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German Pages [197] Year 2018
Harry H. Behr / Frank van der Velden (Hg.)
Religion, Flucht und Erzählung Interkulturelle Kompetenzen in Schule und sozialer Arbeit mit Geflüchteten
Mit 3 Abbildungen
V&R unipress
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-7370-0702-3 Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de Gefördert aus Mitteln des Landes Hessen im Rahmen von HESSENCAMPUS. © 2018, V&R unipress GmbH, Robert-Bosch-Breite 6, D-37079 Göttingen / www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Titelbild: Fluchtursache: Lebensgefahr. Graffiti an der Wand der American University in Cairo im Jahr 2012. © Frank van der Velden.
Inhalt
Grußwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Teil I – Interreligiöse Kompetenz in Schule und sozialer Arbeit Martin Lechner Plädoyer für eine religiöse Erziehung und Bildung als öffentlichem Anliegen in postsäkularer Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Klaus-Dieter Grothe Alles Trauma? Psychische Störungen bei unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen zwischen Trauma, Flucht und Neuanfang . . . . . . . . . . .
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Jette van der Velden Bildungserfahrungen, Flucht und schulischer Erfolg. Zur schulischen Betreuung von minderjährigen Geflüchteten im Grundschulalter . . . . .
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Sebastian Hofmann Neues vom Uranus. Über die Chancen (inter-)religiöser Kompetenzen in Einrichtungen zur Betreuung unbegleiteter minderjähriger Ausländer*innen (umA) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Frank van der Velden / Harry H. Behr Qualitätsmerkmale für Fortbildungen im interreligiösen Kompetenzbereich. Ergebnisse aus drei Hessencampus-Projekten (2015– 2017) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhalt
Teil II – Narrativität und Flucht Harry Harun Behr Vom Koran und der Kunst des Erzählens. Muslimische Erinnerungsgemeinschaft und narrative Identität . . . . . . . . . . . . . . 103 Uta Pohl-Patalong Wenn biblische und biografische Fluchtgeschichten sich verweben. Bibliolog als Raum für Fluchterfahrungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 Christiane Krüger-Blum Biografisches Theater: Ausblicke, Einblicke und Perspektiven zur kreativ-narrativen Be- und Verarbeitung von Lebensgeschichte(n) im Kontext von Flucht und Migration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 Frank van der Velden Wenn Geflüchtete von der Religion erzählen. Narrative Interviews zu interreligiösen Ressourcen in Syrien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 Liste der Beitragenden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195
Grußwort
Lebenslanges Lernen kann die Grenzen zwischen ehrenamtlicher und professioneller Weiterbildung übersteigen. Das gilt besonders dort, wo uns die Integration von Geflüchteten und ihren Kindern in die sozialen und schulischen Institutionen unseres Landes zu neuen Methoden und Kooperationen herausfordert. Im täglichen Kontakt mit Geflüchteten sind nicht zuletzt auch interkulturelle Kompetenzen notwendig. Auf diesem Gebiet ist der ›Faktor Religion‹ – auch und gerade durch die mediale Thematisierung – bei vielen ehrenamtlichen und professionellen Flüchtlingshelfer*innen mit Vorbehalten und eigenen Unsicherheiten belastet. Vor Ihnen liegt eine Arbeitshilfe, die in diesen Bereich hinein wirken und Kompetenzen für den kreativen Umgang mit unterschiedlichen religiösen Lebenspraktiken als Teil des professionellen Auftrags von haupt- und ehrenamtlichen Flüchtlingshelfer*innen vermitteln soll. Diese Arbeitshilfe ist das Ergebnis innovativer Hessencampus-Projekte, welche die Katholische Erwachsenenbildung (KEB) Hessen e.V. in Kooperation mit der Goethe-Universität Frankfurt a.M. und Hessencampus Wiesbaden in den Jahren 2015 und 2016 durchgeführt hat. Im Rahmen der KEB Hessen ist es ein zukunftsweisendes und vielleicht auch provozierendes Projekt: Weil die KEB sich hiermit den Mut zur Auseinandersetzung, zu Wahrhaftigkeit in einem offenem Diskurs und zur gegenseitigen Wertschätzung zutraut und in der aktuellen gesellschaftlichen Debatte deutlich Position bezieht – es geht nur in einem Miteinander der Religionen! So bin ich einerseits dankbar für die Idee und Durchführung der Projekte – namentlich Prof. Dr. Harry H. Behr von der Goethe-Universität Frankfurt, sowie Frau Jette van der Velden und Dr. Frank van der Velden – andererseits für die Kooperation von Hessencampus Wiesbaden und Nicole Möhlenkamp, sowie dem Hessischen Kultusministerium für die finanzielle Förderung. Ich bin der festen Überzeugung, dass dieses Projekt weitere Kreise ziehen wird und dass die vorliegende Arbeitshilfe an den Orten sozialer und pädagogischer Arbeit mit Geflüchteten gut rezipiert werden wird. Frankfurt, den 24. 05. 2018
Johannes Oberbandscheid Vorsitzender KEB Hessen e.V.
Einleitung
Religion im Kontext der aktuellen Zuwanderung von Geflüchteten Der »Faktor Religion« in den Handlungsfeldern der sozialen Arbeit und der schulischen Pädagogik hat seit dem Jahr 2014 durch die Zuwanderung muslimischer und christlicher Geflüchteter aus den kulturell und religiös aufgeladenen Konflikten im Nahen Orient und Nordafrika eine starke Aktualisierung erfahren. Andererseits sind bereits einige Publikationen erschienen, die sich mit dem Themenbereich der Religion in der sozialen Arbeit vor dieser gesellschaftlichen Entwicklung auseinandersetzen.1 Trotzdem sind interreligiöser und interkultureller Kompetenzerwerb in der akademischen und professionellen Ausbildung von Sozial- und Schulpädagog/innen immer noch unterrepräsentiert. Dieses Buch reflektiert diesbezüglich die Möglichkeiten einer berufsfeldspezifischen Fort- und Weiterbildung, die vor allem Konzepte der offenen Arbeit mit ehrenamtlichen Helfenden, mit Familienangehörigen und mit Alliierten im sozialen Umfeld der Institutionen und Schulen einbezieht. Grundlage dieser Arbeitshilfe sind drei gemeinsame Hessencampus-Projekte der Katholischen Erwachsenenbildung (KEB) Hessen e.V. und der Goethe-Universität Frankfurt aus den Jahren 2015 bis 2017, in denen übergreifende Qualitätsmerkmale und Standards für solche Fort- und Weiterbildungen im interreligiösen Handlungsfeld erarbeitet wurden.2 Diese werden seitdem im berufsfeldspezifischen Fortbildungsbetrieb erprobt. Es geht dabei um einen Kompetenzerwerb, der zur Arbeit in religiös und kulturell vielfältigen Teams von Haupt- und Ehrenamtlichen befähigt. Den Eigenorganisationen der Migrierten und Geflüchteten als Allianzpartnern im sozialen Raum kommt dabei eine besondere Bedeutung zu.
1 Freise / Korchide 2011; Lutz / Kiesel 2016; Nauerth / Hahn / Tüllmann / Kösterke 2017; Freise 2017. 2 Diese Projekte sind dokumentiert in: Behr / van der Velden 2017, sowie in dieser Arbeitshilfe.
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Einleitung
Die Notwendigkeit solcher Fortbildungen wird mittlerweile auf den Ebenen des Bundes3 und der Länder eingefordert. So zählt der Weiterbildungspakt des Landes Hessen für die Jahre 2017 bis 2020 die Förderung interkultureller Kompetenzen zu seinen Zielen.4 In den Handlungsfeldern dieses Zielbereiches (Kapitel III, Absatz 2) wird ausdrücklich auch die Förderung der interreligiösen Kompetenz zur Stärkung resilienten Verhaltens bei Konfliktprävention und Konfliktlösungen benannt: »Vor dem Hintergrund der aktuellen gesellschaftlichen Entwicklung steigt die Bedeutung nicht nur der interkulturellen, sondern auch der interreligiösen Kompetenz für die Arbeit in Bildungseinrichtungen und sozialen Institutionen. Im Rahmen des Weiterbildungspaktes sollen entsprechende Fortbildungen etabliert werden mit dem Ziel, die Potentiale religiöser Menschen zur Stärkung von Resilienz sowie in der Konfliktprävention und bei der Problemlösung zu aktivieren.«5
Ein ressourcenorientierter Blick auf die Religion Wie die meisten der genannten aktuellen Publikationen geht auch dieser Sammelband von einem ressourcenorientierten Blick auf die Religion aus, den z. B. Martin Lechner am Beispiel der religionssensiblen Erziehung im Bereich der Jugendhilfe formuliert hat: »Religionssensible Erziehung zielt auf die Lebensfähigkeit junger Menschen, nicht auf ihre Konfessionalität. In der Religionssensiblen Erziehung geht es um eine religiöse Sensibilisierung und Alphabetisierung, um Heranwachsende zu befähigen, die religiöse Kultur zu verstehen, sich im religiösen Pluralismus zu orientieren, ethische Konfliktsituationen gut zu lösen und Krisensituationen des Lebens zu bewältigen.«6
Wenn dieses monitum in das interreligiöse und interkulturelle Handlungsfeld im Kontext der sozialen Arbeit und der Bildungsarbeit mit Geflüchteten übertragen wird, ergeben sich in der Fortbildungspraxis drei Fragen, die bei der Einordnung vieler Problem- und Konfliktsituationen helfen: 1. Welche religiösen Ressourcen bringen Geflüchtete aus ihren Herkunftsländern mit?
3 Auf der Bundesebene hat die Kultusministerkonferenz bereits 2013 einen entsprechenden Kompetenzerwerb an den Schulen gefordert (Deutsche Kultusministerkonferenz 2013). 4 Hess. Kultusministerium 2016. Vgl. Weiterbildungspakt Kapitel II, Absatz 2. (Integration, Inklusion, Teilhabe und Chancengerechtigkeit fördern). 5 Hess. Kultusministerium 2016. Weiterbildungspakt für die Jahre 2017 bis 2020, Kapitel III, Absatz 2. 6 Zitat aus einem Vortrag von M. Lechner am 09. 05. 2015 in Wiesbaden (vgl. Lechner 2009, hier S. 11–29).
Einleitung
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2. Welches Bildungs- und Sozialsystem sind Geflüchtete aus ihren Herkunftsländern gewohnt? 3. Welche individuellen Erfahrungen, evtl. Traumatisierungen verarbeiten Geflüchtete, wenn sie religiöse Bedarfe äußern? Die erste Frage hilft, den eigenen Blick über die mediale Berichterstattung der aktuellen Krise hinaus zu weiten. Häufig bringen Geflüchtete auch gute Erfahrungen aus einem funktionalen Zusammenleben von Menschen verschiedener ethnischer, kultureller und religiöser Gruppierungen in ihrem Herkunftsland mit, meist aus der Zeit vor der aktuellen Krise. Um eine religiöse Ressource zu aktivieren, muss ein Grundwissen über religiöse Lebenspraktiken in den Herkunftsländern auch aus den Zeiten der ›Normalität‹ und nicht nur aus Krisenzeiten vermittelt werden. Die zweite Frage hilft, das eigene professionelle Handwerkszeug den Voraussetzungen Geflüchteter besser anzupassen. Konflikte sind überwiegend polyvalent, und wo Lehrer-Schüler-Verhältnisse oder Bildungsvorstellungen divergieren, liegt meist ein pädagogisches Problem vor. Auch dort, wo solche Probleme kulturell oder religiös konnotiert erscheinen, müssen sie daher primär pädagogisch angegangen werden – wenn auch (inter-)kulturell und (inter-)religiös kompetent. Konflikte sollten also nicht ohne Not kulturalisiert oder religionisiert werden, auch um die Lösungskompetenz im Bereich der eigenen Professionalität zu behalten. Ein entscheidendes Erfordernis ist in diesem Segment, die vorhandenen Regelsysteme zu stärken und nicht dadurch zu schwächen, dass disparate Unterstützungsstrukturen errichtet werden, die dann nicht in die Regelsysteme überführt werden und deren spezifische Expertise dann unweigerlich verloren geht. Gleiches gilt für die dritte Frage. In der Trauer- und Traumaverarbeitung spielt die Aktivierung religiöser Ressourcen für viele Geflüchtete eine wichtige Rolle. Doch ist auch hier die psychische Widerstandsfähigkeit vor allem davon abhängig, wie sie durch sichere Lebensbedingungen, anschlussfähige Routinen und Beziehungen im Ankunftsland gestützt wird. Wiederum geht es um eine – (inter-)kulturell und (inter-)religiös kompetente – pädagogische Gestaltung solcher Probleme. Unsere Fort- und Weiterbildungen im sozialen und pädagogischen Handlungsfeld werden von den Teilnehmenden dann als besonders hilfreich wahrgenommen, wenn sie von diesem Grundverständnis ausgehend handlungsorientierte Lösungsansätze vermitteln. Die einzelnen Beiträge im ersten Teil dieser Arbeitshilfe reflektieren diese Perspektiven in interdisziplinären Zusammenhängen und vor der beruflichen Praxis der genannten Zielgruppen.
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Einleitung
Flucht, Migration und Integration narrativ bearbeiten Im zweiten Teil richtet die Arbeitshilfe ihren Blick auf die Geflüchteten und Migrierten selber mit dem Ziel, ihren Erfahrungen aus der Zeit vor, während und nach der Migration Gehör zu verleihen und dabei auch ihren religiösen und kulturellen Ressourcen Rechnung zu tragen. Damit kann eine wichtige Veränderung im Eigenbild und im Außenbild von Geflüchteten und Migrierten einhergehen, das anstelle von stereotypen Rollenzuschreibungen auf Empowerment und kulturelle Teilhabe setzt. Auf den ersten Blick scheinen Geflüchtete nur Problemgeschichten zum Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher Religionszugehörigkeit beizusteuern. Dabei bringen viele Geflüchtete auch Erfahrungen mit einem über lange Zeiten gedeihlichen und erfolgreichen Zusammenleben vor der erlebten Krise mit. Dazu gehören eigenständige Modelle und Kompetenzen für ein funktionierendes interreligiöses Miteinander, aber auch zur Bewältigung der aktuellen Krise, an denen sie unter bestimmten Bedingungen bei ihrer Integration in Deutschland anknüpfen können.
»Rettet Eure guten Geschichten!« Weltweit und mit Blick auf die Menschheitsgeschichte ist Wanderung der Normalfall, nicht der Sonderfall. Das Thema zieht sich durch die Literatur, von der hellenistischen Antike über die religiösen Zentralschriften bis hin in die heutige Zeit. Das mit ihr gegebene Moment der Bewegung, der Begegnung und der Kommunikation ist der Motor für kulturelle Entwicklung. Aber hinter jeder Wanderung eines Menschen steckt seine Geschichte, die erzählt werden will. Was Flucht und Vertreibung angeht, verschärfen sich die mit ihnen verbundenen Erfahrungen, Hoffnungen und Gefühle. Die Geschichten gewinnen an Dramatik. Manchmal so sehr, dass sie auf Grund der gegebenen Verletzungsoffenheit nicht auf Anhieb erzählt werden können. Gerade deshalb erweisen sich die vielfältigen Aspekte von Narrativität als wesentlicher Schlüssel, mit Fluchterfahrung zurecht zu kommen und Orientierung zu gewinnen. Die Beiträge im zweiten Teil dieser Arbeitshilfe erschließen solche »rettende Geschichten« und »Geschichten, die gerettet werden müssen« aus bildungswissenschaftlicher, philosophischer und theologischer Perspektive und geben Vorschläge zur praktischen Umsetzung im Gespräch mit Geflüchteten und Migrierten, aber auch in der Form des Biographischen Theaters oder des Bibliologs.
Einleitung
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Der Aufbau dieser Arbeitshilfe (Teil 1) Sozial- und Schulpädagog/innen sollen dazu befähigt werden, das Potenzial und das Risiko religiöser Lebenspraktiken einzuschätzen und diese Ressourcen wertschätzend in das eigene professionelle Handeln zu integrieren. Und sie sollen dafür sensibilisiert werden, dass die Verweigerung vor der religiösen Frage allein auch noch kein Nachweis guter sozialpädagogischer Professionalität ist. Eine gute Praxis im Umgang mit Religion und kultureller Vielfalt ist auch dort vonnöten, wo Betreuende oder soziale Einrichtungen selber keiner religiösen Orientierung angehören. In diesem Sinne fordert der Beitrag von Martin Lechner eine religionssensible Erziehung als Teil des allgemeinen Bildungsauftrags, im Sinne der Befähigung zum Umgang und zur Begegnung mit religiöser Pluralität, zur besseren Bewältigung von persönlichen Krisen und ethischen Konfliktsituationen. Dies betrifft die soziale Arbeit mit Geflüchteten, aber auch die schulische Pädagogik allgemein – gerade auch jenseits der Fragen einer konfessionalisierten religiösen Unterweisung. Sozial- und Schulpädagog/innen sollen dazu befähigt werden, möglichen traumatischen Belastungen ihrer Klient/innen oder Schüler/innen angstfrei pädagogisch zu begegnen. Der Beitrag von Klaus-Dieter Grothe stellt aus der Perspektive eines Jugendpsychiaters eine sozialpsychologische Trauma-Definition zur Debatte und verweist auf die Förderung hin zu Resilienz im Sinne von Belastbarkeit und Widerstandfähigkeit durch das familiäre und soziale Umfeld. Bei unbegleiteten minderjährigen Ausländer/innen [in der Folge umA] stehen die Sicherheit des eigenen Aufenthalts vor Abschiebung und nicht zuletzt die Schulbildung und die Integration in den Arbeitsmarkt im Vordergrund der erfolgreichen Bewältigung einer posttraumatischen Belastungsstörung [PTBS]. Entscheidend ist in diesem Sinne, was nach der Belastungssituation geschieht. Sozial- und Schulpädagog/innen sollen dazu befähigt werden, die Situation in den Herkunftsländern der Geflüchteten in ihrer Bedeutung für die eigene Praxis angemessen einzuschätzen. Erwartungen an Bildungs- und Sozialsysteme sowie Vorstellungen von einer guten Lehrer-Schüler-Beziehung oder einer guten sozialen Betreuung7 sind häufig kulturell unterschiedlich. Was aber macht einen guten Lehrer, eine gute Schule z. B. in Syrien aus? Der Beitrag von Jette van der Velden setzt dies für die schulische Betreuung im Grundschulbereich um, indem sie exemplarische Bildungskarrieren von Kindern Geflüchteter vor dem Horizont der Schulsysteme, Bildungserfahrungen und -erwartungen ihrer Herkunftsländer vergleicht. Dadurch ergeben sich Empfehlungen für die individuelle schulische Förderung dieser Kinder, aber auch auf für eine gelingende Elternarbeit.
7 Vgl. hierzu die sehr instruktive Arbeit von Aylin Yanik-Senay (2018).
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Einleitung
Sozial- und Schulpädagog/innen sollen dazu befähigt werden, in religiös und kulturell vielfältigen interdisziplinären Teams zu arbeiten und so die eigenen Orte, Routinen und Beziehungen multiperspektivisch zu gestalten. Dieser religions- und kultursensible Bildungsauftrag mit Perspektive auf religiös gemischte Teams von Betreuenden wird von Sebastian Hofmann in die praktische soziale Arbeit in betreuten Wohngruppen mit unbegleiteten minderjährigen Ausländer/ innen (umA) überführt, bis hin zur Gestaltung von religionssensiblen Projekten, von »Welcome packages« oder eines »Alle-Welt-Raumes«.
Der Aufbau dieser Arbeitshilfe (Teil 2) Der Beitrag von Harry H. Behr nimmt die »schlimme Fahrt« der aus drückendem Unrecht Geflüchteten (vgl. Koran 4:97–99) zum Anlass einer grundsätzlichen hermeneutischen Darlegung identitätsstiftender Narrative, wie sie sich in der Erzählstruktur und in den Auslegungstraditionen des Korans finden. Der Bogen spannt sich vom »Koran als Erzähler« über die kita¯ba-Debatte der klassischen islamischen Periode bis hin zu Fragen der heutigen Selbstpositionierung junger Muslim*innen vor den verschiedenen Schriftsinnen des Korans. Der Beitrag von Uta Pohl-Patalong fragt nach den Bedingungen, biblische Fluchtgeschichten zwischen Aufbruch (Gen 12), Gefährdung und Rettung auf dem Weg (Ex 16) und der Dichotomie von Ankommen und Rückkehr (Ruth 1) mit der Methode des Bibliologs zu den eigenen Lebensgeschichten und evtl. Fluchterfahrungen ins Verhältnis zu setzen. Letztlich offen bleibt die Frage, ob sich dieser Bibliolog – ohne übergriffig zu werden – auch an Menschen anderer Religionszugehörigkeit richten kann oder ob diese Methode auch für Traditionstexte anderer Religionen angemessen erscheint. Der Beitrag von Christiane Krüger-Blum reflektiert dagegen die Bedingungen, Migrations- und Fluchterfahrungen mit den Möglichkeiten des Biografischen Theaters zu ver- und zu bearbeiten. Das Theaterprojekt »Improlotsen« in der hessischen Gemeinde Hattersheim besteht aus ehrenamtlichen Flüchtlingshelfenden, die häufig selber eine zweite oder dritte kulturelle Zugehörigkeit besitzen. Die Inszenierung und Aufführung der improvisierten Szenen können beim Publikum eine Auseinandersetzung mit den eigenen Bildern, Stereotypen und Vorurteilen zu Flucht und Migration anstoßen. Bereits im ersten Teil dieser Arbeitshilfe wurde auf die Notwendigkeit hingewiesen, solche interreligiöse Kompetenzen von Klient/innen und Schüler/ innen wahrzunehmen, welche diese in ihren Herkunftsländern erworben haben. Der Beitrag von Frank van der Velden holt dieses nun nach und zeigt anhand von leitfadengestützten Interviews mit Geflüchteten solche Ressourcen auf, die in den Herkunftsländern an den Lernorten Familie, Nachbarschaft, Schule und
Einleitung
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Gesellschaft erworben wurden. Der Artikel weist aber auch darauf hin, welche religionsbezogenen Entwicklungsschritte Kinder von Geflüchteten häufig nicht mehr machen, wenn sie diese spezifischen Konzepte des Zusammenlebens mit Menschen anderer Religion aufgrund von Krieg und Gewalt nicht mehr kennenlernen.
Interreligiöse Kompetenzen und Narrativität im sozialen und pädagogischen Handlungsfeld (Sozial-)pädagog/innen müssen also keine Spezialisten im interreligiösen Dialog werden. Auch hier gilt die Regel, dass kognitives Wissen allein zum ›toten Wissen‹ wird, wenn ich es nicht auf mich selbst beziehen (relationieren), einen verantworteten eigenen Standpunkt dazu entwickeln (differenzialisieren) und so in mein eigenes pädagogisches Handlungskonzept integrieren kann.8 So bringt es unseren Zielgruppen für ihre tägliche Arbeit wenig, wenn sie von spezialisierten Theolog/innen über (inter)religiöse Tatbestände belehrt werden, dann aber im eigenen Arbeitsalltag auf Klient/innen oder Schüler/innen treffen, die aus kulturellen Traditionen oder individuellen Entscheidungen eine ganz andere religiöse Lebenspraxis für richtig halten. In dieser Situation beginnt der Weg zum interkulturellen oder interreligiösen Kompetenzerwerb beim handelnden Individuum. Wie in jeder anderen pädagogischen Profession muss zuallererst Rechenschaft über die subjektive Ethik abgelegt werden. Für jeden Einzelnen wie auch für das Kollektiv des Teams gilt, eine stetige Selbstbeobachtung einzuüben. Dazu gehört die Bearbeitung der Frage, welche kulturellen oder religiösen Werte und Verhaltensweisen als zur ›Normalität‹ zugehörig gelten, und ob es diesbezüglich möglich ist, Multiperspektivität nicht nur zu dulden, sondern selbst zu leben und zu fördern und damit zu einem Toleranzbegriff zu gelangen, der auf Wertschätzung beruht. In diesem Zusammenhang kommt es auch darauf an, sich der eigenen oft impliziten Differenz- und Defizithypothesen bewusst zu werden, was die Wahrnehmung, die Markierung und die Einordnung des vermeintlich ›Anderen‹ angeht. Daher muss zum Wissen über die Religion – die eigene wie die der anderen – auch die souveräne Begegnung mit der legitimen Pluralität religiöser Meinungen in der Person des anderen treten. Dies gilt als Grundregel für die Arbeit in religiös und kulturell gemischten Teams, aber auch gegenüber den zu Betreuenden im eigenen Arbeitsfeld. Dazu gehört neben einer gesunden Portion Neugier auf jede 8 Die Freiburger Religionspädagogin Mirjam Schambeck spricht in diesem Zusammenhang von der Diversifizierungskompetenz und der Relationierungskompetenz (vgl. Schambeck 2013, hier S. 161f.).
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Einleitung
menschliche Begegnung auch die grundsätzliche Freude an der Vielfalt der religiösen Äußerungsmöglichkeiten meiner Schüler/innen und Klient/innen.9 Das eigene Erzählen – und die damit einhergehenden Notwendigkeiten eines spielerischen Selbstentwurfs – zählt dabei zu den Schlüsselelementen der religiösen Selbstfindung und religionsbezogenen Selbstverortung in den prekären Fährnissen von Aufbruch, Flucht und Ankommen. Anders gesagt: Wenn Sozialund Schulpädagog/innen den individuellen religiösen Ressourcen und Risiken ihrer Schüler/innen und Klient/innen begegnen und sie für ihre berufliche Praxis nutzbar machen wollen, dann müssen die Geflüchteten und Migrierten in den Schulen und sozialen Einrichtungen auch Orte, Routinen und Beziehungen vorfinden, in denen sie sich zutrauen, von sich selber, von Freunden, guten Nachbarn und eigenen Hoffnungen, aber auch von Gegnern und Gefahren zu erzählen. Nur dann können auch »Gute Geschichten« erinnert werden und für den Einzelnen wie für das Zusammenleben wirken.
Literatur Deutsche Kultusministerkonferenz: Interkulturelle Bildung und Erziehung in der Schule, 1996, Neuauflage 2013. Freise, Josef: Kulturelle und religiöse Vielfalt nach Zuwanderung. Theoretische Grundlagen – Handlungsansätze – Übungen zur Kultur- und Religionssensibilität, Schwalbach/Ts. 2017. Freise, Josef / Korchide, Mouhanad: Interreligiösität und Interkulturalität. Herausforderungen für Bildung, Seelsorge und Soziale Arbeit im christlich-muslimischen Kontext, Münster 2011. Hessisches Kultusministerium: Weiterbildungspakt für die Jahre 2017 bis 2020, Wiesbaden 2016 (https://kultusministerium.hessen.de/sites/default/files/media/hkm/ weiterbildungspakt_gezeichnet.pdf, letzter Zugriff am 12. 2. 2018). Hull, John: Die Gabe an das Kind, in: ders.: Glaube und Bildung. Ausgewählte Schriften Bd. 1, Berg am Irchel/CH 2000. Lechner, Martin: Religionssensible Erziehung, München 2009. Lutz, Ronald / Kiesel, Doron (Hrsg.): Sozialarbeit und Religion. Herausforderungen und Antworten, Weinheim und Basel 2016. Nauerth, Matthias / Hahn, Kathrin / Tüllmann, Michael / Kösterke, Sylke (Hrsg.): Religionssensibilität in der Sozialen Arbeit. Positionen, Theorien, Handlungsfelder, Stuttgart 2017. Schambeck, Mirjam: Interreligiöse Kompetenz, Göttingen 2013. 9 Einer der Gründerväter des interreligiösen Lernens, John Hull, hat es folgendermaßen ausgedrückt: Zum learning religion (dem Erlernen von Religion) müssen gleichberechtigt das learning about religion (das Lernen über religiöse Tatbestände) und das learning from religion (das Lernen aus und in der Begegnung mit dem einzelnen Gläubigen) treten (vgl. Hull 2000, hier S. 152f.).
Einleitung
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Van der Velden, Frank / Behr, Harry H.: »Geisenheimer Standards« für Fortbildungen im interreligiösen Kompetenzbereich, in: dies. / van der Velden, J. (Hrsg.): Dokumentation des Hessencampus-Projekts »Geflüchtete in Schule und sozialer Arbeit«, 2017, S. 15–21 (https://www.keb-hessen.de/impressum/keb-dokumentation-geflüchtet, letzter Zugriff am 12. 2. 2018). Yanik-Senay, Aylin: Familienberatung in muslimischen Migrantenorganisationen: Zielgruppenspezifische Beratungsbedürfnisse und Konzeption, Springer-Verlag 2018.
Teil I – Interreligiöse Kompetenz in Schule und sozialer Arbeit
Martin Lechner
Plädoyer für eine religiöse Erziehung und Bildung als öffentlichem Anliegen in postsäkularer Zeit
Jüngst erst – im Sommer 2017 – erregte die Meldung Aufsehen, dass das Land Luxemburg den konfessionellen Religionsunterricht zum Schuljahresbeginn sukzessive abschaffen wird, zunächst in den weiterführenden Schulen, ab 2018 dann auch in den Grundschulen. An dessen Stelle wird es künftig einen einheitlichen Werteunterricht als Pflichtfach für alle geben. In diesem neuen Fach ›Leben und Gesellschaft‹ lernen Schülerinnen und Schüler unterschiedlicher Konfessionen und solche ohne Konfession gemeinsam, indem sie sich mit Lernfeldern wie Ich, Mensch, Natur und Technik, Ich und die anderen, Kultur und Kommunikation, Lebensform sowie Welt und Gesellschaft auseinandersetzen. Dabei geht es um zentrale Inhalte des Lebens und Zusammenlebens wie Kulturen, Weltreligionen, Arbeit, Liebe, Sexualität, Gewalt und anderes mehr! Hauptsächliches Ziel ist es, die Toleranz unter Menschen unterschiedlicher Weltanschauungen und Herkunft zu fördern. Private Schulen dürfen zwar weiterhin einen Religionsunterricht als konfessionelles Wahlfach anbieten, aber zusätzlich und nicht als Ersatz für den Werteunterricht.1 Demgegenüber haben die katholischen Bischöfe Deutschlands2 im November 2016 sowie das Zentralkomitee der Deutschen Katholiken3 im Mai 2017 erneut für den konfessionellen Religionsunterricht an öffentlichen Schulen eine Lanze gebrochen. Zwar nimmt man – wie dies auch in Luxemburg als Begründung geschah – die gesellschaftlichen Veränderungen der beiden vergangenen Jahrzehnte wahr, insbesondere die veränderte religiöse Zusammensetzung der Bevölkerung wie der Schülerschaft, doch will man auch künftig die bekenntnisgebundene Gestalt des Religionsunterrichts beibehalten, wie er im Grundgesetz (Art. 7 Abs. 3) abgesichert ist. Er sei heute »nötiger denn je.«4 Allerdings will man 1 Luxemburg schafft den Religionsunterricht ab, in: Die Welt vom 20. 09. 2016. Quelle: https:// www.welt.de/politik/ausland/article158270310/Luxemburg-schafft-den-Religionsunterrichtab.html (Stand: 11. 9. 2017). 2 Die deutschen Bischöfe 2016. 3 Zentralkomitee der deutschen Katholiken 2017. 4 Ebd., S. 4.
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Martin Lechner
ihn weiterentwickeln, und zwar ökumenisch-kooperativ und dialogisch mit anderen Religionen, zugleich aber auch »passgenau (…) für die jeweiligen Gegebenheiten vor Ort«5 und in Vernetzung mit anderen außerschulischen Lernorten. Einer Ersetzung dieses bekenntnisorientierten Religionsunterrichts durch ein bekenntnisfreies Fach Religionskunde will man nicht nur auf bundesdeutscher, sondern auf europäischer Ebene entschieden entgegen treten.6 Allerdings gibt es durchaus auch im katholischen Raum Stimmen, die nach neuen Modellen des Religionsunterrichts Ausschau halten.7 Der Streit um die künftige Form der religiösen Erziehung und Bildung der jungen Bürger/-innen in unserer Gesellschaft ist also voll im Gange. Die Gründe dafür liegen vor allem in der – gegenüber der Nachkriegszeit – heute sehr gewandelten konfessionellen Landschaft8, zweitens in der neuen Präsenz des Islam in der westlichen Kultur infolge der Arbeits- und Fluchtmigration9 und drittens in einer Wiederwahrnehmung von Religion als gesellschaftlichem Faktum und subjektivem Tatbestand in einer postsäkularen Gesellschaft10. Wenn auch die 5 Ebd., S. 10. 6 Dieser Position haftet meines Erachtens trotz der vorsichtigen Öffnung des Religionsunterrichts auch für Nichtchristen weiterhin eine doppelte Schwäche an: (1.) die vorausgesetzte Bekenntnisorientierung des RU und die damit gegebene Aufspaltung des Klassenverbandes entsprechend der religiösen Bekenntnisse der Schülerinnen und Schüler einerseits (was schulorganisatorische Probleme aufwirft); und (2.) der Ausschluss von konfessionsfreien Schülern/-innen von einer religiösen Bildung. Ihnen bleibt das Pflichtfach Ethik als meines Erachtens dürftiger Ersatz für einen Unterricht in Sachen Religion(en) vorbehalten. 7 So schlägt etwa der katholische Religionspädagoge Ulrich Kropac vor, »den Religionsunterricht in der Schule in einen Religionsunterricht für alle und einen ökumenischen bzw. konfessionellen Religionsunterricht aufzuteilen.« (Kropac 2007, hier S. 66.) 8 Gehörten im Jahre 1950 noch 95,6 % der Bundesbürger/-innen der katholischen (36,7 %) oder evangelischen (58,9 %) Kirche an, so sind dies derzeit kaum mehr als 56 % der Gesamtbevölkerung (28,9 % Katholiken, 27,1 % Protestanten). Demgegenüber ist die Zahl der konfessionsfreien Bürger/-innen im Jahr 2015 auf 36 % gestiegen. Die Zahl der Muslime wird mit 4,4 % und die anderer religionsgemeinschaftlicher Zugehörigkeiten auf 3,6 % beziffert. Vgl. Forschungsgruppe Weltanschauungen in Deutschland: Religionszugehörigkeiten in Deutschland (2015). 9 Das Diktum des vormaligen Bundespräsidenten Christian Wulff »Der Islam gehört zu Deutschland« hat bis hinein in die Parteipolitik heftige Reaktionen ausgelöst und vielfach Ablehnung erfahren. Meines Erachtens ist es angemessener, davon zu sprechen, dass ›Menschen islamischen Glaubens‹ zu Deutschland gehören, weil sie hier geboren oder zugewandert sind, weil sie hier sich zuhause fühlen, vielfach die deutsche Staatangehörigkeit besitzen und ihren Glauben privat wie gemeinschaftlich-öffentlich leben können. 10 Entgegen der Säkularisierungsthese hat Jürgen Habermas prognostiziert, dass künftig die Religion nicht bloß ein vorübergehendes Gastrecht im Haus der säkularen Gesellschaft haben wird, sondern vollständige Bürgerrechte. Mehr noch: Ihr wächst sogar die Rolle eines möglichen Bündnispartners der rationalen Vernunft zu, die heute gegen eine entgleisende Moderne ankämpft, in der die Fundamente des liberalen Rechtsstaats (Menschenrechte, Gewissensfreiheit, Religionsfreiheit, Pressefreiheit, Toleranz gegen Fremde, etc.) bedroht sind. Vgl. Habermas, Jürgen: Glauben und Wissen. Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2001.
Plädoyer für eine religiöse Erziehung und Bildung als öffentlichem Anliegen
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pädagogische Auseinandersetzung sich zuvörderst im Lern- und Bildungsort der Schule abspielt, so tangiert sie doch auch andere institutionelle Orte der Erziehung und Bildung, etwa die Kindertagesstätten11 oder die Kinder- und Jugendhilfe12 oder die Erwachsenenbildung.13 So sehr hier einerseits die obige Ansicht des Zentralkomitees der deutschen Katholiken geteilt wird, dass ein »Religionsunterricht nötiger denn je« sei, so sehr wird doch auch die Überzeugung vorgetragen, dass zwischen einer bekenntnisfreien religiösen (Grund-)Bildung für alle als öffentlichem Anliegen einerseits und einer konfessionellen Glaubensbildung als Aufgabe der Religionsgemeinschaften andererseits zu unterscheiden ist. Die folgenden Überlegungen sollen diese Ausgangsthese näher begründen und erläutern.
1.
Religion als Teil der Kultur
Der Wissenschaftsjournalist Rüdiger Vaas und der Religionswissenschaftler Michael Blume kommen in ihrem Buch »Gott, Gene und Gehirn: Warum Glaube nützt – Die Entwicklung der Religiosität«14 zu dem Ergebnis, dass Religion ein zentraler Bestandteil aller menschlichen Kulturen ist. Es gäbe nahezu keine religionslose Gesellschaft auf der Welt. Mit dieser ihrer Überzeugung stehen die Autoren keineswegs alleine. So unterstreicht etwa der Jenaer Kulturwissenschaftler Jürgen Bolten den unauflöslichen und prägenden Zusammenhang von Religion und Kultur mit folgendem Satz: »Ohne Religion und Religionen, ohne deren Institutionalisierung in Form von Glaubensgemeinschaften, würden sich kulturelle Gedächtnisse und soziale Handlungssysteme heute weltweit anders darstellen, als sie es tun, hätten politische, wirtschaftliche und ideengeschichtliche Entwicklungen andere Verläufe genommen und wäre nicht zuletzt auch eine Professionalisierung von Schriftlichkeit in den meisten Kulturkreisen kaum denkbar gewesen – kurz: keine Kultur wäre ohne Religion und Religionen die, die sie heute ist.«15 Wenn also Religion und Kultur unabdingbar zusammenhängen, dann stellt sich die Frage nach dem Wie dieses Zusammenspiels. Versteht man unter Kultur alles, was nicht naturgegeben ist, sondern dem Bereich menschlicher Tätigkeit 11 Neben den zahlreichen und unterschiedlichen Regelungen auf Länderebene zur religiösen Erziehung in Kindertageseinrichtungen vgl. die übergreifende pädagogische (!) Dissertation von Judith Weber (Religionssensible Bildung in Kindertageseinrichtungen, Münster/New York 2014). 12 Lechner / Gabriel 2009; Lechner / Dörnhoff / Hiller 2014; Lechner / Gabriel 2011. 13 Vgl. Katholische Erwachsenenbildung Hessen 2016. 14 Vaas / Blume 2011. 15 Bolten 2009, hier S. 39.
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und menschlichen Schaffens angehört, und folgt man – in Abgrenzung zu einem engen bzw. hochkulturellen Begriff von Kultur16 – einem holistischen Kulturbegriff, dann ist unter Kultur im ursprünglichen Sinn des lateinischen Wortes colere (= hegen, pflegen) die Pflege beziehungsweise Kultivierung von vier Gegenstandbereichen zu verstehen, deren menschliche und nicht-menschliche Akteure sich miteinander in einer reziproken Beziehung befinden. Dieses reziproke Verhältnis von Pflegenden (Kultivierenden) und Gepflegten (Kultiviertem) »gilt in Bezug auf alle vier Bereiche: 1. Umweltreziprozität im Sinne eines verantwortungsvollen Umgangs mit Natur (und damit auch mit Technologie), 2. soziale Reziprozität im Sinne der ›Pflege‹ gesellschaftliche Beziehungen, 3. Selbstreziprozität als ›Pflege‹ von Geist und Körper (Bildung, Erziehung, Kunstschaffen und –genuss bzw. ›Körperkultur‹ und in aktueller Lesart auch wellness) sowie 4. imaginative Reziprozität als Konstruktion und ›Pflege‹ von Sinnstiftungsinstanzen und -medien (z. B. Göttliches, Spiritualität, Einbildungskraft).«17 Kultur konstituiert sich somit als Vernetzung (Prozess) und als Netzwerk (Struktur) von vielfältigen Reziprozitätsdynamiken zwischen den Akteuren in den vier Feldern des Kulturschaffens: dem Akteurs-Selbst, den sozialen Umwelten, den natürlichen Umwelten und den sinnstiftenden Imaginationen. Die Art und Weise etwa, wie das Zusammenleben geregelt ist, hängt ab von den Umweltbedingungen, den lebensweltlichen Normen der Individuen wie von den spezifischen Sinnkonstruktionen, etwa der vorherrschenden Religion.18 Für unsere Frage nach dem Zusammenhang der Kultur und Religion ist dieser holistische Kulturbegriff von großer Bedeutung, zeigt er doch auf, dass das Kulturschaffen in einer Gesellschaft – auch das religiöse – nicht in separierten, voneinander isolierten Zonen passiert, sondern in einem reziproken Netzwerk. Nach wie vor wird etwa der religiöse Kulturbereich vom Kulturschaffen in an16 Vgl. dazu Bolten 2012, S. 10–18. 17 Zum Schaubild und zum Ganzen vgl. Bolten, 2014, hier S. 88f. 18 »Die Art und Weise, wie soziale Praxis geregelt ist, welche gesellschaftlichen Normen existieren, steht beispielsweise in einem direkten Verweisungszusammenhang mit spezifischen Sinnkonstruktionen der sozialen Akteure. Dies wiederum bestimmt, welche Formen von Selbstbezug akzeptabel erscheinen und welche tabuisiert werden. Ähnlich multirelational stellt sich die Umweltreziprozität dar: Welche Ressourcen von Akteuren in Anspruch genommen werden, hängt von der lokalen Verfügbarkeit ab. Dies wiederum nimmt unter anderem Einfluss auf die Gestaltung sozialer Beziehungen (…) und auf die spezifische Ausformung von Sinnkonstruktionen. Ein Meeresgott wird in Gebirgsgegenden vermutlich weniger zur Sinnstiftung herangezogen als in Küstenregionen, genauso wie das Sinnpotential protestantischer Wirtschaftsethik in Tropengebieten nur schwerlich nachvollziehbar sein wird« (ebd., S. 89).
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Sinnstiftende Imaginationen (verehren, anbeten, z.B. cultura Dei)
Soziale Umwelten (bewohnen, ansässig sein, colonus)
Handlungsfeld Kultur strukturiert sich im Prozess de r ›Beziehungsp!lege‹ und als Resultat historisch vermittelter Reziprozitätsdynamiken
Natürliche Umwelten (Ackerbau treiben, bauen, Agri-cultura)
Akteurs-›Selbst‹ (bilden, veredeln, cultura animi)
deren Bereichen (z. B. Kunst, Musik, Wirtschaft, Wohnen, Ökologie) beeinflusst (Beispiel das Richter-Fenster im Kölner Dom), und umgekehrt werden Elemente der religiösen Kultur im säkularen Kulturbetrieb aufgenommen (vgl. Theater, Film, Sport, Werbung).19 Die cultura dei in ihren vielfältigen Varianten erscheint somit als ein unverzichtbarer Partner des gesamten kulturellen Schaffens. Dies gilt vermehrt auch in Bezug auf das interkulturelle und interreligiöse Miteinander in der bundesdeutschen Gesellschaft. So hat sich etwa die Alltags- und Religionskultur in unserem Land in den vergangenen fünfzig Jahren durch die Zuwanderung von Menschen fremder Kulturen, besonders moslemisch geprägter, erheblich verändert. Der Beleg dafür sind nicht nur die vielen neuen 19 Gleichwohl kommen heute infolge der Globalisierung Gesellschaften in Blick, in denen das gesamte Kulturschaffen von der Religion dominiert wird (z. B. Iran, Saudi-Arabien, Arabische Emirate) oder in denen umgekehrt das religiöse Kulturschaffen vollkommen unter der Observanz der Politik steht (z. B. China).
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Moscheebauten, die Fasttage und die religiösen Feste der Muslime, die den öffentlichen Raum mitprägen, sondern auch die gemeinsame Esskultur, die sich durch die zugewanderten Mitbürger/-innen etabliert hat. Döner-Buden, AsiaRestaurants, griechische Lokale und der ›Italiener in der Nachbarschaft‹ sind mittlerweile gemeinsam geteilter Kulturbestand. Kultur ist also ein ständiger Prozess, so dass man formulieren kann: »Eine Gesellschaft hat keine Kultur, sondern ist Kultur.«20
2.
Religion als kulturelles Bildungsgut
Unter der Voraussetzung, dass die Religion nicht nur ein Teil unserer Kultur, sondern ein Faktor des Kulturschaffens ist, stellt sich die Frage nach der religiösen Erziehung und Bildung ganz neu. Sie ist unverzichtbar, um Akteure zu befähigen, einerseits die vorherrschende Kultur zu verstehen und andererseits an ihrer Weiterentwicklung zu partizipieren. Entsprechend muss religiöse Bildung fester Bestandteil der allgemeinen Bildung sein. Dafür hat schon vor Jahren der Pädagoge Rainer Winkel plädiert, indem er Religion als eines von sechs Menschengütern (Anthropina) ausgewiesen hat21 und dafür warb, keinem Kind und Heranwachsenden eine religiöse Bildung vorzuenthalten – dies aber nicht im Interesse einer Institution, sondern im Interesse einer hinreichenden Bildung jedes Menschen: »Nicht weil die Kirchen gläubige Mitglieder brauchen, die Staaten multikulturelle Bürger, die Schulen gute Schüler, die Familien brave Kinder etc. benötigen, ist Religion(sunterricht) unverzichtbar, sondern weil jedes Menschen-Kind ohne religiöse Bildung kein hinreichend gebildeter Mensch werden kann, mehr noch: sich als Mensch nicht hinreichend (re)konstituiert.«22 In jüngster Zeit mehren sich die Stimmen, die ebenfalls für eine ›religiöse Grundbildung für alle‹ plädieren. Der evangelische Religionspädagoge Michael Meyer-Blanck hat diesen Anspruch in das Diktum gegossen: »Bildung ohne Religion ist unvollständig und Religion ohne Bildung ist gefährlich.«23 In der Tat sprechen wenigstens fünf Gründe für eine allgemeine religiöse Erziehung und Bildung: – Erstens sollte jeder Bürger und jede Bürgerin soviel Grundwissen über Religion besitzen, dass er die religiös geprägte Kultur verstehen und sich in seiner Lebenswelt adäquat verhalten kann. Ein Film wie etwa »Wer früher stirbt, ist 20 Bolten 2012, S. 14. 21 Winkel nennt folgende sieben Menschengüter (Anthropina): Erziehung (Pädagogik) – Glaube (Religion) – Sittlichkeit (Ethik) – Arbeit (Ökonomie) – Erkenntnissuche (Wissenschaft) – Konfliktregelung (Politik) – Kunst (Ästhetik). Vgl. Winkel 1994, hier S. 4f. 22 Winkel 1999, hier S. 133. 23 Meyer-Blanck 2003, S. 280.
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länger tot«, bestimmte Lieder, Musikkompositionen, Theaterstücke, Kunstinstallationen, Werbespots und vieles andere mehr können nur unter der Voraussetzung einer Kenntnis religiöser Grundelemente hinreichend verstanden werden. Darüber hinaus sollte jeder Mensch wissen, wie man sich kleidet und sich verhält, wenn man einen religiösen Raum betritt, an einer bestimmten religiösen Feier teilnimmt oder eine religiös geprägte Kulturveranstaltung besucht. – Zweitens besteht das Anliegen religiöser Erziehung und Bildung in der Tradierung der religiösen Kultur unserer Gesellschaft. Das was im Laufe der Jahrhunderte an christlich geprägter Kultur geschaffen und Traditionsgut wurde – religiöse Bauten und Räume, heilige Bücher, religiöse (Fest-)Zeiten und Bräuche, religiöse Rituale und Symbole, religiöse Personen, religiöse Musik und Kunst – , sollte nicht bedenkenlos über Bord geworfen, sondern der nachkommenden Generation zum Kennenlernen und zur kritischen Aneignung vermittelt werden. – Einer religiösen Grundbildung kommt heute drittens die besondere Aufgabe der Befähigung zum interkulturellen und interreligiösen Dialog zu. Dessen vornehmliches Ziel ist die Konvivenz, d. h. das friedliche Zusammenleben in einer von Diversität gekennzeichneten Gesellschaft. Aus diesem Grunde muss eine religiöse Bildung nicht nur Basiswissen über die als fremd empfundenen anderen Kulturen und Religionen vermitteln sowie Begegnungen und Gespräche miteinander fördern, sondern auch eine kritische Sicht auf die je eigene Religion zumuten.24 Denn: »Ein großer Teil des Fundamentalismus resultiert aus der Unkenntnis dessen, was für die eigene Religion gehalten wird.«25 – Insofern in einer postsäkularen Gesellschaft von einer bleibenden Koexistenz säkularer und religiöser Überzeugungen auszugehen ist,26 kommt viertens eine religiöse Bildung nicht an einem Dialog mit Menschen vorbei, die ohne Bezug zu einer Religionsgemeinschaft aufwachsen oder die sich selbst als ungläubig, säkular, bekenntnislos oder gar atheistisch bezeichnen. Einerseits gilt es, deren Gründe zu hören und zu respektieren, andererseits geht es auch darum, in der Auseinandersetzung um das Für und Wider einer religiösen Lebensführung die Frage nach der Möglichkeit eines Transzendenz- oder
24 Der Islamwissenschaftler Michael Kiefer sagte dazu in der Zeit vom 21. 11. 2013: »Die Präventionsstrategie gegen Islamismus muss in der Schule stattfinden. (…) Im Religionsunterricht können die Schüler einen vernunftbasierten Umgang mit dem Koran erlernen, eine hinterfragende Auseinandersetzung mit den Glaubensinhalten, die auf Mündigkeit zielt (…). Das ist eine hervorragende Immunisierung gegen Radikalität.« 25 Schluß 2009, hier S. 137. 26 Vgl. Habermas 2001.
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Gottesglaubens zu stellen und zu vertiefen.27 Ziel dabei ist der gegenseitige Respekt vor der Überzeugung des Anderen. – Schließlich fünftens sprechen auch anthropologische Gründe für eine Grundkenntnis von Religion(en) und von deren Potentialen. Wie aus Resilienzstudien eindeutig hervorgeht, können religiöse Vorstellungen und religiöse Bindungen die Lebensbewältigung von Individuen unterstützen, aber sie können umgekehrt im Falle einer Fehlleitung auch einen Risikofaktor darstellen.28 Umso angebrachter ist eine pädagogisch vermittelte Orientierung in religiösen Belangen – und ebenso die Ermöglichung der Kenntnis religiöser Institutionen und der freien Entscheidung für eine potentielle freiwillige Einbindung in deren Gemeinschaft als soziale Ressource. Angesichts der heutigen postsäkularen und multireligiösen Situation und angesichts dieser fünf Begründungen genügt es m. E. nicht mehr, wenn nur jene, die konfessionell gebunden sind, eine religiöse Erziehung und Bildung erhalten, alle anderen aber nicht. Jedem Heranwachsenden sollte eine Alphabetisierung in Sachen Religion zuteil werden, und zwar unabhängig davon, ob er oder sie in seinem Elternhaus oder in einem religiösen Umfeld bereits die Gelegenheit hatte, eine bestimmte Religion(sgemeinschaft) kennenzulernen. Mit Nachdruck ist daher die Forderung von Regina Polak nach einer »innovative(n) Religionspolitik« zu unterstreichen, »in deren Zentrum (eine) forcierte religiöse und spirituelle Bildung als öffentliches Anliegen steht.«29 Eine solche religiöse Grundbildung für alle ist also eine staatliche Aufgabe, die unter spezifischer Mitwirkung der Kirchen wie der Religionsgemeinschaften umgesetzt werden sollte.
3.
Das Konzept der religionssensiblen Erziehung – Ein spezifischer Beitrag zu einer religiösen Bildung für alle
Bei einer religiösen Grundbildung für alle handelt es sich um eine bekenntnisunabhängige und alle weltanschaulichen Orientierungen übergreifende Bildung. Auch wenn diese dem Charakter nach nah an einer Religionskunde liegt, so wäre doch ein doppelter Unterschied festzustellen. Erstens sollte eine religiöse Alphabetisierung von theologisch qualifizierten und auch in religiöser Hinsicht positionierten Pädagogen/-innen (Lehrer/-innen; Erzieher/-innen) statt von bekenntnisfreien oder -neutralen Philosoph/-innen oder Ethiklehrkräften durchgeführt werden – eine Analogie übrigens zu jedem Fachunterricht und 27 Vgl. dazu auch Lechner 2017, S. 80–94. 28 Vgl. dazu Cl. Lechner 2014, S. 67–76. 29 Polak 2006, hier S. 392.
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jeglicher Form von Bildungsarbeit, deren Resonanz und Erfolg wesentlich von entsprechend engagierten und für die Sache begeisterten Personen abhängt. Und zweitens geht es immer auch um eine Sensibilisierung für einen möglichen gläubigen Lebensentwurf, der als freie Entscheidung nicht ohne die Auseinandersetzung mit einer Sache und mit Personen möglich ist.30 Dieses Postulat nach einer religiösen Grundbildung für alle hat gewiss Konsequenzen für die erste institutionelle Sozialisationsinstanz, die Kindertageseinrichtungen, aber dann insbesondere für den Religionsunterricht in der Schule sowie für andere Felder der Sozialisation junger Menschen, etwa die Jugend- und Jugendverbandsarbeit.31 Für das Feld der stationären Heimerziehung wurde vom Verfasser ein entsprechendes Konzept mit dem Titel »Religionssensible Erziehung«32 vorgelegt. Es hat mittlerweile eine breite Akzeptanz gefunden und wird auch in anderen pädagogischen Handlungsfeldern rezipiert. Die Kernaspekte dieses Ansatzes sollen hier abschließend thesenartig dargestellt werden.
3.1.
Zum Glauben kann man nicht erziehen – aber vielfältige Hilfen und Anregungen geben
Erste Grundvoraussetzung einer religionssensiblen Erziehung ist die Einsicht, dass man niemanden zum Glauben erziehen kann – schon gar nicht mit subtilem Zwang. Dem steht aber nicht entgegen, dass es wünschenswert ist, jedem Kind und Jugendlichen den spezifischen Modus der Welterfahrung, den die Religionen bieten, zu eröffnen. Wenn nun aber Religion als »das lehr- und lernbare Medium, das kulturelle Zeichensystem, in dem sich der Glaube historisch und kulturell unterschiedlich artikulieren kann« und das »dem Glauben gleichsam als Nährlösung durchaus förderlich« sein kann, zu begreifen ist, dann besteht die Aufgabe religiöser Erziehung und Bildung darin, in dieses kulturelle Zeichensystem einzuführen. Wenn dann Menschen auf der Basis dieses Wissens und in einem freien Akt der Entscheidung einen Glauben entwickeln, dann ist das – theologisch gesprochen – ein Akt der Gnade, nicht das »Ergebnis eines intentionalen Lernprozesses«33. Dieser Unterschied zwischen Religion als vermittelbares Sys30 Der Bildungsbegriff des 12. Kinder- und Jugendberichts bestätigt diese Ansicht, wenn dort Bildung definiert wird als »ein aktiver Prozess, in dem sich das Subjekt eigenständig und selbsttätig in der Auseinandersetzung mit der sozialen, kulturellen und natürlichen Umwelt bildet. Bildung des Subjekts in diesem Sinne braucht folglich Bildungsgelegenheiten durch eine bildungsstimulierende Umwelt und durch die Auseinandersetzung mit Personen.« Vgl. BMFSFJ 2005, S. 83. 31 Näheres dazu in M. Lechner 2017. 32 Vgl. dazu Lechner / Gabriel 2009; dort besonders die fünf Grundsätze religionssensibler Erziehung, S. 279–291. 33 Dressler 2005, hier S. 58.
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tem von Lehren, kultischen Formen, Lebensregeln und Gemeinschaften34 und Glaube als persönliche Entscheidung für ein religiöses Bekenntnis liegt unserem Ansatz zugrunde. Religion kann man lehren, Glauben kann man anregen und fördern, und zwar durch existentielle Erfahrungen, gemeinschaftliche Erlebnisse, vorbildhaftes Zeugnis und durch intellektuelle Auseinandersetzung.
3.2.
Nicht jeder, der ohne Bekenntnis ist, ist ungläubig
Eine wesentliche Erkenntnis der qualitativen Studie im Rahmen des Forschungsprojektes »Religion in der Jugendhilfe« war, dass Kinder und Jugendliche einen Glauben haben. Sie sind aber gewöhnlich nicht in der Lage, diesen in Sprache zu fassen, ohne dass man ihnen dabei eine Hilfestellung gibt. Mittels eines Fotoprojektes, in dem wir sie aufforderten, ihren Glauben in Fotos auszudrücken und mit uns über diese Bilder ins Gespräch zu kommen, konnten wir einen Einblick in das gewinnen, was junge Menschen ›unbedingt angeht‹. Mit diesen Bildern und Erläuterungen verifizierten wir unsere Ausgangshypothese eines dreistufigen Glaubensbegriffs: Existenzglaube Transzendenzglaube Konfessionsglaube.35 Wenn man unsere Studie zusammenfasst, so kann man von einem weit verbreiteten Existenz- oder Lebensglauben junger Menschen sprechen – wohlgemerkt auf Grundlage von Erfahrungen aus Einrichtungen der Jugendhilfe! Ohne einen solchen ist sinnvolles Leben nicht möglich. Über 90 % aller Fotos konnten dieser existentiellen Glaubensdimension zugeordnet werden. Darüber hinaus gibt es eine größere Zahl junger Menschen, die persönlich davon überzeugt sind, dass es jenseits der Wirklichkeit ein transzendentes Geheimnis gibt, das sie als Gott, Gottheit, Numinoses etc. bekennen. Relativ wenige unserer befragten Jugendlichen bekannten sich hingegen zu einer Religionsgemeinschaft und deren Glauben, dies obwohl viele von ihnen formell zu einer solchen gehörten. Als Konsequenz daraus folgt für eine religionspädagogische Arbeit mit Jugendlichen, dass sie – in guter pädagogischer Tradition! – bei deren eigenem Glauben ansetzen muss. Denn wenn der Glaube Jugendlicher weiter reicht als ihre Kirchlichkeit, dann geht es darum, diesen Glauben in seinen individuellen Gestalten überhaupt erst einmal wahrzunehmen und anzuerkennen, ihn aber dann auch in seiner jeweiligen Eingebundenheit herauszufordern und in seiner weiteren Entwicklung zu begleiten.36 34 In der anglo-amerikanischen Soziologie wird eine Religion mit vier »C« definiert: Creed – Cult – Code – Community. 35 Ausführlich dazu in Lechner/Gabriel 2009, S. 159–176. 36 Vgl. die erste übergreifende Handlungsperspektive einer Religionspädagogik des Jugendalters von Friedrich Schweitzer (ders. 1996, hier S. 153.).
© Prof. Dr. Martin Lechner, 2008
Konfessions-/ Gemeinschaftsglaube
Transzendenz-/ Gottesglaube
Der Religionsbegriff des Forschungsprojektes
Religiosität als »Existenzvollzug mit Transzendenzbezug« (Johann Figl); als »Zusage zu Gott, die uns Hoffnung und Vertrauen gibt« (J. Ratzinger) Religiöse Bildung als Erschließung eines transzendenten Sinnhorizontes glückenden Lebens.
•
•
Individuelle Erfahrung und reflektierte Bejahung einer transzendenten, unüberbietbaren Wirklichkeit: auch Gott, Gottheit, Numinosum etc. genannt.
Religiosität als »gemeinschaftliche Antwort auf Transzendenz erfahrungen, die sich in Ritus und Ethik Gestalt gibt.« (Theodor Sundermeier) Religiöse Sozialisation als Prozess des Hineinwachsens in eine religiöse bzw. kirchliche Bekenntnisgemeinschaft (Konfession)
•
•
1
Bekenntnis und Zugehörigkeit zu einer Kirche bzw. religiösen Gemeinschaft mit ihrer dogmatischen, symbolisch-rituellen, ethischen, sozialen und praktischen Dimension.
•
Religion III: Konfessionsglaube
Existenz-/ Lebensglaube
•
Religion II: Transzendenzglaube
• Religiöse Erziehung als allgemein menschliche Erziehung.
Ruster), als »Ergriffensein, von dem, was unbedingt angeht« (P. Tillich), als »Lebensdeutung im Unbedingtheitshorizont« (U. Barth)
• Religiosität als »Erfahrung der alles bestimmenden Wirklichkeit« (Th.
leibhaft-geschichtliche Freiheit – Interkommunikation – Zukünftigkeit – Scheitern – »Letztes Woraufhin« des Lebens.
Religion I: Existenzglaube • Grunderfahrungen menschlicher Existenz: Geschöpflichkeit –
Plädoyer für eine religiöse Erziehung und Bildung als öffentlichem Anliegen
31
32 3.3.
Martin Lechner
Eine vertrauensvolle pädagogische Beziehung ist eine erste, indirekte Form religiöser Erziehung
Die Eröffnung eines religiösen Weltzugangs durch Erziehung und Bildung setzt – wie dies auch für andere Modi des Weltzugangs gilt – eine vertrauensvolle und wertschätzende Beziehung zwischen Erziehenden/Lehrenden und Edukanten/ Schüler/-innen voraus.37 Schon in den 1970er Jahren brachte der Religionspädagoge Erich Feifel (1973) die Überzeugung zum Ausdruck, dass »ohne die Erfahrung des Vertrauens im Gefolge von Fürsorge, Hilfe, Liebe« ein Kind »in seiner Möglichkeit, Transzendenz zu erfahren, erheblich beeinträchtigt« würde.38 Und der Pädagoge Karl August Adams sieht eine religiöse Erziehung nicht erst dort gegeben, »wo ein Gebet gesprochen wird, oder wenn der Name Gott fällt«, sondern bereits dort, wo ein Kind »sich angenommen fühlt, wo es vertrauen kann und wo es an die eigene Zukunft glauben kann.«39 Diese Überzeugung steht auch hinter dem vornehmlich für Erzieher/-innen entwickelten Konzept der religionssensiblen Erziehung. Ein positiv gefärbter »pädagogischer Bezug« (Hermann Nohl) ist gleichsam eine indirekte und implizite Form religiöser Erziehung. Denn jeder Glaube ist ja ein Akt des Vertrauens in eine Wirklichkeit oder in eine Person. Dabei geht es nicht um Wissen, sondern um das Gefühl des Geborgenund Getragen-Sein, welches Sinn und Lebenskraft verleiht. Religiöse Erziehung und Bildung zielen genau darauf: auf Lebensfähigkeit.
3.4.
Religionssensible Erziehung ist lebenswelt- und sozialraumorientiert
Erziehung geschieht nicht nur in der Einzelbeziehung zwischen Erwachsenen und Heranwachsenden, sondern immer auch in einem Kontext: dem der Gruppe der Gleichaltrigen bzw. der sozialen Gruppe, und ebenso in Auseinandersetzung mit der gesellschaftlichen Umwelt. Damit wird die Bedeutung des Erziehers in gewisser Weise relativiert und zugleich gestärkt: er ist nicht der alleinige Macher pädagogischer Prozesse, sondern deren Moderator, indem er ein erzieherisches Umfeld arrangiert. Das Konzept der religionssensiblen Erziehung empfiehlt pädagogischen Fachkräften, zum einen in der Einrichtung selbst eine in religiöser Hinsicht anregende Umwelt bereit zu stellen: Bücher und literarisches Material, Symbole, Rituale, Feste, geprägte Zeiten, Regelgestaltung und anderes mehr! Zum anderen gilt es, auch die religiösen oder religiös affinen Institutionen 37 So belegt etwa die HATTIE-Studie den hohen Rang der Lehrer-Schüler-Beziehung für den Lernerfolg. Quelle: https-//visible-learning#BF95F9 (Stand 11. 9. 2017). 38 Feifel 1973, hier S. 102; In der Konsequenz sieht Feifel »eine allgemein menschliche« Erziehung jeder konfessionell prägenden Erziehung vorgeordnet (ebd., S. 83). 39 Adams 1978, S. 90.
Plädoyer für eine religiöse Erziehung und Bildung als öffentlichem Anliegen
33
des Sozialraums zu nutzen, indem man Beziehungen knüpft: etwa zu den Kirchen, Moscheen, religiösen Gemeinschaften und deren (kostenlosen!) personellen wie rituellen Ressourcen, zur Kulturszene (Kunst, Musik, Theater), zu Kinos und deren ›Sinnmaschine‹, zu religiösen Events, zu religiösen Vereinen und Aktionen. Die Vernetzung mit diesen Umwelten gibt Heranwachsenden die Gelegenheit zur Auseinandersetzung mit der expliziten und impliziten religiösen Kultur und die Möglichkeit zu deren ›informellen‹ Aneignung. Aufgabe der Erzieher/-innen ist es, diese Auseinandersetzungs- und Aneignungsprozesse zu initiieren und zu begleiten.
3.5.
Erzieherinnen und Erzieher sind keine Religionspädagogen, aber der pädagogische Umgang mit Religion gehört zu ihrer Aufgabe
Das Konzept der religionssensiblen Erziehung ist für erzieherische Berufe geschrieben, dies aus der Überzeugung, dass die Fähigkeit zur religiösen Erziehung und Bildung ein Teilaspekt der Professionskompetenz ist. Hier wird die Auffassung vertreten, dass jeder Erzieher und jede Erzieherin sich der Herausforderung stellen muss, auch in religiöser Hinsicht angemessen tätig werden zu können: »Auch wenn sie sich persönlich gegen Religion entschieden haben und selbst nicht religiös sein wollen, sollten sie sich mit dem Phänomen Religion im Kontext ihrer beruflichen Tätigkeit auseinandersetzen.«40 Man muss also zwischen persönlicher Entscheidung und beruflicher Kompetenz in Sachen Religion unterscheiden. Für pädagogische Fachkräfte in der Kinder- und Jugendhilfe wird hier erstens eine religiöse Kundigkeit als fachliche Teilkompetenz eingefordert, zweitens eine respektvolle Sensibilität für religiöse Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen und für die religiöse Kultur in der Gesellschaft, und drittens eine angemessene Beziehungsqualität. Dass hinsichtlich dieser fachlichen wie personal-sozialen Kompetenzdimensionen ein erhebliches Defizit in der Aus- und Fortbildung41 sowie in der sozialberuflichen Praxis42 besteht, bestätigen neuere Untersuchungen. Ersterer zufolge gibt es an den Fachhochschulen für soziale Arbeit so gut wie keine religionspädagogischen Lehrveranstaltungen speziell für Sozialberufe, und letztere Studie weist darauf hin, dass nur ein kleiner Teil der Mitarbeiter/-innen in der Jugendhilfe bereit ist, sich mit religiösen Themen zu beschäftigen.43 Hier neue Wege einzuschlagen, ist ein Gebot der Stunde!
40 41 42 43
Beer 2005, hier S. 12f. So etwa Kebekus 2013. Vgl. Lütkemeier 2014, S. 8–18. Ebd., bes. S. 13.
34
4.
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Resümee
Es sollte in diesem Beitrag deutlich geworden sein, dass Religion ein fundamentaler Aspekt der Kultur der Bundesrepublik Deutschland ist und dass Menschen unterschiedlicher Konfessionen das Kulturschaffen hierzulande mitprägen. Voraussetzung dafür ist eine religiöse Erziehung und Bildung für alle Mitglieder der Gesellschaft. Sie ist als eine öffentliche Aufgabe zu verstehen, die von Staat und Religionsgemeinschaften in einem kooperativen Miteinander zu gestalten wäre. Es geht dabei nicht um die Werbung für die eine oder andere Glaubensgemeinschaft – das ist Sache derselben – sondern um einen Beitrag zu einer umfassenden persönlichen Bildung, die »der Zustand (ist), in dem man Verantwortung übernehmen kann«44: für sich, für die Mitwelt, für die Kultur und für die Schöpfung. Das Konzept einer religionssensiblen Erziehung in der Jugendhilfe wurde als Beispiel für eine solche Erziehung und Bildung vorgestellt. Dabei liegt die Überzeugung zugrunde, dass alle Bildungsinstitutionen hierzulande – die schulischen wie die außerschulischen – »das für die ›Erziehung zur Menschlichkeit lebensnotwendige Erbe der Religionen‹« nicht aus ihren Lehrplänen und Bildungsprogrammen ausklammern dürfen.45 Alles andere wäre zum Schaden für die Menschen selbst wie für den sozialen Zusammenhalt.
Literatur Adams, Karl A.: Religionspsychologische Aspekte religiöser Erziehung. Wirklichkeit und Möglichkeit religiöser Erziehung in der Heimsituation, Köln 1978. Beer, Peter: Wozu brauchen Erzieherinnen Religion? Ein Arbeitsbuch für Ausbildung und Praxis, München 2005. Bolten, Jürgen: Kultur, Reziprozität und Religion. Anregungen zu einem interdisziplinären kulturwissenschaftlichen Diskurs, in: Court, Jürgen / Klöcker, Michael (Hrsg.): Wege und Welten der Religionen. Forschungen und Vermittlungen, Stuttgart 2009, S. 39–46. Bolten, Jürgen: Interkulturelle Kompetenz, Erfurt 2012. Bolten, Jürgen: Kultur kommt von colere. Ein Plädoyer für einen holistischen, nichtlinearen Kulturbegriff, in: Jammal, Elias (Hrsg.): Kultur und Interkulturalität. Interdisziplinäre Zugänge, Wiesbaden 2014, S. 85–108. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend [BMFSFJ] (Hrsg.): Bericht über die Lebenssituation von Kindern und die Leistungen der Kinderhilfen in Deutschland. 10. Kinder- und Jugendbericht, Berlin 1998.
44 Weniger 1964, hier S. 138. 45 BMFSFJ 1998, S. 45; Zitat unter Berufung auf H. Gloy (1995) und E. Knab 1996.
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Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend [BMFSFJ] (Hrsg.): Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die Leistungen der Kinder und Jugendhilfe in Deutschland. 12. Kinder und Jugendbericht, Berlin 2005. Die deutschen Bischöfe: Die Zukunft des konfessionellen Religionsunterrichts. Empfehlungen für die Koooperation des katholischen mit dem evangelischen Religionsunterricht (Arbeitshilfe Nr. 103), Bonn 2016. Dressler, Bernhard: Religiöse Bildung zwischen Standardisierung und Entstandardisierung. Zur bildungstheoretischen Rahmung religiösen Kompetenzerwerbs, in: TheoWeb. Zeitschrift für Religionspädagogik 1 (2005) 50–63. Feifel, Erich: Modelle der Begründung religiöser Erziehung, in: Ders. u. a. (Hrsg.): Handbuch der Religionspädagogik Bd. 1, Gütersloh 1973, S. 72–85. Forschungsgruppe Weltanschauungen in Deutschland: Religionszugehörigkeiten in Deutschland (https://fowid.de/meldung/religionszugehoerigkeiten-deutschland2015, letzter Zugriff 30. 8. 2017). Habermas, Jürgen: Glauben und Wissen. Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2001, Frankfurt a. M: Börsenverein des deutschen Buchhandels (http://www.friedens preis-des-deutschen-buchhandels.de/sixcms/media.php/1290/2001_habermas.pdf). Katholische Erwachsenenbildung Hessen (Hrsg.): Religion als Ressource in der sozialen Arbeit, Frankfurt 2016 (https://www.keb-hessen.de/projekte/religion-als-res source, letzter Zugriff 11. 2. 2018). Kebekus, Regina: Religionspädagogik in der Ausbildung von Sozialberufen. Analysen – Begründungen – Konzeptionierungen, Münster 2013. Kiefer, Michael: »Auf keinen Fall den Kontakt abbrechen«. Schule und Islamisten, in: Die Zeit vom 21. 11. 2013 (http://www.zeit.de/2013/48/lehrer-schueler-islamisten-prae vention, letzter Zugriff 11. 02. 2018). Kropac, Ulrich: Allgemeinbildung ohne religiöse Bildung? Zur Bedeutung und Gestalt von Religionsunterricht in der öffentlichen Schule, in: SKZ 175 (2007) Heft 5, 63–67. Lechner, Clemens: Religion als Ressource und Risikofaktor, in: Lechner / Dörnhoff / Hiller 2014, S. 67–76. Lechner, Martin / Gabriel, Angelika (Hrsg.): Religionssensible Erziehung. Impulse aus dem Forschungsprojekt »Religion in der Jugendhilfe« (2005–2008), München 2009. Lechner, Martin / Gabriel, Angelika (Hrsg.): Brenn-Punkte. Religionssensible Erziehung in der Praxis, München 2011. Lechner, Martin / Dörnhoff, Norbert / Hiller, Stephan (Hrsg.): Religionssensible Erziehung in der Jugendhilfe. Benachteiligte Kinder und Jugendliche in ihrer religiösen Entwicklung fördern, Freiburg 2014. Lechner, Martin: Eine religiöse Grundbildung für alle! In: Nauerth, Matthias / Hahn, Kathrin / Tüllmann, Michael / Kösterke, Sylke (Hrsg.): Religionssensibilität in der Sozialen Arbeit. Positionen, Theorien, Praxisfelder. Stuttgart 2017, S. 80–94. Lütkemeier, Hildegard: Religiosität und Spiritualität als protektive Faktoren in der Heimerziehung? Untersuchung zur Resilienzstärkung in Einrichtungen der stationären Jugendhilfe, in: Unsere Jugend 66 (2014) Heft 1, S. 8–18. Meyer-Blanck, Michael: Tradition – Integration – Qualifikation. Die bildende Kraft des Religionsunterrichts in Europas Schulen. In: EvTh 63 (2003) Heft 4, S. 280. Polak, Regina: Megatrend oder Megaflop? Zur Wiederentdeckung von Spiritualität. In: Diakonia 37 (2006) Heft 6, S. 386–392.
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Martin Lechner
Schluß, Henning: Braucht die Pädagogik die Religion? In: Lechner/ Gabriel 2009, S. 132– 158. Schweitzer, Friedrich: Die Suche nach eigenem Glauben. Einführung in die Religionspädagogik des Jugendalters, Gütersloh 1996, 2. Auflage 1998. Vaas, Rüdiger / Blume, Michael: Gott, Gene und Gehirn: Warum Glaube nützt – Die Entwicklung der Religiosität, 3. Auflage, Hirzel-Verlag 2011. Weber, Judith: Religionssensible Bildung in Kindertageseinrichtungen. Eine empirischqualitative Studie zur religiösen Bildung und Erziehung im Kontext der Elementarpädagogik, Münster/New York 2014. Weniger, Erich: Die Eigenständigkeit der Erziehung in Theorie und Praxis, Weinheim, 3. Auflage 1964. Winkel, Rainer: Brauchen Kinder Religion? Oder: Von Arpinum bis Flossenbürg. In: Erziehen heute 47 (1994) Heft 1, S. 3–12. Winkel, Rainer: Religion und Schule – Schule und Religion: Zur Klärung einer Mesalliance, in: ZPT 51 (1999) 129–135. Zentralkomitee der deutschen Katholiken: Für einen zukunftsfähigen Religionsunterricht – konfessionell, kooperativ, dialogisch, Bonn 2017.
Klaus-Dieter Grothe
Alles Trauma? Psychische Störungen bei unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen zwischen Trauma, Flucht und Neuanfang
Im Jahr 2016 befanden sich bundesweit zwischen sechzig- und siebzigtausend unbegleitete minderjährige Ausländer in der Obhut der deutschen Jugendämter. Es handelt sich dabei um Kinder und Jugendliche, die als Flüchtlinge ohne ihre Eltern oder andere Sorgeberechtigte nach Deutschland gekommen sind. Ihre besonderen Entwicklungsbedingungen stellen sowohl die Jugendhilfe als auch das kinder- und jugendpsychiatrische und psychotherapeutische Hilfesystem vor unbekannte Aufgaben. In der Fachliteratur finden sich fast keine Studien oder Arbeiten, die sich mit diesen besonderen Klienten befassen. Aus diesem Grund habe ich versucht, meine langjährigen Erfahrungen in der Betreuung dieser Klienten zusammenzufassen. Die Arbeit beruht auf der Betreuung von ca. 500 allein reisenden Kindern und Jugendlichen, die sich zur Diagnostik, Befunderhebung und Therapie in der Praxis befanden und von mir exploriert und untersucht wurden. Bezüglich der psychischen Situation insbesondere minderjähriger Flüchtlinge spielen meiner Erfahrung nach folgende sechs Themenkomplexe eine Rolle: 1. die juristische Situation, d. h. vornehmlich die aufenthaltsrechtliche 2. das Erleben traumatischer, d. h. existenziell bedrohlicher, lebensbedrohlicher Situationen und evtl. daraus entstandene psychischen Störungen, z. B. posttraumatische Belastungsstörungen 3. die Situation der Herkunftsfamilie 4. familiäre Vermächtnisse 5. der Entwicklungsstand der/des Jugendlichen und die durch die Flucht entstanden Störungen der Entwicklung 6. der soziale und ethnische Status der/des Jugendlichen. Jedem dieser Punkte stelle ich ein kurzes Fallbeispiel voran, um die Themen zu skizzieren.
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Juristische Situation Ahmed1, 20 Jahre, war in die Fänge der islamistische Miliz der al-shabab (›die Jugend‹) in Somalia geraten. Da er sich geweigert hatte, für sie als Selbstmordattentäter zu sterben, sollte er öffentlich gesteinigt werden. Nachdem seine Familie diese Ankündigung im Radio gehört hatte, gelang es ihr, einen Wächter zu bestechen, so dass er fliehen konnte. Es dauerte ein Jahr, durch die Sahara über Libyen und das Mittelmeer, bis er es nach Italien geschafft hatte. Er hatte damit gerechnet, hier Schutz und Sicherheit zu finden. Zu groß war sein Schock, als er erleben musste, dass er nach vier Wochen Lager in Italien weggeschickt wurde: niemand kümmerte sich um ihn, nur notdürftig überlebte er mit Suppenrationen der Caritas, gegen die Kälte im Winter schnüffelte er Klebstoff. Des öfteren wurde er Opfer von rassistischer Gewalt in den Straßen von Palermo, Rom und Mailand, wohin es ihn auf der Suche nach einem sicheren Obdach verschlug. In Rom bat er die Caritas, ihm doch ein Flugticket zurück nach Mogadischu zu finanzieren, damit er zumindest im Kreise seiner Familie sterben könne, aber die sah sich nicht zuständig. Mehrfach stand er auf den Brücken oder auf den Bahngleisen, den letzten Schritt zur Selbsttötung konnte er jedoch nicht vollziehen, anders als einige seiner Freunde. Nach zwei Jahren gelang es ihm, etwas Geld zu sammeln und er kaufte sich ein Busticket nach Deutschland. Hier wurde er von den Behörden mit der Nachricht konfrontiert, wieder nach Italien geschickt zu werden. Das versetzte ihm einen erneuten Schock, er klagte über Schlafstörungen, depressive Verstimmungen, Selbstmordgedanken. Insbesondere zu Beginn des Aufenthaltes dreht sich meist alles um die aufenthaltsrechtliche Situation: kann ich hier bleiben, kann ich mich hier sicher fühlen, kann ich mich auf eine Zukunft in diesem Land einstellen und mein Leben planen? Oder muss ich damit rechnen, wieder in das Herkunftsland (selten) oder ein anderes europäisches Land (häufiger) zurückgeschickt zu werden? Bei vielen Flüchtlingen spielt die Dublin-Verordnung eine wesentliche Rolle, die besagt, dass das europäische Land, in dem der Flüchtling erstmals registriert wurde, für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist. Da einige Länder an den Außengrenzen Europas, zum Beispiel Griechenland, Malta, Italien, Ungarn, jedoch entweder überfordert sind und/oder nicht willens, Flüchtlingen ein Existenzminimum zu bieten und sich um besonders schutzbedürftige jugendliche Flüchtlinge zu kümmern, landen viele auf der Straße, haben keinen Zugang zu trockenem und warmem Wohnraum, regelmäßigem Essen, geschweige denn Bildungsmöglichkeiten, oder zu medizinischer oder sogar psychiatrisch-psychotherapeutischer Versorgung. Hinter dieser akuten Angst verschwinden zunächst oft alle anderen Probleme: die Fluchtgründe, die 1 Alle in diesem Beitrag erscheinenden Namen sind anonymisiert.
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Erlebnisse auf der Flucht und anderes. Die erhöhte Anspannung, die Schlafstörungen, die Reizbarkeit und depressive Verstimmungen lassen symptomatisch an eine posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) denken, sind aber diagnostisch eher als Anpassungsstörung zu charakterisieren – die schnelle Besserung nach Klärung der Situation bestätigt diesen Befund. Zum Glück hat sich die Situation von minderjährigen Flüchtlingen durch das Inkrafttreten der Dublin 3-Verordnung Anfang 2014 deutlich entspannt. Im Gegensatz zu erwachsenen Flüchtlingen sollen minderjährige Flüchtlinge nach dieser Verordnung nicht mehr zurückgeschickt werden, sondern das zuletzt aufgesuchte Land ist für die Betreuung und Durchführung des Asylverfahrens zuständig. Es gibt aktuell Pläne der EU, diese Regelung für Minderjährige wieder aufzuheben, was aus psychiatrischer Sicht nur als menschliche Katastrophe zu werten ist. Umso mehr rückt jetzt das Kriterium der Altersfeststellung in den Mittelpunkt und ist häufiger zu Beginn des Aufenthalts ein umstrittenes Thema. Ist diese erste Hürde überwunden, lassen Angst und Unsicherheit nach einigen Wochen nach.
Traumatische Erfahrungen Hussein, 15, wird verfolgt von den Bildern der Ermordung seines Vaters. Sein Vater, ein schiitischer Geistlicher, hatte sich schon in Afghanistan mit den Taliban angelegt, die Familie war zunächst in den Iran geflüchtet. Aber auch dort hatten die Taliban den Vater ausfindig gemacht, ihn entführt und ermordet und den Leichnam mit dem abgetrennten Kopf der Familie ins Wohnzimmer gelegt. Ahmed, 16, aus Somalia, berichtet, wie er in seinen Albträumen davon verfolgt wird, dass seine Schwester neben ihm auf offener Straße erschossen wurde, weil sie nicht hinter ihm, sondern neben ihm ging – und wie ihm ein Zeh abgehackt wurde, weil er sich geweigert hatte, mit der islamistischen Miliz der al-shabab zusammenzuarbeiten. Mohammad, 17, kann keine lauten Stimmen vertragen, das erinnere ihn an die Zeit in einem Gefängnis des IS. Auf dem Weg durch Syrien wurde er vom IS gefangengenommen, vor seinen Augen seien Menschen die Kehlen durchschnitten worden, er höre die Schreie noch. Unter Lebensgefahr und in Frauenkleidern versteckt gelang ihm die Flucht. Haben, 16, aus Eritrea, träumt jede Nacht davon, wie sie vor Erschöpfung aus dem Boot im Mittelmeer fiel und sie, die Nichtschwimmerin, im letzten Moment wieder ins Boot gezogen wurde. Und über die Erlebnisse in Libyen möchte sie gar nicht reden.
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Viele haben existenziell bedrohliche Situationen erlebt, sei es in ihrem Herkunftsland, was oft der Grund für die Flucht war, oder auch während der Flucht, zum Beispiel als Bootsflüchtling über das Mittelmeer. Nicht vergessen werden sollte auch, dass viele Flüchtlinge aus Afrika schon vorher durch die Sahara fliehen mussten. Auf diesen Routen sterben mindestens so viele Menschen wie im Mittelmeer, aber darüber wird weniger geredet. Die Routen durch die Wüste, insbesondere die aus Ostafrika, sind nach Aussagen der Überlebenden mit menschlichen Skeletten gepflastert. Vergessen sollte man auch nicht die unmenschliche, entwürdigende und oft grausame Behandlung afrikanischer Flüchtlinge durch Milizen in Syrien. Flüchtlinge von diesen Routen, also vor allem jene aus Eritrea, Somalia und Äthiopien, sind oft selber nur knapp dem Tod entronnen und haben das Sterben anderer hautnah erlebt. Dies kann zu einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) führen mit den typischen Symptomen der Übererregbarkeit, Schreckhaftigkeit und ständiger Beschäftigung mit den todesnahen Erlebnissen. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass gerade Jugendliche tagsüber dieses Geschehen verdrängen bzw. in den Hintergrund schieben können. Typische flash-backs tagsüber sind eher selten, Schul- bzw. Sprachkursbesuch, Zusammensein mit Freunden, Sport, lenken diese Jugendlichen ganz gut ab. Das habe ich in meiner Arbeit mit Erwachsenen anders erlebt. Dafür fallen dann die Störungen vor allem abends und nachts auf: massive Ein- und Durchschlafstörungen sind die Hauptsymptomatik, unter der die Jugendlichen leiden und wegen derer sie einwilligen, einen Psychiater aufzusuchen. Dabei sind die Schlafstörungen durch typische Albträume geprägt, in denen die erlebten Erfahrungen realitätsgetreu wiedererlebt werden. Manchmal spielen aber auch Übererregbarkeit und Reizbarkeit oder auch sozialer Rückzug und depressive Verstimmungen eine Rolle. Dieses Erleben (verkürzt als Traumatisierung bezeichnet) steht oft im Mittelpunkt der Betrachtung über die seelischen Folgen von Flüchtlingen, ist aber meines Erachtens nur ein Baustein unter vielen. Die Therapie einer solchen PTBS wird oft als medizinisch-psychiatrisches Problem dargestellt, ist es aber meines Erachtens nicht. Ich vertrete da einen dezidiert sozialpsychiatrischen Ansatz, den ich kurz erläutern möchte: Hans Keilson2 mit seinen ersten Veröffentlichungen im europäischen Sprachraum zur Wirkung traumatischer Erfahrung hat in den späten 70er Jahren des letzten Jahrhunderts den Begriff der sequentiellen Traumatisierung geprägt. Keilson hatte die Lebenswege jüdischer Kinder untersucht, die das Schicksal von Anne Frank erlebt hatten, mit dem Unterschied, dass sie überlebt hatten. Er hat uns damals schon auf Folgendes aufmerksam gemacht: 2 Vgl. Keilson 2001.
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Wichtig ist bei der Entwicklung von Traumafolgestörungen vor allem die posttraumatische Sequenz, also: Was geschieht nach dem Trauma? Die wichtigste Erkenntnis: Nicht die Art und Schwere der traumatischen Erlebnisse sind für die Prognose am relevantesten, sondern das, was nach dem Trauma geschieht. Ich hatte in den letzten Jahren die Gelegenheit, eine große Studie eines befreundeten Psychologen aus Uganda, David Olema3 von der Universität Tororo, zu begleiten und intensiv mitzudiskutieren. Olema hat in den Jahren 2007 und 2008 dreihundert ehemalige Kindersoldaten in Norduganda untersucht. In Norduganda herrschte bis 2006 ein Krieg, in dem eine die Regierung bekämpfende Miliz sich darauf verlegt hatte, schon Kinder zu rekrutieren – sobald sie körperlich kräftig genug waren, einen Tag lang eine Kalaschnikov zu tragen, also schon mit dem Alter von 6 oder 7 Jahren. ›Markenzeichen‹ der Miliz war, dass die Kinder als erstes gezwungen wurden, ihre Freunde, Geschwister oder Eltern zu töten, um sie gefügig zu machen – aber nicht durch Erschießen, sondern durch Zerhacken mit der Machete. Diese Kinder hatten also wirklich die absurdesten Scheußlichkeiten erlebt, die man sich vorstellen kann. Olema konnte dann empirisch nachweisen – auch zu seiner eigenen Überraschung – dass die Jugendlichen drei Jahre nach ihrer Zeit als Kindersoldat mehr unter aktuellen familiären Problemen litten als unter den Erinnerungen an die traumatischen Erfahrungen, und weiter dass die psychopathologische Belastung höher mit Gewalt oder Missachtung in der Familie korreliert war als mit den erlebten Geschehnissen. Deshalb ist es meines Erachtens zumindest unvollständig, wenn man eine PTBS nur als lineare Folge einer traumatischen Erfahrung versteht im Sinne eines einfachen Reiz-Reaktions-Schemas. Kern einer PTBS oder einer anderen Traumafolgestörung ist der Verlust an Sicherheitsgefühl, eines existenziellen Vertrauens, eines Grundvertrauens in menschliche Beziehung. Die ständige Angst, dass wieder etwas völlig Unerwartetes, Lebensgefährliches geschieht, lässt diese Menschen nicht mehr in Ruhe. Es geht also darum, die verlorene Sicherheit wiederzufinden. Voraussetzung der Gesundung ist also das Herstellen einer sicheren Umgebung, was einerseits wieder die rechtliche Situation in den Mittelpunkt stellt, andererseits aber auch die soziale Umgebung: die/der Jugendliche sollte Stabilität in den sozialen Beziehungen erfahren, eine adäquate pädagogische Betreuung und Gewissheit, sein Leben, insbesondere seine Ausbildungssituation, planen und gestalten zu können. Das gibt ihm Sicherheit und reduziert die Symptome einer PTBS. Eine ganz wichtige Rolle spielt in diesem Zusammenhang die Schule. Kaum etwas anderes kann einem Jugendlichen wieder mehr das Gefühl von Normalität – und damit Sicherheit – vermitteln als der regelmäßige Besuch einer Schule und Bildungsmöglichkeiten! Dieses Sicherheit ge3 Vgl. Olema 2014.
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bende Umfeld ist die Grundlage einer jeden Behandlung, da kann die Psychotherapie nur noch dazu kommen, aber die Grundlage nicht ersetzen. Zu dieser Vermittlung von Sicherheit trägt in dieser Phase vor allem bei, dass den Betroffenen zugehört wird und ihnen vermittelt wird, dass man sie ernst nimmt und ihre Erfahrungen hören möchte. Unbedingt zu berücksichtigen ist aber auch die freie Entscheidung, ob sie darüber sprechen möchten oder nicht – die Verfügung über die eigene Geschichte und Biografie ist ein wesentliches Element, um wieder Sicherheit in den Lebensbezügen zu gewinnen! Trauma bedeutet ja die Negation der Existenz, der eigenen Handlungsmöglichkeiten – insofern ist die autonome Verfügung über die eigene Biografie ein wesentliches Element, ein solches Trauma zu überwinden! Manche erleben intensive Gespräche über ihre Erfahrungen, in denen auch die körperlichen Sensationen und Affekte intensiv abgefragt werden, wie zum Beispiel in einer narrativen Expositionstherapie als hilfreich, andere möchten nur vergessen – und das sollte meines Erachtens berücksichtigt werden. Begleitend können auch andere traumatherapeutische Verfahren hilfreich sein, zum Beispiel imaginative Verfahren oder Entspannungsverfahren. Ebenfalls kann eine symptombezogene medikamentöse Behandlung mit SSRI (selektive Serotonin-Aufnahmehemmer) oder/und niedrig dosierten Neuroleptika in dieser Phase sinnvoll sein. Ich glaube, es ist gut, wenn man einen traumatherapeutischen Baukasten zur Verfügung hat, den man individuell anwenden kann. Aber ohne Sicherheit, ohne Zukunft, ohne Schule, ohne Arbeit, ist alles nutzlos und zum Scheitern verurteilt! Eine Traumatherapie kann eine adäquate pädagogische Betreuung von Jugendlichen nicht ersetzen, ganz im Gegenteil! Nach meiner Erfahrung verlieren sich die klassischen Symptome einer PTBS unter einer solchen Betreuung und Behandlung spätestens innerhalb von 6 bis 9 Monaten, obwohl die Jugendlichen wie oben geschildert, massive traumatische Erlebnisse erleiden mussten. Wenn die sozialen Bedingungen stimmen, hat eine PTBS nach meiner Erfahrung (wie auch nach Literaturrecherchen) eine günstige Prognose – aber eben nur, wenn die Bedingungen stimmen. Der Einfluss der rechtlichen Sicherheit und der Geborgenheit vermittelnden Betreuungsinstitution ist für mich sehr deutlich geworden, weil ich den Vergleich mit erwachsenen Flüchtlingen habe, die ich auch in den letzten zwanzig Jahren häufig betreut habe: Sie leben lange in rechtlich ungesicherter Situation und ohne soziale Unterstützung. Dann kann auch die psychiatrisch-psychotherapeutische Behandlung oft nicht die Chronifizierung der PTBS-Symptomatik verhindern, und sie leiden jahre- bis jahrzehntelang darunter. Nach dem Verblassen der PTBS-Symptomatik treten dann aber oft umso deutlicher andere Symptome und Belastungen in den Vordergrund, auf die ich als nächstes eingehen möchte.
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Familie: Ohnmacht und Trauer Der schon oben beschriebene Hussein aus dem Iran litt nicht nur unter den verstörenden Bildern der Ermordung seines Vaters, sondern noch mehr unter dem Schicksal seiner restlichen Familie: die Mutter war mit ihm und drei Schwestern in die Türkei geflüchtet, das Geld reichte nur für ihn aus, um ins sichere Europa geschickt zu werden. Die Mutter mit den drei kleineren Schwestern lebte nun auf den Straßen Istanbuls, obdachlos und völlig mittellos. Allein die Vorstellung, dass er hier im Warmen sitzt, während der Rest in der Winterkälte Istanbuls zittert, er nichts für seine Familie tun kann, führte regelmäßig zu dissoziativen Zuständen mit Selbstverletzungen und suizidalen Handlungen. Mirhos, 12, aus Syrien, macht einen völlig verstörten Eindruck. Er kann nicht schlafen und fragte die Erzieher fünfmal am Tag nach dem Verlauf des Asylverfahrens; er ist nicht in der Lage, sich mit irgendetwas anderem zu beschäftigen. Im Gespräch stellt sich heraus, dass er das älteste von sieben Kindern ist, seine Familie lebt noch in Syrien, der Vater wird als Kinderarzt sowohl von Assads Truppen als auch von der IS bedroht – aber das Geld reichte nur für ihn, um ihn nach Deutschland zu schicken. Er telefoniert täglich mit den Eltern, er erfährt ihre Bedrohung im Krieg; jeden Abend wird er von der Familie gefragt, wann er sie nachholen könne. Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge sind zwar ohne ihre Eltern gekommen, aber sie sind nur in seltenen Fällen Waisen. In vielen Fällen leben die Eltern oder zumindest ein Elternteil noch, und sie spielen eine wesentliche Rolle im Erleben und in den Gedanken der Jugendlichen. Die Ohnmacht, der Familie nicht helfen zu können, ist meist eine größere Belastung für die Jugendlichen als die im engeren Sinne traumatischen Erfahrungen. Sie ist auch für den Therapeuten nur schwer zu ertragen, ist das doch nicht einer therapeutischen Intervention zugänglich, weil es reales Geschehen widerspiegelt: die Eltern sind ja noch im Krieg oder der Obdachlosigkeit oder dem Verhungern ausgesetzt! Es ist, als müsse man mit jemand Psychotherapie machen, der mit einem Bein noch im Schützengraben steht. Ein weiterer Prozess ist die Trauer um den Verlust der Familie und der Heimat. Auch wenn die Eltern noch leben, oder wenn sie schon gestorben sind und es also keine Verpflichtung gibt, sich um diese zu kümmern und zu sorgen, so spielt doch die Trauer um den Verlust von Familie und Heimat eine große Rolle. Nach meiner Erfahrung ist das insbesondere im zweiten Jahr des Aufenthaltes das bestimmende Problem, je nach der Dauer und Intensität der traumatischen Erfahrung. Wenn die Jugendlichen hier angekommen sind, Sicherheit erfahren, die gröbsten traumatischen Erfahrungen abklingen, dann wird ihnen erst recht deutlich, wo sie eigentlich sind: 3.000–6.000 km von der Familie, von der Heimat entfernt, in einem fremden Land. Dies führt bei vielen nicht nur zu Trauer,
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sondern auch zu Depression, und im Zusammenhang mit ihrer Entwicklungsphase zu regressiv-kindlichen Ansprüchen. Schwierig ist oft, dass gerade in dieser Zeit, im zweiten Jahr, auch die Schwierigkeiten im Leben in Deuschland deutlich werden: jetzt wird klar, dass es auch gar nicht so einfach ist, in Deutschland Fuß zu fassen und zum Beispiel einen Job zu finden. Dazu bedarf es des Spracherwerbs, des Schulbesuchs, einer jahrelangen Ausbildung. Jetzt werden die Berge sichtbar, die es zu überwinden gilt. Das zweite Jahr ist das schwerste, nicht das erste!
Familiäre Vermächtnisse Aber es gibt noch einen weiteren Komplex in der Beziehung insbesondere der Jugendlichen zu ihren Familien, und diesen bezeichne ich mit familiäre Vermächtnisse.
Erstes Beispiel Mahmut hatte sich mit 12 Jahren von der al-shabab in Somalia anwerben lassen. Die Eltern – der Vater Lehrer, die Mutter Ärztin – seien sehr beschäftigt gewesen, so dass er von den Lehren und dem Angebot der Miliz für Jugendliche beeindruckt gewesen sei und sich ihnen angeschlossen habe. Die Eltern waren entsetzt, als sie bemerkten, in welche Kreise ihr Sohn geraten war. Sie holten den Jungen unter Vorwänden aus dem Lager der al-shabab und versteckten ihn zuhause. Die Miliz wollte den Jungen aber wieder und erschoss den Vater im Haus. Ihm selber gelang die Flucht, die Mutter bezahlte einen Schleuser, der ihn außer Landes brachte. Vor kurzem erfuhr er, dass seine Mutter ebenfalls von der al-shabab ermordet worden war, seine Schwester habe einen ihrer Kämpfer heiraten müssen. Mahmut war einerseits überwältigt von den Schuldgefühlen gegenüber seinen Eltern, andererseits versuchte er, ihrem Auftrag und Vermächtnis gerecht zu werden und war ungemein fleißig in der Schule. Schon nach einem Jahr in Deutschland steuerte er auf den Realschulabschluss zu. Im Regelfall haben sich die Jugendlichen nicht allein zur Flucht entschlossen, sondern die Flucht ist von den Eltern entschieden und auch bezahlt worden. Wenn die Familie nun auf die Reise schickt, Geld in die Hand nimmt und die Flucht bezahlt, ist dies natürlich auch mit einem Auftrag verbunden: erst einmal um zu überleben, dann aber auch, in Europa einen Platz in der Gesellschaft zu finden und so die Familie im Heimatland zu unterstützen. Erst letzte Woche berichtete mir ein 17jähriger Somali, dass er seine Familie zuhause von seinem Taschengeld unterstützt! Unter diesen Bedingungen sind sie oft die einzigen in
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der Familie, die in Sicherheit sind, und auf ihnen lastet die Bürde, die Familie fortzuführen, sie sind der Träger des Überlebenswillens der Familie. Das würde ja als Rucksack eigentlich schon reichen: Stellen sie sich vor, sie wären der einzige Überlebende der Familie auf einem fremden Kontinent, in einer fremden Kultur, fremden Sprache …
Zweites Beispiel Abraham, 16, aus Eritrea, war in Libyen von Mitgliedern islamistischer Milizen gefoltert und vergewaltigt worden. Er ist davon überzeugt, dass er jetzt homosexuell sei, weil ihn Männer vergewaltigt hätten. Homosexualität sei in seiner Kultur einfach undenkbar und deshalb sei das wohl jetzt die Folge. Fatma, 19, aus Syrien, ist von IS-Kämpfern auf dem Weg in die Türkei vergewaltigt worden. Noch mehr als der Schock dieser Gewalttat beschäftigt sie die Überzeugung, dass sie nun wertlos sein, für einen normalen Mann nicht mehr ›brauchbar‹, sie sei entwertet und nur noch dazu da, einen behinderten oder alten Mann zu heiraten. Sexuelle Gewalt spielt nicht nur eine Rolle in der Entwicklung einer posttraumatischen Belastungsstörung, als Folge des Schocks der Gewalttat, sondern die eigentliche Bedeutung sexueller Gewalt, insbesondere in stark patriarchal geprägten Kulturen, besteht in der Entwertung der Persönlichkeit, der familiären und kulturellen Bedeutungszuschreibung. So gelten die Mädchen und Frauen nun als ›entwertet‹, ›wertlos‹, haben ihre Würde verloren – kein normaler Mann würde sie heiraten, wenn er von ihrem Schicksal erführe. Viele heiraten dann doch, oder wenn sie verheiratet sind, behilft sich das Paar, indem einfach so getan wird, als sei es nicht geschehen. Man redet nicht darüber und erst recht darf es nicht öffentlich werden. Bei jungen Männern bedeutet sexuelle Gewalt ebenfalls eine entsprechende Entwertung, wie beim genannten Beispiel des eritreischen Jugendlichen.
Drittes Beispiel Oft spielen aber auch direkt familiäre Konflikte und Streitigkeiten eine Rolle, dazu folgendes Fallbeispiel: Der 17jährige Rahman zeigte sich äußerst verschlossen und unzugänglich gegenüber den Erziehern. Sein Misstrauen schien übergroß. Über seine Gründe zur Flucht wollte er kaum reden, er sprach von Krieg in seiner Heimatregion, dem Süden Afghanistans. Als einzigen Kontakt akzeptierte er seinen drei Jahre älteren Bruder, der in Süddeutschland lebte. Nur mühsam ließ sich zumindest ein Teil seiner Geschichte herausfinden und klären:
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er stammt aus dem Süden Afghanistans, der Vater war vor ein paar Jahren gestorben, die Mutter alleine mit den beiden Söhnen geblieben. Sie hatte sich zunächst geweigert, dem landestypischen Brauch zu folgen und den Bruder des Vaters zu heiraten. Nachdem dieser aber offensichtlich ein Auge sowohl auf sie als auch auf ihre Ländereien geworfen hatte, stimmte sie einer Verbindung zu. Nachdem die Söhne von neuen ›Vater‹ wegen des Erbes aber schon bedroht worden waren, sorgte sie für die Flucht der Brüder nach Europa. Gerade in Staaten mit einem instabilen oder nicht existierenden Rechtssystem wie Afghanistan, Pakistan und Irak, sind familiäre Streitigkeiten, Auseinandersetzungen um das Erbe und ähnliches, häufig die Gründe, das Land zu verlassen. Sie kennen ja die Redensart in Deutschland unter Geschwistern: »Redet ihr noch miteinander oder habt ihr geerbt?«. Diese Konflikte stellen sich in diesen Ländern nochmal ganz anders dar. Über diese Konflikte reden die Jugendlichen nicht gerne – Konflikte in der Familie nach außen zu tragen und mit anderen darüber zu reden, gehört bei ihnen nicht gerade zum kulturellen Selbstverständnis. Die Loyalität zur Familie ist ein sehr hoher Wert, der nicht nur kulturell und in der individuellen Sozialisation stark vermittelt wird, sondern auch durch die Bedrohung der Familie von außen sehr stark gefördert wird. Deshalb werden diese Konflikte oft erst nach längerer Zeit und nach dem Gewinn einer Vertrauensbeziehung offenbar. Bei Jugendlichen kommt hinzu, dass der adoleszenztypische Ablösungskonflikt, die kritische Auseinandersetzung mit Werten und Einstellungen der Eltern, auf Grund der Loyalitäten, der familiären Aufträge und des Druckes der äußeren Situation sehr erschwert ist. Das führt oft dazu, dass die/der Jugendliche sich zurückzieht, verschlossen wirkt und sich abkapselt, immer weniger von sich zeigt. Die verwickelte und komplexe Familiendynamik und die Bedeutung dieser Konfliktlagen sind für den Familientherapeuten offensichtlich und bedürfen des Verstehens und einer sorgfältigen Analyse. In der Jugendhilfe und im Kontakt zu Erzieherinnen und Erziehern, in der Übertragung auf nahestehende Bezugspersonen, stellen sich diese Konflikte auf interaktioneller Ebene bald sehr deutlich dar und machen dann einen Großteil ihrer Schwierigkeiten aus: Zum einen suchen die Jugendlichen die Nähe und Unterstützung, sind auch dankbar dafür und möchten das Vertrauen der Bezugspersonen gewinnen – zum anderen fürchten sie sich, die Familie zu verraten, kritische Worte darüber zu verlieren und dabei eventuell auch die Legende preiszugeben. Mit Legende meine ich die Geschichte, die ihnen mitgegeben wird, um das Asylverfahren zu überstehen, ohne die familiäre Konfliktlage zu erwähnen. Das heißt, ihnen wird bewusst, dass sie den Personen, deren Vertrauen sie gewinnen möchten und auf deren Vertrauen sie angewiesen sind, nicht die ganze Wahrheit sagen können, was sie in erhebliche Schuldgefühle bringt. Dies drückt sich in starken Stimmungsschwankungen und Schwanken zwischen Nähe und
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Distanz in Beziehungen aus – was für die Bezugspersonen nur schwer zu verstehen und zu akzeptieren ist. Man bemerkt, man spürt, wenn man mit den Jugendlichen näher zu tun hat, dass ihre Geschichte, die sie zunächst berichten, so nicht ganz stimmen kann – und dies führt auch zu Misstrauen auf Seiten der Helfer. Jugendhilfeeinrichtungen kommen an diesem Punkt an ihre Grenzen, wenn nicht versucht wird, den gesamten Prozess und die Dynamik, insbesondere die Loyalitäten und Ambivalenzen gegenüber der Herkunftsfamilie zu verstehen. In der Jugendhilfe ist es heutzutage üblich, sich mit den Erziehungsbedingungen und den Wünschen und Aufträgen der Eltern auseinanderzusetzen. Eine familiendynamische bzw. systemische Sichtweise gehört praktisch zum Standard. Zu leicht wird dieser Gesichtspunkt aber bei minderjährigen Flüchtlingen vergessen, weil sie als ›Waisen‹ gesehen werden. Es ist oft hilfreich, sich vorzustellen, was der Wunsch der Eltern an die Erzieher wäre. Es hat sich sehr bewährt, in den Fällen, in denen es möglich ist – und es ist in vielen Fällen möglich – telefonisch Kontakt mit den Eltern aufzunehmen und sich sozusagen von ihnen den Auftrag zur Erziehung geben zu lassen. Ich arbeite inzwischen mit einer Jugendhilfeeinrichtung zusammen, die dies als Standard in ihrer Einrichtung etabliert hat.
Entwicklungsstand und -anforderungen Hakim, 17 Jahre, wird mir vom Heim erneut vorgestellt. Ich kenne ihn, er hatte Schreckliches in Somalia und auf der Flucht erlebt, insbesondere die Ermordung seiner Schwester. Nachdem er die Sicherheit erfahren hatte, nicht wieder nach Italien oder gar Somalia zurück zu müssen, besserte sich sein Zustand zunächst schnell. Er zeigte sich als sehr freundlicher und höflicher junger Mann, der mit Feuereifer lernte und sich schon nach einem halben Jahr mit mir auf deutsch verständigen konnte. Er wurde immer von Erzieherinnen begleitet, die, obwohl nur zehn Jahre älter als er, ein erkennbar mütterliches Verhältnis zu ihm aufbauten. Nun gab es aber wieder Probleme: Hakim war häufiger in Auseinandersetzungen mit anderen Jugendlichen im Heim verwickelt, zeigte sich reizbarer, stritt mit den Erziehern und hielt sich nicht immer an die Ausgangsregeln. Die Erzieher vermuteten, dass seine ›Traumatisierung‹ wieder stärker sei und er intensivere Therapie benötige. Im persönlichen Gespräch schimpfte der junge Mann jetzt über die Erzieher, von denen er sich nicht verstanden sah. Er berichtete nicht mehr wie ein Jahr zuvor über seine Erlebnisse in Somalia, sondern die unmittelbare Situation im Heim beherrschte sein Erleben: die Auseinandersetzungen mit den anderen Jungs, der Streit um Führungsposition (wer bestimmt das Fernsehprogramm?), sein Interesse an Mädchen, sein Wunsch, abends länger auszugehen.
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Fluchtgründe und auch die Flucht spielen sich bei jugendlichen Flüchtlingen in einer Lebensphase ab, in Pubertät und Adoleszenz, in der Kinder und Jugendliche normalerweise vor anderen Entwicklungsaufgaben stehen. All diese Entwicklungsaufgaben treten hinter die Erfordernisse der Flucht und der akuten Existenzsicherung zurück. Besonders auffallend ist für mich meist auch der Rückstand in der psychosexuellen Entwicklung. Lässt die akute Bedrohung nach, was typischerweise der Fall ist, wenn die/der Jugendliche eine Zeit lang in einer Jugendhilfeeinrichtung lebt, steht das Nachholen der oben genannten Entwicklungsaufgaben ganz im Vordergrund. Dies führt nicht selten zu Irritationen in der Einrichtung und bei den Erzieherinnen und Erziehern, weil der zuvor sich so hilfs- und anlehnungsbedürftig zeigende Jugendliche jetzt ›schwierig‹ wird, sich abgrenzt, sexuelle Aktivitäten zeigt, sich in der Gruppe aggressiv auseinandersetzt, sprich: Pubertät nachholt. Zusammen mit den Faktoren, die ich schon beschrieben habe – die Schwierigkeit, etwas von den Familienkonflikten darzustellen – besteht bei der Veränderung in der Entwicklung von einem hilfsbedürftigen Kind zu einem rebellischen Jugendlichen dann die Gefahr, dass die zunächst große Hilfsbereitschaft, diesen ›armen Waisen‹ doch zu helfen, umschlägt in Misstrauen, Verständnislosigkeit und aggressive Reizbarkeit bis hin zum Zynismus. Hier ist oft eine kritische Phase in der Beziehung festzustellen und es bedarf einer erheblichen Anstrengung und Kraft auch von seiten der Bezugspersonen sowie sorgfältiger Supervision, hier im Kontakt zu bleiben und den Jugendlichen zu verstehen. Aufgabe des Psychotherapeuten oder Psychiaters ist hier, die Dynamik zu erkennen, eine gezielte Analyse vorzunehmen und das Gespräch zwischen Jugendlichen und Erziehern zu vermitteln.
Soziale Stellung und Bildungserfahrungen Der 16 jährige Osman fühlt sich auch nach einem Jahr in Deutschland nicht wohl. Er ist depressiv, traurig, bedrückt und sozial zurückgezogen, gehemmt, in der Schule kommt er nicht gut mit. Ganz im Gegensatz zu seinem ein Jahr älteren Bruder Ali, der in der gleichen Einrichtung lebt. Es stellt sich nach einiger Zeit heraus, dass Osman nicht der leibliche Bruder von Ali ist, was vorher nicht bekannt war. Osman wurde als Kind in die Familie aufgenommen, nachdem seine Mutter, eine Schwester der Mutter von Ali, gestorben war. Im Gegensatz zu Ali wurde kein Schulgeld für ihn bezahlt, so dass er keine Schule besuchen konnte, er half im Haushalt, in der Landwirtschaft und im Garten. Er litt auch hier unter der Überheblichkeit des Halbbruders, der auf ihn als arme Verwandtschaft herabsah. Da er keinerlei Schulbildung bis zur Ankunft in Deutschland erfahren hatte, hatte er natürlich auch hier viel größere Schwierigkeiten als Ali.
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Häufig wird vergessen, dass die Jugendlichen aus Ländern kommen, in denen die sozialen Gegensätze sehr groß sind und auch die Sozialisationsbedingungen, seien es familiäre oder schulische, sehr unterschiedlich sind. Zu Beginn scheint das keine große Rolle zu spielen, weil alle ja unter derselben Bedrohung leiden: Flüchtling in einem Land, das sie im Regelfall sehr misstrauisch behandelt. Auf die Dauer werden aber die individuellen Sozialisationsbedingungen offenbar und gewinnen einen immer größeren Einfluss auf die Entwicklung. Die großen sozialen Gegensätze in den Herkunftsländern führen dazu, dass die Kinder aus bürgerlichen Schichten im Regelfall keinen Kontakt zu anderen Schichten haben und sie auch dazu erzogen werden, ärmeren Kindern mit einem gewissen Dünkel zu begegnen (ein afghanischer oder iranischer Händler wird sich zum Beispiel viel besser mit einem deutschen Arzt verstehen als mit einem afghanischen Bauern – mit dem spricht er nur, wenn es gar nicht anders geht). Dazu kann auch noch die ethnische Herkunft eine große Rolle spielen: z. B. wird sich ein Paschtune eher selten mit einem Hasara identifizieren, auch wenn sie beide aus Afghanistan kommen. Ebenso kann die Zugehörigkeit zu verschiedenen somalischen Clans auf die Dauer eine wichtige Rolle spielen und ist bei den in der Jugendhilfe aufbrechenden Entwicklungsanforderungen zu beachten. Auch bei den Anforderungen an das Bildungssystem spiegeln sich diese Erfahrungen natürlich. Nicht jeder schafft es hier in Deutschland bis zum Studium – auch wenn der Sohn des afghanischen Geschäftsmanns dies als selbstverständlich voraussetzt, weil der Vater ihm ja den Schulabschluss in Afghanistan notfalls gekauft hätte. Und es schafft auch nicht jeder das Abitur, nur weil er hier potentiell die Möglichkeit hat, zur Schule zu gehen, was im Heimatland gar nicht möglich war. Neben den familiären und individuellen Bildungserfahrungen spielt natürlich auch die Intelligenz eine zunehmende Rolle, um in unserem Bildungssystem voranzukommen. Dabei ist zu beachten, dass dies für die meisten Jugendlichen eine völlig fremde Kategorie ist: In ihren Heimatländern ist ja im Regelfall der Besuch einer Schule und erst recht einer höheren Bildungseinrichtung rein sozial selektiert: Wer Geld hat, wessen Vater das Schulgeld bezahlen kann, der kann auch Abitur machen und studieren. Dass individuelle Begabungen und Intelligenz selektiv wirken, wenn denn alle die Möglichkeit haben, zur Schule zu gehen, ist eine gänzlich andere Erfahrung und für die Betroffenen fremd. Auch den Familien ist dieser Zusammenhang oft nicht nahe zu bringen. Viele Jugendlichen werden an diesem Punkt depressiv, weil sie bemerken, dass ihre Bildungsleistung nicht so ist, wie sie und ihre Familien dies erwarten, sie haben aber keine Erklärung dafür. Hier bedarf es nicht nur sauberer kinder- und jugendpsychiatrischer Diagnostik, sonden auch viel Fingerspitzengefühls seitens der Erzieherinnen und Erzieher, die die Jugendlichen auf ihrem Weg begleiten und auch die Schul- und Berufslaufbahn mit den Jugendlichen besprechen.
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Fazit Zusammenfassend kann ich mit gutem Gewissen sagen, dass die Prognose auch bei zu Beginn schweren posttraumatischen Störungen recht gut ist, wenn denn die sozialen und rechtlichen Bedingungen für Sicherheit sorgen und der Aufbau einer neuen Existenz möglich ist. Aus meiner Erfahrung der letzten zwei Jahrzehnte kann ich sagen, dass nur die wenigsten, sowohl bei Jugendlichen als auch bei Erwachsenen, eine psychiatrische Betreuung über das erste Jahr hinaus benötigen, und die meisten sowieso überhaupt keine – auch wenn es stimmt, dass im ersten halben Jahr ca. 40 % der Asylbewerber an einer posttraumatischen Störung oder Anpassungsstörung leiden. Und wenn eine adäquate Betreuung und Förderung gesichert ist, so stehen nach zwei bis drei Jahren ca. 80–90 % in einer Ausbildung, so die Erfahrungen aus dem Gießener Raum, wo seit zwanzig Jahren mit diesen Jugendlichen gearbeitet wird. Ein persönliches Schlusswort möchte ich anfügen: Ich habe die Arbeit mit Menschen aus anderen Kulturkreisen, mit Flüchtlingen und Asylbewerbern, immer als persönliche Bereicherung erlebt – und die psychischen Konflikte sind ungeachtet des oft so unterschiedlichen kulturellen Hintergrundes durchaus nachvollziehbar und verständlich. Ein Jugendlicher aus Somalia erzählte mir einmal in einem Gespräch über diesen Zusammenhang ein somalisches Sprichwort, an das ich oft denken muss: »Die Menschen sind so unterschiedlich wie Finger einer Hand« – ja, so ist es, wir sind uns meist näher und weniger fremd als wir zunächst denken!
Literatur AWMF online: Leitlinie zu posttraumatischer Belastungsstörung (2011), http://www. awmf.org/leitlinien/detail/ll/051-010.html (letzter Zugriff 10. 2. 2018). Becker, David: Prüfstempel PTSD – Einwände gegen das herrschende Trauma-Konzept, in: medico international (Hrsg.), Schnelle Eingreiftruppe Seele (medico-Report 20), Frankfurt a.M. 2000 [1997]. Eibl-Eibesfeldt, Irenäus: Die Biologie des menschlichen Verhaltens. Grundriß der Humanethologie, 4. Auflage, München 1997. Keilson, Hans: Sequentielle Traumatisierung. Deskriptiv-klinische und quantifizierendstatistische follow-up Untersuchung zum Schicksal der jüdischen Kriegswaisen in den Niederlanden, Gießen 2001 (Erstauflage: Stuttgart 1979). Münkler, Herfried: Die neuen Kriege, Reinbek 2004. Olema, D.K. / Catani, C. / Ertl, V. / Saile, R. / Neuner, F.: The Hidden Effects of Child Maltreatment in a War Region: Correlates of Psychopathology in Two Generations Living in Northern Uganda, Journal of Traumatic Stress 27/1 (2014) 35–41.
Alles Trauma?
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Reddemann, Luise: Imagination als heilsame Kraft. Zur Behandlung von Traumafolgen mit ressourcenorientierten Verfahren, Stuttgart 2005. Schauer, M. / Neuner, F. / Elbert, T.: Narrative Exposure Therapy: A Short-Term Intervention for Traumatic Stress Disorders after War, Terror, or Torture, Göttingen 2005. van der Kolk, Bessel (Hrsg.): Traumatic Stress. Grundlagen und Behandlungsansätze. Theorie, Praxis, Forschung zu posttraumatischem Stress und Traumatherapie, Paderborn 2000. Waal, Frans de: Der gute Affe. Der Ursprung von Recht und Unrecht bei Menschen und anderen Tieren, München 2000.
Jette van der Velden
Bildungserfahrungen, Flucht und schulischer Erfolg. Zur schulischen Betreuung von minderjährigen Geflüchteten im Grundschulalter
In den Jahren 2015 und 2016 stiegen die Zahlen von geflüchteten Schülern an allen deutschen Schulformen stark an. Im Jahr 2016 wurde für 183.194 Personen im Alter von 4 bis 18 Jahren in Deutschland ein Asylantrag gestellt. Dazu kamen 169.853 Anträge für Menschen im Alter von 18 bis 25 Jahren. Von den 722.370 Antragstellern waren 73,8 % jünger er als 30 Jahre.1 Für die Schulen war es eine große Herausforderung, die Lehrer mussten von einem auf den anderen Tag eine große Gruppe von neuen Schülern in ihre Klassen integrieren und ihren neuen Schülern passende Lernangebote machen. Die Kinder und ihre Eltern kommen jedoch nicht als unbeschriebene Blätter hierher. Sie haben Bildungserfahrungen, Vorstellungen darüber, was ein Kindergarten oder eine Schule ist, wie man lernt und unterrichtet, was vermittelt wird und wie Elternhaus und Schule zusammenarbeiten. Sie haben innerhalb der Familie, in Schulen oder auf der Flucht Bildungserfahrungen gemacht. Zu diesen Bildungshintergründen der Geflüchteten gibt es kein verlässliches Zahlenmaterial. Die Ergebnisse der bei der Asylantragsstellung gemachten freiwilligen Befragung fasst das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge wie folgt zusammen: »Rund ein Fünftel der befragten Asylerstantragsteller aller Herkunftsländer besuchte eine Hochschule, ein weiteres Fünftel ein Gymnasium … Nur 7 % haben keine formelle Schulbildung. Allerdings hat ebenfalls ein gutes Fünftel nur maximal vier Jahre eine Schule besucht. 32 % gaben eine Mittelschule als höchste besuchte Bildungseinrichtung an.«2
Einige der neuen Schüler brauchen besondere schulische Angebote, um in den Regelschulalltag integriert werden zu können. Dies gilt nicht nur für fachspezifische Kompetenzen, wie z. B. das Lernen von Deutsch als Zweitsprache und dem Erwerb mathematischer Grundfertigkeiten. Geflüchtete haben häufig auch besondere Bedarfe für den Bereich der sozioemotionalen Entwicklung. Für die 1 Quelle: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Aktuelle Zahlen zu Asyl, Ausgabe Dez. 2016, S. 7. 2 Rich 2016, hier S. 5.
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Jette van der Velden
Schulen stellten und stellen sich verschiedene Aufgabenschwerpunkte. Einige davon sind: – Deutsch als Zweitsprache so zu vermitteln, dass der Schüler erfolgreich am Unterricht teilnehmen kann. – Bildungslücken, die durch teilweise langjährige Flucht oder unterschiedliche Curricula in den Heimatländern entstanden sind, aufzuarbeiten. – In der deutschen Schullandschaft etablierte Lern- und Arbeitstechniken zu vermitteln, ohne die ein Schüler dem Unterricht nicht folgen kann. Hier wären als Stichpunkte Gruppenarbeit, eigenverantwortliches Lernen oder ein schülerzentrierter Unterricht, versus auf den Lehrer zentrierter Frontalunterricht zu nennen. – Neben Fach- und Methodenkompetenzen auch Sozialkompetenzen zu vermitteln. Hierzu können respektvoller Umgang mit Lehrern und Mitschülern oder das Erlernen von Klassenregeln gehören. Die Kinder und Jugendlichen kommen so mit unterschiedlichen Voraussetzungen, familiären Konstellationen und Fluchterfahrungen an. Um ihre Stärken und Lücken einschätzen zu können, ist es auch nötig, einige Grundkenntnisse über das heimatliche Schulsystem und über die individuellen Lernerfahrungen zu erfahren. Dies kann hilfreich sein, um Schwierigkeiten im Unterrichtsalltag und mit bestimmten Lernformen einzuschätzen und somit einen bestmöglichen Lernerfolg zu ermöglichen.
Bildungshintergründe und -vorstellungen als Einflussfaktor? Seit Mitte 2015 fördere ich mehrere geflüchtete Kinder, die auf eine Grundschule in Rheinland-Pfalz gehen. Die Kinder sind ihrem Alter entsprechend Klassen zugeordnet und werden mehrmals wöchentlich für einen DaZ-Unterricht in Kleingruppen gefördert. Ich gebe den Kindern in Einzelstunden Unterstützung, damit sie einfacher am Regelunterricht teilnehmen können. Unter dieser Gruppe gab es im Schuljahr 2015/2016 vier Mädchen, die sehr ähnliche Voraussetzungen hatten. Sie besuchten alle die vierte Klasse und stammten aus Nord-Syrien. Anhand dieser vier Mädchen möchte ich einige Faktoren, die die Integration in das deutsche Schulsystem beeinflussen, beschreiben. Vorab sollen dazu einige Informationen treten, die sich auf die Bildungssituation in Syrien vor dem Ausbruch des Krieges 2011 beziehen: »In Syrien besteht allgemeine Schulpflicht, die für alle Kinder im Alter von 6 bis 15 Jahren gilt (Schulpflicht bis zur 9. Klasse). Die Einschulungsrate im Grundschulbereich liegt bei 99 Prozent (Jungen) bzw. 98 Prozent (Mädchen). Die Analphabetenrate ist auf
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17 Prozent gesunken und liegt in der Altersgruppe der 15- bis 24- Jährigen bei 5,5 Prozent (Männer: 4 Prozent, Frauen: 7 Prozent). Das hohe Bevölkerungswachstum und die hohe Präsenz irakischer Geflüchteter in Syrien stellen eine große Herausforderung für die schulische Infrastruktur in Syrien dar. Staatliche Schulen sind überfüllt, viele Schulen unterrichten im Schichtsystem. Obwohl syrische Schulen irakischen minderjährigen Geflüchteten offenstehen, bleibt die Einschulungsrate innerhalb dieser Gruppe niedrig und die Abbrecherquote hoch.«3
Mariam Als ich Mariam4 kennenlernte, war sie neun Jahre alt. Sie erzählte mir, dass sie zusammen mit ihren Eltern und einem Bruder im Kindergartenalter für zwei Jahre auf der Flucht durch den Maghreb war, bevor sie in Deutschland ankam. In ihrer Heimatstadt hatte sie vor der Flucht ein halbes Jahr lang eine Grundschule besucht, nun geht sie in eine dritte Klasse. Die ersten Monate hatte Mariam noch einige Schwierigkeiten sich in den Schulalltag einzugewöhnen. Sie musste erst längeres Stillsitzen und sich Melden einüben und sie musste lernen, mit ihren Klassenkameraden respektvoll umzugehen und ihre Bedürfnisse nicht mit Gewalt durchzusetzen. Zum Anfang sprach sie nur Arabisch und noch kein einziges Wort Deutsch. Die geduldige Klassenlehrerin schaffte es, dass sie in groben Zügen dem Mathematikunterricht folgen konnte. Mariam zeigte mir gleich, dass sie recht gut Arabisch lesen und schreiben konnte. Dies erstaunte mich, aber sie erzählte mir, dass ihre Mutter Englischlehrerin gewesen sei und ihrer Tochter auf der Flucht immer Unterricht gegeben habe. Mariam lernte recht schnell, Deutsch zu lesen und zu schreiben. Der deutsche Schriftspracherwerb wurde durch ihre arabischen Schriftsprachkenntnisse sehr erleichtert. Generell war ihr der Umgang mit Heften, Büchern und Stiften geläufig. So brauchte Mariam schon nach wenigen Monaten nicht mehr meine Unterstützung. Die Hilfen innerhalb des Regelunterrichtes sowie der zusätzliche DaZ-Unterricht schienen ausreichend, so dass sie im deutschen Schulalltag ankommen konnte. Mariams Persönlichkeit war auch mit einem guten Maß an Selbstbewusstsein und Durchsetzungskraft ausgestattet. Sie war eine fröhliche und offene Person, die gerne Kontakte knüpfte. Sie achtete darauf, genug Aufmerksamkeit von der Klassenlehrerin zu erhalten und in der Klasse Freundschaften zu knüpfen. Nach ca. einem halben Jahr wechselte Mariam die Grundschule, da die Familie eine Wohnung in einem anderen Stadtteil gefunden hatte und aus der Gemeinschaftsunterkunft ausziehen konnte. 3 Quelle: http://www.auswaertiges-amt.de/DE/Aussenpolitik/Laender/Laenderinfos/Syrien/Kul tur-UndBildungspolitik_node.html (Zugriff am 25. 2. 2016). 4 Alle in diesem Beitrag genannten Namen sind anonymisiert.
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Lulya Die 10 Jahre alte Lulya kam erst zu Beginn des zweiten Halbjahres an die Grundschule. Dort besuchte auch sie eine vierte Klasse. Obwohl sie damals erst seit etwa vier Monaten in Deutschland war, konnte ich mich gleich von Anfang an auf dem Pausenhof mit ihr auf Deutsch unterhalten. Von Anfang an verfolgte sie den Regelunterricht. Außer dem DaZ-Unterricht erhielt Lulya keine weitere gesonderte Fördermaßnahme. Der englischsprachige Vater erschien häufiger an der Schule, um sich nach der Entwicklung der Tochter zu erkundigen. Die Familie spricht zu Hause Kurdisch (Kurmandschi), beide Eltern sind Akademiker. Das Mädchen hat noch einen kleineren Bruder. Unter den ca. zehn geflüchteten Viertklässlern dieser Grundschule war Lulya die einzige, die eine Gymnasialempfehlung bekam. Lulyas weitere Schullaufbahn konnte ich nicht verfolgen, da der Vater bald eine Facharztstelle an einer Klinik in einer anderen Stadt annahm und die Familie umzog.
Salma Die zehnjährige Salma ist das dritte von vier Kindern. Der Vater hat in Syrien als Schneider gearbeitet, die Mutter war Hausfrau. Beide Eltern haben die Schule sechs Jahre besucht. Auch diese Familie spricht Kurmandschi zu Hause. Salma besuchte zwei Jahre lang eine Grundschule in ihrer Heimatstadt. Als der Krieg dorthin gekommen war, floh die Familie in das Dorf der Großeltern. Dort war ein Schulbesuch nicht mehr möglich. Drei Monate später floh die Familie in die Türkei und lebte für etwa zwei Jahre in Istanbul, bevor sie sich auf den Weg nach Deutschland machten. In Istanbul waren die Kinder tagsüber sich selbst überlassen. Sie besuchten keine Schule, und ihre Eltern arbeiteten den ganzen Tag. So spielten sie viel auf der Straße und schauten viele türkische Kinderprogramme im Fernsehen. Ihre sehr guten Türkischkenntnisse halfen Salma, sich an ihrer Schule in Deutschland zurechtzufinden, da ihre türkischsprachigen Klassenkameraden ihr gerne immer wieder halfen und als Übersetzer einsprangen. Salma konnte Arabisch lesen und schreiben. Sie wurde einer vierten Klasse zugeteilt. Im Rechnen war sie im Zahlenraum bis zehn sicher. Innerhalb eines Schuljahres konnte sie sich aber den Zahlenraum bis 10.000 erweitern, lernte alle Rechenformen und das Einmaleins. Auch im Lesen machte sie in diesem Zeitraum gute Fortschritte. Das mechanische Lesen lernte sie schnell, und ihrem sich stetig erweiternden Wortschatz entsprechend konnte sie langsam auch in groben Zügen einfache Texte erfassen. Abschreiben war nach ca. einem halben Jahr keine Mühe mehr, aber Diktate machten ihr noch große Probleme. Wegen der geringen Sprachkenntnisse konnte sie auf keine abgespeicherten Worte zurückgreifen.
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Das Unterscheiden der teils unterschiedlichen deutschen Morpheme fiel ihr schwer. Bei einem Elterngespräch mit der Klassenlehrerin erzählte der Vater, dass er jeden Abend mit seinen Kindern ein wenig Deutsch zu Hause übe. Obwohl der Deutschkurs, den er besuchte, für ihn teilweise eine Überforderung war, schrieb er alles von der Tafel ab und ließ es am Abend seine Kinder vorlesen und ebenfalls abschreiben. Zum Ende der fünften Klasse wechselte Salma auf eine Realschule.
Behrivan Behrivan war ebenfalls zehn Jahre alt. Sie besuchte dieselbe Klasse wie Salma und stammt aus derselben Stadt in Syrien. Sie ist das mittlere von drei Kindern. Bevor die Familie aus der Stadt in das Dorf ihrer Großeltern floh, hatte Behrivan drei Monate lang die erste Klasse besucht. Im Dorf gab es keine Schule. Der Vater fand für die ältere Tochter, die schon auf einer Mittelschule gewesen war, eine ebenfalls geflohene Englischlehrerin, die ihr einige Extrastunden gab. Für Behrivan gab es kein Angebot. Nach etwa einem Jahr floh die Familie weiter nach Istanbul. Auch Behrivan lebte zwei Jahre in einer Wohnung in Istanbul ohne Beschulung. Die Eltern arbeiteten tagsüber bis zu zwölf Stunden, um die Miete bezahlen zu können. Die Mutter erzählte mir, dass es häufig nicht für das Essen gereicht habe. Als Behrivan 2015 in die vierte Klasse eingeschult wurde, war sie also de facto zum ersten Mal richtig an einer Schule. Sie musste über einen längeren Zeitraum an Klassenroutinen herangeführt werden und lernen, sich an Frühstückszeiten, Melderegeln etc. zu gewöhnen. Behrivan musste zu Beginn an den Zahlenraum bis zehn herangeführt werden. Bis zum Ende der vierten Klassen schaffte sie es, Rechnungen im Zahlenraum bis zwanzig zu lösen, wobei sie keine sichere Rechnerin war. Auch beim Lesen und Schreiben lernen zeigte sie größere Schwierigkeiten. Noch bis zum Ende des Schuljahres kannte sie nicht alle Buchstaben und konnte noch keine Silben zusammenziehen. Der Vater von Behrivan ist Schneider, die Mutter hatte als Friseurin gearbeitet. Beide haben die Mittelschule besucht und berichteten, dass auch sie beim Erlernen des Deutschen große Schwierigkeiten hätten. Bei mehreren Gesprächen wurde offensichtlich, dass der Vater die Schule als funktionaler Analphabet verlassen hatte. Kleinere Übersetzungen ins Arabische ließ er seine älteste Tochter schreiben. Die Eltern fühlten sich von ihren Deutschkursen teilweise überfordert. Sie zeigten von Anfang an ein großes Interesse an dem schulischen Fortkommen ihrer Kinder und erschienen immer gemeinsam zu den Elterngesprächen in der Schule. Sie hatten zeitweise ein kurdisches Mädchen mit guten Deutschkenntnissen gefunden, das mit Behrivan lesen üben sollte. Behrivan wiederholte freiwillig die vierte Klasse. Zum Ende der wiederholten vierten Schulklasse konnte Beehrivan mit Mühe einfache lautgetreue Texte lesen und
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bekannte Worte schreiben. Ihren Zahlenraum hatte sie bis 100.000 erweitert und konnte, noch nicht sicher, in diesem Zahlenraum rechnen. Sie war eine ernsthafte Schülerin geworden, die sich gut in den Klassenalltag einfügen und auch teilweise den Sachkundethemen folgen konnte.
Vergleich der schulischen Entwicklung Vergleicht man die Voraussetzungen dieser vier Mädchen in Bezug auf die unterschiedlichen Kenntnisstände, mit denen sie das deutsche Schulleben begannen und in Bezug auf ihre unterschiedlichen Entwicklungen im ersten Jahr an ihrer Schule, so kann man einige Vermutungen über deren Ursachen anstellen. Alle vier Mädchen kamen aus derselben Stadt in Nord-Syrien, waren zwei bis drei Jahre in keiner Schule gewesen und auf unterschiedlichen Wegen auf der Flucht. Drei der vier Mädchen sprechen mit ihrer Familie Kurmandschi, einen kurdischen Dialekt. Von ihnen sprach nur Lulya zusätzlich Arabisch. Sie hatte länger schulische Bildung in Syrien erfahren und so Arabisch gelernt. Mariams Muttersprache ist Arabisch. Die beiden letztgenannten Mädchen machten die besten und schnellsten Erfolge in der Schule. Sie konnten problemlos alphabetisiert werden und innerhalb weniger Monate relativ flüssig lesen und Texte abschreiben, beziehungsweise erlernte Worte frei schreiben. Auch Salma erlernte recht zügig die deutsche Schrift. Sie machte auch bei den mathematischen Kompetenzen innerhalb eines Schuljahres erstaunliche Fortschritte und holte in dieser Zeit den Stoff zweier Schuljahre auf. Behrivan hingegen tat sich in allen schulischen Bereichen sehr schwer. Das willige Mädchen erlernte schwer Lesen und Schreiben und machte im mathematischen Bereich sehr langsam Fortschritte. Auch die Feinmotorik erschien bei ihr ungeübt. Sie schrieb und malte auch nach mehr als einem Jahr immer noch recht ungeschickt, hatte eine große und ungelenke Schrift, die nicht zu ihrer sorgsamen Handhabung der Schulmaterialien zu passen schien. Mariams und Lulyas Eltern sind Akademiker, die Mütter Lehrerinnen. Beide Mädchen erzählten, dass sie während der Flucht von ihren Müttern unterrichtet worden seien. Sie hatten die geringsten Probleme, sich den akademischen Aufgaben der Schule zu stellen. Lulyas Vater tauschte sich während der Monate, die seine Tochter an dieser Grundschule war, regelmäßig mit den Lehrern aus, fragte nach der Entwicklung der Tochter und nach Möglichkeiten der häuslichen Unterstützung. Schon ein paar Monate vor dem avisierten Umzug in eine andere Stadt, bereitete er diesen für seine Tochter vor, suchte dort eine Schule, erledigte alle Unterlagen und sorgte dafür, dass sein Kind möglichst gut vorbereitet für das Gymnasium war.
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Die Eltern der anderen Mädchen waren ebenfalls sehr an der Entwicklung ihrer Kinder interessiert. Sie erschienen aber nicht selbständig in der Schule und versuchten auch nicht, sich in der Förderung der Kinder mit der Schule abzustimmen. Salmas Vater übte Lesen mit der Tochter, erzählte dies der Klassenlehrerin aber erst, als er zu einem Elterngespräch geladen wurde. Er und seine Frau waren nicht auf die Idee gekommen, das häusliche Üben mit der Schule abzustimmen. Behrivans Eltern hingegen sagten ganz offen, dass eine häusliche Unterstützung sie deutlich überfordern würde, da sie selber die lateinische Schrift kaum lesen könnten und auch die Mathematikbücher nicht verstanden. Sie suchten nach außerfamiliären Hilfen, die aber nicht von Dauer waren.
Basiskompetenzen für den Schriftspracherwerb und den Erwerb mathematischer Kompetenzen Durch die Flucht und die Umstellung auf ein neues Schulsystem müssen die Kinder nicht nur eine neue Schrift und andere Rechenschritte im Mathematikunterricht lernen. Viele Lehrer berichten, dass den Kindern Basisfertigkeiten fehlen. Im schriftsprachlichen Bereich ist dies der Themenkomplex um die phonologische Bewusstheit. Im Allgemeinen wird davon ausgegangen, dass der Erwerb von lautsprachlichen Kompetenzen bei Schuleintritt abgeschlossen ist. Für geflüchtete Kinder, die mit einer anderen Muttersprache aufgewachsen und teilweise literarisiert worden sind, kann dies nicht immer vorausgesetzt werden. Die Bildung in syrischen Kindergärten legt zum Beispiel keinen Wert auf phonologische Bewusstheit, und auch bei der Vermittlung von schriftsprachlichen Kompetenzen wird an syrischen Grundschulen darauf keinen Wert gelegt. Sollte ein Kind durch längere Flucht und Krieg gar keine Schule besucht haben und die Familie bildungsfern sein, ist die Wahrscheinlichkeit sehr hoch, dass dem Kind Basisfertigkeiten fehlen. Ähnliches gilt für den mathematischen Bereich. Die mathematischen Basiskompetenzen5 werden bis zum Eintritt in die erste Klasse erworben. Hierzu gehören das Wissen über die Ziffern bis zehn bzw. bis zwanzig, die Mengen im Zahlenraum bis zehn, das Teil-Ganzes-Konzept und einfache Rechenfertigkeiten. Kinder lernen dies im Umgang mit Zahlen, Mengen und Ziffern, wenn sie Spielzeuge zählen, sich davon überzeugen wollen, dass Süßigkeiten unter den Geschwistern gerecht verteilt worden sind oder anderen Situationen. In den letzten Jahren wird auch verstärkt in den Kindergärten auf die Bildung mathe5 Fritz / Ricken / Gerlach 2007, hier S. 7ff.
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matischer Kompetenzen geachtet. Teilweise werden auch evaluierte Förderprogramme eingesetzt, wie zum Beispiel das Programm »Mengen, zählen, Zahlen«6. Geflüchtete Kinder bildungsferner Familien kommen auch hier ins Hintertreffen. Durch ihre oft stark unterbrochene Schullaufbahn können große Defizite vorhanden sein. Aber auch den Kindern, die ich unterstützt habe, die mehrere Jahre in ihren Heimatländern eine Schule besucht haben, fehlen zum großen Teil fundamentale Einsichten, wie ein Verständnis in das dekadische System.
Ankommen im Schulalltag, Klassenregeln, Disziplin Alle vier Mädchen brauchten zwei bis drei Monate, bis sie im Schulrhythmus ankamen. Sie waren ungeübt daran, sich an Klassenregeln zu halten. Es war am Anfang schwer für sie, länger still zu sitzen, zu warten, bis alle in der Klasse frühstückten, oder sich beim Verteilen von Materialien in eine Reihe zu stellen. Man merkte den Kindern an, dass sie lange nicht in einer Schule gewesen waren. Behrivan zeigte bis zum Ende des ersten Schuljahres, dass das schulische Leben eine große Herausforderung für sie war. Bei Gruppenarbeiten oder im gesonderten Kleingruppenunterricht für die Kinder mit besonderem Förderbedarf spielte sie häufig schnell herum und vergaß ihren Arbeitsauftrag. Sie konnte sich nicht recht konzentrieren und brauchte öfter Methodenwechsel. Mariam und Behrivan benötigten am längsten dafür, sich regelkonform zu benehmen. Sie waren auch die beiden Kinder mit der geringsten Schulerfahrung aus Syrien. Salma und Behrivan zeigten die folgend von Rogoff und De Capua beschriebenen Schwierigkeiten Geflüchteter: »SLIFE [Students with Limited or Interrupted Formal Education, also Schüler mit begrenzter oder unterbrochener schulischer Bildung; Anm. der Verfasserin], die aus Flüchtlingslagern, aus ländlichen Gebieten, aus städtischen Gebieten ohne gute Bildungsinfrastrukturen kommen oder die Jahre der Schulbildung verpasst haben, werden in erster Linie informellen Lernmethoden ausgesetzt gewesen sein. Solches Lernen findet im Rahmen der soziokulturellen Praxis der eigenen Familie und Gemeinde statt, wie z. B. Landwirtschaft, Kinderbetreuung, Handel oder Handwerk.«7
Lulya dagegen konnte sich von Anfang an gut ins Schulleben integrieren. Ihre Eltern zeigten auch am deutlichsten ein Verhalten, das bei einheimischen bildungsnahen Familien zu beobachten ist. Sie standen im regen Kontakt mit den Lehrern des Kindes, stimmten das häusliche Üben auf die Gegebenheiten der Schule ab. Außerdem hatten sie während der Flucht die Schulbildung zu Hause zu ersetzen gesucht. Ähnliches kann auch von Mariams Familie gesagt werden. 6 Krajewski / Nieding / Schneider 2007. 7 Rogoff, 2003, hier S. 2 (Übersetzung aus dem Amerikanischen von der Verfasserin).
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Hier hatte das Kind nur eine längere Zeit gebraucht, sich in die sozialen Gegebenheiten ihrer neuen Umgebung einzufinden.
Bildungs- und Erziehungsaufgaben der Eltern Bei Salma und Behrivan konnte beobachtet werden, dass die Fluchtsituation bildungsferner Familien eine größere Herausforderung für die akademischen Möglichkeiten der Kinder sein kann. Die Kinder haben durch Krieg und Flucht nicht nur keinen Zugang zu schulischer Bildung, sondern es kommt noch hinzu, dass die Eltern nicht die Möglichkeiten haben, den schulischen Stoff zu vermitteln. Dies korrespondiert auch mit der Beobachtung, dass gemeinsames lesen, Bilderbücher anschauen oder zusammen ein Spiel zu spielen bei einem großen Teil der geflüchteten Familien nicht weit verbreitet sind. Es werden andere Möglichkeiten bevorzugt, um eine enge und vertrauensvolle Beziehung zu seinen Kindern aufzubauen und eine befriedigende Zeit mit ihnen zu verbringen. Familien verbringen in der Regel viel Zeit zusammen und halten auch enge Beziehungen zu Verwandten. Hier werden soziale Kompetenzen vermittelt und die Kinder lernen im Zusammenleben ihre Aufgaben und Verantwortungsbereiche innerhalb der Familie kennen. Sie lernen den Umgang mit Erwachsenen oder den Umgang mit Kleineren oder helfen ein wenig im Haushalt. Die Verantwortung für die Vermittlung dieser Kompetenzen wird auch zum großen Teil bei der Familie gesehen. So können die Familien schnell den Eindruck gewinnen, dass in Kindergarten und Schule Zeit verloren wird mit Aktivitäten wie gemeinsamem Kochen oder einem Klassenfrühstück. Das scheint ihnen keine Vorbereitung auf das Lesen, Schreiben und Rechnen zu sein, das Kinder in der Schule ja lernen sollen. Da aber Spielen zum großen Teil als sinnfreie Beschäftigung gesehen wird, muss in dieser Vorstellung familiärer Bildungsvermittlung nicht darauf geachtet werden, dass Kinder malen, basteln oder sich Kinderbücher anschauen. So schaffen die Eltern keine Umgebung, die für die Bildung der Vorläuferfertigkeiten (phonologische Bewusstheit, Umgang mit Mengen und Zahlen, Feinmotorik, etc.) zuträglich wäre. Dies sah man deutlich an Behrivan, die zum Beispiel mit zehn Jahren noch große Schwierigkeiten hatte, im Zahlenraum bis 10 zu rechnen.
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Zusammenarbeit mit dem Elternhaus Geflüchtete Familien bringen ihre Vorstellungen und Erfahrungen vom Schulleben mit nach Deutschland. Dies betrifft die Vorstellungen über den Aufbau der Schulen, die Bildungsziele oder auch die Aufgaben der Lehrer, der Schüler und der Eltern in Bezug auf das Schulleben. Für viele Familien ist das deutsche Schulsystem, mit den vielen verschiedenen Schulformen, Abschlüssen und Möglichkeiten, die Schullaufbahn zu gestalten oder über den zweiten Bildungsweg zu verbessern, unübersichtlich und unverständlich. Als mehrere Kinder am Ende der vierten Klasse eine Schulempfehlung für eine Realschule erhielten, führte dies zu größten Widerständen seitens der Eltern, weil sie befürchteten, dass ihre Kinder nie mehr auf ein Gymnasium würden wechseln können. Sie gingen von den Schulsystemen ihrer Heimatländer aus, die hierarchischer aufgebaut sind und ein Wechseln von einer Schulform zu einer anderen kaum zulassen. Auch waren ihnen die Möglichkeiten für Berufsausbildungen außerhalb der Universitäten nicht bekannt. Die finanziellen Möglichkeiten in nichtakademischen Berufen sowie deren gesellschaftlicher Status in Deutschland waren ihnen ebenfalls fremd. Grundlegende Bildungsaufträge, wie die Vermittlung von Disziplin oder anderer Sozialkompetenzen, werden von vielen geflüchteten Eltern im Verantwortungsbereich der Schule oder auch eines Kindergartens gesehen. In einer Studie von Birgit Leyendecker, Banu Citlak, Jörg-Peter Schräpler und Axel Schölmerich zur Diversität elterlicher Einstellungen und vorschulischer Lernerfahrungen wird festgestellt: »Die Wertschätzung der Kooperation zwischen Eltern und Schule wurde von den deutschen Familien hoch, von den anderen Gruppen jedoch unterschiedlich bewertet. Bei den türkischen Familien sowie bei der Gruppe mit nicht näher spezifiziertem Migrationshintergrund stieg mit der Bildung der Mutter auch die Wahrscheinlichkeit, dass die Wertschätzung für die Kooperation hoch war«8 … »Dazu passt der hier festgestellte Zusammenhang bei den türkischen Familien mit niedriger oder mittlerer Bildung (ebenso wie bei anderen Familien mit niedriger Bildung), dass die Vermittlung von Disziplin an die Schule delegiert wird, dass die Mütter erwarten, dass der Kindergarten mehr Verantwortung für die Vorbereitung auf die Schule übernimmt ebenso wie der vergleichsweise hohe Fernsehkonsum der Kinder und die geringe Bedeutung, die dem Vorlesen zugemessen wird.«9
Aladin El-Mafaalani und Ahmet Toprak benennen auch Erwartungen muslimischer migrantischer Familien an die Schulen. Diese Erwartungen kann man sicherlich auch bei den meisten geflüchteten Familien annehmen. 8 Leyendecker / Citlak / Schräpler / Schölmerich 2014, hier S. 86. 9 Ebd., S. 88.
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»Dem Kind sollen klare Grenzen gesetzt werden. Die Erwartung, Kinder sollen bestimmte Dinge selbstständig erledigen, kooperativ mit anderen zusammenarbeiten und selbst einsichtig sein, ist aus der Perspektive der Eltern unverständlich. Dem Kind sollen nicht zu viele Entscheidungs- und Handlungsspielräume überlassen werden, d. h. dass die Lehrkraft entscheiden soll, was das Richtige für jedes Kind ist. Das Vertrauen in den Lehrer ist größer als in das Kind. Eine klare Rollenaufteilung zwischen Schule und Familie, was bedeutet, dass die Schule eigenverantwortlich Entscheidungen treffen soll und nicht bei jeder Angelegenheit die Schüler bzw. deren Eltern miteinbezieht. Die Eltern erwarten zudem, dass die Lehrer mehr Respekt, Disziplin und Ordnung von den Kindern bzw. Schülern einfordern.«10
Im Gutachten zur interkulturellen Elternbeteiligung der RAA (Regionalen Arbeitsstellen zur Förderung von Kindern und Jugendlichen aus Zuwandererfamilien) kritisieren Marika Schwaiger und Ursula Neumann, »dass in vielen Studien zum Verhältnis von familiärer Sozialisation und Schulerfolg von Kindern aus Einwandererfamilien eine Perspektive eingenommen wird, die von ›mangelnder Passung‹ zwischen Familien und Schulkultur ausgeht.«11 Defizite werden festgestellt. Dies belastet das Verhältnis Elternhaus-Schule und kann in der Zusammenarbeit zu Störungen führen. So werden Lehrer-Elterngespräche schnell einseitig. »Über Art und Zweck von Elternbeteiligung bestehen häufig Wahrnehmungsdifferenzen zwischen Schule und Eltern … Aus der Sicht vieler Eltern kommunizieren die Schulen nicht klar genug, was sie von ihnen erwarten und verstehen zugleich die Erwartungen der Eltern nicht … Wichtige Anliegen der Eltern werden häufig ignoriert, kulturelle und sprachliche Barrieren nicht aus dem Weg geräumt und den Eltern wird diktiert, was sie tun sollen, statt zuzuhören«12
Auch die Form der von vielen Schulen angebotenen Zusammenarbeit ist für Eltern mit Migrationshintergrund teilweise nicht passend. Sie bevorzugen informelle Gespräche zwischendurch, auch um die häusliche Unterstützung besser abstimmen zu können.13 Genau diese Kritik bzw. Unsicherheit wurde mir von Eltern regelmäßig bei meinen informellen Gesprächen oder Besuchen wiederholt genannt. Teilweise ist den Eltern auch die Art des Umgangs der Lehrer mit ihren Schülern fremd. Der Umgang erscheint ihnen zu formal, es fehlt Warmherzigkeit und wird manchmal mit Desinteresse gleichgesetzt. »Sie lieben unsere Kinder nicht. Dabei sind Lehrer doch so etwas wie die zweiten Eltern.« Diese und ähnliche Äußerungen hörte ich öfters, und dies zeugt von einem anderen LehrerSchüler-Verständnis. 10 11 12 13
El-Mafaalani / Toprak 2017, hier S. 144. Schwaiger / Neumann 2010, hier S. 31. Gomolla 2009, hier S. 30. Vgl. Hawighorst 2008, hier S. 6; und Wiechers / Fürstenau 2014.
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Auch Lehrer in der Türkei, Ägypten und Syrien, mit denen ich mich in den letzten Jahren unterhalten habe, redeten ähnlich. Sie betonten immer ihre emotionale Beziehung zu ihren Schülern, die sie als eine wichtige Voraussetzung sahen, um ihre Schüler gut zu fördern. Ehemalige Schüler von mir in Ägypten halten immer noch, teilweise über 15 Jahre nachdem ich sie unterrichtet habe, Kontakt zu mir. Neu immigrierte oder geflüchtete Eltern haben dann häufiger Schwierigkeiten, die professionell distanziertere Haltung deutscher Lehrer, die feste Termine, Elternsprechtage und wohlgeplante Elternabende für die Zusammenarbeit mit dem Elternhaus anbieten, als positives Angebot wahrzunehmen.
Bildungsvermittlung in der Schule Reinhard Baumgarten beschreibt Unterricht an arabischen Schulen folgendermaßen: »An den staatlichen Schulen der arabischen Länder wird konsequent Frontalunterricht erteilt: Der Lehrer präsentiert und erklärt, er formuliert Fragen und Antworten, er versorgt die Schüler mit dem, was sie lernen sollen. Wer nicht mitkommt, der bleibt auf der Strecke. Klassenstärken mit 50, 60, 70 oder mehr Schülern sind die Regel, nicht die Ausnahme. Die Schüler agieren nicht, sie reagieren. Sie übernehmen das von den Lehrern angebotene Wissen eins zu eins. Und wer als Schüler nicht lernt, selbstständig zu arbeiten, der wird diese Kunst später an der Universität oder im Beruf kaum beherrschen.«14
Die Kompetenz der Bildungsvermittlung wird ganz im Raum der Schule gesehen. Der Lehrer ist in der zentralen Position, das Wissen und die Rechtleitung zu vermitteln. Seinem Vorbild eifern die Schüler nach, und die Eltern zweifeln ihn im Normalfall nicht an. Somit ist der Erwerb von Wissen auf den Lehrenden monopolisiert. Eigenständiger Kompetenzerwerb und das partnerschaftliche Lernen von Gleichaltrigen gehören sehr selten zum Methodenkurrikulum. Solche Lernformen werden nach dieser Vorstellung im besten Fall als zu zeitaufwändig und fehlerbelastet eingeschätzt oder gelten gar als ungeeignet für den Wissenserwerb. Diese fehlende Methodenkompetenz erklärt recht gut, wieso Kolleginnen und Kollegen in deutschen Schulen immer wieder darüber klagen, dass Gruppenoder Partnerarbeit in Integrationsklassen schnell zu Unverständnis oder Verweigerung führt. Wissenserwerb, so die Vorstellung, kann nur über den Lehrer funktionieren. Die Inhalte seines Unterrichts werden auswendig gelernt, um bei Bedarf in genau der gleichen Form reproduziert werden können. Das steht im Gegensatz zum Ziel 14 Baumgarten 2014.
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der Kompetenzorientierung, die im deutschen Schulsystem wichtig ist: »Die Aufmerksamkeit gilt dem anzustrebenden Können der Schüler und nicht den im Unterricht zu behandelnden Inhalten.«15 So haben geflüchtete Eltern teilweise andere Bildungsziele als sie an deutschen Schulen verfolgt werden. Es gibt für sie z. B. teilweise zu wenige Hausaufgaben. Oder wie mir eine ägyptische Mutter einmal vorhielt: »Welche klassischen Gedichte lernen die Kinder auswendig, welche Geschichtszahlen?« Auch den Kindern ist oft schwerer zu vermitteln, dass das Ergebnis einer Leistung manchmal nicht so wichtig ist wie der Erkenntnisgewinn beim Erarbeiten derselben. Ich hatte mit meinen Schülern häufig lange Diskussionen, dass sie ihre Arbeitsblätter nicht ›schnell, schnell‹ ausfüllen, sondern sich mit den Themen intensiv beschäftigen sollten.
Fazit Kinder geflüchteter Familien haben zum großen Teil mehrere Jahre keine normale Kindheit erlebt. Viele lebten in einer Umgebung, die der Entwicklung notwendiger Vorläuferfertigkeiten hinderlich waren. Angekommen in Deutschland hat sich diese Situation für sie auch nicht immer sofort gebessert. Unterbringungen in Erstaufnahmelagern beziehungsweise in Mehrbettzimmern von Gemeinschaftsunterkünften sind keine Umgebungen, in denen man ausgeschlafen in die Schule gehen und nachmittags am eigenen Schreibtisch seine Hausaufgaben machen kann. Hinzu kommen einerseits die Ängste und Unsicherheiten über die Verwandten und Freunde, die man zurückgelassen hat oder die in anderen Ländern auf der Flucht sind, andererseits die Unsicherheit über den eigenen Aufenthaltsstatus, der monate- wenn nicht jahrelang ungesichert sein kann. Wenn die Schüler aus bildungsfernen Familien stammen, können sie auf weniger Ressourcen zurückgreifen, um diese schwächende Ausgangslage für eine erfolgreiche Eingliederung in das deutsche Schulsystem aufzuarbeiten. Die von mir betreuten Kinder aus gebildeten Familien hatten auch während der teils mehrjährigen Flucht Unterricht erhalten, meist von den Eltern. Auch konnten sich diese Eltern und Kinder besser auf die neuen Gegebenheiten im deutschen Schulsystem einstellen. Bildungsferne Familien konnten diese Unterstützung nicht bieten. Ein individuelles Aufarbeiten der akademischen Lücken mit den Kindern neben dem Erwerb der deutschen Sprache ist eine extrem schwierige Aufgabe für die Schulen und Lehrer und ohne tatkräftige Unterstützung der Familien nicht zu leisten. Bildungsferne Familien tun sich damit besonders schwer, da ihnen 15 Heymann 2004, hier S. 8.
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hierfür die nötigen Ressourcen fehlen. Hinzu kommt bei vielen orientalischen Familien die Einstellung, dass Bildungsaufgaben im Bereich der Schule liegen und dass Eltern wenig dazu zu leisten haben. Sie haben abweichende Vorstellungen über das Lernen und über die Zusammenarbeit von Elternhaus und Schule, und dies erschwert auch den Lehrern den Kontakt zu den Elternhäusern.
Abschließende Empfehlungen Geflüchtete Kinder sollten in der Schule die Möglichkeit bekommen, ihre persönlichen schulischen Lücken aufzuarbeiten. Neben dem Erlernen von Deutsch als Zweitsprache sollte versucht werden, den individuellen Lernstand der Kinder zu erfassen und die entsprechenden Themen zusätzlich anzubieten. Dazu sollte ihnen auch Zeit gegeben werden. Zu diesen Lücken gehören nicht selten auch so grundlegende Fertigkeiten, wie der Umgang mit schulischen Materialien und Arbeitsformen. Es ist anzunehmen, dass es im Schulalltag extrem schwierig ist, den Kindern die nötige Förderung zu geben, besonders wenn sie wegen ihres Alters in höhere Klassen eingeschult werden. Ein zweiter Bereich ist die Zusammenarbeit mit dem Elternhaus. Eine positive und fruchtbringende Zusammenarbeit zwischen Elternhaus und Schule scheint nach Mechthild Gommolla für die meisten Schulen und Elternhäuser mit größeren Schwierigkeiten verbunden zu sein. »Das mangelnde Wissen der Lehrkräfte über die Lebenshintergründe ihrer Schülerinnen und Schüler erschwert den wechselseitigen Informationsfluss. Dies hat zur Folge, dass das gerade in einkommensschwachen Familien und Familien mit Migrationshintergrund i. d. R. hohe Bekenntnis zu Bildung und die dort vorhandenen Unterstützungsressourcen nicht gesehen werden.«16
Die Lehrer sollten den Eltern ihrer Schülerinnen und Schüler regelmäßig Erklärungen zum Schulsystem, praktische Tipps für die Hausaufgaben und elterliche Unterstützung geben. Sie sollten auch immer wieder klar kommunizieren, welche Förderung warum gewünscht ist, wobei klare und kleine Schritte hilfreich sind. In Elterngesprächen, bei denen ich übersetzt hatte, merkte ich auch, dass einfache Erklärungen für den Sinn bestimmter Förderungen den Eltern weiterhalfen. Dies können Empfehlungen sein, wie: »Malen Sie mit ihrem Kind, das fördert die Stifthaltung und die Feinmotorik. Das braucht Ihr Kind für das Schreiben.« »Lassen Sie Ihr Kind im Laden bezahlen. Dann übt es rechnen.« Elterncafés, bei denen auch bestimmte Themen behandelt werden, können eine Möglichkeit sein. 16 Gomolla 2009, hier S. 30.
Bildungserfahrungen, Flucht und schulischer Erfolg.
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Es ist offensichtlich, dass die Elternhäuser eine sehr wichtige Rolle für den Schulerfolg der Kinder spielen. Bildungsnahe geflüchtete Familien können ihren Kindern die Ressourcen, die sie für die Schule benötigen, meist selbst zur Verfügung stellen. Bildungsferne Familien benötigen viel Unterstützung. Für den Bereich der Family Literacy gibt es etwa das Programm Family Literacy (FLY)17, das aktive Elternarbeit mit Sprachbildung verbindet. Auch die Zusammenarbeit mit migrantischen Selbstorganisationen oder mit interkulturellen Bildungslots/ innen hat sich als positiv erwiesen. Insbesondere Ehrenamtliche aus der eigenen Herkunftskultur können nicht nur als Übersetzer fungieren, sondern auch interkulturelle Missverständnisse beseitigen helfen und den Neuangekommenen als positive Vorbilder dienen.
Literatur Baumgarten, Reinhard: Bildung in der arabischen Welt, in: Zeitschrift für Kulturaustausch 2/2004 (https://de.qantara.de/inhalt/hintergrund-bildung-in-der-arabischenwelt-0, Zugriff am 20. 08. 2017). DeCapua, Andrea / Marshall, Helaine: Reframing the Conversation About Students With Limited or Interrupted Formal Education: From Achievement Gap to Cultural Dissonance, NASSP Bulletin 94 (2016) 356–370. Fritz, Annemarie / Ricken, Gabi / Gerlach, Marie: Kalkulie, Diagnose und Trainingsprogramm für rechenschwache Kinder, Berlin 2007. Fürstenau, Sara / Gomolla, Mechthild (Hrsg.): Migration und schulischer Wandel: Elternbeteiligung, Wiesbaden 2009. Hawighorst, Britta: Schule und Migranteneltern, Schwierigkeiten und Möglichkeiten einer passgenauen Kooperation, Schulmagazin 5–10, 76 (2008) Heft 6, S. 9–12. Heymann, Hans Werner: Besserer Unterricht durch die Sicherung von »Standards«? Pädagogik 56 (2004) Heft 6, S. 6–9. Krajewski, Kristin / Nieding, Gerhild / Schneider, Wolfgang: Mengen, zählen, Zahlen, Cornelsen 2007. Leyendecker, Birgit / Citlak, Banu / Schräpler, Jörg-Peter / Schölmerich, Axel: Diversität elterlicher Einstellungen und vorschulischer Lernerfahrungen – Ein Vergleich deutscher und zugewanderter Familien aus der Türkei, Russland und Polen; Zeitschrift für Familienforschung 26 (2014) Heft 1, S. 70–93. El-Mafaalani, Aladin / Toprak, Ahmet: Muslimische Kinder und Jugendliche in Deutschland. Lebenswelten-Denkmuster-Herausforderungen, Sankt Augustin/Berlin 2011. Rich, Anna-Katharina: Sozialstruktur, Qualifikationsniveau und Berufstätigkeit (BAMF-Kurzanalyse 3/2016), Bundesamt für Migration und Flüchtlinge 2016. Rogoff, Barbara: The Cultural Nature of Human Development, Oxford University Press, New York 2003. 17 http://li.hamburg.de/family-literacy/ (Zugriff am 20. 08. 2017).
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Schwaiger, Marika / Neumann, Ursula: Gutachten zur interkulturellen Elternbeteiligung der RAA, Hamburg 2010. Wiechers, Lisa / Fürstenau, Sara: Elternbeteiligung in der Schule (proDaZ. Deutsch als Zweitsprache in allen Fächern), August 2014 (Quelle: https://www.uni-due.de/imperia/ md/content/prodaz/wiechers_fürstenau_2014_elternbeteiligung.pdf, Zugriff 10. 2. 2018).
Sebastian Hofmann
Neues vom Uranus. Über die Chancen (inter-)religiöser Kompetenzen in Einrichtungen zur Betreuung unbegleiteter minderjähriger Ausländer*innen (umA)
Vor einigen Wochen führte ich ein Vorstellungsgespräch mit einer Bewerberin. Die junge Frau – sie hatte kurz zuvor ein Studium der Erziehungswissenschaften sehr erfolgreich abgeschlossen – saß nun vor mir: sympathisch, wach, fast unmerklich aufgeregt. Recht schnell verließen wir die üblichen Bahnen eines Vorstellungsgesprächs und schwenkten ein zu einer sehr viel aufschlussreicheren Gesprächsform: dem offenen Dialog. Vorstellungsgespräche verlaufen aus meiner Sicht dann für die/den Bewerber*in erfolgsversprechend, wenn es gelingt, in einen Abgleich zu Fragen der inneren, fachlichen Haltung zu kommen. Hierzu ist eine Voraussetzung unabdingbar: Eine Haltung an sich entwickelt zu haben. Vor mir saß eine junge Frau, die sich eindeutig auf den Weg gemacht hatte, ihre Fachlichkeit auf der Basis einer erarbeiteten Haltung zu begründen – welches große Ziel sollte ein Studium im pädagogischen Bereich ansonsten begründen? Wir sprachen über ihre (und meine) grundsätzlichen Vorstellungen gelingender Sozialer Arbeit im Kontext stationärer Erziehungshilfe, hierfür notwendige Kontextfaktoren, Ideen zum Umgang mit Traumata, Aggressivität, Depression, Delinquenz und Sucht – und über Schuld und Sünde. Auch wenn ich heute nicht mehr genau rekapitulieren kann, wie wir unvermittelt diesen thematischen Sprung bewerkstelligten – nun wurde es zunehmend interessant. Die junge Bewerberin sprach darüber, wie ihr Verständnis von persönlicher Schuld ist. Sie sagte, Gott verzeihe alles, jede Sünde und die möglicherweise daraus resultierende Schuld. Sofern, schränkte sie ein, das Bekenntnis zur eigenen Schuld und die Bitte um Vergebung kongruent seien. Die kurzen Ausführungen der jungen Frau fußten deutlich wahrnehmbar auf einer internalisierten religiös geprägten Einstellung und waren mehr als schöne, tröstliche Worte. Sie zeigten, wie untrennbar persönliche Haltungen mit denen der professionell wirkenden pädagogischen Persönlichkeit verbunden sind, ja wie sie einander bedingen (können). Bereits am folgenden Tag konnte ich die Bewerberin zu einer Hospitation in der Einrichtung begrüßen. Heute ist sie eine engagierte, innovative, fachlich gut ausgebildete Pädagogin in einem der Teams, die sich um die Betreuung, Bildung,
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Versorgung und Verpflegung der jungen Geflüchteten kümmern. Ach ja, sie ist muslimischen Glaubens und marokkanischer Herkunft.
Unbegleitete minderjähriger Ausländer*innen (umA) Die Betreuung sogenannter unbegleiteter minderjähriger Ausländer*innen (umA)1, erfolgt in Deutschland im Rahmen der stationären Erziehungshilfe, also den Betreuungsformen, die unter dem Überbegriff Heimerziehung zusammengefasst werden können. Das Sozialgesetzbuch Acht bildet den juristischen Kontext dieser besonderen Form der Jugendhilfe2, die sich in Deutschland ausgesprochen differenziert darstellt: Von der klassischen koedukativen Wohngruppe (in der Regel neun Betreuungsplätze) über Wohngruppen ausschließlich für umA (bis maximal zwölf Plätze), Verselbständigungsgruppen, Formen des Außenbetreuten Wohnens3, der Flexiblen Hilfen4, geschlechtshomogene Gruppen, therapeutisch ausgerichtete Wohngruppen bis hin zu den aufgrund hoher Einreisezahlen notwendig gewordenen Not- und Übergangskonstrukten in vielfältigen, auch unkonventionellen Ausgestaltungen. Hinzu kommen in nicht unerheblichem Maße Hilfen für junge Volljährige5, also die Gewährung von Erziehungshilfe über die Volljährigkeit hinaus. Insgesamt werden in Deutschland etwa 60.000 umA in Einrichtungen der Erziehungshilfe betreut, in Hessen sind es aktuell circa 6.200. Etwa 90 % der Betreuten sind Jungen, 10 % Mädchen. Die Hauptherkunftsländer sind derzeit Afghanistan, Somalia und Eritrea6. Das Durchschnittsalter bei Aufnahme in der Einrichtung liegt bei etwa 16,5 Jahren. Das Phänomen umA stellt keine neue Entwicklung in Einrichtungen der Erziehungshilfe dar. Bereits Anfang der 1990er Jahre wurden für Hessen als erstes Bundesland die Einreisezahlen und -länder von umF/umA recht verlässlich dokumentiert. Dass uns heute längerfristige Zahlen vorliegen, dies sei an dieser 1 Bis November 2015 war die Bezeichnung umF (unbegleitete minderjährige Flüchtlinge) gebräuchlich. 2 Siehe unter anderem § 27 in Verbindung mit §§ 34, 35a, sowie § 42, 42a SGB VIII. 3 Das Außenbetreute Wohnen umfasst die Betreuung eines jungen Menschen in der eigenen Wohnung, in der Regel etwa zehn Stunden pro Woche. 4 Flexible Hilfen stellt einen Sammelbegriff für individuelle Betreuungssettings dar, angefangen von intensiver Einzelbetreuung über die Betreuung im Gruppenkontext hinaus und bis hin zu aufsuchender Arbeit obdachloser junger Menschen. 5 Gemäß § 41 SGB VIII; bundesweit erhielten am 01. 02. 2017 insgesamt 18.214 junge Volljährige Unterstützung durch Angebote der Erziehungshilfe (vgl. Deutscher Bundestag: Drucksache 18/11540 vom 15. 03. 2017, S. 5). 6 Falls nicht anders angegeben, nehmen alle Angaben Bezug auf Erhebungen des Regierungspräsidiums Darmstadt (Grundlage sind die Angaben der kommunalen Jugendämter) mit Stand 07/2017.
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Stelle anerkennend erwähnt, ist vor allem den Mitarbeiter*innen des Jugendund Sozialamtes Frankfurt am Main zu verdanken. In Wiesbaden werden seit 1998, seit fast 20 Jahren, umF/umA betreut. Von Beginn an oblag diese Betreuungsaufgabe dem Jugendhilfeverbund Antoniusheim. Diese Zeitspanne, aber vor allem die rasante und außergewöhnlich dynamische Entwicklung der vergangenen drei Jahre, ermöglicht es uns, auf einen vorzeigbaren Erfahrungsschatz verweisen zu können. Insbesondere der schnelle und solide Aufbau neuer Gruppen in kurzer Zeit, der vor allem seit 2015 mehrfach erfolgte, lässt uns heute frühere Fehlentscheidungen korrigieren, auf Bewährtes zurückgreifen und dennoch Neues wagen. Dieser Erfahrungs- und Entwicklungsprozess war und ist nötig: nicht nur bezüglich der betreuenden Einrichtungen, sondern genauso bei den zuständigen Ämtern, den Schulen, den behandelnden Ärzt*innen und Therapeut*innen und anderen relevanten Netzwerkpartnern.
Drei Ebenen der pädagogischen Dimension Das pädagogische Wirken mit den und für die jungen Menschen ist von mannigfaltigen Bedingungen abhängig: Auf der Makroebene sind es die gesellschaftlichen, gesetzlichen und politischen Rahmen, die die Arbeit nicht unerheblich beeinflussen. Gemäß geltender Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs7 stellen umA eine Gruppe besonders schutzbedürftiger Menschen dar. Hieraus resultiert der Konsens, dass umA im Rahmen der sogenannten DublinVerordnung nicht in ein anderes Land ausgewiesen werden dürfen. Aus der Feststellung, dass das Kindeswohl bei allen Belangen vorrangig zu berücksichtigen sei, resultiert, dass die jungen Geflüchteten nicht gegen ihren Willen in ihr Herkunftsland rückgeführt werden dürfen und die Unterbringung in anerkannten Einrichtungen der Jugendhilfe oder anderen geeigneten Unterbringungsformen (zum Beispiel Pflegefamilie) erfolgt. Die kommunalen Jugendämter sind verpflichtet, neu einreisende umA gemäß § 42 SGB VIII in Obhut zu nehmen8; in der Regel folgt die Unterbringung in Einrichtungen der stationären Erziehungshilfe. Auf der Mesoebene, die in den folgenden Ausführungen eine besondere Relevanz haben wird, können die Rahmenbedingungen in der jeweiligen Kommune angeführt werden. Hier erscheint mir vor allem das (Zusammen-)Wirken dreier 7 EuGH, Az. C-648/11 vom 06. 03. 2013. 8 Bereits im Jahr 2015, noch vor dem quantitativen Höhepunkt der umA-Einreisen im Frühjahr 2016, war der Status umF in mehr als der Hälfte (54,5 %) aller bundesweiten Inobhutnahmen die Begründung. Dies entspricht einer Verzwölffachung gegenüber 2010 (vgl. Deutscher Bundestag: Drucksache 18/11540 vom 15. 03. 2017, S. 21).
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zentraler Systeme relevant: Die betreuenden Einrichtungen, die kommunalen Jugendämter sowie Schulen (und Schulamt) und Ausbildungsbetriebe. Zweifelsohne stellt das Leben in der Wohngruppe die Lebensrealität der allermeisten umA in Mitteleuropa dar. Ungeachtet der oben aufgeführten Formen der konzeptionellen Differenzierung gibt es Faktoren, die für alle gelten: Zuallererst das Wirken der betreuenden und leitenden Pädagog*innen. Die Zusammenarbeit im Team stellt die wesentliche Säule der Gestaltung des pädagogischen, gegebenenfalls auch therapeutischen Wirkens dar. Dem religiösen Aspekt dieser Teamarbeit werde ich im weiteren Verlauf meiner Ausführungen eine besondere Bedeutung beimessen. Weiterhin ist qualitativ hochwertige Betreuung nicht möglich, wenn Betreute wie Betreuende nicht gute räumliche Bedingungen vorfinden. Hierzu zählen neben der Ausstattung der Räume auch die angemessene Gestaltung (Rückzugsräume schaffen!) und passende Materialen, die Lage der Einrichtung (Stadt oder Land), der Sicherheitsaspekt sowie – nicht unwesentlich – die Akzeptanz des direkten Wohnumfeldes. Selbstverständlich spielen an dieser Stelle auch ökonomische Aspekte eine Rolle: Stehen nicht ausreichend finanzielle Mittel zur Verfügung, wird die Arbeit zwar nicht verunmöglicht, aber doch deutlich erschwert. Auf der Mikroebene stellen die individuellen Ressourcen, Vorprägungen, Bindungserfahrungen und das ureigene Wesen der jungen Menschen den mitunter wesentlichsten Aspekt des Betreuungsverlaufs dar. Die junge Frau aus dem Vorstellungsgespräch fragte ich zum Abschluss, welches Bild sie wohl von ›so einem‹ umA hätte, wen sie erwarten würde, träfe sie morgen ›ihren ersten umA‹. Sie antwortete: »Einen Jugendlichen«. Damit hatte sie unser Gespräch aus meiner Sicht mehr als erfolgreich beendet. Die Mikroebene umA bringt derart vielfältige Aspekte mit sich, dass es mir unmöglich erscheint, hier im Rahmen dieses Beitrags eine umfassende Beschreibung vorzunehmen. Neben psychischen, physischen und biografischen spielen überdies ethnische, kulturelle, religiöse und soziale Perspektiven eine Rolle bei der Betrachtung des einzelnen Menschen. Mehr als zu versuchen, uns dieser Wahrheit etwas anzunähern, ist uns nicht möglich. Einen Menschen gänzlich erfassen zu wollen, widerspräche außerdem dem christlichen, islamischen und jüdischen Menschenbild. Ein Aspekt, der bei der Verwendung des Begriffs ganzheitlich stets mitgedacht werden sollte. Ein Jugendlicher: Das ist ein umA.
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Heimerziehung ist das Leben Unser Land befindet sich in einem höchst interessanten Prozess der Veränderung, der Entwicklung. Nicht zuletzt die Einreisewelle Geflüchteter, vor allem seit 2015, trägt zu diesem Prozess bei. Erneut können wir die Heimeinrichtungen als Mikrokosmos unserer Gesellschaft und ihrer Entwicklungen betrachten. Wie schon früher, besonders deutlich in den Zeiten der gesellschaftlichen Umbrüche der 1960er und 1970er Jahre (Heimkampagne) erkennbar, findet in den Heimen in höchst konzentrierter Form das statt, was unser Land in weiten Teilen derzeit erlebt: Menschen verschiedenster Hintergründe treffen aufeinander: Erwachsene und Jugendliche, manchmal Kinder, Menschen aus verschiedenen Milieus, Kontinenten, Herkunftskulturen und -gesellschaften, Ethnien, Religionen und Konfessionen, Sprachen und Dialekten. Dieses Aufeinandertreffen gelingt sehr oft und scheitert manchmal. Niemals aber ist es wirklich normal. Das Team der betreuenden Pädagog*innen stellt ein wichtiges Subsystem innerhalb der Wohngruppe dar. Auch hier treffen die verschiedensten Menschen aufeinander, natürlich mit den verbindenden Aspekten des beruflichen Auftrags, ähnlichen Ausbildungen und Herangehensweisen und – ganz wesentlich – der Sprache. Glücklicherweise teilen die Zusammenwirkenden in aller Regel grundlegende Überlegungen bzgl. eines gelingenden Zusammenwirkens, der Begegnung mit dem Gegenüber (insbesondere der Zu-Betreuenden und Kolleg*innen) und grundlegende gesellschaftlich-politische Vorstellungen. Eine zentrale Bedeutung für die Qualität eines Teams kommt neben dem kollegialen Zusammenwirken und der gelingenden Kommunikation zumindest dem Bemühen um das Erarbeiten einer gemeinsamen fachlichen Grundhaltung zu. Hierbei befinden sich Teams in ganz unterschiedlichen Entwicklungsphasen: Vom sich neu sortierenden Team bis hin zum jahrelang eingespielten, mitunter erstarrten. Einigen Teams gelingt es recht schnell und ohne große externe Unterstützung (Anleitung, Strukturierung, Supervision, Coaching etc.) die Leitung und Gestaltung der Gruppe verlässlich zu übernehmen, von anderen wird gelingende fachliche Zusammenarbeit als sehr viel größere Herausforderung erfahren. Geschliffene organisatorische und administrative Abläufe stellen allerdings noch kein eindeutiges Merkmal eines auch inhaltlich auf hohem Niveau wirkenden Teams dar. Mitunter kommt es vor, dass Akten vorbildlich angelegt, Kassen perfekt geführt, Räume stets gepflegt und Termine pünktlich wahrgenommen werden, allerdings wird nur wenig über Inhalte gestritten. Gelingendes Streiten – oder besser – die gelingende Auseinandersetzung stellt allerdings ein wesentliches Werkzeug innerhalb eines Prozesses des Haltungsgewinns dar; mit den Kolleg*innen, den Vorgesetzten, anderen Fachkolleg*innen und, nicht zuletzt, mit sich selbst im Rahmen der wichtigen Selbstreflexion. Die Teamhaltung ist in aller Regel nicht synonym zur fachlichen Haltung des einzelnen Team-
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mitglieds zu sehen, viel zu unterschiedlich sind die Faktoren, die individuelle Fachlichkeit ausmachen: insbesondere persönliche und/oder berufliche Erfahrung(en), eigene Defizite, Fähig- und Fertigkeiten sowie Schwerpunkte, Aspekte, Qualität und Stand der Aus-, Fort- und Weiterbildung. Die inzwischen als sozialpädagogische Fachkraft in einem Team (Team Uranus)9 engagierte junge Frau aus dem Vorstellungsgespräch findet sich in einer ganz besonderen Situation wieder. Nachdem die Gruppe Uranus erst wenige Wochen vor dem Vorstellungsgespräch aufgrund der rückläufigen Anzahl von Neuaufnahmen geschlossen wurde, die Betreuten in andere Gruppen der Gesamteinrichtung wechselten und das Team aufgelöst wurde, gilt es für die Mitarbeiterin, in einem gänzlich neuen Team bis zu 25 neu in Deutschland eingereiste umA zeitnah zu betreuen. Die Aufnahme der ersten fünf Jugendlichen findet kurz nach dem Gespräch statt, die weiteren werden in den darauffolgenden Tagen erfolgen. Der Aufbau einer neuen Gruppe innerhalb von nur zwei Wochen stellt alle Beteiligten vor spürbare Herausforderungen: Die Räume (die glücklicherweise sofort zur Verfügung standen) müssen vorbereitet, die verlässliche Versorgung, unter anderem mit Essen und Trinken, sichergestellt – und nicht zuletzt: Ein neues, möglichst leistungsfähiges Team zusammengestellt werden.
Das Team Glücklicherweise gelingt es innerhalb kurzer Zeit, ein ressourcenreiches Team zu bilden. Neben Neueinstellungen (wie etwa unsere Bewerberin) kommen bereits tätige Mitarbeiter*innen aus anderen Teams hinzu. Ein anderes Team entsendet für die ersten vier Wochen ab Eröffnung der Gruppe eine erfahrene und fähige Pädagogin, um einen soliden strukturellen Aufbau zu begünstigen. Die direkte Leitung der Gruppe übernimmt eine erfahrene Standortleitung. Die Mitarbeiter*innen haben die Aufgabe, die Abläufe in der Gruppe Uranus zu organisieren, die Betreuten angemessen und mit dem Ziel der stetigen Verselbständigung pädagogisch zu begleiten, das Gruppensystem in seiner Gesamtdynamik zu beobachten, so weit möglich und sinnvoll zu begreifen und im Bedarfsfall angemessene Interventionen durchzuführen. Hinzu kommen spezifische Aufgaben des Berichts- und Dokumentationswesens sowie der Kassenführung. Unter Verweis auf die oben angeführten Ebenen der Einflussfaktoren auf das Wirken 9 Am größten Standort für umA, dem Blauen Haus, wurden die Gruppen nach Himmelskörpern benannt. Vertreten waren und/oder sind neben Uranus Jupiter, Mars, Saturn, Neptun, Pluto und natürlich (ganz oben), die Sonne. Verwaltung und Leitung begleiten als Trabant Mond das ganze Haus.
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einer Wohngruppe, gestalten sich die konkreten Aufgaben der Pädagog*innen ausgesprochen vielfältig. Aus meiner Sicht erachten die allermeisten Kolleg*innen diese Unwägbarkeiten der täglichen Arbeit, die immer neuen, zu gestaltenden Herausforderungen sowie das kontinuierliche und besondere Verantwortung abverlangende Begleiten mittelfristiger Entwicklungslinien junger Menschen als das Reizvolle an ihrem Beruf. Die im Verhältnis zu anderen Bereichen der Sozialen Arbeit guten Verdienstbedingungen tragen sicherlich dazu bei, dass solide qualifizierte Pädagog*innen ihren beruflichen Weg in Institutionen der Heimerziehung suchen und nicht selten auch dauerhaft finden. Bei der Betreuung von umA erscheint es geboten, die ohnehin notwendigen Kompetenzen gut aufgestellter Teams im pädagogischen Bereich10 um spezifische zu ergänzen: u. a. interkulturelle und interreligiöse Ressourcen. Die 22-jährige Kollegin bringt beide Kompetenzen mit: Sie ist überzeugte Muslimin, zugleich Deutsche mit marokkanischen Wurzeln, spricht muttersprachlich Deutsch und sehr gut Arabisch. Sie tritt wie eine emanzipierte, moderne junge Frau auf, die ihr Studium nutzen konnte, gute fachliche Grundlagen zu legen – zumindest im Theoretischen. Sie ist in der Lage, eigene Kompetenzen zu benennen und fachliche Defizite als Lernfelder zu begreifen. Auf ihr Umfeld wirkt sie angenehm sympathisch. Sie wird die einzige muslimische Frau des Teams sein. Neben ihr werden sieben weitere Mitarbeiter*innen das Team bilden: – eine erfahrene, an einer katholischen Hochschule ausgebildete evangelische Sozialpädagogin mit entfernten US-amerikanischen Wurzeln (27 Jahre) – ein seit etwa zwei Jahren in einem anderen Team tätiger Mann syrischer Herkunft, der sich selbst als ›nicht praktizierender Moslem‹ bezeichnet (29 Jahre) – eine seit etwa anderthalb Jahren in der Einrichtung beschäftigte katholische Mitarbeiterin rumänischer Herkunft (42 Jahre) – ein Anerkennungspraktikant im Rahmen der Erzieher-Ausbildung deutscher Herkunft, dem persönlich religiöse Fragestellungen ›nicht so wichtig‹ sind (41 Jahre); – eine Diplom-Sozialpädagogin russischer Herkunft, die einer liberalen Ausgestaltung des russisch-orthodoxen Glaubens folgt (39 Jahre) sowie – ein Studierender der Sozialen Arbeit mit marokkanischen Wurzeln, nach eigenen Angaben praktizierender Muslim (24 Jahre).
10 Hard Skills: Fachkompetenz; Soft Skills: Individualkompetenz (Selbstreflexion, Selbstdisziplin), Sozialkompetenzen (Teamfähigkeit, Empathie), Methodenkompetenz; vgl. Hesse, Jürgen / Schrader, Hans Christian: Definition Soft Skills/Bedeutung sozialer Kompetenzen, (o. J.) (https://www.berufsstrategie.de/bewerbung-karriere-soft-skills/soft-skills-definitionhard-skills.php, letzter Zugriff am 27. 08. 2017).
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Geleitet wird die Gruppe durch eine evangelische, langjährig erfahrene Standortleitung deutscher Herkunft (Diplom-Sozialpädagogin, 45 Jahre). Als Erziehungsleitung liegt die Fallverantwortung innerhalb der Einrichtung bei mir. Seit nunmehr etwa zwei Jahren ist es der Einrichtung – als Gesellschaft des Caritasverbandes Wiesbaden-Rheingau-Taunus e.V. Teil des Bistums Limburg – möglich, auch muslimische sozialpädagogische Fachkräfte für die Betreuung der umA einzustellen. Bis dahin war die Zugehörigkeit zu einer christlichen Kirche unabdingbare Voraussetzung für den Abschluss eines Dienstvertrages als sozialpädagogische Fachkraft. Damit wurde der wichtigen interreligiösen Komponente fachlichen Zusammenwirkens bei der Sozialen Arbeit mit und für umA eine wichtige Tür geöffnet. Heute wirken in den Teams also Menschen katholischen, evangelischen, christlich-orthodoxen, neuapostolischen, freichristlichen und muslimischen Glaubens zusammen. Religion nimmt zeitweilig einen größeren thematischen Raum ein, dann wieder nur hintergründig – ganz ohne religiösen Kontext wird Soziale Arbeit in einer christlichen Einrichtung aber niemals sein können und dürfen.
Die Jugendlichen Den Teams stehen größtenteils muslimische Jugendliche verschiedener Konfessionen gegenüber. Ein kleinerer Anteil der derzeit betreuten jungen Menschen fühlt sich christlichen Konfessionen zugehörig. Hin und wieder konvertierten Jugendliche während ihrer Betreuung zum Christentum, obgleich die Berücksichtigung religiöser, kultureller und ethnischer Identitätsanteile bei der Wahrnehmung der pädagogischen Aufgabe ein zentraler Bestandteil der Konzeption unserer Gruppen und die bedingungslose Achtung unseres Gegenübers Teil der Handlungsleitsätze der Gesamteinrichtung sind – und daher jede Form von Missionierung gleichsam ausschließt. Die prozessartige Erarbeitung, Reflexion und Weiterentwicklung der pädagogischen Haltung eines Teams und der/des einzelnen pädagogisch Wirkenden kann ohne angemessene Berücksichtigung religiöser Aspekte – insbesondere möglicher Reibungspunkte, Miss- und Unverständnisse, Konflikte – nicht vollends gelingen. Dabei ist der Austausch keineswegs auf den christlich-muslimischen Dialog beschränkt: Auch zwischen den Angehörigen der gleichen Religion muss es zu einem Abgleich unterschiedlicher Wertevorstellungen kommen, auch und vielleicht insbesondere derer, die religiös begründet sind oder zu sein scheinen. Im Mikrokosmos Heim gelingt diese Annäherung, diese Metamorphose, in weiten Strecken sehr gut. Nennenswerte Konflikte zwischen den jungen Menschen aufgrund ihrer verschiedenen Glaubensrichtungen und/oder -ausprä-
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gungen, kommen höchst selten vor. Eher spielen im Konfliktfall, wenn überhaupt, ethnische Vorstellungen und Abgrenzungsprozesse eine Rolle. Geraten zwei oder mehrere Jugendliche aneinander, handelt es sich zumeist um das angenehm normale Phänomen des Jugendlichen-Seins. Besonders heftige Eskalationen, die in aller Regel eine untergeordnete Rolle in den Gruppen spielen, werden in der Reflexion zumeist auf der oben skizzierten Mikroebene, dem Verhalten und Erleben des Jugendlichen selbst, gesehen. Nicht selten müssen traumapädagogische Gesichtspunkte bei der Einschätzung und Planung pädagogischer Interventionen solcher Vorfälle berücksichtigt werden. Auch die neue Mitarbeiterin des Team Uranus wird nicht nur als Kollegin vom Fach wahrgenommen, sondern gleichzeitig als ( junge) Frau, als Muslima, vielleicht – trotz ihres deutschen Passes – als Ausländerin. Diese verschiedenen Rollen unter den professionellen Hut zu bekommen bedarf stetiger Überprüfung der eigenen Haltung gegenüber den Zu-Betreuenden und dem Kontext, in dem die Betreuungsarbeit geleistet wird. Hieraus leitet sich zwangsläufig ab, dass professionell Agierende in der Sozialen Arbeit immer auch politisch Denkende sind. Das mitunter globalpolitisch missbrauchte Spannungsfeld zwischen Religion und Politik aber bedarf der klaren Abgrenzung. Wo hört Glaube auf ? Wo beginnt ein (politisches) Dogma? Bei der oben erwähnten Auseinandersetzung zu Fragen fachlicher Haltung und angemessenen Agierens innerhalb eines professionellen Teams kann diese Grenze schnell verwischen. Eben genauso wie in unserer Gesellschaft auch.
Wo Religion ihren Raum hat Welche greifbaren Effekte sind daraus entstanden, dass Auseinandersetzungsprozesse interreligiösen Charakters Einzug in die konkrete Arbeit in den Wohngruppen gefunden haben? Zunächst kommt mir hier die Gestaltung der Aufnahmesituation neu aufgenommener Geflüchteter in den Sinn: Bereits seit einigen Jahren erhalten neu aufgenommene Jugendliche ein welcome-package zur Begrüßung. Im Idealfall, der aufgrund der Unberechenbarkeit des tatsächlichen Bedarfs zum Zeitpunkt der Aufnahme Geflüchteter unter den aktuellen Bedingungen nicht immer eintritt, erhalten die jungen Menschen neben mehrsprachigen Broschüren zur ersten Orientierung in Deutschland und neben den asylrechtlichen Vorgängen ein Geschenk religiöser Art. Die muslimischen Jugendlichen können sich über einen eigenen neuen Gebetsteppich freuen, die christlichen erhalten einen Rosenkranz. Im Bedarfsfall würde diese Komponente des Packages um Symbole anderer Religionen ersetzt werden. Auch der Austausch und die Zusammenarbeit mit Vertreter*innen des Islam und der beiden Wiesbadener eritreisch- und äthiopisch-christlichen Gemeinden
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konnte in den letzten Jahren deutlich intensiviert werden. Regelmäßig ist ein Imam zu Gast in unseren Gesprächsrunden; während des Ramadans 2016 lud er alle interessierten Jugendlichen und Erwachsenen zum Freitagsgebet in unseren Alle-Welt-Raum ein. Auch der Austausch mit Vertretern der somalischen Moschee in Wiesbaden, die zeitweilig von vielen Jugendlichen unserer Gruppen aufgesucht wurde, gestaltete sich zunächst recht positiv. Eine nachhaltige konstruktive Zusammenarbeit aber konnte nicht erreicht werden. Religiöser Dialog gelingt nicht immer. Der Alle-Welt-Raum ist Teil des größten Betreuungsstandortes für umA in Wiesbaden, dem Blauen Haus. In den Hochzeiten wurden hier etwa 130 umA in sechs Gruppen betreut; heute sind es noch etwa 35, wobei die Tendenz nach einer langen Phase des Rückgangs erstmals wieder spürbar steigend ist. Kurz nach der Eröffnung des Hauses (ein recht verbauter Bürokomplex aus den 1970er Jahren), gestaltete eine Mitarbeiterin gemeinsam mit fünf Jugendlichen einen der größten Räume des Hauses in einen interreligiösen Gebets- und Rückzugsraum um. Aus einem rechteckigen, nüchternen Zimmer wurde ein sehenswerter, liebevoll gestalteter Raum. Die massive Tür verfügt bewusst über kein Schloss, der Alle-Welt-Raum ist immer geöffnet. In einem Regal finden sich Gebetsteppiche, der Platz des Vorbeters ist nach Osten ausgerichtet und durch Wandmalereien besonders gestaltet, auf jede Form darstellender Kunst wurde auf Wunsch der Jugendlichen verzichtet. Neben einem Koran liegt eine Bibel bereit, Grünpflanzen unterstützen die positive Atmosphäre. Hier ist ein Ort der Ruhe entstanden, der bis heute von allen Menschen des Blauen Hauses und allen Besucher*innen vollends respektiert wurde. Bis heute waren keine Spuren unachtsamen Verhaltens, Beschmutzungen, Entwendungen, Zerstörungen oder ähnliches zu beobachten – und dies, obgleich die jungen Menschen, die den Raum entscheidend mitgestalteten, inzwischen nicht mehr im Blauen Haus leben. Hin und wieder sehe ich beim Vorbeilaufen Schuhe vor der Tür stehen. Manchmal sind es auch die von Mitarbeitern. In den meisten Wohngruppen für unbegleitete Minderjährige kochen die Jugendlichen für sich selbst. Hierfür stehen ihnen ausreichend Gelder und entsprechende Küchen zur Verfügung. Die allermeisten Jugendlichen nutzen diese Möglichkeit zum selbständigen Handeln sehr gut. Die Kompetenzen, sich selbst angemessen zu versorgen und gleichzeitig die zur Verfügung stehenden Gelder sinnvoll einzusetzen, sind wichtige Ziele unserer Betreuung. In den Wohngruppen des Blauen Hauses steht nur in einer Gruppe (Pluto) eine Küche zur Verfügung. Die anderen Gruppen müssen über einen Catering-Service versorgt werden. Glücklicherweise ist es uns gelungen, einen zuverlässigen und engagierten Lieferanten zu finden, der seine Speisen ausschließlich halal zubereitet. Die Frage, ob ein gläubiger Muslim eine bestimmte Speise zu sich nehmen darf
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oder nicht, stellte sich vor diesem Hintergrund noch nie. Alle Nicht-Muslime merken keinen Unterschied. Selbstverständlich bringt das Zusammenleben und -wirken von Menschen mit unterschiedlichsten Hintergründen mitunter anstrengende Herausforderungen mit sich. Immer wieder sind erhebliche Anstrengungen nötig, um dem die Hilfemaßnahme verlassenden jungen Erwachsenen eine tragfähige Perspektive aufzuweisen. Eine wichtige Unterstützung bei der Gestaltung des Übergangs dieser care-leaver ergibt sich aus einer mittlerweile beachtlichen Gruppe ehrenamtlich Engagierter, den antoniuspaten.
Die antoniuspaten Glücklicherweise ist es innerhalb unserer Einrichtung gelungen, mit den antoniuspaten ein erfolgreiches ehrenamtliches Patenprojekt zu initialisieren. Seit Ende 2015 werden im Rahmen des Projekts Menschen gesucht, die bereit sind, sich im Rahmen einer ehrenamtlichen Patenschaft für eine/n Jugendliche*n zu engagieren. Die mittlerweile 65 Patenschaften11 soll(t)en schwerpunktmäßig bei der Bewältigung des Übergangs aus der Jugendhilfe in die Leistungen der Erwachsenenhilfe unterstützen. Die Jugendlichen können sich während der Hilfemaßnahme aktiv für eine Patenschaft entscheiden, ebenso die potentiellen Patinnen und Paten. Schulungen zu grundlegenden pädagogischen Empfehlungen zur Kontaktaufnahme und zum Umgang mit den jungen Menschen wie auch eine Schulung zur Rolle des Ehrenamts sind obligatorisch für die Engagierten. Hinzu kommen freiwillige Schulungs- und Informationsangebote, ein regelmäßiger Stammtisch und – vor allem – eine professionelle Projektleitung. Auf diese Weise gelang es immer wieder, Menschen in einen positiven Kontakt zu bringen, die einander ansonsten niemals getroffen hätten. Nicht selten sind die Patinnen und Paten die ersten tatsächlich normalen erwachsenen Menschen, die den jungen Geflüchteten in Deutschland eine nähere Begegnung ermöglichen. Zuvor waren die betreuten umA im Durchschnitt 1,5 Jahre in Wohngruppen untergebracht. Hier wurden sie von professionellen Pädagog*innen in der Einrichtung und seitens des Jugendamtes betreut, in der Schule von Lehrer*innen, ansonsten von Ärzt*innen, Therapeut*innen, Trainer*innen in den Vereinen etc. Eben diese Normalität suchen wir dem NichtNormalen von minderjährigen Geflüchteten entgegenzusetzen. 11 Die ersten offiziellen Patenschaften konnten inzwischen erfolgreich abgeschlossen werden. Entsprechend der Konzeption des Projekts werden die jungen Menschen schwerpunktmäßig über ein Jahr, etwa ab dem Alter von 17,5 Jahren, von einem Paten im Rahmen des Projekts begleitet.
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Unsere Gesellschaft verändert sich sehr. Das ist gut – sofern wir in der Lage sind, das friedliche Zusammenleben verschiedenster Menschen zu gestalten. Gegenseitige Anpassung ist eine Seite der Medaille, ein gemeinsames Erfinden die andere. Letztlich werden wir nicht umhinkommen, uns miteinander auf die Suche nach einer gemeinsamen gesellschaftlichen Haltung zu begeben. Unsere Bewerberin gestaltet diesen Prozess bereits heute aktiv mit. Ich bin froh, dass sie da ist.
Frank van der Velden / Harry H. Behr
Qualitätsmerkmale für Fortbildungen im interreligiösen Kompetenzbereich. Ergebnisse aus drei HessencampusProjekten (2015–2017)
Die Faktoren Religion und kulturelle Vielfalt sind nicht erst in den vergangenen zwei Jahren ein bedeutendes Thema in Schulen, Kindertageseinrichtungen und in der sozialen Arbeit geworden. Die Bedarfe haupt- und ehrenamtlicher Flüchtlingshelfer haben ihm aber eine neue Dringlichkeit verliehen. Dieser Beitrag stellt die Ergebnisse von drei Hessencampus-Projekten aus den Jahren 2015 bis 2017 vor, die von der Katholischen Erwachsenenbildung Hessen e.V. in Kooperation mit der Goethe-Universität Frankfurt unternommen wurden, um Qualitätsmerkmale und Standards von berufsgruppenspezifischen Fort- und Weiterbildungen in diesem Handlungsfeld zu bestimmen.
Qualitätsmerkmale interreligiös sensibler Fortbildungen In der täglichen Arbeit von Sozial-, Schul- und Elementarpädagog/innen geht es oft weniger um ein Wissen über Kulturen und Religionen. Vielmehr stehen die individuell unterschiedlichen, aber kulturell und religiös geprägten Lebenspraktiken der von ihnen betreuten Menschen im Vordergrund, die in Hinsicht auf ihre Risiken und auf ihr integratives Potential in Blick zu nehmen sind. Fortbildungen in diesem Arbeitsfeld müssen daher von (sozial)pädagogischen Handlungskonzepten ausgehen, die interkulturelle und -religiöse Kompetenzen mit einschließen. Dies erfordert eine authentische theologische Kompetenzvermittlung, in der die behandelten Religionen sich selber wiedererkennen können, und weiterhin eine breite Berücksichtigung der Bezugswissenschaften, angefangen von individualpsychologischen Fragen bis hin zur Sozialraumpädagogik. Eine besondere Anforderung dieses Handlungsfeldes besteht darin, dass Familienangehörige und Ehrenamtliche häufig gemeinsam mit professionell Helfenden mit der Betreuung von geflüchteten und migrierten Minderjährigen, Erwachsenen oder Familien befasst sind. Dies verlangt von allen Beteiligten den Erwerb von interkulturellen, ästhetischen und kommunikativen Kompetenzen, um in kulturell und religiös gemischten Teams aus Haupt- und Ehrenamtlichen
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Bedarfe und Möglichkeiten der Klienten zu erkennen und diese in eine teamfähige Situation kooperativen Lebens und Lernens zu inkludieren. Zum Abschluss des Hessencampus-Projekts »Religion als Ressource in der sozialen Arbeit mit Muslimen und Christen«1 wurden im November 2015 die folgenden vier Geisenheimer Thesen für eine gute Praxis berufsspezifischer Fortbildungen im interkulturellen und -religiösen Kompetenzbereich formuliert: These 1: Die Eigenorganisationen von Migrantinnen und Migranten und Betroffenen sollen stärker in die Flüchtlingsarbeit eingebunden werden, gerade auch im Bereich der religionssensiblen sozialen Arbeit. These 2: Religionssensible Arbeit soll als Querschnittsaufgabe in der beruflichen Aus- und Weiterbildung von Sozialarbeiter/innen und Pädagog/innen dauerhaft etabliert werden. These 3: Auch die Geflüchteten selber sollen befähigt werden, im religionssensiblen Bereich stereotype Wahrnehmungen zu vermeiden, gemeinsame Betroffenheiten zu entdecken und neben den traumatisierenden Erfahrungen auch die eigenen guten Geschichten erinnern zu können. These 4: Erforderlich dafür sind Low-profile Netzwerke zum interkulturellen und -religiösen Austausch von Hilfeleistern vor Ort, die sich treffen und kennenlernen sollen. In zwei weiteren Hessencampus-Projekten in den Jahren 20162 und 20173 wurden Qualitätsmerkmale für solche Fortbildungen erarbeitet und erprobt. Dies geschah in einem interdisziplinären Team unter Beteiligung christlicher und muslimischer Kooperationspartner sowie migrantischer Eigenorganisationen. Dabei floss von Seiten des universitären Projektpartners4 eine wissenschaftlich regelgeleitete Rückmeldung ein. Als Ergebnis wurden acht Standards für gemeinsame Fort- und Weiterbildungen von Haupt- und Ehrenamtlichen im interkulturellen und interreligiösen Kompetenzbereich an Schulen und sozialen Einrichtungen beschrieben, die als Wegmarken für gute Fortbildungen in diesem Bereich dienen können.
1 Die kommentierten Thesen und die Dokumentation des gesamten Projektes sind im Internet zugänglich: Behr / J. van der Velden / F. van der Velden 2016, hier S. 29–33. 2 F. van der Velden / Behr 2017, hier S. 15–21. 3 J. van der Velden 2018. 4 Auf Seiten der Goethe Universität Frankfurt am Main findet das Projekt in Kooperation mit der Professur für Erziehungswissenschaft mit Schwerpunkt Islam (Prof. Dr. Harry Behr) statt. In diesem Sinne ist auch das vom BMBF geförderte Zentrum für Islamische Studien (ZIT) an den Universitäten Frankfurt und Gießen eingebunden.
Qualitätsmerkmale für Fortbildungen im interreligiösen Kompetenzbereich
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Ein Kompetenzschema für interreligiöse Fortbildungen Bevor das Kompetenzschema für interreligiöse Fortbildungen im sozialen und schulischen Handlungsfeld vorgestellt wird, ist eine kurze Reflexion sinnvoll, wie die Begriffe Standards und Kompetenzen in diesem Beitrag verstanden werden. Standards legen fest, über welche Kompetenzen die Teilnehmenden nach Abschluss einer Fortbildungsmaßnahme verfügen sollen, wenn wichtige Ziele der ausbildenden Institution als erreicht gelten sollen. Diese Anforderungen werden nach Kompetenzmodellen geordnet dargestellt, in denen die einzelnen Gegenstandsbereiche mit den zu erwerbenden Kompetenzen kombiniert werden. Kompetenzen müssen entsprechend dem beruflichen Anforderungsprofil unterschiedliche Schwerpunkte setzen. Zudem hat die Kompetenzdiskussion in den vergangenen 15 Jahren eine höhere Wertschätzung sozialer und kommunikativer Kompetenzen ergeben, die für religionssensible Fragen im (sozial-)pädagogischen Handlungsfeld eine besondere Bedeutung einnehmen. Zu Beginn der Kompetenzdebatte herrschte noch ein enges Kompetenzverständnis vor, das schwerpunktmäßig auf kognitives Lernen ausgelegt war.5 Viel Wissen befördert sicheres urteilen, und im methodischen Dreischritt sehen – urteilen – handeln steht die Befähigung zum kritischen Urteil in einer Schlüsselposition. Entsprechend wurden die Wahrnehmungs- und Deutekompetenzen auf die Urteilskompetenz hin geordnet, aus der sich die Handlungskompetenz organisch ergeben sollte. Heute, also etwa 20 Jahre später, hat sich der Fokus der Kompetenzdebatte etwas verschoben. So ist natürlich auch in sozialen und pädagogischen Berufen eine sichere Urteilsfähigkeit vonnöten. Sie muss aber überwiegend situativ und stets in interpersonalen Begegnungen und Diskursen aktiviert werden, und soll zu einem gemeinsamen Handeln in sozialen Bezügen befähigen. In der Folge ist zum Beispiel die Wahrnehmungskompetenz auf den ganzen Menschen und sein soziokulturelles Umfeld ausgerichtet, also auch auf die so genannte ästhetische Kompetenz.6 Diese interpersonalen sozialen Bezüge sind auch für das interreligiöse Lernen ausschlaggebend. Auch hier tritt zum Lesen und Deuten von Texten über Religionen und Kulturen das Lernen von und mit Menschen, die dieser Religion angehören: das so genannte Begegnungslernen7. Es ist leicht einzusehen, dass ich dabei nicht mit der Neutralität eines Chronisten – sine ira nec studio – an die individuelle Lebenspraxis meines Lernpartners, Schülers oder Klienten herantreten kann. Vielmehr zeigt sich meine Professionalität darin, dass ich mir über 5 Klieme 2007, hier S. 72. 6 Leimgruber 2012, hier S. 100. 7 Leimgruber 2012, hier S. 73–81.101–103.
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meine eigenen Haltungen, meine Empathien oder Antipathien Rechenschaft ablege und über die Strukturen und Arten der gemeinsamen Kommunikation im Sinne einer Geschäftsordnung des interreligiösen Lernens reflektiere. Dieser Prozess wird als Erwerb kommunikativer Kompetenzen beschrieben, die häufig eine Verbindung zum sozialen Lernen haben. Für das gemeinsame Handeln in interkulturellen / -religiösen Teams wie in religionssensiblen Situationen auf dem sozialpädagogischen Handlungsfeld werden immer wieder kreative Lösungen entwickelt werden müssen. Um auf Augenhöhe mit meinen Partnern zu bleiben, muss ich dabei auch einen Einblick in meine eigenen kulturellen Werte und Ordnungen gewähren. Ich werde meine eigene Lebens- und Glaubenspraxis in der Begegnung mit den Partnern reflektieren, und dabei neue Lösungen situativ bewerten und selber verantworten müssen. Dies verlangt neben der Befähigung zum kritischen Urteil auch die Fähigkeit zur Selbstführung, die unter dem arabischen Begriff tazkiyya auch in islamischen Traditionstexten als eine Kernkompetenz beschrieben wird.8 Der Kompetenzbereich des interreligiösen Lernens im sozialpädagogischen Feld bewegt sich damit häufig im hohen Anforderungsbereich von so genannten Transferleistungen: Er vermittelt Fähigkeiten, um sich begründet mit anderen und mit sich selber auseinanderzusetzen, mit anderen zu kommunizieren und zu kooperieren.9 Acht Gegenstandsbereiche haben sich im Laufe der Hessencampus-Projekte als Kerngebiete solcher Fortbildungen herausgestellt. Sie werden im folgenden Schema den beschriebenen Kompetenzen so zugeordnet, dass auch die Bedeutung der Bezugswissenschaften und ihre theologische Betrachtung in Blick genommen werden.
8 Behr 2013, hier S. 36–39. 9 Schambeck 2013, hier S. 161.174.
Gemeinsamkeiten (und Unterschiede) der Religionen und Glaubensrichtungen kennen, um Anknüpfungspunkte für Begegnung und Austausch zu finden
IV – common faith …
Keine Kulturalisierung vornehmen (weder positiv noch negativ), stattdessen religiöse Individualität bestärken und fördern
Handeln, anwenden, kreativ umsetzen Partnerarbeit mit Angehörigen unterschiedlicher Religionen und migrantischer Eigenorganisationen einüben können
Den Umgang der peer-groups mit Religion wahrnehmen und moderieren können, die Schüler / Klienten in ein kooperatives Lernen miteinander zum Thema einbinden Die religiösen Lebenspraktiken der Angst vor dem Fremden nehmen Klienten mit allgemeinen menschli- können als Grundvoraussetzung chen Werten im Gespräch halten eines entspannten aber realistischen können (Zusammenleben, Miteinan- Umgangs mit Religion. der, Toleranz).
Die Vielfalt der unterschiedlichen Die individuelle Glaubenspraxis in Lebenspraktiken innerhalb einer Re- der Lerngruppe achtsam kommunizieren können (gegenüber den peerligion wahrnehmen können groups oder den Kollegen)
III – Vielfalt religiöser Lebenspraktiken
Kompetenzen Wissen erwerben, wahrnehmen, Kommunizieren, eigene Haltungen deuten reflektieren, soziales Lernen I – Basiswissen Religion Grundwissen über die Religionen er- Begegnungen und Diskurse mit Anwerben; dabei Informationen aus au- gehörigen unterschiedlicher Religiothentischen Quellen suchen, wahrnen und Kulturen führen nehmen und deuten können: Z. B. über Auslegungen von Koran und Bibel; z. B. über Positionen der Religionen zur Gender-Debatte II – Religion und KulReligiöse und kulturelle Tradition Auf Zuschreibungen religiöser Identur(en) unterscheiden können titäten verzichten (z. B. den Menschen nicht als ›wandelnden Koran‹ zu betrachten)
Gegenstandsbereiche
Ein Kompetenzschema für Fortbildungen zum ressourcenorientierten interreligiösen Lernen Im sozial- und schulpädagogischen Handlungsfeld mit Geflüchteten und Migrierten
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Kompetenzen
Die religiöse Kompetenz des anderen als Ressource für das eigene professionelle Handeln wahrnehmen können
Einblick in die eigenen Werte, Grundeinstellungen und Sinnfindungen gewähren können.
VIII – Gewähren statt belehren
Neugierig auf die Werte der anderen sein und ein Gespräch darüber führen können, das für beide Seiten befriedigend ist.
Offenheit gegenüber Religion zeigen und Bereitschaft signalisieren, über den eigenen Horizont hinaus zu schauen
Kommunizieren, eigene Haltungen reflektieren, soziales Lernen Die religiösen Lebenspraktiken der Klienten mit allgemeinen menschlichen Werten im Gespräch halten können (Zusammenleben, Miteinander, Toleranz). Die Funktion der Religion als Anker Klienten als Menschen mit religiöser (Resilenz-Stärkung in Krisensituatio- Dimension sehen, aber ihre indivinen) wahrnehmen, deuten und rea- duellen religiösen Bedarfe achten können (Empathievermögen). listisch bewerten können
Wissen erwerben, wahrnehmen, deuten Das Thema als eine Frage auch der säkularen Diskurskultur erkennen können (Religion hat für diese Fragen kein Monopol)
VII – Ressourcenorientierung
VI – funktionaler Religionsbegriff
V – … shared history
Gegenstandsbereiche
In interkulturellen und -disziplinären Teams arbeiten und dabei den anderen als Partner auf Augenhöhe annehmen können
Der Religion einen Platz in der eigenen Institution zuweisen können, der den Bedarfen der Betreuten und der eigenen Professionalität angemessen ist. Authentische Ansprechpartner suchen und ins eigene pädagogische Handlungskonzept integrieren können (offene Schule, Elternarbeit …)
Handeln, anwenden, kreativ umsetzen Angst vor dem Fremden nehmen können als Grundvoraussetzung eines entspannten aber realistischen Umgangs mit Religion.
Ein Kompetenzschema für Fortbildungen zum ressourcenorientierten interreligiösen Lernen (Fortsetzung)
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Kurze Ausformulierung der Kompetenzen Die im Schema beschriebenen Kompetenzen und Standards richten sich an ausbildende soziale und pädagogische Institutionen im Allgemeinen, also auch an kommunale oder freie Träger solcher Institutionen, für die das Thema Religion häufig ein ungewohntes Feld ist. Die Standards sollen hier zur Orientierung über eine gute Fortbildungspraxis dienen. Auch sollen sich ihre bis hierher beschriebenen Bedarfe in den Gegenstandsbereichen und ihren Kompetenzanforderungen wiederfinden. I – Basiswissen Religion: Der Erwerb von Basiswissen soll sowohl über LernMaterialien als auch über Begegnungen und Partnerarbeit geschehen. Alle verwendeten Materialien müssen daher so gestaltet sein, dass die behandelten Religionen sich darin wiedererkennen können. Es verlangt eine gewisse Übung, die authentische Stimme zu suchen und zu hören. Zielperspektive ist, dass ich mich und meinen Partner als Informationsquelle ernst nehme. Damit in der Partnerarbeit etwas über die Wahrheit des anderen herauszufinden ist, müssen die Teilnehmenden und die Referenten von Fortbildungen die Vielfalt der religiösen und kulturellen Zugehörigkeiten repräsentieren. II – Religion und Kultur(en): Das Wissen um die kulturellen Prägungen des Religiösen soll zu einer differenzierten Wahrnehmung führen. Die Soziologie kann dabei helfen, die Konsequenzen unsachlicher Zuschreibungen religiöser Identitäten und Kulturalisierungen zu erkennen. Zielperspektive ist es, die Vielfalt der individuellen religiösen Lebenspraxis als ›Normalfall‹ zu entdecken. Niemand ist ein ›wandelnder Koran‹ / eine ›wandelnde Bibel‹. Jeder verdient es, in seiner individuellen Glaubenspraxis ernst genommen und entdeckt zu werden. III – Vielfalt religiöser Lebenspraktiken: Innerhalb einer Religion sind die individuellen, kulturell geprägten Lebenspraktiken häufig so unterschiedlich, dass die Frage »Wer sind wir?« hoch sensible Prozesse auslösen kann. Wichtig ist es, diese Prozesse innerhalb einer Gruppe wahrnehmen zu können, individuelle Meinungen zu stützen und Gruppenentwicklungen achtsam zu begleiten. Im besten Fall kann dieser Prozess in ein kooperatives Lernen eingebunden werden. IV – common faith arguments: Gemeinsamkeiten der Religionen und Glaubensrichtungen zu kennen hilft dabei, Anknüpfungspunkte für Begegnung und Austausch zu finden. Genauso wichtig ist die klärende Unterscheidung. Wertschätzung und Respekt bestimmen die Haltung gegenüber der Position des Anderen, egal ob es um Gemeinsamkeiten oder Unterschiede geht. Damit lässt sich die Angst vor dem Fremden nehmen, ohne in ein Gutmenschentum oder in einen ›positiven Rassismus‹ zu verfallen. Ziel ist ein entspannter aber realistischer und verantworteter Umgang mit Religion.
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V – shared history: Das Thema des Umgangs mit der Religion beschränkt sich nicht auf das forum internum der religiösen Gemeinschaften. Religion hat für diese Fragen kein Monopol. Es ist – in Deutschland seit Reformation und Aufklärung – auch immer eine Frage der säkularen Diskurskultur. Die vergleichenden Religionswissenschaften können dabei helfen, die religiösen Lebenspraktiken mit autonom formulierten, allgemein menschlichen Werten im Gespräch halten. Dazu zählen Vorstellungen vom Zusammenleben, vom Miteinander, von der Toleranz. Zielperspektive ist das Entdecken gemeinsamer Betroffenheiten und verbindender Geschichten, sowie der gemeinsame Einsatz für eine gedeihliche gesellschaftliche Gegenwart. Auch der klare Positionsbezug gehört dazu. VI – funktionaler Religionsbegriff: Religion hat viele Definitionen und Bedeutungen.10 Religiöse Menschen können individuell sehr unterschiedliche Bedarfe haben. Menschen anderer oder ohne religiöse Praxis tun sich häufig schwer damit, diese unterschiedlichen Bedarfe zu achten oder ihnen Empathie entgegenzubringen. Die Psychologie kann helfen, die Funktion der Religion als Anker, zur Resilenz-Stärkung in Krisensituationen wahrzunehmen, zu deuten und realistisch zu bewerten. Dies betrifft auch das Risikopotential in der Religion. Zielperspektive ist die Anerkennung und Wertschätzung der Suche nach Sicherheit in der Hinwendung zur Religion beim jeweils anderen. Der funktionale Religionsbegriff hilft auch solchen Pädagog/innen, die selber keine religiöse Verortung haben, der Religion in ihrer professionellen Praxis / in ihrer Institution einen wertschätzenden Platz einzuräumen. VII – Ressourcenorientierung: Die religiöse Kompetenz des anderen kann als Ressource für das eigene professionelle Handeln wahrgenommen werden. Es gehört daher zur eigenen (sozial-)pädagogischen Professionalität, Offenheit gegenüber Religion zeigen und Bereitschaft zu signalisieren, über den eigenen weltanschaulichen Horizont hinaus zu schauen. Zielperspektive ist es, authentische Ansprechpartner zu suchen und ins eigene pädagogische Handlungskonzept so zu integrieren, dass daraus eine befriedigende Begegnung für beide Seiten wird (zum Beispiel offene Schule, Elternarbeit etc.). VIII – Gewähren statt belehren: Es gehört weiter zur eigenen (sozial-)pädagogischen Professionalität, dem anderen möglichst auf Augenhöhe zu begegnen. Wenn es ein Ziel ist, vom anderen authentische Informationen aus direkten Begegnungen zu entnehmen, dann gehört auch dazu, dabei unabhängig von der 10 In unserer Fortbildungspraxis gerade auch mit bekenntnislosen Personen zeigte sich, dass sich das Thema Religion nur selten auf den wertebasierten Dialog beschränken lässt, der mit dem funktionalen Religionsbegriff angeboten wird. Auch im Gespräch mit Nichtglaubenden wird dabei häufig eine tiefer gehende Unmittelbarkeit berührt, die vielleicht besser als eine spirituelle Ebene bezeichnet werden kann und die in Fortbildungsmodulen angemessen berücksichtigt werden muss (s. u. Querschnittsaufgabe 2).
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eigenen weltanschaulichen Überzeugung auskunftsfähig über das Eigene zu werden und Einblick in die eigenen Werte, Grundeinstellungen und Sinnfindungen zu gewähren. Zielperspektive ist die Befähigung, in interdisziplinären Teams zu arbeiten, die religiös und kulturell vielfältig sind.
Erfahrungen aus der Fortbildungspraxis (2016–2018) Die beschriebenen Standards und Qualitätsmerkmale wurden in den Jahren 2016 bis 2018 in zahlreichen Fort- und Weiterbildungen, insbesondere an Schulen, Kindertageseinrichtungen und sozialen Einrichtungen erprobt. In diesen Handlungsfeldern entstehen Unsicherheiten vor allem aufgrund der komplexen Polyvalenz der Fragen um Flucht und Migration: Wie kann ich sicher sein, dass abweichende Verhaltensweisen mit der kulturellen oder religiösen Lebenspraxis geflüchteter Schüler/innen und Klient/innen in Verbindung stehen? Vielleicht handelt es sich eher um individuelle Verhaltensmuster, die sich besser aus der prekären Lage Geflüchteter erklären lassen? Oder liegt es daran, dass in den Herkunftsländern der Geflüchteten an Schule, Unterricht und an das LehrerSchüler-Verhältnis ganz andere Erwartungen, Rollenverständnisse und Ziele herangetragen werden als bei uns? Entsprechendes ist für Kindertageseinrichtungen, Erziehende und Familien, beziehungsweise für soziale Einrichtungen, Helfende und ihre Klient/innen zu bedenken. Wer kennt sich da aus? Die Fortbildungen erhielten dann ein gutes Feedback, wenn sie den Teilnehmenden zu diesen Punkten eine erste Orientierungshilfe geben konnten, und wenn dabei auch die eigenen Fragen und Probleme diesen Fragen zugeordnet und lösungsorientiert angegangen werden konnten. Berufsgruppenübergreifend wurden drei modularisierte Gegenstandsbereiche besonders nachgefragt. Gleichzeitig stellten sich vier Querschnittsaufgaben heraus, die im Aufbau aller Module besonders zu beachten waren.
Modul 1: Welche religiösen Ressourcen und Risiken bringen Geflüchtete aus ihren Herkunftsländern mit? In Zeiten von Krise und Gefährdung wird die Wahrnehmung des Zusammenlebens von Menschen unterschiedlicher Konfession oder Religion oft durch apokalyptische Szenarien von Verfolgung und Vertreibung bestimmt. Dies überlagert die für Betreuende und Helfende angemessenere Fragerichtung nach den religiösen Ressourcen und Risiken der Geflüchteten: Wie sah das interreligiöse Zusammenleben in den Herkunftsländern Geflüchteter vor der Krise aus? Welche guten und schlechten Erfahrungen haben sie persönlich damit gemacht?
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Welche Hoffnungen und Ängste verbinden sie damit und für ihre Zukunft in den Herkunftsländern und/oder in Deutschland? Quer durch alle Religionsgemeinschaften und gesellschaftlichen Milieus der Geflüchteten wird dabei von traumatisierenden Erfahrungen, aber auch vom Wunsch nach einer Wiederherstellung des interreligiösen Zusammenlebens in den Herkunftsländern berichtet. Dabei wird von ihnen auch die eigene langjährige Kultur der friedlichen Konvivenz erinnert, deren Regelungssysteme in der aktuellen Krise akut versagt haben und beschädigt wurden, die aber als Wunschvorstellung immer noch vorhanden ist.11 Für viele Teilnehmende unserer Fortbildungen waren solche Informationen Neuland, und ihre Wahrnehmung konnte häufig gegen die eigene anderslautende Vermutung entsprechend sensibilisiert werden.
Modul 2: Bildung, Schule und Sozialsysteme in den Herkunftsländern Geflüchteter Trotz der internationalen Bildungsforschung besteht bei den allermeisten Teilnehmenden unserer Fortbildungen eine grundlegende Informationslücke zu Bildungs-, Schul- und Sozialsystemen in den Herkunftsländern der Geflüchteten. Daher wurden einerseits Informationen und Materialien zur historischen Entwicklung eines westlichen Bildungssystems im osmanischen Reich und seinen Nachfolgestaaten seit Mitte des 19. Jhs. und andererseits aktuelle Länderinformationen zur beruflichen und schulischen Bildung in den Herkunftsländern der Geflüchteten stark nachgefragt.12 Noch stärker auf den eigenen Berufsalltag bezogen ist die Frage nach Kompetenzen, Bildungsstandards und nach der guten Praxis des Lernens dort – und im Vergleich zu uns. Dies umfasst mögliche kulturelle Prägungen des Lehrerbilds, der Lehrer-Schüler-Beziehung oder auch die unterschiedliche Verteilung von Erziehungsaufgaben zwischen Schule und Elternhäusern. In den Fortbildungen haben sich Rollenspiele und lösungsorientierte Fallbeispiele bewährt, um in solchen Unterrichtskonflikten das Vertrauen in die eigene pädagogische Kompetenz zu stärken.
11 Zu einer ressourcenorientierten Darstellung des religiösen Zusammenlebens in ausgewählten arabischen Herkunftsstaaten Geflüchteter, s.: F. van der Velden 2018a (in diesem Band) und F. van der Velden 2018b. 12 Besonders nützlich erweist sich dabei das bq-portal des BM für Wirtschaft und Energie (https://www.bq-portal.de/db/berufsbildungssysteme) aufgrund der differenzierten Darstellung von schulischen und beruflichen Abschlüssen und Bildungssystemen, geordnet nach einzelnen Herkunftsstaaten.
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Modul 3: Handlungsorientierte Lösungsansätze diskutieren In jeder Fortbildung sollte ein längeres Modul eingeplant werden, um an Beispielen und Fragen aus der eigenen beruflichen Praxis handlungsorientierte Lösungsansätze zu diskutieren. Dabei sollen die Teilnehmenden ihre eigene pädagogische Kompetenz in der Gruppe einbringen können, damit gleichzeitig Elemente der kollegialen Fachberatung eingeübt werden können. Das Problem wird also primär von der pädagogischen Seite her angegangen, nicht vorrangig von der theologischen. Das folgende Beispiel setzt inhaltlich Modul 2 voraus, das die Bildungs- und Lernkultur in den Herkunftsländern der Geflüchteten behandelt.13 Fortbildungsbeispiel: »Sie setzen den pädagogischen frame«! In einer hessischen berufsbildenden Schule übernahm eine jüngere Lehrerin die Klassenleitung und den Deutschunterricht einer InteA-Klasse14, die mehrheitlich aus männlichen afghanischen, eritreischen und syrischen Geflüchteten im Alter von 16–22 Jahren bestand. Im ganzen ersten Halbjahr berichtete die Lehrerin von Problemen bei Gruppen- und Partnerarbeiten. Einmal sollten die Schüler/innen in Partnerarbeit sich gegenseitig Beispiele für das Zusammenleben verschiedener Kulturen in Deutschland in einfachen Dialogen berichten und das, was dem Partner dazu aufgefallen war, in Stichpunkten festhalten. Danach sollten die Beobachtungen in der Klasse mit der Lehrerin besprochen werden. Dazu kam es aber nicht mehr, da bereits während der Partnerarbeit große Disziplinprobleme auftraten und der von der Lehrerin erteilte Arbeitsauftrag vor allem von den männlichen Schülern nicht akzeptiert wurde. Die Lehrerin musste die Partnerarbeit abbrechen und stattdessen die Stunde mit einer Textarbeit fortsetzen. Die Lehrerin ordnete diese Disziplinschwierigkeiten als kulturellen und religiös kodierten Wertekonflikt ein, da sie sich in ihrer Rolle als westliche, emanzipierte und berufstätige Frau angegangen fühlte. In ihrer Wahrnehmung hatten die männlichen muslimischen Jugendlichen Schwierigkeiten, die Anweisungen einer Frau zu akzeptieren. Diese Deutung ist nicht einfach von der Hand zu weisen, und manch männlicher Heranwachsender drängt in seinen pubertären Rollen- und Generationskonflikten diese Deutung seiner Umwelt auch geradezu 13 Die im folgenden Fallbeispiel geschilderten Unterrichtsbedingungen in den Herkunftsländern Geflüchteter werden genauer im Beitrag von Jette van der Velden in diesem Band analysiert. 14 Intensivklassen für Geflüchtete ohne hinreichende Deutschkenntnisse (InteA) an hessischen Berufsschulen.
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auf. Es lohnt sich hier aber, nach alternativen Deutungsmustern des Konflikts zu fragen. Zwei Dinge fallen auf: Zum einen war die Reaktion der eritreischen Jugendlichen nicht wesentlich anders als die der syrischen und afghanischen. Die eritreischen Geflüchteten in dieser Klasse waren aber alle Christen. Es wäre also offensichtlich verkürzend, hier ›den Islam‹ zum Erklärungsmuster des pädagogischen Konfliktes zu erklären. Zum anderen wird in vielen Herkunftsländern der Geflüchteten der Lehrerberuf überwiegend von Frauen ausgeübt, so dass die syrischen und eritreischen Schüler/innen also durchaus damit vertraut sein sollten, dass Frauen an Schulen unterrichten. Es kann also auch nicht von einem übergreifenden kulturellen Hindernis ausgegangen werden. Fragen wir also anders herum: Wie sind es Schulkinder aus diesen Ländern gewohnt, (von einer Frau) unterrichtet zu werden? Hier fällt nun insbesondere die Bedingung der schulischen Pädagogik ins Gewicht. Schulen in den Herkunftsländern leiden meist unter chronischer Überfüllung und schlechten räumlichen Voraussetzungen und Ausstattungen. Methodenvielfalt und partnerschaftliches Lernen haben daher erst in den 00er Jahren Einzug in die Lehreraus- und -weiterbildung gehalten und sind nach wie vor nicht Standard. Die Regel ist Frontalunterricht im Lehrervortrag mit Einzelarbeit (Ausfüllen von Arbeitsblättern) und enger Überprüfung von Schulheften und Leistungen. Autoritäre und direktive Ansprache der Lehrenden an die Schüler/innen ist die Regel, aber auch eine direkte wertschätzende und stützende Kommunikation. Allerdings ist die Didaktik wie die allgemeine Pädagogik stark lehrerzentriert. Häufig verläuft die Pädagogik im Dreiklang von Wissenserwerb – rationalem Verstehen – Nachahmung der Haltung des Lehrenden. Der Unterrichtende wird somit zum Maß der Dinge, dem in Wissen, Urteil und Haltung nachgeeifert wird. Dies ist durchaus auch einer Frau gegenüber möglich. Viel schwieriger ist dagegen, den Sitznachbarn als Quelle der Erkenntnis und somit eine Partnerarbeit als etwas Lohnendes zu akzeptieren. Gerade leistungswillige Schüler/innen fühlen sich bei der Partnerarbeit ›abgewimmelt‹ und ›veräpfelt‹ (›der Lehrer macht seinen Job nicht, er kümmert sich nicht um mich, er wimmelt mich ab und verweist mich an einen Mitschüler, der genauso wenig Ahnung hat wie ich‹, etc.). Dieses vermutete Lehrerverhalten ruft dann weitere kulturspezifische Wertungen auf den Plan, die sich an der Lehrerin abarbeiten und dabei auch ihre Position als Frau vor der Klasse aufs Korn nehmen. Manches Mal ergibt sich durch diese differenzierte Betrachtung ein gewisser pädagogischer Spielraum, auch wenn sie nicht direkt zu einer Lösung führt. Die für Geflüchtete häufig ungewohnte methodische Vielfalt ist vor der Lerngruppe aber jedenfalls begründungspflichtig und kann wohl erst Schritt für Schritt eingeführt werden. Die Kollegin könnte daher die Erwartungen ihrer Schüler/
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innen an eine ›Lehrerin‹ erfüllen und erst einmal frontal und mit großer disziplinarischer Kontrolle unterrichten. Ein anderer Punkt ist die Infragestellung ihrer Autorität: Wie das ganze gesellschaftliche System sind auch Schulen in arabischen Ländern mit steilen Hierarchien versehen und werden top-down organisiert. Lehrer/innen erwerben ihre Autorität daher nur zum Teil durch ihre Professionalität und Handlungskompetenz. Zum größeren Teil wird sie durch die Schulleitung delegiert. Ihre Kolleginnen in den Herkunftsländern holen daher in solchen Konflikten gerne Mitglieder der Schulleitung in ihren Unterricht, um autoritativ vor der Lerngruppe zu klären, in wessen Auftrag sie vor der Lerngruppe stehen, und haben mit gewisser Wahrscheinlichkeit danach für einige Zeit ein ruhiges Leben. Fazit: Gehen Sie den Konflikt nach Möglichkeit erst einmal nicht von einer religiösen, sondern von Ihrer eigenen pädagogischen professionellen Kompetenz her an. Im vorliegenden Beispiel liegt ein Schlüssel für den Zugang zum Problem in Ihrer Vertrautheit mit den Bildungsvoraussetzungen und Bildungskarrieren, die Ihre Schüler/innen aus ihren Herkunftsländern mitbringen. Es geht zu einem guten Teil auch um kulturell gebundene Bildungstechniken. Hier, in diesem pädagogischen Bereich, sind Sie kompetent! Gehen Sie also das Problem also erst einmal von dieser Seite an. Dadurch wird sich das Folge-Problem, das Sie auf der gender-Ebene mit den religiösen Traditionen Ihrer Schüler verbinden, nicht auflösen, aber Sie erhalten einen alternativen Zugang zu diesem Konflikt, der die Komplexität der Sache reduziert. Anders gesagt: Sie fühlen sich nicht mehr ganz so hilflos und haben sich dank Ihrer eigenen pädagogischen Kompetenz einen gewissen Spielraum erarbeitet. Das tut der Seele gut und eröffnet neue Handlungsmöglichkeiten. Zum Beispiel, um das Gespräch mit einer muslimischen Kollegin zu suchen, wie sie mit solchen Situationen umgeht. Oder um die Schulleitung wie oben beschrieben mit ins Boot zu holen.
Querschnittsaufgabe 1: grundlegende pädagogische Reflexionen neu vornehmen Die vorgestellten Module führten die Teilnehmenden schnell auf grundlegende pädagogische Reflexionen zurück, die im Fachunterricht häufig überdeckt werden. Vieles musste noch einmal aus einem veränderten pädagogischen Blickwinkel bedacht werden, wobei der von Heidi Keller15 am Beispiel der kultursensitiven Frühpädagogik beschriebenen Multiperspektivität von Orten, 15 Zum folgenden vgl. Keller (2013) 11–23 und Keller (2014) 99–132.
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Routinen und Beziehungen offensichtlich eine übergreifende Bedeutung zukommt. Geflüchtete und ihre Kinder befinden sich in einer Verunsicherung zwischen Trauma und der Hoffnung auf besseres Leben. Ob Geflüchtete in dieser Situation eine deutsche Sozial- oder Bildungseinrichtung als Entlastung oder als weitere Belastung wahrnehmen, hängt auch damit zusammen, ob sie dort einen Ort, tägliche Routinen und Beziehungen vorfinden, die ihrer Vorstellung von Normalität entsprechen.16 Geflüchtete Kinder lernen in sozialen Einrichtungen, Kitas und Schulen im guten Fall empathische Menschen kennen, die selber ohne Fluchtbelastung sind, und sie lernen Deutsch und andere Schul- und Bildungsfächer. Der Ort ist aber mehr als ein Lernort, er ist Lebensraum, der Schutz, Entspannung und Stimulation bereithalten soll. Ob freies Lernen oder Spiel (in der Regel alleine) oder ein koordiniertes Lernen und Spielen in der Gruppe bevorzugt werden, ob Partnerarbeit oder Lehrervortrag den Unterricht ausmachen, welche Bedeutung dabei der verbalen und welche der nonverbalen Kommunikation zukommt: Diese Kompetenzen werden Kindern von klein auf an- und aberzogen, was das Lernen in einer anderen Kultur erschwert. Fremdheit und Unvertrautes erfordern so zusätzliche Bewältigungsstrategien. Die direkte Interaktion mit einem Erwachsenen kann für Kinder anderer Kulturen mit unterschiedlichen Verhaltensmustern belegt, manchmal sogar bedrohlich sein. Erziehungspartnerschaften (Eltern vs. Familie, Elternhäuser vs. Schule oder Kita), Sozialisationsziele (Mütter vs. Erzieher, Verbundenheit vs. Autonomie) und Diskursstile (themenzentriert vs. beziehungszentriert), aber auch bevorzugte Haltungen (emotionale Neutralität vs. emotionale Beteiligung) funktionieren als kulturelles Schema. Ob alleine oder gemeinsam gespielt wird, ob mit Besteck oder mit Fingern gegessen wird und was, wie viel und an welchem Ort ein Kind in welchem Alter entspannen oder schlafen soll, sind kulturell geprägte Parameter, wobei die in Deutschland als Normalität verstandenen Rahmenbedingungen den Geflüchteten häufig unklar sind. Manche Raumerfahrung, manche Routine und Beziehung in Kita, Schule und sozialer Einrichtung trägt damit ungewollt eher zur Verunsicherung bei. Dies erfordert von den Erziehenden und Lehrenden vor allem eine regelmäßige (Selbst-)Beobachtung: Wie wird Normalität in ihrem Arbeitsalltag definiert? Leben sie dabei eine Multiperspektivität vor, die den Raum öffnet, damit Kinder aus vielen Kulturen sich mit ihren Vorstellungen von Normalität darin wieder16 Heidi Keller schlägt vor, kultursensitive Voraussetzungen für die Ortsbindung (vgl. Keller 2014, S. 106) sowie Anker für vertraute Routinen zu schaffen (vgl. Keller 2014, S. 134) und in den Beziehungen Wertung durch Neugier zu ersetzen (vgl. Keller 2014, S. 111).
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finden können? Heidi Keller formuliert dazu eine Trias von Forderungen an eine multiperspektivische Pädagogik: Den »Dreiklang aus Kenntnis, Haltung und Leben mit Diversität«17. Vergleichbare Forderungen erhebt Martin Lechner18 für eine religionssensible Erziehung in Schulen und sozialen Einrichtungen: Religionssensible Erziehung zielt auf die Lebensfähigkeit junger Menschen, nicht auf ihre Konfessionalität. In der Religionssensiblen Erziehung geht es um eine religiöse Sensibilisierung und Alphabetisierung, um Heranwachsende zu befähigen, die religiöse Kultur zu verstehen, sich im religiösen Pluralismus zu orientieren, ethische Konfliktsituationen gut zu lösen und Krisensituationen des Lebens zu bewältigen. Auch diese religiösen Ressourcen und Bedarfe der Schüler und Klienten sind abhängig von ihrer kulturellen Prägung und ihrer individuellen Lebenspraxis, die den Ausgangspunkt der (religions-)pädagogischen Reflexion bilden müssen.
Querschnittsaufgabe 2: Religion funktional und auto-reflexiv thematisieren In fast allen Fortbildungen bisher diente der beschriebene funktionale Religionsbegriff nur als ein Einstieg in das Thema, zum Beispiel um kulturell diverse religiöse Lebenspraktiken von Schüler/innen und Klient/innen besser einordnen zu können. Sobald die Teilnehmenden auf sich selber als Unterrichtende, Erziehende oder Betreuende im interreligiösen Handlungsfeld reflektierten, trat etwas anderes nach vorne, nämlich von den eigenen ethischen, kulturellen und religiösen Überzeugungen auskunftsfähig werden. Die Freiburger katholische Religionspädagogin Mirjam Schambeck19 beschreibt diese Positionsveränderung als den autoreflexiven Umgang mit dem Religionsplural: »Interreligiöse Bildung, die den Religionsplural ernst nimmt, muss einen Beitrag dazu leisten, dass Menschen eine eigene, begründete Position bezüglich der Frage ausbilden, wie Eigenes und Fremdes, sowie Eigenes im Angesicht des Fremden zu verstehen ist.«20
Die Diskussion der eigenen Rolle offenbarte häufig eine Unsicherheit, wie und wieviel über das eigene geredet werden müsse, um den Schüler/innen und Klient/ innen auf Augenhöhe zu begegnen, und wo die Grenze verlaufe, die nicht überschritten werden dürfe. Es stand zur Diskussion, ob die eigene Schule, Kindertageseinrichtung oder soziale Institution etwa (auch) als ein ›pastoraler Ort‹ verstanden werden müsse, und wo die Grenze gegenüber einer übergriffigen Überzeugungsarbeit zu ziehen sei. Auf diesen Punkt wird bei der Erstellung der 17 18 19 20
Keller 2014, S. 134. Lechner 2009, hier S. 11–29. Schambeck 2013. Schambeck 2013, hier S. 161.
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Kurrikula noch weiterhin zu achten sein, doch bleibt festzuhalten, dass Religion nicht allein auf ihre Funktionalität beschränkt werden kann sondern immer auch einen Moment der inneren Beteiligung mit sich bringt. Dies betraf auch solche unserer Teilnehmenden, die sich selber als nicht-religiös bezeichneten. Auch für Fortbildungen gilt daher das Diktum von Mirjam Schambeck: »Was nützt es, Kapitel über die Weltreligionen in die Curricula einzubauen, wenn dies keine Auseinandersetzung darüber anstößt, was sich daraus für das eigene Leben gewinnen lässt?«21 In dieser offenen Fragestellung waren für viele Teilnehmende die folgenden vier Gesprächsstrategien zum Thema Religion hilfreich: Strategie 1: Gewähren statt belehren Reden Sie viel von dem, was Ihnen selbst wichtig ist. Und warum es Ihnen wichtig ist. Senden Sie ›Ich-Botschaften‹ aus. Nehmen Sie Antworten empathisch entgegen. Strategie 2: »Anders herum wird ein Schuh daraus …« Stellen Sie sich bei jeder Frage, die Sie stellen, vor, dass sie Ihnen gestellt würde. Stellen Sie nur Fragen, auf die Sie selber gerne antworten würden. Seien Sie sachlich klar. Strategie 3: ›Den Islam‹ gibt es genau so wenig wie ›Das Christentum‹ Erwarten Sie nichts von einer Diskussion über den Islam oder den Koran (den haben Sie nämlich nie vor sich). Sie haben Menschen vor sich, die eine religiöse Lebenspraxis haben, die individuell & kulturell geprägt ist. Strategie 4: Individuelle Einstellungen akzeptieren Fragen Sie Ihren Gesprächspartner nach seiner individuellen religiösen Lebenspraxis oder warum ihm / ihr der Koran wichtig ist und wie er / sie damit umgeht. Schützen und stärken Sie ggf. solche individuellen Setzungen.
Querschnittsaufgabe 3: Alliierte und Netzwerkpartner einbinden Authentische Stimmen sind auch in der Fortbildung selber wichtig. Neben den Referierenden sollten auch die Teilnehmenden ein möglichst großes Spektrum von individuellen Glaubens- und Lebenspraktiken repräsentieren. Dies sensibilisiert die Wahrnehmung der Teilnehmenden, und andererseits muss in der Fortbildung nicht mehr über andere geredet werden, wenn die Kommunikation bereits in der Begegnung mit ihnen eingeübt werden kann.
21 Ebd.
Qualitätsmerkmale für Fortbildungen im interreligiösen Kompetenzbereich
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Ähnlich gilt für Alliierte und Netzwerkpartner von Schulen und Bildungseinrichtungen, dass sie im sozialen Raum relevant und ortsnah sein müssen. Die ›Neuköllner Empfehlung Ramadan und Schule‹22 aus dem Jahr 2017 ist aufgrund ihrer Inhalte sicherlich sehr beachtenswert. Ihr Wert als Ressource wird aber dadurch bestimmt, dass die relevanten örtlichen Netzwerkpartner – islamische Zentren und Gemeinden im Berliner Bezirk Neukölln – die Initiative durch ihre Unterschrift unterstützen. In Fortbildungen müssen also lokale Netzwerkpartner empfohlen werden. Dazu zählen neben islamischen und christlich-orientalischen Gemeinden vor Ort auch Mitarbeitende von Kommunen und Sozialämtern, die selber einen zweiten kulturellen Hintergrund aus den Herkunftsländern der Geflüchteten haben.
Querschnittsaufgabe 4: Interreligiöse Teams fördern So wie in unseren Fortbildungen der Kompetenzaustausch und die Kommunikation in religiös vielfältigen Gruppen eingeübt werden, ist dies auch für die innerbetrieblichen Teams wünschenswert. Allerdings ist der Anteil von Lehrer/ innen mit einem entsprechenden kulturellen Hintergrund und mit islamischem oder orientalisch-christlichem Bekenntnis in unseren Schulen noch gering. Genauso ist die religiöse Unterweisung im Normalfall noch auf den katholischen oder evangelischen Religionsunterricht beschränkt, da sich der islamische Religionsunterricht in fünf Bundesländern erst im Aufbau befindet und zum Beispiel syrisch-orthodoxer christlicher Religionsunterricht nur in ausgewählten Schulen der Länder Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen erteilt wird. Kindertages- und soziale Einrichtungen sind häufig in kirchlicher Trägerschaft und bleiben dann nicht-christlichen pädagogischen Mitarbeitenden in der Regel verschlossen.23 Umso größer ist die Bedeutung, die interdisziplinär und interreligiös aufgestellten Kompetenzgruppen vor Ort zukommt, die sich in Konzepten wie der offenen Schule, dem offenen Kindergarten oder in ehrenamtlichen Flüchtlingshelfergruppen gemeinsam mit den professionellen Pädagog/innen und Sozialarbeiter/innen engagieren.
22 https://www.berlin.de/ba-neukoelln/aktuelles/pressemitteilungen/2017/pressemitteilung.59 5473.php (Zugriff am 13. 2. 2018). 23 Eine Ausnahme berichtet Sebastian Hofmann in seinem Beitrag zu diesem Band.
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Ausblick Die bis hierher beschriebenen Kompetenzen und Standards sollen von 2018 bis 2020 in einem dreijährigen Projektvorhaben im Rahmen des hessischen Weiterbildungspakts24 erweitert, kurrikular reflektiert und mit berufsfeldspezifischen Niveaukonkretisierungen versehen werden. Elementarpädagogik, Schulpädagogik und Sozialpädagogik reflektieren zu sehr unterschiedlichen Bedingungen auf die Querschnittsaufgabe der interreligiösen Kompetenz und so wird an den Orten des größten Bedarfs – also in Kindertageseinrichtungen, in Schulen, sowie in der sozialen Arbeit und Pflege – zu Recht gefordert, dass die Kurrikula der Fort- und Weiterbildung von Haupt- und Ehrenamtlichen berufsfeldspezifisch sein müssen. Im Sinne der Ziele und Handlungsfelder des hessischen Weiterbildungspaktes25 sollen die Teilnehmenden dabei auch zur Arbeit in religiös und kulturell gemischten Teams befähigt werden. Dabei ist neben der fachlichen interreligiösen / interkulturellen Qualifizierung auch die Vernetzung mit Solidarpartnern im sozialen Raum wichtig. Dies betrifft besonders die Eltern- und Angehörigenarbeit in den Einrichtungen, die mit ›offenen‹ Konzepten (in Kita, Schule, Jugendhilfe etc.) arbeiten. Daher ist es in diesem interreligiösen Qualifizierungsbereich notwendig, von Anfang an gemeinsam mit den Selbstorganisationen von Migrierten und Geflüchteten zusammenzuarbeiten.
Literatur Behr, Harry H.: Islamischer Religionsunterricht in der Kollegstufe, in: van der Velden, Frank / ders. / Haußmann, Werner (Hrsg.): Gemeinsam das Licht aus der Nische holen. Kompetenzorientierung im christlichen und islamischen Religionsunterricht der Kollegstufe, Göttingen 2013, S. 17–40. Behr, Harry H. / van der Velden, Jette. / van der Velden, Frank (Hrsg.): Dokumentation des Hessencampus-Projekts »Religion als Ressource in sozialer Arbeit mit Christen und Muslimen«, 2016 (www.keb-hessen.de/projekte/religion-als-ressource, letzter Zugriff am 12. 2. 2018). Fischer, Dietlind / Elsenbast, Volker (Hrsg.): Grundlegende Kompetenzen religiöser Bildung, Münster 2006. 24 Hessisches Kultusministerium 2016. 25 »Vor dem Hintergrund der aktuellen gesellschaftlichen Entwicklung steigt die Bedeutung nicht nur der interkulturellen, sondern auch der interreligiösen Kompetenz für die Arbeit in Bildungseinrichtungen und sozialen Institutionen. Im Rahmen des Weiterbildungspaktes sollen entsprechende Fortbildungen etabliert werden mit dem Ziel, die Potentiale religiöser Menschen zur Stärkung von Resilienz sowie in der Konfliktprävention und bei der Problemlösung zu aktivieren« (Hessisches Kultusministerium 2016, hier S. 6.)
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Hessisches Kultusministerium: Weiterbildungspakt für die Jahre 2017 bis 2020, Wiesbaden 2016 (https://kultusministerium.hessen.de/sites/default/files/media/hkm/ weiterbildungspakt_gezeichnet.pdf, letzter Zugriff am 12. 2. 2018). Keller, Heidi: Kulturelle Modelle und ihre Bedeutung für die frühkindliche Bildung, in: dies. (Hg.): Interkulturelle Praxis in der Kita, Freiburg 2013, 11–23. Keller, Heidi: Kultursensitive Frühpädagogik, Kohlhammer, Stuttgart 2014, S. 99–132. Klieme, Eckard et alii (Hrsg.): Zur Entwicklung nationaler Bildungsstandards. Eine Expertise (2003), Bonn-Berlin 2007, Nachdruck 2009. Lechner, Martin: Religionssensible Erziehung, München 2009. Leimgruber, Stephan: Interreligiöses Lernen, München 1995, Neuausgabe 1997, 2. Auflage 2012. Schambeck, Mirjam: Interreligiöse Kompetenz, Göttingen 2013. Van der Velden, Jette (Hrsg.): Dokumentation des Hessencampus-Projekts »Kultursensibilität lernen. Interkulturelle Kompetenzen für die berufliche Praxis«, 2018, 20 S. (www.keb-hessen.de/projekte/kultursensibilität-lernen, letzter Zugriff am 18. 05. 2018). Van der Velden, Frank / Behr, Harry H.: »Geisenheimer Standards« für Fortbildungen im interreligiösen Kompetenzbereich, in: dies. / van der Velden, J. (Hrsg.): Dokumentation des Hessencampus-Projekts »Geflüchtete in Schule und sozialer Arbeit«, 2017, S. 15–21 (https://www.keb-hessen.de/impressum/keb-dokumentation-geflüchtet, letzter Zugriff am 12. 2. 2018). van der Velden, Frank: Wenn Geflüchtete von der Religion erzählen. Narrative Interviews zu interreligiösen Ressourcen in Syrien, in: ders. / Behr, Harry H. (Hrsg.): Religion, Flucht und Erzählung: Interkulturelle Kompetenzen in Schule und sozialer Arbeit mit Geflüchteten, Göttingen 2018, S. 175–194. van der Velden, Frank, Die blutenden Grenzen der religiösen Vielfalt. Auf der Suche nach Ressourcen des Zusammenlebens im arabischen Nahen Orient, in: Bonacker, Marco / Geiger, Gunther (Hrsg.): Grenzen. Der demokratische Rechtsstaat und die Herausforderung der Migration, Paderborn 2018, S. 55–73.
Teil II – Narrativität und Flucht
Harry Harun Behr
Vom Koran und der Kunst des Erzählens. Muslimische Erinnerungsgemeinschaft und narrative Identität1
Hinführung Was weiß der Mond von der Erde? Für eine wissenschaftsnahe Publikation klingt solch eine Anfrage in Richtung des Lyrischen, einem Koan gleich, etwas ungewöhnlich. Jeder Versuch, eine Antwort und damit eine Annäherung an die Realität zu formulieren, wird scheitern. Vermutlich weiß der Mond nichts, oder wir wissen es nicht, oder nur das, was er sieht, oder nur das, was er von Gott mitgeteilt bekommt. Schon die Sache mit der dunklen Seite des Mondes ist durch den Standpunkt des irdischen Beobachters vorgegeben, denn sie ist ja gar nicht dunkel. Aber genau solche semantisch konstruierten Paradoxien erhellen für die Zwecke dieses Beitrags eine zentrale Problemstellung in Sachen Narrativität. Sie deuten auf die Frage, wie wir die multiplen Naturen der menschlichen Erkenntnis verstehen, wenn wir vom Erzählen reden. Als Menschen, die wir nicht nur fähig zu Erkenntnis sind, sondern auch ihrer bedürftig, sehen wir uns vor ungewöhnliche Befunde gestellt. Wir sind zum Beispiel in der Lage, das Universum in den Blick zu nehmen. Dazu reicht es völlig aus, in einer klaren Nacht den Kopf in den Nacken zu legen und den Blick über das samtschwarze Firmament schweifen zu lassen. Die uns zur Verfügung stehenden kosmischen Maßstäbe angelegt, tun wir das von der Warte einer kleinteilig anmutenden Marginalität aus. Wir können, das wissen wir aber nur durch naturwissenschaftliche Algorithmen, das Licht von Sternen sehen, die gar nicht mehr existieren, weil es über Zeiten und Räume hinweg unterwegs ist, welche die Frist ihres physischen Daseins überschreiten. Hier ist Existenz über ihr diesseitiges Verfallsdatum hinaus physikalisch auffällig. Die Frage hingegen, inwieweit diese Existenz noch als wirklich bezeichnet werden darf, birgt das Potenzial, das 1 Dieser Artikel erscheint im Kontext des vom LOEWE-Programm des Hessischen Ministeriums für Wissenschaft und Kunst geförderten Forschungsschwerpunkts »Religiöse Positionierung: Modalitäten und Konstellationen in jüdischen, christlichen und islamischen Kontexten« an der Goethe-Universität Frankfurt.
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handliche Arrangement unserer Wirklichkeitskonstruktionen nach Maßgabe denkender Verfügbarkeit erheblich zu verkomplizieren. Aber gerade solche Diskrepanzen zwischen der Beobachtung, der Imagination und der Verhandlung von Wirklichkeit schaffen Räume für spielerische Bewegungen des Geistes. Was sich mit dem englischen Ausdruck ludic gap treffender beschreiben lässt als deutsche Paraphrasierungen, scheint infinit zu sein, sei es mit Blick auf die unvorstellbaren Abstände zwischen den Himmelskörpern, sei es mit Blick auf die metarealen Tiefendimensionen des Selbst.2 Man senke nur mal den Kopf und betrachte die eigene körperliche Gestalt, was nicht weniger komplex ist als der Blick ins All. Was mir am nächsten sein sollte, da ich ja selbst drinstecke, ist eigentlich weiter von mir weg, als es für andere zu sein scheint. Ich selbst bin nur unzulänglich in der Lage, meinen Körper umfassend zu sehen – das geht nur über die optische Vermittlung, und selbst mein allmorgendliches Spiegelbild ist die erste seitenverkehrte Täuschung. Umso bereitwilliger verlasse ich mich darauf, was mir meine Mitmenschen bezüglich meiner körperlichen Gestalt mitteilen. Da sich diese Information aber auch emotional in das Selbstbild verwickelt, was Zustimmung und Ablehnung, Bestätigung und Verunsicherung oder Hoffnung und Enttäuschung angeht, stehe ich auch hier vor einer kosmisch anmutenden Herausforderung: Gefangen zwischen der Vorstellung meiner selbst, dem wie andere mich sehen und meiner Vermutung bezüglich dessen, wie andere mich sehen, weiß ich nur in Brechungen über mich selbst Bescheid. Die Theorie meiner selbst bleibt oszillierend und in letzter Konsequenz imaginiert, intendiert und kalkuliert, nicht aber im strengen Sinne real. Hier liegt ein erster Ansatz, die pädagogische Bedeutung von Narrativen und Narrativität zu begreifen: Sie bieten Gelegenheit, Methode und Motiv, sich aus den physischen und mentalen Befangenheiten des Selbst zu befreien.3 Aber noch einmal zurück zu den Sternen: Als Sternengucker können wir nicht anders als uns selbst in so etwas wie eine mittige Position der Betrachtung zu stellen. Aber wäre es umgekehrt genauso? Was ich meine ist die reziproke Betrachtung von der Warte jenes weit entfernten Punktes, dem jenes Licht entspringt. Hätten wir in dem Moment, in dem das Licht eines verloschenen Gestirns unsere Netzhaut erreicht, dieselbe Möglichkeit, das entstehende Bild in ein Bewusstsein unserer Selbst einzugliedern – zumal wenn es dort drüben gar keinen Globus mehr gibt, der einen Beobachter noch beheimatet? Will heißen: Wenn sich die Blicke der Menschen auf den Gestirnen hüben und drüben begegnen, sind beide in Wirklichkeit nicht mehr da – somit wäre jeder Verhandlung von Wirklichkeit die Grundlage der Vernunft entzogen. Dahinter steckt mehr als nur 2 Zur philosophischen Schule des Metarealismus siehe Guitton / Bogdanov 1998. 3 Zu den Zusammenhängen von Körperlichkeit, Bewegung und Bedeutung siehe vertiefend: Cassirer 1925 und Koch / Glawe / Holt 2011 und Lakoff / Johnson 1999.
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das Kommunikationsparadigma großer zeitlicher und räumlicher Distanzen, etwa hinsichtlich der Frage, ob sich über eine Beschleunigung der Signalübertragung dieses Problem lösen ließe. An dieser Stelle greift ein zweiter Aspekt der Erzählung: Sie ist in der Lage, solche Distanzen zu relativieren und Dinge zusammenzuführen, die sich andernfalls nie begegnen würden. Aus der Unwägbarkeit des Unendlichen heraus schafft sie einen begrenzten und verfügbaren Raum. Sie macht Dinge kognitiv und emotional handhabbar, und zwar nicht durch Beschleunigung, sondern gemäß der symbolischen Interaktion durch Verlangsamung. Erzählungen sind ihrer klassischen Dramaturgie nach linear und diachronisch, sie zwingen gleichsam in die Spur, was der Koran in der Moses-Geschichte aufgreift: Als die Mutter ihren kleinen Moses in einem schwimmenden Korb den Fluten des Nils anvertraut, fordert sie mit dem Zuruf »Quss¯ıhi!«4 ihre Tochter Mirjam auf, ihrem ˙˙ Bruder zu folgen und ihn nicht aus den Augen zu lassen. Dieses Verb für einer Spur folgen oder eine Fährte aufnehmen steht Pate für das arabische Pendant qasas im Sinne von Erzählung5, etwa so wie das lateinische legendum mit seinen ˙ ˙ semantischen Konnotationen des Wanderns und Sammelns. Über die Erzählung konvergieren die physikalischen und die psychischen, die inneren Vektoren der Welt- und Selbstwahrnehmung zu einer spirituellen Topografie, was sich in Anlehnung an Edward C. Tolmans Konzept der cognitive map6 analog als spiritual map bezeichnen ließe, oder pädagogisch umformuliert: als Domäne im Sinne des psychischen Raums als derjenigen inneren Ebene, auf der sensorische, mnestische, kognitive, emotionale und performative Bereiche des Denkens zusammengeführt werden – mithin Lernen geschieht. Erzählen beschreibt eine Schrittfolge des Lernens aus der Pendelbewegung zwischen äußerer Topografie und inneren Räumen: Lernen erfordert Verständigung. Verständigung erfordert Begegnung. Begegnung erfordert Bewegung. Lernen ist in Bewegung gesetzte subjektive Wirklichkeit. Sowohl die Konstruktion als auch die Begegnung geschehen auf der inneren Ebene der Domäne. Die Domäne stellt die Motive für das Handeln bereit. Diese Motive bedürfen der sozialen Aushandlung. Und diese Aushandlung ist schließlich Teil der Aushandlung gesellschaftlicher Wirklichkeit. Im Sinne der Domäne zeichnet der Koran mit seinen ersten Versen (2:1–29) eine spirituelle Topografie ähnlich einem Bühnenbild mit Räumlichkeit, und er führt Charaktere ein. Erst dann geht es ab Vers 2:30 mit der eigentlichen Schöpfungsgeschichte los, die eigentlich gar keine Geschichte ist, sondern ein 4 Siehe im Koran 28:11; solch eine numerische Angabe bezeichnet Sure 28, Vers 11. Die Umschriften arabischer Termini in lateinische Grapheme folgen weit gehend den Standards der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft DMG. 5 Vgl. im Koran 12:1–3. 6 Tolman 2011.
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Bericht – lakonisch, nüchtern, verklausuliert, man müsste fast sagen enttäuschend, jedenfalls auf den ersten Blick: Ein bisschen mehr würde man schon gerne erfahren. Damit ist auch die typologische Dramaturgie des Korans grundgelegt, die von der genealogischen oder chronologischen Erzählstruktur abweicht. Was im Koran also als thematische Linearität identifiziert werden kann, weicht erheblich von den Erzählgewohnheiten ab, wie sie im Alten oder Neuen Testament oder in den mediterranen antiken und spätantiken Entwicklungsgeschichten zwischen Gilgamesch-Epos, Homer und dem Syrischem Alexanderroman Gestalt angenommen haben. Ungeachtet dessen enthält der Koran auch echte Narrationen gemäß Lokalisierung, Dramatisierung und Personalisierung, etwa in der Sex-and-Crime-Story von Josef und Potiphars mondäner Gattin, aber die machen sich insgesamt rar. Es will scheinen, als setze der Koran die Kenntnis biblischer und anderer Erzählungen voraus, als vertraue er darauf, dass die Narrative vorhanden sind, damit die Narrationen verfangen. Und das ist ein Problem in einer Zeit, in der man als Hochschullehrer mit seinen Studierenden hermeneutisch arbeiten möchte, nur um festzustellen, dass sich grundlegende Narrative, auch die archetypischen wie zum Beispiel das Davidgegen-Goliath-Motiv, zunehmend verflüchtigen. Wie soll man dann gegen neofaschistische, rassistische, nationallogische und unfreiheitliche Verlockungen immunisieren, wenn die Bücher nicht mehr gelesen werden, welche die nötigen Narrative bereitstellen, um Entwicklungen zum Schlechten rechtzeitig zu erkennen? Nicht einer meiner zahlreichen Studierenden hat Heinrich Manns Untertan gelesen.
Der Koran als Erzähler Das wirft die Frage auf, was den Koran hinsichtlich des Narrativen eigentlich ausmacht. Gerne wird an dieser Stelle auf die Diskrepanz zwischen gläubigem und analytischem Zugriff als unvereinbare Antipoden verwiesen: einerseits der Koran als Rede Gottes im Sinne literaler Wortwörtlichkeit (der Koran besteht gemäß dieser Vorstellung tatsächlich nicht nur aus den Worten, sondern aus den Wörtern Gottes), andererseits der gewordene Koran als Muhammads Rede von Gott, mithin als Prädikat der Geschichte – eine in der muslimischen Kala¯mTheologie ab dem 9. Jahrhundert AD bis zum Überdruss durchexerzierte Debatte, die bis heute im Grunde genommen in der Schwebe gehalten wird. Eine dritte Lesart (neben einer vierten, einer fünften und so weiter) erinnert an jüdische Schriftspiritualität, für die die Thora eine Sprecherin ist, und behandelt den Koran wie eine Person: Es ist der Koran, der spricht. Das ist eine Auffassung, die sich in der pädagogischen Arbeit als besonders wertvoll erwiesen hat, wenn es
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darum geht, junge Muslim*innen7 von der literalen Obsession weg und hin zu sinnstiftenden Lesarten zu entführen.8 Was wäre denn daran so verwerflich, den Koran zum Zwecke des vertieften Verständnisses als göttliche Impression im sprachlichen Ausdruck Muhammads zu verstehen, der wiederum in seiner zeitlich und kulturräumlich begrenzten Rahmung seine Form findet – »mantischer Rede« gleich, wie das der Bonner Islamwissenschaftler Stefan Wild einmal in einem Podiumsgespräch formulierte. Man kann sich dabei durchaus am Text des Korans orientieren, der nur wenig Anlass gibt, krampfhaft an irgendeiner göttlichen Wortwörtlichkeit der Schrift festhalten zu müssen. Vor dem Fetisch der Papiergläubigkeit warnt der Koran selbst, und zwar in 6:7: »Hätten wir dir ein Buch aus Papier (kita¯ban fı¯ qirta¯sin) geschickt, dann würden sie es ˙ mit ihren eigenen Händen berühren, und solche, die sich verweigern, würden sagen, das sei nichts als Zauberei.«
Die Sache mit dem Berühren oder Anfassen (misa¯s) kommt noch einmal in einer bekannteren Stelle in 56:79 zur Sprache, wo zum Ausdruck gebracht wird, dass nur diejenigen, die sich reinigen, auch den Koran berühren (im Sinne von sollen; aber der arabische Indikativ ist hier stärker als der Imperativ oder die Modalität). Mit mutahhiru¯n sind in Sure 56 solche Menschen gemeint, die ihre spirituelle ˙ Reinigung durch die rituelle Waschung vornehmen, so wie in der Vorbereitung auf das Gebet. Der weitläufigen Auslegung nach begründet hier der Koran die Pflicht, vor seiner Lesung die Waschung vorzunehmen. Das ist eine wichtige Lesart, die aus der religiösen Praxis des Islams nicht wegzudenken ist. Aber sie ist nicht die einzige und ein gutes Beispiel für die Spannung zwischen dem, was der Korangelehrte al-Tabarı¯ im 9. Jahrhundert AD ˙ als Bedeutung in der Tiefe des Wortes verstand, und dem, was der Universalgelehrte Fahruddı¯n al-Ra¯zı¯ rund dreihundert Jahre danach als Bedeutung aus der ˘ Tiefe des Interpreten heraus formulierte: In Ergänzung zu seiner praxeologischen Essenzialiserung kann der Vers nämlich auch bedeuten, dass nur diejenigen, die dazu bereit sind, sich vom Koran berühren lassen. Das arabische Wort tama¯ss bedeutet schließlich soviel wie gegenseitige Berührung oder Kontakt, die arabische Wurzel mass zusätzlich auch Besessenheit, Wahnsinn und Verletzung durch die Berührung. Rückbezogen auf Sure 6 wird damit auch davor gewarnt, über die Dogmatisierung und Übersakralisierung des Heiligen Buchs dem unheiligen Schriftwahn zu verfallen und dadurch Schaden im Sinne von Verletzung anzurichten, auch wenn man dem Koran noch so verfallen ist. Der Philosoph und 7 Diese Schreibweise nimmt Rücksicht auf das Anliegen, den vielfältigen Facetten von Geschlechtsidentitäten und sozialem Geschlechtsverständnis sowie den volatilen binnen-muslimischen und gesamtgesellschaftlichen Debatten gerecht zu werden. 8 Vertiefend dazu: Neuwirth 2010.
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Mystiker Ibn al cArabı¯ fand für den Liebeswahn das Wort cisˇq und erläuterte das mit einer Befindlichkeit, die der vollkommen überwältigenden Liebe (asˇadda hubban) entspringt. Nicht von ungefähr taucht diese Semantik dort auf, wo sich ˙ Josef und die Ehefrau Potiphars zueinander hingezogen fühlen (sie wollte ihn, und er wollte sie; hammat bihi wa hamma biha¯; 12:23), ganz im Sinne von tamass. Das schöne Paar steuert unweigerlich auf die gegenseitige Verletzung im Sinne von mass zu. Was sie an dieser Stelle rettet ist eine Art tonisierender Erkenntnis auf der Ebene der spirituellen Einsicht (burha¯n), die dazu verhilft, die Situation zu verstehen, in die sie sich verwickelt haben. Es lohnt sich also, innezuhalten und nachzudenken. Was das in der islamischen Tradition des Pragmatismus so gut etablierte Prinzip angeht, rechtzeitig Nutzen und Schaden abzuwägen,9 hat die Vereinseitigung des Korans hin auf das harte Paradigma der wörtlichen Rede Gottes gegenüber einer weicheren Gangart heute verloren: Es verursacht Leid und macht aus der frischen spirituellen Quelle des Islams ein stinkendes Brackwasser. In besagter Angelegenheit regt der Koran nicht nur zum Nachdenken an, sondern er liefert dafür auch Stoff. Eine für das Verständnis der psychologischen Situation Muhammads als Redner signifikante Textsequenz des Korans findet sich eingangs der Sure 73. Sie trägt den arabischen Titel al-Muzzammil, zu Deutsch Der sich eingehüllt hat. Gemeinsam mit der Sure 74 al-Muddattir (Der ¯¯ sich zugedeckt hat) bringt sie sowohl die Anrede als auch eine Charakterisierung Muhammads zum Ausdruck. Das, worum es dort geht, schließt an das Szenario der initialen Begegnung zwischen dem Gesandten Gottes und dem Erzengel Gabriel an, somit an den Beginn des Korans als göttliche Mitteilung an Muhammad, die der Überlieferung nach in der Nacht vom 26. auf den 27. Ramadan im Jahr 610 AD ihren Lauf nahm. Muhammad sah sich durch dieses Ereignis in mehrfacher Hinsicht angefasst (mass): »Warum ich, worum geht es, und was hätte ich zu verkünden (ma¯ aqra’)?« Er war schließlich kein Schriftgelehrter. Zu allem Überfluss machte sich der himmlische Gottesbote nach seinem beeindruckenden Auftritt erst einmal rar. Muhammad zweifelte an seinem Verstand. Er hatte Angst davor besessen zu sein und ließ sich, einer ayurvedischen Schwitzkur gleich, in Decken wickeln, um die Dämonen auszutreiben. Diejenige übrigens, die ihn auffing, umsorgte und bestätigte, war seine um rund 15 Jahre ältere und vermutlich lebensklügere Ehefrau Hadı¯g˘a bint Huwaylid, eine Ausnahmeerschei˘ nung unter den mekkanischen Frauen, dazu eine Verwandte der beiden berühmten (und erblindeten) Schriftkundigen Waraqa ibn Naufal (der nicht lange nach dem Ereignis verstarb) und Ibn Umm Maktu¯m. Letzterer wurde später zu 9 Solches spiegelt sich in Aussprüchen Muhammads wie etwa »Lass das, worüber du dir im Unklaren bist, für das, worüber du dir im Klaren bist!« (dac ma¯ yurı¯buka ila¯ ma¯ la¯ yurı¯buk), z. B. in der Sammlung Arbac¯ına Nawawiya (die Vierzig Hadithe von Imam Nawawi).
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einem der wichtigsten Gewährsmänner für orale Tradentenketten, den sog. isna¯d prophetischer Weisheiten; auf ihn bezieht sich übrigens die Sequenz 80:1–10 im Koran. Allgemeiner Auffassung nach ist der größere Teil der Sure 73 erst in Medina entstanden, also mindestens zehn Jahre nach der nächtlichen Initiation. Aber die ersten zehn Verse, um die es hier geht, stammen tatsächlich aus der frühesten mekkanischen Epoche (was mit Blick auf Sure 74 kontroverser diskutiert wird, hier aber nicht den Ausschlag gibt). Es geht nur um die ersten sechs Verse, hier in freier eigener Übertragung: »Der du dich eingehüllt hast, steh auf und bleib wach in der Nacht, bis auf einen kleinen Teil, oder die halbe Nacht, oder weniger, oder mehr. Und trage den Koran Stück für Stück vor (rattili-l-qur’a¯na tartı¯la). Wir werden dir Rede auferlegen, die schwer zu tragen ist (qaulan taqı¯lan). Das Wachen in der Nacht verleiht den stärkeren Ausdruck ¯ (asˇaddu wat’an) und die stärkere Rede (aqaumu qı¯lan).« ˙
Der Begriff wat’an hat spannende Konnotationen. Adel Theodor Khoury10 ˙ übersetzt mit Eindruck, was ich hier mit Ausdruck wiedergegeben habe. Das Wort bedeutet in seinen zentralen Stammformen auch Auftritt, Tiefe oder Wirkung und spiegelt das oben erwähnte Wechselverhältnis koranischer Rede zwischen Eindruck und Ausdruck, zwischen Impression und Expression, zwischen Verinnerlichung und Zuwendung, zwischen Monolog und Dialog. Damit muss von der Warte theologischer Textauslegung des Korans, was die Debatte um seine göttliche oder menschliche, seine übergeschichtliche oder geschichtliche, seine unerschaffene oder erschaffene, seine normative oder deskriptive, seine präskriptive oder diskursive Signatur angeht, zumindest von einer grundlegenden Dialektik seiner Entstehung gesprochen werden, die jede Versprachbildlichung eines sprechenden Gottes in ein neues Licht rückt. Hier liegt auch die systematische Begründung für das Argument, den Koran, anstatt seine heutige Lesung penetrant religiös zu überwältigen, entspannter und säkularer zu lesen.11 Weiterhin fällt auf, dass hier das Wort qaul für Rede steht, was einen gewissen Kontrast zu einer weiteren Vokabel darstellt, die der Koran an anderer Stelle für die Mitteilung Gottes verwendet, nämlich kalima; dieser Begriff steht in enger Verbindung mit Jesus, ein prominenter koranischer Charakter, der Gesalbte, der 10 Der Islamwissenschaftler und Münsteraner katholische Theologe ist melkitischer Christ levantinischer Herkunft. Seine einfühlsame Koranübersetzung gründet in seiner spirituellen Nahbarkeit dem Islam gegenüber. In einem Schulfunkbeitrag des BR, den ich mit ihm Anfang der 1990er Jahre gemacht habe, entwirft er eine Zukunftsvision des interreligiösen Dialogs, die heute mehr denn je in die Mitte gerückt werden muss: vom Gegeneinander über das Nebeneinander über das Miteinander zum Füreinander. 11 Siehe dazu vertiefend: Behr 2017 (The 3rd Scheme) und: Asad 2003. Asad bezeichnet den Islam in Abgrenzung zur konfessionalistischen Grammatik des Westens als Diskurs und nur unter Vorbehalt als Religion.
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Christus, Sohn der Maria (al Ması¯h c¯Isa¯ ibnu Maryam). Der Koran skizziert ˙ beides, sein spirituelles Wesen und sein prophetisches Amt, als Gesandter Gottes, Wort von ihm, gegeben an Maria, und Geist von ihm (rasu¯lu-lla¯hi wa kalimatuhu alqa¯ha¯ ila¯ Maryam mina-lla¯hi wa ru¯hun minhu; 4:171), also nicht nur als einer, ˙ aus dem es spricht, sondern gleichsam als das inkorporierte Wort. Hier werden im Koran, verglichen mit Muhammad, die Göttlichkeit und die Wirkmacht der Rede in eigener Diktion inszeniert. Die Unmittelbarkeit göttlicher Rede blitzt immer wieder in Textstellen auf, die aber nur selten auf diesen Aspekt hin interpretiert werden. Man hat den Eindruck, dass sich die islamische Religionsgelehrtenschaft irgendwie scheut, hier theologisch tiefer zu schürfen; manches wird einfach übermalt. Eine in dieser Hinsicht signifikante Sequenz ist 19:15 und 19:33 im Vergleich: Während der Koran in 19:15 über Yahya¯, der in der Regel als Johannes ˙ der Täufer identifiziert wird, in der 3. Person Singular den Segen spricht, spricht Jesus – und er ist, was das betrifft, die einzige Figur im Koran, die das tut – den Segen über sich selbst in der 1. Person Singular. Er tut damit etwas, das streng genommen nur Gott zusteht. Es hat den Anschein, dass der Koran hier in eigener Unverbrüchlichkeit die spätantike Logos-Theologie nicht nur spiegelt, sondern übernimmt und adelt. Würde man das einmal zugestehen, anerkennen und wertschätzen, wäre es vorbei mit der simplifizierenden muslimischen Apologetik gegen christliche Glaubensvorstellungen. Man könnte sich, ohne die Kritik an der Trinitätslehre aufgeben zu müssen, differenzierender und wohlwollender miteinander ins Gespräch begeben. Man muss nicht viel an der Eingangssequenz von Sure 73 herumdeuten, um zu verstehen, wer hier angesprochen ist: ein um Worte und Fassung ringender, zutiefst verunsicherter und unter dem Drang der Mitteilung stehender Mann, der mehr sieht und versteht als er anfangs sprachlich auszudrücken in der Lage ist. So wie Hadı¯g˘a ihn in Decken packt, erinnert das an das Pukken eines Babys, das von ˘ nächtlicher Unruhe heimgesucht wird und über den intensiven Hautkontakt die Rückversicherung seiner eigenen Existenz benötigt.12 Sie braucht gar nicht nachzufragen, um ihn zu verstehen – sie liebt ihn, und ein Blick in das gerötete Gesicht ihres Gatten, in seine dunklen klugen Augen, in die geweiteten Pupillen des schwitzenden, zittrigen und kurzatmigen Mannes, der dazu noch über ein Klingeln im Kopf berichtet, genügt ihr. So jedenfalls beschreibt die Tradition die physische Belastung Muhammads während seiner Ergriffenheit durch göttliche 12 Das bringt der Koran in 17:70 mit dem Begriff hammala für pukken oder (aus)tragen als ˙ anthropologische Grundbefindlichkeit des Menschen in seiner Angewiesenheit auf Gott zum Ausdruck: »Wir haben den Kindern Adams Würde gegeben, und wir tragen sie über das Land und das Meer« (laqad karramna¯ banı¯ a¯dama wa hammalna¯hum fi-l-barri wa-l-bahr). Das ˙ unterstützt auch die Lesart von 4:1 und anderen ˙Koranstellen, die im arabischen Original deutlicher als in den deutschen Übersetzungen in Richtung auf ein Gottesbild verweisen, das mehr mütterliche als väterliche Züge trägt (vgl. dazu auch Falaturi 1992).
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Rede. Dieser koranische Text beschreibt den Beginn einer Entwicklung. Er entwirft eine Perspektive, die sich später bewahrheiten wird: Getragen von dieser Liebe, stehen als Lohn der nächtlichen Übung und langer Durststrecken am Ende spirituelle Trittsicherheit, persönliches Selbstvertrauen und öffentliche Anerkennung. Einige koranische Narrative geben sehr plastisch die existenzielle, psychosoziale und emotionale Situation Muhammads wieder, zum Beispiel 27:67–70: »Und diejenigen, die sich gegen den Glauben stemmen, sagen: Wenn wir und unsere Väter zu Staub zerfallen sind, werden wir dann wirklich wieder zum Leben hervorgebracht? Das hat man früher schon uns und unseren Vätern angekündigt. Aber das sind bloß die Ammenmärchen der Altvorderen. Sag ihnen: Geht auf der Erde umher und schaut hin, wie das Ende der Übeltäter war. Und sei wegen ihnen nicht betrübt, und lass dich nicht durch die List beeindrucken, die sie gegen dich aushecken.«
Die Übersetzung mit die sich gegen den Glauben stemmen für den arabischen Teilsatz allad¯ına kafaru¯ weicht von der üblichen Essenzialisierung durch ein ¯ Wort wie Ungläubige ab, weil das genau genommen nicht dem entspricht, was der Koran mit dieser Vokabel zum Ausdruck bringt, nämlich nicht den Mangel an Glauben, sondern eher soviel wie Undankbarkeit (vgl. 31:12; siehe auch Behr 2008), und vorrangig ein Merkmal des Verhaltens und nicht ein Signum der Person. Die Aufforderung, die Erde zu bereisen (sı¯ru¯ fi-l-ard), um zu schauen und ˙ zu lernen, taucht im Koran an vielen Stellen auf und ist ein erster Hinweis darauf, wie tief die Narrative der Wanderung im religiösen Texterbe des Islams wurzeln. Die obige Sequenz in Sure 73 wird meistens dahingehend verstanden, dass es nicht um die Worte Muhammads gehe, sondern darum, dass er, einem leeren Gefäß nicht unähnlich, die Rede Gottes empfange und lediglich mitteile. Das Gewicht dieser Worte wird durch andere Texte des Korans wie etwa 59:21 ebenso unterstrichen wie die Funktion Muhammads als Resonanzkörper, der nicht aus eigenem Antrieb spricht (z.B. in 6:50), sondern durch die Rede Gottes in Schwingung versetzt wird. Und der sich darüber hinaus dem Vorwurf ausgesetzt sieht, der Koran sei vom ihm gelehrsam gebastelt (darasta; 6:105), mit der eigenen Hand geschrieben (29:48) oder von dritter Seite eingeredet (25:4-5) worden. Dieses Narrativ von der Genese des Korans und des Islams als Bekenntnis und Schrift steht hinter dem Dogma der vermeintlichen literalen, religiösen und intellektuellen Unberührtheit Muhammads als al-nabiyy al-umiyy (7:158). Und warum eigentlich »ein Koran auf Arabisch« (12:2, 16:103)? Diese kritische Anfrage von Muhammads Zeitgenossen hat ihre Berechtigung. Erstens wird damals Arabisch noch nicht als eine Sprache im Zusammenhang mit heiligen Schrifttraditionen identifiziert, sondern Hebräisch, Griechisch, Aramäisch, sassanidisches Persisch, Latein oder Syrisch – und womöglich Abbessinisch. Zweitens ist Arabisch noch eher merkantil orientiert. Das Alfabet ist noch unvollständig, es
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findet als Zeichensatz bevorzugt Anwendung ähnlich wie Stenografie, zum Beispiel für Verträge. Als gesprochene Sprache im Hig˘a¯z, der Kernregion der Arabia ˙ Felix, ist es mit regionalen Dialekten durchsetzt, die sich heute im Koran wiederfinden. Abgesehen von Rhetorik, Sprachspiel und Bildkraft altarabischer Poeten, fehlen dem arabischen Register damals noch eine Reihe von Vokabeln für philosophische Abstraktionen (die sich der Koran dann Zug um Zug aus all den genannten Sprachen entleiht). Das in Sure 73 ausgewiesene Wort taqı¯l für schwer meint folglich nicht nur, ¯ dass die Bedeutungen der göttlichen Mitteilungen und deren spirituelle und menschliche Konsequenzen schwer zu ertragen sind, sondern dass das ganze Unterfangen für Muhammad eine sprachliche, mithin eine technische Herausforderung darstellen wird, auch gegen Widerstände zu sagen, was zu sagen ist; genau dies ist nämlich mit der Vokabel qur’a¯n bezeichnet und ergeht als Auftrag an den Gottgesandten, etwa so: »Denk nach, was du sagen willst, sag nicht alles auf einmal, und bring es in eine sprachlich gute Form, sonst hören dir die Leute nicht zu!« Anders wäre der logische Bruch nicht zu verstehen, wenn mit Sure 73 Muhammad aufgefordert wird, einen Koran vorzutragen (rattili l-qur’a¯na tartı¯la), der noch gar nicht vorhanden ist. Mehrere Dinge müssen also in der heutigen Koranhermeneutik zusammengeführt werden: das historische Verständnis der Koranentstehung, das Wechselverhältnis von Genese und religiöser Exegese, die Funktionalisierung des Korans hin auf seine Aussagen und nicht auf seine Buchstaben und damit die Verflüssigung und Intellektualisierung seiner Auslegung. Das zusammengenommen gehört in das bevorzugte Pflichtenheft von Narration und Narrativität. Erst aus dem Zusammenhang der sozialen und kommunikativen Konstruktion des Korans heraus wird deutlich, was er zu Ausdruck bringen will – und was die heutige Hermeneutik und Exegese des Korans zur Sprache zu bringen hätte, würde sie sich nicht permanent hinter ihren Verschlackungen und Traditionalismen verschanzen, nur um nicht in die Verantwortung genommen zu werden. Da weichen viele muslimische Gelehrte heute vom prophetischen Vorbild umso mehr ab, je öfter sie sich auf den Koran berufen, denn Muhammad ließ sich anstandslos für alles in die Verantwortung nehmen; er hatte keine Wahl. Wir aber haben sie heute. Es ist die Vielfalt der insgesamt recht gut dokumentierten sozialen Situationen, aus denen heraus und in die hinein der Koran spricht, die für die vielfältigen Textarten des Korans, wenn nicht auch für deren unübersichtlich anmutendes Arrangement verantwortlich zeichnet. Der Koran als Kompendium setzt sich aus Lehrsätzen, Rückblenden, Prophezeiungen, Gleichnissen, Anweisungen, Gebeten, analytischen Traktaten, Naturschilderungen oder fragmentarischen Narrativen zusammen. Dabei lassen sich Schlüsselkategorien und Funktionsbezeichnungen der narrativen Elemente im Koran identifizieren, zum Beispiel qur’a¯n für Rede; gemeint ist die hörbare Rede, hier Rede auf Arabisch, der Muttersprache
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des Redners und der Zielgruppe, auch der Redevortrag, nicht aber das Lesen oder Vorlesen.13 Ein Begriff wie qasas steht für Erzählung im Sinne von legendum – ˙ ˙ das, was gesammelt und berichtet wird; al-qur’a¯n mit bestimmtem Artikel hingegen steht für Vortrag oder der Koran im Sinne des strukturierten Texts, die als Rede inszeniert wird, und schließlich auch als materiale Schrift im Sinne des gebundenen Buchs (mushaf). Die Bezeichnung wah¯ı steht für Eingebung oder ˙˙ ˙ Einrede im Sinne von Inspiration, Traum oder anderer Mitteilung göttlicher Urheberschaft; ru’ya meint soviel wie Gesicht oder Vision im Sinne des Seherischen (altgriechisch prophétés). Das Wort hadı¯t meint Ereignis, Geschehnis, Er˙ ¯ lebnis oder Neuigkeit bzw. dessen Bericht, dessen Geschichte und dessen Bekanntmachung; matal bezeichnet das Gleichnis, und dergleichen mehr. Der ¯ Begriff ta’wı¯l meint die Deutung; während der tafsı¯r als Kommentar zum Koran auf den Textbefund blickt, also gleichsam philologisch und semantisch rekonstruktiv arbeitet. Dem gegenüber bedeutet ta’wı¯l eher der Kommentar aus dem Koran heraus, mit Schwerpunkt auf diskursiver Hermeneutik (so ähnlich wie tasrı¯f oder tafs¯ıl (vgl. im Koran 10:37, 17:41, 17:89, 20:113, 41:3 oder 41:44). Dass ˙ ˙ der Koran nicht nur sich selbst und seine kommunikativen Funktionen, sondern auch seine Auslegung mit solch differenzierten lexikalischen Instrumenten reflektiert, wirft ein Licht auf die ungeheure Leistung und das literarische Produkt, die am Ende des mit Sure 73 eingeleiteten Prozesses und der dort antizipierten Herausforderung stehen. Solche Textarten sind nicht so genau gespurt, wie man das von einer heiligen Schrift vielleicht erwartet, sondern sie entfalten sich entlang einer thematischen und prototypischen Sequenzierung. Dazu finden sich im Koran die oben genannten und viele weitere Selbstbezeichnungen, welche auf die jeweils diesen Textarten zugewiesenen Funktionszusammenhänge verweisen – Funktionen wie Anleitung, Heilung, Erläuterung, Mahnung, Gefährte oder Unterscheidung. Insbesondere auf die Funktion des Narrativen verweisen etwa die beiden Aspekte der Erinnerung und der Wiederholung: Der Koran ist zum einen Erinnerung (dikr) an das Vergangene, das mit Hilfe von Erzählungen vergegenwärtigt wird, ¯ die seinen damaligen Zuhörern bekannt waren (vgl. 6:90). Zum anderen präsentiert sich der Koran als von Gott geschickter Wahrheitsbericht (ahsanu-l˙ 13 Oder auch der Gesang, zum Beispiel der Gesang (arabisch zabu¯r, hebräisch zemra) Davids zum Lobpreis Gottes, in den die Berge und die Vögel einstimmen (38:17–18). Auch das wird in der islamischen Tradition als qur’a¯n bezeichnet, etwa in einer Überlieferung Muhammads, zu finden in der Sammlung Buha¯ri, aber auch in der Sah¯ıfa al-Sah¯ıha von Hammam ibn ˙ ˙ ˙ ˙ ˙ Fragmente ˘ Exemplare als jeweils beschädigte Munabbih, von der noch originale bestehen, die sich indes gegenseitig ergänzen; Nr. 1384 WE 1779 im Katalog der arabischen Handschriften in Berlin, seit 1939 in Tübingen; in Ergänzung zum Manuskript in Damaskus, Maktaba alZa¯hiriyya-Bibliothek (wie es um dieses Dokument angesichts eines Krieges bestellt ist, der ˙ inzwischen länger andauert als der II. Weltkrieg, bleibt vorerst ungeklärt).
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hadı¯t) und als ein Buch von Ähnlichkeit (oder Abweichung) und Wiederholung ˙ ¯ (kita¯ban mutasˇa¯bihan mata¯niya; 39:23). Der Begriff dikr wird zwar gelegentlich ¯ ¯ mit Ermahnung übersetzt, meint aber nichts weiter als die strukturierte Erinnerung im Sinne des kollektiven Wiederholens und Reformulierens des gemeinsamen Erinnerungsbestandes, und das bezeichnet im Arabischen das Wort dikra¯ (etwa so wie die englische Vokabel rehearsal aus dem begrifflichen Arsenal ¯ der Kognitionspsychologie). Die französischsprachige Soziologie kennt hier den Begriff Erinnerungsgemeinschaft als Bezeichnung für Religionsgemeinschaft. Von besonderer Bedeutung ist dabei die Mitbedeutung von Wiederholung und Abweichung. Wer seinen Kindern, auf der Bettkante sitzend, Gutenachtgeschichten erzählt oder vorgelesen hat, der weiß, wie gnadenlos es von ihnen moniert wird, weicht man auch nur im kleinsten Detail von der Vorlage ab: Nein, der Prinz muss drei Aufgaben lösen und nicht vier, und es sind sieben Raben und nicht acht, und es sind zwölf Jäger und nicht dreizehn. Diese kindliche Akkuratesse, die im Laufe der weiteren Sozialisation nicht lange überlebt, ist die entwicklungspsychologische Voraussetzung dafür, just über die Abweichung im Detail die Annäherung an den Wahrheitskern einzuüben. Am Ende steht das anamnetische Gütekriterium der Plausibilität, das – anders als die empirischen Gütekriterien der Objektivität, Reliabilität und Validität – gerade über die gezielte Unschärfe zum Ausdruck kommt. Diese Unschärfe, die übrigens auch in verwirrenden Abweichungen zwischen unterschiedlichen koranischen Texten zu ein und dem selben Topos zu Tage tritt (beispielsweise in den numerischen Abweichungen, was die Anzahl der Tage der Genesis betrifft), spielt dem eingangs erwähnten ludic gap in die Hände, dem Explorativen, dem Spielerischen, dem Entdeckenden, was die Konturierung der eigenen Rolle angeht. Hier fragen aufgeweckte Schüler*innen schon mal nach, wie sie es schaffen, in ihrem eigenen Leben die Hauptrolle zu spielen, und zwar aus einem Gefühl zunehmender Ohnmacht und sozialer Fremdbestimmtheit heraus. Und sie wollen wissen, ob ihnen dabei die Religion hilft, oder ob sie ihnen im Wege steht – dies vor allem dann, wenn die Religion durch autoritative Sozialagenten ihrer Lebenswelten repräsentiert wird und sich darin erschöpft, deren Erwartungshorizonte anstatt der eigenen kindlichen und der jugendlichen zu erfüllen. Hier sehen sich vor allem junge Muslim*innen erhöhten Belastungen ausgesetzt, bei denen Islamizität zur primären Ausdrucksform rechter Gesinnung und Loyalität gegenüber der in-group geworden ist. Das ist ein in der Migrationsforschung bekanntes Phänomen von Religion in der Migrationssituation. Denken wir dabei, was im Grunde genommen auf der Hand liegt, an Platon, dann fällt die Dimension der anamnesis, der Erinnerung oder der Geschichte ein. Sie ist gegenüber der empireia ein gleichrangiger, wenn nicht gar der wichtigere Zugang zur Erkenntnis, weil Platon menschliche Erkenntnis in die Sphären der Ideenlehre situiert, und die ist bei ihm bevorzugt geistig. Deshalb hat aus der
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theologischen Wahrnehmung des Islams als Religion neuplatonischer Prägung, und die ist trotz des hohen Anteils an epikuräischer Physik und an heraklitischem Naturalismus kaum zu übersehen, das verstehende Wissen gegenüber dem erklärenden Wissen Vorrang. Das ist natürlich eine Vereinfachung; ich lasse das Alte Testament, die ägäischen Heldenepen, die levantinischen Alexandernarrative, die Psalmen oder die Kindheitsnarrationen Jesu, von denen sich viele im Koran wiederfinden, jetzt beiseite. Es geht um die Narrativität als Signum, nicht um die einzelnen Narrationen. Dazu findet sich in einer sehr bekannten Überlieferung (einem Hadith), die auf Muhammad zurückgeht, ein Schlüsselmotiv. Worum geht es? Adam und Moses begegnen sich auf dem himmlischen Diwan: Moses fragt: »Bist du der Adam, der die Menschen ins Verderben gestürzt und um das Paradies gebracht hat?« Adam entgegnet: »Und bist du der Moses, dem Gott Wissen gegeben und ihn zu seinem Gesandten gemacht hat?« Moses bejaht. Da sagt Adam: »Willst du mir zur Last legen, was mir schon eingeschrieben war, damit ich tue, was ich tat (amrun qad kutiba calayya an afcalu), noch bevor ich erschaffen wurde (min qabli an uhliqa)? Und dass ich meine Rolle erfüllt habe?« Und so besiegt Adam Moses.14 ˘
Die Überlieferung ist eigentlich eine Spiegelung des Midrasch, so wie die koranische Textstelle 5:34 eine Spiegelung des talmudischen Sanhedrin ist, was im Falle des besagten Hadith vermutlich viel mit dem Chronisten Hammam ibn Munabbih zu tun hat, und noch mehr mit seinem Mentor und Lehrer Abu¯ Huraira, vor seinem relativ späten Bekenntnis zum Islam besser bekannt unter dem Namen cAbd Sˇams bin Sah¯ır. Er war seinerzeit so etwas wie der geschäfts˘ führende Rektor der sog. Leute der Veranda, der ahl al-suffa, einer der Pro˙ phetenmoschee in Medina angegliederten Lehr- und Lerngemeinschaft15: Beide, Abu Huraira und ibn Munabbih, stammten aus gelehrten Geschlechtern des Jemen, ohne dessen durch die konfliktäre jüdische und christliche, aber auch ostafrikanische, byzantisische und sassanidische Religionsgeschichte geprägte
14 Zu finden in der Sammlung Muslim, aber auch in der weiter oben erwähnten Sah¯ıfa al-Sah¯ıha ˙ ˙ ˙Paradies« ˙ ˙ (fa von Hammam ibn Munabbih. Mit dem Teilsatz »und du brachtest sie um das ahrag˘tahum mina-l-g˘anna) ist übrigens eine Lesart verbunden, die heute von vielen mit Blick ˘ die koranischen Narrative eher als christlich eingestuft würde, aber was das angeht nicht auf die einzige, und zwar weder im Hadith noch im Koran. Auch Adam als der Triumphator über Moses kann in allgemeine Abgrenzungsdiskurse gegenüber jüdisch-christlichen Strömungen eingeordnet werden. 15 Die Angehörigen der suffa (Veranda, Sofa), über einige Jahre hinweg fast 400 Zeitzeug*innen Muhammads (davon˙nach Sˇams ad-Dı¯n al-Saha¯wı¯, einem Historiographen des 15. Jahrhun˘ derts AD, rund 100 namentlich bekannte und biografisch indentifizierte), waren in der Regel arme Leute (Saha¯wı¯ bezeichnet sie als na¯s fuqara¯’). Der Vers 2:273 des Korans bezieht sich ˘ fanden sich täglich im nördlichen Teil der Moschee ein, manchmal gedirekt auf sie. Sie meinsam mit Muhammad, halb draußen unter einem Schattendach (zulla) – neben Männern übrigens auch Frauen, die dort lehrten, z. B. Hafsa bint cUmar, die mit˙ihren Schüler*innen an ˙ ˙ das Lesen (qura’) und Rhetorik (samac) Hand von Koranfragmenten das Diktat (imla’), einübte.
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Kulturgeschichte der nachkonzilischen Jahrhunderte bis zum Auftritt Muhammads viele Merkmale des Islams nicht zu verstehen sind.16 Andere thematische Sequenzierungen des Korans in der Nähe zu Narrationen, zum Beispiel die Stellen mit Sulaima¯n als Magier, als Beherrscher der Dschinn, als Reisender und späterer Gatte der sagenhaften Bilqı¯s, der Königin von Sa¯ba (2:101, 4:163, 6:84, 21:81–82, 27:15–44, 32:12–14 und 38:30–40), standen Pate für Saadi Shira¯zis Lesebuch aus der Mitte des 13. Jhs. AD, und dies wiederum für die fantastischen Inselwelten der so bezeichneten Märchen aus Tausendundeiner Nacht. Auch der Gründungsmythos der äthiopischen Nag˘a¯sˇ¯ı-Dynastien, nämlich über Menelik I, Sohn von Sulaima¯n und Bilqı¯s, und der unrühmliche Niedergang dieses Erbes mit Haile Selassie, finden heute noch ihren Niederschlag im Erzählfundus der jamaikanischen Rasta-Religion und damit in Liedtexten der Reggae-Musik, vor allem bei Interpreten wie Bunny Wailer oder in rassismuskritisch zu diskutierenden Adaptionen der Gruppe Burning Spear, zum Beispiel in ihren Hymnen an den radikalen Panafrikanisten Markus Garvey. Der Zusammenhang zwischen religiösem Narrativ und den schönen Künsten muss aber einem anderen Traktat vorbehalten bleiben; das passt hier nicht mehr hinein.
Gefühle zwischen Wirklichkeit und Wahrheit An dieser Stelle soll noch einmal die oben angeschnittene Geschichte mit der Mutter von Moses aufgegriffen werden. Es geht um die narrative Signatur der Emotion. In besagter Geschichte vollzieht sich die erzählerische Bewältigung einer kaum nachvollziehbaren gefühlsmäßigen Kontingenz: Wie schafft sie es eigentlich, alle mütterlichen Instinkte der Liebe und des Behütens zu überwinden und ihr Baby den Fluten anzuvertrauen (das arabische Nomen yamm bedeutet so viel wie die offene See, die Höhle des Löwen oder einfach nur wohin man sich begibt)? Vers 28:7 des Korans verrät, dass ihr das »von uns eingegeben wurde« (auhayna¯), wobei das Pronomen in der 1. Person Plural in der Regel auf den ˙ auktorialen Redner des Korans bezogen und vorauseilend mit Gott identifiziert wird. Das ist zunächst eine Überprägung und Vereinseitigung durch muslimisch16 Abu¯ Huraira gehörte zum Stamm der Daus; auf seine namentliche Erwähnung im isna¯d gehen über 3.000 Hadithe zurück. Unter cUmar ibn al-Hatta¯b war er zeitweise Gouverneur von ˘ Bahrain und stellvertretender Gouverneur von Medina. Ihm wurde vorgeworfen, Steuerein˙ nahmen gehortet zu haben, aber er gilt als Gewährsmann vor allem jüdischen und christlichen Erzählguts (isra¯’iliyyat, qisas). Sein Dienstherr verzichtete womöglich deshalb auf eine ˙ ˙immer wieder die Verlässlichkeit und die Authentizität der Strafverfolgung. Deshalb werden Überlieferungen von Abȗ Huraira diskutiert. Hier haben wir ein Scharnier zwischen Erzählkunst als positivem religiösem Signum (etwa wie in 12:1–3) und Erzählkunst mit dem Stigma des »leichtfertigen Geredes« (so wird das in 31:6 angeschnitten).
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gläubige Gegenwartgesinnung, die den Blick auf die hermeneutische Tiefe des Korans verstellt, denn: An dieser Stelle fügt die koranische Erzählung eine oft überlesene und nahezu bedingungshafte Unschärfe ein und überlässt zunächst der Betroffenen die Bewertung.17 Der Koran sagt nämlich genau genommen: »Lege ihn in die Fluten, sofern du Angst um ihn hast (fa’in hifti calayhi). Sorge ich nicht ˘ und sei nicht betrübt …«
Die Schrift unterschlägt dabei auch nicht den emotionalen Zustand der Frau: »Das Herz der Mutter von Moses war leer (fa asbaha fu’a¯du ummi mu¯sa¯ fa¯g˙iran).« ˙ ˙ Und: Ihr wird ähnlich wie dem jungen Josef in der Tiefe der Zisterne18 vor Augen geführt, dass sie sich in einem narrativen Arrangement befindet, dessen guter Ausgang bereits festliegt: »Wir bringen ihn dir zurück, und wir machen ihn zu einem Gesandten« (28:7). Solche Passagen erinnern ein wenig an die Brechtsche Publikumsanrede von der Bühne herab, durchaus auch als Beruhigung, »Alles wird gut!«, gerade wenn sich eine bedrohliche Situation anbahnt: »Auf diese Art führen wir Abraham das Reich der Himmel und der Rede vor Augen, damit er am Ende innere Gewissheit erlangt« (6:75). Abraham hat mit seinem Vater gebrochen, er ist verlassen, ausgesetzt, existenziell auf sich alleine gestellt. Es geht um den noch jungen Abraham, der am Anfang seiner Wanderung steht, und wieder ist es die Liebe, nach der er sucht und über die er zu Gott findet: Als ihn die Nacht umgab,19 sah er einen Stern. »Das ist mein Herr!«, rief er. Doch als er verblasste, rief er aus: »Ich liebe nicht die, die verblassen (la¯ uhibbu-l-a¯filı¯n)!« Von pädagogischem Interesse ˙ ist hinsichtlich solcher Narrative des Behütens und Beruhigens die Frage, inwieweit religiöse Weltdeutung und Praxis dazu beitragen können, zu einem Lebensgefühl zu finden, welches im Wissen darum gründet, umfassend in Gott (in letzter Konsequenz über das eigene Leben hinaus) geborgen zu sein, auch wenn die Dinge zunächst drohen, aus dem Ruder zu laufen. Als weiterer Aspekt tritt das Folgende hinzu, sofern man bereit ist, das erzählte Ereignis als berichtete Wirklichkeit zu lesen: Als Gattin Amrams und Tochter Levis, die im Alten Testament den Namen Jochebed erhält, dürfte die Mutter von Moses mit der Geschichte Jakobs und den Narrativen ihrer Familie vertraut gewesen sein. Hier zeigt sich ein weiteres Signé von Narration und Narrativität, 17 Dies ähnlich der Traumsequenz Abrahams, aus der heraus jener Gehorsamsathlet mit gewisser Verunsicherung zu seinem Sohn sagt, er habe das Bild seiner Opferung »im Schlaf gesehen« (ra’aytu fi-l-mana¯m; siehe im Koran 37:102). 18 Siehe im Koran 12:15. 19 Wa ida¯ g˘annahu-l-lail – als die Verfinsterung ihn umfing; das Verb g˘anna beschreibt ei¯ gentlich einen psychischen Prozess, die Nacht steht für die innere Leere im Zuge der Katharsis, ähnlich der Leere im Herzen der Mutter von Moses; mit umhüllte indes setzt der Übersetzer Adel Theodor Khoury noch einen anderen Kontrapunkt, nämlich den der Geborgenheit.
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nämlich die Gebundenheit an differente geschichtliche, soziale, biografische und andere Kontexte. In koranischen Sequenzen wie diesen verschwimmen die Grenzen zwischen den historischen Räumen, was die Kunst der pädagogischen Korrelation herausfordert. Unter Korrelation ist in pädagogischer Hinsicht zu verstehen, wie sich solch disparate Räume zueinander so in Bezug setzen lassen, dass sich ihnen Aktualität und Bedeutung, etwa ethischer, moralischer oder sonstiger orientierungswissenschaftlicher Verbindlichkeit abringen lassen. Und auch die Grenzen zwischen Wirklichkeit und Wahrheit verschwimmen. Was verrät die helle Seite des Mondes über seine dunkle? Es ist nicht so sehr die Narration selbst, sondern das Wissen um ihre Erkenntnis und Wirklichkeit prägende Kraft, die sich pädagogisch oder therapeutisch nutzen lässt. Hier verbindet sich unser heutiges Wissen mit dem berichteten Wissen Jochebeds, die folglich nicht nur Figur, sondern Gestalterin ihrer Narration ist. Sie ist nicht schicksalhaft in ihre Rolle geworfen, sondern eher charakterlich skizziert. Eine andere weibliche Figur des Korans, deren vorzüglicher Charakter in 66:11 hervorgehoben wird, ist die Frau des Pharao. Sie erhält in der Tradition den schönen Namen Asiya. Einer Tradition in der Sammlung Buha¯rı¯ zufolge soll ˘ Muhammad über sie gesagt haben, dass sie »so wie Maria, Tochter Imrans, Vollkommenheit erlangte« – demgemäß schließt der Koran in Sure 66:12 mit dem Lobpreis Marias. Asiya, die im schönsten Palast der Welt wohnt, steht des Nachts an den Ufern des Nils und bittet Gott um Heimstatt im Jenseits und um Rettung vor dem Unrecht ihres Mannes. Gut möglich, dass gleichsam als Antwort auf ihr Flehen das Körbchen mit dem prophetischen Kind in ihr Blickfeld treibt. Sie ist diejenige, die sich in 28:9 für die Aufnahme des Kleinen in den königlichen Haushalt einsetzt, indem sie sich an ihren Mann wendet: »Er soll mir und dir ein Augentrost (qurratu caynin) sein. Tötet ihn nicht!«, und der Koran stellt fest: »Sie merkten nicht (was da geschah)« (wa hum la¯ yasˇcuru¯n; auch sie sind verblendet). Das wird in der Regel so verstanden, dass just an dieser Stelle gleichsam die List Gottes greift und sich fortan die Moses-Narration entfaltet, an deren Ende die Vernichtung Pharaos und der Einzug in das gelobte Land stehen. Dieser Lesart nach sind Moses und seine Gattin ahnungslos. Beide erkennen nicht, wer da vor ihnen und was vor ihnen liegt. Und als sie sich dann auch noch die Mutter von Moses als Amme ins Haus holen, erkennen sie nicht, wen sie in Wirklichkeit vor sich haben. Die Sache mit dem Augentrost und damit die vermeintliche Verblendung entfalten nach und nach ihre schicksalhafte Kraft. Die emotionale Intensität der späteren Konfrontation zwischen Pharao und Moses eskaliert in 26:18 in der Tonalität eines kosmogonischen Konflikts zwischen Vater und Sohn. Der Regent ist enttäuscht und verletzt angesichts der unerbittlichen Infragestellung seines gottgleichen Geltungsanspruchs durch Moses. Durch die Redeform in der
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1. Person Plural bezieht er Asiya mit ein – es entfaltet sich das Motiv der Elternschaft und der mit ihr verbundenen Respektserwartung: »Haben wir dich nicht als Kind bei uns aufgenommen, dich versorgt und erzogen (nurabbika fı¯na¯ walı¯dan)? Hast du nicht viele Jahre deines Lebens mit uns verbracht?« Das wird insofern vom Koran vorbereitet, als Asiya in der entscheidenden Szene in 28:9 genau diese Vision formuliert hatte: »Wer weiß, vielleicht nehmen wir ihn uns zum Kind (wa nattahidahu waladan).« An dieser Stelle darf indes ˘ ¯ gefragt werden, wie blind der Pharao wirklich war. Als intelligenter und visionärer Herrscher muss ihm klar gewesen sein, dass er sich mit dem Binsenkörbchen und dem entsprechenden Inhalt das Ende seiner Herrschaft einfängt, und dass am Ende alles schief gehen wird – mindestens ebenso klar wie der Mutter des Kindes am jenseitigen Ufer, dass alles gut wird. Gut möglich, dass er das Risiko aus Liebe zu Asiya in Kauf genommen hat, nachdem die Ehe mit ihr wohl kinderlos blieb. Möglicherweise schlug er auch die Warnungen seiner Seher in den Wind, getragen von der Hoffnung, dass er Moses schon kontrollieren könne, wenn er ihn nur wie einen richtigen Pharao erziehen würde. Nicht von ungefähr tragen die späteren Ereignisse wie der Totschlag eines Ägypters durch einen jähzornigen Moses dazu bei, dass der junge Gottesmann für längere Zeit dem Einfluss des Palastes entzogen wird. Was den Pharao in der späteren Konfrontation mit Moses so erschüttert und letztlich auch das unglaubliche Ausmaß an Gewalt freisetzt (der Legende nach soll Asiya unter der Folter ihres Mannes gestorben sein, nachdem sie sich dem mosaischen Gott ergeben hat), ist nicht die Überraschung angesichts des Ultimatums seines sohngleichen Antagonisten, sondern die Erkenntnis, dass sich die Dinge so entfalten, wie er es von Anfang an geahnt hat. Er hat seine tragische Rolle nicht nur gespielt, sondern getragen, und er spielt sie zu Ende. Er ist der Protagonist, der dafür sorgt, dass sich im Zuge dieser Narration das eigentliche Narrativ des Exodus entfalten kann, und er weiß das. Es ist dieses Wissen um die Unabwendbarkeit des Narrativs, das ihn in die Verzweiflung und schließlich in den Untergang führt. In solcher Rahmung erhalten die koranischen Charaktere den Auftrag, ihre Rolle auszufüllen, ohne dass ihnen vorgeschrieben werden müsste, wie das im Detail zu geschehen habe. Sie sind in ihrer Rolle freier – und damit verantwortlicher – als das muslimische Auslegungstraditionen in ihren schamanenhaften Skizzierungen des kosmogonischen Diktats und des wirkmächtig Numinosen glauben machen wollen. Über diesen korrelativen Aspekt entfaltet sich ein weiteres Kennzeichen von Narration: Sie ermöglicht existenzielle lebensweltliche und religiöse Orientierung und trägt zu einem Menschen- und Gottesbild bei, das eher von der Farbe der Freiheit als vom Einheitsgrau des Göttlichen und seiner Regiehaftigkeit koloriert ist. Erst diese dramaturgisch notwendige Reduktion des Göttlichen ermöglicht es, die Gotteserfahrung in einen systematisch und religionspädagogisch begründeten Zusammenhang mit dem
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Motiv der Befreiung des Menschen zu setzen. Wie sehr religiöse Orientierung in der Freiheit des denkenden Menschen gründet, führt der Koran an Hand von Abraham vor Augen: In seinem fundamentalen Streit um die Wahrheit, den er mit seinem Volk führt, beruft er sich darauf, sich von deren Zwängen und Irrtümern befreit zu haben: »Ich habe mich befreit von dem, was ihr Gott zuweist« (konservativer übersetzt: was ihr neben Gott anbetet; innı¯ barı¯’un mi-m-ma¯ tusˇriku¯n; 6:78).20 Das Ende der Sure 6 projiziert schließlich auf Muhammad, wo Abraham am Ende seiner Wanderung steht – dies im Sinne einer durch Orientierung gewonnenen Standortbeschreibung (maqa¯m) hinsichtlich der Religion und des Gewissens (istiqa¯ma) als einer autoritativen Komponente neben Ermächtigung (sulta) und Argument (hug˘g˘a) als weiteren Formen der Autorität: ˙
»Sprich: Der, den ich suchte und der für mich da ist, hat mich auf einen geraden Weg (sira¯tin mustaqı¯min) geführt, eine Lebensweise (dı¯nan) mit Bestand (qiya¯man), die ˙ ˙ Spur (milla) Abrahams, der Gott von alleine fand (hanı¯fan). Er stellt keinen neben Gott. ˙ Sprich: Alles, was ich bin und was ich habe, mein Beten und mein Opfer, mein Leben und mein Sterben, gehören Gott, dem die Welt gehört. Er hat keinen neben sich. So ist es mir bestimmt. Und ich gebe mich dem als erster hin (wa ana¯ awwalu-l-muslimı¯n)« (6:161– 163).21
Inwieweit wir uns also bei unserem voyeuristischen Unterfangen kosmischer Erkenntnis zwischen Marginalität und Zentralität von höherer Seite beobachtet fühlen, verweist auf religiöse Neigungen und sonstige individuelle Dispositionen, mit spirituellen Herausforderungen umzugehen. Das Lob der Errungenschaft etwa, sich von der Homozentrik des Weltbildes und des Kosmos emanzipiert zu haben, sagt mehr über die Kontingenzen unserer Selbstwahrnehmung aus als über die Wirklichkeit an sich. Was wirklich ist, tritt für uns offenbar nur insofern auf den Plan, als wir bereit sind, ihm losgelöst von uns selbst objektive Seinsgültigkeit zuzugestehen. Wir generieren unsere Bilder, die mehr über uns selbst verraten als über die Gegenstände unserer Betrachtungen. Wir kommunizieren diese Bilder, verhandeln unsere Wirklichkeiten, nehmen Setzungen vor. Wir stellen, dies aus islamisch-theologischer Perspektive betrachtet, unsere Wirklichkeiten her, und zwar individuell und als soziales Kollektiv. Das verweist unsere als Erinnerungsgemeinschaft gewonnenen Ikonen noch lange nicht in die Irrealität, denn immerhin bewegen wir uns hier stets dicht am Horizont der physischen Wahrnehmung entlang, mithin an der Empirie. Uns näher zu sein scheint indes ihre Übersetzung in die Imagination, die anamnesis. Sie ist wirkmächtiger hinsichtlich unserer Konstruktionen von Wirklichkeit. Insofern ist das, was wir narrativ denken, der Hortus unserer Realität, Mentalität und 20 Siehe vertiefend Behr 1998. 21 Siehe vertiefend zu Abraham: Behr 2011, S. 109–145. Und siehe vertiefend zur Funktion der islamischen Gebetsrichtung im Kontext religiöser Orientierung: Behr 2012, S. 2–12.
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Identität. Dessen Archetypen sind das, was wir mit dem Terminus Narrativ bezeichnen würden, auch wenn sich hier die Definitionen durchaus unterscheiden. Wie weit die Schüler*innen, die wir unterrichten, von solcher Tarierung von Wahrheit und Wirklichkeit entfernt sind, zeigt sich spätestens im Religionsunterricht – zum Beispiel wenn die jungen Leute nach zwei Stunden Biologieunterricht aus der großen Pause im Klassenzimmer aufschlagen und wissen wollen, wie denn die Besiedelung der Arche Noahs mit der heute vorfindlichen Vielfalt der Arten vereinbar sei. Gesucht wird nach Plausibilisierungen ausschließlich auf der Ebene des Wie, nicht des Warum oder Wozu. Wenn das noch durch dümmliche Weltbilder von Lehrkräften befeuert wird, die den vermeintlich irrationalen Glauben und die vermeintlich rationale Wissenschaft so unversöhnlich wie ungebildet gegeneinander auffahren, und wenn sich die Religionslehrkraft dann in ihrer intellektuellen Unbeholfenheit verhaspelt, dann haben wir die Schüler*innen für beide Seiten verloren, nämlich für die intelligente Wissenschaft und für die intelligente Religiosität. Dann geht die Kaprizierung auf die Vermessung der Welt ohne die Einbettung in kluge Narrative einher, ohne das Korrektiv der Erfahrungsleitung, ohne den Schutz vor der geistigen Vermessenheit, wie sie gegenwärtig in Schulen und ihrem Personal um sich greift. Das Resultat dessen sind Dunkelheit und Gewalt, und die Narrative des Bösen und dessen Dynamiken besetzen die inneren Räume, die spirituellen Topografien. Die allseits gefürchteten ideologischen Radikalisierungen junger Muslim*innen sind nur der kleinere Teil eines Phänomens, hinter dem ich eine breite Verrohung aus der Mitte der bürgerlichen Gesellschaft heraus sehe. Es ist erst die Erkenntnis der universalen Narrative hinter den partikularen Szenarien, die zum Transfer befähigt. Hier erschließt sich eine weitere Dimension der Narration, nämlich ihre immunisierende Kraft gegen das Böse. Ohne dieses Böse nun essenzialisieren zu wollen, tritt es in den koranischen Narrationen als Figuration des Satans in Erscheinung. Die Analyse dieser Texte, die sich im Koran mehr an den funktionalen anstatt an den personalen Merkmalen orientiert, macht deutlich, dass es bei der Operationalisierung religiöser Narrative um die Verschiebung von Vektoren geht, die ihre Kraft in den lebensweltlichen Domänen der jungen Menschen entfalten können: von der Erstarrung hin zur Bewegung, von der Stigmatisierung von Tätern hin zur Bewertung der Tat, von der Verdinglichung zu Wesenhaftigkeiten hin zum Verständnis von Zuständen, Ereignissen und Situationen, in denen sich Menschen befinden, von der inneren Befangenheit und der sozialräumlichen Kerkerhaft hin zu Befreiung und Mobilisierung des Selbst, von der schicksalhaft anmutenden Bestimmung hin zur Befähigung zu Entschiedenheit, vom Rückzug und von der Distanzierung vom Anderen hin zur Zuwendung, vom Stillstand hin zum Aufbruch, von der Anmutung der Sünde hin zu Verständnis und Bewältigung der
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Krise, von Angst und Ängsten hin zu Zutrauen und Zuversicht, von Härte hin zu Nachsicht und von der Duldung hin zur Wertschätzung und damit zu Toleranz.22
Die Genese der islamischen Quellen Dieser Abschnitt beleuchtet verkürzt ausgewählte Aspekte von frühislamischer Geschichte und islamischer Texttradition. Dabei werden die islamisch-theologische und die pädagogische Perspektive aufeinander bezogen. Von besonderem Interesse ist dabei die Frage, wie die Narration als pädagogische Methode an die frühen islamischen Traditionen des Erzählens angebunden werden kann, um den heutigen, von muslimischer Seite oft religiös begründeten Vorbehalten gegenüber freien Formen der Erzählung zu begegnen. Bereits zu Lebzeiten Muhammads hatte eine öffentliche Kontroverse um die Verhältnisbestimmung von Mündlichkeit und Schriftlichkeit in der arabischen Lyrik und Prosa begonnen. Befeuert wurde diese Kontroverse, die auch als Kita¯ba-Kontroverse bezeichnet wird, durch die in Sure 73 und weiter oben diskutierten Herausforderungen hinsichtlich der sprachlichen Formatierung des Korans, so wie sie sich Muhammad darstellten. Diese Kontroverse verschärfte sich im Zusammenhang mit der Genese des Korans zwischen 610 AD und 632 AD. Im Kontext dieser Kontroverse entwickelte sich die Genese sowohl des Korans als auch der später kanonisierten Literatur mit prophetischen Weisheitstraditionen hin zu mehr Schriftlichkeit. Das hatte Auswirkungen auf die damals vorfindliche Kunst des Erzählens, auf die narrative Signatur des Korans und auf die Kodifizierung des auf Muhammad als Person bezogenen Zitats oder Erlebnisberichts (sog. hadı¯t). In zusammenfassender Verknappung lassen sich ˙ ¯ für den vorliegenden Beitrag zentrale Qualia der damaligen Prozesse exemplarisch beleuchten. Für die Schriftlichkeit sprachen zusammengefasst die Sicherung der Information vor Verlust, die leichtere Verteilung der Information, die Schriftlichkeit als höheres Kulturgut, auch der Befund, dass Muhammad selbst schrieb, wenn es nötig war, die Anwesenheit von rund 17 Schreibkundigen in Mekka und rund einem Dutzend in Medina (Ibn Sacd erwähnt nur 11 in Mekka und 9 in Medina) sowie die prinzipielle Anweisung Muhammads zur Schriftlichkeit, die über die bloße Gewährung hinausging. Gegen die Schriftlichkeit sprachen die Ungenauigkeit des arabischen Schriftsystems, der Missbrauch der Information in unberufenen Händen, das öffentlich tradierte Misstrauen gegenüber der Schriftlichkeit, der Verzicht der arabischen Dichter, ihre Werke zu notieren, warnende Aussagen im Tanach vor den Schriftgelehrten (Jeremia 8,8–9), der Verzicht 22 Siehe dazu vertiefend Behr 2009, S. 33–52.
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Muhammads auf das Aufschreiben des Korans, warnende Aussagen im Koran vor der Schriftlichkeit (6:4–11) sowie der generelle Mangel an schreibkundigen Leuten. Die Zunahme an Schriftlichkeit im Zuge der Textentstehung als urheberschaftliche Werdung und Gestaltung des Korans (tanzı¯l) und des Prophetenworts (hadı¯t) und deren Sammlung der Textfragmente (g˘amc)23 kann weder als allei˙ ¯ niger Effekt aus dem Verlust-Trauma der Muslime als religiöser und politischer Gemeinschaft in der Zeit nach dem Tode Muhammads verstanden werden, noch als Prozess himmlischen Wirkens im Sinne redaktioneller Einmischung. Maßgebliche Prozesse lassen sich bereits in die Zeit des Wirkens Muhammads verorten, und sie müssen aus dem Wechselspiel zwischen Genese und Exegese verstanden werden. Vielen dieser Prozesse des Übergangs von oraler zu skriptiver Tradition liegen vermutlich dezidierte Entscheidungen Muhammads zu mehr Schriftlichkeit zu Grunde. Damit verbunden ist ein erstarkendes Bewusstsein, dass mit der Vertextung ein wachsender Erinnerungsbestand und eine sich etablierende Erinnerungskultur entstehen – und die Erkenntnis, dass sich beides durch bewusste Entscheidungen beeinflussen lässt. Das betrifft vor allem die zunehmend inszenierte religiöse Differenz zwischen den jüdischen, christlichen und nun auch islamischen Strömungen und Stämmen jener Zeit. Auch das Bewusstsein um die Macht des Schreibers etabliert sich. Fragen der religiösen Selbstwahrnehmung des Subjekts und seiner konfliktären Verhältnisbestimmungen zur Tradition und zum Kollektiv gehen Hand in Hand mit der Sicherung dieses Erinnerungs- und Erzählbestands. Der Koran emanzipiert sich nach und nach von der Situativität hin zu einer auf die Zukunft gerichteten Botschaft. Die kategorialen Verhältnisbestimmungen in der Zeit Muhammads, die sich anhand des Korans selbst nachzeichnen lassen, sind Ausdruck exegetischer Entscheidungen mit Auswirkung auf die Genese des Textes – der Koran ist nicht nur der Ausgangspunkt theologischer Diskurse, sondern auch ihr Produkt. Diese Verhältnisbestimmungen ersetzen als maßgebliche Faktoren der thematischen Kohärenz des Korans dessen fehlende epische Dramaturgie. Gemeint sind die Spannungsbögen zwischen Tradition und Echtheit, Text und Geist, Kulturalität und religiösem Symbolbestand, zwischen Dekonstruktion und Rekonstruktion religiöser Narrative, zwischen gruppenbezogenen (gesinnungsorientierten) und ethischen (verantwortungsorientierten) Konsensprinzipien sowie zwischen kollektiver Religionsausübung und subjektiver Religiosität. Damit sind Konfliktlinien angezeichnet, die bis heute zu heftigen religionsbezogenen Kontroversen führen – sei es innerhalb islamischer Bezugsräume auf der Ebene des Ideenstreits, sei es die grundsätzliche Religionskritik angesichts religiös-insti23 Zur Entstehung des Korans siehe vertiefend Krawulski 2006. Zur Entstehung des Hadith siehe vertiefend Siddiqui 1993 und Hamidullah 2003.
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tutioneller und säkularer gesellschaftlicher Gestaltungsansprüche. Ich würde deshalb die These vertreten, dass die Kenntnis der damaligen Situation dabei helfen kann, die heutige Handhabung des Korans hin auf die spirituellen und sozialen Wirklichkeiten zu öffnen und ihn aus den Befangenheiten der tradierten muslimischen Religionsgelehrsamkeit (Sakralisierung des materialen Textes, Tabuisierung des hermeneutischen Zugriffs) zu befreien. Die Erforschung dieser Prozesse, vor allem diejenigen des Korans als Erzählung in statu nascendi, ist für einen »geläuterten Glauben« im Sinne Moses Mendelssohns oder Abraham Geigers unverzichtbar (Geigers Dissertation befasste sich mit der Frage, was Muhammad aus dem Judentum aufgenommen hat).
Erzähler der Frühzeit Aus der Frühzeit des Islams ist eine Reihe von Personen mit verblüffenden biografischen Details bekannt. Sie werfen Licht auf die Dynamik von Narration als religiöse Kommunikation und auf ihre soziale und spirituelle Funktion. Dass man es für wichtig hielt, solche begleitenden Informationen zu notieren, belegt das damalige Ausmaß an intelligentem Textverständnis und Antizipation von Textwirkung. Bis in die Zeit Muhammads hinein wurden die Geschichtenerzähler als hudda¯t bezeichnet. Sie berichteten von Ereignissen aus fernen Ländern, gaben ¯ ˙ Hochzeiten bekannt oder kommentierten das Kriegsgeschehen. Ihre Geschichten gaben sie bevorzugt an den Nachtfeuern zum Besten. Sie erzählten, berichteten und kommentierten, und übertragen in die heutige Zeit könnte man auch sagen: Sie twitterten, bloggten und rappten. Die Stilmitel der Verdichtung, der Pointierung, der Lyrik oder der Persiflage finden sich dementsprechend auch im Koran. Ein schönes Beispiel für die Kraft des stakkatoartiken Raps ist die Sure 109, die, wenn dementsprechend prosodisch inszeniert, mitunter an Ohrfeigen erinnert. Streng genommen gehören auch die Bildhauer, die musawwiru¯n zu den Er˙ zählern, die künstlerisch ambitionierten Hersteller der Figuren alt-arabischer Göttinnen und Götter, Dämoninnen und Dämonen – ein Berufsstand, zu dem in ¯ zar, Abrahams Vater gehörte. Einen Einblick in jene Zeit, grauer Vorzeit auch A die mitnichten jene Dunkelphase der Kulturlosigkeit war, so wie das von muslimischer Seite gerne vereinfacht mit dem Begriff g˘a¯hiliyya dargestelllt wird, gab die Ausstellung Roads of Arabia, die vor einigen Jahren auf der Berliner Museumsinsel gastierte.24 In diesem Kontext verschoben sich die Hadith-Erzähler, die
24 Der Begriff taucht im Koran eher im Zusammenhang mit Provokation auf, die der Unwissenheit entspringt, z. B. »Und die Diener des Erbarmers (ciba¯du-r-rahma¯ni) sind diejenigen, ˙
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hudda¯t, hin zur Kategorie der Berichterstatter über das Reden und Handeln ¯ ˙ Muhammads, und damit auf Ereignisberichte, die nicht unmittelbar im Koran ihren Niederschlag fanden. Sie vermittelten eher den Kontext einer Koranmitteilung, die später bei der Interpretation des Korans half, zumal sich die hudda¯t ¯ ˙ schon früh auf eine bestimmte Kategorie von Hadith-Texten verlegten, für die sich wohl zunehmend ein gesellschaftlicher Bedarf entwickelte, der später die akribische Sammlung, Kodifizierung und Kanonisierung von Hadithen in anerkannten Sammlungen bedingte: Gemeint sind sogenannte ahka¯m-Hadithe, ˙ also Berichte, die sich so präzise auf konkretes Handeln bezogen, dass ihnen Rechtswirksamkeit zugewiesen werden konnte. Daneben entstand die Gilde der qura¯’ – der Verleser des Korans. Sie beschränkten sich auf die öffentliche Kundgabe von Korantexten. Als weitere Gruppe traten die qussa¯s auf den Plan, ˙˙ ˙ die eigentlichen Geschichtenerzähler. Ihnen fiel immer mehr das Profil der frei improvisierenden Erzähler zu, welches vordem noch den hudda¯t zugeschrieben ¯ ˙ wurde, ehe diese sich den Rechtswissenschaften verschrieben.25 Von entscheidender Bedeutung für die Frühzeit des Islams ist, dass alle genannten Kategorien in gleichem Maße als für die religiöse Erinnerung bedeutsam angesehen wurden; in allen Kategorien wurden schon zu Lebzeiten Muhammads die oben bereits erwähnten Leute der Veranda (ahl al-suffa) unterwiesen. ˙ Wie groß die persönliche Einflussnahme Muhammads auf die Transformation von der mündlichen hin zur schriftlichen Textwelt war, bleibt diffus und in den Islamwissenschaften wie auch in der islamischen Theologie umstritten. Sowohl für seine Zurückhaltung wie auch für eine Art Kanzlei Muhammads ließen sich Belege ins Feld führen. Allerdings gilt als gesichert, dass Muhammad Gesetze und Verträge zunehmend schriftlich notieren und verteilen ließ26 – für die demütig auf der Erde umhergehen und, wenn die Törichten sie anreden (ha¯tamahumu-l˘ g˘a¯hilu¯na), den Frieden entbieten (qa¯lu¯ sala¯ma).« (25:63) 25 In jener Phase wurden auch Berichte geduldet, die offensichtlich erfunden waren, so lange sie dazu dienten, den Glauben zu stärken und die Moral zu festigen. Das stellt die Hadith-Kritik vor die Herausforderung, dass die Prüfung tautologisch ausfallen kann, was bestimmte Hadithtexte angeht. Das liegt am so genannten Gelehrtenkonsens (ig˘ma¯c) als die kollektive und damit gegen Fehlbarkeit abgesicherte Autorität, in begründeten Zweifelsfällen qua Beschluss darüber zu entscheiden, ob ein bestimmter Hadith als authentische Quelle belastbar ist oder nicht. Dieses Strukturmerkmal des Hadith als islamische Primärquelle stellt so etwas wie einen blinden Fleck dar, der bis heute zu erheblichen Zerrbildern in der Hermeneutik führen kann und der ein Differenzkriterium zwischen islamisch-theologischer und bezugswissenschaftlich-quellenkritischer Analyse darstellt (vgl. Motzki 2014). 26 Ein bekanntes Ereignis, welches die damit verbundenen Spannungen spiegelt, ist das berühmte Waffenstillstandsabkommen zwischen Medina und Mekka im Jahr 628 AD. Es fand an einem wenig gastlichen Ort namens Hudaybiya statt, nicht weit von Mekka. Muhammad zieht, einem Traumbild folgend, zur Wallfahrt nach Mekka, was sich aber aufgrund der damaligen Konfliktlage nicht auf Anhieb bewerkstelligen lässt. Muhammad verhandelt mit Suhayl ibn Amr, dem mekkanischen Unterhändler, über die Bedingungen, unter denen im darauf folgenden Jahr die Wallfahrt stattfinden kann. Diese Vereinbarung wird zu Papier
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die damalige Zeit, in der das gesprochene Wort galt (was der Koran übrigens in Stellen wie 2:177 unterstreicht), ein Novum. Das war vermutlich einfach der Not seines sich rasch ausdehnenden politischen und legislativen Einflussbereichs geschuldet. Er schrieb auch Briefe – und er diktierte sie. Dieser Habitus der Depesche entwickelte sich während der vier nachfolgenden Kalifate weiter, um sich schließlich unter der Regentschaft von cUmar ibn cAbd al cAzı¯z zur Hochund Vollform des Regierens über größere räumliche Distanz zu entwickeln. Dieser von Muslimen dezidiert sunnitischer Provenienz (ahlu-s-sunna wa-lg˘ama¯ca) gerne als der Fünfte unter den Rechtgeleiteten (mursˇid) und als Ombudsmann einer halachisch anmutenden Rechtgläubigkeit angerufene Regent gilt als einer der wichtigsten Gewährsleute für frühe, und zwar vor allem in seinen zahlreichen Briefen kondensierte Redefragmente Muhammads. Das Schreiben als Handwerk war also nicht das Problem. Die meisten seiner Emissäre stammten aus der Gruppe der Leute der Veranda, so dass auch diesem Unterfangen, das in der islamischen Tradition vornehmlich mit den Motiven der sozialen Wohltat und der Gelehrsamkeit in Verbindung gebracht wird, ein gerüttelt Maß an strategischem Zweckdenken, zumindest aber gesunder Pragmatismus zugewiesen werden kann. Das eine schließt das andere ja nicht aus. Die Kunst des Erzählens geriet nach und nach in den Sog der Herrschaftsbestellung, für die sie bestimmte Dienste leistete: Veranschaulichung, Authentifizierung, Plausibilisierung. Die Debatte um die Widersprüche in den Traditionen und um Gestalt und Ausmaß der Kita¯ba-Kontroverse, was die Schriftlichkeit im religiösen Textbereich zwischen prophetischer Duldung, Verbot und Aufforderung angeht, weist auf ein anderes grundlegendes Problem hin: Durch den Islam wurde ein genegebracht, und Muhammad unterzeichnet mit seinem prophetischen Signum, »Muhammad, Gesandter Gottes« (Muhammad rasu¯lu-l-la¯h). Dagegen legt Suhayl Widerspruch ein mit dem ˙ gegen Muhammad gekämpft, wenn er überzeugt sei, den Gesandten Argument, er habe nicht Gottes vor sich zu haben; Muhammad sollte mit seinem bürgerlichen Namen unterzeichnen. Die Chronisten berichten, dass Muhammad dieses Veto anstandslos akzeptierte: Er habe seine inzwischen getrocknete Unterschrift abgekratzt und durch die Unterschrift mit »Muhammad, Sohn des cAbdulla¯h, Enkel des cAbdulmuttalib« ersetzt. Im Zuge dieser Sache ˙ hat sich allerdings etwas zugetragen, was Suhayl, wie er ˙später einmal berichtete, Bewunde¯ lı¯ ibn Abı¯ Ta¯lib, den rung abnötigte: Es war nämlich der junge Begleiter Muhammads, cA Muhammad aufforderte, den getrockneten »Gesandten Gottes« abzukratzen – ˙ aber der ¯ lı¯ weigerte sich. Deshalb schritt Muhammad, und dies in aller Gelassenheit Suhayl und cA gegenüber, selbst zur Tat. Die Sache ging also tief, vor allem emotional. Und doch stand im Vordergrund die Überzeugung auf beiden Seiten, unbedingt einen Zustand erreichen zu müssen, in dem die Waffen schweigen. Dabei ging es übrigens nicht nur um die Wallfahrt, sondern darum, dass beide Städte aufgrund des ständigen Kriegszustandes wirtschaftlich und moralisch am Ende waren; man war kriegsmüde. Die Chronisten jener Zeit berichten von bitterer und bis dato noch nie gekannter Not auf beiden Seiten. Der einzige Profiteur der Schwäche Medinas und Mekkas wäre die jemenitisch-byzantinische Allianz gewesen, die für beide Städte zu einer immer größeren militärischen und wirtschaftlichen Bedrohung wurde.
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reller Kulturschub beschleunigt, der sich in der alt-arabischen und dezidiert vorislamischen Literatur bereits anbahnte, nicht zuletzt durch die Kraft, mit der die junge arabische Sprache durch den Koran formatiert wurde. Einer der ersten, die das philologisch und historiografisch diskutiert haben, ist Ibn Qutayba in seinem Werk Ta’wı¯l Muhtalif al-Hadı¯t (Von der Deutung der widersprüchlich disku˙ ¯ ˘ tierten Hadithe). Hier ist vor allem die alt-arabische Literatur von besonderer Bedeutung für die Hermeneutik des Korans. In etwa um die Zeit der Geburt Muhammads gab es bereits schriftlich verfasste arabische Lyrik und sogar Prosa, aber das war nicht weit verbreitet, sondern die seltene Ausnahme. Der Chronist Ibn Sacd (784 bis 845 AD), der sich in Basra und in Bagdad mit den philologischen und historischen Grundlagen der hier beschriebenen Prozesse befasst hat, gibt zu Protokoll, dass es für einen Mann anfangs drei Hochkünste gab, die ihn zu einem so genannten Edlen (al-ka¯mil) machten: Bogenschießen, Schwimmen und Reiten. Etwa zur Zeit von Muhammads Tod trat das Schreiben als Kunst hinzu und ersetzte je nach Friedenslage und Wehrbedarf entweder das Schießen oder das Schwimmen – das Reiten blieb als Alltagstechnik und wohl aus Gründen der höfischen Traditionspflege in jenen Tagen unangetastet, in die folgenschwere Worte Muhammads fallen sollten wie: »Die Tinte des Gelehrten wiegt schwerer als das Blut der Märtyrers«. Allerdings barg die Sache durchaus ihren Kulturkonflikt, denn der berühmte alt-arabische Poet Du¯-l-Rumma verbarg lieber, wie gut er eigentlich lesen und ¯ schreiben konnte, weil die öffentliche Meinung anfangs generell gegen das Lesen und Schreiben eingestellt war. Ein Dichter, der nicht vortrug, sondern vorlas, wurde von den Leuten abgelehnt – dem mündlichen Vortrag galt der höhere Rang an Authentizität, weil die Bedeutung nicht am Buchstaben festgemacht wurde, sondern an der Person und ihrer prosodischen und dramaturgischen Inszenierung und somit an der dem Text zugewiesenen Bedeutung. Als Du¯-l¯ Rumma gebeten wurde, seine schönen Gedichte doch aufzuschreiben, entgegnete er: »Wenn ich anfange zu schreiben, dann bin ich bei meinem Publikum unten durch. Ohne meine Inszenierung ist das alles nichts.« Es ist im Übrigen nicht unwahrscheinlich, dass Muhammad versuchte, die Kita¯ba-Debatte zu entscheiden und zu beenden. Das Ganze ist wohl so zu verstehen, dass die Überlieferungen, in denen sich Muhammad skeptisch bis ablehnend zum Schreiben äußert, älteren Datums sind. Sie sind durch spätere Hadithe relativiert. Eine Überlieferung in der berühmten Sammlung von Sah¯ıh ˙ ˙ Buha¯rı¯, der zufolge Abu¯ Sˇa¯h von Muhammad die Erlaubnis erhält, eine ganze ˘ Debatte mitzuschreiben, ist ziemlich genau auf die Einnahme Mekkas datierbar, also etwa um 630 AD. Nach diesem Ereignis gibt es keine Überlieferungen mehr, in denen jemandem das Mitschreiben verboten wird. Suhaib galt als Experte im ˙ Bereich Geschichte (ta¯rı¯h) und soll gesagt haben: »Kommt, ich erzähle euch von ˘ unseren Schlachten (mag˙a¯zı¯), aber verlangt nicht von mir, dass ich mich auf
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dieses oder jenes beziehe, was der Gesandte gesagt hat oder auch nicht!« Gerade Fragmente wie diese belegen, wie kritisch eine sich nach und nach aufbauende religiöse Erwartungshaltung an den Text bereits damals reflektiert wurde. Abu¯ Huraira, dem Muhammad das Schreiben ja zunächst untersagt hatte, soll später dann doch selbst geschrieben haben, was sich womöglich auf einige der über 500 Abschriften seiner Sah¯ıfa bezieht, möglicherweise sogar nachdem sie formal und ˙ ˙ inhaltlich durch Muhammad abgesegnet war, was aber nicht mehr eindeutig rekonstruierbar ist.
Die Situation islamischer Narrationen einige Jahrhunderte später Für die Frage der wenn nicht unbedingt historischen, so doch historiografischen Situation gelten etliche Chronisten als für die islamische Theologie durchaus ˘ auzı¯, der sich in das 12. Jh. AD in belastbare Quellen, beispielsweise Ibn al-G Bagdad verorten lässt. Sein Werk Kita¯b al-Qussa¯s wa l-Mudakkirı¯n (Das Buch von ¯ ˙˙ ˙ denen, die erzählen und erinnern)27 vermittelt einen Eindruck über die Dynamiken der Entstehung verschiedenster Textformate und -funktionen zu den Themengebieten Geschichte, Koran, Hadith, Recht, Grammatik, Predigt, Prosa, Lyrik und Medizin. Er führt sage und schreibe 1.061 Gewährsleute für wahrheitsgemäße Berichte und Erzählungen von Muhammad und seinem Leben ins Feld. Ausgehend von ziemlich genau 1.525 waffenfähigen muslimischen Männern zur Zeit der Volkszählung im Zusammenhang mit dem Vertrag von Hudaybiya 628 AD, aber bereits rund 40.000 Teilnehmern an der Abschiedswallfahrt Muhamamds (hig˘g˘at al-wada¯c) im Frühling 632 AD und den vom Chronisten Zarca al-Ra¯zı¯ hochgerechnet rund 100.000 Zeitzeugen während der gesamten Lebensspanne Muhammads sind das mit 1,3 % dann doch überraschend wenig Gewährsleute für Berichte und Erzählungen. Die islamischen Quellenwissenschaften schreiben das einem strengen Auswahlprozess hinsichtlich der Plausibilität der Inhalte und der charakterlichen Eignung ihrer Übermittler zu, der offenbar mit detektivischer Akribie betrieben wurde. ˘ auzı¯ war die Praxis des erbaulichen Erzählens (qasas) von reNach Ibn al-G ˙ ˙ ligiösen Geschichten und Ermahnungsreden (wacz) in der Öffentlichkeit bereits ˙ zur Zeit Muhammads üblich. Qasas und wacz waren zu Muhammads Zeiten, und ˙ ˙ ˙ blieben lange nach seinem Tod, Grundlage für das Lehren des Korans, der Sunna, des Urteils einer Reihe der Gefährten des Propheten und von manchem mehr. Die Erzähler (qussa¯s) und Redner (wuca¯z) hatten ihren Platz in der Gemeinschaft ˙˙ ˙ ˙ und trugen die Verantwortung dafür, religiöses Wissen zu vermitteln und die Menschen in den Tugenden des Islam zu bestärken. In frühislamischer Zeit 27 Vgl. Swartz 1971.
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wurde qasas auf zwei unterschiedlichen Ebenen praktiziert: Zum Einen gab es ˙ ˙ das spontane Erzählen ohne offiziellen Charakter, von Personen, die über eine besondere Gabe verfügten. Das war seit Urzeiten üblich und hatte während der Zeit Muhammads und nach seinem Tode weiterhin Geltung. Zweitens gab es das intentionale Erzählen; die qussa¯s wurden zumindest zu Beginn dieser Epoche ˙˙ ˙ vom Kalifen selbst erwählt. Bekannt ist, dass cUmar ibn al-Hatta¯b einen gewissen ˘ ˙˙ Tamı¯m al-Da¯rı¯ mit dem Erzählen beauftragte; Mu¯sa¯ und Amr al-Uswarı¯ hielten Tafsı¯r-Vorlesungen über den Koran im Erzählstil – auf Arabisch und auf Persisch. Der Berufsstand der Erzähler wurde dann nach und nach durch Imitatoren und Plagiatoren beschädigt, die falsche Informationen verbreiteten. Sie verwendeten gefälschte Hadithe. Die Unart des Schwindelns und Schwätzens wurde bereits zu Lebzeiten Muhammads mit einem Warnhinweis im Koran in 31:6 identifiziert: Lügengeschichten zum Zeitvertreib führen die Menschen in die Irre. ˘ ubair im Sah¯ıh al-Buha¯rı¯, wonach Darauf bezieht sich ein Bericht von Sac¯ıd ibn G ˙ ˙ ˙ ˘ ein gewisser Nauf ibn Fada¯la in Kufa mit der Behauptung auf Tournee ging, der ˙ koranische Moses und der israelitische Moses seien zwei verschiedene Personen. Es war also schon damals so wie auch heute in manchen Sektoren der islamischen Theologie in Deutschland und weltweit, dass man sich der ungeteilten Aufmerksamkeit sicher sein konnte, wenn man mit Aussagen auftrat, die zu diesem Zwecke nur abwegig genug sein mussten. Ebenso wie die Macht des Schreibers hat auch die Macht des Erzählers etwas Verführerisches. ˘ auzi erwähnt in seinem Werk Talbı¯s Iblı¯s (ich würde das mit Talar des Ibn al-G Teufels übersetzen), dass sich die Gelehrten des Rechts (fuqaha¯’) und die der Traditionen (muhadditu¯n) gegen die Gilde der Erzähler wandten. Berühmt ist die ¯ ˙ Opposition des Juristen Ibn Sı¯rı¯n gegen den Erzähler Hasan al-Basrı¯ (geb. 642 AD ˙ ˙ in Medina, gest. 728 AD in Basra): Er warf ihm unerlaubte religiöse Neuerung c 28 (bid a) vor und brandmarkte die Ha¯rig˘iten als Ursache des Übels der Erzählung. ˘ Ähnlich positioniert sich der Sufi Abu¯ Ta¯lib al-Makkiyy in seinem Buch Qu¯t al˙ Qulu¯b (Die Nahrung der Herzen):29 Qasas gehe auf den gewaltsamen Konflikt ˙ ˙ (fitna) zwischen cAlı¯ und Muca¯wiya zurück und sei deshalb als nicht-islamisch abzulehnen. Hasan al-Basrı¯ gilt dabei als ein Vertreter der Allegorese. Auf ihn ˙ ˙ beriefen sich später kritisch-rationalistische islamische Schulen, die sich der 28 Der Begriff (die Abtrünnigen, die Rebellen) bezeichnet eine als häretisch und oppositionell zur Herrschaftsbestellung nach cUthma¯n bin cAffa¯n eingestufte Gruppe in der Frühzeit des Islams; die nordafrikanischen Ibaditen führen sich auf diesen Ursprung zurück. In muslimischen Gegenwartsdiskursen werden mit dem Begriff Denkweisen bezeichnet, die hinsichtlich ihrer Abweichung zur zentralen Dogmatik sunnitischer Islamizitäten als häretisch und abweichlerisch markiert werden. 29 Der vollständige Titel des Buchs aus dem 10. Jahrhundert AD lautet Qu¯t al-Qulu¯b fi Mucamala¯t al-Mahbu¯b wa Wasf Tarı¯qa al-Murı¯d ila¯ Maqa¯ma al-Tauh¯ıd (Von der Nahrung der ˙ mit dem ˙Geliebten ˙ ˙ hin zur Bezeugung des Herzen im Umgang und vom Weg der Lernenden Einen).
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aristotelischen Lehre verschrieben und sie mit islamischer Theologie fusionierten – dies später mit großem Einfluss auf jüdische rationale Schulen (z. B. Saadia ben Joseph Gaon). Ab Ende des 9. Jhs. AD gab es vor allem in Bagdad folglich immer wieder Erlasse gegen die Erzähler, die gemeinsam mit den Sternendeutern, Gauklern, Wahrsagern und Trickbetrügern geächtet wurden. Auf der soziopolitischen Ebene wurde qasas mit Unordnung, Gewalt und Separatismus ˙ ˙ identifiziert, auf der religiösen Frömmigkeitsebene mit Hochmut, Unehrlichkeit, Ignoranz der Rechtsvorschriften und einer Nachlässigkeit gegenüber den elementaren religiösen Tugenden. Der Philosoph al-G˙aza¯lı¯ war dummerweise ein Fan von Abu¯ Ta¯lib al-Makkiyy und deshalb a priori gegen das freie Erzählen ˙ eingestellt. Aber er war gemäßigter und unterschied (so etwa auch Korankommentatoren wie Ibn Kathı¯r oder as-Suyu¯t¯ı) zwischen einerseits qasas, was so ˙ ˙ ˙ lange zu dulden sei, wie der Erzähler ein muhaddit ist und die Geschichte und die ¯ c ˙ Moral dem Koran entspreche, und andererseits wa z im Sinne der Bußpredigt, ˙ denn Lamento, Anschreien, Anklage und Angstmacherei seien unter Berufung auf die Etikette der öffentlichen religiösen Ansprache, so wie sie cUmar ibn alHatta¯b beschrieben habe, rundheraus abzulehnen. Das hat dazu beigetragen, ˘ ˙˙ dass sich bis heute unter vielen Muslim*innen so etwas wie eine vornehmlich kulturell kodierte Tabugrenze gegen die narrative Fiktion etabliert und erhalten hat – eine Frage, an der sich muslimische Geister und Identitäten scheiden, die aber für die Belange eines pädagogischen oder spielerischen Umgangs mit islamischen Narrativen tendenziell Probleme mit sich bringen kann. Die latenten muslimischen Vorbehalte gegenüber narrativer Inszenierung im islamischen Religionsunterricht verbeißen sich gerne im Argument der theologischen Authentizität. Für die didaktische Analyse etwa einer Unterrichtssequenz könnte man mit Blick auf den Erzählstoff und auf die Erzählintention folgende Gütekriterien diskutieren, die über den klassischen Dreischritt Personifizierung (echte Charaktere), Lokalisierung (reale Orte) und Dramatisierung (eine konsekutive Ereigniskette) hinausgehen: die überzeugende Plausibilität eines Stoffs, seine dramaturgische Kohärenz als Plot, Elemente mit erkennbar islamischer Positionalität, die Auswirkung der Erzählung hinsichtlich subjektiver Handlungsmotive und das Potenzial einer Erzählung als spirituelle und ästhetische Bereicherung. Die muslimischen Zielgruppen (Schüler*innen und Student*innen etwa) haben mit zunehmendem Alter immer größere Schwierigkeiten, sich von der Nacherzählung des gesichert Behaltenen zu lösen und sich explorativ (erkundend, sich ausprobierend) und spielerisch der Inszenierung des Verstandenen zu nähern. Heute wird die im Islam einst so blühende Kunst des Erzählens durch die kognitive Überlast islamisch-systematischer Religionsgelehrsamkeit im Keim erstickt. Es erfordert eine religionspädagogisch begründete Strategie, dem entgegenzuwirken. Der würde ich gerne kategoriale Ziele zu Grunde legen. Da wäre zum Einen die Spiritualität: Der Umgang mit dem Er-
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zählstoff zielt auf das ästhetische Erleben. Die Analyse des historisch-theologisch Gegebenen dient nicht der Deduktion von moralischen Lehrsätzen, sondern soll induktiv Lernprozesse anregen. Zweitens wäre da das Spiel: Der Erzählung wohnt ein ludisches Moment inne. Sie ermöglicht über die Gestaltung explorativer Freiräume die religiöse Selbsterfindung. Drittens geht es um das Verstehen: Nur die Inszenierung reflektierter Erfahrung im Ereignis der Erzählung generiert verstehendes Wissen.30
Identität und Narration In der Erzählung bietet sich die Gelegenheit, sich mit einer Rolle zu identifizieren, in eine Rolle zu schlüpfen oder eine Rolle zu gestalten. Es geht dabei nicht um reale Identifikation, sondern um die bewusste Identifikation als virtuelle Übernahme einer Rolle. Das ermöglicht das Ausprobieren, das Spielerische (play, game), die Selbsterfindung. Die grundlegende Fähigkeit des Menschen, das zu tun, liegt zum Einen in seiner Empathiefähigkeit begründet, was die weiter oben mit der Geschichte Jochebeds beschriebenen Aspekte der Emotion unterstreicht. Zum Anderen beruht diese Fähigkeit darauf, aus der eigenen Situation heraustreten und sich selbst zum Gegenstand der Betrachtung machen zu können – ein wahrnehmungs- und erkenntnistheoretisch31 bedeutsames Konzept der philosophischen Anthropologie, das unter dem Stichwort der Extrapositionalität verhandelt wird.32 Psychologisch besehen ist die persönliche Identität die einzigartige Kombination persönlicher Merkmale, derer man sich selbst bewusst ist und mit der man sich selbst anderen darstellen kann. Dieses Bild der eigenen Identität wird auch dadurch beeinflusst, wie man sich von anderen Menschen wahrgenommen sieht. In dieser Hinsicht sind Selbsterkenntnis und Selbstgestaltung formativ für die eigene Identität. Von Bedeutung ist dabei auch die Frage, wie konkrete Subjekte unter den Bedingungen ihrer realen gesellschaftlichen Lebensverhältnisse sich selbst verstehen und konstruieren.33 Die entsprechenden Identitätskonstruktionen sind ein lebenslanger Prozess der Herstellung von Kohärenz und Kontinuität, mithin der Passung von inneren und äußeren Welten über die Thematisierung des Selbst. Und es geht um Kontinui30 Siehe zu den pädagogischen Konsequenzen für den islamischen Religionsunterricht in der Primarstufe Ulfat 2017. 31 »Unsere wissenschaftlichen Konstruktionen sind stets von subjektiven Interessen und Vorurteilen, kulturellen Kontexten und sozialen Rahmenbedingen beeinflusst … Unsere Vorannahmen stammen ja wesentlich selber aus jener Wirklichkeit, um deren Erkenntnis es uns geht« (Pollak 2009, hier S. 62). 32 Die Literatur Arnold Gehlens, Helmuth Plessners und Max Schelers ist hier grundlegend. 33 Vgl. dazu Keupp 1999.
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tät.34 Im Zuge dieser Konstruktion lassen sich vier Teilaspekte identifizieren, die über die Selbstnarration miteinander in Beziehung treten: personale Teilidentitäten, Identitätsgefühle, identitätsstiftende Kernnarrationen und Handlungsbezüge (Handlungsfähigkeiten, Handlungsbereitschaften). Der Bereich des alltäglichen Erlebens und Handelns liefert zunächst das, was Ricoeur die »pränarrative Struktur der Erfahrung« nennt. Sie formt den Grund der wirklich erzählten Geschichten und ihre Aufnahme durch einen Rezipienten. Das macht Narrativität zu einem fundamentalen Organisationsprinzip menschlichen Erlebens und Handelns. Nach Ricoeur stellt narrative Erzählung eine Zugangsweise zum Phänomen der Zeit selbst dar. Narrative Erzählungen, die das Erleben und Handeln begleiten und mitgestalten, umfassen den lebensweltlichen Umgang mit Zeit in ihrem Wechselverhältnis von erzählter Zeit und Zeiterfahrung. Demgemäß folgen typischen Handlungsstrukturen typische Erzählstrukturen – andersherum wirken sich typische Verlaufsstrukturen des Erzählens auf Handlungsstrukturen aus. Das gilt typischerweise für die immanente Korrelation von Koran und Hadith, für die inferentielle Korrelation von Koran und tradiertem Narrativ und für die referentielle Korrelation zwischen der koranischen Narration und dem lebensweltlich situierten Zugriff auf den Text aus dem Hier und Jetzt heraus, also aus einer Verstrickung in Erzählstrukturen, lebensweltliche Handlungszusammenhänge, normative Setzungen und spirituelle Erfahrungen heraus.35 Von zentraler Bedeutung scheint dabei weniger die schriftliche Transmission von Text zu sein, sondern der Prozess des Erzählens als aktive Gestaltung. Geschichten, wie unfertig sie auch immer sein mögen, sind 34 Vgl. dazu Lucius-Hoene / Deppermann 2004. 35 In der islamischen Tradition ist also nicht nur der Fundus, sondern sind auch die Funktionszusammenhänge der Erzählung als Ereignis nachvollziehbar. Die methodisch-didaktische Herausforderung liegt in dieser Mehrschichtigkeit. Im Übrigen ist der Zustand heute so, dass immer noch wesentlich mehr aus dem Koran erzählt wird als aus ihm vorgelesen, und der mündliche Vortrag via Datenträger ist weiter verbreitet als den Koran selbst zu lesen. Dieses Primat des Ohres vor dem Auge wird im Arabischen als murattal bezeichnet. Die Heiligen Schriften atmen durchweg den Geist der Narrativität. Das betrifft das Alte Testament genau so wie das Neue Testament, zum Beispiel Lukas 1,1–4. Andere Stellen wie der Johannesprolog (Joh 1,1–5) sind eher als theologische Traktate zu verstehen, aber eindeutig an Adressaten gerichtet – es sind in gewisser Weise explikative Passagen in der Narration. Es gibt also so etwas wie die immanente Narration (z. B. die Josefgeschichte im Koran als erzählte Geschichte) und die exmanente Narration (Erläuterungen, Rückblenden, Vorgriffe, Gleichnisse, Gebete …), die darin eingebettet sind. Beispiele für solche Einbettungen finden sich im Koran in zahlreichen Textstellen (z. B. in 6:75, 12:7, 12:15, 18:65 oder 31:12 und 31:14). Auf das Phänomen der koranischen Publikumsanrede oder der auf Drittwirkung zielenden Textpassagen in der Rahmung der Erzählung wurde bereits hingewiesen. Der bekannteste Fall für ˘ ibrı¯l in den berühmten Arbac¯ına¯t diese Art von Wirkung ist der so genannte Hadı¯t G ¯ (Sammlung mit den vierzig Hadithen) von Ima¯m˙ Nawawı¯, der mit den erklärenden Worten Muhammads schließt: »Das war Gabriel, der zu euch gekommen ist, euch eure Religion zu lehren« (fa-innahu g˘ibrı¯lu a¯ta¯kum yucallimukum dı¯nakum).
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notwendig, um uns selbst klar zu werden, was wir gerade tun.36 Erzählung gestaltet also Erfahrung; Erzählungen werden nicht nur gebildet, um Erfahrungen mitzuteilen, sondern vor allem um diese zu gestalten.37 Man könnte auch sagen: Wir stellen uns nicht nur in der alltäglichen Interaktion in Geschichten, Erzählungen dar, sondern wir gestalten unser ganzes Leben und unsere Beziehung zur Welt als Narrationen, egal ob wir wach sind oder träumen, glauben oder zweifeln, lieben oder hassen, uns erinnern oder planen.38 Das hat auch eine besondere Relevanz für die Dimension des Religiösen. Entscheidend für religiöse Aufladungen sind dabei die Selbstrelevanz und die soziale Relevanz. Selbstrelevanz entsteht durch die Selbstverortung im Erzählstrang. Die narrativen Strukturen, derer sich das Subjekt bedient, sind im sozialen Kontext verankert und von ihm beeinflusst, so dass ihre Genese und ihre Veränderung in einem komplexen Prozess der Konstruktion sozialer Wirklichkeit stattfinden. Somit unterliegt Narration ebenfalls den Prozessen der sozialen beziehungsweise gesellschaftlichen Konstruktion von Wirklichkeit, was Auswirkungen auf das Verständnis der Narrative in der islamischen Frühgeschichte hat.
Religiöse Narrative des bewegten Menschen am Beispiel des Korans Es geht nun um den bewegten Menschen; der Zusammenhang zwischen Bewegung und Lernen wurde weiter oben beschrieben. Erstens begründet die Schöpfungsgeschichte des Korans in gewisser Weise eine Art Anthropologie der Freisetzung des Menschen, der sich von Anbeginn seiner ihm bewussten Existenz an vorwärts bewegt – nahezu verdammt dazu, die Grenzen zu überschreiten, an die er ständig gerät. Der Koran greift das Motiv der Weltkreise (aqta¯r) und deren ˙ Überwindung oder Durchdringung (nafa¯d oder nufu¯d)39 in 55:33 auf. Zweitens ¯ ¯ fordern besonders heute die mediterranen Ereignishorizonte von Flucht, Vertreibung und Migration zu religiöser Reflexion heraus. Immerhin handelt es sich dabei um diejenige Kulturregion, der sich maßgeblich die jüdischen, christlichen 36 37 38 39
Siehe dazu Carr 1986. Siehe dazu vertiefend Bruner 1998. Siehe vertiefend Kraus 2017. Das erste der beiden Wörter bedeutet auch Wirksamkeit und Scharfblick, das zweite auch Einfluss, Ansehen und Macht – es geht hier vor allem um die Spannung zwischen der Selbstermächtigung des Menschen und seiner Ermächtigung durch Gott. Das Wort sulta für ˙ Erlaubnis spielt auch eine Rolle in Zusammenhang mit den oben kurz angerissenen Formen der Autorität. Mit Blick auf die frühe arabische Sprache ist besonders interessant, dass das Verb nafada für durchdringen mit dem Motiv des Atmens konnotiert, das im Koran in ¯ Ableitungen jeweils mit verschiedenen Frikativen auftaucht: nafasa bedeutet atmen in der Mitbedeutung von Luft, nafaha in der Mitbedeutung von Wärme und nafata in der Mitbe¯ deutung von Feuchtigkeit. ˘
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und islamischen Narrative verdanken. Wie sehr sich die hier bereits mehrfach angeleuchteten Verschiebungen und Pluralisierungen der Weltwahrnehmung und des Verständnisses auf die Exegese des Korans auswirken können, lässt sich anhand exemplarischer Textes aus dem Koran verdeutlichen, hier 4:97–99. Die folgende Übertragung des Korans aus der Feder meines geschätzten Erlanger Kollegen Hartmut Bobzin steht stellvertretend für ein weit verbreitetes konsensual überprägtes Verständnis. Es wird meist unwidersprochen an den Text angelegt, stand aber unter dem Stichwort des intentional readings im Zuge einer Tagung zur Debatte, die im Herbst 2015 in Sousse in Tunesien stattfand. Dort diskutierten Politolog*innen und muslimische Theolog*innen aus den Ländern des Arabischen Frühlings, aus Europa und anderen Ländern aus Übersee darüber, wie ›islamisch schariatisiert‹ die neue tunesische Verfassung sein dürfe und wie sich Tunesien zur Problematik der Fluchtmigration stellen solle, die sich von den Gestaden des Landes aus über das Mittelmeer hin auf Europa als SchengenTerritorium und damit auf den Globalen Norden als Areal der sozialen Topografie entwickelte. Es folgt Koran 4:97–99: »Siehe, zu denen die gegen sich selber freveln (za¯limı¯ anfusihim), sprechen die Engel, ˙ wenn sie sie abberufen haben: Wie ist es euch ergangen? Sie sagen: Wir waren unterc drückt (mustad afı¯na) im Lande. Sie sprechen: War Gottes Erde denn nicht weit genug ˙ (wa¯sica), so dass ihr hättet auswandern können (tuha¯g˘iru¯)? Doch jene – ihr Zufluchtsort ist die Hölle (ma’wa¯hum g˘ahannam). Welch schlimmes Schicksal (wa sa¯’at mas¯ıra¯)! ˙ Ausgenommen die Unterdrückten von den Männern, Frauen und Kindern, die über keine Möglichkeit verfügen und auf dem Weg nicht rechtgeleitet sind (la¯ yastat¯ıcu¯na ˙ h¯ılatan wa la¯ yahtadu¯na sabı¯la). Die sind es, denen Gott vielleicht vergibt. Gott ist ˙ verzeihend und bereit zu vergeben.«
In dieser lexikalischen und semantischen Engführung erschöpft sich der Text in der Vorbehaltsdiktion gegenüber den hier thematisierten Personengruppen, die sich in greifbaren historischen Situationen von Unterdrückung, Vertreibung und Flucht befanden, aus denen heraus der Text entstand und in die hinein er sprach. Er hat dadurch aber nichts Wesentliches zu der Frage beizutragen, wie sich in solchen Situationen hier und heute eine Unterstützung von Flüchtenden und Geflüchteten gestaltet, welche den Betroffenen wirklich hilft – und dies konkreter als die allgemeinen und typischen sozialethischen Maximen einer Weltreligion. Auf reges Interesse in Sousse stieß deshalb eine von mir in die Diskussion eingeworfene intendierte Lesart, die sich empathischer auf die Fluchtszenarien einlässt: »Siehe, zu denen die von Unrecht umfangen sind, sprechen die Engel, wenn sie sie abberufen haben: Wie ist es euch ergangen? Sie sagen: Wir waren unterdrückt im Lande. Sie sprechen: War Gottes Erde denn nicht weit genug, so dass ihr hättet auswandern können? Dort, wo sie sind, ist die Hölle. Welch’ schlimme Fahrt. Die Unterdrückten,
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Männer, Frauen und Kinder – sie finden keine Mittel und keinen Ausweg. Die sind es, denen Gott vergibt. Gott ist verzeihend und bereit zu vergeben.«
Grundlage dafür, Verse wie diesen auf ein höheres Niveau der gleichermaßen exegetischen Abstraktion und zeitgemäßen Konkretisierung zu heben, ist die grundlegende Distanzerfahrung (und die Erfahrungsdiskrepanz) des Menschen. Damit ist einerseits die räumliche Distanz zwischen nahen und fernen Orten gemeint (Distanz nach außen), andererseits zwischen realen und imaginierten (Distanz nach innen). Das Wort mas¯ıra, das in diesem Vers als (Irr)Fahrt ver˙ standen wird, steht klanglich und etymologisch mit misr als die Bezeichnung für ˙ Ägypten und mit dem Exodusmotiv in Verbindung. Drittens erfasst das Wort die zwischenmenschliche Distanzerfahrung, so wie sie in jenem koranischen wie auch biblischen Szenario ihren Ausdruck findet, als sich Adam und Eva einander gegenüberstehen und sich gleichermaßen vertraut und entfremdet sind – dies in Spiegelung der plötzlichen Erkenntnis, auf allen drei Ebenen – räumlich, innerlich und persönlich – von Gott entfernt zu sein. Dass sich Menschen ineinander verlieben und auch nach körperlicher Vereinigung sehnen, mag seinen Ursprung in der Sehnsucht darin haben, diese Distanz zu überwinden und den ursprünglichen Zustand des liebenden Einsseins (al-wahdat al-wug˘u¯d) wieder ˙ herzustellen.40 In diesem Sinne ist auch ein Korantext in 30:21–22 zu verstehen, wo die Liebe nicht in die Herzen, sondern zwischen die Herzen gelegt wird, um die Menschen dazu zu bewegen, aufeinander zuzugehen: »Und es gehört zu Seinen Zeichen, dass Er euch aus euch selbst heraus paarweise und partnerschaftlich erschaffen hat (halaqa lakum min anfusikum azwa¯g˘an), so dass ihr ˘ einander beiwohnt. Und Er hat Liebe und Fürsorge zwischen euch gelegt (wa g˘acala baynakum mawaddatan wa rahmatan). Darin liegen Zeichen für Leute, die nachdenken ˙ (fakara). Zu Seinen Zeichen gehört, dass Er die Himmel und die Erde hervorgebracht hat, und die Verschiedenheit (ihtila¯f) eurer Zungen und Farben (oder: Sprachen und ˘ Arten; alsinatikum wa alwa¯nikum). Darin sind Zeichen für Leute, die Bescheid wissen c ( alima).«
Übertragen auf die Begrifflichkeit der Identität, macht der Koran klar, dass sie nicht im Beharren auf dem territorial und mental Eigenen zu finden ist, sondern nur durch Bewegung, die Überwindung der Distanz, die Wiederentdeckung des Selbst über die Wertschätzung der Anderen und schließlich durch die stete Reformulierung des Eigenen.41 Der Begriff der Heimat verweist so besehen weniger 40 Diese Formel ist nicht nur in der Mystik beschrieben worden, sondern ist als Motto der Einheit in Vielfalt in seiner Brechung in Bahasa, nämlich Bhinneka Tunggal Ika, immerhin Bestandteil des Staatswappens der Republik Indonesien. Mit al-wahdat al-wug˘u¯d ist auch die ˙ Vorstellung beschrieben, dass es in der Schöpfung Gottes nichts Unbeseeltes gibt – Existenz bedeutet per se Beseelung. 41 Sieh dazu vertiefend Bar-On 2001.
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auf die topografische oder territoriale Verortung als vielmehr auf den Zustand des Menschen, etwa vergleichbar der Differenz von Person und ihren Zuständen nach Friedrich Schiller (hier vor allem sein Traktat zum ästhetischen Zustand; Berghahn 2000). Identität ist ein in der Wissenschaft nur unter Schwierigkeiten operationalisierbares Konstrukt. Man könnte in narrativer Vereinfachung darunter auch einfach eine Kunst verstehen, nämlich die Kunst, beim Anderen zu sein ohne sich selbst zu verlieren. Die Identitätsstiftung gründet im gestalterischen Umgang mit der Wirklichkeit; das narrative Gestalten ist eine in diesem Sinne schöpferische Tätigkeit.42 Kernelemente sind dabei der Umgang mit der Zeit und die Kultur des Zugriffs auf den Koran, um den es im folgenden Abschnitt geht.
Acht Schriftsinne Im Zuge der Praxis des in Deutschland relativ neu eingeführten islamischen Religionsunterrichts an den öffentlichen Schulen entwickeln sich nach und nach religionspädagogische und fachdidaktische Modelle. Der Unterricht verweist auf seine Rahmung als ein Unterricht der konfessionellen Zugehörigkeit, so wie das zum Beispiel in Artikel 7 Absatz 3 des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland anmoderiert ist. Damit sind ja nicht nur die theologischen Inhalte in die Gestaltungsmacht der Religionsgemeinschaften verlegt, sondern eigentlich auch die Fragen der unterrichtlichen und unterweisenden Methodenlehre und letztlich auch der religionsgemeinschaftlichen Selbstorganisation. Gegen den gegenwärtig aber wieder zunehmenden ordnungspolitischen Druck, sich den von Seiten der staatlichen Akteure bevorzugten Strukturen anzupassen und damit die eigenen Traditionen gegen den Strich zu bürsten43, da ihnen ansonsten die Nobilitierung und Akkreditierung versagt bleiben, haben die weitgehend migrantisch orientierten islamischen Vereine noch wenig entgegenzusetzen.44 42 Zur Analyse der Bedeutung des Erzählens von Geschichten für das menschliche Verstehen und Handeln in Zusammenhang mit dem Phänomen der Zeit siehe Ricoeur 1988, 1989 und 1991. 43 Und das mit erheblichem Risiko, sich theologisch zu verbiegen – ein Aspekt, der von maßgeblichen Religionssoziologen wie José Casanova und anderen Autor*innen kritisch gesehen wird; vgl. vertiefend Casanova 1994 und Amir-Moazami 2016 und Asad 2003 und: Behr 2017 (The 3rd Scheme) und Berger 2017 (mit Bezug auf Berger 2014), weiter Hall 1983 und Berger 2012. 44 Siehe exemplarisch dazu den Konflikt zwischen der Hessischen Kultusministerium und dem DITIB Landesverband Hessen – hier die Pressemitteilung des HKM vom 5. Dezember 2017 zur partiellen Aussetzung des islamischen Religionsunterrichts und einer Fristsetzung an die DITIB, gleichsam ihre ›Hausaufgaben‹ als Religionsgemeinschaft zu machen (https://kultus
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Spannungen entstehen auch auf der Ebene der grundsätzlichen Ausrichtung des Unterrichts: Der Hang zu dogmatischen Überprägungen und die Absage an Diskursivität gründen weitgehend in kulturellen Verlustängsten dieser Gemeinschaften und nicht in theologischer oder religionspädagogischer Expertise. Auch die Frage, wie und mit welchen Kompetenzen im Unterricht auf den Koran zugegriffen werden darf, treibt gegenwärtig Kanzel und Katheder noch zu sehr auseinander. Dessen ungeachtet sollen hier verschiedene Zugriffsformen auf den Koran vorgestellt werden, die sich für die Erfassung der narrativen Dimension in ihrem exegetischen Spannungsfeld im islamischen Unterricht und in den Seminaren an der Universität gut bewährt haben – sowohl was die Desensibilisierung gegenüber dem kulturell kodierten und sozial habitualisierten Tabubruch des freien Denkens, Lesens und Redens der Schrift einerseits und die Neugier junger Muslim*innen auf neue Lesarten des Korans andererseits angeht. Diese an der Erschließung des Schriftsinns orientierten Lesarten werden an Hand der Koranstelle 2:102 – es geht um die beiden Engel Ha¯rut und Ma¯rut – exemplarisch und mit Blick auf die Formatgrenzen dieses Beitrags auf die wesentlichen Kontraste verkürzt vorgestellt: Der literale Schriftsinn orientiert sich an der Texttreue, es geht um den Wortlaut. Die Exegese knüpft daran an, dass Ha¯rut und Ma¯rut wirklich so heißen. Die beiden wurden geschickt, um die Menschen in Babylon zu prüfen und sie den Unterschied zwischen Zauberei und göttlichem Wunder zu lehren. Fazit: Engel sind Engel. Dieser Schriftsinn ist der unter muslimischen Studierenden und Schüler*innen am weitesten verbreitete, der auch die größten Probleme hinsichtlich der ethischen Orientierung mit sich bringen kann (etwa was spätantike patriarchale Geschlechtsrollen byzantinischer Prägung, zum Beispiel in 4:34–35, oder die Rechtfertigung von Gewalt zum Beispiel in Rechtsverfolgungskontexten oder von punativen Erziehungsstilen angeht). Der allegorische Schriftsinn orientiert sich an der Idee der literarischen Figur. Die Exegese deutet auf Ha¯rut und Ma¯rut als Sinnbilder, ähnlich der Art wie die Geschichte von Kain und Abel einen inneren Zwiespalt des Menschen zwischen dem, der er ist und der er sein will, darstellt – und hinsichtlich seiner Entscheidungen zum Nutzen oder Schaden. Fazit: Engel stehen für Zustände des Menschen. Der epische Schriftsinn deutet auf die Narrativität und blickt auf zusätzliche religiöse Erzählungen, auch auf den Nebengleisen anderer Religionen. Hinministerium.hessen.de/presse/pressemitteilungen/9?page=4, letzter Zugriff am 20. Januar 2018).
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sichtlich der Exegese spielt eine Rolle, dass Ha¯rut und Ma¯rut offenbar über die Menschen lästern. Gott schickt sie deshalb nach Babel mit dem Auftrag, besser zu sein. Sie versagen und müssen als gefallene Engel unter den Menschen weilen. Auf ähnliche Legenden verweisen die Bibel und andere Quellen, zum Beispiel 1 Mos 6,2–4, der Judasbrief 6, der zweite Brief des Petrus 2,4, die Henoch-Bücher oder der Midrasch Akbir. Fazit: Engel stehen für Charaktere. Der kritische Schriftsinn sucht nach Hintergrundinformation, was die historischen, soziokulturellen, psychosozialen, biografischen, kulturräumlichen oder anderen Kontexte angeht. Er ist in besonderem Maße auch an bezugswissenschaftlicher Klärung interessiert und damit anfällig dafür, Markierungen ausgesetzt zu sein, die normativen Setzungen Dritter entspringen, die sich selbst aber der Markierung entziehen (vgl. Amir-Moazami 2018). Das bedeutet die Notwendigkeit doppelter Kritik – etwa an der Literalität und gleichzeitig an den dominanzgesellschaftlichen Algorithmen ihrer Infragestellung. Für die Exegese gilt zum Beispiel folgende Alternative: Die Bezeichnungen Ha¯rut und Ma¯rut gehen auf zwei der sieben Allegorien (Amschaspand) des Zoroastrismus zurück: die Wahrhaftigkeit (Haurvata¯t) und die Langlebigkeit (Amereta¯t); ihr Vorkommen im Koran belegt ideengeschichtliche, kulturelle und sprachliche Entwicklungen. Fazit: Engelsvorstellungen sind ideengeschichtlich entstanden. Der intentionale Schriftsinn ist, wie oben mit Blick auf die Narrative von Vertreibung, Flucht und Migration schon beleuchtet, an der Durchsetzung ethischer Prinzipien orientiert. Das bedeutet für die Exegese: Ha¯rut und Ma¯rut veranschaulichen die Verantwortung des Menschen seinen Mitmenschen gegenüber. Engel zeigen das Gute, das ein Mensch einem anderen tut. In diesem Sinne stehen Engel für Haltung und Hand des Menschen. Der typologische Schriftsinn ist an der Verallgemeinerung orientiert. Er ist ähnlich dem allegorischen, im Unterschied zu ihm aber noch stärker auf die thetische Verdichtung aus. Die Exegese verdeutlicht dies: Ha¯rut und Ma¯rut stehen, so wie alle Engel, für die unmittelbare Wirkmacht und das Einschreiten Gottes; sie repräsentieren Haltung und Hand Gottes. Der anagogische Schriftsinn45 ist an der persönlichen Haltung des Individuums gegenüber Gott orientiert. Für die Exegese kann das bedeuten, dass Ha¯rut und Ma¯rut für die Hoffnung des Menschen stehen, dass er von Gott nicht alleine gelassen wird und dass es eine jenseitige Wirklichkeit gibt. Engel stehen 45 Vgl. zu diesem Begriff auch Krochmalnik 2017.
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also gleichsam für das Heilsversprechen der Religion. Hier werfen Schüler*innen in vielfältigen Variationen eine ihrer zentralen Anfragen an den islamischen Religionsunterricht auf: Können wir uns darauf verlassen, dass das mit der Religion wirklich funktioniert? Sie stellen, und das ist das Atemzentrum dieses Schriftsinns, die Vertrauensfrage. Der lyrische Schriftsinn schließlich ist auf das ästhetische Empfinden hinsichtlich der religiösen Inszenzierung46 ausgerichtet. Das bedeutet für die Exegese, dass Ha¯rut und Ma¯rut literarisch zu verstehen sind. Sie tauchen als Figuren im Rahmen etwa der kunstvollen Rezitation des Korans auf und tragen zum sinnlich-ästhetischen und spirituellen Erleben der Schrift im Kontext eines bestimmten Ritus oder einer bestimmten Zeit bei, zum Beispiel im Fastenmonat Ramadan. Ähnlich dem anagogischen Schriftsinn kann auch die Empfindung eine Rolle spielen, dass Engel physisch präsent sind und dass sie ihre Schutzfunktion offenbaren. Engel sind folglich lyrische Figurationen der subjektiven Imagination. Die initiale Frage danach, was der Mond wirklich weiß, ließe sich solchen Schriftsinnen zuführen. Der Koran ermutigt dazu. Immerhin reiht sich der Mond gemeinsam mit der Sonne und den Gestirnen in die Reihe der Betenden ein; was Josef diesbezüglich in seinem Traum in 12:4 sieht und was er seinem Vater Jakob berichtet, entfaltet seine eigene Wirksamkeit: »Ich sah elf Sterne, die Sonne und den Mond, und ich sah wie sie sich vor mir verneigten.« Diese Wirksamkeit wird zu Wirklichkeit im Sinne von Wahrheit dort, wo der Koran im Indikativ des Realen spricht, etwa in 22:18: »Alles in den Himmeln und auf der Erde verneigt sich (yasg˘udu) vor Gott: die Sonne, der Mond, die Sterne, die Berge, die Bäume, die Tiere – und viele der Menschen…«, und zwar »ob sie wollen oder nicht« (taucan wa ˙ karhan; 13:15). Damit ist klar: Der Mond ist in diesem Sinne willentlich dienstbar (musahhar; 7:54); er und die Sonne und alle Gestirne bleiben auf dem ihnen ˘˘ bestimmten Kurs (kullun fı¯ falakin yasbahu¯n). Wir wissen am Ende nicht, was der ˙ Mond wirklich weiß, aber es will scheinen, als verstünde er mehr als wir.
Literatur Amir-Moazami, Shirin: Der inspizierte Muslim: Zur Politisierung der Islamforschung in Europa, Transcript, Bielefeld 2018.
46 Zur Inszenierung als einem der fünf zentralen Kompetenzbereiche des islamischen Religionsunterrichts siehe vertiefend: Behr 2017 (Islam unterrichten) und Behr 2013.
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Uta Pohl-Patalong
Wenn biblische und biografische Fluchtgeschichten sich verweben. Bibliolog als Raum für Fluchterfahrungen
Narrative Zugänge erweisen sich als hilfreicher und sinnvoller Weg, sich mit dem häufig mit gravierenden Leiderfahrungen und Traumatisierungen verbundenen Thema Flucht auseinanderzusetzen, wie dieser Band in Theorie und Praxis zeigt. Narrativität umfasst dabei ganz unterschiedliche Genres von Geschichten: das Erzählen der eigenen Geschichte in einem von Sensibilität und Wertschätzung geprägten Rahmen, das Hören der Geschichten anderer, die Auseinandersetzung mit literarischen Fluchtgeschichten. Daran anschließend stellt sich im christlichen Kontext die Frage, ob auch die Beschäftigung mit biblischen Geschichten sinnvoll und hilfreich für diese Thematik sein kann, welche hermeneutischen Voraussetzungen gegeben sein müssen und ob und inwiefern der Bibliolog einen sinnvollen Ansatz dafür darstellt.
Biblische Geschichten im Kontext von Fluchterfahrungen? Für Menschen, die sich im jüdisch-christlichen Traditionszusammenhang begreifen, dürfte der Einsatz biblischer Geschichten sicherlich potenziell hilfreich sein. Gilt dies jedoch auch für die nicht-christlichen und mehrheitlich islamisch geprägten Menschen, die in den letzten Jahren Zuflucht in Deutschland gesucht haben? Für sie legt sich zunächst die Beschäftigung mit Erzählungen aus dem Koran näher. Umgekehrt ist dies kaum die Alternative, wenn Menschen, die sich als christlich begreifen, nach Möglichkeiten fragen, wie sie sinnvoll mit Menschen mit Fluchterfahrungen arbeiten können. Wenn sie dafür auf koranische Texte zurückgreifen würden, ohne nicht nur einen eigenen Bezug dazu, sondern auch fundierte Kenntnisse über Koranhermeneutik zu besitzen, wäre dies kaum angemessen. Es stellt sich daher aus christlicher Perspektive nur die Frage, ob biblische Texte eine mögliche Ressource für eine solche Arbeit bilden können – womit nichts über die Möglichkeiten der Arbeit mit anderen religiösen Texten durch Menschen dieses religiösen Kontextes ausgesagt ist.
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Unter der Voraussetzung, dass Menschen muslimischer oder auch anderer nichtchristlicher Überzeugung bereit sind, sich auf den Umgang mit biblischen Geschichten einzulassen, scheint es mir eine Frage der Ziele und damit verbunden des gewählten hermeneutisch-didaktischen Ansatzes zu sein, ob es sinnvoll, angemessen und hilfreich ist, biblische Texte zum Thema Flucht heranzuziehen. Die Ziele einer solchen Arbeit müssen strikt subjektorientiert sein und ausschließlich dem Wohl der Geflüchteten dienen. Jegliche auch noch so geringen missionarischen Anteile müssen ausgeschlossen sein. Dies ist vor allem eine Frage der inneren Haltung der Verantwortlichen, die Menschen in der Regel sensibel spüren – die sich aber auch aus ethischen Gründen verbietet. Ob Zugänge mit biblischen Texten hilfreich in der Arbeit mit Geflüchteten sind, muss sich letztlich im Prozess erweisen und unterliegt dem Urteil der Betroffenen. Es scheint sich m. E. jedoch zu lohnen, dies auszuprobieren, denn biblische Texte stellen offensichtlich einen narrativen Raum für menschliche Erfahrungen zur Verfügung, in dem »Ambivalenzen und Konflikte in Symbolen aufhebbar, ausdrückbar, bearbeitbar gemacht werden. Eigene Erfahrung kann sich dann wieder zu einer Geschichte verfestigen, die Sinnfindung ermöglicht.«1 Näher erläutert dies Hans-Martin Gutmann: »Die Bibel kann deshalb auf menschliche Lebenskonflikte bezogen werden, weil sie selber ein Buch voller Leben ist. In ihr kommen Ängste und Hoffnungen, Lebenszugewandtheit und tiefe Verzweiflung, Konflikthaftigkeit und Zur-Ruhe-Kommen zur Sprache, in verdichteten Erzählungen, bildhafter Rede, in gebundener sprachlicher Gestalt.«2 Diese Lebenserfahrungen werden in einer bestimmten Perspektive thematisiert. Menschen »werden eingeladen, ihr Leben heute zu leben, ohne sich in Sorge um die Zukunft zu verzehren und ohne sich von dunklen Bildern der Vergangenheit fesseln zu lassen«3. Die biblischen Texte enthalten Hoffnungsbilder und Hoffnungsperspektiven in einer transzendenten Dimension, die allen Menschen unabhängig von ihrer religiösen Zugehörigkeit und Orientierung gilt. Zudem thematisieren sie nicht nur an unterschiedlichen Stellen das Thema Flucht in unterschiedlichen Zusammenhängen, sondern Flucht ist ein ausgesprochen prominentes Thema in der Bibel:4 Der Gründungsmythos Israels, die Exoduserzählung, ist eine Fluchtgeschichte5 und das ›kleine Glaubensbekenntnis Israels‹ beginnt mit der Formulierung »ein umherirrender Aramäer war mein Vater« (Dtn 26,5). Mit eigenen Erfahrungen des Lebens in der Fremde werden 1 2 3 4 5
Scharfenberg 1990, S. 72. Gutmann 2005, S. 122. Ebd. Vgl. dazu Naumann 2017. »Es ist sehr auffällig, dass Israels Gründungsmythos, der sein Gottesverständnis zutiefst prägt, die Befreiung aus der Sklaverei, als Migrationsgeschichte von Flucht und Vertreibung erzählt und immer wieder erinnert wird« (Naumann 2017).
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auch die Schutzbestimmungen für Fremde in Israel begründet (»den Fremdling sollst du nicht bedrängen und nicht bedrücken«, Ex 22,20 und Lev 23,9). Vorrangig finden sich die Fluchtgeschichten in der Hebräischen Bibel (vgl. allerdings die Flucht der Familie Jesu nach Ägypten [Mt 2,13–15] und die Flucht der Jerusalemer Urgemeinde vor der Verfolgung des später zu Paulus werdenden Saulus [Apg 8,1f.]), da sich diese stärker erzählend lebensgeschichtlichen Erfahrungen widmet als die tendenziell auf die Beziehung zu Jesus von Nazareth konzentrierten Texte der griechischen Bibel. Gott wird in der Hebräischen Bibel deutlich als ein Gott, der Flüchtlingen hilft.6 Als hermeneutisch-didaktischer Zugang für eine solche Arbeit legen sich erfahrungsorientierte Ansätze nahe, die seit den 1970er Jahren zunächst vor allem im Rahmen der kirchlichen Erwachsenenbildung entwickelt wurden, von der aus sie in alle religionspädagogischen Kontexte einwanderten.7 Sie verstanden sich als kritisches Korrektiv zur Dominanz des historisch-kritischen Zugangs, dessen Wirkung als Entfremdung von den biblischen Texten empfunden wurde, insofern ihre Relevanz für die Subjekte in der rein historischen Betrachtungsweise verloren gegangen war. Kritisiert wurde zudem, dass die philologischen Methodenschritte exegetisches Fachwissen erforderten und wissenschaftlich nicht gebildete Menschen damit keinen Zugang entwickeln könnten. Dem gegenüber wurden Zugänge gefordert, entwickelt und erprobt, die das Subjekt und seine Erfahrung als konstitutiv für den Auslegungsprozess begriffen und die die Bedeutung des Textes für das Leben heute in den Vordergrund rückten.8 Theologische Grundlage dieser Ansätze ist die Überzeugung, dass die Bibel eine lebendige Geschichte Gottes mit den Menschen erzählt, die nicht abgeschlossen ist, sondern Menschen einlädt, sich mit ihr auseinanderzusetzen. Biblische und menschliche (individuelle wie kollektive) Geschichte können sich daher miteinander verweben und sich gegenseitig auslegen. Denn die biblischen Geschichten handeln von existentiellen Themen und Fragen, die Menschen aller Zeiten in irgendeiner Weise beschäftigen. Selbstverständlich thematisieren sie diese in einer historisch bedingten Form (die heute durchaus auch Irritationen hervorrufen kann), aber auf eine Weise, die Menschen offensichtlich bis heute anspricht und anregt. Dafür ist vermutlich die Tendenz der biblischen Texte hilfreich, statt definitive und abschließende Antworten auf menschliche Fragen zu liefern, Suchprozesse zu schildern und modellhaft zu zeigen, wie Menschen in 6 »Fluchtgeschichten der Bibel leben von der Hoffnung, dass Gott den Flüchtenden in ihrer prekären Lebenssituation beisteht« (Naumann 2017). 7 Zu einer Charakteristik der erfahrungsbezogenen Ansätze vgl. Pohl-Patalong 2014. 8 Wichtige Impulse dafür gingen von der Übersetzung des Buches des Nordamerikaners Walter Wink aus (vgl. Walter Wink 1976). Im deutschen evangelischen Kontext verbreiteten dann vor allem Sigrid und Klaus Berg diesen Ansatz mit etlichen Werken, die ihn sowohl reflektieren als auch mit diversen Methodenvorschlägen konkretisieren.
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ihrer Zeit und in ihrer Situation auf bestimmten Grundlagen mit diesen Fragen umgehen, wie sie zu Lösungen kommen und wie sich das Verhältnis von Transzendenz und Immanenz gestaltet. Gleichzeitig muss die Beschäftigung mit biblischen Fluchtgeschichten auf der persönlichen Ebene unterschiedliche Grade von Nähe und Distanz, von Einlassung und Abgrenzung ermöglichen, die auch während der Beschäftigung mit den Texten variieren kann – denn es kann sehr unterschiedlich sein und sich im Prozess auch verändern, wie nahe man das Erlebte in einem bestimmten Rahmen noch einmal an sich herankommen lassen und wie intensiv man sich damit auseinandersetzen will und kann. Zudem muss der gewählte Ansatz auch religiös diversitätsfähig sein, so dass Menschen mit anderen religiösen Überzeugungen wie auch mit einer nicht-religiösen Weltanschauung ebenso Zugang finden wie christlich geprägte.
Bibliolog als hermeneutisch-methodischer Ansatz Für diese Erfordernisse bietet sich nicht als einziger, aber als ein gut möglicher Zugang der Bibliolog an. Bibliolog ist ein relativ junger Zugang, der eine Begegnung zwischen biblischen Texten und Menschen über den Weg der Identifikation mit Rollenangeboten inszeniert.9 Die Teilnehmenden begeben sich in die Erzählwelt des Textes hinein und übernehmen probehalber bestimmte Perspektiven in ihm. Die Identifikation erfolgt dabei in einer bestimmten Situation, die als Szene deutlich wird und zu Reaktionen herausfordert. Dadurch wird die Begegnung mit dem biblischen Text in hohem Maße von der Dynamik des Textes geprägt (Dynamik verstanden in Übersetzung des griechischen Wortes dynamis sowohl als Handlungsverlauf als auch als Kraft). Sprachlich wird die Schwelle (englisch treshold) zum eigentlichen Bibliolog markiert durch die Worte »Sie sind …« oder »Ihr seid …«. Voraus gehen diesem enroling der Prolog, der den Spielraum für die Begegnung mit dem Text erläuternd eröffnet, und die Hinführung, die die Vorgeschichte des Textes erzählt, in die Szene hineinführt und zum Verstehen notwendige historische und sozialgeschichtliche Informationen narrativ vermittelt. Abgeschlossen wird der Bibliolog mit dem deroling, das die Identifikation beendet und die Teilnehmenden in die Gegenwart zurückführt und gegebenenfalls mit einem Epilog. Der gesamte Text wird dabei immer noch einmal gelesen. In den zugedachten Rollen finden die Teilnehmenden Antworten auf Fragen, die der Text aufwirft, aber nicht beantwortet: Was bewegt Eva letztlich dazu, der Schlange zu folgen und die Frucht zu essen? Wie erleben mittelbar Beteiligte ein Heilungsereignis? 9 Vgl. Pohl-Patalong 2013 und Pohl-Patalong / Aigner 2013.
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Die biblischen Texte in ihrer relativ kargen Erzählweise lassen etliche solcher Zwischenräume oder Leerstellen zwischen den Worten des Textes offen. In Anlehnung an die Terminologie antiker Rabbiner wird im Ansatz des Bibliologs vom ›weißen Feuer‹ der Zwischenräume gesprochen, das zwischen den Buchstaben des ›schwarzen Feuers‹, dem Wortlaut des Textes, lodert: »Die Torah, die Mosche gegeben wurde, ist in schwarzem Feuer auf weißem Feuer geschrieben, im Feuer besiegelt und von Feuer verhüllt.«10 Ein ›normales‹ Lesen oder Hören übergeht diese Leerstellen oder aber füllt sie unkritisch mit bestimmten Vorstellungen, die gerade Menschen, die mit biblischen Texten vertraut sind, (allzu) selbstverständlich erscheinen. Bibliolog verlangsamt hingegen die Lektüre und ermöglicht damit einen einerseits bewussten und andererseits für das Subjekt produktiven Rezeptionsprozess, in dem die lebensgeschichtlichen Erfahrungen zum Instrument der Deutung werden. Denn da die Texte keine Füllung der Leerstellen vorgeben, sind sie für vielfältige Deutungen offen. Bibliolog intendiert gerade keine unzulässige Psychologisierung des Textes, die zu wissen meint, wie sich die biblischen Gestalten original gefühlt oder was sie intendiert haben, was nicht zuletzt die über den historisch-kritischen Zugang gewonnenen Erkenntnisse übergehen würde, dass die biblischen Texte Konstruktionen sind, die nicht historische Begebenheiten abbilden, sondern mit bestimmten Anliegen erzählen. Dieser hermeneutische Zugang entspricht auch neueren exegetischen Ansätzen, nach denen die Deutungsoffenheit der Texte bewusst angelegt ist, um die Auseinandersetzung der Leser*innen mit ihnen zu fördern und sie im Rezeptionsprozess zu eigenständigen Stellungnahmen herauszufordern. »Die Texte der Hebräischen Bibel fordern in ihrer Vielstimmigkeit provozierend dazu heraus, in Auseinandersetzung mit ihnen eine eigene Position zu entwickeln. Leserinnen und Leser der Bibel sind damit in den Prozess der Sinnkonstitution hineingenommen und überbrücken in der produktiven Rezeption biblischer Texte den Abstand zwischen antiken Literaturen und gegenwärtigen theologischen Herausforderungen.«11
Die Mehrdeutigkeit biblischer Texte anzuerkennen, bedeutet in gewissem Sinne eine Abkehr von bestimmten christlich-theologischen Traditionssträngen und eine Wiederentdeckung anderer Traditionen. Während in den ersten Jahrhunderten des Christentums die aus seinen jüdischen Wurzeln stammende Freiheit unterschiedlicher Auslegungen und Deutungen nebeneinander noch stärker erkennbar ist (so stehen im Kanon der griechischen Bibel vier Evangelien nebeneinander, die weder harmonisiert werden noch im Streit um die ›richtige‹ Erzählung liegen), gewann bereits in den ersten Jahrhunderten die in der griechischen Philosophie beheimatete Suche nach einer eindeutigen Auslegungs-
10 Talmud Jeruschalmi, Traktat Schekalim 6,1. 11 Saur 2014, S. 142.
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wahrheit an Bedeutung, erkennbar beispielsweise an der Entstehung von Dogmen, die Aspekte der christlichen Lehre verbindlich für alle Gläubigen regelten und Andersglaubende als ›Ketzer‹ begriffen. In den letzten Jahrhunderten wuchs sukzessive die Akzeptanz von Pluralität und Mehrdeutigkeit, allerdings immer wieder gebrochen und von Gegenbewegungen gestört. Die gegenwärtige Gesellschaft nötigt zu einem konstruktiven Umgang mit Mehrdeutigkeit und Pluralität, denn sie ist selbst kulturell, weltanschaulich und in den Lebensentwürfen plural. Im hermeneutischen Zugang zu Texten allgemein trifft sich dieses Textverständnis mit Einsichten der Rezeptionsästhetik, die als hermeneutisches Denkmodell den Verstehensvorgang zwischen Mensch und Text erhellt.12 Danach erschließt sich der – immer mehrdeutige – Text den Rezipient*innen grundsätzlich, indem sie seine Leerstellen vor dem Hintergrund eigener Erfahrungen füllen. Während der fortschreitenden Lektüre experimentieren sie fortlaufend mit Sinn, der sich nach und nach erschließt. Die sich in diesem Zusammenhang nahe legende Frage lautet, ob eine grenzenlose Pluralität und Vieldeutigkeit nicht der Gefahr von Willkür und Beliebigkeit der Deutung von Texten erliegt – denn Texte können ja durchaus auch missdeutet und damit missbraucht werden. Im Rahmen der Rezeptionsästhetik wird daher auch die Frage nach den Grenzen der Interpretation thematisiert.13 Diese werden dem Ansatz folgend dann eingehalten, wenn die Texte in ihrer Eigendynamik ernst genommen würden und das Experimentieren mit Sinn immer wieder an diesen überprüft wird. Im Bibliolog entspricht dieser Einschränkung, dass sich der Handlungsbogen am (wörtlich zitierten) Textbestand orientiert und die an die biblischen Rollen gestellten Fragen ausdrücklich nur die im Text offen bleibenden Dimensionen berücksichtigen (Eva würde also nicht gefragt, ob sie die angebotene Frucht essen wird oder nicht, denn das erzählt der Text). Der im Bibliolog eröffnete Deutungshorizont bewegt sich ausschließlich in dem durch den Text eröffneten Spielraum des ›weißen Feuers‹. Abschließend hat nach jedem Bibliolog der Text als ›schwarzes Feuer‹ das letzte Wort, so dass die Differenz zwischen ›schwarzem Feuer‹ und ›weißem Feuer‹ deutlich wird. Umso größer ist das Deutungsspektrum innerhalb des ›weißen Feuers‹, also in der Füllung der Leerstellen, das der Bibliolog ermöglicht. Dieser Prozess ist unweigerlich immer auch von Lebenserfahrungen und biografischen Anteilen gespeist. Dies bedeutet nicht, dass man sich immer mit eigenen identischen Lebenserfahrungen in die Texte einträgt. Die Lebenserfahrungen können auch in konträrer Weise in die Deutungen einfließen, indem unerfüllte Sehnsüchte und Hoffnungen, nicht eingetroffene Befürchtungen oder kaum gelebte Eigenschaften den Rezeptionsprozess prägen. Auch diese gehören jedoch zum Subjekt und 12 Vgl. dazu u. a. Eco 1994. 13 Eco 2011.
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seinem Leben hinzu. Im Bibliolog verweben sich daher Lebenstext und Bibeltext auf vielfältige Weise miteinander. Wie dies genau geschieht, ist dabei von außen kaum und auch vom Subjekt selbst nur sehr bedingt erkennbar. Dadurch kann am Bibliolog in sehr unterschiedlichen Graden von Nähe und Distanz und in einem fluiden Spektrum teilgenommen werden. Methodisch wird dies durch die explizite Einladung erleichtert, in der Partizipationsform zwischen dem Aussprechen von für sich gefundenen Antworten und einer stillen Teilnahme zu wählen. Aber auch wenn die Deutungen ausgesprochen werden, wird dies als Äußerungen der biblischen Rolle charakterisiert, ohne dass transparent wird, wie deren Füllung von den biografischen Erfahrungen geprägt wird. Durch das sogenannte echoing, das Wiedergeben der Anliegen jeder Äußerung durch die Leitung, wird noch deutlicher unterstrichen, dass nicht das Individuum von sich spricht, sondern einer biblischen Gestalt seine Stimme leiht: »Ich, Eva, erlebe die Situation so …« oder »mich als eine junge Frau aus Kapernaum beschäftigt dabei vor allem …«. Dadurch, dass mehrere Teilnehmende ihre Antworten äußern und so unterschiedliche Füllungen der gleichen Rolle und Situation deutlich werden, erweitert sich gleichzeitig das Deutungsspektrum der Teilnehmenden. Ihr Zugang zur biblischen Erzählung auf der Basis ihrer Lebenserfahrungen wird ernst genommen als ein möglicher und legitimer – neben anderen, die als gleichermaßen möglich und legitim erachtet werden. Auch dafür ist das unterschiedslos wertschätzend formulierte echoing der Leitungsperson wichtig. Es gibt keine ›besseren‹, ›hochwertigeren‹ oder ›richtigeren‹ Füllungen der Rolle, sondern sie bleiben nebeneinander stehen als mögliche und legitime Varianten in der Überzeugung, dass es nicht das eine richtige Verstehen der Rolle, die eine richtige Interpretation der Situation gibt. In der Vielzahl der subjektiven Zugänge und Deutungen kann sich jedoch (immer partielles) Verstehen ereignen, Einsichten in den biblischen Text können gewonnen werden und Erkenntnisse wachsen. Der Text wird dabei jedoch nicht vollständig durchschaut oder gar ›verbraucht‹, sondern er bleibt immer größer als alle menschlichen kontextgebundenen Verständnisse und Deutungen. Gleichzeitig bereichert jede geäußerte Deutung das Verstehen des Textes und erweitert gleichzeitig potenziell den Horizont der anderen Teilnehmenden. Dabei kann auch die Empathie für andere Lebenserfahrungen, die zu anderen Verständnissen des Textes führen, gefördert werden (»ach, so kann man es auch sehen, wenn man aus anderen Erfahrungen kommt«). In diesem Ansatz ist der Bibliolog mit dem vor allem im deutschsprachigen Raum schon länger ansässigen Bibliodrama verwandt. Seine methodischen Spielregeln und seine stärkere Konzentration auf die sprachliche Form ermöglichen jedoch einen kürzeren zeitlichen Rahmen (ca. 15–30 Minuten in der Grundform), was den Bibliolog kompatibler für verschiedene Settings, besonders auch die Schule, macht. Der Bibliolog ist zudem stärker am ›schwarzen Feuer‹ als
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das Bibliodrama orientiert, während das Bibliodrama zwischen Text- und Selbsterkenntnis (in unterschiedlicher Schwerpunktsetzung) angesiedelt ist und tendenziell weniger innere Distanzierung ermöglicht (dies gilt jedoch nicht für die kleinen Formen des Bibliodramas, die sich gerade für die Schule in den letzten Jahren durchgesetzt haben)14. Urheber des Bibliologs ist der jüdische Nordamerikaner Peter Pitzele, der zusammen mit seiner Frau Susan Pitzele diesen Ansatz Mitte der 1980er Jahre entwickelte.15 Pitzele ist kein Theologe, sondern Literaturwissenschaftler und Psychodramatiker. Dies zeigt sich methodisch in der Nähe zum Psychodrama und in der Genauigkeit im Umgang mit dem Text, ebenso aber in der Unmittelbarkeit des Zugangs unabhängig von biblischen und theologischen Vorkenntnissen. Vor allem aber ist die jüdische Tradition rabbinischer Hermeneutik deutlich erkennbar: Pitzele versteht den Bibliolog als moderne Form des Midrasch, der jüdischen Auslegungsweise der Tora durch eine narrative Auslegung der offenen Fragen der Texte. Da Susan Pitzele anglikanische Christin ist, war der Bibliolog von Anfang an aber auch interreligiös ausgerichtet. Nach Europa kam der Bibliolog Ende der 1990er zunächst im Rahmen der Bibliodramaszene, von wo er sich mit bleibendem Kontakt zu dieser eigenständig entwickelte. Seit 2004 werden Bibliolog-Fortbildungen in Europa und mittlerweile von dort ausgehend auch in einigen Ländern Afrikas, Asiens und demnächst Südamerikas angeboten, die ca. 11.000 Menschen seitdem wahrgenommen haben. Diese Kurse haben insofern einen wichtigen Stellenwert, als der Ansatz des Bibliologs in der Durchführung komplex ist und etliche Fallstricke im Detail enthält, deren Missachtung zu gegenteiligen und durchaus destruktiven Effekten führen können. Es sei daher auch an dieser Stelle dringend davon abgeraten, den Bibliolog ohne den vorgängigen Besuch eines (viertägigen) Kurses anzuwenden.16
Bibliologe zu Fluchterzählungen gestalten Einen Bibliolog zum Thema Flucht zu gestalten, beinhaltet zunächst die Schwierigkeit, dass der Zugang des Bibliologs einer thematischen Festlegung seines Prozesses widerspricht: Ob für die Teilnehmenden in den Identifikationen 14 Vgl. zu den kleinen Formen die Themenhefte der Bibliodrama-Zeitschrift TextRaum 13 (2000) und 14 (2001). 15 Pitzele bezeichnete den Ansatz ursprünglich als Bibliodrama und verwendet den Begriff in den USA auch weiterhin, während die Begegnung mit der europäischen Bibliodramaszene deutlich machte, dass hier ein anderer Begriff sinnvoll ist, den Pitzele 1999 prägte (Pitzele 1998). 16 Jährlich gibt es ca. 35 Bibliolog-Grundkurse über den deutschsprachigen Raum verteilt, zu finden unter www.bibliolog.de.
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wirklich das Thema Flucht in den Vordergrund tritt oder ob möglicherweise eher die sozialen Beziehungen oder die Auseinandersetzung mit Neuem und Gewohntem oder die Frage nach der eigenen Identität in den Vordergrund treten, ist nicht abzusehen – und diese Offenheit ist auch gewünscht. Wählt man allerdings Texte, die Fluchterfahrungen thematisieren, dann bewegt sich jeder Auslegungsprozess einer konkreten Gruppe unweigerlich in diesem Themenkreis – und es ist umgekehrt erhellend, welche Aspekte dann im Rahmen einer Fluchterzählung zutage treten. Diese Offenheit ist auch deshalb wichtig, weil der Grad der Nähe und Distanz individuell bestimmt sein muss – die Gruppe soll sich dem Fokus von Fluchterfahrungen auch entziehen können. Ohnehin bleibt die Beschäftigung mit diesem Thema im Rahmen eines Bibliologs (aber auch bei jedem sonstigen Ansatz) für Menschen mit Fluchterfahrungen immer prekär und erfordert ein außerordentlich hohes Maß an Sensibilität und Kompetenz in der Begleitung potenziell traumatisierter Menschen. Bibliologe rufen eigene Erfahrungen wach, was schmerzhaft und emotional belastet sein kann und manchmal durchaus auch zu großer emotionaler Bewegung und Tränen führt. Geht man jedoch davon aus, dass es hilfreich für die Bewältigung belastender Erfahrungen ist, sie in einem geschützten Raum zu thematisieren und in größere Erzählzusammenhänge einzuordnen (s. u.), kann gerade der Bibliolog dafür eine Möglichkeit bieten: Die Erzählebene ist einer anderen Zeit und einem anderen Kontext entnommen, in die man sich mit seinen Erfahrungen hineinbegibt, jedoch in einer zugewiesenen Rolle, in einer Gemeinschaft von sich ebenfalls mit dieser Rolle identifizierenden Menschen, mit einer einen klaren Rahmen setzenden Leitung und einem haltenden Traditionszusammenhang. Die Erfahrung zeigt, dass im Bibliolog nicht selten Tränen fließen (und oft auch in der Beschäftigung von Texten, bei denen dies nicht unmittelbar zu erwarten ist), weil Erfahrungen wach gerufen werden und sich dabei etwas lösen kann. In der Regel empfinden Menschen dies als positiv, weil sie die ohnehin belastenden Erfahrungen in einem haltenden Rahmen und mit der angebotenen Distanz durch die Rolle bearbeiten können und selbst entscheiden können, wie viel sie von ihren biografischen Dimensionen in einem anschließenden Gespräch über das im Bibliolog Erlebte thematisieren können.17 Dennoch bleibt bei Menschen mit solchen Erfahrungshintergründen immer Vorsicht geboten, um keine Retraumatisierungen 17 So brach in einem Bibliolog zum Durchzug durch das Rote Meer (Ex 15) eine ältere Damen nicht nur in Tränen aus, sondern zeigte auch deutliche körperliche Symptome einer Traumatisierung, die dann erzählte, sie wäre als Kind eine der wenigen Überlebenden des 1945 bombardierten Flüchtlingsschiff »Gustlow« gewesen, worüber sie all die Jahrzehnte nie gesprochen hätte. Sie konnte dies in der Gruppe thematisieren und empfand dies als für sie außerordentlich wertvolle Möglichkeit, nach vielen Jahrzehnten diese traumatische Erfahrung in einem geschützten Rahmen anzusprechen.
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wachzurufen. Wer mit Geflüchteten bibliologisch zu Fluchtgeschichten arbeiten möchte, sollte daher sowohl Erfahrungen in der Arbeit mit Geflüchteten als auch eine (in anderen Konstellationen) erworbene Vertrautheit mit dem Bibliolog nach dem Besuch eines Kurses erworben haben.
Bibliologe zu Fluchterzählungen – drei Beispiele Abschließend sollen modellhaft drei mögliche Bibliologe zu biblischen Fluchtgeschichten entworfen und jeweils dahingehend kommentiert werden, welche Räume sie zu Aspekten von Fluchterfahrungen eröffnen könnten. Dabei werden die Bibliologe nicht vollständig mit Prolog, Hinführung und Deroling ausgeführt, sondern ich beschränke mich nach einigen Hinweisen, was in der Hinführung vorab vermittelt wird, auf die Bibelstellen, die vor der jeweiligen Rollenzuweisung gelesen werden und nenne dann das jeweilige Rollenangebot und die Frage an die biblische Gestalt.18 Ausgewählt wurden drei Texte zu unterschiedlichen Stationen im Prozess der Flucht (idealtypisch verstanden):19 Gen 12 thematisiert ausführlich die Entscheidung zum Aufbruch und schlägt einen Bogen bis zum Ankommen, Ex 16 führt in eine Situation unterwegs mit (erneuter) existenzieller Bedrohung und der Rettung aus ihr hinein und Ruth 1 legt einerseits den Fokus auf die Entscheidung zur Rückkehr in die ursprüngliche Heimat und kehrt andererseits die Perspektive um, insofern eine nicht bedrohte Person freiwillig aus persönlicher und religiöser Verbundenheit heraus ihre Heimat verlässt.
18 Als Übersetzung wähle ich die Bibel in gerechter Sprache, nicht nur, weil diese sich um sprachliche Sensibilität gegenüber Angehörigen anderer Religionen und Menschen weiblichen Geschlechts bemüht, sondern auch aufgrund ihrer Nähe zum hebräischen Text. Die in dieser Übersetzung unterschiedlichen Gottesprädikate ersetze ich jedoch um einer besseren Verständlichkeit willen durch das einheitliche Gottesprädikat. 19 Vgl. zu diesen drei Stationen Thomas Naumann: »Fluchtgeschichten haben es tendenziell mit drei unterschiedlichen Räumen und Situationen zu tun: Der Ausgangssituation am vertrauten Ort, die aber für die Betreffenden so überlebensschwer geworden ist, dass sie das Wagnis der Flucht einzugehen gezwungen sind. Zum zweiten die Gefahren und Unsicherheiten des Weges, auf dem man Nahrung, Schutz und Hilfe braucht, um auch nur weiterzukommen, zum dritten der Raum des Ankommens, die Problematik der Aufnahme, der Status, die Begegnung mit den Ortsansässigen, das Überleben am fremden Ort usw. In all diesen drei Räumen, Stationen spielen Ängste, Hoffnungen, Meinungen eine Rolle, also Reflexionen der Situation durch die Betroffenen« (Naumann 2017). Die ›Murrgeschichte‹ und das Buch Ruth werden von Naumann auch als solche Stationen reflektiert.
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»Geh los!« – ein Bibliolog zu Genesis 12 In der Hinführung muss in die Situation Abrams (der später als Abraham bekannt wird) eingeführt werden, sowohl in seine Lebensweise als den Nomaden zugehörig, die gleichwohl ein festes Weidegebiet als ihre Heimat hatten, als auch in die spezifische Konstellation: Sein Vater Terach war mit Abram, dessen Frau Sarai (der späteren Sarah) und seinem Neffen Lot in Richtung Kanaan aufgebrochen. Die Familie war jedoch quasi auf halbem Wege in Haran geblieben, wo Terach starb. Erwähnt werden muss auch, dass die Ehe von Sarai und Abram bisher kinderlos geblieben war und was dies in der altorientalischen Gesellschaft bedeutete (sonst wird die Bedeutung der Verheißung eines großen Volkes nicht ersichtlich); ebenso, dass der Vater Lots früh verstorben war und von seiner Mutter oder möglichen Geschwistern nichts berichtet wird (sonst ist die Situation Lots nicht klar). Dann wird Genesis 12, 1 gelesen: Da sprach Gott zu Abram: »Geh los! Weg aus deinem Land, aus deiner Verwandtschaft, aus deinem Elternhaus in das Land, das ich dich sehen lasse«.
»Ihr seid Abram. Abram, was ist deine erste spontane Reaktion, als du von Gott diese Worte hörst …« (die Gottesrede wird im Wortlaut wiederholt)? Diese erste Identifikation bietet die Möglichkeit, unterschiedliche Reaktionen und Gefühle auf die Aufforderung (von wem auch immer diese kommt) zu Wort kommen zu lassen im emotionalen Spektrum zwischen Abwehr und Zustimmung, Entsetzen und Erleichterung. Auch die Frage, ob das Verlassen der Heimat sein soll bzw. muss, kann mitschwingen. Nach den Äußerungen der Teilnehmenden folgt: »Danke, Abram. Gott spricht aber noch weiter und Abram hört auch noch die folgenden Worte«: (Genesis 12,2–3) »Ich werde dich zu einem großen Volk machen und dich segnen und deinen Namen groß machen. Werde so selbst ein Segen! Ich will segnen, die dich segnen; wer dich erniedrigt, den verfluche ich. In dir sollen sich segnen lassen alle Völker der Erde.«
»Abram hört, dass seine Nachkommen der Anfang eines großen Volkes sein werden und Gott ihn gesegnet hat. Mit diesem Segen soll er zu einem Segen für andere werden, auch für fremde Völker. Ihr seid noch einmal Abram: Abram, wie ist das für dich, das zu hören?« Diese Stelle lenkt den Blick auf das Leben im neuen Land. Die Perspektive ist hier, dort eine Familie zu gründen, deren Heimat das neue Land werden kann. Die Segensverheißung eröffnet den Horizont, dass ich im neuen Land nicht nur Fremde*r bin, sondern auch etwas zu geben habe. Die »Völker der Erde« bieten den Gedanken an, das Gegenüber ich/wir und die anderen zu überwinden. Die
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offene Frage, wie es für Abram ist, das zu hören, bietet die Möglichkeit, sich zu dieser Perspektive in unterschiedlicher Weise zu verorten; sie kann ebenso radikal abgelehnt wie als Zusage für sich angenommen werden. Nach den Äußerungen der Teilnehmenden folgt: »Danke, Abram. Was auch immer er gedacht und gefühlt hat – er bricht auf.« (Genesis 12,4–6a) Da ging Abram los, wie Gott ihm gesagt hatte, und Lot ging mit ihm. Abram war 75 Jahre alt, als er aus Haran auszog. Abram nahm seine Frau Sarai und Lot, den Sohn seines Bruders, und alle Habe, die sie erworben hatten, und die Leute, die sie in Haran gewonnen hatten, und sie zogen aus, um in das Land Kanaan zu gehen.
»Abram geht nicht allein. Er nimmt seine Frau Sarai und seinen Neffen Lot mit und alle Knechte und Mägde, die für sie arbeiten. Ebenso nehmen sie ihren gesamten Besitz mit. Ihr seid Sarai, Abrams Frau. Sarai, dein Mann dir erzählt, dass Gott ihm gesagt hat, dass er gehen soll und du gehst mit ihm. Mit welchen Gedanken und Gefühlen brichst du auf ? Was ist für dich in diesem Moment wichtig?« Diese Rolle fokussiert auf die Schwellensituation des Verlassens und bietet Raum für den damit verbundenen Schmerz und Verlust, aber auch für mögliche Gefühle der Erleichterung – auch die eigenen Ambivalenzen und Widersprüche dazu können deutlich werden. Diese Situation wird verbunden mit der Perspektive einer Frau, die ›mitgenommen‹ wird. Sie hat offensichtlich den Ruf nicht selbst gehört und es bleibt offen, was genau ihr mitgeteilt wurde und ob sie in irgendeiner Weise an der Entscheidung aufzubrechen beteiligt war. Damit wird die Möglichkeit zu einer Artikulation der Perspektive, die nicht selbst entscheiden konnte, eröffnet. Gleichzeitig wird die Aufmerksamkeit auf die Beziehungen der Aufbrechenden untereinander gelenkt mit allen Aspekten zwischen Vertrauen und Nähe sowie Protest und Entfremdung. Nach den Äußerungen der Teilnehmenden folgt: »Danke, Sarai. Wie lange sie auch immer unterwegs waren und was immer unterwegs geschehen ist – letztlich kamen sie an ihr Ziel.« (Genesis 12, 6b) … und sie kamen in das Land Kanaan.
»Ihr seid jetzt Lot, der Neffe von Abram und Sarai, der einzige der jüngeren Generation aus der Familie. Lot, du bist mitgegangen, aus welchen Gründen auch immer. Mit deinem Onkel und deiner Tante kommst du nun an in dem Land, das euer Ziel war. Lot, was beschäftigt dich im Blick auf das Land, in dem du nun leben sollst?« Die letzte Identifikation schließlich gibt der Perspektive der mitgehenden jüngeren Generation Raum, möglicherweise zwischen dem Privileg mitzudürfen und dem Zwang mitzumüssen oder auch, keine Alternative zu sehen. Die Bedeutung des Familienverbandes kann thematisiert werden. Gleichzeitig wird die
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Situation des Ankommens eröffnet und damit die Frage, welche Zukunft dort wartet, und ob es einen Platz für die Ankommenden geben wird. Diese Rolle eröffnet potenziell das Bewusstsein einer doppelten Neuorientierung sowohl in entwicklungspsychologischer Sicht als auch durch das Ankommen in einem neuen Kontext mit seinen Chancen einerseits und den enormen Verunsicherungen andererseits. Auch Lot wird nach den Äußerungen der Teilnehmenden gedankt, anschließend wird der Bibliolog mit einem Hinweis auf das weitere Geschick der Familie in Kanaan und einigen abschließenden Worten beendet, die Teilnehmenden werden aus den Rollen entlassen und der Text wird noch einmal gelesen.
»Da saßen wir bei vollen Fleischtöpfen…« – ein Bibliolog zu Exodus 16 Die Hinführung muss die Sklaverei der Israeliten als fremdes Volk in Ägypten thematisieren und seine Bitten an seinen Gott, sie daraus zu retten. Die Rollen von Mose und Aaron müssen eingeführt werden, die Schwierigkeiten, gehen zu dürfen und die Umstände der Flucht aus Ägypten. Der Bibliolog setzt ca. sechs Wochen, nachdem sie Ägypten verlassen haben, ein. (Exodus 16, 1–3) Von Elim brachen sie auf – die ganze Gemeinde Israel – und kamen in die Wüste Sin; die liegt zwischen Elim und dem Berg Sinai. Es war am 15. Tag des zweiten Monats, gezählt vom Auszug aus Ägypten an. Wieder murrte die ganze Gemeinschaft Israel gegen Mose und Aaron dort in der Wüste. Sie sagten zu den beiden: »Er hätte uns doch auch in Ägypten töten können; da saßen wir bei vollen Fleischtöpfen und hatten genug Brot zu essen. Aber ihr habt uns hierher in diese Wüste geführt, damit die ganze Gemeinde verhungert.«
»Ihr seid eine Frau aus dem Volk, nennen wir sie Schoschana. Schoschana, du beschwerst dich wie alle anderen auch bei Mose und Aaron, dass sie euch aus Ägypten in diese Wüste geführt haben, wo es nichts zu essen gibt. Was schwingt bei deinem Murren alles mit an Gedanken und Gefühlen? Was ärgert oder ängstigt dich vor allem?« Die Rolle und der Text insgesamt lenken den Blick auf die Situation, die unerträglichen Zustände verlassen zu haben, aber in eine ebenfalls unerträgliche Situation geraten zu sein, in der das Verlassene schon wieder als die relativ bessere Alternative erscheint. Solche Idealisierungen der ›alten Heimat‹ sind nicht fernliegend. Hier wird Raum für solche schmerzhaften Gefühle und Gedanken gegeben einschließlich der Frage, ob die Entscheidung zur Flucht richtig war – was nicht immer eindeutig zu beantworten sein dürfte. Gleichzeitig eröffnet die Rolle Raum für die innere Haltung gegenüber Menschen, die zur Flucht ermutigt, diese organisiert und die Verantwortung dafür übernommen haben.
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Gerade Wut, Zorn und Enttäuschen dürfen in den biblischen Rollen formuliert werden. Nach den Äußerungen der Teilnehmenden folgt: »Danke, Schoschana. Mose und Aaron hören die Vorwürfe – und reagieren ihrerseits. Ihr seid jetzt Aaron: Aaron, wie ist das für dich, dass das Volk das so sagt?« Mit dieser Identifikation wird die Perspektive gewechselt auf der Seite derjenigen, die Verantwortung für die Flucht und ihr Gelingen übernommen haben. Selbst wenn sie in bester (und nicht kommerzieller) Absicht gehandelt haben, liegt vieles nicht in ihrer Hand. Ein Spektrum von Enttäuschung über das ›undankbare‹ Volk, Verständnis für dieses, eigene Sorge etc. können geäußert werden. Nach den Äußerungen der Teilnehmenden folgt: »Danke, Aaron. Nicht nur Mose und Aaron hören das Volk, sondern auch Gott. Und der reagiert folgendermaßen:« (Exodus 16,11–12)20 Gott sprach daraufhin zu Mose: »Ich habe das Murren der Gemeinde Israel gehört.« Sage ihnen: »Gegen Abend bekommt ihr Fleisch zu essen, am Morgen sollt ihr euch an Brot sättigen. Ihr sollt einsehen, dass Ich da bin, euer Gott.«
»Ihr seid Mose. Mose, was ist deine allererste Reaktion, als du hörst, wie Gott auf das Murren des Volkes reagiert?« Die Rolle bleibt bei der Perspektive der Verantwortlichen, führt nun aber die Beziehung zu Gott ein. Gott wird nicht nur als verständnisvoll geschildert, sondern als Helfer und Retter auf der Flucht. Die Dimension des Vertrauens, auch in dramatischer Situation bewahrt zu werden, wird als Möglichkeit eröffnet – was immer die mit dem Stichwort Theodizee bezeichnete Gefahr einschließt, nicht gerettet zu werden. Hier jedoch erfolgt Hilfe und Rettung sofort und konkret – wie es sich Menschen in solchen Situationen wünschen dürften. Nach den Äußerungen der Teilnehmenden folgt: »Danke, Mose. Was Gott zugesagt hat, tritt ein.« (Exodus 16,13–15) Abends kamen Wachteln geflogen und bedeckten das Lager; am nächsten Morgen schlug Tau sich rings um den Zeltplatz nieder. Als der Tau verdunstete, blieb auf dem Wüstensand etwas Feines, Flockiges, wie feiner Raureif, übrig. Die Leute sahen es und riefen einander zu: »Was ist denn das?« Sie kannten das Zeug nicht. Mose klärte sie auf: »Das ist das Brot, das Gott euch zur Nahrung gibt.«
20 Es bietet sich hier an, die vermutlich durch redaktionelle Vorgänge bedingte Doppelung der Gottesrede an Mose und die Weitergabe der Information an das Volk wegzulassen, weil diese im Bibliolog verwirren und vom Geschehen ablenken würde. Damit fällt auch der Vorgriff auf das Verbot der Vorsorge und das Sabbatgebot, die dann ab Vers 16 zum Thema werden, weg. Dies ist ein anderer Gedankenkomplex, der ebenfalls spannend zu thematisieren wäre, jedoch den Rahmen der Auseinandersetzung mit einer ›Murrgeschichte‹ auf dem Weg der Flucht sprengen würde.
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»Ihr seid Nahor, ein Jugendlicher. Nahor, du sammelst mit anderen zusammen die Wachteln und das Brot ein. Was bewegt dich dabei, während du das tust?« Eingeladen wird mit dieser Szene, den Gefühlen und Gedanken bei einer eingetroffenen Zusage einer Rettung nachzugehen – mit den möglichen Ambivalenzen, die diese haben kann. Auch die eigenen Hoffnungen und Sehnsüchte dürfen in der Auseinandersetzung mit Fleisch und Brot als Symbol für die umfassende Versorgung mit dem, was man zum Leben braucht, Raum bekommen. Dafür wird die Perspektive eines Jugendlichen angeboten, die den Teilnehmenden besonders nahe sein dürfte. Auch Nahor wird nach den Äußerungen der Teilnehmenden gedankt, anschließend wird der Bibliolog mit einem Hinweis auf das weitere Geschick der Israeliten und einigen abschließenden Worten beendet, die Teilnehmenden werden aus den Rollen entlassen und der Text wird noch einmal gelesen.
»Da machte sie sich auf, um zurückzukehren…« – ein Bibliolog zu Ruth1 Vorbemerkung: Ein Bibliolog zu diesem Text wäre auch gut vorstellbar mit einem Fokus auf den ersten Versen und damit auf der Entscheidung Noomis, vor dem Hunger von Juda nach Moab zu fliehen und dort zu leben und den dortigen Erfahrungen der Familie zwischen Verlust durch den Tod des Mannes, Hoffnung auf neues Leben durch die Heiraten und erneutem Verlust durch den Tod der Söhne. Um noch einmal eine andere Dimension der Fluchtthematik bibliologisch zu erfassen, soll hier jedoch eine Konzentration auf die Rückkehr Noomis in die alte Heimat und die Entscheidungen ihrer Schwiegertöchter, in der Heimat zu bleiben und sie zu verlassen, erfolgen. In diesem Fall muss die Hinführung diese Vorgeschichte erzählen. Gleichzeitig muss die rechtliche, soziale und wirtschaftliche Situation von Frauen in der altorientalischen Gesellschaft geklärt werden. Der eigentliche Bibliolog beginnt dann mit Ruth 1,6: (Ruth 1,6.7a) Da machte sie sich mit ihren Schwiegertöchtern auf, um aus den Feldern Moabs zurückzukehren, denn sie hatte in den Feldern Moabs gehört, dass sich Gott des Gottesvolkes angenommen habe und ihm Brot gebe. Gemeinsam mit ihren beiden Schwiegertöchtern zog sie weg von dem Ort, an dem sie gelebt hatte.
»Ihr seid Noomi. Noomi, du hat jetzt viele Jahre in Moab gelebt. Hier ist dein Mann gestorben, deine Söhne haben geheiratet und sind dann ebenfalls gestorben. Nun entscheidest du dich, dorthin zurückzukehren, von wo ihr einst aufgebrochen seid. Noomi, was bewegt dich zu diesem Entschluss?« Diese Rolle und Frage nimmt das sich in manchen Lebenssituation nach äußerlich ›geglückter‹ Flucht stellende Thema auf, ob es Situationen und Zeiten
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gibt, in der eine Rückkehr sinnvoll und angebracht ist. In der Identifikation mit einer Person, die diese Entscheidung zur Rückkehr gerade getroffen hat, kann diese Perspektive probehalber eingenommen und ausgelotet werden. Die schließt die Frage ein, ob und in welcher Weise die neue Existenz (nicht) zur Heimat geworden ist und was das bedeutet. Nach den Äußerungen der Teilnehmenden folgt: »Danke, Noomi. Die beiden Schwiegertöchter sind offensichtlich zunächst mit Noomi aufgebrochen. Nun aber geschieht Folgendes:« (Ruth 1,7b–11.13b–14) Als sie sich auf den Weg machten, um in das Land Juda zurückzukehren, sagte Noomi zu ihren beiden Schwiegertöchtern: »Geht! Kehrt zurück, eine jede in das Haus ihrer Mutter. Möge Gott euch Wohltaten erweisen, wie ihr sie den Toten und mir erwiesen habt. Gott möge euch geben, dass ihr Ruhe findet, eine jede im Haus ihres Mannes.« Und sie küsste sie. Da erhoben sie ihre Stimmen einstimmig und weinten. Sie sprachen zu ihr: »Nein, mit dir wollen wir zu deinem Volk zurückkehren.« Und Noomi entgegnete: » Kehrt doch zurück, meine Töchter! Warum wollt ihr mit mir gehen? Habe ich etwa noch Söhne in meinem Mutterleib, die eure Männer werden könnten? Nicht doch, meine Töchter. Es ist mir bitter Leid um euch, da die Hand des Einen sich gegen mich gerichtet hat.« Da erhoben sie ihre Stimmen einstimmig und weinten erneut, dann küsste Orpa ihre Schwiegermutter zum letzten Mal.
»Ihr seid nun Orpa. Orpa, du entscheidest dich jetzt doch, den Worten deiner Schwiegermutter zu folgen und nicht mit ihr mitzugehen, sondern nach Hause zurückzukehren. Du weinst und küsst sie zum letzten Mal, dann wirst du gehen. Orpa, was bewegt dich alles dabei, als du sie jetzt zum Abschied küsst?« Diese Identifikation führt einerseits in eine Abschiedssituation mit ihren Aspekten von Verlust und Trauer, möglicherweise aber auch mit der Befreiung von Verpflichtung. Andererseits wird eine Rolle einer aktiven Entscheidung gegen das Verlassen der Heimat und gegen eine Bindung an eine zu versorgende Person eröffnet zugunsten eines möglicherweise selbstbestimmteren Lebens. Nach den Äußerungen der Teilnehmenden folgt: »Danke, Orpa. Orpa kehrt also um. Ruth jedoch reagiert anders.« (Ruth 1,14a–17) Ruth jedoch hängte sich an sie. Noomi entgegnete: »Sieh’ doch, deine Schwägerin kehrt zu ihrem Volk und zu ihrem Gott zurück. Folge deiner Schwägerin.« Darauf sagte Ruth: »Bedränge mich doch nicht, dich zu verlassen, mich von dir abzuwenden. Denn wo auch immer du hingehst, da gehe ich hin, und wo auch immer du übernachtest, da übernachte auch ich. Dein Volk ist mein Volk, dein Gott ist mein Gott. Wo du stirbst, da sterbe ich, dort will ich begraben werden. Gott tue mir alles Mögliche an, denn nur der Tod wird dich und mich trennen!«
»Ihr seid Ruth. Ruth, du lässt dich nicht überzeugen, zurückzugehen, sondern bestehst darauf, deine Heimat zu verlassen und mit Noomi in ihre Heimat zu gehen – ihr Gott soll auch dein Gott sein. Ruth, mit welchen Gedanken und Gefühlen sprichst du diese Worte?«
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Mit dieser Frage wird die Gelegenheit gegeben, einerseits Gefühle zwischen Nähe und Zuneigung zu (entfernteren) Verwandten und der Verpflichtung ihnen gegenüber zu thematisieren, die Entscheidungen, zu gehen und zu bleiben, beeinflussen. Gleichzeitig kann das Verhältnis von offen kommunizierten und verborgenen Motiven bei solchen Entscheidungen angesprochen werden. Nach den Äußerungen der Teilnehmenden folgt: »Danke, Ruth. Noomi akzeptiert dies.« (Ruth 1,18–19a) Als Noomi sah, dass sie darauf beharrte, mit ihr zu gehen, hörte sie auf, ihr zuzureden. So gingen die beiden, bis sie nach Bethlehem kamen.
»Ihr seid noch einmal Noomi. Noomi, du gehst nun zusammen mit deiner einen Schwiegertochter den Weg zurück in deine alte Heimat. Was bewegt dich alles dabei?« Die letzte Rolle führt in das vermutlich große Spektrum von Gefühlen im Blick auf eine Rückkehr, von der Freude darauf, nicht mehr fremd zu sein, bis zur Schande, mit leeren Händen zurückzukehren. Auch die Gefühle gegenüber der Begleitung durch eine nun ihrerseits Fremde mögen sehr verschieden sein. Auch Noomi wird nach den Äußerungen der Teilnehmenden gedankt, anschließend wird der Bibliolog abgeschlossen, die Teilnehmenden werden aus den Rollen entlassen und der Text wird noch einmal gelesen. Ob und wie solche und andere Bibliologe Menschen mit Fluchterfahrungen dienen, muss sich letztlich in der Praxis erweisen – die Chancen scheinen mir jedoch groß.
Literatur Eco, Umberto: Lector in fabula. Die Mitarbeit der Interpretation in erzählenden Texten, 3. Auflage, München 1998. Eco, Umberto: Die Grenzen der Interpretation, 3. Auflage, München 2011. Gutmann, Hans-Martin: Und erlöse uns von dem Bösen. Die Chance der Seelsorge in den Zeiten der Krise, Gütersloh 2005. Iser, Wolfgang: Der Akt des Lesens. Theorie ästhetischer Wirkung, 4. Auflage, Göttingen 1994. Naumann, Thomas: Flucht als Thema der Bibel. Exegetische Anregungen für eine migrationssensible Bibeldidaktik (unveröffentlichter Vortrag auf der Tagung der Gesellschaft für wissenschaftliche Religionspädagogik am 13. 9. 2017 in Wien). Pitzele, Peter A.: Scripture Windows. Toward a Practice of Bibliodrama, Los Angeles 1998. Pohl-Patalong, Uta: Bibliolog. Impulse für Gottesdienst, Gemeinde und Schule, Bd. 1: Grundformen, 3. Auflage, Stuttgart 2013. Pohl-Patalong, Uta / Aigner, Maria Elisabeth: Bibliolog. Impulse für Gottesdienst, Gemeinde und Schule, Bd. 2: Aufbauformen, 2. Auflage, Stuttgart 2013.
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Pohl-Patalong, Uta: Lebensrelevante Lektüre? Zur Hermeneutik erfahrungsbezogener Zugänge zur Bibel, PrTh 49 (2014) 158–165. Saur, Markus: Dialog als Prinzip. Alttestamentliche Texte und ihre Deutungsoffenheit in der neueren exegetischen Diskussion, PrTh 49 (2014) 136–142. Scharfenberg, Joachim: Pastoralpsychologie, 2. Auflage, Göttingen 1990. Wink, Walter: Bibelauslegung als Interaktion. Über die Grenzen historisch-kritischer Methode, Stuttgart u. a. 1976.
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Biografisches Theater: Ausblicke, Einblicke und Perspektiven zur kreativ-narrativen Be- und Verarbeitung von Lebensgeschichte(n) im Kontext von Flucht und Migration
Hilf mir, dass mein Sturm sich legt, Dass meine Flucht endet und weicht, Leih mir einen Mantel, einen Weg, Dass mir eine Richtung bleibt, Und halt mich warm Mit deinem Feuerlicht, Und halt mich warm Und vergiss mich nicht (…) Ich such keine grüne Wiese, Suche einen sicheren Platz, Für meine Ideen und meine Kraft Eine Hand. Auszug Lied »Feuerlicht« von Herbert Grönemeyer (2014)
Die Geschichte des jungen Said1: Der junge Flüchtling Said erzählte von seiner Flucht nach Deutschland im Rahmen eines Begegnungsabends in einem Wiesbadener Stadtteil. Hier lebt er in einer Einrichtung für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge, besucht eine Schule und wird von einem deutschen Ehepaar unterstützt. Er wurde als 11jähriger von seiner Mutter aus Äthiopien fortgeschickt, verbunden mit der Hoffnung auf sein Überleben und eine bessere Zukunft. Der Vater und die Geschwister waren tot, sie wurden im dortigen Bürgerkrieg von der Miliz erschossen. Er war alleine auf der Flucht, mit 11 Jahren. Über den Sudan, den Tschad und Libyen gelangte er schließlich nach Italien. Von dort nahm ihn eine Helferin im Bus mit nach Deutschland. Seine Flucht war geprägt von Leid, Not, Gewalt und Ausbeutung. Nicht nur einmal war sein Leben bedroht. Es ist die Kurzversion einer unfassbaren Geschichte, die unsere kühnsten Vorstellungen übersteigt.
1 Name anonymisiert.
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Wie erzählen im Kontext von Flucht und Migration? Wie kann es gelingen, durch die narrative Be- und Verarbeitung (prekärer) Lebenslagen, die von Flucht und Migration geprägt sind, Geschichten zu erzählen oder auch, Geschichten zu ver-wandeln? Wie kann es gelingen, auch gute Geschichten, bzw. die Guten Geschichten zu erzählen? In diesem Beitrag wird die biografische Theaterarbeit als kreativ-künstlerische Auseinandersetzungen zur narrativen Be- und Verarbeitung von Lebens-Geschichten vorgestellt. Dem Erzählen der Lebens-Geschichte(n) einen bestimmten Rahmen zu geben, bedeutet eine besondere, hier eine künstlerische und ästhetische Perspektive auf das Narrative zu eröffnen. Neben den erzählten Geschichten spielen die gewählten Künste eine Rolle im Hinblick auf das Wie der Narration. Die Ver- und Bearbeitung durch die kreativ-künstlerische Arbeit macht gleichsam eine Verund Bearbeitung der Geschichten selbst möglich, neue und andere Räume für Bedeutungen und Deutungen der Geschichten werden eröffnet. Dabei kommt, neben dem eigentlichen Prozess der Bearbeitung, vor allem auch dem Produkt, beispielsweise einem Theaterstück, eine besondere Bedeutung zu. In den Künsten selbst findet sich die Auseinandersetzung mit dem Anderen, mit dem Fremden. »In Bildung und Kunst zeigt sich das Andere, macht sich das Andere hörbar, fühlbar, kurz: wahrnehmbar und erfahrbar.«2 Durch das Erzählen können Menschen sich ihrer selbst gewiss werden. Man wird gleichsam zum Erforscher seiner selbst. Die Menschen erzählen von sich selbst und entscheiden dabei auch, was und wie erzählt wird. Vor allem – es wird nicht über sie erzählt. Die eigene Geschichte wird begreifbar, es entsteht Selbstverstehen. Verschüttete Erlebnisse – positive, aber auch negative – können hervorgebracht und damit bearbeitet werden. Somit können die professionell und ehrenamtlich Tätigen im Handlungskontext von Schule und Sozialer Arbeit durch das gewählte Setting die Möglichkeit eröffnen, gewissermaßen ›methodisch kontrolliert‹, Geschichten zu erzählen. Die Narration der eigenen Lebens-Geschichte(n) ›stiftet‹ die Auseinandersetzung mit der eigenen Biografie an. Im Kontext der biografischen Themen kann die gewählte Form wie das Theater als Instrument der Reflexion und Selbstkomposition dienen,3 um eine mögliche De- und Rekonstruktion der eigenen Biografie ›anzustiften‹ oder um die durch den narrativen Zugang mögliche Bearbeitung der eigenen Geschichte für die Person selbst zu ermöglichen. Es geht um Rekapitulation und Reintegration vergangener Erlebnisse, im Sinne einer biografischen Strukturierung.4 2 Sattler 2009, S. 89. 3 Köhler 2012. 4 Neuner et al. 2013.
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Das intersubjektive Verstehen wird somit eine Brücke für andere. Erzählen heißt also auch Begegnung, mit mir selbst und mit den anderen. Zum einen entsteht möglicherweise so etwas wie eine Ko-Autorenschaft. Zum anderen werden unsere Geschichten in diesen Begegnungen des gemeinsamen Erzählens bedeutsam, spielen eine Rolle. Hier entstehen ein dynamischer Austausch und Auseinandersetzung – wir kommen in Resonanz – und im besten Fall fangen wir an einander zu verstehen, zu begreifen. Es geht dabei um mehr als das bloße Hören der Lebensgeschichten, wir werden in dem Moment der narrativen Beund Verarbeitung auch schon Teil dieser Geschichte.5
Theater als biografisches Storytelling Das Biografische Theater als ein Ansatz theaterpädagogischen Arbeitens macht es möglich, die Lebens-Geschichte(n) der Beteiligten zu veröffentlichen. Die Menschen erzählen ihre Geschichten als Schauspieler*innen selbst – ein biografisches Storytelling entwickelt sich. Die virulenten Themen der Beteiligten sind die Grundlage der Theaterproduktion, sie werden zum zentralen Inhalt der theatralen Gestaltung.6 Die theatralen Prozesse finden auf der Grundlage der eigenen biografischen Geschichten der Beteiligten, sowie deren Gefühle und Gedanken statt. Die Beteiligten selbst spielen die Lebens-Geschichte(n). Durch die intensive Auseinandersetzung, auch auf leiblicher Ebene, kann das biografische Theater dazu beitragen, sich selbst in größeren, anderen und neuen Zusammenhängen zu begreifen. Das Theater ermöglicht eine Vogelperspektive auf die Geschichten, die eigene Geschichte kann erzählt werden. Durch die Arbeit mit den Mitteln des Biografischen Theaters entwickelt sich das autobiografische Ich zum »künstlerischen DU«.7 Theaterarbeit eröffnet so Schritt für Schritt Zugänge zu der je eigenen Geschichte. Theaterarbeit kann dazu beitragen, die eigene Geschichte zu begreifen, die mir selbst nicht immer gleich zugänglich ist. Durch die Bearbeitung und die Arbeit an sich selbst, werden in der Regel auch intuitive Zugänge zu eigenen biografischen Geschichten möglich. Ich lerne von mir selbst und von den anderen. Auch hier entsteht ein dynamischer reflexiver Prozess – eine Spurensicherung.8
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Ebd. Köhler 2011, ders. 2012 und Plath 2009. Gäbeler 2003, zitiert nach Köhler 2012, S. 24. Lecke / Praml 1989.
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Geschichten entdecken – Erzählanlässe schaffen Wie aber können Erlebnisse, Erfahrungen und Lebensgeschichten, die noch verschüttet sind, zur Sprache gebracht werden? Wie kann es gelingen, biografische Erlebnisse und Erfahrungen zu entdecken und damit für einen kreativen Prozess zu nutzen? Es bietet sich an, mit unterschiedlichen Methoden zu arbeiten, um unterschiedliche, auch assoziative Zugänge zu den Geschichten zu ermöglichen. Bei der Auswahl ist darauf zu achten, dass die gewählte Methode zur Gruppe und zur geplanten Inszenierungsarbeit passt.9 Die verschiedenen Erzählanlässe können im Laufe der theatralen Bearbeitung ergänzend eingesetzt und kombiniert werden. So entsteht ein Fundus unterschiedlicher Artefakte von Geschichten, die für den künstlerischen Prozess von Bedeutung werden können. Ein achtsamer Umgang mit den geborgenen ›Schätzen‹ sollte gewährleistet werden. Das bedeutet, dass durch die Leitung angemessene Formen der Bearbeitung gewählt werden, aber auch in der Gruppe ein klarer Konsens herrschen muss, dass alle Geschichten mit Respekt behandelt werden. Hier ist ein kultur- und religionssensibler Umgang unbedingt notwendig. Keine Geschichte hat mehr oder weniger Bedeutung als die andere. Das Prinzip der Freiwilligkeit hat dabei absolute Priorität. So ist hier, vor allem bei mit der Methode noch nicht vertrauten Menschen, mit möglichen Widerständen zu rechnen. Diese Widerstände sind wichtige Hinweise – beispielsweise ist es kein passender Zeitpunkt, biografische Erlebnisse und Erfahrungen mitzuteilen, oder die Methode ist nicht passend gewählt. Die Spielleitung kann zum einen mit der Gruppe besprechen, welche Änderungen in der Theaterarbeit notwendig sind oder auch von sich aus konzeptionelle Änderungen vornehmen. Folgende methodische Schritte können hilfreich sein, die biografischen Themen zu entdecken.10 Es kann einer Schatzsuche gleichen, die eigenen ›Guten Geschichten zu bergen‹: – Fotografien: mitgebrachte (thematisch fokussierte) Fotografien und Bilder dienen als Erzählanlass – Standbildarbeit: erlebte Erfahrungen und Geschehnisse werden in Standbildern nachgestellt – Gegenstände: bedeutsame Gegenstände ›erzählen‹ die Geschichten – Interviews: Partnerinterviews, Gruppeninterviews – Körperlandkarten: Umrisse des eigenen Körpers werden assoziativ mit Erinnerungen und bedeutsamen Erlebnissen gefühlt – Musik: Lieblingssongs, musikalische Erinnerungen.
9 Köhler 2012. 10 Vgl. Nunn 1999, Plath 2009, Vicek 2009, Johnstone 2011.
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Die Spielleitung Die Aufgaben der Spielleitung sind so herausfordernd wie vielfältig. Deshalb ist eine theaterpädagogische Ausbildung empfehlenswert. Hierbei geht es nicht nur darum, mit den Methoden und Stilmitteln des Theaters vertraut zu werden, die eigene Erfahrung mit der Praxis des Theaterspielens ist ebenso wichtig. Theaterspielen im Kontext von Flucht und Migration erfordert darüber hinaus einen kultur- und religionssensiblen Umgang mit den Menschen und den zu erzählenden Geschichten. Die Gefahr Stereotypen zu reproduzieren und die Geschichten nicht angemessen mit den Mitteln des Theaters zu bearbeiten, besteht.11 Es gilt den Prozess zu strukturieren und für die Gruppe passende Formen und Methoden für die Erzählanlässe, die Inszenierungsarbeit und die Aufführungen anzubieten. Hierbei sollte auf einen partizipativen Prozess für alle Beteiligten geachtet werden. Neben der inhaltlichen Arbeit sind viele organisatorische Aspekte zu berücksichtigen: Angemessene Proberäume und -zeiten, Finanzierung des Projektes, Beschaffung von Requisiten und Kostümen, Aufführungsorte und Plakate u.v.m. Es kann hilfreich und spannend sein, Kooperationspartner*innen, wie etwa Profis aus dem Theaterbetrieb, für die Arbeit zu gewinnen.
Der Inszenierungsprozess als kreative Auseinandersetzung Wie werden die Geschichten erzählt? Was von den Geschichten bleibt, was wird verändert oder verfremdet? Wer von der Gruppe spielt die Geschichten? Diese Fragen werden im Rahmen des Proben- und Inszenierungsprozesses beantwortet. Beim Biografischen Theater geht es keinesfalls darum, die Lebens-Geschichten der Beteiligten ungefiltert auf die Bühne zu bringen. Die theatrale Ver- und Bearbeitung ist unbedingt notwendig und bedeutsamer Teil des Prozesses / der Verarbeitung. Wie und welche Geschichten auf die Bühne kommen, sollte im besten Fall eine gemeinsame Entscheidung der Gruppe sein. Deshalb ist es wichtig, dass die Leitung des Projektes immer wieder pädagogisch und didaktisch ausgearbeitete Möglichkeiten gestaltet, die eigenen Geschichten mit den anderen zusammen reflexiv zu bewerten und weiter zu bearbeiten. Die Methoden der theaterpädagogischen Arbeit sollten den Teilnehmer*innen eine vertiefende Beschäftigung und Auseinandersetzung mit ihren biografischen Geschichten, als Einzel- und als Gruppenprozess, ermöglichen. 11 Plath 2009.
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Innerhalb des Probenprozesses wird das biografische Material inszenatorisch verdichtet, verfremdet, zugespitzt und kreativ-ästhetisch wie reflexiv bearbeitet. Dies kann der inhaltlichen Qualität der biografischen Produktion nur dienlich sein.12 Durch die Inszenierungsarbeit werden die zu Beginn entdeckten biografischen Geschichten künstlerisch produktiv gemacht und schließlich in den Aufführungen vor Publikum gezeigt.13 Mittels der theatralen Auseinandersetzung wird der Umgang mit den eigenen biografischen Spuren, Fragmenten und Geschichten zu einer neuen und ungewohnten Aufgabe für die Spieler*innen. Die biografischen Materialien werden durch den einzelnen und durch die Gruppe bearbeitet und damit auch neu, anders gedeutet und bewertet. Dies geschieht in einem dialogischen Prozess – ein kollektiver Artikulationsraum wird angeboten. Dadurch kommen neue und andere Perspektiven sowie Deutungen auf die eigene lebensgeschichtliche Erzählung zum Tragen.14 Diese Prozesse verlaufen nicht kontinuierlich, sie können hoch emotional und konflikthaft verlaufen. Ein szenischer Erkenntnis- und Forschungsprozess, beispielweise durch Rollenwechsel, wird angeregt und wird damit auch zum Bewusstwerdungsprozess im Hinblick auf die eigenen biografischen Erfahrungen und Erlebnisse. »Theaterspielen besteht offenbar in einer permanenten leiblichen Konfrontation des Eigenen mit dem Fremden, und zwar sowohl dem anderen Fremden als auch dem eigenen Fremden«.15 Durch den Vorgang werden neue Bedeutungszuschreibungen auch für das eigene Selbstund Weltbild initiiert.16 Im Rahmen der Inszenierungsarbeit entsteht aus den gesammelten biografischen Spuren, Fragmenten und Geschichten eine gemeinsame Geschichte: ein Theaterstück entwickelt sich, entsteht. Die Rahmenhandlung kann schon zu Beginn der Arbeit feststehen oder sich erst durch das Bearbeiten der biografischen Themen entwickeln. Sie ist auch gleichsam Träger des biografischen Storytellings. Es verschränkt sich die Auseinandersetzung ›meiner‹ Geschichte(n) mit der ästhetischen Verarbeitung durch das Theater. Der Handlungs- und Interpretationsspielraum der Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen lässt sich durch das Spielen vergrößern. Selbstbewusstsein und Selbstwertgefühl, Kommunikation sowie Kooperation und Kreativität werden bestenfalls gefördert. Biografisches Theater ist im höchsten Maße authentisch, und gleichzeitig entsteht durch das Theater eine Selbstdistanz, die das Erzählen der eigenen Geschichte(n) wo-
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Köhler 2012. Köhler 2012, Wrentschur 2016. Köhler 2012, Sattler, 2009. Klepacki 2013, S. 304. Köhler 2011.
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möglich erst möglich macht.17 Die Menschen erzählen ihre Geschichte auf der Bühne selbst! Sie erleben sich, im besten Fall, im höchsten Maße selbstwirksam und dies ist für das Überwinden prekärer Lebenssituationen, wie sie durch Flucht und Migration entstehen können, unabdingbar.
Der Körper und die Zeichensprache des Theaters als Narrativ Die Darstellungen der biografischen Themen sind beim Theaterspielen untrennbar mit dem Körper der Schauspielenden verbunden. Die Narration der eigenen Geschichten kann als körperlich-leiblicher Prozess verstanden werden, welcher mit den Mitteln der ästhetischen Auseinandersetzung des Theaters vollzogen wird.18 Der Mensch, der grundsätzlich körperlich-leiblich handelt, erfährt sich in der Theaterarbeit so gleichermaßen wieder. Der Körper wird zum Ausdrucksmittel der eigenen Lebens-Geschichte(n). Durch die körperlich-leibliche Auseinandersetzung und durch die Darstellungen wird es möglich seine eigene Geschichte zu durchdringen, da der Körper Träger der äußeren und inneren Lebensbewältigungsversuche ist.19 Die eigenen biografischen Spuren, Fragmente und Geschichten werden so reflexiv erfahrbar. Es geht also um ein sinnliches Erleben20 der eigenen Geschichten. Um den Körper als Ausdrucksmittel einzusetzen, werden in der Probenarbeit die Formen körperlichen Ausdrucks, im Sinne einer Figurenarbeit, kennengelernt und eingeübt: Welchen Ausdruck haben die Figuren auf der Bühne? Wie ist ihre Körpersprache? Welche Haltungen sind erkennbar? Welchen Status haben die handelnden Personen im Stück? Wie zeigen sich die Gedanken und Gefühle? Diese Ausdrucksformen werden im Rahmen der theaterpädagogischen Arbeit erworben. In der Praxis finden sich dazu vielfältige Übungen und Ansätze, die passend zur Gruppe und zur geplanten Inszenierung ausgewählt werden müssen: Wahrnehmungs- und Vorstellungsübungen, Standbildarbeit, Sprech- und Laufübungen, rollenbiografisches Arbeiten und anderes mehr.21 Dabei sollten auch die räumlichen Bedingungen für die Probenarbeit berücksichtigt werden. Dabei sind neben den Spieler*innen auch weitere Stilmittel, wie beispielsweise das Bühnenbild, ein Narrativ des Theaters. Die biografischen Impulse werden in der Inszenierungsarbeit mit Stilmitteln und der Zeichensprache des Theaters ver-
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Wrentschnur 2016. Klepacki 2013. Klepacki 2013, Rittelmeyer 2016. Rumpf 2013, Rittelmeyer 2016. Nunn 1999, Plath 2009, Vicek 2009, Johnstone 2011, Scheller 2012.
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und bearbeitet. Durch die Wahl dieser Mittel findet auch ein Interpretationsprozess der biografischen Geschichten statt.22 Folgende mögliche Aspekte für die theatrale Bearbeitung biografischer Geschichten bieten sich an: – Geräusche und Musik: Spielen bestimmte Geräusche oder Musik eine Rolle? Diese können einen biografischen Hintergrund haben, so zum Beispiel die Geräusche eines bestimmten Ortes, die Lieblingsmusik einer bestimmten Person. – Bühnenbild: Wie ist das Bühnenbild gestaltet? Wie kann darüber auch die Geschichte erzählt werden? Farben, Hintergrundbilder und Requisiten sind bedeutsame Narrative. – Kostüme: Was tragen die Figuren für Kostüme? Ist es die Kleidung, die für ein bestimmtes Land typisch ist? So werden auch die nicht-sprachlichen Ausdrucksformen als Narrativ bewusst genutzt. Dies ist gerade in der Arbeit mit Menschen im Kontext von Flucht und Migration interessant, da womöglich der Ausdruck über Sprache allein als einschränkend erlebt wird.
Theater als Möglichkeitsraum der eigenen Biografie Gleichzeitig ist dieser beschriebene Theaterraum ein gedachter, ein virtueller Raum23 – er ist nicht die Realität! Und somit wird alles möglich. Die Theaterarbeit entlastet vom ›Ernst des Lebens‹.24 Durch das Theater entsteht so die Freiheit, der eigenen Geschichte alle Bedeutungen zu verleihen, sie zu verfremden, sie neu zu erzählen. Theater wird zu einem Spiel mit Grenzen und Bedeutungen, zwischen Realität und Fiktion – es wird ein reflexiver Spielraum.25 In diesem Spielraum ist es möglich, etwas zu riskieren. »Theater ist Kunst, das Leben Realität«26. Somit ist der Prozess der Be- und Verarbeitung der Geschichten davon geprägt. Die erlebten Geschichten von Flucht und Migration können neu interpretiert und damit neu erzählt werden. Die Spieler*innen erfahren ihre eigene Biografie so als Konstruktion.27 Erlebte Realität und Fiktion verschmelzen ge-
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Köhler 2012. Hentschel 2010. Zirfas 2008. Klepacki 2013. Zirfas 2008, S. 131. Köhler 2012.
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wissermaßen in den gespielten Geschichten und können damit auch Entwürfe für ein zukünftiges Handeln enthalten.28
Aufführung: die Geschichte(n) veröffentlichen Die Inszenierungen von Lebens-Geschichten werden bei Aufführungen veröffentlicht. Gerade das Theaterspielen fordert geradezu heraus, mit der eigenen Geschichte nach außen zu gehen, sie mit anderen und für andere zu erzählen. Durch die vorherige Ver- und Bearbeitung der Geschichten wird entschieden, was und wie es erzählt wird. Durch die künstlerische Bearbeitung der Geschichten entstehen auch für die Zuschauer*innen neue Perspektiven auf Menschen im Kontext von Flucht und Migration. Es kann eine Kultur der Auseinandersetzung mit den eigenen Bildern, Stereotypen und Vorurteilen angestoßen werden. Die Auseinandersetzung mit den biografischen Geschichten im Rahmen der Inszenierungsarbeit erfährt in den Aufführungen eine Erweiterung durch die Zuschauer*innen. Auch diese deuten die Lebens-Geschichten im Kontext ihrer eigenen Lebens-Geschichten. Möglicherweise geben sie Ihre Distanziertheit beim Zuschauen auf, lassen sich von den Geschichten auf der Bühne einfangen. Sie erleben die Handlungen unmittelbar und lassen sich von den Emotionen mitreißen, als wären sie selbst Teil der Geschichte.29 So können die Aufführungen Anlass sein über die ›Guten Geschichten‹ aller ins Gespräch zu kommen. Hier eignen sich beispielsweise Nachgespräche zur Inszenierung. Als Orte stehen vielfältige Optionen zur Verfügung, dabei sollten die Projekte immer auch unter sozialräumlichen Aspekten geplant und umgesetzt werden. Neben klassischen Theaterräumen können auch andere Orte, die für die Lebenswelt der Beteiligten von Bedeutung sind, bewusst genutzt werden. Kooperationen mit bestehenden Einrichtungen wie Theatern, Jugendzentren, Schulen, Nachbarschaftshäusern oder Stadtteiltreffs bieten sich an. Eine große abendfüllende Inszenierung stellt für viele eine große Herausforderung oder womöglich eine Überforderung dar. Es ist die Aufgabe der Spielleitung hier eine passende Entscheidung mit der Gruppe zusammen zu treffen. Kleinere Aufführungen oder auch Werkstattaufführungen sind sinnvolle Alternativen.
28 Wrentschur 2016. 29 Rumpf 2013.
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Projektbeispiel – Integrationslotsen spielen Improvisationstheater Das Projekt »Improlotsen« entstand 2011 mit den Integrationslotsen aus Hattersheim. Ehrenamtliche Erwachsene helfen Menschen mit Migrationshintergrund beziehungsweise Neubüger*innen in ihrem Sozialraum auf schnelle und unbürokratische Weise. Begleitet werden die Lotsen in der Regel von hauptamtlichen Fachkräften, hier von Heike Bülter, Mitarbeiterin der örtlichen Wohnbaugesellschaft (http://www.stadtteilbuero.hawobau.de/integrationslotsen. html). Die Akteuer*innen sind in der Regel schon hier geboren oder leben sehr lange schon in Deutschland. Improvisationstheater30 wie es in diesem Projekt genutzt wurde, stellt hier eine Spielart des biografischen Theaters dar. Die Geschichten werden in verschiedenen Szenen ohne festes inhaltliches Skript zu den Vorgaben aus dem Publikum gespielt. Die Spieler*innen fragen die Zuschauer*innen nach Vorgaben zu den Szenen – dies kann ein Land sein, in dem die Geschichte spielt, oder ein Gegenstand, der eine besondere Rolle bekommt. Das biografische Material, die eigenen Lebens-Geschichten, werden also eher spontan genutzt und mit den Stilmitteln des Improvisationstheaters verknüpft. Die Szenen selbst werden nicht vorher bearbeitet – sie entstehen im Moment. Für die Spieler*innen bedeutet dies, mit voller Präsenz in der Szene zu sein und mit den anderen Spieler*innen zusammen die Geschichte zu entwickeln. Durch die Vorgaben aus dem Publikum, die als Spielimpuls dienen, entsteht eine Interaktivität zwischen den Spieler*innen und den Zuschauer*innen, und damit auch zwischen den Geschichten aller. Jeder Szene liegt ein sogenanntes Impro-Spiel als theatrale Inszenierung zugrunde. Diese Spiele haben jeweils einen besonderen Charakter, so dass zum Beispiel Gefühle, Musik, Genres oder Erzähltechniken besondere Bedeutung erhalten. Innerhalb der Szenen schlüpfen die Spieler*innen in vielfältige Rollen, so dass sie auch eigene Geschichten aus der Perspektive verschiedener Figur heraus erzählen können. Um Geschichten zu erschaffen, sind Regeln für das gemeinsame Improvisieren hilfreich: – Ja-sagen zu den Ideen der anderen – jede Idee wird wertgeschätzt – sich gegenseitig unterstützen und helfen, man arbeitet zusammen – die ersten Einfälle sind oft die besten – die eigene Fantasie und die der anderen nutzen und ausschöpfen – im Moment bleiben – die Geschichten und Szenen nicht vorausplanen.
30 Johnstone 2011.
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Diese Regeln unterstützen das gemeinsame spontane Storytelling, das sich aus den Ideen der Spieler*innen und der Zuschauer*innen entwickelt. Dabei ist vor allem der respektvolle Umgang mit den Ideen und damit mit den Geschichten der anderen von großer Bedeutung. Bei dem Projekt »Improlotsen« zeigt sich bei den Proben sowie bei den Auftritten, dass die eigene kulturelle Verwurzelung, die eigene Geschichte von Widersprüchen und Brüchen geprägt ist. Durch das Improvisationstheater bot sich eine neue, spielerische Form an, sich damit auseinanderzusetzen. Neben dem Proben der Grundlagen des Improvisierens ist vor allem immer wieder die intensive Auseinandersetzung mit den eigenen Lebens-Geschichten bedeutsam. Die Themen der Szenen waren so immer die Geschichten der Lotsen. Durch das Spielen der Geschichten sind so immer mehr eigene Geschichten zum Vorschein gekommen – auch die traurigen, nicht so guten Geschichten wurden thematisiert. Dabei kamen auch immer wieder die eigenen Widerstände zu Tage: Was von unseren Geschichten darf auf die Bühnen, also damit an die Öffentlichkeit? Sind meine Geschichten überhaupt so erzählenswert? Die Proben wurden zum Ort für die Reflexion der biografischen Erlebnisse durch jeden einzelnen und durch die Gruppe. Es entstand eine intensive und sensible Kultur des Erzählens, Zuhörens und damit auch des Verstehens. Das Theaterspielen half, diese Geschichten dann weiter zu ver- und bearbeiten. Improvisationstheater zielt auf Unterhaltung ab, somit ist die Auseinandersetzung über die biografischen Themen hier in der Regel sehr humorvoll und häufig von ironischer Distanz geprägt – die Szenen haben oft einen fast schon kabarettistischen Charakter. Die eigentlichen Geschichten werden überspitzt, auf den Kopf gestellt, ver-rückt, gegen den Strich gebürstet, und es wird mit Stereotypen gespielt. Es darf und soll über sich selbst gelacht werden. Vor allem die vielen unterschiedlichen Erlebnisse und Deutungen im Zusammenhang von Migration spielen eine Rolle. Eine junge Frau mit Kopftuch, die in einer Szene perfekt Deutsch spricht und diese dann als junger Mann mit Soziolekt wiederholt. Dann entwickelt sich hier eine nicht geplante Komik, die es möglich macht, über diese Geschichte auch nach den Aufführungen ins Gespräch zu kommen. Durch das humorvolle Storytelling des Improvisationstheaters ist es auch möglich, die wirklichen negativen Erlebnisse und Erfahrungen so zu wandeln, dass sie neu und positiv erzählt werden. Die Lotsen selbst erzählen ihre eigenen Lebens-Geschichten. Durch die Authentizität der Spieler*innen wird für die Zuschauer*innen ein Nachempfinden der gespielten Themen möglich. Darüber hinaus werden durch die interaktive Spielform des Improvisationstheaters auch die Geschichten der Zuschauer*innen stellvertretend erzählt, so dass Spieler*innen und Zuschauer*innen glei-
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chermaßen Biografisches Theater erleben.31 Die einzelnen Impro-Szenen sind exemplarische Ein-Blicke in diese Lebens-Geschichten. Ob diese immer genauso in Wahrheit stattgefunden haben, ist nicht wichtig. Denn durch die Freiheit des Improvisationstheaters war es möglich, diese auch ganz neu und anders zu erzählen.
Perspektivische Überlegungen Die vorgestellten konzeptionellen Überlegungen des Biografischen Theaters als Narrativ der ›Guten Geschichten‹ im Kontext von Flucht und Migration verstehen sich als lebensweltorientierter Ansatz Sozialer Arbeit32 und pädagogischen Handelns. Sie weisen somit auch über das Erzählen und das Theaterspielen hinaus und können im Kontext der Lebensweltorientierung als Hilfe zur Lebensbewältigung verstanden werden. Damit sind sie »untrennbar verbunden mit ihrer gesellschaftlichen Einbettung«33. Biografisches Theaters bietet die Möglichkeit, spielerisch miteinander ins Erzählen zu kommen. Es entstehen narrative Inszenierungen, die von lebensgeschichtlichen Erfahrungen und Erlebnissen berichten. Bedeutsam ist hier, die persönlichen Erfahrungen und Erlebnisse, diese vielen ›Guten Geschichten‹, mit den Beteiligten in einem partizipativen Prozess ästhetisch-künstlerisch zu bearbeiten. Es gilt deshalb auch sensibel hinzuschauen, wo im Kontext von Bildung und Sozialer Arbeit Menschen in (prekären) Lebenssituationen nicht als Subjekte wahrgenommen und behandelt werden. Wir benötigen angemessene Rituale, Methoden und Zugänge zu einer narrativen Kultur, die sich auch ohne größeren Aufwand beispielsweise in eine Schulkultur einbinden lassen, um auch schon kleinere künstlerisch-ästhetische Produktionen zu ermöglichen. Geschichten zu erzählen und Geschichten zu hören braucht Übung, braucht Zeit und Orte – es braucht Erzählräume. Wie können wir diese Räume schaffen, damit eine sensible Erzählkultur entstehen und wachsen kann? Hier gilt es zukünftig Projekte zu vernetzen und zu veröffentlichen, damit gelingende Praxis weitergetragen wird. Und es gilt weiter zu forschen und genau hinzuhören, welche weiteren Formen und Orte Menschen benötigen, um ihre Lebensgeschichten zu erzählen und zu bearbeiten. Dabei darf das Paradigma der Freiwilligkeit an der Teilhabe biografischer Arbeit nicht missachtet werden.
31 Boal 1989, Wrentschur 2016. 32 Grunwald / Thiersch 2016. 33 Ebd. S. 55.
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Darüber hinaus sollten die eigenen Ängste und Befürchtungen gegenüber den Lebens-Geschichten im Kontext von Flucht und Migration zu einem achtsamen Umgang mit den Geschichten der Beteiligten führen. Die intensive und explizite Beschäftigung mit biografischen Geschichten kann bei Teilnehmer*innen starke Emotionen hervorrufen. Deshalb ist es unbedingt notwendig, dass die Leiter*innen von Projekten angemessen aus- beziehungsweise fortgebildet sind, um die Gruppen kompetent anleiten zu können. Die hier vorgestellten konzeptionellen Ansätze ersetzen keine notwendigen therapeutischen Maßnahmen für Menschen mit Traumata aufgrund von Flucht und Migration. Die Möglichkeiten der Narration sind tatsächlich vielfältig, bunt und kreativ. Werden Sie neugierig auf die Geschichten anderer. Es führt zu einem eigenen situationssensiblen, professionellen Handeln, wenn es gelingt an eigene personale und berufsbiografische Erfahrungen anzuknüpfen. Erzählen Sie Ihre eigenen Geschichten!
Literatur Boal, Augusto: Theater der Unterdrückten. Übungen für Schauspieler und NichtSchauspieler, Suhrkamp-Verlag, Frankfurt am Main 1989. Bundesverband Theater an Schulen e.V. (Hrsg.): Biografie.Theater. Fokus Schultheater 11, Edition Körber, Hamburg 2012. Grundwald, Klaus / Thiersch, Hans: Lebensweltorientierung, in: dies. (Hrsg.): Praxishandbuch Lebensweltorientierte Soziale Arbeit. Handlungszusammenhänge und Methoden in unterschiedlichen Arbeitsfeldern, Beltz Juventa, 3. Auflage, Weinheim und Basel 2016, S. 24–64. Hamburger, Franz: Lebensweltorientierte Soziale Arbeit in der Migrationsgesellschaft, in: Grundwald, Klaus / Thiersch, Hans (Hrsg.): Praxishandbuch Lebensweltorientierte Soziale Arbeit. Handlungszusammenhänge und Methoden in unterschiedlichen Arbeitsfeldern, Beltz Juventa, 3. Auflage, Weinheim und Basel 2016, S. 302–311. Hentschel, Ulrike: Theaterspielen als ästhetische Bildung. Über einen Beitrag produktiven künstlerischen Gestaltens zur Selbstbildung, Schibri-Verlag, 3. Auflage. Milow 2010. Johnstone, Keith: Theaterspiele, Spontaneität, Improvisation und Theatersport, Alexander-Verlag, 8. Auflage, Berlin 2011. Klepacki, Leopold: Theatrale Bildung als leibliches Prinzip anthropologischer SelbstReflexionen. Über Differenzerfahrungen in artifiziell-performativen Prozessen, in: Bilstein, Johannes / Brumlik, Micha (Hrsg.): Die Bildung des Körpers, Beltz Juventa, Weinheim und Basel 2013, S. 296–307. Köhler, Norma: Biografisches Theater. In: Nix, Christoph / Sachser, Dietmar / Streisand, Marianne (Hrsg.): Theaterpädagogik (Lektionen 5), Theater der Zeit, Berlin 2011, S. 123–130.
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Köhler, Norma: Biografisch-Praktisch-Gut, in: Bundesverband Theater an Schulen e.V. (Hg.): Biografie.Theater. Fokus Schultheater, Zeitschrift für Theater und ästhetische Bildung 11, Edition Körber Stiftung, Hamburg 2012., S. 23–29. Lecke, Detlef / Praml, Willi: VerORTungen. Theaterexperimente & Spurensicherung. LandEntdeckungen & DorfErneuerung, Paida-Verlag, Fulda 1992. Maedler, Jens / Witt, Kirsten: Gelingensbedingungen kultureller Teilhabe, in: Hammer, Veronika (Hrsg.): Kulturvermittlung. Inspiration und Reflexionen zur kulturellen Bildung bei Kindern und Jugendlichen, Beltz Juventa, Weinheim und Basel 2014, S. 58– 67. Neuner, Frank (et al.): Narrative Exposition, in: Maercker, Andreas (Hrsg.): Posttraumatische Belastungsstörungen, Springer-Verlag, 4. Auflage, Heidelberg 2013, S. 327– 347. Nunn, Doug: Show up! Workshopbuch für Improvisationstheater und szenisches Schreiben mit Teens, Buschfunk-Verlag, Planegg 1999. Rittelmeyer, Christian: Bildende Wirkung ästhetischer Erfahrungen, Beltz Juventa, Weinheim und Basel 2016. Rumpf, Horst: Theaterlernen. Sich einlassen auf fremde Welten, Schneider-Verlag, Baltmannsweiler 2013. Sattler, Elisabeth: Kunst der (Ent-)Subjektivierung. Über aktuelle (Trans-)Formation von Bildung/Kunst und deren Beiträge zur (Ent-)Subjektivierung, in: Westphal, Kristin / Liebert, Wolf-Andreas (Hrsg.): Gegenwärtigkeit und Fremdheit. Wissenschaft und Künste im Dialog über Bildung, Beltz Juventa-Verlag, Weinheim und München 2009, S. 89–102. Scheller, Ingo: Szenisches Spiel. Handbuch für die pädagogische Praxis, CornelsenVerlag, 6. Auflage, Berlin 2012. Vicek, Radim: Workshop Improvisationstheater. Übungs- und Spielesammlung für Theaterarbeit, Ausdrucksfindung und Gruppendynamik, Auer-Verlag, 6. Auflage, Donauwörth 2009. Wrentschur, Michael: Lebensweltorientierung und Partizipative Theaterarbeit, in: Grundwald, Klaus / Thiersch, Hans (Hrsg.): Praxishandbuch Lebensweltorientierte Soziale Arbeit. Handlungszusammenhänge und Methoden in unterschiedlichen Arbeitsfeldern, Beltz Juventa, 3. Auflage, Weinheim und Basel 2016, S. 349–359. Zirfas, Jörg: Das Spiel mit der Welt, in: Liebau, Eckart / ders. (Hrsg.): Die Sinne und die Künste. Perspektiven ästhetischer Bildung, transcript-Verlag, Bielefeld 2008, S. 129–148.
Frank van der Velden
Wenn Geflüchtete von der Religion erzählen. Narrative Interviews zu interreligiösen Ressourcen in Syrien
Geflüchtete und ihre interreligiösen Ressourcen (Inter-)religiöses Lernen ist über weite Strecken ein Lernprozess wie andere Lernprozesse auch. »Wie lernt der Mensch Religion? Hier hat die Psychologie der Religionspädagogik in den vergangenen Jahrzehnten wichtige Impulse geben können … Der Mensch lernt Religion durch aktive Auseinandersetzung mit seiner Umwelt. Wenn ihm allerdings diese Möglichkeiten z. B. durch die Ausblendung der Religion in gesellschaftlichen Systemen nicht eingeräumt werden, so fehlen die Möglichkeiten aktiver Auseinandersetzung und subjektiver Aneignung«1.
Welche Möglichkeiten aber haben zum Beispiel Geflüchtete aus Syrien für eine solche Auseinandersetzung mit einer religiös vielfältigen Umgebung in ihrem Herkunftsland? Diese Frage, die um den Erwerb von Kompetenzen und Routinen für die Begegnung mit Menschen anderer Religion geht, soll erst einmal für die Zeit vor Ausbruch des syrischen Bürgerkriegs, also vor dem Jahr 2010, gestellt werden. Schaut man auf die Verteilung von Volks- und Sprachgruppen in Syrien, so lebten dort im Jahr 2010 auf einer Fläche von 185.180 km² (Deutschland: ca. 357.000 km²) insgesamt 22 Mio. Menschen, von denen seit dem Jahr 2011 mehr als 4,8 Mio. ins Ausland geflüchtet sind.2 Neben syrischen Arabern gehören dazu Kurden, Assyrer-Aramäer, Palästinenser, Turkmenen und zahlreiche irakische Flüchtlinge. Die Amtssprache ist Hocharabisch. Weitere Sprachen und Dialekte sind syrisches, palästinensisches und irakisches Arabisch, AssyrischAramäisch, Neuwestaramäisch, Westarmenisch, verschiedene kurdische Dialekte (Kurmandschi, Sorani, Südkurdisch), Turkomanisch und Tscherkessisch.
1 Schulte 2012, hier S. 227. 2 Vgl. die aktuellen Länderinformationen des Auswärtigen Amts Berlin zu Syrien: https://www. auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/syrien-node/syrien/204260.
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Entsprechend vielfältig sind die Religionszugehörigkeiten: 74 % der Bevölkerung sind sunnitische Muslime, etwa 15 % sind schiitische Muslime und syrische Aleviten, dazu in der Region des Antilibanongebirges Drusen, in Nordsyrien Jesiden, einige wenige Juden in Qamishli und Aleppo. Etwa 10 % der syrischen Bevölkerung sind zudem Christen unterschiedlicher Kirchen und Konfessionen: Syrisch-Orthodoxe Kirche, Griechisch-Orthodoxe Kirche, Assyrische Kirche des Ostens, Armenisch-Apostolische Kirche, weiter die mit Rom unierten griechisch-katholische, syrisch-katholische, chaldäisch-katholische und armenisch-katholische Kirchen, sowie einige römisch-katholische (lateinische) und protestantische Christen. Diese religiösen Minderheiten sind in zahlreichen dörflichen Gemeinschaften des Antilibanongebirges und Nordsyriens vertreten, und in allen Großstädten des Landes finden sich religiös vielfältige urbane Milieus. Das Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher Herkunft und religiöser Zugehörigkeit ist dabei Gegenstand eines regen gesellschaftlichen Diskurses, der von der öffentlichen Kulturpolitik bis hin zur nachbarschaftlichen Ebene reicht. Dieser steht als Teil der offiziellen Politik unter einem strikten nationalstaatlichen Paradigma, garantiert den genannten Religionsgemeinschaften aber einen Rechtsstatus und eine öffentliche Position.3 Neben der formalen Religionsvermittlung in den religiösen Gemeinschaften oder im öffentlichen Raum, zum Beispiel in Schulen, sind die sozialen und gesellschaftlichen Orte und Gelegenheiten zur Religionsaneignung eine wichtige Komponente (inter-)religiösen Lernens. Wie sehen in dieser Hinsicht die (inter-) religiösen Lernprozesse aus, die syrische Kinder durch nachbarschaftliche Begegnungen, gemeinsames gesellschaftliches Engagement oder durch kulturelle Events in ihrem Herkunftsland durchlaufen hätten, wären sie nicht durch einen blutigen Bürgerkrieg zur Flucht gezwungen worden? Diese kulturspezifischen Narrative zum Umgang mit den Angehörigen anderer Religionen – und damit auch mit der eigenen Religion (!) – werden hier anhand von Geschichten, die syrische Flüchtlinge in der Region Wiesbaden zwischen November 2015 und November 2016 in leitfadengestützten Interviews erzählt haben, dokumentiert. Sie werden so für weitere kulturelle Lernprozesse zugänglich gemacht, die bei Geflüchteten und ihren Kindern häufig an signifikanten Stellen unter- oder abgebrochen sind.
3 Vgl. van der Velden 2018b, S. 55–73.
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Was ist Erzählen? Da es sich also um erzählte Geschichten handelt, und um das in den Erzählungen sichtbar werdende Selbstbild der Erzähler besser einordnen zu können, lohnt vorab ein kurzer Abriss, was das Erzählen denn sei. Ich nehme dazu in der Folge immer wieder auf einen längeren Text des katholischen Religionspädagogen Franz W. Niehl Bezug, den ich abschnittweise paraphrasiere.4 Daran schließen sich jeweils Setzungen für den Ablauf der Interviews an: Erzählung ist nicht (nur) Information über Geschehenes: Geschichten sind Botschaften. Botschaften, die zwischen Erzähler und Hörer (Leser) ausgetauscht werden. Geschichten helfen dem Erzähler, sein Leben zu ordnen – und sie helfen ihm, ein Bild von sich selbst zu gewinnen. Die Art, wie wir erzählen, offenbart die Wahrnehmungs- und Deutungsmuster, mit denen wir uns und anderen begegnen. Wir nehmen uns im Erzählen immer selber mit. Zum Geschehnis treten in der Erzählung daher unsere Auswahl, Interpretation und Appellstruktur hinzu. Schlüpft ein Mensch in eine Erzählerrolle, so ›schreibt‹ er damit automatisch ein vielfältiges Rollenskript, das sich zwischen ihm und den Hörern, bzw. Lesern ausspannt: Im Erzählen wird ein Beziehungsgeflecht aktiviert oder umgestaltet. Wir können also festhalten: Wenn wir Geschichten von uns erzählen, entwickeln wir unser Selbstbild weiter und formen damit zugleich unsere sozialen Beziehungen.
Als was erzählt sich der Erzähler? Jeder Erzähler schlüpft in eine Rolle Kein Erzähler kann erzählen, ohne dabei in eine Rolle zu schlüpfen. Jeder Schritt in die eigene Geschichte geht mit einer Rollenübernahme einher, in der sich das Selbstbild des Erzählers zeigt. Er kann so zum Beispiel von seiner Flucht entweder in der Rolle des Opfers einer tragischen Begebenheit erzählen oder als Abenteuer, das er mit der Ankunft in Deutschland heldenhaft bestanden hat. In der Rolle führt der Erzähler einen Dialog zwischen der erzählten Situation und seiner jeweiligen Erzählsituation. Die Rolle kann sich daher ändern, wenn der Kontext der Erzählsituation sich ändert. Grundsätzlich sollen in unseren Biographie gestützten Interviews der Geflüchteten die gewählte Rolle und die Selbstinszenierung des Erzählers respektiert werden. Das Ziel dieses Erzählens ist somit nicht die investigative Rekonstruktion nachprüfbarer Tatbestände. Genauso wenig wie die Therapie von Traumata. Der Erzähler kann nicht erzählen, ohne dabei in eine Rolle zu schlüpfen. Der Erzähler bestimmt aber, in welche Rolle er schlüpfen will. Die 4 Niehl 2006, in der Folge S. 19f.
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Rolle bedeutet für den Erzähler auch, dass er nicht ungeschützt in die eigene Erinnerung mitgenommen wird. Der Interviewer wahrt daher Diskretion und respektiert die gewählte Rolle. Er respektiert zudem, ob der Erzähler überhaupt reden will oder nicht. Die Rolle spielt also auf einer Folie zwischen dem eigenen Leben und der erzählten Begebenheit. Ziel des narrativen Interviews ist dabei, in der Rollendiskussion emotionale und soziale Muster des Verhaltens erproben zu lassen. So nehmen viele Gesprächspartner in der Erzählung die Rolle des guten Nachbars oder des Freundes ein und zeigen damit wohl, wie sie sich gerne verhalten hätten, aber auch welche Hoffnungen und Ängste ihr eigenes Verhalten gefördert oder verhindert haben. Solche Erzählungen sind gewährte Einblicke. Sie sollten als Geschenke behandelt werden. Zu den Bedingungen dieser Interviews gehört, dass die Erzählenden diese so genannte Rollendiskussion möglichst frei und ohne weitere Eingriffe durch den Interviewer führen sollten. Der Interviewer verzichtet daher auf appellative oder ergebnisleitende Fragen. Eine appellative Frage ist zum Beispiel: Wie sollen sich die Religionen in Syrien nach dem Krieg zueinander verhalten? Input-Fragen zur Rollendiskussion sind dagegen: Zeigen Sie mir ein Foto auf Ihrem Handy zum Zusammenleben der Religionen in Syrien und erzählen Sie Ihre Geschichte dazu.
Vier Dimensionen der Erzählung Das Erzählte wird anschließend in folgenden vier Dimensionen der Rollendiskussion geordnet und ausgewertet.
Erzählung: Was wird erzählt? Auf dieser Ebene wird festgehalten, welche Bekanntschaft mit Personen anderer Religionszugehörigkeit, konfessioneller Orientierung oder säkularer Einstellung erzählt wird. Sind dies familiäre, nachbarschaftliche oder Peer-group-Kontakte, z. B. aus der gemeinsamen Schul- oder Militärzeit, aus der beruflichen Karriere etc.? Welche Orientierung über Gemeinsamkeiten und geteilte Werte, beziehungsweise über Unterschiede und Unvereinbarkeiten zeigen die Gesprächspartner; über welche Kompetenzen und Routinen im Umgang miteinander berichten sie? War es zum Beispiel üblich, anderen zu ihren religiösen Jahresfesten zu gratulieren, oder konnte man bestimmte religiöse Festbräuche auch gemeinsam begehen, zum Beispiel bei öffentlichen Prozessionen? Und welche religiösen Bräuche und Routinen blieben andersherum exklusiv und in welcher Weise konnte dies zu Problemen werden? Gab es dazu Lösungsstrategien?
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Selbstbild: Welche Rolle wird eingenommen und warum? Auf dieser Ebene wird festgehalten, welche Rolle von den Erzählenden eingenommen wird. Häufig wird dabei aus der Rolle des nachbarschaftlich offenen und wertschätzenden Bekannten oder Freundes erzählt, insbesondere in der christlich-islamischen Begegnung. Diese Rollenwahl wird aus den oben gezeigten Gründen nicht kritisch angefragt, aber es wird beobachtet, ob und inwieweit die eigene Rolle von den Erzählenden reflektiert wird. Wird zum Beispiel die Situation in der eigenen Nachbarschaft oder im ganzen Land Syrien vor 2010 rosarot geschildert und ideal überhöht, oder zeigt die Erzählung ein gewisses Problembewusstsein für die eigenen Grenzen der Toleranz – vielleicht auch für persönliche Schuld und für das Versagen der gesellschaftlichen Regelungssysteme? Weiß der Erzählende, ob und inwieweit er selber Opfer geworden ist, und kann er das ausdrücken? Beziehung: Wie wirkt die emotionale und soziale Lage auf die Erzählung ein? Werden in der Erzählung Interesse, Empathie und Annahme des anderen auf Augenhöhe sichtbar? Welche emotionale Nähe oder welche Distanziertheit wird als ›Normalzustand‹ des Zusammenlebens erlebt? Steht dabei die Wertschätzung des anderen oder die Gleichberechtigung im Vordergrund? Häufig erzählen die Gesprächspartner von sich mit Stolz als Teil eines tragfähigen Gesellschaftsmodells: ›Ich bin tolerant, … Ich bin einer von vielen normalen Syrern, wir kommen aus vielen Religionen und kämpfen gemeinsam gegen die politisierten religiösen Extremisten.‹ Gibt es auch hier eine reflektierte Sicht oder wird pauschal erzählt, dass alle Probleme aus dem ›Ausland‹ hereingebracht wurden (Irak-Kriege und Erstarken des IS, saudi-arabische Unterstützung des religiösen Extremismus, US-Intervention etc.)? Fällt die Erzählung in Verschwörungstheorien ab? Situation: Wie wirkt der konkrete Anlass (der erzählten Situation und der Erzählsituation) auf die Erzählung ein? Wo werden gesellschaftlich anerkannte Routinen oder quasi automatisierte Erlebnisse erzählt (z. B. bei gegenseitigen Trauerbesuchen oder Gratulationen in der Nachbarschaft)? Wo werden spontane eigene Entschlüsse und Aktionen erzählt (z. B. bei religionsübergreifenden Freund- und Partnerschaften)? In welchem Rahmen und wie hat der Erzählende dabei eine autonome Entscheidung getroffen? Wie sieht es diesbezüglich in der neuen Situation in Deutschland aus? Wenn der Gesprächspartner erzählt, als Muslim in Syrien mit vielen Christen befreundet gewesen zu sein, sucht er auch hier in Deutschland die Bekanntschaft
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zu (arabischen) Christen oder vermeidet er diese? Welche Gründe werden für diese Entscheidung genannt?
»Wir hatten es gut miteinander, bis aus dem Ausland …« Die ersten beiden Gesprächspartner am 20. 12. 2015 in Geisenheim sind syrische Flüchtlinge, in diesem Fall sunnitische Muslime. Ihre Namen, wie alle in diesem Artikel genannten Namen, sind anonymisiert. Wir starten mit folgender InputFrage: (1) Wie konnte man dem religiös verschiedenen Nachbarn klar machen, dass man ihn ›mag‹? Dass man auf gutem Fuß mit ihm leben möchte?
Firas’ Erzählung Mit sichtlicher Freude und Stolz zeigt mir Firas, ein sunnitischer Muslim aus Damaskus, ein Bild auf dem Bildschirm seines Handys: »Den größten Weihnachtsbaum der Welt und die größte Weihnachtsmann-Parade der Welt gibt es jedes Jahr in Damaskus … über 3.000 Santas, und längst nicht alle davon sind Christen! … auch ich als Muslim gehe dahin und schaue mir das an!« Der Christbaum auf dem Foto ist tatsächlich beeindruckend. Aus meiner eigenen Studienzeit in Damaskus in den 1980er Jahren erinnere ich mich dunkel, dass es auch damals schon einen dezenten Weihnachtsschmuck und aufgestellte Nadelbäume aus dem Antilibanongebirge in der Hauptstadt Syriens gab. Und die Paraden der christlichen Pfadfinderschaften vor den großen Jahresfesten waren auch damals schon legendär. Also frage ich nicht, ob es sich wirklich um den größten Baum und die größte Parade der Welt handelt. Viel mehr interessiert mich, wie sich Firas in dieser Erzählung selber erzählt (Ich und meine Geschichte), wie er sich also in die vier Pole Erzählung, Selbstbild, Beziehung und Situation einfügt. Der Pol der Erzählung: Firas erzählt weiter von gegenseitigen Gratulationen und Besuchen zu den islamischen und christlichen Hochfesten, zu Beerdigungen und Hochzeiten. Von christlichen Schulfreunden und selbstverständlicher guter Nachbarschaft. Man habe gegenseitig die religiöse Praxis des anderen geachtet und Rücksicht genommen. Er erzählt von Ritualen der gegenseitigen Wertschätzung und des solidarischen Handelns von Christen und Muslimen, wie ich sie auch aus anderen arabischen Ländern kenne und dokumentiert habe.5 Die erzählten Anekdoten sind in sich stimmig und können für weitere alltägliche Situationen stehen – auch war die Lage der Christen in Syrien vor 2011 per se ja 5 Van der Velden 2016, S. 21–28.
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nicht schlecht. Die Vergangenheit wird in diesen Geschichten aber typischerweise idealisiert, überhöht und rosarot angemalt. Vorhandene Probleme und der Kontext des friedlichen Status Quo der Religionsgemeinschaften, der von einem totalitären System auf Kosten der Freiheit Andersdenkender errichtet wurde, werden ausgeblendet. Der Pol der Beziehung: Firas erzählt auf dieser Ebene davon, dass er schlichtweg gerne mit seinen christlichen Kumpels zusammen war. Er will von seiner Empathie, Freundschaft und Annahme des anderen erzählen. Innerhalb seines muslimischen Umfelds soll dies nicht eine besonders tolerante Haltung seiner eigenen Person betonen, sondern die alltägliche Normalität beschreiben. Er signalisiert: Wir hatten und haben belastbare Beziehungen miteinander. Der Pol der Situation: Darauf angesprochen, ob ihm als Muslim die Teilnahme an einer Weihnachtsmann-Parade nicht religiös verboten (hara¯m) sei, zeigt er sich über religiöse Gemeinsamkeiten und geteilte Werte von Christen und Muslimen orientiert und verantwortet sein Verhalten situativ: »Warum soll ich mich nicht mitfreuen dürfen, wenn die Christen die Geburt Isa¯ Ibn Mariams (die koranische Bezeichnung für Jesus) feiern? – also bin ich mitgegangen«. Der Pol des Selbstbildes: Firas stellt sich als toleranten syrischen Bildungsbürger vor, der ein tragfähiges Gesellschaftsmodell repräsentiert. Sein Selbstbild lässt sich folgendermaßen beschreiben: ›Wir normalen Syrer kommen aus allen Religionen und kämpfen gegen die Extremisten aller Religionen‹. Dazu gehört im eigenen kulturellen Fundus auch der souveräne Umgang mit öffentlichen Weihnachtfeierlichkeiten in ihrer traditionellen, seit Jahrzehnten gepflegten Form.
Farids Erzählung Auch Farid, ein sunnitischer Moslem aus Aleppo, erzählt sich selber als ›toleranter Nachbar oder Freund‹. Seine Erzählung beginnt: »Überall stehen Kirchen und Moscheen in direkter Nachbarschaft … wir hatten nie Probleme miteinander, bis aus dem Ausland der IS kam!« Emblematisch erscheint auf seinem Handy die Szenerie von entsprechenden Bauwerken im aleppiner Stadtteil Soulimaniya.6 Überhaupt: Kirche und Moschee gemeinsam in einem Bild einzufangen, scheint ein besonderes Anliegen vieler unserer Interviewpartner zu sein.
6 Solche emblematischen Fotos im Internet sind zum Beispiel: »Mosques and churches dot the Soulimanya neighborhood of Aleppo, Syria« (photo: Spencer Osberg). http://images.google. de/ (Zugriff am 21. 9. 2016).
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Der Pol der Erzählung: Farid erzählt weiter, wie das gewohnte friedliche Zusammenleben von auswärtigen religiösen Extremisten zerstört wurde. Seine Darstellung ist zum guten Teil zutreffend, aber es ist unredlich, dabei die Rolle der internen syrischen Probleme, zum Beispiel die bewusste Spaltung der syrischen Gesellschaft durch das eigene despotische Regierungssystem auszublenden. Richtig ist, dass moderne Staaten wie Syrien, Irak oder Ägypten über lange Zeit stabile gesellschaftliche Verhältnisse für ihre religiösen Minderheiten hergestellt haben. Es ist aber auch richtig, dass diese Stabilität von despotischen Unrechtssystemen zu Bedingungen der brutalen Unterdrückung oppositioneller Gruppen (meist des politischen Islam) hergestellt wurde, so dass die Situation nach dem Kollaps dieser Systeme ins Chaos abgleiten musste. Die Katastrophe ist von daher zu guten Teilen hausgemacht. Es erklärt weiterhin nicht, warum auch viele Syrer den kulturellen und religiösen Verfolgungswahn der al-Nusra-Front, des IS oder auch schiitischer Milizen mitmachten oder davon persönlich profitierten. Die Pole der Beziehung und der Situation: Farid erlebt den Zusammenbruch der konfessionellen Vielfalt und Toleranz seiner Heimatstadt als einen Verlust, vor dem er wehrlos zurückbleibt. Dies bestimmt auch seine neue Situation als Geflüchteter in Wiesbaden. Er selber hat sich im ersten Jahr in Deutschland religiöser orientiert, als er es in Syrien war. Er braucht die Religion als Anker, um sich selber in der neuen Situation zurechtfinden zu können. In Wiesbaden leben viele syrische Christen, als Migranten aber auch als Geflüchtete. Farid kennt keinen einzigen davon. Er hält sich lediglich an den Fotos der Vergangenheit fest.
Widerständler und Opfer der Barbarei … Wie der Zuhörer die Erzählung beeinflusst In der Rolle führt der Erzähler einen Dialog zwischen der erzählten Situation und seiner jeweiligen Erzählsituation. Jedes einzelne Erzählen ist somit eine erneuerte Rollendiskusion.7 So kann direkt nach der glücklichen Ankunft in Deutschland die Erleichterung und das Gefühl, es geschafft zu haben, die Rollenerzählung bestimmen. Einige Zeit später, wenn Verluste und Enttäuschungen schmerzhaft in den Vordergrund des Selbstbildes treten, kann die gleiche Erzählung aus einer anderen, tragischen Rolleninterpretation sehr unterschiedlich gestaltet werden. Beim Erzählen tritt unser Selbstbild somit in eine dialektische Beziehung zu unserer Selbsterzählung: Tauchen neue Notwendigkeiten und Interpretationshorizonte in unserem Leben auf, so evaluieren wir unsere Erinnerung und re7 Vgl. zum folgenden Niehl 2006, hier S. 23f.
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lativieren damit häufig unsere überkommene Sicht auf das Geschehene. Dies gilt genauso für unsere kollektiven Erinnerungen, für Gruppenidentitäten und Gruppenabgrenzungen. Zur Erzählsituation, welche die Auswahl der Rolle bestimmt, gehört auch der Zuhörer. So wird die gleiche Begebenheit je nach Publikum manchmal sehr unterschiedlich erzählt. Zum Beispiel kann eine Gruppe Geflüchteter im gemeinsamen Erzählen einen Binnendiskurs pflegen, der die Erzählerrollen stark von einer bestimmten emotionalen Betroffenheit prägt. Im Erzählen nach außen, also zum Beispiel gegenüber einem deutschen Interviewer, spielt dagegen auch das vermutete sozial erwünschte Verhalten eine gewisse Rolle. So hat keiner unserer Interviewpartner die Rolle des ›Verteidigers der wahren Religion‹ eingenommen oder eine exklusivistische islamische Observanz gefordert. Ich vermute, dass solche Menschen schlichtweg nicht mit mir geredet haben. Häufig schwimmt im Subtext der Erzählungen dagegen eine wichtige Botschaft an das Aufnahmeland mit, die signalisiert, wie Geflüchtete versuchen, sich zu unseren Erwartungen zu verhalten oder welche Diskursebene sie dazu von uns erwarten. Es folgen zwei Erzählungen, die diese Botschaften explizit überbringen.
Khaleds Erzählung Bei einem Interview am 10. 9. 2015 in Wiesbaden erzählt ein kurdischer Flüchtling aus Raqqah (Nordsyrien), selber ein sunnitischer Muslim, die folgende Geschichte auf die Input-Frage: (2) Welche Erlebnisse hatten Sie oder haben Sie bei anderen beobachtet, wo es auch einmal nicht so gut funktioniert hat? Mit Khaled betrachte ich ein Foto der im Krieg zerstörten Awis al-QarniMoschee in seiner Stadt.8 Die Renovierung dieser historischen schiitischen Moschee im Norden Syriens wurde im Jahr 2009 als grenzübergreifendes Projekt von der syrischen und iranischen Regierung gemeinsam finanziert. Die Moschee wurde im Oktober 2014 durch den IS gezielt zerstört. Khaled erzählt: »Ich habe es nie verstanden, warum sie um die Frage Krieg führen, ob Aisha den Ehrentitel Mutter der Gläubigen führen darf oder nicht!« Hintergrund dieser Erzählung ist der legendäre, Jahrzehnte dauernde Führungsstreit in der islamischen Gemeinschaft nach dem Tod des Propheten Muhammad, der in kriegerischen Konfrontationen zwischen der Partei seines Schwiegersohnes Ali und der Partei seiner engsten Gefährten, zu denen auch Muhammads jüngste Frau Aisha gehörte, ausgetragen wurde. Ali und seine Söhne kamen im Verlauf dieser Auseinandersetzung ums Leben. Während die Gemeinschaft der Sunniten bis heute 8 Im Internet: http://www.flickr.com/photos/lazhar/5301174067/ (Autor: Lazhar Neftien, Zugriff am 23. September 2009).
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Aishas ehrendes Andenken als Ehefrau des Propheten und Mutter seiner Kinder hoch hält, steht für die Gemeinschaft der Schiiten ihre Gegnerschaft zu Ali im Vordergrund, die häufig als Verrat am Willen des Propheten gedeutet wird.9 Noch im aktuellen syrischen Bürgerkrieg dienten Slogans pro oder contra Aisha als Kampfparolen des IS gegen den schiitischen Bevölkerungsteil Nordsyriens und des Iraks et vice versa. Der Pol der Erzählung: Eigentlich will Khaled gar nicht über Religion reden, aber dies zu erzählen dauert länger als alle anderen Erzählungen, da die Erzählung von ihm häufig durch rationale Argumentationen und kulturhistorische Begründungen ergänzt wird. Er erzählt von unverständlichen religiösen Begründen für irrationales Verhalten im Bürgerkrieg und bei fast allen kriegführenden Parteien. Dagegen setzt er die eigene rationale Kritik. In seiner Sicht ist dies gleichzeitig ein Unterscheidungsmerkmal des kurdischen und des arabischen Bevölkerungsanteils seiner Heimatregion. Für die Kurden reklamiert ein gemäßigt religiöses Verständnis, das er mehrmals mit der Rolle der Frauen in der kurdischen Kultur begründet. Diese seien meist unverschleiert und stärker am politischen Leben beteiligt als im arabischen Bevölkerungsteil. Hier malt er natürlich mit dem großen Pinsel und produziert einen Stereotyp, der manchmal eher an seiner Weltsicht denn an belastbaren Fakten orientiert ist. Der Pol des Selbstbildes: Bestimmend ist seine Sichtweise, als Kurde einer selbstbestimmten Volksgemeinschaft anzugehören, deren eigene Regeln und Traditionen ein Antidot gegen den religiösen Extremismus seien. Er sieht sich als religiösen, aber rational urteilenden Menschen, der sich mit seinen religiösen Traditionen kritisch und ergebnisoffen auseinandersetzt. Der Pol der Beziehung: Obwohl er selber Muslim ist, erfüllen ihn viele religiöse Menschen in Syrien (auch Muslime) mit Vorbehalten. Er lehnt die essentialistische Sicht religiöser Praktiken auf beiden Seiten, der sunnitischen und schiitischen ab. Er äußert Dankbarkeit, dass er seine so beschriebene rationale Diskursebene im säkularen Rahmen der deutschen Gesellschaft wiederfinden und leben kann. Seine Erzählung ist somit auch eine Botschaft an das Aufnahmeland, die er seinem deutschen Interviewpartner reflektiert vermittelt. Der Pol der Situation: Khaled will erst gar nichts zur Religion erzählen, aber dann erzählt er ausführlich, was er an der Rolle der Religion im Syrien-Konflikt nie verstehen konnte. Und diese Erzählung dauert länger als die meisten anderen Interviews, weil er als Muslim in dieser Erzählung letztlich um seine eigene 9 Aus einer Diskussion im Shia-Forum am 7. 12. 2012 (Zugriff 22. 9. 2016): At-Tabari überliefert die selbe Überlieferung wie Al Atheer mit kleinen Abweichungen in seinem Buch ›Tarikh‹. In beiden Überlieferung steht der Ausspruch: ›Wenn die Himmel auf die Erde fallen würden, dann wäre das besser, als wenn Alyy ibn abi Taleb Kalif werden würde.‹ http://www.shia-fo rum.de/index.php?/topic/47417-frage-an-aisha-die-mutter-der-glaeubigen/page-2.
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religiöse Praxis kämpft, deren Berechtigung er gegenüber dem Extremismus in den eigenen Reihen verteidigt.
Milads Erzählung Manche Erzählungen von Opfern religiöser Verfolgung lassen sich kaum in eine geeignete Form bringen, um sie hier darzustellen. Milad, ein irakischer Christ aus Mosul, zeigt mir ein Bild einer vom IS zerstörten Kirche seiner Heimatstadt. Die Bilder gingen im Juni 2015 unter der head-line »One of Mosul’s largest Christian churches is being destroyed and turned into a mosque for Islamic State jihadists« durch die Presse und durch die christlichen sozialen Netzwerke.10 Milad erzählt: »Was mich wirklich entsetzt hat war, dass meine Kirche nicht nur von den ISSchergen zerstört worden ist, sondern auch von meinen Nachbarn …«. Er erzählt die eigene Geschichte als Teil einer langen Leidensgeschichte der eigenen Gemeinschaft seit den Genoziden an syrischen und armenischen Christen in der Türkei in den Jahren 1905 bis 1917. Dabei mischen sich auch für die aktuelle Zeit selbst erlebte und weitererzählte Geschehnisse, wie nach der Eroberung Mosuls durch den IS Christen von ihren Nachbarn vertrieben oder geschädigt worden seien.11 Der Pol der Erzählung: Milad erinnert sich durchaus an lange Jahre einer friedlichen Konvivenz und einer gegenseitigen Wertschätzung von Menschen unterschiedlicher Religion, aber er habe sich nie darauf verlassen wollen, dass dies von Dauer sein könnte. Krieg und Auseinandersetzung zwischen den beteiligten Religionsgemeinschaften seien die erwartbare historische Konstante, Zeiten des Dialogs und der Verständigung seien dagegen temporär und trügerisch. Daher seien die religiösen Minderheiten schon immer in Bedrängnis gewesen, und ›der Islam‹ habe nun wiederum sein ›wahres Gesicht‹ gezeigt. Die Pole des Selbstbildes und der Situation: Milad fühlt sich gegenüber seinem eigenen Unglück hilf- und wehrlos. Halt geben ihm vor allem seine religiöse Überzeugung und die Zugehörigkeit zu einer Kirche, die sich als Schicksalsgemeinschaft versteht und ihm einen lebensnotwendigen Anker bietet. In der Si10 Quelle: http://www.ibtimes.co.in/. Dort mit der Bildunterschrift: »An Isis supporter vandalising a cross on a church in Mosul«. 11 Wie wird die Geschichte von Flüchtlingen erzählt? Father Douglas Bazi, ein chaldäischkatholischer Priester, erzählt im Netz-Interview am 20. 10. 2015: »In one instance, a Muslim man, who had lived with his Christian neighbor for 30 years, threatened to kill the latter, if he did not vacate his home immediately as he wanted his house.« (Quelle: www.express.co.uk/ news/world/613149/ISIS-babarity-100000-Christians-fled-Mosul-one-night, letzter Zugriff: 23. 05. 2018) In dieser Form werden mir solche Geschichten regelmäßig weitererzählt, zum Beispiel von christlichen Syrern auf einem Treffen am 28. 10. 2016 in Frankfurt.
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tuation des Erzählens des Erlebten und im Weitererzählen der erlittenen Verfolgung entsteht aber auch eine narrative Identität, in der die eigene Opferrolle eine übermächtige Bedeutung für seine Selbstsicht einnimmt. Der Pol der Beziehung: Milad gibt an, dass er kein Problem mit den Menschen, sondern mit Ideologien habe. So habe er in Syrien auch kein wirkliches Problem mit den Muslimen als Nachbarn sondern mit ›dem Islam‹ gehabt, der seine Nachbarn ›verdorben‹ habe. Dabei will er keine Differenzierung zwischen ›dem Islam‹ und der extremistischen Ideologie des IS gelten lassen. Seine traumatische Belastung kann im manchen Momenten so bestimmend für Milads Identität werden, dass er auf seiner eigenen Seite nur Opfer und auf der anderen Seite nur Täter sieht. Dann fällt es ihm schwer wahrzunehmen, dass im syrischen Bürgerkrieg vor allem auch Muslime zu Opfern des IS geworden sind oder dass in Assads Geheimdiensten auch Christen zu Tätern wurden. In Deutschland begegnet er Muslimen nur selten, zum Beispiel wenn er heimatliche Lebensmittel in einem türkischen Geschäft einkauft. Er erzählt, wie er Deutschland dankbar sei, dass er hier gut versorgt werde. Er sei aber auch enttäuscht, da er hier gegen seine Erwartung kein christliches Land mehr gefunden habe und sich als Christ in einer überwiegend säkularen Gesellschaft nicht wahrgenommen fühlt. Auch er sendet in der Erzählung also eine deutliche Botschaft an das Aufnahmeland aus, die allerdings die säkular geprägte deutsche Kultur und den hiesigen Religionsdialog mit dem Islam kritisiert.
Zwischenfazit: Gute Nachbarn, schlechte Nachbarn, Täter und Opfer Die erzählten Inhalte sind somit alle Biografie bezogen, aber nicht immer sind es selbst erlebte, sondern häufig auch weitererzählte Geschichten. Nicht alles kann zudem als harte Fakten oder repräsentative Ereignisse gewertet werden, da eine subjektive Auswahl und Gestaltung des Erzählten in der Methode angelegt ist. Was die Geflüchteten erzählten, war somit nur ein Teil der Geschichte. Wie und als was sie sich selber erzählten, war mindestens genauso aussagekräftig. Diese Rollendiskussion muss für jede Erzählung einzeln vorgenommen und zugeordnet werden, um die erzählten Inhalte deuten zu können. Mit Blick auf das Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher Religionen in ihren Herkunftsländern erzählten die Interviewpartner sich selber in drei paradigmatischen Rollen: des toleranten Nachbarn oder Freundes, des säkularen Kritikers extremistischer Positionen oder des Opfers religiös motivierter Gewalt. Auffällig ist, dass bestimmte andere Rollen fehlen, zum Beispiel die des ›dominanten Verteidigers der Religion‹, der sein Heil und das Heil anderer in einem
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möglichst strengen religiösen Exklusivismus sieht – möglicherweise sind wir an solche Menschen mit unseren Interviews nicht herangekommen. Deutlich wird weiterhin, dass alle eingenommenen Rollen Traumata transportieren. Natürlich sind die ›Opfer religiös motivierter Gewalt‹ qualitativ wesentlich stärker dadurch geprägt. Teilweise definieren sie sich vollständig über die Rolle des religiös Verfolgten. Aber auch die ›toleranten Nachbarn oder Freunde‹ und selbst die ›säkularen Kritiker‹ beschreiben ihre aktuelle Situation als einen Verlust sozial und persönlich wichtiger Sinnstiftungen ihres kulturellen Nährbodens, der sie hilflos zurücklässt.
Erzählen einer vergangenen, aber erwünschten Normalität Die ›toleranten Nachbarn oder Freunde‹ idealisieren häufig das Zusammenleben mit Menschen anderer Religion, die ›Opfer religiös motivierter Gewalt‹ betonen hingegen seine Fragilität und Vorläufigkeit. Alle aber sind im Grunde stolz auf die eigene Kulturleistung, die über lange Zeiten vor der Krise das Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher religiöser Lebenspraktiken ermöglichte und Rituale der gegenseitigen Wertschätzung entwickelte. Gemeinsam ist den meisten Befragten weiterhin, dass ein gutes nachbarschaftliches Miteinander der Religionen nach wie vor als Wunschziel angegeben wird. Dies wird als hoher Wert in einer zukünftigen Gesellschaft der befriedeten Herkunftsländer beschrieben. Wichtig dafür sind eine gegenseitig erwiesene Wertschätzung und Routinen der Begegnung miteinander sowie die Vorstellung einer gemeinsamen ›Teilhabe am Vaterland‹ (ar. shuraka el-watan). Diese Elemente besitzen ein spezifisches ˙ kulturelles Muster, das in den traditionellen Diskursen der levantinischen und orientalischen Kulturen gewachsen ist.
Gegenbilder: Täter und Verschwörer Häufig wird aber auch das Scheitern der Diskurse des religiösen Zusammenlebens beschrieben. Wenn die ›toleranten Freunde und Nachbarn‹ von der eigenen Hilflosigkeit erzählen, wie gegenseitige Empathie, Wertschätzung, und die Besinnung auf gemeinsame Werte seit 2011 durch traumatisierende Erlebnisse überlagert werden, so richten sie die Suche nach Verantwortlichen vor allem nach außen. Häufig wird geäußert, dass ›die Extremisten‹ durch ihr Tun die eigene Religion verraten und verlassen hätten. Sie gehören also nicht mehr ›zu uns‹, vielmehr seien sie aus dem Ausland gesteuert und bezahlt. An diesem Punkt ist manche Erzählung in einer Verschwörungstheorie gekippt. Was aber bedeutet dies im Rückschluss ›für uns‹, bzw. für die eigene Religion?
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Nicht nur der Glaubende muss sich vor seiner Religion bewähren, sondern auch die Religion muss sich vor den Notwendigkeiten des Glaubenden bewähren. Sie muss schlichtweg als hilfreich in der persönlichen oder gemeindlichen Anforderungssituation empfunden werden.12 Nur unter diesen Bedingungen kann Religion ihre Relevanz entwickeln. Der Beziehung des Glaubenden zu seiner Religion ist also notwendig deren Dialogizität mitgegeben. Es finden sich in den Interviews daher sowohl Erzählungen, die von religiöser Ermutigung gegen den extremistischen Terror berichten, als auch religionskritische Erzählungen, die von einem Versagen der Religion und ihrer Regelsysteme berichten und die einen rational vermittelten und distanzierten Standpunkt beziehen. Die ›Opfer religiöser Verfolgung‹ erzählen sich nicht nur als Opfer krimineller Täter sondern oft auch als Opfer einer feindlichen Ideologie. Dabei verschwimmt manches Mal die Grenze zwischen der undifferenzierten Sicht auf die Konfession oder Religion des anderen und der Verschwörungstheorie. Zum Beispiel dann, wenn christliche Geflüchtete in muslimischen Geflüchteten aus Syrien keine gleichberechtigten Opfer mehr sehen können sondern die angebliche ›Vorhut einer Kampagne zur Islamisierung Europas‹. Aber auch zwischen schiitischen und sunnitischen Geflüchteten laufen solche von Verschwörungstheorien getragenen Anmutungen.
Begegnung erfordert eine kritische Diskussion der Opfer- und Täterrollen Auffallend ist allerdings, dass die unterschiedlichen religiösen Gruppierungen der Geflüchteten in Deutschland kaum mehr aktiv den Kontakt und das Gespräch miteinander suchen. Damit fallen auch die über Jahrhunderte hinweg eingeübten kulturellen Muster der interreligiösen Konvivenz trocken. Eine gesellschaftlich wichtige kulturelle Aufgabe sehe ich daher darin, diese kulturellen Muster zu dokumentieren, wach zu halten und zeitnah zu reanimieren, damit nicht eine verkürzte und traumatisch verstümmelte Sicht auf das interreligiöse Zusammenleben in den Herkunftsländern der Geflüchteten zum Normalfall erklärt wird. Diesen fatalen Gefallen sollten wir allein schon dem IS und anderen religiösen Extremisten nicht tun. Aber auch mit Perspektive auf Deutschland können wir damit der populistischen Vereinfachung und Verdrehung dieses vielschichten Verhältnisses wehren. Dazu müssen allerdings die Täter- und Opferrollen aller Beteiligten kritisch reflektiert und diskutiert werden. Festzuhalten ist, dass Geflüchtete aller Konfessionen Opfer gruppenbezogener Menschen- und Religionsfeindlichkeit geworden sind. Fakt ist weiterhin, dass sich unter den Geflüchteten aller Gruppierungen auch Mitläufer und Mittäter 12 Niehl 2006, hier S. 23f.
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solcher Gewalt finden. Eine pauschale Entschuldung der eigenen religiösen Gruppierung ist daher genauso unzureichend wie eine Verschwörungstheorie, die alles Elend nur dem ›Ausland‹ anlastet. Der kritische Blick auf das Versagen der eigenen Gruppe ist schmerzhaft aber notwendig, und dazu gehört auch der religionskritische Blick auf das Versagen der Regelungssysteme der eigenen Religion, die ihren Missbrauch offensichtlich nicht verhindern konnten. Zu solcher Trauerarbeit gehören Schmerz, Trösten, Helfen und Vermitteln. Zur Trauerarbeit gehören aber auch gegenseitige Anschuldigungen dort, wo nachweislich Unrecht getan wurde. Alle Opfer von Gewalt und Unrecht haben das Recht, dass ihre Erzählungen von traumatisierenden Erfahrungen gehört, wahrgenommen und erinnert werden. Sicherlich ist der beste Weg, solche Anschuldigungen täterbezogen zu äußern und nicht die Religion oder Konfession der Täter zu dämonisieren. Wie geht man aber damit um, ohne den Opfern vorschreiben zu wollen, wie sie ihr Trauma zu verarbeiten haben? Aus Erfahrungen bosnischer Muslime, die in den 1990er Jahren gleiches von christlichen Nachbarn erlitten, wissen wir um die Langfristigkeit dieser Prozesse zwischen Traumatisierung, Trauer und Wut, gegenseitiger Feindschaft und Ablehnung, bis hin zu einer vorsichtigen Wiederannäherung, die in den jugoslawischen Nachfolgestaaten aber immer noch ein Kampf um eine würdige Erinnerungskultur und um eine gerechte Strafverfolgung der Täter ist – mehr als 20 Jahre nach dem Massaker von Srebrenica. Wir wissen aus diesem Zusammenhang auch um die Gefahr, die von einer populistischen Vereinnahmung solcher Gewalterfahrungen auf beiden Seiten ausgehen kann.
Ausblick: Ein Beispiel für Interreligiösen Kulturtransfer Ein abschließendes Beispiel soll die Möglichkeit eines Transfers bewährter interreligiöser Routinen und Ressourcen aus den Herkunftsländern der Geflüchteten in unseren Kulturbereich ausloten. Diesmal ist es meine eigene Erzählung, die den Narrativ dazu liefert. Auslöser war eine Pressenachricht, die ich am 26. 12. 2015, also kurz nach den vom IS verursachten Attentaten in Paris, im Internet las: Französische Muslime statten Solidaritätsbesuche in christlichen Kirchen ab. Muslims in France have made a show of solidarity with the country’s majority Christian population by gathering to protect a church during the Mass.13 Dozens of Muslims in the city of Lens volunteered to guard the event at the Catholic Church Christmas in the early hours of Friday, French media reported. The decision 13 Meldung auf press.tv vom 25. 12. 2015, 6:30pm, Zugriff am 21. 9. 2016. http://presstv.com/De tail/2015/12/25/443213/France-Muslims-Christmas-Mass/.
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came reportedly after France’s Interior Ministry issued warnings that »particular vigilance« should be practiced during the Mass. The head of the Union of Muslim Citizens of Pas-de-Calais, Abdelkader Aoussedj, said the move was a strong gesture showing that Muslims greatly respect other religions. »We would have liked this to happen everywhere else, especially at a time when Muslims are stigmatized. That is the true Islam, it has nothing to do with these fools, these bad apples,« Aoussedj said, referring to a series of attacks in the capital, Paris, on November 13, where 130 people were killed. … Some 200 people who attended the Mass expressed their appreciation of the move by the Muslims, with Lens Pastor Lemble describing the initiative as »superb.«
Um zu verstehen, wie ich diese Geschichte in Deutschland gegenüber Geflüchteten und Landsleuten weiter erzähle, ist vorab zu bemerken, dass ich von 1997 bis 2014 insgesamt 17 Jahre an einer deutschen Schule in Kairo gearbeitet habe. Hier also meine Erzählung.
Meine Erzählung: »Das haben wir in Ägypten 2011 auch schon so gemacht …« Einen Monat vor Ausbruch der ägyptischen Revolution begann an unserer Schule der erste Schultag nach den Weihnachtsferien, am 09. Januar 2011, mit einer Schweigeminute und einem koptischen und islamischen Friedensgebet. In der Neujahrsnacht hatte ein Bombenattentat vor einer koptischen Kirche in Alexandrien mehr als zwanzig Menschen in den Tod gerissen, darunter auch eine Absolventin der Deutschen Schule Alexandria. Unsere Schülerinnen und Schüler tauschten sich in den folgenden Tagen auf einer schwarzen Klagemauer und auf einer gelben Hoffnungswand immer wieder über ihre Ängste, aber auch ihre Visionen und Hoffnungen für das Zusammenleben der Religionen in Ägypten aus. Der Anschlag, der von einer salaftistischen Terrorgruppe unternommen wurde – wobei später klar wurde, dass auch der omnipräsente Geheimdienst des Innenministeriums darin verwickelt war – führte in der öffentlichen Meinung in Kairo zu großen Solidaritätsbekundungen mit den koptischen Mitbürgern. Zahlreiche Muslime aller Couleur äußerten öffentlich, an den Mitternachtsmessen zum koptischen Weihnachtsfest in der Nacht vom 6. zum 7. Januar 2011 teilnehmen zu wollen, um ein friedliches Weihnachtsfest zu ermöglichen. Tatsächlich drängten sich zu diesem Termin ganze Busladungen von Besuchern vor den eilig aufgebauten Sicherheitsschleusen der koptischen Kirchen in wohlsituierten Vierteln wie Zamalek oder Maadi, und ein Teil des diplomatischen Korps wohnte der Christmette in der Patriarchatsbasilika im Stadtteil Abbaseya bei.
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Foto: Frank van der Velden, privat
Im Bild fordert ein im Stadtteil Maadi mehrfach aufgehängtes Plakat »Die Sicherheit der Betenden in Moscheen und Kirchen (zu gewährleisten) ist eine islamische Pflicht« – übrigens eines der ersten Plakate, mit denen in dieser Zeit der politische Arm der Muslim-Bruderschaft öffentlich hervortrat. Manche koptische Freunde witzelten bereits bitter, sie hätten sich schon lange nicht mehr so sicher gefühlt wie in den Tagen nach dem Alexandria-Attentat. Für das spätere Zusammenstehen muslimischer und koptischer Aktivisten auf dem Tahrir-Platz war diese Solidarität allerdings eine Art Initialzündung. Zum ersten Mal tauchten hier wieder die Symbole der ¯ıd wahda (einigen Hand) von Kopten und Muslimen auf, welche bereits in den 20er Jahren während des Ringens um eine nationale Selbständigkeit gezeigt wurden. Wenn einige Wochen später Kopten ihre muslimischen Mitstreiter beim Freitagsgebet auf dem TahrirPlatz geschützt haben, und Muslime die Christen während der Sonntagsgottesdienste schützten, so war auch dieses Verhalten nicht nur auf den Augenblick bezogen. Die schützende Mauer beim Gebet der anderen Religion war unter anderem ein klares Statement gegenüber dem Alexandrien-Attentat vom 1. 1. 2011. Es wurde dadurch deutlich klar, welche Form des Zusammenlebens von Christen und Muslimen in Ägypten die jungen Eliten auf dem Tahrir-Platz wünschten.
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Meine Erzählung in der Rollendiskussion Meine Erzählung »Das haben wir in Ägypten 2011 auch schon so gemacht …« in der Rollendiskussion zwischen Erzählung, Selbstbild, Beziehung und Situation. Der Pol der Erzählung: Auf dieser Ebene habe ich berichtet, wie »Wir in Ägypten …« reagiert haben, als unsere Nachbarn angegriffen wurden. Das »Wir« umfasste damals die gefühlte Mehrheit der urbanen Milieus von Alexandrien und Kairo, da sich ad hoc bei Christen und Muslimen nur solche Stimmen öffentlich meldeten. Hinter der solidarischen Aktion standen kulturell geprägte Routinen, die zwischen Christen und Muslimen zu diesem Anlass abgerufen werden konnten. Diese Routinen habe ich in Lens 2015 wiedererkannt. Offensichtlich waren sie also transferfähig. Der Pol des Selbstbilds: Ich habe mich als Teil einer Gemeinschaft erzählt, in der es feste gewachsene Traditionen und Rituale des Zusammenlebens gibt. Und auch ich habe die Rolle des ›hilfreichen Freundes und Nachbarn‹ eingenommen. Das verstellt mir allerdings nicht den Blick auf die auch von Ungleichheit und gewalttätigen Vorfällen betroffene Lebenssituation der Kopten in Ägypten. Viele der dortigen Probleme sind durch die mangelnde Transparenz politischer Entscheidungen und durch die mangelhafte Strafverfolgung von Tätern hausgemacht. Der Pol der Beziehung: Natürlich bin ich als katholischer Christ meinen koptischen Schwestern und Brüdern besonders verbunden. Ich sehe diese in Ägypten aber auch als Teil einer Nation an, in der alle Menschen mit eingeschränkten bürgerlichen Freiheitsrechten leben müssen. Dabei gibt es auch spezifische Konflikte miteinander, wenn es um die gleichberechtigte Teilhabe der Minderheiten am Vaterland geht. Aber es gibt eben auch Ressourcen und Routinen der gegenseitig erwiesenen Wertschätzung. Wenn die Zukunft auch für alle – Muslime und Christen – unsicher und gefährlich scheint, so wird manche schwierige Situation dadurch für alle leichter lebbar. Situativ: Es ist kulturell und religiös für Muslime und Christen beiderseits geboten, alle Betenden zu schützen. In dieser Situation sahen sich offensichtlich selbst erbitterte politische Gegner, wie die Partei der ägyptischen Muslim-Bruderschaft, verpflichtet, im Rahmen dieses kategorischen Imperativs zu handeln. Genauso sicher weiß ich, dass am nächsten Tag die harten politischen Auseinandersetzungen mit den gleichen Leuten weitergingen.
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Abschluss Zum Abschluss jedes Beitrags, der mit einer geringen Zahl von qualitativen Interviews nur Fallstudien einer Entwicklung vorlegen kann, stellt sich die Frage der Repräsentativität der erhobenen Daten. So auch hier. Immerhin weist die aktuelle MENA-Jugendstudie der Friedrich-Ebert-Stiftung14, bei der in den Jahren 2016 und 2017 insgesamt 9.000 junge Menschen im Alter von 16 bis 30 Jahren aus der Region des Nahen Ostens und Nordafrikas befragt wurden, zum Thema Religion in die gleiche Richtung. Viele Jugendliche und junge Erwachsene sind zu sozialem und gesellschaftlichem Engagement bereit, distanzieren sich aber von Parteipolitik. Dazu gehört auch die Distanzierung von religiösen Parteien. Religion wird als sehr wichtig erachtet, allerdings wird dies auf der Ebene eines persönlichen Gottvertrauens, der Resilienz und der eigenen spirituellen Gründung artikuliert. Insbesondere gilt dies für die gebildeteren Schichten. Die politische und ideologische Dimension von Religion wird dagegen weitgehend kritisch gesehen, kollektive religiöse Sozialutopien sind nach den Erfahrungen mit der Gewaltherrschaft des IS offensichtlich stark aus der Mode gekommen. Die vielfachen biographischen Brüche in Anbetracht von Kriegs- und Gewalterlebnissen lassen Recht, Ordnung und soziale Sicherheit als die höchsten gesellschaftlichen Werte der Interviewpartner der MENA-Jugendstudie erscheinen. Im persönlichen Umfeld sind dies die Familie und eine selbstgewählte Partnerschaft. Auch wenn die Mehrheit der Befragten nach den Enttäuschungen der Arabellion nicht mehr kämpferisch für bürgerliche Freiheiten und Minderheitenrechte eintreten will, zeigt sich eine große Sehnsucht nach gesicherten Grundbedürfnissen, nach der Abwesenheit von Gewalt und nach einem friedlichen nachbarschaftlichen Zusammenleben. Rachid Ouaissa bilanziert: »Es kann festgehalten werden, dass Religion immer mehr zu einer individuellen Angelegenheit zu werden scheint … Bei den befragten Jugendlichen sind ein Rückgang der politischen Religiosität und eine Zunahme der sozialen Religiosität zu verzeichnen. Vielleicht erleben wir gerade den Beginn eines laizistischen Zeitalters in der arabischen Welt.«15
Die hier berichteten Interviews liefern einerseits den kulturspezifischen Narrativ zu diesen Entwicklungen und Erwartungen. Andererseits zeigen sie auch, dass das erwünschte friedvolle Zusammenleben eine kritische Reflexion der eigenen Täter- und Opfernarrative aller Beteiligten erfordert. Weder der Verweis auf ›gute alte Zeiten‹ (ar. aya¯m el-zama¯n) noch der Versuch, die eigenen Probleme als Ergebnis einer ausländischen Agitation darzustellen, werden alleine das nach-
14 Ouaissa 2018, S. 101–119. 15 Ouaissa 2018, hier S. 119.
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barschaftliche Vertrauen wiederherstellen können. In den zukünftigen Begegnungen werden auch Enttäuschungen und gegenseitige Vorwürfe ausgehalten werden müssen. Versöhnung setzt auch die Reflexion des eigenen Versagens und die Überwindung der eigenen Scham voraus. Diese schwierigen Schritte zueinander haben aber größere Aussicht auf Erfolg, wenn sie auf dem Teppich der hier erzählten Routinen und kulturspezifischen Muster der gegenseitigen Wertschätzung gegangen werden. Und vielleicht lässt sich, mit Blick auf die letzte Erzählung, davon auch für Europa etwas lernen.
Literatur Niehl, Franz W.: Bibel verstehen. Zugänge und Auslegungswege, München 2006. Ouaissa, Rachid: Jugend und Religion, in: Gertel, Jörg / Hexel, Ralf (Hrsg.): Zwischen Ungewissheit und Zuversicht: Jugend im Nahen Orient und in Nordafrika, 2018, S. 101– 119. Schulte, Andrea: Schüler/in psychologisch, in: Rothgangel, Martin / Adam, Gottfried / Lachmann, Rainer (Hrsg): Religionspädagogisches Kompendium, Göttingen 2012, S. 222–236. Van der Velden, Frank: Religiöse Ressourcen in Zeiten von Arabellion und Flüchtlingskrise, in: ders. / Behr, Harry H. (Hrsg.): Dokumentation des Hessencampus-Projekts »Religion als Ressource in sozialer Arbeit mit Geflüchteten«, 2016, S. 21–28 (http:// www.keb-hessen.de/projekte/religion-als-ressource/ letzter Zugriff am 12. 2. 2018). van der Velden, Frank: Die blutenden Grenzen der religiösen Vielfalt. Auf der Suche nach Ressourcen des Zusammenlebens im arabischen Nahen Orient, in: Bonacker, Marco / Geiger, Gunther (Hrsg.): Grenzen. Der demokratische Rechtsstaat und die Herausforderung der Migration, Paderborn 2018, S. 55–73.
Liste der Beitragenden (in alphabetischer Ordnung)
Harry Harun Behr, geb. 1962, ist Professor für Erziehungswissenschaften mit den Schwerpunkten Islamische Religionspädagogik und Fachdidaktik des Islams am Fachbereich Erziehungswissenschaften der Goethe-Universität Frankfurt. Klaus-Dieter Grothe, geb. 1955, ist als Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie sowie Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie seit 1989 in eigener Praxis tätig. Neben der eigenen Praxis in Hüttenberg bei Gießen, in der er auch Flüchtlinge und Asylsuchende betreut, ist er als Supervisor und Ausbilder in der psychotherapeutischen Ausbildung tätig. Sebastian Hofmann, geb. 1981, Dipl.-Sozialpädagoge / Sozialarbeiter (FH), Erzieher, Ausbildung zum Systemischen Berater und Therapeuten / Familientherapeuten, ist Erziehungsleiter der Wohngruppen für unbegleitete minderjährige Ausländer*innen (umA) des Jugendhilfeverbundes Antoniusheim Wiesbaden. Christiane Krüger-Blum, geb. 1968, Lehrerin, ist pädagogische Mitarbeiterin am Institut für Pädagogik der Sekundarstufe an der Goethe-Universität Frankfurt. Tätig auch als Lehrbeauftragte für ästhetische und mediale Bildung im Fachbereich Soziale Arbeit der Hochschule RheinMain und Referentin am Schultheaterstudio in Frankfurt. Martin Lechner, geb. 1951, ist Professor em. für Jugendpastoral an der Phil.Theol. Hoch-schule Benediktbeuern und ehem. Leiter des Jugendpastoralinstituts Don Bosco (JPI). Uta Pohl-Patalong, geb. 1965, ist Professorin für Religionspädagogik, Homiletik und Kirchentheorie an der evang.-theologischen Fakultät der ChristianAlbrechts-Universität Kiel.
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Liste der Beitragenden
Jette van der Velden, geb. 1966, ist Diplom-Pädagogin und Projekt-Leiterin des Hessencampus-Projektes 2017 »Kultursensibilität lernen. Interkulturelle Kompetenzen für die berufliche Praxis« der Katholischen Erwachsenenbildung Hessen e.V. Frank van der Velden, geb. 1964, ist Studienleiter für interreligiöse Bildung und Islam-Beauftragter des Bistums Limburg, sowie Lehrbeauftragter für interreligiöses Lernen am Seminar für kath. Religionspädagogik der Joh.-Gutenberg-Universität Mainz.