenüber den abgetrennten Bereichen der Rationalität (des Gottesbeweises) und der Gefühlsqualität des Glaubens. - Wie diese Bereiche der Naturalität, Rationalität und Gefühlsqualität aber zusammenhängen, darin besteht gerade die religionstheoretisch eigentlich interessante Frage, die Hume selbst als Aufklärer und Religionskritiker zunächst einmal suspendieren wollte; die die Religi-
12
Hume (1984), If.
13
AaO. 5; vgl. 8: „Wir können daher schließen, dass hei allen Völkern, die den Polytheismus angenommen hatten, die ersten religiösen Vorstellungen nicht von einer Betrachtung der Werke der Natur herrührten, sondern von der Sorge um das tägliche Lehen und von den unaufhörlichen Hoffnungen und Ängsten, die den menschlichen Geist bewegen."
14
S. § 9.1, Anm. 17.
15
Hier liegt nicht nur die Grenze von Humes Argumentation gegen die Tatsachenevidenz von Wundern (vgl. H. Schulz [1996], 28ff.), sondern die Problematik historischer Beweisbarkeiten überhaupt. Ch.S. Peirce hat im Anschluss an Hume die Mathematisierbarkeit und empirische Uberprüfbarkeit historischer Argumentationen diskutiert und von der „theory of balancing likelihoods" gesprochen, vgl. On the Logic of Drawing History from Ancient Documents, Especially from Testimonies (1901), in: EP 2, 75-114, hier: 75ff.
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403
onsgeschichte, gerade auch eine empirisch orientierte, aber sach- und selbstkritisch auf die Dauer nicht vermeiden kann.
2. Glauben und Wissen (G.W.F. Hegel) Die idealistischen Systemphilosophien (Fichtes, Schellings und Hegels) bestimmen die Wende zum 19. Jh., und die drei transzendentalphilosophischen Kritiken Kants sind Anlass genug, alle Grundfragen der Philosophie, die Kant in theoretische, praktische und ästhetisch-teleologische systematisiert hatte, noch einmal neu zu durchdenken. Das geschieht unter dem epochenbildenden idealistischen Motiv der Suche nach dem einheitlichen Grund, der Einheit des Verschiedenen, dem tendenziellen Ausgleich entgegenstrebender Kräfte - mit Hegel gesagt: der Versöhnung der Gegensätze in der wissenschaftlichen Systementfaltung des Geistes.16 Die Religion - in der religionsphilosophischen Gestalt des Unbedingten - bleibt in diesen Projekten ständiger Impuls, auch das konstruktiv zu denken, was selbst nicht gegenständlich und nicht einfach Bestandteil endlichen Denkens sein kann. Die europäische Aufklärungsepoche dagegen stand in der Gefahr, mit dem alleinigen Maß der Vernunft diese selbst zu vergesetzlichen, einseitig nur noch Verstandesleistungen als Begriffe von Gegenständen zuzulassen. 17 Religion wird insofern zum Testfall, ob und wie das den Begriffen Andere, Vorausgehende, sie Begrenzende und Gründende dem wissenschaftlichen System zugehören kann. Dass und was der religiöse Glaube glaubt ist dann weder subjektive Fehlleistung noch objektivistischer (supranaturaler) Sonderfall, sondern Ausdrucksform des Göttlichen in der Geschichte. Hegels Systemphilosophie ist der erstaunliche Versuch einer Versöhnung der Gegensätze von Rationalität und Religiosität, weil sich wirklich alle Lebensdimensionen, Wissenschaften und zuletzt die Geschichte überhaupt in diesen Prozess produktiv - und sich selbst mitdenkend - hineingezogen finden. Nichts soll bloß für sich, d.h. anderem gänzlich fremd oder abstrakt stehen bleiben. Leben und Denken sind ein geistiger Zusammenhang, der Fremdheit überwindet. Das gilt auch für die Religion, und es ist bereits Hegels Frühschrift Glauben und 16
17
Vgl. W. Janke aaO. (s. § 14, Anm. 28), 4-16; zur dreigliedrigen Einteilung der Philosophie Kants s. § 9, Anm. 2; dazu O. Höffe (1983), Kap. II-IV; V. Gerhardt (2002), Kap. 3-5; s. § 8.2 (zu Kant); § 8.3.1 (zu Hegel); § 12.3(1) (zu Fichte u. Schelling). S. § 1.1, Anm. 11 (aus Hegels Einl. der Schrift Glauben und Wissen [1802/03]); vgl. E. Heintel: Glauben und Wissen I, in: HWP 3 (1974), 646ff.
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Wissen, die programmatisch die Gegensätze der Zeit, dargestellt in den Philosophien von Kant, Jacobi und Fichte, zum höheren Ausgleich zu bringen sucht. Hegels Schlussabschnitt gibt die systemphilosophische Versöhnung der (christlichen) Religion in äußerste Konsequenz. Der härteste Gegensatz ist dann ernst genommen, wenn er als solcher überwunden ist: „Der reine Begriff aber oder die Unendlichkeit als der Ahgrund des Nichts, worin alles Sein versinkt, muss den unendlichen Schmerz, - der vorher nur in der Bildung geschichtlich und als das Gefühl war, worauf die Religion der neuen Zeit beruht, das Gefühl: Gott selbst ist tot (dasjenige, was gleichsam nur empirisch ausgesprochen war mit Pascals Ausdrücken: la nature est telle qu'elle marque partout un Dieu perdu et dans l'homme et hors de l'homme), - rein als Moment, aber auch nicht als mehr denn als Moment der höchsten Idee bezeichnen und so dem, was etwa auch entweder moralische Vorschrift einer Aufopferung des empirischen Wesens oder der Begriff formeller Abstraktion war, eine philosophische Existenz geben und also der Philosophie die Idee der absoluten Freiheit und damit das absolute Leiden oder den spekulativen Charfreitag, der sonst historisch war, und ihn selbst in der ganzen Wahrheit und Härte seiner Gottlosigkeit wiederherstellen, aus welcher Härte allein, - weil das Heitre, Ungründlichere und Einzelnere der dogmatischen Philosophieen sowie der Naturreligionen verschwinden muss -, die höchste Totalität in ihrem ganzen Ernst und aus ihrem tiefsten Grunde, zugleich allumfassend und in die heiterste Freiheit ihrer Gestalt auferstehen kann und muss."18
(1) In diesem einen Satz steckt eine neue Religionsphilosophie für das 19. Jh., ein entschiedener Reformvorschlag an die christliche Theologie jener Zeit und vor allem ein souveräner Griff, mit dem Hegel aber auch alle Gegensätze, die sich für Christentum und Religionsauffassung, Rationalität und Frömmigkeit, Absolutheit und Endlichkeit aufgetan hatten, integrieren und auf eine neue Ebene befördern will. Was auf dem Spiel steht, hatte Hegel in der Einleitung bereits mit einigem Pathos angekündigt: „ein absolutes Ding und absolute Egoität sind gleicherweise die Endlichkeit zu einem Absoluten gemacht"19, d.h. weder die Welt der Gegenstände als solche noch die des Subjekts taugen dazu, zum absoluten Ausgangs- oder höchsten Punkt erhoben zu werden. Beide Seiten sind je für sich genommen endlich und bloß relativ, und so lassen sich auch Glauben und Wissen nicht angemessen aufteilen, so als gehörte der Glaube nur auf die subjektive, das Wissen nur auf die objektive Seite. Hegel wirft den drei von ihm zu besprechenden philosophischen Systemen vor, in jeweils eigener Weise doch denselben
18 19
G.W.F. Hegel (1962), 123f. - Zur Rolle F.H. Jacobis s. § 9, Anm. 10. Hegel, aaO. 13.
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Fehler gemacht zu haben20: Der Vernunft wurde die Unbedingtheit (das Absolute) nicht zugetraut, Glauben und Wissen wurden voneinander getrennt und beiden gegenüber ein „Jenseits" der eigentlichen (absoluten) Vernunft eröffnet, zu dem die Welt in bleibendem Gegensatz verharren muss. Wo derart Grenzen gezogen werden, ist alles - diesseits und jenseits - eben von Begrenztheit gezeichnet, und genau dies gilt es im Interesse der „Idee der absoluten Freiheit" wie der „höchsten Totalität" zu überwinden. (2) Hegels Kritik beschreibt seine Gegenwart in den (unberechtigten) Grenzsetzungen von Glauben und Wissen, und diese erscheinen als ein (unbefriedigendes) Ergebnis der Kämpfe der Aufklärungsepoche. Der Glaube wurde als widervernünftig distanziert, und damit hatte sich die Vernunft selbst ein ihr unzugängliches Gegenüber geschaffen, an dem sie scheitern musste: entweder am Gegensatz als solchem oder am Ubergriff auf ein unzugängliches Feld. Bloßer Gegensatz wäre der „reine Begriff" oder „die Unendlichkeit" als solche, die dann nichts Anderes bedeuten als ungesättigte Abstraktionen: „der Abgrund des Nichts". Wird diese Folie gegen die Wirklichkeit (als Endlichkeit) gehalten, erscheint diese ihrerseits haltlos und das bloß Jenseitige wird gleichgültig. Gegen solche Distanzierungen aber steht das konkrete, sich bewegende Leben, die Leidenschaftlichkeit der Subjektivität, das Gefühl, die Religiosität, der Glaube. Doch auch diese Erfahrung ist längst vom Gegensatz der Vernunft gezeichnet, und jenes Gefühl drückt sich aus im „unendlichen Schmerz" über diesen Zustand. Hegels philosophische Absicht am Ende von Glauben und Wissen taucht nun diesen Gegensatz des Ausgegrenztseins in die Bildsprache der Christologie, d.h. des Gottesleidens, worin Gott selbst die Negation des Schmerzes und Todes sozusagen an sich selbst vollzieht, gelten lässt und (als „Moment") zugleich auch überwinden kann. Dazu ist nötig, dass dieser Schmerz auf der Ebene der philosophischen, einheitlichen „Idee" seine negative Kraft zeigt, ohne im Ganzen destruktiv zu wirken. Solche Versöhnung ist möglich, wenn das bisher „empirische", geschichtliche, christlichtraditionelle Vorkommen des Schmerzes seine alles entscheidende
20
AaO. 2: „Nach Kant ist Übersinnliches unfähig, von der Vernunft erkannt zu werden; die höchste Idee hat nicht zugleich Realität. Nach Jacobi schämt sich die Vernunft zu betteln [...]; dem Menschen ist nur das Gefühl und Bewusstsein seiner Unwissenheit des Wahren, nur Ahnung des Wahren in der Vernunft, die nur etwas allgemein Subjektives und Instinkt ist, gegeben. Nach Fichte ist Gott etwas Unbegreifliches und Undenkbares; das Wissen weiß nichts, als dass es nichts weiß, und muss sich zum Glauben flüchten."
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IV. Das Relative: Explikationen von Religiosität
Übertragung erfährt: Der „historische" Karfreitag wird zum „spekulativen", d.h. zur philosophisch integrativen Realität, die die ganze „Härte" des Todes mit der „heitersten Freiheit" der Auferstehung zu verbinden in der Lage ist. (3) Hegel wusste sehr genau um die Frömmigkeitstradition, die er hier kompakt zitiert: Die pietistisch isolierte Subjektivität drückt sich aus im „unendliche Schmerz"; es ist die Innerlichkeit der Negativität, des Gottestodes, worin die christliche Bildungsgeschichte ihre eigene Kraft auch gegen sich selbst unter Beweis gestellt hat: eine „Poesie des Schmerzes, der mit dem empirischen Dasein alle Versöhnung verschmäht"21. Es ist dieses religiöse „Gefühl", das dann sein Eigenrecht gegen die neuzeitliche Vernunft und ihre historische Bibel-Kritik zu bewahren versucht. „Gott selbst ist tot" - dieser christologisch riskante Satz hat theologische Tradition, Hegel selbst nennt sie in seinen späteren religionsphilosophischen Vorlesungen22; und es sind christliche Vorgeschichten und Vorstellungen, die zur philosophischen Transformation dringend gebraucht werden; dazu gehört auch das Zitat von B. Pascal, der dadurch zum Zeugen der universalen Christologie im Bewusstsein der Moderne avanciert: „Was mich angeht, so gestehe ich, dass, sobald die christliche Religion diesen Grundsatz enthüllt, dass die Natur des Menschen verdorben und er von Gott verstoßen sei, die Augen geöffnet sind, um die Zeichen dieser Wahrheit überall zu sehen; denn die Natur ist derart, dass sie überall sowohl im Menschen als außerhalb des Menschen auf einen verlorenen Gott hinweist und auf eine verderbte Natur." 23
Selbst wenn der religiöse Glaube (etwa als Martyrium) oder die zur „Aufopferung" bereite Moral (etwa in der Gehorsams- und Pflichtenlehre Kants) sich dieser so gezeichneten und gescheiterten „Natur" stellen - der Begriff dieses Scheiterns, des Schmerzes und des Todes gilt als bloß „empirisch" und damit als „abstrakt", solange dem Faktum sein Verständnis, seine (vernünftige) Vermittlung und damit der Zusammenhang fehlt, der für die spekulative Philosophie allein Sinn gibt24:
21 22
AaO. 7. G.W.F. Hegel, Ges. Werke 17 (1987), 265: „Gott ist gestorben - Gott selbst ist todt - ist eine ungeheure fürchterliche Vorstellung - die vor die Vorstellung den tiefsten Abgrund der Entzweyung bringt"; zum Zitat aus dem Gesangbuchlied von J . Rist vgl. aaO. 417 (Kommentar zur Stelle aus den Vorlesungen über die Philosophie der Religion)·, vgl. E. Jungel (1977), 84f.
23 24
B. Pascal (1623-1662), Pensée (1963), 207 (Fragment 441). Zu den Begriffen Sinn und Zusammenhang s. § 14.2.2.
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Versöhnung in der Liebe Gottes, die das Negative „als Moment der höchsten Idee" zu erfassen lehrt. (4) Nach Hegels Diagnose sind die Fehler der Verendlichung aufgrund abstrakter Gegensätze (zwischen Glauben und Wissen) zu vermeiden, wenn das Wechselverhältnis gegenseitiger Unerreichbarkeit erkannt und damit überwunden werden kann. Das spekulative Programm zielt auf einen geschichtlich-vernünftigen-göttlichen Gesamtprozess, der die Negativität in sich enthält, sie tragen und wenden kann. Freiheit heißt dann nicht mehr, sich vom jeweiligen Gegenteil der Vernunft oder des Glaubens abgrenzen zu müssen, sondern die Freiheit ist absolut, wenn sie ihr Gegenteil mit umfasst. Der „historische" Karfreitag hat - nicht zuletzt im Zeitalter der historischen Kritik! - seine Kraft verloren, wenn er nicht übertragbar wird in eine Autorität, die sich der Relativierung durch den wissenschaftlich-empirischen Zugriff gewachsen zeigt. Hegel greift damit Lessings Motive der Vernunftwahrheit wie der Prozessvorstellung einer Erziehung des Menschengeschlechts auf23, indem er die Wirklichkeit des Lebens - bei geltender historischer Kritik - als die Realisierung des (göttlichen) Geistes in der Geschichte erkennt, in der die höchste Idee die Niedrigkeit des Todes in sich enthält. Die „ganze Wahrheit" ist nicht zu haben ohne die „Härte" des Karfreitags, d.h. der „Gottlosigkeit"; und demgegenüber erscheinen die „Naturreligionen"26 wie die „dogmatische Philosophie" der Aufklärungszeit naiv. Ihnen fehlt dieser Durchgang durch das radikale Gegenteil, sie geben sich „heiter", sind darin aber nicht „gründlich" genug, gehen der Sache nicht wirklich auf den Grund, bleiben etwas bloß „Einzelnes" und verlieren den Kontakt zum Allgemeinen einer höchsten Idee. Diese (als die „höchste Totalität") hat alle idealen Prädikate - einschließlich des in allem Ernst in ihnen (als „Moment") enthaltenen Gegensatzes von Leiden und Tod. Nur dann und nur so wird die Freiheit die „heiterste", weil ihr Inhalt die Auferstehung ist. (5) Hegels Begriff des spekulativen Karfreitags ist nur zu vollziehen als ausgreifende Bewegung, in der die Religionen - und an ihrer Spitze das Christentum - als Geschichte des (absoluten) Geistes und damit prozes25 26
S. § 9.2.2. Zu Hegels Begriff der „Naturreligion" - zuerst in kritischem Anschluss an Schleiermacher, dann in der Phänomenologie des Geistes (1807) und in den späten Vorlesungen über die Philosophie des Religion (s. Anm. 22) immer breiter religionsgeschichtlich entwickelt - vgl. J.-L. Vieillard-Baron, Natural Religion, in: J . Stewart (1998), 351-374.
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IV. Das Relative: Explikationen von Religiosität
sual-begrifflich wachsend vorgestellt werden. In der Phänomenologie des Geistes hat Hegel diese Sicht der Dinge als Prinzip aller Wissenschaft entfaltet27: Die Abfolge von Naturreligion, Kunstreligion und offenbarer Religion ist dieser Prozess als Darstellung von Religiosität, die sich als solche - geschichtlich-vernünftig-göttliche - zunächst aspekt- und bildhaft in Abstufungen der religiösen Vorstellung und schließlich im Ganzen des philosophischen Begriffs erfassen lässt: „Die Religion setzt den ganzen Ablauf derselben [sc. Momente des Geistes] voraus und ist die einfache Totalität oder das absolute Selbst derselben."28 Hegels geniale Wendung besteht im Gedanken und in der Durchführung von Prozessualität: An die Stelle eines bloßen Gegenübers von präreflexiver Gefühlsqualität des unmittelbaren Glaubens und theoretisch gewusstem Allgemeinen soll deren logische Vermittlung im geschichtlichen Prozess ihres Bewusstwerdens treten. Die Absolutheit des religiösen Verhältnisses wird nicht bestritten, sondern so entfaltet, wie sie selbst geworden ist und immer wieder wird. Das Wahre ist dann weder das Unmittelbare (wie es als Vorgegebenheit empfangen wird) noch das Unbedingte als gedachtes Absolutes, sondern das „Ganze" im Sinne einer „Entwicklung", die am „Ende" das sein wird, was Allgemeinheit und Konkretion miteinander vermittelt hat.29 Im Einzelnen geht es um folgende Strukturierung: Aus dem ersten Wahrnehmungsumgang folgt ein „Differenzbewusstsein"30; wäre dies nicht der Fall oder würde die Differenzbildung unterdrückt, käme es zu keinerlei Denkanstoß; und in einem weiteren Schritt wird der „Zusammenhang"31 zwischen ursprünglicher Unmittelbarkeit und differenzbewusster Konkretheit wieder hergestellt, sonst wäre begriffliche Erkenntnisleistung gar nicht vollziehbar. Der Prozess des Konkretwerdens ist also auf seine geschichtlichen Gestalten ebenso angewiesen wie auf die logische Struktur von Unmittelbarkeit, Differenz und Zusammenhang, 27
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Vgl. vor allem Kap. VII („Die Religion"), G.W.F. Hegel (1952), 473-548; zur genauen Komposition dieses Kapitels J. Stewart, „The Architectonic of Hegel's Phenomenology of Spirit", in: Stewart (1998), 444-477, hier: 466ff.; (2000), chap.8. G.W.F. Hegel (1952), 476. Vgl. in der „Vorrede" der Phänomenologie, aaO. 21: „Das Wahre ist das Ganze. Das Ganze aber ist nur das durch seine Entwicklung sich vollendende Wesen. Es ist von dem Absoluten zu sagen, dass es wesentlich Resultat, dass es erst am Ende das ist, was es in Wahrheit ist; und hierin eben besteht seine Natur, Wirkliches, Subjekt, oder Sichselbstwerden zu sein." Vgl. D. Korsch, Religionsbegriff (2005), 82 (zur Denkstruktur der Phänomenologie des Geistes). Korsch, ebd.
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und nur so ist er als Vermittlung das Ganze und Unbedingte. Nichts Größeres kann damit konkurrieren: Es ist die (geschichtliche) Logik des Gottesbegriffs, die Hegel damit beschreibt und als Muster aller Wirklichkeit, d.h. Ganzheit in Prozessualität, behaupten kann.32 Das Unbedingte vorzustellen und zu denken verwickelt immer wieder, wie exemplarisch die Religionsgeschichte zeigt, in den Musterprozess: (a) sich dem Unbedingten gegenüber fremd zu fühlen, Vorstellungen also auf eigene Rechnung zu entwerfen; (b) diese Differenz zum Gegenstand (naturreligiös, kunstreligiös, selbstbewusst religiös) festhalten zu müssen; (c) um schließlich in seiner wahren Erkenntnis die Umfassungskraft des Unbedingten so einzuholen und zum Ausdruck zu bringen, wie sie dem ersten und zweiten Akt des Prozesses schon zugrunde lag. In diesem Sinne ein Selbst zu werden beschreibt also in Wahrheit das Absolute selbst.33 (6) Wird dieses Selbst sich noch einmal - konkret begriffsbildend durchsichtig (und nicht mehr religiös vorgestellt), so sieht Hegel das „absolute Wissen" erreicht: das Unbedingte, das sich in geschichtlicher Realisierung im Ganzen der Wirklichkeit begreift. In diesem Ganzen kommen menschliches „Subjekt" und „Substanz" der Dinge zusammen, ein Selbst-Sein begrifflicher Vollendung, die Hegel als „Wissenschaft" möglich werden sieht.34 Die nachidealistischen Philosophien werden diesen hohen Begriff von Wissenschaft erneut mit den Niederungen der Wirklichkeit konfrontieren: L. Feuerbach mit der menschlichen Natur, K. Marx mit der politischen Ökonomie, S. Kierkegaard mit dem existentiell-paradoxen Glauben.35 Das ändert aber nichts daran, dass Hegel beispielhaft im Begriff der Religion den Anspruch verankert hat, Glaubensunmittelbarkeit (Frömmigkeit) und Erkenntnis ( Wissen) nicht polemisch zu separieren - sonst wird der Glaube verkrampft, weil unwissend, und die Erkenntnis arrogant, weil sie ihre bloße Endlichkeit kompensieren muss.36 Es ist der christliche (trinitari-
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Vgl. Korsch, aaO. 80f., 84ff. Zum Kontext der Trinitätslehre und des ontologischen Gottesbeweises vgl. die Hinweise bei Korsch, aaO. 84, 81. Vgl. Hegel, aaO. 556. - Der Begriff des Selbst-Seins (s. § 18.1) wird heute nicht mehr in dieser Form spekulativer Wissenschaft konzipiert werden, trotzdem bleibt Hegels Leistung im Blick auf die Bedeutung der Rehgionsgeschichte bestehen, vgl. W. Jaeschke, in: G.W.F. Hegel (1993-1995), bes. in Teilbd. 2, Xlff. S. § 8.3 u. § 9.2.2, Anm. 63f. Vgl. diese durchgängige Argumentation im Grundtext von Hegels religionsphilosophischen Vorlesungen, G.W.F. Hegel, Ges. Werke 17 (1987), 18-23.
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IV. Das Relative: Explikationen von Religiosität
sehe) Gottesbegriff, der „Entzweiung" und „Versöhnung" in Gott selbst denkt und vorstellt, deshalb kann die Religionsphilosophie als „begreiffende Erkenntniß der Religion" auftreten, göttliche und menschliche Natur sind zusammen wirklich als der „LEBENDIGE PROCESS". 3 7
3. Geschichte als historische Forschung (E. Troeltsch) Die sich vollziehende Durchdringung von Begriff und Realität hat sich als spekulative Wissenschaft wohl geschichtlich konzipieren, aber nicht erfahrungsorientiert verifizieren lassen. Das liegt in erster Linie nicht an den genannten Einsprüchen kritischer Philosophie des 19. Jh., die in ihrer Gegenstellung selbst noch dem Standard der idealistischen Philosophie verschrieben waren, sondern an der einzelwissenschaftlichen, empirischen, an positiven Fakten interessierten Forschungspraxis, die um der Detailkenntnis willen sich die (metaphysische) Allgemeinheit des Begriffs nicht mehr zutraut. Aufgrund der ständig verfeinerten historischen Methoden steht die Religionsgeschichte der Religionswissenschaft näher als der Philosophie38; entdeckt, gesammelt und systematisiert wird bislang Unbekanntes in den Entwicklungen und Lebensformen der Religionen, ohne dabei eine bestimmbare geistige Einheit im Sinne der religiösen Gegenstände oder der eigenen Forschungsperspektiven favorisieren zu wollen oder bestätigen zu können. An die Stelle der Einheit des Begriffs in geschichtlich-vernünftig-göttlicher Realisierung tritt die Vielheit der historischen Forschungsergebnisse. Philosophie und Wissenschaft sind keinesfalls mehr Gottesdienst, wie Hegel es hat sehen können39, denn die Religionsgeschichte ist primär materialorientiert und expliziert ganz unterschiedliche Sichtweisen, Formen und Bilder von Religion. Das Problem ihres einheitlichen Begriffs oder gar des persönlichen religiösen Glaubens tritt allenfalls noch in wissenschaftstheoretischen Zusatzreflexionen auf. Anekdotisch sehr schön belegt ist diese neue Lage schon im frühen 19. Jh. im Brief eines Harvard-Studenten der Theologie, der in Göttingen „higher criticism" zu lernen hatte: „There was ,a great deal more religion in a few lines of Xenophon, than in a whole course of Eichhorn.'"40 37 38 39 40
A a O . 30, 211. Vgl. Β. Maier (s. A n m . 5), aaO. 583. Hegel, aaO. 6. Zit. (aus einem Brief von 1820) nach E. Hürth (2007), 11. - Gemeint ist der Göttinger Orientalist u. Ev. Theologe Johann Gottfried Eichhorn (1752-1827)
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Es ist dann zu Beginn des 20. Jh. E. Troeltschs mehrdeutiger Begriff der „historischen Religionen" 41 , an dem diese wissenschaftliche Lagebeurteilung - vor allem auch in ihrer religionsphilosophischen Problematik - am klarsten studiert werden kann. Die idealistischgeschichtliche Zentralfrage nach der Absolutheit des Christentums, also nach der integrativen Einheit und Einzigkeit seines (religionsphilosophischen) Begriffs, lässt sich eigentlich nicht mehr beantworten, und doch muss sie gestellt werden. Die Schuld an diesem Dilemma trägt die Religionsgeschichte·. (1) Geschichte bedeutet seit dem 19. Jh. „Entwickelung", und zwar so, wie es die neuen „Entwicklungslehren" der Natur erfolgreich praktiziert haben, die selbst nicht ohne Einfluss der idealistischen Sicht von Prozess, Differenzierung und Ganzheit der Geschichte zustande gekommen sind.42 Zur allgemein-geschichtlichen und kulturellen Entwicklung aber gehört konstitutiv die Religion, die Religionswissenschaft ist in diesem Sinne Religionsgeschichte, und so kommt es zur unabweisbaren Frage eines ebenso allgemeinen (historischen) Religionsbegriffs.43 (2) Bei aller Vielfalt geschichtlichen Geschehens ist es doch die Vergleichbarkeit von allem, die analog den Naturwissenschaften zu einer Formalisierung und Quantifizierung der wissenschaftlichen Betrachtung tendiert 44 - obwohl zugleich gesagt werden muss, dass es gerade
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als Vertreter der historischen Methode (noch nicht die Ende des 19. Jh. von Göttingen ausgehende „Religionsgeschichtliche Schule" [s. Anm. 2]); zu Troeltschs Anfängen in Göttingen vgl. Tr. Rendtorff: Troeltsch, in: TRE 34 (2002), 130-143, hier; 131. E. Troeltsch, Die Absolutheit des Christentums und die Religionsgeschichte (1902/1912), in: KGA 5 (1998), 173; vgl. G. Pfleiderer (2004), 306f. Vgl. H. Siebeck (1893), 44; zur Anwendung auf die Religionsgeschichte aaO. 48ff. - Siebeck hat beispielhaft auch das „Kopernikanische System" und die „Abstammungslehre", d.h. die Evolution der Naturwissenschaften nüchtern und souverän rezipieren können, vgl. aaO. 197. S. § 1.3, Anm. 18; § 2.2(3a). - Die im Dt. mögliche sprachliche Unterscheidung zwischen „Geschichte" und „Historie" im Sinne von existentiell-persönlicher Geschichtlichkeit einerseits und historisch-empirischer Faktenwissenschaft andererseits (vgl. H.-W. Bartsch: Geschichte/Historie, in: H W P 3 (1974), 398f.; L. v. Renthe-Fink: Geschichtlichkeit, aaO. 404-408) wird im Folgenden nicht beansprucht, mit entsprechenden Bedeutungsnuancen im dt. Sprachgebrauch aber ist immer zu rechnen. Troeltsch, Moderne Geschichtsphilosophie (1904), in: Ges. Schriften II (1962), 688, 699 (zum Darwinismus), 723f.
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IV. Das Relative: Explikationen von Religiosität
das Besondere und Einzelne ist, das geschichtlich interessiert; und letzteres hat seinen „gelten-sollenden Wert"43, der sich dem rein empirischen Verständnis von Geschichte entzieht. Damit ist das religionsphilosophische Grundproblem bereits erreicht. (3) Troeltsch bestreitet also keineswegs die empirisch orientierte historische Forschung, sondern er setzt sie voraus; damit auch deren Kritikpotential, das weder für religiöse Apologetik (zugunsten von dogmatisch verteidigten Geschichtstatsachen) noch für idealistisch-spekulative Geschichtskonstruktionen Platz lässt.46 Um so entschiedener aber stellt sich die Frage nach dem in der Forschung, in ihren Gegenständen wie in der Forschungshaltung, überall sichtbaren „wertenden Bewusstsein", dem „persönlich überzeugenden Maßstabe".47 (4) Lassen sich solche Wertsetzungen aber objektivieren? Troeltsch bemüht sich zu zeigen, dass es nun gerade die historische Forschung ist, die zur persönlichen, im menschlichen Bewusstsein verankerten Notwendigkeit von Normen, Werten, Gewissheiten und Glaube führt; darin - nicht mehr in (dogmatischen) Einheitsideen eines Geschichtsbildes - erscheint zu Recht die Frage der „Absolutheit"48, denn geistiges Leben, was zumal die „historischen Religionen" umfassend bestätigen, verlangt die Wirksamkeit von „Freiheit" und „Persönlichkeit"49, kurz: Das „Historisch-Relative" schließt gerade die „individuellen Bildungen" von Werten nicht aus, sondern im Gegenteil: Jenes verlangt nach diesen.50 (5) So lässt sich einerseits und auf neuen Wegen eine „Absolutheit des Christentums", nämlich als im Gottesverhältnis Jesu begründeter und
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AaO. 707; vgl. 691, 705ff. AaO. 676f. (Hegels Geschichtsphilosophie dient immer als Beispiel), 679; im Überblick kann Troeltsch die moderne (quellenkritische) Wunderkritik und Hegels „evolutionistische" Idee „der Religion überhaupt" als Exempel dessen nennen, was heute gilt bzw. was nicht mehr möglich ist, vgl. Troeltsch, Fünf Vorträge, in: KGA 17 (2006), 108f. Ges. Schriften II, 707-709. Vgl. Absolutheit, KGA 5, 113, 127 (erstes Kap.); dazu G. Pfleiderer (2004), 290f. Troeltsch, aaO. 148 (zweites Kap.); s. Anm. 41. - Zu Troeltschs kulturgeschichtlicher These der Individualisierung vgl. Pfleiderer, aaO. 293 u.ö.; G. Hübinger (2005), 189 (im Vergleich zu M. Weber). AaO. 166, 170 (drittes Kap.).
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darin exemplarischer „Erlösungsreligion" 51 , wissenschaftlich vertreten; das andererseits aber in der Schwierigkeit, dass die klassischen theologischen Lehren alle durch dieses Nadelöhr des doch auch weiter bestehenden Gegensatzes von historischer Relativierung und persönlicher Wertsetzung gegangen sein müssen. Troeltschs forschungsgeschichtliche Explikation der Religiosität will das Relative und das Unbedingte trotz allem zusammenhalten 32 : „Die religionsgeschichtliche Betrachtung zeigt jedenfalls, dass das Christentum mit alledem nicht bloß eine prinzipiell einzigartige Stellung einnimmt, sondern dass sie darin zugleich die einzelnen Ansätze und Hindeutungen auf ein gemeinsames Ziel zusammenfasst, die wir empfinden, wenn wir überhaupt die Religion nachfühlend auf die in ihnen sich offenbarenden Kräfte prüfen und von innerer Ueberzeugungsnotwendigkeit getrieben von höheren und tieferen Stufen sprechen. [...] In allen großen Religionen finden wir erfahrungsgemäß verwandte Grundgedanken, Kräfte und Triebe, und gerade die Richtungen, in denen ihre innere Arbeit am intensivsten strebt und in denen wir die religiöse Kraft am tiefsten wirken fühlen, stellen etwas Gemeinsames dar, das überall gesucht wird, stellenweise mächtig zum Ausdruck kommt und dann doch wieder gebunden bleibt an die überall schwer überschreitbaren Grenzen. Es sind überall vier Gedankengruppen in deren Anschauung sich das höhere religiöse Leben bewegt: Gott, die Welt, die Seele und das in deren Beziehungen sich verwirklichende höhere, überweltliche Leben, die Ueberwelt; und zwar sind das spezifisch religiöse Gedanken, die wohl eine gewisse Beweglichkeit und Höhe der allgemeinen Kultur voraussetzen, die sich aber mit den Begriffen der wissenschaftlichen Reflexion nur gelegentlich berühren." „Dass das nicht gleichbedeutend ist mit der Realisation des allgemeinen, durch Abstraktion hergestellten Begriffes der Religion, braucht nicht wiederholt zu werden. [...] Aber ebenso darf nicht vergessen werden, dass diese Offenbarung des höchsten, einfachsten und stärksten religiösen Lebens eine geschichtliche Tatsache ist auch mit allen individuellen und temporären Schranken geschichtlicher Erscheinungen und dass es diese Schranken in jeder auf Erden möglichen Gestalt behalten muss. Eben deshalb ist auch mit keiner strengen Sicherheit zu beweisen, dass es der letzte Höhepunkt bleiben müsse und dass jede Ueberbietung ausgeschlossen sei. So sehr man in ihm die tiefsten Forderungen des menschlichen Wesens erfüllt finden mag, es sind doch Forderungen, die es in der Hauptsache erst selbst zur Empfindung gebracht hat, und es ist an sich nicht auszuschließen, dass eine höhere Offenbarung noch tiefere Postulate aufdecken möchte."
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AaO. 199. - Das „Gottesbewusstsein Jesu" ist für Troeltsch natürlich auch ein Teil der „historischen" Religion Christentum, allerdings unter bestimmten Voraussetzungen eben dieses Jesus-Bildes, vgl. Pfleiderer, aaO. 323ff. - Zu Troeltschs Erlösungslehre vgl. seinen Art. „Erlösung II. Dogmatisch, in: RGG 1 2 (1910), 481-488, hier: 482f.; zum offenen Verhältnis von Religionsphilosophie und Erlösungslehre D. Korsch, Autonomie (2005). Troeltsch, aaO. 196, 197f. (viertes Kap.).
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IV. Das Relative: Explikationen von Religiosität
Das „höhere religiöse Leben" gilt hier als Produkt historischer Entwicklungen, und der Bezug auf eine „Ueberwelt" ist legitimer Gegenstand der „großen Religionen"; doch ob dieser Befund zugleich wahr ist, kann und darf auf derselben Ebene nicht erhoben werden. Selbst wenn zugestanden werden sollte, dass im Christentum - rein historisch gesehen - die Elemente Gott, Welt, Seele und Ueberwelt zu ihrem höchsten Ausdruck gefunden hätten, solche Überlegungen bleiben immer Teil historischer Forschung, d.h. sie sind relativ und revidierbar - „eine höhere Offenbarung" ist wissenschaftlich nicht auszuschließen. Das gilt auch aus dem theologisch-systematischen Grund, dass die religiösen Auffassungen der historischen Religionen immer nur bedingte „geschichtliche Erscheinungen", also nicht absolut sein können. Diese nicht auszuräumende Distanz zum Absoluten liefert gerade den Impuls zu neuen Formen und macht den offenen geschichtlichen Progress aus. - Ist dann nicht auch der so stark verteidigte religiöse „gewisse Glaube' 03 nur relativ einzuschätzen? Troeltsch will sich dieser Folgerung entziehen, indem er nun doch eine Sphäre eigenen Rechts eröffnet: Dass nämlich genau da, wo wissenschaftlich (historisch) „ein zwingender Beweis nicht abzuleiten" ist, der Glaube stehen muss34; sogar so, dass analog dem Zirkelschluss der traditionellen Gottesbeweise gesagt werden kann: Es muss einen „letzten Wert geben", weil menschliche Subjekte nur aus dem Wertbewusstsein heraus Geschichte verstehen können - diese Wendung erschließt sich allerdings allein als „religiöser Gedanke", d.h. dem Glauben.55 Troeltschs historische Religionen bleiben in dieser Mehrdeutigkeit: Die Tür zur weltweiten Forschung, zur rückhaltlosen Religionsgeschichte ist weit geöffnet. Zugleich aber wird die Begrenztheit bloß empirisch ausgerichteter Forschung gesehen, und im Wert-Begriff sammelt sich der Gegenzug. Werden Gegenstände und Methoden der Religionsgeschichte nun aber auf diese Wertbezüge und den persönlichen Glauben hin erweitert56, wiederholt sich dann die entscheidende Frage nicht erneut, wenn auch auf höherer Ebene: In welchem Sinne 53 54 55 56
AaO. 198; vgl. Ges. Schriften II, 708; KGA 17, 111, 115: „die immer gleiche Evidenz einer tiefen inneren Erfahrung". Absolutheit, ebd. Ges. Schriften II, 708. In dieser (kulturwissenschaftlichen) Tendenz interpretiert G. Pfleiderer (2004) die Kapitel 1-4 der Absolutheitsschrift, d.h. in einer komplexen Aufbaubeziehung von Individualität und Geschichtlichkeit, während die Kapitel 5 - 6 demgegenüber in eine Gegensatzstellung von bloßer Glaubensbeteuerung und historischer Wissenschaftlichkeit zurückzufallen scheinen.
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kann der religiöse Glaube als unbedingt und nicht nur als historisch relativ bezeichnet werden? Es scheint so, als fehlten am Ende schlüssige Kategorien für eine wissenschaftlich tragfähige Unterscheidung: Das nachgewiesene Bedürfnis von Wertorientierung und subjektiver Frömmigkeit müsste sich so darstellen lassen, dass sein Bezug auf Unbedingtheit nicht bei jeder Äußerung dem Verdacht ausgeliefert bleibt, bloß „naiv'° 7 , d.h. religionsgeschichtlich zwar verständlich und wertvoll, aber empirisch-historisch sofort relativierbar zu sein. Geschichte als historische Forschung soll hier etwas ganz Anderes enthalten, ohne dafür wirklich gerüstet zu sein.
4. Phänomenologie und Hermeneutik Will die Religionsgeschichte heute sich als religiös neutral, strikt „deskriptiv und empirisch", d.h. als „Teildisziplin der modernen Religionswissenschaft" verstehen 38 , so bleibt ihr inneres Verhältnis zu religiösen Phänomenen und Lebensformen entweder ungeklärt oder deren Eigenwert wird bewusst aus der wissenschaftlichen Arbeit ferngehalten. Das ändert sich partiell, wenn der „Subjektbezug" aus dem „historischen Erkennen" nicht ausgeschlossen39 und die „Wechselbeziehung" 60 zwischen dem Selbstverständnis der Religionen und religionsgeschichtlicher Forschung kalkuliert werden. Religionsphilosophisch aussagekräftig aber wird die Religionsgeschichte immer dann, wenn in ihr die Phänomene des Religiösen, wie sie die Religionen präsentieren, in ihrem Wirklichkeit erschließenden Gesamtanspruch ernst genommen werden, so dass Wahrnehmung, Denken und Handeln anders zu beurteilen sind, wenn es Religion ,gibt' als wenn es sie nicht »gibt'.
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Ahsolutheit, 205 (fünftes Kap.), 212ff. (und die gesamte Diskussion von Naivität und Absolutheit in diesem sechsten Kap.), vgl. aaO. 229: „Die naive Absolutheit entstehender historischer Religionen ist daher nichts anderes als die tiefe innere Verknüpfung der Offenbarungsträger mit dem Gott, der in ihnen spricht; und das Recht dieser naiven Geltungsansprüche bemisst sich nach der erlösenden und befreienden Kraft, die von dem Glauben hierbei ausgeht." Vgl. H. Deuser, Gottesinstinkt (2004), 258. M. Hutter: Religionsgeschichte, in: RGG 4 7 (2004), 318-321, hier: 318 („Definition"); B. Maier (s. Anm. 5 u. 38), 583. H.G. Kippenberg (2007), 45. M. Hutter, aaO. 321.
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IV. Das Relative: Explikationen von Religiosität
Die Religionswissenschaft hatte sich selbst diesem Anspruch in der Disziplin der Religionsphänomenologie gestellt, d.h. in dem methodischen Versuch, die historische Außensicht mit einer religiös sachgemäßen Innensicht so zu verbinden, dass religiöse Begriffe, Gegenstände, Handlungen etc. als das erscheinen können, was sie selbst sind. Doch gerät die Religionsphänomenologie gerade mit dieser Intention zwischen die Ansprüche, die an eine einerseits philosophische und andererseits empirisch-historische Disziplin gestellt werden müssen: Zum Begriff der Phänomenologie würde eine klare Bezugnahme auf diese Schulbildung gehören - etwa im Sinne Hegels, Husserls oder Peirce'61 -, doch zugunsten bestimmter historischer oder praktisch-feldbezogener Beschreibungen der so aufgefundenen Phänomene reduziert die Religionsphänomenologie in der Regel den philosophischen Anspruch.62 Dann wird, wie bei G. van der Leeuw (1890-1950), der Ubergang von der historischen zur phänomenologischen Beschreibung durch zusätzliche Kriterien wie „Einfühlung", „Erlebnis" und „Verstehen" charakterisiert63, oder es tritt, wie bei R. Otto (1869-1937) und F. Heiler (1892-1967), das Heilige selbst als religiöse Kategorie bzw. in konkreten Gegenständen auf.64 Vorrangig ist hier nicht eine bestimmte Auffassung von Phänomenologie, sondern das jeweilige religiöse Phänomen, seine Bedeutungsgehalte und wie sie erlebt wurden - wie aber müssen sie verstanden werden? Das Feuer im brennenden Busch, das diesen nicht zerstört, dem Beobachter Mose (vgl. Ex 3) aber in der Seele brennt, sein gesamtes Leben und die Religionsgeschichte verändert, ist ein solches Phänomen: In irgendeiner Weise liegt es historisch (bezeugt) vor, ist darin aber nicht vollständig bestimmt, solange nicht die heilige, prakti-
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Vgl. die Beiträge von B. Waidenfels, M. Moxter u. H. Deuser, in: W.-E. Failing u.a. (Hg.), Religion als Phänomen (2001). Vgl. C. Colpe: Religionsphänomenologie, in: EKL3 3 (1992), 1577-1580; dort auch der Hinweis auf die Arbeiten von P.D. Chantepie de la Saussaye (1848— 1920) in der Vermittlungsleistung zwischen Hegels Phänomenologie und dem modernen (historischen) Begriff wissenschaftlicher Forschung als „Science of Religion"; vgl. die Textauszüge, in: J. Waardenburg (1999), 105-113. Vgl. die Textauszüge, in: J. Waardenburg, aaO. 399-431; und die Diskussion der Begriffsbestimmungen bei D. Allen: Phenomenology of Religion, in: EncRel(E) 11 (1987), 272-285; A. Sharma (2001), 3 Iff. Vgl. den Textauszug aus R. Ottos epochemachendem Werk Das Heilige ([1917] 1987), in: J. Waardenburg, 432-450; das Einleitungskapitel „Die Erscheinungsformen (Phänomenologie) der Religion" bei F. Heiler (1999), 17-37; die Forschungsübersicht von J. Waardenburg: Religionsphänomenologie, in: TRE 28 (1997), 731-749; die Darstellung von R. Ottos Phänomenologie bei G. Pfleiderer (1992), 104-139.
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sehe, religiöse Wirkungsgeschichte mit in Betracht gezogen wird. Wird diese Ebene nun nicht erneut nur empirisch beschrieben, sondern auf das Wesen von Religiosität ausgedehnt, so wird selbstverständlich die Frage nach dem, was Phänomenologie leistet, sofort wieder unabweisbar. (1) Die Phänomenologie (seit E. Husserl und Ch.S. Peirce) erhebt die Abgrenzung gegenüber physikalisch oder (empirisch-)psychologisch verstandener Gegenständlichkeit zum methodischen Eigensinn: Nicht (inneres) Subjekt und (äußeres) Objekt stehen sich gegenüber bzw. sind zu überbrücken, sondern der eigentliche philosophische Gegenstand ist allein die vorausgehende Gegebenheitsweiseto aller Dinge. Deren Struktur erscheint fundierend gegenüber allen anderen wissenschaftlichen Verfahren. Phänomenologie ist grundlegend, eröffnend, steht an der Stelle der ersten Philosophie^, und wir haben gar keine andere Wahl, als mit den Dingen so zu beginnen, wie sie sich zeigen. Die Bezugnahme auf Religion ergibt sich bei Husserl nicht direkt67, aber die ihm selbständig folgenden Schulbildungen wirken in ihrer daseinsanalytischen, lebensweltlichen und sinnsuchenden Erfahrungsnähe den religionswissenschaftlichen wie theologisch-metaphysischen Arbeitsfeldern unmittelbar verwandt.68 Es ist die phänomenologische Unabschließbarkeit und paradoxe Uneinholbarkeit der Wirklichkeit, die trotz methodisch bester Bestimmungsverfahren den geheimnisvoll-souveränen Vorrang im Unbestimmten zu wahren verlangt. Gegenüber methodischen Einwänden, solche Erfahrungen wären direkt gar nicht zugänglich, andere Verfahren, etwa die Sprachanalyse, stünden notwendig dazwischen, kann die Phänomenologie bis heute auf das erfolgreiche Entdecken und sensible Erschließen von Situationen der Erfahrung verweisen, in denen Bestimmtheit und Unbestimmtheit sich gegenseitig brauchen, zur „Gegebenheitsweise selbst" gehören.69
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Vgl. M. Moxter (2000), 276ff.; (2001), 89. - Zur Grundlegung von Husserls Phänomenologie im Erfahrungshegriff vgl. B. Waidenfels (2001); s. § 11.2.1, Anm. 57; zu Peirce' Begriff der Phaneroskopie H. Deuser, Gottesinstinkt (2004), 38f.
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S. § 6, Anm. 2.
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Vgl. H.J. Adriaanse (2007); s. § 14.2.2, Anm. 55 (zu Luhmanns Bindung an Husserl). S. § 1.4.2; zur französischen Phänomenologie (E. Lévinas u.a.) vgl. Waidenfels, aaO. 79-83; s. § 12.3(5) u. (6). M. Moxter (2001), 92; vgl. 92f.: „Exaktheit ist nicht der einzig möglich Präzisierungsgrad der Erfahrung, die vielmehr gutartige Nichteindeutigkeit zulässt".
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IV. Das Relative: Explikationen von Religiosität
(2) Unter solchen Voraussetzungen ist es nur konsequent, die gegebenen Bedingungen für Situationswahrnehmung und Sinnverstehen in ihrer Vorhandenheit nicht zu überspringen. Die wissenschaftliche Phänomenanalyse beginnt nicht neutral und nicht auf Ebene 0, sondern mit Texten und Lebensformen, die einen hermeneutischen Zugang verlangen. Solche Hermeneutik hat sich seit ihrer methodisch bewussten Selbstbestimmung (im 19. Jh.) als Sinnyerstehen geisteswissenschaftlicher, d.h. entschieden nicht-naturwissenschaftlicher Prägung aufgebaut und damit auch einem nur empirisch-historischen Begriff von Geschichte widersprochen.70 Der Textbegriff wird dann erweitert auf Erzählungen, die „Akte" des Sprechens, Lesens und Rezipierens, kurz: auf Textwelten, in denen sich die Welt zeigt, wie sie ist: „Das vollständige Ereignis besteht nicht nur darin, dass jemand das Wort ergreift und sich an einen Gesprächspartner wendet, sondern auch darin, dass er eine neue Erfahrung zur Sprache bringen und mit einem anderen Menschen teilen will. Horizont dieser Erfahrung ist wiederum die Welt." 71
Erfahrung, Sprache und Welt stehen in einem gemeinsamen unüberspringbaren Horizont, und diese Horizontbedingung ist früher als empirische Bezugnahmen, weshalb geschichtliches Verstehen ein eigenes - hermeneutisch angelegtes - Methodenbewusstsein verlangt. Damit sind Quellenkritik, Tatsachenprüfung, Vergleichbarkeit der Ereignisse keineswegs dementiert, sie erhalten aber eine vorrangige Erschließungsbedingung in der sprachlich-welthaften und insofern allgemein menschlichen „Geschichtlichkeit" oder „conditio histórica"72: Menschen müsse sich zu dem, was sie sind, existentiell verhalten. Diese Notwendigkeit impliziert Möglichkeit und Freiheit, damit auch die Gegenwarts- und Distanzerfahrungen von Zeit und Geschichte; und solches Selbst-Verstehen beansprucht mit jedem Vollzug eine welthaltige Selbstauslegung, die immer weiter ausgebildet werden will. Zu ihr gehört der Sache nach der Bezug auf die Nichteinholbarkeit der Vor70
71 72
Vgl. M. Jung (2001), 12f.; H J . Adriaanse, aaO. 33 (im Verweis auf P. Ricceur); CI. v. Bormann: Hermeneutik I, in: TRE 15 (1986), 108-137; G. Figal/W.G. Jeanrond: Hermeneutik IV/V, in: RGG 4 3 (2000), 1652-1659 (1652ff. zur Hermeneutik H.G. Gadamers; 1657f. zu P. Ricœur); s. § 2.1, Anm. 5, u. § 2.2(2a-c). P. Ricceur (1988), 123. P. Ricœur (2004), 441: „Auf dem ontologischen Strang macht es sich die Hermeneutik zur Aufgabe, die Voraussetzungen zu erkunden, die man ebenso sehr für das historiographische Wissen wie für den vorausgehenden kritischen Diskurs als Existenzialien bezeichnen kann. [...] in eben dem Sinne, dass sie der eigenen Weise des Seins, das wir alle sind, der eigenen Weise zu existieren und zur Welt zu sein eine Struktur geben."
§ 15: Religionsgeschichte
419
bedingungen - nicht nur als deren distanziertes Konstatieren, sondern auch im Paradox der Unmittelbarkeit, das jederzeit in der ihm eigenen Aufforderungssituationen thematisch werden kann. Für den Geschichtsbegriff bedeutet dies, dass zu ihm einerseits die (empirischhistorischen) Beschreibungen religiöser Bedingungen und Verhältnisse notwendig hinzu gehören, andererseits aber, wie in einem Vexierbild, die phänomenologische Struktur und hermeneutische Möglichkeit immer mitläuft, dem religiösen Selbst-Verstehen auch sachgemäße, d.h. religionsphilosophische Gestalt zu verleihen. (3) Der phänomenologisch vorausgesetzte Sinnhorizont 74 und die „lebensweltliche Gewissheit" 73 werden nicht einfach so gewusst, sondern sind unter wechselnden Bedingungen faktisch im Spiel, können indirekt thematisiert und in besonderen Augenblicken neu erschlossen werden. Es ist dieser beständige Uberschuss an (bindender) Ahnung, der allem (methodisch geklärten) Wissen voraus liegt und die Phänomenologie auf Leitbegriffe wie Perspektive, Horizont oder Orientierung führt: Wie sich Dinge und Dasein zeigen, wie sie betrachtet und erlebt werden, all das liegt in einem Universum miteinander verflochtener und immer wieder möglicher Bezugnahmen, deren VorabErklärung allein strukturell denkbar erscheint - was die wirkliche Lebens· und Handlungssituation gerade nicht prädisponiert, reguliert oder gar abschließend prognostiziert. Das spricht - auch im Blick auf die Realisierungsbedingungen von Religionsgeschichte unter Einschluss phänomenologisch-hermeneutischer Einsichten und Verfahren - für eine ebenso leistungsfähige wie umfassende (semiotische) Kategorienbildung 77 , die zugleich und ungeschmälert den unmittelbaren Wahrnehmungsvorrang, den relativen Gegenstandsbezug und die jeweils neuen Interpretationsmöglichkeiten respektiert. Daraus folgt für die Religionsgeschichte: Alle möglichen und spezifischen Erfahrungssituationen werden darstellbar, ohne dass eine heteronome, supranaturale, andere Wirklichkeit auch noch herangezogen werden müsste. Im Aufdecken der Verstehensstrukturen, die allem Erklären zugrunde liegen, bietet sich die Zugänglichkeit der Phänomene so dar, dass unterschied-
73 74 75
S. § 10.1; § 1.4. M. Moxter (2000), 122 (im Kontext von E. Cassirers Begriff der „Prägnanz"): „Sinn" ist „keine Zutat zu an und für sich gegebenen Elementen". I.U. Dalferth (2003), 129.
76
Vgl. zu Problem und Begründung der Orientierung M. Moxter, aaO. 285; I.U. Dalferth, aaO. 149.
77
S. § 1, Anm. 4; § 10.2.
420
IV. Das Relative: Explikationen von Religiosität
lieh gewichtete und interessierte Interpretationen möglich, keine vorweg einseitigen Bewertungen mehr nötig sind. (4) Die Darstellung von Religion und Religiosität als relative Explikation im Rahmen einer Religionsgeschichte ist zweifellos nicht nur legitim, sondern in dieser Perspektive gar nicht zu ersetzen. Geht die Religionsgeschichte aber darauf aus, das Unbedingte, Ganze, existentiell Verbindliche entweder als unwissenschaftlich auszuscheiden oder als durch Beschreibung schon abgegolten zu sehen, dann müssen Phänomenologie und Hermeneutik auf die Lücken im System, die unerfüllten Versprechungen, die nicht abgegoltenen Lebensdimensionen aufmerksam machen. Ein religiöses Phänomen im Interessenfeld der Religionsgeschichte kann in ganz bestimmten, von nicht-religiösen Phänomenen abhebbaren Eigentümlichkeiten unterscheidbar sein (Rituale, Gebete, Kulte, Gebäude, Organisationen etc.), muss aber keineswegs ausschließlich in diesen empirischen Formen auftreten. Denn alle Phänomene (im kategorial-semiotischen Sinn) sind latent religiös, sofern die Dreistelligkeit jedes Zeichenereignisses dessen Abkünftigkeit, Unbestimmtheit und Unbedingtheit im Kontinuum des Weltprozesses schon mitbringt, worauf jede Erfahrung in mehr oder weniger thematischen Bezugnahmen von Versonnenheit, Verehrung und entsprechenden Verhaltensgewohnheiten reagiert. Wie sich solche Formen von Religiosität geschichtlich darstellen, ist konkret nicht für alle Zeiten und Räume vorauszusagen, sondern gestaltet sich in den kontingenten Kultur- und Geschichtszusammenhängen, in denen die Religionen ihre verhaltensorientierenden Symbolsysteme ausgebildet haben und ausbilden werden. Diesen Sinn von Religionsgeschichte als (philosophischer) Phänomenologie der Religion hatte Hegel entwickeln wollen, während die empirische Forschung dem Systemdenker die Kontingenz der Ereignisse als Einwand vorhielt. Geschichtliche Kontingenz kann aber überhaupt nur auf dem Hintergrund von Zusammenhängen erkennbar werden: Einem Kontinuum, das wiederum so wahrgenommen, erlebt und gedacht werden kann, dass zugleich seine Abkünftigkeit, seine diskrete Einzelheit wie seine Zusammenhangsbildung darstellbar werden. Die Religionsgeschichte zeigt eine partielle Realisierung des universalen Kontinuums.
V. Das Kontinuum: Religiöse Erfahrung als personale Symbolisierung Der Begriff der Erfahrung ist vielfältig, erst recht in der Verbindung mit Religion bzw. Religiosität. Dann kann - religionswissenschaftlich das weite Feld der Phänomene gemeint sein, die als besondere, aus dem Alltäglichen herausragende Ereignisse des Wunderbaren, Ergreifenden und unbedingt Lebensbestimmenden „erfahren" werden, und diese gemeinsamen Züge und ihre Beschreibbarkeit1 rechtfertigen den Sammelbegriff Religion·, oder es kann - religionsphilosophisch - eine Begriffsabgrenzung des Religiösen gesucht werden, wobei dessen Erfahrbarkeit als Begründung seiner Berechtigung und Wahrheit dient. So schwierig alle diese Versuche auch erscheinen, für religiöse Erfahrungen sprechen praktische Plausibilitäten in Eigen- oder Fremdbeobachtungen. Eine über jeden Zweifel erhabene Definition wird sich nicht erreichen lassen, aber es ist auch nicht beliebig, was im Sinne der Differenz setzenden Qualität des Erhabenen, Bewegenden und Verpflichtenden erfahren werden kann und was nicht.2 Dass aber ausgerechnet Phänomene an der Grenze dessen, was sonst (überprüfbare) Erfahrung bedeutet, in gleicher, vergleichbarer oder ganz anderer Weise als „erfahren" gelten sollen, bleibt ein Problem - und zwar des Erfahrungsbegriffs selbst. (1) Traditionell und lebensorientiert wird Erfahrung gefasst als geübter Umgang mit den Dingen3: Erfahrungen werden gemacht, und ihre Stärke als Maßstab zur Bestimmung von Wirklichkeit und Wahrheit liegt im Sammeln, Vergleichen und Ausbilden von Standards. Diesen
1 2
3
S. Teil IV, § 13ff. W. Löffler (2006), 88: „Würde umgekehrt jemand etwa von tiefen religiösen Erfahrungen beim Ausfüllen seiner Steuererklärung berichten oder von einer heftigen Trostlosigkeitserfahrung beim Anhören von Bachs Weihnachtsoratorium, so erschiene dies vielen Menschen als unplausibel und vielleicht sogar besorgniserregend." Soweit in aristotelischer (und vorausgehend vorsokratischer und platonischer) Tradition, vgl. F. Kambartel: Erfahrung, in: H W P 2 (1972), 609-617; 609ff.
422
V. Das Kontinuum: Religiöse Erfahrung als personale Symbolisierung
ist dann nicht mehr zu widersprechen, solange keine gegenteiligen Erfahrungen auftreten, und in diesem Sinne kann kulturgeschichtlich auch von religiösen Erfahrungen gesprochen werden. Sie gehören zu den verhaltensbildenden Traditionen einer Gesellschaft, zum öffentlichen Kult und sind in Ritualen sichtbar repräsentiert. Was die einzelne religiöse Erfahrung aber selbst ausmacht und begründet, muss hier gar nicht gefragt werden. (2) Der Erfahrungsbegriff gewinnt erst in der Neuzeit einen empiristischen Sinn, wenn methodisch (angeleitet durch Experiment und Induktion) auf die Kontrollinstanz des für alle Wahrnehmung vorausgesetzt Gegebenen geachtet werden soll.4 Vor der Begriffsbildung stehen die natürlichen Gegenstände, sie allein sind erfahrbar, und es ist in der Moderne dieser begriffs- und methodenkritische Sinn von Erfahrung, der die Religiosität dem Verdacht der Illusion aussetzt und sie - jedenfalls von wissenschaftlich bestimmbarer - Erfahrbarkeit tendenziell gerade ausschließt. (3) Dieser Vorrang des Empirischen wird von Kants Erkenntnistheorie einerseits übernommen: Verstandesbegriffe brauchen zwingend Anschaulichkeit, d.h. ihre Erfahrungsbasis; andererseits aber erklärt sich die Fähigkeit zur Begriffsbildung nicht selbst wiederum empirisch, sondern die Transzendentalphilosophie muss die theoretischen Bedingungen angeben, wie es zu begrifflichem Wissen überhaupt kommen kann.3 Die dazu eingeführte Trennung von Erscheinungswelt (Phaenomena) und Denkwelt (Noumeno) hatte aber zur Folge, dass religiöse Gegenstände ortlos werden mussten: Sie sind entweder Ideale der Denkwelt (und damit keine Gegenstände möglicher Erfahrung) oder fragliche Anschauungsobjekte für empirische Begriffe (ein Maßstab, dem religiöse Sondererfahrungen gerade nicht genügen können). Während Kant selbst religionsphilosophische Grundbegriffe (Gott, Freiheit, Unsterblichkeit) als Ideale der Vernunft zu retten versuchte, zeigt die Wirkungsgeschichte seiner Vernunftkritik die wachsende Dominanz der empirisch gebundenen Verstandeserkenntnis als allgemeinen Wissenschaftsstandard - der religiöse Erfahrung nicht mehr kennt. Die Frage aber, wie es zu gewissem Wissen kommt, bleibt seit Kant unwi-
4
5
S. § 8.1 (exemplarisch zu F. Bacon); vgl. (besonders zur Schlüsselstellung von J. Locke) E. Herms: Erfahrung II u. IV, in: TRE 10 (1982), 89-109, 128-136; hier: 90ff. S. § 8.2.
§ 15: Religionsgeschichte
423
derruflich gestellt - für das menschliche (praktische) wie für das wissenschaftliche (theoretische) Selbstbewusstsein. (4) Gegen das rein empirische Denkmodell wurde mit der Begründung Einspruch erhoben, es erreiche immer nur „approximatives" Wissen, gehe also an der leidenschaftlichen, unaufschiebbar gegenwärtigen Handlungs- und Lebenssituation vorbei. Kierkegaard hat diesen existentiellen Erfahrungsbegriff gerade auch im Namen der Religiosität herausgearbeitet 6 , und seit dem 19. Jh. ist er geisteswissenschaftlichen und hermeneutischen Denkeinstellungen eigen. Solche Erfahrung kennt durchaus Uberprüfung und Experiment, wie sie in literarischen oder psychologischen Charakterstudien, auf indirekten Wegen also in großer Variationsbreite möglich sind.7 Das direkte und theoretische Gottesargument greift zwar fehl, das Lebenszeugnis aber ist von Rang, denn es zeigt die Bedeutung religiöser (traditioneller) Begriffe. Mehr noch, die (existentielle) Erfahrungsgewissheit ist als Schlüssel zu wirklichem Wissen gar nicht wegzudenken: Sie determiniert sicher nicht empirische Gegenstände, eröffnet aber den Umgang mit einer Welt, die für den Menschen immer Außen- und Innenwelt zugleich ist und auf diese Weise gewusst und im Selbst-Sein erlebt wird. (5) Muss dann ein einheitlicher Erfahrungsbegriff aufgegeben werden? Das wäre sicher für die Religiosität ebenso nachteilig wie für den empirisch verstandenen (naturwissenschaftlichen) Sinn des Begriffs, denn sich auf Erfahrung zu berufen würde dann nur noch für Teilwirklichkeiten gelten oder müsste diese totalisieren - wissend, dass andere Erfahrungszugänge zumindest möglich sind. Gerade in der religionsphilosophischen und theologischen Diskussionslage der Moderne hat sich gezeigt, dass religiöse Erfahrung weder als empirischer Sonderfall ein-
6
S. § 1.4.2; vgl. S. Kierkegaard, Unwissenschaftliche Nachschrift, Erster Teil, SKS 7, 30; Ges. Werke, 16. Abtig., 18 (am Beispiel der historischen Methode bezogen auf Religiosität): „Wenn das forschende Subjekt unendlich interessiert an seinem Verhältnis zu dieser Wahrheit wäre, würde es an dieser Stelle sogleich verzweifeln, weil nichts leichter einzusehen ist, als dass in Bezug auf das Historische die größte Gewissheit doch nur eine Approximation ist, und dass eine Approximation zu wenig ist, u m darauf seine Seligkeit zu gründen".
7
Kierkegaard w a r ein Meister dieser Verfahren, vgl. zur Rolle von „Experimentator" und „Experiment", aaO. Zweiter Teil, SKS 7, 570; dt. 340. - Zur Entwicklung des geisteswissenschaftlichen Erfahrungsbegriff vgl. E. Herms, aaO. (s. A n m . 4), lOlff.
424
V. Das Kontinuum: Religiöse Erfahrung als personale Symbolisierung
fach behauptet werden kann8 noch aus Furcht vor empirischer Kontrolle in ihrer Eigenständigkeit vorschnell verloren gegeben werden muss.9 Beidem zu entsprechen ist aber nur möglich, wenn der Erfahrungsbegriff zugleich auf den Ursprung seiner Gewissheit bezogen wird; anders gesagt: Was als (gegenständliche) Erfahrung gelten soll, kann nicht abgelöst werden von dem - empirischer wie existentieller Erfahrung gemeinsamen - Grundproblem ihres Zustandekommens, und so hat Erfahrung immer auch einen unanschaulichen Bereich ihrer Entstehung und Vergewisserung. Bevor angeschaut und gemessen werden kann, ist etwas zur Erscheinung gekommen; und dass dies so ist bleibt lebensweltlich gewiss, auch wenn Methoden der Uberprüfung noch nicht vorgenommen werden konnten, aber gerade auch nicht ausgeschlossen werden müssen. Die damit erfahrungskonstitutiv vorausgesetzten basic beliefs (fundamentale Uberzeugungen) sind es, die der analytischen Religionsphilosophie zur Verteidigung religiöser Erfahrungsaussagen dienen10: So wie alltagsweltlich Uberzeugungen als selbstverständlich gelten (z.B. in bestimmten Lebenssituationen gemeinsame Wahrnehmungen), von den Beteiligten geteilt und auch ohne empirische oder logische Prüfung keineswegs als irrational eingestuft werden, so natürlich - d.h. ohne Bedarf an vorausgehend expliziter Begründung und Sicherstellung - sind Basis-Aussagen des religiösen Glaubens, die Erfahrungen zum Ausdruck bringen.11 Das entscheidende Argument besteht hier also darin, dass gerade kein empirischer Nachweis für die Nicht-Irrationalität religiöser Erfahrungen erbracht werden muss, weil wir uns auf einer Ebene der selbstverständlichen Kommunikation von Uberzeugungen befinden, auf der dies in allen Fällen nicht nur unüblich und unmöglich wäre, sondern als durchaus exaltiert erscheinen müsste: Kein Mensch kann beweisen wollen, was ihm gerade vor Augen steht. Für eine vertretbare Uberzeugung („war-
8
Etwa unter der Kategorie des Heiligen (s. § 15.4, Anm. 64) und seiner Erfahrbarkeit im „Numinosen", vgl. zur kritischen Diskussion dieses Erfahrungsbegriffs in R . Ottos Religionstheorie G. Linde (2009), Kap. 1.4.3.3.
9
Darin lagen die Impulse für W. James' Religionstheorie (s. § aaO. Kap. 1.4.3.1. - Besonders aufschlussreich ist das Beispiel der Exklusivität der religiösen Gewissheit willen diese dann schaftlich legitimierten Erfahrungsbegriffen wieder trennt, 1.4.4; E. Gräb-Schmidt (1994). Kap. 1.3.
10
A. Plantinga (1985), 60-64; (1998); vgl. die Darstellung in W . Löffler (2006), 8797.
11
Plantinga (1985), 64: „Just as we have a natural tendency to form perceptual beliefs under certain conditions [...], we have a natural tendency to form such beliefs as God is speaking to me".
13), vgl. G. Linde, K. Heims, der um doch von wissenvgl. Linde, Kap.
§ 15: Religionsgeschichte
425
ranted belief" 12 ) genügt eine im Umfeld selbstverständliche Situation der Uberzeugungsbildung, die keine Sonderrechte oder Sonderfälle in Anspruch nimmt. Daraus folgt zwar kein inhaltliches Argument zugunsten bestimmter religiöser Erfahrungen, wohl aber die klare, weil rational abgeleitete Plausibilität, dass religiöse Aussagen und Erfahrungen nicht schon per se als abwegig zu gelten haben 13 ; im Gegenteil, sie haben, wenn sie denn zutreffen, eine genauso gute Uberzeugungsbasis wie andere auf Wahrnehmungen basierende Erfahrungszusammenhänge auch. Damit ist Plantingas Strategie erfüllt: Sie setzt durchgängig auf logische Nachvollziehbarkeit, macht aber offensichtlich das Faktum des subjektiven Uberzeugtseins im Rahmen einer traditionellen Religiosität und ihrer Bindungskraft zur stillschweigenden, für den Argumentationskontext „Reformierter Erkenntnistheorie" essentiellen Voraussetzung.14 (6) Weiterführend ist der Erfahrungsbegriff einer Phänomenologie bzw. Phaneroskopie 15 , die sich nicht nur auf die individuelle, perzeptive Uberzeugungsbildung beruft, sondern das Universum des Gegebenen zugleich mit seiner Gegebenheitsweise thematisiert. Die Zugänglichkeit der Realität liegt dann in einem Kontinuum 1 6 , das aus menschlicher Sicht keinen absoluten oder neutralen Ausgangspunkt zulässt; und reine (empirische) Objektivität wird dann als - für den modernen Wissenschaftsbegriff zwar herausragender - Sonderfall von Bestimmtheitsgewinn durch Abstraktion von den Gegebenheitsbedingungen erkennbar. Fakten haben Kontexte, Voraussetzungen und Fol-
12
Vgl. zur Darstellung auch der Entwicklungsstufen dieser Argumentation hei W. Löffler, aaO. 93f.
13
Vgl. Löffler, 96; formalisierte Kriterien für die Unterscheidbarkeit religiöser Erfahrungen finden sich bei K.E. Yandell (1999), chap. 4; vgl. Löffler, 81. Zum Erfahrungsbegriff im übertragenen Sinn in den Theologien von W. Pannenberg („alles bestimmende Wirklichkeit") und K. Rahner („transzendentale Erfahrung") vgl. Löffler, 97-102. Zu dieser Schulbildung vgl. Löffler, 87; J . Greco (2007); zu A. Plantinga selbst im autobiographischen Kontext vgl. Plantinga (1985), 3ff.
14 15
16
S. § 15.4, Anm. 65. - Vgl. E. Herms, aaO. (s. Anm. 4), 131: „Die neuzeitliche Philosophie denkt Erfahrung insofern als Gegebenheitsweise von Gegenständen möglicher Gewissheit". Vgl. K. Stock: Erfahrung IV, in: R G G 4 2 (1999), 1403: Erfahrung verlangt die Anerkennung „eines Kontinuums des individuellen Selbst-Seins unter der Bedingung des Naturgeschehens." - Der Begriff Kontinuum gewinnt hier zunächst eine phänomenologische Bestimmung, die aber mit seiner kosmologischen bzw. mathematischen korrespondiert, s. § 1.4, Anm. 36; § 1.4.3; § 18.
426
V . Das Kontinuum: Religiöse Erfahrung als personale Symbolisierung
gen - nur so sind sie zugänglich, wenn auch methodisch isolierbar. Erfahrung im Rahmen des Kontinuums umfasst dann den empirischen und existentiellen Sinn des Begriffs, aber auch, wie es zur (gewissen) Erfahrung kommt, d.h. das voraussetzungslos auftretende Was, das körperlich-gegenständliche Dass und im Kontext erfassbare Wie von Erfahrung. Die (religiöse) Unbedingtheit hängt an der Qualität des Was17, die (religiöse) Selbsterfahrung an der Leiblichkeit des Dass, und beides wird als (religiöses) Selbst-Sein im darstellungsbewussten Wie erlebt. Diese Erfahrungsstruktur hat keine religiöse Exklusivität zur Bedingung, zeigt aber, warum, dass und wie Religiosität und Religionen möglich und wirklich werden: Der Unbedingtheitsbezug (Qualität des Was) ist unvermeidlich, kann sich deshalb jederzeit und in jedem Kontext melden, ausdrücklich und als solcher thematisiert zu werden verlangen (s. § 16); der Explikationsbezug unter Bedingungen (Relativität des Dass) hat immer auch seine religiöse Gegenständlichkeit und zeigt diese genuin in gefühlsbezogenen, Unbedingtheit ausprägenden (normativen, ritualisierten) Wert- und Sinnvorstellungen (s. § 17); und diese werden als solche und im Kontinuum bewusst (im Wie der Interpretation) gelebt und gestaltet (s. § 18). (7) Der erweiterte und kategorial18 strukturierte Erfahrungsbegriff impliziert auch, dass die Zugänglichkeit von Erfahrungen nicht irgendwie empirisch direkt, sondern nur semiotisch19 vermittelt vorgestellt werden kann. Damit wird der eigene, kategoriale Ort von Unmittelbarkeit und relativer Gegenstandswelt keineswegs aufgehoben, aber bezogen auf deren Darstellungsfähigkeit: Die Ausdruckgabe von Erfahrungen unmittelbarer Qualität, existentieller Leiblichkeit und Selbsterfahrung im Verstehen gehören geordnet zusammen in der Symbolisierung genau dieser Relationen und Prozesse. Personal - auf „Persönlichkeit"20 angelegt - sind die (religiösen) Symbolisierungen
17
In anderer Terminologie: an der „Passivität der Konstitution des unmittelbaren
18
S. § 1.4.
19
S. § 10.2 (Schema 3); vgl. E. Herms, aaO. 132: „Religiöse Erfahrung" macht keine exklusiven Sonderereignisse geltend, sondern (im Kontext des neuzeitlichen Erfahrungsbegriffs und hier am Beispiel des christlichen Offenbarungsbegriffs entwickelt) „das - allerdings stets das Ganze der Selbsterfahrung einer Person einschließende, ihre Selbsterkenntnis verändernde und vertiefende - Erschließungsgeschehen des Sinnes und der Wahrheit von Symbolen der christlichen Uberlieferung".
20
S. § 10.1, A n m . 18.
Selbstbewusstseins", vgl. E . Herms, aaO. 132; s. § 10.
§ 16: Imagination
427
deshalb, weil sie als geistige Prozesse (spontan, regelbildend, assoziativ) im evolutionären Wachstum von Natur und Kultur nicht nur material, sondern immer auch ideal aufgefasst werden müssen. So werden Ideen wirksam, und die Idee der Persönlichkeit, im universalen Zusammenhang des Gottesgedankens wie im existentiellen Fall der Person, avanciert zur Bedingung des Verstehens überhaupt: Weil wir in einer Welt leben, deren wirksame Entwicklung die Menschen durchläuft auch dann, wenn sie umgekehrt (wie partiell auch immer) auf sie einwirken. Die religiöse Erfahrung artikuliert diese Prozesse von Vorstellung, Wirkung und Handlung immer in der (bewussten) Auslegung ihrer Unbedingtheitsperspektive: in Imagination, Normativität als Ritual und im personal symbolisierten Selbst-Sein.
§ 16: Imagination Wie Religiosität ursprünglich - und insofern unbedingt - möglich und wirklich wird, ist zunächst als Erstheit von Gefühlsqualität und dann in der religionspsychologischen Problematik der (wissenschaftlichen) Darstellung eben solcher Qualität gezeigt worden.21 Wie aber stellt sich solche Unbedingtheit als - mehr oder weniger selbstbewusst empfundene - Ursprünglichkeit selbst dar? In Kants „Transzendentaler Deduktion" werden Ort und Rang dieses Ursprungs genau bezeichnet, nämlich in der Erklärung, dass die „analytischen" Möglichkeiten des menschlichen Verstandes: seine Fähigkeit, Unterscheidungen zu treffen und Zusammenhänge herzustellen, logisch abhängig ist von einer vorausliegenden „synthetischen" Leistung. Diese muss als Instanz schon da sein, wenn nicht nur Beliebiges vorgestellt werden soll, sondern das Bewusstsein auch sich selbst präsent ist als das, von dem ausgehend alle anderen Vorstellungen fokusiert werden. Kant nennt diese Instanz das „Ich denke", die „transzendentale Einheit des Selbstbewusstseins", weil aus den empirisch und vielfältig vorliegenden Dingen und Sinneseindrücken die notwendige Einheitsfunktion nicht verständlich gemacht werden kann. Die „ursprüngliche" oder „reine Apperzeption" (Vorstellungsfähigkeit des Selbstbewusstseins) ist selbst also niemals gegenständlich, weil sie für jede gegenstandsbezogene Vorstellung bereits benutzt wird, sie muss also ganz anders als das Gegenstandsbewusstsein angesetzt werden:
21 S. §10u. § 13.
428
V. Das Kontinuum: Religiöse Erfahrung als personale Symbolisierung
nämlich als „ein Actus der Spontaneität"!22 Wie überhaupt etwas erfasst wird, hat Kant sehr differenziert beschrieben23: Die Vielfalt und zeitliche Reihung der Vorstellungen sammeln zu können, muss „als in einem Augenblick" und „als absolute Einheit" geschehen (Apprehension); der geregelte Zusammenhang der Vorstellungen verlangt eine korrespondierende „Einbildungskraft", die eben solches Geregeltsein (ohne sich seinem empirischen Auftreten zu unterwerfen) festzuhalten vermag (.Reproduktion); die Wiedererkennbarkeit und bewusste Wiederholbarkeit von Vorstellungen ist schließlich die Voraussetzung dafür, den Begriff einer Reihe und nicht nur ihre Einzelschritte erfassen zu können (Rekognition). Der Ort aber aller dieser Fähigkeiten ist das „Gemüt"24, worin ursprüngliche, spontane, augenblickshafte Einheitsbildungen ermöglicht werden; und genau diese Leistungen sollen im Folgenden mit demjenigen lateinischen Wort, das zugleich die American Philosophy25 repräsentiert und damit den Unterschied zur deutschen Transzendentalphilosophie anzeigt, bezeichnet werden: Imagination. Dann ist der einheitsbildende Akt der „Spontaneität" in der „Einbildungskraft" nicht mehr nur der transzendental vorauszusetzende Punkt einer (mitlaufenden) Möglichkeitsbedingung, sondern als solcher die Erschließungsqualität selbst, das Haben und Erfassen der Dinge in einem vorempirischen, vorbegrifflichen, gleichwohl realen Modus26, den Kants tastende Begrifflichkeit durchaus vor Augen, aber nicht im Programm hat. Es gibt keine spätere Instanz mehr, die dieselbe produktive, einheitliche, unbedingte Ursprünglichkeit noch einmal erreichen könnte, alles Folgende ergibt immer nur neue Bestimmungen und
22
23
24 25
26
KrV, Β 13 Iff.; vgl. Β 134 Anm.: „Und so ist die synthetische Einheit der Apperzeption der höchste Punkt, an dem man allen Verstandesgehrauch, seihst die ganze Logik, und, nach ihr, die Transzendental-Philosophie heften muss, ja dieses Vermögen ist der Verstand selbst"; vgl. A. Hutter (2003), 120ff. Vgl. zu den drei Stufen der „Apprehension in der Anschauung", der „Reproduktion in der Einbildung" und der „Rekognition im Begriffe" (nach der 1. Aufl. der Kritik der reinen Vernunft, A 97-110) R.C. Neville (1981), 139ff. Vgl. Κ. Huxel (2004), Kap. II, hier; 130f. S. § 9.3.1, Anm. 68; § 9.3.3, Anm. 106. - Zum Begriff und der Schulbildung der American Philosophy (in Aufnahme der Traditionen von J. Edwards, R.W. Emerson und der Natur- und Religionsphilosophie des Pragmatismus) vgl. R.C. Neville, The Highroad (1992), chap. 7, 161: „Precisely because of approaches that distinguish American philosophy from much of the Western tradition, it is ready to facilitate a world philosophic dialogue. Paradoxically, much of the practice of recent professional philosophy in America misses just this point." Neville (1981), 142: „Synthesis in imagination, however, is what gives experience its character of being in a world."
§ 16: Imagination
429
Differenzierungen. Die Imagination repräsentiert die gefühlsqualitative Erfassung der Dinge, wie sie für uns sind, und darin liegt zugleich deren Gefühls-Wert: „Imagination is the taking possession of the values of the world."27 Die Imagination ist im Akt des Synthetisierens rezeptiv, weil sie aufnehmen kann, was schon ist. Darin besteht ihr naturalistischer Zug, weil sie nicht als Theoriekonstrukt vor oder außerhalb der Welt rangiert, sondern als deren Ausdruck und Fähigkeit zur Darstellung gewertet werden muss. Gegen Kants Bindung der Imagination an die transzendentale Subjektivität gilt dann: „The world seems naturally real."28 Kant hat sich diesen natürlichen Zugang dadurch verstellt, dass er selbst die hypothetische Möglichkeit der Dinge (getragen von der „Einbildungskraft", die immerhin „dichten", aber keinesfalls „schwärmen" darf!29) an die vorgängige Gewissheit kraft Verstandesbegriffe, d.h. an bestimmte empirische Bedingungen gebunden hat. Der Entwurf einer Welt-Hypothese ist dann entweder bloße (ungegenständliche) Idee oder ein falscher Begriff. Was Kant erst der „praktischen" Philosophie, d.h. bezogen auf „sittliche Vorschriften" konzediert: dass es „Prinzipien der Möglichkeit der Erfahrung gibt"30 - das verbietet sich die theoretische Philosophie im Blick auf die Natur. Der menschliche Umgang mit der Natur und dem eigenen Handeln aber bedarf dieser Absicherung und Blockade durch empirische Begriffssicherheit gar nicht, wie sie durch (denknotwendige) transzendentale Bedingungen vor aller Erfahrung hergestellt werden soll.31 Im Lebensprozess liegen, vermittelt kraft Imagination, bereits die produktiven Qualitäten, aufgrund derer gefühlt, gedacht und gehandelt werden kann; und die zu-
27
Neville, aaO. 147. - Dieses Verständnis von Imagination stützt sich vor allem auf A.N. Whitehead, Ch.S. Peirce und J. Dewey, vgl. Neville, aaO. 144-147. Mit der gleichursprünglichen Verbindung von Gefühl und Wert ist im Erfahrungshegriff selbst bereits die Normativität derselben Prozesse angelegt, ebenso der Wahrheitsbegriff als „Carryover of Value" (vgl. Neville [1989], 65).
28 29
Neville (1981), 150. KrV, Β 798. - Vgl. den Hinweis auf diese Stelle und die anschließende Kritik bei Neville, aaO. 151f. - Kant zielt hier in der „Transzendentalen Methodenlehre" am Ende noch einmal auf den Fehler eines vergegenständlichten Vernunftgebrauchs, s. § 8.2.2. KrV, Β 835. Vgl. Neville, aaO. 152: „In an alternate cosmology in which thought and action are one, however, certainty is not necessary for action to be initiated. With or without certainty, a person goes on living. When thought and action are continuous, however, what is necessary is recognition of norms that obligate both, that define a sense of responsibility which presses one toward rational justification."
30 31
430
V . Das Kontinuum: Religiöse Erfahrung als personale Symbolisierung
gehörige Theoriebildung bleibt hypothetisch, weil sie den Prozess nicht zu eigen hat, sondern an ihm passiv und aktiv partizipiert. An erster Stelle in dieser Prozessbeteiligung steht die Imagination.
1. Ein-Bildung In der Imagination den welthaft-menschlichen Ursprung von Erfahrung zu sehen verleiht den Vorstellungsbildern eine Schlüsselstellung. „Ein-Bildung"32 meint geprägte Phantasie, von der ausgehend sich Unterscheidungen wie Theorie und Praxis, Fühlen und Wollen, Denken und Handeln erst entwickeln können. Der Ursprung ist ikonisch 33 , deshalb unbedingt und die späteren Differenzen unbestimmt enthaltend; und ursprünglich ist die Bildkraft der Religion, sie muss nicht nachträglich und eigens noch begründet werden (wie in Kants Religionsphilosophie), sondern sie ist an dieser ersten Stelle geradezu definiert: „The primordial status of world-building through imagination as synthesis is not apprehended solely through critical philosophical reflection, although chiefly philosophy would provide analytical categories such as imagination, synthesis, or even experience. Apprehension of this primordial status lies at the root of religious experience. Religions do focus on elements that are parts of the world; these focal elements usually center on ritual, cosmological expressions and on paths for personal cultivation. But these religious foci presuppose, arise out, and are sustained as plausible through contact with apprehension of fundamental world-experience construction. T h e importance of this thesis, if true, is that beneath its special contingent expressions, religion expresses an apprehension of the founding character of human experience." 34
(1) Die ursprüngliche („primordial") Vorrangstellung der Synthesis ist nicht allein ein philosophisches Theorieproblem, sondern sie ist gründend für alle Lebenserfahrung. Ihre imaginativ-bildhafte Erfassung („apprehension") muss insofern immer mitlaufend in allen weiteren Erkenntnisbemühungen, Differenzierungen und Interpretationen verstanden werden - ähnlich wie Kant das „Ich denke" spontan und allgegenwärtig zugleich konzipiert hat. Die schöpferische Bildqualität ist
32
S. § 7 . 4 , A n m . 52; § 12.1, A n m . 16.
33
S. § 10.2.
34
Neville, aaO. 170.
§ 16: Imagination
431
immer mit im Spiel, sie gibt der Welterfahrung erste Konturen in vorbegrifflichen Kontrasten: zeitlich, räumlich, werthaft. 33 (2) Das religionsgeschichtlich auffällige Material, die als Ausdruck von Religion bekannten Rituale, Mythen, religiösen Glaubens- und Lebensformen sind nicht bereits durch ihr empirisches Vorkommen wirklich verstanden, sondern erst dann, wenn sie als bildhafte Wahrnehmungen weltgründend erlebt werden. Dass die Dinge sich überhaupt unterscheiden, vor einem Hintergrund erst wahrgenommen werden können 36 , geschieht durch imaginative Umsetzung vorhandener Kreativität. (3) Wie die Welt erscheint so ist sie. Imaginationen stehen nicht als Kopfwelt der empirischen Welt gegenüber, sondern diese erscheint in jenen. 37 Gerade im Blick auf die folgenden und notwendigen Differenzierungen in die unendliche Fülle und Strukturiertheit der Zeichenrelationen: Der kreative Grundakt der Bildqualität zeigt die Erfahrung an erster Stelle als schöpferisch - und darin passiv und (abgeleitet) aktiv zugleich. (4) Mit der bildhaft eingeprägten Qualität sind Bedeutungen gegeben, die im Hintergrund- oder Nebeneinander-Vergleich ursprüngliche Wertungen enthalten: Passungen, Stimmungen, Harmonie- und Spannungsverhältnisse etc. 38 Religiöse Bildwelten enthalten all dies, und auf genau dieser Ebene sind sie einzigartig welterschließend, was andere Ebenen der (kritischen) Interpretation gerade nicht ausschließt. 39
35
Vgl. Neville (1996), 48f.: „Imagination is the mental synthesis that integrates various impinging stimuli according to the forms of experience, which are images in the most generic sense. [...] so as to have the form of a world, with temporal, spatial, and valuational dimensions." - In diesem Abschnitt seiner Symboltheorie (Neville [1996], 47-58) werden in 6 Punkten Konsequenzen aus der religionsphilosophischen Begründung des Imaginationsbegriffs (Neville [1981]) entwickelt.
36
Neville (1996), 51: „Perception has the imaginative structure of distinguishing focal things in the midst of a background."
37
AaO. 51: „it is the nature of mental stuff - imagination - to make the world appear."
38
AaO. 52: „In more objectivist language, this would be called intrinsic
39
AaO. 53: „that experience has the imaginative forms of appearance is the case regardless of whether this or that appearance is true. [...] images have the form of being iconically disclosive of the world."
value".
432
V. Das Kontinuum: Religiöse Erfahrung als personale Symbolisierung
(5) Die religionstheoretische These der Welt- und Erfahrungskonstitution aufgrund von Bild-Prägungen steht nur scheinbar im Widerspruch zu Weltbildern der modernen Naturwissenschaften. An der Bedeutungsoberfläche stimmen unterschiedliche Kosmologien in den Religionen ebenso wenig überein wie diese mit astrophysikalischen oder biologischen Entstehungstheorien in den Kosmologien des 20./21. Jh. Davon abstrahierend aber wird sichtbar, dass es Bildwelten sind, die in allen Fällen Lebenspraxis oder Theorie erschließende Funktion haben, und dass die Bildwelten der Religionen nicht auf den empirischen oder mathematischen Begriff, deren Interpretation und Kontrolle zielen, sondern auf den ursprünglichen Akt der Ein-Bildung selbst - an der schöpferischen Grenze 40 , an der die Welt erst zur Welt wird. (6) Das immer kontingente Auftreten von religiösen Bildern an der schöpferischen Grenze aller Erfahrung impliziert schließlich die Unterscheidung zwischen dem (voraus liegend) Unbedingten der erscheinenden Bildqualität und ihrer Darstellungsform. Deren Verarbeitungen, Kontexte und immer weiter gehende Interpretationen sind mit der ursprünglichen Bildkraft nicht identisch, setzen sie aber voraus. Die Kontingenz der Ereignisse - in ihrer schöpferischen Passung, Schönheit, Werthaftigkeit 41 - steht deshalb in einer „asymmetrischen Relation" zum Vorrang der Schöpfung selbst, die in ihnen zum Ausdruck kommt. Diese Abkünftigkeit, der Vorrang des Unbedingten im Bedingten ist eben das Problem, das in der Bearbeitung der Religion, in der religiösen Imagination und qualitativen Ein-Bildung zur Darstellung kommt. Doch die ursprüngliche Gefühlsqualität ist kein gegenständliches Vergleichsmaß, das auf spätere und abstraktere Entwicklungsformen von Religions- und Weltanschauungen automatisch anwendbar wäre, sondern sie liegt kreativ und nur in sehr spezifischer Weise abrufbar vor der „Unterscheidung von Subjekt und Objekt", wie
40 41
AaO. 54: „boundary images defining the dimension of worldliness itself." Neville (1981), 172: „the religious apprehension grasps the world as valuable, as beautiful [...] not beauty in opposition to ugliness. Rather, it is a kind of satisfaction in experiencing together things which, if they were not together, could not be experienced." - AaO. 173: „Religious apprehension, therefore, grasps its .object' not as an object but as an asymmetrical relation. One pole of the relation is the contingent world-experience, which can be appreciated alone; the other is the ground of that world, the creator, which can be appreciated only in terms of its creating, only within the creating relationship." - Zu Nevilles Gottesargument auf der Basis dieser Unterscheidung vgl. auch Neville (1996), 56f.; H. Deuser, Gottesinstinkt (2004), Kap. IV.13.
433
§ 16: Imagination
Neville im Anschluss an P. Tillich sagen kann.42 Welche bestimmte Religion einer anderen vorzuziehen wäre, ist dann eine Frage von weitreichenden, kulturell, geschichtlich und gesellschaftlich bedingten Folgeentscheidungen aufgrund von Interpretationen (nicht: Imaginationen) - genauso wie im Falle von politischen Systemen oder wissenschaftlichen Methoden. Die Imagination aber bleibt gleichwohl grundlegend, Bedingung aller Erfahrung; sie kann in bestimmten Erfahrungskontexten unthematisch bleiben, verloren gehen kann sie nicht.
2. Versonnenheit [Musement] „ W e r sich in der A b s i c h t hinsetzt, von der W a h r h e i t der Religion überzeugt zu werden, tut diese einfach nicht mit wissenschaftlich aufrichtigem H e r z e n und muss deshalb stets fürchten, ungerecht zu urteilen. A u f diese Weise k a n n er nicht einmal das ungeteilte Vertrauen [belief] gewinnen, wie es ein P h y s i k e r in E l e k t r o n e n hat, o b w o h l dies eingestandenermaßen nur vorläufig ist. Lässt m a n dagegen die religiöse Meditation spontan aus PUREM SPIEL erwachsen, und dies, ohne die K o n t i n u i t ä t zu unterbrechen, so wird der VERSONNENE [Muser] die v o l l k o m m e n e O f f e n h e i t bewahren, wie sie der VERSONNENHEIT [ M u s e m e n t ] entspricht." 4 3
(1) Gegenüber den Naturprozessen und im Beobachten der Natur sind die wirklich geltenden Regeln nur zu entdecken, wenn keine Vorurteile den Blick trüben, wenn Wahrnehmen, Erkennen und Schlussfolgern mit „aufrichtigem Herzen" geschehen. Denn vorweg schon zu wissen, sich trotzig auf bisherige Uberzeugungen zu berufen und in dieser Haltung fixiert an die Dinge heranzugehen - das ist nicht die „Offenheit", die Neues lernen will, indem sie sich einlässt auf das, was sich zeigt und aufdrängt. Offenheit nimmt nicht fertige Distanz, sondern lauscht auf die Formen des Beteiligtseins, an denen - durchaus passiv die Idee sich entzündet, wie die Dinge zusammenstimmen und sich erklären. Ein-Bildung trifft auch hier diesen Ausgangspunkt des Zuhörens, unbefangenen Hinsehens, geprägten Beobachtens von möglicherweise gänzlich fremden Zusammenhängen; solche Ein-Bildung aber frei zu legen, bewusst zu halten, einzusetzen und als Offenheit der Haltung
42
Neville (1981), 171. - Vgl. zur ontologisch
(im „Sein-Selbst")
begründeten
Ableitung bzw. A u f h e b u n g der Differenzbildung von Subjekt und O b j e k t , T h e i s m u s und Atheismus z.B. P . T i l l i c h (1987), Bd. I, 204f.; (1991), 136f.; vgl. Neville, G o d t h e C r e a t o r (1992), 90, 177ff.; H . Deuser, G o t t e s Poesie (2007), 125. 43
C h . S . Peirce, Ein vernachlässigtes A r g u m e n t (1908), R S , 333.
434
V. Das Kontinuum: Religiöse Erfahrung als personale Symbolisierung
einzuüben soll mit Peirce' neuem Begriff Versonnenheit genannt werden: Ein Sich-Hineinsinnen in die Dinge, in denen menschliche Beobachtung ihrer Konstitution nach in gewissem Sinne: von Natur aus schon zu Hause ist; in anderem Sinne: von bisheriger Uberzeugung aus abgesperrt erscheint. Versonnenheit wird so zum Schlüssel für Forschung und Wahrheitsfindung. (2) Wenn es eine Ordnung für das Verfahren der Versonnenheit gibt, dann ist es die des „puren Spiels", genauer: Die „Ordnung des S P I E L S " ist das „Gesetz der Freiheit".44 Vorgefasste Meinungen, feste Absichten und enge Regeln werden suspendiert, Freiheit als Ordnung des Spiels bedeutet Spontaneität und nur so kommt es zu neuen Spielzügen. Versonnenheit plädiert nicht einfach für ein meditatives In-sich-Gehen oder gar Weltverlust, sondern für wache Aufmerksamkeit ohne jeden Zwang, d.h. gerade für ein sensibles Zusammenspiel von Innen und Außen: „'Steig in dein Boot der VERSONNENHEIT, stoße dich ab in den See des Denkens und überlasse das Aufblähen deiner Segel dem Atem des Himmels. Halte die Augen offen und achte auf alles, was um dich und in dir ist, und eröffne das Gespräch mit dir selbst, denn das heißt Meditieren.'" 4 ''
Das Spiel treibt also nicht ins Beliebige, Versonnenheit ist keine „Träumerei"46, und auf das „Denken" zu achten schließt die Mahnung ein, dass es sich im „Waffenlager des Denkens nicht um Spielzeuge, sondern um Schneidewerkzeuge handelt."47 Die Offenheit und Freiheit des versonnenen Spiels ist also in Voraussetzungen eingebettet, um deren zu entdeckende Zuordnungen es geht. Auf diesem Weg, im „Gespräch mit dir selbst", gehen Spiel, Versonnenheit und „wissenschaftliche Forschung" tendenziell ineinander über: durch „Geben und Nehmen in der Gemeinschaft zwischen Selbst und Selbst."48 - Das kann nur 44
RS, 333. - Vgl. Peirce' eigenen Hinweis auf F. Schillers Über die ästhetische Erziehung des Menschen (1795), in: Peirce, Semiotic and Signifies (1977), 77; vgl. M. Raposa (1989), 128f. - Schillers Werke, Bd. 20 (1962), 354 (14. Brief): „Der Spieltrieb also [...] wird [...], weil er alle Zufälligkeit aufhebt, auch alle Nöthigung aufheben, und den Menschen, sowohl physisch als moralisch, in Freyheit setzen." Alles (aaO. 357 [15. Brief]) „das, was weder subjektiv noch objektiv zufällig ist, und doch weder äußerlich noch innerlich nöthigt," pflegt der Sprachgebrauch „mit dem Wort Spiel zu bezeichnen."
45 46 47 48
RS, RS, RS, RS,
335. 332. 335. 333.
§ 16: Imagination
435
bedeuten, dass im versonnenen Selbst eines Menschen ein Gegenüber, ein leib-seelisches Verhältnis entsteht, worin das ursprüngliche Selbst sich auszulegen lernt; und zwar so, dass aus den Eigenwahrnehmungen spielerisch auf Anderes geschlossen werden kann und umgekehrt. Das ist keine „Gemeinschaft" im Sinne eines gedoppelten Subjekts, sondern ein Erschließungsvorgang von geistigen in natürlichen Prozessen, die als einheitsbildende Ereignisse49 verstanden werden müssen. Deshalb ist das menschliche Selbst nicht leer, sondern es kann sich über Anderes zu sich verhalten und in der Kombination von Wahrnehmungen neue Zusammenhänge erschließen. (3) Dass um der Offenheit und Freiheit willen „die Kontinuität" nicht unterbrochen werden soll, setzt im Sinne der kategorialen Semiotik 30 die „drei Universen der Erfahrung voraus", wie sie hier im Kontext resümiert werden: Das Universum (radikal möglicher) „ I D E E N " , das der „ R O H E N W I R K L I C H K E I T " von „Dingen und Tatsachen" und das der semiotisch strukturierten „ G E I S T I G E N I N S T A N Z " 5 1 sind phänomenal und relational unterscheidbar, im Erfahrungsprozess aber kontinuierlich. Die Versonnenheit akzentuiert und repräsentiert selbst zwar das erste Universum, so wie dieses aber in den beiden anderen in gewisser Geltung bleibt, so reagiert die Versonnenheit auf alle primären Qualitäten in allen Universen - durchläuft sie und lebt in ihnen, soweit der Freiraum reicht und keine abgrenzenden Bestimmungen gesetzt werden. Wenn dann in den Universen und für ihren Zusammenhalt nach dem Ursprung gefragt wird, so schlägt die überwältigende Qualitätserfahrung 32 um in die personal symbolisierende Hypothese der Kreativität Gottes.33 Darin besteht im Kern das von Peirce sogenannte „vernachlässigte" oder „,bescheidene' [,humble'] Argument" 54 , und „bescheiden" meint hier alltägliche, unmittelbare, qualitative Wahrnehmung. Es gibt 49 50 51 52 53
54
S. § 11.2.1. S. § 1, Anm. 4; zum Begriff der Kontinuität bzw. des Kontinuums s. Teil V, Anm. 16. RS, 33Of. Z.B. der „Homogenität" der Universen, vgl. RS, 338. RS, 339: „im PUREN SPIEL der VERSONNENHEIT wird früher oder später die Idee der REALITÄT GOTTES als ein reizvoller Einfall entdeckt werden, den der VERSONNENE auf verschiedene Weisen entwickeln wird. Je mehr er ihn erwägt, um so mehr wird diese Idee in jedem Teil seines Geistes Widerhall finden: aufgrund ihrer Schönheit, weil sie ein Lebensideal bereitstellt und wegen ihrer durch und durch zufriedenstellenden Erklärung der dreifältigen Umgebung des Menschen." RS, 355.
436
V. Das Kontinuum: Religiöse Erfahrung als personale Symbolisierung
keine andere Welt als die der drei Erfahrungsuniversen, und in ihr drängt sich - an erster Stelle, im Nachsinnen, im freien Spiel der Versonnenheit - die „Idee" Gottes auf: „Woher sollte solch eine Vorstellung, wie z.B. die Gottes, denn kommen, wenn nicht aus direkter Erfahrung? Sollen wir sie als Ergebnis einer guten oder schlechten Schlussfolgerung darstellen? [...] Nein: Was Gott betrifft, öffne Deine Augen - und Dein Herz, das ebenso ein Organ der Wahrnehmung ist - , und Du siehst ihn." 5 5
Das ist übertragene Redeform56 - sie allein aber ist der Wahrnehmungsqualität ursprünglicher Ermöglichung, wie sie sich der Versonnenheit erschließt, angemessen - jedenfalls an erster Stelle, an der eine kontrollierte „Schlussfolgerung" gerade noch nicht in Frage kommt.
3. Abduktives Gottesargument „Es ist diese [...] ,VERSONNENHEIT' [...], die ich besonders empfehle, denn sie wird mit der Zeit zum N.A. aufblühen." 57
Dem Umschlagspunkt von Wahrnehmung bzw. Erfahrung in Hypothesenbildung gebührt besondere Aufmerksamkeit. Was hier geschieht und dass dies geschieht - darauf weist das „Vernachlässigte Argument für die Realität Gottes" hin (das „Neglected Argument for the Reality of God"58 [ALI]), und es ist deshalb in seinem Kern kein Produkt einer (theoretischen) Schlussfolgerung oder technischen Argumentation, sondern exemplarisch für den „religiösen Glauben [FaithJ'59, damit für eine praktizierte Schlussform, die als solche auch ausgezeichnet werden kann - und darin besteht das N.A. im weiteren Sinn. Die drei Schritte
55
RS, 244f. (in einem Ms. von 1894); vgl. entsprechend RS, 230 (in einem Aufsatz von 1893): „Die Mannigfaltigkeit [...] macht die Lebendigkeit oder Lebhaftigkeit des Universums aus; und ihre Wahrnehmung ist eine direkte, wenn auch verdunkelte Wahrnehmung Gottes." - Zur semiotisch genaueren Einstufung des Gottesbegriffs, wie Peirce ihn hier einsetzt, vgl. G. Linde (2009), Kap. IV.4.2.
56
S. § 13.2, Anm. 37; zu Unmittelbarkeit und Ikonizität s. § 10.
57
Peirce, RS, 333.
58
Vgl. den engl. Text, in: ES 2, no. 29.
59
Vgl. Peirce' explizite Unterscheidung zwischen „Argument" und „Argumentation" (RS, 331) und seine eigene Einstufung des N.A. als nicht auf Theologie zielend, sondern „to what I mean by a purely religious Faith, which will have already taken deep root before the subject of it thinks of it at all as a belief" (Semiotic and Signifies, 76).
§ 16: Imagination
437
des N.A. verdanken sich abduktiver Logik, und dieser lassen sich die Haupttypen des Gottesarguments zuordnen.60
3.1. Abduktion als Schlussform Soweit das Kontinuum, die (kosmologische) Realität des Weltprozesses, menschlicher (logischer) Kontrolle zugänglich ist, geschieht dies in den unterscheidbaren Schlussformen von Abduktion, Induktion und Deduktion. 61 (1) Die Deduktion ist die Schlussform der Notwendigkeit, d.h. aus zwei Prämissen folgt durch einen - diesen Prämissen gemeinsamen - Mittelbegriff die zwingende Einordnung eines einzelnen Gegenstandes in die übergeordnete Klasse, zu der er gehört. Die Deduktion ist also der unumgängliche Vollzug einer Einsicht (Interpretation), die in den Prämissen - Prädikaten (Zeichen) über bestimmte Subjekte (Dinge) schon vorliegt. Die hier zur Anwendung kommenden Wahrheitswerte, darin besteht Peirce' Weiterentwicklung eines bekannten logischen Problems, sind nun nicht nur „wahr" oder „falsch", sondern auch „unbestimmt" („indefinit"62). Das ist ein Grenzfall, der dann entsteht, wenn sich noch nicht sagen lässt, wie konkret (existierend) eine bislang allgemeine (insofern reale) Bestimmung ausfallen wird: Bei Grenzen oder Schnitten einer kontinuierlichen Linie63 etwa gehören einzelne Punkte möglicherweise zu der einen oder der anderen Seite, solange darüber nicht mit Bestimmtheit entschieden ist; „Mensch" ist ein unbestimmter, aber gültiger Subjektausdruck, solange kein existierender Mensch mit bestimmten Eigenschaften angegeben wird. - Das ontologische GottesargumentM gehört zu dieser Schlussform, fraglich bleibt dabei aber immer, welche Voraussetzungen legitimer Weise für eine notwendige Gottesaussage gemacht werden können oder nicht.
60
S. § 1.4.3 (Schema 1.4), Anm. 64; § 17.3 u. § 18.3.
61
Vgl. im Rahmen des N.A. den Abschnitt III: RS, 341-346 (hier steht - wegen des Interesses an der Überprüfung der Hypothese - die Deduktion an zweiter [explikativer] Stelle, die Induktion an dritter). - Die folgende Darstellung stützt sich durchgängig auf die selbständige Rekonstruktion von Peirce' Logik der Schlussformen im Rahmen der Zeichenklassifikation seines Spätwerkes (s. § 10.2: Schema 3), wie sie von G. Linde (2009), Kap. IV.3, vorgelegt worden ist.
62
Vgl. z.B. RS, 394ff.
63 64
Vgl. zum Linienbeispiel RS, 183ff. S. Anm. 60; s. § 1.4.3, Anm. 58.
438
V. Das Kontinuum: Religiöse Erfahrung als personale Symbolisierung
(2) Die Induktion ist als Schlussform der Wahrscheinlichkeit gebunden an die Wirklichkeit des Auftretens von Eigenschaften überprüfter Einzelfälle65, aus denen (als Prämissen: Zeichen bezüglich ihrer Objekte) auf das Bestehen von Klassen geschlossen wird. Die dadurch erreichte Interpretation überzeugt, weil unter stillschweigender Voraussetzung der Gleichförmigkeit und Geordnetheit der Natur (Kontinuum) und auf der Basis der hier allein gültigen Wahrheitswerte „wahr" oder „falsch" das wirkliche Wiederauftreten derselben regelhaften Konstellation auch für die Zukunft riskiert bzw. erwartet werden kann. - Das induktive Gottesargument66 gehört zu dieser Schlussform, wobei hier interessant und fraglich bleibt, wie aus Erfahrung dann doch - und in ganz anderer Weise - über Erfahrung hinaus geschlossen werden kann. (3) Die Abduktion ist als Schlussform der Möglichkeit aktiv im Entdecken neuer Kombinationen. Sie ist, was ihren Wahrheitswert angeht, „einwertig", denn für neu und spontan erschlossene Zusammenhänge kann der Satz vom Widerspruch (noch) nicht Anwendung finden. Die Abduktion als Urteil betrachtet ist also weder „wahr" noch „falsch", logisch gesehen nicht unmöglich, sondern in einem produktiven Sinne so vage, wie eine neue Idee nur sein kann: konkret eingebunden in Forschungs- oder Lebenssituationen und deren reale Möglichkeiten. Formal hat Peirce selbst die neue und „überraschende Tatsache als notwendige Schlussfolgerung" und die „Umstände ihres Auftretens [...] als Prämissen" dargestellt67 - nicht also als Einordnung eines Falles in einen Regelzusammenhang (Deduktion), nicht als Schluss aus Fällen auf eine Regel (Induktion), sondern gerade als Schluss, der einen bestimmten exzeptionellen Fall betrifft. Entscheidend ist, dass aus vorliegender Erfahrung (ausgedrückt in der Prädikation, d.h. einer Interpretation von Zeichen bezüglich ihrer Objekte) deren Möglichkeitsraum neu ins Spiel kommt und damit in der abduktiven Konklusion als Hypothese (Vermutung, Konjektur) erscheint: „Die Untersuchung beginnt also damit, die [sc. überraschenden] Phänomene nach allen Seiten hin abzuwägen, um einen Blickwinkel zu entdecken, von w o aus sich die Verwunderung lösen wird. Schließlich entsteht eine Vermutung, die eine mögli65 66 67
S. § 8.1, Anm. 18f. S. Anm. 60; s. § 6.1.3, Anm. 52ff. RS, 342; vgl. RL, 140 (dt. LU, 191f.): Prämisse 1 : Wenn A, dann würde Β folgen./Prämisse 2 : Β ist tatsächlich der Fall./Konklusion: A! - Vgl. zur Kritik dieses Erklärungsmusters und zu seiner Ersetzung durch eine einzige Prämisse, ihren „Möglichkeitsraum" und die entsprechende Konklusion bei G. Linde, aaO. Kap. IV.3.3.1.
§ 16: Imagination
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che ERKLÄRUNG liefert, [...] einen Syllogismus", der dazu führt, „Vermutung oder Hypothese mit Wohlwollen zu betrachten [...]; und dieses Akzeptieren reicht [...] von einem bloßen Ausdruck der Forschungslaune [...] über alle Bewertungsstufen von PLAUSIBILITÄT bis zur nicht mehr kontrollierbaren Neigung, die Hypothese für wahr zu halten [to believe]. [...] dies alles rechne ich zu dem, was das ERSTE STADIUM der FORSCHUNG ausmacht." 68
Dieses „erste Stadium" ist unersetzbar, denn was die Induktion als möglicherweise Wirkliches schon zu Prüfung übernimmt und was die Deduktion als allgemeine Notwendigkeit zu bestimmen sucht, das kann seinen Ursprung allein in dem realen Möglichkeitsraum haben, der Neues zu entdecken veranlasst; anders würde es für Induktion und Deduktion auf die Dauer gesehen gar keine Beschäftigung mehr geben. Weil die Abduktion in dieser Weise im Weltprozess (evolutionäres Kontinuum) verankert gedacht werden muss, kann hier von einer Leistung der „instinktiven Vernunft" gesprochen werden, die sich in diesem ersten Erwachen nicht selbst begründet: Weil „der menschliche Geist auf die Wahrheit der Dinge eingestimmt worden ist, um zu entdecken, was er entdeckt hat."69 Diese Wendung der Wissenschafts- und Religionsphilosophie geschieht bewusst nach Darwins Evolutionstheorie70: Wachstum und Variation prägen das Bild der Universen der Erfahrung, und dies zu erklären verlangt mehr als Mechanik. Überzeugungsbildung und Handeln, passives Bestimmtsein und (bewusste) Zielorientierung gehören zur allein geistig zu ermessenden Realität, tragen aber zugleich einen naturalistischen Zug, der sich wiederum in die kontrollierbare Rationalität der Schlussformen einfügt. Die Imaginationskraft ist an erster Stelle abduktiv, und die Aprioritätszentrierung der neuzeitlichen Philosophie, ihre prinzipielle Distanz zum empirisch bestimmten Gegenüber der Natur verfängt nicht mehr. Kants Einwand, der Instinkt sei nur eine tierische Naturursache und durch „Herumtappen unter Naturformen" verfehle der Mensch gerade seine vernünftige Zwecksetzung71, wird mit neuer naturphilosophischer Autorität gekontert:
68
RS, 342f.
69
RS, 347-349; s. § 1.4.3, Anm. 55.
70
Zur Rezeption des Darwinismus im Umfeld der American Philosophy 25) und im Pragmatismus vgl. L. Menand (2001), 122ff., 221ff., 364f.
71
Vgl. K U , H 16; A XIII (Werke Bd. 8, 187, 243); H. Deuser (2001), 103ff.; s. § 9.1, Anm. 14; § 9.3.3, Anm. 105.
(s. Anm.
440
V. Das Kontinuum: Religiöse Erfahrung als personale Symbolisierung
„Seinem eigenen Bewusstsein die Divination bezüglich der Phänomengründe absprechen zu wollen, das wäre für den Menschen so töricht wie für einen eben flügge gewordenen Vogel, nicht auf seine Flügel zu vertrauen und sein Nest zu verlassen".72
(4) Die abduktive Schlussform ist als imaginative Leistung eingebettet in das Kontinuum, in eine Leithypothese über das Universum73: • Logik und Evolution lehren, dass Klärungen vom „Vagen zum Bestimmten" fortschreiten (Unbestimmtheit der Zukunft wird bestimmte Vergangenheit), Homogenes wird heterogen, d.h. das vorhandene Kontinuum hat sich aus einem Kontinuum höherer Generalisierung heraus entwickelt. • Das uns bekannte „existierende Universum" ist ein Phänomen von Zweitheit (in empirischer Aktion und Reaktion), das aus einer höher generalisierten (platonischen) „Welt der Ideen" herkommt.74 • Dieser Ursprung muss vor Zeit und Logik angenommen werden, d.h. in gänzlicher Vagheit und Unbestimmtheit, in einer „dimensionslosen Potentialität". • Der Begriff der Evolution wird damit in erweitertem Sinne angewandt, meint nicht nur die Entwicklung des vorhandenen Universums, sondern auch den ihm vorausgehenden Prozess aus der Unbestimmtheit (der „platonischen Formen") zur Ermöglichung von Bestimmtheit. • Das vorhandene Universum ist eine bestimmte Realisierung, nicht jede platonische Form muss in dieser Existenzweise auftreten (d.h. andere Welten sind denkbar). • Aus einer ursprünglich „vagen Potentialität" wird ein geformtes Kontinuum in einer „Mächtigkeit von Dimensionen". Das Zustandekommen einer existierenden Welt muss als „Kontraktion" der Möglichkeitsfülle vorgestellt werden. 72
RS, 348. - Der (ursprünglich religionswissenschaftliche, vgl. G. Lanczkowski: Divination, in: HWP 2 [1972], 272f.) Begriff der Divination (höhere Eingebung, Weissagung) erscheint bei Peirce ganz analog zur Funktion des „Divinatorischen" in F. Schleiermachers Hermeneutik, etwa um den Spracherwerb von Kindern - vor Sprach- und Denkfähigkeit - als (allererstes) Entdecken von Regeln zu beschreiben (vgl. A. Bowie [2005], 86f.); Schleiermacher (1999), 327: „das Ursprüngliche" der Seele als „ganz und eigentlich ahndendes Wesen"; zum Vergleich von Schleiermacher und Peirce vgl. J. Dittmer (2001), 300 (Anm. 508), 481 (Anm.107).
73
Vgl. die zentralen Argumentationsschritte in Peirce, RL, 258-261 (dt. LU, 346350 [8. Vorlesung der Cambridge Conferences von 1898]). Vgl. dazu entsprechend in RS, 330f. die „drei Universen der Erfahrung"; s. Anm. 50f.
74
§ 16: Imagination
•
•
•
•
441
Unsere Gefühlsqualitäten („sense-qualities") geben Zeugnis von dem ursprünglichen Gefühlskontinuum, das als ebenso real anzusehen ist wie die gegenwärtige Welt, wenn auch in einem Sein äußerster Vagheit.73 Diese Zeugnisse der ursprünglichen Vagheit (schöpferischer Potentialität) sind als sozusagen „schlafendes Gefühl" von einer Intensität, die nicht noch einmal herzuleiten ist; kategorial gesprochen handelt es sich um „lebendige Erstheit und Spontaneität". Die religiöse Imagination tut folglich recht daran, die kosmologische Gefühlsqualität ursprünglicher Ermöglichung auf ihre Weise zum Ausdruck zu bringen: Der „Göttlicher Schöpfer" („Divine Creator") ist „letztendlich im Wesentlichen die einzige philosophische Antwort auf dieses Problem."76 Die (Natur-)Wissenschaften unterscheiden sich davon allein durch die größere Präzision in den Darstellungsformen. Der schöpferische Ursprung ist in seiner Unbestimmtheit und Vagheit evolutionistisch zu denken in „Freiheit", „Zufall" oder „Spontaneität". Erst die daraus resultierenden „Qualitäten" können aufeinander reagieren zugunsten von „Ereignissen", die wiederum dann erst im Kontinuum von Raum und Zeit aufgefasst werden können.
Es ist diese (hypothetische) Metaphysik der Evolution, in der der abduktive Schluss des Gottesarguments seinen zugleich instinktiven wie rationalen Ort hat; und damit ist gerade auf der Basis moderner, nachneuzeitlicher Naturwissenschaften und Mathematik ein Diskussionsstand erreicht, in dem die religiöse Imagination nicht abseitig, sondern in zentraler Funktion erscheint - und so auch die Religionsphilosophie.
75
Vgl. RL, 258f.; dt. LU, 347: „Sinnesqualitäten, die wir jetzt erfahren, Farben, Gerüche, Klänge, Empfindungen jeder Art, unser Lieben, Trauern, Uberraschtsein" sind „nur die Uberreste eines uralten zusammengebrochenen Kontinuums von Qualitäten [...] wie einige wenige Säulen, die, vereinzelt stehen geblieben, davon zeugen"; s. § 10.3 (zur analogen Interpretation Schleiermachers; vgl. J. Dittmer [2001], 562ff.).
76
RL, 259; LU, 348; vgl. auch RS, 489f. (Anm. 22).
442
V . Das K o n t i n u u m : Religiöse Erfahrung als personale S y m b o l i s i e r u n g
3.2. Abduktion im N.A. Die Versonnenheit also rührt an den Raum ursprünglicher Möglichkeiten, Spontaneität und Gefühlsqualität - und sie wird „aufblühen" zum Neglected Argument,77 Das N.A. als abduktiv-„einwertiges" Urteil78 bezieht sich in seinem Kern nicht auf die empirisch-objektive Außenwelt, sondern auf reale Möglichkeiten, deren Gefühlsnähe gerade keine Distanzierung zulässt, sondern mit dem immaginativen Auftreten (religiöses) Uberzeugtsein unmittelbar verbindet: „Das erste ist jene v o l l k o m m e n ehrliche, ernsthafte und, w e i l o h n e Vorsatz, ungekünstelte M e d i t a t i o n der IDEE GOTTES, z u der das SPIEL der VERSONNENHEIT u n w e i g e r l i c h f r ü h e r oder später f ü h r e n w i r d ; u n d w e i l sich dadurch ein tiefes G e f ü h l der V e r e h r u n g für diese IDEE e n t w i c k e l t , k o m m t es z u e i n e m w a h r h a f t religiösen GLAUBEN an Seine REALITÄT u n d N ä h e . Dabei handelt es sich deshalb u m ein vernünftiges A r g u m e n t , w e i l an s e i n e m Ende ganz natürlich eine äußerst intensive u n d lebendige Bestimmung der Seele erreicht ist, die darin besteht, dass die gesamte L e b e n s f ü h r u n g des VERSONNENEN m i t der HYPOTHESE in Ü b e r e i n s t i m m u n g gebracht w i r d , dass GOTT REAL u n d sehr nahe ist; u n d in einer solchen B e s t i m m u n g der Seele bezüglich eines Grundsatzes [ p r o p o s i t i o n ] besteht die eigentliche Essenz eines lebendigen GLAUBENS. Dies ist das ,bescheidene A r g u m e n t ' , es ist j e d e m aufrichtigen M e n s c h e n zugänglich, u n d ich v e r m u t e , dass es f ü r m e h r M e n s c h e n der Anlass ihrer Gottesverehrung w a r als jedes andere." 7 9
(1) Das „bescheidene Argument", das Innerste des N.A., unterscheidet sich von den beiden folgenden Stufen wie die ursprüngliche Ermöglichung von ihrer kritischen Betrachtung unter den Bedingungen der Wirklichkeit (induktiv-„zweiwertig") und ihrer Auswirkung in geregelten Prozessen von Natur und Kultur (deduktiv-„dreiwertig"). Diese Vorrangigkeit und Autarkie des N.A. kann nur mit den appellativen und zugleich existentiell unmittelbar überzeugenden und bindenden Kriterien wie „ehrlich", „ernsthaft", „ungekünstelt", „aufrichtig" abgegrenzt werden, um die Qualität der Versonnenheit gegenüber Fremdbestimmungen zu schützen; auch um nahezulegen, dass Selbsterfahrung durch Imaginationskraft hier frei und unverstellt von (vermeintlichen) Folgerungsaspekten riskiert werden muss. Intersubjektiv ist diese Situation wiederum spontan verständlich, aber nicht erzwingbar. Ein „vernünftiges Argument" kommt nur dadurch zustande, dass der Wert kreativer Ermöglichung, wie er in der Gott-Hypothese symbolisiert wird, als handlungsleitende Orientierung im N.A. selbst verankert ist:
77
S. A n m . 57.
78
V g l . G. Linde (2009), Kap. IV.2.3; s. § 16.3.1(3).
79
R S , 359f.; vgl. analog R S , 331, 355, 372(.
§ 16: Imagination
443
Die Basisüberzeugung des religiösen Glaubens rechnet und kalkuliert nicht bestimmte Einstellungen, Fakten und Folgen, sondern sie hat sie vorweg im Modus der Möglichkeit - und diese ist so real wie Welt- und Menschsein in seinem Ursprung. Deshalb gehören hier „Versonnenheit", „Nähe" und „Realität" aufs engste zusammen: Hier wird kein religiöses Sonderwissen erworben - denn die Nähe zum Ursprung aller Dinge rangiert vor deren Gewusstwerden - , sondern vertrauenswürdige Kreativität in spezifischer Weise erlebt. Nicht unähnlich, wenn auch in gegenläufiger Richtung, d.h. vom empirischen Missverständnis herkommend, hat Wittgenstein den religiösen Glauben aufgrund seiner überragend eindrücklichen Lebensorientierung verteidigt: Weil ein Mensch „für diesen Glauben Dinge wagt, die er für andere, ihm weitaus besser demonstrierte Sachen nicht riskieren würde."80 - Diese pragmatische Seite des religiösen Glaubens ist für das N.A. sicher ebenso zutreffend, allerdings nicht für sich allein genommen. Der abduktive Schluss aufgrund von Versonnenheit hat seine eigene Autorität in der kreativen Ermöglichung selbst. Hier liegt der Grund auch der lebenspraktischen Bewährung, die gerade im Falle Gottes, der Schöpfung und des religiösen Glaubens ganz fundamentale Möglichkeitsräume auslotet, ohne die ein Selbst-Verstehen gar nicht gedacht werden kann. Kierkegaard hat diese Grunddimension einer neuen Sicht aller Dinge auf seine Weise bestätigt, wenn er angesichts des Todes und der Aufhebung des Lebens den Ernst des Selbst-Verstehens aufdeckt, der vor seinen empirischen und gesetzlichen Bedingungen liegt: Die Imagination des Endes führt auf die ursprüngliche Ermöglichung des Lebens und hat insofern „rückwirkende Kraft" für seine Gestaltung.81 Die Versonnenheit jedenfalls nimmt sich Zeit und Gelegenheit, dem nachzusinnen, was zum Thema zu machen erst die Funktion der beiden folgenden Stufen des N.A. sein kann, was also in der Imagination eine Sphäre vorrangigen Rechts realer Möglichkeiten ausspielt. Deshalb die Indirektheit, die Bildqualitäten und der erzählende Ton dieses Gottesarguments: um den gewohnten Intentionsrichtungen entgegen die eigenen Grundbedin-
80
L. Wittgenstein, Vorlesungen und Gespräche (1971), 88; vgl. C. Barrett (1991), 180£: „What Wittgenstein is offering here is what might he described as the pragmatic criterion of religious belief. [...] religious belief is not a matter of intellectual speculation. It is a matter of heart and soul, of love and trust." - S. § 13.2, Anm. 26ff.
81
S. Kierkegaard, An einem Grabe (1845), in: Drei Reden bei gedachten Gelegenheiten, SKS 5, 465; dt. Ges. Werke, 14. Abtig., 200; vgl. M.O. Bjergs0 (2009), Kap. 1.3.3.2. - Zur Bedeutung der Imagination für Kierkegaards Existenzkategorien generell, vgl. M.J. Ferreira (1991).
444
V. Das Kontinuum: Religiöse Erfahrung als personale Symbolisierung
gungen einmal rückwärts oder vom Anfang her wirken zu lassen, wie sie ursprünglich sind. Da dies jederzeit für alle Menschen möglich ist, schließt das N.A. einen fundamentalen Pessimismus als Lebenshaltung aus82, gerade nicht aber die realistische Einsicht des Schmerzes an und in der Schöpfung, d.h. im Kontinuum der Lebensprozesse; und dies gilt zugleich mit dem Vertrauen auf den „Instinkt für Rationalität" - aus beidem resultiert das N.A. (2) Die zweite Stufe des N.A. ist die „Beschreibung' 8 3 der ersten: jetzt als Distanznahme zu dem, was für sich genommen keine Distanzierung zulässt. Peirce sieht in diesem Punkt das Scheitern der neuzeitlichen „Natürlichen Theologie"84, die gerade nicht abduktionslogisch auf Versonnenheit verweisen, sondern erfahrungsorientiert Vernunftdemonstrationen für die (offenbarte) Religion erbringen wollte. Dieser Weg konnte schon aus methodischen Gründen in den modernen Naturwissenschaften85 keine Partner mehr finden und musste seit Kants Kritik aller derart angelegten Gottesbeweise auch die poplär-religiöse Resonanz verlieren. Geht aber kraft Versonnenheit der abduktive Schluss voraus, so ist als Erfahrungsurteil auf die Voraussetzung von Erfahrung, in der kontrollierten Forschungspraxis auf deren „Ausgangspunkt in einer überraschenden Erfahrung"86 zu verweisen; und dass dies nicht nur möglich, sondern für ein vollständiges Erfassen von Erfahrung nötig ist, bringt das Gottesargument auch an dieser Stelle in eine neue Situation: Die „logische Kritik" wird „überprüfen" und das Argument „kühl auf seine Gültigkeit hin untersuchen"87, und das Beobachtungsmaterial der Natur kann - jetzt im Kontinuum der drei Universen der Erfahrung - die Phänomene ganz eigenständig zum Leuchten bringen.88 Die Verwunderung aber ist aus der Versonnenheit motiviert, und die Dokumente des Wachstums, der Vielfalt, des Zusammenstimmens, der Erschließungsfähigkeit, der Kontrollierbarkeit, schließlich des Verstehens von Zufall und Notwendigkeit dienen empirisch ge-
82 83 84 85 86 87 88
Vgl. RS, 356. RS, 355; vgl. analog RS, 360. RS, 360; vgl. RS, 332; W . Sparn: Natürliche Theologie, in: TRE 24 (1994), 8598; hier: 89f. Vgl. E. Wölfel (1994), 192-198; s. § 1.1. RS, 374. RS, 373; vgl. RS, 337. S. § 16.2(3). - Eigene und zeitgemäße Beispiele für das Erstaunen im Betrachten der Natur, wie es traditionell zum kosmologischen, teleologischen oder physikotheologischen Gottesbeweis gehörte, finden sich in RS, 336-339.
§ 16: Imagination
445
nommen nicht als Beweisgrundlage für den Schluss auf eine Ebene des Nicht-Erfahrbaren, sondern zeigen - oder zeigen nicht - das, was die Hypothese, aufgrund von Versonnenheit, vermuten und erwarten ließ. Kosmologisch soll deshalb das induktiv-„zweiwertige" Gottesargument heißen, das damit die Orientierung an Erfahrung insgesamt repräsentiert. 89 (3) Die dritte Stufe des N.A. ist die wissenschaftstheoretische, genauer: pragmatistische Untersuchung des generellen Forschungsverhaltens, das zur „ B e f r i e d i g u n g ' , d.h. zur einer festen Uberzeugung im Blick auf die Wahrheit der Hypothese führt. 90 Unter den drei Menschentypen, die Peirce analog den drei Stufen des N.A. konzipiert hat91, ist der dritte dadurch ausgezeichnet, dass er weder prälogisch einfach überzeugt ist, noch methodenkritisch Einwände formuliert, sondern der „unwiderstehlich" erscheinenden Hypothese zum Trotz diese doch der „Selbstkontrolle" unterzieht 92 : Welche Bedeutung kommt der Hypothese für die „Lebensführung" der Menschen zu, welche Uberzeugungen und Verhaltensgewohnheiten werden sich ausbilden - und darin besteht „vernünftigerweise" die „Wahrheit des Begriffs"!93 Nicht so, dass damit eine „tatsächlich vorliegende", d.h. praktisch schon gegebene Wahrheit zum Maß aller Dinge gemacht würde, sondern nur so, dass auf diesem Wege - in the long run - die Wahrheit als „Befriedigung" und tiefe Uberzeugung sich herausstellen wird; d.h. für die jeweilige Gegenwart: die „auftreten würde, triebe man die Untersuchung bis zu ihrem äußersten und unantastbaren Abschluss voran." 94 - Mehr an Notwendigkeit, Selbstkontrolle und damit verbundener Wahrhaftigkeit wird kein wissenschaftliches Verfahren je erreichen, und wenn Peirce - in deutlichem Anklang an das ontologische Gottesargument den Begriff des Ens necessarium nicht meidet95, so ist damit neu eine pragmatistische Uberzeugungs-, Verhaltens- und Handlungsnotwendigkeit gemeint, die kosmologisch das Kontinuum im Zusammenspiel von Zufall und Regelhaftigkeit ebenso voraussetzt und auslegt wie im Forschungsprozess und der Lebensführung. Das indefinite „Sein-
89 90 91 92 93 94 95
S. Anm. 66. RS, 357; vgl. analog RS, 353, 360f. RS, 351ff. RS, 352; vgl. RS, 361. RS, 353. RS, 358. Vgl. RS, 329, 338f.
446
V. Das Kontinuum: Religiöse Erfahrung als personale Symbolisierung
Könnendiese Prozessfigur bleibt der hier deduktiv-„dreiwertigen" Notwendigkeit eigentümlich. Zur Ubersicht ergibt sich - im Anschluss an Schema 1.497 und auf dem jetzt erreichten Stand der Diskussion des abduktiven Gottesarguments - das folgende Schema: Schema 4: Neglected
N.A. N.A. 1 N.A. 2 N.A. 3
Argument
Gottesargument Musement
Abduktives Argument
Beschreibung
[Kosmologisches Argument]
Überzeugung/Befriedigung
[Ontologisches Argument] abduktiver
96 97
RS, 394; s. § 16.3.1(1). S. § 1.4.3.
Denkstil
§ 17: Normativität als Ritual Der Begriff Ritual - für die europäische Philosophie „a strangely undeveloped notion"1, in der Geschichte der Religionen dagegen unersetzbar und religionswissenschaftlich breit untersucht - ist für die Religionsphilosophie neu zu entdecken. Die Gründe für die Abwertung der Rituale liegen nicht allein im Verdrängen der Religion aus dem wissenschaftsgeprägten Selbstbewusstsein europäischer Intellektualität, sondern vor allem im weitgehenden Fehlen einer selbstverständlichen, d.h. für die Lebensbewältigung notwendigen Praxis religiöser Darstellungsformen. Sobald in der neuzeitlichen Entwicklung die protestantische Betonung des Glaubens als inneres Vertrauensverhältnis dominierte, säkularisiert verwendet und im Subjekt absolut gesetzt werden konnte, waren religiöse Rituale dem - religionskritisch wie theologisch keineswegs unverständlichen - Verdacht bloß äußerlicher Observanz ausgesetzt.2 Entsprechendes geschah bezüglich der Moralität, die aufgrund von Kants Pflichtethik den inneren Gehorsam des Willens allen äußeren Merkmalen vorordnete.3 Dass moralisches Handeln an Rituale gebunden sein könnte, unterliegt damit nicht nur der Kritik der Unangemessenheit, sondern wird geradezu undenkbar.
1
2
3
R.C. Neville, Normative Cultures (1995), 163; vgl. H. Deuser (1998), 1744Í.; Th. Sundermeier: Ritus I, in: T R E 29 (1998), 259-265; zur religionswissenschaftlich-anthropologischen Bearbeitung vor allem R.A. Rappaport (2006). P. Tillichs protestantisches Prinzip regiert auf diese Situation mit einer doppelten Verteidigung: einerseits mit dem Festhalten an der Kritik jeder Verdinglichung des Unbedingten, andererseits mit dem Nachweis der Berechtigung des symbolisch gebrochenen Ausdrucks des Unbedingten in den Dimensionen des Wirklichen (z.B. im Sakrament), vgl. Tillich, Systematische Theologie III (1987), 146f.; Chr. Danz (2000), 352; R.C. Neville (1996), Xf.; H. Deuser, Gottes Poesie (2007), 117f. Vgl. I. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785), in: Werke Bd. 6, A 1: „Es ist überall nichts in der Welt, ja überhaupt auch außer derselben zu denken möglich, was ohne Einschränkung für gut könnte gehalten werden, als allein ein guter Wille." Zur Einstufung und Kritik dieser Position im Blick auf die darin implizierte Trennung von „Sein und Sollen" vgl. M. Moxter (1992), 65ff.; E. Herms (2001), 42-45; ders.: Sein/Sollen, in: R G G 4 7 (2004), 1143f. Die Sem-Sollen-Dichotomie geht auf D. Hume zurück, vgl. Ein Traktat über die menschliche Natur (1739/40), Bd. II (1978), 211 (3. Buch, 1.1): „Dies sollte oder sollte nicht drückt eine neue Beziehung oder Behauptung aus [sc. gegenüber ,ist' oder ,ist nicht']"; vgl. zur Interpretation der Stelle Herms (2001), 39ff.
448
V. Das Kontinuum: Religiöse Erfahrung als personale Symbolisierung
Die übliche Unterscheidung, Normen seien nicht in Urteilen der theoretischen Philosophie zu Hause (nicht deskriptiv bezogen auf Gegenstände oder Tatsachen; nicht wahr oder falsch), sondern Gegenstand der praktischen Philosophie, also in ganz anderer Weise - wenn überhaupt - verbindlich4, dieser Schnitt in unserem Bild der Wirklichkeit lässt sich korrigieren. Dass wissenschaftsmethodisch gesehen aus falsifizierbaren Behauptungssätzen über Gegenstandseigenschaften nicht die Schönheit oder Güte der betroffenen „Sachen" gefolgert werden kann, ist selbstverständlich, und insofern geht es hier um eine Art Arbeitsteilung der Wissenschaften; dass aber auf einer anderen Ebene betrachtet Sätze über Seiendes genauso wie Sätze über Gesolltes oder Gewolltes gemeinsam einer Sprach- und Denkgemeinschaft in einem kontinuierlichen Lebenszusammenhang menschlicher Zeichenbenutzung angehören müssen, um sachgemäß, verständlich und anwendbar zu sein, ist ebenso deutlich. Auch die praktische Normativität kann sich dann nicht (wie bei Kant) in nur für sie gültiger Abstraktion rein prinzipiell begründen wollen, als gäbe es die Lebens- und Erfahrungsbedingungen nicht. Die Sprache bereits, so hat Schleiermacher Kant korrigiert, hält die „Kontinuität" zwischen Denken, Sollen und Sein fest: Es sind Handlungssituationen, deren vorausliegende und folgende Komplexität letztlich nicht abgetrennt, sondern in neuen Entscheidungen immer nur verständlich gemacht und wiederum riskiert werden kann; und dasselbe Handeln stellt sich zugleich ausdrucksfähig (symbolisch) in derselben Sozialität, Prozessualität und Kontinuität dar, aus der es stammt.5 Mehr noch, das hier gesuchte Kontinuum ergibt sich weder allein aus der empirischen (sinnlichen) Eindrücklichkeit der
4
Vgl. W. Vossenkuhl: Normativ/deskriptiv, in: H O T 6 (1984), 93 If.; I.T. Ramsey (Normen, in: RGG 3 4 [1960], 1520-1522) hatte bereits vorgeschlagen, „Norm" als Oberbegriff sowohl für den theoretischen Sachbezug wie für die „praktische Bedeutung" zu verwenden, im letzteren Fall im Sinne eines „Imperativs", der „vom einzelnen in einer Art Intuition anerkannt wird" (aaO. 1520); vgl. E. Herms: Normen III, in: R G G 4 6 (2003), 388-390.
5
Es ist das „höchste Gut", das sich im „Organisieren" und „Symbolisieren" der „Vernunftthätigkeit" im Natur- und Kulturverhältnis ausprägt, vgl. F.D.E. Schleiermacher, Über den Begriff des höchsten Gutes (1830), Akademievorträge (2002), 664f. - Zu Schleiermachers Kant-Kritik unter Berufung auf die Kontinuität des Zeichengebrauchs und die Unterscheidung von „symbolisierendem" und „organisierendem Handeln" Moxter, aaO. 69ff., 78, 119-123; zur entsprechenden semiotischen Interpretation J . Dittmer (2001), 370 (Anm. 278), 378 (Anm. 311), 520ff.
§ 17: Normativität als Ritual
449
Lebenssituationen noch aus der Reflexionsfähigkeit des Ich 6 , sondern aus der existentiellen Selbst-Beziehung, die Denken und Sein, Reflexion und Leiblichkeit, aber auch den unbedingten Grund in der personalen Selbst-Erfahrung enthält. Kierkegaard hat diese Integration von Sein und Sollen exemplarisch in der Erzählung und Interpretation von „Isaaks Opferung" (Gen 22) auf die Spitze getrieben und als literarischreligiöses - zugleich fundamentalethisches - Problem annonciert 7 : Auf der Basis geltender Normen ist Abraham ein Mörder, die Deskription seiner Situation lässt keine andere Beurteilung zu; auf der Basis des absoluten Sollens aber, das die Erzählung voraussetzt, unterliegt Abraham einer anderen Kategorie8, die sich aus der Unbedingtheit des Glaubens ergibt und über die äußeren Beschreibungskriterien hinausgeht. Diese letztere Sicht der Dinge wirkt exzentrisch (und das ist der Sinn der Erzählung), gerade darin aber liegen Intensität und Nähe im Blick auf Handlungs- und Lebenssituationen, die der distanziert operierenden und abstrakt verallgemeinerten Normativität notwendig fehlen müssen: Die übertragene, „bildhafte" Interpretation 9 sieht in Abraham den Typus, der vorgefasste Meinungen in harter Erfahrung des Gegenteils zu revidieren lernen muss, eine Situationsöffnung erleidet, deren Bedingungen nicht zu prognostizieren waren und sich einem Grund verdanken, dem sich das eigene Handeln nur passiv nähern kann, obwohl es aktiv gefordert bleibt. Dass die äußeren Darstellungsformen von Religion wohl geschichtlich kontingent sind, nicht aber beliebig, folgt bereits aus dem ontologischen Sinn und der kategorialen Stellung des Begriffs der Imagination.10 Mit ihr ist ein (implizit wertendes) Gefühl der Stimmigkeit
6
Vgl. E. Herms (2001), 47f. (mit Schleiermacher gegen Hume und Kant formuliert); s. § 8.2 (zu Kant) u. § 9.1 (zu Hume).
7
In der Schrift Furcht und Zittern, Anm. 84.
8
Vgl. SKS 4, 126; dt. aaO. 27: „Der ethische Ausdruck für das, was Abraham getan hat, ist, dass er Issak morden wollte, der religiöse ist, dass er Isaak opfern wollte; aber in diesem Widerspruch liegt eben die Angst, die sehr wohl imstande ist, einem Menschen den Schlaf zu rauben, und doch, ohne diese Angst ist Abraham nicht, der er ist." - Diese für die Interpretation dieser Schrift Kierkegaards entscheidende Alternative der Betrachtungsweisen hat J. Boldt (2006) als zwei Erkenntnismodelle, das der „Beobachtung" und das der „Angewiesenheit", gefasst und für die Handlungstheorie und ethisch-religiöse Theoriebildung verallgemeinert, vgl. auch J . Boldt (2008), Teil 2 („Angewiesenes Erkennen"); s. § 14.3(1), Anm. 117.
9
Boldt (2006), 114ff.
10
S. § 16, Anm. 26f.
SKS 4; dt. Ges. Werke, 4. Abtig.; s. § 12.3(5),
450
V. Das Kontinuum: Religiöse Erfahrung als personale Symbolisierung
gegeben, in dem die Synthesis sich augenblickshaft einstellt. Diese Stimmigkeit findet ihre ästhetische Konsequenz im Gefühl der Schönheit, ihre ethische Konsequenz im Gefühl der Achtung, ihre logische Konsequenz in der Verpflichtung, das Richtige dem Falschen vorzuziehen.11 Damit sind alle Erfahrungs- und Erkenntnisformen von vorausgehender Imagination ebenso durchzogen wie von impliziter (gefühlsmäßiger) Wertung, und auch letztere kann thematisch gemacht und explizit zum Ausdruck gebracht werden. Die Religionen können dies durchaus auch in dogmatischen und ethischen Theoriebildungen tun, entwicklungsgeschichtlich und lebensweltlich aber geht immer voraus, dass die imaginativ erfahrene Weltgründung in ihren normativen Folgen sich sozusagen unmittelbar darstellenden Ausdruck verschafft: das Unbedingte dargestellt unter seinen eigenen, spezifisch gebrochenen Darstellungsbedingungen - und hier liegt die Sonderstellung von rituellem Handeln im Kontext der Religionen; aber auch deren immer mitzudenkende Rückwirkung auf den allgemeinen Erfahrungshorizont, dessen fundierender Imagination religiöse Rituale sich verdanken: „Peirce argued that the important things to know about human life are the habits it involves. [...] the beat of the hart, and other organic interactions he characterized as habits that are particular regular, rigidified, and ,frozen'. But there is a continuity from those .habits of nature' up to the social habits guided by signs; the smell of good food starts the digestive juices going [...]. Ideas of which we can be conscious are those where habits need to be directed and redirected [...]. Some actions are subject to human control, and good semiotic systems enhance human control by lifting up possibilities to engage habits that otherwise might not be noticed. [...] The more controlled or controllable human behavior is involved, the more the signs are what Peirce called symbols, that is, conventional signs. [...] Rituals, saving perhaps the most elementary penumbral shapings, are certain kinds of symbolic systems, deeply imbedded in nature, thoroughly conventional, that make possible behavior that cannot exist except as symbolic behaviour." 12
(1) Verhaltensgewohnheiten („habits") liegen nicht nur beim Menschen vor, sondern sie sind auch kosmologisch zu verstehen als die gesetzlich beschreibbaren Wiederholungsformen der Natur: durchaus kontingent in ihrer Entstehung, aber konstant in ihrer bestimmenden Wirkung über lange Zeiträume. Funktionierende Zeichenrelationen liegen auch hier vor, und zu diesen stehen die wachsend bewussten und kontrol11
Vgl. zu Imagination und Schönheit: R . C . Neville (1981), chap. 6; zu den Begriffen Achtung („Deference") und Verantwortlichkeit: Neville (1995), chap. 4ff.; zu Peirce' Begriff der „normativen Wissenschaften" (Ästhetik, Ethik, Logik) E P 2, no. 14 (Harvard Lectures on Pragmatism V); VP, 80-100; vgl. G. Linde (2009), Kap. I V . l . l ; s . § 1.4, Anm. 24.
12
Neville (1995), 179.
§ 17: Normativität als Ritual
451
Herbaren Verhaltensgewohnheiten der kulturellen Evolution in bleibender Kontinuität. Gefühlsqualität ist darin imaginativ wirksam, und sie sucht sich im Ritual Ausdrucksformen in gegenständlichen, wiederholten Verhaltenssequenzen, deren Bedeutungsfülle von den agierenden Menschen weder vollständig bestimmt noch erschöpft wird. 13 Darin liegt die musterbildende Kraft von Ritualen, weil sie die Wert- und Sinnimplikationen von Gefühlsqualität und Imagination 14 verhaltensorientiert umsetzen in die Qualität von Bindungen für gemeinsames Leben. Das religiöse Ritual ermöglicht die Entwicklung von Humanität in Bedeutungsdimensionen, Handlungsvorwegnahmen, Konventionsbildungen, Verpflichtungen und Verantwortlichkeit 15 : Normativität ist primär darstellbar! (2) Insofern ist mit Verhaltensgewohnheiten im menschlichen Zusammenleben nicht nur deren kontrollierbarer und bewusst korrigierbarer Einsatz zu verstehen, sondern auch deren vorbewusste, kollektiv steuernde, dadurch gerade auch entdeckende, stabilisierende und orientierende Funktion. Rituale liegen immer schon vor. Zwar treten Variationen und Neuerungen auf, vorherrschend aber bleibt die durch andere längst bestimmte Kontinuität von Traditionsbildungen, die im Vollzug des Rituals bestätigt und angeeignet werden: Das Ritual wirkt in seinem Vollzug, ist faktisch lebensbestimmend, wie es exemplarisch die Rituale im Umfeld von Geburt und Namensgebung, Erwachsenwerden, Familienrollen und am Lebensende zeigen. 16 Nicht jedes Ritual ist eine religiöses Ritual, allein das letztere aber garantiert den primären Umgang mit dem, was als Unbedingtheit der Lebensbedingungen nur vorausgesetzt werden kann und doch zum Ausdruck kommen will: Das religiöse Ritual lässt stellvertretend handeln, wo direkt und intentional gar nicht gehandelt werden kann. 13
14 15 16
Im Anschluss an R.A. Rappaport (2006), 24, der „Ritual" bewusst formal definiert als „the performance of more or less invariant sequences of formal acts and utterances not entirely encoded by the performers." Zur Illustration der damit abgedeckten Formenvielfalt vgl. aaO. 27; zu einer entsprechenden Struktur- und Formenübersicht, entwickelt an der konfuzianischen Tradition des Ritualverständnisses, vgl. Neville, aaO. 166ff. S. § 10 u. § 16; § 11.1.2, Anm. 46, u. § 11.2.1, Anm. 71. Vgl. Rappaport, aaO. lf. u. exemplarisch für seine These aaO. chap. 4; Neville, 154f. Vgl. Neville, 172: „rituals in their exercise are the interactions"; Rappaport, 32ff., 37ff.; dazu R. Bellah (2006), 162: „serious ritual performance has the capacity to transform not only the role but the personality of the participant, as in rites of passage [A. van Gennep]."
452
V. Das Kontinuum: Religiöse Erfahrung als personale Symbolisierung
(3) Was im Schatten des Bewusstseins liegt („penumbral shapings") kommt damit trotzdem zur Darstellung, und dies geschieht in ständigen Verflechtungen und auf mehr oder minder bewussten privaten, familiären, freundschaftlichen, öffentlichen, rechtlichen, religiösen, politischen etc. Ebenen. Alltägliche Beispiele reichen vom Handschlag17 (Begrüßungsritual) über Festabläufe bis zum Staatsakt. Jeweils gilt, dass das Mitvollziehen der gegebenen Form mehr enthält und ausdrückt, als direkt zu sehen ist: nämlich Sicherheit, Vertrauen, Rücksichtnahme, Anerkennung, Respekt, Verantwortung, Vorrangstellungen, Zuordnungen etc.; und diese tiefere Bedeutung der Rituale wird deshalb in der Regel erst bemerkt, wenn sie missachtet werden oder verloren gegangen sind. Zumal die religiösen Rituale haben damit einen Wert {valué), sie bilden nichts ab, sondern bringen handelnd zum Ausdruck, zeigen eine vorgeordnete und angeeignete Verhältnisbestimmung, die implizit ein Sollen18 enthält und deshalb handlungsorientierend wirkt. (4) Die besondere Stellung religiöser Rituale bezüglich der Ausdruckgabe von Unbedingtheit (aufgrund von Imagination) ist zwar jeweils relativ zum kulturellen und geschichtlichen Entwicklungsstand zu sehen, gemeinsam aber ist immer der Verweisungsbezug: Es geht um die Bindung an den bestimmten, existentiellen Lebensvollzug, seine Diesheit, die zugleich unerschöpflich und zu respektieren ist - Frömmigkeit gibt ihr den adäquaten Ausdruck: Singularität und unbedingter Respekt vor dem Anderen, letztlich Unaufschließbaren entsprechen sich.19 Insofern sind Rituale (semiotisch gesprochen) indexikalisch zu bewerten: Sie zeigen etwas Bestimmtes, enthalten dabei natürlich auch ikonische und symbolische Elemente, indizieren aber mehr als sie (mit Worten) sagen könnten; d.h. etwas, das sich anders überhaupt nicht darstellen lassen würde.20 17
18 19
20
Zu diesem „westlichen" (europäischen) Ritual vgl. Neville, 170f. (der Handschlag „löst" auf seine Weise eine ganze Serie von Problemen, die mit der sehr persönlichen und sozialen Situation einer sonst unvermittelten Begegnung verbunden sind). Vgl. Rappaport, 133; Neville, 191ff. Neville, 22: „Haecceity has a kind of infinite density, analysable into an indefinite number of common natures but never fully so analysable." - AaO. 45: „Singular value is the infinite and unique of each thing. [...] The theory explicitly can defer to it in a kind of piety before the otherness of what it comprehends." Rappaport beruft sich auf Peirce' Zeichenformen und weist so die Indexikalität nach (allerdings ohne auf die Zeichenklassen und Interpretanten einzugehen, s. § 10.2 [Schema 3]), aaO. 26, 54-68; 58: „in all religious rituals, there is transmit-
§ 17: Normativität als Ritual
453
(5) Zwischen religiös/profan oder privat/öffentlich zu unterscheiden ist nicht in jeder Kultur ausgeprägt gewesen, wenn aber einmal durchgeführt, scheinen sich die Rituale in verschiedenen Handlungssphären gegenseitig zu relativieren. Dann muss deren Recht und Bedeutung eigens wieder erhoben werden, um ohne Verständnissperren die Erschließungskraft zumal religiöser Rituale wieder einordnen und nachvollziehen zu können. In dieser Situation der überwiegend symbolischen und damit auch theoretischen Verständigung über Ritualität befinden sich heute die westlich, d.h. europäisch und pluralistisch orientierten Gesellschaften. Dass Grundvertrauen und Versöhnung existenzgründende Bedeutung für menschliches Zusammen-Leben zukommt, wird niemand bestreiten, dass diese Werte und Sinnstrukturen aber im religiösen Ritual (z.B. im Sakrament) nicht nur religionsgeschichtlich illustriert, sondern tatsächlich als persönliche wie soziale Erfahrung wirksam indiziert und symbolisch kommuniziert werden können, das muss ganz elementar im Schatten unseres Bewusstseins, das sich selbst nicht mehr traut, erst wieder aufgedeckt werden.
1. Wert Wirksame Normativität setzt Werte voraus - und zwar solche, die nicht als Gegenstände für sich genommen werden können, auch nicht erst durch (objektiven) Tauschwert oder zusätzliche (subjektive) Bewertung zustande kommen, sondern die als Gefühlswerte kosmologisch, d.h. im Ereigniszusammenhang21 schon da - und deshalb handlungsrelevant, entwicklungs- und reflexionsfähig sind: „The metaphysical dimension of things is what gives them identity, what makes them determinate. [...] the determinateness of things consists in their being harmonies of conditional and essential features. The degree of complexity and simplicity in these harmonies is what gives things a value over and above the value already resident in their components. [...] things have an infinite value in their components to
ted an mdexical message that cannot be transmitted in any other way"·, vgl. 141: „The indexical message made heavy by material representation [...]." 21
S. § 11.2. - Zu den unterschiedlichen Traditionen und Positionen des axiologischen Denkens vgl. A. Hügli/S. Schlotter/P. Schaber/A. Rust/N. Roughley: Wert, in: H O T 12 (2004), 556-583; darunter die objektiven Wertlehren von M. Scheler und N . Hartmann (ebd. 568-571) und die interaktionistischen Konstitutionstheorien des amerikanischen Pragmatismus (ebd. 571-576).
454
V. Das Kontinuum: Religiöse Erfahrung als personale Symbolisierung
which their own natures add a finite accretion. Their singularity is an infinity of value resident in the finiteness of their own singular value."22
(1) Hinter der kosmologischen Beschreibung und ihren erschließenden Hypothesen steht die prinzipielle (metaphysische) Allgemeinheit der Wirklichkeitseinstufung als solcher, in Nevilles Sprache: „Bestimmtheit".23 Hier wiederholt bzw. konkretisiert Neville die Basisprinzipien seiner (axiologischen) Metaphysik, dass erstens zwischen dem Bestimmtsein (des Kosmos, bzw. des Geschaffenen) und absoluter Unbestimmtheit (dem schöpferischen Gott), und dass zweitens zwischen drei Aufbauelementen von Bestimmtheit zu unterscheiden ist: Essentiellem Merkmal (der Identitätsauszeichnung von etwas: „essential feature"), konditionalem Merkmal (der Differenzbestimmung von etwas gegenüber anderem: „conditional feature") und der kontingenten Einheit aufgrund eines spezifischen Zusammenkommens dieser beiden Merkmale in der Harmonie eines dann jeweils Bestimmten. Damit ist im Ereignis die Komplexität seines Werdens (aufgrund von „components") mit der Einheit („singularity") seines Ereignisseins vermittelt und begründet. Diese Metaphysik des Werdens erklärt sich kosmologisch: Das spezifische Zusammenkommen der beiden Merkmalstypen kann nur dann zur Harmonie von etwas Bestimmtem werden, wenn eine Abstimmung, Auswahl, neue Zuordnung gelingt - und dieser Akt ist in sich wertend.24 Harmonie und Wert sind zwar semantisch nicht identisch, wenn aber gesagt werden kann, dass „Harmonie gut ist", so zeigt dies, dass Harmonie Wertung einschließt bzw. voraussetzt. Das Harmonischsein wird also nicht von außen festgestellt (etwa im Vergleich zu anderem), sondern das Phänomen der Stimmigkeit von etwas Bestimmtem ist werthaft („valuative")25 in sich selbst - auch und gerade dann, wenn dieser Tatbestand nicht thematisch gemacht und nicht zusätzlich bewertet wird (was im weiteren Umgang immer möglich ist). (2) In der Harmonie verdichten sich die ontologischen Bedingungen (essentielles und konditionales Merkmal) zur Ereigniseinheit: einer „de facto harmony"26 oder der „Endlichkeit" eines Einzelereignisses mit 22 23 24 25 26
Neville (1995), 88. Vgl. Neville (1981), 79ff.; s. § 16, Anm. 27. Neville (1981), 81: „A harmony is an achievement of having things together which would be separate without the harmony, or which would be together in a different way with another harmony. This achievement is a value." Ebd. AaO. 82, 84.
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seinem „singulären Wert". 27 Erst in weiteren Bestimmungsprozessen kommt es zu immer komplexeren, abstrakteren, „idealen" Harmonien 28 , denen gegenüber nicht nur jedes faktisch neue Ereignis als vorausgehend zu unterscheiden ist, sondern auch die „Unendlichkeit von Wertfen]" („infinity of value") 29 , die in jeder neuen Singularität - als das Entstehungsreservoir jedes neuen Ereignisses - schon zugrunde liegt. Es ist diese Dreistufigkeit, die offensichtlich eine kategorial-semiotische Interpretation zulässt: Die primäre Harmoniebildung aufgrund von Unendlichkeit entspricht der Gefühlsqualität, sie ist unableitbar kreativ und der unerschöpfliche Grund des Kontinuums. 30 Die daraus entstandene „de facto harmony" an zweiter Stelle ist die werthafte Identität von etwas Bestimmtem, wie es z.B. in der Gegenständlichkeit des Rituals31 empfunden wird. Schließlich können beide Stufen in lebensweltlichen Konflikten und Theoriebildungen zum Thema werden, und es kommt zu Wert-Bestimmungen, zur Bestimmung der Güte dessen, was vorliegt oder erreicht werden soll. Die damit entwickelte Idealität des Wertes ist im (werthaften) Ereignisbegriff angelegt und führt so bis zum „normativen Maß" 32 , das der Prozess selbst mit sich bringt und begrifflich provoziert. Normativität ist das Sollen, das aus werthafter Gefühlsqualität heraus die Bestimmtheit von Ereignissen an Maßstäben misst, die sich aus den Ereigniszusammenhängen, ihrem kritischen Vergleich und ihren Zielbestimmungen aufgebaut haben und denen deshalb entsprochen werden muss. Dringlichkeit und Dichte solcher Normativität lebt von ihrer Uberzeugungskraft, d.h. diese bleibt im Lebensprozess zugleich kontingent und zwingend, aber auch korrekturfähig - immer unter denselben Bedingungen der stimmigen Ereignisbildung. Die zugrundeliegende Unbedingtheit des Wertgefühls steckt im Werden von Normativität, ist mit keiner bestimmten Norm aber gleichzusetzen. Die Kreativität des Unendlichen, Unbestimmten, Unbedingten inspiriert den Prozess der Bestimmbarkeit, ohne dass jene mit diesem verschmelzen könnte. (3) Die in jedem Ereignis schon vermittelte Beziehung von Faktum und Wertung, Realität und Idealität bewahrt eine Spannung, die auf der 27 28 29 30 31 32
Neville (1995), 88; s. Anm. 22. Neville (1981), 82. S. Anm. 27. S. S 1, Anm. 4 (kategoriale Semiotik); § 1.4, Anm. 36 u. § 16, Anm.16 ([Continuum); § 10 (Gefühlsqualität). S. Anm. 19. Neville (1981), 84.
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V. Das Kontinuum: Religiöse Erfahrung als personale Symbolisierung
Ebene der „Rationalität" im Sinne von „good thinking" ausgetragen wird33: Ereignisreihen werden geordnet, integriert und geprüft, Wertungen laufen in allem mit und Normativität entwickelt sich auf allen Stufen als das Maß ihrer Stimmigkeit. Im Blick auf die unüberholbare Funktion der Wertung ist an dieser Stelle - und als Beleg für „good thinking" - eine Unterscheidung hilfreich (und religionsphilosophisch tragfähig), wie sie Ch. Taylor durchgeführt hat34: „Starke Wertungen" („strong evaluations") beziehen sich auf die existentielle Gesamtsituation eines Lebens und bewerten daher bereits Wünsche, Bevorzugungen und Absichten erster Ordnung („schwache Wertungen"). Letztere sind auch der szientifischen, d.h. der objektiv-distanzierten Deskription noch zugänglich, während die starken Wertungen eine andere und eigenständige Qualität der Selbstbeziehung voraussetzen und zur Wirkung bringen: „Unsere Wertbegriffe beanspruchen Aufschluss zu geben darüber, was es heißt, als Mensch in der Welt zu leben, und das ist etwas völlig anderes als das, was die Physik zu zeigen und zu erklären behauptet. [...] Wenn es um alltägliche Dinge geht wie mit sich zu Rate gehen, Situationen beurteilen, die eigenen Gefühle gegenüber anderen Personen herausbekommen usw., kann man gar nicht umhin, diese stark bewerteten Güter in Anspruch zu nehmen. [...] Real ist das, womit man fertig werden muss, was nicht allein deshalb verschwindet, weil es nicht den eigenen Vorurteilen entspricht. Aus diesem Grund ist das, was man im Leben unweigerlich in Anspruch nehmen muss, etwas Reales bzw. etwas so annähernd Reales, wie man es zur Zeit erfassen kann. Das allgemeine metaphysische Bild der .Werte' und ihrer Stellung in der ,Realität' sollte auf den Dingen beruhen, die man als in diesem Sinne real erkennt. [...] Das ist das Gefühl, das jeder empfindet, ehe er unter den Einfluss philosophischer Rationalisierungen gerät."1''
Hier treten die primäre Instanz des individuellen Gefühls, der Aufforderungscharakter der Güter und der diesen korrespondierende Wertbegriff zugleich auf - und sie begründen zusammen den Anspruch auf Allgemeinheit der Erkenntnisbedingungen auf diesem Wege (Metaphysik), d.h. die so sich darstellende und erschließende Welt des Menschen ist die Realität. Diese Gefühle, Güter und Wertungen als bloße „Projektion"36, d.h. als Illusion gemessen an der (szientifisch) beschreibbaren 33 34 35 36
AaO. 88; 90: „Rationality is stipulatively defined as good thinking - the ideal or set of ideals for thinking considered in its most inclusive sense." Vgl. zu Herkunft und Darstellung dieses Konzepts H. Joas (1999), 200ff.; Th. Kreuzer (1999), 73ff.; A. Hügli: Wert VI, in: HWP, aaO. (s. Anm. 21), 582f. Ch. Taylor (1996), 116f. AaO. 117f.: „Es ist das Gefühl, dass das, womit man im eigenen Leben rechnet - also Güter und die von ihnen ausgehenden Forderungen - , mit einer Projektionsauffassung einfach nicht zu vereinbaren ist." - Vgl. Neville (1995), 155.
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Empirie hinstellen zu wollen, scheitert an der für niemanden zu umgehenden oder auszuschaltenden Orientierungskraft jener starken Wertungen, die zudem eigene Realisierungen verlangen: Das Selbst eines Menschen befindet sich immer im Vollziehen solcher Orientierungsprozesse, ihre „Artikulation" ist dieser spezifische Vollzug und die (Selbst-)Erzählung ist sein Medium.37 Diese Sicht der Realität verlangt umfassende Lebensorientierung und ist das Beste, was vernünftigerweise erwartet und geliefert werden kann. Was Taylor in diesem Sinne als Prinzip des „best account"38 bezeichnet, konvergiert mit Nevilles Konzept des „good thinking": Unsere Bezugnahme auf Güter und Werte ist zugleich deren Darstellung, wie sie im Prozess der Aneignung, des kritischen Vergleichs und der (Selbst-)Verständigung ausgearbeitet werden muss. Basisform solcher Ausarbeitung, d.h. Ausdruckgabe starker Wertungen, ist das religiöse Ritual39, weil es die impliziten Wertungen der Gefühle und damit die Entwicklung von Normativität auf ursprüngliche Weise gegenständlich zu machen versteht. So liegen z.B. im Sakrament des Abendmahls (Eucharistie), einem extrem komplexen Ritual, zahlreiche Bedeutungsebenen über- und ineinander, immer aber so, dass semiotische Strukturen und die in ihnen vermittelten Wertungen in Kraft - und für die theoretische Analyse unterscheidbar bleiben40: •
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Die Feier des Abendmahls erinnert (ikonisch: im Brotbrechen und Weintrinken; indexikalisch: durch Narration und historisches Wissen) an den Opfertod Jesu zum Zweck der Versöhnung {starke Wertungen wie sie in jedem Leben unmittelbar nachempfunden werden können). Das Opferbild bleibt im christlichen Ritual auch dann bestehen, wenn die „kannibalistischen"41 Erinnerungselemente aus der Früh-
37
Vgl. zu Taylors Begriff der „Artikulation" H. Joas (1999), 209ff.; zu „Artikulation" und „Narration" Th. Kreuzer (1999), Kap. II.1.3; zur besonderen Anforderung des Erzählens auf der Basis von „Volitionen zweiter Stufe" (H. Frankfurt), auf deren Bedeutung für den Personhegriff Taylors Zuschnitt der starken Wertungen beruht, D. Thomä (2007), 29.
38 39
Taylor, aaO. 115; vgl. Joas, aaO. 215f.; Kreuzer, aaO. 147ff. Diese Zuordnung geht über Taylors eigene Hinweise auf den Religionszusammenhang hinaus, kann dafür aber Kritikpunkte an seinem Konzept aufgreifen (vgl. Joas, 221ff.), darunter das Fehlen von Verbindungen zur American Philosophy (s. § 16, Anm. 25); zum hier vorausgesetzten formalen Begriff des Rituals s. Anm. 13. Vgl. zum Folgenden die differenzierten Analysen in Neville (1996), chap. 3.1; (2001), Symbols of Jesus, chap. 2. Vgl. Neville (1996), 84f. ; (2001), aaO. 64f.
40 41
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•
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zeit menschlicher Kulturen auf der Symbolebene kaum mehr mitempfunden und nicht mehr gewusst werden. Gewalt, Tod und Opfer im Erinnerungsbild übertragen42 stellvertretend Lebensschuld und das nicht-intentionale Scheitern (Sünde) am Leben - um vor Gott (starke Wertung oder summum bonum) die verkehrte Relation zum Leben darstellungs- und verwandlungsfähig halten zu können. Vor aller theoretischen Analyse und immer möglichen Verstehensvollzügen handelt das Ritual in diesem Sinne. Nach christlichem Verständnis wird zwar das Ritual wiederholt, nicht aber das empirische Opfern selbst. Darin liegt der tiefe religiöse Sinn dieses Rituals, dass es in der Perspektive des Unbedingten, der Gottesrelation, die eigenmächtige Opferaktivität als sinnloses Missverständnis aufhebt43 und an deren Stelle neue Gemeinschaft aufgrund von Versöhnung setzt. Dominierend wird dann im symbolischen Verstehen der Erinnerungselemente doch das indexikalische Handeln, d.h. das Vollziehen der Gemeinschaftserfahrung im (erzählenden) Anschluss und Hinweis auf ihr Vorbild und ihre Traditionsbildung44 (unüberholbares Gut der Lebensorientierung: versöhnte Gemeinschaft).
(4) Gibt es nicht auch negative Werte, Verherrlichung von Machtwillen und Fanatismus, sogar Apologien des Bösen? - Wenn der Wertbegriff nicht kosmologisch aus dem Werden von Ereignissen, nicht aus der Kreativität des Prozess-Kontinuums, sondern aus wertsetzenden Kraftakten des menschlichen Willens begründet wird, wie vor allem Nietz42 43
S. § 13.2, A n m . 37. Vgl. I.U. Dalferth (1994), Kap. 5; S. 295f.: „Die Rede von Jesu Opfertod besagt nicht, dass die Kreuzigung als rituelle Tötung verstanden worden wäre. Das Opfer fungiert hier vielmehr als Bild, u m das Geschehen der sich in Jesus hingebenden Liebe Gottes und des sich in Gottes Liebe hingebenden Jesus auszudrücken und verständlich zu machen." - Diese (christliche) Interpretation des Opfers gilt entsprechend für die ebenso komplexe Auslegung von „Isaaks Opferung" (Gen 22), s. A n m . 8; § 12.3(5), A n m . 84.
44
Vgl. Neville (1996), 81: „It is a reenactment of the Last Supper [...]. Christians are defined particularly by a lineage, and the commemoration of Jesus is an abbreviated rehearsel of that lineage." - Zur Bedeutung des Rituals i m Sinne der Rappaport-These s. A n m . 15. - Hier liegt beispielhaft eine religiöse Wurzel dessen, was u.a. i m Anschluss an Ch. Taylor (und in Kritik an J . Rawls) als Kommunitarismus diskutiert wird, vgl. zur Ubersicht der Positionen W . Brugger (2006); zur universalen Bedeutung der Werte für diese fundamentalethische Fragestellung H. Joas (1999), 292.
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sehe es getan hat43, dann verliert sich der Zusammenhang der Güter und des Guten ebenso wie die Herkunft des Wertbegriffs aus einer Schöpfungsdifferenz, die die Wertorientierung aufgrund geschaffener Bestimmtheit einerseits und schöpferischer - ex nihilo46 - Unbestimmtheit andererseits zu fundieren vermag. Die in der protestantischen Theologie verbreitete Kritik47 des Wertbegriffs ist insofern verständlich, solange keine kosmologische Wertbegründung im Kontinuum der Verhaltensbildung vorliegt. Negative Wertsetzungen und deren praktische wie theoretische Wirkungen, das folgt schon aus dem Sakramentsbeispiel, sind und bleiben selbstverständlich Teil der conditio humana·. Was die Religionen als Sünde adressieren ist ein universales, in seinem Konfliktpotential notwendigerweise immer auch umstrittenes Phänomen, aber es ist empirisch sehr gut belegt!48 Die (passiven oder aktiven) Abweichungen vom Guten - ob gespürt, gewusst oder geplant - gehören in den Prozess der Ausbildung von Normativität, d.h. Verpflichtung und Verantwortlichkeit sind konflikt- und korrekturfähige Prägungen, deren Zielorientierung, das Beste zu wollen, nicht übertroffen, aber aus gegenläufiger (individueller wie kollektiver) Erfahrung immer neu verbessert werden kann. Das normative Sollen hat seinen sichtbaren religiösen Ursprung in Ritualen der Ehrfurcht49: Böses zu meiden um des Guten willen. Darin liegt für das symbolische Verstehen keine Machtdemonstration oder Willkür, sondern das sensible Erspüren und Lernen von Wertbeziehungen in den Dingen50, von natürlichen Ereignissen bis zu kulturellen Idealen - in der Verpflichtung des summum bonum. Die Religiosität zeigt und lebt auf ihre Weise, d.h. so grundsätzlich wie irgend möglich, wie wirklich Gutes getan werden kann; und das schließt die - negativ-fordernde - Realität des Bösen ebenso ein
45
Vgl. zur Nietzsche-Darstellung und Kritik H . Joas, aaO. Kap. 2; auch die kritischen Hinweise hei Neville (1995), 69; M. Großheim: Wert/Werte I, in: R G G 4 8 (2005), 1467-1469; s. § 8.3.2.
46
Neville (2001), 121: „But the greatest contrast is between the visible and the invisible so that the highest value lies in the act of creation ex nihilo itself."
47
Vgl. H . Kreß: Wert II, in: T R E 35 (2003), 653-657; hier bes. 654.
48
Vgl. Neville (1995), 143.
49
Ebd.: „Articulating the human condition as lying under obligation is one of the primary functions of religions. Although religions differ in the content of obligations articulated, they all agree [...], that to be human is to have things one ought to do."
50
Vgl. Neville (2001), 121 (am Beispiel des Symbols des „kosmischen Christus"): „the Alpha and Omega engage the Ultimate so as to articulate these contrasts, they reveal a beauty, glory, awesomeness, holiness, and loveliness that are truly engaged and interpreted by an ultimate concern of worship and desire."
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V. Das Kontinuum: Religiöse Erfahrung als personale Symbolisierung
w i e d i e M a ß s t ä b e des v e r a n t w o r t l i c h e n S o l l e n s u n d des v e r a l l g e m e i n e r bar Rechten.31
2. S i n n W i e R e l i g i o s i t ä t k e i n „ W e r t " ist, d e r v e r h a n d e l t w e r d e n k ö n n t e , sond e r n ( k o s m o l o g i s c h ) z e i g t , w a s w i r k l i c h gut u n d i n s o f e r n w e r t ist; so ist Religiosität auch nicht „Sinn", der abgerufen w e r d e n könnte, sondern sie zeigt ( t e l e o l o g i s c h ) , w i e i m Z u s a m m e n h a n g v o n G l a u b e n u n d H a n d e l n S i n n liegt u n d g e w o n n e n w i r d : „Das Gefühl des Uberzeugtseins [feeling of believing] ist ein mehr oder weniger sicheres Anzeichen dafür, dass sich in unserer Natur eine gewisse Verhaltensgewohnheit [habit] eingerichtet hat, die unsere Handlungen bestimmen wird. Der Zweifel hat nie eine solche Wirkung. [...] So haben beide, Uberzeugung und Zweifel, positive, wenn auch sehr verschiedene Wirkungen auf uns. Die Uberzeugung [belief] veranlasst uns zwar nicht, sofort zu handeln, aber sie versetzt uns in die Lage, uns auf bestimmte Art zu verhalten, wenn die Gelegenheit da ist. Der Zweifel [doubt] hat keinerlei derartige Wirkung auf unsere Handlung, aber er regt uns zum Forschen an, bis er beseitigt ist. [...] Mit dem Zweifel beginnt also der innere Kampf, und mit dem Aufhören des Zweifels endet er. Insofern ist das einzige Ziel des Forschens [inquiry], eine Meinung festzulegen. [...] eine wahre Meinung [true opinion]." 52 (1) A u c h w e n n i n d i e s e r T e x t p a s s a g e d a s W o r t „ S i n n " g a r n i c h t v o r k o m m t , eine solche pragmatistische F u n d i e r u n g der Relation v o n G l a u b e n , H a n d e l n u n d W a h r h e i t m a c h t d i e V i e l d i m e n s i o n a l i t ä t des S i n n p r o b l e m s h a n d h a b b a r : E x i s t e n t i e l l e r S i n n (die F r a g e n a c h d e m , S i n n des L e b e n s ' 5 3 ) , l o g i s c h e r S i n n (die F r a g e n a c h d e m S i n n v o n Sätzen 5 4 ) u n d s y s t e m t h e o r e t i s c h e r S i n n (die F r a g e d e r A n s c h l u s s f ä h i g k e i t 5 5 ) haben ihre gemeinsame Spannung i m möglichen bzw. scheiternden A u f b a u eines plausiblen Z u s a m m e n h a n g e s , eines K o n t i n u u m s , w o r i n 51
52 53
54 55
Vgl. H. Joas, aaO. 269: „dass in der Handlungssituation selbst der einschränkende Gesichtspunkt des Rechten unvermeidlich auftreten muss, aber auch nicht anders denn als ein Gesichtspunkt neben den Orientierungen des Guten auftreten kann." Ch.S. Peirce, Die Festlegung einer Uberzeugung (1877), in: SP, 156f.; vgl. EP 1, 114f. Vgl. V. Gerhardt: Sinn des Lebens, in: HWP 9 (1995), 815-824; Ch. Taylor (1996), 41: „Einen Sinn des Lebens ausfindig machen ist abhängig davon, dass man sinnvolle Ausdrücke bildet, die angemessen sind"; H. Deuser, Sinn (2007); s. § 1.4.2. Vgl. D. Thürnau: Sinn/Bedeutung, in: HWP 8 (1995), 808-815. S. § 14.2.2.
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praktisch wirksam garantiert wäre, was im selben Vollzug nicht zugleich wieder problematisiert werden müsste. Sinn ist demnach gebunden an das „feeling of believing", und dessen Spanne reicht vom alltäglichen Uberzeugtsein über das Fürwahrhalten von wissenschaftlichen Hypothesen bis zum religiösen Glauben. Dies aber nicht als eine gesonderte Eigenschaft, Begabung oder Einstellung, die einige Menschen haben und andere nicht, sondern als grundsätzliche und sinntragende Relation von Uberzeugtsein im Blick auf das eigene möglich Verhalten und Handeln. Es ist dieser Bogen, der den Sinnzusammenhang entdeckt und festhält; und damit wird der rein funktionalistischen56 Fassung des Sinnbegriffs (Sinn als interne und externe Anschlüsse im Kommunikationssystem) widersprochen: Im handlungsorientierten Glauben liegt und bildet sich jeweils der reale Zusammenhang von Selbst und Welt, und die darin schon implizierten (werthaften) Normierungen stellen sich in der Perspektive des Unbedingten als religiöses Grundverhältnis37 dar, vergegenständlicht im Ritual: Dem Vollzug eines Gebets eignet dieser Sinn, weil es das unbedingte Grundverhältnis im Zusammenhang von Glauben und Handeln adressiert. (2) Der Bogen vom Glauben zum Handeln ist kein kurzschlüssiges Abildverhältnis, sondern eine durchaus auch distanzierte Relation im Blick auf das Einüben von Verhaltensweisen, die als Handlung einmal akut werden können. Die pragmatische Maxime in ihren späten Formulierungen38 macht dies noch deutlicher, so auch im Kontext des Gottesarguments: Die wahre Bedeutung eines Begriffs wird nicht allein durch die Kenntnis seiner Anwendung, auch nicht allein durch möglichst umfassende „logische Analyse", sondern vollständig erst dann bestimmbar, wenn ermittelt wird, „welche allgemeinen Gewohnheiten im Verhalten [general habits of conduct] die Uberzeugung [belief] von der Wahrheit des Begriffs (für jeden denkbaren Gegenstand und unter allen denkbaren Umständen) vernünftigerweise hervorbringen würde".59
56
S. § 14.3.
57
Musterbildend ist dies schon an frühen Religionsformen zu beobachten, vgl. R. Bellah, Religious Evolution (1964), in: Bellah (2006), 29: „then religious symbolization relating man to the ultimate conditions of his existence is also involved in relating him to himself and in symbolizing his own identity."
58 59
Vgl. H. Deuser, Gottesinstinkt (2004), 33-37. RS, 353; vgl. EP 2, 448.
462
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V . Das Kontinuum: Religiöse Erfahrung als personale Symbolisierung
Handeln bedeutet nicht nur die einzelne Aktion, mit der auch der Glaube abgetan wäre, sondern den Horizont von immer bevorstehenden Handlungen, der durch Verhaltensbildungen eingeübt, vorbereitet und abgeschritten wird. Die Bedeutung von Begriffen entsteht und wächst in diesen Zusammenhängen. Die Lebensführung („conduct") verdankt sich dieser Verhaltensorientierung, sie ist sicher, soweit das „Gefühl des Uberzeugtseins" sich einstellt, sie steht zur Disposition, sobald es Anlass zum „Zweifel" gibt. Lebenssinn besteht demnach in beiden Linien: Glaube im Blick auf Handeln hält den Zusammenhang offen, in dem mit Ubersicht und ohne Einbrüche gelebt werden kann; Zweifel dagegen bedeutet immer einen negativen, für den Antrieb zu seiner Uberwindung aber produktiven Einschnitt, der im Blick auf erneuten Glauben den Handlungszusammenhang doch auch weiterhin voraussetzt und wieder zu verbessern verspricht. Dass es dabei um Wahrheit geht, reduziert den Sinnzusammenhang nicht auf Wahrheitswerte in Sätzen, sondern erweitert den Horizont auf den Prozess der Forschung, d.h. die Bestimmung von Realität in the long run,60 Eine Außeninstanz, die diesem Prozess- und Sinnzusammenhang fremd wäre, gibt es für die Wahrheitsfindung nicht; und das gilt analog auch im Alltagswissen und in der (religiösen) Lebensorientierung, überall dort, wo Uberzeugungen im Blick auf Handeln im Kontinuum eines realen Prozesses gebildet werden. In allen Fällen ist die Wahrheit im Sinne der vollen Realität (am Ende aller Bestimmungen) gegenwärtig als „praktische Seite der Logik"61, nämlich in der Forderung nach Wahrhaftigkeit oder „Redlichkeit einer Uberzeugung [integrity of belief]": Es ist „genauso unmoralisch wie nachteilig", „die Frage nach den Stützen einer Uberzeugung zu vermeiden, aus Furcht, dass sie sich als faul herausstellen."62 Vernünftige, d.h. an den Schlussformen von Abduktion, Induktion und Deduktion gebundene Prüfungen bleiben konstitutiv, auch für den Sinnzusammenhang und die Wahrheit des religiösen Glaubens - ohne dass dieser (wie alle anderen Uberzeugungen auch) durch seine theoretische Analyse ersetzt werden könnte.
60
S. § 2.1, A n m . 17.
61
Peirce, aaO. (s. A n m . 52) SP, 169; EP 1, 121.
62
A a O . SP, 171; E P 1, 123.
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(3) Der Zweifel gehört zum Glauben, und doch stehen diese beiden Seiten nicht symmetrisch zueinander. Der Glaube eröffnet den stabilen Verhaltens- und Handlungszusammenhang, der Zweifel stimuliert die Wiederherstellung des Glaubens und eröffnet damit neue Erkundungen im Lebens- und Forschungsprozess. - P. Tillich hat unter den Bedingungen seiner Sinntheorie ganz entsprechend die Radikalität des existentiellen Zweifels am Sinn des Lebens ernst nehmen können 63 und doch den trotzdem gültigen Sinnzusammenhang nicht dementieren müssen: „Sinn" als geistige Aktivität bleibt angewiesen auf „Sinnzusammenhang" und (unbedingten) „Sinngrund" - verbunden mit der (normativen) Forderung seiner Erfüllung. „Grund" und „Abgrund" 64 (des Zweifels) sind nicht zu leugnen, aber das geistig (aktiv wie passiv) gebildete Kontinuum muss die „Sinnunerschöpflichkeit des Sinngrundes"63 voraussetzen, sonst wären Unbedingtheit und Zusammenhang nicht mehr zu begründen; anders gesagt: Sie gehen in Vorhandenem niemals auf. Der dritte Ort, der als schöpferischer Zusammenhang Sinn und seine Bestreitung noch umgreift, wird von Tillich zwar in zugespitzten Formeln existentieller Radikalität zur Sprache gebracht 66 , das ändert aber nichts an der damit doch erreichten universalistischen Dimension dieser Religionsphilosophie: Sinn ist notwendig ein umfassender Begriff, dessen Aufhebung immer nur als seine Korrektur, d.h. in einem Kontinuum von Welt, Selbst und unerschöpflicher Unbedingtheit verstanden werden kann. Die Relation von Glaube und Handeln ist darin eingebettet. 63
Vgl. P. Tillich, Systematische Theologie III (1987), 261f.; zur Sinntheorie in der frühen Religionsphilosophie (1925), in: Main Works, Bd. 4 (1987), 133f.; vgl. Chr. Danz (2000), 306ff.; zum Motiv des Zweifels ehd. 363f. Anm. 22; zur Bedeutung Tillichs für die Sinnfrage vgl. auch J . Heinrichs/H.J. Adriaanse: Sinn/Sinnfrage, in: T R E 31 (2000), 288ff., 294f.
64
S. § 12.2, Anm. 28 u. 34.
65
Tillich, Religionsphilosophie, aaO. 134. - Dass Tillich sich im Kontext kurz zuvor vom J'ragmatismus" als „Nominalismus" entschieden abgrenzt (aaO. 128f.) geht auf ein zeitgenössisches Missverständnis zurück und geschieht ohne jede Kenntnis der Philosophie von Ch.S. Peirce. - Chr. Danz, aaO. 309f., zeigt, dass Tillichs Sinnbegriff nicht mehr als „zweistellige Relation" (Sinn von etwas; „Subjekt-Objekt-Schema"), sondern nur „dreistellig" gedacht werden kann, d.h. ein Ort der „Synthesis" muss als solcher notwendig im Spiel sein.
66
Tillich, Systematische Theologie, aaO. 262: „Die Frage: Was kann ich tun, um meinen radikalen Zweifel und das Gefühl der Sinnlosigkeit zu überwinden? kann nicht beantwortet werden, weil jede Antwort den Schein erweckt, als ob doch etwas getan werden könnte. [...] Man kann nur sagen (während man die Form der Frage ablehnt), dass die Ernsthaftigkeit der Verzweiflung, aus der heraus die Frage gestellt wird, selbst die Antwort ist."
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V. Das Kontinuum: Religiöse Erfahrung als personale Symbolisierung
(4) Irrtum und Korrekturfähigkeit gehören zum Sinnzusammenhang, dieser selbst kommt aus unbestimmtem, aber kreativen Grund und nimmt mitsamt seinen Korrekturen Bestimmtheit an: Handlungsteleologien und Prozessrichtungen in einem gleichwohl offen erscheinenden Kontinuum: „Denn der Fallibilismus ist die Lehre, dass unser Wissen niemals absolut ist, sondern sozusagen im Kontinuum der Ungewissheit und Unbestimmtheit schwimmt. Und die Lehre der Kontinuität besagt nun, dass alle Dinge derart in Kontinua schwimmen." 67
Der Bogen von Glaube und Handeln ist sinnvoll, weil er kontinuierlich ist, und das schließt die Diskontinuierlichkeit des Zweifels ein. Entscheidend ist die immer umfassendere Kreativität des Ganzen, die für menschliches Wissen und Handeln keine Absolutheit garantiert, in der Uberzeugungsbildung aber Teilhabe an der kreativen Qualität der Erschließung gibt, dass und (partiell) wie die Dinge zusammenhängen. Die infinitesimale Nähe gehört zur Vorstellung des Kontinuums: Dass sonst getrennte Teile von Geist und Materie, Raum und Zeit, Einzelnem und Allgemeinem aufeinander wirken und sich verbinden können.68 So erst ist der Begriff des Sinnzusammenhanges konsequent gefasst, und seine inneren Teleologien werden wiederum im religiösen Ritual auf ursprünglichste Weise darstellbar: Das Taufritual inkorporiert in eine religiöse Lebensgemeinschaft, zeigt im Vollzug seinen Sinn, der von jetzt an Gültigkeit hat; d.h. das Ritual 69 handelt und überzeugt aufgrund eines kreativen Zusammenhanges, den es erschließt.
67 68
69
Peirce, [Fallibilismus, Offenbarung, Kontinuität und Evolution] (1892), in: RS, Nr. II.5, S. 188. Ebd.: „Wenn wir [...] die Theorie der Kontinuität annehmen, [...] können wir sagen, dass ein Teil des Geistes auf einen anderen einwirkt, weil er dem anderen gewissermaßen unmittelbar gegenwärtig ist; [...] dass ein Teil der Materie auf einen anderen einwirkt, weil er sich gewissermaßen an derselben Stelle befindet." - S. § 16.3.1, Anm. 63; zum Raum-Zeit-Kontinuum s. § 11.1.2, Anm. 40ff. Vgl. R.A. Rappaport (2006), chap. 4 („Enactments of meaning"); zur Aufnahme der Sprechakttheorie 113ff.; 118: „Although not all rituals are obviously and simply performative, performativeness itself may be made possible by ritual."
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3. Kosmologisches Gottesargument 3.1. Die Chance der Induktion Das kosmologische Argument hat in Kants Kritik insofern eine Mittelstellung, als es nicht nur aus der sichtbaren Erfahrung der Welt schließt, was genauso für das teleologische Argument gilt, sondern auch einen - meist nicht beachteten - ontologischen, d.h. apriorischen Schluss enthält. 70 Kosmologisch kann nämlich davon ausgegangen werden, dass etwas existiert - und deshalb soll dann dessen Notwendigkeitszusammenhang (in Kausalreihen von Ursache und Wirkung verknüpft gedacht) auf eine unabhängige Notwendigkeit zurückgeführt werden. Kant gibt - exemplarisch für die traditionelle Schlussform zwei Schritte an: „Wenn etwas existiert, so muss auch ein schlechterdingsnotwendiges Wesen existieren. Nun existiere, zum mindesten, ich selbst: also existiert ein absolutnotwendiges Wesen." „Nun schließt der Beweis weiter: das notwendige Wesen kann nur auf eine einzige Art, d.i. in Ansehung aller möglichen entgegengesetzten Prädikate nur durch eines derselben, bestimmt werden, folglich muss es durch seinen Begriff durchgängig bestimmt sein. Nun ist nur ein einziger Begriff von einem Dinge möglich, der dasselbe a priori durchgängig bestimmt, nämlich der des entis realissimi: Also ist der Begriff des allerrealsten Wesens der einzige, dadurch ein notwendiges Wesen gedacht werden kann, d.i. es existiert ein höchstes Wesen notwendiger Weise." 71
(1) Der erste Schritt lässt sich wegen seines empirischen Ausgangspunkts als Induktion 72 verstehen: Dass aufgrund gesammelter Erfahrungen das (kontingente) Auftreten der Dinge und ihr (kontingenter) Zusammenhang nach einer Herkunft bzw. einem Grund verlangen, der nicht selbst wiederum kontingent sein kann, also aus sich selbst notwendig sein muss. Darin stecken zwei Prämissen, die sich modernisiert (mit W. Rowe) so fassen lassen73: • Alles, was ist, ist entweder von anderem abhängig oder besteht durch sich selbst. • Nicht alles, was ist, kann von anderem abhängig sein. • (Konklusion): Es gibt ein Wesen, das durch sich selbst besteht.
70 71 72 73
Vgl. KrV, A 603ff:; 630; s. § 1.4.2, Anm. 47; § 1.4.3, Anm. 64. KrV, A 604ff. S. § 8.1; zu Thomas v. Aquins induktivem Ansatz s. § 6.1.3. W. Rowe (1999), 86 (in dt. Übers, hier etwas vereinfacht).
466
V. Das Kontinuum: Religiöse Erfahrung als personale Symbolisierung
Deutlich liegt beiden Prämissen der Gedanke zugrunde, die Dinge in der Welt wären allein für sich und in ihrer gegenseitigen Abhängigkeit genommen beunruhigend unerklärt, d.h. sie verlangen einen „Grund" außerhalb ihrer selbst. Leibniz' „Prinzip des zureichenden Grundes"74 ist und bleibt in diesem Sinne der Kern des kosmologischen Arguments, und das lässt sich bis in die Gegenwart belegen, wenn moderne kosmologische Beobachtungen und Modelle (z.B. Big Bang am Anfang des Universums) als Ausgangspunkt für eine ganz andere, höherrangige Erklärung verwendet werden. 73 Das ungelöste Problem ist nur, dass Leibniz' Prinzip zwar plausibel erscheint, aber wissenschaftstheoretisch umstritten bleibt: Es zu akzeptieren führt schnell zu einem Gottesargument, d.h. für viele (naturwissenschaftliche) Theoriemodelle auf ein fremdes Gebiet; und warum eigentlich sollte alles, was es gibt, eine Erklärung finden müssen?76 Der hier gesuchte Grund kann nicht aus empirisch orientierter Theoriebildung hervorgehen, das hat Kants Kritik unwiderruflich festgehalten: Ein notwendig existierendes Wesen können wir zwar mit Gründen annehmen (wollen), aber nicht erkennen, weil dazu Begriff und Anschauung zusammenkommen müssten.77 Was aber, wenn zum Begriff der Erfahrung nicht nur empirische Bindung und idealer Theorieentwurf, sondern auch die reale Ermöglichung von Erfahrung hinzugezogen werden muss, die wissenschaftliche Hypothesenbildung abduktiv notwendig erscheint?78 (2) Kant sieht im zweiten Schritt des Arguments den entscheidenden Fehler darin, dass der Begriff des „notwendigen Wesens" nur aus sich selbst, d.h. allein aus einem Begriff, der selbst schon alle Realität enthal74
G.W. Leibniz, Theodizee (1710), § 44, (1968), 124f.: „dass niemals etwas ohne eine Ursache oder wenigstens ohne einen bestimmten Grund geschieht, d.h. ohne einen gewissen Grund a priori, w a r u m etwas existiert und nicht lieber nicht existiert und w a r u m es lieber auf diese als auf jene andere Weise existiert." - Zu Leibniz' Gottesargument vgl. W . Löffler (2006), 61f., 66; s. § 9.2, A n m . 31 u. 33.
75
Vgl. die aktuellen Beispiele (Unendlichkeit/zeitlicher Anfang des Universums; Entropieproblem; expandierendes Universum etc.) bei Löffler, aaO. 62f. Vgl. W . R o w e , aaO. 91 ff., mit dem Resultat, dass sich Leibniz' Prinzip bislang theoretisch nicht zwingend begründen lässt; ähnlich Löffler, 67f. Vgl. KrV, A 612: „dass man so gar sage: ein solches Wesen existiert notwendig, ist nicht mehr die bescheidene Äußerung einer erlaubten Hypothese, sondern die dreiste A n m a ß u n g einer apodiktischen Gewissheit; denn, was man als schlechthinnotwendig zu erkennen vorgibt, davon muss auch die Erkenntnis absolute Notwendigkeit bei sich führen"; s. § 8.2. S. § 16.3.1.
76 77
78
§ 17: Normativität als Ritual
467
ten muss, gebildet werden soll. Diese Konstellation aber ist nicht mehr an Erfahrung orientiert, sie gehört in die Kritik des ontologischen Arguments.79 - Diese Wendung zeigt, dass Kant eigentlich den Erfahrungsanschluss des Gottesbegriffs sucht, deshalb vor allem das „physikotheologische" (teleologische) Argument respektiert und empfiehlt: Dieser „Beweis" ist „der älteste, kläreste und der gemeinen Menschenvernunft am meisten angemessen. Er belebt das Studium der Natur [...]. Diese Kenntnisse wirken aber wieder auf ihre Ursache, nämlich die veranlassende Idee, zurück, und vermehren den Glauben an einen höchsten Urheber bis zu einer unwiderstehlichen Uberzeugung." 80
(3) Wenn hier die vielfältigen traditionellen und modernen Formen des kosmologischen wie des teleologischen Arguments zusammengefasst werden - am nächsten liegend unter dem Stichwort kosmologisch - , so ist das legitim, weil sie alle gemeinsam die vorgefundenen Erfahrungen in und mit der Welt so problematisieren, dass ein außerhalb dieser Erfahrungen anzunehmender Grund derselben notwendig erscheint.81 Diesen Nachweis zu führen ist die Chance der Induktion, jetzt im Falle desphysikotheologischen Arguments (nach Kant): „1) In der Welt finden sich allerwärts deutliche Zeichen einer Anordnung nach bestimmter Absicht, mit großer Weisheit ausgeführt [...]. 2) D e n Dingen der Welt ist diese zweckmäßige Anordnung ganz fremd, und hängt ihnen nur zufällig an [...]. 3) Es existiert also eine erhabene und weise Ursache (oder mehrere), die nicht bloß, als blindwirkende allvermögende Natur, durch Fruchtbarkeit, sondern, als Intelligenz, durch Freiheit die Ursache der Welt sein muss." 82
Kant selbst macht bereits auf die „Wahrscheinlichkeit" dieses Induktionsschlusses aufmerksam83, und schon deshalb fehlt hier jede zwingende Schlüssigkeit. Vor allem aber: So auffallend und überzeugend die empirischen Daten auch sein mögen, die Vernunft kann über den Graben zwischen Erfahrungswelt und übersinnlicher Verursachung nicht springen: „Der Schritt zu der absoluten Totalität ist durch den empirischen Weg ganz und gar unmöglich" 84 , d.h. die Sphäre der erfahrungsbekannten Dinge und Verursachungen kann prinzipiell nicht (per Ana-
79
S. § 1.4.1; § 18.3.
80
K r V , A 623f.
81
Vgl. Löffler, 64f., 68f.
82
K r V , A 625; vgl. die Beispiele nach Thomas v. Aquin und die neuzeitliche F o r m des „design argument" bei Löffler, 69.
83
K r V , A 626.
84
K r V , A 628.
468
V. Das Kontinuum: Religiöse Erfahrung als personale Symbolisierung
logie) auf die Sphäre bloß begrifflicher und (empirisch gesehen) unbekannter Gegenstände übertragen werden. - Der Reiz des Arguments, den Kant selbst ja bestätigt, bleibt aber bestehen, wenn die empirisch konzipierte Analogie - gerade auch aus religiösen Gründen - als verfehlt durchschaut wird. Wenn von sinnlichen Erfahrungen auf Ubersinnliches geschlossen werden soll, dann liegen im letzteren Fall andere Verständniskategorien zugrunde. Die „GOTT-Hypothese" ist „ein besonderer Fall": Was im abduktiven Möglichkeitsraum erschlossen wird, ist ein „unendlich unbegreifliches Objekt", und in dieser Vagheit liegt gerade die Kraft seiner kreativen Entwicklungsfähigkeit. 8 3 Das aber sind Rahmenbedingungen, unter denen gerade in der naturwissenschaftlichen Moderne das kosmologische/teleologische Argument neues Interesse gefunden hat. 86 Zu fragen ist dann vor allem nach der Gültigkeit seiner ersten Prämisse: Sind die Dinge in der Welt zweckhaft geordnet? - Die in der Neuzeit proklamierte Ablösung des (aristotelischen) teleologischen Denkens durch pure Kausalität erweist sich inzwischen als voreilig. Zwar lässt sich keine universale „Zwecksetzung" in der (biologischen) Natur/Evolution mehr bestätigen (wie Kant sie in der Konklusion des Arguments formuliert hat: „Intelligenz" und „Freiheit"), aber funktional beschreibbare „Zweckmäßigkeit" durchaus. 87 Dies aber genügt als empirischer Anhaltspunkt für den überraschenden Befund und die erstaunliche Erfahrung von wirklichen Zusammenhängen zweckhaften Zuschnitts. Funktionalität und Handlungsrationalität erscheinen verwandt. 88 (4) Die Chance der Induktion wird erst recht verstärkt, wenn sie im modernen Sinn als Verallgemeinerung einer bestimmbaren Wahr-
85
Ch.S. Peirce, RS, 339.
86
Zu den aktuellen Diskussionen um die kosmologisch auffallende „Feinabstimmung" physikalischer Grundgrößen des Universums und das „anthropische Prinzip" vgl. Löffler, 71f.; R. Vaas (2004).
87
Vgl. G. Toepfer (2005). - Der Anschluss an Kant (die funktionale „Selbstorganisation" des Organischen, vgl. Toepfer, aaO. 45) führt aber nur zur „Zuschreibung von Zwecken" (aaO. 48), d.h. einem methodischen und nicht ontologischen Sinn des Zweckbegriffs. - Zur bewussten Aufnahme evolutionären Denkens in Peirce' Metaphysik vgl. H . Deuser, Religion und Evolution (2007), 285-295; zur Diskussion neo-darwinistischer Denkmodelle N . H . Gregersen (2006). Für dieses Resultat ist nicht entscheidend, ob „zweckmäßige Prozesse" aus der Evolutionstheorie abgeleitet werden oder umgekehrt, vgl. Toepfer, 42ff.
88
§ 17: Normativität als Ritual
469
scheinlichkeit aufgrund von ausgewählten Einzeldaten gefasst wird. 89 Hinzu kommt, wie es vor allem von R. Swinburne entwickelt wurde, dass kumulativ mehrere Wahrscheinlichkeiten zu einem Argument verbunden werden können, eine Sammlung von Indizien sozusagen, die für eine höhere Uberzeugungskraft sorgt als jedes einzelne Element für sich genommen. 90 Der moderne Zug des Arguments liegt zudem darin, dass weder der scholastische Seinsbegriff noch das neuzeitliche Analogie-Modell bemüht werden müssen.91 Entscheidend ist der Begriff der Erklärung und die konsequente Unterscheidung im Blick auf Ursachen, die auf die U^5-Frage, und Gründe, die auf die Warum-Frage antworten. 92 Ein „Naturgesetz" (d.h. „jede wahre nicht-zufällige Generalisierung" [34]) erklärt so: „TV erklärt zusammen mit den Ausgangsbedingungen C, dann B, wenn Ν und C es hoch wahrscheinlich machen, dass 5".93 - Eine „personale Erklärung", die hier ausdrücklich als nicht entbehrlich ausgezeichnet wird, gibt Gründe an, wie sie zu „rational Handelnden" gehören: Etwas wird „absichtlich" herbeigeführt; und diesen Erklärungsaspekt nicht zu berücksichtigen bzw. auf die „Was"Ebene der Fakten zu beziehen, hat als „reduktionistisch" zu gelten.94 Umgekehrt aber ist die personale Erklärung unabhängig von der „Was"-Erklärung, d.h. „Gott" personal als Erklärung heranzuziehen ist „nicht einmal in Teilelementen naturwissenschaftlicher Art". 95 Die personale Erklärung wird nach ihrer größeren Wahrscheinlichkeit und auch nach ihrer „Einfachheit"96 ins Spiel gebracht, so dass die erkennbaren Ordnungsmerkmale des Universums sich am besten, d.h.
89
90 91
92 93 94 95 96
S. § 8.1, A n m . 19. - Vgl. R . Swinburne (1987), 15f.: „Ein Argument, in dem die Prämissen die Folgerung wahrscheinlich machen, soll ein korrektes Pinduktives Argument genannt werden (von engl, probable). Ein Argument, in dem die Prämissen zur Wahrscheinlichkeit der Folgerung nur beitragen (d.h. die Folgerung wahrscheinlicher machen als ohne diese Prämissen) soll ein korrektes C-induktives Argument heißen (von engl, confirm)." Zur (kritischen) Darstellung von Swinburnes Argumentation vgl. Chr. Jäger (1998), 21ff.; Löffler, 82-87. S. § 6.1 (zu Thomas v. Aquin); § 9.1, A n m . 17 (zu D. H u m e s Kritik des Analogieschlusses als Kern des teleologischen Arguments; vgl. H u m e , Dialoge [1980], 2. Teil). Swinburne, aaO. 32. A a O . 34f. A a O . 39, 42, 46 A a O . 54. Aa0.65ff.
470
V. Das Kontinuum: Religiöse Erfahrung als personale Symbolisierung
mit höherer Wahrscheinlichkeit und am einfachsten dadurch erklären, dass die theistische Hypothese akzeptiert wird. 97 (5) Die theistische Erklärung hat eine Besonderheit darin, dass sie eine „abschließende Erklärung" 98 ist, d.h. hinter dieser werden keine weiteren mehr gesucht, und das hat seinen Grund darin, dass sie sich auf das bezieht, was naturwissenschaftlich ohnedies unerklärbar bliebe: z.B. „dass es überhaupt Zustände gibt", oder „warum die allgemeinsten Naturgesetze überhaupt gelten." Das führt zu der Alternative: „Entweder handelt es sich dabei um nackte Tatsachen dieser Welt, oder es gibt für sie eine andere Art von Erklärung" 99 - und Swinburne entscheidet sich für die andere! Hier allerdings liegt eine Schwierigkeit des induktiven Arguments generell, dass auch dann, wenn die Konklusion zugunsten einer neuen Begründungsebene gegenüber der Erfahrung übernommen wird, zusätzlich noch die Eindeutigkeit 100 der gefundenen Instanz unterstellt werden muss: Dass es eben - ein - Gott ist, der nicht mehr hintergehbar und zudem personal aufgefasst werden darf. Kant hatte an dieser Stelle sehr bewusst von einer „weisefn] Ursache (oder mehrerefn])" gesprochen bzw. von einem „Weltbaumeister", d.h. einem Konstrukteur der als geordnet erfahrenen Welt (nicht einem „Weltschöpfer" verantwortlich für den gesamten Bestand der Welt!). 101 Das zeigt, wie unweigerlich in die Bewertung der Möglichkeit des induktiven Arguments andere, vor allem religiöse Rahmenbedingungen eingehen, die die Wendung zur Konklusion „Gott" erst wirklich plausibel machen. Die bekannten Einwände von Swinburnes zeitgenössischem Kritiker J.L. Mackie greifen deshalb auch nicht die Formalität des induktiven Schlusses an, sondern die in diesen eingeführte „personale" Erklärung verbunden mit ihrer „Einfachheit". 102 Der (theistische) Gottesbegriff ergibt sich eben nicht über den kosmologischen (empirischen) Erfahrungsbestand, sondern erst über andere Erfahrungszugänge bzw. andere Dimensionen von Erfahrung, die schwer mit dem formalen Argument überein zu bringen sind. Das induktive Argument zeigt aber, dass religiöser Glaube sich vernünftig auszudrücken versteht. Die
97
Vgl. aaO. 84f.; der vorausgesetzte Gottesbegriff ist definiert als körperloser Geist mit den traditionell bekannten Eigenschaften, aaO. 16f.; vgl. 118f. 98 Vgl. aaO. Kap. 4. 99 AaO. 90. 100 Vgl. Löffler, 65, 67, 73, zur „Voraussetzung eines Eindeutigkeitsprinzips"; auch im Falle Swinburnes (Löffler, 86). 101 S. Anm. 82; KrV, A 625, 627. 102 J.L. Mackie (1985), 160ff.; vgl. Löffler, 85f.
§ 17: Normativität als Ritual
471
i d e a l e n , n o r m a t i v e n I m p l i k a t i o n e n des S c h ö n e n , G u t e n , E i n f a c h e n u n d Personalen - ihr V o r r a n g u n d ihre Vorzüglichkeit gegenüber
ihrem
G e g e n t e i l o d e r N i c h t b e s t e h e n - m ü s s e n a b d u k t i v (in p r a k t i z i e r t e r sonnenheit)
Ver-
s c h o n w i r k s a m s e i n , w e n n die I n d u k t i o n ü b e r z e u g e n k ö n -
n e n soll.
3 . 2 . D i e z w e i t e S t u f e des N . A . Aus Erfahrung zu begründen schließt - bewusst oder unbewusst - den existentiellen Selbstbezug ein. , G o t t ' entspringt nicht einer neutralen, s o n d e r n , w e n n ü b e r h a u p t , e i n e r „ B e s c h r e i b u n g " , die a u f „das n a t ü r l i c h e E r g e b n i s freier M e d i t a t i o n " verweist, auf „mentale O p e r a t i o n e n ,
wie
sie [ . . . ] t a t s ä c h l i c h u n d a k t i v e r l e b t w e r d e n . " 1 0 3 D i e s e z w e i t e S t u f e des N . A . h a t also e i n e e n t s c h i e d e n l o g i s c h e S e i t e , n ä m l i c h die u n v e r m e i d l i che Erschließungsfunktion der (abduktiven) V e r s o n n e n h e i t
herauszu-
stellen, aber auch eine „natürliche"104, d.h. erfahrungsbezogene
Seite,
die e i n e r s e i t s die P h ä n o m e n e des K o s m o s u n d a n d e r e r s e i t s d e n o f f e n sichtlich teleologischen
(wissenschaftlichen) U m g a n g mit diesem
vor
Augen führen kann: „Der VERSONNENE wird sich zum Beispiel, nachdem er an der unaussprechlichen Vielfalt, der Weite und Tiefe jedes UNIVERSUMS gefallen gefunden hat, jenen Phänomenen zuwenden, die in sich den Charakter homogener Verbundenheit besitzen; und welch ein Schauspiel wird sich ihm darbieten! [...] dass jeder kleine Teil des Raumes, wie weit auch immer entfernt, begrenzt ist durch ebensolche benachbarten Teile wie jeder andere [Teil des Raumes] auch, und das ohne jede Ausnahme in der ganzen Unermesslichkeit des Raumes. Die Materie besteht in jedem Stern aus denselben elementaren Bausteinen, und (von variierenden Umständen abgesehen) was noch wunderbarer ist: Im ganzen sichtbaren Universums gelten in etwa die gleichen Größenverhältnisse der verschiedenen chemischen Elemente." 1 0 ' „Die moderne Wissenschaft ist nach dem Vorbild Galileos geschaffen worden, und er war es, der sie auf il lume naturale gegründet hat. [...] Denn hätten die Menschen 103 Peirce, RS, 360; s. § 16.3.2, Anm. 83. 104 Mit diesen beiden Aspekten hängt zusammen, dass Peirce im Gottesargument forschungslogisch gesehen die Reihenfolge Abduktion, Deduktion, Induktion angibt (RS, 343ff.), während urteilslogisch gesehen (s. § 16.3.1) und den (phänomenologischen) Kategorien entsprechend diese Reihenfolge gilt: „Deduktion beweist, dass etwas sein mass; Induktion zeigt, dass etwas tatsächlich wirkt; Abduktion legt nur nahe, dass etwas sein kann" (VP, 115 [6. Vorl.]; vgl. EP 2, 216). - Zur Gliederung und Interpretation des N.A. vgl. H . Deuser, Gottesinstinkt (2004), 124ff. ; B. Canteñs (2004); Κ. Hull (2005), bes. 498ff. (mit der These, das N.A. sei auch Beispiel für Peirce' „Method of [Mathematical] Reasoning"). 105 RS, 337f.
472
V. Das Kontinuum: Religiöse Erfahrung als personale Symbolisierung
keine natürliche Veranlagung, die mit den Tendenzen der Natur übereinstimmte, sie hätten keine Chance, die Natur überhaupt zu verstehen. [...] Wenn die Maxime [...] korrekt ist, dann folgt daraus, dass die Menschen in einem gewissen Grade, primär oder abgeleitet, eine divinatorische Kraft besitzen, genau wie die einer Wespe oder eines Vogels; und dann wimmelt es von Beispielen, die zeigen, dass ein ganz eigentümliches Vertrauen in eine Hypothese, das nicht mit unüberlegter Vermessenheit verwechselt werden darf, eine harausragende Bedeutung als Zeichen für die Wahrheit der Hypothese besitzt." 106
(1) Die Verteidigung von Versonnenheit, Divination und Vertrauen wird verstärkt durch das kosmologische Staunen und die teleologischen Befunde: Die Dinge zeigen Zusammenhänge und Zusammenhang, und weil das weder bloßer Zufall sein kann (dann wären chaotische Zustände zu erwarten) noch als tatsächlich vorliegende Regelhaftigkeit einfach unerklärt gelassen werden kann, ist die Suche nach einem (hinreichenden) Grund 107 legitim, ja notwendig - wenn auch nicht aufgrund der aus der Geschichte der Gottesbeweise bekannten induktiven und deduktiven Logik, sondern im natürlichen Zusammenhang der Abduktionslogik des N . A . (2) Die teleologischen Elemente 108 in der Entwicklung des Universums - und nicht zuletzt die abduktive Hypothesenbildung der Wissenschaften - enthalten aber Wertungen 109 wie Einfachheit, Schönheit, Stimmigkeit, Güte, Angemessenheit, so dass von einer impliziten Normativität auszugehen ist, die das N.A. auf seiner zweiten Stufe ins Bewusstsein heben kann. Dass es Versonnenheit als abduktive Erschließung gibt und geben muss, führt dazu, dass dieser „Zustand" auch „empfohlen" 110 , d.h. wiederholt und regelmäßig eingesetzt werden kann - und dies entdeckt und ursprünglich vollzogen zu haben, darin liegt die Kraft des religiösen Rituals. 111 Die Versonnenheit und ihre normativen Potentiale werden dann zur Verhaltensgewohnheit, die gleichwohl nicht kalkuliert, sondern dem offenen Spiel kreativer Möglichkeiten allein verpflichtet bleibt. Wird dieser Charakter der schöpferischen Unbedingtheit aber instrumentalisiert, droht der Missbrauch
106 RS, 349ff. - Zum „Divinatorischen" s. § 16.3.1, Anm. 72. 107 RS, 349: „Es gibt einen vernünftigen Grund, eine Interpretation, eine Logik in der Entwicklung der Wissenschaft [...]"; vgl. RS, 452, Anm. 24; s. Anm. 74. 108 S. Anm. 86ff. 109 S. § 17.1. 110 RS, 332f. 111 S. Anm. 15 (zur Rappaport-These).
473
§ 17: Normativität als Ritual
bzw. die Entstellung des religiösen Rituals.112 Wachsendes „Vertrauen" aufgrund schöpferischer Freiheitspielräume wäre allein im Sinne der „divinatorischen Kraft". (3) Wenn im N.A. von Gott als „ens necessarium" gesprochen wird, so wird dieser klassische Begriff zwar bewusst anspruchsvoll gewählt und wiederholt, er deckt aber nicht die Notwendigkeit einer Konklusion auf Gottes „Existenz" ab, sondern die Realitätserschließung aufgrund der abduktiven „GOTT-Hypothese". 113 Sie schließt Zufall und Wachstum, Vagheit und Evolution, Normativität und Verhaltensbildung ein, ist also selbst so wenig fertig wie die Kreativität im Ursprungspotential des Kontinuums (der Erfahrungsuniverseri). Dessen Unerschöpfbarkeit, das zeigt das N.A. auf seiner zweiten Stufe, ist doch auch der Beschreibung fähig: kosmologisch wie teleologisch, existentiell und erfahrungsbezogen: Schema 5: Kosmologisches Gottesargument
N.A.
existentiell/?rfabrungsbezogen
universalistisch
N.A. 1
Abduktives Argument
N.A. 2
Kosmologisches/ teleologisches Argument
Kosmologisches Argument
N.A. 3
[Ontologisches Argument]
[Ontologisches Argument]
induktiver Denkstil
abduktiver Denkstil
112 S. Anm. 2 (zu Tillichsprotestantischem Prinzip). 113 RS, 338f.; vgl. die Eröffnung des N . A . mit den Begriffen ens necessarium, rungsuniversen und real, RS, 329; H . Deuser, Gottesinstinkt (2004), 13 lf.
Erfah-
§18: Gottes Realität Der Begriff Kontinuum - συνεχες, Zusammenhang - hat alte Tradition seit den Vorsokratikern, er gilt dem Rätsel der stofflichen Teilbarkeit (Anaxagoras) wie der (zeitlosen) Ewigkeit (Parmenides) und findet seine erste Klärung seit Aristoteles1: Die Stetigkeit einer Reihe bedeutet, das auch ihre Teilstücke nur aus gemeinsamen Grenzpunkten bestehen, nichts also kann dazwischen kommen. Im kritischen Anschluss an Kants Definition des Kontinuums als unendliche (infinitesimale) Teilbarkeit und die Mathematik um die Wende zum 20. Jh. weiterdenkend hat Peirce den Begriff dann neu und eigenständig gefasst: Synechismus wird zum Prinzip einer Philosophie, in der der mathematische Begriff der Unendlichkeit mit der Relation von Punkten im Kontinuum so verbunden wird, dass reale schöpferische Prozesse wie deren vernünftige Verallgemeinerung logisch (semiotisch) und metaphysisch (evolutionär) verständlich gemacht und bis in die Erfahrungen des Selbst-Seins produktiv verfolgt werden können. 2 Die folgenden Bestimmungsstücke und Vorstellungsbedingungen, soweit sie ohne mathematische Fachkenntnisse zugänglich sind, stehen dann in Geltung und sind religionsphilosophisch ausschlaggebend: (1) Unendlichkeit lässt sich nicht nur denken, wie G. Cantors Begriff der „aktualen Unendlichkeit" (im Unterschied zum bloßen Reihenbegriff der „abzählbaren" oder „potentiellen Unendlichkeit") gezeigt hat3, sondern „überabzählbare" Unendlichkeit wird ins prinzipiell Indeterministische gesteigert: Als unerschöpfliche Teilbarkeit in infinitesimalen Vorstellungsbereichen, wo Punkte in untrennbaren Nachbarschaf1
2
3
Vgl. N. Herold: Kontinuum, Kontinuität I u. III, in: H W P 4 (1976), 1044-1049, 1052-1075, hier: 1044ff.; zu Parmenides' bekanntem Fragment über „Seiendes" im Zusammenhang Q. Mansfeld, Die Vorsokratiker I, Nr. l l , 5 - 6 a [Diels/Kranz Β 8]) vgl. M. Theunissen (1991), 91ff. Zum Anschluss an Kant vgl. N. Herold, aaO. 1052f.; zu den neueren mathematischen Entwicklungen K. Mainzer: Kontinuum, Kontinuität IV, in: H W P 4 (1976), 1057-1062. - Peirce eigene Definitionen finden sich kurz gefasst in CP 6.164-173; zur Interpretation von Peirce aus heutiger mathematischer Sicht vgl. A. Johanson (2001), mit dem Resultat (aaO. 10): „though many of Peirce's ideas about continua are in conflict with modern pointset topology, they are in substantial agreement with many of the conceptions of topology without points"; vgl. auch Η. Deuser, Evolutionäre Metaphysik (2004); s. § 16, Anm. 16. Vgl. H. Putnam/K.L. Keiner, Einl., in: LU, 67f.; Deuser, aaO. 50ff.
§ 18: Gottes Realität
475
ten auftreten und Schnitte zu immer neuen Kontinuitäten führen. Diese Unendlichkeit ist reale Möglichkeit 4 , die zum Verständnis der wirklichen evolutionären Prozesse des Universums vorausgesetzt werden muss. (2) Die damit schon implizierte Wendung des Denkens besteht darin, dass der Begriff des Kontinuums gar nicht mehr mit Einzeldingen rechnet, d.h. das Bild von Zahlenreihen bzw. Einzelelementen in Mengen ist abzustoßen zugunsten der Vorstellung von unerschöpflicher Unbestimmheit. Insofern ist die reale Möglichkeit dezidiert allgemein, und als solche erlaubt sie gerade die Bestimmtheit von Einzeldingen. 3 (3) Dass diese Diskretheit von Einzelnem im selben infinitesimalen Vorstellungskontext Platz finden kann, liegt nun daran, dass der (ebenfalls mathematische) Begriff der Relation an entscheidender Stelle notwendig wird. Im Beispiel einer in einem ,Punkt' geschnittenen Linie 6 wird klar, dass unter der Voraussetzung unerschöpflich-infinitesimaler Punkte und Teilstücke keine bestimmten Individuen mehr gedacht werden können, wohl aber - und immer - die Relation eines möglichen Punktes zu einem anderen im Bezug auf einen dritten. Allein die Zweierrelation (z.B. „A" links von „B") wäre nicht passend, weil dann der Gedanke von zwei Endpunkten einer Linie noch im Spiel bliebe; die triadische Relation aber („A" links von „B" im Bezug auf [das rechts folgende] „C") passt zum Kontinuum, sie ist vollständig und ausreichend zur Bestimmung. 7 Die relationale Bestimmung aber wird durch die strikte Allgemeinheit der unerschöpflichen Möglichkeit faktisch ermöglicht, d.h. der Synechismus verbindet ursprüngliche Kreativität mit dem Werden der Dinge im Rahmen (kategorial und semiotisch)
4
Putnam/Ketner, aaO. 73, sprechen von einer „modallogischen Auffassung der Mengenlehre"; von Möglichkeiten, „die man niemals [...] erschöpfen kann, nicht einmal in einer möglichen Welt, m der man üherahzählhare unendliche Prozesse abschließen kann", aaO. 75; vgl. G. Locke (2000), 133, 136.
5 6
Vgl. Peirce' 8. Vorl., in: LU, 332f.; Johanson, aaO. 3; Locke, aaO. 137. Zum „Dedekindschen Schnitt" vgl. Ketner/Putnam, LU, 58ff.; sehr hilfreich erklärt bei Locke, 135, 138f.; das Linienbeispiel für Kontinuität benutzt Peirce auch in weniger fachlichen Kontexten zur Plausibilisierung des Unendlichkeitsbegriffs, vgl. RS, 183ff. (Text II.5); s. § 16, Anm. 63.
7
Vgl. Locke, 139; Peirce' eigene Ableitung in LU, 248ff.
476
V. Das Kontinuum: Religiöse Erfahrung als personale Symbolisierung
geordneter Relationalität. Das ist ein philosophisch interpretiertes Ergebnis auf mathematischer Grundlage.8 (4) Die Denkbedingungen des Kontinuums und seiner internen Relationalität sind von Beginn an kosmologisch orientiert, d.h. Peirce vertritt eine evolutionäre Metaphysik. Zur ihrer Begründung zählt, dass ein geordnet erscheinendes, (partiell) verständliches und wissenschaftlich erschließbares Universum - in Wachstum und Variation - sich nur entwickelt haben kann, weil in seinen Ausgangsbedingungen keine fixierte Gegenstandswelt und kein absoluter Determinismus bestimmend waren, sondern eine schöpferische Allgemeinheit, die Bestimmtheiten relational und nicht-deterministisch ermöglicht.9 Deshalb kommt schon auf dieser fundamentalen wissenschaftstheoretischen Ebene Religionsphilosophie in den Blick, und die kosmologischen „Lehren" des Tychismus, des Agapismus (der „evolutionären Liebe") und des Synechismus insgesamt sind immer zugleich naturwissenschaftlich, mathematisch-philosophisch und religionsphilosophisch angelegt: Sie bauen auf den neuesten Kenntnisstand empirischer Theorien, die Leitideen mathematischer Grundlagenmodelle und die geschichtlichlebendige religiöse Imagination samt ihren Symbolbildungen für die Lebensorientierung. Der Tychismus, die Lehre von der aktiven Rolle des Zufalls, widerspricht dem mechanistischen Determinismus10 und steht insoweit in Ubereinstimmung mit dem Evolutionsmodell Ch. Darwins. - Der Agapismus widerspricht der rein kausalen Interpretation des Evolutionsmodells mit dem Argument, dass allein durch „evolutionäre Liebe" neue Ideen, Assoziationen, Gemeinschaftsbildungen, kurz: Spontaneität und Wachstum zum Guten unter humanen Entwicklungsbedingungen gesichert werden können. Die ethisch-religiösen Kontexte11, in denen Peirce diese Gedankenlinie vorträgt, und die 8
Locke, aaO. 144, sieht darin eine konsequente Anwendung der mathematischen Grundlagen, J.-L. Hudry (2004), 239ff., eine mögliche und philosophisch verständliche.
9
S. § 16.3.1(4). - Vgl. Locke, 144: „if evolution had not begun with the profoundly non-specified Peircean .completely undeterminated and dimensionless potentiality' - if its starting point was in any sense made up of discrete irreducible atoms - the end result of evolution could not possibly be an ordered or intelligible universe."
10
Vgl. exemplarisch RS, 232 (Text ILIO): „Die mechanische Kausalität, wird sie absolut verstanden, lässt keinen Raum für die Aktivität des Bewusstseins in der Welt der Materie"; s. § 10.2.2, Anm. 33.
11
Vgl. exemplarisch RS, 475, Anm. 6: „die Liebe [ist] das kreative, lebendigmachende, evolutionäre Prinzip des Universums"; vgl. vor allem den großen
§ 18: Gottes Realität
477
zugleich deutlichen Forschungs- und Gemeinschaftsorientierungen stützen sich gegenseitig in dem Nachweis, dass in der Evolution mechanischer Zwang (die Notwendigkeit von Gesetzen) nur ein Aspekt, nicht aber das Ganze sein kann - sonst wäre eine freie, teleologische, auch die geltenden Evolutions- und Forschungsregeln immer wieder erneuernde Schubkraft gar nicht denkbar. - Der Synechismus schließlich fasst in der nun durch Spontaneität und Sozialität abgestützten Kontinuitätsvorstellung widerspruchsfrei zusammen, dass und wie die Allgemeinheit von Ideen mit ihrer diskontinuierlichen Faktizität übereinstimmen kann: Wenn der evolutionäre Prozess produktiv bleiben, d.h. nicht mechanistisch erstarren und damit an sein Ende kommen soll, dann muss zur Allgemeinheit des Kontinuums seine diskontinuierliche Durchbrechung bereits hinzugehören, um neue Bestimmtheit ebenso wie neue Bestimmbarkeit im Ganzen zu gewährleisten.12 (5) Dieses Erklärungspotential evolutionärer Metaphysik kommt nicht durch einen Substanz- oder Seinsbegriff zustande, auch nicht durch transzendentalphilosophische Unterscheidungen oder empiristische Problemreduktionen 13 , sondern durch wissenschaftlich konsequente Anwendung von Hypothesenbildungen aufgrund von umfassender Erfahrung. Sie enthält ungehindert die abduktive Kraft von (normativen und idealen) Wertungen und Gefühlen, die induktive Uberprüfung von empirischen (zweckorientierten) Gesetzmäßigkeiten und die deduktive, auf Spontaneität und Verhaltenstendenzen angewiesene Begriffsbildung selbst. Diese dreistufige Kreativität im geordneten Kontinuum entspricht dem Gottesargument (N.A. 13 ), und Kreativität auf
Aufsatz Evolutionäre Liebe (1893), in: NZ, Nr. 7; EP 1, no. 25. - Zur Interpretation im Rahmen des (infinitesimalen) Kontinuums vgl. vor allem C. R. Hausman (1998), 630: „The agency of evolution [called Agape, ebd. 619], as distinct from the agency of deviation [...] has a teleological function - not hy a teleology of the traditional sort of Peirce's time, but a developmental teleology, a teleology according to which new purposes, ends, can emerge"; vgl. J.M. Staab (1999), 167; C. R. Hausman (2002), 22, 25; zum Zweckbegriff s. § 17.3.1.(3), Anm. 87. 12
13
Vgl. Hausman (1998), 630 (zum scheinbaren „Paradox" des Kontinuums, einerseits allgemein, d.h. nicht diskret, und andererseits - um der Entwicklungsfähigkeit willen - durchbrechbar sein zu müssen); aaO. 634 (zur Erläuterung bzw. Lösung mithilfe des Dedekindschen „Schnitt"-Modells (s. Anm. 6), jetzt in kategorialer Interpretation, dass durch die Durchbrechung nicht nur Bestimmungen, sondern auch neue Möglichkeiten entstehen). Zu diesen traditionellen, scholastischen bzw. neuzeitlichen Denkmodellen s. § 6, § 8 .
478
V. Das Kontinuum: Religiöse Erfahrung als personale Symbolisierung
allen Stufen als solche zu adressieren bedeutet zugleich die jeweils im Spiel befindlichen religiösen Uberzeugungen freizulegen bzw. anzuwenden. Die Unbedingtheit im Prozess der Universen der Erfahrung kommt nicht separiert und wahlweise noch hinzu, sondern gehört zur (kreativen) Kontinuität zwischen den Dingen, dem menschlichen Geist „and the Most High". b Empirisch begrenzte, z.B. neurophysiologische Theorien haben ihr eigenes Erklärungsfeld, wie es im Gottesargument ausdrücklich heißt16; dadurch aber die Eigentümlichkeit geistiger Aktivität wegerklären zu wollen, bedeutet ein Fehlurteil - warum, das erklärt wiederum das Kontinuum: „Die außergewöhnliche Disposition des menschlichen Geistes, alles unter der schwierigen und fast unverständlichen Form eines Kontinuums zu sehen, kann man nur durch die Annahme erklären, dass jeder von uns in seiner eigenen wirklichen Natur ein Kontinuum ist." 17
(6) Wenn Kontinuität das Grundmodell für Natur und Kultur, Materie und Geist, Leib und Seele sein kann, dann sind diese traditionellen Dualismen überwunden, weil deren eine Seite jetzt die andere verständlich machen kann. Das Selbst-Sein des Menschen, seine Persönlichkeit sind nicht nur erkennbar eingelassen in natürliche und kulturelle Bedingungen, sondern diese können auch über das menschliche Selbst in seinen Verhältnisbildungen - erst wirklich erfasst werden. Diese Wechsel- und Selbstbeziehung ist es eben, die sich im Modell des Kontinuums denken lässt: Seine kreative Ursprünglichkeit, existentielle Gegenständlichkeit und Allgemeinheit kommen religionsphilosophisch zur Vollendung.
14
S. § 1.4.3, Anm. 51.
15
Evolutionary Love, E P 1, 364; N Z , 253. - Auf dieselbe Kontinuität im Forschungsverhalten angewandt besagt dies: „Jeder Versuch, irgendetwas zu verstehen - jede Untersuchung - nimmt an oder hofft zumindest, dass eben die Objekte, die wir untersuchen, selbst einer Logik unterworfen sind, die mehr oder weniger mit der Logik identisch ist, die wir verwenden" (LU, 345 [8. Vorl.]).
16
Vgl. RS, 339: „Wenn mir jemand sagt [...], dass alles Denken von Nervenzellen abhängt [...], dann bin ich bereit, es zu glauben. Wenn er aber weiter geht und sagt, damit sei die Theorie widerlegt, dass wir Menschen von Vernunft geleitet und denkende Wesen seien, dann muss ich offen sagen, dass ich seine Intelligenz nicht mehr sehr hoch einschätze." - Zur Anwendung von Peirce' Kosmologie auf die gegenwärtige Diskussionslage vgl. H. Deuser, Religion und Evolution (2007).
17
L U , 219f. (3. Vorl.).
§ 18: Gottes Realität
479
1. Persönlichkeit: Selbst-Sein „Glaube ist der Ausdruck für: das Verhältnis von Persönlichkeit zu Persönlichkeit. Persönlichkeit ist nicht eine Summe von Lehrsätzen, auch nichts unmittelbar Zugängliches; Persönlichkeit ist etwas in sich selbst Gebeugtes, ein Clausum, ein αδυτον, ein μυστηριον; Persönlichkeit ist: Das darinnen; wofür auch das Wort: persona (personare) bezeichnend ist, das darinnen, zu dem man, selbst wiederum Persönlichkeit, sich glaubend verhalten muss. Zwischen Persönlichkeit und Persönlichkeit ist kein anderes Verhältnis möglich. [...] In diesem rein persönlichen Verhältnis zwischen Gott als Persönlichkeit und dem Glaubenden als Persönlichkeit im Existieren liegt der Begriff Glaube." 18
(1) Dass die Definition des Personbegriffs in Schwierigkeiten führt, weiß die theologische Tradition von Beginn an. Waren es zunächst die untrennbare Einheit bei gleichzeitig funktionaler Verschiedenheit des Begriffs in Christologie, Trinitätslehre und Anthropologie, die zu immer neuen Bestimmungen Anlass gaben und auch noch Ausgangspunkt des späteren Begriffs der Personalität waren, so wird spätestens seit der Reformation 19 der innere und relationale Wechsel vom „alten" zum „neuen" Menschen aufgrund seines (soteriologisch) richtigen bzw. falschen Gottesverhältnisses zum Fokus des Menschenbildes: Das Interesse verschiebt sich von der Definition zur Selbsterkundung der eigenen Person und ihrer Abgründigkeit. Letzterer Akzent dient Kierkegaard dann zu einer Strukturbeschreibung des menschlichen Selbst - hier: der Personalität in der Gottesrelation. Aufgrund ihrer genuinen Unzugänglichkeit lässt sich Personalität nur indirekt ansprechen, mitteilen und verstehen. Allein in der „/iutopsi des Glaubens" 20 ist ein Organ und Medium gefunden, das der Verborgenheit, Zukunftsoffenheit, Handlungsfähigkeit, Entscheidungssituation - kurz: der „Ungewissheit des Werdens" auf gleicher Ebene, aber mit umgekehrter Wirkung zu ent18
19
20
S. Kierkegaard, Pap. XI, 1 A 237, p. 192 (die dt. Übers, in: Die Tagebücher, Bd. 5, 224, gibt „Persönlichkeit" durchgängig mit „Person" wieder). - Den Hinweis auf diese Stelle in Kierkegaards späten Journalen verdanke ich Niels Jorgen Cappelorn. Zur Begriffsgeschichte vgl. M. Fuhrmann/B.Th. Kible: Person I u. II, in: H O T 7 (1989), 269-300; folgenreich war Boethius' (s. § 5.1.2) Definition der Person als „naturae rationabilis individua substantia" (ebd. 280, 284); zur neuen Fragestellung durch die Theologie M. Luthers (s. § 7) ebd. 297f.; zum entsprechenden Ansatz des neueren Begriffs der Persönlichkeit vgl. U. Dierse/R. Lassahn: Persönlichkeit, in: H O T , aaO. 345-352. S. Kierkegaard, Philosophische Brocken, SKS 4, 270, vgl. 280f.; dt. Ges. Werke, 10. Abtig., 67, vgl.78. - Zu den Voraussetzungen dieses Glaubensbegriffs bei Luther s. § 7.2.
480
V. Das Kontinuum: Religiöse Erfahrung als personale Symbolisierung
sprechen vermag. Dieser Glaube hat nichts mit defizitärem Wissen zu tun, sondern er ist eine Erschließungskraft in existentiellen Verhältnissen, d.h. im Verhältnis zu sich selbst wie zu anderen Instanzen, bei denen das gleiche Selbstverhältnis vorauszusetzen ist. Unmittelbarkeit des Selbstgefühls 21 und Vermittelbarkeit desselben, ohne seiner dadurch habhaft zu werden, aber eine raumzeitliche, leibliche, zu anderen kommunikative Beziehung eingehen zu können - das vermag als basale Relationseröffnung allein der Glaube. (2) Der Begriff der Persönlichkeit muss folglich einer inneren Struktur genügen, die ein derart komplexes Außenverhältnis prinzipiell möglich macht. Gegenstandsbestimmungen empirischer Theoriebildung („Lehrsätze") genügen nicht, kein unmittelbarer Zugriff ist möglich. Hinzu kommt die herausfordernde Verborgenheit des Innersten im Verhältnis zu sich selbst: Es ist ein „in sich selbst gebeugtes" (Luther: „icurvatus in seipsum" 22 ), d.h. durch sich selbst gefährdet und gerade nicht in sich selbst ruhend oder zufriedengestellt; es ist abgeschlossen für andere und ein „Abgrund" 23 auch für die eigene Einsicht; es ist allenfalls in seiner religiösen Unbedingtheit des Mysteriums kommunizierbar, worin Verborgenheit und Zugänglichkeit sich die Waage halten. Das VonInnen-heraus-Tönen (im Masken-Bild von lat. „persona" 24 ) gibt auch nur eine Außenbeschreibung, zu der die wirkliche Person sich wiederum als Persönlichkeit nur verhalten kann. - Wie aber ist das offensichtlich asymmetrische Verhältnis der existierenden, d.h. an Glauben gebundenen Persönlichkeit zur Persönlichkeit Gottes begründet? „Das Selbst ist ein Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält, oder ist in dem Verhältnis das, dass das Verhältnis sich zu sich selbst verhält; [...] Ist das Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält, durch ein Anderes gesetzt, dann ist das Verhältnis zwar das Dritte, doch dieses Verhältnis, das Dritte, ist dann wiederum eine Verhältnis und verhält sich zu dem, was das ganze Verhältnis gesetzt hat. Ein solcherart abgeleitetes, gesetztes Verhältnis ist das Selbst des Menschen, ein
21
S. § 10.1, Anm. 18
22
Zu Luthers „anthropologischem Strukturmodell" vgl. W. Härle (2005), 183.
23
S. § 12.2, Anm. 28 u. 34 (zur mystischen Tradition des Begriffs); vgl. I. Kant (im Kontext der Kritik der Gottesbeweise), KrV, A 613: „Die unbedingte Notwendigkeit, die wir, als den letzten Träger aller Dinge, so unentbehrlich bedürfen, ist der wahre Abgrund für die menschliche Vernunft."
24
Zur fraglichen Etymologie vgl. M. Fuhrmann, aaO. (s. Anm. 19), 269.
§ 18: Gottes Realität
481
Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält und im Verhalten zu sich selbst zu einem Anderen verhält." 25
(3) Diese grandiose Abbreviatur im Eröffnungsabschnitt von Kierkegaards Krankheit zum Tode, einem programmatisch auf christliche Existenzkategorien zielenden Traktat, liest sich wie eine Übung in Relationenlogik und ist doch vorrangig an der Phänomenologie menschlicher Leidenschaft und Verzweiflung, an Sünde und Glaube interessiert. Das trotzdem auch formal beschreibbare Strukturmodell des Selbst will auf eine Klärung seiner Instabilität und seines immer drohenden Scheiterns hinaus; dessen unterschiedliche Formen aber indizieren zugleich mögliches - und strukturell angelegtes - Gelingen in der Perspektive des Unbedingten: Das Selbst „gründet [...] durchsichtig in der Macht, die es gesetzt hat." 26 Dass dies der Fall ist, zeigt sich in dreifacher Weise: Menschen können an sich selbst verzweifeln (in der conditio humana sind Leidenschaft und Selbstinteresse vorausgesetzt), indem sie sozusagen mit Gewalt das Selbstverhältnis (a) unbedingt positiv, (b) unbedingt negativ oder (c) in ignoranter Weise selbstvergessen zu realisieren versuchen. Jeweils geht es um die Verhältnisbildung, die geforderte Synthese aus einem endlichen und einem unendlichen Orientierungspol, um ein leidenschaftliches Sichverlieren oder Sichgewinnenwollen auf der mehr idealen oder der mehr faktischen Seite des Lebens: Der Spießbürger ist der Inbegriff des Idealitätsverlustes, der Phantast der Inbegriff des Weltverlusts - und so entsteht zwischen Unendlichkeit und Endlichkeit, Ewigkeit und Zeit, Freiheit und Notwendigkeit ein anschauliches und facettenreiches Spektrum von Verzweiflungsphänomenen, die doch alle nicht nur das Problem der Verhältnisbildung auf dieser ersten Stufe, sondern zugleich auf zweiter Stufe das Bewusstsein um das Verhältnis als solches mit sich führen: Woher kommt die Aufgabe, ein Verhältnis sein zu müssen? - Weil es offensichtlich eine zweifache explizite Verzweiflung gibt und diese auch strukturell plausibel darstellbar ist (positiv [a] bzw. negativ [b] die Selbstrealisierung verzweifelt zu wollen), verweist das Verhältnis als diese Realisierungsforderung und Möglichkeit des Scheiterns über sich selbst hinaus auf sein Gesetztsein:
25
S. Kierkegaard, Die Krankheit zum Tode (1849), SKS 11, 129f.; vgl. dt. (1997), 13f.
26
SKS 11, 130; vgl. dt. (1997), 15. - Forschungsdiskussion und Interpretationsprobleme zur Krankheit zum Tode finden sich repräsentativ in: K S Y B 1996 u. 1997; vgl. auch M . T . Mjaaland (2008), chap. I V - V I ; zum Verständnis der formalen Struktur des Selbst-Seins H . Deuser, Grundsätzliches zur Interpretation (1996); Evolutionäre Metaphysik (2004), 71-78.
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V. Das Kontinuum: Religiöse Erfahrung als personale Symbolisierung
Es verhält sich „zu einem Anderen"; denn sonst - wäre das Selbst-Sein ganz aus sich verständlich - gäbe es gar kein Scheitern bei der positiven Selbstdurchsetzung („verzweifelt man selbst sein wollen"), sie wäre ja mit ihrem Grund in sich selbst in Ubereinstimmung. Kierkegaard aber kann zeigen, dass jeder Lebenskonflikt, Schicksalsschlag, die anhaltenden Spannungen zwischen Realität und Idealität jederzeit zu Optionen gegen das (vorhandene, gesuchte, gewollte) eigene Selbst ausschlagen können, es aus der Balance werfen und gegen sich selbst aufbringen. Ausgleich, Stabilität, „Durchsichtigkeit" jener Verhältnisbildungen können nur dann gelingen, wenn das Grund-Verhältnis für die beiden vorausgehenden Stufen zu seinem Recht und Austrag kommt. Die Struktur des Selbst-Seins zeigt an sich selbst die unabweisbare Dimension des unbedingten Grund-Verhältnisses. Erst in dieser Komplexität ist ein Mensch Persönlichkeit, und das Organ und Medium für die „Durchsichtigkeit" dieser Verhältnisse ist der Glaube.17 (4) Das Selbst-Sein, die Ontologie der Persönlichkeit ist folglich nicht darauf angewiesen, ein irgendwie bestimmtes ,Sein' der Seele im Menschen annehmen zu müssen, deren unterstellte ,Substantialität' sich neuzeitlich dann leicht bestreiten ließ28, sondern was Seele genannt zu werden verdient, das ist die relationale Realität der Persönlichkeit bzw. der einzelnen Person, deren Struktur im Selbst-Sein analysierbar wird. P. Ricœurs Projekt einer hermeneutischen, phänomenologischen und zugleich religionsphilosophisch immer wachsamen Verteidigung des Selbst29 unterstützt diese wiederentdeckte Sicht der conditio humana und schließt damit auch an Kierkegaards Vorlagen an. Das Selbst des Menschen hat eine Sonderstellung unter den Dingen dieser Welt: Gegenüber seiner tendenziellen Auflösung in bloße Außenbeschreibungen von fachwissenschaftlich erreichbaren Funktionen ist seine uneinhol27
S. Anm. 18; vgl. entsprechend auch Pap. XI, 2 A 107, p. 114; dt. Tagebücher, Bd. 5, 317: „.Persönlichkeit' ist gebildet in Richtung eines Tönens (personare); in einem anderen Sinne könnte man Persönlichkeit: Durchsichtigkeit nennen." - Vgl. Krankheit zum Tode, SKS 11, 196; dt. (1997), 93: „Glaube ist: dass das Selbst, indem es es selbst ist und es selbst sein will, durchsichtig gründet in Gott"; s. § 14.2.3, Anm. 87.
28
S. Anm. 13; vgl. H. Holzhey: Seele IV, in: H W P 9 (1995), 26-52; 26: „Die neuzeitliche Begriffsgeschichte von [Seele] präsentiert sich im ganzen als eine Geschichte der Schwächung und des Erlöschens einer Uberzeugung"; K. Huxel: Seele II, in: RGG 4 7 (2004), 1098f.; und zur berechtigten Erneuerung und Unvermeidlichkeit der Fragestellung Huxel (2004). Vgl. zum Uberblick P. Ricœur (2005); hier aber vor allem Ricoeur (1996); dazu Ph. Stoellger (2005).
29
§ 18: Gottes Realität
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bare Selbstbeziehung das stärkste Argument: Die „Selbigkeit" (idem) eines Menschen, kontinuierlich wiedererkennbar nur mit seinem „Eigenleib" in der Zeit, ist nicht ablösbar von seiner „Selbstheit" (ipse)30, d.h. dem nur narrativ - in der vorgängigen Sprache31 - zugänglichen Selbstverstehen in Verpflichtungen, Erwartungen und dem thematisierbaren Bewusstsein dieser nie abschließend fixierbaren Auszeichnungen eigenen Lebens. Die Frage nach dem Selbst ist daher immer nur zum Teil eine nach dem „Was", sie muss wesentlich auf die Handlungsinstanz „Wer" gerichtet sein32 - und damit sind Bedingungen im Spiel, die zwar keineswegs willkürlich oder beliebig sind, die aber auf empirische Abgrenzbarkeit ausgehenden Beschreibungen und Prognosen prinzipiell nicht zur Verfügung stehen. Ein Selbst handelt und leidet in unabgeschlossenen Zeit- und Weltdimensionen und verhält sich noch einmal eigens zu diesen. Ein erster Erkenntnisschritt der hier geforderten Ontologie der Person ist die sensible Erzählung der eigenen Geschichte, ohne die ein Selbstverhältnis in Selbstbestimmung und Selbstverantwortung gar nicht gegenstandsadäquat verstanden werden kann.33 Hinzu kommt, dass im Selbstverhältnis, das das Verhältnis zu sich als Eigenleib bereits voraussetzt34, eine Fremdheit und Unterscheidung von sich selbst auftritt, die die Fülle der Differenzen erzeugt: Zu „existieren" heißt, sich selbst in der Andersheit von Lebensentwürfen gegenübertreten zu müssen (wie es Kierkegaard in den Verzweiflungsformen analysiert hat), und damit auch der Frage nach dem Grund dieser problematischen Relationenbildung nicht entgehen zu können. Sie macht offenbar die wesentliche Herkunftserfahrung des Selbst sich selbst und anderen gegenüber aus: Sich so zu empfinden, wie es innerhalb der Verhältnisstruktur nicht von außen gesehen, sondern nur als
30 31
Ricoeur (1996), 144ff. ; 384ff. Vgl. Ricœur (2005), 239: „Gehören werden, das heißt, in einer Umgebung erscheinen, in der bereits von uns gesprochen wurde." - AaO. 247: Durch den „Begriff der narrativen Identität [...] könnte die Philosophie der Person von den falschen Problemen befreit werden, die aus dem griechischen Substantialismus entstanden sind [...]: Unveränderlichkeit eines atemporalen Kerns oder Zerstreuung in Eindrücken".
32
Vgl. Ricœur (1996), 75ff.; (2005), 240ff. - Vgl. in diesem Sinne auch R. Spaemann (1996), 258: „Es gibt keinen gleitenden Ubergang von .etwas' zu jemandem'." Ricœur (2005), 245f.; vgl. D. Thomä (2007), 48f. (im Bezug auf Kierkegaard).
33 34
Das gilt auch für Kierkegaard, genauer: Die Syntheseanforderungen im Verhältnis von Körper und Seele (Der Begriff Angst, vgl. Kap. I, § 5), aus denen die Angst resultiert, sind für die Relationalität des Selbst in der Krankheit zum Tode schon vorgegeben.
484
V. Das Kontinuum: Religiöse Erfahrung als personale Symbolisierung
unvermeidlich fordernd, d.h. als gegeben anerkannt werden kann. W o Kierkegaard im (gelingenden) Verhältnis z u m Gesetztsein des Selbst von Glaube spricht, experimentiert Ricœur mit dem dafür neu gewählten Begriff der „Bezeugung'': So kann für sich nur ein bestimmtes, identisches Selbst sprechen, das damit zugleich sein - für andere verborgenes - Selbstverhältnis sich und anderen zeigt und damit Bindungen, Zukunftschancen, Abhängigkeiten, mögliches Handeln und Aushaltenmüssen etc. erst entwirft und als Selbst realisiert. So ist in Wahrheit das Selbst eines Menschen 3 5 ; so zu glauben - nicht als „glauben, dass", sondern im Sinne von „Ich glaube an" 3 6 - ist wesentlich, u m das Selbst als Verhältnis zu sich und in sich zu A n d e r e n / m überhaupt korrekt einstufen zu können. Die Relationalität des Selbst beruht auf internen und externen Verhältnisbildungen; und darunter ist entscheidend das Selbstempfinden der eigenen „Unverfügbarkeit" 3 7 , die so (auch im Wechselverhältnis von Selbst und Anderen) für alle Selbsterfahrungen als fundierend angenommen werden muss, die als „Passivität" charakterisiert und auf die nur in ebenso besonderer Weise reagiert werden kann. Schon das Leib-Sein-Müssen, das Allereigenste hat auch Züge des Anderen 3 8 , erst recht wird Fremdes nicht aus der Eigenaktivität des Selbst heraus erfahren, sondern z.B. als „Verpflichtung" 3 9 ; und schließlich nennt Ricœur als den wirksamen Ort der Vermittlung zwischen Selbst und A n d e r e n / m noch das „Gewissen". 4 0 In allen drei Fällen werden im und durch das Selbst Ansprüche, Anforderungen und Pflichten übernommen, als Differenzen z u m Eigenen erfahren und doch in eine produktive Verhältnisbildung, d.h. (wieder) zu gewinnende Selbstheit versetzt. Dass diese Prozesse erzählend, phänomenologisch, strukturanalytisch etc. immer nur im Respekt vor der Vorrangigkeit des jeweiligen (existentiellen) Lebenszusammenhanges aufgenommen werden
35
Vgl. Ricœur (1996), 32f. u.ö.
36
Ricœur, aaO. 33. - Damit ist hier ein Uberschneidungsfeld von testimonialem und personalem Glauben gemeint, s. § 9.1, Anm. 26.
37
Vgl. E. Herms: Person IV, in: R G G 4 6 (2003), 1123-1128; 1126 (wo nach „Selbständigkeit", „Relationalität" und „Selbstbezüglichkeit" die „Unverfügbarkeit" als „Implikat" der Selbstbezüglichkeit eingeführt wird). Ricœur, aaO. 390ff. - Das muss keine dualistische Färbung annehmen (vgl. die in diesem Sinne kritische Darstellung von Stoellger [2005], 283ff.), jedenfalls dann nicht, wenn mit Kierkegaards Begriff Angst (s. Anm. 34) die geforderte Synthese von Leib und Seele auf die Entdeckung der Freiheit hin ausgelegt wird. Ricœur, aaO. 397.
38
39 40
A a O . 41 Off.; vgl. in sachlicher Parallelität E. Herms: Selbst IV, in. R G G 4 7 (2004), 1155f.
§ 18: Gottes Realität
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können, ist zu konzedieren; worin ist aber die Instanz zu sehen, die als Träger jener Prozesse in Betracht kommt? Ist dann doch ein „transzendentaltheoretisches" Selbst zu konzipieren bzw. schon beansprucht, oder geschieht es kraft Andersheit und Fremderfahrung, dass das Selbst in seine Relationalität, d.h. zu sich selbst findet?41 Um beides zu vermeiden: die Rückkehr zur Ich-Philosophie der Subjektivität, die nicht aus der unableitbaren Offenheit der Phänomene heraus denkt, und die Ubertreibung eines entweder empirisch oder metaphysisch unvermittelten Gegensatzes von Erfahrungsgegenstand und Selbsterfahrung um also religionsphilosophisch gehaltvoll der Ontologie der Person gerecht werden zu können, müsste die Persönlichkeit als immer vorrangiges Ereignis aufgesucht, als Struktur beschrieben und als Realität begründet werden, ohne eine dieser Dimensionen aufzugeben oder auf eine andere zurückzuführen. Dieser Anforderung genügt die personale Symbolisierung. (5) Die Begriffsbildung personale Symbolisierung baut auf Peirce' Semiotik, seine Kontinuumstheorie (Synechismus als evolutionäre Metaphysik) und deren religionsphilosophisches Potential, wie es sich am dichtesten im Gottesargument (N.A.) präsentiert. Der Symbolbegriff wird dabei in einem weiteren Sinne gebraucht, nämlich zusammenfassend für ganz unterschiedliche Interpretationsleistungen (.Interpretanteη42), die alle die Objektbeziehung bereits in einem konventionellen Zeichen zum Ausdruck bringen und in gestufter Weise Distanz zu konkreten Qualitäten, Gegenstandsbindungen und Bewusstseinsformen üben. Wenn Peirce im N.A. von der „SEELE des ZEICHENS" spricht und als Illustrationen u.a. „lebendiges Bewusstsein", „Wachstumskraft einer Pflanze", „Tageszeitung" und „ein großes Glück" anführt43, so handelt es sich zweifellos um Symbole - aber eben um solche, deren Lebendigkeit die Qualitäten, Gegenstandsbindungen und Interpretationsprozes41
Vgl. zu dieser Rückfrage Stoellger, aaO. 293, 299. - Für Ricoeur geht es bei der zweiten Alternative um eine Distanznahme gegenüber der „ab-soluten Andersheit", wie sie E. Lévinas vertreten hat, vgl. Ricoeur, aaO. 405. Ricceurs eigene Lösung ist zuletzt (aaO. 421) der integrative, unwiderstehliche, das Selbst bildende „Imperativ" des/der Anderen: „Liebe mich", der aus der Interpretation des Hohen Liedes, wie sie F. Rosenzweig im Stern der Erlösung gegeben hat, aufgenommen wird (Rosenzweig [1993], 197, 229); auch dies in großer Nähe zu Kierkegaards emphatischem Text (in Form einer Rede): Du sollst lieben, vgl. SKS 9, 25ff.; dt. Ges Werke, 19. Abtig., 21ff.
42
Im Anschluss an die Zeichenklassifikation (10 Trichotomien), s. § 10.2 (Schema 3), Anm. 22.
43
RS, 331.
486
V. Das Kontinuum: Religiöse Erfahrung als personale Symbolisierung
se einschließt, die verhaltensbildend auch künftige Entwicklungen betreffen. 44 Solche Symbolisierungen können, in der Perspektive ihrer Interpretanten, mehr qualitativ, gegenständlich, emotional, handlungsbezogen, theoretisch etc. ausfallen - entscheidend ist, im Symbol den lebendigen Prozess dargestellt und vermittelt zu sehen, der sich anders gar nicht kommunizieren lassen kann. Subjektive wie objektive Vorstellungen von Gegenstandsbeziehungen, Personalität und Sozialität, Gott und Welt sind in diesem Sinne Symbole, in und mit denen gelebt und gehandelt wird. Das „Universum" als „großes Symbol für Gottes Absicht" zu bezeichnen 43 , liegt auf genau derselben Linie, nur das hier zusätzlich kosmologische Symbolisierungen und die Logik der (religiösen) Abduktion vorausgesetzt werden: Dass Gott als - personal - handelnd im Gegenüber zum geschaffenen Prozess der Erfahrungsuniversen repräsentiert werden kann, geschieht auf der Basis von Imagination (religiöser Symbolisierung), unter Bezug auf die erfahrbaren Wert- und Sinnimplikationen (pragmatistische und kosmologische Symbolisierung) und unter Berufung auf die argumentativ darstellbare GrundBeziehung des Universums (metaphysische bzw. theologische Symbolisierung), wie sie aus Kontinuums- und Abduktionstheorie folgt. 46 (6) Personalität gehört aus zwei Gründen genuin zur Symbolisierung: Erstens bringt es das (evolutionäre) Kontinuum von abduktiver Denkfähigkeit und Prozessuniversum mit sich, dass anthropomorphe Denkformen unvermeidlich und kreativ zum Einsatz kommen, keineswegs automatisch als wissenschaftliche Fehlformen ausgeschaltet werden müssen; und zweitens kann die Personalität selbst nur als Symbol in ihre Qualität, Bindungskraft und Handlungsorientierung wirklich 44 45 46
RS, 344: Symbole sind Zeichen, „die ihre OBJEKTE i m wesentlichen deshalb darstellen, weil sie künftig so interpretiert werden." VP, 78; EP 2, 193. Diese drei Stufen entsprechen den drei Trichotomien des „normalen Interpretanten": 8.-10. Trichotomie mit dem [dynamischen] Objektbezug über seine Möglichkeit, Wirklichkeit und Regularität (vgl. G. Linde [2009], Kap. IV.2.3.4Í. u. IV.3.1) bzw. der im Rahmen der Kontinuumsvorstellung entwickelten Schritte Imagination, Normativität und Gottes Realität, s. § 16-18. - Zu Nähe und Ferne dieses Symbolgebrauchs i m Vergleich zur Symbollehre P. Tillichs vgl. H . Deuser, Gottes Poesie (2007); deshalb kann auch Tillichs Begriff des „Sein-Selbst" (das die analogia entis" voraussetzt [Tillich, Systematische Theologie I, 278]) durch den semiotisch begründeten Begriff des Selbst-Seins ersetzt werden. Diese Interpretation steht zwar in engem Kontakt zu Kierkegaard, nicht aber zu dessen Rezeption in der dt. Existenzphilosophie (vgl. A. Hügli: Selbstsein, in: H O T 9 [1995], 520-528).
§ 18: Gottes Realität
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erfasst werden. „Personal" zu denken, liegt also in der Natur der Sache47, was im Prozess von Erfahrung und Uberprüfung ständige Korrekturen einschließt; „personal" ist aber vor allem das geistige, ideale, zweckorientierte Moment im Zeichenprozess wie im Handlungszusammenhang - und dafür steht Personalität·. „dass eine Person nichts weiter als ein Symbol ist, das eine allgemeine Idee einschließt [...], dass jede allgemeine Idee das einheitliche, lebendige Gefühl [feeling] einer Person hat. [...] Esprit de corps, Nationalgefühl, Sym-pathie sind keine bloßen Metaphern. Keiner von uns kann ganz ermessen, was der Gemeinschaftsgeist ist, ebensowenig wie eine meiner Gehirnzellen wissen kann, was das ganze Gehirn denkt. Aber das Gesetz des Geistes weist klar auf die Existenz solcher Persönlichkeiten hin f...]." 48 Personalität „impliziert eine teleologische Harmonie unter den Ideen, und im Falle der Persönlichkeit ist die Teleologie mehr als das absichtliche Verfolgen eines vorherbestimmten Zieles. Es ist eine sich entwickelnde Teleologie. Das ist der persönliche Charakter. Als eine allgemeine, lebendige und jetzt bewusste Idee ist er schon für Handlungen in der Zukunft in einem Ausmaß ausschlaggebend, dessen er sich jetzt gar nicht bewusst ist. Diese Beziehung auf die Zukunft ist ein wesentliches Element der Persönlichkeit. Wenn die Ziele einer Person schon explizit wären, so gäbe es keinen Raum für Entwicklung, Wachstum und Leben [...]. Diese Bemerkung lässt sich auf die Religionsphilosophie anwenden. Eine echte evolutionäre Philosophie, d.h. eine, die das Wachstumsprinzip zu einem ursprünglichen Element des Universums macht, ist der Idee eines personalen Schöpfers so wenig abhold, dass sie von dieser Idee wirklich nicht zu trennen ist." 49
Das Gesetz des Geistes fasst semiotische und kosmologische Prozesse zusammen zur einheitlichen Begründung von Verhaltensbildungen, Entdecken und Wirken von Naturgesetzen, Symbolisierungen als Wirksamkeit von Ideen und der Idee göttlicher Kreativität.50 Religionsphilosophisch entscheidend sind die folgenden Aspekte: 47
Vgl. zu Begründung instinktiven, abduktiven, anthropomorphen Denkens VP, 28f.,144f.; EP 2, 152, 241; s. § 3.2, Anm. 52f.; H. Deuser, Gottesinstinkt (2004); 144ff.; zu Peirce' „semiotischem Anthropomorphismus", der zur Logik der Hypothesenbildung gehört, H. Pape, in: NZ, 43f., 54-59.
48
NZ, 233f. („feeling" ist hier durch „Empfindung" übers.); EP 1, 350 (Man's Glassy Essence [1892]). NZ, 206f. (Forts, des Zitats s. § 10.1, Anm. 18); EP 1, 331 (The Law of Mind [1892]). Vgl. H. Papes Thesen zu Peirce' „objektivem Idealismus", in: NZ, 41f.: Es gibt einen „geistigen Entwicklungsprozess von Regelmäßigkeit in diesem Universum, der von Zuständen größerer Zufälligkeit ausgeht und dessen Grenze die Identität von Geist und Materie ist." - Diese Entwicklung ist „nicht reversibel und legt dadurch eine Zeitrichtung fest, so dass die wichtigste Funktion aller Darstellungsformen ist, Regularitäten künftiger Ereignisse in Ubereinstimmung mit dem Ziel auszuwählen, künftig weiterhin Ziele wählen zu können."
49 50
488
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V. Das Kontinuum: Religiöse Erfahrung als personale Symbolisierung
Der so begründete Personbegriff ist in seinen Voraussetzungen weder substantial noch funktional bestimmt, sondern allein in der leib-seelisch-geistigen Relationalität eines Selbst, das Gefühlsqualität, Selbstbeziehung (zu sich und Anderen/m) und die Idealität von handlungsrelevanten Zwecksetzungen in der Zeit umfasst. Rein individuelle Personalität ist dann ein Grenzbegriff, der nur durch Ausschließung vom Zusammenhang mit der Gemeinschaft der Menschen zustande kommt. Das Selbst-Sein ist immer ein Sowie-andere-Sein (bis auf die jeweilige Ausgangsperspektive) in gegebenen und gestaltbaren Zusammenhängen. 31 Dass Symbolisierungen personal zu verstehen sind, hat immer einen Gemeinschaftsbezug, der durch die raumzeitlichen Verbindungen und Erstreckungen von handlungsrelevanten Ideen bewirkt wird. In allen Ideen steht ein kreativer Ursprung 52 in Relation zu wirklichen Gegenständen im Blick auf künftige Realisierungen, und diese Konstellation lässt sich ihrer Theorie und Praxis nach nur semiotisch klären: Geist wie Persönlichkeit stellen sich dar in und durch Zeichenprozesse - in intra- wie interpersonaler Kommunikationsfähigkeit. d3 Interpersonalität aber ist zugleich ein Drittes im Gefühl und in der Idee der Gemeinschaft 54 , auch dafür steht die personale Symbolisierung: Kollektiven Geist ,gibt' es, ohne dass er als solcher (empirisch) direkt fixiert werden kann. Aber Symbole erfassen genau diese prinzipiell weiterreichende Wirkung, Zweckorientierung und (teleologische) Entwicklungsoffenheit, die wiederum mit dem kreativen, d.h. nicht-deterministischen Ursprung zusammenhängt. 55
51
Vgl. RS, 205Í. (Unsterblichkeit im Licht des Synechismus [1892/93]; C P 7.571Í.): „unsere Nächsten [sind] gewissermaßen wir selbst" (gegen „die barbarische Vorstellung von persönlicher Identität"). - Zur Ableitung dieses Zusammenhanges vgl. V.M. Colapietro (1989), 61-65; zum entsprechenden Gedanken des Wechselverhältnisses zwischen Persönlichkeit und Gemeinschaft bei Schleiermacher vgl. U . Dierse/R Lassahn, aaO. (s. Anm. 19), 347; J . Dittmer (2001), 524ff.
52
Zur Bedeutung des Begriffs Kreativität (hier im Anschluss an die Prozessphilosophie A . N . Whiteheads) vgl. T . Müller (2005); kritisch zu Whiteheads Religionsphilosophie S. Wendel (2005); zu den naturwissenschaftlichen Kontexten E. Wölfel (1994); s. § 11.2.
53 54
Vgl. Colapietro, aaO. 91, 103ff. S. § 16.2, Anm. 48; vgl. H. Deuser, Gottesinstinkt (2004), 228-233.
55
Zu Peirce' Beispielen für die Wirksamkeit des Geistes in Gemeinschaften zählen konsequent auch das gemeinsame Gebet oder Symbolisierungen wie die der „streitende Kirche Christi" oder der „Braut Christi", vgl. N Z , 234; EP 1, 350f.
§ 18: Gottes Realität
•
489
Allein so sind „Wachstum und Leben" zu erklären und für künftiges Verhalten wirksam. Die religionsphilosophische Konsequenz stellt keine zusätzliche oder fremde Wendung dar, sondern sie ergibt sich aus der semiotisch und kosmologisch konzipierten Personalität: Realität als Prozess ist „personal" zu symbolisieren, weil die Generalisierung von Ideen auf kreativer (unbedingter) Ursprünglichkeit beruht, die in Verhaltenstendenzen Gestalt gewinnt, also genau dem Begriff der Persönlichkeit genügt. Diese Realitätskraft als solche aufzusuchen, anzusprechen und lebensorientierend auszuarbeiten, daran ist die gesamte menschliche Kultur (einschließlich Wissenschaft) beteiligt, in spezifischer Weise aber - dank Versonnenheit, Ritual und Abduktion - die Imaginationsleistung der geschichtlichen Religionen bzw. persönlicher Religiosität. Das N.A. selbst spricht zwar nicht von einem persönlichen Gott, setzt aber die entscheidende Differenz zwischen Existenz und Realität voraus56, d.h. die personale Lebendigkeit Gottes ist real - so wie im Begriff der Personalität kontinuierlich Ideen kreativ und wirksam „allgemein verknüpft sind": Gott ist ein lebendiges Zeichen.57
•
Der Gottesbegriff (im Rahmen einer geschichtlichen Religion) erschließt zugleich die Realitätskraft der Erfahrungsuniversen38 und den personalen Zugang zu ihnen bzw. die Orientierung in ihnen. Die Struktur des Selbst-Seins entspricht dann (in christlicher Tradition) genau der trinitarischen Personalität Gottes59: Erste Person: ikonische Erstheit ursprünglicher Kreativität. - Zweite Person: indexikalische Zweitheit wirklicher Verhaltenstendenzen. Dritte Person: symbolische Drittheit des realen Prozesses. In dieser
56
Vgl. RS (ein Ms. aus dem Jahr 1905), 288: Existieren wird definiert als „reagieren mit anderen ähnlichen Dingen in der U m w e l t " , so dass „es selbstverständlich Fetischismus" wäre „zu sagen, dass G o t t ,existiert'." - Zur Definition von „real" ebd. 288f., und dann zu Beginn des N . A . , RS, 329: Real bezeichnet Gegenstandsmerkmale, „die dieser unabhängig davon besitzt, ob sie ihm von einem einzelnen oder einer Gruppe von Menschen auf irgendeine Weise zugeschrieben werden oder nicht." - Zur Ableitung von Personalität im Zusammenhang von N . A . , Kosmologie und Kontinuitätsbegriff vgl. K. Hull (2005), 504ff.
57
N Z , 201; E P 1, 327; vgl. Hull, aaO. 505f.
58
Vgl. RS, 330f.; im Zusammenhang der kosmologischen Dreistelligkeit von Tychismus, Agapismus und Synechismus s. A n m . 9ff., A n m . 14f.
59
Vgl. H . Deuser, Gottesinstinkt (2004), 104-111; Trinität (2006); A . J . Robinson (2004). - Zur R e l a t i o n a l s t des Personseins in Gott vgl. E. Herms, aaO. (s. A n m . 37), 1124f.
490
V. Das Kontinuum: Religiöse Erfahrung als personale Symbolisierung
Weise bleibt die religiöse Erfahrung des Unbedingten dreigliedrig, auch wenn sich diese Struktur in den geschichtlichen Religionen ganz unterschiedlich realisiert hat. Gottes Realität ist und bleibt eine Herausforderung für Erfahrung und Denken - in der Struktur des Selbst-Seins.
2. Theodizee Sind die negativen Erfahrungen - Entwicklungsausfälle, Vernichtungen, Scheitern, Leiden, Tod, (bewusste) Bösartigkeit und die allfälligen Katastrophen in Natur und Kultur - nicht ein gravierender Einwand gegen das Modell der Kontinuität, der synechistischen Dreigliedrigkeit und Personalität? - Die Religionen haben längst vor Leibniz' Formulierung des Theorieproblems der Theodizee60 ganz ursprünglich auf die nicht-guten, nicht-sinnvollen, tödlichen Lebensbedingungen reagiert: In der Adressierung eben dieser Bedingungen in Ritual, Mythos und Lebensformen, die den unvermeidlichen Umgang mit jenen Erfahrungen zur Darstellung bringen und damit eine Bearbeitung ermöglichen; und in der mehr oder minder gedankliche Konsistenz suchenden Ausbildung von Lehren, die jener Herausforderung genügen könnten. 61 Der Stachel des Leidens und des Bösen verlangt angemessene Umgangs- und Erklärungsformen, die Bewusstheit und Unausweichlichkeit des Problems hat sich mit der Entstehung monotheistischer Theologien noch gesteigert und erst recht die neuzeitliche Religionsphilosophie musste 60
Vgl. G.W. Leibniz, Theodizee (1710). - Der Begriff, von Leibniz i m Anschluss an R o m 3, 4f. für die überlegene Gerechtigkeit Gottes gegenüber ihren Bestreitungen gebildet, w i r d seither i m weiteren Sinn nicht nur für dieses Theorieproblem neuzeitlicher Rationalität, sondern auch für die auf negative Erfahrungen insistierenden Anklagen der göttlichen Souveränität angesichts des unbestreitbar Bösen in der Welt benutzt, vgl. P. Gerlitz/H. Rosenau: Theodizee I/IV, in: TRE 33 (2002), 210-215, 222-229; M . Sarot/W. Spam: Theodizee IV/V u. VI, in: RGG 4 8 (2005), 227-235; I.U. Dalferths detaillierte begriffliche Analysen wollen dagegen zeigen, dass die Theodizee als Teilproblem der viel umfassenderen „Hermeneutik des Bösen" aufzufassen ist, vgl. Dalferth (2008).
61
Zur Schlüsselstellung (religiöser) Rituale s. § 17, A n m . 12; zur unterschiedlichen Lehrbildung der großen Religionen i m Blick auf die negativen Erfahrungen der conditio humana vgl. R . C . Neville, The H u m a n Condition (2001), 253: „The predicament of the human condition is manifested variously in disorientation and disharmony, in physical and emotional suffering and in destructive and immoral behavior"; zu entsprechenden Bearbeitungen in der chinesischen, buddhistischen, hinduistischen, jüdischen, christlichen und islamischen Religionstradition aaO. 253-259.
§ 18: Gottes Realität
491
sich notwendigerweise in diesem Punkt als Wissenschaft profilieren. 62 Am biblischen Beispiel orientiert sind es zumindest die folgenden drei Verankerungen der (kosmologischen) Welt-, Selbst- und Gotteserfahrung, die zu bewältigen, d.h. auch zusammen zu denken sind: „Gott sprach: Es werde Licht. Und es wurde Licht. [...] Gott sah alles an, was er gemacht hatte: Es war sehr gut." (Gen 1, 3 u. 31a) „Danach tat Ijob seinen Mund auf und verfluchte seinen Tag [...]. Ausgelöscht sei der Tag, an dem ich geboren bin [...]. Jener Tag werde Finsternis, nie frage Gott von oben nach ihm, nicht leuchte über ihm des Tages Licht. Einfordern sollen ihn Dunkel und Finsternis, Gewölk über ihn sich lagern, Verfinsterung am Tag mache ihn schrecklich." (Hi 3, 1-5) „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen, bist fern meinem Schreien, den Worten meiner Klage? Mein Gott, ich rufe bei Tag, doch du gibst keine Antwort; ich rufe bei Nacht und finde doch keine Ruhe." (Ps 22, 2f.; vgl. Mt 27, 46)63
(1) Mit dem eigenen Leben sind Licht, Lebensraum und die Güte der Verhältnisse gegeben, und sie stehen im Kontrast zu Dunkel, Höhle und Gefahr, die im übertragenen Sinn schnell als Nacht der Desorientierung, des Sinn- und Lebensverlustes erscheinen. 64 Die (wissenschaftliche) Aufklärung nutzt deshalb das Bild vom Lichtkegel des Wissens, der aber, je schärfer er eingestellt wird, desto mehr den Blick über seine Ränder hinaus blockiert. Ob es wirklich ungebrochene Sinnzusammenhänge gibt, bleibt existentiell gesehen eine bedrohliche Frage. 65 Die religiöse Auseinandersetzung damit bringt die erfahrenen Einschnitte in die Güte des Zusammenhanges mit wachsender Schärfe zum Ausdruck und zu Bewusstsein: Mythische Göttererzählungen helfen auf einer anderen Ebene, Leiden und Böses anschaulich zu machen; sie können deshalb aber auch vom wirklichen Geschick ganz abgekoppelt werden bzw. diesem selbst ausgeliefert erscheinen. Erst wenn einer und derselbe Gott für alles Geschaffene verantwortlich gesehen wird, kann Hiobs Klage als Anklage rückhaltlos adressiert werden 66 : Dass die Finsternis nicht über das Licht triumphieren möge! Die Finsternis erscheint hier noch als Gott gegenüber ausgegrenztes fremdes Reich, und der wohl äußerste Schritt, Leiden im Namen Gottes und mit ihm im Kla-
62 63 64 65 66
Vgl. W. Sparn, aaO. 228ff. Vgl. H. Kessler (2000), 14f. S. § 4.2. S. § 14.2.2, Anm. 49. S. § 4.1.
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V. Das Kontinuum: Religiöse Erfahrung als personale Symbolisierung
gezusammenhang zum Austrag zu bringen, ist im Klagepsalm, den Gottesknechtsliedern (Deuterojesaja67) und schließlich in Uberschneidung und Gegenrichtung von Gott und Mensch, Licht und Finsternis erreicht, wie sie in Passion und Auferstehung des Gottessohnes personal symbolisiert werden. (2) Zu einem Theorieproblem ersten Ranges kommt es erst dann, wenn ein theistischer Gottesbegriff aus absoluten (positiven) Eigenschaften68 so definiert wird, dass die menschlichen (negativen) Erfahrungen erklärungsbedürftig werden, weil letztere zumindest Gottes Allmacht, Güte und Allwissenheit nicht mehr sinnvoll zugeordnet werden können: Wenn Gott als Schöpfer Alles vermag, Gutes will und die Folgen kennt - dann kollidiert dieser Gottesbegriff mit der furchtbaren Qualität des Leidens und des Bösen im Einzelnen und der unübersehbaren Quantität negativer Ereignisse im Ganzen der Welt.69 Die klassische Formulierung des Problems kann auf Epikur zurückgreifen: „Entweder will Gott die Übel beseitigen und kann es nicht, oder er kann es und will es nicht, oder er kann es nicht und will es nicht, oder er kann es und will es. • Wenn er nun will und nicht kann, so ist er schwach, was auf Gott nicht zutrifft. • Wenn er kann und nicht will, dann ist er missgünstig, was ebenfalls Gott fremd ist. • Wenn er nicht will und nicht kann, dann ist er sowohl missgünstig wie auch schwach und dann auch nicht Gott.
67
Vgl. M. Weber (2008), 272: „Die literarische Exilsprophetie hatte vor allem die radikalste und [...] die einzig wirklich ernsthafte Theodizee geschaffen, welche das antike Judentum überhaupt hervorgebracht hat. [...] eine Apotheose des Leidens, des Elends, der Armut [...], wie sie in dieser Konsequenz nicht einmal in der neutestamentlichen Verkündung wieder erreicht worden ist." Als „formal vollkommenste Lösung" hatte Weber die indische „,Karman'-Lehre" (der Seelenwanderung) bezeichnet, weil darin eine konsequent innerweltliche Vergeltung am Werke ist - im Unterschied zu den beiden anderen noch denkbaren Modellen des ontologisch-religiösen Dualismus und der (eschatologisch) auf das Jenseits Gottes verschobenen Entscheidungen, vgl. Weber, Religiöse Gemeinschaften (2005), 85f.; P. Gerlitz, aaO. (s. Anm. 60), 210ff.; zur Kritik an Webers Typologien (als in zu weitem Sinne von der Moderne her konzipiert) Dalferth (2008), 12, Anm.18.
68
S. § 17.3.1, Anm. 97f.; zur religionsphilosophischen Diskussion der „theistisch" konzipierten Eigenschaften (Sein, Allmacht, Allwissenheit, Güte, Einfachheit, Ewigkeit etc.) vgl. z.B. Ph.L. Q u i n n / C h . Taliaferro (Ed.), Companion (1999), part V.
69
Als formales Argument gefasst (vgl. Dalferth, aaO. 56): „Wenn es Gott gibt, dann gibt es kein Ubel."/„Es gibt Ubel."/„Ergo: Es gibt keinen Gott."
§ 18: Gottes Realität •
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Wenn er aber will und kann, was allein sich für Gott geziemt, woher kommen dann die Übel und warum nimmt er sie nicht weg?" 70
Die Lösungsstrategien sind begrenzt, und auch die von Leibniz71 genutzte Differenzierung der Übel in metaphysische („ünvollkommenheit"), physische („Leiden") und moralische („Sünde") ändert nichts an dem Gesamtproblem, dass eine offensichtlich ungenügende Welt zugleich Gottes gute Schöpfung, in Leibniz mathematischphilosophischer Diktion: „die beste [...] aller möglichen Welten"72 sein muss. Lässt sich das nicht nur dann aufrecht erhalten, wenn zugleich der Begriff der Allmacht begrenzt, das Übel abgeschwächt, die Weltentwicklung optimistischer und der böse Wille als vermeidbare Schuld der Menschen verstanden werden? Alle diese Wege sind gegangen worden und werden weiter ausprobiert. Im Kern gibt es drei Möglichkeiten: Erstens könnte versucht werden, das Göttliche und das Übel als das Nicht-Göttliche zu trennen, d.h. das Problem dadurch zu lösen, dass das erkennbar Negative entweder gar nicht oder nicht religiös erklärt wird. Zweitens kann eingeräumt werden, dass das unwidersprechliche Auftreten der Übel mit dem Gottesbild zu tun hat, und dann kommt es entweder zur Verteidigung Gottes (Theodizee im Wortsinn) oder zu atheistischen Konsequenzen. Schließlich kann drittens eingeräumt werden, dass von der primären Stellung des (religiösen) Gottesbildes her die negativen Erfahrungen gerade als dafür einschlägig ernst genommen werden müssen, und dann kommt es zur Revision oder Ersetzung des theistischen Gottesbegriffs bzw. zu Denkmodellen, die beiden Seiten ungeschmälert gerecht werden wollen - wie Leibniz es versucht hat. Die erste Möglichkeit, die Auflösung des Problems durch Ignoranz, lässt sich sowohl aus Erfahrung wie mit religionsphilosophisch guten Gründen so verabschieden, wie Kierkegaard den Fall pariert hat, Angst und Verzweiflung - als die allgemeinen Bedingungen menschlichen Geistes zur Entdeckung der Freiheit und des Gottesverhältnisses (d.h. von Sünde und Glaube) - leugnen zu wollen: Solche
70
71 72
Zit. nach J. Bauke-Ruegg (1998), 39 (die Gliederung des Zitats wurde verändert). - Epikurs (341-270 v.Chr.) Text ist überliefert bei Laktanz (ca. 250-ca. 325); auch wenn hier der (religions-)historische Kontext von dem der neuzeitlichen Philosophie stark abweicht (vgl. Dalferth, 41f.), Epikur trifft das Problem in nuce. Vgl. Leibniz, aaO. (s. Anm. 60), llOf. (§ 21), 449ff. Leibniz, 101 (§ 8).
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V. Das Kontinuum: Religiöse Erfahrung als personale Symbolisierung
Ignoranz ist „Geistlosigkeit" 73 , denn es ist geradezu eine „Form der Verzweiflung" zu behaupten, „nicht verzweifelt zu sein".74 (3) Wird eingeräumt, dass das Auftreten von Leiden und Bösem die Gottesvorstellung betrifft, so greifen die Theodizee-Argumente, exemplarisch die Interpretation des Bösen als Abschattung des Guten (privado boni) und die Parteinahme für die menschliche Freiheit (und die Entscheidungsoffenheit des Kosmos) als unumgängliche, wenn auch negativ ausschlagende Gütezeichnen der Schöpfung. 75 Aus der aktuellen Diskussion lässt sich soviel entnehmen, dass einerseits das Erklärungspotential der scholastischen wie der neuzeitlichen Lösungen 76 , Böses als (unvermeidlichen) Teil des eigentlich guten Wesens aller Dinge oder als Erziehung zu diesem oder als bloßes (Selbst-)Missverstehen des (guten/bösen) Willens zu funktionalisieren, inzwischen erschöpft ist: Leiden und Böses sind massiv, wirklich und von einer „Gemeinheit" 77 , die vorbehaltlos und uneingeschränkt ernst genommen werden muss. Andererseits demonstriert die ungebrochene Aspektvielfalt und Intensität im Ringen um die (Willens-)Freiheit im Kosmos und als Bedingung wirklichen Menschseins, dass hier die eigentliche Verankerung zugunsten oder zuungunsten einer Theodizee zu suchen ist. Ohne Freiheit mit Leibniz 78 : „Intelligenz", „Spontaneität" und „Zufälligkeit" - keine vorstellbare wirkliche Welt. Ob und wie Gott aber verantwortlich/ nicht-verantwortlich für menschliches (willentliches) Handeln wie für den kosmologischen Prozess der Welt ist, bleibt ein prekäres Prob-
73 74 75 76
77 78
Kierkegaard, Begriff Angst (1992), 112f. (Kap. III, § 1). Kierkegaard, Krankheit zum Tode (1997), 25 (Erster Abschn. B). Vgl. zur Übersicht (s. Anm. 60) auch Kessler (2000), Kap. II; W . Löffler (2006), 128-131; Dalferth, aaO. Kap. I.C. u. II,1.C. Vgl. zur kritischen Analyse der scholastischen Denktradition der Austauschbarkeit von „Sein und Gutsein" (woraus die Unselbständigkeit des Bösen folgt) F. Hermanni (2002), 80ff. passim; 137: „Wenn das Böse etwas Wirkliches ist, dann muss erstens ein Kernstück der klassischen Ontologie verabschiedet werden, [...] dass das Wirkliche als solches gut ist. Unter der Voraussetzung der Wirklichkeit des Bösen widersprechen sich zweitens die beiden theologischen Annahmen, dass Gott der Ursprung aller endlichen Wirklichkeit, nicht aber Ursprung des Bösen ist." K. Berner (2004), 80. Leibniz, 320 (§ 288); vgl. Hermanni, 187ff. - Leibniz kosmologische Erklärung, „alle faktischen Übel als notwendige Bedingungen des Weltbesten" zu rechtfertigen (213), erscheint als Zirkelschluss, weil die Annahme, Gott wähle nur die beste aller möglichen Welt, bereits voraus geht (218f.). Leibniz denkt unter „theologischen Voraussetzungen", vgl. Dalferth, 186.
§ 18: Gottes Realität
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lem. Leibniz neue Lösung, die faktische Ereignisfülle des Universums nicht als wirre Sammlung von blinden Zufällen, sondern Zufälligkeit als Kontigenz7') - und diese als unendliches Kontinuum zu denken, sollte, bei aller berechtigten Kritik seines darauf gegründeten Gottesbeweises, als wegweisend wieder entdeckt werden: „gäbe es nicht die beste ([mathematisch] optimum) aller möglichen Welten, dann hätte Gott überhaupt keine erschaffen. [...] Wissen muss man, dass in jeder möglichen Welt alles miteinander in Verbindung steht: jedwedes Universum ist ein Ganzes aus einem Stück, gleich dem Ozean; die geringste Bewegung breitet sich in beliebiger Entfernung aus".80
Dass die Ordnung des infiniten Zusammenhangs und das Recht der Einzelereignisse zusammenstimmen können, gelingt im Begriff der Kontingenz: Nicht-Notwendigkeit, Möglichkeit und Wirklichkeit überschneiden sich, so dass spontane Freiheitsspielräume faktisch zu dem sie integrierenden Ganzen gehören müssen: Aktuale Unendlichkeit (nicht eine bloße Reihung) und die Bestimmtheit des Einzelnen ergeben zusammen eine zwingende Hypothese über die realen Entwicklungsbedingungen des Universums, so wie wir es erfahren (in der Kontingenz der Ereignisse) und mathematisch (im Begriff des Infiniten) denken können.81 Übel, Leiden und Böses in der geschaffenen Welt haben dann ihren Grund in der gegebenen Struktur des Universums, und insofern wiederholt sich die Frage nach Gottes Verantwortlichkeit auf höherer Ebene: Die Schöpfung kann nicht anders denn als Zusammenspiel von Kontingenz und Kontinuum verstanden und insofern als „beste" geschaffen82 zu werden, Gott ist also auf diese Weise - und das immer und in allem - beteiligt.
79
S. § 6.1.2, Anm. 48; § 9.3.3; § 14.2.3.
80
Leibniz, 101 (§ 8f.); vgl. aaO. 100 (§ 7): „Da alles miteinander in Verbindung steht, so lässt sich auch nicht mehr als eine Ursache annehmen. Ihrem Verstände entquillt jede Wesensbeschaffenheit [essences], ihr Wille ist Ursprung jeder Existenz [existences]. Dies ist in wenigen Worten der Beweis für einen einzigen Gott". Zum Begriff der „aktualen" Unendlichkeit s. Anm. 3; vgl. Ph. Stoellger (2000), 75 (zu Leibniz' „analytischer Infinität"); Dalferth, 173, Anm. 41; zum mathematischen Zusammenhang (Leibniz' Entdeckung der Differentialrechnung) A.W. Moore (2002), 63ff., 78f. Vgl. Leibniz' Antwort auf den Einwand, [der Gegner wird sagen], „die Welt hätte ja sündlos und ohne Leiden sein können; aber was ich bestreite, ist, dass sie dann hesser wäre." - Dalferth, aaO. 200ff., spricht vom „überverantwortlichen Übel".
81
82
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V . Das Kontinuum: Religiöse Erfahrung als personale Symbolisierung
(4) Auch die Apologie des freien Willens als Bedingung einer besten Welt, wie A. Plantinga 83 sie entwickelt hat, schließt deutlich die strukturelle Möglichkeit von falschen Entscheidungen ein, und diese Situation ist theoretisch wie lebenspraktisch ein Stachel im theistischen Gottesbegriff: Gottes Güte und Allmacht sind in ihrem offenbaren Gegenteil, dem Übel in der Welt, involviert. Dass es positive Effekte auch des Bösen gibt, ist sicher nicht zu bestreiten, kann aber gegenüber der furchtbaren Qualität und Quantität moralisch niemals rechtfertigend einzuholender Bösartigkeit nicht als Entlastung Gottes angeführt werden 84 - wenn er denn überhaupt derart moralisch betrachtet werden muss! Insofern bleibt die Allmacht ein paradox anmutender Begriff 85 , der allein durch (kosmologische, religionsphilosophische und theologische) Interpretationen, die aus ihm selbst folgen, angemessen modifiziert werden könnte. Kierkegaard hat dazu den folgenden Vorschlag gemacht: „Die ganze Frage nach dem Verhältnis von Gottes Allmacht und Güte zum Bösen kann vielleicht [...] ganz schlicht folgendermaßen aufgelöst werden. Das Höchste, das überhaupt für ein Wesen getan werden kann, höher als alles, wozu einer es machen kann, ist dies: es frei zu machen. Eben dazu, dies tun zu können, gehört Allmacht. Dies scheint absonderlich, da Allmacht gerade abhängig machen müsste. Aber falls man Allmacht denken wird, wird man sehn, dass eben in ihr zugleich die Bestimmung liegen muss, sich selbst wieder solchermaßen in der Äußerung der Allmacht zurücknehmen zu können, dass eben deshalb das durch die Allmacht Entstandene unabhängig werden kann. Daher k o m m t es, dass ein Mensch den anderen nicht ganz frei machen kann, weil der, welcher Macht hat, selbst darin gefangen ist, dass er sie hat [...]. Allein die Allmacht kann sich zurücknehmen, indem sie sich hingibt, und dies Verhältnis ist ja eben die Unabhängigkeit des Empfangenden. Gottes Allmacht ist darum seine Güte." 8 6
83
Vgl. beispielhaft für die Darstellung dieser Diskussionsverläufe R . M . Gale (2007), 399 (die „God-could-be-unlucky premise", dass freie Personen geschaffen sein müssen, die nicht immer das Gute wählen); 406: „But if God is not allpowerfull, how powerfull is he.?" - Logisch gesehen kann Plantinga nur zeigen, dass Übel zur perfekten Welt gehören können; ob das aber wirklich so sein muss, wird wiederum, wie bei Leibniz (s. A n m . 78), in einem theologischen Kontext erst plausibel, vgl. Dalferth, 61, 74, A n m . 143.
84
Aus der „Free-Will-Defense" würde dann unter der Hand allenfalls eine „NoBetter-World-Defense", vgl. Hermanni, aaO. 313.
85
Vgl. J . Bauke-Ruegg (1998), § 2. - Das Buch H i o b bleibt exemplarisch für moralischen Protest und kosmologischen Zusammenhang, s. A n m . 66.
86
Pap. VII, 1 A 181; dt. in: Ges. Werke, 17. Abtig., 124. - Vgl. zur Auslegung der Stelle H . Schulz (1994), 370-401; Cl. Welz (2008), 118f.
§ 18: Gottes Realität
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Hier wird ein (abstrakter) theistischer Gottesbegriff durch einen dynamischen, anthropomorphen, personalen ersetzt. Allmacht bleibt kosmologisch universal, wäre aber besser zu verstehen als „Allwirksamkeit" 87 , zu der gehört, dass sie, weil sie wirklich alles wirkt, auch ihre Selbstunterscheidung umfasst: Freiheit und Liebe (Hingabe) in einem Gegenüber. Diese Möglichkeit des Freiseins ist dann aber keine zwischenmenschliche Befähigung, sondern eine unbedingte Ermöglichung aus dem unerschöpflichen Grund der realen Möglichkeiten Gottes. Dass diese als Kontinuum zu denken sind, hatte Leibniz angestoßen, noch ohne die tychistische Kreativität mit der Bestimmtheit der Existenz und der synechistischen Regelhaftigkeit unreduziert und ohne Beweisanspruch, nämlich als Prozess konzipieren zu können. 88 Schnitte im Kontinuum 8 9 illustrieren modellhaft, wie aus der Fülle der Möglichkeiten und im regelhaften Zusammenhang doch ein „hie et nunc"90 resultiert. Die Existenzbestimmung aber ist - in ihrer Endlichkeit, Begrenztheit, Unübersichtlichkeit, Fehlerhaftigkeit, Anfälligkeit, Eigenwilligkeit, Widersetzlichkeit etc. - doch ihrer Ermöglichung nach auf ihren kreativen Grund angewiesen und partizipiert an verallgemeinerungsfähigem Wert und Sinn, d.h. an vernünftigen Regeln. Sosehr diese Kontexte abduktiv erschließbar bleiben, so ernst ist die existentielle und leidenschaftliche (Handlungs-)Situation des Selbst-Seins: eigenes und anderes Übel, Leiden und Böses in ein Verhältnis zu sich und zum Grund des personalen Verhältnisses setzen zu müssen. Freiheit und Liebe bleiben gefährdete Bedingungen, die trotzdem in Geltung stehen, zur Unbedingtheit des Lebensprozesses gehören und insofern in Gott selbst vorweg personal angelegt erscheinen. Wir können kosmologisch (d.h. naturwissenschaftlich) gesehen kaum ein alternatives, ,besseres' Universum denken 91 , und existentiell gesehen ist die Situation der (mit-)leidenden Liebe und der Freiheit in Hingabe erfahrungsintensiv präsent und an spannungs- und verheißungsvoller Dichte nicht zu 87
S. § 7.1, Anm. 19.
88
S. Anm. lOff.
89 90
S. Anm. 4ff. Peirce, LU, 178 (2. Vorlesung); zum scotistischen Begriff der haeeeeitas, den Peirce zur Auszeichnung von Zweitheit bzw. Indexikalität benutzt, vgl. J.B. Beckmann: Haeeeeitas, in: HWP 3 (1974), 985f. Vgl. Hermanni, aaO. 332 (zum empirischen Theodizee-Einwand, eine faktisch bessere Welt sei denkbar): „Die naturwissenschaftliche Kosmologie des 20. Jahrhunderts hat anhand einer Vielzahl von Beispielen nachgewiesen, dass die Entstehung von Leben, wie wir es kennen, nur durch eine verblüffend präzise Feinabstimmung unseres Universums ermöglicht wurde"; s. § 1.4, Anm. 29; § 17.3.1(3), Anm. 86.
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V . Das Kontinuum: Religiöse Erfahrung als personale Symbolisierung
übertreffen. Kierkegaard hat letztere Erfahrung theologisch in den Umschlagspunkt der sich in ihrer Verborgenheit erschließenden Liebe getrieben92; Peirce' Agapismus hält auch diesen Konflikt - kosmologisch und existentiell - im trotz allem prinzipiell verlässlichen Kontinuum, das auf der vagen, aber kreativ unerschöpflichen Gefühlsqualität und im Herzen überzeugend bestätigten Allmacht als Liebe beruht: „Wenn also Gottes Selbst Liebe ist, so muss das, was er liebt, Mangel leiden an Liebe; genauso wie eine Lichtquelle nur das erleuchten kann, was sonst finster wäre."93
3. Ontologisches Gottesargument 3.1. Anselms Deduktion Mit Gottes Allmacht als Liebe rechnen zu müssen, macht religiöse Erfahrungen geltend; und doch könnte es ja dieser Begriff von Gott sein, der aus sich selbst das alles übertreffende Gottesargument wäre. Kant hat in der - von ihm selbst im Blick auf Descartes so genannten ontologischen „Beweisart"94 den großen Vorteil der rein begrifflichdeduktiven Demonstration in diesem exquisiten Fall eines nichtempirischen, aber doch realen Gegenstandes gesehen93, aus den Prinzipien seiner vernunftkritischen Philosophie aber aus denselben Gründen verwerfen müssen: Absolute Notwendigkeit und Dasein im menschlichen Erfahrungsbereich lassen sich wechselseitig nicht deduzieren; dass etwas wirklich ist, kann nicht als begriffliche Eigenschaft gedacht werden: „Sein ist offenbar kein reales Prädikat", und was wir unter einem
92
Vgl. Welz, aaO. 119ff.
93
Evolutionäre Liebe, N Z , 236; E P 1, 353; vgl. ebd.: „Die Liebe, die G o t t ist, ist somit keine Liebe, deren Gegenteil Hass ist"; entsprechend RS, 511f., A n m . 15 (Gottes unendliche Liebe umfasst Hass und Sünde „als eine endliche Spielart ihrer selbst"); die „vagen" Begriffe für Gottes Eigenschaften sind als „transtemporal" (RS, 505, A n m . 45) einzustufen, d.h. nicht in einem linearen Sinn wie empirische Begriffe und deren Gegenteil, eine solche exakte Bestimmung ist im Falle Gottes weder möglich noch notwendig (RS, 504, A n m . 38; 517, A n m . 1); s. A n m . 11.
94
K r V , A 590f.; s. § 1.4.1; § 1.4.3, A n m . 58. - Zu Descartes s. § 9.2.1; zu den Gottesbeweisen vgl. H . Poser (2003), Kap. 4.4.
95
K r V , A 630: „so ist der ontologische Beweis, aus lauter reinen Vernunftbegriffen, der einzig mögliche, wenn überall nur ein Beweis von einem so weit über allen empirischen Verstandesgebrauch erhabenen Satze möglich ist"; s. § 17.3.1, A n m . 70.
§ 18: Gottes Realität
499
„Unbedingtnotwendigen" denken sollen, erscheint der Transzendentalphilosophie als unlösbares Problem.96 Das auf Anselm v. Canterbury 97 zurückgehende Argument hat aber seinen Reiz behalten, und das liegt daran, dass hier wirklich ein Grenzbegriff zwischen alles fundierender (Selbst-)Erfahrung und höchster Begrifflichkeit versucht wird, der wie ein Wechselbild sprunghaft das eine oder andere Gesicht annehmen kann: Schließt nicht das Denken des Allergrößten (Anselm: „id, quo maius cogitavi nequit"/„das, über das hinaus Größeres nicht gedacht werden kann") bereits ein, dass dem, was da gedacht wird, Realität zukommen muss? Oder überschlägt sich hier der menschliche Verstand selbst und die Vernunft überschreitet die ihr definitiv gezogene Grenze? - Der fragliche deduktive Schluss, in heutiger Sprache, lässt sich so fassen98: 1. 2. 3. 4.
Gottes Sein [being] ist definitionsgemäß eines, über das hinaus kein größeres gedacht werden kann. Ein Sein, über das hinaus kein größeres gedacht werden kann, existiert zumindest i m Geist [mind]. In der Realität zu existieren ist größer als nur im Geist. Deshalb existiert Gott - ein Sein, über das hinaus kein größeres gedacht werden kann - nicht nur i m Geist, sondern auch in der Realität.
Der Schluss ist zwingend, macht aber in seinen Prämissen zumindest zwei problematische Denk- bzw. Verfahrensvoraussetzungen, nämlich erstens, dass hier ein „Größtes" so gedacht werden kann, dass„Existenz" zu den Merkmalen eines so Gedachten gehört; und zweitens, dass dann das Fehlen von „in der Realität zu existieren" überhaupt als begriffliches - und damit zugleich faktisches! - Defizit angeführt werden kann. Erst durch diese beiden Voraussetzungen entsteht ein Widerspruch zur Definition Gottes (die zugleich schon religiöse Voraussetzungen mitbringt: dass Gott eben gerade so vorgestellt werden muss!), und soll der Widerspruch ausgeschlossen werden, folgt positiv Gottes Realität.99 96 97
KrV, A 598, 593. Vgl. Anselms (frühscholastische [s. § 6.2, A n m . 67]) Schrift Proslogion (1077/78); für das Argument vor allem die Kap. 2 - 4 (in: Anselm [1989]); z u m Kontext und zur (kritischen) Darstellung: I.U. Dalferth (1992), 51-94; J . Schmidt (2003), 1. Teil, Kap. III; W . Löffler (2006), Kap. 3.2; Textauszüge von Anselm bis Plantinga in: B. Davies (2000), 304-352.
98 99
Ubers, nach der Vorlage von E.J. Lowe (2007), 331. Die für die Moderne zwingende Differenz von „Existenz" und „Realität" (s. § 17.3.2, A n m . 113; vgl. Peirce, RS, 288) w i r d hier zunächst nicht gemacht. - Zur kritischen Diskussion von Anselms Prämissen vgl. Lowe, aaO. 33 Iff.
500
V. Das Kontinuum: Religiöse Erfahrung als personale Symbolisierung
Nun gelten Anselms scholastische (aristotelische) Denkvoraussetzungen heute sicher nicht mehr. Stufen des Seins zu konzipieren und aus dem als Widerspruch konstruierten Fehlen eines solchen Seinsmerkmals, hier: auf notwendige Existenz der Existenz zu schließen, erscheint ausgeschlossen. Doch dieser Einwand ist zugleich alt und immer schon gegen Anselms Deduktion vorgebracht worden, als behaupte sie, dass generell von bloß Gedachtem auf dessen Existieren geschlossen werden dürfe; zuletzt hat diese Kritik Kant zu der Pointe veranlasst, zwischen dem „Begriff" und dem „Gegenstand" von hundert Talern herrsche kein notwendiger Denkzusammenhang, der Existenz einschließe, wohl aber eine Differenz im Besitzstand. 100 - Das hätte Anselm nicht bestritten. Der Reiz seines Arguments wird erst dann entdeckt, wenn es um den einen und einmaligen Fall des - unvergleichlichen - Gottesbegriffs geht, denn für ihn allein kann die geschickt gewählte Ausgangsdefinition sinnvoll eingesetzt werden, und erst dann blitzt wieder ihre überraschende Konsequenz auf. A. Plantinga hat nun eine neue, modallogische Version des Arguments vorgelegt, die dessen scholastische („ontologische") Denktraditionen vermeidet, doch aber den gleichen Uberzeugungsmechanismus wieder zum Zuge bringen kann. Anstelle von Seinsstufungen bzw. Mängeln an Sein stehen jetzt „maximale Größe" und „mögliche Welten"101: 1.
2. 3. 4.
„Wenn maximale Größe möglicherweise (= in einer möglichen Welt) exemplifiziert ist, ist sie auch notwendigerweise (= in allen möglichen Welten) exemplifiziert." „Maximale Größe ist möglicherweise exemplifiziert." „Maximale Größe ist notwendigerweise exemplifiziert." „Maximale Größe ist tatsächlich (= in der wirklichen Welt) exemplifiziert."
Die beiden problematischen Denk- bzw. Verfahrensvoraussetzungen Anselms wiederholen sich hier, wenn auch auf komplexere Weise: (1) Anselms Stufen des Seins erscheinen hier so, dass in „maximaler Größe" eine Steigerung gedacht worden ist: „maximal excellence" fasst 100 Vgl. KrV, A 599. - Zur Kritik dieses Beispiels im Namen eines „Begriffs", der erfahrungsbildund durchaus „Sein als eine Bestimmtheit" enthalten kann, vgl. G.W.F. Hegel, Vorlesungen, Bd. 1 (1993), 325. 101 Gemäß der vereinfachten Rekonstruktion von. Chr. Jäger (1998), Einl., 24f. (aufgrund von Plantinga, Gott [1998]); vgl. entsprechend Lowe, 334, 338f. Zum älteren modallogischen Argument von Ch. Hartshorne im Kontext der Prozessphilosophie vgl. H.G. Hubheling (1981), 176-183; zu Plantingas „reformierter Erkenntnistheorie" s. § 16, Anm. 14.
§ 18: Gottes Realität
501
die theistischen Gottesprädikate zusammen (Allwissenheit, Allmacht, Güte), gilt dies aber in jeder möglichen Welt, so spricht Plantinga von „unsurpassable greatness". Dieser letztere Sinn von Maximalität gilt also definitionsgemäß für alle möglichen Welten, d.h. mit Notwendigkeit - und so gelangt der 1. Satz von der bloßen Möglichkeit zur Denknotwendigkeit. (2) Anselms Schluss vom (möglichen, gedachten) Begriff auf die Wirklichkeit erscheint hier so, dass es ja denkbar ist, dass es Maximalität gibt. Wird dies aber zugestanden, dann ist nach dem 1. Satz bereits die Notwendigkeit impliziert; was aber notwendig in allen möglichen Welten gilt, muss auch in dieser - wirklichen Welt gelten (4. Satz).102 (3) Abgesehen von modallogischen Fragen, wie mit Notwendigkeit und „möglichen Welten" im Blick auf (unsere) Wirklichkeit überhaupt umzugehen ist103, ein gravierendes Problem zeigt sich dadurch, dass anstelle des 2. Satzes auch dessen Gegenteil angenommen werden kann: Maximalität ist nicht exemplifiziert - und dann wird aus dem positiven Argument mit gleicher modallogischer Folgerung eine negatives!104 Das ontologische Argument kann also nur unter vorausgehender religiöser Plausibilität, dass und wie Gott vorgestellt werden muss, als rationale Darstellung funktionieren. Was im logischen Zusammenhang als bloße Definition von Maximalität erscheint, ist vom religiösen Glauben und Denken vorinformiert: Wenn Gott gedacht werden soll, dann nicht nur als höchstes, sondern alles Allerhöchstes Sein, dessen Nicht-Sein als eklatanter innerer Widerspruch erscheinen muss.105 Das ontologische Argument bedarf also eines Kontextes, der einen qualitativen (religiö-
102 Vgl. zu diesem Gedankenschritt Lowe, 339 (Satz 12 u. 13): „But a necessary being is one which, by definition, exists in every possible world if it exists in any possible world."/„Hence, the God who exists as a necessary being in w is a being that exists in every possible world, including this, the actual world." 103 Vgl. Chr. Jäger, aaO. 26. 104 Vgl. Jäger, ebd.; Dalferth (1992), 219: {positiv) „Entweder ist Gottes Existenz unmöglich oder notwendig"./„Gottes Existenz ist möglich"./„Gottes Existenz ist notwendig". - (negativ) „Entweder ist Gottes Existenz unmöglich oder notwendig"./„Gottes Nichtexistenz ist möglich"./„Gottes Existenz ist unmöglich". 105 Vgl. Lowe, 335: „God is, by definition, a being whose existence is absolutely independent of anything else"; aaO. 339: „we are rationally compelled to conclude that, indeed, he does exist. All we need to come to this conclusion rationally is to grasp the real definition of God, that is, understand what God is or would be."
502
V . Das Kontinuum: Religiöse Erfahrung als personale Symbolisierung
sen) Sinn der Definition Gottes schon ins Spiel bringt. Dass das Argument wie ein sprunghaftes Wechselbild einmal zwingend und ein andermal erschlichen erscheint, erklärt sich aus diesem jeweils wechselnd möglichen Denk- und Erfahrungszusammenhang: „Maximale Größe" operiert zunächst quantitativ, denkt in ,größer als ...' Strukturen und erscheint als rein formales Argument - schlägt im Gedanken der höchsten Notwendigkeit (die Wirklichkeit einschließen soll) dann aber in eine Qualität um, zu deren Verständnis (d.h. zur Prämisse der Möglichkeit und nicht Nicht-Möglichkeit Gottes) bereits religiöse Vorerfahrung und personale Symbolisierung des Allerhöchsten zwingend gebraucht wird; kurz: In der Gottesdefinition der Maximalität steckt schon der Erfahrungsbegriff kreativer Unbedingtheit, wie ihn Peirce' N.A. im abduktiven Schluss in Anspruch nimmt.
3.2. Die dritte Stufe des N.A. Dass Begriffe ohne Erfahrung leer seien, gilt zumal für die religionsphilosophische Begriffsbildung, und das ontologische Argument kann in legitimer Weise als rationale Präsentation dieses Erfahrungs£egrzj^s verstanden werden.106 Das deduktive Argument setzt auf spontane Uberzeugung aus Notwendigkeit, mit ihr melden sich aber die abduktiv, in Versonnenheit gewonnene religiöse Primärwahrnehmung und die induktive, natürliche Beschreibung der Erfahrungsuniversen - in einem Zusammenhang107, der deduktiv aus der Maximalität die dann notwendig implizierte Wirklichkeit vorführt. Das ist gerade kein ontologischer Beweis im Sinne Kants (aus einem bloßen Begriff folge Existenz 108 ), sondern ein dreifaches Argument, das auf Gottes Realität erfahrungsintensiv verweist, nicht auf (empirische) Existenz schließt. Der instinktiv gesicherte, hypothetische Sinn des Arguments bleibt insofern vage, nicht voll begreiflich (wie die Gottesprädikate der Allmacht, Allwissenheit und Güte 109 ) - aber genau dieser Sinn solcher „einwerti-
106 In diesem Sinne ist Peirce' N . A . im Ganzen genommen „an argument from thought", d.h. auch ein ontologisches Argument, vgl. K. Hull (2005), 506. 107 S. § 16.3.2 u. § 17.3.2. 108 Vgl. zu Peirce' expliziter Kritik des ontologischen Beweises R S , 541, A n m . 29. - Zu Differenz von „Realität" und „Existenz", die für das N . A . alles entscheidend ist, vgl. RS, 391; s. A n m . 99. 109 Vgl. R S , 504, A n m . 38: „Es ist klar, dass ich v o m Schöpfer dieser Dinge [sc. Liebe, Schönheit, Wahrheit, das Prinzip des Widerspruchs, Zeit etc.] nur eine sehr vage analogische Vorstellung haben kann, und der Pragmatizismus ver-
§ 18: Gottes Realität
503
ger" Erschließungskraft 110 ist es, der sich noch einmal methodisch überprüft auf dritter Stufe darstellen lässt: Möglichkeit ist dann nicht nur ein logischer Begriff, sondern einer der kreativen Ermöglichung; Notwendigkeit steht dann nicht quer zu möglichen Welten, sondern signalisiert im Begriff Gottes als ens necessarium ein Dreifaches: (1) Abduktiv ist die Gott-Hypothese unwiderstehlich und als solche nicht demonstrabel oder mit derselben Intensität vermittelbar; ihre Kraft liegt in der Versonnenheit, religiöser (unbedingter) Wahrnehmung und einem (existentiellen) Lebensentwurf, dessen begriffliche Unbestimmtheit aufgrund der Gefühlsqualität des Glaubens (faith) gerade keinen Einwand darstellt. Das Unbegriffliche 111 ist hier Entdeckung, Ermöglichung und Chance des Begriffs, hier: der Realität Gottes - und insofern notwendig. (2) Induktiv und kosmologisch ist die Gott-Hypothese erfahrungsoffen und gelehrig gegenüber den Fakten, vergisst aber nicht das Staunen über die Unerschöpflichkeit der Zusammenhänge und das Zusammenspiel von Zufall und Ordnung. Die Gott-Hypothese wächst aus diesen Erfahrungen kontinuierlich heraus und gibt deren prüfende Beschreibung112, sie hat zugleich einen existentiellen Zug darin, dass es eine gewisse Wehrlosigkeit 113 gegenüber den andrängenden Erfahrungsuniversen gibt - und insofern eine Notwendigkeit. (3) Deduktiv steht die Uberprüfung der Hypothese im Kontext des Kontinuums universaler Erfahrungsprozesse von Natur und Kultur, die die Schlussform der Notwendigkeit mit der Uberzeugungsbildung von Glaube und Handeln, Forschung und Wahrheit in the long run aufs engste verbunden sehen.114 Gottes Realität ist nicht ohne die Entwicklung der Universen der Erfahrung, garantiert den Zusammenhang von
110 111
112 113 114
langt mit Sicherheit nicht, dass alle meine Überzeugungen genau bestimmt sein sollten"; vgl. RS, 531, Anm. 13; s. Anm. 93; vgl. E.J. Lowe (2007), 338: „Actually, we do not even need to f u l l y grasp what God is or would be [...], since this is probably beyond the capacities of finite intelligences like ours". S. § 16.3.1(3). Vgl. H. Blumenberg (2007), 51 (nachdem das Zwanghafte am „ontologischen Gottesbeweis" der „traditionellen Metaphysik" kritisiert wurde): zugunsten des Begriffs muss es ein Vorfeld, der Unbegreiflichkeit geben". Vgl. RS, 338f.; s. § 16.3.2, Anm. 83. Vgl. RS, 501, Anm. 18; s. § 1.4.2, Anm. 48. Vgl. RS, 357f., 363f.
504
V . Das Kontinuum: Religiöse Erfahrung als personale Symbolisierung
kreativer Ermöglichung, Regelhaftigkeit und Selbst-Sein - und ist insofern notwendig. Das ontologische Argument, so eingeordnet, belegt die Rationalität in den Darstellungsmöglichkeiten der Religiosität und bestätigt zuletzt: Religion gehört zur Schule des Lebens, Religionsphilosophie zur Schulung des Denkens. Schema 6: Ontologisches Gottesargument
rational
existentiell/ erfakrungsbezogen
universalistisch N.A. 1 Abduktives Argument
Ontologisches Argument deduktiver
Denkstil
Kosmologisches/ teleologisches Argument
N.A. 2 Kosmologisches Argument: Beschreibung
Ontologisches Argument
N.A. 3 Ontologisches Argument: Uberzeugung
induktiver
Denkstil
abduktiver
Denkstil
Abkürzungen Abkürzungen sowohl allgemeiner Art als auch von Zeitschriften, Lexika etc. und von Biblischen Büchern richten sich in der Regel nach S.M. Schwertner: Abkürzungsverzeichnis der TRE, Berlin/New York 2 1994. - Die Bibel wird zitiert nach der Einheitsübersetzung: Neue Jerusalemer Bibel, Freiburg 1985. CP
Collected Papers of Charles S. Peirce
Diels/Kranz Die Fragmente der Vorsokratiker, hg. v. H. Diels/ W. Kranz, Bd. 1-3, Nachdr. der 6. Aufl. v. 1951-1952, Zürich 1996. DSKE
Deutsche Soren Kierkegaard Edition
EKL3
Evangelisches Kirchenlexikon, Bd. 1-5, Göttingen 19861997
EncRel(E)
The Encyclopedia of Religion, ed. by M. Eliade, vol. 116, New York/Londonl987
EP 1/2
The Essential Peirce, vol. 1/vol. 2
HSK 13.1/13.2 Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft, Bd. 13: Semiotik/Semiotics. Ein Handbuch zu den zeichentheoretischen Grundlagen von Natur und Kultur, hg v. R. Posner/K. Robering/T.A. Sebeok, Berlin/New York 1997 (Bd. 13.1), 1998 (Bd. 13.2) HWP
Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 1-13, Basel 1971-2007
KpV
I. Kant: Kritik der praktischen Vernunft
KrV
I. Kant: Kritik der reinen Vernunft
KSA
Friedrich Nietzsche: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe
KU
I. Kant: Kritik der Urteilskraft
506
Abkürzungen
KSYB
Kierkegaard 1996ff.
KSMS
Kierkegaard Studies. Monograph York 1997ÎÎ.
LDStA
M. Luther: Lat.-dt. Studienausgabe
LThK
3
Studies.
Yearbook,
Berlin/New Series,
York
Berlin/New
Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. 1-11, Freiburg 1993-2001
LU
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MJTh
Marburger Jahrbuch Theologie, Marburg Leipzig
1987-2006,
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NZ
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OCP
The Oxford Companion to Philosophy, ed. by T. Hondrich, O x f o r d / N e w York 1995
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RGG1"4
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RS
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SKS/SKS Κ
S0ren Kierkegaards Skrifter (jeweils Textbd. und Kommentarbd.)
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Namensregister Abaelard (Petrus Abaelardus) 152-159, 166, Abraham 335, 449 Achtner, W. 19, 151, 164, 167, Adam 115, 117, 193, Adorno, Th.W. 53, 194, 333f., Adriaanse, H.J. 417f., 463 Agricola, R. 184 Albert, K. 68,315, Allen, D. 416 Ammonios Sakkas 98 Anaxagoras 181, 474 Anderson, D.R. 28, 37, 258, 270, 272, 277 Anselm v. Canterbury 29, 102, 152, 498-501 Anz, W . 114 Arendt, H. 109 Aristoteles 4, 8, 33, 43, 47, 51, 71f., 91, 106, 118, 125-137, 139-147, 152154, 173, 180f., 189, 313, 318, 474 Arminius, J. 248 Arndt, H.W. 240 Arnoldi v. Usingen, B. 162, 177 Assmann, J. 66, 220 Aton 39 Audi, R. 235 Augustin 70, 95-97, 99, 101, 103-105, 107-119, 121-123, 135, 154f., 158f., 159, 171, 235, 239£, 249, 296-298, 300,318, 32lf. Averroes (Ibn Rushd) 4 Bacon, F. 147, 188f., 191-197, 199f., 422 Bahr, P. 201 Bangs, C. 248 Barnard, L.W. 97 Barrett, C. 443 Barrow, J.D. 17-19, 27, 39, 82, 295
Barth, K. 48, 50f. Barth, R. 48, 201f., 205, 260, 329 Barth, U. 45, 48, 51, 54, 149 Bartsch, H.-W. 411 Bauke-Ruegg, J. 74, 183, 187, 493, 496 Baumgartner, H.M. 91, 158 Bayer, O. 229,232-234 Beckmann, J.B. 497 Beierw altes, W. 67, 98f., 101, 106, 113, 119, 12 lf. Bellah, R. 395,451,461 Benjamin, W . 334 Berg, R.J. 227 Berner, K. 494 Betz, H.D. 95 Beutelspracher, A. 202 Bienenstock, M. 229 Bildad v. Schuach 77 Birkner, H.-J. 288 Bjergso, M.O. 443 Bloch, E. 81, 82, 217, 333, 355, 396 Blumenberg, H. 57, 59, 63, 88, 166, 189, 198, 270, 301, 307, 503 Boethius 95f., 101, 103f., 106, 109, 113f., 118, 135, 144, 152, 306, 479 Böhlig, A. 107, 109 Böhme J . 325,329 B o l d t J . 396,449 Boole, G. 307,382 Boothe, Β. 348 Bormann, Cl. v. 418 Borsche, T. 53, 86, 89f., 220, 321 Boulnois, O. 160 Bowie, Α. 440 Brandt, R. 263 Brecht, M. 169f., 177 Bredekamp, H. 270, 272f., 275 Brinkmann, K. 128, 130-134 Bröcker, W . 34, 89 Brück, M.v. 315,322
Namensregister Brugger, W. 458 Brunner, E. 51 Buck, A. 169 Buddha 2 Bultmann, R. 46,279 Calvin J . 247-249, 256, 258, 346, 370 Camus, A. 46 Cantefls, B. 471 Cantor, G. 18f., 304, 474 Cappelorn, N.J. 479 Cassirer, E. 59, 65, 74, 88, 93, 419 Chantepie de la Saussaye, P.D. 416 Clayton, J. 147,280 Clemens v. Alexandrien 97 Climacus, J. 241,246,262 Cobb, J.B. 12 Coffey, J.R.D. 248 Cohen, Ch.L. 248 Colapietro, V.M. 488 Colpe, C. 416 Comte, A. 364 Dahnelt, R. 375,382 Dalferth, I.U. 18, 29, 36f., 43, 46-49, 51, 54, 57, 91f., 128, 134, 215, 279, 312f., 325, 328, 330-332, 335f., 419, 458, 490, 492-496, 499, 501 Dan,J. 315 Dante Alighieri 104 Danz, Chr. 329f., 447, 463 Darwin, Ch. 54, 272-275, 411, 439, 476 David 155 Davies, B. 49, 208, 499, 514 Dekker, E. 161f. Derrida, J. 30, 54, 335f., 381f., 390 Descartes, R. 178, 236-242, 246, 260, 308, 498 Dewey, J. 338,429 Diels, H 68f., 474 Dienst, K. 322 Dierken,J. 50 Dierksmeier, C. 214 Dierse, U. 479,488 Dieter, Th. 181 Dilthey, W. 32, 45, 50, 217, 326, 347
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Dionysius Pseudo-Areopagita 95, 96, 118-120, 122f., 157,315,377 Disse, J. 161-163, 165, 239, 348, 351, 355 Dittmer, J. 280, 287, 440f., 448, 488 Dörflinger, B. 209f. Dörrie, H. 98, 135 Drecoll, V.H. 107,296 Düsing, E. 227 Duns Scotus 160-162, 165, 167, 173 Durkheim, E. 35, 364f., 394 E b a c h J . 77,79-82 Eckhart (Meister Eckhart) 235, 316322,334 Edwards, J. 173, 247-249, 251-258, 428 Eichhorn, J.G. 410 Eichmann-Leutenegger, B. 276 Eigen, M. 149 Eigler, G. 84 Einstein, A. 39,295 Elifas von Teman 77f. Elihu 77 Elischa 59-61 Emerson, R.W. 280-282, 428 Emmel, H. 279 Enders, M. 36,318,321 Epikur 492f. Erasmus v. Rotterdam 170-172, 174179, 184f. Eucken, R. 362 Euklid 202 Evers, D. 304 Ewert, O. 279 Failing, W.-E. 416 Feiereis, K. 4 Feil, E. 108 Feldkeller, A. 1 Ferber, R. 90 Ferreira, M.J. 443 Feuerbach, L. 43, 47, 63, 215-219, 364, 409 Fichte, J.G. 48, 227, 260, 289, 329f., 403-405 Figal, G. 220f., 225, 418 Figi, J. 5,220, 223f. Fischer, E.P. 272,274
540
Namensregister
Fischer, Ν. 227 Flasch, Κ. 4, 96f., 101, 103, 107, 111113, 117-122, 135f., 138, 142, 144, 146, 152f., 155, 159, 198, 239f., 316, 319,322 Fleischer, M. 220 Frank, M. 287 Franke, U. 279 Frede, M. 34 Frederiksen, P. 296 Freud, S. 344, 348, 354-356, 364 Fritz, V. 60 Fuhrmann, M. 479f. Gabriel, G. 32,229 Gabriel, K. 364,373 Gadamer, H.-G. 83, 85, 91f., 126-128, 133f., 418 Gahbauer, F. 315 Gale, R.M. 496 Galilei, G. 7,471 Garve, Chr. 205 Gennep, A.van 451 Gerhardt, V. 93, 109, 116, 188, 199, 201f., 204, 206, 209, 220f., 337, 403, 460 Gerlitz, P. 315,490,492 Gertz, J. Chr. 57,77 Gethmann, C.F. 332 Gigon, O. 125, 128 Godei, K. 390f. Goliath 155 Gordon, R.L. 315 Grabmann, M. 118f., 155 Gräb-Schmidt, E. 33, 297, 424 Graeser, A. 125 Grätzel, St. 12, 136, 236, 329 Greco, J. 425 Gregersen, N.H. 468 Greive, H. 136 Gran, A. 43,221,225 Grosshans, H.-P. 215 Großheim, M. 459 Gruber, J. 101,106 Haarmann, H. 3 Haas, A.M. 120, 122, 322, 335 Habermas J . 53f., 365, 391
Hager, F.-P. 98,119 Halfwassen, J. 98, 154 Hall, Gr.St. 342 Haller, A.v. 259 Hamann, J.G. 228, 230, 232-235, 237f. Hamm, B. 321 Hammacher, K. 236,243 Hampe, M. 28,34,307 Hannay, Α. 29 Härle, W. 50, 171, 176, 180, 182, 480 Harnack, A. v. 67,97 Harris, H.A. 23 Hartmann, Ν. 274,453 Hartshorne, Ch. 500 Härtung, G. 274f. Hausman, C.R. 278, 293f., 303, 362, 477 Haußig, H.-M. 4 Hawking, St. 39, 149, 295 Heesch, M. 34 Hegel, G.W.F. 6f., 47, 50, 54, 215f., 219, 221, 227, 241, 260, 290, 300, 374, 400, 403-410, 412, 416, 420, 500 Heiberg, J.L. 241 Heidegger, M. 46, 297, 309 Heidrich, P. 315 Heiler, F. 1,39,321,416 Heim, K. 424 Heimbrock, H.-G. 271, 342 Heine, S. 342-344,356 Heinrichs, J. 463 Heintel, E. 403 Heitsch, E. 68-70,74 Held, K. 57, 68, 95, 98, 109, 309, 381 Hennigfeld, J. 329 Henning, Chr. 342 Henrich, D. 259f. Henriksen, J.-O. 243f., 246 Herder, J.G. 228f. Hermanni, F. 109, 494, 496f. Hermias 97 Herms, E. 37, 175f., 178, 184, 229-231, 260, 262f., 290, 343-346, 352, 356, 362, 391, 397, 422f., 425f., 447-449, 484, 489 Herodot 56 Herold, N . 474
Namensregister Herrmann, Kl. 315 Herrmann, S. 62 Herrmann, W . 227 Hesiod 68f., 71 H i c k J . 12 Hilarius v. Poitier 337 Hiob 8, 75-85, 87, 89, 91, 93-95, 103f., 113, 1 4 4 , 4 9 1 , 4 9 6 Höffe, O. 189,403 Hoffman, J . 180 Hoffmann, F. 166f. Hofmeister, H . 4 Hoheisel, Κ. 342 Hölderlin, F. 400 Holzhey, Η . 3 4 , 3 0 7 , 4 8 2 H o m e r 68f. Honnefelder, L. 163 Horkheimer, M . 194 Horn, Chr. 173 Hornig, G. 243 Horstmann, M . 321 Hubbeling, H.G. 51, 150, 500 H u d r y J . - L . 476 Hübinger, G. 412 Hügli, A. 4 5 3 , 4 5 6 , 4 8 6 H ü h n , L. 2 6 0 , 3 2 9 Hüni, H . 127, 141, 143 Hull, Κ. 4 7 1 , 4 8 9 , 5 0 2 H u m e , D. 5, 6, 34, 205, 229-234, 242, 260, 345, 401f., 447, 449, 469 Hürth, E. 2 8 0 , 4 1 0 Husserl, E. 34, 308f., 335, 380f., 416f. Hutter, A . 333,428 Hutter, M . 415 Huxel, K. 231, 308, 342, 356, 428, 482 Iamblichus 119 Imbach, R. 163, 165 Ingen, F.v. 325 Insole, Chr. J . 23 Irenaus v. L y o n 97 Isaak 3 3 5 , 4 4 9 , 4 5 8 Jaakob 220 Jacobi, F.H. 229f., 233, 243, 260, 280, 329, 404f. Jacobi, K. 155 Jaeger, W . 7 0 , 7 3
541
Jaeschke, W . 4, 47, 216, 409 Jäger, Chr. 24f., 49, 469, 500f. James I. 189 James, W . 28, 36f., 50, 53, 226, 322328, 338, 342-364, 377, 391, 424 Janke, W . 45f., 90, 99, 221, 287, 289, 374, 403 Janssen, P. 279 Jaspers, K. 2, 45, 385 Jean Paul 221 Jeanrond, W . G . 418 Jensen, R . W . 248 Jensen, St. 374 Jeremía 62, 70 Jesus (Jesus Christus) 95, 212, 320, 395, 413,458 Joas, H. 221, 224, 327, 347, 361, 371, 3 7 3 , 3 9 4 , 3 9 5 - 3 9 7 , 456-460 Jodocus Trutfetter 177 Johannes a Sancto T h o m a 164 Johannes Roscelin v. Compiènge 155f. Johannes Scotus Eriugena 119, 157 Johansen, K.F. 99 Johanson, A. 474f. Jojachin 58 j0rgensen, Sv.-Aa. 232 Joseph 220 Judas 181 Jüngel, E. 120, 219, 221f., 278, 406 Jung, M . 32f., 45, 271, 326f., 338, 343, 418 Jung, W . 312 Justin 97 Kaiser, O. 57, 59, 61, 67, 70, 77 Kambartel, F. 3 2 , 4 2 1 Kant, I. 6 - 9 , 22-25, 30f., 35, 45, 48, 73, 78, 81, 188, 191, 196-201, 203-216, 220, 223, 225, 227-229, 231, 233, 237, 259f., 262-264, 274f., 280-284, 286, 294, 317£, 329, 373, 403-406, 422, 427-430, 439, 444, 447-449, 465-468, 470, 474, 480, 498, 500, 502 Kasher, A. 95 Katz, St.T. 3 1 5 , 3 2 5 Kaufmann, Th. 248 Keller, G. 217f.
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Namensregister
Kenny, A. 141f., 144-146, 148f. Kepler, J. 198 Kersting, W . 75, 88f., 94 Kessler, H. 491,494 Keiner, K.L. 474f. Khoury, A.-T. 136 Kible, B.Th. 479 Kierkegaard, S. 8f., 24f., 30, 45f., 49, 54, 58, 75f., 83, 113, 122, 218, 221, 230, 234, 240f., 246f., 26l£., 279, 296-298, 300-302, 304f., 308f., 315, 326, 332, 335f., 347, 357f., 396f., 409, 423, 443, 449, 479, 481-486, 493f., 496, 498 Kim, J. 12 Kippenberg, H.G. 11, 35, 364-366, 370, 400, 415 Kleinert, M. 241 Klimkeit, H J . 11 Kluxen, W. 118, 136, 138, 146, 161 Knöbl, W. 373 Knoblauch, H. 364,370 Knuuttila, S. 166 Kobusch, Th. 34, 119f., 125, 135, 163, 165, 167 Kodalle, K.-M. 230, 329, 365 Kolmar, G. 276f. Kolmer, P. 158 Konfuzius 2 Kopernikus, Ν. 198 Köpf, U. 315,319 Körner, S. 192 Korsch, D. 48, 50, 182, 260, 283-285, 408f., 413 Krämer, H. 75, 86 Krämer, H.J. 134 Kranz, W . 68f., 474 Kreiner, A. 12, 136, 236, 329 Kremer, K. 43 Kreß, H. 459 Kretzmann, N. 305f. Kreuzer, J 107, 109, 112-114, 117, 122, 235f., 297, 301,318, 320, 322 Kreuzer, Th. 456f. Krichbaum, A. 15, 287, 289, 297, 332 Krohn, W . 189, 193, 195f. Kropac, U. 279 Krüger, G. 88-90
Krüger, Th. 82 Kühne-Bertram, G. 228 Kues, N.v. (Cusanus) 198, 236, 321, 336f. Kulenkampff, J. 231 Kyros 66 L'Évêque, J. 81 Laktanz 493 Lalla, S. 162, 166, 177 Lanczkowski, G. 440 Landgrebe, L. 34 Langthaler, R. 227 Lao-Tse 2 Lassahn, R. 479,488 Leeuw, G. van der 416 Leibniz, G.W. 236, 240, 466, 490, 493497 Leinkauf, Th. 132 Leinsle, U.G. 9, 34, 118, 136-138, 153 Lenhammar, H. 281 Leonhardt, R. 104 Leppin, V. 136, 162-165, 170f., 173, 175, 182f., 317, 319-322 L e s h e r J . H . 69-72,74 Lessing, G.E. 230, 237, 242-247, 407 Lessing, H.-U. 315 L e u b a J . H . 342 Levin, Chr. 63-65 Lévinas, E. 335f., 417, 485 Linde, G. 118, 184f., 268f., 424, 436438, 442, 450, 486 Lindner, J.G. 232,234 Link, Chr. 248 Locke, G. 475f. Locke, J. 173, 195, 252f., 257, 422 Löffler, W . 44, 49, 421, 424f., 466-470, 494, 499 Lohff, W . 2 Louth, A. 119,315 Lowe, E.J. 499-501,503 Lübbe, H. 51 Lüdemann, G. 399 L ü p k e J . v . 246 Luhmann, Ν. 51, 149, 365f., 372-393, 397, 400, 417 Lundin, R. 280
Namensregister Luther, M. 46, 170-187, 217f., 232, 248f., 259, m i . , 479f. Lutz-Bachmann, M. 67, 136, 138, 194 Maag, V. 80 Maaßen, H. 307 M a c k i e J . L . 237,470 Mahlmann, Th. 4,248 Maier, B. 400,410,415 Maier, J. 66f., Mainzer, Κ. 474 Majetschak, St. 229 Malter, R. 227 Manetti, G. 157 Mann, Th. 220 Mansfeld, J. 68f., 474 Marc Aurel 350 Maria 319f., Maria (Mutter Jesu) 395 Marius Victorinus 135 Markschies, Chr. 95 Martensen, H.L. 241 Martha 319f. Marx, K. 43, 215-217, 364, 409 Maturana, H.R. 149 McDermott, G.R. 248 McSorley, H J . 176, 182. Meier-Oeser, St. 118, 158, 163f. Meixner, U. 309 Menand, L. 439 Mendelssohn, M. 229f. Metzinger, Th. 339 Mitchells, B. 23 Mjaaland, M.T. 335,481 Moore, A.W. 495 Morris, Ch.W. 185 Mose 5 8 , 6 4 , 2 3 2 , 3 4 8 , 4 1 6 Moses Maimonides 4, 337 Moxter, M. 63, 284, 343, 416f., 419, 447f. Mühlen, K.-H. zur 185, 187 Müller, E.F.K. 249 Müller, T. 488 Murken, S. 342 Murray, M.M. 305 Muschg, A. 217 Musil, R. 89,317,351
543
Naaman 60f. N a d l e r J . 232-235 Nagel, E. 202, 391 Nagel, Th. 326 Nathan der Weise 246 Nestler, E. 342 Neumann, O. 279 Neville, R.C. 2, 12f., 29f., 39, 67, 93, 136, 144, 248, 280, 286, 305, 308311, 313f., 339, 428-433, 447, 450452, 454-459, 490 Newman, J.R. 202,391 Newton, I. 197, 199, 257, 295, 380 Nielsen, F.A.J. 58 Nietzsche, F. 8, 43, 45, 53, 116, 215, 220-226, 350, 364, 459 Niggli, U. 153, 156 O'Daly, G. 119 Obermann, H.A. 169, 177f., Ockham, Wilhelm v. 160,162-167 Oehler, K. 134, 154, 327, 343, 345 Oesterle, G. 279 Oevermann U. 371, 395 Ohst, M. 329 Onnasch, E.-O. 260 Otto, E. 60 Otto, R. 67,321,416,424 Özen, A. 399 Paetzold, H. 59 Pailin, D.A. 5 Pannenberg, W . 74, 207f., 399, 425 Pape, H. 268, 303f., 306, 382, 487 Pappas, N. 92 Parmenides 91, 121f., 181, 195, 301, 474 Parsons, T. 373,394-396 Pascal, B. 404,406 Paulus 95, 119, 171, 344 Peirce, Ch.S. 3, 15f., 19, 25f., 28-30, 35, 37, 54, 71f., 131, 148, 158, 162, 164f., 167, 185, 192, 195f., 241f., 251, 257£, 264f., 267-270, 272, 279, 286, 292-295, 302-304, 306f., 310, 316, 339, 358, 360, 362, 381-383, 391f., 402, 416f., 429, 433-438, 440, 444f., 450, 452, 460, 462-464, 468,
544
Namensregister
471, 474-478, 485, 487f., 497-499, 502 Peppermüller, R. 153 Petrus Hispanus 162 Petrus Venerahiiis 153 Pfleiderer, G. 411-414,416 Pflug, G. 45 Phillips, D.Z. 24 Philo v. Alexandrien 4 Pilvousek, J. 177 Plantinga, A. 24, 44, 424f., 496, 499501 Piaton 2, 8, 33f., 39, 51, 70, 75, 83, 85f., 88f., 91-99, 101-117, 119-123, 125128, 133-136, 144, 153f., 181, 287, 301, 362, 440 Plotin 98-100, 107, 109f., 113, 119f., 134f. Polanyi, M. 235 Popper, K. 67-69, 71, 82, 192f., 195 Porphyrius 98 Portmann, Α. 1 Poser, H. 236f., 239f., 242, 498 Posner, H. 51 Pöttner, M. 381, 391f. Pozzi, L. 101 Prior, A.N. 382 Priscian 156f., 159 Proklos 119 Prophyrios 135, 152 Pünjer, G.Ch.B. 44 Pütz, M. 281f. Puntel, L. 37 Putnam, H. 307, 474f. Quine, W.V. 167 Quinn, Ph.L. 12, 44, 180, 492 Quintilian, M.F. 184 Rabbi Salomon 337 Rad, G.v. 60f., 70 Rahner, K. 12,425 Ramelow, T.-A. 161,253 Ramsey, I.T. 448 Raposa, M. 434 Rappaport, R.A. 447, 451f., 458, 464, 472 Ratschow, C.H. 31,282,333
Rawls, J. 458 Rë 39 Reader, J.E. 248-251, 253-255, 257f. Recki, B. 220 Reimarus, H.S. 243 Reinhardt, U. 317 Rendtorff, Tr. 411 Renthe-Fink, L.v. 411 Rentsch, Th. 26, 32, 48 Reuter, H.-R. 364,373 Ricken, F. 45,114,211-213 Ricoeur, P. 278, 344, 348, 351, 355, 418, 482-485 Rieger, R. 322 Rist J . 406 Ritter, A.M. 98 Robinson, A.J. 489 Röhls J . 216,288 Rohs, P. 201-203,205 Röhser, G. 248 Rose, M. 64 Rosenau, H. 4 , 2 1 2 , 3 1 5 Rosenkrantz, G. 180 Rosenzweig, F. 328, 330f., 485, 490 Rossi, P h J . 227 Roughley, Ν. 453 Rowe, W . 465f. Rudolph, K. 11 Rücker, S. 279 Ruh, K. 119f., 122, 301, 316, 318, 322 Russell, B. 195,279 Rust, A. 307,453 Ruzicka, R. 148, 192 Samson 83 Sankara 321 Sarot, M. 490 Sartre, J.P. 46 Schaher, P. 453 Schaeffler, R. 45,48 Schäfer, Chr. 67-74 Schäfer, K. 238,241,247 Schantz, R. 38 Scheler, M. 453 Schelling, F.W.J. 54, 74, 329f., 400, 403 Schiller, F. 434
149,
227,
Namensregister Schleiermacher, F .D.E. 15, 50f., 84, 262£, 265, 280, 282-290, 301f., 322f., 332, 347, 391, 407, 440f., 448f., 488 Schlotter, S. 453 Schluchter, W. 371, 396f. Schmid, K. 62-65 Schmidinger, H.M. 4, 9 Schmidt, J. 44, 147, 499 Schmidt, Th.M. 343 Schmidt-Biggemann, W. 119 Schneider, H.-J. 167 Schoeller Reisch, D. 34 Scholtz, G. 32 Scholz, H. 48, 227, 286, 362 Schönberger, R. 317 Schopenhauer, A. 215, 220, 226, 350 Schrödter, H. 48 Schultze, H. 243 Schulz, H. 37, 39, 46f., 175, 208, 210, 218f., 230f., 235, 297, 302, 327, 402, 496 Schwartz, Y. 320 Schwöbel, Chr. 31,52 Seidl, H. 126, 130f., 134, 139, 143f., 146-148, 150 Sells, M.A. 122 Sharma, A. 416 Sieheck, H. 411 Siegmann, G. 98, 101 Simon, J. 228 Sinclair, L.A. 95 Sinn, D. 309 Skarsaune, O. 97 Smith, J.E. 249-252, 256-258 Snell, B. 74, 93f. Soe, N.H. 51 Sokrates 83-87, 91, 94, 152-154, 157, 159, 234 Spaemann, R. 483 Spam, W. 5, 47, 135, 220, 236, 444, 490f. Spencer Brown, G. 382 Spinoza, B. de 229f., 236f., 240, 242f., 262, 401 Spitz, L.W. 169 Staah, J.M. 477 Starhuck, Edw.D. 347
545
Steifes, H. 234 Stegmüller, W. 149 Steinacker, P. 325,333 Stengers, I. 149 Stenius, E. 317 Stephanus 244 StewartJ. 241, 407f. Stock, K. 46,52,425 Stoellger, Ph. 36, 48, 51, 482, 484f., 495 Stolina, R. 328 Storchenau, S.v. 4 Storr, G.Chr. 227 Strasser, P. 26 Strub, Chr. 374 Stump, E. 305f. Sturma, D. 38,339 Suchla, B.R. 119 Sundermeier, Th. 1, 4, 447 Swedenborg, E. 28 lf. Swinburne, R. 23, 25, 469f. Szaif, J. 36 Taliaferro, Ch. 12, 44, 180, 492 Tauler, J. 259, 321f. Taylor, Ch. 456-458,460 Taylor, E. 325 Tertullian 67, 97 Theiler, W. 106 Theunissen, M. 51, 216, 474 Thomä, D. 457,483 Thomas v. Aquin 34, 118f., 134, 137139, 141-154, 160-162, 164, 176, 465, 467, 469 Thomas, G. 366, 369, 371-373, 378, 397 Thürnau, D. 460 Thukydides 56 Tillich, P. 12, 29f., 53, 286, 433, 447, 463, 473, 486 Timotheus 119 Toepfer, G. 468 Tolstoi, L. 353 Trill, B. 32 Trillhaas, W. 31,45,49 Trinkaus, Ch. 170, 182 Troeltsch, E. 227, 244, 362, 400, 410414 Tugendhat, E. 221,317
546
Namensregister
Van Seters, J. 59 Vetter, M. 270 Vieillard-Baron, J.-L. 407 Vollrath, E. 126-128, 141, 143 Voss, J. 272-274 Vossenkuhl, W. 448 WaardenburgJ. 11,416 Wabel, Th. 172, 184 Wagner, F. 351 Wald, B. 154 Waidenfels, B. 32, 416f. Warburg, A.M. 270 Wassermann, Chr. 307 Weber, M. 35, 364-367, 369-373, 377, 394, 397, 412, 492 Weiler, A.G. 166 Weischedel, W. 43f., 46f. Welz, Cl. 335f., 496, 498 Wendel, S. 488 Wenz, G. 178 Wesley, J.B. 352 Whitehead, A.N. 9, 17, 27f., 30, 34, 53, 93,307-314, 347, 429, 488 Wiehl, R. 307
Wieland, W. 92 Wilde, A. de 81 Willaschek, M. 142 Winter, A. 227 Wippel, J.F. 139,160 Wißmann, H. 5 Witte, M. 77,79 Wittgenstein, L. 9, 18, 23f., 34, 52, 317, 348f., 443 Wölfel, E. 50, 160, 197, 444, 488 Wolter, A.B. 160-162 Wuchterl, K. 31,48,51 Wulff, D.M. 342f., 351, 356 Wurst, G. 107 Xenophanes v. Kolophon 66-74, 85 Yandell, K.E. 49,425 Zagzebski, L. 180 Zahavi, D. 309 Zarathustra 2, 222 Zeus 99 Zimmermann, A. 34 Zofar v. Naama 77
Sachregister Von Begriffen, die häufig vorkommen, werden nicht alle Belegstellen genannt, sondern bevorzugt die, an denen diese Begriffe definitorisch eingeführt, genauer bestimmt oder mit ausgewählten Zitaten verbunden werden. In diesen Fällen erfüllt das Register eher die Funktion eines Glossars, als dass bei der Nennung der Stichworte Vollständigkeit erreicht werden sollte. - Aufgeführt werden allein Substantive, die in der Regel die entsprechenden Adjektivbildungen einschließen. Abduktion 28-30, 272, 436-446, 462, 466, 468, 471-473, 477, 486f., 489, 497, 502-504 Abendmahl 64,457 Aberglaube 193, 213, 228, 242, 325, 387, 401 Abgrund 115, 179, 233, 259f., 318, 321, 325, 352, 380, 404-406, 463, 479f. Abhängigkeit 288-290, 346, 373, 393, 466 Abkünftigkeit 3f., 14-16, 33, 40, 48f., 53, 85, 92, 259, 420, 432 Absolute 10-12, 18, 47, 53f., 174, 216, 218, 259f., 289f., 329f., 332-334, 404f., 407-409, 411f., 414f., 464f., 492, 498 Achsenzeit 2, 56 Affekt 169, 185f., 243, 254, 258, 326 Agapismus 476,489,498 Ahnung 405,419 Allmacht 72-74, 176, 179f., 183, 234, 492f., 496-498, 501f. Allwirksamkeit 176, 183f., 187, 497 American Philosophy 247f., 258, 428, 439, 457 Analogia entis 486 Analogie 157-159, 212, 266, 277f., 468f. Anamnesis 301
Andere 39, 53f., 161, 295, 300, 329f., 336f., 374, 382, 403, 435, 452, 480482, 484f., 488 Andersheit 331,334-337,483,485 Aneignung 11, 21, 40, 178, 259, 290, 307, 393, 397, 457 Anerkennung 12f., 43, 452 Anfechtung 182 Anschauung 44f., 148, 191, 201-205, 233, 263, 266, 272, 283f., 286, 317, 320, 325, 422, 428, 466 Anthropisches Prinzip 17, 468 Anthropologie 41f., 210, 218, 228, 479 Anthropomorphismus 72-74, 212, 214, 278, 486f.,497 Apperzeption 427f. Appräsentation 380f. Apriori 5f., 10, 22f., 88, 202f., 209, 229, 236, 241f., 280, 284, 357, 362, 401, 439, 465 Arminianismus 249 Artes 152 Artikulation 327,457 Askese 348,370 Ästhetik 8, 15, 20, 100, 111, 191, 200, 263, 280, 334, 450 Atheismus 69, 223, 283, 328, 330f., 433 Atheismusstreit 329 Ätiologie 56 Auferstehung 52, 349, 406f., 492
548
Sachregister
Aufklärung 6, 31, 188, 194f., 216, 234, 237, 244, 365, 403, 491 Augenblick 3, lOOf., 122, 261, 263-265, 282, 288, 292, 294, 296-302, 304307, 313-315, 318, 320, 333-335, 339,419,428 Außen-/Innenperspektive 1, 10f., 46, 118, 123, 326, 341, 385, 388, 390, 401, 416, 423, 434, 480, 482-484 Autonomie 197, 204, 209f. Autopoiesis 149 Befreiung 13, 116f., 174f., 225, 290, 300 Begriff 12f., 21, 35f., 49, 86, 99, 101, 122, 129, 156, 158, 161, 163, 179, 199f., 204, 207, 212, 216, 219, 223, 237, 306, 330, 335, 388, 404f., 422, 461, 465f., 500-503 Bekehrung 114, 117, 348, 351, 354f. Belief 230-235, 241f., 344, 358, 363, 424f., 433, 436, 443, 460-462 Beobachtung 17, 38, 191f., 271, 378, 383-385, 387-390, 392f., 421, 434, 449,466 Bestimmbarkeit 19, 84, 120, 264, 317, 383, 455, 477 Bestimmtheit 13, 16f., 142, 143, 161, 163, 186, 204, 254, 262, 287, 293, 314, 327, 330, 333, 335, 341, 342, 347, 373, 376, 380, 383, 417, 425, 440, 454f., 459, 464, 475-477, 495, 497, 500 Bewegung 15, 43, 54, 68, 73, 97, 102, llOf., 112f., 119, 122, 127-133, 141, 146-150, 176, 199, 216, 252f., 296, 301, 313f., 495 Bibel 46, 112, 171, 177, 205, 211, 243, 406 Bild 15f., 20, 66, 68, 70, 72, 74, 80, 99f., 105, 116f., 122, 132f., 135, 182f., 185-188, 223, 233, 235, 270-278, 295, 298, 305, 313-316, 318f., 321f., 328, 335, 337, 354, 405, 410, 413, 432, 439, 448, 458, 475, 480, 491 -dialektisches 319,322,334 Bildlosigkeit 318 Blick 83, 267, 279, 296-298, 300, 316, 318,328, 330, 344
Böse 53, 109, 112, 114, 116, 171, 174, 179, 181-183, 187, 193, 210-212, 248, 352, 368, 458f., 490-492, 494497 Buddhismus 13,354,371 Bund 63-65,95, 117,213,244 Calvinismus 248f. Charisma 371 Chiffrierung 383, 385, 392 Christentum 2, 8, 31, 33, 40, 97, 108, 111, 123, 154, 172, 221, 301, 354, 371, 388, 407, 411,413f. Christologie 122, 212, 388, 395, 405f., 479 Common Sense 24, 144, 217, 252, 254256, 258 Creatio ex nihilo 20, 131, 459 Dasein 21, 24f., 81, 141, 210, 215f., 224f., 237, 241, 247, 257, 262, 270, 279, 282f., 289, 308, 406, 419, 498 Dedekindscher Schnitt 475, 477 Deduktion 23, 30, 191, 427, 437-439, 462, 471, 498, 500 Determinismus 176, 180f., 230, 344, 476 Deuteronomium 56-59, 63-67, 69, 71, 73,95 Diagramm 270, 272-275, 277, 305 Dialektik 118, 120, 152-155, 184, 189, 191, 194f., 200, 287, 392 Differenz 69, 72, 141f., 145, 160, 164, 184, 324, 335, 337, 381f., 386, 392, 408f., 421, 429, 454 Ding an sich 223 Divination 103, 440, 472f. Dogma 204f., 217, 264 Dualismus 91, llOf., 114-116, 118, 183, 345, 492 Durchsichtigkeit 238, 389, 482 Ehrfurcht 459 Ein-Bildung 185, 319, 430, 432f., Einbildungskraft 6, 428f. Einheit 8, 11-13, 27, 49, 54, 71f., 73f., 85, 91, 98, 100-103, 106-116, 119121, 142, 145, 155-157, 160, 166,
Sachregister 195, 202, 206, 208, 225, 258, 263, 282, 286-288, 292, 309, 312, 315322, 324, 326, 329, 338f., 354, 361, 371, 373, 378, 381f., 389, 392, 403, 410f., 428, 454, 479 E m p f i n d u n g 3, 28, 199f., 231, 234, 236, 263, 265, 277, 279f., 282, 284, 310, 413, 441,487 Empirie 6, 34f., 92, 178, 187, 197, 200, 220, 222, 327, 422, 457 Empirismus 9, 23, 34, 48, 72, 189, 249, 345, 351, 362, 401 Entmythologisierung 61 Entscheidung 25, 64, 92f., 177, 182, 186, 210, 228, 247, 249, 254, 327, 347, 448, 479, 492, 496 Entzauberung 365, 371 Ereignis 3, 10, 28, 30-32, 34, 37f., 101, 148, 151, 180, 183, 235, 244f., 256f., 266f., 282, 284, 286, 292, 295, 303, 306-312, 337f., 355, 363, 396f., 420f., 432, 435, 441, 454f., 458f., 485, 487, 492, 495 Erfahrung 3-5, 22, 54, 81f., 147f., 167, 169f., 183, 188, 191, 200-205, 210, 215, 257, 283, 417f., 424, 466, 471, 490, 503 - religiöse 11, 24, 26, 40, 50, 151, 219, 259f., 314, 323, 343, 346, 349,351,421 - Universen der 27f., 30, 435f., 439f., 444, 473, 478, 486, 489, 502f. Erkenntnistheorie 69, 73, 146, 279, 422 - evolutionäre 69f., - reformierte 44, 425, 500 Erklärung 6, 17, 25, 32, 38, 151, 199, 204, 217, 219f., 224, 227, 353f., 373, 377, 394f., 466, 469f. Erlebnis 38, 271, 296, 354, 416 Erlösung 98, 104, 107, 114, 171, 225, 323, 328, 367, 369-371, 388, 397, 413, 485 Ermöglichung 3, 4, 7, 16, 19f., 38f., 131, 133, 259, 265, 268, 275, 278, 316, 337, 436, 440-443, 466, 497, 503f.
549
Ernst 52, 76, 82, 116, 228, 266, 349f., 358, 404, 407, 442f. Erzählung 60, 220, 336, 418, 457, 483 Esoterik 352 Esse 5, 34, 139-145, 160 Essentia 109, 139-142, 144f.,160 Ethik 15, 20f. 39, 41, 125, 127, 137, 146, 165, 170, 172f., 175, 180, 200, 236, 242f., 287f., 367, 372, 449f. Etwasheit 126f., 141-145, 160, 165, 309 Eucharistie 457 Evolution 3f., 257, 274f., 302, 411, 440f., 468, 473, 477 Ewigkeit 92, 96, 105f., 129-132, 134, 137, 141, 144, 146, 174, 244, 246, 256f., 296-302, 305-307, 318, 474, 481, 492 Ex nihilo 256,263,459 Ex nihilo nihil fit 150 Existenz 19, 24, 35, 46, 49, 137, 141, 145f., 207, 236, 255, 268, 279, 312, 326, 473, 489, 499, 502 Experiment 107, 189, 192, 345, 422f. Faith 230-235, 324, 344, 436, 503 Fallibilismus 71, 195f., 258, 272, 275, 390, 392, 464 Falsifikation 192f., 195, 448 Forschung 21, 37, 54, 70, 178, 195f., 307, 371, 393, 399, 410, 414-416, 420, 434,462, 503 Fortschritt 37, 194, 203 Freiheit 35, 45f., 115, 161, 165, 173f., 202, 207f., 210f., 227f., 248, 252254, 283, 289f., 302, 330, 400, 404407, 412, 418, 434f., 441, 467f., 493f., 497 Fremde 10, 41, 59, 61-63, 116, 224, 484f. Friede 6 , 2 4 2 , 3 6 2 , 4 0 1 Frömmigkeit 83, 108, 262, 287f., 347, 367, 369f., 404, 406, 409, 415, 452 Fundamentalismus 61 Fundamentaltheologie 8, 52 Funktional 169, 220, 307, 313f., 360, 367, 371-374, 377-380, 382, 387, 392-398, 461, 468, 487f., 494
550
Sachregister
Gabe 337, 396f. Gebet 106, 194, 342, 420, 461, 488 Gebrauch 24, 33, 40, 158, 200, 204, 206, 244, 359 Gefühl 3£, 26f., 50f., 224, 231, 259, 262-264, 279f., 282-290, 311, 322325, 329, 333, 344-347, 350, 359, 361, 404-406, 441f., 449f., 456f., 460, 462f., 477, 487f. Gefühlsqualität 259f., 261, 263, 265, 267-269, 271, 273, 275, 277, 279, 281, 283, 285, 286, 287, 289, 290, 291, 292, 295, 300, 308, 311, 313, 315f., 326, 339, 341, 349, 392, 402, 408, 427, 432, 441f., 451, 455, 488, 498, 503 Gegenwart 64, 122, 180, 220, 282, 294303, 305f., 308f., 358, 397, 418, 445 Geist 42, 45, 47f., 93, 96-99, 101, 104106, 110, 115, 117, 146, 158, 162, 185, 187, 190-192, 195f., 215, 222f., 225, 250f., 258, 281f., 299, 328, 334, 338, 352-354, 368, 402f., 407f., 439, 464, 478, 487f., 493, 499 G e m ü t 216, 250, 257, 263, 428 Genealogie 56, 224 Gerechtigkeit 75-77, 79, 81, 84f., 88, 94f., 158, 180, 184, 243, 363, 387, 396, 490 Geschichte 36, 47, 59, 65, 272f., 334, 388, 399f., 403, 407, 410-412, 414f., 418, 447, 482f. Geschichten 15, 220, 234, 355 Gewissen 178, 181, 196, 207, 213, 227, 367-369, 484 Gewissheit 109-113, 115, 117, 169f., 176-178, 183-186, 230, 238-240, 242, 246, 322, 325, 332, 346f., 419, 423-425, 429, 466 Gewohnheit 5, 114-116, 191, 230f., 260, 401, 461 Glaube 28, 31, 52, 104, 138, 170, 175f., 179f., 186, 221, 234f., 242, 260, 322, 349, 405, 462, 464, 479, 482 Gleichnis 39, 83-94, 99, l l l f . Glück 35, 72, 190, 194, 276£, 368, 485
155, 165, 224, 230, 361, 396,
352, 357,
Glückseligkeit 101-103, 207-209, 212, 234, 354 Gnade 46, 60, 113f., 116f., 171, 174f., 179, 182, 187, 248-252, 253, 352 Gott, verborgener 120, 182-184 Gottesargument 21, 24f., 28-30, 129, 137, 146, 313, 358, 423, 436-446, 465f., 498 Gottesbeweis 21, 23f., 41, 102, 145147, 160f., 170, 206, 210, 212, 224, 237, 256, 262, 389, 401f., 444, 480, 495 Gottesverhältnis 5, 46, 49, 57f., 79-83, 88, 94f., 104, 107f., 173, 186, 235, 262, 358, 412, 479, 493 G r a m m a t i k 32, 152, 154, 156-158, 184, 269 Gravitation 82, 149, 197 G r u n d 8, 33, 43, 56, 65, 87, 113, 131, 143, 150f., 193, 302, 316-320, 455, 463f., 486, 497 Grundvertrauen 453 Gute 15, 75, 78, 83, 85-94, 99, 101106, 109, 112, 116, 118-121, 123, 125, 127f., 137, 144-146, 172, 174, 179, 182, 186, 193, 208, 211f., 221f., 227, 248, 350, 368, 459f., 471, 476, 492, 494 Güte 63, 92, 119, 158, 172, 251, 312314, 367, 370, 448, 455, 472, 491f., 496, 50 lf. Habit 241, 450, 460f. Haecceitas 35, 497 Handlung 3, 94, 173, 179f., 209f., 235, 241, 250, 253f., 284, 333, 347, 363, 369f., 389, 393, 395, 427, 460, 486f. Handlungstheorie 36, 449 H a r m o n i e 13, 109f., 311f., 431, 453455 , 487 Heilige 367, 370, 384, 416, 424 Heiliger Geist 117, 157, 158, 250f., 320, 395 Heilung 59f., 213, 352, 355f., 361 Hellenismus 66f., 77, 95 H e r m e n e u t i k 7, 21, 25, 32, 42, 45f., 177, 184, 242, 278, 295, 326, 338, 344, 415, 418, 420, 440, 490
Sachregister H e r z 64f., 95, 117, 178, 181, 185f., 193, 211, 232, 250, 257t., 282, 301, 322, 349, 433, 436, 498 H i n d u i s m u s 2, 13, 371 Historie 5 9 , 6 2 , 7 0 , 2 4 5 , 4 1 1 H o f f n u n g 37, 79, 96, 190, 194, 333, 349, 355, 369, 402 H o r i z o n t 16, 85f., 133, 221, 227, 269, 295, 380f, 384 387, 392, 418f, 462 H u m a n i s m u s 119, 167, 169, 171, 184 H y p o t h e s e 25f, 28, 131, 198, 265, 275, 278, 281, 292f, 309, 326-328, 357f., 429, 435-440, 442, 445, 454, 461, 466, 468, 470, 472f., 477, 487, 495, 503 Ideal 93, 200, 207, 212f., 283, 288, 314, 334, 362f., 396, 422, 459 - transzendentales 191, 206, 225 Idealismus 7, 47, 229, 287, 374, 487 - deutscher 45, 49, 227, 260, 287, 329, 342, 374, 400 Idee 39, 49, 54, 85-94, 96-99, 102, 103, 110, 123, 125, 133, 137, 144-146, 204-207, 262, 264f., 272, 302f., 326, 337, 363, 404f., 407, 435f., 467, 4 8 7 489 Ikon 268-270, 272, 275-277, 311, 430, 452, 457,489 Ikonizität 269, 271, 275, 278, 436 Illusion 191, 206, 225, 323, 351, 422, 456 Imagination 21, 86, 427-433, 441-443, 449-452, 476, 486, 489 I m m a n e n z 13, 134, 137, 225, 389 Index 268f., 293, 452f., 457f., 489, 497 I n d i v i d u u m 216, 218, 314, 347, 353, 359, 361 Induktion 25, 30, 147Í, 189Í., 192Í., 195f., 422, 437-439, 462, 465, 467f., 471 Infinit 123, 132, 147, 150, 253, 264, 452-455, 495 Infinitesimal 265, 303-306, 464, 474f., 477 Innerer Mensch 109f., 112-116 Inspiration 244
551
Instinkt 28, 2 2 l £ , 224-226, 231, 258, 292, 355, 359, 363, 402, 405, 439, 441, 444, 487, 502 Interesse 25, 92, 209, 240-242, 262, 326, 334, 338, 346, 348f., 481 Interprétant 3, 268f., 310, 336, 452, 485f. Ironie 75f., 83f., 350 Islam 2, 4, 12f., 33, 136, 314, 371, 490 Istheit 126f., 141-145, 154, 160, 165, 309 Jenseits 99, 120f., 125, 217, 225, 229, 337, 405, 492 J u d e n t u m 12f., 33, 66f., 95, 136, 194, 371, 492 K a r m a n 492 Kategorien 8, 13, 81, 127, 135, 154, 162, 200, 205, 206, 229, 262, 267f., 307, 312, 368, 415, 419, 443, 468, 471,481 Kausalität 148, 222, 230, 244, 262, 274, 468, 476 Kirche 4, 6, 67, 96, 117, 138f., 145f., 154, 170, 193, 213f., 236, 243, 248, 371f., 488 K o m m u n i k a t i o n 65, 263, 300, 304, 307, 315, 378, 385, 387-393, 461, 488 K o m m u n i t a r i s m u s 458 Komplexität 331, 373, 375-378, 387f. , 448, 454, 482 Konfuzianismus 371 Konstruktivismus 374, 390 Kontemplation 194 Kontingenz 13, 43, 51, 146, 161, 164, 176, 226, 254, 256f., 372f., 386-390, 392f, 397, 420, 432, 495 K o n t i n u u m , Kontinuität 8, 19-21, 27, 29, 96, 131, 250, 258, 264, 265, 267, 275, 294, 295, 298, 302-306, 310, 338, 343, 361f., 379, 397, 420, 425f., 433, 435, 437-441, 444f., 448, 451, 455, 458-460, 462-464, 473-478, 485, 486, 489f., 495, 497f., 503 Kosmologie 16, 19, 21, 29, 39, 52f., 79, 81f., 92, 103, 131, 133, 137, 143f.,
552
Sachregister
151, 174, 179, 198, 257, 264, 266, 286, 294, 303, 308f., 313, 393, 432, 478, 489, 497 Kreativität 15, 20, 27, 54, 92, 114, 138, 183, 187, 259f., 271-273, 275, 278f., 286, 291, 292, 308, 310-315, 319, 322, 328, 332, 339, 348, 431, 435, 443, 455, 458, 464, 473, 475, 477, 487-489, 497 Kultur 2-4, 22, 36, 38, 169, 287, 296, 413, 4 4 2 , 4 8 9 , 4 9 0 , 5 0 3 Leben 13, 23, 25, 38f., 59f., 70, 76-80, 98, 108, 130, 163, 174, 189f., 209, 220-224, 263, 265, 272, 283, 287f., 297-300, 306, 333, 349f., 359, 402f., 412-414, 456-458, 460, 487, 489, 491 Lebensführung 248f., 371, 442, 445, 462 Lebensform 13, 40f., 51f., 69, 365, 393395,410,415,418, 431,490 Leiden 76, 78-82, 154, 219, 350, 361, 404, 407, 490-495, 497 Leidenschaft 24f., lOOf., 112, 113, 152, 168, 176, 178, 233, 246, 261f., 358, 405,423,481,497 Licht 38, 40, 80f., 86-90, 101, 106, 108112, 116f., 120-124, 146, 180, 189, 233f., 242, 282, 491f., 498 Liebe 99f., 158, 193, 224, 243, 396, 407, 458, 476f., 485, 497f., 502 Logik 15, 20, 22, 28, 32, 152f., 162f., 166, 191f., 263, 303, 345, 382, 409, 437, 462, 472, 486f. - terministische 162, 166 Logos 50f., 57, 59, 66, 143, 365 Lumen naturale 242 Magie 66, 270, 346, 366, 371 Manichäismus 107-111, 114-116 Materialismus 344, 359 Materie 93, 140, 143, 167, 199, 207, 281, 308, 313, 333, 464, 471, 476, 478, 487 Mathematik 18f., 43, 128, 130, 197, 200-204, 230, 239, 307, 441, 474
Mechanik 148f., 150f., 197-199, 223, 257, 338, 375, 439, 476f. Meditation 26f., 53, 237-240, 333f., 433, 442, 471 Metapher 57, 88, 122, 191, 205, 247, 259, 270, 276-278, 300, 319, 321, 331,487 Metaphysik 14, 16, 19, 26, 29, 39, 43, 45, 53, 106, 127, 129f., 135f., 145, 191, 205, 216, 223, 236, 259, 283, 309, 333, 358, 454, 503 - evolutionäre 43, 259, 339, 362, 474, 476f., 485 Methode 11, 33, 35f., 162, 170, 188, 195f., 223, 236-239, 241£, 274, 281, 328, 400f., 410f., 418, 429 Moderne 4f., 9, 29, 43,187, 192, 196, 252, 278, 321, 334, 386, 395, 406, 468 Möglichkeit 16f., 27, 129, 131, 140, 147, 149, 161, 268, 270, 302, 304, 312, 317, 332, 381, 429, 438, 475, 502f. Monotheismus 13, 61, 63, 66, 72, 73, 313, 3 4 8 , 3 8 4 , 4 0 2 , 4 9 0 Moral 6, 9f., 22, 45, 205, 207-209, 212214, 221-224, 227-229, 249, 254, 280, 282f., 347, 350, 364, 406 Musement 433, 446 Mystik 18, 53f., 119, 122f., 212, 259, 301, 315-319, 321-331, 333-337, 339, 341, 343, 348, 351, 354, 356, 361, 369f., 390, 480 Mythos 57-59, 62f., 65-67, 69, 73f., 87f., 93, 109, 111, 134, 220, 365, 395, 490 Name, Eigenname 83, 95, 119, 120f., 134f., 155-159, 166, 189, 193, 320f., 451 N a t u r 38, 53, 140f., 146, 161f., 189193, 199, 201, 210, 217, 257, 272, 274f., 282, 329f., 353f., 406, 410, 460, 467f., 478 Naturalismus 43, 53f. Naturgeschichte 197f. Naturgesetz 54, 197f., 217, 287, 304, 363, 469f., 487
Sachregister Naturkonstante 17, 19, 39, 82 Naturreligion 404, 407f. Naturwissenschaft 9, 16, 22, 25, 38, 45, 81f., 144, 151, 167, 194, 217, 220, 236, 241, 249, 280, 295, 309, 323, 357, 374,411,432, 497 Negativität 328, 331, 333-335, 337, 406f. Neues 28, 62, 193, 239, 266, 273, 277, 308, 326, 397, 433 Neuplatonismus 98, 119, 306 Neuzeit 9, 22, 33, 151, 166, 170, 187, 264, 308, 323, 373f., 386, 388, 422, 468 Nicht 318, 331 Nichtidentische 53, 333f. Nichts 43, 46, 83, 109, 121, 161, 257, 298, 307, 318, 330-332, 336, 351, Nominalismus 29, 159, 161-164, 166f., 292, 463 Norm 448, 455 Normativität 9, 20, 91f., 305, 311, 427, 429, 448f., 451, 453, 455-457, 459, 472£,486 Notwendigkeit 25, 93, 146, 152, 175f., 181f., 204, 209f., 240, 245, 247, 254257, 280, 290, 332, 343, 358, 363, 378, 402, 412, 418, 437, 439, 444446, 465f., 473, 477, 480f., 495, 498, 501-503 Objekt 49, 100, 208, 215, 218f., 276, 292, 303, 310, 318, 324, 417, 432f., 463, 468 - dynamisches 268f., 292 - unmittelbares 268f., 293 Objektivierung 187, 205, 223, 271, 309 Offenbarung 4f., 7f., 31, 41f., 44, 138f., 145, 170, 198, 212, 214f., 243, 246, 324, 328, 344, 354, 401, 413-415, 426, 464 Ontologie 10, 26, 29, 135, 167, 275, 307f., 311, 314, 356, 482f., 494 Ordnung 130, 162, 164, 189, 198f., 256f., 311f., 367, 375f., 378, 391, 434, 456, 495, 503
269, 363,
275, 50f., 230, 390, 266, 485, 230, 387,
553
Orientierung 32, 91, 96, 107, 210, 321, 338, 415,419, 442, 457, 486, 488f. Ousia 5, 126f., 129f., 132, 137, 139, 141f., 144-147 - erste 126, 144f. Paradox 18, 31, 117, 122, 261-263, 265, 267, 305, 315, 322, 334f., 337, 382385, 387, 390, 392f., 397, 409, 417, 419, 428, 477, 496 Peccatum originale 117 Percipuum 293f., 311, 316 Perfektion 388f., 393 Person 116, 158, 170, 212, 253, 262, 304, 332, 389f., 426f., 429, 479f., 482-485, 487, 489, - erste 46, 325f., 372, 489 Personalität 199, 358, 388f., 479, 486490 Persönlichkeit 169, 264f., 304, 347, 412, 426f., 478-480, 482, 485, 487489 Perspektivierung 52, 238, 267f., Pessimismus 444 Pflicht 207f., 215 Phaneroskopie 417 Phänomenologie 21, 25, 34, 46, 53, 215f., 308f., 338, 407f., 415-417, 419f., 425, 481 Philosophie 7, 31, 40f., 84, 102, 125, 152, 180f., 200f., 236f., 288, 307, 362, 380, 403f., 474, 487 - christliche 42, 44, 47, 97, 106f., 112, 117, 123, 128, 136, 151, 157, 166, 168, 318 - erste 43, 125, 417 Physik 19, 39, 43, 125, 128, 149, 287, 294f., 299, 456 Piatonismus 91, 98, 106, 111, 362 Pluralismus 44, 391 Pluralität 44, 49, 343, 356 Poesie 67, 77, 234, 276£, 278, 397, 406, 433, 447, 486 Polytheismus 66, 74, 402 Postulat 25, 208, 358, 371, 413 Potentia absoluta/ordinata 140, 145, 158, 162, 165, 169, 174, 182 Prädestination 171, 183, 187, 248
554
Sachregister
Pragmatik 185,228 Pragmatische Maxime 37, 72, 251, 358, 461 Pragmatismus 7, 15, 28, 36f., 226, 280, 326f., 338, 343, 346f., 352, 358-360, 362, 428, 439, 453, 463 Präszienz/Vorherwissen 171, 179f. Profanität 453 Projektion 69, 218, 351, 456 Prophet 2, 56, 59-66, 70, 175, 371, 386, 492 Protestantisches Prinzip 447, 473 Providenz 171, 187 Prozess 17, 20f., 37f., 54, 59, 71f., 196, 215, 219, 268, 275, 278, 306-308, 311-314, 333, 341, 346, 382, 408f., 411, 435, 440, 442, 455, 457-459, 362, 462, 477f., 486f., 489, 494, 497 Psychologie 8, 168, 222f., 338, 342 Puritanismus 247f. Quale, Qualia 269, 338f. Qualität 3, 15, 104, 123, 126, 137, 145, 154, 186, 195, 219, 269f., 272, 274Í., 277, 293, 297f., 300, 305, 307, 310, 324, 326, 328, 334, 337f., 358, 361, 376, 421, 426f., 429, 431, 435, 441f., 451, 456, 464, 485f., 492, 496, 502 Quantität 154, 167, 294, 492, 496f. Rationalismus 71f., 155, 325, 348 R a u m 34f., 39, 57, 82f., 96, 110, 131, 167, 200, 263, 295, 311, 441, 464, 471 Realismus 161, 229, 374 Realität 16-19, 28, 37f., 156, 161, 166f., 196, 262, 292, 307f., 356, 436f., 462, 482, 489 Rechtfertigung/Rechtfertigungslehre 171, 322, 327, 343, 352 Rede 63, 65, 80f., 111, 156f., 185, 485 Reformation 44, 167, 169f., 177, 321, 395, 479 Relation 54, 87, 90, 98, 118, 132, 150f., 154, 165, 187, 198, 219, 223, 230, 242, 251, 290, 318f., 336, 349, 360, 363, 374f., 377, 397, 432, 460f., 463, 474f., 488 Religion, natürliche 5f., 401
Religionsgeschichte lf., 11, 16, 35, 47, 220, 342, 366, 400, 409-411, 414416, 419f. Religionskritik 6f., 42f., 48, 196f., 199, 206, 210f., 218-220, 225, 227, 231, 233, 249, 328f., 342, 344, 347, 354 Religionspsychologie 35, 342, 344, 346, 355, 360f., 363, 399 Religionssoziologie 7, 35, 342, 364366, 372f., 396, 399 Religionsphänomenologie 11, 47, 416 Religionswissenschaft lf., 4, 11, 14, 16, 21, 264, 348, 359f., 367-370, 373, 410f., 415-417, 421, 440, 447 Religiosität 1, 15, 40, 106, 219, 264, 295f., 323, 328, 359f., 405, 423, 427, 460 Renaissance 167, 169 Repräsentation 1 1 , 6 3 , 3 1 0 , 3 2 7 , 3 8 0 Rezeptivität 15, 285, 292f. Rhetorik 125, 152, 154, 183-185 Ritual 2, 11, 31, 41, 270, 296, 347, 395, 426f., 447, 450-453, 457-459, 464 Sakrament 61, 395, 447, 453, 457, 459 Säkularisierung 365, 371, 387 Satan 76, 182f. Scholastik 9, 118, 124, 135-137, 144, 166-168, 180, 185, 188,236, 308, Schöne 85-87, 98f., 110, 133, 368, 471 Schöpfung 13, 20, 27, 43, 54, 59, 79-82, 84, 93, 104-106, 144, 181, 183, 198, 234, 256f., 278, 286, 297, 319, 395, 432, 443f., 459, 493-495 Schuld 25, 64, 77f., 302, 368f., 397, 493 Seele 86, 89-91, 97-106, 109f., 128, 173, 200, 208, 249, 276, 282, 316, 318-322, 354, 414, 442,482, 485 Seiende 29, 33f., 43, 84, 87, 89, 96, 99, 119f., 128-130, 136, 139, 142f., 145, 160, 164, 215, 448, 474 Sein 5, 29, 34, 49, 84f., 91, 106, 119, 126, 139f., 145, 160, 223, 260, 319, 336, 350, 404, 448, 469, 477, 498501 Selbst 35, 45, lOOf., 133, 170, 206, 258, 265, 279, 301, 349, 361, 408f., 434, 457, 480, 484
Sachregister Selbst-Sein 409, 423, 425-427, 474, 478£, 48l£., 486, 488-490, 497, 504 Selbstbewusstsein 197, 204, 206, 210, 215, 241f., 261f., 265, 285, 287-291, 302, 329 Selbstbeziehung 27, 33, 239, 260, 267f., 317, 456, 471, 478, 483f., 488 Selbstorganisation 54, 149, 468 Selektion 272, 274, 375f., 380 Semantik 180, 185, 306 Semiotik 2-4, 17, 21, 28, 31, 35, 39, 59, 118, 157-159, 265, 267-269, 271, 275, 277, 280, 285, 290, 292, 301f., 304, 309-311, 313, 332, 336, 382f., 389, 392f., 434, 436, 448, 450, 452, 457, 474, 485-489 - kategoriale 20, 28f., 264-267, 284, 315, 326, 363, 419f., 426, 435, 455, 475 Singularität 163f., 294f., 452, 454f. Sinn 11, 221, 280, 285, 303, 371, 373, 378-385, 460-464 Sinnlichkeit 73, 91, 101, 112, 185, 200, 202f., 219, 222, 229, 233f., 284f., Skepsis 177, 179, 184, 238 Sokratik 98 Sollen 209, 345, 447-449, 455, 459f. Sonne 38f., 76, 83, 85-88, 90-94, 96f., 99f., 110-112, 120f., 123, 217, 276f., Soteriologie 46, 103, 114, 173-175, 178, 182, 184, 479 Soziologie 7, 342, 364, 366, 368, 37l£., 374, 378, 394f., 397f. Spekulation 200f., 203, 216, 265 Spiel 253, 332, 434, 436, 472, 498 Spontaneität 27, 208, 210, 272, 275, 339, 371, 428, 434, 441f., 476f., 494 Sprache 1, 12, 38, 119, 122, 199, 220f., 233-237, 277, 315, 321f., 336, 351, 440, 448 Sprachspiel 24 Sprung 230, 244-247, 262, 301 Subjekt 28, 33f., 100, 209, 223, 240, 247, 260, 262f., 280, 288, 303, 309f., 324, 336, 355, 404-406, 417, 429, 432f., 447, 463, 485f. Substanz 5, 8, 10, 102f., 126-135, 137, 139-143, 145, 147, 154-157, 159,
555
167, 203, 236-242, 275, 303, 308f., 318,409, 477 Summum bonum 104, 157, 458f., Sünde 46, 64, 78, 112-115, 117, 174f., 193, 210f., 218, 224, 248, 353, 367370, 458f., 481, 493,498 Supranaturalismus 361, 377, 401, 403, 419 Syllogismus 148, 190f., 439 Symbol 15, 31, 88, 268f., 283, 355, 367, 387, 397, 448, 459, 476, 486-488 Symbolisierung, personale 420, 485, 488, 502 Synechismus 131, 474-477, 485, 488490, 497 Syntaktik 185 System 24, 216, 219, 247, 307, 373-381, 403 Systemtheorie 372-374, 378-380 Taoismus 2 Taufe 464 Teleologie 92, 128, 133, 196, 274, 338, 403, 460, 464, 472 487 Theismus 42, 44, 47, 49, 223, 231, 237, 283,433 Theodizee 78, 236, 353f., 369, 379, 466, 490, 492-494, 497 Theogonie 69-71, 73 Theologie 7, 33, 40, 70, 103, 128, 137f., 165, 237, 254, 357, 389, 400 - dialektische 152f. - m y s t i s c h e 122,319,331 - natürliche 5f., 43, 444 - negative 18, 74, 119, 121f., 315, 328, 330, 335-337 - philosophische 7, 42, 44, 47f., 50 - positive 120f. - spekulative 42, 45 Tod 46, 54, 76, 78, 81, 109, 216, 244, 297, 301f., 333, 350, 377, 384, 395f., 405-407, 443, 458, 481-483, 490, 494 Toleranz 246, 248 Tora 57, 62, 64f. Transzendentalismus 7, 280f. Transzendentalphilosophie 9, 45, 48, 201f., 204-206, 215, 227, 229, 266,
556
Sachregister
284, 291, 362, 403, 422, 428, 477, 499 Transzendenz 13f., 42f., 45, 48, 50f., 72-74, 82, 111, 120, 123, 127, 133f., 137, 334, 336, 357, 365, 376£., 385, 389 Traum 239, 280f., 348, 354f., 357, 434 Trinität 106, 121, 149, 153-156, 159f., 165f., 216, 221, 319-321, 337, 409, 479, 489 Tychismus 476, 489 Übertragung 38f., 276£, 320, 323, 351, 406 Uberzeugungsbildung l l f . , 28, 30, 37f., 118, 165, 185, 231, 267, 279, 327, 342, 425, 439, 464, 503 Umwelt 374-380,386,489 Unbedingtheit/ ultimate realities 1220, 30, 33-35, 40f., 53, 82, 164, 172, 174-176, 183, 186f., 205, 229f., 232, 235f., 245-247, 250, 259f., 264, 279, 285-292, 302, 308, 313-316, 320f., 326, 337, 341f., 349, 360, 384, 390, 392, 396f., 400f., 403, 405, 408f., 413, 415, 420f., 426-428, 430, 432, 447, 449-452, 455, 458, 461, 463, 472, 478, 480-482, 489f., 497, 499, 502f. Unbegriffliche 99, 122, 330, 503 Unbestimmtheit 13, 16-20, 40, 63, 66, 263f., 284, 303, 317, 322, 376, 384, 391f., 417, 420, 440f., 454, 459, 464, 503 Unbewusste 219, 263, 355, 361 Unendlichkeit 18-20, 34, 83, 131, 140, 143, 147, 150, 181, 198f., 216, 218, 244, 283-285, 294f., 303, 305f., 313f., 321, 331, 336f., 346, 404-406, 423, 431, 455, 466, 468, 474f., 481, 495, 498 Unglaube 185-187 Universalien 101, 156, 159, 161, 164, 166 Universalität 9, 47, 81, 136 Universum 17, 19f., 25, 27-29, 35, 37, 54, 82, 198, 236, 282-286, 295f., 307, 311f., 325, 328, 361, 419, 425,
435f., 440, 466, 468f., 47l£., 475f., 486f., 495, 497 Unmittelbarkeit 3, 26, 50, 260-267, 269, 285, 288, 290f., 305, 307, 315, 321f., 329, 334, 339, 408f., 419, 426, 436, 480 Unsichtbare 90, 97, 108, 213, 299 Unsterblichkeit 202, 208, 400, 422, 488 Unterbewusstsein 355-357, 359f., 362 Unveränderlichkeit 89, 97, 128, 151, 174-176, 181, 190, 256,483 Unverfügbarkeit 49, 259, 484 Urbild 70, 105, 198, 212, 316, 318 Ursache 8, 32, 34, 56, 86f., 127-129, 132£, 139£, 146-150, 161, 192, 221225, 254-257, 282, 309, 465-467, 469£, 495 - erste 13, 126, 128, 131, 140, 143145, 148, 150 Ursprung 1, 11, 13, 16£, 27, 33£, 3840, 43, 54, 58, 67, 69, 79-82, 87-90, 92, 94£, 106, 109, 111, 120£, 133, 143, 197, 229, 250£, 263, 282, 284, 286£, 301, 317, 319-321, 325, 332, 337, 344£, 348, 386, 391, 393£, 424, 427£, 430, 435, 439-441, 443, 459, 473, 478, 488£, 494f. Urteil 14, 22, 36, 52, 76, 78, 179£, 186, 193, 20l£, 204, 228, 238, 242£, 266, 285, 293, 311, 345, 438, 442, 448 Utopie 189,333,396 Vagheit 12, 284£, 440£, 468, 473 Verborgenheit 120£, 182-184, 479£, 498 Vergangenheit 180, 294-297, 299, 302£, 334, 397, 440 Verhaltensgewohnheit 3, 115, 420, 445, 450£, 460, 472 Vermittlung 3, 16, 19, 26, 39, 46£, 64£, 93, 134, 143£, 146, 152, 167, 198, 235, 242, 245, 248, 261-264, 266£, 270£, 285, 290, 296, 315£, 322, 325, 327£, 338, 344, 391, 406, 408£, 416, 484 Vermutung 68, 71, 264, 438f. Vernunft 31, 48, 50, 87, 90, 110£, 130, 170, 180, 186, 194, 200-208, 228£,
Sachregister 233, 243-248, 259, 347, 400f., 405f., 439, 467, 480, 499 Vernunftreligion 3 1 , 2 0 5 , 2 1 1 , 2 1 4 Versöhnung 215, 403-407, 410, 453, 457f. Versonnenheit 420, 433-436, 442-445, 471f., 489, 502f. Verstand 120, 160, 191, 202-207, 229, 231, 233, 261f., 324, 427-429, 495, 498f., Verstehen 16f., 32, 150, 185, 271, 416, 418f., 459 Verzweiflung 113f., 179, 182, 185, 352, 463, 481, 493f. Via antiqua 166, 170 Via moderna 166f., 170, 173, 177, 182 Vielheit 27, 63, 84, 108, 115f. Vorsokratiker 56f., 67f., 70, 95, 421 474 Vorstellung 3, 18, 34, 87, 151, 216, 230f., 321, 367£, 402, 406-409, 426428, 430, 436, 474f. Wachstum 17, 39, 54, 87, 264f., 273, 285, 302-304, 427, 439, 444, 473, 476, 485, 487, 489 Wahrhaftigkeit 15, 37, 445, 462 Wahrheit 11, 33, 36-40, 47, 71, 87, 109f., 114, 125, 152, 174, 180, 232, 244f., 255, 320f., 346, 362f., 390, 404, 429, 433, 437f. W a h r n e h m u n g 4, 14f., 20, 37f., 63, 86, 110, 125, 252, 259, 263-267, 269, 274f., 278, 284, 292-309, 311-316, 322, 325f., 333f., 338, 34l£, 360f., 390-392, 397, 408, 415, 419, 422, 424f., 431, 435f., 503 Wahrnehmungsurteil 266, 293 Wahrscheinlichkeit 25f., 221, 402, 438, 467, 469f. Weisheit 27, 33, 77-79, 81f., 85, 136, 158, 175, 179, 300, 350, 467 Weltanschauung 33, 224, 356, 365, 432 Weltbild 27, 44, 147, 149, 197, 294, 365, 432
557
Werden 87, 90, 225f., 256, 272, 300, 304, 306f., 458, 475 Wert 11, 221, 311, 338, 351, 412, 414, 426, 451-456, 460 Wertung, starke 456-458 Wiederholung 57-59, 61-66, 76, 83, 88, 113,337, 450 Wiener Kreis 23 Wille 114f., 161, 169, 173f., 186, 217, 221f., 248, 252-255, 257, 324, 447, 493, 495 Willensfreiheit 173, 249, 252 Willensvermögen 171-173, 176, 179, 181-183, 186f. Wirklichkeit 16, 33f., 38, 102, 119, 129f., 132f., 139f., 143, 146f., 155, 174, 219, 239, 283, 295, 307, 332, 359, 3 8 1 , 4 0 9 , 4 1 9 , 4 4 2 , 4 9 5 Wissen 4, 23, 37, 71f., 83, 90, 138, 227f., 260f., 287, 290, 357, 403f., 422, 457 Wissenschaft 4, 37, 70, 118, 125-128, 137, 155, 165, 189f., 197, 205, 223, 236, 275, 325, 358f., 408f., 471 Wissenschaftstheorie 14, 21, 45, 137, 260, 279f. W u n d e r 198, 231, 244f., 402, 412 Zauber 59,365-368, 370-371, 397 Zeichen 2f., 15, 39, 61, 65, 94, 158, 163f., 166, 184f., 235f., 242, 248, 250f., 255, 267-269, 293, 303, 310, 335, 385, 392, 406, 467, 472, 485f., 489 Zeit 35, 129, 131, 167, 200, 263, 265, 294-302, 305f., 312f., 318, 440f., 481 Zeitintervall 265, 307 Zeitlichkeit 25, 298f., 302 Zufall 72, 198, 257, 272f., 303f., 312, 376f., 441, 444f., 472f., 476, 503 Z u k u n f t 59, 64, 66, 180, 219f., 244, 294, 296-299, 302, 397, 440 Zweck 130, 207, 209, 225, 275, 338 Zweifel 76, 109, 112, 217, 236, 238242, 460, 462f.