Religionen in Nachbarschaft: Pluralismus als Markenzeichen europäischer Religionsgeschichte 3402158485, 9783402158487

Die im Jahr 2009 in Erfurt herausgegebene zweibändige »Europäische Religionsgeschichte« (hg. von H.G. Kippenberg, J. Rüp

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German Pages 273 [281] Year 2012

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Table of contents :
Inhalt
Einleitung: Pluralismus als Markenzeichen der europäischen Religionsgeschichte
Außenansicht: Religionspluralismus in Ostasien
Pluralismus als Problem und Pluralismus als Wert – theologisch-ethische Überlegungen
Wann begann die Europäische Religionsgeschichte? Der hellenistisch-römische Mittelmeerraum und die europäische Gegenwart
Die Zeit der Anderen. Juden, „Heiden“, „Ketzer“ im christlichen Geschichtsdenken
Petrus Venerabilis, Abt von Cluny (1122–1156), und seine Beschäftigung mit dem Islam
Zwischenräume Orte, Worte und Wege von Konvertiten zwischen Judentum und Christentum
Die Th ematisierung paganer Religionen in der Frühen Neuzeit
Exklusiv vollkommen: Der christliche Glaube nach Hugo Grotius’
von 1629 und die Frage des Pluralismus
Aus der Zeit gefallen? Katholische Mission zwischen Modernitätsanspruch und Zivilisationskritik1
Geschlechter(un)gleichheit im theologischen Wissenssystem. Pluralisierung religiöser Geschlechterkonzepte in der europäischen Mo
Vielfalt in der christlichen Liturgie. Gottesdienst als Teil der europäischen Religionsgeschichte
Pluralität in totalitärer Diktatur? Katholische Kirche zwischen Zentralismus und Autonomie 1961–1989
Anmerkungen
Die Autorinnen und Autoren
Interdisziplinäres Forum Religion der Universität Erfurt
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Religionen in Nachbarschaft: Pluralismus als Markenzeichen europäischer Religionsgeschichte
 3402158485, 9783402158487

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Mit Beiträgen von Christoph Bultmann, Stefanie Haarländer, Richard Hölzl, Thoralf Klein, Benedikt Kranemann, Christof Mandry, Martin Mulsow, Josef Pilvousek, Rotraud Ries, Jörg Rüpke, Sabine Schmolinsky und Heidemarie Winkel.

ISBN 978-3-402-15848-7

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Christoph Bultmann, Jörg Rüpke, Sabine Schmolinsky (Hgg.)

Religionen in Nachbarschaft Bultmann/Rüpke/Schmolinsky (Hgg.) Religionen in Nachbarschaft

Das Interdisziplinäre Forum Religion der Universität Erfurt hat sich in einer Vorlesungsreihe mit der starken These von einem „mehrfachen Pluralismus“ in der Religionsgeschichte Europas auseinandergesetzt, die in dem 2009 von Hans G. Kippenberg, Jörg Rüpke und Kocku von Stuckrad herausgegebenen Buch „Europäische Religionsgeschichte“ vertreten wird. Was bedeutet es, die traditionelle Sicht der Kirchengeschichte in Europa zu erweitern und von einer Religionsgeschichte zu sprechen? Soll Pluralismus als ein Problem oder als ein Wert verstanden werden? Wie lassen sich historische Erfahrungen im Mittelalter, in der Frühen Neuzeit, im 19. und 20. Jahrhundert deuten, wenn institutionelle Mehrheiten nicht automatisch ein Maßstab zur Beurteilung des „Häretischen“ oder „Marginalen“ sind? Beiträge über Polemiker und Konvertiten, Gelehrte und Missionare, Liturgiker und Kirchenpolitiker, Traditionalisten und Theologiestudierende lassen eine Dynamik erkennbar werden, für die eine Formel „Religionen in Nachbarschaft“ der Schlüssel sein könnte.

Pluralismus als Markenzeichen der europäischen Religionsgeschichte

Vorlesungen des Interdisziplinären Forums Religion Band der Universität Erfurt

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Bultmann, Rüpke, Schmolinsky (Hgg.) Religionen in Nachbarschaft

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Religionen in Nachbarschaft Pluralismus als Markenzeichen der europäischen Religionsgeschichte herausgegeben von Christoph Bultmann Jörg Rüpke Sabine Schmolinsky

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Vorlesungen des Interdisziplinären Forums Religion der Universität Erfurt Band 8

Gefördert durch Mittel des Interdisziplinären Forums Religion der Universität Erfurt

© 2012 Aschendorff Verlag GmbH & Co. KG, Münster Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, der Entnahme von Abbildungen, der Funksendung, der Wiedergabe auf fotomechanischem oder ähnlichem Wege und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Die Vergütungsansprüche des § 54, Abs. 2, UrhG werden durch die Verwertungsgesellschaft Wort wahrgenommen. Druck: Aschendorff Medien GmbH & Co. KG, Druckhaus Aschendorff, Münster

ISBN 978-3-402-15848-7

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Inhalt

Christoph Bultmann/Jörg Rüpke/Sabine Schmolinsky Einleitung: Pluralismus als Markenzeichen der europäischen Religionsgeschichte .......................................

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Thoralf Klein Außenansicht: Religionspluralismus in Ostasien .......................

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Christof Mandry Pluralismus als Problem und Pluralismus als Wert – theologisch-ethische Überlegungen ..........................................

29

Jörg Rüpke Wann begann die Europäische Religionsgeschichte? Der hellenistisch-römische Mittelmeerraum und die europäische Gegenwart ................................................

47

Sabine Schmolinsky Die Zeit der Anderen. Juden, ‚Heiden‘, ‚Ketzer‘ im christlichen Geschichtsdenken .....

61

Stefanie Haarländer Petrus Venerabilis, Abt von Cluny (1122–1156), und seine Beschäftigung mit dem Islam ....................................

75

Rotraud Ries Zwischenräume − Orte, Worte und Wege von Konvertiten zwischen Judentum und Christentum ............

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Martin Mulsow Die Thematisierung paganer Religionen in der Frühen Neuzeit .............................................................. 109

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Inhalt

Christoph Bultmann Exklusiv vollkommen. Der christliche Glaube nach Hugo Grotius’ De veritate religionis christianae von 1629 und die Frage des Pluralismus ................................................... 125 Richard Hölzl Aus der Zeit gefallen? Katholische Mission zwischen Modernitätsanspruch und Zivilisationskritik .............................................................. 143 Heidemarie Winkel Geschlechter(un)gleichheit im theologischen Wissenssystem. Pluralisierung religiöser Geschlechterkonzepte in der europäischen Moderne ................................................... 165 Benedikt Kranemann Vielfalt in der christlichen Liturgie. Gottesdienst als Teil der europäischen Religionsgeschichte ....... 189 Josef Pilvousek Pluralität in totalitärer Diktatur? Katholische Kirche zwischen Zentralismus und Autonomie 1961–1989 ..................................................... 205

Anmerkungen .......................................................................... 225 Die Autorinnen und Autoren ................................................... 270 Interdisziplinäres Forum Religion der Universität Erfurt ................................................................ 272 Die bisherigen Bände der Reihe ................................................ 274

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Christoph Bultmann Jörg Rüpke Sabine Schmolinsky

Einleitung: Pluralismus als Markenzeichen der europäischen Religionsgeschichte Europäische Religionsgeschichte heißt Kirchengeschichte. So scheint es wenigstens. Doch was aus der Sicht der Theologie beinahe selbstverständlich wirkt, ist aus der Sicht der Religionswissenschaft ungenügend. Ein Arbeitskreis unter Leitung der Religionswissenschaftler Hans Kippenberg, Jörg Rüpke und Kocku von Stuckrad hat dem Thema deshalb in den Jahren 2005 und 2006 zwei Tagungen am MaxWeber-Kolleg der Universität Erfurt gewidmet, um neuere Diskussionen über eine Europäische Religionsgeschichte, die ihren wesentlichen Anstoß 1993 durch den Religionswissenschaftler Burkhard Gladigow erhielten, zu bündeln und repräsentativ weiterzuführen. Die Ergebnisse wurden in einem Tagungsband publiziert, der nicht nur den neuen Leitbegriff „Europäische Religionsgeschichte“ als Titel trägt, sondern auch einen Untertitel „Ein mehrfacher Pluralismus“ aufweist (H. G. Kippenberg, J. Rüpke, K. von Stuckrad [Hg.], Europäische Religionsgeschichte. Ein mehrfacher Pluralismus, 2 Bde., Göttingen 2009). Für das Interdisziplinäre Forum Religion der Universität Erfurt ergab sich dadurch die Herausforderung, dem programmatischen Begriff des „Pluralismus“ nachzugehen, der ein, wenn nicht das wesentliche Merkmal der Religionsgeschiche in Europa von der Antike bis in die Gegenwart hinein bezeichnen soll. Ob man an die Nachbarschaft zwischen polytheistischen Religionen und dem Christentum in der Spätantike denkt, an die Nachbarschaft zwischen christlichen Kirchen und jüdischen Synagogen im Mittelalter, an die Nachbarschaft zwischen dem Christentum und dem Islam in West und Ost, in den verschiedensten Epochen und Regionen gab es ein pluralistisches Mit- und Nebeneinander, das – meist konfliktbezogen – zu gestalten war. Dabei soll die verallgemeinernde Rede von „Religionen in Nachbarschaft“ nicht den jeweiligen religionsinternen bzw. konkret für das Christentum den

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kirchlichen Pluralismus verdecken. Als Vorlesungen unter dem Titel „Pluralismus als Markenzeichen europäischer Religionsgeschichte?“ im Wintersemester 2009/10 gehalten, werden die Beiträge hier unter einem Titel ohne Fragezeichen vorgelegt, weil es nicht darum geht, ob, sondern darum, inwiefern Pluralismus als ein solches religionsgeschichtliches, auch kirchengeschichtliches Kennzeichen gelten kann. In dem genannten Band Europäische Religionsgeschichte. Ein mehrfacher Pluralismus wird einleitend zum ersten Teil der Beiträge, die das „Problem einer Europäischen Religionsgeschichte“ in systematischem Interesse erschließen sollen, ein neues „integratives“ Modell der Religionsgeschichtsschreibung vorgestellt: „Ausgehend von der Beobachtung, dass Europa seit der Antike von einem religiösen Pluralismus geprägt ist, wird bei der Beschreibung einer religiösen Tradition stets auch das ‚Andere‘, das oft als Abgrenzungsfolie dient und dadurch Identitäten stiftet, mit in Rechnung gezogen. Nur in der jeweiligen Wahrnehmung und Abgrenzung entsteht ein spezifisches religiöses Feld, auf dem Identitäten und ‚Traditionen‘ gestiftet werden.“ (S. 1; Kursivierung ergänzt). Jörg Rüpke erläutert dazu ergänzend: „Wie konstruiert man eine ‚europäische Religionsgeschichte‘ in Anbetracht der Geschichte ‚Europas‘? Einfacher ist es, mit dem Negativen zu beginnen: Wogegen richtet sich das Konzept einer ‚europäischen Religionsgeschichte‘? […] Natürlich richtet sich der Begriff gegen die ‚Christianitas‘, präziser: gegen das Bild eines monolithisch christlichen Europas, das die Religionsgeschichte Europas zu einer Angelegenheit der Kirchengeschichte werden lässt.“ (S. 9) Unter den „sachlichen Gründen“ für diese Wendung wird aufgezählt: „die Präsenz anderer Religionen innerhalb des christlich geprägten Europas, das Judentum an erster Stelle, aber auch eine Vielfalt ‚häretischer‘ Bewegungen, Renaissancen paganer oder hermetischer Vorstellungen, schließlich Immigranten und Bildungsimporte“; neben den „Minderheiten und Peripherien“ steht kirchlich auch die „konfessionelle Differenzierung“ (S. 9f.). Zwar, so Rüpke, könne eine „‚europäische Religionsgeschichte‘“ „die Präponderanz christlicher Kirchen und Praktiken im geographischen Raum Europa […] nicht in Frage stellen“, und die „durchaus normative Option für den Pluralismus“ bringe für die wissenschaftliche Praxis auch „gefährliche Implikationen“ mit sich (S. 10), doch sind diese Vorbehalte als Ermahnungen für die Ausbildung plausibler methodischer Standards der Religionsgeschichtsschreibung zu verstehen, nicht als Einschränkungen des Programms einer Europäischen Religionsgeschichte selbst.

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Einleitung

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Entsprechend ist in der Einleitung zum zweiten Teil des genannten Bandes, in dem die Beiträge die „Entwicklungspfade des Pluralismus“ erkunden (S. 125), von der „in Europa vorherrschende[n] Situation von Pluralität der Religionen“ die Rede, und zur Einleitung in den für Methodenfragen besonders wichtigen dritten Teil, „Religion und Gesellschaft. Transfers zwischen kulturellen Systemen“, wird festgestellt: „Wenn die Europäische Religionsgeschichte durch einen mehrfachen Pluralismus gekennzeichnet ist, welcher auch die Interaktion zwischen religiösen und anderen gesellschaftlichen Systemen beinhaltet, so muss die religionswissenschaftliche Analyse eben jene Prozesse des Austauschs und Transfers eigens in den Blick nehmen.“ (S. 439) Die Leitidee des Pluralismus wird sodann in der Einleitung zum vierten Teil, in dem es um die Analyse von religiöser Kommunikation, d.h. von Repräsentations- und Vermittlungsformen geht, noch einmal in anderer Wendung differenziert, wenn es heißt, „Vertikaler und horizontaler Pluralismus, religiöse Vielfalt und die Vielfalt der Kommunikation über Religion bedingen sich.“ (S. 644) In der Ringvorlesung des Interdisziplinären Forums Religion sollte in Reaktion auf den Band Europäische Religionsgeschichte. Ein mehrfacher Pluralismus keine Debatte über Begriffsdefinitionen geführt oder eine kritische Analyse der Thesen der einzelnen Autoren präsentiert werden. Vielmehr ging es darum zu erproben, ob der religionswissenschaftliche Leitbegriff des „Pluralismus“ dazu geeignet ist, ausgewählte Beispiele für positive Bestände in der Religionsgeschichte Europas klarer zu erfassen und zu deuten. Dass das allenfalls gesuchte Markenzeichen der europäischen Religionsgeschichte nicht – nach neumodischem Jargon – als ein Alleinstellungsmerkmal gelten soll, macht schon der einführende Beitrag „Außenansicht. Religionspluralismus in Ostasien“ von Thoralf Klein deutlich, der einen dichten Überblick über die für China, Korea und Japan charakteristischen Religionen in ihren jeweiligen historischen Transformationen bietet. Christof Mandry setzt sich aus theologisch-ethischer Sicht mit der Frage auseinander, ob Pluralismus nur „als Problem“ sichtbar wird, oder ob Pluralismus „als Wert“ verstanden werden kann, wobei zur Definition eines „Wertes“ gehört, dass Werte „die politisch-öffentliche Kultur durchdringen und prägen“. Mit der Frage „Wann begann die Europäische Religionsgeschichte?“ zielt Jörg Rüpke auf eine „Genealogie“, die für die Gegenwart eine Bedeutung haben kann, und führt in einer Untersuchung relevanter „Typen von Individualität“ in der hellenistisch-römischen

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Religionskultur zugleich in die Methodik „kulturwissenschaftlicher Religionsforschung“ ein. Aus mittelalterlichen Quellen, denen geschichtsphilosophischtheologische Vorstellungen über die Stadien der Geschichte bis zum erwarteten Weltende zu entnehmen sind, vermittelt Sabine Schmolinsky in ihrem Beitrag einen Eindruck von der prinzipiellen Negation eines pluralistischen Modells der Religionen in der Zeit der Geschichte. Juden, „Heiden“, „Ketzer“ sollen den Normen des Christlichen unterworfen werden, damit die Zeit der Vollendung unter dem verheißenen wiederkehrenden Christus näher kommen kann. Ein besonderes Problem der mythologischen Imagination des Endzeitszenarios ist die Vorstellung des Antichrist, der die Phase vor der Vollendung dominieren würde und dem in verschiedenen Varianten von Bekehrungsmodellen das Judentum zugeordnet wird. Der Motivkomplex lässt sich vom Neuen Testament ausgehend bis zu Texten des 13. Jahrhunderts verfolgen, deren Wirkungsgeschichte sich noch bis weit in die Frühe Neuzeit erstreckt. Mit einem Schwerpunkt auf den 1130er bis 1150er Jahren stellt Stephanie Haarländer das Interesse in der Lateinischen Kirche am Islam vor. Petrus (mit dem Beinamen Venerabilis, „der Ehrwürdige“), ein angesehener Theologe im Kreis seiner Zeitgenossen und seit 1122 Abt des Klosters Cluny in Burgund, war von der Frage bewegt, ob und inwiefern der Islam im Verhältnis zur christlichen Kirche in Analogie zu Häresien zu verstehen sei, wie sie im Lauf der Kirchengeschichte immer wieder als Entwicklungen eines Dissenses mit der Kirchenlehre auftraten. Um diese Frage besser beurteilen zu können, veranlasste Petrus Gelehrte in Nordspanien, die in direkter Nachbarschaft zum islamischen Südspanien lebten, Quellen über den Glauben der Muslime ins Lateinische zu übersetzen. Die Sammlung von Schriften, die dadurch zugänglich wurden, das „Corpus Toletanum“, schloss den Koran als das „Religionsgesetz der Muslime“ („Lex Sarracenorum“) mit ein. Mit Bezug auf diese Schriften, die zum Teil stark von Missverständnissen und polemischen Stereotypen geprägt waren, begann Petrus Venerabilis selbst, eine Widerlegung des Islam auszuarbeiten. Pluralität wird in diesem Kontext nur als eine Ausgangssituation für die „Einladung zum Heil“ verstanden, die die christliche Kirche an Muslime ergehen lässt. Pluralität oder Uniformität von Religionszugehörigkeit zu konzipieren und entsprechende Verheißungen von Seligkeit zu konstruieren

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Einleitung

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ist eines, die konkrete Kommunikation über Glaubensinhalte zu strukturieren und Zugehörigkeit zu Glaubensgemeinschaften zu regulieren ist ein anderes. Rotraud Ries zeigt, was für Erkenntnisse sich durch einen mikrohistorischen Ansatz auf der Linie des spatial turn in den Kulturwissenschaften gewinnen lassen, wenn es um den „Zwischenraum“ geht, der durch ein Konversionsanliegen konstituiert wird. Ihre Untersuchungen zu verschiedenen Quellengattungen, die Prozesse der Prüfung von Konversionsaspiranten und -aspirantinnen aus jüdischen Synagogengemeinden der Frühen Neuzeit dokumentieren, ergeben ein eindrucksvolles Bild kirchlicher Verlegenheit im Umgang mit Männern und Frauen, die sich „zwischen“ die Glaubensgemeinschaft ihrer familiären Herkunft und die Glaubensgemeinschaft ihrer faktisch sozial isolierten Zukunft stellen und diesen Zwischenbereich nur in seltenen Fällen erfolgreich verlassen. Martin Mulsow stellt das Thema des Pluralismus mit Bezug auf frühneuzeitliche intellektuelle Entdeckungsreisen in die Antike oder in die fernen Welten Chinas oder der Anden vor. Hier geht es um den gelehrten Diskurs unter Experten der Philologie und der antiquarischen, auch numismatischen Forschung, durchaus aber auch um eine Peripherie der Libertinage, in der auf logisch durchkonstruierte christliche Mythologeme und Dogmen mit Spott geantwortet wird. Das Interesse der Gelehrten führt zu einer Pluralisierung des Diskurses, durch die superstitio (Aberglaube) und idololatria (Götzenverehrung) nicht nur als Ziel apologetischer Polemik, sondern auch als Thema komparatistischer Religionsgeschichte aufgefasst werden. Eine Bibelkommentierung, bei der in einem solchen Kontext fallweise „die Grenze zwischen sakraler und profaner Sphäre“ „löchrig“ werden konnte, zeugte „Schreckgespenster, die brave Theologen in ihren schlaflosen Nächten aufsuchten“: Pluralisierung musste zu einer neuen Herausforderung für die biblische Hermeneutik werden. Eine weitere Facette des Bildes der Frühen Neuzeit ergibt sich bei Hugo Grotius, der nicht zuletzt durch seinen Freund G. J. Vossius mit der religionsvergleichenden Forschung gut vertraut war, der aber auf Generationen hin den europäischen Theologen und Laien die Gewissheit vermittelte, dass die „Wahrheit der christlichen Religion“ gegenüber dem paganen Polytheismus, dem Judentum und dem Islam beweisbar sei. Christoph Bultmann untersucht einige Aspekte des populären Traktats De veritate religionis christianae, der im 17. und 18. Jahrhundert in so zahlreichen Auflagen erschien, dass einem ermüdeten Bibliothekar der Universi-

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tätsbibliothek in Jena im handschriftlichen Bibliothekskatalog unbemerkt die Verschreibung De varietate religionis christianae aus der Feder floss. Auffällig ist bei Grotius indessen die Spannung, die sich zwischen diesem Traktat und der religionsphilosophischen Theorie in seinem völkerrechtlichen Grundlagenwerk ergibt. Eine letzte Gruppe von Beiträgen ist konkreten Akteuren und Akteurinnen in kirchlichen Tätigkeitsbereichen gewidmet. Auf ein oft vergessenes Feld pluraler Gestaltung religiösen Lebens im Rahmen des Christentums führt Richard Hölzl mit einer Studie zu Missionsbewegungen. Im katholischen Deutschland, so Hölzl, „zählten Missionsvereine zusammen mit Bruderschaften, Kongregationen, Dritten Orden – Laienorganisationen, die an Ordensgemeinschaften gebunden sind – und anderen Gebetsvereinen zu den größten religiösen Organisationen des 19. Jahrhunderts“, und im evangelischen Deutschland war es in dieser von Anliegen der „inneren“ wie der „äußeren“ Mission bewegten Zeit kaum anders. Inwiefern die mit bestimmten Zivilisationsmodellen bzw. Zivilisationsstufenmodellen verknüpfte Aktivität der in ferneren Weltregionen tätigen Missionsvereine pluralismusoffen war, verlangt indessen eine umsichtige Diskussion. Heidemarie Winkel erörtert das ungelöste, wenn nicht gar bleibend als aporetisch betrachtete Problem der „Realisierung der Gleichstellung von Frauen und Männern in den Kirchen“, kurz: die „Geschlechter(un)gleichheit“ im Bereich der christlichen Religion. Am Beispiel des Protestantismus werden aus „wissenssoziologischer Perspektive“ die „theologische Anthropologie des Geschlechterverhältnisses“ und – vor einem breiteren historischen Hintergrund – die Wandlungen in der theologischen Anthropologie im 20. Jahrhundert analysiert. Dass dort, wo es um Konkretionen geht, auf der evangelischen Seite zum Beispiel zunächst das Studium von Frauen an Theologischen Fakultäten möglich wurde, ohne dass berufsqualifizierende Examina abgelegt werden konnten, lässt erkennen, dass die „Pluralisierung des institutionalisierten Kerns christlicher Religion“ nicht immer von hoher Dynamik gekennzeichnet ist. Pluralisierung in institutionalisierten christlichen Handlungsräumen kann auch im Blick auf Praktiken des Kults in Frage stehen. Benedikt Kranemann zielt auf die irrtümliche Meinung, dass, wenn irgendwo, dann im Gottesdienst Gleichförmigkeit zu vermuten sei. Erfährt man jedoch beispielhaft, dass bis zur Französischen Revolution „etwa 80 der 139 französischen Diözesen eigene Messbücher hatten“,

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Einleitung

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dann kann so eine Überraschungszahl das Interesse daran wecken, den „Pluralismus in der liturgischen Praxis“ zu untersuchen und in seiner nicht nur religionswissenschaftlichen, sondern auch theologischen Bedeutung zu reflektieren. Von der Liturgie zur Kirchenpolitik: Josef Pilvousek zeigt in einer Fallstudie zur katholischen Kirche in der Zeit der DDR, dass zum Thema des Pluralismus auch das exemplarische Problem gehört, was für einen Weg in der katholischen Kirche die Mitglieder, ob Priester oder Laien, ob in Ortsgemeinden oder in Studentengemeinden engagiert, fanden, um die Grundlinien der von ihnen begrüßten „Pastoralen Konstitution über die Kirche in der Welt von heute“, d.h. der Konstitution „Gaudium et Spes“ des Zweiten Vatikanischen Konzils von 1965, in einem konstruktiven Dissens gegen einen Kardinal und Bischof von Berlin zu verteidigen, der auf dem Konzil eine der 75 Nein-Stimmen (gegenüber 2309 Ja-Stimmen) zu diesem Dokument abgegeben hatte. In der DDR war der totalitäre politische Kontext für diese Debatten von einer offiziellen Ideologie geprägt, nach der „Pluralität im Denken und Handeln geradezu als häretisch galt“. Dennoch fand die katholische Kirche in den 1980er Jahren zu einer neuen „pastoralen Standortbestimmung“ in der Gesellschaft der DDR, ohne sich dadurch für eine Instrumentalisierung durch den religionsfeindlichen Staat verfügbar zu machen. Die Herausgeber danken allen Beteiligten für ihre Bereitschaft, das Stichwort des „Pluralismus“ in der europäischen Religionsgeschichte als eine Herausforderung aufzugreifen und in Beiträgen zu einer Ringvorlesung im Studium Fundamentale des BA-Studiums an der Universität Erfurt zu erhellen. Dem Verlag Aschendorff sei wiederum für die bewährte Zusammenarbeit und Herrn Dr. Burkhard Beyer im Verlag für die einschlägige Betreuung des Bandes gedankt.

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Außenansicht: Religionspluralismus in Ostasien Die Vorstellung, religiöser Pluralismus sei nicht eine bloße Eigenschaft, sondern nachgerade ein Markenzeichen der europäischen Religionsgeschichte, ist nicht unproblematisch und zumindest verkürzend. Markenzeichen stehen in der Wirtschaft für die einzigartigen und unverwechselbaren Eigenschaften eines Produkts, die vor Fälschung und Nachahmung geschützt werden sollen (dass diese Eigenschaften oftmals ausschließlich auf Zuschreibung und Illusion beruhen, soll uns hier nicht weiter beschäftigen). Fragen wir in diesem Sinne, ob religiöser Pluralismus eine einzigartige Errungenschaft der europäischen Kultur sei, dann muss die Antwort nein lauten – zumindest wenn die Frage in dieser allgemeinen Form gestellt wird. Denn Europa ist keineswegs die einzige Weltregion, in der es einen religiösen Pluralismus gegeben hat; ja man kann die Ansicht vertreten, dass das religiöse Feld in vielen Weltregionen (etwa Afrika, aber eben auch Ostasien) mindestens genauso plural organisiert gewesen ist wie das europäische und dabei eine viel größere Kontinuität aufweist. Man muss daher die Frage anders stellen und sich nicht fragen, ob Europa einen einzigartigen religiösen Pluralismus hervorgebracht hat, sondern inwieweit sich dieser von anderen religiösen Pluralismen unterscheidet. Hierzu einen kleinen Beitrag zu leisten, ist Zweck und Absicht dieses Aufsatzes, der eine Überblicksdarstellung über die religiöse Situation Ostasiens zwischen etwa 1400 und der Gegenwart liefern soll. Er gliedert sich in zwei Abschnitte, einen systematischen und einen historischen; der systematische wird eine Übersicht über die verschiedenen religiösen Formen Ostasiens geben, der historische die Dynamik der Entwicklung des religiösen Feldes skizzieren.

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1. Systematik der ostasiatischen Religionen und der religiöse Pluralismus Ostasiens Ich beginne diesen Teil mit der Frage, was denn nun die Besonderheit des religiösen Pluralismus in Ostasien ausmacht. An den Anfang stelle ich eine ganz einfache und selbst gemachte Definition, nach der Pluralismus nicht mehr und nicht weniger bezeichnet als die gleichzeitige Existenz unterschiedlicher Religionen in ein und demselben politischen und sozial-kulturellen Zusammenhang; dieser Zusammenhang ist im Fall Ostasiens ein staatlicher und später nationaler, da die Staaten China, Japan und Korea für die Forschung nach wie vor die primären Analyseeinheiten bilden, auch wenn das Bewusstsein für die Verflechtungen innerhalb der Weltregion Ostasien in den letzten Jahren enorm gewachsen ist. Den Religionsbegriff verwende ich dabei als eine analytische Kategorie; denn ein solcher Begriff (ch. zongjiao, jap. shûkyô) existiert in den ostasiatischen Sprachen erst seit der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts, als ein Äquivalent für den europäischen Religionsbegriff entwickelt wird. Zuvor war ein abstraktes Sprechen über Religion unmöglich, da die im religiösen Zusammenhang verwendeten Begriffe stark limitierender Natur waren; der unserem Religionsbegriff vielleicht am nächsten kommende Begriff (ch. jiao, jap. kyô, kor. gyo) bedeutet „Lehre“ und klammert die religiöse Praxis aus. Unterbegriffe wie zongmen/shûmon oder zongpai/shûha bezeichnen Schulen oder Strömungen („Sekten“) innerhalb einer solchen Lehre. Daneben existiert eine Fülle konkreter Termini für religiöse Einrichtungen und Handlungen; so gibt es beispielsweise im Chinesischen (je nach Kontext) mindestens vier Wörter für „Tempel“ (si, gong, ci, miao). Dies hat natürlich das Verständnis dessen beeinflusst, was als Religion (in unserem modernen Sinne) zu betrachten sei. Dem religiösen Pluralismus, wie ich ihn soeben definiert habe, eignet noch keine spezifische Qualität. Worin die Besonderheit im Fall Ostasiens besteht, möchte ich an einem Beispiel deutlich machen: In Japan ergab eine Umfrage im Jahre 1974, dass sich 182 Millionen Menschen zu einer Religion bekannten. Die Gesamtbevölkerung Japans betrug zu diesem Zeitpunkt jedoch nur 111 Millionen. Das heißt, was man als die „religiöse Bevölkerung“ Japans bezeichnen könnte, machte 165 % der tatsächlichen Bevölkerung aus; bei einer ähnlichen Umfrage im Jahre 1995 stieg dieser Anteil gar auf 172 %.1 Dies ist natürlich

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Religionspluralismus in Ostasien

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nur dadurch möglich, dass sich die Mehrheit der Befragten zu mehr als einer Religion bekennt, in der Regel zu Buddhismus und Shintôismus gleichzeitig. Insofern verdeutlicht das angeführte Beispiel eine typische Charakteristik der religiösen Praxis in Ostasien: Wo europäische Vorstellungen (wie sie unterschwellig auch der besagten Umfrage zu unterliegen scheinen) von eindeutigen Religionszugehörigkeiten ausgehen, kombinieren und kumulieren die Befragten Konzeptionen und Aktivitäten aus verschiedenen Religionen. Zur Pluralität – dem einfachen religiösen Nebeneinander – tritt also eine mehr oder weniger stark ausgeprägte Kompatibilität als Kennzeichen des religiösen Pluralismus in Ostasien.2 In je länderspezifischen Kontexten bilden die ostasiatischen Religionen ein komplexes Ganzes, in dem die einzelnen Teile aber nicht verschmelzen, sondern trotz vieler gegenseitiger Überschneidungen und Durchdringungen ihre Selbständigkeit behaupten. Ich behaupte nicht, dass es eine solche offen praktizierte und nicht sanktionierte Kompatibilität nur in den Kulturen Ostasiens gegeben hat; es scheint mir jedoch, dass sie in Europa mit dem Aufstieg des Christentums zur Staatsreligion in der Spätantike verschwunden ist und selbst im Zuge der Pluralisierung des religiösen Angebots in den letzten Jahrzehnten3 nicht wieder etabliert wurde. Der religiöse Pluralismus Ostasiens unterscheidet sich daher konzeptionell und praxeologisch grundlegend vom europäischen. Vor diesem Hintergrund entfalte ich im Folgenden eine systematische Übersicht des religiösen Feldes in China, Korea und Japan. Da für eine detaillierte Beschreibung der einzelnen Religionen der Raum fehlt, muss ich mich mit ein paar knappen Andeutungen begnügen. Vorsorglich weise ich darauf hin, dass die Bezeichnungen der jeweiligen Religionen (insbesondere der auf „-ismus“ endenden) Konstrukte aus christlicher bzw. religionswissenschaftlicher Perspektive sind, die diese Religionen als funktionale Äquivalente des Christentums, zugleich aber als inhaltliche Gegensätze zur christlichen Religion entwerfen. Ich beginne mit der politischsten Dimension von Religion, dem chinesischen Staatskult, der in China bis 1911 praktiziert wurde. Er umfasste Opfer des Kaisers an Himmel, Erde, die kaiserlichen Ahnen, Erdboden und Hirse (und seit 1907 für Konfuzius) sowie Opfer der Beamten entsprechend ihrer jeweiligen Hierarchiestufe, die also gewissermaßen als Priester des Staatskults fungierten. In Korea scheint es hierfür nur in historisch sehr früher Zeit Entsprechungen gegeben zu haben; in Japan gibt es von jeher keinen systematisierten Staatskult,

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wohl aber innerhalb der als Shintô bezeichneten Religion Einrichtungen von zentraler politischer Bedeutung. Hierzu zählt insbesondere der Ise-Schrein, in dem die Sonnengöttin Amaterasu verehrt wird, die mythische Ahnherrin der im japanischen Verständnis von alters her in ununterbrochener Kontinuität regierenden Kaiserdynastie.4 Deutlich komplexer ist der Konfuzianismus, die Lehre, die auf Konfuzius (551–479 v. Chr.) und seine Schüler zurückgeht. In seiner ursprünglichen Form ist er am ehesten als Kombination aus Moralphilosophie und politischer Theorie zu verstehen. Konfuzius und seine Anhänger erstrebten die (Wieder-) Herstellung politischer und sozialer Stabilität und Ordnung durch Selbstkultivierung und Orientierung an ethischen Normen. Zu diesen Normen gehörten u. a. Mitmenschlichkeit (ren), Rechtschaffenheit (yi), kindlicher Gehorsam (xiao), Anständigkeit (li) und gegenseitige Rücksichtnahme (shu). Die Gesellschaft sollte durch die Beachtung der fünf menschlichen Grundbeziehungen (zwischen Vater und Sohn, Herrscher und Untertan, Ehemann und Ehefrau, älterem und jüngerem Bruder, Freund und Freund) strukturiert werden, die mit Ausnahme der Freundschaft auf Hierarchie und Unterordnung gründeten. Schon Konfuzius hat religiöse Rituale als Basis der gesellschaftlichen Ordnung betrachtet, eine Orientierung, die auch in späteren Jahrhunderten beibehalten wurde. Das Verhältnis des Konfuzianismus zur Religion war dabei äußerst komplex und widersprüchlich und – in den Worten von Joachim Gentz – von einer „spezifischen Mischung aus Religionspraxis, Religionskritik und Religionspolitik“ gekennzeichnet.5 Es ist also äußerst zweifelhaft, ob und inwieweit er überhaupt als Religion zu bezeichnen ist, auch wenn dies in Europa oft unkritisch geschieht. An der geschichtlichen Wirkmächtigkeit des Konfuzianismus in den ostasiatischen Staaten und Kulturen ist dagegen kein Zweifel, auch wenn seine Trägerschaft zahlenmäßig limitiert war: Dies waren vor allem die Literaten, die die vom Staat abgehaltenen Beamtenprüfungen absolviert hatten. Solche Prüfungen wurden in China seit dem 7., in Korea seit dem 10. Jahrhundert organisiert. Während in diesen beiden Ländern der Konfuzianismus die herrschende Doktrin des Staates war und auf diesem Weg auch in die Gesellschaft sedimentierte, wurde er in Japan seit dem 17. Jahrhundert zwar von der Militärelite der Samurai rezipiert, ohne jedoch den gleichen politisch-sozialen Status zu erlangen.

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Demgegenüber unterscheiden wir beim Daoismus klar eine philosophische von einer religiösen Variante, und nur um die zweite von beiden geht es hier. Sie entstand in China etwa im 2. Jahrhundert nach Christus und erstrebt die Pflege des menschlichen Lebens durch Atemtechnik, Gymnastik, besondere Ernährung, Gebet und Meditation. Der Daoismus ist eine monastische Religion, deren Vertreter zugleich – in bewusstem Gegensatz zu den staatstragenden Konfuzianern – immer eine soziale Außenseiterrolle kultivierten. In den beiden anderen ostasiatischen Ländern ist der Daoismus zeitweise rezipiert worden, hat sich aber dort nicht als Religion etablieren können. Im Gegensatz zum Daoismus ist der Buddhismus ein gesamtostasiatisches Phänomen geworden, nachdem er sich in den ersten nachchristlichen Jahrhunderten aus Indien nach Ostasien ausgebreitet hatte. Im Kern geht es dem Buddhismus um die Überwindung menschlichen Leidens durch die Ausschaltung der Begierden; dies geschieht zunächst durch individuelles Streben nach Erkenntnis kombiniert mit der Befolgung ethischer Normen. In Ostasien setzte sich gegen andere Strömungen schon frühzeitig die Variante des Mahâyâna-Buddhismus durch, die die Erlösung nicht mehr als rein individuelle Leistung betrachtet, sondern die Hilfe von Bodhisattvas in Anspruch nimmt – das sind Wesen, die vor der Erlangung der Buddhaschaft stehen, sich den Eintritt ins Nirvâna aber aufsparen, damit die Menschen ihre Hilfe in Anspruch nehmen können. Wie der Daoismus, so ist auch der Buddhismus – wenn auch nicht ausschließlich – eine monastische Religion und spaltet sich in zahlreiche Schulen auf, weist also einen internen, horizontalen Pluralismus auf, wobei zwischen den unterschiedlichen Ländern Ostasiens in historischer Zeit ein intensiver Austausch bestand. Neben dem gab und gibt es auch eine Vielfalt organisierter Laiengruppen, so dass man in diesem Fall auch von vertikalem Pluralismus sprechen kann. Shintô (= Weg der Götter) in Japan und Schamanismus (als pars pro toto) in Korea sind Oberbegriffe für ein ganzes, komplexes Geflecht religiöser Praktiken, die man in der wissenschaftlichen Literatur mit dem Begriff „Volksreligion“ bezeichnet – mit Blick auf China ist die letztgenannte Bezeichnung die allein übliche. Insbesondere in der englischen Form popular religion (daraus entlehnt ch. minjian zongjiao) ist der Begriff jedoch nicht ganz glücklich gewählt, weil er einen Gegensatz zwischen Eliten- und Volksreligion unterstellt, der den zu beschreibenden Sachverhalt nicht richtig trifft. Tatsächlich handelt es

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sich um ein Phänomen, das von jeher unterschiedliche soziale Schichten umfasste. Im Wesentlichen lassen sich zwei Aspekte unterscheiden. Beim ersten handelt es sich um die (in den einzelnen Ländern jeweils unterschiedliche) Verehrung von „Göttern, Geistern und Ahnen“.6 Deren Kern bilden Opferrituale, die wiederum auf dem Prinzip von Leistung und Gegenleistung sowie Effizienz beruhen. Der zweite umfasst von religiösen Spezialisten ausgeübte Techniken zur Abwehr negativer und Mobilisierung positiver Einflüsse, beispielsweise die Geomantie (ch. fengshui, kor. p’ungsu), d. h. die an den Kräften des Raums ausgerichtete Platzwahl für Gräber, Häuser und ganze Dörfer; Chronomantie, d. h. die Auswahl glückbringender Tage; die Herstellung von Amuletten (in Japan kündigte Amulettregen bevorstehende Umwälzungen an); Divination durch Schamanen, Medien usw.; Exorzismen und andere mehr. Dabei hat die Volksreligion von jeher Elemente aus den anderen religiösen Traditionen aufgenommen, etwa indem bestimmte Gottheiten in das religiöse Pantheon integriert oder religiöse Spezialisten wie buddhistische (oder daoistische) Mönche für bestimmte Rituale angeheuert werden. Als Zwischenfazit stellt sich daher die Frage, wie dieses Nebeneinander unterschiedlicher Religionen sinnvoll zu charakterisieren ist. Drei Zugänge erscheinen mir zur Beantwortung dieser Frage hilfreich. Alle wurden mit Blick auf China entwickelt, sind jedoch in ihren Grundzügen auch auf die anderen ostasiatischen Länder übertragbar. Aus Gründen der inhaltlichen Logik ordne ich sie in der Reihenfolge vom neuesten bis zum ältesten: Für die chinesische Volksreligion hat vor kurzem Adam Chau, in Anlehnung an Michael Carrithers, den Begriff der „rituellen Polytropie“ benutzt – eine Neuprägung, die besagen soll, dass sich Menschen zum Zweck der spirituellen Unterhaltung, Hoffnung, Rettung oder Verteidigung vielen unterschiedlichen (religiösen) Quellen zuwenden; dabei betont Chau den Vorrang von, wie er es formuliert, „efficacy over confessionality“.7 Bereits 1993 hat Timothy Brook, ebenfalls mit Blick auf die chinesische Volksreligion, zwischen Synkretismus und Eklektizismus unterschieden. Synkretismus ist ihm zufolge die Verschmelzung von Elementen aus unterschiedlichen religiösen Traditionen zu einem neuen, gemeinsamen Ganzen; unter Eklektizismus versteht er das unintegrierte Nebeneinander solcher Elemente, und dieses zweite Prinzip sieht

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er in der (chinesischen) Volksreligion verwirklicht.8 Sowohl Chau wie Brook betonen also die Offenheit und Dynamik chinesischer Religion, die feste Grenzen zwischen unterschiedlichen Religionen (im Gegensatz zu Europa) auflöst. Ein noch umfassenderes und stärker generalisierbares Verständnis ermöglicht die von dem chinesischen, seinerzeit in den USA lehrenden Religionssoziologen Yang Qingkun (C. K. Yang) bereits 1961 vorgenommene Unterscheidung zwischen institutionalisierter und diffuser Religion. Institutionalisierte Religionen zeichnen sich demnach durch separate Institutionen, einen eigenständigen Klerus und die Verfügung über heilige Texte aus; diffuse Religion existiert hingegen nicht unabhängig von gesellschaftlichen Institutionen.9 Diese Unterscheidung ermöglicht eine differenzierte Perspektive auf chinesische Religion(en). Insbesondere kann man jetzt das Prinzip der Kompatibilität genauer bestimmen; denn danach sind die in meinem Schema aufgeführten Religionen mit Ausnahme der Staats- und vor allem Volksreligion als institutionalisiert zu bezeichnen. Für ihre Träger (und das sind entweder ein Klerus oder eine Laienbewegung) waren und sind Grenzen innerhalb der eigenen Religion (Schulen, Parteien) oder zwischen der eigenen und anderen von Bedeutung. Diese eingeschränkte Kumulierbarkeit weist eine größere Ähnlichkeit zu Europa auf und lässt sich als interner Pluralismus innerhalb größerer Religionsgemeinschaften verstehen. Die Volksreligion (und mit ihr Shintô und koreanischer Schamanismus) als die Summe religiöser Konzepte und Praktiken der Mehrheitsbevölkerung ist hingegen das Musterbeispiel einer diffusen Religion, für die solche Grenzen irrelevant sind. Sie ist daher auch weder als externer noch als interner Pluralismus hinreichend beschreibbar. Vor diesem Hintergrund betrachtet, stellt sich die Frage nach Pluralismus und Kompatibilität noch einmal anders; denn das Verhältnis der Religionen konnte je nach historischem Kontext sehr unterschiedlich aussehen. So gab es beispielsweise innerhalb des Buddhismus eine starke Konkurrenz zwischen unterschiedlichen Schulen, die im Japan des 16. Jahrhunderts sogar in offene Gewalt mündete: 1536 bekämpften sich in der damaligen Hauptstadt Kyôto zwei regelrechte buddhistische Armeen, die eine 60.000, die andere 20.000 Mann stark.10 In Korea trat im 14. Jahrhundert der Konfuzianismus als neue Staatsreligion in Konkurrenz zum bis dahin dominierenden Buddhismus und konnte diese Religion weitgehend verdrängen. Und die buddhistische

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„Wahre Schule vom Reinen Land“ verbot ihren Anhängern, (volksreligiöse) Götter zu verehren. Auf der anderen Seite waren Buddhismus und Shintô in Japan bis in die 1870er Jahre so stark verschmolzen, dass wir über eine shintôistische Religion vor Ankunft des Buddhismus im Grunde nichts wissen. Dies hat den japanischen Religionswissenschaftler Kuroda Toshio zu der These veranlasst, der Shintô sei aus dem Buddhismus entstanden, die heute mehrheitlich abgelehnt wird.11 In China wurde seit dem 13. Jahrhundert immer wieder die „Einheit der Drei Lehren“ Konfuzianismus, Daoismus und Buddhismus beschworen. Was jedoch gleichsam synkretistisch daherkommt, war in der Regel ein Versuch, die diskursive Hegemonie der eigenen Lehre über die beiden anderen zu etablieren.12 Religiöser Pluralismus in Ostasien war und ist also, ungeachtet der in der Volksreligion gegebenen Kompatibilität, keineswegs immer friedlich. Hinzu kommt noch, dass dem Pluralismus staatliche Grenzen gesetzt werden. In historischer Zeit bemühten sich der Staat und seine Vertreter insbesondere in China, teilweise auch in Korea, um die Standardisierung der religiösen Aktivitäten und behielten sich dort ebenso jeweils die Entscheidung vor, welche religiösen Aktivitäten sie als legitim anzuerkennen bereit waren. Nach dieser Auffassung illegitime religiöse Lehren und Praktiken wurden unterdrückt, ohne dass Religion als solche (d. h. als abstraktes Konzept) bekämpft worden wäre. Das gleiche gilt, wie unten zu zeigen sein wird, für Japan zwischen ca. 1870 und 1945; auf die kommunistischen Staaten Volksrepublik China und Nordkorea trifft es bis heute zu. Bei alledem habe ich zwei Religionen in meine Systematik noch nicht einbezogen, die ebenfalls zum religiösen Feld Ostasiens dazugehören. Die erste ist der Islam, dessen Verbreitung innerhalb Ostasiens sich bis Mitte des 20. Jahrhunderts allein auf China beschränkte, wo er aufgrund von Migrationsvorgängen seit dem 8. Jahrhundert präsent war und erst ab dem 14. Jahrhundert einem größeren Anpassungsdruck unterlag. Die zweite ist das Christentum, das China zwischen dem 6. und 19. Jahrhundert in unterschiedlichen Formen – Nestorianismus, Katholizismus und schließlich Protestantismus – erreichte und dort sehr unterschiedliche Reaktionen auslöst. Beide Religionen sind sehr viel exklusiver als die Mehrheit der ostasiatischen Religionen, so dass sich immer auch die Frage nach ihrer Integrierbarkeit stellte. Damit bin ich bei meinem zweiten, dem historischen Teil angekommen; ich möchte darin der im ersten Teil gegebenen Systematik

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eine historische Dynamik unterlegen, die sich, überblicksartig, in erster Linie auf das Verhältnis von Religion und Staat bezieht. 2. Die historische Dynamik ostasiatischer Religionen und ihrer Interaktionen mit dem Staat Die somit bereits angedeutete Dynamik möchte ich in drei Phasen untergliedern, wobei jede Phase einem Staatsbildungsprozess entspricht. Der erste dieser Prozesse setzt im 14. Jahrhundert ein, der zweite im 17. Jahrhundert, während der dritte das 19. und 20. Jahrhundert umfasst. Die erste Phase der Staatsbildung erfasste sowohl China als auch Korea, während der japanische Staat sich im Zerfallen befand. An der zweiten Phase hatten Japan und China, an der dritten schließlich alle drei Länder Anteil. Die zweite und dritte Periode fielen darüber hinaus mit zwei Etappen der Globalisierung zusammen, die das Ensemble der ostasiatischen Religionen mit beeinflussten: dem Zeitalter der Entdeckungen und der frühen Kolonialreiche im 16.–18. Jahrhundert sowie dem Zeitalter des Imperialismus im 19. und 20. Jahrhundert. Die erste der genannten Phasen setzte mit der Beendigung der Mongolenherrschaft in China und Korea im Lauf des 14. Jahrhunderts ein. In beiden Ländern kamen einheimische Dynastien an die Macht, in China die Ming- (1368–1644), in Korea seit 1392 die Choso˘nDynastie. Das Resultat war sowohl in China als auch in Korea ein Konfuzianisierungsschub, der den Herrschaftswandel legitimieren sollte und sich sowohl auf die Beamtenschaft als soziale Elite, als auch auf die Bildung patrilinearer Abstammungsgruppen stützte, die seit etwa dem 10. Jahrhundert die soziale Norm des Konfuzianismus darstellten. In China schritt die Konfuzianisierung des Staatskults rasch voran, indem daoistische Gottheiten daraus eliminiert und Opfer für Konfuzius installiert wurden. Die Herrscher der chinesischen Ming-Dynastie verfolgten eine ambivalente Religionspolitik. Einerseits förderten sie zunächst beinahe alle Religionen einschließlich des Islam, um ihre Großzügigkeit zu demonstrieren, und weil diese Religionen Rituale zum Schutz des Staates durchführten, daneben auch aus persönlicher Überzeugung der Herrscher und um in Krisensituationen Abhilfe zu schaffen. Andererseits strebten die staatlichen Organe die Kontrolle der nichtkonfuzi-

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anischen Religionen an, etwa durch die Begrenzung der Anzahl von Tempeln sowie die Limitierung der Ordinationen von daoistischen und buddhistischen Mönchen. Daneben wurden strenge Bestimmungen für Schamanen und religiöse Heiler sowie eine rigorose Gesetzgebung gegen sogenannte „häretische“, also staatlich nicht anerkannte und daher illegitime Lehren erlassen. In diesen Maßnahmen spiegelt sich die Haltung der Konfuzianer, die andere Religionen zwar nicht unbedingt tolerierten, sich mit ihnen jedoch abfinden konnten, solange die vom Staat vorgeschriebenen rituellen Standards eingehalten wurden. Allerdings funktionierte diese Politik nicht wie geplant, zunächst infolge mangelnder Kontrolldichte und in der Endphase der Dynastie aus einer fiskalischen Notlage, in deren Folge die Behörden Ordinationen zu verkaufen begannen. Anders gestalten sich die Verhältnisse in Korea, wo der Konfuzianismus ab etwa 1400 den Buddhismus als Staatsreligion abzulösen begann. Unter Einsatz staatlicher Machtmittel wurde die Zahl der buddhistischen Tempel rigoros verringert, und diese Tempel wurden schließlich auch räumlich an den Rand der Gesellschaft, nämlich vorwiegend in unzugängliche Bergregionen verdrängt. In der Folge kam es zwischen dem 14. und 18. Jahrhundert zu einer Konfuzianisierung der Gesellschaft, da sich eine konfuzianische Gelehrtenschicht (yangban) als hermetisch abgeschlossene gesellschaftliche Elite etablierte – anders als in China, wo eine größere soziale Mobilität auch innerhalb der Literatenelite herrschte. Parallel dazu setzte sich innerhalb der Abstammungsgruppen bzw. Verwandtschaftsverbände, in denen bislang männliche und weibliche Linien gleichberechtigt waren, das Prinzip der patrilinearen Abstammung und damit der Vorrang der männlichen Linie durch. Bemerkenswert ist, dass es den koreanischen Konfuzianern zwar gelang, den Buddhismus zu verdrängen, dass sie jedoch den Einfluss des Schamanismus nicht zurückzudrängen vermochten. Zwar war es unter den Konfuzianern verpönt, Schamanen zu konsultieren, gleichzeitig aber konnten sie nicht verhindern, dass Schamanen am Königshof ein- und ausgingen.13 Völlig anders gestaltete sich die Situation in Japan, wo die zentralstaatliche Autorität im Lauf des 14. Jahrhunderts weitgehend zerfiel und die Macht von einer Vielzahl lokaler Potentaten ausgeübt wurde. Unter diesen Bedingungen bildeten buddhistische Klöster einen wichtigen Machtfaktor. Aus dem Bündnis des Honganji-Tempels mit einem der mächtigsten Männer Japans ging ein gleichwohl ungewöhnli-

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cher politischer Akteur hervor: die Organisation der Ikkô ikki, die von 1488 bis 1580 die Territorialgewalt in der Provinz Kaga innehatte.14 Es war jedoch Japan, das in der zweiten Phase mit dem Staatsbildungsprozess begann. In den Jahren nach 1600 kam eine Konsolidierung der Herrschaft unter den Shôgunen aus der Familie Tokugawa zum Abschluss. Während der Kaiser nur noch zeremonielle Funktionen innehatte, übte der Shôgun (wörtlich: Oberfeldherr) die Kontrolle über alle politischen Angelegenheiten aus. Allerdings kam es nicht eigentlich zu einer Zentralisierung, sondern zu einer sorgfältig austarierten Machtbalance zwischen dem Shôgun und den Lokalfürsten. In China erfolgte 1644 der Herrschaftswechsel von der Ming- zur Qing-Dynastie; die Qing-Herrscher gehörten dem Volk der Manju an und erweiterten ihr Herrschaftsterritorium bis zum Ende des 18. Jahrhunderts um große Teile Zentralasiens und somit um Untertanen, die sich zum tibetischen Buddhismus oder zum Islam bekannten. In dieser Phase war es Korea, das einen Zerfall der Zentralregierung erlebte, da sich seit Ende des 16. Jahrhunderts Parteienbündnisse am Hof bildeten, die einander kontinuierlich befehdeten. Zugleich kam als Folge des „Zeitalters der Entdeckungen“ das Christentum (und zwar das katholische) nach Ostasien, insbesondere durch den Jesuitenorden. In Japan schalteten sich die Jesuiten ab Mitte des 16. Jahrhunderts in den Handel ein und gewannen unter einer Reihe von Territorialfürsten, die mittels der neuen Religion ihre Herrschaft konsolidieren wollten, beträchtlichen politischen Einfluss. Nach der Etablierung der Tokugawa-Herrschaft nahmen jedoch die Konflikte mit den Shôgunen zu, insbesondere weil die christliche Mission als Agentin fremder Mächte galt. Ab 1614 wurden die ausländischen Missionare ausgewiesen, und bis Ende der 1630er Jahre kam es immer wieder zu Verfolgungen. Von der antichristlichen Politik profitierte vor allem der Buddhismus, denn alle Familien mussten sich von einem buddhistischen Tempel bescheinigen lassen, dass sie keine Christen seien, und wurden dadurch zugleich zu Stiftern dieses Tempels. Das Christentum war seit 1639 faktisch illegal. In China spielte ein Teil der Missionare als Wissenschaftler, Künstler und Diplomaten eine wichtige Rolle am Kaiserhof, während andere sich der Missionsarbeit widmeten. Der tolerante Umgang der Jesuiten mit dem chinesischen Ahnenkult führte aber zur Konfrontation mit anderen Missionsorden und schließlich mit dem Vatikan, der 1704, 1715 und schließlich wieder 1742 die Verwendung eines bestimmten,

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auf die chinesische Frühgeschichte zurückgehenden Gottesnamens sowie die Beteiligung von Christen am Ahnenritual verbot. Der QingKaiser zog aus diesem Machtanspruch Roms die Konsequenzen und wies 1725 die Missionare aus China aus. Das Christentum wurde illegal und in den Untergrund gedrängt. Seit dem 18. Jahrhundert geriet das Qing-Reich in eine demographische und wirtschaftliche Krise, in deren Zug es zu Konflikten des Staates mit buddhistischen Laiengruppen und in Zentralasien auch mit muslimischen ethnischen Gruppen kam. Korea bietet den einzigartigen Fall einer christlichen Selbstmissionierung durch Gelehrte, die sich erst später mit der Bitte um Unterstützung an die Jesuiten wandten. Die Christen wurden jedoch in den Parteienstreit am Hof hineingezogen, und seit 1801 war das Christentum auch in Korea illegal. Die dritte Phase wurde zunächst durch den europäischen Imperialismus bestimmt, der in allen drei ostasiatischen Ländern die Anerkennung des Christentums durchsetzte, auch wenn Christen nur in Korea seit dem frühen 20. Jahrhundert einen nennenswerten Anteil an der Bevölkerung ausmachen. Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts entwickelte sich in Japan ein „mimetischer“ (nachahmender) Imperialismus,15 der in Korea und immer mehr auch in China ideale Expansionsobjekte sah. Die seit 1683 zum Qing-Reich gehörige Insel Taiwan war von 1895 bis 1945 und Korea von 1910 bis 1945 japanische Kolonie. Zwischen 1931 und der Niederlage im Zweiten Weltkrieg 1945 besetzte Japan auch weite Teile im Norden und Osten Chinas. Die Legalisierung des Christentums hatte zwei wichtige Folgen: Erstens bildeten sich zahlreiche neue Religionen, entweder als konservative, einheimische Reaktion auf das Christentum oder durch Verschmelzung einheimischer und christlicher Elemente. Zweitens wurde das Christentum mehr oder weniger rasch als Modell für ein abstraktes Konzept für Religion in Anspruch genommen. Zugleich aber drängten neue, säkulare politische Konzepte nach Ostasien (Liberalismus, Sozialdarwinismus, Nationalismus, Kommunismus etc.), und wo sie die politische Macht übernehmen, ordnen sie das religiöse Feld neu. Den Anfang machte Japan, wo nach der Beseitigung des Shôgunats 1868 unter einer restaurierten Kaiserherrschaft eine neue Nationalreligion, das Staatsshintô, begründet wurde. Dies geschah durch eine künstliche Trennung von Buddhismus und Shintô, wobei letzteres als die japanische Ur-Religion proklamiert wurde – ein typischer Fall

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einer erfundenen Tradition. Shintô war zugleich Privatreligion und Staatskult, es galt als einzigartige Religion Japans und gleichzeitig als über den Religionen stehend. Zwar verlieh die Verfassung von 1889 den Japanern die Religionsfreiheit, aber ausdrücklich nur im Rahmen ihrer Pflichten als Untertanen – was bedeutete, dass sie sich an den Riten des Shintô beteiligen mussten. Deswegen erhoben die Vertreter des Staates den Anspruch, die Beteiligung von Buddhisten, Christen usw. an Shintô-Ritualen im Notfall zu erzwingen. Als die Amerikaner sich 1945 nach dem Sieg über Japan an die Demokratisierung Japans machten, hoben sie das Staatsshintô auf und schufen damit die Voraussetzungen für eine echte Religionsfreiheit. In der Folge kam es zu einem vermehrten Aufschwung neuer (bzw. so genannter „neu-neuer“ Religionen), von denen sich bis Ende der 1950er Jahre rund 700 registrieren ließen. Gegenwärtig beträgt ihre Anzahl sogar weit über 3.000.16 In China wurde nach dem Sturz der Monarchie 1912 für einige Jahre (und gegen Versuche, den Konfuzianismus zur Staatsreligion zu machen) das Prinzip der Religionsfreiheit voll verwirklicht. Seit 1915, dann wieder unter dem nationalistischen Regime ab 1928 und schließlich unter den Kommunisten ab 1949 entwickelte sich jedoch eine neue Religionspolitik von im Prinzip atheistischen Regimes, die auf der Trennung zwischen „Religion“ und „Aberglauben“ basierte. Unter letzterem verstand man in erster Linie die Volksreligion, die in der Hauptsache zum Objekt staatlicher Verfolgungsmaßnahmen wurde. Zwar gerieten auch die institutionalisierten Religionen immer wieder ins Fadenkreuz von Verfolgungsmaßnahmen, aber ihre Existenz wurde seither, wenn auch zumeist aus utilitaristischen Motiven, im Prinzip anerkannt. Derzeit herrscht in der Volksrepublik China zwar Glaubens-, aber keine Religionsfreiheit, da der Staat nur „normale“ religiöse Aktivitäten schützt und zugleich definiert, was darunter zu verstehen ist.17 Zugleich versucht die kommunistische Führung seit 1978 aber, die Anhänger der unterschiedlichen Religionen nicht nur zu kontrollieren, sondern auch als gesellschaftlich positiven Faktor in die Politik der Wirtschaftsreformen einzuspannen. Dies begünstigte einen als „Religionsfieber“ (zongjiao re) bezeichneten Wiederaufschwung der Religionen, von dem sogar die von Staats- und Parteivertretern ungeliebte Volksreligion profitierte. Eine ähnliche, aber insgesamt härtere Politik verfolgt auch das kommunistische Nordkorea. Im Süden des seit 1948 geteilten Landes hingegen, das seit Anfang der 1960er Jahre eine Militärdiktatur war, formierte sich Anfang

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der 1980er Jahre eine Demokratiebewegung, die zumindest in Teilen auf eine religiöse Symbolik zurückgriff. Die Kirchen entwickeln eine „Theologie der Volksmassen“ (kor. minjung). Vor allem aber eigneten sich die Regimegegner die Symbolik des Schamanismus an, indem sie zu Beginn von Demonstrationen ein schamanistisches Reinigungsritual durchführen, um das Leiden der Bevölkerung unter der Gewaltherrschaft zu verdeutlichen und die Teilnehmer zu emotionalisieren. Sie trugen damit entscheidend zum Erfolg der Demokratiebewegung in den 1980er Jahren bei.18 Zur gleichen Zeit spielten auch in Taiwan christliche Kirchen und buddhistische Organisationen eine wichtige Rolle bei der Demokratisierung.

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Pluralismus als Problem und Pluralismus als Wert – theologisch-ethische Überlegungen In diesem Band werden vielfältige Phänomene des Pluralismus in der europäischen Religionsgeschichte dargestellt, und es werden so die Pluralität der europäischen Religionen und die Vielfältigkeit der Religionsgeschichte in Europa in ihrer historischer Breite und Tiefe erkennbar. Dennoch versteht es sich keineswegs von selbst, im Pluralismus so etwas wie ein Markenzeichen der europäischen Religionsgeschichte zu sehen, ihn also als etwas offensichtlich Positives hervorzuheben. In vielen unserer aktuellen gesellschaftlichen Debatten wird nämlich im Gegenteil im Pluralismus ein Problem erkannt, nämlich eine Quelle für schwerwiegende soziale, politische und religiöse bzw. weltanschauliche Spannungen. Hier erscheint Pluralismus viel eher entweder selbst als Ursache für Konflikte oder als etwas, was die gesellschaftlich immer bestehenden Konflikte und Interessengegensätze zusätzlich belastet und ihre erfolgreiche, d.h. friedliche Bearbeitung erschwert. In meinem Beitrag möchte ich vor allem auf diese gesellschaftliche Ebene des Pluralismus eingehen und überlegen, wann und warum Pluralismus als Problem und unter welchen Bedingungen er als Wert betrachtet werden kann. Pluralismus als Wert anzusehen, ihn als etwas Wertvolles und Wünschenswertes zu bejahen, ist ein verhältnismäßig spätes Phänomen, auch wenn – das wird in den anderen Beiträgen dieses Buches deutlich – auf unterschiedlichen Ebenen die Pluralität von Ausdrucksformen und religiösen Bekenntnissen schon seit langem besteht und bejaht wird. Meine Überlegungen gliedern sich in vier Teile. Zunächst versuche ich analytisch und begrifflich zusammenzutragen, was es heißt, Pluralismus als ein Problem oder als einen Wert anzusehen. Im zweiten Teil gehe ich auf Pluralismus als Problem ein und zwar aus theologisch-sozialethischer Sicht. Warum, so frage ich, ist es der christlichen Tradition in Europa so lange so schwer gefallen, die gesellschaftliche und religiöse Pluralität, die in unterschiedlichem Ausmaß immer bestanden hat, anzuerkennen? Meiner Ansicht nach hängt das mit der Privilegierung der Idee der Einheit zusammen, die in der christlichen

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Theologie vorherrschend ist und die auch für die Wahrnehmung gesellschaftlicher und politischer Sachverhalte maßgebend war. Im dritten Teil geht es schließlich um die in jüngster Zeit deutlicher werdende Anerkennung von Pluralismus als einem Wert. Was bedeutet das und wie schlägt sich das politisch-institutionell nieder? Mein Beispiel ist der Verfassungsvertrag der Europäischen Union, der als Vertrag von Lissabon im Dezember 2009 endlich in Kraft getreten ist. Die Einheit Europas – der Europäischen Union – wird dort als eine Einheit proklamiert, die auf europäischen Werten basiert. Unter diesen Werten befindet sich auch der Wert des Pluralismus. Das ist die für die Gegenwart ausdrücklichste Hervorhebung von Pluralismus als einem Wert – auch des religiösen Pluralismus in Europa. Aber wie kann auf Pluralismus eine Einheit aufgebaut werden? Kann Pluralismus ein zentraler Wert sein oder bedarf er der Einbettung in weitere Werte? Der kurze vierte und abschließende Abschnitt fungiert als Zusammenfassung und Ausblick. Wie meine Gliederung bereits erkennen lässt, zieht sich die Konstellation von Pluralität und Einheit durch meinen ganzen Beitrag. Ob Pluralismus als Problem oder ob Pluralismus als Wert empfunden wird, hängt davon ab, so meine These insgesamt, wie in der Spannung zwischen Pluralität und Einheit der Akzent gesetzt wird, also wie die beiden Pole jeweils zueinander ins Verhältnis gesetzt werden. Der Kern des Pluralismusproblems besteht nicht in der Ablösung des Einheitsdenkens durch ein Pluralitätsdenken, sondern in einem neuen Verständnis der dauerhaft spannungsvollen Verbindung zwischen beiden. 1. Pluralität als soziale Tatsache und Pluralismus als Einstellung zur Pluralität Für meine Betrachtung wichtig ist die Einsicht, dass ein großer Unterschied darin besteht, das Faktum des Pluralismus hinzunehmen oder den gesellschaftlichen Pluralismus anzuerkennen und zu bejahen. Mit beiden Bewertungen sind unterschiedliche Haltungen, Annahmen und Anforderungen verbunden, die ich in den Blick nehmen möchte. Welche Werte sind beispielsweise dafür erforderlich, Pluralismus nicht nur aushalten, sondern ihm etwas Positives abgewinnen zu können? Ein Blick auf die Logik von Pluralität, Pluralismus und Einheit kann uns hier weiterbringen.

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Pluralität oder Vielheit und Verschiedenheit lassen sich nicht denken, ohne Bezug auf irgendeine Einheit zu nehmen. Die Idee einer Einheit ist immer vorhanden, wenn von Pluralismus und Pluralität die Rede ist, denn die Feststellung von Pluralität erfolgt ja nicht als schlechthinnige Vielheit, sondern Pluralität wird stets bezogen auf eine bestimmte Größe und eine Eigenschaft, hinsichtlich derer Unterschiedlichkeit konstatiert wird. Etwas Vergleichbares oder Gemeinsames wird vorausgesetzt; es sind bestimmte Unterschiede hinsichtlich Eigenschaften oder Einstellungen, die innerhalb einer Gesamtheit oder bezogen auf eine Einheit festgestellt werden. Schließlich sind irgendwelche Unterschiede ja immer vorhanden, es wechselt jedoch die Bereitschaft, sie als relevant oder signifikant anzusehen. Beispielsweise sind in jeder hinreichend komplexen Gesellschaft mit ökonomischer, sozialer oder funktioneller Differenzierung auch Unterschiede der Lebensstile und Lebensformen, der politischen, weltanschaulichen und kulturellen Ausrichtung, der spirituellen Orientierung, der religiösen oder der kultischen Observanz vorhanden. Den Ausdruck Pluralität möchte ich daher als Beschreibungsterminus benutzen, beispielsweise um gesellschaftliche Unterschiede unterschiedlichen Ausmaßes festzustellen, noch ohne Rücksicht, ob sie auch von den Gesellschaftsmitgliedern als wichtig, bedenklich oder wünschenswert betrachtet werden. Aus der Perspektive eines objektiven Betrachters – etwa des Wissenschaftlers – lassen sich, abhängig vom Erkenntnisinteresse, religiöse oder soziale Unterschiede nach bestimmten Kriterien ausmachen und bemessen. Das sagt jedoch zunächst noch nichts über die Selbstwahrnehmung der Betroffenen aus, ob auch für sie diese Unterschiede wichtig, emotional, sozial, moralisch oder religiös konnotiert und für ihre Selbstbeschreibung relevant sind oder im Gegenteil als eher nebensächlich oder als unter der Signifikanzschwelle liegend angesehen werden. Den Ausdruck Pluralismus möchte ich hingegen als Terminus der Selbstbeschreibung einsetzen. Pluralismus bedeutet, dass eine Gesellschaft – oder eine andere soziale Einheit: etwa eine Konfession oder eine Religion – ihre innere Pluralität selbst feststellt und sie auch als bedeutsam ansieht. Die Pluralität, d.h. die innere Vielfalt ist dann ein wichtiges, bedeutsames, entweder positives oder negatives Charakteristikum. So kann Pluralität beispielsweise bestehen, ohne dass Pluralismus vorliegt, weil die de facto vorhandene Vielfalt nicht als signifikant erlebt wird, d.h. nicht als identitätsrelevant wahrgenommen wird.

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Multireligiöse oder multikonfessionelle Gemeinden oder Gruppen können etwa lange Zeit bestehen, ohne dass es zu Problemen kommt, und die Unterschiedlichkeit der Konfessionen ist natürlich auch den Mitgliedern bekannt, aber die Gruppe würde sich nicht als multireligiös oder multinational, multiethnisch beschreiben. Es ist kein Topos ihrer Selbstbeschreibung. Das kann sich natürlich ändern, und es ist auffällig, welche Differenzen nun zu Demarkationslinien bedeutsamer, und eben auch problematischer Unterschiedenheit werden – denn erneut: Unterschiede sind immer vorhanden, aber sie werden niemals alle oder als solche zu Grenzlinien aufgebaut und entweder negativ – das macht den vielbeachteten Konfliktfall aus – oder eben auch positiv bewertet. Pluralismus bedeutet weiterhin häufig, dass diese Pluralität der Überzeugungen, Orientierungen und der Lebensstile als eine Art Lebensform Akzeptanz findet: Die Gesellschaft ist plural, und das ist für sie kennzeichnend, aber es stellt keine grundsätzliche Infragestellung des gesellschaftlichen Zusammenhalts dar, sondern wird positiv bewertet. Natürlich kann es zu Problemen im Zusammenleben kommen, aber diese werden vor dem Hintergrund einer anerkannten und bejahten pluralen Gesellschaft gesehen. In diesem Zusammenhang ist erneut zu beachten, dass selbst der akzeptierte und bejahte Pluralismus niemals total ist, sondern auf spezifische, ausgezeichnete Sachverhalte bezogen ist: Lebensstile und Lebensentwürfe, religiöse, weltanschauliche Überzeugungen und Zugehörigkeiten, nationale und ethnische Identitäten. Mit dieser Bezogenheit des Pluralismus auf bestimmte Sachverhalte ist zugleich gesagt, dass er auf sie begrenzt ist: Niemand eigentlich bejaht einen grenzenlosen Pluralismus. Es gibt Grenzen des Pluralismus, signifikante Schwellen, jenseits derer Unterschiede als bedrohlich erlebt werden, weil sie die Einheit in Frage stellen oder das befürchtet wird. Außerdem kann es bestimmte Themen geben, bezüglich derer nur ein geringer Pluralismus als erträglich erscheint, d.h. mit anderen Worten, dass es sich um ein identitätssensibles Thema handelt, in dem ein möglichst weitgehender Konsens erwünscht und nur ein enger Dissensrahmen als erträglich angesehen wird. Auch Pluralismus ist also auf Einheit bezogen, es sind jedoch die Grenzen der Einheit geweitet: Einheit wird nicht als enge Einheitlichkeit aufgefasst, sondern als eine Einheit in Verschiedenheit, wobei erneut die Einheit eine Gemeinsamkeit jenseits der Unterschiede erfordert. Pluralismus als bejahende Einstellung zur gesellschaftlichen Vielfalt, das dürfte da-

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mit klar geworden sein, ist keine einfache Haltung des laisser faire oder der Indifferenz, sondern beruht selbst auf keineswegs trivialen Voraussetzungen. Pluralismus als Markenzeichen der europäischen Religionsgeschichte zu bezeichnen, ist also selbst außerordentlich bezeichnend. Meines Erachtens beruht es auf mindestens zweierlei Voraussetzungen. Erstens auf der Ablösung oder, wenn man so will, der Überwindung einer selbstverständlichen christentumshistorischen Sichtweise auf Europa, letztlich der christlich-theologischen Position des europäischen Christentums, die Europa als terra christiana ansieht, von dessen zentraler Stellung aus Abweichung betrachtet und problematisiert wird.1 Zweitens beruht es auf der Relativierung von Religion insgesamt, bzw. genauer: auf der Relativierung von Religion als eines Faktors, der den gesellschaftlichen Zusammenhalt verbürgt. Erst dort, wo Religion ihre Bedeutung für gesellschaftlichen Zusammenhalt verloren und für politischen Frieden weitgehend eingebüsst hat und sie – zumindest auf der normativen Ebene – zur Privatsache geworden ist, lässt sich ihre Pluralität emphatisch begrüßen, weil sie zumindest der Idee nach keine prinzipielle Infragestellung der Einheit Europas als politisch-kultureller Wirklichkeit impliziert. Dass gegenwärtig unter den Voraussetzungen des religiösen und weltanschaulichen Pluralismus „Religion“ erneut als eine zentrale Ursache der Infragestellung von gesellschaftlicher und politischer Einheit erlebt wird, ist daher seinerseits ein aufschlussreicher Vorgang. Das betrifft etwa die Debatten über religiös motivierte Gewalt oder über die geringe Integration von Migranten („Parallelgesellschaften“). Aufschlussreich ist der Fokus auf Religion zunächst deshalb, weil Religionen selbst in diesem Punkt offenbar plural sind, nämlich ob und inwieweit sie Pluralismus als gesellschaftlichen und religiösen Wert bejahen. Die Beobachtung, dass religiöse Überzeugungen mit einer Anerkennung von Pluralismus vereinbar sein können (aber nicht zwangsläufig müssen – und vice versa) sollte den Blick auf die kognitiven und sozialen Kompetenzen auf der Seite von Religionsgemeinschaften lenken, die die Voraussetzungen für und die Konsequenz aus der Bejahung von Pluralismus oder zumindest seiner pragmatischen Akzeptanz darstellen. Und außerdem ist bemerkenswert, dass angesichts der aktuellen, keineswegs zu leugnenden politischen und sozialen Herausforderungen es ausgerechnet „Religion“ ist, was als Merkmal der Differenz herausgestellt wird, nicht etwa Kultur, Ethnie, soziale Klasse, Bildungs-

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status oder Einkommensniveau, die ja sämtlich ebenfalls als Merkmale zur Kennzeichnung sozialer Vielfalt in Frage kämen. Denn das Integrationsproblem etwa in Berlin-Kreuzberg ist wahrscheinlich ebenso sehr ein Unterschichten-, ein Kultur-, ein Türken- und ein Bildungsproblem, wie es ein Islamproblem ist. Die Gesellschaft ist eben nicht nur hinsichtlich der religiösen Einstellungen plural und divergent. Aber auch dies lenkt den Blick wieder auf die Tatsache, dass die Rede vom Pluralismus Einheit voraussetzt, ja sie geradezu konstruiert. Denn die bejahte oder problematisierte Vielheit entsteht erst, wenn sie auf eine bestimmbare soziale Größe bezogen wird, die ihrerseits vorausgesetzt oder sogar explizit normativ ausgezeichnet ist. Diese Größe kann ein Staat, eine Gesellschaft, eine Gemeinde, eine Kirche oder „Europa“ als eine historisch-kulturelle Größe sein – die Einheit dieser Größe wird jeweils als fortbestehend angesehen oder zumindest als gewollt, und zwar gerade trotz des Pluralismus und vor allem in einer Weise, dass dem Pluralismus Rechnung getragen und ihm Anerkennung verschafft wird. Es ist daher nur folgerichtig, dass das Werk „Europäische Religionsgeschichte“ um Europa bzw. europäische Religionsgeschichte als etwas Bestimmbares bemüht sein muss, sollte denn Vielfalt in einer sinnvollen Weise von ihm ausgesagt werden können.2 Die Rede vom Pluralismus tendiert also dazu, die Grundlage für Einheit zu verschieben, sie entweder auf ein anderes Merkmal zu verlagern oder auf einer anderen Ebene festzumachen. Deutlich wird dies etwa an der Europäischen Union, bei der die Proklamation von Pluralismus als Markenzeichen, wie ich bereits sagte, ebenfalls begegnet. Eigentlich ist es ein ganzes Set an Werten, die zu europäischen Markenzeichen erhoben werden. Indem die EU sich als Wertegemeinschaft bezeichnet, so viel sei hier schon gesagt, legt sie als Basis ihres Zusammenhalts, als politischen Legitimationsgrund für die supranationale Einheit, nicht mehr eine Nation zugrunde, sondern Werte. Die politische Einheit Europas als Wertegemeinschaft zu verstehen, bedeutet eine Neuinterpretation von Einheit und Vielheit vorzunehmen, nun unter der expliziten Affirmation von Pluralismus als Wert: Pluralismus der nationalen Kulturen, der Sprachen, Traditionen und auch der Religionen. Darauf wird in meinem dritten Abschnitt zurückzukommen sein.

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2. Die eine heilige Kirche und die vielen Kirchen: Pluralismus als Problem Als theologischer Ethiker und Sozialethiker will ich nun von einer weiteren Seite auf Pluralismus als Problem und Pluralismus als Wert eingehen, nämlich sozusagen von einer religiösen Tradition aus, der christlichen, vor allem der katholischen. Woher kommt es eigentlich, dass das Christentum sich so lange so schwer mit Pluralismus getan hat, und zwar ebenso sehr mit einem gesellschaftlichen, einem innerchristlichen, wie auch mit einem innerkatholischen, also innerkirchlichen? Dieser Frage gehe ich anhand der Überlegung nach, wie die christliche theologische Ethik und die christliche Morallehre zu einer positiven Einstellung des Pluralismus gelangt sind. Der Akzent meiner Überlegungen liegt dabei auf dem gesellschaftlichen Pluralismus, während die weiteren Pluralismen, wie der innerkirchliche, der theologische, der religiöse Pluralismus, die ebenfalls heiße Eisen der christlichen Theologie darstellen, etwas in den Hintergrund gerückt bleiben müssen und nur gestreift werden. Offenkundig ist es eine ziemlich junge Entwicklung, dass christliche Theologie eine positive oder zumindest eine entspanntere Haltung zum Pluralismus in der Gesellschaft einnimmt. Das hat seinen Grund darin, dass der Begriff und der Wert der Einheit in der christlichen Tradition – und übrigens in der philosophischen Tradition insgesamt – als vorrangig und als bevorrechtigt angesehen werden: Einheit ist ein metaphysisch und theologisch ausgezeichneter Begriff, er ist von zentraler theologischer, ekklesialer und politischer Bedeutung gewesen und ist es m.E. immer noch. So kann es auch hier nicht darum gehen, zu zeigen, wie die Hochschätzung der Einheit durch die der Vielheit abgelöst wurde, im Gegenteil bedeutet die Bejahung des Pluralismus nicht die Geringschätzung der Einheit, sondern ein anderes Verständnis von Einheit. Es gibt keinen grenzenlosen Pluralismus, sondern Pluralismus ist immer bezogen auf eine einigende und in unterschiedlichem Sinne auch normative Größe, wie ich in diesem Zusammenhang in Kürze erneut demonstrieren werde. Dazu gehe ich auf die theologische Lehre von der einen Kirche ein, die nach meiner Einschätzung für das christliche Verständnis des Politischen und die Praxis bedeutender war als die Trinitätslehre von der Drei-Einheit-Gottes, ein Gottesbegriff also, der Einheit und Unterschiedenheit in sich birgt. Aber der Einheitsidee kam nicht nur theoretisch-metaphysisch großes Gewicht zu, vielmehr erschien die Lehre von der einen heiligen, katholischen und apostoli-

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schen Kirche höchst relevant angesichts der kirchengeschichtlich permanenten Erfahrung einer Gefährdung der kirchlichen Einheit und ihrer Bestreitung durch Abspaltungsbewegungen. Letztlich war es die Verbindung der einen Kirche mit der einen Wahrheit des Glaubens, die sowohl theologisch, als auch ekklesial und politisch gesellschaftlichen Zusammenhalt nur mit dem Einhegen und Zurückdrängen von Verschiedenheit denken konnte. Die Einheit der christlichen Kirche war dem Christentum von seinen Anfängen an ein Anliegen, und sie war für die Christen auch eine permanente Herausforderung, und zwar bereits in apostolischer Zeit. Davon zeugen schon die zahlreichen neutestamentlichen Mahnungen zur Einigkeit, wie sie sich etwa bei Lukas und im Johannesevangelium finden. Vor allem ist es aber Paulus, der um die Einigkeit und die Einheit der frühchristlichen Gemeinden kämpft. Die Herausforderung des Pluralismus bestand damals darin, zu einer gemeinsamen Linie zu finden angesichts unterschiedlicher Gemeindepraktiken und unterschiedlicher Haltungen in den großen Fragen der damaligen ersten Christen. Sie verstanden sich ja zunächst als Juden. Für sie lautete die entscheidende Frage: Was bedeutet Treue zur Sendung durch den auferstandenen Jesus Christus? Welche Praxis hat daraus zu folgen, wie vereinen sich die unterschiedlichen gesellschaftlichen Positionen in der gemeinsamen Berufung? Also wie finden sich die Unterschiede, nämlich: Arme, Reiche, Bürger, Sklaven, Freigelassene, Griechen, Römer, Juden, Barbaren und zusätzlich die verschiedenen Gaben – als die Charismen – der Gemeindemitglieder zu dem einen Dienst am Evangelium? Anders ausgedrückt, mussten die frühchristlichen Gemeinden zu ihrer Identität finden, die ihnen sowohl von außen abgefordert wurde – durch die Anfragen ihrer Mitbürger, was denn das Ganze solle und ob es noch mit dem jüdischen Glauben vereinbar sei – als auch von innen, nämlich durch die unterschiedlichen Strategien, mit dem Anwachsen der Anhängerschaft umzugehen. Die Frage, wie Nichtjuden in die Gemeinden integriert werden sollten, musste folglich eine zentrale Herausforderung darstellen, da sie die Frage aufwarf, worin es eigentlich besteht, ein Jünger Christi zu sein, in seine Nachfolge zu treten. Müssen Nichtjuden zuerst Juden werden, sich beschneiden lassen und als Juden leben, d.h. die Gebote und den Tempelkult einhalten? Und wie kann dann ein vertrauensvolles Zusammenleben im Glauben, ausgedrückt in der so genannten Mahlgemeinschaft, zwischen den jüdischen und den nichtjüdischen

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Gemeindemitgliedern bestehen, wenn die einen sich Reinheitsgeboten verpflichtet fühlen, die genau das gemeinsame Essen mit Nichtjuden verbieten oder nur unter bestimmten Auflagen gestatten? Auflagen, die selbst wieder diskriminierend wirken müssen? Paulus, selbst Jude, vertrat bekanntlich die Linie, dass der Glaube an Jesus Christus das Entscheidende sei und Nichtjuden die Beschneidung und die Gebotsbefolgung nicht abverlangt werden sollten. Der Konflikt ist für die Einheit der frühchristlichen Gemeinden deshalb so entscheidend, weil es ja um die Basis der Gemeinschaft geht, um ihre Identität: Lässt sich in dieser fundamentalen Frage eine Differenz durchhalten, nämlich zwischen Judenchristen und Heidenchristen? Obwohl der Konflikt sich an ganz praktischen Fragen entzündet, hat er eine essentielle theologische Dimension, die die Bedeutung des Glaubens an Jesus Christus insgesamt betrifft, nämlich nach der exklusiven Heilsbedeutsamkeit des Glaubens, die den Heilswert der Gebote relativiert. Das sogenannte Apostelkonzil hat hier offensichtlich eine Befriedung erbracht, aber keine Lösung der Grundsatzfrage. Davon zeugen bereits die unterschiedlichen Darstellungen, die Paulus im Galaterbrief (Gal 2,1–10) und Lukas in der Apostelgeschichte (Apg 15) davon geben. Es ist eher der Konflikt mit der Synagoge, also dem entstehenden Judentum, der eine Lösung des Problems herbeigeführt hat. Der Ausschluss der Judenchristen aus dem Verband des Judentums und das baldige Ende der judenchristlichen Bewegung haben eine praktische, aber keine theologische Lösung herbeigeführt. Auch wenn judenchristliche Positionen noch bis ins 4. Jahrhundert vertreten wurden, musste Einheit nun neu definiert werden: Die Christen haben sich zunehmend als eine Kirche unabhängig vom Judentum verstanden. Für sie waren der Glaube an Jesus Christus, die Taufe und die Beseelung mit Heiligem Geist entscheidend. Entsprechend etablierte die Kirche sich als ekklesia, als die Herausgerufene aus vorgängigen Bindungen an Judentum oder andere Herkunftsreligionen, und mit zunehmender Aufnahme griechischen und römischen Denkens verblassten die jüdischen Traditionen. Dieser Ursprungskonflikt um die Einheit der Kirche war der erste in einer langen Reihe von Auseinandersetzungen um eine einheitliche Glaubenslehre und kirchliche Glaubenspraxis. Mit zunehmenden Veränderungen in der Organisation der Kirche nahmen diese auch andere Formen an. Die eine Kirche Jesu Christi war nämlich anfänglich und noch ziemlich lange Zeit eine Kirche aus Kirchen: eine organisatorisch

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lockere Verbindung von Ortskirchen – d.h. aus lokalen Gemeinden, aber mit engen persönlichen Beziehungen. Im Westen kam es dann zu einer stärkeren Vereinheitlichung unter einem monarchischen Episkopat und zur Hierarchisierung unter dem einzigen weströmischen Patriarchat, nämlich dem von Rom, das eine Suprematie beanspruchte und sukzessive, allerdings in einem Jahrhunderte währenden Prozess, auch durchsetzen konnte. Den Höhepunkt dieses Prozesses stellt die Erklärung der päpstlichen Suprematie und Unfehlbarkeit auf dem 1. Vatikanischen Konzil im Jahr 1870 dar. An diesen Vorgängen ist für unsere Frage festzuhalten, dass Unterschiede in der Lehre stets und mit einer gewissen Folgerichtigkeit die Einheit der Kirche bedrohen. Denn wenn Glaube und Sakramente die entscheidenden Merkmale der Zugehörigkeit zur Kirche und zum Heil sind, dann hat ihre Wahrheit und ihre Richtigkeit existentielle Bedeutung. Pluralität ist hier grundsätzlich unerwünscht, sie kann unter diesen Voraussetzungen kaum als Wert aufgefasst werden. Die tatsächliche Pluralität im kirchlichen Leben, etwa in den Frömmigkeitsformen oder in der Liturgie, wie es in diesem Band ja dargestellt wird, aber auch die Pluralität in den theologischen Richtungen und Schulen, in der kirchlichen Organisation, vor allem in der Vielfalt der Orden und der ordensähnlichen Bewegungen sehen sich einem dauerhaften, wenngleich nicht immer gleichermaßen erfolgreichen Uniformisierungsdruck ausgesetzt, sofern sie nicht unterhalb der Signifikanzschwelle bleiben – und wo diese jeweils verläuft, ist eine hochinteressante kirchenhistorische Frage. Bringt man diese Zusammenhänge auf einen systematischen Punkt, dann ist in der Verbindung von Einheit mit Wahrheit der Grund für die starke Bindung an Einheit und die notorische Abwehr von Vielfalt zu erkennen. Diese Verbindung hängt ihrerseits damit zusammen, dass die Kirche als theologischer Begriff eine vorgestellte Gemeinschaft ist, die sich nicht auf irgendwelche realpolitischen gemeinsamen Interessen gründet, sondern diese im Kontakt mit der Politik de facto auszuhalten und zu überspannen hat. Die Verknüpfung der Einheit mit der Wahrheit hat ihre größte Sprengkraft natürlich im Kontext der abendländischen Kirchenspaltung als Konsequenz aus der Reformation entfaltet. Erst im 20. Jahrhundert hat der Wunsch nach Einheit und nach der Überwindung des Streits in der Glaubensgemeinschaft der Christen nach jahrhundertelangen Anfeindungen, Abgrenzungen und gegensei-

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tigen Verurteilungen wieder zu einer bedeutsamen ökumenischen Bewegung geführt. Nun ist es der Glaube an die Einheit der Kirche, der zum einen dazu führt, die Wahrheitsfrage neu und anders zu stellen, nämlich mehr als Multiperspektivität, dabei der Einsicht Rechnung tragend, dass die sprachliche Artikulation des Geglaubten und seine sprachliche Fixierung immer Ungesagtes zurücklassen und niemals die Ganzheit des Glaubens aussagen können. Die eine Wahrheit des christlichen Glaubens, so eine hermeneutische Vorannahme der ökumenischen Annäherungen, kann sich möglicherweise in einer Vielzahl einander ergänzender und korrigierender Aussagen finden lassen, die im Hören aufeinander zu einer immer angemesseneren Rede von der christlichen Botschaft führen. Auf der anderen Seite geht es auch um ein neues Verständnis der Einheit der Kirche. Die Kirchen der Reformation sind hier vorangegangen, ausgehend von der Vielzahl der protestantischen Kirchen, die ja landeskirchlich organisiert sind. Sie sind Erscheinungsformen der einen Kirche Jesu Christi, sofern sie das Wort Gottes recht lehren und zum Glauben an das Wort führen. Die eine Kirche, die als normativer Bezugspunkt des Kirchenverständnisses ja nicht aufgegeben wird, erhält hier einen mehr transzendenten Charakter und instantiiert sich im Kirchesein der vielen und in gewissem Rahmen auch vielfältigen Gemeinden. Was Einheit der Kirche trotz weiter bestehender eigenständiger Kirchen, kirchlicher Traditionen und kirchlicher Institutionen bedeutet, ist insgesamt die entscheidende Frage. Die Einheit der Kirche verlagert sich unter dieser Voraussetzung auf die wechselseitige Anerkennung als Kirchen und auf die Praxis, näherhin auf die Zulassung zu den Sakramenten. Wie in den Anfängen rückt die Abendmahlgemeinschaft ins Zentrum einer Idee von Kirche, die aus Kirchen besteht. Der Weg zur Einheit führt weiterhin über Wahrheit, die nun jedoch nicht als materiell habhaftes Depositum, sondern eher prozesshaft und intentional verstanden wird. Katholischerseits fällt es etwas schwerer, solche ökumenischen Wege zu beschreiten. Die Kirche bleibt als pilgernde Kirche zwar auch im katholischen Verständnis jeweils hinter dem vollen Kirchesein zurück, aber die eine Kirche Jesu Christi „subsistiert“ doch in der sichtbaren römischen Kirche, ohne mit ihr schlechthin identisch zu sein, wie es die nicht leicht ausdeutbare, wohl eher tentative Formulierung des Zweiten Vatikanischen Konzils in Lumen Gentium 8 besagt. Dennoch wird

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den Kirchen der Reformation zwar Kirchlichkeit zugestanden, aber nicht das Prädikat Kirche. Ein Neuverständnis der Gemeinsamkeit des Christlichen in Praxis und Sozialität – also im Kirchesein – bedarf, darauf möchte ich hier nur hinweisen, also sowohl einer Neujustierung in der Anerkennungspraxis – die anderen in ihrer Verschiedenheit als Teil der gemeinsamen Einheit anerkennen – als auch einer kognitiven Neujustierung: das eigene theologische Wahrheitsverständnis zu überdenken. Unter solchen Umständen kann ein innerreligiöser Pluralismus innerhalb des Christentums als Wert anerkannt werden; und vor analogen Herausforderungen steht auch ein interreligiöser Pluralismus, also die religiöse Anerkennung anderer Religionen. Auf diese theologischen Problemkreise möchte ich hier jedoch nicht eingehen, sondern auf die Motive, die für den Übergang von der Sicht auf Pluralismus als einem Problem zu einer Akzeptanz von Pluralismus als einem Wert im politischen Bereich führen. Das Beispiel ist, wie gesagt, die Europäische Union und ihr politisch-legitimatorisches Selbstverständnis als Wertegemeinschaft. 3. Der Zusammenhalt der Gesellschaft durch „Werte“ am Beispiel der Europäischen Union Diese Problematik kann hier freilich nur ihren Grundzügen nach skizziert werden und natürlich nur insoweit sie für unsere übergreifende Fragestellung einschlägig ist.3 In diesem Zusammenhang lautet die Leitfrage: Worin liegt eigentlich der Grund dafür, dass der Titel der „Wertegemeinschaft“ in Europa eine solche Karriere gemacht hat und schließlich zu einem der zentralen Labels wurde? Kurz gesagt, besteht das Problem der Europäischen Union darin, dass sie einen Legitimationsgrund für ihre politische Einheit finden muss – bzw. während des Verfassungskonventes in den Jahren 2001 bis 2002 finden musste. Als reine Wirtschaftsunion konnte der Bestand der EU und konnte ihr politischer Kompetenzzuwachs noch mit Zweckmäßigkeit begründet werden, nämlich mit dem ökonomischen Nutzen für alle beteiligten Staaten. Für eine weiterreichende, politische Union, die die Nationalstaaten überspannt und relativiert, genügt dies nicht mehr. Ein Bezug auf eine irgendwie geartete europäische Nation, die der Union vorausläge und sich in ihr als ihrer politischen Form wiederfände, ist jedoch nicht glaubhaft, denn ein europäisches Nationalbewusstsein gibt es

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nicht. Außerdem kann in Frage gestellt werden, ob eine emphatische Beschwörung europäischer Nationalität und eines europäischen Nationalcharakters den rationalen Standards eines jedenfalls grundsätzlich post-nationalen Zeitalters gerecht wird. Denn auch wenn es im Osten und Südosten Europas ein nachkommunistisches Wiederaufleben des Nationalstaats und des Nationalismus gab, taugt dies angesichts der destabilisierenden und blutigen Folgen kaum als wünschenswertes Modell für die europäische Ebene. Im späten 20. und frühen 21. Jahrhundert kann das Nationalmodell nicht mehr als Modell für die Integration von Pluralität in Einheit überzeugen, schließlich haben wir im ehemaligen Jugoslawien den rasanten Zerfall von Staaten erlebt, in denen quasi plötzlich die gesellschaftliche Zusammengehörigkeit und die Nachbarschaftlichkeit aufgekündigt wurden.4 Als eine politische Einheit musste die Europäische Union auf diese Erfahrungen bei ihrer Verfassungsgebung reagieren. Sie konnte andererseits die emphatische Frage nicht einfach offen lassen: Was hält uns Europäer eigentlich zusammen, das über Interessen hinausgeht, was ist die Basis einer europäischen politischen Solidarität, wenn es dafür keine vorgeblich natürlichen Grundlagen (alias Nation) gibt und die kulturellen – wie Sprache, Geschichte, Kultur – unbestimmbar sind? Die Lösung der Wertegemeinschaft stellt gewissermaßen eine Flucht nach vorn dar, sie versucht Pluralismus offensiv mit Einheit zu paaren. Um diese Funktion zu erfüllen, muss das Konzept der Werte zum einen hinreichend bestimmt sein, um eine gemeinsame europäische identitätstaugliche Grundlage zu formulieren, andererseits hinreichend offen, um Pluralität zu ermöglichen – das ist das für unsere Frage Interessante daran. Der Vertrag von Lissabon (der an dieser Stelle den entsprechenden Artikel des gescheiterten Verfassungsvertrags unverändert übernimmt) zählt als die Werte der Union an erster Stelle die „Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte“ auf, und spricht dann davon, dass diese Werte in einer Gesellschaft zu wahren seien, „die sich durch Pluralismus, Nichtdiskriminierung, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und die Gleichheit von Frauen und Männern auszeichnet“ (Hervorhebung von mir). Im Zusammenhang mit den Werten hat es im Verfassungskonvent eine heftige Auseinandersetzung gegeben, die auch die Öffentlichkeit in Europa sehr beschäftigt hat, ja eines der europapolitischen Themen

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gewesen ist, die in den letzten Jahren mit die größte und am längsten anhaltende Öffentlichkeitswirkung entfaltet haben. Der Streit entzündete sich über der Frage, ob auch Religionen in der Verfassungspräambel Erwähnung finden sollten. Der Zusammenhang mit den Werten besteht darin, dass die Frage nach Religionen in Europa gerade als Frage nach den Traditionen und Fundamenten aufkam, in denen diese Werte ihrerseits wurzeln. Strittig waren nicht die Werte, sondern die Fundamente der Werte. Hier kehrt der Pluralismus als Konkurrenz wieder, nämlich als Konkurrenz von Religionen und Weltanschauungen, sich in der Sonne der allgemeinen und öffentlichen Bedeutsamkeit zu sonnen. Die europäische Lösung sieht so aus: Die Fundamente der Werte in Weltanschauungen, Religionen und Traditionen werden offen gelassen, es werden allein die Werte proklamiert. Wohlgemerkt: Die Werte werden nicht gesetzt, sondern es wird ihre Verbindlichkeit festgestellt. Die Verbindlichkeit der Werte ruht, den Debatten des Europäischen Konvents zufolge, in den europäischen Erfahrungen des Gegeneinander, der blutigen Kriege und der Unterdrückung. Die Proklamation der Selbstbindung der EU an diese universellen Werte stellt auch die Absage an die kriegerische Vergangenheit und an das Gegeneinander der Nationen dar. Die Fundamente von Werten in traditionalen Verstehens- und Überlieferungskontexten werden offen gelassen. Wohl wird anerkannt, dass Werte solche Wurzeln oder Quellen haben, jedoch werden sie nicht benannt, sondern mit Schweigen bedacht. Wenn man will, kann man das so deuten: Die Beantwortung der Frage nach den Fundamenten gehört der Ebene der Zivilgesellschaft an, die vorausgesetzt wird, die aber keinen Verfassungsrang hat. Gleichzeitig bedeutet dies natürlich: Religionen und Weltanschauungen werden depotenziert, sie sind keine Garanten politischer Einheit und Einigung, wenn sie vielleicht auch förderliche Funktionen haben können. Pluralismus als Wert erfordert eben auch, dass die Einheitsfunktion sich von starken und gesättigten Traditionen hin verlagert auf schmalere Konzepte wie Werte, die zwar moralische und politische Erfahrungen abrufen können und Legitimation wie Kriterien von politischer Einheit darstellen können, aber keine umfassendere legitimierende oder sinnstiftende Einbettung des Öffentlichen leisten können. Pluralismus als Wert meint jedoch – das muss nachdrücklich unterstrichen werden – keineswegs Indifferenz oder Relativismus. Die Einbettung des Pluralismus in eine Reihe weiterer, sehr grundlegender

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Werte macht das deutlich. Erst auf der Voraussetzung bestimmter starker Werte wie der Menschenwürde, des Individualismus, der Person, der Demokratie werden Anerkennung und Bejahung von Pluralismus überhaupt verständlich und als Wert erkennbar. Insofern ist Pluralismus ein abgeleiteter Wert, er taugt nicht als Grundwert Europas, sondern nur als Grundierung in einem Bild, in dem andere, kräftigere Farben überwiegen. Aber deshalb hängt Pluralismus auch nicht in der dünnen Luft der Indifferenz und des Relativismus, wie bisweilen geargwöhnt wird, angesichts derer der baldige Zusammenbruch zu erwarten wäre. Die begleitenden Werte der Toleranz und Gleichberechtigung legen darüber hinaus eine weitere Spur: Verschiedenheitsverträglichkeit geht nicht ohne Toleranz. Ich würde sogar noch über Toleranz – der immer das Ablehnung implizierende „Ertragen“ anhaftet – hinausgehen und festhalten: Pluralismus als einen Wert zu verstehen und entsprechend zu bejahen, setzt die Anerkennung der Anderen in ihrer Anderheit und Andersheit voraus. Das sind sehr starke und anspruchsvolle moralische und politische Überzeugungen. Angesichts ihrer wandelt sich entsprechend das Verständnis von Einheit und politischer und sozialer Gemeinschaft. Ich habe Toleranz und Anerkennung von Pluralismus und Nichtdiskriminierung auch als Metawerte bezeichnet, weil es nämlich diese Werte sind, die gesellschaftliche Differenzen voraussetzen, Pluralität als Situation der Gesellschaft anerkennen und eine Schlüsselstellung für eine friedliche Bewältigung solcher Differenzen haben. Was bedeutet dies nun für die Haltung von Religionen zum Pluralismus? Nimmt man die Einstellung in den Blick, die aus den Religionen in Europa heraus gegenüber den europäischen Werten eingenommen wird, so lässt sich eine große Bandbreite denken: Am einen Ende des Spektrum steht eine inklusivistische Position, die von „unseren Werten“ gewissermaßen possessiv spricht, etwa nach dem Aussageschema: die europäischen Werte gründen (nur) in unserer Tradition (etwa: der christlichen); am anderen Ende des Spektrums steht eine pluralistische Position, die anerkannt, dass jene Werte, zu denen man sich selbst bekennt, auch in anderen Traditionen und Weltanschauungen (nach deren eigenem Urteil) wurzeln können. Der Streit über die Werte der Union hat gezeigt, dass die gegenwärtigen Weltanschauungen und Religionen in Europa (oder besser: ihre Wortführer) vielleicht nur anfanghaft pluralismusoffen sind. Sie sind noch auf dem Weg über die Einstellung der Toleranz hinaus, die die Ablehnung des

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anderen voraussetzt, aber für seine Nichtdiskriminierung aus höheren (oder auch nur aus pragmatischen) Gesichtspunkten optiert, hin zu einer Anerkennung anderer Überzeugungshorizonte als jedenfalls für den öffentlichen Bereich ebenfalls zuträglich und förderlich, weil sie ebenso einen Motivations- und Fundierungshintergrund für die gemeinsamen Werte abgeben. Auf diesem Weg bedarf es offenbar noch einer ganzen Menge an Begegnungen und Gesprächen zwischen den Religionen und Weltanschauungen, die dem Grundsatz folgen sollten, dass dem Gesprächspartner zuerkannt werden muss, dass er sich so verstehen kann, wie man sich selbst versteht, nämlich dass seine Glaubens- und Überzeugungstradition nach seinem eigenen Urteil ebenfalls eine Grundlage für die – gemeinsamen – europäischen Werte abgibt. Dann kann (und sollte) man ihn dort beim Wort nehmen und eine entsprechende gesellschaftliche und politische Praxis einfordern. 4. Zusammenfassung und Ausblick Zum Schluss möchte ich den Blick auf die Voraussetzungen lenken, die gegeben sein müssen, damit Pluralismus ein Wert und nicht nur ein Problem darstellen kann. Gesellschaftlicher Pluralismus bleibt insofern latent ein Problem, als er natürlich stets die Gefahr birgt, gesellschaftliche Interessenkonflikte und soziale Spannungen, die es immer geben wird, anzuheizen und zu verstärken, oder weil er wenigstens ihre Bearbeitung tendenziell anstrengender macht. Die Anerkennung von Pluralität ist anstrengend. Sie erfordert ihrerseits Werte, nämlich Toleranz, Anerkennung und Respekt. Diese müssen nicht nur normativ eingefordert werden. Das ist zwar äußerst wichtig, und öffentliche Institutionen, allen voran das Rechtssystem und die Politik, müssen dieser Forderung Nachdruck und Wirklichkeit verleihen. Aber als bloß normative Forderungen verbleiben Toleranz und Anerkennung letztlich auf dem Niveau von Instrumenten in einem Kampf um öffentliche Aufmerksamkeit und um Positionierung im politischen Kräftespiel. Als Werte müssen sie darüber hinaus die politisch-öffentliche Kultur durchdringen und prägen, in der sich diese Auseinandersetzungen abspielen. Dazu müssen sie Haltungen ausprägen. Dies ist eine Herausforderung an die Religionen und Europa – aber nicht nur an sie –, ihre inneren Ressourcen freizulegen, zu stärken und zu pflegen, die anerkennungs- und respektförderlich sind, die gerade den Respekt ge-

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genüber dem anderen Menschen, der anderen Religionsgemeinschaft und der anderen Weltanschauung fördern. Nun kann freilich andererseits in Frage gestellt werden, ob es ausschließlich und in erster Linie Religionen sind, die für eine politische Konfliktkultur in Europa verantwortlich sind. Haben sie denn noch eine solche kulturell prägende Kraft? Wird die öffentliche und politische Kultur nicht in weitaus höherem Maße von anderen normativen Instanzen, allen voran der Ökonomie geprägt? Im Sinne einer Aufforderung zum Weiterdenken möchte ich daher meine Ausführungen mit der erneuten Warnung schließen, nicht vorschnell gesellschaftliche Auseinandersetzungen und Differenzen über den allzu dankbaren Leisten Religion zu schlagen.

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Wann begann die Europäische Religionsgeschichte? Der hellenistisch-römische Mittelmeerraum und die europäische Gegenwart 1. Einführung Im Rahmen einer Ringvorlesung zu Merkmalen der Religionsgeschichte Europas ist es zwar nicht notwendig, aber doch hilfreich, sich mit Anfängen zu beschäftigen. Aber gegen die Erwartungen, die der Untertitel vielleicht wecken mag, möchte ich weder normative Aussagen über „Europa“ noch Behauptungen zu absoluten Anfängen machen. Ebenso fern liegt es mir, die Frage der politischen Kontinuität des Römischen Reichs und seiner Nachfolgerstaaten zu den süd-, west-, mittel- und südosteuropäischen Teilen der Europäischen Gemeinschaft zu behandeln, über sprachliche Kontinuität von römischen Sprachen oder die überwältigende Kontinuität des griechischen philosophischen Denkens zu sprechen. Entsprechend ist mein Titel auch keine politische Erklärung über die Integration der Türkei, Marokkos oder Israels und Palästinas – um einmal die wahrscheinlichsten Kandidaten für die Europäische Union zu benennen. Stattdessen denke ich über die Folgen für eine Religionsgeschichte Europas nach, wenn man diese mit den alten Mittelmeerimperien beginnt1 – und möchte zugleich einen Einblick in laufende Erfurter religionswissenschaftliche Forschungen geben. Mit einer Genealogie zu beginnen heißt, über die Gegenwart zu sprechen. Ich erzähle eine lange Geschichte, um von der Bedeutung dieser Geschichte für heute zu überzeugen. Eine kulturwissenschaftliche Religionsforschung konzentriert sich dabei nicht auf Religion als solche, sondern auf ihre Position in und ihre Verbindung mit NichtReligiösem, mit Gesellschaft und Kultur. Daher ist die These, die ich vortragen werde, die These, dass im Verlauf des historischen Phänomens, das wir als Religion konzeptualisieren und dem wir Bedeutung für das Europa von heute zumessen, in der hellenistisch-römischen Zeit eine wichtige Änderung geschah. Konkret lautet meine These,

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dass überörtlich organisierte Religionen, die für einzelne Optionen bilden und Gegenstand rechtlicher Regelung durch den Staat sein können, mit Gewinn zurück in die hellenistisch-römische Periode verfolgt werden können. Dieser Beitrag wird über die Ausbildung dieser Merkmale reflektieren, nicht über den weiteren Verlauf oder gar eine lineare Entwicklung. Zuvor muss aber ein anderes Problem angegangen werden. Wenn akzeptiert wird, dass die Formen der beschriebenen Religion heute wichtig sind – und ich will nicht behaupten, dass dies die einzigen Formen sind –, wird man feststellen müssen, dass dieses Phänomen nicht auf Europa beschränkt ist. Meine vorgetragene Beschreibung von „Religion“ liegt sogar nahe bei der verbreiteten Vorstellung von „Weltreligionen“, von Formationen mithin, die nicht nur außerhalb von Europa existieren, sondern sogar Genealogien aufweisen, die jenseits von Europa und Mittelmeer ihre Ursprünge suchen. Hier muss nun kurz an die Vorstellung von der „Achsenzeit“ erinnert werden. Der nicht von Karl Jaspers erfundene, aber von ihm verwendete und eine moderne Debatte2 prägende Ausdruck bezeichnet die „Erfindung der Transzendenz“ (so Shmuel Eisenstadt) oder die Erscheinung von „theoretischer Kultur“ (so Merlin Donald), beides Prozesse, die zu einer Spannung zwischen einer theoretischen oder transzendenten Ordnung und der tatsächlich vorfindbaren Ordnung führen. Auf diese Art sind neue Perspektiven auf die eigene Gesellschaft möglich, ein neue Reflexivität, begonnen von Intellektuellen, die auf die Institutionalisierung von Alternativmodellen der Gesellschaft zielen. Die bisherigen Diskussionen über die Achsenzeit (oder sogar mehrfache „axialities“)3 haben mehr und mehr Kulturen (oder „zivilisatorische Formierungen“)4 und Perioden eingeschlossen, aber das römische Reich vor der Spätantike sorgfältig umgangen. Griechenland und altes Israel, China und Indien, vielleicht der (nach-) zarathustrische Iran sind die „Primärdurchbrüche“, Christentum und Islam, das heißt späte und sehr späte Antike, gelten zumindest als sekundäre Durchbrüche. Das Konzept einer Achsenzeit hat das Verdienst, dass es Eurozentrismus klar vermeidet. Das Fehlen einer geographischen Engführung wird jedoch durch eine gewisse monotheistische Engführung kompensiert. Diese resultiert weniger aus der Idee der notwendigen Differenz der transzendenten Ordnung als aus der Suche nach der Genealogie der heutigen Weltreligionen. Daher haben weder der frühe Hinduis-

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mus noch die griechische Religion trotz der Einbeziehung von Sokrates Berücksichtigung gefunden. Die Vorstellung axialer Zivilisationen ist seit langem von kruden Kausalitäten befreit worden. Eisenstadt hat bereits eine größere Anzahl von intellektuellen, politischen, sozialen, religiösen und kulturellen Veränderungen identifiziert,5 jüngere Studien haben die Bedeutung von Wirtschaftsfaktoren in einer mittelalterlichen Achsenzeit betont.6 Auf der Grundlage einer Neuinterpretation von Karl Jaspers’ Konzept der Achsenzeit und eines langen Austausches mit Shmuel Eisenstadt hat Björn Wittrock versucht, die Vorstellung von Axialität so allgemeinen wie nur möglich zu konzeptualisieren. Derart schließt er eine große Anzahl von kulturell bestimmten Konkretisierungen aus, um zugleich eine Vielfalt verschiedener Realisierungen und folglich verschiedener Pfade von Entwicklung zuzulassen. Was nicht kulturell bestimmt ist, bleibt die Idee, dass eine Achsenzeit eine Periode tiefgreifender Änderungen von Grunddimensionen menschlicher Existenz ist, nämlich textlich greifbarer radikaler Änderungen im reflexiven Bewusstsein, in der Kosmologie, der Historizität, Sozialität und der agentiality, der individuellen Handlungskompetenz.7 Diese Minimaldefinition legt den Akzent auf eine intellektuelle Entwicklung, während sie zur gleichen Zeit betont, dass politische und ökonomische institutionelle Veränderungen für die Identifikation ebenso wichtig sind wie für die tatsächliche Formierung axialer Kulturen. Das historische Problem freilich, wie Wittrock betont, ist auf diese Art gerade nicht gelöst. „The most important direction in future research … is to spell out the links between the set of intellectual and cosmological breakthroughs and sea-changing institutional transformations that a limited sense of the concept of the Axial Age denotes.“8 Man kann „Achsenzeit“ nicht länger als Abkürzung für Ähnlichkeiten in den Vorstellungen einiger weit von einander entfernter religiöser Gründungsfiguren verwenden. Wenn er überhaupt verwendet wird, bezieht sich der Ausdruck auf eine Interaktion zwischen Religion und politischem Raum, bezieht sich nicht auf inhärente Qualitäten von Glaubenssystemen, sondern auf komplexe kulturelle Konstellationen. Ich habe mich aus zwei Gründen mit dem Konzept der „Achsenzeit“ aufgehalten. Zum einen erinnert uns der Ausdruck daran, dass Erklärungen auf derselben Skala wie die Größenordnung der zu erklärenden Phänomene gesucht werden müssen, wie Greg Woolf es betont

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hat, als er auf die wichtige Rolle der Ausbildung von Reichen für die Entwicklung von achsenzeitlichen Religionen hinwies.9 Zum anderen ist die hellenistisch-römische Epoche alles andere als marginal für die klassische Achsenzeitkonzeption, wenn wir uns nicht auf Gründerfiguren, sondern auf die sich ausbildenden religiösen Traditionen schauen. Diese Epoche ist für das Verständnis des frühen Christentums, des rabbinischen Judentums und des zirkummediterranen Islam entscheidend, sie stand in kulturellem Austausch mit Indien wie dem Iran, importierte Ideen wie den Dualismus und die „Gymnosophisten“, die nackten Jogiphilosophen, exportierte wichtige Medien wie Münzen mit religiösen Abbildungen und einen Typ von Statuenporträt, der die direkte Abbildung des Buddhas (anstelle von Zeichen wie dem leeren Thron) verbreitete. Zumindest geht es also um die Kinderstube sekundärer axialer Zivilisationen, die dem Einfluss der primären axialen Ideen und Institutionen vollständig ausgesetzt war. 2. Die Entstehung von Religionen Über Räume von subkontinentaler Größe als Ursprungsorte zu reden, ist eher irreführend. Ich werde gleich wieder auf die Größe politischer Formationen als historischer Faktor zu sprechen kommen, muss aber zunächst den ganz lokalen Charakter nicht nur antiker Religionen betonen. Zu Recht ist Religion als in soziale und politische Strukturen und Praktiken eingebettet beschrieben worden, als lokale Gegebenheit mithin. Von einem lokalen Charakter zu sprechen bedeutet aber nicht, dass – wie Begriffe wie Polisreligion oder „civic cults“ suggerieren – religiöse Praktiken sich allein auf politische Identität konzentrieren oder von den Investitionen der Elite in religiöse Infrastruktur dominiert werden. Daraus folgt, dass die Rede von – zum Beispiel – „Athener“ oder „römischer Religion“ ebenso problematisch ist wie die Rede von einer Mehrzahl von „Religionen in oder von Athen“. Das gilt für hellenistische Städte nicht anders als für römische. So soll im folgenden das Augenmerk zunächst auf eine einzelne Stadt, auf Rom, gerichtet werden, eine Stadt, deren Rolle für die Ausbildung des Begriffs „Religion“ wie für seine rechtliche Rahmung für die europäische Geschichte am folgenreichsten gewesen ist. Aufgrund kontinuierlicher Kontakte seit den frühen Urbanisierungsphasen hatte Rom, die Stadt am Rande der griechischen Welt,

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keine Probleme mit der Aufnahme und Akkulturation griechischer Einflüsse, ob es sich nun um Mater magna aus Kleinasien oder Venus Erycina aus Sizilien handelte.10 Erst aus dem vierten Jahrhundert n.  Chr. blickte Firmicus Maternus auf eine römische Gesellschaft zurück, deren „Infektion“ mit dem Import des Kults von Ceres bzw. Proserpina aus dem sizilianischer Enna begonnen hatte (Errores profanarum religionum 7). Nach Ausweis Ciceros blieben noch Mitte des ersten Jahrhunderts v. Chr., das heißt am Ende der römischen Republik, andere kulturelle und religiöse Räume einfach exotisch, waren weder gefährlich noch adaptierbar, so etwa die syrischen Fischgötter und die ägyptischen Tiergötter (Cicero, De natura deorum 3,39, Ägyptisches erneut in 3,48) oder eine indische Variante des Iuppiter (3,42, Belus d.h. Baal). Die Existenz von ägyptischen Varianten von Göttergenealogien wurden häufiger notiert (3,54 ff.), aber ihnen wurde nicht der Status von gefährlichem Wissen zugemessen. Solche Genealogien wurden als entfernte lokale Varianten wahrgenommen und gewannen keine Bedeutung über jene Orte hinaus. Wie die Römer ihre öffentliche Religion hatten, hatte andere ihre (Cicero, Pro Flacco 69), und diese konnten miteinander verglichen werden (De natura Deorum 2,8). Cicero verwendet in diesem Zusammenhang aber keine Mehrzahl: Sua cuique civitati religio, Laeli, est, nostra nobis – „jeder hat seine eigene Religion, wir haben unsere“ – ist in der Rede für Flaccus ein Ausruf, eine Deklaration radikaler Differenzen, nicht der Verweis auf sinnvolle Wahlmöglichkeiten oder eine irgendwie bedeutungsvolle Koexistenz. In der langen Geschichte des Römischen Reiches, das hellenistische Strukturen und Entwicklungen integrierte, musste diese Position revidiert werden. Das Einströmen von Kulten nach Rom, ihr Blühen in Rom, und die häufige Errichtung eines römischen Zentrums von Kulten, die an anderen Orten entstanden waren (wie im Falle der Isis oder des Christentums), ist im Detail in der modernen Forschung beschrieben worden.11 Rom, die Hauptstadt fesselte und fesselt das Interesse von modernen wie antiken Intellektuellen. Jeder ehrt seine Götter und die Römer sie alle, ist die zusammenfassende Beobachtung von Caecilius, einer Figur in dem von Minucius Felix um 220 n. Chr. geschriebenen frühchristlichen apologetischen Dialog „Octavius“ (6,1). Caecilius legt dabei seinen Akzent auf den Kult (6,3–7,1). Solch eine romzentrierte Sicht ist für den Immigranten aus Nordafrika, ist für Minucius verständlich. Roms Position war jedoch nicht

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einzigartig. Das Gleichnis von Rom als „Tempel der ganzen Welt“ verwendet eine Phrase, die der hermetische Traktat „Asclepius“ für Ägypten verwendet. Eine außergewöhnliche Mobilität, ermöglicht durch die Strukturen, den Bedarf und die Möglichkeiten des Römischen Reiches, modifizierte die religiöse Landschaft überall. Das wurde von demselben Beobachter mit seinen Erfahrungen aus Rom und Nordafrika wohl wahrgenommen. So lässt Minucius Felix seine Figuren auf eine Zeit zurückblicken, „bevor der Globus dem Handel geöffnet wurde und die Völker ihre Riten und Sitten vermischten“ (20,6). Die Veränderungen gingen aber weit über das Ritual hinaus, und dieser Entwicklung muss ich mich jetzt zuwenden. Begriffe wie cultus, sacra oder caerimoniae, aber sogar der eher auf das Kognitive zielende Begriff religio (und sein Plural) konnten kaum die Realität der Bildung von Gruppen reflektieren, die religiöse Symbole zur Formulierung einer Gruppenidentität verwendeten. Im Rahmen antiker Religion korrespondierte der Kult einer bestimmten Gottheit nur gelegentlich mit Gruppengrenzen, er bildete eher ein geteiltes und zwar wichtiges, aber kaum exklusives Zeichen. Diese Tatsache stellt die übliche Interpretation von Sammlungen inschriftlicher und archäologischer Corpora zum Kult (wohlgemerkt: Singular!) einer bestimmten Gottheit in Frage. Mit den berühmten Corpora cultus religionis … konstruiert die moderne Forschung eine überregionale religionsgeschichtliche Einheit „Kult“, die es so in der Antike gar nicht gegeben hat. Es entstanden andere terminologische Lösungen, mit diesen vielfältigen Aspekten umzugehen. Secta, das das griechische hairesis übersetzte, wurde in erster Linie verwendet, um philosophische Schulen seit dem frühen Hellenismus zu unterscheiden, konnte aber auch für jüdische Gruppen wie Sadduzäer oder Pharisäer verwendet werden. Der Ausdruck ist bei Cicero selten, der es häufiger nur für politische statt philosophische Gruppen verwendete, aber erscheint häufiger vom ersten Jahrhundert an. Er ist im sogenannten Toleranzerlass von 311 n. Chr. belegt (Lactantius, De mortibus persecutorum 34). Hier blickte der Kaiser Licinius auf seinen früheren Versuch zurück, die Christen wieder „zu Sinnen“ zu bringen, da sie die „Sekte ihrer Eltern“ (34.1) verlassen hätten. Der Ausdruck wird sehr häufig für alle Arten von Sekten in den im sechzehnten Buch des Codex Theodosianus gesammelten Normen verwendet (insbesondere 16,5), einschließlich einiger Fälle von „katholischer“ oder „orthodoxer Sekte“.12

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Wenn vergleichbare und – das ist wichtig – reversible Wahlmöglichkeiten in Bezug auf verschiedene philosophische Schulen ausgedrückt werden konnten, implizierte dies einen Wissensvorat wie – und auch dies ist wichtig – einen eigenen Lebensstil. Durch den Ausdruck disciplina konnte dieser Akzent auf Lebensführung auf bestimmte religiöse Spezialisten angewandt werden, etwa Zauberer, etruskische Eingeweideschauer oder Auguren sogar schon in der späten Republik. Der Sprachgebrauch wurde zur Erfassung einer weit größeren Vielfalt von religiösen Praktiken durch die christliche Apologetik seit dem Ende des zweiten Jahrhunderts erweitert und erreichte im vierten Jahrhundert offizielle Texte. Im Verlauf der Ausdehnung des Imperiums, seiner umfangreichen Verschiebung von Personen und seiner Delegitimierung von lokalen Autoritäten,13 waren solche Komplexe religiöser Zeichen und Handlungen zu mehr geworden als natürliche Folge der Ehrfurcht vor einer bestimmten Gottheit. Sie wurden rationaler Interpretation und Erklärung unterzogen. Sie wurden an universalen Humanitätsstandards gemessen. Für eine wachsende Anzahl von Menschen waren sie ein notwendiger Teil (aber ich muss betonen: nur Teil) ihrer Lebensform geworden. Die Aufteilung zwischen Öffentlichkeit und Privatem konnte darauf nicht mehr angewandt werden. Diese Sozialformen waren ein ökonomischer und politischer Faktor. Sie waren ein Medium eines funktionell nicht-religiösen Diskurses. Im einzelnen waren diese Elemente weder neu noch konsistent. Sie konvergierten aber mit terminologischen Veränderungen, mit ratio und fides, Vernunft und Glauben, die religio kontrollierten, mit der Betonung von „wahrer Religion“, mit disciplina, Lebensführung, und Moral14 und mit secta, eine Gruppierung, die weder öffentlich noch privat ist. Durch ihre Verwendung von Inschriften, Bildern und Architektur wurde Religion eines der wichtigsten Medien öffentlicher Kommunikation. Die Mobilität von intensiver organisierten Anhängern – durchaus nicht im Falle jeder Gottheit, jeder religio und jedes cultus – schuf das Problem der überörtlichen Wiedererkennbarkeit. Dies wurde durch Annäherungen an eine ikonographische Standardisierung des Kultbildes im Falle des Mithras, durch ungewöhnliche Ritualen und ägyptische Dekorationen im Falle der Isis erreicht, durch den Austausch von Briefen und Sammlungen von Erzählungen im Falle von Christen,

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durch den Versuch, jeden Aspekt des Lebens zu regulieren, im Falle der rabbinischen Autoren der Mishna in Palästina. Um den gesellschaftlichen Ort eines solch aufgeladenen Konzepts von „Religion“ und das Auftreten von „Kulten“, die Grenzziehung betreiben, zu definieren, griff die römische Verwaltung, vor allem seit den Kaisern Aurelian und Diocletian am Ende des dritten Jahrhunderts, auf Gesetzgebung, wenn notwendig auf strafrechtliche Erlasse und gewalttätige Verfolgungen zurück. Einige Formen vom Judentum, Christentum und Manichäismus waren unter den Überlebenden, aber die beschriebene Entwicklung hatte die Entstehung einer weit größeren Fülle von Religionsgemeinschaften zur Folge gehabt – eine Tatsache, die in Achsenzeit-Darstellungen normalerweise übersehen wird. Auch Religionsgeschichtsschreibung ist noch immer in der Regel die Geschichte der Sieger. 3. Individualisierung Offensichtlich erfuhr die hellenistisch-römische Epoche eine Entwicklung einer Vielfalt von dicht organisierten, teils professionalisierten Systemen von Symbolen, Praktiken und Gruppenbildungen – ich vermeide immer noch den Begriff „Religionen“, dessen konfessioneller und exklusiver Charakter kaum vor dem Ende der Periode charakteristisch wurde. Ich schlage vor, den Begriff „Religionisierung“ oder „Religionifizierung“ auf diesen Prozess anzuwenden, der eine weit reichende, obschon nicht irreversible Veränderung des gesellschaftlichen Ortes von Religion einschloss. Jonathan Zittel Smiths Modell eines Überganges von lokativer, politisch eingebetteter und zur Legitimation der bestehenden Herrschaft verzweckter Religion in utopische Religion, die das Ideale jenseits des Bestehenden denkt, ist hier sehr hilfreich.15 Gleichwohl müssen wir bedenken, dass die römischen wie byzantinischen Formen des Christentums schnell in ausgeprägtem Maße lokative Religionen wurden. Mit der hellenistisch-römischen Antike anzufangen bedeutet weder, Fortschrittsgeschichten zu erzählen, noch, die Vergangenheit anachronistisch zu aktualisieren. Gleichwohl wage ich es, einen zweiten Begriff einzuführen, nun keinen Neologismus wie „Religionisierung“, aber einen, der der Gefahr des Anachronismus, der falschen Aktualisierung noch stärker ausgeliefert zu sein scheint, nämlich Individualisierung. Das theoretische

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Interesse ist ähnlich gelagert. Wenn „Religionisierung“ den prekären und kontingenten Charakter der systemischen und institutionellen Dimension von Religion und ihre Stelle in und ihr Verhältnis zur Gesellschaft thematisiert, zielt „Individualisierung“ direkt auf die einzelne Person als Ort von Erfahrung und agency, Handlungskompetenz, und ihrer welchselseitigen Abhängigkeit von und mit der Gesellschaft wie Religion. Wieder müssen Vorstellungen von Fortschritt und anachronistischer Aktualisierung vermieden werden. Es wäre schwierig, das komplexe Syndrom von De-Traditionalisierung, biographischer Zuwendung zu sich selbst, permanenter Reflexivität und narzistischem Trieb zu Authentiziät, wie sie als typisch für zeitgenössische Individualisierung in einer jüngeren Diagnose formuliert worden sind, schon in der Antike zu identifizieren.16 Wie kann demnach solch ein Begriff religionsgeschichtlich fruchtbar gemacht werden? Zwei Maßnahmen müssen ergriffen werden. Die erste heißt, die Begrifflichkeit zu klären. Entsprechend neuen Diskussionen schlage ich vor, „Individualisierung“ zu beschränken auf umfangreiche strukturelle oder diskursive Veränderungen, also langlaufende historische Prozesse, die nur aus einer Vielzahl von Einzelbefunden erschlossen werden können.17 Natürlich bezieht sich Individualisierung auf wachsende Grade von Individualität. Zu deren Definition würde ich vor allem auf de-traditionalisiertes Handeln als Merkmal verweisen. Damit entstehen faktische Unterschiede und explizite Distinktionen im Vergleich zu anderen und derem Handeln; das kann zwischen Perfektion und Devianz, nicht mehr normgerechtem Verhalten, liegen. Solche Begriffe implizieren, dass Individualität selbst kein rein beschreibender Begriff ist, sondern auf zeitgenössische Diskurse und Sachzwänge verweist. Um solche Differenzen für antike Gesellschaften abzubilden, schlage ich vor, fünf verschiedene Arten der Individualität zu unterscheiden: – praktische Individualität – moralische Individualität – kompetitive Individualität – repräsentative Individualität – reflexive Individualität. Diese Typen sind nicht unbedingt korreliert. Praktische Individualität – die Tatsache, dass die Leute selbstbestimmt handeln, statt einfach Traditionen folgen zu müssen oder können –, weist auf Situationen, in denen Einbettungen verloren gehen, etwa als Folge von zeitweiligem

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oder dauerhaftem Abbruch sozialer Bindung (wie im Falle von Migranten, Reisenden oder Überlebenden von Katastrophen), oder weist auf die Folgen scharfer Arbeitsteilung. Diese Bedingungen werden von den Betroffenen wie Zeitgenossen häufig nicht reflektiert, im Einzelfall wurden aber Vorbereitungen getroffen durch geschriebene oder erlernte Anweisungen zum Beispiel für Jenseitsreisen. Moralische Individualität schließt ein die Zuschreibung von Verantwortung an Personen für ihr eigenes Verhalten, konkretisiert sich – ich bleibe im Bereich des Religiösen! – in Konzepten von Sünde, in gesetzlichen Normen wie Strafen. In der Antike sind solche Standards typischerweise diejenigen von anderen und würden Urteile über soziale Verpflichtungen einschließen, bis hin zur Negation von Individualität. Spezifische Pflichten stehen eher im Vordergrund als universale Rechte, an eine juristische Individualität im Sinn einer Erklärung von Menschenrechten ist nicht zu denken. Der Blick kann sich nur auf Details richten. Schon eine Verpflichtung zur Beteiligung an Ritualen weist auf eine moralische Individualität, die bloße Verbote übersteigt. Kompetitive Individualität bezieht sich auf den verbreiteten aristokratischen Wettbewerb um Auszeichnung, Distinktion. Hier geht es normalerweise um Normen, an denen sich andere soziale Gruppen orientieren. Individuelle Unterschiede werden von zeitgenössischen Beobachtern präzise beobachtet, aber an einem gemeinsamen, diskursiv erzeugten Ethos gemessen, das das Gemeinwohl oder den Familienstatus betonen würde. „Frömmigkeit“ (pietas), die auch das Verhalten gegenüber den Eltern einschließt, wäre ein solcher Begriff; Großzügigkeit und Kunstgeschmack bei der Stiftung eines Tempels ein Beispiel. Die konkreten Normen wären freilich durch tatsächliches Konkurrenzverhalten geformt und modifiziert, Konflikte sind hier selbstverständlicher Bestandteil. Repräsentative Individualität bezieht sich auf die zwei vorangegangenen. Personen sollen bestrebt sein, vorbildlich zu werden, und werden als Beispiele, exempla, erzählt. Nicht individuelle Differenz, sondern Perfektion beim Erfüllen einer sozialen oder religiösen Rolle, ob als römischer pater familias, christlicher Märtyrer oder männlicher Jude, ist von allen angestrebt. Gleichwohl bleibt die Erfüllung dieser Norm eine persönliche Errungenschaft. Schließlich setzt die reflexive Individualität die Ausbildung eines individualistischen Diskurses voraus, eine individualistische Ideologie. Entsprechende Überlegungen über das Selbst oder die menschliche

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Natur des Einzelnen, zum Beispiel in der stoischen Lehre der oikeiosis, werden häufig geprägt von normativen Vorstellungen von sozialen Rollen, verweisen so also auch auf die repräsentative Individualität zurück; erst der Neuplatonismus bringt hier einen Quantensprung. Alle diese Typen von Individualität weisen eine gender-, eine Geschlechts-Dimension auf, sie gelten für einzelne Bereiche der Gesellschaft, können in der Elite oder an den Rändern in verschiedenen Formen und Graden gefunden werden, sind vorübergehende Phänomene oder geben Anlass zu Prozessen der Institutionalisierung. Solche Prozesse können Wertungen über Devianz leicht verändern. Institutionalisierte Individualität, zum Beispiel Regeln repräsentativer Individualität, können leicht frühere Normen kompetitiver Individualität ersetzen: Jeder Jude muss nun die Torah studieren. Selbstbeherrschung kann die wirksamste Form öffentlicher Disziplinierung sein, in modernen Beichtpraktiken, wenn bekannt wird, was nur Gott gesehen hat,18 wie in antiken Mönchsgemeinschaften. Ökonomische Sicherheit ist eine Vorbedingung für verbreitete Individualität und muss für jede Analyse des mediterranen Altertums in Anschlag gebracht werden.19 Individualität kann nur unter Berücksichtigung von Sachzwängen und gleichzeitigen Diskursen gemessen werden. Zugleich ist sie das Ergebnis der vorlaufenden Individuierung der jeweiligen Person, situative Individualität ist Teil einer solchen Individuierung als eines andauernden Prozesses. Natürlich ist Individuierung untrennbar mit Sozialisation, der Entwicklung einer sozialen Persona mit eigener Individualität, verbunden. Das Konzept von Individuierung, die Entwicklung persönlicher Selbstidentität, ist in antiken Texten kaum von sozialer Interaktion und Funktionalität zu unterscheiden. Gleichwohl kann das Konzept für die historische Analyse verwendet werden, um mögliche Felder zu erfassen, auf denen Religion die Entwicklungen von verschiedenen Arten und Graden der Individualität erlaubt. Es kann helfen zu sehen, wo Religionen Räume und Gelegenheiten für wachsende Differenzen, für nicht mehr traditionsbestimmtes Handeln bieten, kann helfen zu sehen, welche Folgen solche religiösen Institutionen und Praktiken für die betroffenen Personen besitzen. Nur kurz sei auf relevante Felder hingewiesen. Die Zunahme religiöser Optionen ist als eines der wichtigsten Merkmale der hellenistischen und römischen Epoche – bis hin zum Vergleich mit modernem religiösen Pluralismus – beschrieben worden. Verursacht war dies in erster Linie durch die Beweglichkeit von Kaufleuten, Verwaltern,

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Soldaten und Sklaven. Eine Kompetenz, Gottheiten entsprechend situationsspezifisch zu wählen, ist für die mediterranen Formen des Polytheismus charakteristisch. Erst die Ausbreitung von Kulten, die eigene Religionsgemeinschaften erzeugten, popularisierte Ideen von Exklusivität und führte zum Problem massenhafter religiöser Devianz. In einem additiven polytheistischen System, das offen für Erweiterungen war,20 war die Einführung von neuen Göttern und Optionen von Verehrung in lokale Tempel (durch Aufstellen von Bildern zuvor nicht verehrter Götter) oder in das, was man besser nicht „panthea“ nennen sollte (also das Einführen neuer Kulte in einen Ort), häufig. Solches Verhalten war vielfach die Entscheidung einzelner, und bedarf für griechische Heiligtümer wie republikanische römische Tempel weiterer Untersuchung.21 Es könnte sich zeigen, dass der wichtigste Kreis religiöser Symbole (vulgo „Pantheon“) ein zufälliges Ergebnis von Einzelentscheidungen verschiedener Personen war. Ein neues Heiligtum zu stiften, war eine nicht auf die Aufstellung eines neuen Kultbildes beschränkte komplexe Angelegenheit. Auswahl des Ortes, Auswahl architektonischer Details, Regelung von Ritualen (die für uns oft kaum sichtbar werden), die vielen Entscheidungen, die sich auf vorhandene Traditionen beziehen würden, interpretieren die in der Wettbewerbsgesellschaft vorhandenen Normen und schaffen neue Normen. Normierungen in diesem Sinn konnten auch in der Form von Grabmälern gemacht werden. Ich denke an das Grab von Eurysaces, einen römischen Bäcker und Großhändler mit seinen Bildern von Teigmixern und Backvorgängen. In seinem Streben nach Originalität ist das Grab eher typisch denn außergewöhnlich; das gilt auch, wo es einem Weltbild Ausdruck verleiht, das von Eurysaces’ eigenen Berufserfahrungen und Horizont dominiert wird.22 In einer Anzahl solcher Denkmäler und sogar in einem religiösen Text wie dem frühchristlichen „Hirten des Hermas“23 ist es das Alltagsleben, dem beinahe ein Letztwert gegeben wird. Auf der gesellschaftlichen Ebene stellt das die Dominanz des aristokratischen Wertsystems zwar nicht erfolgreich in Frage, es es zeigt aber eine Neubewertung von Alltagsleben an, das uns erinnert an die von Charles Taylor der Hochschätzung des Alltagslebens in moderner Zivilisation beigemessene Bedeutung.24 Für das hellenistisch-römische Altertum mit seinen Traditionen häuslichen Kultes könnte eine Kollision mit öffentlichen Autoritäten dort produziert werden, wo häusliche Rituale Nachahmungen des öffentlichen Kults zu sein schienen. Kim Bowes hat das Ausmaß solcher

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rituellen Praktiken in der Spätantike und die dadurch verursachten Konflikte mit kirchlichen Institutionen herausgearbeitet.25 Hier ist wachsende Individualität zeitgleich mit wachsender Zentralisierung und Normierung. Persönliche Kommunikation mit Göttern wurde nie auf öffentliche Rituale oder Tempel beschränkt. Weihgeschenke, die aus Gebeten in individuellen Krisensituationen resultieren, sind seit der archaischen Periode verbreitet. Formen und Intensität ändern sich jedoch und könnten mit einer wachsenden Sorge für die eigene Familie wie sich selbst zusammenhängen. Die Zunahme des Asklepios- Kultes könnte solch ein Indikator sein, da gerade Heilungsprozeduren und ihre soziale Topographie Aussagen über die Beziehung zwischen einer Person und der Gesellschaft machen.26 Aelius Aristides’ Hieroi Logoi, ein mehrere Bücher umfassender Bericht eines Kranken über seine Träume, Pilgerreisen und Begegnungen mit Asklepius, sind eine der wichtigsten Quellen religiöser Individualität aus der Antike.27 Die kaiserzeitliche Neubelebung und Ausbreitung von gerade auch lokalen, kleinen Orakeln28 ist ein interessantes Forschungsgebiet für die Individualisierung von Institutionen. Astrologie als Massenphänomen der Personalisierung von Zeitordnungen wäre ein weiteres.29 Sie verortet – nach einer Formulierung Kocku von Stuckrads – eine Person in einer natürlichen universalen Ordnung, die zur gleichen Zeit mit bestimmten, zum Beispiel jüdischen oder christlichen Kosmologien kompatibel gemacht wird.30 In der Spätantike bot Theurgie, Rituale zur Manipulation des Göttlichen, einen anderen Weg des wirksamen persönlichen Kontakts an.31 Das gewaltige Aufgebot an „magisch“ genannten Praktiken soll meine Liste beenden. Außer individuellen Sorgen um Gesundheit ist hier der Versuch offensichtlich, Einfluss zu nehmen auf Ereignisse, die aufgrund des Status der Beteiligten in sozialen Beziehungen oder Rechtskonflikten zu erwarten waren. Im hoch riskanten Bereich von Beziehungen von und mit Prostituierten wird der Mangel an traditionellen Regelungen durch Magie ersetzt.32 4. Schluss Wenn das spätere Römische Reich eine von „Religionisierung“ charakterisierte Epoche ist, so lässt sich die hellenistisch-römische Epoche nicht in gleicher Weise als Zeitraum von „Individualisierung“ charak-

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terisieren. Ich habe mich für die Nützlichkeit eines analytischen Werkzeuges verschiedener Arten von Individualität und der Suche nach dem Individuum in unseren religionsgeschichtlichen Daten ausgesprochen. Jedes Urteil über die Periode insgesamt wäre vorzeitig. Gleichwohl ist es offensichtlich, dass einige der Typen und Grade der für die Epoche als charakteristisch behaupteten Individualitätstypen positiv oder negativ mit der Formierung von Religionen korrelieren. Mit einem solchen Zugriff könnte eine fruchtbare Untersuchung des Überganges von der Antike ins Mittelalter und in die Renaissance betrieben werden, die einige Fallen der Interpretation der Spätantike vermeiden könnte. Eine testbare Hypothese ist das noch nicht. Und damit bin ich bei meiner Ausgangsfrage nach dem Beginn Europäischer Religionsgeschichte wieder angekommen. Die Diskussion der Achsenzeit hat impliziert, dass es nicht reicht, nach europäischen Ursachen von Phänomenen zu suchen, die sich selbst nicht auf Europa beschränken. Diffusion, etwa im Zeitalter des Imperialismus und Kolonialismus ist wichtig, aber erklärt nicht alles. Explizit ist in dieser Diskussion deutlich geworden, dass es nicht mehr reicht, sich auf Gründerfiguren, auf „Religionsstifter“ zu beschränken. Ich hoffe aber, dass meine vorsichtigen Formulierungen deutlich gemacht haben, dass es mir gar nicht um die Frage absoluter, datierbarer Anfänge geht. Es sind bestimmte Aspekte gegenwärtiger Religion, so meine Ausgangsthese, die es lohneswert erscheinen lassen, weit zurückzublicken und sich nicht auf die übliche Unterstellung, mit der Moderne werde alles anders, einzulassen. Wenn man Religion unter dem Aspekt von Gruppenbildung, von Sozialproduktivität, wie Hans Kippenberg es formuliert hat, sieht – mit all den Konsequenzen für einen Staat und ein Rechtssystem, wenn man Religion mit individueller religiöser Erfahrung zusammenbringt –, dann lohnt es sich, ja, ist es für die Disziplin Religionswissenschaft unabdingbar, bis in die hellenistisch-römische Epoche zurückzublicken. Mehr nicht. Dass Europäische Religionsgeschichte hier ihren Anfang genommen hätte, mag man sagen, aber eine wissenschaftliche Aussage ist das nicht mehr. Das ist der Beginn einer Erzählung, die Sinn stiften kann oder Verwirrung, die in diesem Sinne hilfreich oder unsinnig ist. Aber das ist ein anderes Genos, das Politiker oder kulturelle Sinnstifter bedienen sollen, nicht Religionshistoriker.

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Die Zeit der Anderen. Juden, „Heiden“, „Ketzer“ im christlichen Geschichtsdenken Ob „Pluralismus“ die religiöse Situation im mittelalterlichen Europa zutreffend zu kennzeichnen vermag, ist in der gegenwärtigen religionswissenschaftlichen Forschung insoweit umstritten, als dem Begriff unterschiedliche Reichweiten zugeschrieben werden. Michael Stausberg zufolge liegt in der Vormoderne kein religiöser Pluralismus vor, da er diesen als „ein (auch rechtlich verbindliches) normatives oder ideologisches Programm [versteht], das die dauerhafte friedliche Koexistenz verschiedener religiöser Haltungen, Ideen und Gruppen in bestimmten Grenzen für wünschenswert hält und dementsprechend fördert.“ Religiöser Pluralismus erfordere „bestimmte politische und rechtliche Rahmenbedingungen für religiöse Gruppen und Individuen.“1 Christoph Auffarth hingegen, der „Pluralismus […] nicht als ein politisches Programm“ versteht, setzt den Begriff als „eine Pluralität“ von „mehrere[n] Religionen“ bezeichnend, die nicht als „voneinander abgegrenzt“ erscheinen, „sondern am gleichen Ort und zur gleichen Zeit als Alternativen wahrgenommen und als Optionen wählbar sind.“ Unter Bezug auf Burkhard Gladigows Begriff „‚mitlaufende Alternative‘“ ist damit die Auseinandersetzung einer religiösen Tradition mit einer alternativen gemeint, wobei diese innerhalb der eigenen „– wenn auch oft negativ –“ überschrieben werden kann.2 Das „Christliche Abendland“, die „Einheitlichkeit“ des christlichen Mittelalters sei eine Vorstellung des 19. Jahrhunderts, der Auffarth die Beobachtung „interne[r] wie externe[r] Pluralisierung“ gegenüberstellt.3 Pluralität und Mehrheits-Religion im Mittelalter Beobachten lassen sich zunächst religiöse Kopräsenzen, die in bestimmten Zonen zu bestimmten Zeiten Phänomene von Verdichtung aufweisen. Als Bereiche von Kontakt und Austausch zeigen sich etwa

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Jerusalem seit dem 7. Jahrhundert, in dem die muslimische Herrschaft über die Stadt begann, der Nahe Osten im Zusammenhang mit den von Europa aus geführten Kreuzzügen seit dem späten 11. Jahrhundert oder Wissensbestände in Wissenschaften mit Anwendungsbezug wie Astronomie/ Astrologie, Pharmakologie und Medizin. Die MehrheitsReligion im europäischen Mittelalter war das Christentum, als dessen Besonderheit sein korporativer Charakter anzusehen ist. Dieser äußerte und äußert sich in Gestalt der Kirche bzw. Kirchen. Aber auch innerhalb des hierarchischen Aufbaus der römisch-lateinischen Kirche war Pluralismus möglich, indem beispielsweise zwischen Lebensformen als Mönch bzw. Nonne oder als Kleriker gewählt werden konnte. Im nicht-korporativen Umfeld lassen sich Bewegungen von Regionalisierung und typologischer Vervielfältigung von religiös konnotierten Lebensweisen feststellen.4 Angesichts der Tendenz der institutionellen Kirche der mittelalterlichen Jahrhunderte, ihre Normen zunehmend nachdrücklicher durchsetzen zu wollen, zeigen sich grundsätzliche Probleme im Feld zwischen Pluralismus und einer Mehrheits-Religion. Erstens fragt sich, wieviel Pluralität auf Seiten der Normen jeweils toleriert wird. Zweitens lässt sich beobachten, wie durch die Einforderung eines bestimmten Katalogs an Glaubenssätzen als Preis für institutionelle Zugehörigkeit religiöse Dissident_innen erzeugt werden. Drittens geht es um die Methoden und Verfahren der Identifikation religiösen Dissidententums. Viertens müssen die angewandten Maßnahmen, wie beispielsweise Ermahnungen, Verhöre oder Inquisitionsverfahren, sowie die verhängten Strafen und deren Ausführung zur Debatte stehen. Für die korporierte Gruppe mittelalterliche römisch-lateinische Kirche galt, dass sie aufgrund eigener Grundsätze einer anderen Institution zur Durchführung ihrer letalen Strafen bedurfte. Diese, weltlich-politische Herrschaftsträger, deren Henker die Hinrichtungen Verketzerter zu vollziehen hatten, fand sich zu solcher Zusammenarbeit bereit und unterstützte die Verfolgung religiöser Dissidenz gegebenenfalls durch ihre eigene Gesetzgebung, wie etwa das Beispiel Kaiser Friedrichs II. zeigt.5 Zugehörigkeit und Zukunft Überdies hatte die mittelalterliche römisch-lateinische Kirche es sich zur Aufgabe gesetzt, ihre Normen auch auf Nicht-Mitglieder auszu-

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weiten. Die Gründe für diese Tendenz liegen im Bereich der basalen Konzeptionen des Christentums und sind so konfiguriert, dass sie bei entsprechender Interpretation zu einem Impetus zur Expansion führen können. Konzeptionell ließen sich dabei die Mittel des Umgangs mit den Anderen, den Nicht-Zugehörigen, mit legitimieren. Diese Mittel waren zum einen die physische Verfolgung und gegebenenfalls Vernichtung, die entweder mit einem legitimierenden, auch institutionalisierenden Rahmen versehen wurden, wie im Fall der europäischen Kreuzzüge, oder unreguliert, wie z.B. im Fall eines Pogroms, erfolgten. Zum anderen gab es Mittel ohne physische Gewaltanwendung, insbesondere die Taufe, der eine Konversion zu einem bestimmten Glauben (hier dem der römisch-lateinischen Kirche) vorangegangen sein musste. Auf diesem Initiationsritus der christlichen Taufe fußt ein weiteres Mittel der als gewaltlos konzipierten Glaubensverbreitung: die Mission. Sie beruft sich auf den Taufbefehl des auferstandenen Christus an seine Jünger (Mt 28,19–20): „Darum geht zu allen Völkern, und macht alle Menschen zu meinen Jüngern; tauft sie auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes, und lehrt sie, alles zu befolgen, was ich euch geboten habe.“ 6 Eine solchermaßen globale Perspektive heißt den eigenen religiösen Anschauungen zur Dominanz verhelfen zu wollen; sie bedeutet eine Reduktion von Vielfalt und impliziert sozialpsychologisch, die eigenen Normen für die besten und heilswirksamsten zu halten. Sie trifft dabei allerdings keinerlei Unterscheidungen zwischen Menschen nach Kategorien ihres Geschlechts, ihrer – früheren – Anschauungen oder ihrer sozialen Lage. Neben der Totalität der Räume zielt diese Konzeption der Initiation in den christlichen Glauben, die die Nicht-Zugehörigen, die Anderen, zum Verschwinden bringen soll, auf die Totalität der Zeit, da es in ihr um die gesamte zukünftige Zeit mit für zukünftig gehaltenen bzw. herbeizuführenden Entwicklungen geht. Den christlichen Vorstellungen lag – und liegt gegebenenfalls – die Annahme zugrunde, dass Zeit, Welt und Kosmos, also auch Geschichte, endlich seien. So wie es einen durch den einen Gott induzierten Anfang der Welt und des Kosmos gebe, den dieser durch die Schöpfung gesetzt habe, so sei auch ein durch ihn vorgesehenes Ende zu glauben. Dieses ist für Christen maßgeblich mit Christus verbunden, denn der in Palästina lehrende Jesus hatte den synoptischen Evangelien des Markus, Lukas und Matthäus zufolge ein von vorhergehenden Kriegsgräueln, Kata-

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strophen und Verfolgungen der Jesus-Anhänger und -anhängerinnen geprägtes Weltende sowie seine diese Schrecken beendende Wiederkunft vorhergesagt (Mk 13,1–27; Lk 21,5–28; Mt 24,1–31). Tag und Stunde der nahe bevorstehenden Ereignisse wisse jedoch nur Gott (Mk 13,30–32; Mt 24,34–36; vgl. Apg 1,7). Entscheidend im Blick auf die Anderen ist jedoch ein Geschehensvorbehalt, den das Endzeitszenario in den Evangelien des Markus und des Matthäus enthält. „Vor dem Ende aber muß allen Völkern das Evangelium verkündet werden.“ (Mk 13,10) bzw. „Aber dieses Evangelium vom Reich wird auf der ganzen Welt verkündet werden, damit alle Völker es hören; dann erst kommt das Ende.“ (Mt 24,14). Daraus folgt, dass eine weltweite christliche Mission nicht nur als Voraussetzung des Weltendes angesehen wird, sondern auch erfolgen muss, damit dieses eintreten und die messianische Wiederkehr des christlichen Heilands eröffnen kann. Als „alle Völker“ geraten hier die Anderen in den Blick und werden unmittelbar mit dem Schicksal der Christenheit verknüpft. Die Aufgabe ihrer religiösen Identität wird als unausweichlich gesetzt. Vor der Entstehung der Evangelien hatte allerdings bereits Paulus von Tarsus († nach 60) den Zusammenhang sowie die Chronologie von Mission und Bekehrung seitens der Missionierten reflektiert. Im Brief an die Römer (Röm 11,25–26) stellte er fest: „Verstockung liegt auf einem Teil Israels, bis die Heiden in voller Zahl das Heil erlangt haben; dann wird ganz Israel gerettet werden, wie es in der Schrift heißt:  […].“7 Zur frühen Geschichte der Ausbreitung des Christentums gehört daher mit Paulus die Unterteilung der Anderen in Juden und Heiden. Verketzerte spielen bei der Konstruktion christlicher Zukunfts- und Endzeitszenarien keine temporal fixierte Rolle, da es Irrlehren und Irrende zu allen Zeiten gegeben hatte und immer wieder, so auch am Ende der Zeiten, geben würde. Zudem galten sie als vom rechten Weg der korporativen Institution Abgewichene und waren nicht erstmalig dem Christentum zuzuführende Personen. Protagonisten der Endzeit Mithin ist über die Konzeption des Bekehrens und Missionierens die Zeit der jüdischen und heidnischen Anderen mit dem Verlauf der christlichen Geschichte als einer Expansionsgeschichte verbunden,

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aber in entscheidender Weise ist sie mit der Zukunft, die als eine katastrophische Endzeit gedacht wird, verflochten. Es ist daher von Bedeutung, ob weitere Protagonisten im christlichen Endzeitszenario auftreten und welcherart sie imaginiert wurden. Für die Jahrhunderte des Mittelalters hat hier wiederum ein paulinisches Werk, der pseudepigraphische zweite Brief an die Thessalonicher, einen besonderen Einfluss entfaltet. Er enthält eine der umfangreichsten Darstellungen der zu erwartenden endzeitlichen Ereignisse: „1Brüder, wir schreiben euch über die Ankunft Jesu Christi, unseres Herrn, und unsere Vereinigung mit ihm und bitten euch: 2Laßt euch nicht so schnell aus der Fassung bringen und in Schrecken jagen, wenn in einem prophetischen Wort oder einer Rede oder in einem Brief, der angeblich von uns stammt, behauptet wird, der Tag des Herrn sei schon da. 3Laßt euch durch niemand und auf keine Weise täuschen! Denn zuerst muß der Abfall von Gott kommen und der Mensch der Gesetzwidrigkeit erscheinen, der Sohn des Verderbens, 4 der Widersacher, der sich über alles, was Gott oder Heiligtum heißt, so sehr erhebt, daß er sich sogar in den Tempel Gottes setzt und sich als Gott ausgibt. 5 Erinnert ihr euch nicht, daß ich euch dies schon gesagt habe, als ich bei euch war? 6Ihr wißt auch, was ihn jetzt noch zurückhält, damit er erst zur festgesetzten Zeit offenbar wird. 7Denn die geheime Macht der Gesetzwidrigkeit ist schon am Werk; nur muß erst der beseitigt werden, der sie bis jetzt noch zurückhält. 8Dann wird der gesetzwidrige Mensch allen sichtbar werden. Jesus, der Herr, wird ihn ‚durch den Hauch seines Mundes töten‘ und durch seine Ankunft und Erscheinung vernichten. 9Der Gesetzwidrige aber wird, wenn er kommt, die Kraft des Satans haben. Er wird mit großer Macht auftreten und trügerische Zeichen und Wunder tun. 10Er wird alle, die verlorengehen, betrügen und zur Ungerechtigkeit verführen; sie gehen verloren, weil sie sich der Liebe zur Wahrheit verschlossen haben, durch die sie gerettet werden sollten. 11 Darum läßt Gott sie der Macht des Irrtums verfallen, so daß sie der Lüge glauben; 12denn alle müssen gerichtet werden, die nicht der Wahrheit geglaubt, sondern die Ungerechtigkeit geliebt haben.“ (2 Thess 2,1–12)

Der Antichrist, wie er in Verbindung mit dem ersten Brief des Johannes (1 Joh 2,18, 22; vgl. 2 Joh 7) genannt werden kann und wurde, findet seine Anhänger_innen unter den Anderen, die sich als die vom rechten Glauben Abirrenden, mithin als Häretiker_innen, erschließen lassen. Die Anderen sind jedoch auch die Juden, da sie sich bereits nach frühchristlicher Auffassung grundsätzlich „der Liebe zur Wahrheit verschlossen“ hatten. Augustinus maß ihnen sogar eine aktive Rolle zu: „wenn jene nämlich den Antichrist zuerst und vornehmlich empfangen werden, wird dieses Volk die Verfolgung eher ausführen als

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erdulden.“8 „Gesetzwidrigkeit“ (lat. „iniquitas“) bezeichnet im Judentum die Opposition gegenüber dem mosaischen Gesetz und Gott, im hellenistischen Zeitalter vornehmlich diejenige gegenüber dem Paganismus und gerät im Neuen Testament zum Vorzeichen der Endzeit schlechthin. „Gesetzwidriger Mensch“ lässt den Antichrist dann als Juden erscheinen, wenn der Tempel nicht allegorisch als christliche Kirche sondern als der durch den Antichrist wieder zu errichtende Tempel verstanden wird.9 Die christliche Naherwartung, d. h. die Vorstellung, dass das Ende der Welt nahe bevorstehe, findet sich in überzeitlich virulenter Weise in der christlichen Apokalypse formuliert, die unter dem Namen ‚Offenbarung des Johannes‘ als einzige in den Kanon des Neuen Testaments aufgenommen worden ist. Sie präsentiert sich als eine Vision des wohl judenchristlichen Propheten Johannes und dürfte um 95, in der Spätzeit der Herrschaft des römischen Kaisers Domitian (81–96), entstanden sein. Johannes beschreibt seine Vision als eine vom auferstandenen Christus empfangene (Offb 1,1.13–18), die er wegen des nahen Endzeittermins weitergebe: „[…] was bald geschehen muß […]; denn die Zeit ist nahe.“ (Offb 1,1.3). Hier sind die Anderen diejenigen, die nicht mit dem Siegel Gottes gekennzeichnet sind, das die 144000 aus den Stämmen der Söhne Israels auf der Stirn tragen (Offb 7,3–8) oder nicht zu den unzähligen Bekehrten „aus allen Nationen und Stämmen, Völkern und Sprachen“ gehören (Offb 7,9–15). Der Schreibauftrag, den Johannes von Christus erhält, betrifft das Zukünftige, das ihm visionär vorgeführt wird (Offb 1,19), und bezieht sich zunächst auf sieben an die sieben vorderasiatischen Gemeinden zu richtende Schreiben (Offb 2,1–3,22) sowie sich anschließende, jeweils siebenzahlig strukturierte Visionen (Offb 4,1–11,19). Kurz vor deren Abschluss wird der Schreibauftrag angehalten, bis Johannes ein kleines, im Magen Bitternis entfaltendes Buch gegessen hat (Offb 10,1–20). Unausgesprochen bleibt, welche Erkenntnisse es enthalten hat, aber der Schreibauftrag wird sogleich erneuert: „Und mir wurde gesagt: Du mußt noch einmal weissagen über viele Völker und Nationen mit ihren Sprachen und Königen.“ (Offb 10,11). Er wird erweitert um die Aufforderung, den Tempel Gottes quantitativ zu erfassen und dabei Gottesgläubige zu zählen und von den Nichtgläubigen zu sondern (Offb 11,1–2). Die Anderen sind hier die „Heiden“, deren Ort der Vorhof außerhalb des Tempels sei, der deshalb nicht zu vermessen sei. Sie würden 42 Monate lang die heilige Stadt zertreten (Offb 11,2).

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Im nun, mit dem Tönen der siebten Posaune sich entfaltenden Endzeitszenario haben die ‚Heiden‘ eine antichristliche Rolle insoweit inne, als zumindest die ‚Hure Babylon‘ (Offb 17,1–18,24) als das das Christentum verfolgende (Offb 17,6) Rom und das römische Imperium zu lesen sein dürfte (Offb 17,9.15.18). Auch in diesem Kontext einer als verabscheuungswürdig gekennzeichneten Herrschaft werden die Anderen hervorgehoben: „Staunen werden die Bewohner der Erde, deren Namen seit der Erschaffung der Welt nicht im Buch des Lebens verzeichnet sind.“ (Offb 17,8), und „mein Volk“ wird von einer himmlischen Stimme zum Verlassen der Stadt aufgefordert (Offb 18,4). Die Anderen sind auch diejenigen, die während der tausendjährigen Gefangenschaft des Satans im Abgrund (Offb 20,2–3) nicht die erste Auferstehung erfahren, d.h. nicht zum Leben gelangen und nicht an der ebenfalls Tausend Jahre währenden Herrschaft Christi mit seinen Getreuen teilhaben (Offb 20,4–6). Sie, die nicht im Buch des Lebens eingetragen sind, werden bei der zweiten Auferstehung zum Gericht Gottes nach den Werken zum zweiten, endgültigen Tod im Feuersee verurteilt werden (Offb 20,11–15). Schon im Evangelium des Markus (um 70) war der Taufbefehl des auferstandenen Christus mit dieser Einteilung der Toten verknüpft gewesen: „Geht hinaus in die ganze Welt, und verkündet das Evangelium allen Geschöpfen! Wer glaubt und sich taufen läßt, wird gerettet; wer aber nicht glaubt, wird verdammt werden.“ (Mk 16,15–16). Wie jüdisch ist der Antichrist? Wird die Biographie des zukünftigen Antichrist spezifiziert, so kennzeichnet sie ihn als Juden, indem er meist als aus dem israelitischen Stamm Dan hervorgehend imaginiert wird. Dieser galt in der jüdischen Tradition als Stamm der Mutter des erwarteten Messias und war zugleich als ein Ort der Verehrung von Götzenbildern bekannt. Dan (hebr. ‚Richter‘), ein Sohn Jakobs (Gen 49,16), eignete sich als Ursprung des endzeitlichen Widersachers, da er nach Gen 49,17 „zur Schlange am Weg“ werden würde,10 zudem in der Aufzählung der mit dem Siegel Gottes bezeichneten Stämme in Offb 7,4–8 fehlte.11 Die Vorstellung von der jüdischen Herkunft des Antichrist findet sich in der Patristik und verbreitete sich in der mittelalterlichen Welt12 unter anderem durch die Sibylla Tiburtina (griechisch 378/390), deren

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zumindest vier ältesten erhaltenen lateinischen Fassungen in Handschriften vom 11. Jahrhundert an überliefert sind,13 sowie durch die ursprünglich syrischen Revelationes des Pseudo-Methodius (um 690), die etwa zwischen 710 und 720 vom Griechischen ins Lateinische übersetzt worden sind.14 Die Tiburtina bettet den Antichristus in eine Endzeitgeschichte der Völker ein. Constans, König der Römer und der Griechen, werde die Heiden mit Gewalt bekehren und taufen. Später würden die Juden zum Herrn bekehrt werden, und in diesen Zeiten werde Juda – d.h. der von Jakob vor allen anderen gepriesene, herrscherliche Stamm (Gen 49,8–12) – gerettet werden und Israel gläubig leben. Zu jener Zeit werde der Antichrist aus dem Stamm Dan erstehen und sich durch Boshaftigkeit und Verkehrung aller Dinge, durch falsche Zeichen und vorgetäuschte Wunder bemerkbar machen. In der Logik dieser Prophetie kann daraus geschlossen werden, dass die Dan Zugehörigen sich nicht bekehrt haben und nicht zu den christlich Erretteten zählen; nur so ist erklärlich, dass der Antichrist ein Jude ist und bleibt. In der Folge träten die Völker Gog und Magog auf und würden vom römischen König niedergekämpft, der dann in Jerusalem seine Herrschaft an Gott und dessen Sohn übergeben werde. Erst nach diesem Aufhören des Imperium Romanum werde der Antichrist öffentlich auftreten und vom Jerusalemer Tempel aus regieren, die beiden die zweite Ankunft des Herrn verkündigenden Zeugen Elias und Henoch töten und eine bisher nicht dagewesene Verfolgung auslösen. Der Tod werde ihn auf dem Berg Oliveti durch den Erzengel Michael ereilen. Seinen ehedem jüdischen Herrschaftsraum wird er mithin nicht verlassen haben.15 Einzelne Stationen im jüdischen Lebenslauf des „filius perditionis“ werden in den Revelationes des Pseudo-Methodius genannt. Die Geburt des Antichrist in Chorazin, seine Jugend in Betsaida und seine Herrschaft in Kafarnaum haben ihre Ursache in Vorwürfen Jesu gegen die drei Städte in Galiläa (Mt 11,20–24), das in biblischem Sprachgebrauch als Land der Heiden gilt und von den Kirchenvätern nicht als jüdisches Siedlungsgebiet aufgefasst wurde.16 Pseudo-Methodius argumentiert hier sogleich im Sinn einer Anti-Typologie: „Und Chorazin wird sich freuen darüber, dass er in ihr geboren ist, und Betsaida, weil er in ihr genährt worden ist, und Kafarnaum deshalb, weil er in ihr geherrscht hat.“ Daher habe der Herr den erwähnten Ausspruch – zu ergänzen ist: prophetisch – getan.17 Im Evangelium des Matthäus war allerdings bemerkt worden, dass jene drei trotz der in ihnen von Jesus

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gewirkten Wunder diesen nicht als den Messias anerkannt hätten. Die retrospektive Begründung von Jesu Wehe-Spruch im Evangelium ist also zu einer prospektiven in den Revelationes geworden. Die Abstammung aus Dan wird im Folgenden zum Anlass einer allegorischen Auslegung von Gen 49,17 genommen, in deren Verlauf der „filius perditionis“ trügerische aber verführerische Zeichen und Wunder wirkt.18 Ein drittes Mal wird seine Herkunft aus Dan anlässlich der Voraussage thematisiert, dass er nach Jerusalem ziehen und sich im Tempel Gottes „sicut Deus“ (wie Gott) niederlassen werde, wiewohl er ein „homo […] carnalis“, geboren aus Mann und Frau, sei. Dan entstammte nämlich auch Judas Ischarioth, der Verräter des Herrn.19 Aus dem Tempel geht jedoch keinerlei Lehre hervor, da der Antichrist über eine solche nicht verfügt. Auch Anhänger, als die seit Kirchenväterzeiten die Juden genannt werden, thematisiert PseudoMethodius nicht. Weiterhin wird in diesen beiden für das lateinische Mittelalter so autoritativen Prophetien dem Antichrist nicht die Errichtung eines eigenen Reichs zugeschrieben, wie dies in patristischen Schriften des 3. und 4. Jahrhunderts erscheint. Dieses sollte ein Reich der Juden sein, eine Vorstellung, die im Zusammenhang mit den Hoffnungen der aus Judäa vertriebenen Juden auf eine messianische Restitution in ihr Land zu verstehen ist und sich zuerst bei dem – griechisch schreibenden – Hippolytos von Rom († 235) in einer Abhandlung über den Antichrist findet. Dieser werde, aus dem Stamm Dan hervorgehend, am Ende der Zeit das Reich der Juden wiederherstellen, und erst danach wendeten sich die Juden im Sinne einer interpretatio christiana von Dan 9,24–27 dem christlichen Heil zu.20 Im späteren 4. Jahrhundert soll Sulpicius Severus zufolge Martin, der Bischof von Tours († 397), geäußert haben, dass der Antichrist ein Reich um das wiederaufgebaute Jerusalem als Hauptstadt errichten und als Simulant Christi und Christenverfolger auftreten werde.21 Es gehört zu den anti-jüdischen Vorstellungen im mittelalterlichen Christentum, die Messiashoffnung der Judenheit sich künftig in einem anti-christlich gezeichneten, Gräueltaten begehenden Gewaltherrscher verkörpern zu sehen und diesen als adäquat für Nicht-Christusgläubige zu halten. Um es am Beispiel des gelehrten Theologen Petrus von Blois († um 1204) zu zeigen: In seinem Brieftraktat Contra perfidiam Judaeorum (‚Gegen den Unglauben der Juden‘) stellte er u.a. fest, dass der Messias der Juden, die ja nicht Christus zu ihrer Errettung angenommen hätten, in Wahrheit

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der Antichrist sei und eine „Restitution des israelitischen Volkes“ nicht stattfinden werde.22 Das wohl meist rezipierte Kompendium des christlich-lateinischen Wissens über den Antichrist stellen die Schrift De ortu et tempore Antichristi des Adso von Montier-en-Der und die sich daran anschließenden Traktatversionen dar. Adso († 992), der spätestens zu Beginn des Jahres 968 Abt im Kloster Montier-en-Der wurde, schrieb seinen Brieftraktat für die Königin Gerberga I. von Frankreich (ca. 913– 968/969) zwischen Ende 949 und September 954.23 Dieser ist durchgängig von der Antithetik zwischen Christus und dem künftigen Antichristus geprägt. Wie „auctores nostri“, vorhergehende Autoren, es vor Adso geschrieben hätten, werde der Antichrist „ex populo Iudeorum“, aus dem Volk der Juden, geboren werden, näherhin, mit Gen 49,17, aus dem Stamm Dan. Ausführlicher widmete sich Adso allerdings den Formen der teuflischen Inspiration, die die Empfängnis und die Geburt des Antichrist begleiten sollten. Dieser werde in Babylon geboren werden und in den jüdischen Städten Betsaida und Chorazin aufwachsen. In Jerusalem angekommen, werde er die in seinem Sinn nicht bekehrungswilligen Christen foltern, den Tempel Salomos als seinen Sitz wiedererrichten, sich beschneiden lassen und vorgeben, Gottes Sohn zu sein. Er werde Könige und Fürsten und durch sie die übrigen Völker bekehren, die Stätten Christi zerstören, seine Boten und Prediger in die ganze Welt entsenden, falsche Zeichen und Wunder vollbringen, Naturkatastrophen sich ereignen und Tote auferstehen lassen, so dass die Christen und sogar die Erwählten in Zweifel gerieten, ob er nicht der zum Weltende verheißene Christus sei.24 Die Judenheit tritt bei Adso erst in seiner Erörterung der endzeitlichen Chronologie nach Paulus (2 Thess 2,1–12) in Erscheinung. Nach dem künftigen, aufgrund der Herrschaft der fränkischen Könige jedoch noch nicht eingetretenen Ende des Imperium Romanum werde sich der Antichrist über den christlichen Gott, näherhin die Trinität, und alle heidnischen Götter erheben und sich den Juden als der ihnen versprochene „Christus“ präsentieren, der die Verstreuten zu ihrem Heil sammeln und sie verteidigen wolle. Ihm würden alle Juden als ihrem Gott zuströmen, dabei jedoch an den Teufel geraten. Die beiden Zeugen Henoch und Elias, die dreieinhalb Jahre gegen den Antichrist predigen würden, würden daher sowohl die christlichen Erwählten stärken und stützen als auch einen Teil der Juden bekehren, ehe sie von ihm getötet werden würden. Adso konzentriert sich im Weiteren auf

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die endzeitlichen Geschicke der Christen, so dass die Beziehungen des Antichrist zum Judentum verschwinden.25 Nicht anders verteilt sich die Aufmerksamkeit in der Adsos Text nur unwesentlich verändernden Descriptio cuiusdam sapientis breviter de codicibus excerpta […] und ihrer Kurzfassung, in der einige Jahre nach Adsos Tod entstandenen Version des weitgehend unidentifizierbaren Albuin, die dieser unter seinem eigenen Namen belässt, und in der zuerst im frühen 16. Jahrhundert Augustinus (354–430) bzw. Hrabanus Maurus (um 780–856) zugeschriebenen Fassung.26 Veränderungen in der Abfolge zeigen sich erst, als andere Prophetien, die dem Endzeitgeschehen gelten, mit den Angaben Adsos kombiniert werden. Diese sind die Weissagungen der Sibylla Tiburtina sowie die Revelationes des Pseudo-Methodius. In der dem großen angelsächsischen Gelehrten des 8. Jahrhunderts Alcuin (um 730–804) beigelegten Version Vita Antichristi ad Carolum Magnum ab Alcuino edita, die der Descriptio cuiusdam sapientis folgt und im Umkreis der entstehenden Karlslegende nach der Mitte des 11. Jahrhunderts vor dem ersten Kreuzzug verfasst worden sein dürfte, erhält die endzeitliche Bekehrung der Juden einen neuen Ort. Zwar übernimmt der Autor Adsos Passage über die Judenheit als Gefolgschaft des Antichrist, aber er lässt ihr das oben erwähnte Constans-Vatizinium aus der Sibylla Tiburtina folgen, in der die Konversion der Juden im Zuge der Bekehrung der Heiden durch einen römisch(griechisch)en König vorausgesagt wird. Allerdings hat er diese Passage bearbeitet. Sein König der Römer heißt „C.“ – Carolus, Karl der Große, dürfte gemeint sein – und besiegt zunächst die beiden Völker Gog und Magog. Sodann zerstört er sämtliche heidnischen Stätten und Tempel und lässt alle Heiden taufen. Auch die Juden würden nun zum Herrn bekehrt werden, ehe er am Ende seiner Herrschaft nach Jerusalem kommen und diese Gott und Christus übergeben werde. Die im Anschluss auftretenden beiden Zeugen Elias und Henoch stärkten und stützten die Gläubigen und würden vom Antichrist getötet werden – von einer Bekehrung der Juden ist hier konsequenterweise keine Rede mehr.27 Das sibyllinische Modell der vor dem Auftreten des Antichrist stattfindenden Bekehrung der Juden hat zu einer Verschiebung im Adsonischen Endzeitszenario geführt, die jene aus der unmittelbaren Nähe zur letzten Phase der Endzeit rückt und den letzten Verfolger implizit zum letzten Juden macht, der von Gott bzw. dem Erzengel Michael als dem göttlich beauftragten Vorläufer des Jüngsten Gerichts getötet wird.28

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Neben oder nach Pseudo-Alcuin hat es noch andere Versuche gegeben, die Sibylla Tiburtina in den Text Adsos zu integrieren. In einer handschriftlich erst seit dem späten 12. Jahrhundert bezeugten Version De tempore Antichristi finden sich gekürzte Passagen aus der Tiburtina dergestalt interpoliert, dass die Konversion der Juden sowohl in der sibyllinischen Einbindung mit der Konversion der Heiden als auch im Adsonischen Zusammenhang der Predigt von Henoch und Elias erscheint.29 Bei der Adaptation von Adsos Schrift an die Revelationes des Pseudo-Methodius, die sich unter der Zuschreibung Epistola Methodii de Antichristo im Exzerptenwerk Liber Floridus (1090/1120) des Lambert von Saint-Omer findet, wird der Verführbarkeit der Juden breiter Raum gegeben. Als hoffnungsvolle Anhänger des Antichrist lassen sie sich von dessen trügerischer Inszenierung seines Todes und seiner Auferstehung täuschen und bekehren sich erst, nachdem sich nach seinem wirklichen Tod sein argwöhnisch bewachter Leichnam drei Tage lang nicht von den Toten erheben will.30 Zeiten der Juden, ‚Heiden‘ und ‚Ketzer‘ Gewissermaßen prophetische Einordnungen der Anderen in die Geschichte des Zukünftigen waren auch ein Gegenstand der mittelalterlichen Chronographie, Weltchronistik und Enzyklopädistik, insoweit als diese von einem Modell der Weltgeschichte ausgingen, in dem Wissensbestände über deren Anfang und Ende existierten. Der angelsächsische Gelehrte Beda Venerabilis (673/674–735) ließ in seinem Werk De temporum ratione die Bekehrung der Juden durch die Predigt von Henoch und Elias als erstes Zeichen des nahen Gerichts erscheinen.31 In der 1143–1146 verfassten Chronik Ottos von Freising (etwa 1112–1158) Historia de duabus civitatibus tritt, wie in der Epistola Methodii de Antichristo im Liber floridus, die Bekehrung der Juden erst nach dem Tod des Antichrist ein.32 Der dem Dominikanerorden angehörende Enzyklopädist Vinzenz von Beauvais (†1264?) ließ in seinem breit überlieferten Speculum historiale die von den beiden Zeugen bekehrten Juden in den Kampf gegen den Antichrist ziehen, in dem 144000 aus allen Stämmen Israels fallen sollten, ein Detail, das er aus der kürzeren Fassung des Pseudo-Methodius übernahm.33 Im 1260/1268 konzipierten, bis ins 16. Jahrhundert weit verbreiteten und mehrfach übersetzten Compendium theologicae veritatis stellte der Do-

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minikaner Hugo Ripelin von Straßburg (um 1200/1210– um 1268) fest, dass der Antichrist zuerst vermittels Wundern die Juden gewinnen werde, zu deren Bekehrung dann Elias und Henoch auftreten würden. Nach der darauf folgenden offenen Verfolgung durch den Antichrist und dessen Tod würden sie ein zweites Mal bekehrt werden.34 Dass andere Modelle des – mit Jeremy Cohen so benennbaren – „eschatologischen Juden“ des Christentums, als die bisher behandelten, denkbar waren, zeigt das Beispiel des Honorius Augustodunensis. In seiner nach 1132, vielleicht erst in der Mitte der 1150er Jahre verfassten Expositio in Cantica canticorum führte dieser eine Synagoga conversa in die Exegese ein, die eine Bekehrung Israels vor dem Antichrist und vor der Bekehrung der Heiden indizierte. Als jüdische Anhänger des Antichrist kamen Juden so nicht mehr in Frage.35 Als dominierend muss jedoch die Vorstellung von der Judenheit als prominenter Anhängerschaft des Antichrist angesehen werden. Sie korrespondiert mit derjenigen der jüdischen Abkunft des Antichrist, aber ihr Diskriminierungspotential liegt ungleich höher, handelte es sich doch um eine Religionsgemeinschaft, deren Mitglieder in Gegenwart und Lebenswelt der Autoren wie ihrer Leserschaft präsent und identifizierbar waren, gegebenenfalls sogar Namen und Gesichter besaßen.36 Für die ‚Heiden‘ galt dies in modifizierter Form, da ihre Lebensräume vornehmlich Peripherie im Verhältnis zu jenen der christlichen Gesellschaft darstellten. Wiederum anders verhielt es sich mit der Häresie verdächtigten oder bezichtigten Menschen, deren angenommene Gefährlichkeit daraus resultierte, dass sie in der Mitte der christlichen sozialen Welten zu finden waren. Ihr ‚verkehrter‘ Glaube rückte sie allerdings in die Nähe der Juden, wie schon Kirchenväter argumentiert hatten. Ephraem der Syrer (um 306–373) bekämpfte die Juden, die zudem dem Antichrist nahestehen sollten, zusammen mit (christlichen) Häretikern.37 Ambrosius, Bischof von Mailand († 397), sah die Juden Ketzern wie den Arianern nahe, stellte aber auch ihre Affinität zum Antichrist fest; häufig kam er auf ihre Bekehrung, insbesondere in der künftigen Endzeit, zu sprechen.38 Nach Aurelius Augustinus (354–430) im zwanzigsten, dem Jüngsten Gericht gewidmeten Buch seines Werks über den ‚Gottesstaat‘ ließen sich mit Johannes (1 Joh 2,18–19) alle Häretiker als „antichristi“ bezeichnen.39 In der antijüdischen Apologetik wurden immer wieder Häretiker mit Juden verglichen. So finden sich unter den zahlreichen, scharf antijüdischen Argumenten des Petrus Venerabilis, Abtes von Cluny (†

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1156), die Juden neben den Ketzern, inspiriert vom Teufel oder dem Antichrist,40 und der erwähnte Petrus von Blois nannte in der Praefatio seines Traktats Contra perfidiam Judaeorum Juden und Ketzer im gleichen Atemzug; mit beiden sei nicht unüberlegt zu disputieren.41 Der jüdische Konvertit und Diakon Wilhelm von Bourges verfasste wohl um 1235 einen Liber bellorum Domini contra Judeos et hereticos, in sich unterteilt in Schriften gegen die Juden und gegen die Häretiker, in dem ansonsten antijüdisch verwendete Argumente, wie das der Nähe zum Antichrist und zum Teufel, mit besonderer Vehemenz gegen Ketzer, vielleicht die Albigenser, gerichtet waren. Häretiker seien zu meiden, da sie, anders als Juden, gänzlich uneinsichtig seien.42 Hier wird besonders deutlich, in welcher Weise die eschatologischen Anderen der futurischen Endzeit in die mittelalterliche Gegenwart eingeholt werden konnten, damit aber auch der Reflexion über Geschichte und Zeit entzogen waren. Zugleich wurden in der zeitgenössischen Welt Juden und Häretiker miteinander verbunden, indem sie zum Beispiel zur Zeit des erwähnten Katharertums in Südfrankreich oder während der Hussitenkriege der Kollaboration verdächtigt wurden.43 Im lateinisch-christlichen Denken über Zeit und Zukunft figurierten aufgrund biblischer und patristischer Vorgaben Nicht-Christen als „eschatologische“ Andere und wurden identifiziert als Juden, Heiden und Häretiker.44 Ihre Bekehrung war unausweichlich und sollte gesamtheitlich erfolgen müssen, da das mit der zu erwartenden Wiederkehr Christi positiv besetzte Weltende anders nicht würde eintreten können, als futurum jedoch als unhintergehbar geglaubt wurde. In letzter Konsequenz waren diese Konversionen daher notwendig als endzeitliche konzipiert. In der Sache bedeuteten sie eine Reduktion von Vielfalt, von Pluralität, da es ausdrücklich darum ging, die Anderen als Verkörperung vermeintlich dissidenter religiöser Haltungen zum Verschwinden zu bringen. Aus geschichtstheologischer Perspektive lässt sich im Sinn der Überlegungen zu Beginn nur folgern: Christliche Endzeiten waren schlechte Zeiten für den Pluralismus der Religionen.

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Petrus Venerabilis, Abt von Cluny (1122–1156), und seine Beschäftigung mit dem Islam Der bedeutendste Geschichtsschreiber der frühstaufischen Zeit, Otto von Freising, kritisiert in seiner zwischen 1143 und 1146 entstandenen Chronik bzw. Historia de duabus civitatibus einen Bericht über den gewaltsamen Tod des Erzbischofs Thiemo von Salzburg im Heiligen Land. Er sei im Jahre 1101 grausam ums Leben gekommen, da er Götzenbilder der Sarazenen in Stücke geschlagen habe. Das allerdings, so Otto, sei schwer zu glauben, stehe es doch fest, dass die Gesamtheit der Sarazenen (universitas Sarracenorum) einen einzigen Gott verehre, die Bücher des Gesetzes (gemeint ist der Thora) und auch die Beschneidung übernehme, auch Christus und die Apostel und die apostelgleichen Männer nicht ablehne. Nur darin seien sie weit vom Heil entfernt, dass sie leugnen, dass Jesus Christus, der dem Menschengeschlecht das Heil bringt, Gott bzw. Gottes Sohn sei und den Verführer Mohammed als einen großen Propheten des höchsten Gottes verehren und hoch in Ehren halten.1 Der Bericht, den Otto wegen seiner Unglaubwürdigkeit kritisiert, entstand nicht lange vor seinem eigenen Werk, also ebenfalls um die Mitte des 12. Jahrhunderts.2 Was der Freisinger Bischof, der 1146/47 übrigens am Zweiten Kreuzzug teilgenommen hat, damals über den Glauben der Muslime gewusst hat – mit einem falschen Zitat des Korans irrt er allerdings auch –,3 scheint also noch nicht Allgemeingut gewesen zu sein. Um dieselbe Zeit, in der die Chronik geschrieben wurde, bemühte sich gerade ein Zeitgenosse Ottos um ein tiefergehendes Verständnis des fremden Glaubens. Es ist Petrus Venerabilis, der neunte Abt des burgundischen Klosters Cluny, das sich schon seit seiner Gründung im Jahre 910 als Haupt eines Klosterverbandes zu etablieren begann und in der Zeit dieses Abtes einen Konvent von 400 Mönchen zählte. Dazu kamen die Mönche von cluniazensischen Prioraten, die über ganz Europa verteilt waren – 200 Prioren kamen allein schon zum Generalkapitel von 1132 – und, nicht zu vergessen, Nonnen von zehn Frauenklöstern, das wichtigs-

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te von ihnen Marcigny-sur-Loire.4 Obwohl der Klosterverband von Cluny in der Zeit dieses Abtes seinen Zenit bereits überschritten hatte, fällt in dieselbe Zeit die Fertigstellung des Baus von Cluny III, der damals größten Kirche des Abendlandes, größer als Alt-St.-Peter in Rom, so lang wie das Langhaus von Neu-St.-Peter, nämlich 187 Meter.5 Pierre Maurice de Montboissier, ein Großneffe des Abtes Hugo des Großen von Sémur – unter ihm trat er in das burgundische Kloster ein – lernte das Mönchsleben sozusagen von der Pike auf, da er als puer oblatus, im Elementarschulalter also, in das Kloster Sauxillanges gegeben wurde. Der Karriereweg des jungen Mönches scheint vorgezeichnet gewesen zu sein: Schon mit etwas über zwanzig Jahren wurde er Prior des bedeutenden Vézelay, in den darauffolgenden Jahren in Domène bei Grenoble und im August 1122 zum Abt von Cluny gewählt – im Alter von dreißig Jahren (daraus hat man sein Geburtsjahr errechnet).6 Er war Zeitgenosse nicht nur Ottos von Freising, sondern auch des Zisterzienserabtes Bernhard von Clairvaux (1090–1153) und des Philosophen Petrus Abaelard (1079–1142). Geistig kann man ihn zwischen diesen beiden einordnen: der neuen geistigen Strömung der Frühscholastik nicht abgeneigt, jedoch auch fern aller rigoristischen Reformstrenge, konnte er die Freundschaft mit beiden bewahren:7 mit Abaelard, dem er nach seiner Verurteilung auf der Synode von Sens Zuflucht gewährte und den er dann auch mit dem Kontrahenten Bernhard aussöhnen konnte – und auch mit Bernhard, der ihn und die Mönche von Cluny wegen mangelnder Askese leidenschaftlich angeklagt hatte – seine Antwort bestand aus einer in versöhnlichem Ton gehaltenen Verteidigungsschrift.8 Eine wichtige organisatorische Anregung hat er von den Zisterziensern übernommen: er hat zweimal – 1132 und 1146 – ein Generalkapitel nach zisterziensischem Vorbild einberufen, um die Consuetudines, „Gewohnheiten“, also die alten Sonderregelungen des Klosters, den Erfordernissen einer neuen Zeit anzupassen und die von ihm formulierten Reformstatuten – auch das eine Reaktion auf die Kritik aus Clairvaux – auf breiten Konsens zu stellen.9 Abt Petrus – der Beiname „Venerabilis“ war wohl zunächst lediglich das übliche Epitheton für Äbte und Bischöfe und weniger eine besondere Auszeichnung, ging dann aber eine dauerhafte Verbindung mit seinem Vornamen ein10 – blieb aber auch ganz in der Tradition seiner Vorgänger, indem er weite Reisen in die cluniazensischen Priorate unternahm: neben solchen durch Frankreich unternahm er allein neun,

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vielleicht auch elf nach Italien, zwei nach England, eine ins Regnum Teutonicum, zwei nach Aquitanien und eine auf die Iberische Halbinsel. Und auf dieser Reise fasste er den Entschluss, sich näher mit dem Islam zu befassen.11 Die Iberische Halbinsel war zu dieser Zeit, grob gesprochen, in einen christlichen Norden – die Königreiche Portugal, Leon-Kastilien und Aragon waren dabei die wichtigsten Machtblöcke – und einen islamischen Süden: Al-Andalus, oder, nach „Dynastien“ klassifiziert, das Reich der Almoraviden (bis 1147) und Almohaden (ab 1147) geteilt. In der Mitte der Halbinsel, erst 1085 von König Alfons VI. erobert, befand sich Toledo, eine Stadt, in der das Arabische sich auch nach der Reconquista noch als Verkehrssprache hielt, eine Stadt, in der außer den verbliebenen Muslimen auch sephardische Juden und – zumeist mozarabische, d.h. arabisierte – Christen, die unter muslimischer Herrschaft bei ihrem Glauben geblieben waren, weiterlebten.12 Die cluniazensischen Klöster, die Abt Petrus besuchte, befanden sich natürlich im christlichen Norden, eine Anzahl von ihnen ist erst ab 1109 belegt.13 Was nun wissen wir von Abt Petrus und seiner Beschäftigung mit dem Islam? Was waren seine Beweggründe, sich mit den Inhalten der fremden Religion zu befassen? Wir wissen davon aus einem Brief an Bernhard von Clairvaux und aus der Einleitung eines seiner Werke, mit dem wir uns noch näher befassen werden. Zunächst einmal geht es um seine Wahrnehmung der islamischen Lehre – in seinen Augen: der Lehre Mohammeds. Es ist ihm nicht klar – in keinem seiner diesbezüglichen Werke trifft er tatsächlich eine Entscheidung in dieser Frage – ob es sich um eine „Häresie“ oder um eine Spielart des Heidentums handelt, anders formuliert, ob Muslime als Häretiker oder als Heiden zu betrachten seien. Warum? Das erklärt er so: „Wenn ich sie auch Häretiker nenne, weil sie ja ein paar Dinge mit uns gemeinsam glauben, wenn sie auch in den meisten Dingen von uns abweichen, so würde ich sie vielleicht doch richtiger als ‚Ungläubige‘ oder ‚Heiden‘ (was ein stärkerer Ausdruck ist), bezeichnen. Denn mögen sie auch einiges Wahre über den Herrn sagen, meistens predigen sie doch das Falsche; sie erkennen weder die Taufe an, noch das Messopfer, noch die Beichte oder überhaupt ein christliches Sakrament, was noch kein Häretiker außer ihnen getan hat.“14

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In einer späteren Schrift gibt er jedoch zu bedenken, dass diese Lehre weder von der Kirche ausgegangen sei, noch, wie der Name „Irrlehre“ statt „Häresie“ deutlich mache, behaupte, selbst wie andere Häresien von der Kirche ausgegangen zu sein. Als Häresie bezeichne man nämlich nur das, was von der Kirche ausgehe und gegen die Kirche gerichtet sei – und dann wiederholt er seine Ausführungen und überlässt die Entscheidung dem Leser.15 Fest steht für ihn nur, dass es sich um eine Irrlehre handelt, die man nicht unwidersprochen stehenlassen solle, ja dürfe, sondern der man argumentativ entgegentreten müsse, wie die Kirchenväter den Irrlehren innerhalb der frühen Kirche entgegengetreten seien – schon um des Heiles der Menschen willen, die andernfalls auf ewig verlorengehen. Er sieht sich in ihrer Tradition; und in ihrem Geist möchte er die Aufgabe, sie zu widerlegen, angegangen sehen. Es geht nicht – das sei schon gleich zu Anfang betont – um das Verstehen um des Verstehens willen, nicht um Dialog im modernen Sinne, sondern um Kenntnis als Voraussetzung für christliche Apologetik. Maßstab der Beurteilung ist immer die rechte Lehre des Christentums.16 Mehr oder weniger sollte man von einem Mann wie Petrus Venerabilis nicht erwarten, der bereits Schriften gegen die Juden – hier wird schon aus dem Titel deutlich, worauf er hinauswill: „Gegen die altgewordene Härte der Juden“ (Adversus Iudeorum inveteratam duritiem) – und gegen die häretischen Anhänger des Petrus von Bruis (Contra Petrobrusianos hereticos) verfasst hatte.17 Aber an eben dieser Kenntnis des Islam, so muss er feststellen, mangelt es gerade, weil die Sprachenvielfalt der frühen Kirche verlorengegangen ist: „Doch weil die Lateiner und erst recht unsere Zeitgenossen aufgrund des Niedergangs der antiken Gelehrsamkeit … nur noch die Sprache beherrschen, ‚in der sie geboren sind‘, konnten sie nicht erkennen, welcher Art diese schwerwiegende Irrlehre war – um nicht zu sagen, sie waren unfähig, ihr entgegenzutreten. … Ich war entrüstet, daß die Lateiner den Grund eines solchen Verderbens nicht kannten, und daß durch eben diese Unkenntnis niemand zum Widerstand aufgerüttelt werden konnte. Denn“ – das ist das wichtige Resumé – „es gab niemanden, der antwortete, weil es niemanden gab, der verstand.“18

Natürlich konnte Petrus Venerabilis auch selbst nicht Arabisch. Und eben deshalb gab er gegen hohe Bezahlung, wie er betont, bei Arabischkundigen eine Übersetzung verschiedener Texte in Auftrag. Damit konnte er an eine Tradition anknüpfen, die bei den Christen

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auf der Iberischen Halbinsel, insbesondere in Toledo schon bestand.19 Die von ihm beauftragten Übersetzer waren der Engländer Robert von Ketton, später Archidiakon von Pamplona, und Hermann von Dalmatien, ein Schüler von Theoderich (Thierry) von Chartres und Freund von Robert. Die beiden fand er im Ebrotal mit astronomischen Studien beschäftigt. Ferner nennt er an einer anderen Stelle als weitere Mitarbeiter einen Petrus von Toledo und einen Muslim namens Mohammed, der nicht näher identifiziert werden kann und offensichtlich – nicht ganz mit Erfolg – die Texttreue der Übersetzung prüfen sollte.20 Diese Texte bilden den Grundstock des sogenannten Corpus Toletanum, dessen Originalhandschrift, erkennbar an vielen Verbesserungen und Ergänzungen, 1947/48 von Marie Thérèse d’Alverny im Cod. Parisiensis der Bibliothèque de l’Arsenal 1162 entdeckt wurde.21 Es besteht aus zwei einleitenden Schriften des Petrus Venerabilis: der Summa totius haeresis Saracenorum (f. 1ra–3va), einer kurzen Zusammenfassung der islamischen Lehre und der Epistola de translatione sua (f.3rb–4vb), einem Einleitungsbrief an Bernhard von Clairvaux. Die Fabulae Sarracenorum (f.5r–10v) enthalten jüdisch-muslimische Legenden über die Erschaffung der Welt und des Menschen, dann folgt die Reihe der Patriarchen und Propheten, schließlich die Geschichte Mohammeds und der ersten sieben Kalifen – ursprünglich waren wohl die ersten zwölf behandelt, der Text bricht vorher ab. Das arabische Original dieser Schrift ist nicht bekannt, übersetzt hat sie Robert von Ketton. Der Liber generationis Mahumeth (f.11r–18r), von Hermann von Dalmatien übersetzt, ist eine arabische Genealogie des Propheten aus der Feder des Sa‘id ibn-Umar. Wieder gehen Schöpfungslegenden und einige Patriarchen- und Prophetengeschichten voraus – Leitmotiv ist ein in allen Generationen sichtbar werdendes wunderbares Licht anlässlich der Geburt des Propheten. Auch von der Doctrina Mahumet (f. 19r–25v) gibt es ein arabisches Original, Übersetzer ist Hermann von Dalmatien. Vier jüdische Gelehrte, an ihrer Spitze ein gewisser Abdia, stellen Mohammed 100 Fragen über das jüdische Gesetz, die er aus umfassender Kenntnis beantwortet. Der wohl wichtigste Text ist die Lex Sarracenorum (f. 25v–138r), die lateinische Koranübersetzung, die im Sommer 1143 von Robert von Ketton vollendet wurde – sie enthält nicht nur Fehler bei der Ein-

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teilung der Suren, sondern auch regelrechte Fehlübersetzungen, willkürliche Änderungen, Auslassungen und Ergänzungen, ist also keine philologisch korrekte, aber die erste vollständige Übersetzung des Korans ins Lateinische. Den Schluss der Sammlung bildet ein aus der ersten Hälfte des 9. Jahrhunderts von einem Christen verfasster Text, hier Epistola Sarraceni et Rescriptum Christiani (f. 140r–178r) genannt. Es handelt sich um einen fiktiven christlich-islamischen Briefwechsel zwischen al-Hashimi, dem Muslim, und al-Kindi, dem Christen. Bemerkenswert daran ist, dass der Autor den Muslim zu Wort kommen und ihn seine Glaubenslehre darlegen lässt, wenn er ihm auch weniger Raum für seine Argumentation einräumt als der christlichen Lehre, die er im Anschluss dagegenhält. Übersetzt hat diesen Text Petrus von Toledo, wohl ein mozarabischer Christ, der nach Aussage von Petrus Venerabilis besser Arabisch als Latein beherrschte. Deshalb gesellte er ihm seinen Sekretär Petrus von Poitiers bei, der den Text stilistisch glätten sollte. Wahrscheinlich war Petrus von Toledo auch derjenige, der die Texte für die Sammlung vorschlug und zusammenstellte.22



Wozu nun sollte die Sammlung dienen, für welche Zielgruppe war sie gedacht? Zunächst einmal hat Petrus Venerabilis daraus manches, wenn auch nicht allzu viel für seine eigene Einleitung, die „Summa totius haeresis“ brauchen können. Er legt dort die islamische Lehre vor allem in ihren Abweichungen von der christlichen dar. Er beginnt mit der Trinitätslehre und mit der Christologie und kreidet den Muslimen die sexualisierte Sicht der Vaterschaft Gottes an. Mohammed wird durchweg mit beleidigenden Epitheta bedacht: miserrimus und impiissimus nennt ihn Petrus. Er nimmt auch eine alte Polemik auf, wonach der Prophet besessen und an Epilepsie erkrankt gewesen sei – als Werkzeug des Teufels sieht er ihn, zwischen dem Häretiker Arius, der ebenso die Göttlichkeit Christi geleugnet habe, und dem Antichristen, der vor dem Ende der Zeiten komme. Das Sendungsbewusstsein Mohammeds nimmt er nicht ernst, sondern erklärt es mit bloßer Machtgier – er habe sich zum König machen lassen wollen, und als das nicht verfing, sich als Prophet ausgegeben. Auch war Mohammeds Aufstieg keineswegs von Raubzügen und Mordanschlägen gegen seine Verwandten gekennzeichnet, sondern von seiner Heirat mit einer reichen Kaufmannswitwe – dies hätte Petrus Venerabilis durchaus bei Theophanes, in der Chronographia nach der lateinischen Fassung des

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Anastasius Bibliothecarius finden können, aber er geht darüber hinweg: stattdessen wird er als Verbrecher dargestellt.23 Die Heilige Schrift der Muslime hat für ihn natürlich auch keinen Eigenwert, sondern ist ein synkretistisches Gemisch aus jüdischen und häretischen christlichen Lehren, ihr Verfasser ein ungebildeter, geistiger Giftmischer: „So belehrt von den bestmöglichen Lehrern – Juden und Häretikern – schrieb Mohammed seinen Koran, indem er ein ebenso aus jüdischen Legenden wie häretischen Schwätzereien bestehendes Teufelswerk in der ihm eigenen barbarischen Weise zusammenwebte. Indem er nun erlog, der Koran sei ihm Abschnitt für Abschnitt von Gabriel … überbracht worden, infizierte er dieses Volk, das von Gott noch nichts wußte, mit einem tödlichen Pesthauch … und zerstörte so mit tödlichem Gift – oh je! – Seele und Leib dieses armen Volkes.“24

Solche Darlegungen waren natürlich nicht für muslimische Leser und Hörer bestimmt – sie hielt er in dieser Schrift noch ohnehin für verloren, d.h. der ewigen Verdammnis verfallen. Eine Widerlegung ist daher auch nicht für sie gedacht, sondern für die schwachen Christen innerhalb der Kirche, die sich möglicherweise verführen lassen. „Denn wenn es auch den Verdammten selbst nichts nützen kann, wie ich glaube, so würde doch eine angemessene Erwiderung, wie es sie ja für die anderen Häresien gibt, auch im Falle dieser Seuche der christlichen Waffenkammer wohl anstehen …“25 „Wenn aber diese verirrten Menschen schon nicht bekehrt werden können, so muß man doch wenigstens für die Schwachen in der Kirche, die sich schon durch geringfügige Argumente verführen oder insgeheim zum Abfall bringen lassen, wachsam Sorge tragen; ein Gelehrter oder ein Lehrer, der sich eifrig um die Sache der Gerechtigkeit bemüht, darf das nicht vernachlässigen …“26

Für eine solche Widerlegung hatte er also das Material bereitgestellt; übernehmen sollte sie ursprünglich ein anderer, nämlich Bernhard von Clairvaux. Er bietet ihm in seinem Brief zunächst den christlich-islamischen Briefwechsel, der unter dem Namen Al-Kindi veröffentlicht wurde, an – es ist eindeutig zunächst nur davon die Rede –, dann aber auch das übrige Corpus Toletanum, damit er es den Kirchenvätern gleichtun könne. „Wenn also Euer Hochwürden“, so schreibt er, „mit Gottes Hilfe daran arbeiten wollen (denn die Fähigkeit dazu kann Euch aufgrund seiner Gnade nicht fehlen), dann schreibt zurück, und wir werden Euch das Buch schicken, das wir bisher noch nicht geschickt haben, damit durch Euren Mund, der vom Lobe Gottes voll ist, der gütige Geist (spiritus be-

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nignus) dem Geist der Verdorbenheit (spiritus nequitiae) antworte, und damit der Reichtum seiner Kirche durch den Schatz Eurer Weisheit sich mehre.“27

Wir haben keinen solchen antiislamischen Traktat aus der Feder Bernhards von Clairvaux; er hat vielmehr im Auftrag seines Schülers, des Zisterzienserpapstes Eugen III., den Zweiten Kreuzzug gepredigt und auf diesen Brief des Cluniazenserabtes offensichtlich nicht geantwortet. Am Schluss der „Summa totius haeresis“ hat Petrus Venerabilis das beklagt. Er habe diese Übersetzungssammlung angelegt, „damit irgendein Diener Gottes durch die Flamme des Heiligen Geistes zur schriftlichen Widerlegung angeregt würde. Weil es aber leider niemanden gibt, der dies tut … (ich habe lange darauf gewartet, doch keiner war da, der seinen Mund auftat und aus Eifer für die heilige Christenheit die Feder bewegte und dagegen kläffte), so habe ich selbst es mir vorgenommen, wenigstens soweit es meine wichtigen Geschäfte zulassen, dies mit Hilfe Gottes in Angriff zu nehmen. Dennoch wäre ich jederzeit dankbar, wenn irgendjemand anders diese Aufgabe, besser als ich es tun könnte, erfüllen würde.“28

Das ist keine bloße Exordialtopik mit der üblichen Betonung der eigenen Unfähigkeit gewesen – Petrus Venerabilis hatte mehr als genug zu tun mit dem eigenen Kloster Cluny, dessen wirtschaftliche Lage sich verschlechtert hatte, und mit den Prioraten, die zu Cluny gehörten. Petrus Venerabilis hat dieses Werk vorgelegt – es ist nur noch in einer einzigen Handschrift, Ms. 381 der Bibliothèque municipale von Douai, überliefert. Er hat es nicht mehr vollenden können. Dass es in vier Büchern geplant war, erfahren wir aus einer Inhaltsübersicht des Sekretärs Petrus von Poitiers, der Petrus Venerabilis aber auch inhaltlich nicht gefolgt ist.29 Es entfallen alle Beleidigungen des Propheten, von denen die Summa so reich war. Als Zielgruppe sind diesmal wirklich die Muslime vorgesehen. Er ist nicht mehr überzeugt, nur auf taube Ohren zu stoßen, er befürchtet auch nicht mehr, dass sein eigenes Unvermögen, sich auf Arabisch an sie zu wenden, ein Hindernis darstellt – schließlich kann man die Schrift ja auch aus dem Lateinischen ins Arabische übersetzen. So wendet er sich im ersten Buch dieses Werkes direkt an die Muslime. Er ahmt den Stil der Sureneinleitung „Im Namen des barmherzigen und gnädigen Gottes“ nach, beginnt aber – urkundengemäß und wohl kaum als Provokation gedacht, das Folgende beweist es – mit einer Anrufung der Dreifaltigkeit: „Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes, des einen, allmächtigen und wahren Gottes, grüße ich, ein gewisser Petrus,

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gallischer Nation, christlichen Bekenntnisses, von Beruf Abt über die, die man Mönche nennt, euch, die Araber, Söhne Ismaels, die ihr das Gesetz eines gewissen Mohammed befolgt.“30 Und dann begründet er sein Vorhaben: „Es scheint verwunderlich, daß ich, ein Mensch […] der fremde Sitten und Lebensgewohnheiten hat, Menschen schreibe, die ich niemals gesehen habe und die ich vielleicht auch nie sehen werde, und an sie redend herantrete. Ich trete an euch heran, nicht, wie die Unsrigen oft tun, mit Waffen, sondern mit Worten, nicht mit Gewalt, sondern mit der Vernunft, nicht mit Haß, sondern mit Liebe – mit einer Liebe, die so ist, wie sie zwischen Verehrern Christi und Menschen, die von Christus abgewandt sind, bestehen muß, so wie sie unter unseren Aposteln und den Heiden jener Zeit, die sie zum Gesetz Christi einluden, bestand […] Zur Autorität Christi kommt die evidente Einsicht, daß, wie jemand sagte, ‚jedes Lebewesen seinesgleichen liebt‘. Auf diese Weise liebe ich euch, ich, der geringste der unzähligen Diener Christi, und weil ich euch liebe, schreibe ich euch, und indem ich euch schreibe, lade ich euch zum Heil ein […].“31

Petrus appelliert an ihre Vernunft und an ihre Bereitschaft zum Zuhören, weiß aber wohl, dass sie niemanden anhören wollen, der gegen ihre gewohnten Sitten oder Gesetze angehen will, und dass sie dies gleich mit Steinen, Schwertern und anderen Todesdrohungen beantworten. Dann aber fällt er einer Fehlübersetzung zum Opfer – zum einen handelt es sich um eine Auslassung, zum anderen um eine verfehlte Interpretation. Es geht um den Vers 46 der Sure 29, kombiniert mit Vers 291 von Sure 2: Zunächst steht da: „Und streitet mit den Leuten der Schrift nie anders als auf eine möglichst gute Art.“ – Mit den Leuten der Schrift sind selbstverständlich die anderen Buchreligionen, Judentum und Christentum gemeint. Und an der anderen Stelle steht: „Der Versuch, Gläubige zum Abfall vom Islam zu verführen ist schlimmer als Töten.“ Bei Petrus Venerabilis – hier wird er, wie gesagt, von der Übersetzung irregeleitet – wird beides zusammengezogen und ergibt einen völlig konträren Sinn: „Streitet nicht mit den Schriftbesitzern. Denn Mord ist besser als Streit.“32 – ein Argument, das er dann ausführlich zu widerlegen sucht, da er meint, im Koran stehe, es sei besser, jemanden zu töten, als mit ihm zu streiten, das heißt über Glaubensdinge zu diskutieren. Wieder bittet er darum, zunächst zuzuhören und sich auf ein vernünftiges Gespräch einzulassen und den Andersgläubigen, der mit ihnen diskutieren will, nicht sofort als Gotteslästerer zu töten. „Es ist,“ so schreibt er, „nur recht und billig, daß

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ihr die, die ihr für Gotteslästerer haltet, inzwischen so lange zu töten aufschiebt, bis durch unzweifelhafte Prüfung der Wahrheit erkannt ist, ob euer Prophet von Gott gesandt und euer Gesetz euch von Gott gegeben wurde …“33 Und dann führt er das Beispiel des angelsächsischen Königs (A)Ethelbert († 616 oder 618) aus der Historia ecclesiastica gentis Anglorum des Beda Venerabilis (673/74–735) an, der zunächst, ohne selbst gleich von der christlichen Botschaft überzeugt gewesen zu sein, die Missionare um Augustinus († 605) zunächst einmal habe gewähren lassen und ihnen in aller Gastfreundschaft eine Unterkunft in Canterbury zugewiesen habe – das Beispiel fällt ihm vermutlich ein, weil er gerade in England ist und auch, weil Ethelbert als Zeitgenosse von Mohammed vielleicht das Interesse seiner Leser finden könnte.34 Und dann macht er sich daran, die in Vers 75 von Sure 2 angesprochene Ansicht, Juden und Christen hätten ihre heiligen Schriften verfälscht, zu widerlegen – er sagt allerdings, diese Ansicht sei ausgerechnet durch den Koran nicht autorisiert. Und wieder führt er Vernunftgründe gegen den Fälschungsverdacht an. Wenn die Bücher des Alten und Neuen Testaments im Koran rezipiert werden, dann sind sie als göttliche Wahrheit anerkannt und damit unumstößlich. Anschließend geht er minutiös, man könnte auch sagen geduldig, der Frage nach, bei welcher Gelegenheit die Schriften des Alten oder auch die des Neuen Testaments vollständig hätten verlorengehen können – um dann die Frage zu stellen, ob man denn wirklich glauben könne, es habe von all dem, was verlorengegangen war und hinterher nachgefälscht wurde, auch nur ein einziges Exemplar gegeben. Auch vom Koran gäbe es ja eine Vielzahl von Handschriften. Damit bringt er das Gegenargument gegen alle Fälschungsverdächtigungen überhaupt: die weite Verbreitung eines weitgehend einheitlichen Textes. Eine weitere lange Beweisführung – immer auf dem Boden der Schriften, die auch vom Koran rezipiert werden – betrifft den Anspruch Mohammeds, ein Prophet zu sein. Diesen Anspruch weist Petrus zurück, und zwar nicht aufgrund des unmoralischen Lebenswandels, wie er noch in der Summa geschrieben hatte, sondern weil Mohammed im Gegensatz zu den alttestamentlichen Propheten nichts prophezeit habe. Auch hier verzichtet er also auf eine Verunglimpfung des Religionsstifters. Stattdessen begibt er sich mit seinen Zuhörern und Lesern auf die gemeinsame Basis des Alten und Neuen Testaments. Freilich ist das Werk nicht fertiggeworden, das zweite Buch schon nicht mehr voll durchkomponiert und nicht mehr klar gegliedert, also

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wohl überstürzt fertiggestellt worden. So lässt sich ein abschließendes Urteil kaum gewinnen – dazu müsste man wissen, wie das vollständige Werk ausgesehen hätte. Vielleicht hat der Tod dem vielbeschäftigten Abt die Feder aus der Hand genommen – der Brief, der der Kapiteleinteilung des Petrus von Poitiers beigegeben ist, datiert von 1155, der Abt ist im darauffolgenden Jahr gestorben. Vielleicht aber wusste er auch, dass das, was er bislang verwirklicht hatte, mangels gründlicherer Beschäftigung mit dem aufbereiteten Material unzulänglich war, wie es die Bemerkung am Schluss der Summa nahelegen könnte, wonach er die Aufgabe einer Widerlegung des Islam immer noch lieber einem anderen überlassen hätte. Interessant ist der Befund der Belegstellen:35 am meisten ist die Bibel zitiert, vom Alten Testament vor allem die Geschichtsbücher, die Psalmen und die Prophetenbücher, insgesamt sechsundneunzigmal, vom Neuen Testament die Evangelien – Markus am wenigsten – die Apostelgeschichte und der Römerbrief – insgesamt dreiundvierzigmal. Von den Schriften der Toletaner Sammlung finden wir die Doctrina Mahomet nur dreimal, die Fabulae Saracenorum nur zweimal, die Al-Kindi-Kontroversschrift siebenmal und die Koranübersetzung zwanzigmal zitiert. Sie sind also gegenüber der Bibel, mit der Petrus selbstverständlich vertrauter war, stark unterrepräsentiert. Der Sekretär Petrus von Poitiers hatte das Material der Sammlung wohl breiter ausgewertet und für eine regelrechte Polemik im Stil der Summa vorbereitet. Dazu ist es nicht mehr gekommen. Petrus Venerabilis hat uns ein Fragment zurückgelassen – wie breit es einmal überliefert gewesen ist, können wir nur vermuten, nicht beweisen – die Vermutung, dass es kaum rezipiert worden ist, liegt nahe. Es war der erste Versuch, in einer solchen Schrift Vernunftgründe zur Begründung heranzuziehen und auf Polemik zu verzichten, um das Gespräch nicht von vornherein scheitern zu lassen.36 Es hat keine größere Wirkung gehabt als ein Gedankenexperiment. Zwanzig Jahre nach den Bemühungen des Cluniazenserabtes hat eine Neufassung der Passio des Salzburger Erzbischofs Thiemo, die ich eingangs erwähnt habe, die vermeintliche Idolatrie der Muslime noch deutlicher herausgestellt, ohne Widerspruch zu ernten.37 Und Otto von Freising, der sich immerhin als kundiger erwiesen hat, wusste nicht einmal, wie der Anfang der Suren lautete. Das Corpus Toletanum erschien 1543 im Druck, erlebte 1550 eine zweite Auflage und wurde dann 1614 noch einmal in der Bibliotheca

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Cluniacensis von Martin Marrier und André Duchesne gedruckt. Die letzte Schrift Contra sectam Saracenorum scheint noch mehr in Vergessenheit geraten zu sein. Sie war dem Editor von 1543, Theodor Bibliander, ebenso unbekannt wie den Editoren der Bibliotheca Cluniacensis ein Jahrhundert später. Das Werk erschien erst 1733 im 9. Band der von Ursin Durand und Edmond Martène herausgegebenen Collectio veterum scriptorum.38

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Zwischenräume − Orte, Worte und Wege von Konvertiten zwischen Judentum und Christentum Es war einmal ein Lattenzaun, mit Zwischenraum, hindurch zu schaun. Ein Architekt, der dieses sah, stand eines Abends plötzlich da – und nahm den Zwischenraum heraus und baute draus ein großes Haus. Der Zaun indessen stand ganz dumm, mit Latten ohne was herum. Ein Anblick gräßlich und gemein. Drum zog ihn der Senat auch ein. Der Architekt jedoch entfloh nach Afri- od- Ameriko.

Spöttisch-humoristisch dichtete und philosophierte Christian Morgenstern (1871–1914) lange vor der Erfindung des „spatial turn“ über den Lattenzaun und seinen Zwischenraum.1 Ohne die Latten, so das Fazit, gibt es keinen Zwischenraum – ohne den Zwischenraum aber sieht der Lattenzaun so schrecklich aus, dass er als ästhetisches Ärgernis entfernt werden muss. Die Beziehung zwischen Latten und Zwischenraum,2 die Morgenstern hier implizit anspricht, ist durchaus von grundsätzlicher Bedeutung. Denn erst die Latten konstituieren den Zwischenraum, machen ihn zum Raum dazwischen. Im Englischen bezeichnet man das sprachlich offener als „in-between“, als das „Dazwischen“. Das gibt es im Deutschen nicht.

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Wir haben es also beim Zwischenraum immer gleich mit mehreren Räumen zu tun, den begrenzenden und eben dem dazwischen. Und mehr noch: Es fällt schwer, sich diese Räume nicht als etwas Dreidimensionales vorzustellen. Und damit befinden wir uns mitten in der Raumtheorie, die seit einigen Jahren auch die Geschichtswissenschaft beschäftigt und zu neuen historiographischen Perspektiven geführt hat.3 Ganz einfach gesagt geht es beim sog. spatial turn um eine Ablösung oder doch wenigstens eine Ergänzung klassischer Raumvorstellungen, die Raum immer als dreidimensionalen, starren Behälter interpretieren, der mit dem sozialen Leben darin oder darum herum nichts zu tun hat. Mit dem spatial turn − so die Soziologin Martina Löw − definiert man Räume zwar als in der Regel lokalisiert an konkreten Orten. Doch sie werden als sozial konstruiert gesehen, zeigen sich als flexibles Ergebnis einer relationalen (An-)Ordnung von Körpern. Sie kommen durch eine Syntheseleistung und durch die Positionierung von sozialen Gütern und Personen zustande. Bei diesem sog. „spacing“ nehmen Personen aktive wie passive Rollen ein. Das spacing und die Synthese, die sich aus Wahrnehmung, Vorstellung und Erinnerung konstituiert, entstehen in intentionalen oder unbeabsichtigten (Aus-) Handlungsprozessen.4 Wendet man nun die skizzierte Konzeption nicht nur auf die Räume an, die den Zwischenraum begrenzen, sondern eben auch auf diesen selber, so verliert dieser zweifellos an klaren Konturen. Im vorliegenden Fall − beim Thema religiöse Konversion − schwindet also zum einen die Eindeutigkeit der religiösen Gruppen durch das Zugeständnis eines Zwischenraums zwischen ihnen; und zum anderen gelten für diesen nun die gleichen Regeln wie für andere Räume, nämlich dass sie sozial konstruiert sind. Warum aber schaffen Konversionsprozesse überhaupt Zwischenräume? Wie läuft eine Konversion im Fall der Juden in der Frühen Neuzeit überhaupt ab? Konversionswillige Juden oder Jüdinnen wandten sich mit ihrem Anliegen zunächst an Kirchenvertreter und Obrigkeiten, weil sie sich Unterstützung und ggf. Schutz vor Feindseligkeiten ihres Herkunftsmilieus versprachen. Vorausgegangen waren dem in der Regel Kontakte mit Altchristen oder mit anderen Konvertiten. Akzeptierten Obrigkeiten und Theologen nach einer zunehmend kritischeren Prüfung das Vorhaben, wurde der Aspirant im christlichen Glauben und meist in deutscher Sprache und Schrift unterrichtet, was mehrere Wochen oder

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Monate, gelegentlich auch Jahre dauern konnte. Während dieser Zeit erhielt der Konversionswillige bei Bedürftigkeit Unterstützung aus der Almosenkasse oder speziellen Fonds. Nach bestandener Prüfung fand die Taufe statt und wurde als öffentliches Ereignis mit Symbolcharakter zelebriert.5 Der Prozess der Konversion benötigte also Zeit: Zum einen, um überhaupt erst als Kandidat angenommen zu werden, und zum anderen, um die Erwartungen der Kirchen an Wissen und Glaubensfestigkeit der Täuflinge zu befriedigen. Diese Zeit lässt sich wie die geografische Distanz, die häufig zwischen dem jüdischen und dem christlichen Leben lag, als Zwischenraum bezeichnen. Er ist als Abschnitt im religiös-sozialen „Niemandsland“ und oft in der geografischen Fremde objektiv feststellbar. Neben den objektiven gibt es jedoch auch noch zwei Kategorien subjektiver Zwischenräume: die, die in den Schriften der Konvertiten, in Briefen und ähnlichen Texten konstruiert wurden, sowie die, von denen die Forschung der letzten zweihundert Jahre gehandelt hat. Wobei in diesem Zusammenhang von Räumen eigentlich gar nicht geredet werden kann. Denn in der Forschung wurden die Zwischenräume zwischen der jüdischen Welt, aus der ein Konvertit kam, und der christlichen, in die er eintauchte, eben weitgehend negiert. Dies hat zum einen damit zu tun, dass man sich die Grenze, die der Konvertit überschritt, ganz einfach als scharf gezogene Linie vorstellte. Ein Jude ist ein Jude und ein Christ ist ein Christ − und dazwischen gibt es nichts. Für die klassische kirchlich-missionsgeschichtliche Sichtweise der Konversionsforschung zählte allein die gewonnene Seele, d.h. der getaufte Jude, der nun im formalen Sinne ein Christ war. Und der ungetaufte blieb das, was er vorher war, ein Jude.6 Über die Zeit der Vorbereitung sprach man allenfalls in Zusammenhang mit dem dort stattfindenden Unterricht oder der Gewährung von Almosen; sie hatte kein eigenes Gewicht, war schon ganz christlich konnotiert. Die Perspektive der Konvertierenden wurde nicht eingeschlagen und damit die Problematik und die Bedingungen des Verweilens in einer sozialen Grauzone ausgeblendet. Erst durch die Forschungen der letzten zwanzig Jahre, die sich den sog. Konversionserzählungen zugewandt haben, d.h. den Schriften, die Konvertiten im Anschluss an ihre Taufe verfasst haben, ist die Zwischenphase stärker in den Blick geraten. Denn für die Konverti-

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ten und ihren verschriftlichten Prozess der Selbstvergewisserung und der Rechtfertigung stellt die Bewältigung der Übergangsphase einen wichtigen Klärungs-, Prüfungs- und Reifungsprozess dar.7 In den Selbstzeugnissen der Konvertiten tauchen also bevorzugt die subjektiven Zwischenräume auf; eher beiläufig kann man ihnen jedoch auch Informationen zu den objektiven Zwischenräumen entnehmen. Das Konzept des spatial turn öffnet nun den Horizont noch weiter, indem es den Raum der jeweiligen jüdischen Gesellschaft als sozial konstruiert begreift, und mit einbezieht, welche Position der potentielle Konvertit darin einnahm und welches sein Handlungsspielraum war. Gleiches gilt für die aufnehmende christliche Gesellschaft. Hier geht es mir jedoch vor allem um die Fokussierung des Zwischenraums als einer eigenständigen Größe, als Zeit, als Ort, als Wegstrecke, als Raum der Kommunikation und der Beziehungen, in dem sich der Konvertierende positioniert und bewegt, seinen Handlungsspielraum auslotet, in dem er wahrnimmt, wahrgenommen wird und agiert. Anhand von Einzelbeispielen werde ich solche Zwischenräume vermessen. Doch zuvor möchte ich noch einige einleitende Bemerkungen zum Konversionsgeschehen in der Frühen Neuzeit und zu seiner Erforschung machen. Konversionsforschung und jüdische Konversionen Während die Forschung zu den jüdischen Konversionen als Teil protestantischer Missionsgeschichte schon seit etwa 150 Jahren praktiziert wird und lange konzeptionell das Feld bestimmte, fragten jüdische Forscher seit den 1950er Jahren vor allem nach dem Ort der Konversion in den Antworten der jüdischen Gesellschaft auf die Moderne. Erst etwa seit gut zwanzig Jahren profitiert auch die Konversionsforschung von dem Boom lokaler und regionaler Forschungen zur jüdischen Geschichte, weist aber dabei wie diese gewisse konzeptionelle Defizite auf. Zu der ebenfalls seit einem guten Jahrzehnt intensivierten Forschung zu innerchristlichen Konversionen, die inzwischen eine Reihe innovativer Studien hervorgebracht hat, bestanden hingegen kaum Verbindungen. Im Rahmen von Tagungen und belegt durch Sammelbände kommt der Austausch zwischen beiden Forschungsrichtungen jedoch mittlerweile beiden Seiten zugute. Vergleiche sind allerdings nur begrenzt möglich: Zu unterschiedlich waren die Ausgangslagen

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beider Gruppen, die Motive und die Abläufe, was letztlich auch für die Frage nach den Zwischenräumen gilt.8 Freiwillige Übertritte von Jüdinnen und Juden zur christlichen Religion – und nur um diese soll es hier gehen – gehören in die lange Geschichte des Zusammenlebens von christlicher Mehrheit und jüdischer Minderheit. Der strukturelle Unterschied zwischen beiden Religionsgruppen, die Hoffnung auf rechtliche und soziale Vorteile auf Seiten der Juden sowie die flankierenden Hilfsangebote der christlichen Kirche(n) stellten den Angehörigen der Minderheiten-Religion eine Handlungsoption zur Verfügung, die in umgekehrter Richtung nicht bestand. Nur sehr wenige Christen wählten den Weg ins Judentum und riskierten damit ihr Leben. Und doch sind Konversionen von Juden zum Christentum Einzelfälle geblieben, die nur deshalb prominente Aufmerksamkeit erregten, weil die Konvertiten – nicht zuletzt von ihren Betreuern dazu angespornt – der jüdischen Gemeinschaft gegenüber ein höchst unheilvolles Wirken entfalteten. Seit dem Beginn der Frühen Neuzeit fand dieses überwiegend auf publizistischer Ebene statt. Die Haltung im aschkenasischen Judentum gegenüber Konversion und Konvertiten war – anders als im sephardischen Kulturraum, wo sich eine eher pragmatische Einstellung durchsetzte – extrem ablehnend. Der Getaufte galt im spirituellen Sinne als tot und im sozialen als der Verräter, der Feind schlechthin. Selbst in Zwangssituationen wie während der Kreuzzüge wurde der Tod für den Glauben (Kiddusch ha-Schem) höher angesehen als die Taufe.9 Auch wenn in den letzten zwanzig Jahren eine Reihe neuer Forschungen zum Thema Konversion vom Judentum zum Christentum erschienen ist, haben wir immer noch erst eine sehr ungenaue Vorstellung davon, wie der Verlauf der Entwicklung zu quantifizieren und zu interpretieren ist.10 Für das 18. Jahrhundert dominiert zum einen das Geschehen in Berlin das Bild, das von Deborah Hertz und Steven Lowenstein auf der Grundlage der bereits vorhandenen Datensammlungen gründlich analysiert worden ist.11 Zum anderen wissen wir dank der verdienstvollen Studien von Elisheva Carlebach und jüngst von Gesine Carl vergleichsweise viel über die relativ gebildeten jüdischen Männer, die nach der Taufe eine Konversionserzählung verfassten. Ihre Schriften zeigen uns, dass im Laufe des 18. Jahrhunderts die scharfe Konfrontation zwischen ihrem alten jüdischen und ihrem neuen christlichen Leben einer differenzierteren Selbstpositionierung auf

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dem Weg zwischen den Religionen Platz machte. Zudem wird in der zweiten Jahrhunderthälfte die Aussage immer deutlicher, dass es ihnen nicht so sehr darum ging, Mitglied einer christlichen Kirche zu werden als das Judentum zu verlassen. 12 Doch was ist mit dem Gros der Menschen, die sich zur Taufe meldeten und Unterstützung zum Lebensunterhalt benötigten? Trieb sie allein die soziale Not wie so oft behauptet? Hier sehe ich das größte Forschungsdefizit. Denn auch ihr Handeln sagt etwas aus über das Verhältnis zwischen jüdischer und christlicher Gesellschaft und über seine Zwischenräume. Wege − Orte − Zeiten: die objektiven Zwischenräume Zunächst möchte ich mich den mess-, zähl- und kartierbaren Zwischenräumen im Konversionsprozess zuwenden und auf Migration, Herkunfts-, Unterstützungs- und Tauforte sowie die Zeiträume zwischen Taufbegehren und Taufvollzug eingehen. Migration: Zwischen Taufbegehren und Migration besteht ein hoher, nicht nur statistischer Zusammenhang. Die meisten konversionswilligen Juden lebten nicht an dem Ort, an dem sie um die Taufe nachsuchten. Dies hat zwei Gründe: Angesichts der feindseligen Haltung der jüdischen Gemeinden gegenüber ihren Abtrünnigen konnte es keinem Taufgesinnten ratsam erscheinen, dort, wo er bekannt war, den Übertritt zu vollziehen. Nur aus der großen Gemeinde in Frankfurt am Main wie aus der in Hanau sind lokale Glaubenswechsel in nennenswerter Zahl überliefert13 − eine statistische Auffälligkeit, über deren Gründe weiter zu forschen wäre. Zum anderen rekrutierte sich eine hohe Zahl von Konversionsanwärtern aus der Masse der gerade im 18. Jahrhundert ohnehin vagierenden und migrierenden jüdischen Bevölkerungsgruppen. Sie hatten oft große Entfernungen zurückgelegt, wenn sie um die Taufe nachsuchten, und stammten aus dem gesamten aschkenasischen Raum. Vereinzelt finden sich auch Sefarden unter ihnen wie ein sefardischer fahrender Musikant aus Italien, der sich zusammen mit seiner jungen Frau, einer Frankfurter Jüdin, in Braunschweig um die Taufe bewarb. Vielfach scheint es, als sei nicht die Taufe der Anlass zur Überwindung der Distanzen, sondern ein Konversionsgesuch als Option eingebunden in das mögliche Handlungsspektrum eher unfreiwilliger vagierender Lebensweise.

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Orte: Herkunftsorte gehören nur dann zum Zwischenraum, wenn bereits hier ein Konversionsvorhaben angedacht oder vorbereitet wurde. Sie konstituieren dann zusammen mit den Wegen und dem Zielort den Zwischenraum. Für alle Konvertiten von Relevanz war hingegen der Ort, an dem der Taufwillige um Unterricht und Unterstützung nachsuchte, in einer Stadt, bei einem Pfarrer oder einer Institution. Hier fand meist auch die Vorbereitung statt, während der der Konversionsanwärter in der Regel dezentral untergebracht wurde. Ort des eigentlichen Übergangsrituals, der Taufe, ist dann die Kirche, die nicht selten als Schauplatz einer großen Inszenierung diente. Angesichts des derzeitigen Forschungsstandes kann man keine Karte zeichnen, auf der eine Verteilung der Konversionsorte weitere Aufschlüsse erlauben würde. Kristallisationspunkte bildeten sich jedenfalls an Orten aus, wo das Anliegen der Taufanwärter gefördert wurde wie in der 1667 gegründeten Edzardischen Jüdischen Proselytenanstalt in Hamburg oder an lokalen Anlaufstellen für Konversionswillige wie in Mainz und in Darmstadt, in Frankfurt und in Nürnberg; in Sachsen gab es eine kurfürstliche Stiftung. Das Institutum Judaicum in Halle organisierte zwar die pietistische Judenmission und veröffentlichte eine Vielzahl von Bekehrungsschriften, führte jedoch selbst keine Taufen durch.14 Dem italienischen Vorbild der Casa Catecúmeni, deren erste Mitte des 16. Jahrhunderts in Rom eingerichtet worden war, folgte im deutschen Raum wohl allein das 1576 gegründete Juliusspital in Würzburg. Hier sind von 1680 bis 1774 insgesamt 171 Taufen von Juden nachgewiesen.15 Inwieweit sich die dortige Missionspolitik und der Umgang mit den dort aufgenommenen Juden mit den italienischen Verhältnissen vergleichen lassen, wo zum Teil Gewalt und Zwang in beträchtlichem Umfang angewendet wurden, lässt sich beim derzeitigen Wissensstand nicht entscheiden. Dass gerade Institutionen wie die in Würzburg und in Hamburg Taufwillige angezogen haben, bei denen die sozialen Motive dominierten, scheint jedoch sicher. Zeiten: Ist es die deutsche Gründlichkeit, der intellektuelle Anspruch der protestantischen Geistlichkeit, der die Taufanwärter lange in der Schwebe und damit im religiösen Zwischenraum beließ? Je nach Vorkenntnissen und Intensität des Unterrichts konnte sich die Zeit zwischen Antrag und Taufe auf Monate und Jahre ausdehnen. Denn das zu absolvierende Programm war umfangreich, und die Kenntnisse mussten in anspruchsvollen Befragungen belegt werden.

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Innerhalb des Zwischenraums erschließen sich die zeitlichen Differenzierungen nur aus den subjektiven Quellen, den Supplikationen, Anhörungen und autobiographischen Texten. Nur hier wird ein Blick möglich auf die erste, verborgene Phase des Zwischenraums, in der sich die Person innerlich mit dem Gedanken an eine Konversion auseinandersetzte. Nicht selten ist sie begleitet von schweren inneren Kämpfen und heimlichen Handlungen oder dem unangekündigten Verschwinden wie im Falle des Selig Wolff, der als Paulus Georgi Jahrzehnte nach der Taufe einen autobiographischen Lebensbericht verfasste. Ausgelöst durch theologische Diskussionen mit einem Katholiken und einer intensiven Lektüre relevanter Bibelstellen verließ er 1773 seine Frau, die mit dem ersten Kind schwanger war. Obwohl in gesicherten Verhältnissen lebend machte er sich auf eine spirituelle Suche nach dem richtigen Ort für seine Taufe. Auf dem Weg dorthin führte er ein Doppelleben: Er ließ sich in Münster vom Landesrabbiner als Schächter approbieren, um sich dann eine entsprechende Stelle in einer Gemeinde suchen zu können. Unmittelbar darauf betrat er den katholischen Dom und betete dort. In Vreden im katholischen Westmünsterland ließ er sich von der jüdischen Gemeinde anstellen, suchte sich unter der Hand einen geeigneten Pfarrer für den Taufunterricht und gab seinen Posten in der Gemeinde erst dann auf, als dieser ihn nach einer ausführlichen Anhörung als Taufkandidaten annahm.16 Christian Treu, mehrfach getaufter Jude aus dem ostfriesischen Weener, schaffte den Weg aus dem Zwischenraum überhaupt nicht mehr: Sein Leben war geprägt durch Entwurzelung und große Mobilität, möglicherweise ausgelöst durch den Verlust seiner Familie. Er lebte eine Zeit lang im mitteldeutschen Raum, dann im Rhein-Main-Gebiet und wurde schließlich im badischen Breisach der Mehrfachkonversion überführt und 1728 hingerichtet. Nach jeder Konversion war er letztlich und trotz einer abgeleisteten Kirchenbuße wieder in die jüdische Gesellschaft zurückgekehrt − starb jedoch dann als Christ.17 Kommunikation und Beziehungen Als zweite Ebene in der Konstituierung von Zwischenräumen, die ich oben als subjektiv bezeichnet habe, ist die Konstruktion von Grenzen und Beziehungen in den Äußerungen der Konvertiten anzusehen. Nur der Konvertit selber ist Zeuge und vielleicht schreibender Beobach-

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ter des gesamten Prozesses, hat sich mündlich artikuliert (festgehalten in Protokollen und Berichten) oder schriftlich um Taufunterricht beworben, in Briefen sein Handeln gerechtfertigt oder seine Interessen vertreten oder als Christ die Richtigkeit seines Handelns und die Überlegenheit der christlichen Religion beweisen wollen (Konversionserzählungen). An drei Fallbeispielen, je eines aus dem 16., dem 17. und dem 18. Jahrhundert, soll das näher vorgestellt werden.18 Der 32jährige Jordan stammte aus Dassel im Herzogtum Braunschweig-Calenberg. Der Vater Isaak hatte die Familie verlassen und war in Prag gestorben; die gesamte Verwandtschaft der mütterlichen Seite wohnte jedoch im Lande, darunter die konvertierte Großmutter sowie die ebenfalls getaufte Schwester Anna. Jordan lebte einige Jahre in Polen und stand in Diensten eines Edelmanns, für den er als Glaser tätig war. Dieses Handwerk hatte er in Dassel gelernt. Nach seiner Rückkehr hatte er begonnen, christliche Gottesdienste zu besuchen, und sich vom Judentum losgesagt. Pastor und Schulmeister in Dassel bestätigten dies und werteten es zusammen mit seinen fleißigen Gebeten als Zeichen seiner Ernsthaftigkeit. Im August 1585 wurde Jordan in Anwesenheit des Herzogs vor dem Spezialkonsistorium vernommen, man holte weitere Erkundigungen über ihn ein und akzeptierte schließlich im Dezember sein Anliegen. Ihm sollte ein Lehrwerk gegeben werden zum Selbststudium und eine Woche vor der Taufe wollten ihn die Kirchenräte abschließend noch selbst unterrichten. Der Herzog genehmigte die öffentliche Taufe in Helmstedt. Von finanzieller Unterstützung ist nicht die Rede, vielmehr scheint Jordan sich von seinem Handwerk ernährt zu haben. Jordan, dessen Ziel es sein musste, sein Anliegen, Christ zu werden, möglichst glaubwürdig zu vermitteln, reduzierte in seinen Aussagen sein jüdisches Leben bzw. seine jüdischen Beziehungen auf ein Minimum: Lediglich Vater und Mutter werden kurz erwähnt. Sein Leben in Polen, in dem er mögliche Kontakte zur jüdischen Gemeinde völlig ausspart und auch seine dann verstorbene Frau zunächst nicht erwähnt, schildert Jordan als isoliert. Nur mit dem katholischen Edelmann scheint ihn, so seine Darstellung, ein engeres Verhältnis verbunden zu haben, das diesem die Gelegenheit gab, ihn immer wieder zur Taufe zu ermahnen und ihn mit in die katholische Kirche zu nehmen. Vom entscheidenden Schritt hielt ihn nur ab, dass die „Papisten“ entgegen dem Gesetz Mose vor Holz und Stein niederknien. Vielleicht war es wirklich der Grund für sein Zögern, denn die Entdeckung, dass

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es die Protestanten in seiner Heimat anders hielten, klingt fast überrascht. Und nun knüpft er gezielt neue Beziehungen, um sein latentes Anliegen „Taufe“ Realität werden zu lassen. Soziale Räume am Rande der jüdischen Gesellschaft, geografische und zeitliche Zwischenräume sind an seinem Fall abzulesen. Und er konstruiert bereits die Zwischenräume so, dass sie einen möglichst christlichen Charakter haben. Der 23jährige Claus verfasste viereinhalb Monate nach seiner Taufe im April 1694 ein Sendschreiben an seine Eltern, Geschwister und Blutsverwandten, das noch im gleichen Jahr in Nordhausen gedruckt wurde. Er klärte darin seine Eltern über sein Verschwinden auf, begründete seine Konversion und schilderte den Ablauf der Vorgänge, seitdem er sein Elternhaus verlassen hatte. In Wittlich geboren wurde ihm eine gründliche jüdische Ausbildung zuteil, bevor er das Schlachterhandwerk erlernte. Etwa ein Jahr vor seiner Taufe ging er zur Vertiefung seiner Kenntnisse und Fertigkeiten zu Verwandten in die Niederlande. Diese lebten in Loo und versorgten die dortige Hofküche. Als Daniel mit einem Auftrag um die Jahreswende 1693/94 alleine unterwegs war, beschließt er, sich einen Ort zu suchen, um sich genauer über die christliche Religion informieren zu lassen. Er meldet sich in Osnabrück bei zwei Pfarrern, setzt anschließend in Osterode seinen Unterricht bei dem Generalsuperintendenten von Grubenhagen fort und wird schließlich in der dortigen Schloßkirche St. Jacobi in einer mehrstündigen Zeremonie und vor einer großen Anzahl von Zuschauern getauft. Als Taufzeugen und Paten fungieren Bürgermeister und Ratsherren als Vertreter der Stadträte von Osterode, Clausthal und St. Andreasberg, die in Anspielung auf die Städtenamen für den Täufling den Namen Claus Andreas von Osteroda wählen. Der Lauf der Ereignisse, die Claus darstellt, v.a. die Hilfe der verschiedenen Pfarrer, dann aber auch seiner Taufzeugen und -paten bindet ihn ein in die neue Welt und bietet ihm ein tragendes Gerüst für seine Zukunft. Auch nach der Taufe findet er wieder einen Pfarrer, der ihn unterstützt, während die Taufpaten sich nicht nach einem Patengeschenk verabschieden, sondern aus Fürsorge für seine religiöse und moralische Entwicklung aktiv für seine Entlassung aus dem Heer Sorge tragen und ihm eine Ausbildungsstelle vermitteln, für die sie das Lehrgeld übernehmen. Auch Claus nimmt auf seine jüdische Welt im weiteren Sinne keinen Bezug, erwähnt nur kurz die Verwandten in den Niederlanden. Zu seinen Eltern jedoch, dann auch Geschwistern und Verwandten knüpft

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er die Beziehung wieder neu, nachdem er sie abgebrochen hatte. Neben seinem missionarischen Ziel – „forschet die Schrift selber“ (S. 33) – verfolgt er abschließend ein versöhnendes Anliegen: „Ach! Herzliebste Eltern, hört auf mich darum zu hassen und anzufeinden, dass ich das unnutze Joch Talmudischen Traumwesens oder Menschentands abgeworffen.“ (S. 33) Damit kreiert er einen neuen, interreligiösen Zwischenraum, in dem die verwandtschaftliche Beziehung stärker wiegt als die religiöse Differenz. Doch: Wie effektiv konnte ein auf Deutsch geschriebenes und gedrucktes Büchlein im jüdischen Milieu sein? Waren Claus’ Eltern, Geschwister und Verwandte überhaupt in der Lage es zu lesen – selbst wenn sie es tatsächlich wollten? Stand hier nicht doch ein generelles missionarisches Anliegen im Vordergrund? Der dritte Proband machte ebenfalls religiöse Zweifel geltend, die ihn bewegten, sich 1752 in die Obhut des in Helmstedt lehrenden Konvertiten Carl Anton zu begeben: „das es bereidt über ein Jahr ist, das mich die offter Lehsung der heiligen schrift, die falschheit der Jüdischen und einige Wahrheiten von der Christlichen religion endeckte“. Daneben ging es ihm um sein Seelenheil: „waß ich da bey in ansehung meiner familie an guthem, verlust meine zährtlich liebende fraue und kündren ein bieße, kann gegen Ewige wohlfahrten, die ich dabei gewinne nicht estomiren“. Philipp, ein 24-jähriger Familienvater mit vier kleinen Kindern, lebte als Sohn des Kammeragenten Alexander David in Braunschweig in einer privilegierten Position. Er hatte sich bereits erfolgreich als Kaufmann etabliert. Ende Oktober 1752 schrieb Philipp Alexander David von Helmstedt aus an den Hofrat Schrader von Schliestedt, teilte ihm mit, dass er gesinnt sei Christ zu werden, und bat ihn um Versiegelung seiner Effekten in seinem Haus in Braunschweig. Seine Absicht war, Besitz und finanzielle Ansprüche zu sichern, bevor die Nachricht von der bevorstehenden Taufe sich herumsprach und die von Seiten der Familie zu befürchtende üble Nachrede seinem „Kredit“, d.h. seinem Ruf als Kaufmann, schweren Schaden zufügte. Zurück in Braunschweig ging Philipp im Januar 1753 an die konkretere Vorbereitung der Taufe, während der Hofrat weiter für seine Unterstützung durch den Herzog und seine Administration sorgte, u.a. durch einen Kredit, der Philipp in die Lage versetzte, seine Gläubiger auf einen Schlag zu befriedigen und damit seine Liquidität unter Beweis zu stellen. So sicher Philipp aus Helmstedt trotz aller zu erwartenden Hindernisse nach der Überzeugungsarbeit Carl Antons in seinem religiösen

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Anliegen klang, „dass Jesus von Nazareth der wahre Messias und einziger Seeligmacher ist“, sollte er nicht bleiben. Im April 1753 – noch immer ungetauft – unterrichtete er Vater, Schwester und Schwager in Braunschweig davon, auf ewig im Judentum verbleiben zu wollen, und verließ dann die Stadt seiner Geschäfte wegen. In Amsterdam widmete er sich jedoch nicht nur geschäftlichen Anliegen, sondern nahm wohl auch eine Zeremonie oder individuelle symbolische Handlungen als Bekräftigung seiner endgültigen Rückkehr zum Judentum vor. Amsterdam war der Ort dafür. Nach der Aussöhnung mit seiner Frau und seiner Familie sowie der Abwicklung seiner Geschäfte siedelte Philipp Alexander David mit seiner Kleinfamilie nach Altona um und baute sich dort, wo es im Gegensatz zu Braunschweig eine große jüdische Gemeinde gab, ein neues, dauerhaft jüdisches Leben auf. Zu einem unhinterfragten, traditionellen Judentum kehrte er im Zeitalter der Aufklärung allerdings wohl nicht mehr zurück. Die Korrespondenz Philipps, die aufgrund ihrer eigenwilligen Orthographie z.T. selbst verfasst scheint, zeigt ihn in einem Beziehungsnetz, das von vornherein in die jüdische wie die christliche Gesellschaft reichte. Die soziale Grenze stimmte mit der religiösen nicht mehr überein, es gab in der aufgeklärten Hauptstadt des Territoriums so etwas wie eine säkulare Beziehungsebene. Philipp brauchte also Kontakte zu Christen nicht erst zu konstruieren, vielmehr wird die bestehende Verbindung intensiviert, so etwa, wenn Philipp den Hofrat verschiedentlich als seinen „Vater“ anredet und dessen politischen Einfluss funktionalisiert. Dabei stehen v.a. säkulare Anliegen im Vordergrund, die Hilfe, die nötig ist, um wirtschaftlich zu überleben, und eher selten die Unterstützung des religiösen Vorhabens. Seine jüdischen Beziehungen antizipiert oder konstruiert Philipp in seiner Korrespondenz als krisenhaft und gefahrbringend. Die Feindseligkeit seiner Familie, der Scheidungswunsch seiner Frau, der Abbruch aller Geschäftsbeziehungen von Juden, trifft ein wie vorausgesagt. Differenzierungen in der jüdischen Welt zeigen sich erst in dem Moment, als Philipp zurückzieht: Frau und Vater verschärfen die Maßnahmen gegen ihn weiter, während Schwester und Schwager eher bereit sind, die alten Beziehungen wieder aufzunehmen und ihm auf der Grundlage familiärer Ethik zu helfen. Der Fall von Philipp Alexander David offenbart eine komplexe Konstruktion gemeinsamer und getrennter Zwischenräume zwischen

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Judentum und Christentum, weil die klare, alle gesellschaftlichen Bereiche durchziehende Dichotomie aufgebrochen ist. Ein geografischer Zwischenraum entsteht erst nach dem Widerruf, während der soziale von vornherein auf einer säkularen Ebene offen zur christlichen Welt sich gegenüber der jüdischen abschließt. Die neue Öffnung nach dem Widerruf gestaltet sich schwierig. Am Beispiel Philipp Alexander Davids geben die Braunschweiger Quellen Auskunft über die Verschiebungen im Verhältnis zwischen jüdischer und christlicher Gesellschaft in den Kreisen der ortsansässigen Oberschicht, die sich ihre Verfahren letztlich individuell gestaltete. Ähnlich individuell konnte auch Philipps Stiefbruder Herz zwanzig Jahre später über seinen Konversionsprozess bestimmen, der sich über fünf Jahre hinzog. Teilräume −Teilzwischenräume Zur gleichen Zeit beleuchtet ein anderes Quellenkorpus jedoch das Verfahren für „normale“ Konversionsanwärter in Braunschweig, die von auswärts kamen und auf Unterstützung angewiesen waren. Auch sie eröffneten einen Zwischenraum mit ihrer Entscheidung zur Konversion, der durch Wege und Orte strukturiert ist und in der Kommunikation und in Beziehungen konstruiert wird. Da diese Quellen eine gender-sensitive Herangehensweise ermöglichen, werde ich mich nun auf die Suche nach den Zwischenräumen im Konversionsprozess weiblicher Aspirantinnen konzentrieren.19 In zwei Akten der kirchlichen und der städtischen Überlieferung finden sich 46 Personen, die − anders als der Hofjudensohn Philipp Alexander David − als Vorbereitung auf ihren Übertritt vom Judentum zum Christentum zwischen 1733 und 1794 um Unterricht in Religion sowie in Lesen und Schreiben bitten und dazu Unterstützung für den Lebensunterhalt benötigen. Supplikationen sind ebenso erhalten wie die Protokolle der Befragungen, die zunächst der Superintendent und dann der städtische Sekretär zur Überprüfung der Glaubwürdigkeit vornahm. Unter den Taufwilligen sind 14 Frauen oder Mädchen, d.h. etwa 30 %, darunter eine junge, kinderlose Ehefrau und zwei Töchter ohne Mutter; eine der befragten Frauen war schwanger. Innerhalb des Zeitraums von 1733 bis 1794 sind die Konversionsgesuche sehr ungleich

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verteilt: Das Gros (91 %) findet sich in den Jahrzehnten zwischen 1750 und 1780, und in diesem Zeitraum gibt es noch einmal einen Gipfel zwischen 1767 und 1773, in dem fast die Hälfte (48 %) aller Anträge gestellt wurde. Ein Unterschied zwischen der zeitlichen Verteilung der Gesuche insgesamt und der der Frauen ist nicht festzustellen. Aus den Einzelfällen geht jedenfalls hervor, dass die Konversionswilligen in dieser Zeit nach einer kurzen Befragung und der Feststellung ihres Unterstützungsbedarfs relativ leicht Unterstützung erhalten konnten. Dies könnte sich herum gesprochen und weitere Bewerber angelockt haben. Auch für auswärtige Obrigkeiten scheint Braunschweig ein geeigneter Anlaufpunkt für Konversionswillige im norddeutschen Raum gewesen zu sein. Denn einem aus Dresden stammenden Taufbewerber wurde 1772 in Bremen geraten, sich wegen seiner Taufe nach Hamburg, Braunschweig oder Halle zu wenden. 1768 wird in einer herzoglichen Verordnung das Verfahren genauer geregelt: Bislang hatte der Prediger, an den sich ein Konversionswilliger wandte, direkt mit dem Konsistorium über Unterstützung verhandelt. Nun stellte man fest, dass zu viele Proselyten, sobald sie getauft seien, in ein „unordentliches leben“ fielen, weil sie vor ihrer Taufe keine berufliche Perspektive entwickelt hatten, und einige wieder in ihre vorigen „Irthumer“ zurückfielen. Der Herzog verlangte, dass bereits im Vorhinein geklärt werden sollte, wovon der Proselyt zu leben gedächte, bevor dann der Geheime Rat eine Entscheidung treffen sollte. Vier Jahre später folgt eine weitere Verordnung, nun ist explizit von Betrügern die Rede. Der Herzog gab dem Magistrat auf, den Taufbewerbern genauer auf die Finger zu schauen: „Es melden sich seit einigen Jahren hieselbst viele Juden, die den Unterricht in der christlichen Religion verlangen und nebst dem nöthigen unterhalt auch bis hieher erhalten haben. Wir sind auch fernerhin nicht gemeinet, solche leute abzuweisen. Da aber so viele derselben durch ihr nachheriges verhalten bezeigen, dass sie betruger und es ihnen um die christliche Religion nicht, sondern nur um die Unterhaltung auf eine zeitlang zu thun gewesen, so verfodert die Nothdurfth, dass solche leute erst einigermassen bescheinigen, dass sie es redlich meynen, und sich bis hieher unsträflich aufgefuhret, auch gut ursachen haben, warum sie nicht an dem orte oder in dem lande, aus welchem sie geburtig sind, zum Christenthum gebracht zu werden suchen.“

Der Magistrat wurde beauftragt, die Kandidaten genau zu prüfen, und bestimmte den Sekretär Mahner dazu, die Befragungen vorzunehmen.

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Dass die Anzahl der Taufbewerber nach 1773 deutlich zurückging, dürfte mit dieser Verschärfung der Bedingungen zum Erhalt einer Unterstützung zusammen hängen; unter den in den Akten dokumentierten Fällen finden sich nun auch solche, bei denen die Taufbewerber abgewiesen wurden. Auch vor 1772 fand in der Regel schon eine Befragung der Konversionsbewerber statt, deren summarischer Niederschrift wir die wichtigsten Informationen verdanken. Sie wurde von dem Superintendenten vorgenommen. In der Regel wohnten die Taufbewerber bei einem der Wirte der Stadt; die Unterstützung, die sie erhielten, war zur Finanzierung von Kost und Logis gedacht, viele Bewerber erhielten auch Kleidungsstücke, daneben Bibel, Katechismus und Gesangbuch. Für die Kosten kamen das Armen-Direktorium sowie die fürstliche Klosterkasse auf. Die Konvertierenden versprachen regelmäßig, während der Zeit des Unterrichts nebenbei noch Geld verdienen zu wollen, etwa durch Handarbeiten. Viele Bewerber stammten aus weit entfernten Gegenden, wobei die größeren Distanzen von Männern genannt wurden: Hier sind Livorno, Wien, Mähren, Böhmen, Schlesien und Polen zu nennen; eine junge Frau war aus Königsberg gebürtig. Die übrigen Frauen hatten Entfernungen von max. 400 km zurückgelegt, mehrere unter ihnen kamen aus den Gebieten des süddeutschen Landjudentums, darunter jedoch bezeichnenderweise nur eine, die wirklich vom Lande stammte. Bei der nun folgenden genaueren Betrachtung der Taufbewerberinnen lasse ich die beiden Kinder und die junge Ehefrau des fahrenden sefardischen Musikanten aus Livorno außen vor, da sie nach dem vorläufigen Befund keine eigenständige Entscheidung für die Konversion getroffen haben. Die verbleibenden 11 Frauen sind alle allein stehend und vor Ort von Unterstützung abhängig, selbst wenn sie andernorts noch über Ressourcen verfügen oder aus einem Milieu stammen, das ihnen den Unterhalt sichern könnte. Eine Frau ist älter als dreißig, eine älter als sechzig Jahre, die übrigen sind zwischen 17 und 29 Jahren alt − eine ganz typische Altersverteilung. Unter den Bewerberinnen der 1760er und 1770er Jahre finden sich mit einer Ausnahme ausschließlich Dienstmägde, während zuvor und in den 1790er Jahren das Spektrum breiter ist. Allerdings wurde bei den frühen Befragungen die Tätigkeit der Frauen nicht thematisiert. Was die Perspektiven der Frauen, für ihren Lebensunterhalt nach der Taufe zu sorgen anbelangt, braucht es nicht viel Phantasie: Ihnen al-

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len blieb mindestens kurzfristig gar keine andere Möglichkeit, als sich durch „dienen“ ihr Geld zu verdienen – und dessen waren sie sich unabhängig von ihrer Herkunft auch bewusst. Nur eine Bewerberin, die über ein kleines Kapital verfügte, artikulierte hier alternative Vorstellungen. Um nun einen Eindruck von dem sozialen Spektrum der Konversionsanwärterinnen zu bekommen, seien im Folgenden einige Fälle vorgestellt. Eine Jüdin kam 1752 mit ihrem Taufanliegen aus Hannoversch Münden und brauchte offensichtlich Unterstützung. Ihr Mann Mirel, der kein Schutzjude war, hatte sie verlassen. Ihr kürzlich geborenes Kind war gestorben, und sie hatte sich bereits von der jüdischen Gemeinschaft entfernt, indem sie ihr Kind lutherisch taufen ließ, möglicherweise, weil es illegitim geboren und der Vater ein Christ war. Ihren Taufwunsch begründet sie damit, ihre Seligkeit nicht verlieren zu wollen. Anders als diese namenlose Frau erfuhr Mele aus der Nähe von Marburg eine besondere Fürsorge. Denn ihr Konversionswunsch, der sie schon seit Jahren beschäftigte, schien von Grund auf überzeugend. Lapidar hält Superintendent Meyer 1756 in seinen Notizen dazu fest: Sie „kome zu uns um der seeligk[eit] willen, der liebe G[ott] hat es in die gedanken gegeben.“ Schon an ihrem Geburtsort hatte sie sich ein Vierteljahr unterrichten lassen, bevor ihr Vater und ihre Verwandten den weiteren Unterricht und die Taufe hintertrieben; auch ist sie nicht völlig mittellos, sondern hat bei einem Pfarrer in der Nähe ihres Geburtsortes 100 fl. in Verwahrung gegeben, mit denen sie nach der Taufe einen kleinen Handel eröffnen will. Schließlich hat sie, worüber sie selbst in ihrer Supplikation jedoch nicht spricht, eine „lahme Hand“ nach einem Schlagfluss, so dass sie nicht in der Lage ist, sich durch Handarbeiten etwas zu verdienen und ihre Wäsche zu pflegen. Auch Susanne Jacobs, Witwe eines Arztes, der bereits getauft war, aus Nijmegen gebürtig, aber in Magdeburg ansässig und 66 Jahre alt, hebt 1757 auf ihre Seligkeit ab. Sie hat Angst, ungetauft zu sterben und selbige zu verlieren. Zudem hat es in ihrem Umfeld bereits viele Taufen gegeben, neben dem Mann auch ihre drei Söhne, sie selbst spiele seit Jahren mit dem Gedanken. Die Identität Brunellas gibt 1771 Rätsel auf. Denn über ihre Familie, die van Geldern in Düsseldorf, weiß man relativ gut Bescheid und man kennt auch drei Frauen mit dem Namen Brunella. Eine Tochter

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namens Brunella, die um 1750 geboren wurde und deren Vater Hofjude war, wie sie angibt, ist jedoch nicht darunter. Die Männer, die eher in der ersten Hälfte des Jahrhunderts kurpfälzische Hofjuden waren, lebten 1771 bereits nicht mehr. Andererseits deutet eine – anhand der Kenntnisse leicht überprüfbare − Angabe wie der Besuch einer christlichen Schule mit den entsprechenden Kenntnissen des Deutschen durchaus auf eine Oberschichtfamilie hin, auch die Verbindung zu der Familie des Hofrats Mahn, die den guten Ruf der Familie in Düsseldorf bestätigt. Zwei Deutungen bieten sich an: Eine junge Frau aus dem Umfeld der Familie van Geldern und mit entsprechenden Kenntnissen hat sich eine fremde Identität zugelegt; oder Brunella, Tochter des kurpfälzischen Hofjuden Lazarus, 1739 geboren und zu einem unbekannten Zeitpunkt schwanger mit einer illegitimen Tochter, versucht, mit unwahren Angaben kurzfristig Unterstützung zu erlangen. Der letzte, in die Jahre 1790/91 zu datierende Fall einer Konversionsaspirantin gehört mit Sicherheit in ein wohlhabendes Milieu. Dies dürfte auch ein Grund dafür gewesen sein, dass die junge Frau, die ebenfalls mittellos in Braunschweig ankam, abgewiesen wurde. Man empfahl ihr, es an einem anderen Ort zu versuchen. Die 19jährige Kiekel stammte aus einer wohlhabenden Kaufmannsfamilie in Dessau. Sie ist gebildet, kann Deutsch lesen und schreiben und beherrscht sehr gut die üblichen weiblichen Handarbeiten. Allein ein innerer Trieb veranlasse sie, zur christlichen Kirche überzutreten, denn Geld könne zwar glücklich, aber nicht selig machen. Sie habe schon vor fünf oder sechs Jahren angefangen, heimlich in geliehenen Bibeln und Gesangbüchern zu lesen und sei dadurch auf den Gedanken gekommen, zur christlichen Religion zu wechseln. Auch habe sie häufiger mit dem Buchbinder Lappe in Dessau, der ihr die Bücher lieh, über Religionssachen gesprochen, sei dadurch und besonders nach der Lektüre des Katechismus von der Wahrheit der christlichen Religion überzeugt worden. Ohne Zustimmung der Eltern und ohne Geld verlässt sie Dessau, möglicherweise ermutigt durch die Erfahrungen während einer Bäderreise, die sie zuvor gemacht hatte, und alarmiert durch ihre eingeschränkten Perspektiven auf dem Heiratsmarkt: Denn sie litt an gelegentlichen epileptischen Anfällen. Die 17jährige Magd Beyle von Bamberg hätte Kiekel um ihre Probleme wohl beneidet − die verwöhnte Tochter aus gutem Hause, die freiwillig ihr gesichertes Leben aufgibt. Die beiden jungen Frauen haben auf den ersten Blick nicht viel gemein. Bei näherem Hinsehen

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zeigt sich jedoch, dass es eben doch Gemeinsamkeiten gibt: Sich nicht ergeben in die Situation zu fügen wie sie ist, sondern selbst Einfluss zu nehmen, individuell nach dem eigenen Weg zu suchen. Ich möchte Beyle zum einen stellvertretend für die Mägde vorstellen, die mit sechs Fällen unter den Konversionsaspirantinnen dominieren, zum anderen, weil sie in besonderer Weise ein Bedürfnis nach Religiosität artikuliert, die sie als Jüdin nicht erfahren und leben kann. Bevor die fürstliche Regierung festlegte, in welcher Form Beyle unterstützt werden sollte, wurde auch sie im Dezember 1772 befragt. Sie gehörte zu den ersten Aspiranten, die nach dem neuen Verfahren durch den städtischen Sekretär und damit gründlicher und kritischer vernommen wurden. Nachforschungen nach dem Wahrheitsgehalt ihrer Aussagen sind jedoch weder für sie noch für die anderen Frauen zu belegen, sie scheinen nur bei Männern angestellt worden zu sein. Beyle gibt an, 17 Jahre alt zu sein, weiß ihr Alter jedoch nicht sicher, denn ihre Eltern seien schon lange tot. Der Vater habe sich mit Lederhandel in Bamberg ernährt und sei arm gestorben. Sie habe zwar zwei Schwestern, wisse aber nicht, wo diese sich aufhielten. Sie selbst sei nach dem Tod des Vaters anderthalb Jahre bei einer Verwandten in Altenkunstadt, danach ebenso lange bei anderen Verwandten gewesen. „Sie sei niemals in der Schule gewesen und habe nichts gelernt.“ Als sie gehört habe, dass „hier herum“, d.h. also in Norddeutschland, „gegen guten lohn zu dienen sei“, habe sie fünf Jahre als Magd in Hamburg gearbeitet, danach ein halbes Jahr in Braunschweig. Beyle wäre demnach bereits als Kind von wenig mehr als zehn Jahren auf eigene Initiative in Hamburg, also fern ab von ihren Verwandten in Dienst getreten. − So weit das nicht untypische Schicksal einer jungen Frau, die versucht, versuchen muss, sich ohne Familie und ohne schützendes soziales Netz durchzuschlagen, und dabei auch innerhalb der sesshaften jüdischen Gesellschaft ganz am Rande steht. Denn möglicherweise hat sie auch Hamburg nicht freiwillig verlassen, wo die Mägde einem rigiden Normensystem unterworfen waren, das bei den geringsten Verstößen ihre Entlassung aus dem Dienst und die Ausweisung aus der Stadt vorsah.20 Nicht nur sie, sondern auch eine andere Magd, die in Braunschweig um Taufe nachsucht, geben an, dass sie mit Pässen nach Hamburg gereist seien, die ihnen dort „abhanden“ gekommen seien. Es ist denkbar, dass Dienstherren oder gar die Gemeinde die Pässe des Dienstpersonals einzogen und diesen im Konfliktfall nichts anderes übrig blieb, als die Stadt ohne Pass zu verlassen.

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Jenseits dieser klassischen sozialen Situation wird Beyles Fall besonders interessant an der Stelle, wo sie danach gefragt wird, „Ob was Weise sie denn zu dem Entschluß gekommen, eine Christin zu werden.“ Denn sie antwortet dem Sekretär: „…Da bey den Juden die Gewohnheit wäre, dass kein unverheyrathete Frauenspersohn in die Synagoge käme und arme Juden Mägde gar keinen Unterricht in der Religion erhielten und auch nicht in die Synagoge kämen, so wüste sie anjetzt noch nichts von Gott und seinen Eigenschafften. Sie hätte daher die dienstboten der Christen, als sie wahr genommen, dass sie des Sontages in die kirche gingen, glücklich gehalten, dass sie Gott dienen könten. Ob sie nun zwar wohl wüste, dass man Gott dienen müsste, so hätte sie doch von seiner wahren Verehrung keine begriffe und wünschte deren näher unterrichtet zu werden. Weil sie nun keine hofnung hette ohne Geld bey den Juden in der jüdischen Religion Unterricht zu erhalten, so habe sie geglaubt, dass sie diesen Unterricht in der christlichen Religion erhalten könnte.“

Beyles Bitte um Unterricht und Unterhalt wurde gewährt. Etwa ein Jahr lang erhielt sie Stunden in Lesen und Schreiben, zuerst von einer Schulmeisterin und dann von einem Opfermann, insgesamt 344 Stunden. Der religiöse Unterricht wurde ihr von Pfarrer Hieronimi erteilt. Abgesehen von einer nicht bekannten Summe für Bibel, Gesangbuch und Katechismus kosteten Unterhalt und Vorbereitung der Konvertendin Beyle also insgesamt mehr als 70 RT, die aus der fürstlichen Klosterkasse bezahlt wurden. Es ist nicht allein die soziale Situation, die Beyle und andere veranlasst, dem Judentum den Rücken zu kehren. Denn tausende andere Dienstmägde und hunderttausende Vaganten wählten diesen Weg in vergleichbarer Situation nicht. Konversionsanwärter scheinen im Unterschied zu diesen ein Bewusstsein von der Veränderbarkeit ihrer Situation gehabt zu haben, wählten die Anmeldung zu Unterricht und Taufe als Handlungsoption zur unmittelbaren Versorgung und zugleich als Hoffnung für ein anderes Leben, als individuelle Chance für einen Wechsel. Vielleicht kann man die von vielen Kandidaten in ihren kurzen Begründungen des Taufwunschs als Ziel angeführte „Seligkeit“ als religiös verbrämte Umschreibung für diesen Wechsel im Leben verstehen. Dass es daneben Personen gab, die das Angebot der Unterstützung konversionswilliger Juden systematisch nutzten, um sich versorgen zu lassen und nach einiger Zeit zu verschwinden, ist unbestritten.

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Da das Leben von Frauen und ihre religiöse Rolle anders aussah als die von Männern, ist es nur natürlich, dass sich auch die sozialen Kontexte, die Handlungsmöglichkeiten und Begründungen der konvertierenden Frauen von denen der Männer unterschieden. Sie zeichnen sich, wie Jutta Braden für Hamburg festgestellt hat, durch eine geringere Mobilität, stärkere Abhängigkeit von sozialen Netzen und extrem beschränkte Subsistenzmöglichkeiten aus.21 Dieser Befund bestätigt sich auch in Braunschweig. Zudem haben Frauen im Schnitt eine geringere (religiöse) Bildung als Männer, auch in der Unterschicht und erst recht, wenn sie ohne Vater bzw. Eltern aufgewachsen sind. Wenn sie lesen können, dann nur hebräische Buchstaben. Eine eher intellektuelle Auseinandersetzung mit dem Christentum wie bei den Autoren der Konversionserzählungen scheidet bei ihnen also aus. Eine Ausnahme unter den hier vorgestellten Frauen bilden nur die, die aus wohlhabenden Familien stammen: Brunella will in Düsseldorf eine christliche Schule besucht haben, kann Deutsch lesen und schreiben; und Kiekel studiert vor ihrem Antrag Bibel und Katechismus, lässt sich davon wie von den Gesprächen mit einem Christen überzeugen. Alleinstehende und unverheiratete Frauen stehen ganz am Rande der jüdischen Gemeinde; sie haben keinen Ort in der Synagoge, keinen Ort für eine religiöse Praxis und allenfalls marginale Vorstellungen von ihrer Religion. Beyle, die junge Magd und Analphabetin, die sich schon als Kind alleine durchschlägt, vielleicht mit der Gemeindeführung in Hamburg in Konflikt gerät, artikuliert diese Situation für sich als ungenügend. Sie will sie verändern, möchte unterrichtet werden, etwas über die Verehrung Gottes erfahren, ein Vakuum füllen. In welcher Religion scheint eher zweitrangig, da sie beide nicht kennt. Sie sucht individuelle Veränderung. Fazit Der Zwischenraum der Konvertierenden ist eine Zeit dazwischen, ein Ort dazwischen, ein gesellschaftliches Dazwischen, der als Raum sui generis keine Berechtigung hat. Denn in ihm findet ein Übergang und Wandlungsprozess statt, der so radikal ist, dass er nur durch das Davor und das Danach definiert werden kann. In seiner Radikalität lässt er sich allenfalls mit heutigen Fragen der Geschlechtszugehörigkeit bzw.

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des Geschlechtswechsels vergleichen. Christian Morgenstern hat den Zwischenraum zum Raum aufgewertet, aus dem sich gar ein Haus bauen lässt. Vielleicht sollten wir es ihm forschungstaktisch nachtun? Lange hat die von der protestantischen missionsgeschichtlichen Perspektive geprägte Forschung die Fiktion aufrechterhalten, dass ein Konvertit den geschlossenen jüdischen Raum verließ, um durch die Taufe formal in den christlichen einzutreten. Lediglich ein Zeitraum der Vorbereitung, der schon ganz im Zeichen des Christentums stand, wurde als Zwischenraum in diesem Prozess gesehen. Nicht zuletzt die Konstruktion der Konversionsprozesse in den Konversionserzählungen hat zu dieser Deutung beigetragen. Erst die differenziertere Analyse der Konversionserzählungen in den letzten Jahren hat gezeigt, dass die Verwandlung vom Juden zum Christen nicht nahtlos erfolgte; doch erst den Autoren des 18. Jahrhunderts ist es möglich, dies auch auszusprechen. Der erste Schritt dazu ist die Integration des jüdischen Lebens in den autobiographischen Lebensbericht wie bei Claus Andreas von Osteroda und auch noch bei Paulus Georgi, die jedoch beide ihre gelungene Integration betonen – eine Tatsache, die sich kaum überprüfen lässt und fiktionsverdächtig bleibt. Andere Autoren wie der bislang nicht genannte Gottfried Selig lassen jedoch keinen Zweifel daran, dass auch nach der Taufe das Leben der Konvertiten von der Tatsache ihres Religionswechsels überschattet blieb, nicht zuletzt deshalb, weil viele Konvertiten schon allein durch ihre Namen als solche erkennbar blieben. Einige Zeugnisse sprechen auch dafür, dass Konvertiten sich zu einem eigenen Milieu zusammenfanden und z.B. innerhalb dieser Gruppe heirateten. Der Blick auf die Zwischenräume erlaubt es nun, nicht nur geographische und zeitliche Distanzen im Konversionsprozess in den Blick zu nehmen, zu vermessen und zu vergleichen, sondern auch die sozialen Räume (als Zwischenräume) zu berücksichtigen, seien sie nun subjektiv in den Schriften und Aussagen der Konvertiten selber oder heuristisch durch die Forschung konstruiert. So betrachtet, rekrutieren sich viele Konversionsanwärter bereits aus einem Raum am Rande der jüdischen Gesellschaft, in dem die Menschen aus verschiedensten Gründen nur noch partiell in diese integriert waren: Weil es in ihren Familien und in der Verwandtschaft bereits Konvertiten gab, weil sie als Vaganten außerhalb der ortsfesten gemeindlichen Organisation standen oder als Dienstmägde, illegitim Schwangere oder Körperbehinderte nicht bereit waren, sich mit dem ihnen nach dem Normensystem der jüdi-

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schen Gesellschaft zugewiesenen Platz abzufinden. Auch die Kritik an der eigenen Religion konnte eine ähnlich desintegrierende Wirkung haben. In der Realität für die Akteure erstreckt sich der Zwischenraum folglich weiter als zwischen der formalen Zäsur der Artikulation des Taufbegehrens und der Taufe selbst. Die Wegstrecke zur Aufnahme in den neuen Glauben fungierte dabei bereits als das, was die Mehrheit der Konversionsanwärter wohl anstrebte: eine Veränderung ihrer religiösen, spirituellen und sozialen Situation. In Abwandlung von Morgenstern: Ein Zwischenraum, hinaus zu schaun.

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Die Thematisierung paganer Religionen in der Frühen Neuzeit 1. Frühneuzeitliche Pluralisierung und die Thematisierung von Religion Vielfalt – das ist ein Charakteristikum der Frühen Neuzeit. Wir sind heute gewohnt, Vielfalt und Pluralität im wesentlichen als positive Attribute zu sehen. Das aber wäre ein Missverständnis: Pluralisierung bedeutet in der Zeit vom fünfzehnten bis zum achtzehnten Jahrhundert eher eine Bedrohung denn einen Segen. Das Aufbrechen einer Vielfalt von unterschiedlichen Konfessionen und Sekten nach der Reformation, von unterschiedlichen Welten nach der Entdeckung Amerikas, von alternativen intellektuellen Traditionen im Anschluss an den Renaissancehumanismus – all das wurde meist als Bedrohung der einen wahren Sicht auf die Welt angesehen.1 Natürlich gab es auch im mittelalterlichen Europa eine beeindruckende Vielfalt von Religionen und Traditionen, wie Michael Borgolte uns vor Augen geführt hat.2 Doch gewinnt diese Vielfalt, angereichert mit neuen Elementen, in der Frühen Neuzeit eine ungeheure Dynamik. Religionshistorische Phänomene wie die ‚Wiederkehr der antiken Götter‘ in der Renaissancekunst, die Begeisterung für eine prisca theologia, die angeblich von Hermes oder Zoroaster über Orpheus und Pythagoras bis zu Platon reichte, aber auch die Kenntnis von den Religionen der Neuen Welt sind in diesem Rahmen zu betrachten.3 Und nicht nur die Religion selbst stand im Zeitalter des Konfessionalismus unter Pluralisierungsdruck. Auch die entstehende gelehrte Beschäftigung mit Religion – oder sagen wir es vorsichtiger: mit religiösen Phänomenen4 – ist nicht jenseits der Pluralisierung anzusiedeln. Sie geschah mitten in der Dynamik von autoritativen Abgrenzungen gegen die „falschen“ und idolatrischen Glaubensrichtungen, selbst wenn diese Glaubensrichtungen längst nicht mehr existierten, wie die der alten Ägypter, Römer oder Griechen. Denn man wusste die Religionen der Inkas, der Mexikaner oder der Inder von diesen antiken Traditionen herzuleiten,5 und man witterte (etwa wenn man Protestant war) in der gegnerischen Konfession Überbleibsel antiken Aberglaubens.

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Sicherlich: Lebensweltlich gab es für die Europäer kein echtes und ernsthaftes Heidentum als wirkliche weltanschauliche Alternative; dazu war das Christentum viel zu präsent.6 Das hat auch Michael Stausberg richtig gesehen.7 Eher kann man die wenigen Intellektuellen, die eine neopagane Rhetorik im Munde führen, als Vorläufer der gegenwärtigen Patchwork- oder Individual-Religion ansehen. Auf einer gewissen (spielerischen, visuellen, künstlerischen, literarischen) Ebene war es möglich und zulässig, in heidnische Rollen zu schlüpfen und eine heidnische (Bild)sprache zu sprechen. Stausberg spricht zu Recht von einem „insulären Paganismus“.8 Nur manchmal ging das „Spiel“ mit dem Heidentum etwas weit, dann konnten begeisterte Humanisten wie Pomponio Leto und andere Mitglieder der Accademia Romana um 1500 des Heidentums angeklagt werden. Leto war so kühn, dass er sich vor Freunden „Pontifex Maximus“ nannte.9 Manchmal gab es auch von außen kommende Impulse, wie den aus dem untergehenden Byzanz importierten Neopaganismus Georgios Gemistos Plethons.10 Plethon hat das Projekt einer Wiederbelebung der antiken Religion im Kontext von Platonismus und „Zoroastrismus“ betrieben und damit auf Marsilio Ficino in Florenz gewirkt, und durch Ficino auf diverse andere Denker der Renaissance.11 So sehr Ficino selbst das Projekt christlich akkommodiert hat, konnte es doch immer pagan reaktiviert werden, etwa von Giordano Bruno, der den Hermetismus als Alternative des Christentums, als Ablösung des traditionellen „Götterhimmels“ gesehen hat.12 Als im Laufe des 16. und des frühen 17. Jahrhunderts die ersten Mythographen auftraten, die man als frühe Religionswissenschaftler ansehen kann, da waren es Leser von Ficino und Boccaccio, von Pico und Bruno – sozusagen von der Pluralisierung infizierte Denker. Aber es waren auch kritische Philologen in der Nachfolge von Valla und Erasmus. 2. Nichtprofessionalisierte Religionswissenschaft Die Transformation antiker Religionen in Objekte neuzeitlicher Wissenschaft ist ein weit langfristigerer Prozess gewesen als meist angenommen, und weit komplexer obendrein. Keineswegs beginnt Religionswissenschaft erst mit ihrer Professionalisierung im 19. Jahrhundert.13 Erstens ist es durchaus möglich gewesen, dass auch in einem

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nichtprofessionalisierten Rahmen sinnvoll über Religion geforscht werden konnte. Es ist nämlich zunächst einmal nötig zu sehen, wie – mit welchen Taktiken – Gelehrte vorgegangen sind, wenn sie zwar dem ihnen auferlegten Diskurs Tribut zollen mussten, aber nichtsdestotrotz sich Freiräume geschaffen haben, um „unparteiisch“ andere Religionen zu untersuchen. Man hat also die Vorphase der disziplinären Religionswissenschaft nicht einfach preiszugeben, sondern sollte stattdessen die diversen anderen disziplinären Rahmen untersuchen und in ihrer Wirkung auf die Forschung berücksichtigen. Denn natürlich ist es keineswegs so, dass es nicht früher schon eine intensive Beschäftigung mit Themen der heidnischen Religionen, mit Opferpraktiken und Gestirnkulten, mit Riten, Orakeln und Dämonenglaube gegeben hätte – all den Phänomenen, die wir von heute aus als religiöse Phänomene beschreiben würden. Nur sind es in der Frühen Neuzeit meist Theologen gewesen, oder klassische und orientalische Philologen, oder Antiquare, die sich mit diesen Dingen befasst haben. Da es keine disziplinäre Einheit dieser Studien gegeben hat, ist es freilich nicht ganz leicht, im Nachhinein auszumachen, in welchen Büchern und an welchen Orten man sozusagen besonders gut „Religionsgeschichte“ studieren konnte. Reichhaltiges Material über den antiken Orient fand man in Kommentaren zum Alten Testament, vor allem in „Observationes“ und Einzelstudien zu bestimmten Sachfragen. Gut war es auch, apologetische Abhandlungen über die „Idolatrie“ und den „Aberglauben“ der antiken Heiden oder auch Inder oder Mexikaner nachzuschlagen, und bei Kirchengeschichtlern lohnte es sich, die Ketzergeschichten anzuschauen, in denen die Vielfalt der spätantiken Kulte sichtbar wurde. Dann wird deutlich: Es gab auch innerhalb gegebener Rahmen Orte für Religionsforschung. Zweitens ist es heute nicht mehr unbedingt immer ein Vorteil, wenn Religionswissenschaft und Modernisierungstheorie enggeführt werden. Ich erinnere an die Krise der Modernisierungstheorie, und an die Versuche von Frühneuzeit-Forschern, den Teleologien von angeblicher Modernisierung zu entkommen. Heute versucht man eher, die Jahre zwischen 1500 und 1800 in ihrer Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen zu erfassen, mit ihrem Wechselspiel von Pluralisierungen und neuen Singularisierungen oder Autorisierungen. Daher kann der Blick auf frühneuzeitliche Religionsforschung es durchaus als Plus für sich verbuchen, jenseits einer engen Bindung an Modernisierungsoffensiven zu geschehen. Ohnehin hat man zu lernen, dass die Perspektivrich-

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tung von Religionswissenschaft vor allem im 17. Jahrhundert gerade nicht nach „vorn“, sondern nach „hinten“ gerichtet war. Wenn ich von „historischer Religionswissenschaft“14 spreche, so ist damit die Pointe mitgegeben, dass Religionswissenschaft vornehmlich historisierend verfahren ist. Selbst wenn der Anlass des Interesses die neuentdeckten Religionen in Amerika und Asien waren, so hat man sich ihnen genähert, indem man sie mit den Polytheismen der Antike verglichen hat. Die ägyptischen und syrischen Gottheiten, von denen sich das Alte Testament absetzt, waren das Modell und die historische Norm, an der alles Neue gemessen wurde. Der Leitdiskurs – selbst wenn er zuweilen nur ein Stellvertreterdiskurs war – fand über das antike Heidentum statt. Drittens schließlich wissen wir keineswegs, was die Frühe Neuzeit über Religion gedacht hat. Die große Masse der Theorien liegt in Vergessenheit, ungelesen und schon im 19. Jahrhundert kaum noch rezipiert. Das Fortschrittsbewusstsein, neue Kontexte und zunehmend auch die Sprachbarriere hat dieses Wissensgut absinken lassen. Das kann dann die Wirkung haben, dass Entdeckungen neu gemacht werden, die eigentlich schon alt sind. Um ein Beispiel zu nennen: Als Abraham Geiger 1833 seine Dissertation Was hat Mohammed aus dem Judenthume aufgenommen? veröffentlichte – eines der Gründungsdokumente der entstehenden Islamwissenschaft – gab er zu, nicht viel an orientalistischer Literatur gelesen zu haben. So hat er etwa David Mills Abhandlung De Mohammedismo ante Mohammedem aus der Mitte des 18. Jahrhundert schlichtweg nicht gekannt, in der viele mögliche jüdische Quellen für den Koran diskutiert werden, und die selbst wiederum auf zahlreichen islamwissenschaftlichen Schriften des 17. Jahrhunderts fußt.15 Worüber all die lutherischen und calvinistischen Islamwissenschaftler in ihrem Kleinschrifttum damals diskutiert haben, weiß heute kein Mensch mehr. Ein anderes Beispiel: die klassische Philologie des 19. Jahrhunderts ist berühmt für ihre „Sachkritik“, ihre Rekonstruktion antiker religiöser Institutionen aus Münzen und Inschriften. Aber im späten 17. Jahrhundert schreibt bereits ein Antonius Van Dale über religiöse Spezialisten wie unterschiedliche griechische Orakeldiener und Priesterkollegien auf der Basis von genauen Münzvergleichen, Inskriptionen und Textpassagen.16 Ob ein Theodor Mommsen selbst noch Van Dales Dissertationes gelesen hat, weiß ich nicht – falls ja, war er eher die Ausnahme. Heute werden Studien wie die Van Dales jedenfalls erst recht nicht mehr in der Diskussion wahrgenommen.

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Natürlich ist die Vergessenheit auch ein Segen, denn die Textmenge von sozusagen religionswissenschaftlichen Schriften der Frühen Neuzeit ist ungeheuer. Hier ist ein Wald, ein Urwald von tausenden und zehntausenden kaum mehr gelesenen Büchern und Abhandlungen, ein Dickicht von schwer zugänglichen lateinischsprachigen Werken. Doch können wir es uns leisten, diesen Urwald nicht zur Kenntnis zu nehmen?17 3. Thematiserungsformen des Paganen Schon immer taten Mythographen gut daran, sich vor ihren Lesern vorab zu entschuldigen, wenn sie von heidnischen Göttern sprechen wollten.18 In der nichtprofessionalisierten Religionswissenschaft der Frühen Neuzeit war dies unabdingbar. Lelio Giraldi beginnt seine umfassende De deis gentium varia et multiplex historia von 1548 mit der Ankündigung, man möge seinem Bericht von den „superstitiones“ der Alten nicht den Vorworf der Gottlosigkeit machen, und er betont: „unus inquam, unus Deus est […].“19 Mythographische „Historia“ im Sinne Giraldis stand in einer langen Tradition, die mit den spätantiken und mittelalterlichen Texten von Fulgentius, Albricus, Phornutus, Palaephatus usw. anhebt,20 vor allem aber seit Boccaccio neue Gestalt gewonnen hatte. Boccaccio hat seine Mythographie als „Genealogia Deorum“ bezeichnet, und deutet damit an, dass die Abkunft und Verwandtschaft der antiken Götter für ihn das Leitprinzip darstellt, mit dem er Ordnung in die verwirrende Vielfalt der Überlieferungen zu bringen gedenkt.21 „Genealogie“ ist eine vergleichsweise neutrale Semantik, wenn man vom Paganismus spricht; andere Semantiken, die zur Verfügung standen, waren die von der „superstitio“ der Alten, die von der „idololatria“, und schließlich die von den „fabulae“. Das „fabulöse“ Element zu betonen, war manchmal ganz angebracht, wenn man seine Rechtgläubigkeit herausstellen wollte, und so macht der Lyoneser Jesuit François Antoine Pomey es in dem Titel seines Werkes von 1659 denn auch ganz klar: die „fabulosa deorum historia“ nimmt das „fabulosa“ mit in den Titel.22 Es geht also – das wird damit suggeriert – in der Mythographie um nichts weiter als um die Erfindungen menschlicher Phantasie. Auf der anderen Seite aber konnte diese Entschuldigungsgeste dazu führen, dass die Betätigung des Mythographen in der Konkurrenz mit

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ernsteren Wissenschaften wie der Jurisprudenz oder der Naturwissenschaft als belanglos eingestuft wurde. Man erkennt Spuren von dieser Konkurrenzlage unter den Gelehrten, die sich um einen Patron scharten, wenn Girolamo Aleandro d.J., Philologe und Antiquar in Rom, sich in einer Dedikation an Kardinal Odoardo Farnese gegen den Vorwurf wehren muss, seine Beschäftigung mit den heidnischen „Fabeln“ sei nur eine müßige Spielerei, eine „res ludicra“. Aleandro versucht, die Initiative zurückzugewinnen und offensiv zu werden, aber nicht, indem er Mythographie bewusst als launisches Spiel betreibt, sondern indem er den unterliegenden Ernst herauskehrt. Man könne genausogut den Spieß umkehren, sagt er, und allem anderen vorwerfen, es sei nur ein Spiel, was sich nicht auf den höchsten Schöpfer aller Dinge richte.23 Genau damit beschäftige sich aber sein Buch, die Antiquae tabulae marmoreae […] explicatio von 1616. Das war die andere mögliche Strategie: nicht die Unterschiede zum Christentum zu betonen und die heidnische Religion als Fabelwerk herunterzuspielen, sondern ihre Gemeinsamkeiten mit dem christlichen Monotheismus hervorzuheben. Dazu eignete es sich besonders, wenn man, wie Aleandro in seinem Buch, sich mit der Sonne beschäftigte. Denn in der Sonnenverehrung sah man in jenen Jahren – insbesondere in Rom – gern die Spuren eines esoterischen Monotheismus bei den antiken heidnischen Völkern. Und wenn man so offensiv vorging, dann konnte man es sich leisten, am Ende der Dedikation noch mit einem Seitenblick auf Galileis Werk Delle Macchie Solari, das zwei Jahre zuvor von der „Accademia de Lincei“ veröffentlicht worden war, die süffisante Bemerkung fallenzulassen: „Die Menschen sind in dieser Zeit so lynceisch [scharfsichtig], dass sie sogar in der Sonne Flecken sehen. Warum soll nicht auch ich in meinen Schriften von der Sonne sprechen?“24 Im Klartext: wenn Federico Cesis Akademie eine Beschäftigung mit der Sonne sponsert, warum dann nicht auch die Farnese?25 Die Spannbreite zwischen Spielerei und tiefstem religiösen Ernst war gewaltig; zumindest scheint sie uns heute so, auch wenn der concettistische Geist in den römischen Akademien und die umfassende Breite des barocken Katholizismus – insbesondere unter den Barberini – sie für die Zeitgenossen nicht immer so fühlbar werden ließ. Wer hier die Kategorien „historia sacra“ und „historia profana“ in Anschlag brachte, hatte scharf zwischen dem Zugang zur Erkenntnis durch natürliches Wissen oder durch Offenbarung zu unterscheiden. Das ließ sich allerdings wieder dadurch aufweichen, dass man „vestigiae“

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(Spuren) der Gotteserkenntnis auch bei den Heiden aufspürte. In der Renaissance waren daher die Sybillen, Hermes Trismegistos oder Orpheus als Repräsentanten einer „prisca theologia“ in großen Ehren gehalten worden26; an diese Tradition konnte sich auch noch Aleandro halten, obwohl seit dem späten 16. Jahrhundert mehr und mehr Kritik an ihr aufgekommen war. 4. Die falsche Religion: Idolatrie Jenseits von „genealogia“, „fabula“, „superstitio“ und „prisca theologia“ ist das entscheidende Wort für eine pagane Religion in der Frühen Neuzeit „idololatria“. Heidnische Religion ist falsche Religion, ist Götzenanbetung. Das Idolatrie-Verbot ist in der jüdischen und dann auch in der christlichen Religion ein Ausdruck der Abgrenzung des Monotheismus gegen die anderen Religionen, die von ihm als unwahr bestimmt werden. Es verhängt das Freund-Feind-Schema über die Vielfalt der Religionen: wer Götzen verehrt, ist der Feind des wahren Glaubens.27 Es nimmt nicht wunder, dass diese potentiell gewaltsame politischtheologische Abgrenzung in der europäischen Neuzeit ein Teil der political language im Bereich des Religiösen geworden ist. Der konfessionelle Gegner wurde allzu gern zum Götzendiener, Idolateur, idolatrous man gestempelt. Seit den ikonoklastischen Revolten der frühen Reformationszeit waren diese Schlagwörter Waffen im Mund besonders der Protestanten gegen die katholische Heiligen-, Marien- und Sakramentsverehrung.28 Zugleich aber spielt der Diskurs über Idolatrie eine wichtige Rolle im Kontext der frühneuzeitlichen apologetischen Auseinandersetzung mit neuentdeckten Religionen, Reprisen antiken Heidentums und religionskritischen Entwürfen. Die Apologetik des 16. und 17. Jahrhunderts hat eine ausgeprägte Beschäftigung mit heidnischen Religionen – antiken und zeitgenössischen – ausgebildet.29 Für die nichtprofessionalisierte Religionswissenschaft ist diese Apologetik einer der wichtigsten Rahmen gewesen, in denen sie stattfinden konnte. Sie konnte sich der darin vorgegebenen Semantik daher nicht entziehen, selbst wenn sie um wissenschaftliche Objektivität bemüht war. So lässt sich denn bei manchen seriösen und philologisch geprägten Autoren beobachten, wie sich – trotz des von der Apologetik vorgegebenen

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Rahmens und seiner Semantik – aus der Eigendynamik ihrer antiquarischen Forschung heraus ihr Blick auf die anderen Religionen zu relativieren beginnt. Nicht nur erhebt sich eine Verteidigung der ‚Heiden‘ und ihrer Kulte, es vertieft sich auch das Verständnis für die Bedingtheiten des jüdischen Bilderverbots und der jüdischen Religion, und es wird der griechische Mythos als ähnlich distanziert wie Märchen verstehbar.30 All diese Entwicklungen lassen das, was hier zunächst pauschal als ‚nichtprofessionalisierte Religionswissenschaft‘ bezeichnet worden ist, zu einer in sich komplexen und reichhaltigen Debatte werden. Diese Debatte erreicht gegen Ende des 17. Jahrhunderts eine solche theoretische Kraft, dass sie starke Impulse in die Radikalaufklärung, die Kulturanthropologie und die Geschichtsphilosophie des 18. Jahrhunderts ausstrahlt.31 Wenn man die These hinzufügt, dass sich innerhalb dieses Diskurses zum ersten Mal eine vergleichende Religionswissenschaft im neuzeitlichen Sinn des Wortes ausbildet, dann hängt das unmittelbar mit diesen zentrifugalen Tendenzen zusammen, die im Laufe des 18. Jahrhunderts den Idolatrie-Diskurs sprengen sollten. Doch zunächst hatte die entstehende vergleichende Religionswissenschaft mit einem Problem zu kämpfen: Ist nicht der Vergleich per se schon Profanierung? 5. Komparatistik und Blasphemie: Das Risiko des Vergleichens Von der Komparatistik zur Blasphemie ist es nur ein winziger Schritt. Wann immer die Sphären des Sakralen und des Profanen miteinander vermischt wurden, bestand Explosionsgefahr. So endet das 18. Jahrhundert, von dem Frank Manuel gesagt hat, es habe die Götter konfrontiert, mit dem blasphemischen Poem Guerre des Dieux des französischen Schriftstellers Evariste Parny.32 In diesem Text von 1799 ergötzt sich der Autor daran, die olympischen Götter mit der christlichen Trinität in einem pornographischen Bankett zu vereinen, bei dem Christliches sich in obszöner Weise mit Paganem vermischt. Diese Konfrontation von Sakralem und Profanem hat natürlich ihre Vorläufer in früheren Jahrhunderten.33 Wenn Giordano Bruno im Spaccio della bestia trionfante in der Durchmusterung der Sternbilder einen Kentaur vorführt, der halb Mensch, halb Tier ist, so nimmt er damit die Zweinaturenlehre Christi auf die Schippe, und wenn Bonaventure des Périers im Cymbalum Mundi von 1538 den Götterboten Merkur

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auftreten lässt, so will er damit satirisch auf den Gottessohn Christus anspielen.34 Das sind implizite Vergleiche, die dem Leser die Augen öffnen und ihn zu kritischen Fragen führen konnten; manchmal sollten sie auch nur ein Lachen provozieren. Man kann an diesen skandalträchtigen Anspielungen erkennen, mit welchen Schwierigkeiten eine echte, wissenschaftliche Komparatistik zu kämpfen hatte, als sie sich im Laufe des 17. Jahrhunderts daran machte, in zunehmend objektiver Weise Religionen miteinander zu vergleichen.35 An der Oberfläche geschah dies immer noch im Zeichen der polemischen Begrifflichkeit, nach der der „vera religio“ des Christentums die „idololatria“ der heidnischen Religionen gegenüberstand, mit ihren „fabulae“ und „errores“.36 Dennoch war der Vergleich irgendwann nicht mehr abzuweisen. Besonders die Antiquare hatten diese Kunst kultiviert und eine Kultur der Fakten etabliert, die sich in den Fußnoten ihrer gelehrten Werke breitmachte und von dort aus ins Bewusstsein der Leser schlich.37 Ein Beispiel für diese antiquarische Kultur der Fakten ist das große Werk De praestantia et usu numismatum antiquorum von Ezechiel Spanheim, das 1664 erstmals erschien und dann in ständig erweiterten Versionen mehrfach neu aufgelegt wurde. In diesem Buch beschäftigt sich Spanheim unter anderem mit den berühmten goldenen Äpfeln der Hesperiden – also dem Mythos von Herkules, der den Drachen Ladon bekämpfen musste, um die Äpfel wieder zu erhalten, die im Garten der Hesperiden-Nymphen an einem Baum wuchsen und ewige Jugend garantierten. Spanheim zeigt antike Münzen vom HesperidenGarten, die mit Baum und Schlange erstaunlich an die biblische Paradieserzählung erinnern.38 Er vermeidet es, diese Parallele zu ziehen, kann sich aber doch nicht zurückhalten, dies zumindest versteckt in den Fußnoten seines Kommentars zu den Hymnen von Kallimachos aus dem Jahr 1697 zu tun.39 In diesem Jahr war allerdings schon jedem Wissenschaftler klar, wohin solche Vergleiche führen konnten. Ein frecher Libertin namens Adriaan Beverland – aus dem gleichen Milieu um Isaac Vossius stammend, mit dem auch Spanheim Umgang hatte – hatte die Ähnlichkeiten als Lizenz verstanden, nun auch die allegorischen Auslegungsmöglichkeiten, die sich für griechische Mythen boten, auf die Paradieserzählung zu übertragen.40 Als fiktiven Druckort für seine Schrift De peccato originali von 1678 nennt Beverland „Typis Adami et Evae, in Horto Hesperidum“.41 Wenn römische und griechische Ero-

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tiker, so fragt er, von Äpfeln redeten, wenn sie Hoden meinten, und von Baumstämmen, wenn sie auf den Phallus anspielten, warum dann nicht auch die Geschichte von Adam und Eva als sexuelle Allegorie lesen? Bei Beverland verbinden sich drei ganz unterschiedliche Traditionen: zum einen die des Späthumanismus, einschließlich der genauen Kenntnis von Autoren wie Ovid, Properz, Catull und Petronius, zum anderen der holländische Spinozismus, wie er sich auch bei vergleichbaren libertinen Autoren wie Adriaan Koerbagh und seinem Bloemhof zeigt, und drittens die pornographische Kultur, die in Holland in genau diesen Jahren an die Oberfläche trat: mit Büchern wie De Haagsche Lichtmis oder De Leidsche Straatschender, beide von 1679, oder D’openhertige Juffrouw von 1680.42 Man beginnt zu verstehen, warum die Zeitgenossen so erschreckt reagierten, wenn in den Fußnoten von Bibelkommentaren wie denen Le Clercs die Grenze zwischen sakraler und profaner Sphäre löchrig wurde. Es waren diese Schreckgespenster, die brave Theologen in ihren schlaflosen Nächten aufsuchten. Le Clercs Genesiskommentar erschien im Jahr 1693, vier Jahre vor Spanheims Observationen zu den Hymnen des Kallimachos.43 Allerdings reicht diese Einsicht über die Alpträume der Theologen nicht zum Verständnis dafür aus, welche Veränderungen denn in der Religionskomparatistik im Laufe des 17. Jahrhunderts allgemein vorgegangen sind, sozusagen im Haupttext und nicht nur durch die Hintertür in der Form von Fußnoten. Diese Veränderungen sind beträchtlich gewesen, und sie liegen deutlich vor dem Zeitraum, mit dem sich Frank Manuel beschäftigt hat. Um sie auszumessen, ist es instruktiv die geistige Strecke zu ermessen, die zwischen François La Mothe Le Vayer und Pierre-Daniel Huet zurückgelegt worden ist, das heißt im französischen katholischen Milieu zwischen 1641, als La Mothes La vertu des payens erschien, und 1679, dem Erscheinungsdatum von Huets Demonstratio evangelica. Man sollte dabei mit besonderer Aufmerksamkeit darauf achten, wie diese beiden Gelehrten sich auf antike Texte zurückbezogen haben, in denen auch schon biblische und pagane Kultur miteinander konfroniert worden waren. La Mothe Le Vayer wird heute als libertin érudit bezeichnet, doch verdunkelt diese Bezeichnung, wie sehr er die Sprachspiele des französischen Katholizismus beherrscht und mitgespielt hat.44 Sein Skeptizismus ist Teil der katholischen „machine de guerre“ gegen den cal-

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vinistischen Glauben an die ratio, ebenso wie Huets Vernunftskepsis Auswuchs derselben strategischen Ausrichtung ist.45 In La vertu des payens unternimmt es La Mothe, die Reputation der griechisch-römischen Antike gegenüber der christlichen Neuzeit aufzupolieren. Im Hintergrund stand natürlich das theologische Problem, ob die Heiden zur Hölle verdammt waren, und ob dies auch so tugendhafte Männer wie Sokrates und Platon einschloss.46 Das war ein großes und folgenreiches Problem in der frühen Neuzeit: Denn es erscheint kontraintuitiv, dass antike Menschen, die noch nichts von Jesus Christus wissen konnten, weil sie vor ihm lebten, in der Hölle schmoren müssen, nur weil sie „Heiden“ sind. Das Paradox ließ sich noch steigern: Kann es sein, dass sogar die besten Menschen der Antike, so große und tugendhafte Philosophen wie Sokrates und Platon, die doch sonst in den Bereichen der Kultur so vorbildhaft sind, in die Hölle gefahren sind? Wenn dem so ist – so schlossen im 17. und 18. Jahrhundert immer wieder Intellektuelle – dann muss am Christentum etwas falsch sein. Von Herbert of Cherbury (1625) bis zu Johann August Eberhards Neuer Apologie des Sokrates aus den 1770er Jahren und darüber hinaus lässt sich die Geschichte dieser fundamentalen Irritation erzählen, die oft genug zum Deismus, zum Vernunftchristentum, oder zum Atheismus geführt hat.47 La Mothe Le Vayer jedenfalls kommt auf Vergleiche zwischen biblischen Themen und heidnischen Mythen interessanterweise nur indirekt zu sprechen. Er zitiert den bei Origines überlieferten Christentumskritiker Kelsos aus dem späten 2. Jahrhundert, der Sodom und Gomorrha mit dem Phaeton-Mythos und den Fall Luzifers mit dem des Vulkan parallelisiert hatte – natürlich um das Sekundäre und Unoriginelle der Bibel zu betonen.48 La Mothe Le Vayer nun referiert diese Vergleiche auf geschickte Weise im indirekten Zusammenhang seiner Argumentation, nämlich um zu zeigen, dass die Kirchenväter gute Gründe gehabt hätten, die Heiden zu verdammen. Damit hätten sie, so La Mothe Le Vayer, historisch gesehen, recht gehabt, doch aus der Sicht der europäischen Neuzeit wäre es nicht mehr nötig, diese Verdammung tout court nachzuvollziehen. Vielmehr sei es im Rückblick deutlich, dass es in der griechisch-römischen Antike bedeutende Männer wie Platon, Aristoteles, Cicero, Pyrrho oder Epikur gegeben habe, die man durchaus als modellhaft bewerten dürfe. „Groß war sicherlich die Unwissenheit der Heiden“, resümiert La Mothe, „und extrem die Bosheit des Teufels, der die Sakralhistorie herabsetzen wollte – wenn er es gekonnt hätte –, indem er angenehme

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Märchen an die Stelle göttlicher Wahrheiten setzte.“49 Märchen, fables, sind die griechischen Mythen, und „theologia fabulosa gentilium“ war, wie wir gesehen haben, die offizielle Sprachregelung zur Bezeichnung dieser Mythen von christlicher Warte aus.50 Dass allerdings mit dieser ganz offiziellen Aburteilung etwas nicht ganz stimmen kann, bemerkt der aufmerksame Leser, wenn der Text nun fortfährt, nicht etwa andere „teuflische“ Christentums-Kritiker neben Kelsos zu nennen, sondern hochehrwürdige Kirchenväter: „Denn etliche Personen haben den Zusammenhang zwischen Samson und Herkules, Elias und Phaeton, Josef und Hippolyt, Nabuchadonsor und Lykaon, dem Manna der Israeliten und dem Ambrosia der Götter bermerkt. Sankt Augustin setzt Jonas und Arion parallel, Sankt Kyrill, der Erzbischof von Alexandrien, und nach ihm Theophylakt parallelisieren denselben Jonas mit dem Herkules, den Lycophron triesperon nennt, Trinoctium, weil er drei Tage und drei Nächte im Bauch eines Walfischs war […]. Sankt Theodoret zweifelt nicht daran, dass Platon von dem Fluss aus Feuer hat reden hören, den Daniel im siebten Kapitel seiner Prophetien darstellt, denn der Pyriphlegeton des Tartarus im Dialog über die Unsterblichkeit der Seele ist fast eine Kopie davon. Und ich erinnere mich, dass Raphael von Volterra in der Büchse der Pandora den Sündenfall wiederfindet, den wir Eva zuschreiben.“51

Nach diesem irritierenden Zwischenspiel bemüht sich La Mothe schnell wieder zu zeigen, dass er all diese Testimonien nur ex negativo angeführt habe: „Nun haben wir all dies lediglich berichtet, um die Gründe aufzuzeigen, die einige Väter hatten, den Philosophen, von dem ich gesprochen habe, und seine Bücher mit Inbrunst zu verdammen, da die Heiden von damals, gegen die sie ständig im Streit lagen, es durchaus wagten, diese höher zu schätzen als diejenigen, die der Heilige Geist diktiert hat. In dem Moment, in dem diese Überlegung aufhört, da man sieht, dass es von dort nichts zu fürchten gibt, dass es das Heidentum nicht mehr gibt und dass die Welt nicht mehr von Ungläubigen und Atheisten gesäubert werden muss […], können wir durchaus in einer so anderen Zeit von ihnen mit weniger Feindseligkeit sprechen und ihrer Tugend wie auch ihrer Wissenschaft die Ehre zukommen lassen, die ihnen gebührt.“52

La Mothe Le Vayer bietet also Komparatistik in einem Modus, den Sigmund Freud den der Verneinung genannt hätte: eine verdrängte Sache wird aus der Verdrängung geholt und ausgeprochen, zugleich aber verneint, um überhaupt präsentierbar zu sein.53 Immerhin: Die Grenze war überschritten. La Mothe hatte einen Geschmack von der Relativiät und Ähnlichkeit der Religionen gegeben. Die Beispiele, die

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er anführte, waren nicht mehr als bloße Präfigurationen einzuordnen – etwa Herkules als Präfiguration Christi, weil er auch leiden musste und später eine Apotheose erfahren hat –, sondern tatsächlich Gegenüberstellungen von Mythologemen aus einer Religion mit denen aus einer anderen. Der Jansenist Antoine Arnauld hat dies sehr genau registriert und ein Buch gegen La vertu des payens geschrieben: La necesseté de la foy en Jesu Christ pour etre sauvé.54 Dieses Buch wurde postum im Jahr 1701 von Ellies Du Pin publiziert, zu einem Zeitpunkt, als der Ritenstreit um die Akkommodationspolitik der Jesuiten in China seinen Höhepunkt erreicht hatte.55 In diesen Jahren entwickelte sich eine Wahrnehmung, in der La Mothe Le Vayer – der Sokrates und Konfuzius als tugendhafte und damit erlöste Heiden vor Christus genannt hatte – gemeinsam neben den Jesuiten gesehen wurde, und neben PierreDaniel Huet, jenem Bischof von Avranches, der ebenfalls auf gefährliche Weise das chinesische Denken und die griechisch-römische Antike in Zusammenhang mit der Sakralhistorie gebracht hatte.56 Huet nämlich ging von einem monogenetischen Ursprung aller Religionen aus. Der Ursprung war die Mosaische Offenbarung, die in der Bibel niedergelegt ist. Die Mythen aller heidnischen Kulturen hingegen – bis hin nach China und Japan – sind, so Huet, verschwommene Echos der mosaischen Wahrheit. Alle Götter lassen sich mehr oder weniger auf Moses zurückführen. Dieser Gedanke einer Mythogenese als fehlgegangenem Kulturtransfer stammt wohl – bei aller Nähe zur Grundidee des schon von Augustinus und anderen Kirchenvätern vertretenen Gedankens von den „vestigiae“ der wahren Religion in allen heidnischen – von Joseph Scaliger und seinen philologisch-chronologischen Ansichten.57 Huets Lehrer Samuel Bochart hat ihn dann weiter ausgebaut.58 Das Modell jedenfalls erfuhr eine intensive Rezeption in den 1680er und 1690er Jahren, eine Rezeption, die sich auch noch bis in die ersten Jahrzehnte des 18. Jahrhunderts erstreckt und noch weitgehend unerforscht ist. 6. Ausblick Zweifellos: die entstehende Religionskomparatistik ist weder in ihren Risiken noch in ihren Chancen zu verstehen ohne ein Begreifen ihrer komplexen Rückgriffe auf antike Vorläufer.59 Hinter den Theorien

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eines La Mothe Le Vayer stehen die antiken Moses-Degradierungen, ebenso wie hinter den Theorien eines Huet die antiken Moses-Erhöhungen stehen.60 Hinter der Heroisierung einer „prisca theologia“ stehen antike Pseudepigraphien vornehmlich der ersten nachchristlichen Jahrhunderte. Insgesamt ist im Hintergrund dieser Einflüsse das komplexe Problem der hellenistischen und spätantiken kulturellen Übersetzung der vielen lokalen Religionen untereinander zu erkennen. Der antike Polytheismus machte sich nichts daraus, Gottheiten mit ähnlichen Gottheiten anderer Kulturen zu identifizieren und so eine „Übersetzung“ zu gewährleisten. Insofern hat sich die synkretistische religiöse Praxis in zahlreichen theoretischen Texten niedergeschlagen, in denen dann Hermes und Theut oder Isis und Diana gleichgesetzt werden. Innerhalb dieser Übersetzungen gab es bereits in der Antike Versuche, den Namen Moses mit anderen Namen zusammenzubringen und Ableitungen zu erkennen. Die vielfältige Vermischung dieser Versuche mit Taktiken der Fälschung und Verzerrung hat zu einer Überlieferungslage geführt, die für die Theoretiker der Frühen Neuzeit meist noch nicht zu durchschauen war. Erst im Laufe des 17., 18. und 19. Jahrhunderts hat man hier klarer gesehen. Wenn wir heute zunehmend erkennen, wie subtil schon in der Antike das Wechselspiel zwischen Heiden war, die die Bibel genau kannten, und Rabbinen, die um die philosophischen – auch henotheistischen – Strömungen im sogenannten Heidentum genau wussten,61 dann lässt uns das die frühneuzeitliche Situation mit umso größerer Sorgfalt betrachten. Auch hier hat jede der Seiten genaue Kenntnis von den Ansichten der anderen: Orthodoxe haben die Texte der Freidenker studiert, und Freidenker haben sich aus den gelehrten Arsenalen der Orthodoxie munitioniert. Deisten wie Herbert of Cherbury stützen sich auf spätantik-pagane Vorstellungen zur Sonnenverehrung, um darin Annäherungen an den jüdisch-christlichen Monotheismus zu sehen, ähnlich wie Huet in den heidnischen Mythen verdunkelte Sakralhistorie erkennt, und um eine Aufhebung der Verdammung der paganen Kultur zu fordern, ähnlich wie La Mothe Le Vayer dies in La vertu des payens getan hatte.62 Eine Beschäftigung mit frühneuzeitlichen Thematisierungen von antiker Religion ist daher eine vielfältige Herausforderung. Es gilt nicht nur die polemische Oberflächensemantik („idololatria“, „fabula“, „superstitio“) von der philologisch-antiquarischen Tiefenpraxis zu unterscheiden,63 es gilt auch den Gegenwartsbezug, der sich in der

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scheinbaren Thematisierung von antiken Religionen versteckt und oftmals auf den konfessionellen Gegner oder die Bedrohung von überseeischen Kulten richtet, zu erkennen – sowie umgekehrt den Einfluss antiker Argumentationsmuster auf gegenwärtige. Wichtig ist es dabei, streng zwischen Gedächtnisgeschichte und realer Rezeptionsgeschichte zu unterscheiden. In der Renaissance ist die entstehende Religionswissenschaft noch durch und durch von Fälschungen, Mythen und Pseudepigraphik geprägt: ich verweise nur auf Annius von Viterbo, den Hermetismus, das vermeintliche Alter der Kabbala und vieles mehr.64 Wenn wir Theoretiker von 1550, 1600 oder 1650 verstehen wollen, haben wir diesen ihren Horizont zu rekonstruieren, die auf sie wirkende legendenbehaftete Gedächtnisgeschichte eines Moses, Hermes oder Zoroaster. Der Gedächtnisgeschichte gegenüber steht aber immer die nach heutigem Wissen rekonstruierte „reale“ Rezeptionsgeschichte, die Analyse der Rezeptionsrezeption, also der Kaskaden von faktischen Referenzen, die meistens statt einer direkten Bezugnahme vorliegen.65 Erst zusammen wird ein stereoskopisches Bild von der in sich pluralen epistemischen Situation frühneuzeitlicher, nichtprofessionalisierter historischer Religionswissenschaft daraus. Es wäre naiv, diese Phase der Thematisierung paganer Religion nicht „wissenschaftlich“ zu nennen. Denn heutige Religionswissenschaft ist auch nur graduell weiter fortgeschritten. In komplexe epistemische Situationen ist auch sie eingebettet.

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Exklusiv vollkommen: Der christliche Glaube nach Hugo Grotius’ De veritate religionis christianae von 1629 und die Frage des Pluralismus 1. Der Kontext Hugo Grotius wurde 1583 geboren – zwei Jahre nach der offiziellen politischen Absage der niederländischen Provinzen an den spanischen König Philipp II. (1581: Plakkaat van Verlatinge), vier Jahre nach der Union von Utrecht als Zusammenschluss der nördlichen niederländischen Provinzen unter der Führung von Holland und Seeland (1579), acht Jahre nach der Gründung der Universität in Leiden, an der er später studieren sollte (1575), zehn Jahre nach der Rückkehr von Herzog Alba (Fernando Alvarez de Toledo) nach Spanien, der seit 1566 im Auftrag von Philipp II. die Reformation und Revolte in den Niederlanden hatte unterdrücken sollen (1573), elf Jahre nach dem Massaker an den reformierten „Hugenotten“ in Paris (1572), 16 Jahre nach der Hinrichtung von Guy de Brès, dem Verfasser der calvinistischen Confessio Belgica von 1561, in Valenciennes (1567), 22 Jahre nach der Hochzeit des Statthalters von Holland, Seeland und Utrecht Wilhelm von Oranien mit Anna von Sachsen, Tochter des Kurfürsten Moritz von Sachsen (1521–1553), in Leipzig (1561), 28 Jahre nach der Übernahme der Herrschaft über die habsburgischen Niederlande durch Philipp II. (1527–1598), Sohn von Karl V. und dessen Nachfolger als König von Spanien (1555). In der Provinz Holland gelang Grotius eine glanzvolle politische Karriere, bis er 1619 in das Scheitern der von ihm vertretenen religionspolitischen Linie verwickelt war und 1621 – nach einer Zeit im Gefängnis – nach Paris ins Exil ging, dort aber nicht zuletzt in schwedischen diplomatischen Diensten seine Karriere fortsetzen konnte, bis er 1645 nach einem Schiffbruch in der Ostsee in Rostock starb.1 Warum nun sollte man Schriften von Grotius studieren, wenn es um das Thema des Pluralismus in der europäischen Religionsgeschichte geht? Die kürzeste Antwort auf diese Frage ist ein Hinweis auf das

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gewaltige Ansehen von Grotius unter seinen Zeitgenossen: Als Student an der Universität Leiden hatte er bei hervorragenden akademischen Lehrern studiert und eine beeindruckende Kenntnis griechischer und römischer Autoren gewonnen, so dass er, obwohl nie selbst Professor an einer Universität, exemplarisch die Bildungswelt des klassischen Humanismus vergegenwärtigte. Als Politiker in der Provinz Holland war er direkt an dem schärfsten Konfessionsstreit innerhalb des Calvinismus beteiligt, so dass er, obwohl nie selbst ein Pastor oder Theologe der Kirche, exemplarisch die Konfliktwelt des friedlosen Christentums vergegenwärtigte. Die Frage lässt sich zweitens auch mit einem Hinweis auf die Wirkungsgeschichte der Schriften von Grotius beantworten: Nicht nur dass sein fundamentales Werk zum Völkerrecht, De jure belli ac pacis (Vom Recht des Krieges und des Friedens, zuerst 1625), und sein populäres Werk zur Selbstdeutung des Christentums, De veritate religionis christianae (Von der Wahrheit der christlichen Religion, nach Vorformen zuerst 1629), in zahllosen Auflagen nachgedruckt und durch Kommentare erweitert wurden, seine philologischen und humanistischen Glossen zur Bibel fanden durch ein in London ediertes Sammelwerk weite Verbreitung (1660), und seine gesammelten Opera Theologica (einschließlich der Glossen zur Bibel) wurden mehr als 30 Jahre nach seinem Tod noch einmal in einer neuen Ausgabe gedruckt (1679). Eine dritte Antwort könnte heißen, deshalb, weil bei Grotius das Problem nicht ist, dass Pluralismus zu eng verstanden wird, sondern zu weit – wenigstens urteilt Johann Franz Buddeus (1667–1729) über das 17. Jahrhundert in seiner bücherkundlichen Einleitung in die Theologie von 1730: „[…] in jener Zeit vor allem erhob der Indifferentismus [die Gleichgültigkeit gegenüber spezifischen Lehren], oder die Religion der Latitudinarier [Anhänger einer alles „großzügig weit“ auffassenden Lehrrichtung in England], sein Haupt, als nicht wenige der Remonstranten [Anhänger einer durch „Protest“ entstandenen Lehrrichtung im holländischen Calvinismus] die Toleranz gegenüber Vertretern abweichender Meinungen (tolerantia dissentientium) weiter ausdehnten, als in Ordnung ist (ultra quam par est); unter welchen nicht der letzte Hugo Grotius war, der auch den übrigen in gewisser Weise als ein Beispiel voranging.“2 Kaum enden die Verfolgungen, fängt das Seufzen über zuviel Toleranz an! Im Kontext der Information über Auseinandersetzungen mit „Atheisten“ und „Naturalisten“ bekommt Grotius indessen von Buddeus für sein „ausgezeichnetes Büchlein“ (egregium libellum) De veritate religionis christianae auch einige

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sehr gute Zensuren (opus praestantissimum). Eine vierte, pragmatische Antwort wäre, dass im Sonderforschungsbereich „Pluralisierung und Autorität in der Frühen Neuzeit“ an der Universität München auch Hugo Grotius studiert wurde und es also offenbar auch heute einen gewissen Konsens über seine Bedeutung für das Thema des Pluralismus gibt.3 Zu dieser pragmatischen Antwort gehört dann ferner ein Hinweis auf die Ausgabe des Manuskripts Meletius sive de iis quae inter Christianos conveniunt epistola (Meletius, oder ein Brief über das, was unter Christen im Einklang steht) durch G. H. M. Posthumus Meyjes und die von diesem angeregte Studie von J. P. Heering zu Grotius’ De veritate religionis christianae.4 Wie der Titel des Manuskripts von 1611, Meletius, zeigt, war Grotius nicht nur mit der Pluralität der christlichen Kirchen in Westeuropa nach den Jahrzehnten der Reformation vertraut. Sein kurzer Traktat soll die Ansichten von Meletius Pegas (1549–1601) wiedergeben, der innerhalb der orthodoxen Kirche Patriarch von Alexandrien und zeitweilig Vertreter des Patriarchs von Konstantinopel war. Durch einen Freund, Johannes Boreel (1577–1629), der in der Levante gereist war und Meletius Pegas direkt kennengelernt hatte, hatte Grotius so viel von diesem Theologen gehört, dass er sich dessen Sicht auf die Konflikte („discordia“) zwischen den unterschiedlichen Kirchen ausmalen und in ein Plädoyer für Frieden untereinander umbilden konnte. Zugleich erlaubte es ihm der Bezug auf einen Repräsentanten der orthodoxen Kirche im osmanischen Reich, das Christentum vom Islam her als einen Binnenbereich mit Außengrenzen zu den Muslimen und, noch weiter gefasst, anderen Völkern zu betrachten, einen Binnenbereich indessen, der immer auch Juden mit einschloss.5 Grotius ist deshalb sowohl daraufhin zu befragen, wie er sich eine Pluralität von christlichen Lehrmeinungen und Kirchenverfassungen vorstellt, als auch daraufhin, was für ein Konzept zur Deutung der Pluralität von Religionen er anzubieten hat. Dies ist eine der intellektuellen Herausforderungen seiner Zeit, denen Grotius sich zu stellen versuchte. Auch wenn die Entwicklung der Reformationsbewegungen des 16. Jahrhunderts die Frage einer möglichen Re-union der christlichen Glaubensgemeinschaften als eine offene Frage für die Zukunft stehen lassen musste, hatte dennoch die Erfahrung verschiedener Versuche einer gewaltsamen Unterdrückung reformatorischer Orientierungen deutlich gemacht, dass friedliche Beziehungen ohne einen Konsens nicht wieder zu gewinnen waren. Die Pluralität von Bekenntnissen und Kirchen-

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bildungen wurde in der sozialen Wirklichkeit von selbstbewussten, ja kämpferischen Theologen und Glaubenden vertreten und von mehr oder weniger hinreichend mächtigen Politikern und Bürgern verteidigt, die dennoch zumindest für das politische Zusammenleben auf einen Konsens hinzulenken waren. Grotius setzte sich mit dieser Situation auf zwei Ebenen auseinander: Zum einen im Hinblick auf die konkreten politischen Verhältnisse in den vom habsburgischen Spanien unabhängig gewordenen niederländischen Provinzen, besonders Holland und Seeland, zum anderen im Hinblick auf die Bedeutung des Christentums in einer universalgeschichtlichen Perspektive. Gegen das in den habsburgischen Territorien verbindlich eingeforderte Bekenntnis zum christlichen Glauben in der römisch-katholischen Lehr- und Ritualtradition hatten sich die nördlichen Provinzen der Niederlande dem Bekenntnis in der neuen reformatorischen, calvinistisch geprägten Form zugewandt. Die maßgebliche Kodifikation der Lehrgestalt dieses Bekenntnisses war die sog. Confessio Belgica (1561) geworden, die in ihrer französischen Erstfassung unter der bezeichnenden Überschrift stand: „Confession de Foy. Faicte d’un commun accord par les fideles qui conversent és pays bas, lesquels desirent vivre selon la pureté de l’Evangile de nostre Seigneur Iesus Christ“.6 Obwohl durch diesen reformatorischen Impuls auch in den beteiligten Provinzen selbst eine Pluralisierung Gestalt gewonnen hatte – nicht jedermann akzeptierte ja die neue Lehrform des christlichen Glaubens –, verteidigte Grotius das Konzept einer exklusiven „religio publica“ als einer eigentlichen Staatskirche der selbstständig gewordenen Niederlande. Den Konflikten über diese calvinistische „religio publica“, vor allem aber den Kontroversen innerhalb dieser „religio publica“ waren die Abhandlungen Meletius (1611) und Ordinum […] Pietas (1613) gewidmet.7 Im Kontext der Lehrdispute innerhalb des Calvinismus seiner Zeit konnte sich Grotius mit seinem religionspolitischen Plädoyer für einen friedensfähigen Umgang mit theologischem Richtungsstreit nicht durchsetzen. Der Konflikt zwischen den von Jacobus Arminius (1560–1609) inspirierten sog. Remonstranten und den von Franciscus Gomarus (1563–1641) inspirierten Gegenremonstranten erwies sich als unlösbar. Nachdem 1610 die in einer „Remonstrantie“ erhobene Forderung nach einer punktuellen Revision der grundlegenden Bekenntnistexte, sowohl der Confessio Belgica von 1561 als auch des Heidelberger Katechismus von 1563, gescheitert war, wurde auf einer

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Synode in Dordrecht 1618/19 eine Lehrform offiziell bestätigt, die für die Remonstranten, auf deren Seite Grotius stand, unannehmbar war, von den Gegenremonstranten jedoch mit solcher Konsequenz durchgesetzt wurde, dass remonstrantische Pfarrer ins Exil gehen mussten, bis sich um 1625 die politischen und kirchlichen Verhältnisse wieder etwas lockerten. Eine erneute Verteidigung remonstrantischer Positionen durch Simon Episcopius (1583–1643) in einer Confessio sive declaratio sententiae pastorum, qui in foederato Belgio Remonstrantes vocantur, super praecipuis articulis religionis christianae (1621: Bekenntnis oder Vorstellung des Urteils der Pastoren, die in den Niederlanden Remonstranten genannt werden, über die wichtigsten Artikel des christlichen Glaubens) wurde durch die vier Professoren der Theologie an der maßgeblichen Universität in Leiden – Johannes Polyander (1568–1646), André Rivet (1572–1651), Anthonius Thysius (1565–1640), Anthonius Walaeus (1573–1639) – in einer Censura in confessionem sive declarationem sententiae […] a S[acro]S[anctae] theologiae Profess[oribus] Academiae Leydensis instituta (1626: Beurteilung des Bekenntnisses oder der Vorstellung des Urteils […], vorgenommen von den Professoren der hochheiligen Theologie an der Universität Leiden) zurückgewiesen. Während jedoch Episcopius, der auf die „Censura“ wiederum mit einer „Apologia“ (1629) antwortete, 1626 aus dem Exil nach Rotterdam zurückkehren konnte und 1634 Professor an einem neu gegründeten, von der Universität in Leiden unabhängigen Seminar der Remonstranten in Amsterdam wurde, blieb der 1619 zu lebenslanger Haft verurteilte, aber 1621 aus der Haft entflohene Grotius im Exil (überwiegend) in Paris.8 So sehr Grotius in die calvinistischen Kontroversen der Niederlande verwickelt war und so sehr die gegenremonstrantisch-calvinistische Seite ihre Polemik gegen die Anhänger von J. Arminius und S. Episcopius bis zu dem Punkt steigerte, dass sie bei diesen eine anticalvinistische, an Fausto Sozzini (1539–1604) orientierte Lehrmeinung zu entdecken meinte, die überhaupt außerhalb des christlichen Bekenntnisses liege,9 so sehr verfolgte Grotius über diese Kontroversen hinaus religionsphilosophische und rechtsphilosophische Reflexionen über den christlichen Glauben, die diesen in einen universalgeschichtlichen Horizont einordneten. Auch hier geht es um Pluralismus, nicht als die Frage nach der konfessionellen Pluralität der christlichen Kirchen in der Frühen Neuzeit, sondern als die Frage nach einem einheitlichen Fundament von Vernunfterkenntnis und nach dem Verhältnis von re-

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ligiöser Pluralität in einem starken Sinne, nicht nur einem innerchristlichen, zu einem solchen Fundament. Dabei schwingen in dem breit angelegten religionsphilosophischen Projekt offenkundig die konkreten Erfahrungen religiöser Verfolgung mit, wenn es zum Beispiel in Grotius’ – polemischer – Erörterung des Islam unvermittelt heißt: „Es gibt keine Verehrung Gottes, wenn sie nicht aus einem freiwilligen Sinn hervorgeht. Solcher Wille aber wird durch Lehren und Überzeugen hervorgerufen, nicht durch Drohungen, nicht durch Gewalt. Wer aus Zwang glaubt, der glaubt nicht, sondern gibt nur vor zu glauben, um Übel zu vermeiden. Wer [umgekehrt] durch die Erfahrung von oder Furcht vor Übel Zustimmung erpressen will, beweist genau dadurch, dass er kein Zutrauen zu (seinen) Überzeugungsgründen hat.“ ([…] cultus Dei nullus est, nisi ab animo volente procedat. Voluntas autem docendo (et) suadendo elicitur, non minis, non vi. Coactus qui credit, non credit, sed credere se simulat, ut malum vitet. Qui mali sensu aut metu extorquere assensum vult, eo ipso ostendit se argumentis diffidere.)10

Wie stets ist es Grotius hier wichtig, seine Meinung gleichsam in ein Gespräch mit einem angesehenen Denker der Tradition hineinzustellen, und so zitiert er in einer (für die Ausgabe 1640 ergänzten) Anmerkung den frühen christlichen Theologen Laktanz (Lactantius, ca. 250–325) mit der Sentenz: „Nichts beruht so sehr auf Freiwilligkeit wie die Religion, die, sobald der Sinn eines Opfernden abgewandt ist, schon aufgehoben, schon nichtig ist.“ (Nihil est enim tam voluntarium quam religio, in qua si animus sacrificantis aversus est, jam sublata, jam nulla est.) Laktanz’ Votum, das in einem Kontext formuliert wurde, in dem es um die Verteidigung der christlichen Gemeinden in einer mehrheitlich hellenistisch-römischen paganen Religionskultur ging, konnte als grundsätzliche Reflexion eine zeitlose Bedeutung gewinnen. Im Kontext der Spätantike ist Laktanz’ Beispiel für einen religiösen Ritus, zu dem allenfalls jemand gegen seine Überzeugung gezwungen werden kann, die Darbringung eines Opfers an einem Tempel (deshalb animus sacrificantis). Seine Kritik an solchem Zwang steht unter dem Motto, dass „eine Religion durch Geduld zu verteidigen sei und durch Vernunftgründe eher als durch Gewalttaten, Eisen oder Feuer“ ([…] Et quod religio per patientiam defendenda est, [et] ratione potius quam saevitia, ferro, vel igne); im unmittelbar voraufgehenden Zusammenhang heißt es dann: „Denn wenn du durch Blut[taten], durch Quälereien, durch Böses die Religion verteidigen willst, wird schon nicht mehr sie [diese Religion] verteidigt, sondern sie wird beschmutzt

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und gewaltsam verzerrt.“ ([…] Nam si sanguine, si tormentis, si malo religionem defendere velis, iam non defendetur illa, sed polluetur, [et] violabitur.) Schon in der Ausgabe von Laktanz’ Schriften Basel 1521 (weitere Auflagen 1524, 1532) hatte der Verleger Andreas Cratander einen aktualisierenden Rezeptionsansatz empfohlen und die Schriften mit dem Argument angepriesen, dass sie nicht von „leerem Wortgetöse, sophistischen Spitzfindigkeiten und dornigen Fragen“, wie sie unter scholastischen Theologen gang und gäbe seien, geprägt seien (inanis verborum strepitus, sophisticae argutiae und spinosae quaestiones).11 2. Die exklusive Wahrheit Die Schrift, in der sich an unerwarteter Stelle die zitierte religionsphilosophische Deutung des wesentlichen subjektiven Charakters eines religiösen Bekenntnisses findet, ist Grotius’ apologetische Abhandlung De veritate religionis christianae. Zu ihrer Entstehung liegt die ausgezeichnete Studie von J. P. Heering, Hugo Grotius as Apologist for the Christian Religion (2004) vor.12 Eine ursprünglich auf holländisch verfasste und 1622 unter dem Titel Bewijs van den waren godsdienst publizierte Dichtung wurde von Grotius 1626 (d.h. nach dem Erscheinen seines Werkes De Jure Belli ac Pacis, 1625) in eine lateinische Prosaversion übertragen, die 1627 in Leiden gedruckt werden konnte und unter dem umständlich erklärenden Titel Sensus librorum sex quos pro veritate religionis christianae Batavice scripsit Hugo Grotius erschien. In einer neuen Ausgabe 1629 war dann der endgültige Titel De veritate religionis christianae gefunden – aus dem didaktischen „Beweis für die wahre Verehrung Gottes“ war ein argumentativer Lehrtext „über die Wahrheit des christlichen Glaubens“ geworden. Die letzte Stufe war 1640 eine Ausgabe mit ungezählten Anmerkungen für Quellennachweise und ergänzende Zitate, die Grotius mit einem Privileg des französischen Königs Louis XIII (dem er 1625 De Jure Belli ac Pacis gewidmet hatte) beim Hofdrucker in Paris drucken ließ; in dieser Fassung wurde das Werk ein Erfolgsbuch bis weit in das 18. Jahrhundert hinein. Die Vorgeschichte des Werks reicht schon bis in Grotius‘ Studienzeit zurück, in der offenbar unter seinem Lehrer Franciscus Junius (1545–1602) die apologetische Abhandlung von Philippe du Plessis Mornay (1549–1623), De la vérité de la religion chrestienne contre les athées, epicuriens, payens, juifs, mahumédistes, et autres infidèles (1581;

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lateinische Fassung 1583) diskutiert wurde. Heering zeigt, dass Mornays Buch, das Grotius zu Beginn seiner Schrift mit Nachdruck nennt, besonders für die religionsphilosophische Argumentation in den Teilen 1 und 4 von De veritate religionis christianae eine wichtige Rolle spielt.13 Als ein Werk der Apologetik, d.h. der „Verteidigung“ des christlichen Glaubens, ist De veritate religionis christianae vordergründig gegen religiösen Pluralismus gerichtet. Die vollkommene Wahrheit des christlichen Glaubens soll nicht nur gegen mögliche Zweifel und Kritik verteidigt werden, sondern sie soll, wie Grotius einleitend erklärt, so dargelegt werden, dass für holländische Kaufleute, die in China oder in Guinea Heiden, im osmanischen oder im persischen Reich oder in Nordafrika Muslimen und überhaupt auf ihren Reisen auch Juden begegnen oder die sich auf den langen Schiffsreisen mit dem Problem von Aberglauben konfrontiert sehen, ein Impuls für missionarisches Engagement vermittelt wird (ad verae, hoc est, Christianae religionis propagationem) (Buch 1, § 1).14 Dementsprechend schließt das Werk – vor einer letzten Anrede (peroratio) an die christlichen Leser – mit einer rhetorischen Geste gegen legendarische oder mythologische Vorstellungen im Islam, die um so unverständlicher seien, als doch das „Licht des Evangeliums“ die muslimischen Glaubenden umgebe (praesertim cum Evangelii lux ipsos circumfulgeat) (Buch 6, § 10). Der missionarische Impuls wird auch an der Gelenkstelle der Überleitung von den drei ersten, grundlegenden Teilen (demonstratio) zu den drei spezifischer polemischen Teilen (disputationes) noch einmal wiederholt: Christen sollen sich nicht nur selbst zur Wahrheit, die sie besitzen, beglückwünschen, sondern sie sollen andere an dieser Wahrheit teilhaben lassen ([…] summam Christiani hominis in hac vita eam esse debere, ut non modo de reperta veritate sibi gratuletur, sed [et] aliis, qui in variis errorum anfractibus palabundi versantur, opem ferat, [et] eos tanti boni participes faciat) (Buch 4, § 1). Wie stellt nun Grotius in einem apologetisch-argumentativen Duktus den „an Wahrheit und Gewissheit unüberbietbaren“ christlichen Glauben, die „religio Christiana“, die „verissima“ und „certissima“ und „[religionis] Iudaicae quasi perfectio“ sei (vgl. Buch 2, § 1 bzw. Buch 1, § 14), vor? In einem ersten Argumentationsgang geht es um die Existenz und die Attribute Gottes, um Gottes Schöpfung und Gottes Vorsehung als Sorge um das von ihm Geschaffene und um Gottes gerechtes Urteil über die Menschen für Lohn und Strafe in einem jenseitigen Leben. Grotius’ Argumentation beruft sich auf die

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Vernunft, die eine Antwort auf die Frage nach einem ersten notwendigen Grund alles Seienden sucht, und auf einen Konsens unter allen Völkern (manifestissimus consensus omnium gentium), der entweder auf eine ursprüngliche Offenbarung (oraculum Dei ipsius) oder auf eine Tradition aus der Urzeit der Menschheit zurückgehe (traditio, quae a primis humani generis parentibus manavit, Buch 1, § 2). Gegenpositionen dazu werden als vereinzelte Verirrungen abgewiesen (§ 2). Ein wichtiger Einwand ist das Problem des Bösen; Grotius unterscheidet zwischen dem Bösen, das aus der Freiheit des Menschen zu handeln hervorgeht (agendi libertas), und anderen erfahrbaren Übeln, die als Straf- oder Erziehungsmittel Gottes gedeutet werden sollen (ad emendationem hominis, aut etiam in poenam delicto respondentem, § 8); darauf ist noch zurückzukommen. Auch für Gottes Vorsehung gibt es zwei Argumentationslinien, zum einen die vollkommene Güte Gottes des Schöpfers, der das Geschaffene nicht vernachlässigt oder aufgibt (§ 10), zum anderen die Wunder und Weissagungen, die die Offenheit des Gangs der Geschichte für ein direktes Wirken Gottes beweisen sollen (certissimum divinae providentiae testimonium praebent miracula [et] praedictiones quae in historiis exstant, § 13). Der Traditionsgedanke spielt dabei wieder eine große Rolle.15 Der skizzierte Kurs in natürlicher Theologie endet mit der zweigleisig begründeten Lehre von der göttlichen Vergeltung in einem jenseitigen Leben, die einerseits aus der Vorsehung Gottes hergeleitet, andererseits auf eine Tradition aus der Urzeit bezogen wird (antiquissima traditio a primis parentibus). Gültige Einwände gegen diese Tradition, so Grotius, lassen sich nicht finden (neque vero ullum potest reperiri ex natura petitum argumentum quod hanc tam veterem, tam late patentem traditionem refellat). Im Gegenteil, auch in anthropologischer Betrachtung ergeben sich Gründe für die Konzeption eines jenseitigen Lebens, einerseits aus einer dem Menschen mitgegebenen Sehnsucht nach Unsterblichkeit, andererseits aus der Gewissenserfahrung des Menschen (appetitus immortalitatis insitus; conscientiae vis) (§ 21–25). Das Lehrsystem, das sich in Buch 1 von De veritate religionis christianae auf diese Weise aus dem philosophischen Argument, der These von einem Konsens unter den Völkern und der damit verbundenen These über eine Tradition aus der Urzeit, die sich in den Völkern verästelt habe, ergibt, führt zu dem Modell einer „natürlichen Religion“, deren Gottesbild auf dem Gedanken der Schöpfung, der Vorsehung und der gerechten Vergeltung beruht.16 Der Übergang von dieser na-

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türlichen Religion zur Offenbarungsreligion liegt an der Stelle, wo es um die Frage geht, ob Menschen nur „Vermutungen“ darüber haben könnten, wie im endgültigen Urteil Gottes Seligkeit zu erlangen sei: „Worin aber diese Seligkeit besteht und wie sie zu erlangen ist, können die Menschen sicherlich durch Vermutungen erkunden, wenn aber etwas, was dies betrifft, von Gott offenbart wird, dann muss man das als das Wahrste und Gewisseste anerkennen.“ (Qualis autem ea sit felicitas, [et] quomodo comparetur, possunt quidem homines conjecturis indagare; sed si quid ejus rei a Deo patefactum est id pro verissimo [et] certissimo haberi debeat, § 25).17

Im Hinblick auf die Frage des Pluralismus scheint Grotius mit seiner Bezugnahme auf einen Konsens unter den – in ihren jeweiligen Einzeltraditionen ja sehr unterschiedlichen – Völkern und seiner Beschränkung auf wenige fundamentale Lehrpunkte eine pluralismusfähige Konzeption zu entwerfen. Es ist jedoch zu beachten, dass er keine a-theistische Position anerkennt und eine solche von vornherein mit dem ethischen Problem der Bestreitung einer menschlichen Verantwortung gegenüber einer göttlichen Gerichtsinstanz verbindet (atque adeo a pravo ingenio eorum maxime, quorum interest ne quis sit Deus, id est, humanarum actionum judex, venire hanc a tam recepta antiquitus sententia discessionem, [vel hinc apparet, quod …], § 2). Die christliche Religion wird in Buch 2 von De veritate religionis christianae als die exklusiv einzige Religion vorgestellt, die über menschliche Vermutungen (conjecturae) bezüglich der ewigen Seligkeit und der Bedingungen für diese hinausführt. Kurz zusammengefasst betont Grotius folgende Punkte: Die Zeugnisse für diese Religion stimmen (testimonia, gemeint sind die Wunderüberlieferungen einschließlich der Auferstehung Jesu, vgl. bes. § 6), die Gebote in dieser Religion stimmen (praecepta, § 11–16; demgegenüber lässt Grotius die dogmata ausdrücklich zurücktreten, vgl. § 1), und die geschichtliche Erscheinungsform dieser Religion stimmt (§ 18–19, vgl. aber auch § 17 zur discrepantia opinionum unter den Christen). „[…] der Punkt, an dem die christliche Religion alle anderen, die es gibt oder die es gab oder die es geben könnte, übertrifft, ist die höchste Heiligkeit ihrer Gebote sowohl in dem, was den Gottesdienst betrifft, als auch in dem, was alle übrigen Dinge betrifft“ ([…] quo Christiana religio omnes alias quae aut sunt aut fuerunt aut fingi possunt exsuperat, est summa sanctitas praeceptorum tum in iis quae ad Dei cultum tum quae ad res caeteras pertinent, § 11).

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Urteilt man auch hier im Hinblick auf die Frage des Pluralismus, erweist sich, dass Grotius ein komparatistisches Modell zeichnet, nach dem andere Religionen dem Christentum nur in einem Verhältnis von Überlegenheit und Unterlegenheit zugeordnet werden können. Es gilt ihm sogar als ein Schwächezeichen für die Überzeugungskraft des Islam, dass in dessen Ausbreitungsgebiet auch christliche Religionsgemeinschaften Bestand haben (Buch 2, § 18[*], vgl. Buch 6, § 7). Demgegenüber lässt der programmatische Verzicht auf die Erörterung von christlichen dogmata einen breiten Spielraum für Diversität und Pluralität innerhalb des Christentums erkennbar werden. Das Christentum, das Grotius in Buch 2 vorstellt, ist allerdings nicht ein profilloses Glaubenssystem. Zwar erklärt er in § 1 seinen Verzicht auf eine Erörterung von omnia dogmata Christianismi, fügt jedoch in den Abschnitt über die Gebote über den Gottesdienst eine Zusammenfassung des christlichen Bekenntnisses ein (§ 11). Für ein Urteil über die Bedeutung der Christologie bei Grotius wäre das entsprechend zu berücksichtigen: „Als der wichtigste Teil der [christlichen] Religion erweist sich stets das gottesfürchtige Vertrauen (pia fiducia), durch das wir zu einem treuen Gehorsam befähigt uns ganz auf Gott verlassen (in Deum toti recumbimus) und seinen Verheißungen ohne Zweifel trauen, woraus sowohl Hoffnung entspringt als auch die wahre Liebe sowohl Gottes als des Nächsten, wodurch es geschieht, dass wir seinen Geboten (praecepta) nicht wie Knechte und aus Furcht vor Strafe gehorchen, sondern um Gott selbst wohl zu gefallen und ihn durch seine Güte (pro sua bonitas) zum Vater und Belohner zu haben.“ (Praecipua vero pars religionis ubique ostenditur posita in pia fiducia, qua compositi ad fidele obsequium in Deum toti recumbimus, ejusque promissis non dubiam habemus fidem, unde [et] spes exsurgit [et] verus amor tum Dei tum proximi, quo fit ut praeceptis ipisus pareamus non serviliter poenae formidine, sed ut ipsi placeamus, ipsumque habeamus pro sua bonitate patrem ac remuneratorem.)

Die Begriffsreihe „Vertrauen (Glaube) – Hoffnung – Liebe“ (fiducia – spes – amor) spielt fraglos auf 1Kor 13,13 an, während der direkt genannte Bezugstext für „fiducia“ Joh 12,44 ist. Bei der angesichts der Argumentation für die natürliche Religion auffälligen Absage an das Motiv der Furcht vor göttlicher Strafe (poenae formido) bezieht sich Grotius auf Röm 8,15, bei der Betonung der Liebe (amor) auf Gal 5,6 und 1Thess 3,16. Weitere in den Anmerkungen genannte Bezugstexte können hier nicht aufgezählt werden, doch lohnt es sich, aus Grotius’

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Glossen zum Neuen Testament zu notieren, dass er Joh 12,44 („Jesus aber rief: Wer an mich glaubt, glaubt nicht an mich, sondern an den, der mich gesandt hat […].“) aus seinem antijudaistischen Zusammenhang herausnimmt und mit den zwei Erklärungen kommentiert: „Da er [Christus] den Unglauben der einen, den unfruchtbaren Glauben der anderen bedachte, bemüht er sich, ein Heilmittel bereitzustellen.“ (Cum consideraret aliorum incredulitatem, aliorum fidem infructuosam, medicinam studet adhibere.) – „[Der Glaubende] vertraut nicht so sehr mir, als dem Vater, dessen Gesandter ich bin.“ (Non tam mihi quam Patri confidet, cujus Legatus sum. – dazu Verweise auf Mk 9,37; 1Sam 8,7 und 1Thess 4,8 für eine „similis locutio“)18 Der Auslegungsbegriff des Vertrauens (fiducia) entspricht einer Lehrtradition, die z.B. sowohl in der Confessio Belgica (1561), Art. 23, als auch in der früheren, lutherischen Confessio Augustana (1530), Art. 20, ihren Ausdruck gefunden hat.19 Die auf die „demonstratio“ der Bücher 1 und 2 folgenden „disputationes“ gegen den Polytheismus, das Judentum und den Islam verstärken nur noch die komparatistische Linie, die Grotius auszieht.20 Dabei fällt auf, dass Grotius für die Deutung des Islam den Straf- und Erziehungsgedanken aus der Erörterung der Vorsehung Gottes wieder aufnimmt (Buch 6, § 1, vgl. Buch 1, § 8). Neben diesem negativen Gedanken zum Ursprung des Islam kann Grotius keinen positiven Gedanken zum Ursprung einer Religion anerkennen, die historisch jünger ist als die durch ihre Wahrheit und Gewissheit ausgezeichnete (verissima atque certissima) christliche Religion (Neque ulla potest causa adferri, cur post Christianam religionem longe optimam, aliam decuerit proferri. – Buch 6, § 8). Entsprechend beschränkt Grotius sich auf eine polemische Darstellung Mohammeds, seiner Lehre und seiner Anhänger in genauer Umkehrung alles in Buch 2 über Jesus, dessen Lehre und dessen Anhänger Ausgeführten.21 Im Hinblick auf die politische Erfahrung von Grotius muss es überraschen, dass er sich mit traditionellen, aus der vorneuzeitlichen spanischen oder byzantinischen Tradition stammenden polemischen Topoi begnügt, denn 1612 war gerade erst zugunsten der holländischen Handelsgesellschaft für die Levante ein förmliches Abkommen mit entsprechender Präambel zwischen den Niederlanden und dem osmanischen Reich geschlossen worden, und zweifellos kannte er den 1611 entsandten Botschafter der Niederlande in Istanbul, Cornelis Haga (1587–1654; in Istanbul 1612–1639).22 Doch ist für De veritate religionis christianae einerseits

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in Rechnung zu stellen, dass Grotius in der Einleitung ausdrücklich erklärt, sich auf Vorgänger wie Juan Luis Vives und Philippe de Mornay stützen zu wollen, andererseits, dass offenbar generell die kirchliche Stimmung gegenüber einem Interesse am Koran, z.B. in den Niederlanden, nicht gut war.23 Für die Frage des Pluralismus wird durch die Bücher 4–6 bestätigt, dass von einem apologetischen Ausgangspunkt aus die Vielfalt unterschiedlicher Religionen nicht im Sinne eines positiven Sinnpotentials in den jeweiligen Traditionen in den Blick kommt. Religiöse Pluralität wird nur in einem Überbietungsmodell und unter Beanspruchung der Deutungshoheit über die göttliche Vorsehung in der Geschichte wahrgenommen. Gemäß der Deutung der Vorsehung Gottes aus einer solchen apologetischen Perspektive erscheint ein religiöser Pluralismus, der sich „Dei permissu“ (Buch 6, § 1) geschichtlich entwickelt hat, nur als ein negatives Phänomen. 3. Das wesentliche Fundament Mit der ambivalenten Religionsphilosophie und theologischen Komparatistik in De veritate religionis christianae lässt sich ein Abschnitt zur Religionsphilosophie und völkerrechtlichen Reflexion in Grotius’ De jure belli ac pacis (1625) vergleichen.24 Der Kontext ist eine Erörterung hypothetischer Kriegsgründe, die militärische Gewaltanwendung gerechtfertigt erscheinen lassen könnten. Hier geht es um Religion im Hinblick auf ihre Auswirkungen auf die menschliche Gesellschaft nicht nur in einem Staat (civitas), sondern auch in der Völkerwelt (societas humana). „Die Religion aber, auch wenn sie für sich genommen zur Erlangung der Gnade Gottes dient, hat dennoch auch ihre kaum zu überschätzenden Wirkungen in der Gesellschaft.“ (Religio autem quanquam per se ad conciliandam Dei gratiam valet, habet tamen et suos in societate humana effectus maximos. – 513/1028) Mit einem positiven Bezug auf Cicero und einem negativen Bezug auf Epikur und die Epikureer stellt Grotius sich in einen Konsens mit denjenigen Philosophen, die eine wesentliche Bedeutung der Religion für den Begriff der Gerechtigkeit postulieren (514f./1030f.). Auch hier bezieht sich Grotius wiederum auf Laktanz, den er mit dem Votum zitiert, „Wenn Gottesfurcht heißt, Gott zu erkennen, und es die Summe dieser Erkenntnis ist, Gott zu verehren,

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dann wird derjenige Gerechtigkeit gar nicht kennen, der keinen Gottesdienst übt. Denn wie könnte derjenige sie kennen, der nicht weiß, wo ihr Ursprung liegt?“ (Si ergo pietas est cognoscere Deum, cuius cognitionis haec summa est ut eum colas, ignorat utique iustitiam, qui religionem Dei non tenet. Quomodo enim potest eam nosse qui unde oriatur ignorat?)25 Anders als in De veritate religionis christianae geht Grotius aber nicht von der vollkommenen christlichen Religion als einer apologetischen Leitvorstellung aus, sondern von einer rechtsphilosophischen Funktionsbestimmung. Sein Urteil in diesem Zusammenhang ist, dass es gerechtfertigt sein kann, Menschen, die die Grundbegriffe von Gottesverehrung und damit den Grundbegriff von Gerechtigkeit aufheben, zu bestrafen. „Wer sich daran macht, diese Begriffe aufzuheben, der kann, meine ich, so, wie er in gut verfassten Staatswesen (bene constitutae civitates) bestraft wird […], auch im Namen der menschlichen Gesellschaft (nomine humanae societatis) bestraft werden, die er ohne einen Grund, der für sich eine Wahrscheinlichkeit beanspruchen könnte, verletzt.“ (Has igitur notitias qui primi incipiunt tollere, sicut in bene constitutis civitatibus coerceri solent […], ita et coerceri posse arbitror nomine humanae societatis quam sine ratione probabili violant.“ – 520/1037)

Wie in De veritate religionis christianae wird eine a-theistische Position abgelehnt, und wiederum wird sie aus Gründen der ethischen Reflexion abgelehnt.26 Erst in der Ausgabe durch Jean Barbeyrac (1674–1744) wird in einer Anmerkung des Herausgebers eine Differenzierung zwischen Atheismus und ethischen Einstellungen vorgenommen (1037, Anm. 10).27 Mit dem Urteil „coerceri posse“ ist indessen noch nichts darüber gesagt, was für Straf- oder Zwangsmaßnahmen zur Beschränkung des Einflusses solcher gesellschaftlichen bzw. internationalen Akteure jeweils für angemessen und praktikabel gehalten werden. Vgl. im unmittelbaren Kontext z.B. die Mahnung, dass grundsätzlich Vergehen, um eine (militärische) Bestrafung zu rechtfertigen, in höchstem Grade gravierend und offenkundig sein müssten (scelera atrocissima et manifestissima) (512f./1027). Bei diesem Urteil kommt natürlich alles darauf an, was für religiöse Grundbegriffe gemeint sind. Unabhängig von jeder Offenbarung, aber gestützt auf den Konsens- und Traditionsgedanken28 entwickelt Grotius diese fundamentalen Vorstellungen in De jure belli ac pacis analog zu Buch 1 von De veritate religionis christianae. Religion – gemeint ist wiederum die „natürliche Religion“ (vgl. 522/1041) – beruht auf

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dem Satz, dass Gott existiert, und auf dem Satz, dass Gott sich um die Angelegenheiten der Menschen bekümmert, d.h. dass er als Gott der Vorsehung und des Gerichts auf die Schöpfung bezogen ist und insofern die Menschen ihm gegenüber Rechenschaft ablegen müssen (516, vgl. 518/1032, vgl. 1035). Wo diese religiöse Bindung entfällt, sieht Grotius den Grund für ethische Verbindlichkeit schwinden. Dass es ihm in erster Linie um das Verhältnis von Religion und Ethik zu tun ist, zeigt sich etwa auch in seiner Differenzierung bei der Kritik von Religionsformen des euhemeristischen Typus: wenn göttliche Verehrung Helden gewidmet wird, die sich durch Tugend und Wohltaten (virtus et beneficia) ausgezeichnet haben, ist sie akzeptabel (excusabilis), wenn göttliche Verehrung Menschen gewidmet wird, die sich durch Untaten (flagitia) ausgezeichnet haben, ist sie es nicht (521f./1040). Die Theorie einer natürlichen Religion als Fundament der Ethik erweist sich in De jure belli ac pacis als eine Konzeption, die eine Auffächerung der Religionen in einen weitgespannten Pluralismus zulässt. Die für die menschliche Gesellschaft zwingend notwendigen Grundbegriffe sind, so Grotius, bei jeder Religion vorausgesetzt, so dass er in einer großzügigen rhetorischen Geste von einer durch spezifische Näherbestimmungen charakterisierten Religion, „sei sie nun wahr oder falsch“ (sive vera, sive falsa) sprechen kann. Ob Menschen den christlichen Glauben annehmen oder nicht (§ 48) oder ob Christen sich im Konsens oder im Dissens über bestimmte Lehrmeinungen befinden (§ 50), ist aus rechtsphilosophischer Perspektive gleichgültig, denn das Fundament für das Zusammenleben in der Gesellschaft (civitas bzw. societas humana) ist durch die Grundbegriffe der Ethik bzw. der diese stabilisierenden natürlichen Religion (religio naturalis ac primaeva) gesichert. Demgegenüber entfällt die Rhetorik der Komparatistik, die die apologetische Abhandlung geprägt hatte. Einen theologischen Ton schlägt Grotius nur dort an, wo er für Glaubensfreiheit plädiert und einerseits die Unverfügbarkeit der Hinlenkung zum Glauben durch Gott (secreta Dei auxilia accidentia), andererseits die Verbindlichkeit der Lehre Christi anspricht, der Strafen oder Furcht vor Strafen als Motiv für die Annahme des christlichen Glaubens abgelehnt habe (Christo […] hoc placuisse ut ad legem suam recipiendam nemo huius vitae poenis aut earum metu pertraheretur [523/1042]).

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4. Das Markenzeichen Während bei Grotius die Apologetik pluralismusfeindlich geprägt ist, ist die Rechtsphilosophie pluralismusfreundlich geprägt. In der Apologetik werden andere Religionen am Maßstab der christlichen Religion als der „verissima atque certissima“ gemessen und verworfen, in der Rechtsphilosophie werden die Religionen am Maßstab der für die Ethik fundamentalen natürlichen Religion gemessen und in den Schranken dieser universalen Religion anerkannt. Indessen notierte etwa Gotthold Ephraim Lessing 1754, dass erst durch die Schriften von Adrian Reland (1676–1718) und George Sale (1679–1736) die Wahrnehmung des Islam in Europa von den Stereotypen der „christlichen Polemici“ befreit worden sei.29 Ob die konzeptionelle Verbindung zwischen Ethik und natürlicher Religion hinreichend begründet ist, steht bei Grotius nicht zur Debatte; für ihn ist sie evident, und er stützt diese Evidenz mit einem entsprechenden Katalog philosophischer Stimmen aus der Antike und Spätantike. Der konzeptionelle Gedanke ethischer Schranken für die Vielfalt der Religionen hat jedoch mit oder ohne seine Verknüpfung mit einer natürlichen Religion, mit oder ohne die Verurteilung a-theistischer Positionen sein Gewicht. Inwiefern es Grotius gelungen ist, seine religionsphilosophische und rechtsphilosophische Deutung von Religion aus universalgeschichtlicher Perspektive (societas humana) in die Formulierung konkreter politischer Optionen für eine spezifische Gesellschaft (civitas) zu übersetzen, ist eine umstrittene Frage. Einerseits lässt Grotius mit seiner Offenheit gegenüber verschiedenen Auslegungen christlicher Lehrmeinungen (dogmata) einen großen Spielraum für konfessionelle Pluralisierung, andererseits gibt es bei ihm das Konzept einer Staatskirche (religio publica), die einen Monopolanspruch hat und einer staatlichen Kirchenleitung unterworfen ist. Nicht zuletzt im Sinne der Bestimmung des Augsburger Religionsfriedens von 1555 (obrigkeitliche Territorialkirchenherrschaft: „cuius regio – eius religio“) erklärt Grotius in einem Traktat von 1613 zur Religionspolitik in den Niederlanden, die sich 1581 gegenüber dem habsburgisch-spanischen Reich verselbständigt hatten, „über den Glauben der Kirche, soweit sie eine öffentliche Einrichtung ist (qua publica est), hat niemand das Recht, Bestimmungen zu treffen, außer diejenige Instanz, in deren Hand und Gewalt alle öffentlichen Angelegenheiten (omnia publica) liegen“ ([…] de fide ecclesiae qua publica est nemo ius statuendi habet praeter eum cui-

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us omnia publica sunt in manu ac potestate).30 Für den individuellen Glaubenden und für eine Glaubens- oder Konfessionsgemeinschaft, die nicht den Status der exklusiven „religio publica“ beansprucht, besteht jedoch nach dieser Konzeption ein uneingeschränktes Freiheitsrecht.31 Ob Grotius diese Konzeption konsistent vertreten hat, ist indessen eine kontroverse Frage; Jonathan Israel urteilt, „[…] Grotius’ toleration was no more than an acceptance of theological disparities, as far as practicable, within the public Church.“32 In der breiten Entfaltung einer religionspolitischen Positionsbestimmung, die Grotius in einem Manuskript von 1616 bietet, wird dieses Problem besonders greifbar. Grotius definiert dort: „In keinem Handlungsfeld strahlt die Macht der Höchsten Staatsgewalt stärker hervor als darin, dass es in ihrer Entscheidungsgewalt liegt [zu bestimmen], welche Religion öffentlich ausgeübt werden soll (quaenam religio publice exerceatur); dies rechnen alle, die über Staatsphilosophie schreiben, als das vorrangigste [Recht] zu den Rechten der Staatsgewalt.“ (Nulla in re magis elucescit vis Summi Imperii, quam quod in ejus arbitrio est, quaenam Religio publice exerceatur, idque praecipuum inter Majestatis jura ponunt omnes qui Politica scripserunt.)

Und weiter: „Wie es aber in die Zuständigkeit der Höchsten Staatsgewalt, und zwar ausschließlich, fällt, die wahre Religion durch öffentliches Recht einzusetzen, so auch, falsche Religionen durch Verdrängung oder Bestrafung aufzuheben.“ (Sicut autem veram Religionem publico jure donare, ita falsas Religiones amoliendo aut puniendo tollere, est Summae Potestatis, [et] quidem solius.)33

In jedem Fall bleibt hier zu beachten, dass Grotius selbst diesen Traktat nie publiziert hat (Erstdruck posthum 1647), dass er sich sowohl seit 1625 in De jure belli ac pacis gegen Verfolgung aus religiösen Gründen ausspricht (§ 48 und 50: 522–528/1041–1050) als auch seit (1621 bzw.) 1629/40 in der oben zitierten Passage in De veritate religionis christianae (Buch 6, § 7) gegen Drohungen und Gewalt in religiösen Angelegenheiten. Doch dürfte es im Hinblick auf Grotius’ Versuch einer konkreten religionspolitischen Theoriebildung noch schwerer werden zu erklären, wie es zu dem gegenteiligen Vorwurf von Buddeus kommen konnte, Grotius habe eine überzogene Toleranzkonzeption vertreten (ultra quam par est). Vom Standpunkt der historischen Erfahrung aus lässt sich angesichts von Unterdrückung, Verfolgung und Krieg in der europäischen

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Religionsgeschichte nicht von Pluralismus als einem „Markenzeichen“ sprechen. Es gab diesen Pluralismus, aber es gab ihn nicht ohne Unterdrückung, Verfolgung und Krieg. Vom Standpunkt der philosophischen Reflexion aus könnte indessen die Konzeption eines ethischen Fundaments für religiösen Pluralismus wohl doch als ein „Markenzeichen“ gelten. In der philosophischen Reflexion wurde hier und da, nicht zuletzt von Grotius, das Paradox verstanden, dass eine Religion nicht vollkommen sein kann, wenn sie exklusiv vollkommen sein soll: „‚Nihil est enim tam voluntarium quam religio‘“ (Laktanz). Doch war es in Europa nicht selbstverständlich, dass Theologen sich an diesem „Markenzeichen“ orientierten – und ist es das heute?

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Aus der Zeit gefallen? Katholische Mission zwischen Modernitätsanspruch und Zivilisationskritik1 Mutter Teresa (1910–1997) war bis weit in die 1990er Jahre eine der globalen Ikonen der Entwicklungshilfe. 1979 erhielt sie den Friedensnobelpreis. Ihr Bild in der Öffentlichkeit beruhte allerdings auf einem kulturellen Missverständnis – wie ihre Biografin Marianne Sammer unterstreicht: Mutter Teresa sei „im öffentlichen Bewusstsein nicht als katholische Missionarin, die Tag und Nacht dem leidenden Christus Satisfaktion gewährt und dabei die Welt entsühnt, sondern als tolerante, philanthropisch gesinnte Nonne mit größten sozial- und entwicklungspolitischen Verdiensten“2 präsent gewesen. Während Journalisten, Politiker und engagierte Helfer vor allem ihre aufopfernde humanitäre Arbeit bemerkten, stand für Mutter Teresa Mission als religiöse Praxis im Zentrum ihres Handelns. Ihre eigene Frömmigkeit, die sich auch in den Vorschriften und den Praktiken der von ihr gegründeten religiösen Organisationen ausdrückte, war von einem besonderen mystischen Verhältnis zu Gott geprägt. Das Herz Jesu und das Herz Mariens boten den zentralen Ankerpunkt eines spirituellen Lebens, das auf Meditation und Mystizität ausgerichtet war. Die Spiritualität richtete sich auf „das Verschmelzen des Herzens Jesu mit dem Herzen des gottliebenden Menschen, das wechselseitige Ausbluten der Herzen, um den jeweils anderen mit seiner Liebe zu überschütten“.3 Opfer und Leiden durch die Pflege von Kranken und Armen bedeutete aus dieser Perspektive die Chance zur Vereinigung mit dem Opfer und Leiden Jesu und war als fromme, auf das Jenseits gerichtete Praxis konzipiert. All das drang kaum ins Bewusstsein einer Öffentlichkeit, die auf das humanitäre Engagement für die sogenannte Dritte Welt blickte. Wie konnte es zu einem derartigen Missverständnis kommen? Vermutlich lag im Fall Mutter Teresas eine kollektive Wahrnehmungsdisposition der europäischen und amerikanischen Öffentlichkeit vor, die dieses Missverständnis begünstigte: Mission konnte in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts kaum mehr als relevantes gesellschaftliches

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Phänomen begriffen werden – und so wurde Mutter Teresa in den Augen der Öffentlichkeit ihrer Religiosität größtenteils entkleidet und ihr humanitäres Engagement in den Vordergrund gerückt. Mutter Teresas Beispiel verweist auf eine tieferliegende historische Perspektive auf das Thema Mission und auf die Reflexion, die ich im Folgenden anstellen möchte: Haben christliche Missionare einen legitimen Ort in der Geschichte der globalen Verflechtungen des 20. Jahrhunderts? Sind sie gleichsam aus der Zeit gefallen oder war ihr Wirken lediglich für das analytische Auge unsichtbar? Sind sie Relikte einer vergangenen Zeit, in der sie eine überragende Bedeutung hatten für den Kulturkontakt zwischen Europäern und den Bevölkerungen Amerikas, Asiens und Afrikas,4 oder zählten sie auch im 20. Jahrhundert zu den wichtigen Akteuren kultureller Kontaktzonen?5 Die Beantwortung der Frage nach dem Ort der Mission in der globalen Moderne hängt von einer Reihe von Vorüberlegungen ab: Was ist unter Modernität zu verstehen? Was macht eigentlich Globalisierung aus und auf welche Bereiche des Lebens bezieht sich dieser Begriff? Wandelt sich Mission selbst in der Geschichte der Neuzeit und passt sich den Anforderungen einer globalen Moderne an? Welches Selbstverständnis der Akteure lag missionarischem Handeln zu Grunde? Diese Fragen möchte ich genauer fassen und auf das Problem der Mission beziehen – ohne sie allerdings alle umfassend zu klären, dazu sind sie zum Teil zu fundamental und weitreichend. Wichtig ist mir zu diskutieren, welches die richtigen Fragen sind, die an die Geschichte der Mission in der Moderne gerichtet werden sollen. Mission und Modernisierung Lange Zeit hatte die soziologische, geschichtswissenschaftliche und sogar die religionswissenschaftliche Forschung Missionare und Missionarinnen für das 20. Jahrhundert nicht mehr auf der Rechnung. Es gab sie zwar, aber historische Bedeutung schrieb man ihnen eigentlich kaum zu. Man nahm an, dass sich Europa schon seit dem 17. und 18. Jahrhundert, dem Zeitalter der Aufklärung, in einem Säkularisierungsprozess befand. Das heißt, dass kirchliche Institutionen ihre Macht und Bedeutung für die Gesellschaft verloren und ihre Funktionen vom Staat und der neuen bürgerlichen Zivilgesellschaft übernommen wurden. Säkularisierung bedeutet aber auch, dass die persönliche

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Frömmigkeit der Menschen, die subjektive Bindung an die Religionen wie an die Kirchen als Institutionen abgenommen haben. Europäische Gesellschaften würden ihre Welt zunehmend in rationalen, naturwissenschaftlichen und rein diesseitigen Konzeptionen auffassen, neue Institutionen – etwa im Bereich der Naturwissenschaften – Autorität zur Welterklärung übertragen bekommen.6 Max Weber (1864–1920), der den Theorie-Blueprint für die Modernisierungsthese lieferte, die allerdings erst durch den Umweg über die amerikanische Soziologie der 1950er Jahre wieder nach Deutschland kam, schrieb 1919: „Die zunehmende Intellektualisierung und Rationalisierung […] bedeutet nicht eine zunehmende allgemeine Kenntnis der Lebensbedingungen, unter denen man steht. Sondern sie bedeutet etwas anderes: das Wissen davon und den Glauben daran: daß man, wenn man nur wollte, es jederzeit erfahren könnte, daß es also prinzipiell keine geheimnisvollen unberechenbaren Mächte gebe, die da hineinspielen, daß man vielmehr alle Dinge – im Prinzip – durch Berechnung beherrschen könnte. Das aber bedeutet: die Entzauberung der Welt.“7

In seinem Werk „Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus“ versuchte Weber zu klären, was die Sonderstellung Europas bzw. des „Okzidents“ gegenüber anderen Kulturen und Regionen ausmacht. Für Weber ist es die „Entstehung des bürgerlichen Betriebskapitalismus mit seiner rationalen Organisation der freien Arbeit“8, die Europa unterscheidet. Die Voraussetzungen für die Entstehung dieser sehr besonderen Form des Kapitalismus sieht Weber in rationaler Technik und rationalem Recht. Aber eben nicht nur darin. Er argumentiert, ökonomischer Rationalismus hänge genauso stark ab von der „Fähigkeit […] der Menschen zu bestimmten Arten praktisch rationaler Lebensführung“. Außerhalb des neuzeitlichen Okzidents – und was für ihn dazu zählte wird noch zu diskutieren sein – sei diese Voraussetzung kaum gegeben: „Wo diese durch Hemmungen seelischer Art obstruiert war, da stieß auch die Entwicklung einer wirtschaftlich rationalen Lebensführung auf schwere innere Widerstände.“9 Genau hier setzt Webers bekanntes Argument an. Die inneren Widerstände würden von religiös-ethischen Moralvorstellungen erzeugt. Durch einen Wandel derselben seien auch die Widerstände beseitigt worden. Die „asketischen“ Formen des Protestantismus – Puritanismus, Calvinismus, Methodismus – interpretierten das Verhältnis von Diesseits und Jenseits völlig neu, im Sinne eines radikal-innerweltlichen Berufs-

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ethos. Das sei jedoch nur der Beginn des europäischen Sonderwegs in die Moderne: „[I]ndem die Askese aus den Mönchszellen heraus in das Berufsleben übertragen wurde und die innerweltliche Sittlichkeit zu beherrschen begann, half sie […], jenen mächtigen Kosmos der modernen, an die technischen und ökonomischen Voraussetzungen mechanisch-maschineller Produktion gebundenen, Wirtschaftsordnung erbauen, der heute den Lebensstil aller einzelnen, die in dieses Triebwerk hineingeboren werden […] mit überwältigendem Zwang bestimmt […].“

Längst hatte sich für Weber der „Geist des Kapitalismus“ von der protestantischen Ethik emanzipiert. Dabei schwingt auch ein starker Anteil zeittypischer Kulturkritik mit: Der ökonomische und technologische Fortschritt sei durch den Verlust persönlicher Autonomie und spiritueller Begleitung hart erkauft. Dass überhaupt „religiöse Bewußtseinsinhalte auf die Lebensführung, die Kultur und die Volkscharaktere“ großen Einfluss gehabt hätten, könne sich „der moderne Mensch“ beim besten Willen nicht vorstellen.10 Religiöse Akteure spielten für Weber in der Beschreibung der europäischen Gesellschaft nur als Akteure der Vergangenheit eine Rolle. Traten sie dennoch auf, galten sie als vormodern oder antimodern. Manuel Borutta hat jüngst darauf verwiesen, dass sich die Weber’schen Entwicklungsmodelle auf einen seit der Aufklärung existierenden Diskurs beziehen, der den Katholizismus als orientalisch charakterisiert.11 Womöglich wäre Boruttas Befund für das 20. Jahrhundert zu erweitern und auf Frömmigkeit an sich zu beziehen. Orientalisch meint hier neben vielen anderen Assoziationen eben nichtmodern. Begreift man die globale Expansion des europäischen Modells im weiteren Verlauf des 20. Jahrhunderts im Sinne Webers, konnten Missionare – nicht nur katholische, sondern längst auch protestantische, sofern sie religiös argumentierten – beinahe als Relikte und Überreste einer alten, „verzauberten“ Welt gelten, die sich noch mit metaphysischen Bezügen, mit dem Glauben an übersinnliche Mächte behelfen musste – Relikte, die auf die Dauer verschwinden würden. In den letzten Jahren findet die These der Säkularisierung immer weniger Zuspruch. Die klassischen christlichen Milieus waren resistenter als angenommen, immer noch rechnet sich die Mehrheit der Deutschen einer christlichen Konfession zu, wenn auch nur eine Minderheit Gottesdienste besucht. Die religionshistorische Forschung stellt gerade für das 19. Jahrhundert eine zunehmende Subjektivierung und

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Verinnerlichung des Glaubens fest. In vielen sozialen Bereichen kam es geradezu zu einem religious revival. Christlicher Glaube wird allerdings mehr als individuelle Verbindung zu Gott denn als Zugehörigkeit zu einer Kirchengemeinde erfahren – für viele Bevölkerungsschichten wohl zum ersten Mal in der europäischen Religionsgeschichte der Neuzeit. Religiöse Sozialisation fand zunächst nicht mehr primär in Statusgruppen, Korporationen und religiösen Institutionen statt, sondern innerhalb von Familien, während die Form der Religiosität zunehmend vom Bildungsstand abhing. Allerdings gelang es den Kirchen, die Gläubigen mit neuen bürgerlichen Sozialisationsformen, besonders dem christlichen Verein, zu reintegrieren. Die christlichen Kirchen selbst wurden im klassischen Sinne politisch: auf der einen Seite spricht man vom Nationalprotestantismus, der sich nach 1871 ganz besonders stark mit dem neuen deutschen Reich identifiziert.12 Auf der anderen Seite entstand der politische Katholizismus, der durch Bismarcks Kulturkampf gegen den gesellschaftlichen Einfluss der katholischen Kirche zwar institutionell arg gebeutelt wurde, ideologisch aber gefestigt daraus hervorging. Die religiöse Welt pluralisierte sich zunächst innerhalb der Konfessionen. Dann im 20. Jahrhundert kamen neue fernöstliche Religionen und charismatisch-christliche Pfingstkirchen hinzu. Auch zivile Religionen, etwa der Nationenkult, der vielfach religiöse Riten und Glaubensinhalte integrierte und neuinterpretierte, oder die quasireligiöse Verehrung der Natur und die damit verbundenen Praktiken eines „naturgemäßen Lebens“, sind hier zu nennen. Migranten bringen Religionen mit sich, die man bisher nur aus den Grenzgebieten Europas kannte, z.B. den Islam in verschiedensten Ausprägungen, und Religionswissenschaftler aus nicht-europäischen Ländern machen klar, dass der konventioneller Religionsbegriff, der das Weltliche sehr streng vom Spirituellen trennt, nur sehr eingeschränkt gültig ist.13 Michael Geyer und Lucian Hölscher haben das Religionsproblem auf einen konzisen Punkt gebracht: „Die innere Revitalisierung des Religiösen geht also mit einem gleichzeitigen Verfall traditioneller Formen des religiösen Lebens einher“. Es stellt sich also nicht die Frage, was an die Stelle von Religion getreten ist, sondern welche neuen „Existenzformen“ Religion in „westlichen Gesellschaften“ annimmt.14 All dies sind gute Gründe, um nicht mehr von Säkularisierung, sondern vom Pluralismus in der Europäischen Religionsgeschichte zu sprechen. Mission war ein integraler Bestandteil des religious revival im 19. Jahrhundert. Lange Zeit kam dabei der Primat der inneren Mission zu

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und nicht der sogenannten Heidenmission. Selbst viele Missionsvereine, die die äußere Mission finanziell unterstützen sollten, legten mehr Wert auf Gebete als auf Geldspenden. Im katholischen Deutschland zählten Missionsvereine zusammen mit Bruderschaften, Kongregationen, Dritten Orden – Laienorganisationen, die an Ordensgemeinschaften gebunden sind – und anderen Gebetsvereinen zu den größten religiösen Organisationen des 19. Jahrhunderts.15 Wie Siegfried Weichlein ausführt, waren die Missionsvereine Teil einer katholischen Antwort auf die bürgerlichen Revolutionen zwischen 1789 und 1848.16 Sie unterschieden sich damit erheblich von den Kolonialmissionen in den iberischen Imperien der Frühen Neuzeit. Sie waren auf Rom als Zentrum ausgerichtet und gaben sich betont supranational und antirevolutionär. Beginnend in Frankreich mit der Einrichtung der „Association de la propagation de la foi“ 1822 in Lyon durch Pauline Jaricot (1799–1862) fand das Programm der katholischen Weltmission auch in Deutschland besonders ab 1840 schnell Anhänger in erweckten Zirkeln des Bürgertums. In Aachen wurde 1840 der Franziskus-Xaverius-Verein gegründet, 1838 in München der sogenannte Ludwigs-Missionsverein, der sich im Gegensatz zum Lyoner und Aachener Verein national orientierte und auf die Mission deutscher Auswanderer nach Nordamerika konzentrierte. In Wien wurde 1829 die Leopoldinen-Missionsstiftung eröffnet, die zu ihren Spitzenzeiten im 19. Jahrhundert an die 100.000 Mitglieder hatte. 1849 kam mit dem Bonifatius-Verein ein weiterer Zweig der Missionsbewegung – die Diasporamission – hinzu, der sich vor allem auf diejenigen Gebiete Deutschlands konzentrierte, in denen Katholiken eine Minderheit darstellten. 1925 waren weltweit 246 unterschiedliche Vereine zur Unterstützung der Mission tätig.17 Immer häufiger zählten Frauen zu den tragenden Akteurinnen des religious revival, so dass die Forschung von der Feminisierung der Religion im 19. Jahrhundert spricht.18 Dabei kam diese Frauenbewegung keineswegs nur aus dem Bürgertum. Ein anschauliches Beispiel liefert die katholische Gemeinschaft der „Armen Dienstmägde Jesu Christi“,19 die 1842 – mitten in der Pauperismus-Krise – von Katharina Kasper (1820–1898) zusammen mit anderen Frauen ihres Dorfes im Westerwald als „Frommer Verein“ gegründet worden war. Die jungen Frauen veranstalteten Bibelstunden und Gebetsandachten und kümmerten sich auf lokaler Ebene um Arme, Kranke und Alte. Kasper stammte aus einer kleinbäuerlichen Familie und hatte als Tagelöhnerin

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und Wäscherin gearbeitet. Nachdem sie zunächst längere Zeit von den Verantwortlichen im Bistum Limburg für geisteskrank gehalten wurde, bekam der Verein 1851 die offiziellen Weihen des Bischofs und der Kirche. Innerhalb der nächsten Jahre gründeten sich Dependancen in Nordwestdeutschland und in Holland. 1868 wurde die erste Schwester in die USA ausgesandt und 1875 eine Niederlassung in London errichtet. Aus einer lokalen Graswurzel-Bewegung einiger WesterwaldFrauen war innerhalb weniger Jahrzehnte ein weltweit vernetzter Sozialverband entstanden. Missionen nutzten nicht nur die neuen globalen Kommunikationsnetze und Verkehrsmittel. Sie entfalteten durch die zunehmende Vernetzung im Sozialbereich sogar eine wichtige modernisierende Wirkung, indem sie neue transnationale Kommunikationsräume schufen.20 Neben Gebeten und Almosen kamen innerhalb der Missionsbewegung neue Frömmigkeitsformen auf: Missionsandachten- und predigten, Missionsfeste und die regelrecht kultische Verehrung von Missionspatronen und Märtyrern. Bereits 1846 wurde der „Verein der heiligen Kindheit“ in Deutschland eingeführt, drei Jahre nachdem er in Frankreich gegründet worden war. Insgesamt soll er 1907 1,6 Millionen Mitglieder gezählt haben.21 Damit wurde die Weltmission für viele Katholiken bereits in der Kindheit zu einem Teil ihrer Lebenswirklichkeit. Innere und äußere Mission waren schon allein deshalb kaum voneinander zu trennen, da viele der Missionare, die sich der Bekehrung der „Heiden“ zuwandten, aus dem Umfeld der Missionsvereine stammten. Der eigentliche Aufschwung der „Heidenmission“ begann in Deutschland erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.22 Arbeiteten um 1800 gerade einmal 300 katholische Missionare in Missionsfeldern außerhalb Westeuropas, so waren es 1908 bereits 25.000 und 1958 an die 100.000. Organisiert waren sie in den wiederauflebenden älteren Missionsorden und -gesellschaften, die schon vor 1800 bestanden hatten – etwa den Jesuiten, die 1773 von Papst Klemens XIV verboten worden waren und sich 1814 neu konstituierten. Wichtiger noch waren neue Missionsorden und gesellschaften – 29 Männer- und 39 Frauenorden wurden zwischen 1800 und 1914 neugegründet. Neben den früheren französischen Orden, z.B. den Weißen Vätern oder den Missionaren vom Hl. Geist (Spiritaner), waren dies in Deutschland u.a. die Steyler Missionare vom Hl. Wort (ab 1875) oder die in St. Ottilien bei München beheimateten Missionsbenediktiner (ab 1882).

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Als Bismarck in den frühen 1880er Jahren einen religionspolitischen Kurswechsel vollzog, die Auseinandersetzung mit der katholischen Kirche beendete und Deutschland gleichzeitig zur Kolonialmacht in Afrika und zu einem kleineren Teil auch in Asien und im Pazifik wurde, verband sich Mission erneut mit dem Kolonialismus. Viele Missionare unterschrieben insbesondere zwischen 1880 und 1917 die vorgeblich zivilisatorischen Zielsetzungen des europäischen Kolonialismus. Der Provinzial der deutschen Spiritaner P. Amandus Acker (1848–1923) beschrieb dies folgendermaßen: „Kurz die Aufgabe der katholischen Mission wird sein, mitzuhelfen dem Eingeborenen wahre Zivilisation zu bringen. Ihr Zweck ist nicht, die Herrschaft über die Eingeborenen an sich zu ziehen. Sie will nur den Schwarzen aufklären und ihn seinem Gott und Schöpfer zuführen. Dadurch wird sie dem Staat die besten Untertanen erziehen.“23

Acker betont in diesem kurzen Zitat eine Reihe von zentralen Punkten für das Selbstverständnis der katholischen Mission: Der Zivilisierungsauftrag gehe einher mit der Bekehrung; die Mission beschränke sich auf das erzieherische bzw. religiöse Feld und lehne politische Machtausübung ab. Ebenso wie die Rückständigkeit der „Schwarzen“ diskutierte Acker die eigene prekäre Stellung, die sich aus den Angriffen des Kulturkampfes ergab, betonte die eigene Stellung als Zivilisationsbringer, wie auch den Rückzug auf den religiösen Bereich und auf die weichen Felder des Kolonialismus. Acker ordnete katholische Mission und Katholizismus damit in die öffentlichen Debatten des Kaiserreichs in einer Art und Weise ein, die ihre Anschlussfähigkeit und die Modernität unterstrich. Mission und Globalisierung Der Prozess der Globalisierung, der in den letzten Jahrzehnten immer mehr ins Zentrum der historischen Forschung rückte, galt lange Zeit als Erweiterung eines eurozentrischen Modernisierungsprozesses. Hauptsächlich schien er sich auf Handel, Politik oder Verkehr zu erstrecken. Mit Osterhammel und Peterson kann Globalisierung als der „Aufbau, die Verdichtung und die zunehmende Bedeutung weltweiter Vernetzung“24 auffasst werden. Als besondere Merkmale der ‚Globalisierung‘ lassen sich zusammenfassen: die Entstaatlichung des

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politischen Feldes, eine zunehmende weltweite kulturelle Konvergenz und ihre Gegenbewegung (‚Glokalisierung‘), Entterritorialisierung, also der Bedeutungsverluste von Lokalität, Grenzen oder Entfernungen. Die Postcolonial-Studies-Bewegung in den Kulturwissenschaften mahnt jedoch zur Vorsicht bei einseitigen Globalisierungsdefinitionen, die sich allzu sehr aus der Modernisierungstheorie speisen.25 Betrachtet man Globalisierung aus dieser Perspektive, rückten die von ihr hervorgebrachten kulturellen Räume in den Blick – und zwar häufig als hybride Gebilde, Kontakt- und Begegnungszonen. Hergestellt werden sie durch cultural brokers, die zwischen kulturellen Räumen vermitteln. Sie verrichten Übersetzungstätigkeiten im erweiterten Sinn26 – also Übertragungen zwischen Kulturen, bei denen Bedeutungen ausgehandelten werden – und bewegen sich an den Grenzen von kulturellen Systemen. Missionarinnen und Missionare sind solche broker und Übersetzer – im engeren und weiteren Verständnis des Begriffs. Zentral war etwa ihre Rolle, was etwa die Produktion von Wissen über Lebensweisen, Sprachen, Religionen und Gesellschaftsbildung außereuropäischer Bevölkerungen betraf. Missionare verstanden sich selbst als Wissensvermittler. Der protestantische Missionar und Sprachforscher Diedrich Westermann (1875–1956) formulierte den Anspruch, als Wissenschaftler zu gelten, wie folgt: „Die Bedeutung der Mission für das Gesamtleben unseres Vaterlandes und seiner überseeischen Besitzungen zeigt sich schon jetzt auf mannigfache Art daheim und in den Kolonien. Die verschiedensten Gebiete des geistigen Lebens erhalten durch die Mission neue Anregungen und Befruchtungen oder schätzbares Material für die Forschungen.“

Zwar gäbe es auch Andere in den Kolonien, die sich der ethnographischen Forschung widmeten. Ihnen gegenüber hätten die Missionare aber „einen Vorsprung“, da „sie lange, oft ein ganzes Menschenalter hindurch, unter dem Volke lebten, seine Sprache praktisch beherrschen lernen, auf alle Äußerungen des geistigen Lebens dieser Völker einzugehen trachten“.27 Die Rolle der „religiösen Beeinflussung“ rückt Westermanns Gesamtdarstellung der evangelischen Mission in den deutschen Kolonien in den Hintergrund, dass darauf der „größte Nachdruck gelegt“ werde, verstehe sich und weiter brauche „wenig gesagt zu werden“.28 Alexandre Le Roy (1854–1938), Generalsuperior der Missionare des Heiligen Geistes und Religionsforscher, beschrieb

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die katholische Perspektive auf den Missionar als Wissenschaftler kritischer, forderte eine klare Prioritätenhierarchie. Die oberste Pflicht eines katholischen Missionars sei: „propager“ – „einer möglichst große Zahl von Seelen jene Wahrheiten offenzulegen, die notwendig sind, das Heil zu erreichen“.29 Der Missionar könne auch dem Vaterland dienen, als „un élément de moralisation, d’éducation, de progrès moral et matériel“, und er könne ein „missionaire de la science“ sein.30 Nachdrücklich ist zu betonen, dass „Wissen“ hier im Sinne der neueren Wissensgeschichte verstanden werden muss – als Produkt eines kulturellen Prozesses, der von interessengeleiteten und perspektivenabhängigen Akteuren getragen wird.31 Missionare brachten ihre festen Vorstellungen aus Europa mit, passten das, was sie in den Missionsgebieten beobachteten und erlebten, an ihre Maßstäbe und Denkstrukturen an. Oft mussten sie die Adressaten ihrer Berichte berücksichtigen, eine europäische Öffentlichkeit, die wenig Erfahrung im Umgang mit anderen Kulturen, aber nichtsdestoweniger feste Vorstellungen von der eigenen Überlegenheit hatte. Immer wieder kam es daher in der Kommunikation zwischen Peripherie und Metropole zu Reibungen und Konflikten – eine Erfahrung, die auch andere Akteure des kolonialen Feldes machten. Allerdings verlief der Kultur- und Wissenstransfer zwischen Peripherie und Metropole keineswegs als lediglich von europäischen Missionaren gelenkter Vorgang. Immer wieder wurde die christliche Botschaft ebenso wie die der Zivilisierung zu einer „claims making device“32 – einem Instrument in den Händen außereuropäischer Bevölkerungen, um Ansprüche und Gegenpositionen zu formulieren und durchzusetzen. Jean Comaroff etwa beschreibt das Begräbnis eines ANC-Führers in Soweto 1986, das von einem anglikanischen Erzbischof geleitet wurde.33 Während die Liturgie äußerlich an die Konventionen der englischen High-Church erinnerte, hob die Predigt auf das politische Martyrium Jesu Christi ab, während die Trauergäste spontan ein religiöses, aber von der Apartheid-Regierung verbotenes Lied anstimmten: Nkosi Sikel‘ iAfrika, Gott schütze Afrika. Es stellt eine Anrufung des Hl. Geistes dar, eine „Nation in Jesu“ erstehen zu lassen. Das Lied war in den 1890ern in einer Missionsschule verfasst worden. Den Machthabern des Apartheid-Regimes galt es als Symbol afrikanischen Widerstands. Die Bildsprache, Semantik und religiöse Praxis, die die Missionare seit dem frühen 19. Jahrhundert exportierten, waren bei der unterdrückten südafrikanischen Bevölkerung angekommen. Aller-

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dings in einer Form, die den Intentionen der Mission des 19. Jahrhunderts stark zuwider lief, hatte sie doch die allumfassende Reform der afrikanischen Lebensweise nach dem europäischen Vorbild angestrebt. Die südafrikanische Befreiungsbewegung hatte sich jedoch den christlichen Glauben auf ihre Weise angeeignet und nutzte ihn, um sich politisch zu artikulieren und den Anspruch auf Selbstbestimmung zu erheben. Mission als Gegenstand von und Akteur in Modernitätsdebatten An dieser Stelle muss festgehalten werden, dass die Frage, ob Missionare und Missionarinnen nun modern oder aus der Zeit gefallen seien, wohl falsch gestellt ist. Modernität ist eine Zuschreibung zeitgenössischer Debatten um Identitäten und Alteritäten. Frederick Cooper wendet sich sowohl gegen den Gebrauch des Begriffs „Modernität“ als heuristischer Kategorie im Singular – dieses oder jenes historische Phänomen sei dem europäischen Projekt der Modernisierung zuzuordnen, weiche davon ab oder laufe ihm zuwider, sei also antimodern. Zugleich macht er auf die fundamentale Schwäche neuer Begriffsbildungen, wie „vielfältige Modernen“ oder „alternative Modernen“, aufmerksam: Wenn jegliche Art der Veränderung als Modernität begriffen wird, verliert der Begriff seinen heuristischen Nutzen. Außerdem würden die neu ausgerufenen Modernitäten als Prozessbündel verstanden, das nur jeweils anderen Herkunftsräumen und oder sozialen Schichten zugeordnet wird als der ältere Singular. Beiden Gebrauchsweisen – Moderne und Modernen – attestiert er, dass sie komplexe Interaktionen auf allzu einfache kausale Prozesse reduzieren: „The use by historians and others of the concept of colonial modernity flattens history, elevating messy histories into a consistent project and underplaying the efforts of colonized people to deflect and appropriate elements of colonizing policies, taking apart the packaging that the critics of modernity leave intact.“34

Die Bezugnahme auf eigene oder fremde Modernität bzw. Rückständigkeit ist also vor allem als Selbst- oder Fremdzuschreibung zu verstehen, als ein Prozess der Selbsteinordnung auf einer Entwicklungslinie und der Einordnung Anderer, gleichsam eine Kartierung globaler Räume.

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Auf die Mission des 19. und 20. Jahrhunderts angewendet, ist die Frage nach Modernität also umzuformulieren. Missionare sind sowohl als Objekte wie auch als Akteure von Modernitätsdebatten zu begreifen: Wie wurde sie in Modernitätsdebatten eingeordnet? Welche Erzählungen verbreiteten Missionare und Missionarinnen über die eigene Modernität? Welche Vorstellungen verbreiteten sie über die Modernität anderer? Im 19. Jahrhundert wird das Spielfeld des interkulturellen Kontakts neu ausgemessen. Neue Mitspieler werden eingeführt. Missionare und Missionarinnen stehen in der Konkurrenz zu anderen Akteuren – Wissenschaftlern, Kolonialbeamten, Entwicklungshelfern, Journalisten, Migranten mit anderen kulturellen Hintergründen. Die Deutung ihrer Erfahrungen mit anderen Kulturen und Religionen bleibt ebenfalls nicht mehr ihnen selbst überlassen. Missionsarbeit wird von einer kritischen Öffentlichkeit diskutiert. Missionare beider Konfessionen mussten sich – dies war auch ihr subjektiver Eindruck – für ihre Arbeit verteidigen. Friedrich Fabri (1824–1891), Inspektor der Rheinischen Missionsgesellschaft und prominenter Kolonialpropagandist, sah sich z.B. einer feindlichen, liberalen Öffentlichkeit gegenüber und verteidigte die kulturellen Leistungen der protestantischen Mission: „Mission, Missions-Unternehmung sind dem größeren Publikum bei uns ebenso dunkle, wie zweifelhafte Begriffe. Ein Theil unserer Presse [ist] fortwährend bemüht, durch Angriffe, deren Unwissenheit nur von ihrem Uebelwollen übertroffen wird, Alles, was mit der Mission zusammenhängt, lächerlich oder verächtlich zu machen.“

Vor allem die religiöse Motivation der Mission stoße auf Unverständnis: „Jede Missions-Thätigkeit wurzelt zunächst in einem positiven religiösen Triebe. Wer diesen nicht theilt, […] wer vielleicht, wie heute so manche unserer gelesensten Zeitschriften, einer ausgesprochenen materialistischen Weltanschauung huldigt, dem ist natürlich dieser religiöse Trieb, fremde Völker zu christianisieren, unfaßbar“.35

Joseph Schmidlin (1876–1944), der Gründer der katholischen Missionswissenschaft, betonte 1925 die „kulturellen Ziele und Verdienste“ der katholischen Mission „[einerseits] bei den kulturlosen und kulturarmen Naturvölkern, denen sie vielfach erst die Kultur zu bringen hat, andererseits unter den Völkern einer

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fremden oder mindern Kultur, die sie durch Vermittlung der modernen Kulturfortschritte auf eine höhere Stufe hebt“.

Dadurch würden auch „Laien der verschiedensten, zum Teil kirchenfeindlichen oder antikatholischen Weltanschauungen“ anerkennen müssen, dass die katholische Mission „einen Kulturfaktor und Kulturträger ersten Ranges darstellt“.36 Auch hier wird aus der Defensive argumentiert, gegen eine Fremdzuscheibung als antimodern. Die Position innerhalb einer kritischen Öffentlichkeit bedeutet aber auch, dass sich die Mission neu aufstellte. Sie nutzte die neuen Möglichkeiten, wandte sich bewusst an die bürgerliche Öffentlichkeit, eignete sich die neuen Medien an, sammelte Spenden in allen Schichten, gründete Unterstützungsvereine, entdeckte die eigene Bevölkerung – insbesondere die Arbeiterschichten – als Missionsziel und ging von der direkten Verkündung des Glaubens zur indirekten Missionierung über. Ein Beispiel für die ‚demonstrative Modernität‘, die sich die christliche Mission in den Jahrzehnten um 1900 zulegte, ist die Missionsmedizin.37 Die „Ärztliche Mission“ ist in Deutschland ein Phänomen des 20. Jahrhunderts. Insgesamt unterhielten die protestantischen Missionen um die Mitte der 1920er Jahre weltweit 858 Krankenhäuser mit 1157 ÄrztInnen und 1686 Apotheken.38 Die katholische Weltmission zählte zu diesem Zeitpunkt 587 Krankenhäuser und 1786 Apotheken sowie 226 Ärzte/-innen.39 In Deutschland institutionalisiert wurde die Ausbildung und Vorbereitung auf den missionsärztlichen Einsatz im Bereich der protestantischen Mission 1909 mit der Gründung des Deutschen Missionsärztlichen Instituts in Tübingen und auf katholischer Seite 1922 mit dem Katholischen Missionsärztlichen Institut in Würzburg.40 Letzeres ist heute die „Katholische Fachstelle für Internationale Gesundheit“ und betreibt seit 1952 eine eigene Klinik in Würzburg, die sich u.a. auf Tropenmedizin spezialisiert hat.41 Entwickelt wurde die Idee von jungen Intellektuellen innerhalb der Missionsorden. Getragen wurde die Initiative augenscheinlich von den großen katholischen Missionsvereinen, insbesondere dem FranzXaver-Verein in Aachen, wo sich 1921 ein Verein für Missionsärztliche Fürsorge gegründete, der bald zahlreiche Ableger fand. Erster Direktor des Instituts wurde Christophorus Becker (1875–1937), ein erfahrener Salvatorianer, der vor dem Krieg als Apostolischer Präfekt die Missionsprovinz Assam übersah und dort u.a. Schulen, Kirchen und Waisenhäuser errichtete. Das Institut hatte vor allem zwei Auf-

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gaben. Zum einen übernahm es die medizinische Ausbildung des Missionspersonals. Zwischen 1922 und 1935 besuchten insgesamt 146 Missionsschwestern und 486 Missionare die Krankenpflege- und medizinischen Grundkurse des Instituts. In der Hauptsache aber bot es eine studienbegleitende bzw. vorbereitende Ausbildung für junge Ärztinnen und Ärzte an. Das Bild eines idealen Missionsarztes, das das Institut in der Öffentlichkeit zeichnete, war Ergebnis eines längeren Diskussionsprozesses innerhalb der einschlägigen Missionskreise, bei dem auf Bedenken und Kritik von Missionaren, Ordensoberen und der einschlägigen Öffentlichkeit eingegangen werden musste. Christophorus Becker SDS brachte dies Anfang der 1930er Jahre auf folgende Formel: „Wie wir einerseits den Priesterarzt in den Missionen in der Regel ablehnen, so suchen wir andererseits doch keineswegs einen Ersatz dafür in dem Arztpriester, in dem Sinne nämlich, als ob die Ärzte sich mit den Missionaren in deren religiöse Funktionen teilen und Predigt und religiösen Unterricht erteilen sollten. […] Da es sich hier nur um christliche Männer und Frauen handeln kann, denen die Erfüllung ihrer religiösen Pflichten Bedürfnis ist, so wird auch ein solches Beispiel christkatholischen Lebenswandels nicht ohne nachdrücklichen Einfluß auf ihre Umgebung bleiben.“42

Priester-Missionar und Missionsarzt sollte fein säuberlich voneinander getrennt bleiben. Priester waren Experten der Seelsorge, Missionsärzte sollten die Spezialisten für die Körper der „Heiden“ sein. Missionsmedizin war natürlich eine Antwort auf die Ansprüche der zu Missionierenden außerhalb Europas. Was nütze, fragte Thomas Ohm OSB (1892–1962), „auf Dauer die umfassendste und opferwilligste direkte Missionstätigkeit, wenn die Christengemeinden an Seuchen zu Grunde gehen.“43 Auch wirkten alle Predigten wenig, wenn man „wie der Priester und Levit unbarmherzig an den leidenden Menschen“ vorübereile. Die Medizin helfe „den Kontakt zum Volke herzustellen“. Sie erwarteten von den Missionaren keineswegs nur Seelsorge, sondern Hilfe bei gesundheitlichen Problemen. In den vielen Missionsgebieten konnte die Bevölkerung zwischen unterschiedlichen medizinischen Angeboten wählen. Kolonialregierungen stellten Regierungsärzte, traditionelle Heiler adaptierten westliche Methoden und verschiedenste christliche Missionen konkurrierten um Patienten. Gleichzeitig antwortete das Projekt Missionsmedizin auf einen öffentlichen Diskurs, der Katholiken Rückständigkeit bis hin zum intentionalen Anti-Modernismus attestierte. Die englische Ärztin Dr. Marga-

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ret Lamont praktizierte in Indien und gründete nach ihrem Übertritt zum Katholizismus eine Vereinigung von Missionsärztinnen mit dem Namen „Alma Redemptoris Mater“. 1920 schrieb sie, in der indischen Öffentlichkeit bestehe der „Eindruck“, dass „die Katholiken entweder nicht fähig sind fortgeschrittenere Medizin und Chirurgie auszuüben, oder es nicht tun dürfen oder wollen“.44 Die eigene Modernität wurde nicht nur durch Selbstzuschreibungen gesichert. Dadurch dass man die Adressaten der eigenen Missionsbemühungen, die „Heiden“, als rückständig und vormodern beschrieb, stellte man eine Differenz her, die die Eigenwahrnehmung als Vertreter der Moderne und der Fortschritts erst ermöglichte. Im Falle der Missionsmedizin geschah dies, indem man die europäischen Ärzte und Ärztinnen mit traditionellen Heilern verglich: Der Benediktiner Thomas Ohm schrieb: „Den unheilvollen Einfluß gewissenloser Ärzte, auch den Einfluß heidnischer Medizinmänner und Zauberer kennt jeder. Wo sie wirken, droht die Gefahr des Abfalls für die Heidenchristen. Wenn die Mission in Krankheiten Hilfe bieten kann, brauchen die anfänglich recht wankelmütigen Christen nicht bei schlechten Ärzten und heidnischen Zauberern Hilfe zu suchen oder zu Zaubermitteln ihre Zuflucht zu nehmen.“

Die Missionsmedizin liefere, so Ohm, einen wichtigen „Glaubwürdigkeitsgrund“ für das Christentum, lasse den Übertritt vernünftig und gerechtfertigt erscheinen.45 Die Kontrastierung von ‚modernen‘ Missionsmitteln und ‚vormodernen‘ Lebensweisen außereuropäischer Bevölkerung zählte zu den zentralen Mittel, sich in der bürgerlichen Öffentlichkeit in ein positives Licht zu rücken. Ein Beispiel ist die Abteilung Katholische Missionen auf der Berliner Kolonialausstellung von 1896, die von der Togo-Mission der Steyler Societas Verbi Divini (SVD) bestückt wurde. Sie bestand aus zwei sehr großen Glasvitrinen, die angefüllt waren mit Gegenständen, die die heidnische Bevölkerung Togos und ihre Lebensweise repräsentieren sollten. Arnold Janssen (1837–1909), der Gründer der Steyler Missionsgesellschaft, beschrieb dies wie folgt: „Es standen da Fetische, Waffen, Kleidungsstücke, Hausgeräte, Musikinstrumente, Landesprodukte und eine Reihe von Repräsentanten der Tierwelt Togos. Manche dieser Gegenstände wurden vom Königlichen Museum für Völkerkunde in Berlin erbeten und diesem bereitwilligst überlassen: u.a. ein Kriegsgott, Spiess, Armringe, Kalebasse, Fetische und Töpferwaren.“

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Gegenübergestellt wurden diesen Objekten Fotografien des Mutterhauses der Missionare des göttlichen Wortes in Steyl sowie der Missionsstationen in Togo und der dortigen Missionare im Kreis ihrer Schüler. Im dazugehörigen Beitrag im Ausstellungskatalog betont Janssen die Leistungen der Togo-Mission im Bereich des Schulwesens, der Plantagenwirtschaft und der Handwerkerausbildung, um „den Universalcharakter der christlichen Civilisation vor Augen zu führen im Lande der Unkultur“.46 Die damit produzierte Differenz von Modernität und Rückständigkeit ließ einerseits die katholische Mission als Akteurin der Zivilisierung erscheinen. Sie schrieb sich damit aber auch in einen kolonialen Diskurs ein, der das Bewusstsein europäischer Überlegenheit produzierte. Mission und Zivilisierung Christliche Mission, die sich die Bekehrung der Heiden und damit ihre Errettung aus der Verdammnis zum Ziel gesetzt hatte, wird durch die Adaption dieser als modern gekennzeichneten Projekte und Methoden immer mehr zur Zivilisierungsmission. Jürgen Osterhammel hat diesen Begriff, der zentral für das europäische Selbstverständnis in der Moderne ist, folgendermaßen umrissen: „Die Idee der Zivilisierungsmission in ihren modernen Ausprägungen schließt stets [eine] doppelte horizontale und vertikale Inklusivität ein“. Während horizontal hier die imperiale Ausbreitung des eigenen Machtbereichs meint, impliziert vertikale Inklusion eine historische Stufenleiter der gesellschaftlichen Entwicklung, an deren Spitze sich die westeuropäischen Nationen befänden. Die weniger entwickelten Bevölkerungen müssten gleichsam ‚empor gehoben‘ werden. Dieses Selbstverständnis beruht, so Osterhammel, auf zwei Grundlagen: „der Überzeugung des Zivilisators von der eigenen Überlegenheit, aus der sich die Selbstermächtigung zur Intervention in die Lebensumstände Anderer ableiten lässt, und der Erwartung einer gewissen Rezeptivität auf Seiten der zu Zivilisierenden.“47 Deutlich wird der enge Zusammenhang zwischen machtpolitischer Expansion und kulturellem Sendungsbewusstsein, in das auch die christlichen Missionen eingebunden waren. Auch schon vorher waren religiöse und weltliche Ziele der Mission nicht scharf zu trennen. Frühneuzeithistoriker weisen z.B. auf die frappant unterschiedlichen Erfolgsaussichten von Mission vor 1800 hin

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– je nachdem, ob sie im Verein mit kolonialen Eroberern kam, z.B. in Lateinamerika und auf den Philippinen, oder alleine agierte, etwa in China oder Japan. In den Kolonien der Portugiesen und Spanier sprach man vom conquista espiritual, der geistig-seelischen Eroberung der Gebiete durch die Mission, die die neuen Gebiete befriedete und die Bewohner auf die neuen Herrscher verpflichtete.48 Die katholische Mission in den asiatischen Reichen, in Japan und China, verlegte sich auf Anpassung, Akkommodation, an die Lebensweise vor Ort. Missionare eigneten sich buddhistische oder konfuzianische Kleidung und Lebensstil an, formulierten die asiatischen Glaubenslehren und traditionellen Philosophien dergestalt, dass sie als Varianten eines ursprünglichen Christentums gelesen werden konnten.49 Mit der Aufklärung jedoch bekam die Tätigkeit der Mission eine neue ideologische Aufladung. Die im 18. Jahrhundert neu entstehende bürgerliche Welt Europas entwickelte ein völlig neues Selbstbewusstsein und Zeitgefühl. Lucian Hölscher hat von der „Entdeckung der Zukunft“50 gesprochen: Dies bedeutete, einfach gesagt, die Zeit und Geschichte entwickelte sich nun linear vorwärts in die Zukunft und mit ihr schritt die Gesellschaft fort. Reinhart Koselleck sah die Wurzel des Fortschrittsgedankens in der Erweiterung des geographischen Erfahrungshorizonts: „Ein ständiger Impuls zum progressiven Vergleich wurde aus dem Befund gezogen, daß einzelne Völker oder Staaten, Erdteile, Wissenschaften, Stände oder Klassen den anderen voraus seien, so daß schließlich – seit dem 18. Jahrhundert – das Postulat der Beschleunigung oder – von seiten der Zurückgebliebenen – des Ein- oder Überholens formuliert werden konnte. […] Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, zunächst eine Erfahrung der überseeischen Ausbreitung, wurde zum Grundraster, das die wachsende Einheit der Weltgeschichte seit dem 18. Jahrhundert auslegte.“51

Daraus ergaben sich eine ganze Reihe von Entwicklungs- bzw. Zivilisationsmodellen, die bis heute zentral für das Wissen und Nachdenken über die Beziehungen von Europäern und außereuropäischen Bevölkerungen sind. Enorm einflussreich war etwa das Modell des britischen Ethnologen Edward Burnett Tylor (1832–1917).52 Er ging von drei aufeinander aufbauenden Stufen der gesellschaftlichen Entwicklung aus: den „Wilden“, also Jägern und Sammlern, den „Barbaren“, Viehzüchtern und Ackerbauern, und schließlich den Zivilisierten. Letztere Stufe hatten für Tylor v.a. die europäischen Gesellschaften des 19. Jahrhunderts

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erreicht. Mehr oder minder „entwickelte“ außereuropäische Bevölkerungen bildeten so Vorstufen zur europäischen Zivilisation, die die eigene Vor- und Frühgeschichte beobachtbar zu machen schienen. Die Einstufung verschiedenster Gesellschaften erfolgte meist anhand der jeweiligen Sprache, aber auch mit Hilfe religionswissenschaftlicher Untersuchungen und auf Grundlage körperlicher Merkmale, die die Rassenanthropologie seit dem späten 18. Jahrhundert untersuchte.53 Die frühe Religionswissenschaft, inklusive der an ihr mitwirkenden Missionare, entwickelte die Kategorien für eine evolutionistische Religionsauffassung, sie unterschied Naturreligionen von Kulturreligionen, sprach von Fetischismus, Animismus, Totemismus – grenzte Polytheismen von Monotheismen ab und stellte die Buch- und Weltreligionen an die Spitze eines Entwicklungsprozesses. Soziologische Erklärungsmodelle für die vermeintliche Überlegenheit der europäischen Zivilisation – etwa die beschriebene Weber-These – lösten ältere theologische Modelle ab. Noch im 19. Jahrhundert zogen Missionare z.B. das Wirken des Teufels als Erklärung für die vermeintliche Andersartigkeit nicht-europäischer Gesellschaften heran. Andere sahen in den afrikanischen Bevölkerungen die von Noah verfluchten Nachfahren Hams (Gen 9, 18–29) oder die nach dem missglückten Turmbau zu Babel versprengten Völker (Gen 11, 1–9).54 Die Indianer Nordamerikas wurden von einigen Missionaren im 17. Jahrhundert auf die zehn verlorenen Stämme Israels zurückgeführt – eine der wenigen positiven theologischen Erklärungen der Existenz nicht-christlicher Völker.55 Den Zivilisations- und Fortschrittsmodellen, die die theologischen Erklärungen ablösten und die zentral sind für unser Wissen und Denken, liegt ein ähnliches Muster zugrunde. Eine zurückblickend „entdeckte“ historische Entwicklung Europas wird zum Maßstab, an dem alle anderen Gesellschaften, Religionen, Staaten, Wirtschaften dieser Welt gemessen werden. Das Ergebnis fällt immer gleich aus: die „Anderen“ haben noch ein gutes Stück des Weges vor sich, den die Europäer schon hinter sich haben; Manche schreiten schneller voran, Andere langsamer; die Einen überholen Andere, rücken näher heran. Zum Teil entwickelt sich auch die Angst, überholt zu werden, oder gar abgehängt. Wichtig ist die Ergänzung, dass diese Diagnosen auch in die europäischen Gesellschaften hineinwirkten – das Primitive im Eigenen wurde etwa in den unteren sozialen Schichten, in bestimmten Glaubensformen und -praktiken oder auch ethnischen Minderheiten gefunden.

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Einerseits waren die Gläubigen und Missionare, insbesondere die Katholischen, selber Objekte dieses Fortschrittsdiskurses, d.h. auch über sie wurde in Begriffen des Zurückbleibens, des Unterentwickelten und des Obsoleten gesprochen. Andererseits machte sich die Mission die Entwicklungssemantik zu eigen, sprach von den Menschen in den Missionsgebieten als den zu zivilisierenden, zu kultivierenden und zu entwickelnden. Damit sich andere, außereuropäische Gesellschaften fortentwickeln konnten, musste man ihnen unter die Arme greifen: Man musste sie überzeugen, eine fortschrittliche Religion anzunehmen, das Christentum. Sie mussten unterrichtet werden, Lesen und Schreiben lernen, Ackerbau- und Handwerkstechniken mussten verbreitet werden. Europäische Zeit-, Arbeits- Familien- und Hygienevorstellungen sollten übertragen werden. Andere Lebensweisen galten dementsprechend als unstrukturiert, faul, unzüchtig, polygam oder schmutzig. Friedrich Fabri, der wie kaum ein anderer christliche Mission und deutschnationale Politik zu verbinden verstand, postulierte, kein „Volk, das auf die Höhe politischer Machtentwicklung geführt ist“, könne „seine geschichtliche Stellung mit Erfolg behaupten“, ohne dass es sich „als Träger einer Cultur-Mission erkennt und beweist“. Deutschland dürfe nicht zögern „seinen colonisatorischen Beruf aufs Neue zu betätigen“.56 Um diese Aufgabe zu erfüllen, sei insbesondere die christliche Mission „höchst nützlich, unter Umständen sogar unentbehrlich“.57 Mission als Kulturkritik Die Fortschrittsutopie, die die europäischen Gesellschaften auf dem Weg der ständigen Verbesserung und Vervollkommnung sah, blieb nicht unwidersprochen. Schon zur Mitte des 19. Jahrhunderts, insbesondere nach der 1848er Revolution, prangerten die Kirchen die Gefahren des Kapitalismus an, warnten vor der Proletarisierung der Arbeiterschaft und der Gottlosigkeit der Städte. Nach 1900 erfasste, so der Historiker Franz Bauer, „ein zunächst noch diffuses Mißvergnügen, ein Unbehagen über bestimmte Begleiterscheinungen und Äußerungen der industriellen Zivilisation“ breitere Bevölkerungsschichten, „das sich nach der Jahrhundertwende in einigen Milieus bis zum offenen, aggressiv artikulierten Leiden an der Moderne steigerte und verdichtete“.58 Nach dem Ersten Weltkrieg, der für viele Deutsche und

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gerade die Kriegsteilnehmer traumatisch wirkte, kann man sogar von einer „Krise der Moderne“ an sich sprechen. Wenn die Missionare sich auch keineswegs in Kulturpessimismus ergingen, so sahen sie die zivilisatorischen Entwicklungen Europas und ihre vermeintliche globale Verbreitung doch zum Teil kritisch. Der Spiritaner-Missionar Amand Acker warnte etwa: „Aber hier [in den Heidenländer] wird nur die Mission imstande sein, dem so tief gesunkenen Schwarzen die erforderliche Kraft zu verschaffen, inmitten der technischen Entwickelungen, die man ihm aufgezwungen hat, die Herrschaft über die niederen Triebe seiner Natur zu bewahren und das ist die schönste Aufgabe der Kolonisationsarbeit.“59

In diesem wie in anderen an eine breite bürgerliche Öffentlichkeit gerichteten Texten präsentierte sich die Mission als Sachwalter eines alternativen Zugangs zur Moderne. Sie nahm für sich in Anspruch, einen besonderen Zugang zu den jeweiligen traditionellen Gesellschaften zu besitzen und ihnen einen Weg in die Moderne zu eröffnen, der ohne die in Europa vermeintlich sichtbar gewordenen ‚dunklen‘ Seiten der Zivilisation auskam. Allerdings – und das wird deutlich, wenn man auf die Ebene der handelnden Akteure wechselt – wurden außereuropäische Missionsfelder für Missionare oft selbst zu positiven Gegenwelten der kritisch wahrgenommenen europäischen Zivilisation: Dr. Anna Roggen (1897–1927), eine Missionsärztin, die im Einzugsgebiet des Amazonas in Brasilien arbeitete, formulierte dies in fast poetischen Worten: „An der Küste und den Plätzen, die am großen Verkehr auf den unermesslichen Wasserstraßen teilnehmen, findet man auch hier im Norden Brasiliens europäische Kultur, allerdings etwas aufdringlich angeklebt und durch das heiße Klima beeinflusst. Je weiter es dagegen ins Innere geht, umso einsamer und ursprünglicher wird Land und Mensch bis man auf noch reine Indianerstämme trifft. In dieses Land d.h. zu seinen Kranken lade ich den Leser über Länder und Menschen hinweg ein Viertelstündchen ein.“60

Hier drückt sich eine individuelle Sehnsucht aus, die mit den Schlüsselvokabeln der „Reinheit“, der „Einsamkeit“ und der „Ursprünglichkeit“ eine im Deutschland der 1920er weit verbreitete, krisenhafte Grundstimmung beschreibt und die viele Missionare motiviert haben dürfte, Europa zumindest temporär zu verlassen.

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Fazit Vieles spricht dafür, dass die religions- und geschichtswissenschaftliche Forschung aus der Perspektive des späten 20. Jahrhunderts lange dazu neigte, die Rolle von Mission für den Prozess der Globalisierung zu unterschätzen. Nicht nur nahm Religion im Leben der allermeisten Menschen bis ins 20. Jahrhundert hinein eine bedeutende Stellung ein. Vielmehr waren christliche Missionare wichtige – wenn auch keineswegs die einzigen – cultural brokers, die zwischen europäischen und außereuropäischen Gesellschaften übersetzten und vermittelten. Die Frage allerdings, ob Mission aus der Zeit gefallen bzw. ein Relikt einer vergangenen Epoche ist oder ob sie als Teil der Moderne betrachtet werden muss, hat sich im Verlauf meiner Argumentation als unzulänglich erwiesen. Die Stellung von Missionaren im 19. und frühen 20. Jahrhundert war eine viel komplexere, als die Frage vermuten lässt. Modernität – also auf der Höhe der eigenen Zeit sein – war und ist eine Frage diskursiver Zuschreibung und eine Frage von kulturellen Konflikten und Machtkämpfen. Katholische Missionare galten im protestantisch-bürgerlichen Mainstream des 19. und frühen 20. Jahrhundert als rückständig und gestrig. Die Missionare selbst jedoch nutzten die Beschreibung nicht-europäischer und nichtchristlicher Bevölkerungen, um sich als fortschrittlich und zeitgemäß zu inszenieren. Bewusst setzten sie Zeichen vermeintlicher Modernität, indem sie beispielsweise die europäische Schulmedizin in ihren Missionsfeldern etablierten. Sie formulierten den europäischen Überlegenheitsanspruch mit, den etwa die Zivilisationsstufenmodelle der Ethnologie und der Religionswissenschaft untermauerten, und setzten sich als Wissensvermittler und Zivilisierungshelfer in Szene. Oft brachte die Mission damit die schwerwiegenden Auseinandersetzungen und die Unterdrückung durch den europäischen Kolonialismus mit hervor. Allerdings darf bei all dem keineswegs vergessen werden, dass die Menschen in den Missionsgebieten, an die sich die Missionare richteten, keineswegs passiv blieben. Immer wieder gelang es, die Botschaft der Mission für eigene Zwecke und Interessen zu nutzen, Bildungsangebote wahrzunehmen und die Sprache des Christentums dafür zu verwenden, Forderungen nach Selbstbestimmung und Gerechtigkeit zu stellen. Aus den Missionen wurden eigenständige Kirchen bzw. Bistümer, christlicher Glaube wurde Teil der kulturellen Identitäten zahlreicher nicht-europäischer Gesellschaften.

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Zum Teil grenzte Mission sich – zumindest verbal – von allzu einseitigen Zivilisationserzählungen ab und beanspruchte für sich einen kulturkritischen Zugang zur Moderne. Inwieweit die Themen, Methoden und Ideologien der christlichen Mission in die säkulare staatliche und zivilgesellschaftliche Entwicklungspolitik bis heute mit einfließen und inwiefern Mission stilbildend für humanitäre Hilfsprojekte war und ist, wird die historische Forschung noch beschäftigen. Die eingangs kurz dargestellte Wirkungs- und Wahrnehmungsgeschichte Mutter Teresas lässt vermuten, dass vielfach der religiös-missionarische Gehalt humanitärer Aktionen unterschätzt wurde. Mutter Teresas Biografie macht aber auch deutlich: Mission war auch im 20. Jahrhundert vor allem Frömmigkeitspraxis.

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Geschlechter(un)gleichheit im theologischen Wissenssystem. Pluralisierung religiöser Geschlechterkonzepte in der europäischen Moderne Die Realisierung der Gleichstellung von Frauen und Männern in den Kirchen wird meist an der Umsetzung der Frauenordination gemessen, also an der Beteiligung von Frauen an geistlichen Ämtern und den hiermit verbundenen Aufgaben wie der Leitung von Gottesdiensten und Gemeinden. Dies gilt nicht nur für die Orthodoxie oder die Römisch-Katholische Kirche, sondern auch für den Protestantismus. Dass der geistliche Dienst von Frauen trotz Frauenordination auch hier eindeutige Muster geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung aufweist, zeigt die Statistik der Evangelischen Kirche Deutschlands (EKD).1 Während Frauen im Bereich ehrenamtlicher Tätigkeiten mit fast 70 % vertreten sind, beträgt der Frauenanteil im Pfarramt 29 %, wobei er bei den sogenannten Funktionspfarrämtern, also etwa im Schuldienst oder in der Krankenhausseelsorge, mit 38,9  % deutlich höher liegt. Diese Zahlen zeigen, dass eine Segregation der Betätigungsfelder nach Geschlecht besteht. Sie ist ein Relikt der langwierigen, sich in den 1920er Jahren verdichtenden und bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts ziehenden Geschichte der Auseinandersetzung um Religion als Frauenberuf. Jüngere Studien zur Entwicklungsgeschichte des Pfarrberufs für Frauen bestätigen, dass dem Geschlecht in diesem Berufszweig nach wie vor eine hohe Ordnungsfunktion zukommt. Die Ausdifferenzierung eines spezifischen Deutungsmusters der protestantischen Pfarrerin demonstriert, dass Geschlechtergrenzen trotz formeller Gleichstellung in der Alltagspraxis auf neue Weise symbolisch verfestigt werden.2 Das Stereotyp des männlichen Pfarrberufs wurde zwar relativiert; mit der Übernahme des Pfarramts durch Frauen entfaltete sich aber gleichzeitig eine neue Form der Vergeschlechtlichung. Die Umstrittenheit der Frauenordination und die zögerliche Zulassung von Frauen zum Pfarramt in den 1960er und 1970er Jahren3 untermauern dies ebenso

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wie die weiterhin bestehenden Ressentiments innerhalb des evangelischen Spektrums, ob in Deutschland oder weltweit. Die Selbständige Evangelisch-Lutherische Kirche spricht sich beispielsweise nach wie vor gegen Frauenordination aus, und innerhalb des Lutherischen Weltbundes steht etwa ein Drittel von 145 Mitgliedskirchen der Frauenordination ablehnend gegenüber; hierbei handelt es sich nicht nur um Kirchen aus Asien oder Afrika, sondern auch aus Australien sowie Süd- und Osteuropa. Andererseits revidierten die Evangelischen Kirchen in Ost- und Westdeutschland Ende der 1980er Jahre offiziell ihre Haltung zur Geschlechterfrage. Auf der Synode der EKD 1989 in Bad Krozingen und derjenigen des Bundes der Evangelischen Kirchen 1990 in Leipzig wurden jeweils neue Leitlinien für die Umsetzung von Geschlechtergerechtigkeit festgelegt. Sie zielen nicht allein auf eine quantitative Erhöhung des Anteils von Frauen in kirchlichen Positionen, wenn auch – wie etwa in Bad Krozingen – die Erreichung einer Quote von 40 % Frauen in Leitungsfunktionen innerhalb von zehn Jahren beschlossen worden ist. Die Leitlinien markieren vielmehr einen programmatischen Wandel auf theologischer Ebene: In Bad Krozingen wurde es explizit als Stärke der Kirche definiert, „dass in ihr die gleiche geistliche Begabung von Männern und Frauen anschaulich sichtbar wird“.4 Vor diesem Hintergrund stellt sich aus gesellschaftstheoretischer Perspektive die Frage, wie sich der Wandel im Verständnis von der Frauenordination begründet und welche Reichweite er hat. Dabei lässt sich am Beispiel der Frauenordination die Pluralisierung religiöser Geschlechterkonzepte in der europäischen Moderne nachvollziehen. Aus institutionentheoretischer Perspektive betrachtet handelt es sich zunächst um einen De-Institutionalisierungsprozess. Er besteht aus dem Abbau rechtlicher Zugangsbarrieren für Frauen, vor allem ab den 1960er Jahren. Wie der weitere Verlauf der Einbeziehung von Frauen ins Pfarramt zeigt, war die rechtliche Gleichstellung zwar eine wichtige, aber keine hinreichende Bedingung des Wandels religiöser Ordnungsvorstellungen über das Geschlechterverhältnis. In der Folge kam es lange Zeit nur zu einer bedingten Umsetzung der Frauenordination. Zur Initiierung eines nachhaltigen Wandels bedurfte es einer weiteren Voraussetzung, und zwar der sich historisch parallel zum Abbau formeller Barrieren vollziehenden Überprüfung religiöser Wissensstrukturen, so etwa hinsichtlich ihres androzentrischen Charakters. Dies bezog sich zunächst auf spezifische Bereiche wie die An-

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thropologie; von hier aus hat sich mit den feministischen Theologien eine Re-Formulierung des theologischen Wissensvorrats in Richtung Geschlechtergerechtigkeit vollzogen. Aus wissenssoziologischer Perspektive handelt es sich hierbei um einen programmatischen Wandel der religiösen Symbolisierung von Geschlecht innerhalb des theologisch gebündelten Wissensvorrats der Religion. Hierzu wird die Theologie – zusammen mit der Glaubenspraxis (Ortho-Praxis) und der Glaubenslehre (Ortho-Doxie) – als eine zentrale Wissensform innerhalb des Wissenssystems5 der Religion eingeführt. Sie setzt sich aus einer Vielzahl von Wissensfiguren zusammen, von der Exegese über die Ekklesiologie bis hin zur Anthropologie. Ziel des Aufsatzes ist es, am Beispiel des Protestantismus zu zeigen, welche sozialen Rahmenbedingungen diesen Wandel auf der Ebene des theologischen Wissensvorrats behindert und welche ihn befördert haben, so dass die Partizipation von Frauen im Pfarramt nicht nur formell möglich war, sondern auch soziale Realität wurde. In diesem Zusammenhang stellt die Beschäftigung mit dem theologischen Perspektivenwechsel einen zentralen Schlüssel für das Verständnis dieser Entwicklung dar: die Dekonstruktion der theologischen Anthropologie als ein Haupthindernis der Realisierung religiöser Geschlechtergleichheit und die damit einhergehende Entwicklung eines neuen, Geschlechtergerechtigkeit einfordernden Paradigmas berühren den institutionalisierten Kern christlicher Religion. Dieser Prozess, so eine weitere These, ist in seiner Reichweite nur zu verstehen, wenn man berücksichtigt, auf welche Weise und in welchem historischen Zusammenhang die Anthropologie an Deutungs- und Wirkmacht gewonnen hat, und zwar nicht für die Theologie allein, sondern für das gesellschaftliche Verständnis vom Geschlechterverhältnis insgesamt. Deshalb beginnen die folgenden Ausführungen mit einem Abschnitt zum Wandel der Geschlechterordnung im Übergang von der ständischen zur modernen Gesellschaft. Ausgangspunkt ist die Feststellung, dass sich die im Alltagsverständnis als selbstverständlich geltende Anschauung vom Geschlechterverhältnis als eines dualistisch organisierten, auf die Natur des weiblichen Geschlechtskörpers zurückzuführenden Gegenverhältnisses erst im Übergang zur Moderne als Deutungshorizont herausgebildet hat. Im Hintergrund dieser veränderten Wahrnehmung von Geschlecht steht ein mit ihr aufs Engste verbundener epistemologischer Bruch. Er basiert auf der Neucodierung von Geschlecht im Rahmen der modernen Wissenschaften. Die

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Ausdifferenzierung einer Sonderanthropologie der Frau6 ist hiernach ein zentrales Element der Verwissenschaftlichung der Differenz. Dies war der kognitive Rahmen, innerhalb dessen sich die sogenannte Frauenfrage schließlich auch in der Theologie zur Wahrheitsfrage entwickelt hat. Die theologische Anthropologie des Geschlechterverhältnisses basiert im Kern auf der Annahme unterschiedlicher geistiger Begabungen von Frau und Mann; sie hat sich als theologische Wissensfigur in dieser Form erst im 19. Jahrhundert ausdifferenziert. Ihre Wirkmacht entfaltete sich noch in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, als Frauen vermehrt eine theologische Ausbildung und darauf aufbauend den Zugang zu geistlichen Ämtern anstrebten. Unter Verweis auf das dualistische Geschlechtermodell wurde dies verwehrt. Entgegen der Öffnung der Universitäten für das Frauenstudium wurden formale Zugangsbarrieren zum Pfarramt geschaffen und das Differenzmodell auf diese Weise kirchenrechtlich institutionalisiert. Ihren ersten Höhepunkt hatte die theologische Geschlechteranthropologie aber bereits im 19. Jahrhundert, als Frauen zunehmend nach eigenen, sinnstiftenden Formen religiöser Praxis zu suchen begonnen hatten und ihr Bestreben nach Partizipation in den in dieser Zeit entwickelten diakonisch-missionarischen Diensten realisierten. Die Organisation von Frauenarbeit innerhalb der Mission als unbezahlter Liebesdienst ist ein zentrales Beispiel dafür, wie der anthropologisch fundierte Geschlechterdualismus in der Religion verankert worden ist. Ungeachtet dessen, dass das diakonisch-missionarische Betätigungsfeld für die Entwicklung weiblicher Berufsarbeit ex-post eine strukturelle Weichenstellung darstellt, ist die Ausdifferenzierung dieses Arbeitsfeldes zunächst vor allem als Ausdruck der Verfestigung des modernen dualistischen Geschlechtermodells in der Religion zu lesen. Dies wird im zweiten Abschnitt skizziert. Ende des 19. Jahrhunderts geriet dieser Dienst von Frauen in die Diskussion; eine Verbindung zur sogenannten Frauenfrage, also zu beruflichen Aspirationen, Bildungsbestrebungen und materieller Lebenssicherung von Frauen, wurde aber nur von wenigen hergestellt. Eine diesbezügliche Reflexion auf die religiöse Geschlechterordnung vollzog sich weitgehend erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts, und zwar als Folge der Öffnung der Universitäten für das Frauenstudium. Die Möglichkeiten akademischer Professionalisierung lenkten den Blick in neuer Weise auf die spezifischen Bedingungen des Ausschlusses von Frauen in der Religion. Dies mündete ab den 1920er Jahren in die

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sogenannte Theologinnendebatte zwischen Reformbefürworterinnen und -gegnern. Wie es in diesem Zusammenhang zur Verfestigung des theologisch über die Anthropologie legitimierten Ausschlusses von Frauen gekommen ist, wird im dritten Abschnitt erläutert. Erst in den 1960er und 1970er Jahren kam es zu einem Paradigmenwechsel; auf welche Weise sich mit der kritischen Rekonstruktion verschiedener theologischer Wissensfelder eine Pluralisierung religiöser Geschlechterkonzepte verbunden hat, wird in einem vierten und letzten Schritt umrissen. Hierzu wird auf die wichtigsten Motoren dieses Wandels Bezug genommen, und zwar auf die ökumenische Bewegung und die feministische Theologie. Insgesamt zeigt der Beitrag nicht nur, dass religiöser Wandel in gesellschaftlichen Wandel eingebettet ist. Es wird auch deutlich, dass religiöser Wandel religiös legitimiert werden muss. Insofern handelt es sich bei der Distanzierung von der anthropologischen Begründung der Geschlechterordnung nicht primär um eine auf gesellschaftlichen Modernisierungsdruck reagierende Abkehr von einer bis dahin unveränderten theologischen Tradition. Die theologische Begründung des Geschlechterverhältnisses wird nicht schlicht zugunsten einer rein formalen Gleichstellung fallen gelassen. Äußere gesellschaftliche Veränderungen wie der fortschreitende Abbau institutioneller Barrieren gesellschaftlicher Partizipation, und nicht zuletzt die säkularen Frauenbewegungen, haben zwar durchaus zur Reflexion der Wissensformen innerhalb der christlichen Religion beigetragen. Im Kern handelt es sich bei diesem Vorgang aber um eine Re-Formulierung des theologisch gebündelten Wissensvorrats christlicher Religion selbst, und damit um eine Pluralisierung religiöser Geschlechterkonzepte. 1. Wandel der Geschlechterordnung im Übergang zur Moderne Formen sozialer Differenzierung nach Geschlecht finden sich in jeder Gesellschaft. Ob Geschlecht aber eine übergeordnete soziale Teilungsdimension darstellt und auf welche Weise sich dies begründet, ist historisch wie auch interkulturell variabel. Der strukturelle Umbau im Übergang vom europäischen Mittelalter zur Moderne ist ein solcher Fall sozialen Wandels der Formen weiblicher und männlicher Vergesellschaftung. Die christliche Religion stellt in diesem Zusammenhang einen gesellschaftlichen Teilbereich dar, anhand dessen dieser Verän-

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derungsprozess beispielhaft nachvollzogen werden kann. Hierzu wird im Folgenden zunächst der gesamtgesellschaftliche Umbau betrachtet. In der ständischen Gesellschaftsordnung wurden Frauen und Männer primär als Angehörige ihres jeweiligen Standes bzw. des hierin verankerten Familienverbands wahrgenommen. Die Identität war in erster Linie durch die Zugehörigkeit zu dem spezifischen Haushalt als der primären Versorgungs- und Wirtschaftseinheit bestimmt. Das Geschlecht bezeichnete hiernach den Zusammenhang familialer Abstammung, nicht aber die Differenz zwischen weiblichem und männlichem Geschlechtskörper; Geschlecht war entsprechend eine Kollektiv- und keine Individualkategorie.7 In der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts begann die allmähliche Ablösung dieser religiös legitimierten Ordnung. Im Hintergrund des sich abzeichnenden Wandels stand unter anderem die Aufklärungsphilosophie, begleitet von der Wiederbelebung der querelle des femmes, und zwar auch durch Theologen.8 Zur Debatte stand – neben politischen und theologischen Positionen – ein egalitäres Geschlechterkonzept, insofern als Frauen hiernach im Sinne des cartesianischen Dualismus’ trotz körperlicher Verschiedenheit in intellektueller Hinsicht als prinzipiell gleichwertig gedacht wurden. Diese Sichtweise wurde in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zunehmend durch eine dualistische, auf die natürliche Verschiedenheit der Geschlechter rekurrierende Ordnungsvorstellung mit universellem Geltungsanspruch überlagert. Um 1800 hatte sie sich endgültig durchgesetzt: „Dabei lässt sich beobachten, daß die historisch spezifische, bürgerliche Geschlechterideologie mit zunehmender Selbstverständlichkeit und anschwellendem ontologischen Pathos als zeitlos, natürlich und gottgewollt ausgegeben wird. […] Die Aussagen über die Differenz der Geschlechter verfestigen sich zu einem Wortritual kontrastiver Formeln, mit denen der Mann und die Frau beschworen werden. […] ‚He thinks; she feels. He reasons, she sympathizes‘“.9

In struktureller Hinsicht war dieser Wandel in die Auflösung der ständischen Ordnung und des hierin eingelagerten Familien- und Abstammungszusammenhangs eingebettet. Parallel zur sukzessiven Herauslösung der ökonomischen Produktion aus dem Haushalt und ihrer Verlagerung in einen eigenen Funktionskontext kam es zur Neukonstituierung des innerfamiliären Zusammenhangs als Intimsphäre. Dies verband sich mit dem Verweis von Frauen und Männern in die einerseits klar voneinander abgegrenzten, andererseits komplemen-

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tär aufeinander bezogenen Sozialräume des Öffentlichen und des Privaten und eine damit korrespondierende Arbeitsteilung der Geschlechter. Die Differenzierungsprozesse untermauerten die Polarisierung der Geschlechter, inklusive der ihnen in der Moderne exklusiv zugeschriebenen Wesensmerkmale. Insgesamt konstituierte sich das Geschlechterverhältnis damit in der Moderne erstmals als kategoriales Ungleichheitsverhältnis, und zwar in Richtung einer dualistischen, von der Grundverschiedenheit beider Geschlechter ausgehenden Relation. In wissenssoziologischer Hinsicht ist dies ein hochvoraussetzungsvoller Prozess; er ist von der Ausdifferenzierung entsprechender Wissensformen begleitetet, in deren Folge das Geschlecht in seiner Funktion als universelles Klassifikations- und Zuordnungsprinzip erst die notwendige Plausibilität und Relevanz erhält. Dies heißt nicht, dass Männer und Frauen im vormodernen Denken nicht unterschieden wurden. Auch im europäischen Mittelalter standen sie im Sinne der Metaphysik der Geschlechterordnung in einem auf Ungleichheit basierenden Verhältnis zueinander. Hierbei handelt es sich aber nicht wie in der Moderne um eine systematische, sondern um eine graduelle Differenz. Frauen galten im Sinne des vormodernen Ein-GeschlechtModells als minderwertige Männer bzw. als unvollkommene Variante des männlichen Typs. Im Verhältnis zum männlichen Vorbild wurden weder die Geschlechtsorgane von Frauen noch ihre Charaktereigenschaften als gegensätzlich wahrgenommen, sondern als strukturell identisch: „Demzufolge ist die Frau ein durch Mangel an Männlichkeit charakterisiertes Wesen. Es gibt keine spezifisch weiblichen, biologischen, physiologischen oder psychologischen Attribute, vielmehr sind alle Besonderheiten des ‚schwächeren‘ Geschlechts defizitäre Erscheinungsformen dessen, was dem ‚starken‘ Geschlecht eigen ist.“10

Wie Thomas Laqueur aufzeigt, begründete sich diese Perspektive in einem allgemein auf Homologien aufbauenden Weltverständnis; hiernach war der gesamte Kosmos respektive das Beziehungsgefüge aller darin lebenden Elemente zueinander nach demselben hierarchischen Ordnungsprinzip strukturiert.11 Die vormoderne Geschlechterordnung zeichnete sich also durchaus durch ein deutliches Maß an Ungleichheit aus. Es kulminierte in der Auffassung von der allgemeinen weiblichen Minderwertigkeit. Sie war aber weder mit der modernen

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Auffassung einer grundsätzlichen, biologisch begründeten Verschiedenheit identisch, noch hatte sie ähnliche strukturelle Effekte. Weil Geschlecht kein individuelles, sondern ein kollektives Zuordnungskriterium war, und Ungleichheit in Form der ständischen Differenzierung gesellschaftlich legitimiert war, besaß geschlechtsspezifische Ungleichheit auf individueller Ebene eine andere Relevanz: Im Verhältnis zur ständischen Zugehörigkeit stellte sie nicht das primäre Klassifikationskriterium dar. Frauen und Männer eines Standes waren sich hinsichtlich der Begrenztheit ihrer sozialen Möglichkeiten und Ressourcen ähnlicher als Frauen und Männer eines höheren Standes; in diesem Sinne waren sie auf einer spezifischen strukturellen Ebene jeweils in vergleichbarer Weise von Ungleichheit betroffen. Erst im Zuge des Modernisierungswandels wurde der Sexus über alle sozialen Schranken hinweg zum individuellen Zuordnungs- und Klassifikationsprinzip. Dies manifestierte sich nicht nur in dem veränderten semantischen Gebrauch des Geschlechterbegriffs, der nicht mehr auf genealogische Zugehörigkeit fokussierte. Der Bedeutungswandel manifestiert sich auch auf der Ebene der Sozialstruktur, indem das Geschlecht zu einer zentralen gesellschaftlichen Teilungsdimension geworden war, die jetzt allgemeine, als ‚natürlich‘ eingeführte Eigenschaften von Personen markiert und diese verschiedenen gesellschaftlichen Sphären zuweist. Die moderne Form sozialer Differenzierung nach Geschlecht hat ihren Hauptbezugspunkt hiernach in der Zurechnung geschlechtsspezifischer Eigenschaften auf die Person. Das Individuum ist folglich immer und überall Angehörige des einen oder anderen – biologischen – Geschlechts. Dies gilt insbesondere für den weiblichen Körper. Er wurde im Zuge des Wandels vom Ein- zum Zwei-Geschlecht-Modell Gegenstand einer radikalen Umdeutung. Dies beruht auf der Einführung des Dimorphismus, der jeden Vergleich zugunsten einer absoluten Inkommensurabilität zurückweist: „es herrscht eine Anatomie und Physiologie der Unvergleichlichkeit an der Stelle einer Metaphysik der Hierarchie“.12 Die Ablösung der metaphysischen Geschlechterordnung durch das biologisch begründete Differenzmodell war in einen umfassenden epistemologischen Wandel eingebettet. Er beinhaltete nach Foucault eine grundlegende Veränderung gesellschaftlicher Ideen und Auffassungen über den Menschen.13 In deren Mittelpunkt stand nicht nur ein besonderes Interesse am Menschen an sich, sondern an der menschlichen Sexualität im Besonderen. Sie hat sich im 19. Jahrhundert zu

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einem zentralen Wissensobjekt entwickelt. Foucault verfolgte in seinen wissenssoziologischen Untersuchungen, wie dieses Wissen Geltung erlangt hat, und wie dabei ein bestimmter Blick auf Menschen geschaffen wurde. Dies bezieht sich vor allem auf die Relevanz von Geschlechtlichkeit als Bestimmungsgrund unseres Seins, und die enge Verbindung von Weiblichkeit, Natur und Sexualität. Ein zentraler Motor dieses epistemischen Umbruchs bestand hiernach in der Ausdifferenzierung der medizinischen Wissenschaften; weiterhin kann auf die Entwicklung der modernen Anthropologie verwiesen werden. Sie nahm nicht nur einen besonderen Stellenwert hinsichtlich der Entstehung des modernen Verständnisses vom Menschen ein, sie erhielt auch eine neue inhaltliche Ausrichtung: Hatte noch im 17. Jahrhundert die aristotelische Grundannahme anthropologische Vorstellungen dominiert, wonach der Mann die höchste Stufe der menschlichen Entwicklung darstellt, so bildete ab 1800 das dualistische Geschlechterverhältnis den Kern des Verständnisses vom Menschen. Dies gilt insbesondere für die gesellschaftliche Verortung von Frauen und das sich mit ihrer Geschlechtlichkeit verbindende Wissen. Im Hintergrund dieses von Claudia Honegger als Neu-Codierung des Geschlechterverhältnisses bezeichneten Vorgangs steht neben dem cartesianischen Dualismus, der den Blick auf die innere Mechanik des Organismus’ lenkt und den Körper dadurch in eigener Weise zum Objekt wissenschaftlichen Interesses macht, die Verwissenschaftlichung der Differenz. Mit Hilfe neuer Methoden wurde der weibliche Organismus vermessen, klassifiziert und katalogisiert und jene Sonderanthropologie der Frau erst hervorgebracht. Das Differenzmodell wurde auch in der Religion aufgegriffen und mit der vormodernen Metaphysik der Hierarchie verknüpft; im Mittelpunkt der theologischen Anthropologie stand die Auffassung von der geistigen Besonderheit der Frau. Auf diese Weise wurde das religiöse Ungleichheitsverhältnis neu begründet und gleichzeitig hierarchisch zementiert. Dazu trägt insbesondere bei, dass der Sexus zu einer ontologischen Kategorie geworden ist: die biologische Differenz bildet den alles erklärenden Begründungshorizont, inklusive der unterstellten Dualität auf geistig-seelischer Ebene. Auf diesem Wege hat sich die Geschlechterfrage auch in der Theologie zur Wahrheitsfrage entwickelt. Im Anschluss an Michel Foucault lässt sich festhalten, dass im Rahmen der theologischen Anthropologie ein neues Wissen über den Menschen im Allgemeinen und über Frauen im Besonderen entstan-

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den ist. Es hat allgemeine Geltung erlangt, so dass ihm ein spezifischer Wahrheitsstatus zukommt. In der Folge hat sich die moderne, anthropologisch begründete Geschlechtertheologie erst zu einem zentralen Ordnungselement innerhalb der Religion entwickelt. Untermauert wurde dies durch dieselben Quellenverweise, die in der Vormoderne als Beleg gradueller geschlechtsspezifischer Unterschiede galten, etwa die Genesis, und hier vor allem die Erschaffung Evas und der Sündenfall. Wurden diese Textstellen ehedem herangezogen, um weibliche Inferiorität zu rechtfertigen, so erfolgte der Rekurs hierauf innerhalb der modernen theologischen Anthropologie, um die seelische Besonderheit von Frauen und ihre daraus resultierende Begabung für spezielle Tätigkeitsfelder zu belegen. Auf welche Weise das Differenzmodell im 19. Jahrhundert in den theologischen Wissensvorrat eingeschrieben wurde, wird im nächsten Kapitel beispielhaft ausgeführt. 2. Ein spezifisch christliches Frauenideal als Kern der religiösen Geschlechterordnung Die Re-Institutionalisierung der religiösen Geschlechterordnung im 19. Jahrhundert basierte wesentlich auf der Veränderung des theologischen Wissens über das Geschlechterverhältnis durch die moderne Anthropologie. Das auf dem Geschlechterdualismus beruhende Differenzmodell wurde in den theologischen Wissensvorrat integriert und weibliche Inferiorität über den Verweis auf die sogenannten Geschlechtseigentümlichkeiten der Frau neu begründet. Ein zentrales Beispiel dafür, wie sich im 19. Jahrhundert die theologische Geschlechteranthropologie strukturell verfestigen konnte, stellt die Missionsbewegung dar. Die dualistische Geschlechterordnung bildete ein zentrales Strukturelement dieser Bewegung, und zwar im Bereich der Arbeitsorganisation wie auch innerhalb einzelner Aufgabenfelder. Im Hintergrund dieser Veränderung steht die Herausforderung christlicher Religion durch den allgemeinen strukturellen Wandel im Übergang zur Moderne. Weil ihre „Motivkraft“ gesunken ist, steht kirchlich verfasste Religion vor der Notwendigkeit, ihren Standort zu überprüfen und sich zu dem weitreichenden gesellschaftlichen Wandel zu verhalten.14 Diese Situation wurde – nicht nur im Protestantismus – zum Ausgangspunkt weitreichender Aktivitäten um eine Rechristianisierung der Gesellschaft gemacht. Bezugspunkt dieser Anstrengungen

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war die sogenannte soziale Frage, also die mit dem sozial-politischen Wandel des 19. Jahrhunderts verbundenen Folgeprobleme, so etwa Verstädterung und Pauperisierung bei gleichzeitigem Mangel an Fürsorgestrukturen. In Abgrenzung zu den Idealen der neuen politischen und geistigen Strömungen richteten sich die religiösen Anstrengungen im nachrevolutionären Europa auf die verstärkte Vermittlung traditioneller christlicher Werte, und zwar mit dem Ziel einer sittlich-religiösen Erneuerung der Gesellschaft. In praktischer Hinsicht manifestierte sich dies in der Frage, wie christliche Religion ihren Geltungsanspruch als vera religio behaupten kann. Weltweite Mission bildete insbesondere im 19. Jahrhundert einen zentralen Mechanismus zur Untermauerung dieses Universalismusanspruchs. Die anthropologisch fundierte Geschlechterordnung wurde in diesem Zusammenhang zu einem Kernelement jener distinkt christlichen Antwort auf sozialen Wandel gemacht. Die ihr zugrunde liegende Auffassung einer Besonderheit der weiblichen Seele stellte einen wichtigen Anknüpfungs- und Zielpunkt gesellschaftlicher Missionierung dar. Johann Hinrich Wichern, der als Begründer der Inneren Mission gilt, schrieb Frauen diesbezüglich eine Schlüsselposition zu, und zwar „ihrer Berufung gemäß als Gehilfinnen des Mannes“.15 Frauen wurden entsprechend zu missionarischem Engagement aufgefordert, dabei aber primär auf den ihnen zugewiesenen Verantwortungsbereich der Familie gelenkt. Soweit Frauen in außerfamiliäre soziale Dienste einbezogen wurden, hatten die Tätigkeiten einen klaren Bezug zu den ihnen zugeschriebenen erzieherischen und fürsorgerischen Funktionen. Bezugspunkt der Verortung von Frauen in der Religion war stets das historisch noch neue Differenzmodell. Christliche Religion machte es sich dabei zur Aufgabe, die ‚Charakteristika der Weiblichkeit anzuleiten‘ und in Richtung eines Idealmodells weiterzuentwickeln. Im Protestantismus kulminierte dies in einer theologischen Überhöhung des Frauenbildes und der Ehe; letztere galt seit der Reformation als „die gottgefällige Lebensform schlechthin“.16 Biblisch wurde weibliche Besonderheit nicht nur über die Schöpfungsgeschichte, die Erschaffung aus Adams Rippe, belegt. Auch für die ‚tüchtige Hausfrau‘ fanden sich entsprechende Verweise, und nicht zuletzt für die asymmetrische Positionierung von Frauen in den Gemeinden. So wurden neuzeitliche Weiblichkeitsvorstellungen mit christlichen Werten verbunden, und dabei die gesellschaftliche Funktion von Frauen als ergebene Mutter und Gattin untermauert.17

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Gleichwohl stellte die Ausdifferenzierung der Missionsbewegung aus der Perspektive von Frauen auch eine Erweiterung ihres Handlungsspielraums dar, weil sich mit ihr neue Muster weiblicher Lebensführung entfalteten. Amalie Sieveking etwa, die neben Hinrich Wichern und Theodor Fliedner als Vorreiterin der inneren Mission gilt, intendierte, unverheirateten Frauen über die Mission eine existenzsichernde Tätigkeit zu erschließen. Und auch Theodor Fliedner sah in der Kaiserswerther Diakonie eine Form der beruflichen Bildung und Arbeit für Frauen. Mit der äußeren Mission verband sich ebenfalls eine Dynamisierung der Partizipationsmöglichkeiten für Frauen. Sie hatten an den in der weltweiten Missionsbewegung entstandenen Organisationsformen und Vereinigungen einen maßgeblichen Anteil, obwohl die Möglichkeiten unabhängiger Betätigung ohne männliche Leitung und Kontrolle extrem eingeschränkt waren. Hinsichtlich ihrer programmatischen Ausrichtung lässt sich aber feststellen, dass Frauenmissionsarbeit grundsätzlich aufs Engste mit der modernen, auf dem dualistischen Geschlechtermodell basierenden Symbolisierung von Weiblichkeit verbunden war. Dies gilt selbst für Amalie Sieveking, die als eine der ersten öffentlich im 19. Jahrhunderte die ‚Frauenfrage‘ in der Kirche thematisierte. Mit ihrem Konzept einer ‚besonderen Mission der christlichen Frau‘ verfolgte auch sie letztlich einen Differenzansatz. Wie verfestigt die Sonderanthropologie der Frau im allgemeinen Denken war, zeigt schließlich die in den 1890er Jahren geführte Debatte über das Diakonissenwesen. Sie wurde durch den ungedeckten Bedarf an weiblichen Pflegekräften ausgelöst und weitgehend als Klage über die „mangelnde(n) Bereitschaft von Frauen (…), sich in den selbstlosen Dienst für Gott stellen zu wollen“ geführt.18 In Abgrenzung dazu stellten nur wenige eine Verbindung zwischen der ‚sozialen Frage‘ und ‚der Frauenfrage‘ her, so wie etwa Elisabeth Malo. Sie sah die Schaffung unabhängiger, beruflicher Formen materieller Existenzsicherung für Frauen in den Kirchen als Notwendigkeit an und wies den Grundgedanken der Diakonie als unbezahlten Liebesdienst entsprechend als Ausbeutung zurück. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass sie dies nicht primär als Frage der Durchsetzung gleicher Rechte verstand wie etwa Hedwig Dohm. Für die durchaus von der bürgerlichen Frauenbewegung beeinflusste Elisabeth Malo ging es im Anschluss an die liberale Theologie des 19. Jahrhunderts vor allem um eine Überprüfung zentraler theologischer Aussagen zum

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Geschlechterverhältnis. Unter Bezugnahme auf die historische Bibelkritik wies sie das anthropologisch fundierte Differenzmodell explizit zurück. Malo blieb aber im 19. Jahrhundert eine Ausnahme. Insofern stellt die protestantische Mission ein eindrückliches Beispiel dafür dar, wie fest die theologische Anthropologie des Geschlechterverhältnisses, und damit das Differenzmodell, im theologischen Wissensvorrat eingeschrieben war. Erst in den 1920er und 1930er Jahren wurde die weibliche Sonderanthropologie zum Referenzpunkt kontroverser Standpunkte.19 Im Hintergrund dieser Debatten standen die neuen Möglichkeiten akademischer Bildung für Frauen und ihre Zulassung zum Pfarramt. 3. Re-Institutionalisierung und De-Institutionalisierung des Ausschlusses von Frauen aus geistlichen Leitungsfunktionen Nachdem das Konzept der polaren Geschlechtscharaktere im 19. Jahrhundert als Referenzebene für alle die ‚Frauenfrage‘ innerhalb des Protestantismus betreffenden Erörterungen institutionalisiert worden war, stellte sich mit der Zulassung von Frauen zum Studium ab 1900 eine veränderte Situation ein. Die im 19. Jahrhundert noch weitgehend ausgesparte Thematik beruflicher Perspektiven für Frauen in der Religion nahm infolge der Öffnung der Universitäten in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine Wendung. Frauen konnten allerdings zunächst keine berufsqualifizierenden Examina ablegen.20 Erst 1919, mit der formaljuristischen Festlegung der Gleichheit von Frau und Mann in der Weimarer Reichsverfassung, richteten die theologischen Fakultäten Abschlussprüfungen ein, allerdings mit einer erneuten Einschränkung: Die Examina von Absolventinnen glichen nicht denjenigen der Männer; in der Folge leitete sich hieraus kein Anspruch auf eine kirchliche Anstellung ab. Das Predigtamt für Frauen stand nicht ernsthaft zur Debatte, auch wenn hierzu vereinzelt schon vor dem ersten Weltkrieg öffentliche Überlegungen seitens liberaler Theologen angestellt worden waren.21 Dieser Zusammenhang wurde ab den 1920er Jahren als sogenannte Theologinnenfrage diskutiert. Ein Bezugspunkt dieser Debatte bestand in der gestiegenen Arbeitsbelastung von Pfarrern in der Volksmission und im Schulwesen; sie förderte einen im Rahmen der üblichen Pfarrarbeit nicht lösbaren

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Personalbedarf zutage. Neben der angespannten pastoralen Situation war es auch die veränderte kirchenpolitische Konstellation nach 1918, und hier insbesondere die Kirchentrennung, die das Bewusstsein einer Krise in kirchlichen Kreisen beförderte hatte.22 Die Beschäftigung mit der Theologinnenfrage fiel in diese Zeit innerkirchlichen Umbruchs. Möglichkeiten neuer, das Pfarramt ergänzender Aufgabenbereiche wurden diskutiert; sie verbanden sich mit der Diskussion über berufliche Einsatzmöglichkeiten theologisch gebildeter Frauen. Überlegungen zur Ausgestaltung dieser Ämter waren eng am tradierten Differenzmodell orientiert. Inhaltlich waren sie an der volksmissionarischen Arbeit ausgerichtet und als Gehilfinnenämter zur Unterstützung der Pfarrer konzipiert. Die ersten akademisch gebildeten Theologinnen hatten diesbezüglich ähnliche Vorstellungen. Sie beteiligten sich schon früh an der Theologinnendebatte; 1925 gründeten sie zu ihrer Interessenvertretung den Verband Evangelischer Theologinnen. Wohl fassten sie das Pfarramt ins Auge, aber als ein Amt sui generis, das besondere, auf Frauen und Kinder gerichtete Aufgaben in den Gemeinden beinhalten sollte. Im Sinne der theologischen Geschlechteranthropologie betonten auch Theologinnen die dienende Funktion der Frau gegenüber der Gemeinde.23 Dies galt aber nicht für alle Theologinnen. Die sich 1929 vom Verband abspaltende Vereinigung Evangelischer Theologinnen wies das Argument einer weiblichen Besonderheit unter Bezugnahme auf ekklesiologische Argumente zurück und forderte entsprechend die volle Gleichstellung von Frauen im Pfarramt. Diese Haltung konnte sich aber in den 1920er und 1930er Jahren nicht gegen den Differenzansatz durchsetzen; hiernach war das Pfarramt als ‚Mannesamt‘ nicht mit der seelischen Veranlagung der Frau vereinbar.24 Die ersten kirchlichen Gesetze zur Beschäftigung von Theologinnen, die in der Zeit von 1925 bis 1932 erlassen wurden, spiegeln den Differenzansatz wider. Wie Heike Köhler betont, setzte erst jetzt eine breite Debatte um das Theologinnenamt ein, in deren Mittelpunkt die Ordinationsfrage stand.25 Die rechtlichen Regelungen schränkten die Arbeitsfelder von Theologinnen klar auf geschlechtstypische Tätigkeitsbereiche ein; sie reichten von der Wortverkündigung im Kindergottesdienst über Andachten mit Frauen und Religionsunterricht bis hin zur Seelsorge in Gefängnissen und Krankenhäusern. Gemeindegottesdienste und Sakramentsverwaltung waren nicht erlaubt. Was sich hier manifestierte, war eine kirchenrechtlich fundierte ReInstitutionalisierung der sich im 19. Jahrhundert entfaltenden theo-

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logischen Sonderanthropologie. Die berufliche Inklusion von Frauen war zwar weitergehend als im 19. Jahrhundert; aber sie spiegelte eins zu eins die auf dem Differenzmodell beruhende theologische Fundierung der Geschlechterhierarchie: Frauen hatten nicht nur zu spezifischen Arbeitsfeldern des Pfarramts keinen Zugang, sie wurden auch geringer entlohnt, hatten meist keine gesicherte Altersversorgung, mussten zölibatär leben und verloren im Falle der Eheschließung alle geistlichen Rechte. Zu Beginn der 1930er Jahre arbeiteten die meisten Theologinnen auf der Basis von Privatdienstverträgen in Einrichtungen der Inneren Mission und der kirchlichen Hilfswerke, in Schulen sowie in Großstadtgemeinden. Amtsbezeichnungen wie diejenige der Vikarin, der Pfarramtshelferin oder Pfarrhelferin markierten eine für alle erkennbare Differenz und Unterordnung zum Pfarramt. Dem lag eine androzentrische Herrschafts- und Ordnungstheologie zugrunde, die in der Zeit des Nationalsozialismus nicht nur das Geschlechtergefüge in den deutsch-christlichen Gemeinden, sondern auch innerhalb der Bekennenden Kirche (BK) bestimmt hatte. Obwohl sie nach 1918 das aktive und passive Wahlrecht erhalten hatten, waren Frauen nach 1933 in keiner Synode mehr vertreten; dies gilt auch für die BK. Der Vikarinnenausschuss der BK in der Altpreussischen Union durfte zwar offiziell zur Ordinationsfrage Stellung nehmen; die von einigen Theologinnen eingeforderte Frauenordination wurde seitens der BK aber unter Verweis auf das besondere Amtscharisma entschieden zurückgewiesen.26 Entgegen der theologisch dominanten und rechtlich fixierten Sonderstellung wurden vielen Vikarinnen im zweiten Weltkrieg in Abwesenheit der männlichen Amtsinhaber die Aufgaben des Pfarramts übertragen; die Begründung hierfür war die Existenz einer Notsituation, womit wiederum Besonderheit markiert wurde. Nach 1945 entschieden sich die evangelischen Landeskirchen daher ohne Zögern und ohne Ausnahme erneut gegen eine Zulassung von Frauen zum vollen Pfarramt. Es kam sogar zur Re-Institutionalisierung des ‚geistlichen Amtes besonderer Art‘ ab 1948, wonach Frauen nur in Ausnahmefällen die Leitung einer Gemeinde und eines Gemeindegottesdienstes übernehmen durften. Dazu gehörte neben der Festlegung entsprechender kirchenrechtlicher Regelungen auch die Schaffung planmäßiger Sonderstellen; wie schon vor 1945 war dies mit einer geringeren Bezahlung und einer inhaltlichen Festlegung auf den ‚Dienst eigener Art‘ gekoppelt.27 Dass es ab 1958 dennoch zu einer erneuten Diskussion über die rechtliche Lage von Vikarinnen kam, ist nach Auffassung

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von Waltraud Hummerich-Diezun nicht unwesentlich darauf zurückzuführen, dass der im Grundgesetz niedergelegte Gleichheitsgrundsatz voll in Kraft getreten war. Hierdurch sei eine Abkehr vom Amt sui generis bzw. eine kritische Beschäftigung mit der theologischen Sonderanthropologie befördert worden.28 Eine weitere Rahmenbedingung stellte der wachsende Personalbedarf dar; im volksmissionarischen Bereich hatte sich das Aufgabenspektrum erweitert, von der Jugendarbeit über die Schul- zur Frauenarbeit. Abgesehen davon war es aber nicht minder relevant, dass die Situation in theologischer Hinsicht selbst unbefriedigend geworden war. Wie Leonore Siegele-Wenschkewitz ausführt, hatte die gleichermaßen auf Rassismus und Chauvinismus fußende gesellschaftliche und kirchliche Wirklichkeit des Nationalsozialismus die theologische Geschlechteranthropologie überholt und damit in den Augen vieler delegitimiert. Hierin bestand ihrer Ansicht nach ein wesentlicher Grund für das Wiedererstarken der Diskussion um die ‚Theologinnenfrage‘, aus der mittlerweile eine ‚Vikarinnenfrage‘ geworden war.29 Ab Mitte der 1960er Jahre wurden die Gegenthesen zur Ordnungstheologie und dem damit verbundenen Amt sui generis pointierter. Parallel wurden schrittweise – und wie Helga Kuhlmann ausführt, durchaus für die beteiligten Theologinnen überraschend – die rechtlichen Sonderregelungen für Frauen abgebaut, zunächst 1962 in der DDR und in der BRD ab 1968, beginnend mit der Württembergischen Landeskirche.30 Die Vikarinnen- und Pastorinnengesetze wurden zugunsten der Pfarrergesetze aufgehoben oder umformuliert, wobei Sonderregelungen für Frauen zunächst teilweise bestehen blieben; dies gilt insbesondere für verheiratete Pfarrerinnen. Eine einheitliche rechtliche Gleichstellung trat innerhalb der EKD erst 1978 in Kraft. Obwohl die Zugangsbarrieren für Frauen nun offiziell gefallen waren, verband sich dies nicht mit einer entsprechenden Umsetzung der Frauenordination. Mitte der 1990er Jahre lag der Anteil von Frauen im Pfarramt bei etwa 20 %, in den 1980ern sogar nur knapp über der 10 %-Marke. Theologinnen waren also trotz des Wegfalls formeller Barrieren nur spärlich in geistlichen Ämtern oder leitenden Positionen vertreten. Die eigentlichen Probleme begegneten Frauen ungeachtet ihrer formellen Gleichstellung in der Praxis, ob in Form ungleicher Entlohnung oder traditioneller Rollenvorstellungen. Noch zu Beginn der 1990er Jahre wurde die Legitimität des weiblichen Pfarr- und Leitungsamtes anlässlich der Wahl von Maria Jepsen zur ersten lutherischen Bischöfin welt-

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weit unter Verweis auf die Besonderheit des Amtes und der ‚weiblichen Begabung‘ infrage gestellt. Zu diesem Zeitpunkt hatte sich der theologische Begründungshorizont allerdings schon verschoben: ausgehend von der ökumenischen Bewegung und der feministischen Theologie hatte sich eine theologische Neubewertung des Geschlechterverhältnisses im Protestantismus vollzogen und die Markierung der theologischen Anthropologie des Geschlechterverhältnisses als eine Ungleichheit begründende und daher nicht mehr haltbare Wissensfigur befördert. Die Hintergründe dieses Wandels werden im folgenden Abschnitt umrissen. 4. Paradigmenwechsel: Geschlechtergerechtigkeit als theologische Sinnressource Die weltweite ökumenische Bewegung, so wie sie sich 1948 in Form des aus der Missionsbewegung hervorgegangenen Ökumenischen Rats der Kirchen (ÖRK) institutionalisiert hat, nimmt hinsichtlich der theologischen Revision des Geschlechterverhältnisses eine Sonderfunktion ein. Sie hat diesen Prozess auf besondere Weise befördert, indem sie nicht nur für den Umgang mit konfessioneller, sondern auch mit anderen Formen sozialer Verschiedenheit einen neuen Deutungsrahmen bereitstellte. Auf diese Weise hat sich die Ökumene zu einer spezifischen Ressource für die Mobilisierung der Beschäftigung mit Geschlechterungleichheit entwickelt.31 Dies hat seine Ursache in der ökumenischen Leitidee selbst. In der Ökumene wurden von Beginn an unter dem Leitbegriff der ‚Einheit der Kirchen‘ Prozesse religionsinterner Verhältnisbestimmung und Selbstvergewisserung angeregt, und zwar in Richtung einer weltweiten, konfessionelle und andere soziale Unterschiede überwindenden Konvergenz. Die Einheitssemantik bildet den Hintergrund für eine Infragestellung verschiedenster sozialer Grenzziehungen, nicht nur konfessioneller, sondern auch ökonomischer, ethnischer, geographischer und schließlich auch geschlechtsspezifischer Art. Die Ökumene ist in diesem Sinne eine ‚idee directrice‘, von der ausgehend verschiedenste Formen sozialer Ungleichheit thematisiert und an Möglichkeiten ihrer Überwindung auf theologischer Ebene gearbeitet werden kann. In diesem Sinne haben die im ÖRK aktiven Frauen Geschlechtergerechtigkeit von Beginn an als programmatischen Kern des ökume-

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nischen Anliegens definiert. Hiernach ist die Realisierung kirchlicher Einheit im Binnenverhältnis der christlichen Religion nicht ohne Revision der Geschlechterordnung erreichbar: Ohne Geschlechtergerechtigkeit keine kirchliche Einheit. Schon auf der Gründungsversammlung des ÖRK 1948 in Amsterdam wurde die Situation von Frauen in den Kirchen als ein theologisch relevantes Thema eingeführt. In empirischer Hinsicht bezog sich dies auf den Status und die Formen der Mitwirkung von Frauen in den Kirchen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.32 Die Beschäftigung hiermit entfaltete sich in den nächsten Jahrzehnten in Form von Studienprogrammen, Konferenzen, Konsultationen, Resolutionen und nicht zuletzt im Rahmen der Dekade der Solidarität der Kirchen mit den Frauen (1988–1998).33 Teil dieses Prozesses war seit den 1950er Jahren die Beschäftigung mit der Frauenordination. Auf der ersten Sitzung des ÖRK-Frauenreferats 1955 wurde sie als theologisch relevantes Thema in den ökumenischen Arbeits- und Diskussionszusammenhang eingeführt. 1961, auf der ÖRK-Vollversammlung in Neu-Delhi, wurde die Untersuchung der mit der Frauenordination verbundenen ekklesiologischen und biblischen Fragen vorangetrieben und an eine der leitenden Kommissionen des ÖRK übertragen. Damit wurde ein Prozess fortlaufender Konsultationen angestoßen, der sich bis über die folgende Vollversammlung 1968 in Uppsala hinaus in die 1980er Jahre zog. Auch wenn die Mitgliedskirchen des ÖRK letztlich hinsichtlich ihrer theologischen Positionierung zur Frauenordination immer deutlich divergierten, und das Thema auch heute als eines der zentralen Konfliktfelder innerhalb der Ökumene gilt, so leitete die regelmäßige programmatische Arbeit an Fragen des Geschlechterverhältnisses dennoch einen für die Kirchen auf nationaler Ebene jeweils auf eigene Weise wirksam werdenden Paradigmenwechsel ein, in dessen Folge sich Geschlechtergerechtigkeit zu einer relevanten theologischen Sinn- und Handlungsressource entwickelt hat. Dies gilt auch für den protestantischen Kontext. Eine zentrale Wegmarke stellt in diesem Zusammenhang die auch über ökumenische Kreise hinaus bekannt gewordene Berliner FrauenKonferenz des ÖRK von 1975 dar; hier wurde unter Beteiligung USamerikanischer, feministischer Theologinnen eine Beschäftigung mit dem theologischen Status von Frauen eingefordert und zur Anerkennung von Frauen als gleichberechtigten Partnerinnen in Theologie und Kirche aufgerufen. Für die US-amerikanischen Teilnehmerinnen der Berliner Konferenz stand fest, dass es eines theologischen Instrumen-

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tariums bedarf, das sich die Befreiung von Frauen aus strukturellen Zwängen in Kirche und Gesellschaft zum Ziel setzt.34 Für sie war der Rekurs auf die sich in den USA seit den 1960ern formierenden politischen Befreiungs- und Emanzipationsbewegungen ein zentraler Motor für die inhaltliche Richtung und die Form, in der sich die Reflexion des theologischen Wissensvorrats christlicher Religion vollziehen sollte. Die Befreiungsbewegungen fokussierten auf die strukturellen Rahmenbedingungen gesellschaftlicher Ungleichheit und auf damit verbundene Machtverhältnisse in ethnischer wie auch in geschlechtsdifferenzierender Hinsicht. In Analogie hierzu wurde die Frauenfrage deshalb auf dieser Konferenz unter dem Begriff des Sexismus als strukturelles Problem in Religion und Gesellschaft eingeführt. Der politische Feminismus wurde in der Folge auch in Deutschland zu einem wichtigen Bezugspunkt einer theologischen Erneuerung. Dies ist nicht selbstverständlich. Als sich die ersten Frauen in der Theologie profilierten, geschah dies mit dem alleinigen Anspruch, theologisch zu arbeiten. In den 1960er und 1970er Jahren wurden aber zunehmend sozialkritische Gesellschaftsanalysen für die Theologie fruchtbar gemacht und mit den daraus resultierenden Anfragen an einen angemessenen wissenschaftlichen Umgang mit der Bibel verknüpft. Es waren unter anderem die politische Hermeneutik der latein-amerikanischen Befreiungstheologie und die schwarze Theologie der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung, die hierfür ein Vorbild lieferten.35 Ausgehend von einer kritischen Analyse des gesellschaftlichen Raums, in dem Theologie betrieben wird, wurden diejenigen Kontexte, innerhalb derer die Schriften stehen, ihrerseits einer sozialgeschichtlichen Analyse unterzogen. Diese Hermeneutik etabliert sich in den 1970er Jahren in verschiedenen theologischen Feldern, von der Exegese bis hin zur Systematik und der praktischen Theologie. Darüber hinaus ist die Entwicklung feministischer Theologien eine unmittelbare Konsequenz der seit den 1960er Jahren geführten Diskussionen um die Zulassung von Frauen zum geistlichen Amt und des sich in diesem Zusammenhang offenbarenden Bedarfs an geeigneten theologischen Mitteln zur Revision traditioneller Herrschafts- und Ordnungstheologien. Während die Ordinationsfrage selbst überwiegend in kirchlichen Gremien, Fakultäten und Gemeinden ausgetragen wurde, haben sich feministische Theologien im protestantischen Kontext vor allem außerhalb des institutionalisierten Kerns protestantischer Theologie und ihrer Organisationsformen entwickelt. Im

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Gegensatz zum katholischen Feminismus, der Ende der 1960er Jahre von amerikanischen Theologinnen in den Universitäten als wissenschaftliche Dekonstruktion traditioneller Theologie eingeführt wurde, so etwa von Mary Daly, Bernadette Brooten, Nelle Morton, Letty Russel, Elisabeth Schüssler-Fiorenza und Rosemary Ruether, vollzog sich die Grundlegung im protestantischen Kontext vornehmlich außerhalb von Akademia, und zwar als sogenannte Barfußtheologie in Basisbewegungen. Experimentelle, außeruniversitäre Aktions- und Sozialformen, ob auf Kirchentagen, in selbstverwalteten Frauengruppen, Akademien oder in Form studentischer Initiativen waren für die Verbreitung feministisch-theologischer Anliegen zentral.36 Dies hatte zur Folge, dass sich die Revision traditioneller Wissensformen auf mehreren Ebenen vollzog, also nicht nur im Bereich des theologischen Wissensvorrats, sondern auch beispielsweise die Ortho-Praxis betreffend. Beispielhaft kann auf die Liturgiebewegung verwiesen werden. Darüber hinaus wurden feministisch-theologische Grundlagen weitgehend von einzelnen Autorinnen außerhalb des wissenschaftlich-akademischen Bereichs gelegt. Hierzu gehören Theologinnen wie Elisabeth Moltmann-Wendel, Christa Mulack oder auch Gerda Weiler. Als eigenständige Wissensfigur nahmen feministische Theologien seit den 1980er Jahren zunehmend einen distinkten, programmatischen Status ein, weil sie nicht nur einen graduellen, sondern einen systematischen Wandel einfordern. Dies mündete in eine umfangreiche Rekonstruktion der Tradition und der mit ihr verknüpften Geschlechterschemata. Zentrale traditionelle theologische Wissensfiguren wurden hinsichtlich der ihnen inhärenten, auf Ungleichheit beruhenden Symbolisierung von Weiblichkeit als historisch bedingte Geschlechterobjektivationen dekonstruiert. Hierzu gehört neben der Anthropologie und dem besonderen Amtscharisma beispielsweise auch die androzentrische Fixierung überlieferter Gottesbilder und -semantiken, und nicht zuletzt eine Neuinterpretation der Schöpfungsgeschichten.37 Ungeachtet ihres Status als Sonderprogramm neben anderen theologischen Wissensfiguren, haben feministische Theologien etwas erreicht, das mit der De-Institutionalisierung rechtlicher Zugangsbarrieren für Frauen allein nicht umsetzbar war. Aus wissenssoziologischer Sicht eröffneten feministische Theologien eine neue Perspektive auf die verschiedenen Wissensformen christlicher Religion. Sie stehen deshalb für einen programmatischen Wandel im theologischen Wissensvorrat, in dessen Folge sich eine Pluralisierung religiöser Geschlechterkon-

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zepte und damit einhergehender Sinnhorizonte entfalten konnte. Die Pluralisierung des theologischen Wissensvorrats hat schließlich dazu beigetragen, dass geschlechtsspezifische Ungleichheitsstrukturen in den Sozial- und Organisationsformen wie auch in den Wissensformen christlicher Religion systematisch aufgedeckt werden konnten und eine zunehmende Inklusion von Frauen in geistliche Funktionen soziale Realität geworden ist. 5. Resümee Ausgehend von der Frage, wie sich der Wandel im Verständnis von der Frauenordination aus einer gesellschaftstheoretischen Perspektive begründet und welche Reichweite er hat, wurde am Beispiel des Protestantismus zunächst gezeigt, wie mit der theologischen Anthropologie des Geschlechterverhältnisses eine spezifische, im Übergang zur europäischen Moderne sich ausdifferenzierende Wissensfigur die traditionelle, auf Ungleichheit basierende Geschlechterordnung in der Religion neu begründet wurde. Hierauf aufbauend wurde am Beispiel der Mission gezeigt, wie sich diese in der Sonderanthropologie der Frau kulminierende theologische Wissensfigur im 19. Jahrhundert zum Kernelement der hierarchischen Geschlechterordnung entwickelt hat. Ihre rechtliche Institutionalisierung zu Beginn des 20. Jahrhunderts hat dieses Ordnungsverhältnis zementiert, indem die Mitwirkung von Frauen in geistlichen Ämtern explizit reglementiert wurde. Das Nebeneinander rechtlicher Barrieren des Zugangs von Frauen zum Pfarramt einerseits und die theologische Untermauerung dieser auf Ungleichheit basierenden religiösen Ordnungsstruktur andererseits bildeten ein so festes Amalgam, dass die De-Institutionalisierung formaler Barrieren des Zugangs von Frauen zum Pfarramt allein keinen weitreichenden Wandel herbeiführen konnte. Die Ungleichzeitigkeit der Entwicklungen innerhalb Deutschlands und Europas untermauern dies: Während in Dänemark bereits 1947 Frauen ordiniert wurden, lösten die ersten Ordinationen in Norwegen und Schweden Anfang der 1960er Jahre heftige Debatten in der Bundesrepublik aus. Der ab 1968 – bzw. ab 1962 in der DDR – einsetzende institutionelle Umbau bedurfte einer Einbettung auf der Ebene des theologischen Wissensvorrats. Erst die Revision des theologischen Sinn- und Deutungshorizonts protestantischer Religion hat eine Dekonstruktion des

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dualistischen Geschlechtermodells eingeleitet und auf diese Weise wesentlich zum Abbau von Geschlechterdifferenzen beigetragen. Es wurde argumentiert, dass der Ökumene diesbezüglich eine zentrale Funktion zukommt, weil hier – ausgehend von der ökumenischen Leitidee der Einheit – nicht mehr auf Differenz fokussiert wird, sondern soziale Ungleichheit und damit verbundene Grenzziehungen hinterfragt werden. Dies war für die Beschäftigung mit verschiedenen Formen sozialer Verschiedenheit anschlussfähig, nicht zuletzt auch für Geschlechterungleichheit. Hierauf aufbauend wurde der institutionalisierte Kern des theologischen Wissensvorrats hinsichtlich seines patriarchalen Charakters externalisiert und ein auf geschlechtergerechte Strukturen in Religion und Gesellschaft abzielender theologischer Wissenshorizont entwickelt. Die gegenwärtige Situation ist so gesehen insgesamt durch einen deutlichen Abbau geschlechtsspezifischer Barrieren und Wissensformen innerhalb eines spezifischen Segments christlicher Religion gekennzeichnet. Im Anschluss an Max Weber lässt sich dies auch als Differenzierung von Sinn- und Wertbezügen charakterisieren. Wie die Leipziger und Bad Krozinger Synoden zeigen, ist die theologische Relevanz der Sonderanthropologie im evangelischen Kontext weitgehend in den Hintergrund getreten und durch neue theologische Wissensfiguren ersetzt worden. Dies bedeutet allerdings nicht, dass Differenzierungen nach Geschlecht in den Sozial- und Organisationsformen evangelischer Kirchen bedeutungslos sind. Die soziologische Arbeitsund Berufsforschung zeigt beispielsweise, dass sich Geschlechterdifferenzierungen in der Zuweisung von Frauen und Männern zu typischen Tätigkeitsfeldern und Berufszweigen widerspiegeln. Dies lässt sich auch für die Kirchen zeigen. Und aus der Organisationsforschung ist bekannt, dass Arbeitsorganisationen keineswegs geschlechtsneutral sind, sondern Geschlecht als ein komplexitätsreduzierendes Kriterium in Form von Erwartungen und Stereotypisierungen immer wieder situativ relevant gemacht wird. Dabei gehört Religion – und hier insbesondere die Situation in einem Pfarramt – zu denjenigen Kontexten, denen ein hoher Bedarf an Personalisierung, und damit an potentieller Kategorisierung nach Geschlecht inne wohnt. Auch wenn die Geschlechter prinzipiell gleich inkludiert sind, geschlechtsspezifische Zuschreibungen sind dennoch alltäglich. Ob bei Einstellungsentscheidungen oder in Arbeitsgesprächen: Geschlechterdifferenz wird regelmäßig zum Handlungshorizont gemacht. Dies wirft ein anderes Licht

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auf den sozialen Status des beschriebenen Wandels im theologisch gebündelten Wissensvorrat. Es weist daraufhin, dass innerhalb der Religion stets zwei Wissenssysteme bzw. -ebenen miteinander interagieren. In der Konsequenz folgt die Entwicklung des Geschlechterverhältnisses hier im Vergleich zu anderen gesellschaftlichen Feldern einer eigenen Linie. Feministische Theologien haben dies – in Analogie zu den Befreiungstheologien – im Rahmen einer religiösen Hermeneutik von Beginn an mitreflektiert, indem sie die Kontexte, innerhalb derer Theologie betrieben wurde, ebenfalls bedachten. Die Re-Formulierung des theologisch gebündelten Wissensvorrats christlicher Religion innerhalb der feministischen Theologien war und ist daher trotz der zweifachen Wissensebenen im Kern ein religiöser Vorgang. Die Revision ist stets am theologischen Wissenshorizont orientiert. Aus wissenssoziologischer Perspektive stellt dies ein relevantes Beispiel für die Pluralisierung des institutionalisierten Kerns christlicher Religion in der europäischen Moderne dar.

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Vielfalt in der christlichen Liturgie. Gottesdienst als Teil der europäischen Religionsgeschichte 1. Einleitung Wenn es um Religionsgeschichte und Pluralismus geht, die Liturgie ins Spiel zu bringen, mag auf den ersten Blick überraschen. Doch immerhin haben entsprechende Fragestellungen bereits Niederschlag im Handwörterbuch „Religion in Geschichte und Gegenwart“ gefunden. Dort liest man zum Stichwort „Pluralismus“ unter „IV. Liturgisch“ Folgendes: „Die Entscheidung, was als Gottesdienst gelten soll, ist eine vereinheitlichende Auswahl aus der Vielfalt rel[igiöser] Lebensäußerungen. Liturgische Pluralität kannte bereits die Alte Kirche. Aber erst seit der Aufklärung kann man (im westlichen Kulturkreis) von liturgischem P[luralismus] sprechen, denn als Haltung bewußter Bejahung und Förderung von Vielfalt setzt er einen grundsätzlichen theol[ogischen] P[uralismus] voraus. Liturgischer P[luralismus] kann Vielfalt anstreben zw[ischen] den Rel[igionen], innerhalb von Konfessionen, Gemeinden und innerhalb des einzelnen Gottesdienstes. Mittel dazu sind Gewährung von Kultusfreiheit, Lockerung des Agendenzwangs, Öffnung für Einflüsse aus der Ökumene, Laienbeteiligung usw. Für die röm[isch]-kath[olische] Kirche brachte das Vaticanum II eine gewisse Pluralisierung. Liturgischer P[luralismus] findet sich aber vorzüglich in den reformatorischen Kirchen.“1

Dass überhaupt Pluralismus und Liturgie zusammengeschaut werden, besitzt Seltenheitswert. Was „Pluralismus“ im Zusammenhang bedeutet, sagt Thomas Bornhauser, der Verfasser des Lexikonbeitrags, zu Beginn: Aus den vielfältigen, also pluralen religiösen Lebensäußerungen bedeutet die gottesdienstliche Ordnung immer eine Auswahl, die vereinheitlicht. Pluralismus und Liturgie widersprechen sich also zunächst einmal. Sodann unterscheidet der Autor zwischen „Pluralität“ und „Pluralismus“. Ersteres bezeichnet für ihn einfach eine Vielzahl, letzteres meint die Bejahung und Unterstützung von Vielfalt, die

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erst seit der Aufklärung gegeben sei. Offensichtlich geht der Verfasser davon aus, dass erst die Aufklärung religiösen Pluralismus mit sich gebracht habe, zuvor aber Einheitlichkeit in Theologie und Gestalt der Liturgie geherrscht habe. Dann wird aufgezählt, was Pluralismus in der Liturgie fördern soll: Vielfalt im agendarischen Bereich, ökumenische Offenheit, Laienpartizipation. Manches davon hat es sicherlich in der Frühzeit des Christentums gegeben, manches aber ist ein Phänomen der Gegenwart. Folgt man dem Beitrag aus „Religion in Geschichte und Gegenwart“, lohnt sich die Beschäftigung mit Pluralismus als „Markenzeichen“ europäischer Religionsgeschichte erst seit der Aufklärung. Aber taucht dieses „Markenzeichen“ wirklich nur in der neuzeitlichen Geschichte des Gottesdienstes auf? Hier soll gleichsam die Gegenthese formuliert und gezeigt werden, wie Liturgie, die möglicherweise selbst den Eindruck von Uniformität zu erwecken versucht, sehr pluralistisch sein kann (nicht muss!), auch wenn man sich allein auf die christliche Liturgiegeschichte kapriziert. Der Begriff „Pluralismus“ ist im Folgenden mehrfach bestimmt, so wird er auch jüngst in der „Europäischen Religionsgeschichte“2 verwendet. Er bezeichnet Vielfalt der Religionen – es wäre also nach der Liturgie von Judentum, Christentum und Islam, nach antiken Kulten der Polytheismen wie nach heutigen esoterischen Praktiken und vielem anderen zu fragen –; er meint die Vielfalt innerhalb einer Religion – dann wären Liturgien der Kopten und Äthiopier, Byzantiner und Katholiken, Lutheraner und Reformierten, Altkatholiken und Methodisten usw. zu thematisieren –; und er steht für die Vielfalt in einer Religionsgemeinschaft, einer Konfession. Hier soll allein für einen Ausschnitt des lateinischen Christentums nach Pluralismus gefragt werden. „Pluralismus“ in diesem mehrfachen Sinne hat theologische Bedeutung, denn er fordert zum einen zur Kenntnisnahme der Gottesdienste anderer Religionen auf, verlangt aber auch die Stellungnahme ihnen gegenüber. Er macht auf den innerchristlichen Pluralismus aufmerksam und damit auf zum Teil sehr unterschiedliche Ausdrucksweisen des gemeinsamen Christusbekenntnisses, die aber innerhalb der Konfessionen nicht einfach als beliebig, sondern als theologisch normativ verstanden werden. In der Vielfalt der Liturgien wird die Vielfalt christlichen Bekenntnisses sichtbar, wird das Christentum in seinen unterschiedlichen Ausprägungen erkennbar. Damit verbinden sich für

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die innerchristliche Ökumene weitreichende Fragestellungen. Schließlich ist für den Liturgiewissenschaftler die Frage nach Pluralismus innerhalb des lateinischen und, enger gefasst, des katholischen Christentums interessant, weil er damit auf die Vielfalt des Gottesdienstes in Geschichte und Gegenwart aufmerksam wird. Mehr noch: Er kann zu Beschreibungsmodellen des Gottesdienstes gelangen, die unter dem Einfluss der kulturellen Anthropologie religiöse Individuen und deren plurale Praxis in den Blick bekommen.3 Eine sehr stark an Institutionen orientierte Liturgiegeschichtsschreibung kann dadurch aufgebrochen werden. 2. Pluralismus und Liturgie – Quellensuche Das Dilemma der Erforschung von Liturgie ist die Quellensituation. Liturgie ist ein Handlungsgeschehen, das trotz aller Festlegungen und Invarianzen dynamisch bleibt. Man könnte mit Blick auf Abendmahl oder Eucharistie sagen: Es ist immer dasselbe Stück, das zur Aufführung gelangt, und doch ist es von Mal zu Mal anders. „Liturgie“ meint eben nicht nur Text im Sinne von schriftlicher Vorlage, sondern schließt Zeichenhandlungen, Gestik, Musik, Räume und Gewänder usw. ein.4 Vor allem: Sie ist von den Teilnehmern abhängig, damit beispielsweise von Mentalität und Frömmigkeit. Um noch einmal den Gedanken der Aufführung heranzuziehen: In bestimmten Formen des Aktionstheaters sind die Zuschauer in das Stück, das zur Aufführung kommt, einbezogen.5 Besser noch: Das Stück ist ohne sie gar nicht vorstellbar, sie sind Akteure. Gleiches gilt für die Liturgie, gilt für Priester, Pfarrerinnen, für Sänger und Musiker, für die Gläubigen insgesamt. Das aber bilden schriftliche Quellen nur sehr unvollkommen ab. Über die liturgischen Bücher hinaus – Messbuch, Rituale, Pontifikale, Gesangbuch – sind deshalb weitere Quellen heranzuziehen. Der Buchtyp des Liber Ordinarius6 oder beispielsweise Küsterbücher mit Anweisungen, was der Küster wann vorzubereiten hat, bieten uns bereits mehr Einblick in das, was Liturgie konkret ausmacht. Beide Buchtypen geben nicht nur kirchliche Normen für den Gottesdienst wieder, sondern beschreiben, wie in einer Kirche der Gottesdienst gefeiert werden soll. Welche Orte im Raum werden genutzt, welches Fest hat einen besonderen Rang, welche Gesänge sind wann üblich, welche Prozessionen werden durchgeführt usw.?7 Für die Frage nach

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Pluralismus und nach Sichtbarkeit von Religion ist das nicht ohne Belang, denn man erkennt schnell die nicht unerheblichen zeitgleichen Unterschiede beispielsweise zwischen Domkirchen in Trier, Magdeburg oder Brandenburg. Eine andere Perspektive auf die Liturgie eröffnen die sogenannten Ego-Quellen.8 Damit können Briefe gemeint sein, in denen sich jemand über seine Weise, Gottesdienst zu feiern und zu verstehen, äußert, können Pilgerberichte angesprochen sein, die Aufschluss geben, was bei einer Rom- oder Jerusalempilgerfahrt an religiösen Ritualen durch den Pilgernden wahrgenommen wurde,9 können Autobiografien in den Blick kommen, in denen für größere Lebensabschnitte liturgische Praxis des Einzelnen aufscheint. So „wird die Textgestalt der Liturgie überstiegen, indem vor allem dem persönlichen Erleben und der Bedeutungsgebung der Liturgie Aufmerksamkeit geschenkt wird.“10 Pluralismus des Gottesdienstes wird besonders dann sichtbar, wenn man Quellen heranzieht, die die unterschiedlichen Blickwinkel auf den Gottesdienst sichtbar machen:11 den der kirchlichen Autorität, der Verantwortlichen vor Ort, der mitfeiernden Gruppe und Gemeinde, des Individuums. Über das Synchrone hinaus ist dann auch nach dem Pluralismus im Diachronen zu fragen, was erneut andere Sachverhalte eines Pluralismus in der Liturgie vor Augen führt. 3. Die Ritenfamilien als Ausdruck eines religiösen Pluralismus Vermutlich ist jene Vorstellung von Liturgie für den einzelnen dominant, die er selbst erlebt bzw. die in seinem kulturell-religiösen Umfeld dominant ist. So dürfte in Deutschland für viele irgendeine Vorstellung von lutherischer oder katholischer Liturgie vertraut sein. Wer aber weiß schon, dass es hier Gemeinden gibt, die russisch-orthodoxe Liturgie feiert? Wem ist präsent, dass Alt-Katholiken und Methodisten, aber auch Kopten und Syrer Gottesdienst halten? Unterschiedliche Riten, ja Liturgiefamilien stehen nebeneinander. An ihnen ist die Vielfalt, die im christlichen Gottesdienst existiert, ablesbar. Historisch betrachtet muss man zwischen Osten und Westen unterscheiden und nimmt damit zwei Großverbände der Liturgie in den Blick. Für den westlichen Großverband, der hier allein behandelt wird, fällt ein Überblick bis zur Reformation leichter. Man kann u.a. die römische, mailändisch-ambrosianische und mozarabische Liturgiefa-

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milie unterscheiden. Der nordafrikanische und der gallische Ritus sind untergegangen.12 Diese Liturgiefamilien, die bis heute existieren, zum Teil aber nur noch begrenzte Bedeutung besitzen, repräsentieren ein wesentliches Stück europäischer Religionsgeschichte. Für die römische Liturgie ist das evident: Sie ist zunächst Liturgie der Stadt Rom und verbindet sich deshalb in besonderer Weise mit dem Bischof von Rom, dem Papst. Man kann sehr deutlich die Liturgie der sog. Titelkirchen und die päpstliche Stationsliturgie unterscheiden,13 weiß darum, wie Einheit der Kirche von Rom in der Liturgie dargestellt wurde, und kann sogar in der Liturgie Spuren der Anwesenheit von Christen aus Byzanz in der Stadt Rom nachweisen. Letzteres wäre bereits wieder ein Zeichen liturgischer Vielfalt innerhalb einer Liturgiefamilie. Im lateinischen Westen lässt sich römische Liturgie leicht identifizieren, sie äußert sich nicht nur in der Verbundenheit mit dem Bischof von Rom, dem Papst: Eine bestimmte Weise des Gebets ist üblich, die sich durch Kürze, prägnanten Sprachstil, eine häufig wiederkehrende Struktur der Gebete und einen Sprachrhythmus, der der antiken lateinischen Kunstprosa entnommen worden ist, auszeichnet. Insgesamt lassen sich gerade die Gebete dieser Liturgiefamilie als nüchtern beschreiben. Diese Orationen richten sich in aller Regel an Gottvater, sind also theologisch sehr klar formuliert. Ein Beispiel vom Fest Epiphanie: „Gott, der du am heutigen Tage deinen Eingeborenen den (Heiden-)Völkern durch die Führung des Sternes geoffenbart hast, gewähre gnädig, daß wir, die wir dich schon aus dem Glauben erkannt haben, bis zur Anschauung der Gestalt deiner Herrlichkeit geführt werden.“14

In der päpstlichen Liturgie begegnen zudem ausführliche Riten zur Eröffnung des Gottesdienstes, die u.a. durch den langen Einzug von Papst und Gefolge in die jeweilige Stationskirche motiviert waren und diesen gestalteten.15 Manche Prozessionen und Festelemente waren über Jahrhunderte nur in Rom üblich. Daneben wird die altgallische Liturgie gefeiert, die sehr verbreitet gewesen ist, aber kein Zentrum kannte, wie es gerade mit Rom benannt werden konnte. Es fehlt also gleichsam eine ordnende Kraft, so dass diese Liturgie in zahlreichen Varianten überliefert ist. Sie unterscheidet sich deutlich von der römischen. Ihre Gebete sind ausladender und redundanter, fast narrativ und wesentlich bildreicher, dadurch aber auch konkreter. Ihre Theologie ist antiarianisch, häufig sind Orationen an Christus gerichtet, um dadurch die Wesensgleichheit von

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Vater und Sohn zum Ausdruck zu bringen.16 Auch hier ein sehr sprechendes Textbeispiel, ebenfalls vom Hochfest Epiphanie: „Gott, der du durch die wunderbaren Zeichen deiner Wirkkraft die Anfänge unseres Heils kundgetan hast, der du den Magiern, die mit dem vorausleuchtenden Stern hinabgezogen waren, gewährt hast, dich mit geheimnisvollen Geschenken als den ewigen König und immerwährenden Herrn anzubeten und zu gewinnen, der du in unserem Leib durch das wunderbare Sakrament der Taufe von neuem aus dem Geist geboren wurdest und uns durch unsere Wiedergeburt abwäschst und der du deinen Jüngern deine Gottheit geoffenbart hast, indem du kraft der Gabe unaussprechlicher Vollmacht heute Wasser in Wein verwandelt hast, erhöre uns, die wir dich anlässlich dieses hochheiligen Festtages demütig bitten, und gewähre, daß wir durch deine Herrlichkeit erleuchtet, der Welt sterben, dir Christus dem König leben, du Retter der Welt: der du mit dem Vater und dem Heiligen Geist lebst und herrschst in Ewigkeit.“17

Der Unterschied zum römischen Beispiel ist frappant, vor allem, wenn man beachtet, dass beide Gebete zum selben Fest verwendet werden. Die gallische Liturgie ist wegen der Quellenlage für uns heute nur schwer greifbar, aber das, was an Quellen vorliegt, belegt auch strukturell, beispielsweise für die Eröffnung der Messe, andere Formen, als sie der oder auch die römischen Riten kennen.18 Fragt man nach Pluralismus altkirchlich-frühmittelalterlicher Liturgiegeschichte, so muss diese Liturgiefamilie zweifellos genannt werden. Sie war aber nicht von Dauer. Doch Pluralismus bedingt Konkurrenz, auch dieses ein Signet europäischer Religions- und näherhin Kirchengeschichte. Im 8. Jahrhundert tritt an die Stelle dieser Liturgie, die in Gallien und Teilen Italiens verbreitet war, der römische Ritus. In diesem Verdrängungsprozess wird in der Liturgie Geschichte des Christentums sichtbar. Sicherlich sind immer wieder Elemente der römischen Liturgie in die gallische Liturgie übernommen worden, denn Rom ist die Stadt der Apostelgräber, besitzt mithin eine besondere Autorität. „Seit der Mitte des 8. Jahrhunderts trat insofern ein durchgreifender Wandel ein, als nun die Rezeption der römischen Liturgie, dank der offiziellen Unterstützung seitens der Karolinger, ein allumfassendes Ausmaß annahm und innerhalb kurzer Zeit die alte gallikanische Liturgie beseitigte, von der nur wenige Eigenheiten überlebten.“19 Die Gründe dafür sind rasch benannt: Es ist die bereits erwähnte Autorität der römischen Liturgie, die durch die Präsenz des Apostels Petrus eine

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hohe Dignität erfährt; es ist die Sorge um die wirkmächtige Liturgie, der man um des eigenen Seelenheils willen besondere Sorgfalt zuteil werden lässt; und es ist der politische Wille, Einheit des Reiches auch und gerade über die hochgeschätzte Liturgie erfahrbar werden zu lassen und abbilden zu können. Hier verschwindet ein Stück des liturgischen Pluralismus zugunsten einer einheitlicheren mittelalterlichen Liturgie.20 Der einheitliche Gottesdienst erweist sich als „eines der wichtigsten Einheitsinstrumente“.21 Jahrhunderte später sollte der altspanische Ritus ebenfalls dieses Schicksal erleiden. Er hatte sich über die Zeit der arabischen Herrschaft erhalten, wurde dann aber Gegenstand theologischer Auseinandersetzungen – man bezweifelte die Rechtgläubigkeit – und im 11. Jahrhundert durch die römische Liturgie verdrängt. Mit anderen Worten: Der Pluralismus in der Liturgie verschwand immer stärker zugunsten eines bestimmten Ritus. Theologische, allgemein religiöse und politische Gründe können mindestens als Gründe ausgemacht werden. Das Nebeneinander von Vielfalt im Ritus kann als Konkurrenz empfunden werden und entsprechende Reaktionen hervorrufen. Damit ist die Liturgiegeschichte nicht beendet, denn es werden immer wieder neue Kapitel aufgeschlagen, tauchen neue Formen oder zumindest Elemente des Gottesdienstes auf. Vor allem müssen die Kirchen genannt werden, die aus der Reformation hervorgehen. Das ist ebenfalls ein bemerkenswertes Kapitel der Liturgiegeschichte, weil sich eben nicht nur eine Liturgie, sondern sehr unterschiedliche Formen der Liturgie entwickeln, die sich nicht allein in Details heftig widersprechen. Die seit dem 16. Jahrhundert entstehenden Liturgien wachsen natürlich aus der Tradition heraus, führen sie aber in sehr unterschiedlicher Weise weiter.22 Die Rückbindung an die Bibel, die starke Betonung des Wortes, die neue Einbindung der Gemeinde in die Liturgie, generell ein neues Verständnis von Liturgie als eines Wort-Antwort-Geschehens zwischen Gott und der Gemeinde, wie es Martin Luther 1544 in seiner Torgauer Predigt entfaltet, sind nur einige entscheidende Momente.23 Das Phänotypische des Gottesdienstes wandelt sich. Nach Karl-Heinrich Bieritz verändert sich damit die gottesdienstliche Kommunikation grundlegend: sie ist jetzt durch das Wort bestimmt. „Damit wird nicht nur etwas über das dominierende, sinntragende Medium gottesdienstlicher Kommunikation ausgesagt. Die sprach des mundlichen worts, die mündliche Rede, die in konkreten Worten in einer konkreten Situ-

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ation an konkrete Adressaten ergeht, ist vielmehr ein Teil des Heilsereignisses selbst. Ohne diese Rede bleibt das Werk Christi verborgen.“24

Bieritz liest dieses als einen grundsätzlichen Wandel der Liturgie, eine Umstrukturierung von sprachlichen und nichtsprachlichen Zeichensystemen.25 Die theologischen Gewichte verschieben sich. Unterschiedliche Liturgien stehen nun nebeneinander: die Deutsche Messe Martin Luthers mit gegenüber der Tradition deutlichen Reduktionen im Abendmahlsteil, der oberdeutsche Prädikanten- oder Predigtgottesdienst, zu dem oder neben den eine recht einfache Gemeindekommunion treten kann, belegt u.a. im nachtmal Zwinglis oder in Calvins Forme des Prières. Man muss den ganz eigen geprägten Ritus der Täufer zumindest erwähnen, ebenso die Anglikaner, müsste auch breiter auf die Freikirchen eingehen. Festzuhalten ist hier Folgendes: Diese Liturgien, denen man Pluralismus bescheinigen kann, entstehen in einem überschaubaren Zeitraum und werden dann bewusst gegen andere gestellt. Vielfalt im Gottesdienst lässt sich hier sicherlich aus der Geschichte heraus plausibel machen; sie hat auch damit zu tun, dass man das eigene theologische Profil gegenüber anderen präsentieren und verteidigen will. Wir beobachten eine Vielfalt, in der sich die Teilnehmer des einzelnen Ritus zugleich deutlich von denen anderer absetzen. Das ändert sich in späteren Jahrhunderten wieder. Mit einem wachsenden Interesse an der anderen Konfession, mit einer Besinnung auf das Gemeinsame in aller Diversifikation, mit der Ökumene wird der innerchristliche Pluralismus als Bereicherung wahrgenommen. Man liest ihn als Ausdruck des Ringens um Ausdrucksformen des christlichen Bekenntnisses. 4. Pluralismus innerhalb einer Religionsgemeinschaft Neben dem Pluralismus zwischen den verschiedenen Ritenfamilien und dann auch den verschiedenen christlichen Konfessionen – er wäre natürlich durch die Geschichte weiter in seiner Entwicklung zu verfolgen – kann Pluralismus auch innerhalb von Religionsgemeinschaften existieren. Dem soll am Beispiel der katholischen Kirche nachgegangen werden, die ja eher im Ruf steht, zentralistisch organisiert zu sein und auf Einheitlichkeit auch im Ritus größten Wert zu legen. Der Anfang soll mit dem Ende des Konzils von Trient 1563 und der ein Viertel-

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jahrhundert später ins Leben gerufenen römischen Ritenkongregation gemacht werden.26 Das Ziel Roms war keineswegs ein Mehr an Pluralismus, denn Vielfalt in Liturgie und Pastoral kannte man aus dem Spätmittelalter als Problem, erlebte man zeitgenössisch bei den Anhängern der Reformation als Gefährdung. Es ist deshalb verständlich, dass Rom als Reaktion auf gravierende Missstände in der Pastoral wie auf die Herausforderung durch die Reformation mit dem Versuch reagierte, Einheitlichkeit in liturgischen Fragen zu erreichen. Die Ritenkongregation war eine Institution, die das mit anderen gewährleisten sollte. Bekanntlich hat man mit unterschiedlicher zeitlicher Nähe zum Konzil verschiedene liturgische Bücher herausgegeben: 1568 erschien als erstes das Brevier, dann 1570 das Missale und schließlich 1614 das Rituale.27 Diese Bücher sollten mit verschiedener rechtlicher Verbindlichkeit in der Weltkirche eingeführt werden. Ausgenommen waren bei Brevier und Missale jene Bistümer, die auf eine mehr als 200jährige eigene Tradition zurückblicken konnten. Tradition wird hier zu einem Movens für Vielfalt. Doch wird insgesamt ein anderer Weg gewiesen: Die römischen liturgischen Bücher, gedruckt, in ihrer Verbreitung kontrolliert, ersetzten nach und nach die Diözesanliturgien. Beim genaueren Hinsehen stellt man fest, dass es sich um einen Prozess handelt, der sich über Jahrhunderte hinzieht und erst im 19. Jahrhundert sein Ende findet.28 In der Liturgie der katholischen Kirche nach Trient konnten römischer Ritus, beispielsweise ein römisch-mainzischer Ritus und ein Trierer Ritus nebeneinander existieren.29 D.h. manche Bistümer sahen vor, dass entweder römische Liturgie, eine Mischliturgie oder weiterhin die diözesane Liturgie gefeiert wurde. In Lesungen, Gebeten, Gesängen, besonderen Zeichenhandlungen, natürlich in den Kalendern existierte eine Vielfalt, die für Gläubige, die im Lande herumkamen, durchaus festzustellen war, um die man also wusste. Der britische Religionsanthropologe Martin Stringer hat zudem darauf aufmerksam gemacht, dass das Tridentinum und die in seiner Folge erlassenen nachkonziliaren Rechtsvorgaben zwar Worte und Handlungen der Liturgie regeln konnten, doch „a great deal of flexibility and variability in terms of the setting and the music of the liturgy“ erhalten blieb.30 Der Ritus konnte also römisch sein, doch wie der Raum aussah, in dem man feierte, welche Musik erklang etc., variierte sicherlich deutlich und prägte eine andere Wahrnehmung der Liturgie. Im Ergebnis gab es mehr Vielfalt in der Liturgie als man mit Blick auf die Primärquellen – die liturgischen Bücher – erwarten würde.

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In eine ganz andere Richtung weist der Gallikanismus als ein Beispiel für liturgische Vielfalt. Im Frankreich des 17./18. Jahrhundert und damit in der Zeit eines Konflikts mit Rom, in dem es um das Recht des Papstes ging, sich in die Machtbefugnisse des französischen Königs einzumischen, wurde die Unabhängigkeit des Herrschers von Rom betont, entsprechend wurde politisch gehandelt. In diese Zeit fällt die gallikanische Liturgie, die dem Selbstverständnis der französischen Kirche dieser Zeit entspricht und sich in einem Land etabliert, das die römische Liturgie ohnehin noch nie zur Gänze eingeführt hatte. 100 Diözesen und Orden gestalten in der Folge ihre liturgischen Bücher neu und in großer Vielfalt. Dabei weiß man um die Geschichte und Veränderbarkeit der Liturgie, greift Traditionen auf, setzt aber auch neues hinzu. Möglicherweise sind diese Bücher über Frankreich hinaus prägend gewesen.31 Man muss sich die Dimensionen vor Augen führen: „Bis zur Französischen Revolution hatten etwa 80 der 139 französischen Diözesen eigene Meßbücher (und Breviere), von den unter Napoleon verbliebenen 60 Diözesen Frankreichs folgten 1814 nur 22 dem römischen Ritus, und von diesen haben ihn bis […] 1830 noch ein halbes Dutzend weitere verlassen.“32 Es handelt sich um liturgische Bücher mit Unterschieden bei den Gebeten, den Lesungstexten, bei den Festen usw. Für Vielfalt steht auch die Liturgie der katholischen Aufklärung. In Blüte stand sie, blickt man auf die Produktion liturgischer Bücher, zwischen 1780 und etwa 1840. Es gab Vorläufer und Nachzügler. Das Ziel war eine Erneuerung der Liturgie unter den Stichworten „Belehrung“, „Erbauung“ und „Zweckmäßigkeit“. Die Wirkung des Gottesdienstes auf den Menschen war ein entscheidendes Kriterium der Neuordnung der Liturgie. Deshalb gingen mit der Liturgie oftmals didaktisch-pädagogische Interessen einher. Auch in der Liturgie sollte der Mensch auf Tugendhaftigkeit hin erzogen und ihm so ein Leben in Glückseligkeit ermöglicht werden. Der für die Liturgik der Zeit wichtige Theologe Vitus Anton Winter schrieb 1804: „Der äußere Gottesdienst ist die Erziehungsanstalt des großen Haufens.“33 Die Liturgie sollte zu einer Schule der Veredlung der Menschheit, zu einer Anstalt der religiösen und sittlichen Bildung werden.34 Zur Belehrung trat die Erbauung. Im anonym erschienenen „Grundriss der Liturgie“ wird Erbauung beschrieben als „Weckung der Gefühle, lebendige Bestimmung des Gemüths, welche uns zur Ausübung des Guten lebendig machen soll nach den Forderungen der

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Vernunft.“35 Verstand und Herz sollen in die Liturgie einbezogen werden. Das Sinnenhafte gehört unverzichtbar zum Menschen hinzu und prägt ihn. Eine bestimmte Beschaffenheit der Religionsgebräuche ist notwendig, damit die Absicht der liturgischen Handlungen erreicht wird. „Zweckmäßigkeit“ variiert inhaltlich. Pluralismus bekommt hier eine neue Qualität, weil er in gewisser Weise zum Programm erhoben wird. Eine Vielzahl liturgischer Bücher und Entwürfe für den Gottesdienst entsteht,36 wird diskutiert und offensichtlich auch in der Praxis angewendet. Vom Gedanken einer Liturgie her, die den Vorgaben der Aufklärung entsprechen muss und den Menschen belehren soll, legt sich solche Vielfalt nahe. Pluralismus gewinnt auch deshalb eine neue Nuance, als sehr unterschiedliche Richtungen der Liturgik sich äußern und nebeneinander stehen. Da gibt es liturgische Texte, die ganz eng kirchlichen Traditionen folgen und sich vor allem auf die Übersetzung verlegen; da gibt es andere Entwürfe, die letztlich völlig neue liturgische Bücher und Formulare nach sich ziehen. Im Hintergrund steht ein veränderter Blick auf Religion und Kirche, auf Theologie und Anthropologie, auch auf Autorität in der Kirche und natürlich auf die Funktion der Liturgie. Sichtbar und für die Gläubigen in Zustimmung wie Konflikt erfahrbar wird das in der Liturgie. Aber auch dieser Pluralismus stößt auf Widerspruch in der Folge von Säkularisation, Romantik und Restauration. Innerhalb der katholischen Kirche setzt sich in der Liturgie ein Ultramontanismus durch, der in Zeiten gesellschaftlicher Stürme die engere Bindung an den römischen Ritus sucht. Es ist das Jahrhundert, in dem die letzten Diözesanliturgien untergehen und durch römische Liturgie ersetzt werden.37 Doch diese Lösung von den Resten einer vielfältigeren Liturgie währt nur einige Jahrzehnte, bis mit dem beginnenden 20. Jahrhundert die Liturgische Bewegung an Boden gewinnt. Man kann sie als Bewegung der theologisch-geistlichen Erneuerung in der Kirche beschreiben, die den Gottesdienst wieder als Mitte christlicher Spiritualität betont. Die Suche nach einer Revitalisierung der tradierten Liturgie führt zur Suche nach neuen Formen, nach neuen Orten, nach neuen Artikulationsmöglichkeiten des Glaubens. Es ist die Zeit einer Suche nach veränderten Beteiligungsmöglichkeiten der Gläubigen, nach geeigneten Übersetzungen, nach einer neuen Ästhetik der Liturgie. Deutlich wird, dass es nicht nur die eine römische Liturgie gibt, sondern diese in verschiedenen Gestaltungen begegnet.

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Das Zweite Vatikanum (1962–1965) steht in der Linie solcher Überlegungen.38 Es kennt Vielfalt in der Liturgie, denn Gottesdienst wird in verschiedenen kulturellen Kontexten gefeiert. Indem Inkulturation verlangt wird,39 also die Verbindung von Liturgie und je wechselnder Kultur, trägt man zu einer Pluralisierung von Liturgie bei. Dieser Prozess hat bis heute nicht an ein Ende gefunden. 5. Pluralismus in der liturgischen Praxis von Individuen Es gibt noch eine andere Form des Pluralismus in der Liturgie, sie begegnet unmittelbar in der liturgischen Praxis. Es ist die Entscheidung des Gläubigen über seine Gottesdienstpraxis. Hier begegnet man einer Ausprägung des Pluralismus, die immer wieder für Auseinandersetzungen sorgt, weil sie einen Dissens zwischen subjektiver Praxis und objektiver kirchlicher Ordnung bedeutet. Drei Beispiele sollen das illustrieren: Das erste Beispiel stammt aus der Spätantike bzw. dem Frühmittelalter. Das Neue Testament beschreibt von dem Hintergrund antiker Medizin, wie mit Kranken verfahren werden soll. Nach Jak 5,14f. sollen die Ältesten der Gemeinde gerufen werden, sie sollen über den Kranken Gebete sprechen und ihn mit Öl salben im Namen Christi. Salbung und Gebet bewirken Rettung, Aufrichtung und, bedingungsweise formuliert, Sündenvergebung. Vor dem biblischen Hintergrund – hier wären auch Heilungserzählungen des NT zu nennen – entwickeln sich in den ersten Jahrhunderten Gebete, die Bischöfe über das Öl sprechen. Es gibt also eine autoritative Praxis, die an das Amt des Bischofs gebunden ist.40 Doch wie das Öl dann verwendet wird, variiert. Eine breite, eine plurale Praxis wird akzeptiert. Bischof, Priester und für lange Zeit auch Laien können Kranke salben und dadurch an ihrer Heilung mitwirken. Zum Skandal wird das erst, wenn solche Salbungen des Aberglaubens und der Magie verdächtig werden. Aber es gibt zeitgleich noch eine ganz andere Praxis des Umgangs mit Öl, die akzeptiert wird, auch im Nebeneinander unterschiedlicher Salbungspraktiken.41 Da gibt es Öl, das Gläubige seit dem späten 4. Jahrhundert von Märtyrergräbern holten und das so in Ansehen steht, dass von seiner gleichsam fabrikmäßigen Herstellung die Rede ist. Man gießt es auf die Reliquien oder deren Behältnisse, fängt es auf mit Tüchern oder Schwämmen, nimmt es mit und verwendet es zu Heilungen. Er-

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halten haben sich spätantike Ölsarkophage mit Öleingußöffnungen. Es sind Rituale überliefert, wie man zu solchem Öl gelangte: Antonius [= Anonymus] von Piacenza beschreibt im 6. Jahrhundert, wie man in der Grabeskirche in Jerusalem mit solchem Öl umgeht: Man verehrt zunächst das Kreuz Christi. Dann bringt man Öl herbei, das sich in halbvollen Gefäßen befindet. Die Öffnungen der Gefäße berührt man mit dem Holz des Kreuzes, das Öl wallt auf. Dieses Öl, auf das die Kraft des Kreuzes übergegangen ist, kann nun für Heilungszwecke verwendet werden. Man konnte aber auch einen Heilmächtigen wie Martin von Tours aufsuchen und von ihm Öl segnen lassen. Die Quellen berichten, wie das Öl bei der Segnung aufwallt, Zeichen dafür, welche Kraft vom „vir Dei“ auf dieses Öl übergegangen ist. Auch nach dem Tode geht von diesem Heiligen noch Kraft auf das Öl über. Von Heilungen wird berichtet, wo vorher keine Gesundung mehr zu erwarten war. Sehr gerne verwendet wurde Öl aus Lampen, die an heiligen Orten brannten, insbesondere an Heiligengräbern. Dafür gibt es ungezählte Beispiele. Wie man das Öl anwendete, ob man salbte, es trank, es ausgoß oder jemanden mit einem Ölgefäß berührte, bleibt völlig offen. Ebenso, ob ein Gebet zur Anwendung gesprochen werden musste. Und auch die Krankheiten, bei denen gesalbt wurde, waren nicht festgelegt. Körperliche Leiden begegnen ebenso wie psychische Krankheiten. Es wurden Bauern gesalbt, die von Tieren gebissen worden waren, aber auch ein Kind, das aus Angst vor einem Drachen gestorben war. Und selbst soziale Probleme konnten mit solchem Öl gelöst werden. Aphrahat hilft mit Öl im Zusammenhang eines Ehebruchs, so dass der untreue Mann zu seiner mit dem Öl gesalbten Frau zurückkehrt. Gleichzeitig wird berichtet, dass Aphrahat ein Pferd des Kaisers mit Öl gesalbt habe. Wir begegnen einer vielfältigen Praxis im Zusammenhang christlicher Krankenheilungen. Es handelt sich um Pluralismus in liturgischer Praxis, der bekannt ist, der im Nebeneinander unterschiedlicher Handlungen und Deutungen akzeptiert und erst zum Ende der Spätantike zum Problem wird. Das zweite Beispiel stammt aus der frühmittelalterlichen Sonntagspraxis.42 Dieser Tag galt mittlerweile als heiliger Tag, war tabuisiert und folgte einem klaren Programm: Die Sonntags-, das heißt Arbeitsruhe, die vom alttestamentlichen Sabbatgebot her begründet wurde, war einzuhalten. Offensichtlich wurden diese Gebote aber in der Praxis unterlaufen, unterschiedliche Sonntagspraktiken konkurrierten miteinander. Die Vita des Germanus von Paris (gest. 576) hält

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Strafwunder fest. Sie beschreibt, wie Menschen am Sonntag Reparaturen durchführen, unnötige Erntearbeiten vornehmen uvm. Wer so handelt, zieht sich Unheil zu, von dem er nur durch den Einfluss eines Heiligen befreit werden kann, um anschließend sich um so mehr der kirchlich verordneten Praxis zu verschreiben. Quellen aus dem Irland des 7. Jahrhunderts enthalten Kataloge dessen, was am Sonntag verboten war und geben einen Eindruck, wie vielfältig mit diesem Tag umgegangen werden konnte. Die Texte nennen das Reiten und Reisen, das Waschen der Haare, Baden, Backen, Putzen, erwähnen Verbote sexuellen Verkehrs, von Hochzeiten, Totenmessen etc. Das dritte Beispiel stammt aus der Neuzeit: Im Gedenkbuch des Hermann Weinsberg (1518–1597) findet immer wieder auch die liturgische Praxis dieses Kölner Bürgers Berücksichtigung.43 Er berichtet Wichtiges und viel Nebensächliches aus seinem Alltag, gibt dabei aber auch Einblick, wie er es mit dem Gottesdienst und der religiösen Praxis insgesamt hält. Aus der umfangreichen Quelle wird hier eine Passage herausgegriffen, die dem Fasten am Aschermittwoch gilt: „A. 1580 den 17. febr. war es Eschtag, das die 40 fastage angingen. Wir alle im haus Weinsberg hilten uns dem catholischn und stat gemeinen bruch gemeis, das mir kein fleischs speisden bis zu parschen. Min broder und ich, min suster Sibilla und Herman fasten montags, godestags, fritags in der fasten zu einer maltzit, aber min broders fraue und Lisbetgin Horns waren jesuitischs, fasten alle tag ohn sontags zu einer maltzit. Doch ass man abentz auch etwas, das nant man ein kurstgin. Man satzt auch kein botter, keis, eier, milch die fastage durch uff den dischs, dan gemoisse, ertzen, herink, stockfisch und ander gesalsen fischs und groin fischs, nuss, eppel, fiegen, rasinnen, pletz, kochten doch mit botter und oln in der speisen. Aber sunst wart heimlich, auch wol offentlich, in der stat, im stift und an vil orten fleischs gespeist, an den eiern, botter, keis war vil offentlich breuchlich.“44

Es gibt also ein kirchliches Fastengebot, doch wie man damit umgeht, variiert in doppelter Hinsicht. Es gibt eine unterschiedliche Strenge im Umgang mit dem Gebot: nur an bestimmten Tagen zu fasten, jeden Tag außer dem Sonntag zu fasten. Unterschiedliche Frömmigkeitsstile begegnen. Zugleich gewinnt man den Eindruck, dass man durch ein üppigeres Abendessen für Ausgleich sorgt. Aber dann gibt es noch einen anderen Umgang mit diesem Fastengebot, der offensichtlich bekannt ist: Heimlich wie öffentlich wird in dieser Zeit Fleisch gegessen und auch vor anderen Speisen, die in dieser Zeit verboten waren, nicht Halt gemacht. Friedrich Lurz, der in seiner Studie

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„Erlebte Liturgie“,45 diese und andere Quellen untersucht hat, nennt systematisierend einige Beobachtungen zu dieser Quelle: Weinsberg beschreibt die Liturgie vor allem von seinem subjektiven Erleben und seiner Rolle her. Er sieht sich nicht als Objekt, sondern als Subjekt, als Gestalter der Liturgie. Wenn andere das aber auch tun, ist eine Pluralisierung vorgezeichnet. Dem begegnet man hier wie in anderen Autobiografien. Man trifft in diesen Quellen auf eine sehr vielfältige Praxis der Liturgie. Entscheidungen über die Beteiligung am Gottesdienst und über sein Verständnis liegen beim Einzelnen. Die Liturgie gibt trotz aller Vorgaben Raum für Variationsmöglichkeiten. Darin ist allerdings auch ein Konfliktpotential angelegt, denn diese Form von Pluralismus steht gegen reine Regelkonformität. 6. Pluralismus in der Liturgie – Sichtbarkeit von Religion „Erst seit der Aufklärung kann man (im westlichen Kulturkreis) von liturgischem P[luralismus] sprechen, denn als Haltung bewußter Bejahung und Förderung von Vielfalt setzt er einen grundsätzlichen theol[ogischen] P[luralismus] voraus“,46 heißt es im eingangs zitierten Lexikonbeitrag. Die historischen Befunde, die natürlich viel differenzierter und breiter anzuführen wären, weisen in eine andere Richtung, wie einige abschließende Thesen zeigen wollen: 1. Es gibt zweifellos in der europäischen Liturgiegeschichte ein hohes Maß an Vielfalt. Dieser Eindruck würde sich noch verstärken, wenn man auch die liturgische und insgesamt religiöse Praxis von Judentum und Islam hinzunehmen würde. Aber bereits im Christentum sind unterschiedliche Liturgiefamilien, Vielfalt innerhalb der Liturgiefamilien bzw. eines einzigen Ritus und deutlicher noch in der Praxis des religiösen Individuums festzustellen. 2. Dieser Pluralismus ist durchaus bekannt und wird auch reflektiert. In den unterschiedlichen Epochen der Liturgiegeschichte ist er hingenommen worden, man hat ihn zum Teil gefördert, hat ihn auch zurückzudrängen und zu unterdrücken versucht. 3. Dieser Pluralismus in der liturgischen Praxis hat sehr unterschiedliche Ursachen: religiöse Überzeugungen (wie etwa in der Reformation), kulturelle Kontexte (im Falle der in der Antike entstandenen

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Liturgiefamilien), politische Hintergründe (etwa bei den Karolingern, aber auch im Ultramontanismus). Sie durchdringen sich gegenseitig. 4. Pluralismus begegnet auf unterschiedlichen Ebenen des liturgisch-kirchlichen Lebens. Die Vielfalt der Liturgiefamilien, die man natürlich anders beschrieben hat, war der kirchlichen und politischen Führungsschicht bekannt, aber für die breite Basis der Kirche vermutlich ohne Relevanz. Sie konnte beispielsweise für einen Kaufmann zur Frage werden, der zwischen verschiedenen Kirchengebieten Handel trieb und mit unterschiedlichen Sonntagsliturgien konfrontiert wurde. Daneben gibt es die Vielfalt in der Praxis eines Kölner Katholiken; der einfache Gläubige akzeptiert und bejaht sie offensichtlich, kann sie auch instrumentalisieren mit Blick auf die bessere, rechtgläubigere Praxis; für die kirchliche Behörde ist sie ein Problem. Schließlich gibt es Vielfalt zwischen den Diözesen, die möglicherweise im Widerspruch zur Einheit der Liturgie steht, die Rom verlangt. 5. Der Umgang mit dem Pluralismus in der Liturgie fällt sehr unterschiedlich aus. Er kann programmatischen Charakter haben, so in der Alten Kirche, aber auch in der Aufklärung. Er kann sich als friedvolles Miteinander gestalten, kann aber auch zum Konflikt werden. 6. Pluralismus in der Liturgie ist auch ein theologisches Thema. Dies gilt über praktische, also pastorale Fragen der Gestaltung des Gottesdienstes hinaus. Theologisch ist der Pluralismus innerhalb des Christentums zentral, weil er die Vielfalt der Glaubenspraxis, der Frömmigkeitsstile, der Verbindung zwischen Gottesdienst und Leben usw. sichtbar macht. Im letzten geht es um die Gottesfrage in sehr unterschiedlichen Feierformen. Theologisch ist er aber auch deshalb ein Thema, weil sich in ihm ein Nebeneinander der Konfessionen ausdrücken kann; dann weist die Unterschiedlichkeit der Formen auf das vielfältige Ringen um den Glauben an Jesus Christus hin, dann steht man mitten in ökumenischen Diskussionen. Dass schließlich der Pluralismus der Liturgie zwischen den Religionen ein Thema der Theologie ist, weiß jeder, der sich mit dem jüdisch-christlichen Dialog oder dem Dialog zwischen den monotheistischen Religionen beschäftigt. Wie auch immer: In der liturgischen Praxis schlägt sich, wenn man nach Pluralismus und Religion fragt, Religions- und Kirchengeschichte in ihrer ganzen Vielfalt nieder. In der Liturgie wird sie gleichsam sichtbar.

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Pluralität in totalitärer Diktatur? Katholische Kirche zwischen Zentralismus und Autonomie 1961–1989 Will man den Handlungsspielraum der Kirchen in der DDR sachgerecht analysieren und ihren Weg in der sozialistischen Gesellschaft adäquat deuten, kommt man nicht umhin, die tragenden Fundamente der vormaligen sozialistischen Gesellschaft kursorisch in den Blick zu nehmen. Das ideologische Fundament der DDR war und blieb der Marxismus-Leninismus, der sich als einheitliches und geschlossenes System von philosophischen, ökonomischen und sozialpolitischen Auffassungen betrachtete. Als wichtigste Aufgabe wurde genannt, die Reinheit und den Zusammenhang dieser Weltanschauung zu verteidigen und jede Verfälschung zu bekämpfen. Starrheit kennzeichnet nach außen dieses System, in dem alles geregelt war und Pluralität im Denken und Handeln geradezu als häretisch galt. In den 1980er Jahren gab es Meinungen, der Marxismus-Leninismus würde sich eines Tages dazu bereit finden, einen geistigen Pluralismus gelten zu lassen. Man hoffte, die Gesellschaftslehre des Kommunismus würde eines Tages entideologisiert: Das hieß, die Beseitigung des Kapitalismus werde erfolgen, indem die westlichen Länder die ökonomischen Verhältnisse der sozialistischen Länder übernehmen ohne deren weltanschauliche Voraussetzungen. Hier sei auf das Schlagwort vom „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ hingewiesen. Die Weltanschauung des Marxismus-Leninismus in der DDR der 1980er Jahre demaskierte diese Hoffnung als Illusion. Ein pluralistischer Marxismus wurde von den Chefideologen als Todfeind angesehen und als politisch-ideologische Waffe des Imperialismus. Wörtlich heißt es: „Es wird ein verschwommenes, bürgerliches Sozialismusbild entworfen, das zudem durch die Trennung des Sozialismus von seiner weltanschaulichtheoretischen Grundlage auf wenig originelle Art und Weise alte und neue revisionistische und sozialdemokratische Sozialismusverfälschungen adaptiert; das betrifft insbesondere die Theorien vom ‚demokratischen‘ und ‚pluralistischen‘ Sozialismus“.

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Was vordergründig kaum etwas mit den Religionsgemeinschaften zu tun hat, erweist sich bei näherer Betrachtung als wesentlich für den Umgang des Marxismus mit den Kirchen. Denn konstitutiv für den Marxismus-Leninismus in der DDR war und blieb ein Atheismus, der ein Absterben der Kirchen oder einen Endpunkt auf dem Müllhaufen der Geschichte vorsah. Ein „pluralistischer Sozialismus“ westlicher Prägung, den auch einige marxistische Philosophen erhofften, war ausgeschlossen. Die in der DDR gebrauchte Formel „Kirche im Sozialismus“, deren Scheitern in den 1980er Jahren immer offenkundiger wurde, war ein Versuch, Kirche im DDR-Sozialismus zu verorten. Die seit 1989/1990 zur Verfügung stehenden staatlichen Quellen lassen erkennen, dass es nie wirklich ernst zu nehmende Bemühung von Seiten der Partei- und Staatsführung gab, einen Sozialismus mit „menschlicherem Antlitz“ zu etablieren. Für die Kirchen bedeutete das vor allem, dass sie gegen ihren Willen staatlicherseits in dieses System eingeordnet wurden und sich an die sogenannten Geschäftsgrundlagen zu halten hatten. Praktisch sah das so aus, dass man ihren Handlungsspielraum möglichst auf den Kultraum beschränken und damit ihrer gesellschaftlichen Aufgabe berauben wollte. Ein Ausbrechen aus diesem Rahmen bewertete die Partei als Feindschaft und drohte mit Sanktionen. So merkwürdig es auch klingt: Pluralisierungstendenzen in den Kirchen waren zumindest bis zu Beginnen der 1980er Jahre ebenso verpönt wie im DDR-Sozialimus. 1. Katholische Kirche mit hierarchischer Gliederung An dem Verhältnis zwischen Kirche und SED-Staat hat sich von 1945 bis 1989 nie etwas Wesentliches verändert: Kirche war von Anfang an ein Fremdkörper in dieser Gesellschaft.1 Als nach dem Ende des Krieges von Seiten der Kirchen nach Wegen gesucht wurde, in veränderter politischer Situation Kirche zu sein, unter Machthabern, die den Gegensatz zwischen Kirche und Marxismus als weltanschauliches Prinzip so formulierten – „Christentum oder Marxismus“2 –, wurde deutlich, dass man über keinerlei Kenntnis im Umgang mit den neuen Machthabern verfügte. Erst allmählich und vor allem durch negative Erfahrungen kam es zu einem Lernprozess, der zunächst unterschiedliche kirchenpolitische Vorstellungen hervorbrachte. Nach dem Bau

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der Mauer 1961, der jede Hoffnung auf Systemveränderung zunichte machte und die Machtfrage nach innen und außen deutlich zugunsten der SED beantwortet hatte, kam es zu kirchenpolitischen Konzepten, die tragfähig wurden. Insgesamt kann den Bischöfen, die die „kirchenpolitische Gangart“ festlegten, bescheinigt werden, den „innerkirchlichen Freiraum“ mit „Umsicht und Energie im ganzen erfolgreich“ geschützt zu haben.3 Ob damit nicht manchmal das eigenverantwortliche Handeln der Laien mehr als notwendig eingeengt wurde, ist eine Frage, die noch einer Beantwortung bedarf.4 Ebenso bleibt zu fragen, ob die Kirche nicht ein selbst gewähltes Getto wählte, uniform wirkte und handelte und wenig autonom erschien. 2. Kirchlicher „Umgang“ mit Staat und Partei Die Frage, wie man sich als Christ in einem politischen System, das die Zukunft der Kirche „auf dem Müllhaufen der Geschichte“ prophezeite, verhalten sollte, ist in der SBZ/DDR von den Bischöfen grundsätzlich ähnlich beantwortet worden. Für die unterschiedlichen Ebenen aber legte man unterschiedliche Vorgehensweisen fest. Eine dieser Vorgehensweisen bestand darin, vorzuschreiben, wer, wie und wann mit Staats- und Parteistellen im Auftrag der Kirche reden dürfe. Zunächst wohl nur für den Klerus bestimmt, sind die Bestimmungen über die „Beziehungen zu staatlichen Stellen“ oder „Verhandlungen mit staatlichen Stellen“ allmählich auf alle ausgedehnt worden, die haupt- oder nebenamtlich im kirchlichen Dienst waren. Darüber hinaus wurde in Gemeinden, Gruppen und Kreisen ein Modell im Umgang mit Staat und Partei praktiziert, das ähnlich wie die oberhirtlichen Weisungen angelegt war. Verkürzt formuliert hieß das häufig: sich nicht auf politische Diskussionen einlassen; sich nicht für politische Ziele einspannen lassen; den Pfarrer über Behinderungen oder Diskriminierungen informieren; keine Auskünfte über Gemeindemitglieder geben.5 Diese auf oberster Ebene vorgegebenen Verhaltensregeln zum Umgang mit staatlichen Stellen, Parteien und Massenorganisationen waren hinsichtlich ihrer eigentlichen Zielstellung, sich nicht vereinnahmen zu lassen und gegenüber politischer und ideologischer Propaganda resistent zu werden oder zu bleiben, durchaus effektiv und zeitigten, wie sich nach der „Wende“ herausstellte, Erfolg. 1998 kamen die Bischöfe im Zusammenhang mit der „Stasi-Aufarbeitung“ noch-

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mals auf die Anweisungen und Erlasse, „die das Verhalten von Priestern und hauptamtlichen Mitarbeitern gegenüber staatlichen Stellen und dem Ministerium für Staatssicherheit regelten und die genannten Personengruppen zur Einhaltung bestimmter Weisungen verpflichteten“, zu sprechen.6 Von kirchlicher Seite wurde bekannt gemacht, dass für Gespräche mit staatlichen Organen ausdrücklich kirchliche Beauftragte benannt waren und Kontakte mit dem MfS bewusst auf bestimmte, eigens dazu beauftragte Personen beschränkt waren. Dass mit dem MfS verhandelt worden war, wurde erst nach 1989 öffentlich bekannt. Dass diese kirchlichen Verhandlungspartner ohne ihr Wissen und Zutun als Inoffizielle Mitarbeiter (IM) vom MfS geführt wurden, war für einige Medien Anlass, die kirchenpolitische Linie der katholischen Kirche in der DDR grundsätzlich zu kritisieren und die reglementierten Verhandlungsanweisungen hinsichtlich ihrer Effizienz in Frage zu stellen. Die tatsächliche Wirksamkeit der bischöflichen Vorschriften lässt sich aber erahnen, wenn man die bisher bekannten Ergebnisse der von den Bischöfen eingesetzten Arbeitsgruppe zur „Aufarbeitung“ betrachtet. Bis zur Vorlage ihres Abschlussberichts 1998 fand man 117 „Opferakten“ – personenbezogene Überwachungsunterlagen – und 252 „Täterakten“ auf der „katholischen Linie“ des MfS.7 Zugleich stellte die Arbeitsgruppe fest, dass das DDR-Regime auf diesem Weg nur sehr begrenzt auf innerkirchliche Vorgänge Einfluss nehmen konnte. Bei der Behandlung des vorgegebenen Themas stehen noch Aspekte aus, die erwähnt werden müssen, um das Bild einer scheinbar wenig „pluralistischen katholischen Kirche“ in der DDR abrunden zu können. Zunächst sind wenige besondere Hirtenworte zu nennen, die exemplarisch die Haltung der Kirchenleitung wiedergeben. Auf das am 18. Oktober 1973 verabschiedete 3. Jugendgesetz, in dem die Partei das Monopol auf Bildung und Erziehung beanspruchte, antworteten die Bischöfe mit einem „Hirtenbrief zur christlichen Erziehung“8 am 17. November 1974. Sie traten darin nicht nur für Glaubens- und Gewissensfreiheit ein, sondern für das Recht auf Bildung und ganzheitliche Erziehung. Im Namen auch der nichtchristlichen Eltern lehnten sie eine Erziehung zum Hass ab und forderten ein Heranwachsen der Kinder in „wahrer Freiheit“. Am 2. Januar 1983 wurde in den Kirchen der Hirtenbrief „Zum Weltfriedenstag 1983“9 verlesen. Indem die Bischöfe jedes Wettrüsten verurteilten, die Anwendung von Gewalt ablehnten und einen wahren

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„Friedensdienst“ forderten, kritisierten sie den „Wehrkundeunterricht“ als falschen Weg zur Friedensgesinnung. Heftig reagierten Partei- und Staatsführung. Im „Neuen Deutschland“ titulierte man die Bischöfe als „Vasallen Roms“, die in der DDR nicht ihr Zuhause hätten.10 Im Pastoralschreiben „Katholische Kirche im sozialistischen Staat“11 vom 8. September 1986 wurden nach gründlicher und kritischer Analyse des „sozialistischen Staates“ pastorale Folgerungen gezogen, die sich schließlich an die Aussage des 1. Petrusbriefes anschlossen: „Es herrscht keine direkte Verfolgung, aber es gibt Schikanen, Misshelligkeiten und mancherlei Diskriminierung – privat wie öffentlich.“ Innerhalb der nach außen geschlossen erscheinenden katholischen Kirche gab es unterschiedliche kleine Gruppen oder Kreise, die sowohl zu Partei und Staat als auch zeitweise zum offiziellen Weg der katholischen Kirche in der DDR in „Opposition“ standen. Am bekanntesten ist der 1969 gegründete, aus Priestern und Laien bestehende Aktionskreis Halle (AKH). Er berief sich auf den Geist und die Beschlüsse des Zweiten Vatikanischen Konzils und war im Zusammenhang mit anderen kirchen- und gesellschaftskritischen Gruppierungen entstanden.12 In der vorläufigen Grundsatzerklärung von 1969 hieß es: „die Kirchenleitungen zeigen sich weitgehend ängstlich besorgt um Positionen und Prestige einer der Vergangenheit verhafteten Erscheinungsgestalt der Kirche, zu wenig informiert und zu wenig verständnisbereit. Offene Diskussionen werden verweigert oder als Pressionsversuch, Eigenmächtigkeit und Ungehorsam diffamiert.“13 An den regelmäßigen Vollversammlungen nahmen etwa 100 Personen teil. Der AKH hat kirchenkritisch, nicht kirchenfeindlich eine „Demokratisierung“ und „Humanisierung“ der Kirche angemahnt. Seit 1979 wurde er beständig vom MfS überwacht und mit zahlreichen IM durchsetzt; dennoch konnte seine Auflösung verhindert werden. 1958 gründeten der evangelische Pfarrer Günter Noske und der katholische Pfarrer Karl Herbst einen evangelisch-katholischen Briefkreis. Er hatte 1964 ca. 830 und 1970 rund 1.700 Briefempfänger (davon die Hälfte katholische Kleriker). Ziel war, das persönliche Gespräch zwischen Geistlichen beider Kirchen herbeizuführen und durch Informationsschreiben die Kommunikation und die Diskussionsbereitschaft zu fördern und ein besseres Verstehen der Standpunkte zu ermöglichen. In den letzten drei Jahren seines Bestehens behandelt der Briefkreis (1968–1970) hochaktuelle Themen wie „Humanae vitae“, „Matrimonia mixta“ und die Zölibatsfrage. Wegen theologischer Un-

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klarheiten wurde er 1970 seitens der katholischen Kirchenleitung und 1976 wegen politischer Artikel durch die DDR-Staatsorgane verboten.14 Eine kritische, theologische Stimme innerhalb der katholischen Kirche in der DDR war das Leipziger Oratorium vom Hl. Philipp Neri und dessen Spiritus rector Wolfgang Trilling.15 An exponierter Stelle bei Vorbereitung und Durchführung der Meißner Synode 1969/1970 beteiligt, haben die Oratorianer im Anschluss an „Gaudium et spes“ eine stärkere Öffnung der Kirche zur Gesellschaft gefordert und überhaupt eine intensivere Rezeption des Konzils verlangt. Dialogbereitschaft und Dialogfähigkeit waren weitere Postulate. Die kritische Position zu einem kirchlichen Berliner Zentralismus und zu Kardinal Alfred Bengsch resultierte sicher auch aus dessen skeptischer Einschätzung synodalen Geschehens und seiner Entscheidung, auf dem Konzil gegen „Gaudium et spes“ zu stimmen. Ein bis heute noch zu wenig untersuchtes und dargestelltes Phänomen betrifft die staatlichen Wahlen, deren Ergebnisse fast immer sowohl in der Beteiligung als auch in der an die 100 Prozent heranreichenden „Zustimmung“ zu den staatlich festgelegten Kandidaten eher einer Volkszählung ähnelten. Von freien und geheimen Wahlen konnte wegen des Stimmzettelsystems und der Manipulation der Ergebnisse seit Gründung des Staates – und bis zum 18. März 1990 – zu keinem Zeitpunkt die Rede sein.16 „Das Wahlsystem in der DDR steht völlig im Gegensatz zu den verschiedenen bürgerlichen Wahlsystemen und widerspiegelt die führende Rolle der Arbeiterklasse und ihrer marxistisch-leninistischen Partei“, bekräftigte die offizielle Parteidoktrin. In diesem Sinne war die Schlussfolgerung konsequent: „Wahlen dienen der Festigung der Machtverhältnisse.“ Deutlicher als durch die Partei selbst lassen sich die DDR-„Wahlen“ nicht charakterisieren. Von der Bestimmung der Regierungsform und der Auswahl der Regierenden durch den freien Willen der Staatsbürger, von dem das Zweite Vatikanische Konzil spricht, konnte in der Sowjetischen Besatzungszone und nach 1949 in der DDR keine Rede sein. Argwöhnisch betrachteten staatliche Stellen die Teilnahme von Klerus und Laien. Teilnahme an der Wahl interpretierte man als Zustimmung zur Politik, Fernbleiben oder die überwachte Benutzung der Wahlkabine dagegen als Opposition. Nach Einsicht staatlicher Akten ergibt sich, dass ein großer Prozentsatz von Katholiken, darunter auch Kleriker und Ordensangehörige, an den Wahlen teilnahmen.17 Für eine Bewertung dieses Tat-

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bestandes als Konformismus bedürfte es aber weiterer und detaillierter Untersuchungen. 3. Das Fallbeispiel: Zweites Vatikanisches Konzil und seine Folgen für eine Kirche im Ostblock Nach Beendigung des Konzils registrierten Mitglieder der Berliner Bischofskonferenz (BBK) und vor allem ihr Vorsitzender Alfred Kardinal Bengsch „unerwünschte Auswirkungen des Konzils“. Im Februar 1966 berichtete Bengsch in einer „Lagebesprechung“ von Aktivitäten der Ost-CDU, die unter Berufung auf das Konzil und die Friedensinitiative des Papstes kirchliche Stellen oder wenigstens einzelne Priester für ihre Ziele einspannen würden. „Dieselbe Gruppe wird aber auch die Konzilsdekrete in ihrem Sinne ausnutzen. Was dort über die Mündigkeit der Laien, über Zusammenarbeit mit Menschen verschiedener Weltanschauungen, über den Weltdienst gesagt ist, besonders in den Dekreten vom Apostolat der Laien und von der Kirche in der heutigen Welt, wird auf lange Sicht die Arbeit dieser Gruppe bestimmen“.18 Bezüglich der Interpretation der Konzilstexte wurde im Februar 1966 festgehalten: „Es kann nur immer wieder betont werden, daß die legitime Interpretation der Konzilstexte allein dem kirchlichen Lehramt zusteht.“19 Knapp ein halbes Jahr später formulierte Kardinal Bengsch in dem „Lagebericht des Vorsitzenden der Berliner Ordinarienkonferenz“ hinsichtlich der „Einheit und Geschlossenheit der Kirche in der ‚DDR‘“: „Der Erfolg oder Mißerfolg der kirchenfeindlichen Tendenzen ist abhängig von der Kraft und Geschlossenheit der kirchlichen Gemeinschaft. Jedes Abbröckeln in diesem Punkt provoziert ein stärkeres Nachdrücken von Seiten der Kommunisten. Die Geschlossenheit in der katholischen Kirche der DDR ist durch die allgemeine postkonziliare Diskussionswelle gelockert. Da viele bisherige Grundsätze in Diskussion gezogen oder modifiziert werden, erscheint auch das Durchhalten der bisherigen politischen Abstinenz nicht mehr undiskutabel. Es mehren sich die Stimmen, die nach einem Engagement des Katholiken im gesellschaftlichen und politischen Leben rufen. Das berufliche Fortkommen bzw. die erwünschten Genehmigungen für Reisen, Einfuhr oder Bauten erscheinen so als Preise, die ein gewisses Mitgehen vertretbar machen. Seit geraumer Zeit breitet sich besonders unter den Studenten und Jungakademikern die Diskussion über ein ‚Engagement‘ des Christen im hiesigen Staat aus. Diese Diskussion ist verständlich, nachdem die Mauer in Berlin 5 Jahre

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steht und für die Zukunft keine Änderung erwartet wird. (Motive: Unsicherheit in Deutschlandpolitik Bonns, Westmächte keine Veränderung des Status quo, Berichte über angebliches Versagen der kath. Kirche in NS-Zeit, in Westdeutschland verbreitete Kritik an enger Verbindung Katholizismus und CDU-Politik).“20

Wie sollte sich die Bischofskonferenz gegenüber der postkonziliaren Diskussionswelle verhalten, wie auf politische „Gefahren“ reagieren, die zahlreich angemahnten Reformen kanalisieren und innerkirchlichen Reformer einbinden oder disziplinieren? Im Folgenden sollen vor allem die „amtlichen“ Mitbestimmungsgremien in der Zeit von 1966 bis zum Beginn der Pastoralsynode 1973 in den Blick genommen werden. 3.1. Nachkonziliare Aufbrüche Die Jahre 1968 und 1969 wurden für die katholische Kirche in der DDR vor allem innerkirchlich zu einem Entscheidungsjahr. Zahlreiche kirchliche Gruppen und Kreise waren entstanden, die sich auf das Zweite Vatikanum beriefen. Neben dem „Evangelisch katholischen Briefkreis“21, dem Arbeitskreis „Pacem in Terris“22 war der bedeutendste der Aktionskreis Halle (AKH)23, der 1969 gegründet wurde. Die Anfänge des AKH hängen mit dem Bischofswechsel in Magdeburg 1969/70 zusammen. Kardinal Bengsch betrieb, u.a. aus kirchenpolitischen Gründen, intensiv die Ablösung des Magdeburger Weihbischofs Friedrich Maria Rintelen. Gegen den beabsichtigten Wechsel protestierten und solidarisierten sich ab Sommer 1969 zahlreiche Pfarrer und Laien, meist ehemalige Studierende der Katholischen Studentengemeinde (KSG) Halle. Einer der Gründungsväter beschreibt rückwirkend den Impulsgeber. „Das Zweite Vaticanum (1959/62) – 1965) hatte große Hoffnungen geweckt und – aus heutiger Sicht – Illusionen genährt. So gab es große Erwartungen an einen Nachfolger von Weihbischof Rintelen. Es wurde Meinungsbildung und Mitwirkung eingefordert. Diese wurde zwar verweigert, doch aus der Aktion wurde eine feste Einrichtung – der Aktionskreis Halle.“24 Versuche staatlicher und einiger kirchlicher Stellen, dieser Solidarisierungsgruppe den Status einer kirchlichen Vereinigung, auf den sie bis heute Wert legt, abzuerkennen, waren zeitweise von Erfolg gekrönt. Sein Ziel „Demokratisierung, Humanisierung und Interpretation des Glaubens“ verfolgt der

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AKH bis heute bewusst im kirchlichen „Milieu“ vor allem der Neuen Bundesländer. Katholische Studentengemeinden diskutierten seit 1966 über die Pastoralkonstitution „Gaudium et spes“ und natürlich damit im Zusammenhang stehend den Friedensdienst des Christen.25 Kirchenpolitisch ohnehin brisant, wurde die Diskussion zudem auf Wehrdienst und Wehrdienstverweigerung gelenkt und die Bischöfe gebeten, für Wehrdienstverweigerer einzutreten.26 Diskussionen über den Weltdienst des Christen in der DDR,27 die „unbefriedigende Mischeheninstruktion“ von 1968 und das ökumenische Klima wurden zusätzlich Themen in den KSG der DDR. Die Debatten über die Enzyklika „Humanae vitae“ wurden auf die Frage nach dem Sinn des kirchlichen Lehramtes und der kirchlichen Autorität zugespitzt.28 Und schließlich wurden Forderungen nach dem gesellschaftlichen Bezug der Verkündigung, Demokratisierung der Kirche, legalisierter Opposition in der Kirche, „Kontrolle kirchlicher Organe“ und einer Veränderung der Priesterausbildung erhoben.29 Seit 1970 fokussierte sich die Arbeit der Studentengemeinden auf eine mögliche DDR-Pastoralsynode. Bereits 1970 beklagten sie aber die mangelnde Information und Einbeziehung ihrer Vorarbeiten in das synodale Geschehen.30 Die Auseinandersetzungen mit der BOK wurde durch einen Konflikt in der Berliner KSG31 zusätzlich verschärft, in dem die Studenten „deutlich antisynodale Tendenzen und Aktivitäten in der katholischen Kirche in der DDR“ auszumachen glaubten. Ausgangpunkt war ein Gemeindestatut, das den Gemeinderat als von der Gesamtgemeinde dem Pfarrer zugeteiltes Gremium definierte, mit dem dieser Anliegen und Vorhaben der Gemeinde definieren sollte. Als der Pfarrer die Unterstützung des Berliner Ordinariates gegen dieses Statut einholte und bekam, war jede Gesprächsgrundlage zerstört. Zwar wurde in der Folge die Mitarbeit an der Synode weiter verstärkt, enttäuscht war man aber über die „unzureichende Berücksichtung“ der Anliegen der Studentengemeinden. Im Jahresbericht der Arbeitsgemeinschaft Studentenseelsorge von 1973, dem Jahr, als die Pastoralsynode begann, wird endgültig eine Trendwende innerhalb der Ausrichtung der Studentengemeinden erkennbar.32 Der Berichterstatter vermerkte zunächst, dass das Interesse an gesellschaftlich relevanten Fragen abnimmt. Obwohl er die Überwindung dieses gesellschaftspolitischen Extrems begrüßt, bedauert er doch, dass nun eine Entwicklung beginne, die sich ausschließlich auf

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den Raum der Innerlichkeit und des Individualismus richte. Ein Jahr später, 1974, hat sich der angedeutete Umschwung offensichtlich verfestigt. Der Jahresbericht33 nennt Themen wie persönliche Lebensbewältigung und Lebensgestaltung aus dem Glauben als Schwerpunkte seelsorglicher Arbeit. Die Aktivitäten im gesellschaftlichen Bereich nähmen weiter ab und deutlich sei eine Individualisierung auszumachen. Bedauernd führt der Berichterstatter aus, dass eine solche Einstellung „auch für Anliegen der Synode keine Interesse“ aufbringe. „Nur engagierte kleine Gruppen beschäftigten sich mit den Synodenpapieren.“ Diese Synodenmüdigkeit der Studenten dürfe aber nicht als Argument gegen den synodalen Prozess verstanden werden, sondern sei eine Anfrage an den Stil, die Arbeitsweise und die behandelten Themen der Synode. Die Rezeption der Synode selbst sollte, wie in der gesamten Kirche in der DDR, auch in den Studentengemeinden kaum eine Rolle spielen.34 Neben den Studentengemeinden waren es vor allem auch Akademikergruppen, die nach einer umfassenderen innerkirchlichen Partizipation strebten. Um eine Plattform für einen Dialog zwischen Bischöfen und Akademikern, Laien und Priestern zu schaffen, hatte der Görlitzer Pfarrer Dr. Paul Schimke im Einvernehmen mit Bischof Aufderbeck und Bischof Schaffran im April 1968 zu einem Treffen nach Erfurt eingeladen.35 Diese später als „Erfurter Gesprächskreis“ (EGK) bezeichnete Gruppierung erhob u.a. Forderungen nach einer katholischen Interpretation des Sozialismus, der Dezentralisierung der Kirchenleitung, der Einführung einer Synodalverfassung und einer Neuumschreibung der Diözesangrenzen. Der ohnehin im Vervielfältigungsverfahren schon im Umlauf befindliche „Holländische Katechismus“36 solle offiziell von der BOK eingeführt werden, lautete eine weitere Forderung. Kritik am Lebensstil und Lebensstandard der Bischöfe („Mercedes als Dienstwagen“) war nur eines der vielen kritischen und plakativ vorgetragenen Themen. Besonders beklagt wurde die vom „Westen“ ausgehaltene DDR-Kirche, die sich endlich auf ihre Aufgabe im Raum der DDR einstellen müsse. Ein zweites Treffen, diesmal auf Einladung von Bischof Hugo Aufderbeck, fand vom 19. bis 20. Oktober 1968 wieder in Erfurt statt.37 Deutlich sachlicher wurden Mängel und Desiderate der katholischen Kirche besprochen. Kollegialität und Brüderlichkeit seien in der Leitungstätigkeit der Kirche ungenügend oder gar nicht verwirklicht. Klerus und Laien würden mangelhaft, einseitig oder gar nicht über Fragen

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des kirchlichen Lebens informiert.38 Zwischen den Jurisdiktionsgebieten der DDR bestehe ein bemerkenswertes Gefälle in Quantität und inhaltlicher Ausrichtung. Dieses Gefälle wirke sich auf die innere Einheit der Kirche aus. Klerus und Laien hätten das Gefühl, von einer autoritär geführten Kirche ignoriert zu werden. Eine Hauptforderung der Teilnehmer, ein Gremium aus Laien und Priestern zu schaffen, ein synodales Organ, das der Ordinarienkonferenz zugeordnet sei, sollte sich kurze Zeit später verwirklichen. Am 15. Februar 1969 empfing Kardinal Bengsch die Vertreter des Erfurter Gesprächskreises zu einem ausführlichen Gespräch.39 Mit bemerkenswerter Offenheit – so der Protokollant – beantwortete Bengsch die Fragen der Teilnehmer und versuchte, die Kritikpunkte sachlich und mit Hinweis auf die kirchenpolitische Situation zu entschärfen. Der theologische Transfer aus dem Westen, eine brisante Thematik, sei nicht grundsätzlich zu beklagen, denn „Theologische Informationen seien … sehr zu begrüßen, weil die theologische Entwicklung in der Kirche der DDR die zentrale Problematik sei.“40 Das Problem bestünde darin, dass bei vielen jungen Geistlichen eine Missachtung der kirchlichen Lehrautorität zu beobachten sei. „Konzilsbeschlüsse würden weithin nur als Diskussionsgrundlage und nicht als zum Gehorsam verpflichtende Lehräußerung angesehen. In diesem Mangel an Einsicht in das Wesen des kirchlichen Lehramtes sei die häufig zu beobachtende Verbreitung privater theologischer Auffassungen begründet. Viele Auffassungen der jüngeren Geistlichen seien aus westlichen Quellen übernommen, aus ihrem Zusammenhang herausgerissen, ungenügend durchdacht und unzulässig vereinfacht. So entstünden unhaltbare theologische Auffassungen, deren pflichtgemäße Korrektur durch die Bischöfe als autoritäre Maßnahmen missdeutet würde. Diese Autoritätskrise als ein sich von West nach Ost fortpflanzender Prozeß sei eine zum gegenwärtigen Zeitpunkt auch durch eine noch so gute theologische innerkirchliche Information nicht zu heilende Krankheit der Kirche.“41

Die Mitglieder des EGK wiesen u.a. darauf hin, dass eine Mitverantwortung gerade auch kritischer und oppositionelle Gruppen im Rahmen des Laien- und Priesterrates bei der Ordinarienkonferenz zu einer ausgewogeneren Urteilsbildung in diesen Gruppierungen und zu einer besseren Eingliederung in die Situation der Kirche in der DDR führen könnte. Der Protokollant bewertete die Atmosphäre als freundlich und partnerschaftlich und dankte für die Möglichkeit des Gespräches.

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3.2. „Bischöfliche Gremien“ als Ausdruck innerkirchlicher Mitbestimmung und kirchlichen Pluralismus? Die Errichtung eines Priester- und eines Laiengremiums war auf Vorschlag der Vertreter des Erfurter Gesprächskreises drei Monate vorher durch die Ordinarienkonferenz erfolgt.42 Beide sollten der Bischofskonferenz zugeordnet sein und zunächst ad experimentum auf drei Jahre bestehen. Die Aufgabe der beiden Kommissionen sei es, „in gemeinsamer oder getrennter Beratung besprochene Fragen, Anregungen, Wünsche und Vorschläge, die die Arbeit der Kirche im Raum der DDR betreffen, der Ordinarienkonferenz vorzulegen; die Ordinarienkonferenz kann ihrerseits wichtige Angelegenheiten beiden Gremien zur Stellungnahme bzw. Bearbeitung übertragen. Die Wahl der Priester sollte durch die Priesterräte der einzelnen Jurisdiktionsbezirke und die Erfurter Professorenkonferenz erfolgen, die jeweils ein Mitglied aus ihren Reihen entsendet. Die Berufung der Laien erfolgte auf Vorschlag der Diözesanlaienräte durch die Ordinarienkonferenz. Die Ordinarienkonferenz behält sich vor, ein bis zwei Mitglieder für jedes Gremium zusätzlich zu berufen.“43

Im Juni 1969 wurden die Mitglieder der beiden Gremien benannt.44 Für das Laiengremium waren vorgesehen und wurden ernannt45: Prof. Dr. Johannes Thomas, Neu Fahrland (Berlin), Agathe Nartschik, Leipzig (Meißen), Gerhard Musch, Radebeul (Meißen), Dr. Josef Horntrich, Cottbus (Görlitz), Johannes Thommes, Badersleben (Magdeburg), Dr. Julius Schoenemann, Rostock (Schwerin), Dr. Viktor Hüber, Jena (Erfurt) und Paul Thierse, Eisfeld (Meiningen). Der „Laienrat der BOK“ traf sich zu seiner konstituierenden Sitzung am 4. und 5. Oktober 1969 in Berlin und wählte den Rostocker Mediziner Schoenemann zum Vorsitzenden.46 Besprochene Themen waren Fragen der Bestellung von Koadjutoren, der Opportunität einer Synode und die Hilfe für andere Völker. Eine weitere Sitzung fand am 6./7. Dezember 1969 in Berlin statt.47 Inhaltlich ging es dabei vor allem um das äußere Erscheinungsbild der Kirche, und man empfahl der BOK, alle traditionellen Äußerlichkeiten wie Titel, Kleidung des Priesters, Einrichtung der Gebäude und dergleichen im Geistes des Evangeliums an die moderne Welt anzupassen. Auf Grund der von den einzelnen Jurisdiktionsbezirken und der Erfurter Professorenkonferenz gemachten Meldungen berief die Ordinarienkonferenz ad experimentum auf drei Jahre in das Priestergremium und ernannte am 24. Juni48: Pfarrer Hermann-Josef Weinsziehr,

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Prenzlau (Berlin), Rektor Günter Hanisch, Karl-Marx-Stadt (Meißen), Pfarrer Augustinus Schubert, Hoyerswerda (Görlitz), Pfarrvikar Herbert Wagner, Zschornewitz (Magdeburg), Pastor Edgar Beurskens, Wittenburg (Schwerin), Stadtdechant Bruno Diefenbach, Mühlhausen (Erfurt), Pfarrer Max Heinrich, Hildburghausen (Meiningen) und Prälat Prof. Dr. Erich Kleineidam, Erfurt (Professorenkonferenz). Das Priestergremium konstituierte sich am 11./12. September 1969 und wählte Professor Kleineidam zum Vorsitzenden.49 Die Errichtung eines weiteren „Ausschusses“ war im Dezember 1968 von der BOK beschlossen worden: „Die Ordinarienkonferenz bittet und beauftragt die Erfurter Professorenkonferenz, vier Fachtheologen aus dem Bereich der DDR für eine zu bildende Theologische Kommission zu benennen, die die Ordinarien über theologische Fragen informieren und beraten“50 soll. Auf Grund des Vorschlages der Erfurter Professorenkonferenz vom 27. März 1969 berief die Ordinarienkonferenz als Mitglieder der Theologischen Kommission ebenfalls ad experimentum auf drei Jahre: Regens Prälat Erich Puzik, Neuzelle, Msgr. Prof. Dr. Heinz Schürmann, Erfurt, Prof. Dr. Fritz Hoffmann, Erfurt und Dozent Dr. Wilhelm Ernst, Erfurt.51 Auf der konstituierenden Sitzung am 9. November 1969 wurde Heinz Schürmann für ein Jahr zum Vorsitzenden gewählt.52 In „Empfehlungen der Theologischen Kommission an die Berliner Ordinarienkonferenz“53 empfahl man beispielsweise Theologische Werkwochen, eine Vereinheitlichung der Examina und vor allem die Publizierung der Verlautbarungen der Fuldaer Bischofskonferenz und der ihr zugeordneten Organe in einer der Situation angepassten Form. Man konnte gespannt sein, welche Aufgaben diese Beratungsgremien der BOK wahrnehmen durften, wie die Kommunikation mit den Bischöfen verlief und welchen Einfluss Ratschläge der Kommissionen auf Entscheidungen der Bischofskonferenz hatten. 3.3. DDR-Synode unausweichlich Der Plan für eine erste Synode in der DDR, der Meißner Diözesansynode, wurde bereits im November 1963 in Rom nach vielen Gesprächen Bischof Otto Spülbecks mit seinen Begleitern Hermann-Joseph Weisbender und Josef Gülden gefasst.54 Bischof Spülbeck, ein ausgesprochener Befürworter der Pastoralkonstitution „Gaudium et spes“,

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machte sich unmittelbar im Anschluss an das II. Vatikanum daran, die Beschlüsse des Konzils durch die Einberufung der Diözesansynode zu realisieren. Bereits am 17. September  1966 richtete er zur Vorbereitung der Vorlagen für die Synodenvollversammlungen 16  Fachkommissionen ein.55 Dass die Meißner Synode (1969–1971) von Kardinal Bengsch und einigen Vertretern der BOK außerordentlich kritisch verfolgt, und dass ihr rascher Abschluss 1971 nicht nur mit dem Tod des Meißner Bischofs Otto Spülbeck 1970, sondern vor allem mit dem Plan einer Pastoralsynode in der DDR begründet wurde, ist bekannt. Dessen ungeachtet ist festzuhalten: 1966 war eine Pastoralsynode für alle Bistümer und Jurisdiktionsgebiete in der DDR nicht beabsichtigt. Um den komplizierten Weg zur Pastoralsynode verstehbar zu machen, ist zunächst auf eine scheinbar beiläufige Entscheidung aufmerksam zu machen. Auf ihrer Sitzung am 28. und 29. März 1966 hatte sich die BOK eine neue Satzung gegeben. Bei der Nuntiatur schuf Artikel 14 Irritationen.56 Gemäß Schreiben der Apostolischen Nuntiatur vom 31. August 1966 bedurften zwar die Statuten der Berliner Ordinarienkonferenz als einer Regionalkonferenz nicht der Genehmigung des Hl. Stuhls. Die Apostolische Nuntiatur fragte aber an, ob der Artikel 14 der Satzung nicht zu streichen wäre, nach welcher die „Berliner Ordinarienkonferenz Beschlüsse mit Rechtskraft in den von den kirchlichen Rechtsnormen vorgesehenen Fällen“ fassen kann. Die BOK beauftragte daraufhin Bengsch, den „Apostolischen Nuntius verbindlich zu unterrichten, daß bei diesem Artikel nicht an eigene Beschlüsse der Berliner Ordinarienkonferenz gedacht sei. Er soll vielmehr ermöglichen, daß Beschlüsse der Deutschen Bischofskonferenz, die als solche in der DDR nicht publiziert werden dürfen, formell als Beschlüsse der Berliner Ordinarienkonferenz publiziert werden können“57. Das bedeutete aber im Fall einer Synode in der Bundesrepublik Deutschland, dass deren Beschlüsse zu Beschlüssen der Berliner Ordinarienkonferenz geworden wären, denen man staatlicherseits sicher mit Sanktionen begegnet wäre. Als der Berliner Ordinarienkonferenz Anfang 1969 die konkreten Pläne für eine Synode in der Bundesrepublik bekannt gemacht wurden, hatte man trotz möglicher „politischer Folgen“ zunächst keine Einwände erhoben.58 Man bat lediglich darum „die Benennung ‚Deutsche Synode‘ oder ‚Nationalsynode‘ zu vermeiden“ und schlug vor, „wenn der Begriff ‚Pastoralkonferenz‘ nicht verwendbar ist, von einer Pastoralsynode der Diözesen bzw. Kirchenprovinzen der Bundesrepublik zu sprechen“. Die von 1971 bis 1975 in Würzburg

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tagenden Synode bezeichnete sich dann auch als „Gemeinsame Synode der Bistümer in der Bundesrepublik Deutschland“59. Gleichzeitig beschloss die BOK, da die Vorbereitungen der Meißener DiözesanSynode ergäben hätten, dass eine große Zahl der angeschnittenen Fragen nicht nur für das Bistum Meißen, sondern für alle Jurisdiktionsbezirke im Bereich der DDR von Bedeutung wären, eine Kommission einzusetzen. Diese soll „zur Vorbereitungskommission der Meißener Diözesan-Synode Verbindung aufnehmen, um zu untersuchen, inwieweit ein Anschluß an die Vorarbeiten der Meißener Diözesan-Synode möglich ist. Dabei soll auch geprüft werden, in welchem Zeitraum eine entsprechende Konferenz oder Synode für alle Jurisdiktionsbezirke im Bereich der DDR durchgeführt werden kann.“60 Im Mai 1969 hatte Alfred Bengsch mit dem Staatssekretär für Kirchenfragen, Hans Seigewasser  (zuständig 1960–1979), eine Besprechung, in der dieser auf eine Pastoralsynode hinwies und offenbar Themen wie politisches Engagement der Kirche für den Staat und Mitarbeit der Geistlichen in den Ausschüssen der Nationalen Front verlangte61. Mit dem Hinweis, dass im Gegensatz zu evangelischen Synoden sich katholische Synoden nur mit innerkirchlichen Problemen beschäftigten, konnte Alfred Bengsch das Ansinnen abwehren. Es bestand dennoch unmittelbarer Handlungsbedarf. Um „der Regierung der DDR nicht die Möglichkeit zu geben, gegen die Durchführung ‚westlicher‘ Synodalbeschlüsse in den ostdeutschen Diözesanteilen westdeutscher Bistümer Maßnahmen zu ergreifen“62, sah sich schließlich der Vorsitzende der BOK genötigt, auch in Ostdeutschland eine Pastoralsynode durchzuführen, was zunächst wohl nicht bekannt gemacht wurde. Inwiefern alle Mitglieder der BOK zu diesem Zeitpunkt die Überlegungen des Konferenzvorsitzenden kannten, bleibt offen. Trotz der internen Entscheidung für eine Synode wurde die Frage nach ihrer Opportunität offiziell seit September 1969 im Auftrag der Berliner Ordinarienkonferenz in verschiedenen Gruppen und Arbeitskreisen diskutiert. Insgesamt trafen acht Stellungnahmen von überdiözesanen Arbeitskreisen bzw. Zusammenschlüssen zur Frage der Opportunität einer Synode ein.63 Das „Laiengremium“ hatte auf seiner ersten Sitzung am 4. und 5. Oktober 1969 in Berlin auftragsgemäß die Frage nach der Opportunität einer Pastoralsynode erörtert.64 Die Mehrzahl der Teilnehmer (aus Berlin, Magdeburg, Görlitz und Erfurt) waren gegen eine Synode und für „losere Formen“; „Meiningen und vor allem Meißen plädierten

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sehr stark dafür“.65 Die Konferenz der Leiter der Seelsorgeämter, die am 21. Oktober 1969 in Cottbus tagte, schlug der BOK einen Dreistufenplan vor.66 Eine Pastoralkonferenz (1. Stufe) bestehend aus 40 Teilnehmern (Priestern und Laien) sollte zu den vorgeschlagenen Themenkomplexen Schemata erarbeiten. Ein Pastoralkongreß (2. Stufe) sollte die erarbeiteten Schemata der breiten kirchlichen Öffentlichkeit bekannt machen und zur Diskussion stellen. Die Pastoralsynode (bestehend aus ca. 130 Teilnehmern, zu denen auch 50 gewählte Laien und 15 gewählten Priester gehörten) sollte ähnlich der Meißner Synode arbeiten; vor allem sollten Teilnehmer aus der Pastoralkonferenz (1. Stufe) vertreten sein, um die erarbeiteten Schemata zu erläutern und zur Endredaktion zu bringen. Die Theologenkommission hatte ihr erstes Gutachten am 9. November 1969 fertig gestellt.67 Sie plädierte für die Rechtsform eines „Pastoralkonzils“, um moralisch verbindliche Dokumente vorlegen zu können. Eine Synode bewirke kirchenrechtliche und gesellschaftliche Schwierigkeiten und ein Pastoralkongress sei zu unverbindlich. Das Priestergremium hatte auf seiner ersten Sitzung am 26. November 1969 folgende einstimmige Stellungnahme formuliert: „Das Priestergremium hält eine gesetzgebende Pastoralsynode im Raum der DDR aus kirchenrechtlichen, interdiözesanen und politischen Gründen für nicht opportun. Es empfiehlt einen Pastoralkongreß, zusammengesetzt aus Priestern und Laien aus allen Jurisdiktionsgebieten der DDR, um Leitlinien der Pastoral zu erarbeiten, die von allen beachtet werden sollen.“68 Die Studentenpfarrerkonferenz, die vom 1. bis 3. April 1970 in Berlin tagte, zweifelte „an der Opportunität, mindestens in den nächsten 3 Jahren. Dennoch ist Mitarbeit an den Themen wichtig, da die ‚Aktivisten der ersten Stunde‘ weithin die Vorlagen bestimmen.“69 Der Regionalkreis der katholischen Studentengemeinden folgte offenbar den Empfehlungen der Studentenpfarrer – sich einzumischen, um den „Aktivisten“ nicht das Feld zu überlassen – und forderte deshalb für eine „mögliche DDR-Synode“ die Mitarbeit des gesamten Kirchenvolkes.70 Fasst man die vorgestellten Stellungnahmen zur Opportunität einer Pastoralsynode zusammen, so ergibt sich das relativ eindeutige Bild einer eher skeptisch-negativen Einstellung gegenüber dem Projekt einer „großen Pastoralsynode“ für die DDR. Auch wenn man in Erwägung zieht, dass in einigen Gremien wohl angesichts mangelnder Kenntnisse über Sinn und Aufgabe einer Synode eher diffuse Vorstellungen

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über solche „Versammlungen“ bestanden, bleibt der dargelegte Befund denkwürdig. Schon am 3. Dezember 1969 benachrichtigte der Sekretär der BOK Paul Dissemond die Sprecher der Gremien über einen Beschluß der BOK vom 1./2. Dezember 1969.71 Überschrieben war dieses Schreiben mit „Vorbereitungskommission einer geplanten DDR-Synode“. Er bestätigte den vorfristigen Eingang der Voten (sie wurden erst Ostern 1970 erwartet72) und kündigte die Bildung einer „vorbereitenden Kommission“ aus den Vertretern der Gremien an, die durch den Sekretär der BOK zusammengerufen würden. Die Resultate der Voten erwähnte Dissemond nicht. Vielmehr benannte er einen neuen Auftrag für die Gremien: „Diese Vorbereitungskommission soll die eingebrachten Vorschläge und die Erfahrungen der Meißner Diözesansynode koordinieren und gegebenenfalls Vorschläge für Thematik und Statut einer Pastoralkonferenz oder -synode erarbeiten und bis September 1970 der Ordinarienkonferenz vorlegen.“ Auffallend an diesem Brief ist, dass von einer „geplanten DDR-Synode“, wie im „Betreff“ angezeigt, in der Folge nicht die Rede ist und es „gegebenenfalls“ entweder zu einer „Pastoralkonferenz“ oder „Pastoralsynode“ kommen könnte. Das Projekt einer Pastoralsynode war aber bereits Anfang 1969 weitgehend festgelegt und von Kardinal Bengsch im Mai 1969 endgültig entschieden worden. Die kirchenpolitischen Implikationen – so die gebräuchliche Version – waren es wohl, die der Berliner Ordinarienkonferenz hinsichtlich der Durchführung einer Gesamtsynode keine Wahl zu lassen schienen. Rückblickend bleibt gleichwohl schwer verstehbar, warum Voten über die Opportunität einer Synode erbeten wurden, als bereits die Entscheidung dafür gefallen war. Sollte hier unter Umständen der Modus einer monologen Entscheidungsfindung kaschiert werden, der immer wieder und öfter als autoritär bezeichnet worden war? Hatte eine bischöflich konzedierte Mitbestimmung ihre Grenzen dann erreicht, wenn kirchenpolitische oder innerkirchliche Probleme zu erwarten waren? Am 22. März 1973 konstituierte sich die Pastoralsynode unter Vorsitz von Kardinal Bengsch in Dresden. Auf der ersten Vollversammlung kam es zur Errichtung von fünf Fachkommissionen. Diese erarbeiteten im Ganzen neun Vorlagen.73 Sieben Sitzungen fanden statt, die letzte endete am 30. November 1975. Über Inhalte und Formulierungen der einzelnen Beschlüsse war teilweise heftig gerungen und gestritten wor-

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den. Der Grunddissens bestand in den unterschiedlichen Ansichten über das Verhältnis der katholischen Kirche zur sozialistischen Gesellschaft. Durchgesetzt hat sich ein von den Bischöfen und der Mehrheit der Synodalen getragener Kompromiss. Nur eine vorsichtig distanzierte Haltung gegenüber einem gesellschaftlichen Engagement von Kirche und einzelnen Christen sei möglich. Die Frage nach der Rezeption der Pastoralsynode in der DDR wird bis heute gestellt und fast ausnahmslos negativ beantwortet. 4. Die Suche nach einem theologischen Weg aus dem „Getto“ Wiederholt ist im letzten Jahrzehnt in der zeitgeschichtlichen Katholizismusforschung betont worden, der Generationswechsel unter den Bischöfen seit Anfang der 1980er Jahre (Joachim Meisner 1980 in Berlin, Joachim Wanke 1981 in Erfurt-Meiningen, Joachim Reinelt 1988 in Dresden-Meißen, Georg Sterzinsky 1989 in Berlin) sei mit neuen Akzentsetzungen verbunden gewesen,74 die zu einer „katholischen Identitätsbildung“75 unter „weltanschaulichem Generalvorbehalt“76 führten. Diese These ist inzwischen Forschungskonsens. Dass zunächst staatlicherseits versucht wurde, die „Neuen“ in das gewonnene Bild einzuordnen, verwundert nicht. Die „neuen“ Bischöfe hielten sich immer weniger an die so genannten „Geschäftsgrundlagen“. Der Staat konstatierte irritiert und verärgert, dass öffentliche Großveranstaltungen ohne staatliche Konsultationen angekündigt wurden, internationale Bindungen durch Einladung von Theologen und Bischöfen aus Ost und West zu Veranstaltungen in der DDR sich verstärkten sowie Hirtenbriefe und Pastoralschreiben die Stellung der Katholiken in der Gesellschaft konstruktiv und kritisch thematisierten. Die katholische Kirche trat immer öfter in die gesellschaftliche Öffentlichkeit, so durch das Katholikentreffen 198777 und die Teilnahme an der Ökumenischen Versammlung78. Was hatte sich tatsächlich geändert? Als 1981 der neue Erfurter Bischof Joachim Wanke den Versuch einer pastoralen Standortbestimmung unternahm, formulierte er zunächst: „Wir wollen auch hierher gehören, nicht weil wir nicht anders können, sondern weil wir um dieses Landes willen, um seiner Menschen willen einen Weg suchen wollen, um das Evangelium Jesu Christi auf ‚mitteldeutsch‘ zu buchstabieren.“79 Was zunächst auffällt, ist, dass der Vortrag ohne

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„kirchenpolitische Planspiele“ auskommt, d.h. ohne Analysen staatlicher Kirchenpolitik und deren Folgen für den gläubigen Christen. Die theologische Wirklichkeit der katholischen Kirche in der DDR wird in den Blick genommen: katholische Kirche ist in diesem Raum DDR eine Wirklichkeit, kein Los, kein Schicksal, sondern Realität und Chance. Deshalb gilt es, diese Wirklichkeit auch zuerst mit den Augen des Glaubenden zu sehen. Eine Differenzierung zwischen Staat und Gesellschaft, die von Wanke als säkularisiert und materialistisch bezeichnet wurde, ist also nicht ursächlich der Ansatzpunkt des von Wanke vorgenommenen theologischen Paradigmenwechsels vom kirchenpolitischen „status quo“ einer Kirche in einem totalitären System hin zur „theologischen Wirklichkeit der Kirche unseres Raumes“. Die vorbehaltlose Bejahung dieser von Gott gegebenen Realität, und damit die „Einbettung des Evangeliums in die konkrete Welt“ und die Hinwendung zu den Menschen des Landes, ist der Ausgangspunkt. Wie sehr sich die katholische Kirche in der DDR in der Folge als „theologische Wirklichkeit“ verstand und die Gläubigen zur Solidarisierung und dienendem Zeugnis für die Menschen des Landes aufforderte, machen nicht nur die gemeinsamen Hirtenbriefe der BBK der 1980er Jahre in vielfältiger Weise deutlich. Eine parteiinterne Analyse aus dem Jahre 1986 zeigt klarer als manche kircheninterne Darstellung, wie der Staat auf den von Wanke initiierten „Kurswechsel“ reagierte: „Während einerseits dazu aufgerufen wird, sich für eine gerechte menschenwürdige, friedliche Welt sowie für das allgemeine Wohl der Gesellschaft einzusetzen, Verantwortung gegenüber dem gesellschaftlichen Eigentum zu zeigen, eine hohe Arbeitsmoral zu entwickeln und sich in der Nachbarschaftshilfe sowie im Einsatz für Kranke und Behinderte zu bewähren, wird andererseits in scharfer Weise das Trennende zwischen dem sozialistischen Staat und der katholischen Kirche hervorgehoben und der weltanschauliche Gegensatz in den Vordergrund gerückt. Christsein in der sozialistischen Gesellschaft wird vorrangig als alternative Existenz deklariert, die künftig mit einem bewußten Verzicht auf persönliche Entwicklung verbunden sein müsse. Insgesamt bleibt die katholische Kirche – auch wenn einige konstruktive Aussagen nicht übersehen werden – hinter den von Staat und Gesellschaft geschaffenen Möglichkeiten zurück.“80

Mir scheint, dass eine primär kirchenpolitische Fixierung der katholischen Kirche aufgegeben wurde, ohne dass es dadurch aber zu einem bis dahin gefürchteten Aufbrechen der inneren Geschlossenheit

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und einer Instrumentalisierung der katholischen Kirche durch den Staat und die sozialistische Gesellschaft gekommen wäre. Der Berliner Kardinal Georg Sterzinsky erklärte es in einem Interview 2009 so: „Auf der anderen Seite war ich mit Bischof Wanke einig, dass wir nicht in der Art fortfahren können, wie sie sich seit Jahrzehnten bewährt hatte: Politische Zurückhaltung, völlige Abstinenz, das ging nicht mehr. Wir durften das Volk nicht im Stich lassen, das war uns klar.“81 Und an seine Erfurter Zeit als Generalvikar erinnernd fügte er hinzu: „Der Erfurter Bischof Wanke hatte schon Mitte der 80er Jahre gesagt, wir dürfen nicht das ganze Feld den Kommunisten überlassen. Wir müssen fein differenzieren, an welcher Stelle wir in die Speichen greifen nicht in der Annahme, es würde wirklich zu einer Demokratie kommen, sondern um das Schlimmste zu verhindern. Wir müssen die Gläubigen lehren, wie sie – ohne etwas zu tun, was gegen ihr Gewissen geht – gesellschaftlich mitarbeiten. Es ist so vieles, was zwar atheistisch oder kommunistisch interpretiert wird, aber eigentlich nicht kommunistisch oder gar atheistisch ist. […] Wenn einer im Sport mitmacht, wird das immer als Beitrag zum Sieg des Sozialismus interpretiert. Das muss man in Kauf nehmen. Vorher hieß es immer, was so interpretiert werden kann, wollen wir nicht fördern. Damit fördern wir das ganze System. Wir wollen unterscheiden zwischen den Gläubigen in den Gemeinden, deren Wirken man als Wirken eines Bürgers der DDR versteht, und dem Handeln der offiziellen Vertreter der Kirche.“82

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Anmerkungen zu den Seiten 15–28: Thoralf Klein, Außenansicht: Religionspluralismus in Ostasien 1 2

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R. Zöllner, „Religiöse und kulturelle Prägungen in Ostasien in historischer Dimension“, in: H. G. Nutzinger (Hg.), Religion, Werte und Wirtschaft. China und die Transformation in Asien, Marburg 2002, 189–202. Eine abweichende Terminologie für den gleichen Sachverhalt entwickelt V. Goossaert, „Managing Chinese Religious Pluralism in the Nineteenthcentury City God Temples“, in: T. Jansen, T. Klein, C. Meyer (Hg.), Chinese Religions in the Age of Globalization, 1800–Present, Boston/Leiden: Brill (in Vorbereitung). Goossaert unterscheidet „plurality“ im Sinne eines einfachen Nebeneinanders von „pluralism“ als dessen sozialer und rechtlicher Akzeptanz. Vgl. auch ders., „1898: The Beginning of End for Chinese Religion?“, in: Journal of Asian Studies 65, 2006, 309f. Vgl. dazu H. Zinser, Der Markt der Religionen, München 1997, 10f. Vgl. etwa J. M. Reynolds, „Ise Shrine and a Modernist Construction of Japanese Tradition“, in: The Art Bulletin 83, 2001, 316–341. J. Gentz, „Die religiöse Situation in Ostasien“, in: H. Joas, K. Wiegandt (Hg.), Säkularisierung und die Weltreligionen, Frankfurt a. M. 2007, 383. So die klassische, auf China bezogene Formulierung von D. M. Jordan, Gods, Ghosts, and Ancestors. The Folk Religion of a Taiwanese Village, Berkeley, CA u.a. 1972; A. P. Wolf, „Gods, Ghosts, and Ancestors“, in: ders. (Hg.), Studies in Chinese Society, Stanford, CA 1978, 131–182. A. Yuet Chau, „Efficacy over Confessionality. On Ritual Polytropy in China“. Vortrag auf der Konferenz „Beyond the Market: Exploring Religious Fields in Modern China“, Lampeter/Wales, 20.–22. November 2009; vgl. M. Carrithers, „On Polytropy: Or the Natural Condition of Spiritual Cosmopolitanism in India: The Digambar Jain Case“, in: Modern Asian Studies 34, 2000, 834ff. T. Brook, „Rethinking Syncretism: The Unity of the Three Teachings and their Joint Worship in Late-Imperial China“, in: Journal of Chinese Religion 21, 1993, 13–44. C. K. Yang, Religion in Chinese Society. A Study of Contemporary Social Functions of Religion and Some of their Historical Factors, Berkeley, CA u.a. 1961. Michiko Yusa, Japanese Religions, London u.a. 2002, 65. Kuroda Toshio, „Shinto in the History of Japanese Religion“, in: Journal of Japanese Studies 7, 1981, 1–21. J. Gentz, „Die drei Lehren (sanjiao) Chinas in Konflikt und Harmonie. Figuren und Strategien einer Debatte“, in: E. Franke, M. Pye (Hg.), Religionen Nebeneinander. Modelle religiöser Vielfalt in Ost- und Südostasien, Berlin 2006, 17–40. J. Huntley Grayson, Korea – A Religious History, 2. Aufl. Abingdon/NY 2002, 112–123, 217.

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Anmerkungen

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14 C. Richmond Tsang, War and Faith: Ikkô ikki in Late Muromachi Japan, Cambridge, MA: Harvard University Asia Center 2007. 15 Der Begriff stammt von R. Eskildsen, „Of Civilization and Savages: The Mimetic Imperialism of Japan‘s 1874 Expedition to Taiwan“, in: American Historical Review 107, 2002, 388–418. 16 Yusa, Japanese Religions, 107. 17 Yang Fenggang, „The Red, Black, and Gray Markets of Religion in China“, in: Sociological Quarterly 47, 2006, 93–122. 18 Hee-Seok Park, Schamanismus ohne Magie. Seine ideelle Rolle und praktische Funktion in der südkoreanischen Protestbewegung, München 2009. Anmerkungen zu den Seiten 29–45: Christof Mandry, Pluralismus als Problem und Pluralismus als Wert – theologisch-ethische Überlegungen 1

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Das hebt etwa Rüpke programmatisch hervor, vgl. J. Rüpke, „Europa und die europäische Religionsgeschichte“, in: H. G. Kippenberg, J. Rüpke, K. von Stuckrad (Hg.), Europäische Religionsgeschichte. Ein mehrfacher Pluralismus, Bd. 1, Göttingen 2009, 3–14, hier 9f. Vgl. die differenzierten Überlegungen von Rüpke ebd., 4–9, und seine Warnungen vor dem Kreieren neuer Essentialismen durch die normativ grundierte Option für Pluralismus (vgl. ebd., 10). Für eine eingehende Analyse und Bewertung des politischen Selbstverständnisses der Europäischen Union als „Wertegemeinschaft“ verweise ich auf mein Buch C. Mandry, Europa als Wertegemeinschaft. Eine theologisch-ethische Studie zum politischen Selbstverständnis der Europäischen Union, Baden-Baden 2009. Vgl. dazu und zur religiösen Dimension des Konflikts D. Zifonun und M. Jakiša, „Religiöse Vielfalt und religiöser Konflikt: Der Fall Bosnien und Herzegowina“, in: Kippenberg/Rüpke/von Stuckrad (s. Anm. 1), 411–438.

Anmerkungen zu den Seiten 47–60: Jörg Rüpke, Wann begann die Europäische Religionsgeschichte? Der hellenistischrömische Mittelmeerraum und die europäische Gegenwart 1

Diese Arbeit entstand im Rahmen der von der Deutschen Forschungsgemeinschaft finanzierten Kollegforschergruppe „Religiöse Individualisierung in Historischer Perspektive“ am Max-Weber-Kolleg der Universität Erfurt. Ich danke insbesondere Hans Joas, Richard Gordon und Wolfgang Spickermann für die intensive Diskussion in diesem Rahmen. Frau

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Anmerkungen Julia Carls, Erfurt, bin ich für die Schlussbearbeitung dankbar. – Die Literaturangaben beziehen sich auf das nachfolgende Literaturverzeichnis. K. Jaspers, Vom Ursprung und Ziel der Geschichte, München 1988. S. N. Eisenstadt (Hg.), Kulturen der Achsenzeit: Ihre Ursprünge und ihre Vielfalt, 2 Bde., Frankfurt a. M. 1987; J.P. Árnason, S.N. Eisenstadt, B. Wittrock (eds.), Axial civilizations and world history, Leiden 2005. S. N. Eisenstadt, „Die Achsenzeit in der Weltgeschichte“, in: H. Joas, K. Wiegandt (Hg.), Die kulturellen Werte Europas, Frankfurt a. M. 2005, 40–68, hier: 43. S. N. Eisenstadt, „Allgemeine Einleitung: Die Bedingungen für die Entstehung und Institutionalisierung der Kulturen der Achsenzeit“, in: Eisenstadt, Kulturen, (s. Anm. 3) 10–40. Árnason, Eisenstadt, Wittrock, Civilizations (s. Anm. 3). B. Wittrock, „Cultural Crystallizations and World History: The Age of Ecumenical Renaissances“, in: J.P. Arnason, B. Wittrock (eds.), Eurasian Transformations, Tenth to Thirteenth Centuries: Crystallizations, Divergences, Renaissances, Leiden 2004, 41–73, hier: 47f. Ebd., 46. In einer Tagung zur Individualisierung in Erfurt im September 2009 (hg. von J. Rüpke, im Erscheinen). Zum folgenden ausführlich J. Rüpke, „Religiöser Pluralismus und das römische Reich“, in: H. Cancik, J. Rüpke (Hg.), Die Religion des Imperium Romanum, Tübingen 2009, 331–354. J. North, „The Development of Religious Pluralism“, in: J. Lieu, J. North, T. Rajak (eds.), The Jews Among Pagans and Christians: In the Roman Empire, London 1994, 174–193. J. Rüpke, Die Religion der Römer: Eine Einführung, 2. Aufl., München 2006; J. Rüpke (ed.), The Blackwell Companion to Roman Religion, Oxford 2007. Zur Terminologie religiöser Gruppen im Codex siehe H. Zinser, „Religio, Secta, Haeresis in den Häresiegesetzen des Codex Theodosianus (16,5,1/66) von 438“, in: M. Hutter (Hg.), Hairesis: Festschrift für Karl Hoheisel zum 65. Geburtstag. Jahrbuch für Antike und Christentum, Suppl. 34, Münster 2002, 215–219. Siehe C. Ando, Imperial Ideology and Provincial Loyalty in the Roman Empire, Berkeley 2000, und C. Ando, The Matter of the Gods: Religion and the Roman Empire, Berkeley 2008. Siehe P. Veyne, L’Empire Gréco-Romain, Paris 2005, 454f. J.Z. Smith, „Religion, Religions, Religious“, in: M.C. Taylor (ed.), Critical Terms for Religious Studies, Chicago 1998, 269–284. A. van Harskamp, Theologie: Text im Kontext: auf der Suche nach der Methode ideologiekritischer Analyse der Theologie, illustriert an Werken von Drey, Möhler und Staudenmaier, Tübingen 2000. (Mein Dank gilt Dietmar Mi-

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eth, Fellow der Kollegforschergruppe am Max-Weber-Kolleg der Universität Erfurt, für diesen Hinweis und die andauernde Diskussion). A. Musschenga, „The many faces of individualism“, in: A. van Harskamp, A. Musschenga (eds.), The many faces of individualism, Leuven 2001, 3–24, hier: 5. Für eine Übersicht klassischer Individualisierungstheorien s. F. Kippele, Was heißt Individualisierung? Die Antworten der soziologischen Klassiker, Opladen 1997. A. Hahn, „Zur Soziologie der Beichte und anderer Formen institutionalisierter Bekenntnisse: Selbstthematisierung und Zivilisationsprozeß“, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 34, 1982, 407–434. Siehe L. Halman, „Individualism in Contemporary Europe“, in: van Harskamp/Musschenga (wie Anm. 17), 25–46, hier: 29, über die Rolle des modernen Wohlfahrtsstaats. Siehe A. Bendlin, „Peripheral Centres – Central Peripheries: Religious Communication in the Roman Empire“, in: H. Cancik (Hg.), Römische Reichsreligion und Provinzialreligion, Tübingen 1997, 35–68. Für Rom J. Rüpke, Domi militiae: Die religiöse Konstruktion des Krieges in Rom, Stuttgart 1990, 260–262; E.M. Orlin, Temples, Religion and Politics in the Roman Republic, Leiden 1997. L. H. Petersen, „The Baker, His Tomb, His Wife, and Her Breadbasket: The Monument of Eurysaces in Rome“, in: The Art Bulletin 85, 2003, 230–257. So J. Rüpke, „Apokalyptische Salzberge: Zum sozialen Ort und zur literarischen Strategie des ‚Hirten des Hermas‘“, in: Archiv für Religionsgeschichte 1, 1999, 148–160. C. Taylor, Quellen des Selbst: Die Entstehung der neuzeitlichen Identität, Frankfurt am Main 1994, hier: 14. K. Bowes, Private worship, public values, and religious change in late antiquity, Cambridge 2008. Siehe M. B. McGuire, Ritual Healing in Suburban America. With the assistance of D. Kantor, New Brunswick 1988, 240–257. J. Rüpke, „Heilung/Heilungen I. Religionsgeschichtlich“, in: Lexikon für Theologie und Kirche Bd. 4, 1995, 1357f. W. V. Harris, B. Holmes (eds.), Aelius Aristides between Greece, Rome, and the gods, Leiden 2008; A. Petsalis-Diomidis, Truly Beyond Wonders. Aelius Aristides and the Cult of Asklepios, Oxford 2009. A. Bendlin, „Vom Nutzen und Nachteil der Mantik: Orakel im Medium von Handlung und Literatur in der Zeit der Zweiten Sophistik“, in: D. Elm von der Osten, J. Rüpke, K. Waldner (Hg.), Texte als Medium und Reflexion von Religion im römischen Reich, Stuttgart 2006, 159–207; N. Belayche, J. Rüpke, „Divination et révélation dans les mondes grec et romain: présentation“, in: RHR 224,2, 2007, 139–147.

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29 J. Rüpke, Kalender und Öffentlichkeit: Die Geschichte der Repräsentation und religiösen Qualifikation von Zeit in Rom, Berlin 1995, 587–592; J. Rüpke, Zeit und Fest: Eine Kulturgeschichte des Kalenders, München 2006, 182–187. 30 K. von Stuckrad, Das Ringen um die Astrologie: Jüdische und christliche Beiträge zum antiken Zeitverständnis, Berlin 2000. 31 C. van Liefferinge, La Théurgie: Des Oracles Chaldaiques à Proclus, Lièges 1999; N. Janowitz, Icons of Power. Ritual Practices in Late Antiquity, University Park, PA 2002; P. Athanassiadi, „Dreams, Theurgy and Freelance Divination: The Testimony of Iamblichus“, in: JRS 83, 1993, 115–130. 32 R. Gordon, „Imagining Greek and Roman Magic“, in: V. Flint (ed.), Witchcraft and Magic in Europe 2: Ancient Greece and Rome, London 1999, 159–275; R. Gordon, „Magic as a topos in Augustan Poetry: Discourse, Reality and Distance“, in: Archiv für Religionsgeschichte 11, 2009, 209–228. Anmerkungen zu den Seiten 61–74: Sabine Schmolinsky, Die Zeit der Anderen. Juden, „Heiden“, „Ketzer“ im christlichen Geschichtsdenken 1

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M. Stausberg, „Renaissancen: Vermittlungsformen des Paganen“, in: H. G. Kippenberg, J. Rüpke, K. von Stuckrad (Hg.), Europäische Religionsgeschichte. Ein mehrfacher Pluralismus, Bd. 2, Göttingen 2009, 695–721, hier 709. C. Auffarth, „Mittelalterliche Modelle der Eingrenzung und Ausgrenzung religiöser Verschiedenheit“, in: Kippenberg/Rüpke/von Stuckrad, Bd. 1, 193–218, hier 193. C. Auffarth, „Pluralismus, Religion und Mittelalter: Das Mittelalter als Teil der Europäischen Religionsgeschichte“, in: ders. (Hg.), Religiöser Pluralismus im Mittelalter? Besichtigung einer Epoche der Europäischen Religionsgeschichte, Berlin 2007, 11–23, hier 17f. Vgl. Auffarth (wie Anm. 2), 211f. Vgl. W. Stürner, Friedrich II., Teil 1: 244f., 251; Teil 2: Der Kaiser 1220– 1250, Darmstadt 2000, 266, 271f., 287–289, 297–299. Bibelzitate nach: Die Bibel. Altes und Neues Testament. Einheitsübersetzung, Freiburg/Basel/Wien 1980. In der Apostelgeschichte (13,44–48) wird diese Abfolge mit deutlich antijüdischer Akzentuierung als eine Missionierungsgeschichte erzählt: „Am folgenden Sabbat versammelte sich fast die ganze Stadt, um das Wort des Herrn zu hören. Als die Juden die Scharen sahen, wurden sie eifersüchtig, widersprachen den Worten des Paulus und stießen Lästerungen aus. Paulus und Barnabas aber erklärten freimütig: Euch [= den Juden] mußte das Wort Gottes zuerst verkündet werden. Da ihr es aber zurückstoßt

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und euch des ewigen Lebens unwürdig zeigt, wenden wir uns jetzt an die Heiden. Denn so hat uns der Herr aufgetragen: ‚Ich habe dich zum Licht für die Völker gemacht, bis an das Ende der Erde sollst du das Heil sein.‘ Als die Heiden das hörten, freuten sie sich und priesen das Wort des Herrn; und alle wurden gläubig, die für das ewige Leben bestimmt waren.“ H. D. Rauh, Das Bild des Antichrist im Mittelalter: Von Tyconius zum Deutschen Symbolismus, 2. Aufl., Münster 1979, 129. Ebd., 57f. „16Dan schafft Recht seinem Volk / wie nur einer von Israels Stämmen. 17Zur Schlange am Weg wird Dan, / zur zischelnden Natter am Pfad. / Sie beißt das Pferd in die Fesseln, / sein Reiter stürzt rücklings herab.“ Nach Irenäus (der um 175–180 schrieb); vgl. B. McGinn, Antichrist. Two Thousand Years of the Human Fascination with Evil, New York 2000 (zuerst San Francisco 1994), 59; Rauh (wie Anm. 8), 141. Zum jüdischen Antichrist vgl. R. K. Emmerson, Antichrist in the Middle Ages. A Study of Medieval Apocalypticism, Art, and Literature, Manchester 1981, 46, 79–83, 128f., 173, 214f.; Überblick bei R. Voß, „Propter seditionis hebraicae. Judenfeindliche Apokalyptik und ihre Auswirkungen auf den jüdischen Messianismus“, in: W. Brandes und F. Schmieder (Hg.), Antichrist. Konstruktionen von Feindbildern, Berlin 2010, 197–217, hier 197–200. Zur Entwicklung der Antichristfigur vom frühen Christentum bis 1100 vgl. McGinn (wie Anm. 11), 33–109; in Bezug zu 2 Thess K. L. Hughes, Constructing Antichrist. Paul, Biblical Commentary, and the Development of Doctrine in the Early Middle Ages, Washington, D.C. 2005, 1–177. Eine abstrakte, alle Merkmale versammelnde Vita des Antichrist bei Emmerson, 90–95. Vgl. auch H. Möhring, Der Weltkaiser der Endzeit. Entstehung, Wandel und Wirkung einer tausendjährigen Weissagung, Stuttgart 2000, passim. A. Holdenried, The Sibyl and Her Scribes. Manuscripts and Interpretation of the Latin Sibylla Tiburtina c. 1050–1500, Aldershot, Hampshire 2006, 4f.; Möhring (wie Anm. 12), 28–39. W. J. Aerts, G. A. A. Kortekaas (Hg.), Die Apokalypse des Pseudo-Methodius. Die ältesten griechischen und lateinischen Übersetzungen, 2 Bde., Leuven 1998, Bd. 1, 3f. zur Datierung des syrischen Originals, ebd., 16 zu der der griechischen Übersetzung, ebd., 30 und 57 zu der der lateinischen Übersetzung. E. Sackur, Sibyllinische Texte und Forschungen. Pseudomethodius, Adso und die tiburtinische Sibylle, Halle a.S. 1898, 185f. Vgl. Möhring (wie Anm. 12), 31 sowie 46f. zu Varianten der chronologischen Einordnung der Bekehrung der Juden. Mt 11,20–24: „20Dann begann er den Städten, in denen er die meisten Wunder getan hatte, Vorwürfe zu machen, weil sie sich nicht bekehrt hat-

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Anmerkungen ten: 21Weh dir Chorazin! Weh dir Betsaida! […] 23Und du Kafarnaum, meist du etwa, du wirst bis zum Himmel erhoben? Nein, in die Unterwelt wirst du hinabgeworfen. […]“ Vgl. S. Heid, Chiliasmus und AntichristMythos. Eine frühchristliche Kontroverse um das Heilige Land, Bonn 1993, 7. Pseudo-Methodius (wie Anm. 14), [14],1, S. 185/187: „Hic nascitur in Chorozaim et nutrietur in Bethsaidam et regnavit in Gapharnaum. Et laetabitur Chorozaim eo quod natus est in ea, et Bethsaida, propter quod nutritus est in ea, et Capharnaum ideo, quod regnaverit in ea. Propter hanc causam in evangelio Dominus tertio sententiam dedit ‚Vae‘, dicens: […].“ Ebd., [14],6–8, S. 191/193 (im Quellentext die Form „filius perditiones“). Ebd., [14],10, S. 195: „[…] homo […] carnalis ex semini viri et ex utero mulieris, de tribu Dan discendens. Etiam nam et Iudas Scariothes, traditur Domini, de tribu Dan existebat et ipse.“ Heid (wie Anm. 16), 5 und 151–166, 194, 200–207, 238. Vgl. H. Schreckenberg, Die christlichen Adversus-Judaeos-Texte und ihr literarisches und historisches Umfeld (1.–11. Jh.), 4., überarb. u. erg. Aufl., Frankfurt a. M. u.a. 1999, 227f. Zu Jerusalem-Vorstellungen vgl. Beiträge in: M. Hengel, S. Mittmann, A. M. Schwemer (Hg.), La Cité de Dieu. Die Stadt Gottes. 3. Symposium Strasbourg, Tübingen, Uppsala 19.–23. September 1998 in Tübingen, Tübingen 2000; insbesondere C. Markschies, „Himmlisches und irdisches Jerusalem im antiken Christentum“, ebd., 303–350. Vgl. Schreckenberg (wie Anm. 20), 313. Zit. nach A. Sapir Abulafia, „Twelfth-century Christian Expectations of Jewish Conversion: A Case Study of Peter of Blois“, in: Aschkenas 8, 1998, 45–70, hier 68 mit Anm. 74; vgl. H. Schreckenberg, Die christlichen Adversus-Judaeos-Texte (11.–13. Jh.). Mit einer Ikonographie des Judenthemas bis zum 4. Laterankonzil, 2., veränd. Aufl., Frankfurt a. M. u.a. 1991, 368–377, hier 374. Zu Person und Werk vgl. R. Köhn, Art. P[etrus] v. Blois, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 6, 1993, Sp. 1963f. Adso Dervensis, De ortu et tempore Antichristi necnon et tractatus qui ab eo dependunt, hg. v. D. Verhelst, Turnhout 1976. Zu Adsos Vita vgl. jetzt M. Goullet (Hg.), Adsonis Dervensis Opera hagiographica, Turnhout 2003, VII–XXVI. Zu Gerberga vgl. E. Karpf, Gerberga, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 4, 1989, Sp. 1300. Adso (wie Anm. 23), 22–25, Zitate 23, Z. 19–24. Adso ebd., 25–29. Adso ebd., 43–49 und 52f.; 68–74; 98–104. Eine in England verbreitete, aus dem 12. Jahrhundert stammende Version nach Albuin wurde im 14. Jahrhundert Anselm von Canterbury (1033/34–1109) zugeschrieben: Liber Anselmi de Antichristo; vgl. ebd., 153–166.

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27 Adso ebd., 117–128, das bearbeitete Insert ebd. 125, die beiden Zeugen ebd. 125f. Vgl. 106–109. 28 Adso ebd., 126f. 29 Adso ebd., 132–137, hier 135f. 30 Adso ebd., 146–152, hier 150–152. 31 M. Haeusler, Das Ende der Geschichte in der mittelalterlichen Weltchronistik, Köln u.a. 1980, 27f. 32 Otto Bischof von Freising, Chronik oder die Geschichte der zwei Staaten. Übersetzt von A. Schmidt, hg. v. W. Lammers, Darmstadt 1980, Buch VIII, Kap. 5, 594/595–596/597. Vgl. Haeusler (wie Anm. 31), 39–41. 33 Vgl. Haeusler ebd., S. 89. 34 „Nota igitur, quod Antichristus primo veniet in benignitate, et miraculorum operatione: et tunc a Judaeis suscipietur, qui ei specialiter adhaerebunt: ad quorum conversionem venient Elias et Henoch, et tunc Antichristus in apertam persecutionem consurget.“ Zit. nach Emmerson (wie Anm. 12), 275f., Anm. 91. 35 J. Cohen, „Synagoga conversa: Honorius Augustodunensis, the Song of Songs, and Christianity’s ‚Eschatological Jew‘“, in: Speculum 79, 2004, 309–340, hier 317; vgl. 331f. 36 Einführend vgl. M. R. Cohen, Unter Kreuz und Halbmond. Die Juden im Mittelalter. Aus dem Englischen von C. Wiese, München 2005 (amerikanische Originalausgabe: Princeton, N.J. 1994). Zur Geschichte der wechselseitigen Vorstellungen und Bezugnahmen der mittelalterlichen Juden und Christen, wie sie hier nicht eingehender thematisiert werden kann, grundlegend I. J. Yuval, Zwei Völker in deinem Leib. Gegenseitige Wahrnehmung von Juden und Christen in Spätantike und Mittelalter. Aus dem Hebräischen von D. Mach, Göttingen 2007. Hier sei nur auf seine Ergebnisse im Kontext der jüdischen messianischen Erwartung auf das Jahr 1240 verwiesen: „Der jüdische Messianismus ist wichtig für das Verständnis der Systeme, aus denen die christlichen Vorstellungen in Bezug auf die Juden hervorgegangen sind. Es besteht eine tragische Asym[m] etrie zwischen den gegenseitigen messianischen Erwartungen bei Christen und Juden. Die Christen rechneten mit einer Massenkonversion der Juden zum Christentum, die Juden dagegen mit dem Untergang des Christentums. […] das eschatologische Narrativ beider Religionen beruhte darauf, der jeweils anderen ihr Recht abzusprechen. Der jüdische Messias war der christliche Antichrist und umgekehrt. Das messianische Programm jeder Seite diktierte der jeweils anderen eine höchst gefährliche Rolle zu.“ Zur engen Verbindung von Antijudaismus und Apokalyptik im Mittelalter vgl. A. C. Gow, The Red Jews. Antisemitism in an Apocalyptic Age 1200–1600, Leiden u.a. 1995; zum Verhältnis von Antichrist und Juden vgl. Kap. 5, 93–130. 37 Vgl. Schreckenberg (wie Anm. 20), 286–292, hier 287, 292.

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Anmerkungen

38 Vgl. Schreckenberg (wie Anm. 20), 303–310, hier 303, 307–310. 39 Augustinus, Vom Gottesstaat (De civitate Dei). Buch 11 bis 22. Aus dem Lateinischen übertragen von W. Thimme. […], München 1978, Buch XX, Kap. 19, S. 634: „Auf dies Geheimnis deute auch der Evangelist Johannes in seinem Briefe hin, wenn er sage: »Kinder, es ist die letzte Stunde, und wie ihr gehört habt, daß der Antichrist kommen wird, so sind nun schon viele Antichristen da. Daraus erkennen wir, daß es die letzte Stunde ist. Sie sind von uns ausgegangen, aber sie waren nicht von uns. Denn wenn sie von uns gewesen wären, wären sie ja bei uns geblieben.« Wie also schon vor dem Ende, sagt man, in jener Stunde, die Johannes die letzte nennt, viele Ketzer von der Kirche ausgingen, die er als viele Antichristen bezeichnet, so werden sie alsdann alle von ihr ausgehen, die nicht zu Christus, sondern zu jenem letzten Antichrist gehören, und dann wird er offenbar werden.“ 40 Vgl. Schreckenberg (wie Anm. 22), 180–193, hier 189f.; 376. 41 Übersetzung zit. nach Schreckenberg (wie Anm. 22), 369 (der Adressat ist unbekannt): „Du beklagst Dich in Deinem Brief ausführlich und besorgt darüber, daß Du, von Juden und Ketzern umringt, ununterbrochen von ihnen angegriffen wirst und nicht Stellen der Heiligen Schrift zur Hand hast, mit denen Du ihre Anwürfe zurückweisen und ihrem schlauen Blendwerk die (richtige) Antwort geben kannst. […] Es sollten nur Leute mit geübtem Verstand mit einem Ketzer oder Juden disputieren! Denn wegen unerlaubter und unbedachter Disputationen sprießt allenthalben die giftige Saat der Parteiungen […] vermeide also Disputationen mit einem Juden oder Ketzer.“ Vgl. ebd., 370, 376. 42 Vgl. Schreckenberg (wie Anm. 22), 439–446, hier 439f., 442. 43 D. Kurze, „Häresie und Minderheit im Mittelalter“, in: ders., Klerus, Ketzer, Kriege und Prophetien. Gesammelte Aufsätze, hg. v. J. Sarnowsky, M.-L. Heckmann, S. Jenks unter Mitwirkung von M. Glauert, Warendorf 1996, 196–242, hier 219–221 (zuerst in: Historische Zeitschrift 229, 1979, 530–574). 44 Aufgrund seiner späteren Entstehung im Verhältnis zu den grundlegenden Texten der christlichen Endzeiterwartungen ist der Islam hier nicht einbezogen worden. Anmerkungen zu den Seiten 75–86: Stephanie Haarländer, Petrus Venerabilis, Abt von Cluny (1122–1156), und seine Beschäftigung mit dem Islam 1

Otto von Freising, Chronica sive Historia de duabus civitatibus VII,7 ad annum 1101, Monumenta Germaniae Historica Scriptores rerum Germanicarum in usum scholarum (MGH SRG) [45], Hannover 1912, 317f.

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Anmerkungen

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Es handelt sich vermutlich um die Passio II Thiemos von Salzburg, Monumenta Germaniae Historica Scriptores in Folio (MGH SS) 11, Hannover 1854, 51–62; dazu: St. Haarländer, Vitae episcoporum. Eine Quellengattung zwischen Hagiographie und Historiographie, untersucht an Lebensbeschreibungen von Bischöfen des Regnum Teutonicum im Zeitalter der Ottonen und Salier, Stuttgart 2000, 155–159 und 539–543. 3 Otto von Freising, Chronica (wie Anm. 1), VII,7, S. 318, Z. 4f. Nach seiner Aussage soll der Koran folgendermaßen beginnen: Inicium evangelii Mahmet filii Dei, prophetae altissimi […]. 4 Zu Cluny als Reformzentrum und Mittelpunkt eines Klosterverbands N. Bulst, Art. Cluny, Cluniazenser A I 1 und 2, II, III, in: Lexikon des Mittelalters 2, 1983, Sp. 2173–2177; insbesondere auch: J. Wollasch, Cluny – Licht der Welt. Aufstieg und Niedergang der klösterlichen Gemeinschaft, Zürich u.a. 1996. 5 Zur Baukunst in Cluny G. Binding, Art. Cluny, Cluniazenser E, in: Lexikon des Mittelalters 2, 1983, Sp. 2192ff.; stellvertretend für eine Vielzahl von Forschungsergebnissen, die in Aufsätzen publiziert wurden, K. J. Conant, Cluny. Les églises et la maison du chef d’ordre, Cambridge 1968; auch ders., „Cluniac Building during the Abbacy of Peter the Venerable“, in: Petrus Venerabilis 1156–1956. Studies and Texts Commemorating the Eighth Centenary of His Death, hg. v. G. Constable und J. Kritzeck, Rom 1956, 121–127. 6 Zu seiner Biographie N. Bulst, Art. Petrus (Mauritius) Venerabilis (Nr. 74), in: Lexikon des Mittelalters 6, 1993, Sp. 1985ff. Immer noch grundlegend der Sammelband: Petrus Venerabilis 1156–1956 (wie Anm. 5). 7 Zu seiner Persönlichkeit auch: J. Kritzeck, Peter the Venerable and Islam, Princeton, NJ 1964, 3–47. 8 Dazu A. H. Bredero, „The Controversy between Peter the Venerable and Saint Bernard of Clairvaux“, in: Petrus Venerabilis 1156–1956 (wie Anm. 5), 53–71; ders., Cluny et Cîteaux au douzième siècle. L’histoire d’une controverse monastique, Amsterdam 1985. 9 Dazu D. Knowles, „The Reforming Decrees of Peter the Venerable“, in: Petrus Venerabilis 1156–1956 (wie Anm. 5), 1–20. 10 Vgl. Die Urkunden Friedrichs I. 1152–1158, bearb. v. H. Appelt, Monumenta Germaniae Historica Diplomata X,1, Hannover 1975, Nr. 58 (kurz: D F I 58), S. 98, Z. 30f: […] ob reverentiam et peticionem dilecti nostri Petri venerabilis Cluniacensis abbatis […] 11 Dazu Ch. J. Bishko, „Peter the Venerable’s Journey to Spain“, in: Petrus Venerabilis 1156–1956 (wie Anm. 5), 163–175; auch Kritzeck, Peter the Venerable (wie Anm. 7), 3–14. 12 Neuere Darstellungen der Geschichte der Iberischen Halbinsel im Mittelalter in deutscher Sprache sind: L. Vones, Geschichte der Iberischen Halbinsel im Mittelalter (711–1480). Reiche, Kronen, Regionen, Sigmaringen

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Anmerkungen 1993, und K. Herbers, Geschichte Spaniens im Mittelalter. Vom Westgotenreich bis zum Ende des 15. Jahrhunderts, Stuttgart 2006. Dazu P. Segl, „Cluny in Spanien. Ergebnisse und neue Fragestellungen“, in: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 33, 1977, 560–569 und ders., Art. Cluny, Cluniazenser B II,1–3, in: Lexikon des Mittelalters 2, 1983, Sp. 2178–2181. Petrus Venerabilis, Summa totius haeresis Saracenorum, c. 12; erste Neuedition von Kritzeck, Peter the Venerable (wie Anm. 7), 204–211. – Ich folge im großen und ganzen der Ausgabe mit Übersetzung: Petrus Venerabilis, Schriften zum Islam, ediert, ins Deutsche übersetzt und kommentiert von R. Glei (Corpus Islamo-Christianum, Series Latina 1), Altenberge 1985, hier lat. Text S. 14, Übers. S. 15. Petrus Venerabilis, Contra sectam Saracenorum, Prolog, ed. Glei (wie Anm. 14), S. 48 (dt. Übersetzung S. 49 und 51). Auch hier hat Kritzeck, Peter the Venerable (wie Anm. 7), 220–291 eine erste Neuedition vorgelegt (Titel bei ihm: Liber contra sectam sive haeresim Saracenorum). Dazu auch Kritzeck, Peter the Venerable (wie Anm. 7), 37–41. Diese beiden apologetischen Schriften liegen in kritischen Editionen vor: Contra Petrobrusianos hereticos, cura et studio J. Fearns (Corpus Christianorum, Continuatio mediaevalis 10), Turnhout 1968; Adversus Iudeorum inveteratam duritiem, cura et studio Y. Friedman (Corpus Christianorum, Continuatio mediaevalis 58), Turnhout 1985. Petrus Venerabilis, Contra sectam Saracenorum. c. 17, ed. Glei (wie Anm. 14), 52–55. Glei übersetzt antiquo studio pereunte anders als ich. Dazu: D. Gutas, „What was there in Arabic for the Latins to Receive? Remarks on the Modalities of the Twelfth-Century Translation Movement in Spain“, in: Wissen über Grenzen. Arabisches Wissen und lateinisches Mittelalter, hg. v. A. Speer, Berlin 2006, 3–21, und M. R. Menocal, „The Castilian Context of the Arabic Translation Movement Imagining the Toledo of the Translators“, ebd., 119–125. Petrus Venerabilis, Epistola de translatione sua, c. 2, ed. Glei (wie Anm. 14), 24 und c. 17, ebd., 54. Zu diesen Übersetzern Kritzeck, Peter the Venerable (wie Anm. 7), 56–69. Dazu Marie Thérèse d’Alverny, „Quelques manuscrits de la ‚Collectio Toletana‘“, in: Petrus Venerabilis 1156–1956 (wie Anm. 5), 202–218. Zur Collectio Toletana bzw. zum Corpus Toletanum J. Kritzeck, „Peter the Venerable and the Toledan Collection“, in: Petrus Venerabilis 1156– 1956 (wie Anm. 5), 176–201 und ders., Peter the Venerable (wie Anm. 7), 73–107. Zum Inhalt der Summa totius haeresis Saracenorum Kritzeck, Peter the Venerable (wie Anm. 7), 115–152. Petrus Venerabilis, Summa totius haeresis Saracenorum, c. 7, ed. Glei (wie Anm. 14), 8f.

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Anmerkungen

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25 Petrus Venerabilis, Epistola de translatione sua, c. 4, ed. Glei (wie Anm. 14), 26f. 26 Ebd., c. 5, ed. Glei (wie Anm. 14), 28f. 27 Ebd., c. 6., ed. Glei (wie Anm. 14), 28f. 28 Petrus Venerabilis, Summa totius haeresis Saracenorum, c. 18, ed. Glei (wie Anm. 14), 20–23. 29 Dazu insgesamt Kritzeck, Peter the Venerable (wie Anm. 7), 155–199. 30 Petrus Venerabilis, Contra sectam Saracenorum, I, c. 23, ed. Glei (wie Anm. 14), 62f. 31 Ebd., ed. Glei (wie Anm. 14), 62f. 32 Ebd., c. 35, ed. Glei (wie Anm. 14), 78f. 33 Ebd., c. 50, ed. Glei (wie Anm. 14), 98f. 34 Dazu Kritzeck, Peter the Venerable (wie Anm. 7), 173. 35 Dazu das Stellenregister in der Ausgabe von Glei (wie Anm. 14), 311– 317. 36 Wie weit die Gelehrten des 12. Jahrhunderts von einem interreligiösen Dialog heutigen Verständnisses entfernt waren und worin die Gründe hierfür liegen, zeigt in einem größeren Kontext L. Vones, „Zwischen Kulturaustausch und religiöser Polemik. Von den Möglichkeiten und Grenzen christlich-muslimischer Verständigung zur Zeit des Petrus Venerabilis“, in: Wissen über Grenzen (wie Anm. 19), 217–237. 37 Heinrich von Breitenau(† 1170), Passio III Thiemonis archiepiscopi, Monumenta Germaniae Historica, Scriptores in Folio (MGH SS) 15/2, Hannover 1888, S. 1236–1238, vgl. oben, Anm. 2. 38 Kritzeck, Peter the Venerable (wie Anm. 7), vii-x. Anmerkungen zu den Seiten 87–108: Rotraud Ries, Zwischenräume − Orte, Worte und Wege von Konvertiten zwischen Judentum und Christentum 1 2

3

Christian Morgenstern, Der Lattenzaun, in: C. M., Alle Galgenlieder. Galgenlieder, Palmström, Palma Kunkel, Gingganz, Frankfurt a. M. 1976, 59. Der Vortragscharakter wurde im vorliegenden Text weitgehend beibehalten. Außer in Erfurt habe ich diesen Vortrag im Rahmen der Interdisziplinären Ringvorlesung „Konfrontation – Berührung – Verflechtung: Christlich-Jüdische Geschichte von der Antike bis zur Gegenwart“ an der Universität Oldenburg, WS 2009/10, gehalten. Punktuell waren Überschneidungen mit meinen bereits zum Thema vorliegenden oder noch im Druck befindlichen Publikationen unvermeidlich; hierauf wird an entsprechender Stelle verwiesen. M. Löw, Raumsoziologie, Frankfurt a. M. 2001; M. Schroer, Räume, Orte, Grenzen. Auf dem Weg zu einer Soziologie des Raums, Frankfurt a. M.

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Anmerkungen

2006; J. Döring, T. Thielmann (Hg.), Spatial Turn. Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften, Bielefeld 2008; D. BachmannMedick, „Der Spatial Turn als Cultural Turn“, in: dies., „Cultural Turns“. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, Reinbek bei Hamburg 2006, 284–328; A. Gotthard, „Wohin führt uns der ‚Spatial turn‘? Über mögliche Gründe, Chancen und Grenzen einer neuerdings diskutierten historiographischen Wende“, in: W. Wüst, W. K. Blessing (Hg.), Mikro – Meso – Makro. Regionenforschung im Aufbruch, Erlangen 2005, 15–49; ein Anwendungsbeispiel: R. Dürr, G. Schwerhoff (Hg.), Kirchen, Märkte und Tavernen. Erfahrungs- und Handlungsräume in der Frühen Neuzeit, in: Zeitsprünge. Forschungen zur Frühen Neuzeit 9, 3/4, 2005, 366–605. 4 Löw, Raumsoziologie (s. Anm. 3), bes. 153–160. 5 Siehe R. Ries, „‚Missionsgeschichte und was dann?‘ Plädoyer für eine Ablösung des kirchlichen Blicks“, in: J. Braden, R. Ries (Hg.), Christen – Juden – Juden-Christen. Konversionen in Spätmittelalter und Früher Neuzeit. Themenschwerpunkt, in: Aschkenas 15/2, 2005 (2006), 271– 301, hier 276; einen interessanten diachronen Überblick bietet M. Diemling, „Grenzgängertum: Übertritte vom Judentum zum Christentum in Wien, 1500–2000“, in: M. Kurz, T. Winkelbauer (Hg.), Glaubenswechsel, Innsbruck u.a. 2007, 40–63. 6 Hierzu und zum Folgenden siehe Ries, Missionsgeschichte (s. Anm. 5). 7 E. Carlebach, Divided Souls: Converts from Judaism in Germany, 1500– 1750, New Haven/ London 2001; G. Carl, Zwischen zwei Welten? Übertritte von Juden zum Christentum im Spiegel von Konversionserzählungen des 17. und 18. Jahrhunderts, Hannover 2007. 8 Zum Forschungsstand siehe bes. K. Siebenhüner, „Glaubenswechsel in der Frühen Neuzeit. Chancen und Tendenzen einer historischen Konversionsforschung“, in: Zeitschrift für Historische Forschung 34, 2007, 243– 272; J. Deventer, „Konversion und Konvertiten im Zeitalter der Reformation und Konfessionalisierung. Stand und Perspektiven der Forschung“, in: Braden/Ries (s. Anm. 5), 257–270; Kurz/ Winkelbauer (s. Anm. 5); U. Lotz-Heumann, J.-F. Mißfelder, M. Pohlig (Hg.), Konversion und Konfession in der Frühen Neuzeit, Gütersloh 2007; zum Forschungsstand und zu neuen Konzepten im Bereich jüdischer Konversionen s. Braden/Ries (s. Anm. 5), 257–433; M. Mulsow, R. H. Popkin (eds.), Secret conversions to Judaism in early modern Europe, Leiden/ Boston 2004. 9 Carlebach, Divided Souls (s. Anm. 7), 11ff. 10 Ein Überblick für drei Regionen: W. Meiners, „Zur quantitativen Dimension des voremanzipatorischen jüdischen Konvertitentums – regionale Forschungsergebnisse im Vergleich“, in: ders. (Hg.), Konversionen von Juden zum Christentum in Nordwestdeutschland. Vorträge des Arbeitskreises Geschichte der Juden in der Historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen, Hannover 2009, 19–90.

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Anmerkungen

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11 S. M. Lowenstein, The Berlin Jewish Community. Enlightenment, Family and Crisis, 1770–1830, New York/ Oxford 1994; D. Hertz, How Jews Became Germans. The History of Conversion and Assimilation in Berlin, New Haven/ London 2007; jetzt auch auf Deutsch: dies., Wie Juden Deutsche wurden. Die Welt jüdischer Konvertiten vom 17. bis zum 19. Jahrhundert, Frankfurt am Main [u.a.] 2010. 12 Carlebach, Divided Souls (wie Anm. 7); Carl, Zwischen zwei Welten (wie Anm. 7). 13 W. Treue, „Aufsteiger oder Außenseiter? Jüdische Konvertiten im 16. und 17. Jahrhundert“, in: Aschkenas 10, 2000, 307–336; C. Kasper-Holtkotte, „Religionswechsel im sozialen Kontext: Moses Goldschmidt und andere Frankfurter Konvertiten des 17. Jahrhunderts“, in: Braden/Ries (s. Anm. 5), 337–369; E. Meise, Konversion und Assimilation. Taufen von Menschen fremder Konfessionen in Hanau bis ins 19. Jahrhundert, Hanau 1999. 14 J. Braden, „Eine Probe aufs Exempel: Neue Forschungskonzepte am Beispiel Hamburger Konversionen von Juden zum Christentum (1600– 1850)“, in: Braden/Ries (s. Anm. 5), 303–335; M. Agethen, „Bekehrungsversuche an Juden und Judentaufen in der frühen Neuzeit“, in: Aschkenas 1, 1991, 65–94, hier 86; M. Friedrich, Zwischen Abwehr und Bekehrung. Die Stellung der deutschen evangelischen Theologie zum Judentum im 17. Jahrhundert, Tübingen 1988, 107ff. zu Hamburg, und die Gesamtauflistung ebd., 150–163; s. dazu Braden, wie oben, 313, Anm. 50; C. M. Clark, The Politics of Conversion: Missionary Protestantism and the Jews in Prussia, 1728–1941, Oxford 1995, 47ff.; J. Graf (Hg.), Judaeus Conversus. Christlich-jüdische Konvertitenautobiographien des 18. Jahrhunderts. Im Anschluß an Vorarbeiten von M. Schmidt und unter Mitwirkung von E. Emter, Frankfurt a. M. u.a. 1997, 31ff. 15 Agethen, Bekehrungsversuche (s. Anm. 14), 89ff.; A. Wendehorst, „Die Juliusspitalpfarrei und ihre Bedeutung für die Gegenreformation“, in: F. Merzbacher (Hg.), Julius Echter und seine Zeit. Gedenkschrift aus Anlaß des 400. Jahrestages der Wahl des Stifters der Alma Julia zum Fürstbischof von Würzburg am 1. Dezember 1573, Würzburg 1973, 349–373, hier 353ff.; zu Italien M. Caffiero, „Konvertitinnen im Rom der frühen Neuzeit zwischen Zwang und neuen Chancen“, in: Historische Anthropologie 15,1, 2007, 24–41; J. Deventer, „Zwischen Ausweisung, Repression und Duldung. Die Judenpolitik der ‚Reformpäpste‘ im Kirchenstaat (ca. 1550–1605)“, in: Aschkenas 14/2, 2004, 365–385; S. B. Siegmund, The Medici State and the Ghetto of Florence. The Construction of an Early Modern Jewish Community, Stanford 2006; S. Marconcini, „The Conversion of Jewish Women in Florence (1599–1799)“, in: Zeitsprünge. Forschungen zur Frühen Neuzeit 14, 1/2, 2010, 532–548; M. Luzzati, M. Olivari, A. Veronese (eds.), Ebrei e cristiani nell‘Italia medievale e moderna: Conversioni, scambi, contrasti, Roma 1988; B. Pullan, „The Conversion of the

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Anmerkungen Jews: The Style of Italy“, in: Bulletin of the John Rylands University Library of Manchester 70, 1988, 53–70; K. Stow, „Neofiti and their families: or, Perhaps, the Good of the State“, in: Leo Baeck Institute Year Book 47, 2002, 105–113. H. Terhalle (Hg.), Lebenserinnerungen des Rabbi Selig Wolff oder Paulus Georgi, Vreden 1980; C. D. Schmidt, „Konversion als Lebensmittelpunkt in den Erinnerungen des Paulus Georgi (1745–1826)“, in: Braden/Ries (s. Anm. 5), 371–398. M. Bursch, Judentaufe und frühneuzeitliches Strafrecht. Die Verfahren gegen Christian Treu aus Weener/Ostfriesland 1720–1728, Frankfurt a. M. (u.a.) 1996. Es handelt sich hierbei um eine gekürzte Wiedergabe der Fallbeispiele in R. Ries, „Beziehungen und Beziehungskonstruktionen an der Grenze zwischen jüdischer und christlicher Gesellschaft: Perspektiven von Konvertiten in der Frühen Neuzeit“, in: J. R. Müller (Hg.), Beziehungsnetze aschkenasischer Juden während des Mittelalters und der frühen Neuzeit, Hannover 2008, 289–304, hier 292–303; dort finden sich auch die Quellenangaben im Einzelnen. Siehe hierzu demnächst R. Ries, „Looking for change: Jewish Women and Conversion in 18th century Germany“, in: I. Katznelson, M. Rubin (eds.), Religious Conversion: Experiences and Meanings, 2012 (im Druck); die benutzten Quellen sind im Stadtarchiv Braunschweig zu finden in den Beständen G I 1: 60 und C III 3: 111. Siehe J. Braden, „‚Zur Rechtschaffenheit nachdrücklich ermahnet …‘. Taufwillige Jüdinnen und Konvertitinnen aus dem Judentum in Hamburg in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts“, in: J. Deventer, S. Rau, A. Conrad (Hg.), Zeitenwenden. Herrschaft, Selbstbehauptung und Integration zwischen Reformation und Liberalismus (FS A. Herzig), Münster u.a. 2002, 93–113, hier 101, 105. Ebd., 113.

Anmerkungen zu den Seiten 109–123: Martin Mulsow, Die Thematisierung paganer Religionen in der Frühen Neuzeit 1

2

Zum Begriff der Pluralisierung – zu dem der SFB 573 in München geforscht hat – vgl. den Band von J.-D. Müller, W. Österreicher und F. Vollhardt (Hg.), Pluralisierungen: Konzepte zur Erfassung der Frühen Neuzeit, Berlin 2010. M. Borgolte, Christen, Juden, Muselmanen. Die Erben der Antike und der Aufstieg des Abendlandes 300 bis 1400 n. Chr., Berlin 2006.

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Anmerkungen 3

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Vgl. allg. J. Seznec, Das Fortleben der antiken Götter. Die mythologische Tradition im Humanismus und in der Kunst der Renaissance, München 1990; E. Wind, Heidnische Mysterien in der Renaissance, Frankfurt 1981; D. P. Walter, The Ancient Theology, London 1972; J. Godwin, The Pagan Dream oft the Renaissance, Boston 2005. Einführend: M. Stausberg, „Renaissancen: Vermittlungsformen des Paganen“, in: H. G. Kippenberg, J. Rüpke, K. von Stuckrad (Hg.), Europäische Religionsgeschichte, Göttingen 2009, Bd. 2, 695–721. Vgl. zur Einordnung der Forschungsgeschichte auch M. Neugebauer-Wölk, „Aufklärung − Esoterik − Wissen. Transformationen des Religiösen im Säkularisierungsprozess“, in: dies. (Hg.), Aufklärung und Esoterik. Rezeption − Integration − Konfrontation, Tübingen 2008, 5–28. Zur Problematik einer anachronistischen Verwendung des Religionsbegriffs vgl. E. Feil, Religio, 4 Bde., Göttingen 1997–2007. F. Gewecke, Wie die neue Welt in die alte kam, Stuttgart 1986; S. MacCormack, On the Wings of Time: Rome, the Incas, Spain and Peru, Princeton 2006; dies., Religion in the Andes: Vision and Imagination in Early Colonial Peru, Princeton 1991; K. Mahlke, Offenbarung im Westen. Frühe Berichte aus der Neuen Welt, Frankfurt 2005; P. von Wyss, Religionsbilder der frühen Aufklärung, Wabern bei Bern 2006; J.-P. Rubiés, Travel and Ethnology in the Renaissance: South India through European Eyes, 1250–1625, Cambridge 2000. Man kann hier das gleiche Argument konstruieren, wie es Lucien Febvre gegen die Annahme eines Atheismus im 16. Jahrhundert vorgebracht hat: Das Problem des Unglaubens im 16. Jahrhundert. Die Religion des Rabelais, Stuttgart 2002. Febvres These ist freilich immer wieder angefochten worden. Stausberg, Renaissancen (s. Anm. 3), 709. Ebd., 713. Vgl. auch H. Cancik, „Orte der Antike in der europäischen Religionsgeschichte“, in: Kippenberg/Rüpke/von Stuckrad (s. Anm. 3), Bd. 2, 667–694. Vgl. I. Rowland, The Culture of the High Renaissance: Ancients and Moderns in Sixteenth Century Rome, Cambridge 1998. C. M. Woodhouse, Gemistos Plethon. The Last oft he Hellenes, Oxford 1986. C. Vasoli, „Der Mythos der ‚prisci theologi‘ als ‚Ideologie‘ der ‚Renovatio‘“, in: M. Mulsow (Hg.), Das Ende des Hermetismus. Historische Kritik und neue Naturphilosophie in der Spätrenaissance, Tübingen 2002, 17–60. F. Yates, Giordano Bruno and the Hermetic Tradition, London 1964. H. G. Kippenberg, Die Entdeckung der Religionsgeschichte. Religionswissenschaft und Moderne, München 1997. Vgl. jetzt aber: G. G. Stroumsa, A New Science: The Discovery of Religion in the Age of Reason, Cambridge, Mass. 2010.

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Anmerkungen

14 Ich lehne mich an an J. Rüpke, Historische Religionswissenschaft. Eine Einführung, Stuttgart 2007. 15 M. Mulsow, „Socinianism, Islam and the Radical Uses of Arabic Scholarship“, in: Al-Qantara. Revista de estudios árabes 31, 2010, 549–586, hier 584f. 16 Vgl. M. Mulsow, „From Antiquarian Imagination to the Reconstruction of Institutions: Antonius van Dale on Religion“, in: P. N. Miller (Hg.), The Age of Antiquaries in Europe and China, New Haven 2012 (im Druck). 17 Vgl. umfassender zu diesem Thema Martin Mulsow, Historische Religionswissenschaft in der Frühen Neuzeit (erscheint demnächst). 18 In diesem Abschnitt verwende ich Auszüge aus meinem Aufsatz: „Antiquarianism and Idolatry. The ‚Historia‘ of Religions in the Seventeenth Century“, in: G. Pomata und N. G. Siraisi (Hg.), Historia: Empiricism and Erudition in Early Modern Europe, Cambridge, Mass. 2005, 181–209. 19 Lelio Giraldi, Historia deorum gentilium, in ders., Opera, Basel 1580, separate Paginierung, S. 2. 20 Vgl. Seznec, Das Fortleben der antiken Götter (s. Anm. 3). 21 Vgl. die Edition: Genealogie deorum gentilium. De montibus, silvis, fontibus, lacubus, fluminibus, stagnis seu paludibus, de diversis nominibus maris, Milano 1998 = Tutte le opere di Giovanni Boccaccio, a cura di V. Branca; Vol. 7/8, T. 1, a cura di V. Branca. Vgl. allg. R. Kany, Mnemosyne als Programm: Geschichte, Erinnerung und die Andacht zum Unbedeutenden im Werk von Usener, Warburg und Benjamin, Tübingen 1987. 22 François Antoine Pomey, SJ, Pantheon mythicum, seu deorum gentilium fabulosa historia, Lyon 1659. Fabula als „falsche“, weil erfundene Geschichte gegen historia als vera narratio benutzt im Fall der Religionsgeschichte die Differenz von profaner und sakraler Historie, also eine gnoseologische Differenz, um den Unterscheid zu markieren. 23 Girolamo Aleandro, Antiquae tabulae marmoreae Solis effigie, symbolisque exculptae, accurata explicatio, qua priscae quaedam mythologiae, ac nonnulla praeterea vetera monumenta marmorum, gemmarum, nomismatum illustrantur, Rom 1616. 24 Ebd., fol. Aiii v: „Sunt homines hac tempestate adeo lyncei, ut in Sole maculas deprehendant. quid ni meis in scripis quamvis de Sole loquentibus?“ 25 Zur Stellung der Farnese vgl. R. Zapperi, Der Neid und die Macht. Die Farnese und Aldobrandini im barocken Rom, München 1994; zum Antiquarianismus des Farnese-Kreises vgl. I. Herklotz, Cassiano dal Pozzo und die Archäologie des 17. Jahrhunderts, München 1999, 214ff. Zur Accademia dei Lincei vgl. P. Redondi, Galileo eretico, Torino 1983. 26 Vgl. Wind, Heidnische Mysterien in der Renaissance (Anm. 3). 27 Vgl. J. Assmann, Herrschaft und Heil. Politische Theologie in Altägypten, Israel und Europa, München 2000, 262: „Das Bilderverbot wendet die theologische Unterscheidung zwischen Wahrheit und Unwahrheit, Gott

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und Götzen, ins Politische und interpretiert sie im Sinne von Freund und Feind. Sie definiert, wer die Feinde Gottes sind und wo sie stehen. Beim Bilderverbot handelt es sich um eine Feindbestimmung im Licht der Unterscheidung von wahr und falsch. Gottesfeind ist, wer dem Irrtum anhängt und Götzen verehrt.“ Vgl. M. Mulsow, „John Seldens De Diis Syris: Idolatriekritik und vergleichende Religionsgeschichte im 17. Jahrhundert“, in: Archiv für Religionsgeschichte 3, 2001, 1–24; J.-P. Rubies, „Theology, Ethnography, and the Historicization of Idolatry“, in: Journal of the History of Ideas 67, 2006, 571–596; J. Sheehan, „The Altars of the Idols: Religion, sacrifice, and the Early Modern Polity“, ebd. 649–674; F. Schmidt, „La discussion sur l’origine de l’idolatrie aux XVII et XVIIIe siècles“, in: L’Idolatrie. Rencontres de l’Ecole du Louvre, Paris 1990, 53–68. Vgl. R. Häfner, Götter im Exil. Frühneuzeitliches Dichtungsverständnis im Spannungsfeld christlicher Apologetik und philologischer Kritik (ca. 1590– 1736), Tübingen 2003. Vgl. C. Ginzburg, „Mythos. Distanz und Lüge“, in: ders., Holzaugen. Über Nähe und Distanz, Berlin 1999, 42–96. F. Manuel, The Eighteenth Century Confronts the Gods, Cambridge, Mass. 1959; M. Mulsow, Moderne aus dem Untergrund. Radikale Frühaufklärung in Deutschland 1680–1720, Hamburg 2002. Evariste Parny, La Guerre des Dieux, Paris 1796. Vgl. allg. zur Trennung von Sakralem und Profanem M. Eliade, The Sacred and the Profane: The Nature of Religion, San Diego 1959. Vgl. weiter J. Sheehan, „Sacred and Profane: Idolatry, Antiquarianism, and the Politics of Distinction in the Seventeenth Century“, in: Past and Present 192, 2006, 35–66. Giordano Bruno, Spaccio della bestia trionfante, in: Dialoghi italiani, hg. v. G. Gentile, 3. Aufl., Firenze 1958, Bd. II, 549–831. Vgl. A. Ingegno, Regia pazzia: Bruno lettore di Calvino, Urbino 1987. [Bonaventure des Périers:] Cymbalum mundi, s.l. 1537; Vgl. W. Boerner, Das „Cymbalum Mundi“ des Bonaventure des Périers, München 1980. Zur Praxis des Vergleichens vgl. P. N. Miller, „The Antiquary’s Art of Comparison: Peiresc and Abaxas“, in: R. Häfner (Hg.), Philologie und Erkenntnis. Zu Begriff und Problem frühneuzeitlicher ‚Philologie‘, Tübingen 2001, 57–94; zur theoretischen Problematik von Religionsvergleichen vgl. J. Z. Smith, Drudgery Divine. On the Comparison of Early Christianities and the Religions of Late Antiquity, Chicago 1990. Vgl. Mulsow, Antiquarianism and Idolatry (s. Anm. 18); Häfner, Götter im Exil (s. Anm. 29). Zum Idolatrie-Begriff: M. Halberthal und A. Margalit, Idolatry, Cambridge, Mass. 1992. Vgl. B. Shapiro, A Culture of Fact: England, 1550–1720, Ithaca 2000; zum Antiquarianismus allg. A. Momigliano, „Ancient History and the

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Anmerkungen Antiquarian“, in: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 13, 1950, 285–315 und A. Schnapp, The Discovery of the Past. The Origins of Archaeology, London 1996. Ezechiel Spanheim, De praestantia et usu numismatum antiquorum; ich benutze die letzte (dritte) Ausgabe London, Bd. 1, 1706, 331. Die Münze, auf die sich Spanheim bezieht, stammt aus der Zeit von Kaiser Anoninus Pius (138–161). Spanheim sah sie in der königlichen Münzsammlung in Paris. Ezechiel Spanheim, In Callimachi Hymnos observationes, Utrecht 1697, 671: „Quum autem in explanatione hujus loci tradant inter alia veteres ibidem Critici, Atalantem, relicto tamdiu coeli, quod humeris sustinebat, onere, aurea illa ex eadem arbore poma ab ipsis Hesperidibus, serpentis proinde custodis permissu, pactum; quis non continuo agnoscit in veteri illa fabula, adumbratum primae parentis pomum ex arbore, serpentis suasu, in Paradiso decerpentis, idemque Adamo tradentis factum?“ Es wäre interessant zu wissen, ob Spanheim sich diesen hypothetisch vorgetragen Vergleich („Quum…, continuo…“) hier erlaubt, weil er bereits von Huet beeinflusst ist. Für Spanheims Kontakte zu Huet vgl. seine Briefe, z.B. vom 8.2.1665, Biblioteca Laurenziana Firenze, Ash. 1866. Ich danke April Shelford für die Informationen über Huets Briefwechsel. – Andere zeitgenössische Abhandlungen über das Paradies führen zwar andere Kulturen wie die Persische oder die Islamische an, auch zitieren sie römische oder griechische Autoren, aber einen direkten Vergleich wagen sie nicht. Vgl. Johannes Vorst, De paradiso diatriba, Rostock 1653; Etienne Morin, Dissertatio de paradiso terrestri, s.l. 1692. Erst in Abhandlungen des mittleren und späten 18. Jahrhunderts wird es gebräuchlich, Vergleiche unbefangen durchzuführen. Vgl. für Paradies-Abbildungen: Salomon van Til, Tabula situm paradisi, in: Malachius illustratus, Leiden 1701; dazu A. Scafi, Mapping Paradise. A History of Heaven on earth, Chicago 2006, 312. Weiter: Claudine Poulouin, Le temps des origines: L’Eden, le déluge et ‘les temps reculés’ de Pascal à l’Encyclopédie, Paris 1998. Adriaan Beverland, Peccatum originale kat’exochen sic nuncupatum, [Leiden 1678]. Vgl. R. de Smet, Hadrianus Beverlandus (1650–1716). Non unus e multis peccator. Studie over het leven en werk van Hadriaan Beverland, Brüssel 1988; M. Mulsow, Die unanständige Gelehrtenrepublik. Wissen, Libertinage und Kommunikation in der Frühen Neuzeit, Stuttgart 2007, 11ff. und 40ff. Vgl. das Handexemplar des Autors in Vorbereitung für die Neuauflage: Universitätsbibliothek München W 8 Theol. 5678. Zu Koerbagh vgl. J. Israel, Radical Enlightenment. Philosophy and the Making of Modernity 1650–1750, Oxford 2001, 190–196. Zur Pornographie in Holland vgl. I. Leemans, Het woord is an de onderkant. Radicale Ideeën in nederladse pornografische romans 1670–1700, Utrecht 2002.

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43 Jean Le Clerc, Genesis sive Mosis prophetae liber primus, Amsterdam 1693. 44 Zu La Mothe Le Vayer vgl. R. Pintard, Le libertinage érudit dans la prèmiere moité du XVIIe siècle, Paris 1943; J.-P. Cavaillé, Dis/Simulations. Jules-César Vanini, F. La Mothe Le Vayer, Gabriel Naudé, Louis Machon et Torquato Accetto: Religion, Morale et Politique au XVIIe siècle, Paris 2002. Zur Kritik am Begriff des „libertinage érudit“ vgl. J. Delatour, „Le cabinet des frères Dupuy“, in: Science et technique en perspective, Iie série, 9 (2005), 287–328. 45 Vgl. R. H. Popkin, The History of Scepticism from Erasmus to Spinoza, Berkeley 1979. 46 François La Mothe Le Vayer, La vertu des payens, Paris 1641, Nachdruck in: Les libertins du XVII siècle, Bd. II., hg. v. J. Prévot, Paris 2004, 1–215. 47 Herbert of Cherbury, De religione gentilium errorumque apud eos causis, London 1645; Johann August Eberhard, Neue Apologie des Sokrates, Berlin 1772–1778. Vgl. D. P. Walker, The Decline of Hell. SeventeenthCentury Discussions of Eternal Torment, London 1964. 48 Origenes, Contra Celsum libri VIII, hg. v. M. Marcovich, Leiden 2002. Zu Kelsos vgl. K. Pichler, Streit um das Christentum. Der Angriff des Kelsos und die Antwort des Origenes, Frankfurt 2005; C. Andresen, Logos und Nomos. Die Polemik des Celsos wider das Christentum, Berlin 1955. 49 La vertu des payens (Anm. 46), 57: „Certes l’ignorance païenne a été grande et la malice du diable extrême qui veut eût voulu rendre l’Histoire Saine moins considérable s’il eût pu, en supposant des fables agréables au lieu de ses divines vérités.“ 50 Vgl. etwa F. A. Pomey, Pantheon mythicum (s. Anm. 22). Zur Problematik vgl. Ginzburg, Mythos. Distanz und Lüge (s. Anm. 30). 51 La vertu des payens (Anm. 46), 57: „Car assez de personnes ont remarqué le rapport qu’il y a entre Samson et Hercule, Hélie et Phaéton, Joseph et Hippolyte, Nabuchodonosor et Lycaon, la manne des Israélites et l’ambroisie des dieux. Saint Augustin met en parallèle sur cela Jonas et Arion. Saint Cyrille, archevêque d’Alexandrie, et depuis lui Théophylacte apparient le même Jonas à cet Hercule que Lycophron nomme τριέσπερον, Trinoctium, à cause qu’il fut trois jours et trois nuits dans le ventre d’une baleine d’ou il sortit avec la pelade. Saint Théodoret ne doute point que Platon n’eût ouï parler du fleuve de feu que Daniel représente au septième chapitre de ses prophéties, le Pyriphlegethon du Tartare en étant presque une copie dans le dialogue de l’immortalité de l’âme. Et je me souviens que Raphaël de Volterre trouve dans la boîte de Pandore le péché originel que nous tenons d’Ève.“ 52 La vertu des payens (Anm. 46), ebd.: „Or nous n’avons rapporté tout ceci que pour faire voir les raisons qu’ont eues quelques Pères de condamner avec chaleur le philosophe don’t je parle et ses livres puisque les

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Anmerkungen ethniques d’alors, contre qui ils étaient tous les jours aux prises, osaient bien les mettre au-dessus de ceux que le Saint-Esprit a dictés. À présent que cette considération cesse, vu qu’il n’y a rien à craindre de tel, que le paganisme n’est plus et qu’encore que le monde ne soit pas purgé d’impies ni d’athées, si est-ce qu’il ne se trouve personne que préfère aujourd’hui Sature à Dieu le Père, ni Socrate, Platon, ou quelque autre semblable, à Jésus-Christ, nous pouvons bien dans un temps si différent parler d’eux avec moins d’animosité et rendre à leur vertu aussi bien qu’à leur science l’honneur qu’elles méritent.“ S. Freud, Die Verneinung, in: Imago 11, 1925, 217–221. Antoine Arnauld, La necesseté de la foy en Jesu Christ pour etre sauvé, Paris 1701. Vgl. allg. D. E. Mungello (Hg.), The Chinese Rites Controversy: It’s History and Meaning, Nettetal 1994. Zu Huet vgl. E. Rapetti, Pierre-Danuel Huet: Erudizione, filosofia, apologetica, Milano 1999; A. Shelford, Transforming the Republic of Letters: Pierre-Daniel Huet and European Intellectual Life 1650–1720, Rochester 2007; A. Dupront, Pierre Daniel Huet et l’exégèse comparatiste au XVIIe siècle, Paris 1930; S. Guellouz (Hg.), Pierre-Daniel Huet, Paris 1994; C. Ligota, „Der apologetische Rahmen der Mythendeutung im Frankreich des 17. Jahrhunderts (P. D. Huet)“, in: W. Killy (Hg.), Mythographie der frühen Neuzeit. Ihre Anwendung in den Künsten, Wiesbaden 1984, 149– 161; J. Boch, Les dieux désenchantés. La fable dans la pensée français de Huet à Voltaire, Paris 2002; E. Rapetti, Percorsi anticartesiani nelle lettere a Pierre-Daniel Huet, Firenze 2003; Martin Mulsow, The Seventeenth Century Confronts the Gods: Bishop Huet, Moses, and the Egyptians (erscheint demnächst). Joseph Justus Scaliger, Veterum Graecorum Fragmenta Selecta quibus loci aliquot obscurissimi Chronologiae sacrae & Bibliorum illustrantur (Appendix zu: De emendatione temporum), Köln 1629, 27f.: „Videmus igitur, quomodo Phoenices Deos suos quos ex vetustis Hebraeorum libris mutuati erant; perperam sint interpretati.“ Samuel Bochart, Geographia sacra seu Phaleg et Chanaan, Caen 1646; Hierozoïcon, London 1663. Zur Geschichte des Konfuzius-Vergleichs vgl. S. Zoli, Europa libertina tra controriforma e illuminismo: l’oriente dei libertini e l’origine dell’ illuminismo, Bologna 1989. Vgl. für den speziellen Fall der Religionskritik jetzt W. Schröder, „Die Wiederkehr der Verfemten. Zur Rezeption von Kelsos, Porphyrios und Julian in der Aufklärung“, in: Aufklärung 21, 2010, 29–50; ders., „Pagani ante portas: Les libertins érudits et leur contribution à la redécouverte de la pensée anti-chrétienne de l’antiquité tardive“, in: M.-H. Quéval (Hg.), Orthodoxie et hétérodoxie. Libertinage et religion en Europe au temps des Lumières, Saint-Étienne 2010, 77–88; W. Kinzig, „Polemics reheated? The

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reception of ancient anti-Christian writings in the enlightenment“, in: Zeitschrift für Antike und Christentum 13, 2009, 316–350. Vgl. auch M. Mulsow, „Moses omniscius oder Moses politicus? MosesDeutungen des 17. Jahrhunderts zwischen sakraler Enzyklopädik und libertinistischer Kritik“, in: A. Kilcher (Hg.), Die Enzyklopädik der Esoterik, München 2010, 177–202. Vgl. A. Yadin, „Rabban Gamliel, Aphrodite’s Bath, and the Question of Pagan Monotheism“, in: The Jewish Quarterly Review 96, 2006, 149–179. Vgl. D. P. Walker, „Edward Lord Herbert of Cherbury and Christian Apologetics“, in: ders., The Ancient Theology (s. Anm. 47), 164–193. Ein Beispiel für eine gelungene Analyse: A. Grafton und J. Weinberg, „I have always loved the Holy Tongue“. Isaac Casaubon, the Jews, and a Forgotten Chapter in Renaissance Scholarship, Cambridge, Mass. 2011. A. Grafton, Fälscher und Kritiker. Der Betrug in der Wissenschaft, Berlin 1991. Vgl. M. Mulsow, „Mumien auf dem Weg nach Europa. Bodin, Hermes und die Perspektiven einer transkulturellen Ideengeschichte“, in: C. Schwöbel (Hg.), Intellectual History und Ideengeschichte, Göttingen (im Druck). Den Begriff der Rezeptionsrezeption übernehme ich von Enno Rudolph. Er meint damit den Umstand, dass die Rezeption antiker Autoren und Texte oft nicht direkt erfolgt, sondern über Vermittlungsstufen: z.B. wird Platon oft vermittelt über die Neuplatoniker rezipiert – und damit in bestimmter vorgeprägter Weise gelesen.

Anmerkungen zu den Seiten 125–142 Christoph Bultmann, Exklusiv vollkommen: Der christliche Glaube nach Hugo Grotius’ De veritate religionis christianae von 1629 und die Frage des Pluralismus 1

Die Daten nach O. Mörke, Wilhelm von Oranien (1533–1584). Fürst und ‚Vater‘ der Republik [der Niederlande], Stuttgart 2007, einer sehr lesbar geschriebenen Einführung in die Geschichte der Revolte gegen das habsburgische Reich. Vgl. zu einem Aspekt der Kommunikation über die militärische Gewalt in dieser Epoche W. Cilleßen, „Massaker in der niederländischen Erinnerungskultur: Die Bildwerdung der Schwarzen Legende“, in: C. Vogel (Hg.), Bilder des Schreckens. Die mediale Inszenierung von Massakern seit dem 16. Jahrhundert, Frankfurt 2006, 93–135 (vgl. auch Ittersum [s.u.], 60–81); zu einem sehr anderen Aspekt Y. Rodríguez Pérez, The Dutch Revolt through Spanish Eyes. Self and Other in historical and literary texts of Golden Age Spain (c. 1548–1673), Bern 2008. Als Standardwerke vgl. H. Schilling, Religion, Political Culture and the Emergence of Early Modern Society. Essays in German and Dutch History, Leiden 1992 (bzw. die dort genannten deutschen Erstpublikationen); J. Israel, The Dutch Republic. Its Rise, Greatness, and Fall 1477–1806 (Ox-

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Anmerkungen ford History of Early Modern Europe), Oxford 1995; ergänzend R. PoChia Hsia, H. van Nierop (Hg.), Calvinism and Religious Toleration in the Dutch Golden Age, Cambridge 2002. – Zu Grotius’ politischer Bedeutung vgl. M. J. van Ittersum, Profit and Principle. Hugo Grotius, Natural Rights Theories and the Rise of Dutch Power in the East Indies 1595–1615, Leiden 2006; zu Grotius’ Engagement in den religionspolitischen Kontroversen F. Mühlegger, Hugo Grotius. Ein christlicher Humanist in politischer Verantwortung, Berlin 2007. J. F. Buddeus, Isagoge Historico-Theologica ad Theologiam Universam Singulasque eius Partes (1727), 2. Aufl. 1730, Nachdruck Hildesheim 1999, Bd. 2, 1198–1211, hier 1210 (im Kapitel „De Theologia polemica“, 854–1240; dort § 10, 1157–1237). Vgl. den Tagungsband M. Mulsow, J. Rohls (Hg.), Socinianism and Arminianism. Antitrinitarians, Calvinists and Cultural Exchange in Seventeenth-Century Europe, Leiden 2005, und dort auch bes. die Einleitung von Rohls, 3–48. Aus diesem institutionellen Kontext stammt die in Anm. 1 genannte Studie von Mühlegger. Hugo Grotius, Meletius […], [ed.] G. H. M. Posthumus Meyjes, Leiden 1988; J. P. Heering, Hugo Grotius as Apologist for the Christian Religion […], Leiden 2004 (zuerst holländisch 1992); H. J. M. Nellen, E. Rabbie (Hg.), Hugo Grotius Theologian (FS Meyjes), Leiden 1994; Hugo Grotius, Ordinum Hollandiae ac Westfrisiae Pietas (1613), [ed.] E. Rabbie, Leiden 1995. Eine neue Ausgabe der englischen Übersetzung The Truth of the Christian Religion wird von M. R. Antognazza vorbereitet (erscheint Indianapolis 2012). Vgl. Grotius, Meletius (s. Anm. 4), im Text § 1–5 ( 75f. bzw. 103–105), und die Einleitung von Meyjes, 15–22. Zur Orthodoxie vgl. G. Podskalsky, Griechische Theologie in der Zeit der Türkenherrschaft (1453–1821), München 1988. Die französische Fassung in: Reformierte Bekenntnisschriften, hg. v. A. Mühling u.a., Bd. 2/1, Neukirchen 2009, 319–369 (hg. v. E. Busch), franz. Text 324–343, dort 324; die lateinische Fassung auch in BSRK 233–249. Grotius bezieht sich auf diese Bekenntnisschrift z.B in Ordinum Pietas (s. Anm. 4), § 61. S. Anm. 4; auch eine von Grotius nie publizierte Abhandlung De imperio summarum potestatum circa Sacra (Mskr. 1616) ist hierher zu rechnen. Vgl. auch die Darstellung dieser Abhandlungen bei Mühlegger (s. Anm. 1). De imperio […] circa Sacra würde indessen eine Analyse als tagespolitische Schrift verlangen, wie sie van Ittersum zu De jure praedae (1608) vorgelegt hat. – Zur konfessionellen Situation generell vgl. H. Lademacher, „Freiheit – Religion – Gewissen. Die Grenzen der religiösen Toleranz in der Republik“ (1998), in: ders. u.a. (Hg.), Ablehnung – Duldung – Anerkennung. Toleranz in den Niederlanden und in Deutschland, Münster 2004, 117–141,

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und für den weiteren europäischen Kontext H. Schilling, „Das Konfessionelle Europa“, in: H. G. Kippenberg, J. Rüpke, K. von Stuckrad (Hg.), Europäische Religionsgeschichte, Göttingen 2009, 290–338. Vgl. Rohls (s. Anm. 3), 3–48; Heering (s. Anm. 4), 199–203; Israel (s. Anm. 1), bes. 460–465, 474–477, 499–505. Vgl. dazu besonders H. W. Blom, „Grotius and Socinianism“, in: Mulsow/Rohls (s. Anm. 3), 121–147; A. Desbordes, „Der ‚Antisozinianismus‘ des Hugo Grotius und die ‚Orthodoxie‘ der Dordrechter Synode“, in: Lademacher (s. Anm. 7), 202–233, bes. 221–231. De veritate religionis christianae, hier zitiert nach Opera Theologica, Bd. 3, 1679, Nachdruck 1972, 3–96; dort Buch 6, § 7. Es handelt sich um eine Art Glosse in einer antiislamischen Polemik (92b). Ebd. Anm. 4 zu § 7. Das Zitat stammt aus Laktanz, Divinae Institutiones, Buch 5, Kap. 20 in alter Zählung; vgl. die Ausgabe in CSEL Bd. 19, Wien 1890, S. 465 (V.19.23). Vgl. Anm. 4; eine kurze Zusammenfassung auch J. P. Heering, „Hugo Grotius’ De Veritate Religionis Christianae“, in: Hugo Grotius Theologian (s. Anm. 4), 41–52. Vgl. dort auch zur Diskussion des Judentums in VRC E. Rabbie, „Hugo Grotius and Judaism“, ebd., 99–120; ferner zur Hebraistik J. C. H. Lebram, „Hebräische Studien zwischen Ideal und Wirklichkeit an der Universität Leiden in den Jahren 1575–1619“, in: Nederlands Archief voor Kerkgeschiedenis 56, 1975, 317–357. – VRC wird im folgenden nach der in Anm. 10 genannten Ausgabe zitiert. Vgl. Heering a.a.O., bes. 74 (mit Anm. 42), 209 (mit Anm. 53), 212 (mit Anm. 65); auch 95–97 (mit Anm. 14). Der Tagungsband Servir Dieu, le Roi et l’État. Philippe Duplessis-Mornay (1549–1623), hg. v. H. Daussy und V. Ferrer, Paris 2006, enthält zwei Aufsätze, die auf die Zeichnung des Judentums in Mornays Apologetik eingehen: D. Menager, „Le Judaïsme dans le traité De la vérité de la religion chrestienne“, 55–70; M. Yardeni, „Les Juifs dans les écrits polémiques et théologiques de Duplessis-Mornay“, 71–80 (bes. 74f.). Für das politische Gewicht dieser Bezugnahme auf die holländischen Seehandelsunternehmungen vgl. auch Heering a.a.O., 1–3; und van Ittersum (s. Anm. 1). Grotius ist mit diesem Argument in Buch 1, § 11–18, dem für das Christentum dasselbe Argument in Buch 2, § 4–7 entspricht, ein bedeutender Stichwortgeber für das populäre apologetische Dauerthema des Beweisens der Glaubwürdigkeit von Wundererzählungen. Für das AT ist die Durchquerung des Roten Meeres das Hauptwunder (Buch 1, § 14), für das NT die Auferstehung Jesu (Buch 2, § 6). Grundlegend für das Modell einer urzeitlichen Religion (prisca theologia) und ihrer Tradition ist D. P. Walker, The ancient theology: Studies in Christian Platonism from the Fifteenth to the Eighteenth century, London 1972.

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17 Vgl. auch die Confessio Belgica (1561), Art. 2, für das Konzept einer natürlichen Theologie, die der Offenbarungstheologie vorausgeht; zum Zusammenhang von Schöpfung und Vorsehung auch Art. 12 und 13; s.o. Anm. 6. 18 Zitiert nach Opera Theologica (s. Anm. 10), Bd. 2.1, 540b. Vgl. die (im Hinblick auf das Johannesevangelium hermeneutisch nicht sehr hilfreichen) Studien zu Grotius’ Auslegung des Neuen Testaments von H. J. de Jonge, „Hugo Grotius: exégète du Nouveau Testament“, in: The World of Hugo Grotius (1583–1645), [Colloquium: Royal Nederlands Academy of Arts and Sciences], Amsterdam 1984, 97–115; ders., „Grotius’ view of the Gospels and the Evangelists“, in: Hugo Grotius Theologian (s. Anm. 4), 65–74. 19 Vgl. BSRK 241f. (Art. 23, weiter Art. 24); BSLK 77 (Art. 20; mit Bezug auf Augustin). Vgl. auch schon Grotius’ breite Erörterung des Begriffs „fiducia“ in Meletius (s. Anm. 4), bes. § 43, 44, 50. 20 Buch 3 ist ein Exkurs zur Bibel, speziell dem Neuen Testament, für die, die den christlichen Glauben schon in seinen Grundzügen verstanden hätten und nun alle Einzelheiten aus diesen „libri antiquissimi eam religionem continentes“ lernen wollten (vgl. § 1 und § 15). 21 Vgl. die Erläuterung von Buch 6 bei Heering (s. Anm. 4) und D. Klein, „Hugo Grotius’ Position on Islam as Described in De veritate religionis Christianae, Liber VI“, in: Mulsow/Rohls (s. Anm. 3), 149–173 mit einer Aufschlüsselung der von Grotius genannten Quellen. Die Kontrastierungen werden überwiegend auch schon direkt in Buch 2 geboten, vgl. § 9, 11, 12, 13, 18, 19, und sind zum Teil schon in dem früheren Traktat Meletius (s. Anm. 4) zu finden, vgl. dort § 16, 56, 72, 79. Für die wichtige Vorlage von Juan Luis Vives vgl. E. V. George, „Rules of Engagement: The Humanist Apologetics of Vives’ De veritate fidei christianae“, in: Erasmus of Rotterdam Society Yearbook 27 (2007), 1–36. Es ist wohl richtig, dass Grotius, wie Heering und Klein annehmen, von Nikolaus von Kues (1401–1464) nur die Cribratio Alcorani (1461), nicht aber auch De pace fidei (1453) gekannt hat. Die These, dass Mohammed Jesus als „verbum Dei“ anerkannt habe, findet sich außer bei den von Grotius zu § 4 bzw. 9 genannten Autoren z.B. auch bei Mornay, De veritate religionis christianae, Kap. 33 (ed. Herborn 1592, 597). 22 Vgl. A. H. de Groot, The Ottoman Empire and the Dutch Republic. A History of the Earliest Diplomatic Relations 1610–1630, Leiden/Istanbul 1978, bes. 83–105. Der Text des Vertrags ebd. 231–260 (engl. Übers. 247–260). Vgl. für die Situation in Istanbul auch M. Strachan, Sir Thomas Roe. 1581–1644. A Life, Salisbury 1989, 134–179; A. Hamilton, „‚To divest the East of all its manuscripts and all its rarities‘. The unfortunate embassy of Henri Gournay de Marcheville“, in: ders. u.a. (Hg.), The Republic of Letters and the Levant, Leiden 2005, 123–150.

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Anmerkungen

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23 Vgl. das Zitat aus einem Brief von Daniel Heinsius an John Selden von 1633 in G. J. Toomer, „John Selden, the Levant and the Netherlands in the history of scholarship“, in: The Republic of Letters and the Levant (s. Anm. 22), 53–76, hier 59 („De Alcorani apud nos editione, longae sunt ambages […]. […] Obsistere hactenus nonnulli, qui negotia religionis tractant. […]“). 24 Zitiert wird nach der lateinischen Ausgabe hg. v. B. J. A. de Kanter-van Hettinga Tromp, 1939, erw. Nachdruck Aalen 1993; bzw. der englischen Ausgabe The Rights of War and Peace, 3 Bde., hg. von R. Tuck, Indianapolis 2005; vgl. dort auch die Einleitung von Tuck. Danach im folgenden die Seitenzahlen für den hier zentralen Abschnitt in Buch 2, Kap. 20 „De poenis“, § 44–51: 513–528 / 1027–1052. Vgl. auch die übersichtliche Darstellung bei E. Feil, Religio, Bd. 3: Die Geschichte eines neuzeitlichen Grundbegriffs im 17. und 18. Jahrhundert, Göttingen 2001, 206–226, hier 219–224. 25 Divinae Institutiones (s. Anm. 11), Buch 5, Kap. 15 in alter Zählung (CSEL 19, 446 [V.14.12]). 26 Vgl. auch den Begriff des „äußersten Vergehens“ (summum scelus) in den Prolegomena, § 11 (10/89). 27 Die Ausgabe erschien zuerst 1720, 2. Aufl. 1735; vgl. auch die Einleitung von Tuck (s. Anm. 24), xxx. – Zum Problem der Grenzlinie zum Atheismus in den Toleranzdebatten des 17. und 18. Jahrhunderts vgl. z.B. P. Byrne, „Matthew Tindal and Tolerance: Some Lockean Themes“, in: S. Knuuttila und R. Saarinen (Hg.), Theology and early modern philosophy, Helsinki 2010, 169–183, sowie das dort genannte Buch von J. Marshall, John Locke, Toleration and early Enlightenment culture, Cambridge 2006, 694–706. 28 Vgl. Wendungen wie „omnium aetatum communis“ (516/1032 „which has been common to all Ages“), „ab omni aevo per omnes terras, paucissimis exceptis“ (517/1034), „traditio a primi hominibus ad nos propagata“ (518/1035), „apud omnes ferme quos novimus populos per tot iam saecula“ (519/1036f.) „naturalis ac primaeva religio“ (522/1041). Eine kritische Rückfrage zu den Quellen dieser angenommenen Tradition stellt Barbeyrac (1034f.). Vgl. auch den Bezug auf das alttestamentliche Geschichtsbild nach Gen 1–11 in den Prolegomena, § 14 (11/92). 29 In seiner Abhandlung „Rettung des Hier[onimus] Cardanus [1501– 1576]“, mit Bezug auf A. Reland, De religione Mohammedica (Utrecht 1705, 2. Aufl. 1717), bzw. G. Sale, „A Preliminary Discourse“, in: The Koran […], translated into English […] with explanatory notes […], London 1734; deutsche Übersetzung durch Theodor Arnold (1683–1761) in Leipzig, Lemgo 1746. Vgl. G. E. Lessing, Werke 1754–1757 (Frankfurter Ausgabe, Bd. 3), Frankfurt a. M. 2003, 198–223, hier 214; und zu Reland auch A. Hamilton, „A Lutheran translator for the Quran. A late

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Anmerkungen seventeenth-century quest“, in: The Republic of Letters and the Levant (s. Anm. 22), 197–221, hier 216; C. Dohmen, „Scheherazade’s Shadow in the Dutch Republic: Eighteenth-century Oriental Tales and the Images of Orient and Islam“, in: G. Haug-Moritz, L. Pelizaeus (Hg.), Repräsentationen der islamischen Welt im Europa der Frühen Neuzeit, Münster 2010, 236–248, hier 238, mit Hinweis auf Relands holländische Übersetzung von Ibn Tufails Hayy ibn Yaqzan (1701). Ordinum Pietas (s. Anm. 4), § 118 (188 lat./189 engl.). Vgl. zum Augsburger Religionsfrieden den Artikel von Martin Heckel in Religion in Geschichte und Gegenwart (RGG) 4. Aufl., Bd. 1 (1998), 957f. Ordinum Pietas, ebd. („über seine eigene Religion urteilt jeder selbst, über den Glauben einer Kirche trifft diese Kirche selbst ihre Bestimmungen“), zu ergänzen wäre selbstverständlich: in den Schranken der Ethik/natürlichen Religion. Gegenüber dem „ius emigrandi“ des Augsburgischen Religionsfriedens ist hier ein anderer Grad von Toleranz zu beobachten. Vgl. zu dem Abschnitt in Ordinum Pietas auch C. Bultmann, „‚Improbissimae calumniae‘ und ‚Pflichtschuldige Pastoralverhetzung der Obrikeit‘. Toleranz und ihre Gegner bei Grotius und Lessing“, in: A. Beutel u.a. (Hg.), Aufgeklärtes Christentum. Beiträge zur Kirchen- und Theologiegeschichte des 18. Jahrhunderts, Leipzig 2010, 213–231. Israel (s. Anm. 1 bzw. 8), 501f.; vgl. für das Bild der historischen Situation auch den in Anm. 1 genannten Band Calvinism and Religious Toleration. De Imperio summarum potestatum circa Sacra, hier zitiert nach Opera Theologica (s. Anm. 10), Bd. 3, 242f.; vgl. die kommentierte Neuausgabe hg. v. H.-J. van Dam, Leiden 2001. Die Diskussion über diese Schrift kann hier nicht weitergeführt werden, vgl. die Einleitung des Hg. und die Darstellung von Mühlegger (s. Anm. 3), 361–501. – Im Blick auf Deutschland wäre zu sagen, dass von einem Modell wie in De imperio […] der Weg zum Satz der Weimarer Reichsverfassung von 1919, „Es besteht keine Staatskirche.“ (Art. 137 Abs. 1) noch weit war!

Anmerkungen zu den Seiten 143–164: Richard Hölzl, Aus der Zeit gefallen? Katholische Mission zwischen Modernitätsanspruch und Zivilisationskritik 1

Zahlreiche konzeptionelle Artikel und Fallstudien zur Missionsgeschichte, die hier eingeflossen sind, habe ich mit Studierenden des B.A. Studiengangs Religionswissenschaft der Universität Erfurt und des B.A. Studiengangs Geschichte der Georg-August-Universität Göttingen im Sommersemester 2008 und im Wintersemester 2008/09 diskutiert. Für ihr Engagement und ihre Anregungen bin ich dankbar. Julia Hauser danke ich für die kritische Lektüre des Manuskripts.

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M. Sammer, Mutter Teresa. Leben, Werk, Spiritualität, München 2006, 60. Einen kritischen, wenngleich journalistischen Überblick zu Mutter Teresas Leben bietet auch N. Göttler, Mutter Teresa, Reinbek bei Hamburg 2010. Agnes Gonxha Bojaxhiu wuchs in einer albanisch stämmigen Kaufmannsfamilie in Skopje auf, die der katholischen Minderheit angehörte. Sie besuchte eine katholische Mädchenschule und gehörte schon als Kind einer jesuitennahen marianischen Kongregation an. 1928 trat sie in Irland als Bewerberin bei den Loreto-Schwester von Mary Ward ein. Noch im selben Jahr reiste sie nach Indien und legte dort 1937 das „ewige Gelübde“ ab. 1948 trat sie aus dem Orden aus und gründete die Gemeinschaft der „Missionarinnen der Nächstenliebe“. Heute unterhält ihr Orden über 700 Heime für Lepra- und HIV-Kranke, Obdachlose, Waisen und Sterbende. Sammer ebd., 33; vgl. für eine theologisch-historische Einordnung der Herz-Jesu-Verehrung v.a. bei Katholikinnen R. Ammicht Quinn, „Hat Religion ein Geschlecht?“, in: S. Demel, R. Emig (Hg.), Gender – Religion, Heidelberg 2008, 13–26. B. Hausberger, „Mission: Kontinuität und Grenzen eines universalen Anspruchs“, in: B. Hausberger (Hg.), Im Zeichen des Kreuzes. Mission, Markt und Kulturtransfer seit dem Mittelalter, Wien 2004, 9–25. Diese Fragen stellen sich auch angesichts der Lektüre von U. Brunottes Beitrag „Religion und Kolonialismus“ in dem 2009 erschienenen Sammelband Europäische Religionsgeschichte, hg. v. H. G. Kippenberg, J. Rüpke, K. von Stuckrad, Göttingen 2009, Bd. 1, 339–369, der von Zuschnitt, Umfang und vom Publikationskontext Handbuchcharakter beansprucht. Erstaunlicherweise zählen Missionare in diesem Text, der die Entstehung europäischer Identitäten über die Konstruktion eines fundamental „anderen“ Orients ebenso wie die Entdeckung und Fabrikation außereuropäischer Religionen fokussiert, nicht zu den zentralen Akteuren. Vielmehr wird ihnen eine Berichtsfunktion zugestanden – sie lieferten Erfahrungsberichte, aus denen Wissenschaftler Erkenntnisse und Interpretationen gewannen. Vgl. ähnlich auch H. G. Kippenberg, K. von Stuckrad, Einführung in die Religionswissenschaft. Gegenstände und Begriffe, München 2003, 59–69 und H. G. Kippenberg, Die Entdeckung der Religionsgeschichte. Religionswissenschaft und Moderne, München 1997, 88ff. Bis in die 1990er Jahre galt die Beschäftigung mit Religion in der Geschichtswissenschaft als eine Nischenangelegenheit, die größtenteils den jeweiligen konfessionell geteilten Kirchengeschichten oder den Spezialisten für Jüdische Geschichte überlassen wurde. Dieser Trend hat sich in den vergangenen 20 Jahren umgekehrt. Besonders die These von der Säkularisierung der modernen Gesellschaft hat dabei an Überzeugungskraft verloren. Vgl. den Überblick von H. Walser Smith und C. Clark, „The

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Anmerkungen Fate of Nathan“, in: H. Walser Smith (Hg.), Protestants, Catholics and Jews in Germany 1800–1914, Oxford/New York 2001, 3–32; L. Hölscher, „The Religious Divide. Piety in Nineteenth Century Germany“, in: ebd., 33–49 und R. Habermas, „Piety, Power, and Powerlessness: Religion and Religious Groups in Germany 1870–1945“, in: H. Walser Smith (Hg.), Oxford Handbook of Modern German History, New York 2011, 453–480; sowie in Verteidigung der soziologischen Säkularisierungsthese D. Pollack, „Säkularisierung – Konzept und empirische Befunde“, in: Kippenberg/Rüpke/Stuckrad, Europäische Religionsgeschichte, Bd. 1, 61–86. M. Weber, Wissenschaft als Beruf [1917/19], in: Ders., Gesamtausgabe Abt. 1, Bd. 17, hg. v. W. J. Mommsen mit B. Morgenbrod, Tübingen 1992, 86f. M. Weber, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, in: Ders., Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Bd. 1, Tübingen 1920, 10. Ebd., 12. Ebd., 203ff. und allgemein 163–205. Vgl. für eine Einordnung der Weber-These in die Debatten des fin de siécle Kippenberg, Religionsgeschichte, 218–243. M. Borutta, „Der innere Orient. Antikatholizismus als Orientalismus in Deutschland, 1781–1924“, in: M. Juneja (Hg.), Religion und Grenzen in Indien und Deutschland: Studien zu einer transnationalen Historiographie, Göttingen 2008, 245–274; vgl. zum Orientalismus-Diskurs mit Bezug auch die Religionsgeschichte Brunotte, Religion und Kolonialismus (s. Anm. 5), 339–349. G. Hübinger, „Sakralisierung der Nation und Formen des Nationalismus im deutschen Protestantismus“, in: G. Krumeich und H. Lehmann (Hg.), „Gott mit uns“. Nation, Religion und Gewalt im 19. und frühen 20. Jahrhundert, Göttingen 2000, 233–248. Talal Asad, Genealogies of Religion. Discipline and Reasons of Power in Christianity and Islam, Baltimore/London 1993, 27–54. M. Geyer und L. Hölscher, Einleitung, in: Dies. (Hg.), Die Gegenwart Gottes in der modernen Gesellschaft. Transzendenz und religiöse Vergemeinschaftung in Deutschland, Göttingen 2006, 9. Vgl. für einen Überblick über die katholischen Missionsvereinigungen R. Habermas, „Mission im 19. Jahrhundert – Globale Netze des Religiösen“, in: Historische Zeitschrift 287, 2008, 629–676, hier: 640–652 , und G. Faschingeder, „Missionsgeschichte als Beziehungsgeschichte. Die Genese des europäischen Missionseifers als Gegenstand der Historischen Anthropologie“, in: Historische Anthropologie 10, 2002, 1–30. S. Weichlein, „Mission und Ultramontanismus im frühen 19. Jahrhundert“, in: G. Fleckenstein, J. Schmidl (Hg.), Ultramontanismus. Tendenzen der Forschung, Paderborn 2004, 93–109.

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Anmerkungen

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17 J. Schmidlin, Die katholischen Missionen von der Völkerwanderung bis zur Gegenwart, Leipzig 1925, 72. 18 R. Habermas, „Weibliche Religiosität – oder: Von der Fragilität bürgerlicher Identitäten“, in: K. Tenfelde (Hg.), Wege zur Geschichte des Bürgertums, Göttingen 1994, 125–148. 19 Vgl. dazu G. Hüwelmeier, „Ordensfrauen unterwegs. Transnationalismus, Gender und Religion“, in: Historische Anthropologie 13, 2005, 91–110. 20 Habermas, Globale Netze (s. Anm. 15), 660. 21 Ebd., 649. 22 Vgl. zum folgenden Faschingeder, Missionsgeschichte (s. Anm. 15), 16– 19. 23 A. Acker, „Die Aufgabe der Katholischen Mission in den Kolonien“, in: Jahrbuch über die deutschen Kolonien 2, Essen 1909, 133. 24 J. Osterhammel, N. P. Petersson, Geschichte der Globalisierung. Dimensionen, Prozesse, Epochen, München 2005, 24. 25 Arjun Appadurai etwa macht auf die zunehmende Fluidität kultureller Identitäten im Zuge der Globalisierung des 20. Jahrhunderts aufmerksam. Vgl. A. Appadurai, Modernity at Large. Cultural Dimensions of Globalization, Minneapolis 1996, 48. 26 D. Bachmann-Medick, Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, Reinbek bei Hamburg, 2. Aufl. 2007, 245–254. 27 D. Westermann, „Die evangelische Mission in den deutschen Kolonien“, in: K. Schneider (Hg.), Jahrbuch über die deutschen Kolonien 2, Essen 1909, 109. 28 Ebd., 113. 29 A. Le Roy, „Le role scientifique des Missionaires“, in: Anthropos 1, 1906, 3–10 [m. Übersetzung, RH]. 30 Die Rolle von Missionaren bei der Wissensproduktion der Religionswissenschaft, der Ethnologie oder der Sprachwissenschaft ist nur zum Teil erforscht. Vgl. etwa R. Habermas, „Wissenstransfer und Mission. Sklavenhändler, Missionare und Religionswissenschaftler“, in: Geschichte und Gesellschaft 36, 2010, 257–284 und P. Harries, Butterflies and Barbarians. Swiss missionaries and systems of knowledge in South East Africa, Oxford u.a. 2007. 31 Vgl. den Überblick von M. G. Ash, „Von Vielschichtigkeiten und Verschränkungen. Kulturen der Wissenschaft – Wissenschaften in der Kultur“, in: Beiträge zur Wissenschaftsgeschichte 30, 2007, 91–105 32 F. Cooper, Colonialism in Question. Theory, Knowledge and History, Berkeley u.a. 2005, 146f. mit Bezug auf die Gewerkschaftsbewegung des Spätkolonialismus in Afrika. 33 Vgl. zum Folgenden J. Comaroff, „Missionaries and Mechanical Clocks: An Essay on Religion and History in South Africa“, in: The Journal of Religion 71, 1991, 1–17, insb. 1f., 16f.

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Anmerkungen 34 Cooper, Colonialism in Question, 117. 35 F. Fabri, Bedarf Deutschland der Colonien? Eine politisch-ökonomischen Betrachtung, 3. Aufl. Gotha 1884, 99. 36 J. Schmidlin, Katholische Weltmission und deutsche Kultur, Freiburg i. Br. 1925, 7. 37 Schmidlin (ebd., 47) hob die Ausrichtung dieses Missionszweiges auf die Zukunft hervor: „Es ist ein Ruhmesblatt für das katholische Deutschland auf alle Zeiten, […] und die Zukunft wird lehren, von welch großem Segen diese Gründung nicht bloß für die Ausbreitung des Christentums, sondern auch für unsere kulturellen Werte ist.“ 38 Vgl. S. Weih, Das Missionsärztliche Institut Würzburg. Zur Feier seines 15jährigen Bestehens, Würzburg 1938, 8f. 39 R. Streit, Die Weltmission der katholischen Kirche in Zahlen und Zeichen, Hünfeld 1928, 134ff. und Jahrbuch für Katholische Missionsärztliche Fürsorge 7, 1930, 129. 40 W. U. Eckart, Medizin und Kolonialimperialismus. Deutschland 1884– 1945, Paderborn u.a. 1997. 41 Vgl. zum folgenden Weih, Das Missionsärztliche Institut, 12ff., die medizingeschichtliche Dissertation von L. Essen, Katholische Ärztliche Mission in Deutschland. Das Würzburg missionsärztliche Institut, seine Absolventinnen und Absolventen, die Arbeitsfelder, Tecklenburg 1991, 23ff. und K. M. Bosslet, Missionsärztliche Fragen und Aufgaben, Augsburg 1947, 15–51. 42 C. Becker, Missionsärztlichen Fürsorge, Würzburg 1926 (hier: spätere Auflage o. J.). 43 T. Ohm, „Vom Sinn missionsärztlicher Fürsorge“, in: Jahrbuch der Katholischen Missionsärztlichen Fürsorge 3, 1926, 6. 44 Zit. nach: C. Becker, Ärztliche Fürsorge in Missionsländern, Aachen 1921, 33. 45 Ohm (s. Anm. 43), 6ff. Für eine ausführliche Untersuchung zum Selbstverständnis der Missionsärztinnen und -ärzte sowie zu Patientenperspektiven vgl. R. Hölzl, „Der Körper des Heiden als moderne Heterotopie. Katholische Missionsmedizin in der Zwischenkriegszeit”, in: Historische Anthropologie 19, 2011, 54–81. 46 A. Janssen, „Die Ausstellung der katholischen Missionen“, in: Deutschland und seine Kolonien im Jahre 1896. Amtlicher Bericht über die erste deutsche Kolonial-Ausstellung, hg. vom Arbeitsausschuss der Deutschen Kolonial-Ausstellung, Berlin 1897, 127f. 47 J. Osterhammel, Jürgen: „‚The Great Work of Uplifting Mankind‘. Zivilisierungsmission und Moderne“, in: B. Barth, J. Osterhammel (Hg.), Zivilisierungsmissionen. Imperiale Weltverbesserung seit dem 18. Jahrhundert, Konstanz 2005, 365. 48 B. Hausberger, „Die Mission der Jesuiten im kolonialen Lateinamerika“, in: ders., Im Zeichen des Kreuzes (s. Anm. 4), 79–102.

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Anmerkungen

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49 W. Reinhard, „Gelenkter Kulturwandel im 17. Jahrhundert. Akkulturation in den Jesuitenmissionen als universalhistorisches Problem“, in: Historische Zeitschrift 223, 1976, 529–590. 50 L. Hölscher, Die Entdeckung der Zukunft, Frankfurt a. M. 1999. 51 Reinhart Koselleck, „‚Neuzeit‘. Zur Semantik moderner Bewegungsbegriffe“, in: Ders., Vergangene Zukunft: Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a. M. 1979, 324 und 336. 52 Vgl. dazu den Überblick von Kippenberg/Stuckrad, Einführung (s. Anm. 5), 62f. und ausführlich Kippenberg, Religionsgeschichte, 60–98. 53 C. Geulen, Geschichte des Rassismus, München: Beck 2007, Susanne Zantop: Kolonialphantasien im vorkolonialen Deutschland (1770–1870), Berlin 1999. 54 Vgl. z. B. den Protestanten Friedrich Fabri, Die Entstehung des Heidenthums und die Aufgabe der Heidenmission, Barmen 1859, 39 und den Katholiken Pater Alois Horner, Reisen in Zanguebar in den Jahren 1867 und 1870, hg. v. Dr. Gaume, Regensburg 1873, 1ff. 55 Brunotte, Religion und Kolonialismus (s. Anm. 5), 35f. 56 Fabri, Bedarf Deutschland der Colonien (s. Anm. 35), 111f. 57 Ebd., 102. 58 F. J. Bauer, Das ‚lange‘ 19. Jahrhundert, Stuttgart 2004, 79. 59 Acker, Aufgabe der katholischen Mission (s. Anm. 23), 134. 60 A. Roggen, „Als Missionsärztin am Amazonas“, in: Jahrbuch für Katholische Missionsärztliche Fürsorge 3, 1926, 24. Anmerkungen zu den Seiten 165–187: Heidemarie Winkel, Geschlechter(un)gleichheit im theologischen Wissenssystem. Pluralisierung religiöser Geschlechterkonzepte in der europäischen Moderne 1 2

3

EKD Statistik: Haupt- und Ehrenamt 2008, in: http://www.ekd.de/statistik/hauptamt_ehrenamt.html, Zugriff am 10.9.2010. Vgl. G. Bartsch, „Jeder zehnte Bruder im Amt ist eine Schwester. Theologinnen in der Organisation Kirche“, in: Dies. (Hg.), Theologinnen in der Männerkirche, Stuttgart 1996, 120–137 sowie K. Sammet, Frauen im Pfarramt. Berufliche Praxis und Geschlechterkonstruktion, Würzburg 2005. 1962 in den Evangelischen Kirchen der Union der DDR, 1968 in der Württembergischen Kirche als erster Landeskirche der EKD, 1975 in der VELKD und 1978 folgte die EKD mit einem entsprechenden nicht mehr nach Geschlecht differenzierenden Gesetz zum Pfarramt. Vgl. hierzu H. Kuhlmann, „Protestantismus, Frauenbewegung und Frauenordination“, in: S. Hermle, C.Lepp, H.Oelke (Hg.), Umbrüche. Der deutsche Protestantismus und die sozialen Bewegungen in den 1960er und 70er Jahren. Göttingen 2007, 147–162, hier: 150. Zu den einzelnen Landeskirchen

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Anmerkungen vgl. H. Köhler, „Die Entwicklung der Theologinnengesetzgebung bis 1932“, in: Frauenforschungsprojekt zur Geschichte der Theologinnen, Göttingen, „Darum wagt es, Schwestern …“. Mit Beiträgen von A. Bieler et al., 2. Aufl., Neukirchen-Vluyn 1994, 109–128 sowie W. HummerichDiezun, „Die Weiterentwicklung der Berufsgeschichte der Theologinnen nach 1945 – ein Überblick“, in: ebd., 463–486. Als letzte Landeskirche der EKD ließ Schaumburg-Lippe 1991 Frauen zum Pfarramt zu. Es dauerte weitere elf Jahre, bis hier die erste Frau in ihr Amt eingeführt wurde. Auf die unterschiedlichen gesellschaftlichen Hintergründe in Ost- und Westdeutschland kann an dieser Stelle nicht näher eingegangen werden. Vgl. hierzu G. Nützel, Die Kontextualität der Theologinnenarbeit – dargestellt am Beispiel der Entwicklung in den lutherischen Kirchen Bayerns, Mecklenburgs und Brasiliens, Dissertation. Berlin 1996, hier: 224ff. Zitiert nach: Rat der EKD (Hg.), Bericht des Rates der EKD an die Synode. Schriftlicher Teil (Teil B). EKD-Synode in Ulm Oktober 2009, 31. Vgl. zur Unterscheidung der drei religiösen Wissensformen H. Winkel, „Christliche Religion und ihre Sinnformen der Selbstbeschreibung. Mission und Ökumene als Grundpfeiler des Wandels religiöser Wissensformen“, in: Geschichte und Gesellschaft. Zeitschrift für Historische Sozialwissenschaft, 36 (2): Mission und kulturelle Globalisierung, 2010, 1–32. Vgl. C. Honegger, Die Ordnung der Geschlechter. Die Wissenschaften vom Menschen und das Weib, Frankfurt a. M./New York 1991. Vgl. H. Wunder, Er ist die Sonn’, sie ist der Mond. Frauen in der Frühen Neuzeit, München 1992 sowie dies., „Die gesellschaftliche Stellung von Frauen der gehobenen Stände im 17. Jahrhundert“, in: K. Hausen/H. Wunder (Hg.), Frauengeschichte – Geschlechtergeschichte, Frankfurt/New York 1992, 50–56. Vgl. weiterhin dies., „Geschlechtsidentitäten. Frauen und Männer im späten Mittelalter und am Beginn der Neuzeit“, in: ebd., 131–136 sowie K. Hausen, „Die Polarisierung der Geschlechtscharaktere. Eine Spiegelung der Dissoziation von Erwerbs- und Familienleben“, in: W. Conze (Hg.), Sozialgeschichte der Familie in der Neuzeit Europas, Stuttgart 1976, 363–393. Vgl. M. Drexl, Weiberfeinde – Weiberfreunde? Die Querelles des femmes im Kontext konfessioneller Konflikte um 1600, Frankfurt a. M. 2006. I. Schabert, Englische Literaturgeschichte aus der Sicht der Geschlechterforschung, Stuttgart 1997, hier: 52f. Ebd., 24. Vgl. T. Laqueur, Auf den Leib geschrieben. Die Inszenierung der Geschlechter von der Antike bis Freud, Frankfurt a. M. 1992. Ebd., 18. Vgl. M. Foucault, Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften. 10. Aufl., Frankfurt a. M. 1991 sowie Ders., Sexualität und Wahrheit Bd.1. Der Wille zum Wissen, Frankfurt a. M. 1991.

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Anmerkungen

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14 N. Luhmann, Die Religion der Gesellschaft, Frankfurt a. M. 2000, 278. 15 U. Baumann, Protestantismus und Frauenemanzipation in Deutschland: 1850 bis 1920, Frankfurt a. M. 1992, 53. 16 Ebd., 58. 17 Vgl. U. Gause, „Dienst und Demut. Diakoniegeschichte als Geschichte christlicher Frauenbilder“, in: S. Fuhrmann, I. Pahl, E. Geldbach (Hg.), Soziale Rollen von Frauen in Religionsgemeinschaften. Ein Forschungsbericht, Münster 2003, 65–88. 18 A. Witt, „Zur Entwicklung kirchlicher Frauenberufe Ende des 19. Jahrhunderts“, in: Frauenforschungsprojekt (s. Anm. 3), 41–54, hier: 41. 19 Von wenigen Ausnahmen wie derjenigen von Elisabeth Malo abgesehen, gab es im 19. Jahrhundert kaum explizite theologische Auseinandersetzungen mit dem Polaritätsmodell. Vgl. Christiane Markert-Wizisla, „‚Folge daraus, was da wolle‘. Das Programm der Elisabeth Malo für eine künftige feministische Theologie und die Antwort des Theologen Wilhelm Bornemann“, in: Frauenforschungsprojekt zur Geschichte der Theologinnen in Göttingen (Hg.), Querdenken. Beiträge zur feministischbefreiungstheologischen Diskussion. Festschrift für Hannelore Erhart zum 65. Geburtstag, 2. Aufl., Pfaffenweiler 1993, 165–178. 20 Die Zulassung zum Studium an deutschen Universitäten vollzog sich in der Zeit von 1900 bis 1909. Damit war nicht per se eine Zulassung zu universitären oder staatlichen Prüfungen verbunden. Theologinnen konnten bis 1919 mit Ausnahme der Promotion keinen Abschluss machen, weil die Kirchen die Examina abnahmen. Vgl. zu den Anfängen des Frauenstudiums in Deutschland D. Henze, „Die Anfänge des Frauenstudiums in Deutschland“, in: Frauenforschungsprojekt (s. Anm. 3), 19– 40. Henze weist auch auf den allgemein im 19. Jahrhundert artikulierten Bedarf an Bildungs- und Ausbildungsmöglichkeiten für Frauen als Folge prekärer sozialer Lebensverhältnisse hin. Die Forderung nach beruflichen Ausbildungs- und Arbeitsmöglichkeiten schloss auch den Zugang zu akademischen Qualifikationen und hierauf aufbauende Berufe ein. 21 Köhler (s. Anm. 3), 109–128. 22 Vgl. zum Personalbedarf E. Reichle, „Frauenordination“, in: C.Pinl et al. (Hg.), Frauen auf neuen Wegen, Gelnhausen 1978, 103–180, hier: 118ff. Zur kirchenpolitischen Konstellation vgl. Köhler (s. Anm. 3), 60. 23 Vgl. D. Henze, „Die Konflikte zwischen dem ‚Verband evangelischer Theologinnen Deutschland‘ und der ‚Vereinigung evangelischer Theologinnen‘ um die Frage des vollen Pfarramtes für die Frau“, in: Frauenforschungsprojekt (s. Anm. 3), 129–150, hier: 141; weiterhin: C. DrapeMüller, Frauen auf die Kanzel? Die Diskussion um das Amt der Theologin von 1925 bis 1942, Pfaffenweiler 1994. 24 Ergänzt werden soll an dieser Stelle, dass sich die Auseinandersetzung mit den theologischen Grundlagen der religiösen Geschlechterordnung in

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Anmerkungen den 1920er und 30er Jahren in verschiedenen Kontexten vollzog. Nicht nur unter den ersten akademisch gebildeten Theologinnen wurde die anthropologische Grundlegung der hierarchischen Ordnungsstruktur kritisch gelesen, sondern auch in der Ökumene. Ab 1934 setzte sich die in der ökumenischen Jugendbewegung sozialisierte Henriette Visser’t Hooft hierüber in einem mittlerweile viel beachteten Briefwechsel mit Karl Barth auseinander. Visser’t Hooft beeindruckt, weil sie den renommierten Barth, der sie mit der biblisch begründeten Superiorität des Mannes über die Frau in ihre Schranken verweisen will, nicht akzeptiert und seine Herrschafts- und Ordnungstheologie zurückweist. Vgl. hierzu L. SiegeleWenschkewitz, „Die Rezeption und Diskussion der Genus-Kategorie in der theologischen Wissenschaft“, in: H.Bußmann, R.Hof (Hg.), Genus: Geschlechterforschung – Gender Studies in den Kultur- und Sozialwissenschaften. Ein Handbuch, Stuttgart 1993, 61–112, hier: 155 sowie J. Moltmann, „Henriette Visser’t Hooft and Karl Barth“, in: Theology Today 55: 4, 1999, 524–531 und E. Moltmann-Wendel, Das Leben lieben – mehr als den Himmel. Frauenporträts. Gütersloh 2005, hier: 100. Vgl. Köhler (s. Anm. 3), 109. Vgl. Siegele-Wenschkewitz (s. Anm. 24), 64. Wie Dagmar Herbrecht ausführt, strebten die Vikarinnen in diesem Zusammenhang durchaus eine Arbeitsteilung an, und zwar entlang der jeweiligen geschlechtsspezifischen Charismen. Sie fokussierten für sich selbst vor allem auf die Wortverkündigung. Interessant hieran ist, dass neben das anthropologische Argument der Besonderheit der Frau mit der Frage nach dem Amtscharisma eine ekklesiologische Perspektive getreten ist. Vgl. D. Herbrecht, Emanzipation oder Anpassung. Argumentationswege der Theologinnen im Streit um die Frauenordination in der Bekennenden Kirche, Neukirchen-Vluyn 2000, hier: 137. Vgl. dazu auch Nützel (s. Anm. 3), 21. Sie geht davon aus, dass die Vikarinnen in der BK nicht nur die Wortverkündigung, sondern auch die Sakramentsverwaltung angestrebt hätten, dies aber nicht offen einforderten, um dem Vorwurf der Emanzipationsbestrebung zu entgehen. 1942 wurde dann im Rahmen einer BK Synode offiziell ein Amt sui generis beschlossen. Dies gilt insbesondere für die 1950er Jahre. Viele Theologinnen teilten zu dieser Zeit die Auffassung von der Besonderheit der weiblichen Gaben. Gerdi Nützel gibt einen Eindruck von den konservierenden, an der Sonderanthropologie anknüpfenden Positionen; Nützel (s. Anm. 3), 24f. Vgl. Hummerich-Diezun (s. Anm. 3), 468. Vgl. Siegele-Wenschkewitz (s. Anm. 24), 79; hermeneutische und ekklesiologische Fragestellungen ließen das anthropologische Argument in den Hintergrund treten. Vgl. hierzu Nützel (s. Anm. 3), 25. HummerichDiezun gibt ebenfalls einen Einblick über die sich an der Sonderanthropologie reibenden Positionen; vgl. vorige Anm.

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30 Debatten um die ersten Ordinationen in Schweden 1960, gefolgt von Norwegen 1961 hatten diesen Prozess ihrerseits beeinflusst. Dies waren nicht die ersten Ordinationen innerhalb Europas, aber diejenigen, die den in Deutschland in Gang gekommenen Diskussionsprozess forcierten. In Island waren die ersten Frauen Ende der 1940er Jahre ordiniert worden, und in Dänemark 1947. Vgl. zur Situation in Deutschland Kuhlmann (s. Anm. 3). 31 Vgl. H. Winkel, „Religion, Inklusion und Geschlechterungleichheit: Zur Kommunizierung des Geschlechterverhältnisses in Mission und Ökumene“, in: C. Weinbach (Hg.), Geschlechtliche Ungleichheit in systemtheoretischer Perspektive, Wiesbaden 2007, 233–264. 32 Für die Gründungsversammlung wurde in einem zwei Jahre währenden Prozess ein Fragebogen an die Mitgliedskirchen versandt, ausgewertet und anschließend als eine der ersten Publikationen des ÖRK veröffentlicht. Vgl. hierzu K. Bliss, Frauen in den Kirchen der Welt, Nürnberg 1954. 33 Zu den einzelnen Stationen, von der Berliner Konferenz über die Gemeinschaftsstudie bis hin zur Frauendekade vgl. H. Winkel, „Geschlechtergerechtigkeit als theologische Wissensfigur: Die Ausdifferenzierung  feministischer Theologie im Wissenssystem der Religion“, in: GENDER. Zeitschrift für Geschlecht, Kultur und Gesellschaft, 2 (1), 2010: Geschlechterverhältnisse in den Religionen der Welt, hg. v. S. Schäfer und H. Winkel, 100–117. Zur Behandlung von Frauenordination im ÖRK ab 1955 vgl. Nützel (s. Anm. 3), 47f. 34 Vgl. hierzu E. Moltmann-Wendel, Wer die Erde nicht berührt, kann den Himmel nicht erreichen. Autobiographie. 2. Aufl., Zürich und Düsseldorf 1997, 118. Vgl. auch J. Crawford, „The Community of men and women in the church: where are we now?“ [Geneva: World Council of Churches]. Ecumenical Review 40, 1988, 37–47. 35 Vgl. R. Frieling, Befreiungstheologien. Studien zur Theologie in Lateinamerika, Göttingen 1984. 36 Vgl. Siegele-Wenschkewitz (s. Anm. 24), 93ff. 37 Ebd. Anmerkungen zu den Seiten 189–204: Benedikt Kranemann, Vielfalt in der christlichen Liturgie. Gottesdienst als Teil der europäischen Religionsgeschichte 1 2 3

T. Bornhauser, Art. Pluralismus IV. Liturgisch, in: Religion in Geschichte und Gegenwart, Bd. 6, 2003, 1406f., hier 1406. Vgl. H. G. Kippenberg, J. Rüpke, K. von Stuckrad (Hg.), Europäische Religionsgeschichte. Ein mehrfacher Pluralismus, 2 Bde., Göttingen 2009. Vgl. F. Lurz, „Liturgie verstehen - Liturgie leben. Hinweise aufgrund historischer Autobiografieforschung“, in: Archiv für Liturgiewissenschaft

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Anmerkungen 50, 2008, 231–250; L. van Tongeren, „Eine gemeinsame Zielrichtung. Die ‚ritual studies‘ und die Entwicklungen in der Liturgiegeschichtsforschung“, in: B. Kranemann, P. Post (Hg.), Die modernen ritual studies als Herausforderung für die Liturgiewissenschaft. Modern ritual studies as a challenge for liturgical studies, Leuven 2009, 111–132. Vgl. die Skizze zur Arbeitsweise der Liturgiewissenschaft bei A. Gerhards und B. Kranemann, Einführung in die Liturgiewissenschaft, 2. Aufl. Darmstadt 2008, 53–57. Zum Verhältnis von Theater und Liturgie vgl. jüngst I. Mildenberger u.a. (Hg.), Gottesdienst und Dramaturgie. Liturgiewissenschaft und Theaterwissenschaft im Gespräch, Leipzig 2010. Vgl. J. Bärsch, „Liber ordinarius. Zur Bedeutung eines liturgischen Buchtyps für die Erforschung des Mittelalters“, in: Archa verbi: Yearbook for the study of medieval theology 2, 2005, 9–58. Einen Einblick in die Verhältnisse an verschiedenen Kathedralen gibt das Werk F. Kohlschein, P. Wünsche (Hg.), Heiliger Raum. Architektur, Kunst und Liturgie in mittelalterlichen Kathedralen und Stiftskirchen, Münster 1998. Vgl. die in Anm. 3 genannten Titel. Außerdem F. Lurz, Erlebte Liturgie. Autobiografische Schriften als liturgiewissenschaftliche Quellen, Münster 2003. Vgl. S. Böntert, Friedlicher Kreuzzug und fromme Pilgerschar. Liturgiehistorische Studien zur Heilig-Land-Wallfahrt aus dem deutschen Sprachgebiet zwischen Mitte des 19. Jahrhunderts und 1914 im Spiegel von Pilgerberichten, Leuven 2011 [im Druck]. van Tongeren, Zielrichtung (s. Anm. 3), 127. Vgl. einen Versuch bei B. Kranemann, „Anmerkungen zur Hermeneutik der Liturgie“, in: Archiv für Liturgiewissenschaft 50, 2008, 128–161. An Stelle von Einzelverweisen sei auf eine Reihe von Darstellungen und Handbüchern zur Liturgiegeschichte hingewiesen: T. Klauser, Kleine Abendländische Liturgiegeschichte. Bericht und Besinnung, Bonn 1965; H. A. Wegman, Liturgie in der Geschichte des Christentums, Regensburg 1994; M. Metzger, Geschichte der Liturgie, Paderborn 1998; G. Wainwright und K. B. Westerfield Tucker (eds.), The Oxford History of Christian Worship, Oxford u.a. 2006. Aufgrund ihres jeweiligen Ansatzes fallen aus dem Rahmen: M. D. Stringer, A Sociological History of Christian Worship, Cambridge 2005; F. C. Senn, The People‘s Work. A Social History of the Liturgy, Minneapolis, Kan. 2006, Senns interessantes Buch wird dem Anspruch, den der Titel erweckt, allerdings nur zum Teil gerecht; Gerhards/Kranemann, Einführung (s. Anm. 4), 58–110. J. F. Baldovin, City, Church, and Renewal, Washington DC 1991. Wir übernehmen die Übersetzung von M. Klöckener, „Zeitgemäßes Beten. Meßorationen als Zeugnisse einer sich wandelnden Kultur und Spiritualität“, in: R. Meßner u.a. (Hg.), Bewahren und Erneuern. Studien

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zur Meßliturgie. Festschrift für Hans Bernhard Meyer SJ zum 70. Geburtstag, Innsbruck 1995, 114–142, hier 116. Vgl. die Darstellung bei J. A. Jungmann, Missarum Sollemnia. Eine genetische Erklärung der römischen Messe, Wien u.a. 1962, Bd. I, III. 1 „Die Eröffnung oder der Einzugsritus“ (341–499); H. B. Meyer, Eucharistie. Geschichte, Theologie, Pastoral. Mit einem Beitrag von I. Pahl, Regensburg 1989, 174f.; 196f. u.ö. Vgl. A. Angenendt, Das Frühmittelalter. Die abendländische Christenheit von 400 bis 900, Stuttgart u.a. 1990, 90. Klöckener, Zeitgemäßes Beten (s. Anm. 14), 118. Vgl. für die Messfeier Meyer, Eucharistie (s. Anm. 15), 156 und die ebd. 154f. genannte Literatur. Angenendt, Das Frühmittelalter (s. Anm. 16), 329. Vgl. dazu Angenendt ebd., 328; Stringer, A sociological history (s. Anm. 12), 111–116. A. Angenendt, Grundformen der Frömmigkeit im Mittelalter, München 2003, 38. Vgl. für die Eucharistie den exzellenten Überblick bei I. Pahl, „Die Feier des Abendmahls in den Kirchen der Reformation“, in: Meyer, Eucharistie (s. Anm. 15), 393–440; allgemein: P. Cornehl, Art. Gottesdienst VIII. Evangelischer Gottesdienst von der Reformation bis zur Gegenwart, in: Theologische Realenzyklopädie, Bd. 14, 1985, 54–85, hier 54–61; H.-C. Schmidt-Lauber, „The Lutheran Tradition in the German Lands“, in: The Oxford History of Christian Worship (s. Anm. 12), 395–421, hier 395–405. In der Oxford History finden sich Artikel zur Geschichte der lutherischen Liturgie in verschiedenen Sprachgebieten. Jüngst hat H. Jadatz, „Geordnete Liturgie. Gottesdienst und Kirchenvisitationen im 16. Jahrhundert“, in: I. Mildenberger, W. Ratzmann (Hg.), Der „wirkliche“ Gottesdienst. Historische Annäherungen, Leipzig 2009, 43– 59, für die Wittenberger Reformation darauf hingewiesen, dass es sich nicht um eine Zäsur, sondern um Veränderungen und einen Übergang gehandelt habe. K.-H. Bieritz, Liturgik, Berlin u.a. 2004, 449. Vgl. Bieritz ebd., 450. Vgl. dazu W. Haunerland, „Einheitlichkeit als Weg der Erneuerung. Das Konzil von Trient und die nachtridentinische Reform der Liturgie“, in: M. Klöckener, B. Kranemann (Hg.), Liturgiereformen. Historische Studien zu einem bleibenden Grundzug des christlichen Gottesdienstes I: Biblische Modelle und Liturgiereformen von der Frühzeit bis zur Aufklärung, Münster 2002, 436–465, und die ebd. 449f. genannte Literatur. Vgl. B. Kranemann, „Liturgisches Normbuch – Seelsorgsanleitung – Erbauungsbuch. Zur Gestalt und Funktion liturgischer Bücher in der Neuzeit“, in: B. Kranemann, J. Rüpke (Hg.), Das Gedächtnis des

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Anmerkungen Gedächtnisses. Zur Präsenz von Ritualen in beschreibenden und reflektierenden Texten, Marburg 2003, 61–101. Vgl. B. Kranemann, K. Richter (Hg.), Zwischen römischer Einheitsliturgie und diözesaner Eigenverantwortung. Gottesdienst im Bistum Münster, Altenberge 1997. Vgl. H. Reifenberg, „Liturgie – Gottesdienstliches Leben im 19. und 20. Jahrhundert“, in: F. Jürgensmeier u.a. (Hg.), Handbuch der Mainzer Kirchengeschichte 3: Neuzeit und Moderne. 1–2, Würzburg 2002, 1444– 1461, hier insbes. 1461; A. Heinz, „Das gottesdienstliche Leben“, in: M. Persch, B. Schneider (Hg.), Geschichte des Bistums Trier. 4: Auf dem Weg in die Moderne 1802–1880, Trier 2000, 247–274. Ein sehr differenziertes Bild der Liturgie nach dem Tridentinum entwirft jetzt auch R. Suntrup, „Norm oder Modell? Zentralismus und einzelkirchliche Vielfalt in der römischen Meßliturgie des Spätmittelalters und der frühen Neuzeit“, in: R. Suntrup, J. R. Veenstra (Hg.), Normative Zentrierung. Normative Centering, Frankfurt/M. 2002, 125–146. Stringer, A sociological history (s. Anm. 12), 196. Nach A. A. Häußling, Gallikanismus II. Neugallikanische Liturgie, in: LThK Bd. 4, 1995, 279f. Meyer, Eucharistie (s. Anm. 15), 270. V. A. Winter, Versuche zur Verbesserung der Katholischen Liturgie. Erster Versuch. Prüfung des Werthes und Unwerthes unserer liturgischen Bücher, München 1804 (anonym), V. Vgl. B. Kranemann, Die Krankensalbung in der Zeit der Aufklärung. Ritualien und pastoralliturgische Studien im deutschen Sprachgebiet, Münster 1990, 48. Grundriss der Liturgie, oder Vorschriften bey der Verrichtung der liturgischen Handlungen, Innsbruck 1811, 3. Von der Fülle der Publikationen zeugt die Bibliographie von M. Probst, Bibliographie der katholischen Ritualiendrucke des deutschen Sprachbereichs. Diözesane und private Ausgaben, Münster 1993. Vgl. die Zusammenstellung bei E. J. Lengeling, Missale Monasteriense 1300 –1900. Katalog, Texte und vergleichende Studien, hg. v. B. Kranemann und K. Richter, Münster 1995, 601–609. Vgl. aus der Fülle der Literatur: A. Bugnini, Die Liturgiereform 1948– 1975. Zeugnis und Testament, Deutsche Ausgabe hg. v. J. Wagner unter Mitarbeit von F. Raas, Freiburg/Br., 1988; P. Marini, A Challenging Reform. Realizing the Vision of the Liturgical Renewal, 1963–1975, hg. v. M. R. Francis, J. R. Page, K. F. Pecklers, Collegeville/Minn. 2007; mit Blick auf einzelne Aspekte der Reform: K. Richter, T. Sternberg (Hg.), Liturgiereform – eine bleibende Aufgabe. 40 Jahre Konzilskonstitution über die heilige Liturgie, Münster 2004.

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39 Vgl. H. B. Meyer, „Zur Frage der Inkulturation der Liturgie“, in: Zeitschrift für katholische Theologie 105, 1983, 1–31; zu den Konsequenzen und Problemen in der Gegenwart vgl. K. F. Pecklers (ed.), Liturgy in a postmodern world, London 2003. 40 Vgl. R. Kaczynski, „Feier der Krankensalbung“, in: R. Messner, R. Kaczynski (Hg.), Sakramentliche Feiern I/2. Mit einem Beitrag von R. Oberforcher, Regensburg 1992, 241–343, hier bes. 258–273. 41 Vgl. zum Folgenden B. Kranemann, Art. Krankenöl, in: Reallexikon für Antike und Christentum, Bd. 21, 2004, 915–965. 42 Vgl. G. Scheibelreiter, „Sonntagsarbeit und Strafwunder. Beobachtungen zu hagiographischen Quellen der Merowingerzeit“, in: R. Weiler (Hg.), Der Tag des Herrn. Kulturgeschichte des Sonntags, Wien 1998, 175–186, hier 178f. 43 Vgl. Lurz, Erlebte Liturgie (s. Anm. 8), 40–160; das Gedenkbuch ist auch im Internet greifbar: http://www.weinsberg.uni-bonn.de/ (21. Oktober 2010). 44 Zitat nach der Internetedition: http://www.weinsberg.uni-bonn.de/Edition/Liber_Senectutis/ls4.htm (21. Oktober 2010). 45 Vgl. Lurz, Erlebte Liturgie (s. Anm. 8), 152–160. 46 Bornhauser, Pluralismus (s. Anm. 1), 1406. Anmerkungen zu den Seiten 205–224: Josef Pilvousek, Pluralität in totalitärer Diktatur? Katholische Kirche zwischen Zentralismus und Autonomie 1961–1989 1

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Vgl. K. Feiereis, „Weltanschauliche Strukturen in der DDR und die Folgen für die Existenz der katholischen Christen“, in: Materialien der Enquete-Kommission „Aufarbeitung und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland“, Bd. VI,I, Frankfurt/M 1995, 609. Vgl. T. Raabe, SED-Staat und Kirche. Politische Beziehungen 1949 –1961, Paderborn u.a. 1995, 24–26. Vgl. H. J. Meyer, Wege und Mauern, Leipzig 1993, 59. Ebd. Diese reglementierte Gesprächsführung begann mit Kardinal Preysing für das Bistum Berlin 1947 und wurde durch seine Nachfolger Wilhelm Weskamm und Julis Döpfner auf die gesamt DDR übertragen. KNA Dokumentation 18 (12.2.1998). KNA (Hg.), Kirche im Blick 99/2000, Würzburg 2000, 220f. Zu beachten ist, dass nicht wenige der „Täterakten” nach differenzierter Analyse als Opferakten gelten, z.B. von der Stasi abgeschöpfte Personen, die inoffiziell als IM geführt wurden.

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Anmerkungen G. Lange u.a., Katholische Kirche – sozialistischer Staat DDR. Dokumente und öffentliche Äußerungen 1945– 1990, Leipzig 1992, 257–262. Ebd., 306–311. Der vor allem auf den Erfurter Bischof Joachim Wanke zurückgehende Hirtenbrief ist wohl der erste Schritt zu einem neuen theologischen Verständnis von katholischer Kirche in „einer säkularisierten, materialistischen Umwelt“. Indem zwischen Staat und Gesellschaft differenziert wurde, löste sich die katholische Kirche von ihrer traditionellen Fixierung auf den DDR-Staat und erschloss sich neue Handlungsoptionen. Vgl. J. Selke, Katholische Kirche im Sozialismus? Der Hirtenbrief der katholischen Bischöfe in der DDR zum Weltfriedenstag 1983, Altenberge 1995. Hinsichtlich des Weltdienstes der Christen konnte demnach provozierend formuliert werden: „Der katholische Arbeiter produziert nicht für den Staat, sondern für die Menschen dieses Landes.“ Vgl. Neues Deutschland, 7.1.1983. Lange u.a. (s. Anm. 8), 320–331. Vgl. P. Maser, Art. Aktionskreis Halle (AKH), in: Lexikon Opposition und Widerstand in der SED-Diktatur, hg. v. H.-J. Veen, Berlin 2000, 39f.; C. Herold, Als katholischer Seelsorger in der DDR, Magdeburg 1998; ders., Der Aktionskreis Halle. Geschichte, Strukturen und Aktionen einer katholischen Basisgruppe, Magdeburg 1999. H. Dähn, Konfrontation oder Kooperation? Das Verhältnis von Staat und Kirche in der SBZ/DDR 1945–1980, Opladen 1982, 184. Vgl. ebd., 181. Vgl. dazu: W. Trilling, „Trauer gemäß Gott“. Leiden in und an der Kirche in der DDR, hg. v. K. Richter, Altenberge 1994. Vgl. dazu G. Lange, Katholische Kirche im sozialistischen Staat DDR, Berlin 1993, 4f. Vgl. D. Remy, Opposition und Verweigerung in Nordthüringen (1976– 1989), Duderstadt 1999, 223f. Bistumsarchiv Erfurt (BAEF), Regionalarchiv Ordinarien Ost (ROO), A IV 1, Protokoll der Sitzung vom 3./4.2.1966. BAEF, ROO, A IV 1, Protokoll der Sitzung vom 3./4.2.1966. Katholisch-Theologische Fakultät der Universität Erfurt (KTFE), Forschungsstelle für kirchliche Zeitgeschichte Erfurt (FKZE), Beschlüsse der BOK/BBK, Protokoll vom 21./22.9.1966. Vgl. R. Grütz, Katholizismus in der DDR-Gesellschaft. Kirchliche Leitbilder, theologische Deutungen und lebensweltliche Praxis, Paderborn u.a. 2004, 126–131. Vgl. ebd., 131–136. Vgl. ebd., 123–126. Vgl. P. Willms, Der Aktionskreis Halle (AKH) zwischen den Stühlen. „Unheilige Allianz“ zwischen staatliche und kirchlichen Stellen, 16.3.2005 (Manuskript), 1–18, hier 11.

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25 BAEF, ROO, AG Studentenseelsorge 3, Regionalsprechertag 25.– 28.8.1966. 26 BAEF, ROO, AG Studentenseelsorge 3, Regionalkreis 11./12. 2.1967. 27 BAEF, ROO, AG Studentenseelsorge 3, Bericht 2.4.1967. 28 BAEF, ROO, AG Studentenseelsorge 3, Bericht über die Situation der Studentenseelsorge 1968 in der DDR, Januar 1968. 29 BAEF, ROO, AG Studentenseelsorge 3, Entwürfe einer Strategie für eine Pastoralsynode 1970. 30 BAEF, ROO, AG Studentenseelsorge 3, Brief Regionalkreis der KSG an BOK, 10.11. 1970. 31 BAEF, ROO, AG Studentenseelsorge 3, Offener Brief der KSG Berlin (Der Gemeinderat der KSG Berlin mit Ausnahme des Pfarrers), 8.6.1971. 32 BAEF, ROO, AG Studentenseelsorge 8, Bericht über die Jahresarbeit 1973. 33 BAEF, ROO, AG Studentenseelsorge 8, Bericht über die Jahresarbeit 1974. 34 Vgl. J. Pilvousek, „Die vergessene Synode? Anmerkungen zur Rezeption der Pastoralsynode der Jurisdiktionsgebiete (1973–1975) in der DDR“, in: Theologie der Gegenwart 49/4, 2006, 277–279. 35 BAEF, ROO A II 27, Bericht über eine Tagung in Erfurt am 20./21.4.1968. 36 BAEF, ROO A II 29, Zusatzprotokoll der BOK 2/1969. 37 BAEF, ROO A II 9, Protokoll der BOK vom 23.10.1968. 38 Die Kritik führte zu einer kuriosen Entscheidung. Die Ordinarienkonferenz erklärte sich damit einverstanden, dass den wirklichen Geistlichen Räten Einsicht in die Sitzungsprotokolle der Ordinarienkonferenz gegeben wird. Vgl. KTFE, FKZE, Beschlüsse der BOK/BBK, Protokoll vom 24./25.2.1969. 39 BAEF, ROO A II 9, Bericht über das Gespräch vom 15.2.1969 zwischen Herrn Kardinal Alfred Bengsch und Vertretern des Erfurter Gesprächskreises, 17.2.1969. 40 Ebd. 41 Ebd. 42 Vgl. KTFE, FKZE, Beschlüsse der BOK/BBK, Protokoll vom 2./3.12.1968. 43 Ebd. 44 KTFE, FKZE, Beschlüsse der BOK/BBK, Protokoll vom 1./3.6.1969. 45 BAEF, ROO, A II 9, Laienrat, Ernennungsschreiben für das Laiengremium, 17.6.1969. 46 Bischöfliches Ordinariat Erfurt, BOK, Laiengremium, C I b4e, Protokoll des von der BOK berufenen Laiengremiums am 4./5.10.1969 in Berlin. 47 Bischöfliches Ordinariat Erfurt, BOK, Laiengremium, C I b4e, Protokoll des von der BOK berufenen Laiengremiums am 6./7.12.1969 in Berlin. 48 BAEF, ROO, A II 9, Priesterrat, Ernennungsschreiben für das Priestergremium, 24.6.1969.

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Anmerkungen Bischöfliches Ordinariat Erfurt, BOK, Priesterrat, Protokoll, 12.9.1969. KTFE, FKZE, Beschlüsse der BOK/BBK, Protokoll vom 2./3.12.1968. KTFE, FKZE, Beschlüsse der BOK/BBK, Protokoll vom 1./3.6.1969. BAEF, ROO, A II 11, Theologische Kommission. Protokoll der konstituierenden Sitzung vom 9.11.1969. Bischöfliches Ordinariat Erfurt, BOK, Theologische Kommission, C I b4d, Empfehlungen der Theologischen Kommission an die Berliner Ordinarienkonferenz, 1969. KTFE, FKZE, Josef Gülden Konzilstagebuch. Zur Meißner Synode vgl.: R. Schumacher, Kirche und sozialistische Welt. Eine Untersuchung zur Frage der Rezeption von „Gaudium et spes“ durch die Pastoralsynode der katholische Kirche in der DDR, Leipzig 1998; D. Grande, P.-P. Straube, Die Synode des Bistums Meißen 1969–1971. Die Antwort einer Ortskirche auf das Zweite Vatikanische Konzil, Leipzig 2005. M. Höllen, Loyale Distanz? Katholizismus und Kirchenpolitik in SBZ und DDR. Ein historischer Überblick in Dokumenten, Bd. 3/1: 1966 bis 1976, Berlin 1998, 15: „Art. 14: Beschlüsse der Konferenz besitzen Rechtskraft nur in den von den kirchlichen Rechtsnormen vorgesehene Fällen. Jedoch sind einstimmige Beschlüsse für alle Mitglieder verbindlich. Mit Stimmenmehrheit angenommene Empfehlungen sind wenigstens insofern zu achten, als es die Einheit der Kirche nach innen und außen fordert.“ BAEF, ROO, A III 29, Protokoll der BOK vom 21./22.9.1966. BAEF, ROO, A III 29, Protokoll der BOK vom 24./25.2.1969. M. Plate, Das deutsche Konzil. Die Würzburger Synode. Bericht und Deutung, Freiburg u.a. 1975. BAEF, ROO, A III 29, Protokoll der BOK vom 24./25.2.1969. BAEF, ROO, A III 29, Protokoll der BOK vom 1./3.6.1969. KTFE, FKZE, Politika II, Bengsch, Promemoria zur kirchenpolitischen Situation in Ostdeutschland, Rom, 2.5.1969. Vgl. Schumacher, Kirche und sozialistische Welt (s. Anm. 55), 98. Bischöfliches Ordinariat Erfurt, BOK, Laiengremium, C I b4e, Protokoll über die Tagung des von der BOK berufenen Laiengremiums am 4./5.10.1969 in Berlin. Bischöfliches Ordinariat Erfurt, BOK, Laiengremium, C I b4e, Brief Hüber an Aufderbeck, 12.10.1969. Bischöfliches Ordinariat Erfurt, BOK, Theologische Kommission, C I b4d, Überlegungen zur Pastoralsynode der DDR. Bischöfliches Ordinariat Erfurt, BOK, Theologische Kommission, C I b4d, Gutachten zur Frage eines Pastoralkonzils im Bereich der Berliner Ordinarienkonferenz, 9.11.1969. Bischöfliches Ordinariat Erfurt, BOK, Theologische Kommission, C I b4d, Betr. Pastoralsynode.

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Anmerkungen

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69 BAEF, ROO, AG Studentenseelsorge 3, Protokoll der Studentenpfarrerkonferenz am 1.–3.4.1970 in Berlin. 70 Die Studentengemeinden hatten sich „ungefragt“ in dieser Sache zu Wort gemeldet; vgl. BAEF, ROO, AG Studentenseelsorge 3, Anlage zum Protokoll des Regionalkreies, 4./5.4.1970. 71 Bischöfliches Ordinariat Erfurt, BOK, Theologische Kommission, C I b4d, Betr.: Vorbereitungskommission einer geplanten DDR-Synode, Brief Dissemond an die Sprecher der Gremien, 3.12.1969. 72 BAEF, ROO, A III 29, Protokoll der BOK vom 3./5.1969. 73 Die Titel der Synodalbeschlüsse lauten: Glaube heute, Diakonie in der Gemeinde, Aspekte des Verkündigungsdienstes der Gemeinde, Dienste und Ordnungen im Leben der Gemeinde, Ökumene im Bereich der Gemeinde, Vorbereitung auf die Ehe, Akzente christlichen Lebens in Ehe und Familie, Der Christ in der Arbeitswelt, Dienst der Kirche für Versöhnung und Frieden. 74 Vgl. J. Pilvousek, „‚Innenansichten‘. Von der ‚Flüchtlingskirche‘ zur ‚katholischen Kirche in der DDR‘“, in: Materialien der Enquete Kommission „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland” (12. Wahlperiode des Deutschen Bundestages), hg. vom Deutschen Bundestag, Band VI/2: Kirchen in der SED-Diktatur, Frankfurt/M 1995, 1134–1163, 1144f.; C. Kösters, „Sozialistische Gesellschaft und konfessionelle Minderheit in der DDR“, in: K.-J. Hummel (Hg.), Zeitgeschichtliche Katholizismusforschung. Tatsachen, Deutungen, Fragen. Eine Zwischenbilanz, Paderborn u.a. 2004, 131–149, 135–139. 75 Vgl. Kösters ebd., 138. 76 Vgl. Ebd. 77 Vgl. dazu, D. Grande, B. Schäfer, Zur Kirchenpolitik der SED. Auseinandersetzungen um das Katholikentreffen 1983–1987, Leipzig 1994. 78 Vgl. dazu K. Seifert, Glaube und Politik. Die ökumenische Versammlung in der DDR 1988/89, Leipzig 2000. 79 Vgl. dazu J. Wanke, Der Weg der Kirche in unserem Raum – Versuch einer pastoralen Standortbestimmung, Vortrag auf den Priesterkonferenzen in Erfurt und Heiligenstadt, Oktober 1981, abgedruckt in: J. Pilvousek, (Bearb. u. Hg.), Kirchliches Leben im totalitären Staat. Quellentexte aus den Ordinariaten 1977–1989, Dokumentenband II, Leipzig 1998, 237–250. 80 Landesparteiarchiv Sachsen der PDS: Bestände der Bezirksleitung Dresden der SED, Akte IV E 2/14/667. 81 G. Sterzinsky, Getrennt vereint. Georg Kardinal Sterzinsky im Gespräch mit Joachim Jauer, in: Jahrbuch für das Erzbistum Berlin 2009, Köln 2008, 14–20, hier 15. 82 Ebd., 16.

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Die Autorinnen und Autoren Prof. Dr. Christoph Bultmann, Professor für Bibelwissenschaft (Erziehungswissenschaftliche Fakultät – Evangelische Theologie, Universität Erfurt) PD Dr. Stephanie Haarländer, Privatdozentin für Mittelalterliche Geschichte (Fachbereich Geschichts- und Kulturwissenschaften, Johannes-Gutenberg-Universität Mainz) Dr. Richard Hölzl, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte (Seminar für Mittlere und Neuere Geschichte, Philosophische Fakultät, Georg-August-Universität Göttingen) Dr. phil. habil. Thoralf Klein, Senior Lecturer in Modern History (Department of Politics, History and International Relations, Loughborough University, U. K.) Prof. Dr. Benedikt Kranemann, Professor für Liturgiewissenschaft (Katholisch-Theologische Fakultät, Universität Erfurt) Prof. Dr. Christof Mandry, Professor für Christliche Weltanschauung, Religions- und Kulturtheorie (Katholisch-Theologische Fakultät, Universität Erfurt) Prof. Dr. Martin Mulsow, Professor für Wissenskulturen der Europäischen Neuzeit und Direktor des Forschungszentrums Gotha für kultur- und sozialwissenschaftliche Studien (Philosophische Fakultät, Universität Erfurt) Prof. Dr. Josef Pilvousek, Professor für Kirchengeschichte des Mittelalters und der Neuzeit (Katholisch-Theologische Fakultät, Universität Erfurt)

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271 Dr. Rotraud Ries, Historikerin und Leiterin des Johanna-Stahl-Zentrums für jüdische Geschichte und Kultur in Unterfranken (Würzburg) Prof. Dr. Jörg Rüpke, Professor für Vergleichende Religionswissenschaft mit dem Schwerpunkt Europäische Polytheismen und Ko-Direktor der DFG-Kollegforschergruppe „Religiöse Individualisierung in historischer Perspektive“ (Philosophische Fakultät und Max-Weber-Kolleg, Universität Erfurt) Prof. Dr. Sabine Schmolinsky, Professorin für Mittelalterliche Geschichte (Philosophische Fakultät, Universität Erfurt) PD Dr. Heidemarie Winkel, Privatdozentin für Soziologie (Wirtschaftsund Sozialwissenschaftliche Fakultät, Universität Potsdam)

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Interdisziplinäres Forum Religion der Universität Erfurt

Das Interdisziplinäre Forum Religion (IFR) ist ein fakultätenübergreifender Zusammenschluss von Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen an der Universität Erfurt, die Forschungen zu Fragen der Religion betreiben. Katholische und evangelische Theologen, Religionswissenschaftler mit Spezialisierungen für den antiken Polytheismus, das Judentum, das lateinische und das orthodoxe Christentum und den Islam sowie Geschichts-, Literatur- und Sozialwissenschaftler teilen ihre Forschungsinteressen an Religion in einer historisch fundierten, europäisch orientierten Perspektive. Einzelne Schwerpunktbildungen erweitern das Themenspektrum für den Bereich der Religionen Südasiens. Im Rahmen des Studium Fundamentale ermöglicht das IFR Studierenden aller Fachrichtungen durch eine Ringvorlesung den Erwerb grundlegender Informationen und die Diskussion spezifischer Fragestellungen in dem weiten Feld religionsbezogener Forschung. Diese regelmäßige Ringvorlesung wird durch die Reihe „Vorlesungen des Interdisziplinären Forums Religion“ (VIFR) einer weiteren Leserschaft zugänglich gemacht. Die Ringvorlesung ergänzt eine größere Zahl weiterer Lehrveranstaltungen im Rahmen des Studium Fundamentale, in denen Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen unterschiedlicher Fachgebiete zusammenarbeiten. Zu diesem Studienangebot zählen nicht zuletzt die jährliche „International Spring School on Ancient Religions“ und die vom DAAD geförderte Summer school „Muslims in the West“. Ein besonderes Anliegen des IFR ist die Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses im MA- und Promotionsstudium. In einer ersten Phase wurde die Zusammenarbeit unter anderem in einer Arbeitsgruppe „Religionen in Nachbarschaft und Nachbarschaft von Religionen“ und einem vom BMBF geförderten Projekt „Mobilisierung von Religion in Europa“ koordiniert; im Studienjahr 2009/10 ist eine Graduiertenschule mit dem Themenschwerpunkt „Religion in Modernisierungsprozessen“ eingerichtet worden. Im Zentrum der Forschungen stehen hier zum einen Fragen nach der Rolle von Religi-

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273 on als eine Quelle von Modernisierungsprozessen und nach dem Einfluss von Modernisierungsprozessen auf Religion, zum anderen Fragen nach der religiösen Erfahrung und den Versuchen ihrer Artikulation und nach der Medialität von Religion, d. h. der spezifischen Angewiesenheit von Religion auf Darstellungs- und Übertragungs-Medien in verschiedenen Diskursformationen und Praktiken. Die Graduiertenschule unterhält Beziehungen zu einem Theologischen Forschungskolleg an der Katholisch-Theologischen Fakultät, zur literaturwissenschaftlichen Forschergruppe „Texte, Zeichen, Medien“ sowie zur DFG-geförderten Kollegforschergruppe „Religiöse Individualisierung in historischer Perspektive“ am Max-Weber-Kolleg für kultur- und sozialwissenschaftliche Studien. Darüber hinaus bietet das Graduiertenkolleg „Untergrundforschung“ am Forschungszentrum Gotha für kultur- und sozialwissenschaftliche Studien einen besonderen Kontext für spezialisierte historische Forschungen über heterodoxe Gestalten, Gruppen und Ideen im Spannungsfeld von Religion und Aufklärung. Gastvorträge und Tagungen bieten vielfältige Möglichkeiten zum wissenschaftlichen Austausch und zur Entwicklung neuer, interdisziplinär relevanter Fragestellungen. Regelmäßige Studientage zur Präsentation und Diskussion von Promotions- und Habilitationsprojekten stehen allen Mitgliedern des IFR offen. Weitere Informationen: http://www.uni-erfurt.de/schwerpunkt-religion/

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Vorlesungen des Interdisziplinären Forums Religion der Universität Erfurt

Band 1 (ohne Reihenvermerk) Religion, Gewalt, Gewaltlosigkeit Probleme – Positionen – Perspektiven Herausgegeben von Christoph Bultmann, Benedikt Kranemann und Jörg Rüpke. 2004. Aschendorff Paperbacks, 303 Seiten ISBN 978-3-402-03434-7, 14,80 EUR Die Diskussion um das Verhältnis von Religion und Gewalt hat nicht erst mit dem 11. September 2001 begonnen. Nahostkonflikt, die Situation in Nordirland und der Balkankrieg sind nur einige weitere Beispiele aus jüngerer Zeit. Doch Unverständnis und Aggression zwischen Juden und Muslimen, Katholiken und Protestanten allein sind nicht Grund und Motivation für diese Gewaltexzesse. Sind religiöse Konflikte Ursache für die Gewalt? Was lässt eine Religion gewalttätig werden? Welche Rolle spielt für ihr Gewaltpotenzial das soziale, kulturelle und wirtschaftliche Umfeld? Oder werden Religionen nur benutzt bzw. lassen sie sich benutzen, um Gewalt zu rechtfertigen? Wie gehen die verschiedenen Religionen selbst mit der eigenen Widersprüchlichkeit um, die ja nicht nur ein historisches Faktum, sondern auch eine philosophisch-theologische Herausforderung der Gegenwart ist? Diesen und anderen Fragen gehen die Beiträge dieses Bandes, die aus der Sicht von Theologen, Religionswissenschafltern und Historikern unterschiedlichste Religionen und Konfessionen darstellen, nach.

Mit Beiträgen von Christian Albrecht, Christoph Bultmann, Josef Freitag, Georg Hentschel, Benedikt Kranemann, Claus-Peter März, Vasilios N. Makrides, Jamal Malik, Josef Pilvousek, Josef Römelt, Jörg Rüpke, Eberhard Tiefensee, Christian Wiese, Reinhard Zöllner.

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Vorlesungen des Interdisziplinären Forums Religion der Universität Erfurt

Band 2 (ohne Reihenvermerk) Heilige Schriften Ursprung, Geltung und Gebrauch Herausgegeben von Christoph Bultmann, Claus-Peter März und Vasilios N. Makrides. 2005. Aschendorff Paperbacks, 255 Seiten ISBN 978-3-402-03415-6, 14,80 EUR Heilige Schriften sind Texte mit Autorität, doch werden sie in unterschiedlicher Weise erschlossen. Einige Gründe dafür lassen sich klar benennen: Heilige Schriften haben ihren Ursprung in längst vergangenen Zeiten und Kulturen. Theoretische Annahmen über ihre Geltung und praktische Verfahren für ihre Auslegung sind Gegenstand gelehrter Diskussion. Der Gebrauch, den einzelne Religionsgemeinschaften von ihren Heiligen Schriften machen, ist einem ständigen Wandel unterworfen. Wie lässt sich ein rechter Gebrauch von Missbrauch unterscheiden? In was für einem Verhältnis stehen Autorität und Akzeptanz, Fremdheit und Vertrautheit? Welchen Stellenwert haben Heilige Schriften im Vergleich zu Liturgie und Ritus? Die Beiträge dieses Bandes sind aus theologischer und religionswissenschaftlicher Sicht geschrieben. Sie gelten der Entstehung der Bibel, dem Verhältnis von Text und Auslegung, der Praxis des Umgangs mit der Bibel und der Kontroverse über die Bedeutung von Schriftlichkeit in einer Religion. Der wichtige religionswissenschaftliche Vergleich wird durch Beiträge zum Islam und zum klassischen griechisch-römischen Kulturraum vertreten. Eine Analyse aus literaturwissenschaftlicher Sicht gilt dem Verhältnis zwischen dem Medium Buch und dem Medium Bild. Mit Beiträgen von Andreas Bendlin, Christoph Bultmann, Josef Freitag, Albrecht Fuess, Michael Gabel, Georg Hentschel, Benedikt Kranemann, Claus-Peter März, Vasilios N. Makrides, Holt Meyer, Josef Pilvousek, Jörg Rüpke, Rupert Schaab.

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Vorlesungen des Interdisziplinären Forums Religion der Universität Erfurt

Band 3 Mahnung und Warnung Die Lehre der Religionen über das rechte Leben Herausgegeben von Christoph Bultmann, Claus-Peter März und Jamal Malik. 2006, 254 Seiten ISBN 978-3-402-00400-5, 14,80 EUR Das Zusammenleben der Menschen muss gestaltet werden. Es wächst nicht von allein. Welche Rolle spielen in diesem Prozess die Religionen? Verwalten sie wichtige ethische Ressourcen oder vertreten sie eine Sonderethik? Auch wenn alle Religionen sich um ein spezielles religiöses Anliegen gruppieren, tragen sie doch zugleich Ideale weiter, die auf Lebenserfahrung und vernünftige Reflexion zurückgehen. Sie stellen insofern eine Art moralisches Gedächtnis der Menschheit dar. Doch wie lässt sich die Lehre der Religionen auf eine fruchtbare Weise in die Gesellschaft einbringen? Mit welchen Argumenten können problematische Aspekte einer Lehrtradition überwunden werden? Im Gegensatz zu einer einseitigen Betonung autoritativer Gebote wollen die Beiträge des Bandes zu kritischer Analyse ermutigen. Mitglieder und Gäste des Interdisziplinären Forums Religion der Universität Erfurt untersuchen für die christliche Tradition Themen der Bibelauslegung, der Theologiegeschichte, der Liturgie und der Religionspädagogik. Für die jüdische Tradition wird die ethische Bedeutung von Lehre und Praxis gemäß der Halachah erläutert, für die islamische Tradition die Funktion der Grundwerte Gerechtigkeit und Gleichheit. Einen externen Bezugspunkt der Analysen zum Christentum, Judentum und Islam bilden Darstellungen der Debatte über Religion und Ethik in der antiken griechisch-römischen Kultur. Mit Beiträgen von Christoph Bultmann, Josef Freitag, Michael Gabel, Georg Hentschel, Moez Khalfaoui, Benedikt Kranemann, Gudrun Krämer, Claus-Peter März, Vasilios N. Makrides, Josef Pilvousek, Jörg Rüpke, Daniel Rynhold und Andrea Schulte.

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Vorlesungen des Interdisziplinären Forums Religion der Universität Erfurt

Band 4 Religion und Medien Vom Kultbild zum Internetritual Herausgegeben von Benedikt Kranemann, Vasilios N. Makrides und Andrea Schulte. 2007, 254 Seiten ISBN 978-3-402-00441-8, 14,80 EUR Religion ist Kommunikation: Kommunikation von Menschen mit einem transzendenten Gott oder Gottheiten, Kommunikation zwischen Menschen im Ritual, in der Seelsorge, in der religiösen Gruppe. Solche Kommunikation greift vielfach auf Medien zurück, die über das direkte Gespräch hinausgehen, nutzt die technischen Medien ihrer Zeit, von der Kultstatue bis zum Internet – und verändert diese Medien. Religion erscheint aber auch in Kommunikation, die weder religiösen Institutionen noch religiösen Rollen zugerechnet wird: im Rechtsstreit, in Berichterstattung, in Literatur oder Werbung. Mitglieder und Gäste des Interdisziplinären Forums Religion arbeiten in diesem Band beide Aspekte auf: Welches Gesicht gewinnt Religion bei der Nutzung bestimmter Medien? Welches Bild von Religion wollen die Medienproduzenten einer – je nach Medium unterschiedlichen – Öffentlichkeit vermitteln? Welche Ausschnitte und Versatzstücke religiöser Kommunikation treten so in Erscheinung und welche Öffentlichkeiten können eine besondere Affinität zu Religion herstellen? Historisch reicht das Spektrum des vorliegenden Bandes von antiken Medien wie Statuen, Münzen und Inschriften bis zum Fernsehen und Internet der Gegenwart, geographisch von West- und Osteuropa bis in die arabische Welt und nach Indien. Mit Beiträgen von Gregor Ahn, Christian Albrecht, Stefan Böntert, Sebastian Debertin, Katrin Döveling, Matthias Huff, Benedikt Kranemann, Claus-Peter März, Jamal Malik, Bettine Menke, Carola Richter, Jörg Rüpke, Katharina Waldner und Theresa Wobbe.

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Vorlesungen des Interdisziplinären Forums Religion der Universität Erfurt

Band 5 Religion – Kultur – Bildung Religiöse Kulturen im Spannungsfeld von Ideen und Prozessen der Bildung Herausgegeben von Benedikt Kranemann, Vasilios N. Makrides und Andrea Schulte. 2008, 254 Seiten ISBN 978-3-402-15845-6, 14,80 EUR Das Verhältnis von Religion und Bildung ist ein zentrales Thema der Religionsgeschichte, zugleich ein aktuelles Thema heutiger Diskussionen. Bildungskonzepte wie -institutionen der Religionsgemeinschaften stoßen auf ein neues Interesse. Die Weitergabe von Traditionen, Kritik und Erneuerung im Hinblick auf sich wandelnde kulturelle Kontexte, aber auch die Thematisierung von Religionen im wissenschaftlichen Kontext finden Interesse in der breiten Öffentlichkeit. Die Erfahrung eines pluralen religiösen Umfeldes in der modernen Gesellschaft stellt zudem die Bildungskonzepte der Religionsgemeinschaften vor neue Herausforderungen. Die Autoren untersuchen Themen der Religions-, Kirchen- und Bildungsgeschichte. Wie war das Verhältnis von Religion und Wissen im alten Rom? Wie trugen Klöster und Kirche im Mittelalter zur Bildung bei? Das Bildungsprogramm der humboldtschen Universität wird ebenso berücksichtigt wie das Verhältnis von Religion und Bildung in der Weimarer Klassik. Die Beiträge wenden sich auch Fragestellungen der Gegenwart zu, darunter: Wie tragen Religionen zur Menschenbildung bei? Welche Bedeutung besitzt die Kunst für religiöse Bildung? Gibt es religiöse Wurzeln wissenschaftlicher Pädagogik? Vor welchen Herausforderungen steht religiöse Erwachsenenbildung heute? Weitere Beiträge widmen sich der jüdischen Pädagogik und dem islamischen Religionsunterricht. Mit Beiträgen von Christian Albrecht, Peter Arlt, Christoph Bultmann, Manfred Eckert, Andreas Gotzmann, Michael Kiefer, Jürgen Manemann, Josef Pilvousek, Jörg Rüpke, Helmut Seemann, Maria Widl, Myriam Wijlens und Detlef Zöllner.

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Vorlesungen des Interdisziplinären Forums Religion der Universität Erfurt

Band 6 Religionsproduktivität in Europa Markierungen im religiösen Feld Herausgegeben von Jamal Malik und Jürgen Manemann 2009, 259 Seiten ISBN 978-3-402-15846-3, 14,80 EUR Im scheinbar säkularen Europa des 21. Jahrhunderts gewinnt Religion zunehmend in Gesellschaft und Politik an Bedeutung. Zahlreiche politisch und kulturell aktive Gruppen äußern ihre Interessen auf religiöse Art und Weise. Dazu gehören auch radikale Tendenzen. Mittlerweile ist die Rede von der Wiederkehr der Religionen fest in unserer Alltagssemantik verankert. Der Sammelband beleuchtet die gegenwärtige religiöse Gemengelage von drei Seiten: Erstens wird nach der Bedeutung von Religion im Blick auf europäische Identitätsfindungsprozesse gefragt. Zweitens werden Institutionalisierungs- und Repräsentationsprozesse religiöser Gemeinschaften in Europa veranschaulicht. Drittens wird die Permanenz des TheologischPolitischen diskutiert, nachgefragt, wie denn das Verhältnis von Religion und Politik in den gegenwärtigen Konflikten zu beurteilen ist. Dabei markieren die hier versammelten Beiträge Vergessenes, Verdrängtes, Unbekanntes im religiösen Feld. Die Einblicke wollen dazu motivieren, bisherige Diskurse in neue Konstellationen zu rücken, um Neues und Unerkanntes aufscheinen zu lassen.

Mit Beiträgen von Klaus Buchenau, Florian Grötsch, Michael Kiefer, Hans G. Kippenberg, Benedikt Kranemann, Alexandra Lason, Christof Mandry, Jürgen Manemann, Astrid Reuter, Peer Schmidt, Tilman Seidensticker und Uta Sternbach.

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Vorlesungen des Interdisziplinären Forums Religion der Universität Erfurt

Band 7 Religion und Migration Frömmigkeitsformen und kulturelle Deutungssysteme auf Wanderschaft Herausgegeben von Claudia Kraft und Eberhard Tiefensee 2011, 209 Seiten ISBN 978-3-402-15847-0, 14,80 EUR Dass das Verhältnis von Religion und Migration in jüngster Zeit stärker in den Fokus kultur- und sozialwissenschaftlicher Forschungen gerückt ist, macht deutlich: Jede Beschreibung des religiösen Pluralismus muss auch die Migration im Blick haben. Denn zu allen Zeiten stießen Entwicklungen innerhalb von Glaubensgemeinschaften oder die Beziehungen zu den von ihnen konfessionell unterschiedenen Umwelten Wanderungsbewegungen an. Selbst wenn diese nicht religiös motiviert waren, kam und kommt religiösen Überzeugungen und Praktiken häufig eine besondere Bedeutung zu. Ortswechsel, Heimatverlust und Neuanfänge verändern die Weltdeutung, lassen überkommene institutionelle Regelungen und Frömmigkeitsformen fraglich werden, bringen verschiedene Strategien hervor, sich in neuen sozialen, politischen und ökonomischen Kontexten zu verorten. Die gegenwärtige Situation in Europa macht deutlich, wie durch Migrationsprozesse religiöse Landkarten in Bewegung geraten können, scheinbar eindimensional verlaufende Entwicklungen (wie etwa die Säkularisierung) vielfältigen Transformationen unterliegen und im Ergebnis die öffentliche Sichtbarkeit des Religiösen verstärkt wird. Damit wird die Frage aufgeworfen, wie Migranten einerseits und die „Aufnahmegesellschaften“ andererseits religiös begründete Unterschiedlichkeiten und Fremdheiten reflektieren und welchen Stellenwert religiöse Zuschreibungen im politischen Diskurs erhalten. Mit Beiträgen von Hannes Bezzel, Stefan Böntert, Josef Freitag, Jürgen Manemann, Holt Meyer, Vasilios Makrides, Eckehard Peters, Klaus-Bernward Springer und Martina Thomsen.

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