Comics in Schule und Religionsunterricht: Vielfalt adressieren, Kompetenzen fördern, Unterricht verbessern [1 ed.] 9783737013727, 9783847113720


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Comics in Schule und Religionsunterricht: Vielfalt adressieren, Kompetenzen fördern, Unterricht verbessern [1 ed.]
 9783737013727, 9783847113720

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Arbeiten zur Religionspädagogik

Band 73

Herausgegeben von Prof. Dr. Dr. h.c. Gottfried Adam, Prof. Dr. Dr. h.c. Rainer Lachmann und Prof. Dr. Martin Rothgangel

Karoline Pohl-Otto

Comics in Schule und Religionsunterricht Vielfalt adressieren, Kompetenzen fördern, Unterricht verbessern

Mit 35 Abbildungen

V&R unipress

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2022 Brill | V&R unipress, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, Verlag Antike und V&R unipress. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Little superhero studying at school, JenkoAtaman (Adobe Stock: #361271054) Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2198-6177 ISBN 978-3-7370-1372-7

Stories of imagination tend to upset those without one. - Terry Pratchett

Inhalt

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

11

I Grundlegung 1 Begriffliche und konzeptuelle Grundlegung . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Kernbegriffe der Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Konstruktiver Umgang mit Heterogenität – Konzepte von Pädagogik der Vielfalt, Bildungsgerechtigkeit und Inklusion . . . . 1.2.1 Schulische Risikogruppen und ihre Förderung durch Comics .

21 21

2 Comics – Eine kurze Einführung in das Medium . . . . . . . . . . . . 2.1 Definitionsversuch(e) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Charakteristikum I: Der Rinnstein . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Charakteristikum II: Das Ineinandergreifen von Wort und Bild . 2.4 Charakteristikum III: Die Sprache des Comics . . . . . . . . . . . 2.5 Die inhaltliche Ebene: Prägnante Erscheinungen und Phänomene 2.5.1 Thematische Trends . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5.2 Comicgattungen und ihre Affinitäten . . . . . . . . . . . . . 2.6 Comics in der Lebenswelt von Kindern und Jugendlichen . . . . .

. . . . . . . . .

41 41 44 48 50 60 62 69 80

3 Gegenwärtige Fragestellungen und Methoden in der Comicforschung .

93

30 36

II Comics und Unterricht – Möglichkeiten eines Mediums zur Förderung der Unterrichtsqualität 1 Comics als Thema der gegenwärtigen Didaktik und Schulpädagogik . .

101

2 Was können Comics in der Didaktik leisten? – Eine Annäherung . . .

107

8

Inhalt

3 Konkretisierung: Comics als Chancengeber in Unterrichtsprozessen . . 3.1 Motivieren und das Lernklima verbessern . . . . . . . . . . . . . . 3.1.1 Motivieren und Interesse wecken . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.2 Schülerorientiert unterrichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.3 Eine lernförderliche Atmosphäre schaffen . . . . . . . . . . . 3.2 Schlüsselkompetenzen stärken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.1 Comicrezeptionskompetenz anerkennen . . . . . . . . . . . . 3.2.2 Kreativ lernen und arbeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2.1 Exkurs: Comics erstellen – digital oder in Handarbeit? 3.2.3 Wissen und Vorwissen aufbauen . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.4 (Bildungs-)Sprache fördern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.5 Lesekompetenz entfalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.6 An die Zukunft denken: Visual Literacy . . . . . . . . . . . . 3.3 Kognitiv aktivieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.1 Comics und E-Medien hinsichtlich des Aktivierungspotenzials kritisch nutzen . . . . . . . . . . . . .

111 111 111 120 129 135 136 141 155 157 169 177 190 213

4 Comics als Chancengeber für die Heterogenität im Unterricht . . 4.1 Angebotsvielfalt vergrößern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.1 Den Fachunterricht mithilfe von Comics transzendieren 4.1.2 Medienvielfalt nutzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.3 An Text und Bild anschließen . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Vielfalt adressieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.1 Begabungen aufdecken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.2 Lernstilen entgegenkommen . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.3 Selbstvertrauen stärken . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Kooperativ lernen und individuell wachsen . . . . . . . . . .

241 241 245 247 249 259 261 263 266 268

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. . . . . . . . . .

236

III Comics und Religionsunterricht – Möglichkeiten eines Mediums zur Förderung religiöser Lehr-Lern-Prozesse 1 Comics als Thema der Praktischen Theologie und Religionspädagogik . 2 Was können Comics für die Religionspädagogik leisten? – Eine Annäherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Theologisch-kulturhermeneutische Zugänge . . . . . . . . . . 2.1.1 Strukturanalogien zwischen dem Superheldengenre und jüdisch-christlicher Erlösungshoffnung . . . . . . . . . . 2.2 Diskussion und religionspädagogischer Nutzen . . . . . . . .

281

. . . . . .

289 289

. . . . . .

305 314

9

Inhalt

3 Konkretisierung: Comics als Chancengeber in religiösen Lehr-Lern-Prozessen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Religiöse Bildung fördern . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.1 Wissen vergrößern . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.2 Religionsbezogene Kompetenzen erwerben . . 3.2 Aus narrativen und biographischen Comics schöpfen 3.3 Visual Literacy religionsbezogen aufbauen . . . . . .

. . . . . .

321 321 324 329 341 353

4 Comics als Chancengeber für die Heterogenität im Fach . . . . . . . . 4.1 Heterogenität reflektieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.1 Theologisch denken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.2 Herausforderung und Verantwortung annehmen . . . . . . . 4.1.3 Die comicdidaktische Religionspädagogik als Ermöglichungsstrategie einordnen . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Vielfalt im Religionsunterricht adressieren . . . . . . . . . . . . . . 4.2.1 Konfessionslose und Kirchendistanzierte erreichen . . . . . . 4.2.2 Muslimische Schüler berücksichtigen . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Benachteiligte Gruppen wahrnehmen . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.1 Jungen stärker aktivieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.2 Lernende mit körperlichen und geistigen Beeinträchtigungen inkludieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

363 364 364 367

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371 374 374 385 396 397 410

IV Erprobung der Theorie an exemplarischen Werken 1 Marjane Satrapis Persepolis – Fundamentalismus und Differenz 1.1 Analyse des Werkes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.1 Inhalt und Genre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.2 Veröffentlichung und Rezeption . . . . . . . . . . . . . 1.1.3 Stil, Ausdrucksmittel und Erzählweise . . . . . . . . . . 1.2 Inhaltliche Aspekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.1 Kulturelle Differenz- und Spannungsverhältnisse . . . . 1.2.2 Fundamentalismus und Widerstand . . . . . . . . . . . 1.3 Religionspädagogische Reflexion . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.1 Religiöse Bildung fördern . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.2 Vielfalt adressieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.3 Für andere Fächer öffnen . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.4 Unterricht verbessern . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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429 430 430 432 433 442 443 450 457 457 462 466 468

10 2 Don Rosas Onkel Dagobert: Sein Leben, seine Milliarden – Sinn und Identität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Analyse des Werkes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.1 Inhalt und Genre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.2 Veröffentlichung und Rezeption . . . . . . . . . . . . . 2.1.3 Stil, Ausdrucksmittel und Erzählweise . . . . . . . . . . 2.2 Inhaltliche Aspekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1 Identität und Entfremdung . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2 Sinn und Transzendenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Religionspädagogische Reflexion . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.1 Religiöse Bildung fördern . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.2 Vielfalt adressieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.3 Für andere Fächer öffnen . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.4 Unterricht verbessern . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Inhalt

. . . . . . . . . . . . .

471 472 472 478 481 484 484 507 524 531 537 541 546

Fazit – Zwölf Thesen für Comics in Schule und Religionsunterricht . . .

551

Danksagungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

561

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

563

Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

599

Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

601

. . . . . . . . . . . . .

. . . . . . . . . . . . .

Einleitung

Unsere Lehrkräfte stehen im Alltag vor großen Aufgaben und Möglichkeiten. Die Klassenzimmer waren noch nie so sehr von kultureller, weltanschaulicher und sprachlicher Vielfalt geprägt, der proaktiv begegnet werden sollte. Dazu kommt zweifelsohne der Druck der Leistungsgesellschaft, Unterricht immer effektiver zu gestalten. Und schließlich sind wir für die herrschende Bildungsungerechtigkeit sensibler denn je und herausgefordert, diese mutig anzugehen – ein Anliegen, das vielleicht gerade Religionslehrerinnen1 besonders am Herzen liegen könnte. Aber wie können einzelne Lehrkräfte die Schere zwischen Bildungsgewinnern und ›Bildungsverlierern‹ nicht zu groß werden lassen? Wie können sie der Heterogenität im Klassenzimmer entspannt begegnen? Und wie kann man die Lebenswelt der Kinder und Jugendlichen ernstnehmen und gleichzeitig gehaltvoll unterrichten? Auch im Religionsunterricht stellen sich diese Fragen, es kommen jedoch weitere dazu: Wie kann man dem gesellschaftlichen Bedeutungsverlust des christlichen Glaubens und der Religion insgesamt begegnen? Wie lassen sich Pluralismusfähigkeit und religiöse Toleranz fördern? Welche Themen des Transzendenz sind für zunehmend kirchenferne Kinder und Jugendliche heute wirklich wichtig? Während Bildungspolitikerinnen, Praktiker und Forschende mit diesen Fragen ringen, hat sich von ihnen (oft) weitgehend unbemerkt und abseits der Schule ein altes Medium neu erfunden und entfaltet: Die Rede ist von Comics. Sie liegen in vielerlei Hinsicht am Puls der Zeit, und das zunehmend auch in der Didaktik der Schulfächer. Liegt hier vielleicht eine Antwort auf grundlegendere Fragen? Es könnte lohnenswert sein, sich dem Potenzial von Comics zu öffnen und deren Nutzen in Lernkontexten systematisch zu durchdenken. Als populärkulturelles Massenmedium hat es im Leben vieler Heranwachsender aller Digitali1 Im Folgenden habe ich mich für eine vielfältige Ausdrucksweise entschieden, werde also alternierend weibliche und männliche Bezeichnungen für Personen verwenden und geschlechtsneutrale Formulierungen bevorzugen. Gemeint sind immer alle Geschlechter.

12

Einleitung

sierung zum Trotz nachweislich einen festen Platz und gerade Kinder assoziieren viel Positives damit.2 Dabei kennt das Erzählen in aufeinanderfolgenden Bildern stilistisch und inhaltlich keine Grenzen: Comics gibt es in vielfältiger Form, mit jedem möglichen Inhalt und mit vielen unterschiedlichen Adressaten. Immer mehr Künstlerinnen transportieren besonders durch die populär gewordene Gattung der ›Graphic Novel‹ heute viel Wissen – womit man wohl sagen kann, dass die Zeichner als erstes das didaktische Potenzial ihres Mediums erahnt haben. Schaffende verarbeiten ethische Problemstellungen oder entwerfen ein Bild ihres Glaubens (Fiors Fräulein Else; Tuffix’ Webcomics; Sfars Die Katze des Rabbiners u.v.m.), erzählen ergreifende Geschichten vom menschlichen Leben und über menschliche Abgründe (Eisners Ein Vertrag mit Gott; Moores/Lloyds V wie Vendetta u.v.m.) oder rütteln mit ihrer eigenen, ins Bild gesetzten Biographie auf (Nakazawas Barfuß durch Hiroshima, Satrapis Persepolis u.v.m.). Comics besitzen als Medium einen genuinen Wert und ihr eigenes Ausdrucksspektrum, das die Summe aus Wort und Bild weit übersteigt. Sie stellen deshalb nicht nur vielfältige Lektürethemen zu Verfügung, sondern besitzen Charakteristika, die sie von allen anderen Kunstformen unterscheiden – und damit einher geht vielleicht auch ein genuines pädagogisches Potenzial. Dass die Stunde der Comics im schulpädagogischen und didaktischen Bereich gekommen ist, zeigt nicht nur die zunehmende Zahl der Beiträge aus den Fachdidaktiken. Auch die internationale Jahrestagung der »Deutschen Gesellschaft für Comicforschung« hat sich im Jahre 2016 ganz dem Thema von Comics in der Schule gewidmet. Warum auch nicht? Menschen sind von Jugend an darauf gepolt, über visuelle Kanäle zu lernen und das Zusammenwirken von Bild und Text bleibt ein Leben lang Mittel zum Lernen, Erinnern und zur Wissensteilung.3 Dennoch mangelt es an prägnanten Stellen noch an Grundlagenforschung und gerade die strukturellen Charakteristika des Mediums werden in der Kognitionsforschung zu wenig beleuchtet – dabei wäre dies wichtig, um Lernprozesse, die durch Comics initiiert werden, sichtbar zu machen, zu erklären und zu nutzen. Obwohl schon Johann Wolfgang von Goethe über Rodolphe Töpffer, der eine frühen Form des Comics hervorgebracht hatte, sagte, dieser könne sicherlich »Dinge über alle Begriffe« hervorbringen, ist der Comic trotz seiner Dynamik und wachsenden Relevanz noch immer ein stark unterschätztes Medium.4 Im comicwissenschaftlichen Diskurs wird dabei immer noch verhandelt, was Comics eigentlich ausmacht. Einige Forscherinnen betrachten den kleinen, unauffälligen

2 Vgl. Wiesner, 2014, S. 105; Ostertag, 2012, S. 153; Berner, 2012, S. 26. 3 Vgl. auch Carter, 2014, VIII. 4 Zit. nach McCloud, 2001 (b), S. 25.

Einleitung

13

Spalt zwischen zwei Comicbildern, »gutter« genannt, als Herz des Mediums. Dieser fordert eine hermeneutische Eigentätigkeit von den Lesenden: [T]he gutter, as deliberately open space where some form of suturing of hermeneutic activity is required in order to for the reader to attain a first level of closure, is also distinct from similar formal characteristics of other media. The gutter could be said to constitute the single element that defines comics as a separate medium rather than a subgenre of literature or the graphic arts.5

Deshalb tragen Comics, die sich durch Bildersequenzen auszeichnen, auch den Beinamen ›Sequenzielle Kunst‹. Andere Forscherinnen verweisen eher auf das gekonnte Zusammenspiel von Text und Bild: »It is a graphic technique specific to comics which effectively synthesizes two distinct mediums to optimize expression«.6 In jedem Falle ist der Comic ein faszinierendes Medium, »an ingenious form with a highly developed grammar and vocabulary.«7 In den letzten Jahrzehnten hat sich die Kunstform zudem rapide weiterentwickelt und sich etwa non-fiction-Formen mehr denn je geöffnet. In der Religionspädagogik hat der Comic im Vergleich zu anderen Ausdrucksformen unserer Kultur eher wenig Beachtung erfahren. Die Forschungsgemeinschaft hat sich vielfältig dem Potenzial von zeitgenössischen Filmen, Literatur und Musik geöffnet, während der Comic ein eher randständiges Phänomen geblieben ist. Die Praktische Theologie hat sich in kulturhermeneutischen Zusammenhängen zwar intensiver mit Einzelwerken und klassischerweise besonders mit Superheldenerzählungen beschäftigt8, insgesamt ist aber nur ein geringer Fokus auf den möglichen pädagogischen Nutzen gelegt worden (mit Ausnahme der Ansätze von Reuter 2011 und wenigen anderen). Dennoch darf man hier nicht stehenbleiben, denn allein die letzten zehn Jahre (!) haben zu solch starken Entwicklungen in der Comic-Kunst und -szene geführt, dass eine Aktualisierung und Fortführung dringend notwendig ist: Als Beispiel kann man etwa die neue Fülle von Info- und Wissenschaftscomics, die bekannte Gattungskonventionen transzendieren (man denke nur an die Metacomic-Dissertation Unflattening9 von Nick Sousanis) sowie die überbordende Kreativität, die in zeitgenössischen Webcomics zutage tritt, betrachten. Diese Entwicklung übersieht etwa Frank Thomas Brinkmann, wenn er anführt, die Frage, ob sich Religionsunterricht mit Comics bestreiten ließe, sei überstrapaziert und obsolet.10 5 6 7 8

Goggin; Hassler-Forest, 2010, S. 1. Bongco, 2001, S. 15. Ebd., S. 21. Vgl. etwa Brinkmann, 2016; Luibl, 2011; Oropeza, 2008; Fechtner; Fermor; Pohl-Patalong; Schroeter-Wittke, 2005; Wermke, 1976 (a). 9 Sousanis, 2015. 10 Brinkmann, 2016.

14

Einleitung

Das ursprüngliche Ziel dieser Arbeit war deshalb, die Grundlagenforschung aus Perspektive der schulbezogenen Religionspädagogik auszubauen, um das Potenzial der Comicdidaktik für religiöse Lehr-Lern-Prozesse zu prüfen. In meiner Forschung stieß ich jedoch zunehmend auf unterrichtstheoretische Herausforderungen, die nicht nur das Fach Religion betreffen, sondern gleichermaßen ein Thema für andere Fachbereiche darstellen. So betrifft etwa der Einfluss, den die Arbeit mit Comics auf die unterrichtliche Angebotsvielfalt oder die Motivation der Lerngruppe nehmen kann, zentrale Faktoren fachübergreifender Unterrichtsprozessqualität. Was ist also das Anliegen dieser Untersuchung? Es soll ein Instrumentarium für die Verbesserung von Lernprozessen und die Adressierung von Vielfalt im Klassenraum durchdacht und geprüft werden. Dabei geht es sowohl um fachübergreifendes, allgemeines Lernen als auch um religiöse Bildungsprozesse; es geht um Vielfalt in jedem Fach und auch um spezifische Gruppen im Religionsunterricht, die unterschiedliche Bedürfnisse haben. Gerade von der Religionspädagogik mit ihren dezidiert theologischen Grundlagen dürfen m. E. besonders Impulse für die allgemeine Schulpädagogik ausgehen, um Vielfalt und vielfältige Bedürfnisse in Lerngruppen wertzuschätzen und zu adressieren. Es ergeben sich dadurch folgende Forschungsfragen: Auf welche Weise, sowohl durch medienstrukturelle Charakteristika als auch durch spezielle thematische Inhalte, können Comics positiv auf schulische Lernprozesse einwirken bzw. für den Kompetenzerwerb genutzt werden? Kann der Einsatz von Comics im Unterricht die Unterrichtsprozessqualität direkt oder indirekt steigern – und wenn ja, in welcher Hinsicht? Und schließlich: Wie lassen sich Comics möglicherweise nutzen, um Vielfalt/Heterogenität in der Lerngruppe zu adressieren? Außerdem spezifisch für das Fach Religion: Wie können Comics fruchtbar in die Religionsdidaktik eingebunden werden, um prozess- und inhaltsorientierte Kompetenzen bzw. religiöse Lernprozesse zu stärken? Welche Gruppen im Religionsunterricht lassen sich durch Comics möglicherweise stärker aktivieren als durch andere Medien? Meine Forschung beruht auf der Hypothese, dass die Comicdidaktik den Religionsunterricht und andere Fächer in kreativer und innovativer Weise bereichern kann und möglicherweise auch positiv auf den schulischen Anforderungsbereich der Lerngruppen-Heterogenität Einfluss nehmen könnte. Es besteht die Hoffnung, dass Comics ein Mittel für den Religionsunterricht sein können, um etwa Jungen (die dem Fach traditionell distanzierter gegenüberstehen als Mädchen) oder dezidiert kirchenferne Jugendliche zu aktivieren. Und fachübergreifend ist die Comicdidaktik eventuell ein Werkzeug, um geringeres Vorwissen oder Nachholbedarf in der Lesekompetenzförderung von Schülergruppen auszugleichen.

Einleitung

15

Wenn Comics langfristig einen Platz im reichhaltigen (religions-)pädagogischen Werkzeugkasten erhalten sollen, müssen dringend Nutzen und Grenzen abgewogen, eine Grundlage für empirische Forschungsfragen geschaffen und im Optimalfall eine Mustergruppe von Einzelwerken exemplarisch und stringent auf ihren Wert und ihre tatsächliche Zweckdienlichkeit für Lernzusammenhänge analysiert werden. Dies muss unter Zuhilfenahme von zahlreichen Bezugswissenschaften geschehen. In einem theoretischen und analytischen Vorgang sollen hier deshalb Forschungsergebnisse und Theorien aus den Bereichen der Religions- und Schulpädagogik, Unterrichts- und Comicforschung, der Pädagogischen und Instruktionspsychologie sowie Praktischen Theologie aufeinander bezogen werden. Dabei wird auch das Möglichkeitsspektrum des Mediums selbst (unabhängig von seinen Inhalten) untersucht, beispielsweise unter den Fragestellungen: Wie hängt die Induktion im Leseprozess mit kognitiver Aktivierung zusammen? Wie reagieren weibliche und männliche Schüler darauf, wenn sie einen Comic vorgelegt bekommen? Deshalb werden viele unterschiedliche Comics als Beispiele herangezogen werden, sowohl narrative als auch Sachcomics. Ganz neu werden dann die Forschungsergebnisse sein, die sich kombinatorischen Analysen verdanken. Soweit wie möglich werde ich einschlägige (bspw. Eisner und McCloud für die Comic- und Helmke für die Unterrichtsforschung), aber auch möglichst aktuelle Literatur (Grümme, Schröder, Sina, Macgilchrist) heranziehen. Auch wenn hier ein theoretischer Ansatz gewählt wurde, sollen Ergebnisse empirischer (Comic-)Studien – wann immer möglich – berücksichtigt und aufeinander bezogen werden. Gerade das pädagogische Potenzial der strukturellen Form des Mediums an sich ist aber erst wenig untersucht worden. Dazu kommt, dass sich aus empirischer Forschung zum Teil Fragen ergeben haben, die dringend Antworten aus der theoretischen Forschung benötigen (zum Beispiel: Warum ist die Erinnerungsleistung so viel höher, wenn man einen Comic liest und nicht etwa einen Film sieht? Vgl. dazu II 3.3). James B. Carter erklärt deshalb, die Erforschung von Comics und ihrem didaktischen Wert muss zum gegenwärtigen Zeitpunkt »reside in multiple sources. The rusting melting pot of intellectual ideas and pedagogy must morph into a dinner table, where there are many dishes to choose from«.11 Zumindest solange der gesamte Gegenstand von Comics in der Religionspädagogik noch in den Kinderschuhen steckt, sollten m. E. auch durchdachte Best Practice-Beispiele, Konzeptentwürfe und Ähnliches eine Berechtigung im Diskurs um das Thema haben. Vieles, was sich für die Comicdidaktik in didaktisch-pädagogischen Zusammenhängen sagen lässt, ist übrigens auch schon für die Film- und Literaturdidaktik ausgedrückt worden: So wissen fast alle Lehrkräfte von der motivations11 Carter, 2014, IX.

16

Einleitung

fördernden Kraft von Filmen im Unterricht zu berichten. Nur: Für den Film ist das alles schon diskutiert worden, für den Comic nicht. Ebenso ließe sich Vieles, was für die Comicdidaktik gilt, auch allgemein für die Arbeit mit populärkulturellen Erzeugnissen nennen – deckungsgleich ist es jedoch mitnichten. Es sollte außerdem darauf hingewiesen werden, dass der Fokus der Arbeit auf dem Unterricht in der Sekundarstufe I beruht – unabhängig davon, ob es sich um ein Gymnasium oder eine andere Schulform handelt. Und auch, wenn hier vor allem vom Evangelischen Religionsunterricht die Rede ist, ließen sich viele Gesichtspunkte auf andere Formate und konfessionelle Prägungen des Religionsunterrichtes sicher übertragen. Und schließlich sollte darauf hingewiesen werden, dass der Comictheorie grundsätzlich keine Grenzen gesetzt sind, es bis jetzt aus der unterrichtstheoretischen und religionspädagogischen Perspektive m. E. aber nur eine überschaubare Anzahl von strukturellen (und inhaltlichen) Charakteristika des Mediums gibt, die dafür unmittelbar anschlussfähig wären. Merkmale wie der cartoonhafte Zeichenstil vieler Comics oder die hybride Natur des Mediums werden deshalb immer wieder aufs Neue thematisiert werden müssen – jedoch immer aus einem anderen Blickwinkel heraus, immer wieder in einem anderen Kontext, immer wieder für ein neues Anliegen. Die inhaltlichen Überschneidungen der Abschnitte und Themen sowie die Trennung in einzelne, künstlich isolierte Kapitel waren einer der größten Herausforderungen dieser Dissertation. Hyperlinks oder Ähnliches wären eigentlich notwendig gewesen. Manchmal mag man deshalb beim Lesen denken, hier lägen unnötige Wiederholungen vor. Diese Bezugnahmen auf andere Kapitel und Textabschnitte sind jedoch von großer Bedeutung, da unterrichtliche und fachliche Faktoren niemals isoliert voneinander betrachtet werden können und dürfen. Insgesamt lässt sich die vorliegende Arbeit in vier Abschnitte teilen: Das Fundament (I) beleuchtet begriffliche, pädagogische und comictheoretische Voraussetzungen für die Arbeit. Zusätzlich werden verschiedene zentrale Aspekte des Mediums ›Comic‹ mithilfe medientheoretischer Grundlagen dargestellt. Diese Aspekte werden immer wieder aufgegriffen und fortgeführt werden. Es folgen Abschnitt II und III, die weitgehend parallel aufgebaut sind, aber ganz unterschiedliche Themen verarbeiten: Es geht zunächst darum, wie Comics Einfluss auf die allgemeine Unterrichtsqualität nehmen können (II), bevor dann ihr Potenzial in spezifisch religionspädagogischen Kontexten beleuchtet wird (III). In beiden Kapiteln wird dafür zunächst der spezifische Forschungsstand beleuchtet (II 1 und III 1) und eine Annährung zuerst durch die Unterrichtstheorie (II 2) bzw. durch die Praktische Theologie (III 2) vorgenommen. Es folgt jeweils eine Konkretisierung, in welchen Bereichen Comics Chancengeber für das Unterrichtsgeschehen sein können (II 3 und III 3). Der Dimension der Hetero-

Einleitung

17

genität, teilweise unter Bezugnahme auf konkrete Gruppen, kommt aufgrund seiner Komplexität jeweils ein eigener Abschnitt zu (II 4 und III 4). Bei besonders komplexen Kapiteln werden kursive Abschnittsüberschriften für Orientierung sorgen. Schließlich werden die Ergebnisse exemplarisch an zwei für die Religionspädagogik sehr fruchtbaren Werken dargestellt (IV). Dem geht eine ausführliche Werkanalyse voraus, die die Grundlage für alle didaktischen Überlegungen sein muss. Die Arbeit hat also einen trichterförmigen Aufbau, der immer spezifischer wird: Von Comics allgemein geht es über zu Comics im Unterricht, dann zu der Didaktik eines einzelnen Faches und schließlich um zwei einzelne Werke für den Religionsunterricht. Am Ende werde ich versuchen, meine Ergebnisse auf wenige, aber zentrale Thesen zuzuspitzen.

I Grundlegung

1

Begriffliche und konzeptuelle Grundlegung

1.1

Kernbegriffe der Arbeit

Im Rahmen dieser Arbeit wird mit bestimmten Theorien, Grundbegriffen und Problemzusammenhängen gearbeitet. Es ist hilfreich, sich dieser bei der Lektüre bewusst zu sein, weshalb sie an dieser Stelle kurz erklärt werden. Dieses Vorgehen umfasst eine Definition des Begriffs ›Comicdidaktik‹ sowie eine spezifische Auffassung von Religionspädagogik. Zudem liegt den folgenden Kapiteln ein bestimmter Lernbegriff zugrunde. Dieser ist von der (lern-)psychologischen und philosophischen Schule des Konstruktivismus geprägt, der auch andere Aspekte der Arbeit beeinflusst hat. Im Kontext von Inklusion und Bildungsgerechtigkeit orientiere ich mich sozialisationstheoretisch an Pierre Bourdieus Habitustheorie. Comicdidaktik Der Begriff ›Comic-Didaktik‹ hat tatsächlich eine lange Geschichte und wurde maßgeblich Anfang der Achtzigerjahre von Dietrich Grünewald geprägt.12 Auch heute findet er im comicbezogenen Diskurs verschiedener Schulfächer Verwendung.13 Ich verstehe darunter die Reflexion und Theorie des gezielten (!) Unterrichtens durch, mithilfe oder anhand von Comics. Comicdidaktisches Unterrichten kann sich sowohl auf die Comiclektüre als auch auf die Comicproduktion beziehen. Die Comicdidaktik kann vordergründig aufgrund der Comicinhalte, aber auch bewusst aufgrund der medienstrukturellen Charakteristika der Comicform eingesetzt werden. Beide Dimensionen wirken im didaktisch-pädagogischen Einsatz immer zusammen. Die Form muss für die Lernenden jedoch nicht unbedingt von der Lehrkraft thematisiert werden. Aufgrund der Breite der Definition kann die Comicdidaktik im praktischen Einsatz viele Rollen einnehmen: Comicdidaktisches Arbeiten kann sich auf einen Lernweg beziehen, zum Beispiel wenn Kinder einen Lerninhalt in Comicform 12 Vgl. Grünewald, 1982. 13 Vgl. bspw. Trippo, 2018; Gundermann, 2007; Deutsche Gesellschaft für Comicforschung.

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Begriffliche und konzeptuelle Grundlegung

darstellen, um dessen Verständnis zu vertiefen und zu festigen. Comicdidaktik kann sich aber auch auf das Lernmedium beziehen, wenn ein Comic zur Informationsvermittlung eingesetzt wird. Geht es um praktische Anwendungsfelder der Comicdidaktik, bietet sich die Rede vom ›comicgestützten Unterrichten‹ an. Um didaktische Konzepte, Überlegungen und Ideen greifbarer und damit überzeugender zu machen, werden an verschiedenen Stellen der Arbeit konkrete Umsetzungsmöglichkeiten und ›Kunstregeln‹ für ein Gelingen des comicbasierten Unterrichtens formuliert. Comics können im Rahmen einer Unterrichtsreihe auch explizit als Medium thematisiert werden (beispielsweise im Fach Deutsch oder Kunst). Comicdidaktisches Arbeiten liegt jedoch nur dann vor, wenn das Medium zugleich als Lernweg oder -medium eingesetzt wird.14 Zudem muss die Comicdidaktik nicht unmittelbar für den schulischen Kompetenzgewinn eingesetzt werden, sondern kann auch mittelbar zielgerichteten Einfluss auf Lernprozesse nehmen. Zum Beispiel kann sie als pädagogisches Instrument oder Hilfsmittel genutzt werden, etwa um die Motivation zu steigern und das Lernklima zu verbessern. Unter Umständen ist es dann sinnvoll, von ›Comicpädagogik‹ zu sprechen. Die Comicdidaktik sollte nicht um ihrer selbst willen eingesetzt werden, sondern immer in Hinblick auf ein didaktisches, inhaltliches oder pädagogisches Ziel. Deshalb bietet es sich an, von der Comicdidaktik als pädagogisches oder didaktisches Instrument zu sprechen, da dies den Gebrauch auf ein bestimmtes Ziel hin impliziert. In dieser Arbeit geht es unter anderem um die Comicdidaktik als Instrument für spezifisch religionspädagogische Zwecke. Religionspädagogik Obgleich in dieser Arbeit viele Wissenschaftsdisziplinen zusammentreffen, so liegt ihr Ziel- und Ausgangspunkt doch in der (Evangelischen) Religionspädagogik. »Gegenstand der Religionspädagogik im Allgemeinen ist die Kommunikation von Religion, Gegenstandsbereich dieser Religionspädagogik aus protestantischer Perspektive im Besonderen ist die Kommunikation des Evangeliums im Medium von Lernprozessen, sei es Sozialisation, sei es Unterricht oder Erziehung, sei es Bildung«, so Schröder.15 Religionspädagogik mit dem Ziel der »Kommunikation des Evangeliums« kann so in gewisser Hinsicht als der Praktischen Theologie strukturanalog ausgewiesen werden.16 In jedem Falle kann und muss immer wieder auf Wissens14 Vorstellbar wäre das zum Beispiel mit Auszügen aus den Werken Scott McClouds, in denen er den Comic als Lernmedium einsetzt, um über Comics zu informieren (2001 (a); 2001 (b)). 15 Schröder, 2012, S. 10. 16 Vgl. ebd., S. 12.

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bestände der Theologie rekurriert werden, der die Religionspädagogik letztlich angehört.17 Im Comicforschungskontext können vor allem die Erkenntnisse der kulturhermeneutischen Theologie fruchtbar gemacht werden (vgl. III 2.1–2.2). In dieser Arbeit liegt die Perspektive auf der schulischen Religionspädagogik, die auch mit ›Religionsdidaktik‹ tituliert werden kann. Diese »ist die Theorie des Unterrichtens von (christlicher) Religion; sie dient näherhin der Reflexion darauf, welche Facetten von (christlicher) Religion Lernende aus welchem Grund, auf welches Ziel hin, zu welchem Zeitpunkt und auf welche Weise erschließen sollten.«18 In dieser Untersuchung liegt der Fokus vor allem auf den letzten Aspekt, der nach Lernwegen fragt. In einer Bestimmung dessen, worauf Religionsunterricht zielt, setzen Religionspädagoginnen unterschiedliche Schwerpunkte. Ich werde mich dabei exemplarisch immer wieder am gymnasialen Kerncurriculum Niedersachsens orientieren, um größtmögliche Praxisrelevanz zu gewährleisten (vgl. III 3.1). Das Kerncurriculum wiederum rekurriert auch auf die allgemeinen Leitthesen der EKD zum Religionsunterricht.19 Ebenso sei auch auf die Theorien von Schröder20 und Dressler21 verwiesen. Was nun ist die comicdidaktische Religionspädagogik bzw. die religionspädagogische Comicdidaktik? Die Formulierungen sind tatsächlich weitgehend austauschbar und beziehen sich höchstens auf den jeweiligen fachlichen Blickwinkel, aus dem der Gegenstand betrachtet wird. Die religionspädagogische Comicdidaktik soll religiöse Bildungsprozesse initiieren, direkt oder indirekt fördern und vertiefen, indem durch, mithilfe oder anhand von Comics unterrichtet wird. Auch im Auftrag der Religionspädagogik können durch die Comicdidaktik allgemeine pädagogische und didaktische Ziele anvisiert werden, die das Lernen erleichtern, etwa in Hinblick auf eine größere Methodenvielfalt. Obwohl ich mich in der vorliegenden Arbeit in der Regel auf das Einsatzgebiet der weiterführenden Schule beschränke, stehen der comicdidaktischen Religionspädagogik grundsätzlich auch andere Einsatzgebiete offen, wie zum Beispiel der Konfirmandenunterricht. Mein Ansatz einer comicdidaktischen, schulischen Religionspädagogik entspringt keiner althergebrachten oder aktuellen religionsdidaktischen Konzeption. Ich stelle auch kein umfassendes Konzept vor, sondern beleuchte nur das Potenzial eines gezielt eingesetzten Instruments. Trotzdem werden immer wieder Anknüpfungspunkte zu konstatieren sein: zur korrelationsdidaktischen, symboldidaktischen, problemorientierten sowie besonders zur konstruktivisti17 18 19 20 21

Vgl. ebd., 12f. Ebd., S. 554. 2006. 2012. 2012.

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Begriffliche und konzeptuelle Grundlegung

schen, lebensweltbezogenen und medienweltorientierten Religionsdidaktik.22 Dies sind didaktische Konzeptionen, denen die Comicdidaktik möglicherweise besonders nahesteht. Comicdidaktische Ansätze können auch im Rahmen bestimmter Unterrichtsprinzipien23 genutzt werden, wie im Rahmen des dialogisch-beziehungsorientierten, narrativen, ästhetischen oder handlungsorientierten und kreativ-gestaltenden Lernens. Sofern sie entsprechende Inhalte verhandeln, können Comics als Lernmedium auch im Rahmen des biographischen, ethischen und interreligiösen Lernens eingesetzt werden. Lernbegriff und Konstruktivismus Um sich der Comicdidaktik und ihren Möglichkeiten zu nähern, bieten sich besonders konstruktivistische Lerntheorien als Ausgangspunkt an, denn durch die Arbeit mit Comics sollen Lernende in besonderer Weise in ihrer kognitiven Aktivität gefördert und in verständnisvolle Lernprozesse eingebunden werden, in denen Subjekte Wissensstrukturen selbst konstruieren müssen.24 Natürlich hat die Comicdidaktik dieses Feld nicht allein für sich gepachtet. Ebenso gilt es, sich auch zum Beispiel gegenüber assoziationstheoretischen oder kognitiv-rationalistischen Traditionen und Erkenntnissen nicht zu verschließen, da ganzheitlich nie im Rahmen nur eines einzigen theoretisches Ansatzes gelehrt oder gelernt wird. Zudem werden sich der kognitiv-konstruktivistische und der sozio-konstruktivistische Ansatz in der vorliegenden Arbeit immer wieder ergänzen. Die kognitiv-konstruktivistische Schule in moderater Form baut auf den Tradition(en) von Aeblie, Bruner und Piaget auf. Lernen wird als Wissenskonstruktion im Subjekt verstanden, die Lehrtheorie setzt sich deshalb den Primat der Konstruktion, unter anderem durch ›entdeckenlassendes‹ Lehren.25 Lehrende schaffen dafür authentische (Problem-)Situationen oder Lernmedien und fördern (gerade in Eingangsphasen) kognitive Konflikte.26 Die wesentlichen Grundbausteine einer moderat-konstruktivistischen Lehr- und Lerntheorie sind das Konstruktive, Aktive, Selbstregulative, Situierte und Soziale (vgl. dazu II 3.3).27 Gleichzeitig sollen in dieser Arbeit auch immer wieder Wege gesucht werden, um comicdidaktische Ansätze mit der sozio-konstruktivistischen Variante der konstruktivistischen Lerntheorie in Einklang zu bringen (vgl. etwa II 4.3). Hier gilt der Grundsatz, dass Lernen (am besten) sozial funktioniert. Es gilt der Primat der Ko-Konstruktion, da Prozesse des sozialen Austauschs bedeutsam für die 22 23 24 25 26 27

Vgl. dazu bspw. Mendl, 2012; Pirner, 2012. Vgl. dazu Schröder, 2012, S. 555. Vgl. dazu Hasselhorn; Gold, 2013, S. 242. Vgl. ebd., S. 240. Vgl. ebd. Vgl. ebd.

Kernbegriffe der Arbeit

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Konstruktion von Wissen sind.28 In diesem Setting wird Wissen zwar ebenfalls konstruiert, das Lernen, Vertiefen oder Konsolidieren geschieht aber durch geteilte Kognitionen; authentische (Problem-)Situationen und Lernmedien werden von der Lehrkraft in kooperative Settings gereicht.29 Der Konstruktivismus im weiteren Sinne stellt in den Worten Mendls »die erkenntnis- und lerntheoretische Klammer eines Subjektansatzes dar.«30 Da Religionsunterricht heute in der Regel subjektorientiert angelegt ist, lässt sich gut eine Verbindung zwischen der Bildungstheorie und gegenwärtigen religionspädagogischen Diskurslinien herstellen.31 Gleichzeitig ist es sinnvoll, Religionsunterricht auch beziehungsorientiert zu gestalten – unter anderem, da Schule und speziell der Religionsunterricht die (religiöse) Identität von Kindern und Jugendlichen stärken sollen.32 Mit der Sozialisationstheorie kann man davon ausgehen, dass Menschen nur durch Interaktion mit der Umwelt zur sozialen und eigenen persönlichen Identität finden können.33 Boschki verweist zum Beispiel auch im Rahmen der Religionspädagogik auf die biblisch-theologische Relevanz und Realität von Beziehungen zu sich selbst, zu anderen und zu Gott, die in Lernprozessen eine entscheidende Rolle spielen.34 Es ist in diesem Zusammenhang sinnvoll, nur von einem moderat-konstruktivistischen Ansatz zu sprechen, wie es heute fast regulär der Fall ist, da ich davon ausgehe, dass es durchaus auch eine Wirklichkeit außerhalb des Subjektes gibt und Wirklichkeit nicht allein im Subjekt konstruiert wird. Dies betrifft auch das Transzendente, das m. E. mitnichten bar aller Wirklichkeit ist und deshalb vor allem im Rahmen evangelischen Religionsunterrichtes auch nicht völlig beliebig subjektorientiert konstruiert werden sollte. Auch konstruktivistischer Religionsunterricht sollte deshalb nicht auf die systematische, didaktisch aufbereitete Präsentation von Welt- und Glaubenswissen verzichten. Besonders im Sinne einer ›Kommunikation des Evangeliums‹ ist die Sicherung einer gemeinsamen Informationsbasis notwendig.35 Auch die religiöse Wirklichkeit muss sich jedoch, um ein Menschenleben zu berühren, im Subjekt als solche konstruieren – individuell auf Basis von Erfahrungen und Zugehörigkeiten. In einem konstruktivistisch-religionsdidaktischen Setting muss deshalb den individuellen Erfahrungen und Äußerungen der Kinder und Jugendlichen besondere Sensibilität und Aufmerksamkeit zukommen. Dem naheliegend wird in dieser Arbeit 28 29 30 31 32 33 34 35

Vgl. ebd., S. 241. Vgl. ebd., S. 240. 2012, S. 107. Vgl. auch Grümme, 2012, S. 127. Vgl. bspw. Niedersächsisches Kulturministerium, 2009, S. 7. Vgl. Boschki, 2012, S. 173. Vgl. 2012, 173f. Vgl. dazu Mendl, 2012, S. 111.

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Begriffliche und konzeptuelle Grundlegung

dem funktionalistischen Religionsbegriff eine Berechtigung zugesprochen. Mendl erklärt: [D]ie Aufgabe religiösen Lernens [besteht] nicht nur darin besteht, den Glauben für die Menschen heute verstehbar zu machen, sondern die lernenden Subjekte vielmehr zu befähigen, sich mit der Wahrheitszumutung des Glaubens (›Wahrheit an sich‹) als einer individuell herausfordernden auseinanderzusetzen (›Wahrheit für mich‹) und die Ergebnisse solcher Aneignungs- und Konstruktionsprozesse auch im Dialog mit den Ergebnissen anderer Lernender zur Diskussion und Disposition zu stellen36.

Der konstruktivistische Blickwinkel schlägt sich in der vorliegenden Arbeit also sowohl im lerntheoretischen/bildungswissenschaftlichen als auch im religionspädagogischen Teil nieder. Er berührt jedoch auch einen zentralen comictheoretischen Ansatz, der besonders die konstruktivistische Komponente des Comicleseprozesses unterstreicht. Auf die Spitze wird dies im Vorgang der ›Induktion‹ getrieben, sobald man beim Comiclesen herausgefordert ist, »gedanklich eine in sich zusammenhängende, geschlossene Wirklichkeit zu konstruieren«.37 Näher wird dies im Abschnitt I 2.2 beschrieben. Bildungsgerechtigkeit und Sozialisationstheorie Als ein roter Faden zieht sich das Anliegen der Bildungsgerechtigkeit durch diese Arbeit: sowohl im Ansatz der individuellen Förderung als auch durch die konstruktive Adressierung von Heterogenität in der Lerngruppe. Näher werden diese Konzepte im Abschnitt I 1.2 beschrieben, während in II 4 und III 4 auch auf konkrete ›Risikogruppen‹, die im Bildungssystem produziert werden, Bezug genommen wird. Immer wieder dreht es sich um die Frage, ob Comics als Lernmedien Lehrenden (besonders) dabei helfen können, alle Schülerinnen und Schüler zu fördern, insbesondere aber die benachteiligten zu inkludieren. Dies ist nicht nur ein bildungswissenschaftliches bzw. schulpädagogisches Thema, sondern m. E. auch eine spezifisch religionspädagogische Aufgabe. Um diese Themen anzugehen, rekurriere ich in der vorliegenden Arbeit sowohl auf empirische Wissensbestände der Schulforschung als auch auf sozialisationstheoretische Theorien. Zentral wird Pierre Bourdieus Habitus-Theorie sein, eine Sozialtheorie, die für die Sozialisationsforschung fruchtbar gemacht worden ist und mit der er die systematische Reproduktion von Ungerechtigkeit im Bildungssystem zu erklären versucht.38 Bourdieus Theorien haben sich für die Bildungsforschung als sehr hilfreich erwiesen und auch durch aktuelle Studien zur Bildungs(un)gerechtigkeit im deutschen Schulsystem an Bedeutung ge-

36 2012, 115f. 37 McCloud, 2001 (b), 74, 81. 38 Bourdieu, 2012.

Kernbegriffe der Arbeit

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wonnen.39 Deswegen sollen seine Theorien zur Sprache kommen, wo sie hilfreich sein können und die Wirklichkeit m. E. am besten beschreiben. Folgendermaßen könnte man seinen Denkansatz umreißen: Für Bourdieu ist der Ort, an dem gesellschaftliche Positionierungschancen ihren Ausgang nehmen, die Familie – und zwar vor allem durch einen auf die Kinder übertragenen ›Habitus‹. Dieser umfasst Routinen im alltäglichen Denken und Handeln, alle in der Familie geteilten Selbstverständlichkeiten. Diese sind auch stark vom Milieu abhängig, Bourdieu spricht deshalb von »klassenspezifischen Habitusformen« und beschreibt diese als »allgemeine Grundhaltung« des Einzelnen gegenüber der Welt.40 Darin sind objektive Strukturen genauso enthalten wie alle Arten von Einstellungen, Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsmustern. Der Habitus beeinflusst unter anderem auch, welchen Wert Jugendliche Schulabschlüssen zuweisen.41 Die Habitustheorie ist eng verknüpft mit Bourdieus Theorie des Kapitalbesitzes – eine distinktionsschaffende Kategorie im sozialen Raum der Gesellschaft.42 Menschen und Familien verfügen über unterschiedlich hohes ökonomisches, soziales, und kulturelles Kapital.43 Kapitalformen und -größen werden in der Regel von Generation zu Generation weitergegeben, sie sind »ressourcenspezifische Bedingungen und Ausdrucksformen bzw. Voraussetzung und Resultat bei der Habitusentwicklung«, ja im Grunde das gesammelte inkorporierte Kapital.44 Besonders wichtig für die Reproduktion der Positionierung im sozialen Raum ist das kulturelle Kapital einer Familie: Objektiviert, zum Beispiel durch deren Buchbestände und andere (hoch-)kulturelle Güter, vor allem aber in der ›inkorporierten‹ Form, die primär durch familiäre Sozialisation geprägt ist und unter anderem Stilempfinden, Auftreten, Sprachduktus und Geschmack prägt.45 Eltern mit spezifischem kulturellen Kapital geben dieses in Form von Ausdrucksweise, Erziehung, Kleidergeschmack und allerlei ›Soft Skills‹ direkt und indirekt weiter. Habitus und inkorporiertes kulturelles Kapital prägen unter anderem auch, wie vermeintlich ›neutrale‹ Unterrichtsthemen aufgenommen und verarbeitet werden, sodass eine gewisse Verbindung zu konstruktivistischen Lerntheorien besteht.46 Denn die Aufnahme von Lernstoff wird durch Vorwissen, Motivation, Lesekompetenz und vielem mehr, was durch die familiäre Sozialisation geprägt wird, beeinflusst. 39 40 41 42 43 44 45 46

Vgl. Ecarius; Wahl, 2009, S. 24. 2012, S. 175. Vgl. dazu Bourdieu; Passeron, 1971, S. 178. Vgl. Bourdieu, 2012, S. 175. Vgl. ebd., S. 145. Ecarius; Wahl, 2009, S. 15; Bourdieu, 2012, S. 195. Vgl. Bourdieu, 2012, 17f.; Ecarius; Wahl, 2009, S. 15. Vgl. Ecarius; Wahl, 2009, S. 29.

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Begriffliche und konzeptuelle Grundlegung

Den Habitus eines Menschen könnte man völlig wertneutral beschreiben. Jedoch: Entspricht oder ähnelt er nicht dem klassischen bildungsbürgerlichen Habitus (dem ›Bildungshabitus‹) mit seinem Sprachduktus oder Wertedenken, sorgt er im Verfahren sogenannten ›kulturellen Passung‹ für Probleme.47 Die soziale Herkunft ist tatsächlich nachweislich entscheidender als zum Beispiel die kulturelle.48 Anders ausgedrückt: Kulturelle Praktiken des Familienhabitus und die Höhe des kulturellen Kapitals lassen sich vor allem dann in schulische Leistungen transformieren, wenn sie dem Bildungshabitus und -standard der Schule entsprechen. Die Voraussetzungen für schulische Leistungen sind also durch den Familienhabitus vorgeprägt. Schule und Universität sind die zentralen Orte des institutionalisierten kulturellen Kapitals, beide sind gleichermaßen autonom wie mächtig, da sie allein anerkannte Bildungstitel verleihen können.49 Allerdings verhilft das Bildungssystem nach Bourdieu vor allem den Kindern zum Erfolg, die von Haus aus schon über kulturelles Kapital verfügen. Die »Sozialordnung« wird erhalten und gefestigt.50 Ecarius und Wahl erklären den Hintergrund folgendermaßen: Auch wenn die Schule für sich in Anspruch nimmt, Kompetenzen unabhängig von sozialer Zugehörigkeit zu vermitteln, perpetuiert sie dennoch die kulturellen Muster der oberen sozialen Milieus. […] Der schulische Bildungshabitus verbirgt dabei die enge Verbindung zu legitimen kulturellen Gütern, die jene der Familien der herrschenden sozialen Milieus sind und die die Schüler letztlich bereits in die Schule mitzubringen haben. Ausgeschlossen bleiben Kompetenzen von Familien, die Angehörige anderer sozialer Milieus sind51.

Wer im Schulsystem nicht vorankommt, wird oft selbst dafür verantwortlich gemacht, was durch die in pädagogischen Fachtexten verwendete Rede von ›schwachen Schülern‹ oder ›Schülerinnen mit Defiziten und Mängeln‹ immer wieder reproduziert wird – ein Sprachmuster, das den jungen Individuen Respekt für ihre Kompetenzen in anderen, auch außerschulischen Bereichen verweigert und sie letztlich auf ihre Differenz zum bildungsbürgerlichen Habitus reduziert.52 Das Bildungssystem steht den sozialen Klassen einer Gesellschaft also weder neutral noch unabhängig gegenüber.53 Obwohl m. E. durchaus un47 48 49 50 51 52

Vgl. Bourdieu; Passeron, 1971, S. 168. Vgl. Helmke, 2009, S. 249. Vgl. Bourdieu; Passeron, 1971, S. 191; Ecarius; Wahl, 2009, S. 22. Vgl. Bourdieu; Passeron, 1971, S. 191. 2009, 22, 25. Ich strebe an auf derartiges Defizitvokabular zu verzichten und bitte meine Leserinnen und Leser um Verständnis dafür, wenn ich mich deshalb manchmal umständlich ausdrücken muss. Hin und wieder werde ich dennoch gezwungen sein, Fachautoren zu zitieren, die diesen sprachlichen Schritt noch nicht vollzogen haben und in ihren Begrifflichkeiten dem Mainstream folgen. 53 Vgl. Bourdieu; Passeron, 1971, S. 161.

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terschiedliche Gaben bei Menschen bestehen können, so ist dies kein Grund, nicht dennoch alle Heranwachsenden gleichermaßen zu fördern. Auch sollte man Werten wie Fleiß und Mühe nicht ihren Wert absprechen, indem Lern- und Bildungserfolge nur mit ›natürlicher Begabung‹ erklärt werden. Angehörige sogenannter ›unterer Sozialmilieus‹ sind sich des Grundproblems übrigens tendenziell eher bewusst. Dies führt zu einer distanzierten Einstellung gegenüber dem Bildungssystem durch die Erkenntnis, dass ihr Familienhabitus, ihr Handeln, Wahrnehmen und Denken mit schulischem Erfolg nicht unbedingt kompatibel sind. Die Schule wird mit Skepsis wahrgenommen, das Vertrauen in das System und seine Abschlüsse ist geringer, sodass es teilweise sogar zu entmutigter »Selbsteliminierung« kommt.54 Die symbolische (Gesellschafts-)Ordnung, als selbstverständlich wahrgenommen, tut nach Bourdieu einigen Mitgliedern der Gesellschaft darum richtiggehend »symbolische Gewalt« an, die die Unhinterfragbarkeit und Stabilität der sozialen Verhältnisse garantiert.55 Obwohl Bourdieus Theorie in mancher Hinsicht eine vereinfachte Darstellung ist und wohl auch niemand eine simple Lösung für derartig tiefsitzende Probleme vorzuweisen hat, so ist dies noch kein Grund, auf Gegenimpulse zu verzichten. Ideal wäre es natürlich, wenn Heranwachsende nicht mehr dazu gezwungen wären, sich dem Bildungshabitus anzupassen, sondern sich das institutionelle Feld stattdessen an den Habitus seiner Schüler anpassen oder auch heterogenen Habitusformen etwas mehr Raum für Erfolge gewähren würde. In gewisser Weise könnte eine Etablierung der Comicdidaktik in der Schule dazu beitragen, denn (bestimmte) Comics entsprechen zum Beispiel auch den medialen Vorlieben von Jugendlichen jenseits des ›Bildungshabitus‹ und es gibt Hinweise darauf, dass sie tatsächlich milieuübergreifend rezipiert werden.56 Insofern passt sich die Schule 54 Ebd., S. 175 Merke: »Jede Einzelentscheidung, durch die sich ein Kind vom weiteren Bildungserfolg ausschließt oder in einen aussichtslosen Zweig relegieren läßt, resultiert, selbst wenn sie durch den Druck innerer Berufung oder die Feststellung unzureichender Befähigung erzwungen scheint, aus der Gesamtheit der objektiven Relationen zwischen sozialer Klasse und Bildungssystem (die vor der Entscheidung bestanden und sie überdauern werden), da für das Individuum eine Bildungszukunft nur in dem Maße wahrscheinlich oder unwahrscheinlich ist, wie sie der objektiven und kollektiven Zukunft seiner Klasse entspricht.« (Bourdieu; Passeron, 1971, S. 178). Selbst wenn also augenscheinlich eigene Entscheidungen hinter Schulabbrüchen und Berufswahl stehen: »Dem Spiel der Kultur und Bildung entrinnt keiner!« (Bourdieu, 2012, S. 32). Übrigens haben Menschen ohne typischen Bildungshabitus nicht nur weniger Vertrauen ins Bildungssystem, sondern sie haben auch ein spezifisches Gottesbild: Sie nehmen ihr Leben stärker als schicksalhaft vorgegeben wahr, fühlen weniger Entscheidungsfreiheit und stattdessen, dass sie nichts Wesentliches in ihrem Leben verändern können (vgl. Grümme, 2017, S. 253). Wenn man bedenkt, wie sehr Heranwachsende in ihrem Potenzial beschnitten werden, nur weil sie nicht den passenden Habitus an den Tag legen, erscheint dies umso einleuchtender. 55 Vgl. Kastner, 2017, S. 77; Bourdieu, 2015, S. 44. 56 Vgl. Ujiie; Krashen, 1996.

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Begriffliche und konzeptuelle Grundlegung

mithilfe der Comicdidaktik den Schülerinnen an, statt andersherum – ein Schritt in Richtung Umdenken. Solange aber keine grundsätzliche systemische Wende in Sichtweite ist, muss man sich vielleicht damit begnügen, die Schüler zu stärken und ihnen zu helfen, das System zu ›meistern‹, sodass dessen Macht verringert wird. Das Streben nach größerer Bildungsgerechtigkeit ist deshalb nicht nur Aufgabe der Bildungspolitik, sondern auch der einzelnen (Religions-)Lehrerkräfte. Das kann auf unterschiedlichen Wegen geschehen: – In der Regel unterlässt es die Schule, jene kulturellen Einstellungen und Kompetenzen zu vermitteln, die in ›oberen‹ sozialen Milieus im Familienhabitus wie selbstverständlich an die Kinder weitergegeben werden.57 Fachlehrerinnen können bildungsbenachteiligten Schülern helfen, indem sie gezielt zur Akkumulation von kulturellem Kapital beitragen, um für sie bessere Chancen in der Bildungskarriere zu schaffen, zum Beispiel durch Stärkung des dem Bildungshabitus eigenen Sprachregisters. – Eine ausgeprägte Schülerorientierung, in der die Lebenswelt und der Habitus der Kinder wahrgenommen und nicht als wertlos verworfen werden, kann in individualisierte Förderung führen. – Kooperative Lernsettings können sinnvoll sein, um auch Menschen mit unterschiedlichem Habitus zusammenzubringen, um soziale Kluften nicht weiter zu verfestigen. – Da viele Kinder aus Familien mit geringem kulturellen Kapital aufgrund von Erfahrungen des Scheiterns wenig Vertrauen in die Institution Schule haben, ist es wichtig, wann immer möglich ihr Selbstvertrauen zu stärken, ihnen Anerkennung und letztendlich die Liebe entgegenzubringen, die jeder und jede Nächste verdient.

1.2

Konstruktiver Umgang mit Heterogenität – Konzepte von Pädagogik der Vielfalt, Bildungsgerechtigkeit und Inklusion

Ein natürliches Merkmal jeder Menschgruppe ist das der Heterogenität. Auch Schulklassen und -kurse sind davon nicht ausgenommen. Für Lehrpersonen sind besonders die unterschiedlichen Lernvoraussetzungen relevant, wenn sie effektiv unterrichten möchten. Helmke verweist in diesem Zusammenhang auf den individuellen Grad des Vorwissens, den Entwicklungsstand und den familiären, sozialen (Migrations-)Hintergrund.58 Auch der Grad der Intelligenz oder schwankende emotionale Faktoren, wie das situative Interesse oder soziale Be57 Vgl. Ecarius; Wahl, 2009, S. 29. 58 Vgl. 2009, S. 248ff.

Konstruktiver Umgang mit Heterogenität

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dürfnisse, spielen eine Rolle. Als einer der wichtigsten Faktoren hat sich jedoch die sozio-ökonomische Herkunft der Heranwachsenden herauskristallisiert, die über den Bildungserfolg entscheiden kann.59 Eine bewusste, pädagogisch-didaktische Adressierung der Heterogenität erhöht auch nachweislich die Unterrichtsqualität, weil schlicht mehr Schülerinnen die Möglichkeit bekommen, etwas zu lernen. Weinert beschreibt hier beispielsweise die »aktive« oder »proaktive« Herangehensweise, also die Anpassung des Unterrichts an lernrelevante, interindividuelle Unterschiede oder die gezielte Förderung einzelner Schüler mit ihren spezifischen Gaben durch eine adaptive Gestaltung des Unterrichts.60 Im Folgenden soll ein näherer Überblick über die Konzepte und Zusammenhänge zwischen den in diesem Kontext auftauchenden Schlüsselbegriffen ›Inklusion‹, ›Bildungsgerechtigkeit‹ und ›Pädagogik der Vielfalt‹ gegeben werden, um die Comicdidaktik, wo sie spezifisch die Unterschiede in einer Lerngruppe adressiert, in diesem Dreieck zu verordnen. Inklusion Die Inklusivpädagogik hat bekanntlich massiv an Bedeutung gewonnen, seit die Behindertenrechtskonventionen der UN 2006 Kindern mit körperlichen oder seelisch-geistigen Beeinträchtigungen die Möglichkeit eingeräumt haben, allgemeinbildende Schulen und nicht nur separative, sonderpädagogische Einrichtungen zu besuchen.61 So steht das Konzept vorerst am Ende einer Entwicklung bzw. Ausdifferenzierung von der Behindertenpädagogik, zu einer Sonder-, über die Integrations- zur Inklusionspädagogik.62 Schnell öffnete sich das Konzept jedoch auch für das Thema des grundlegenden Umgangs mit nahezu jeder Verschiedenartigkeit in pädagogischen Kontexten.63 Das hat auch politische Konsequenzen. Befürworterinnen der Inklusionspädagogik sprechen sich in der Regel für die gemeinsame, übergreifende Beschulung von allen Kindern ungeachtet ihrer Verschiedenartigkeit in Bezug auf Beeinträchtigungen, Geschlecht, sozio-ökonomischer Herkunft, Religionszugehörigkeit und anderen Faktoren aus.64 Dahinter steht auch die Einstellung, es sei ohnehin nicht möglich, reale homogene Schulklassen oder Gruppen zu schaffen, da jeder Mensch in Bezug auf (religiöse) Sozialisation, Interesse etc. einzigartig ist und es verdient, in der Schule individuell gefördert sowie in der Gesellschaft als gleichwertig anerkannt zu werden. Hier gehlt es also auch um soziale Inklusion. Kritikerinnen, die 59 60 61 62 63 64

Vgl. ebd., S. 253. Vgl. 1997, 51f. Vgl. Schröder; Wermke, 2013, S. 11. Vgl. Sturm, 2016 (b). Vgl. Werning, 2012, 84f. Vgl. ebd.

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Begriffliche und konzeptuelle Grundlegung

aufgrund der Popularität des Themas nicht nur aus wissenschaftlichen, sondern auch aus journalistischen oder politischen Kreisen stammen, führen meist an, die gegenwärtige Situation von Regelschulen sei einer schlagartigen Öffnung für alle Kinder in organisatorischer Hinsicht nicht gewachsen, so dass zurzeit auf den Einzelnen zur optimalen Förderung noch nicht genug eingegangen werden könne.65 Dennoch realisiert sich das inklusive Bestreben in pädagogischen und schulsystemischen Kontexten zunehmend. Sowohl der Trend zum längeren gemeinsamen Lernen aller Kinder und das Konzept der integrativen Gesamtschule visieren bildungspolitisch die Förderung von allgemeiner Inklusion an.66 Eine solide Grundlage für ein inklusives Bildungssystem wird aber immer auch durch den tagtäglichen, inklusiven Unterricht gelegt.67 Dafür etablieren sich zunehmend Lernarrangements wie kooperative Lernformen oder das Konzept der Binnendifferenzierung und Individualisierung. Gerade die letztgenannten Unterrichtsprinzipien können nach Schröder die Lehrerzentrierung mindern, die Lernwege genau anpassen, die Eigenaktivität und Lernzeit der Kinder erhöhen und so die gegebene Ungleichheit der Lernchancen abbauen.68 Wichtig sei es, sich an den Belangen Einzelner zu orientieren und nicht an (theoretischen) kollektiven Entwicklungsständen und Schulformen.69 Unter anderem weil es im öffentlichen Diskurs bei dem Schlagwort ›Inklusion‹ vielen immer noch um die Inklusion beeinträchtigter Menschen geht, kann man (nicht nur) in der Religionspädagogik eine Verschiebung oder Präferenz beobachten, eher vom ›Umgang mit Heterogenität‹ im Allgemeinen zu sprechen – obwohl Begriffe wie ›Heterogenitätsbewältigung‹ sicher mitnichten wertneutral sind. Von der Arbeit mit Comics einen Bogen zur Inklusionspädagogik zu spannen, erscheint auf den ersten Blick gewagt. Doch es wird sich herausstellen, dass sich das comicgestützte Unterrichten unter anderem besonders zur Ansprache von einigen tendenziell bildungsbenachteiligten Schülern eignet. Diese in den Unterricht zu inkludieren, hat sich als besonderes Arbeitsfeld in Deutschland herauskristallisiert.70 Hier handelt es sich auch um ein Anliegen, das der gerechtigkeitsorientierten Religionspädagogik nahestehen sollte, weshalb daraus ein natürlicher Fokus dieser Arbeit erwachsen ist. Die religionspädagogische Comicdidaktik kann deshalb, wann immer sie eingesetzt wird, um unterschiedliche Lernvoraussetzungen im Klassenzimmer zu adressieren, unter das konzeptio65 66 67 68 69 70

Vgl. Schnabel; Spiewak, 2014. Vgl. Lehmann; Schmidt-Kortenbusch; Behrendt; Linke, 2013, 115, 117. Vgl. Kahlert; Heimlich, 2012, S. 175. Vgl. 2013, S. 391. Vgl. Schröder; Wermke, 2013, S. 11. Vgl. Helmke, 2009, S. 253.

Konstruktiver Umgang mit Heterogenität

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nelle Dach der ›(Religions-)Pädagogik der Vielfalt‹ gestellt werden, unter dem auch Themenfelder der Inklusion und (Bildungs-)Gerechtigkeit versammelt werden können. Bildungsgerechtigkeit Anliegen diverser Konzepte ist das Bestreben, eine höhere Bildungsgerechtigkeit für alle zu schaffen, sprich: gleiche Chancen für alle zu implementieren, gute Lernleistungen und Schulabschlüsse zu erlangen, die letztendlich in gleichberechtigter gesellschaftlicher Teilhabe resultieren sollen. Dabei richtet sich die Aufmerksamkeit naturgegeben weniger auf die Schülerinnen, die zum Beispiel durch eine intensive Förderung im Elternhaus ohnehin weniger Problemen in der Schule begegnen, sondern verstärkt auf jene, die aufgrund spezifischer Eigenschaften eher Gefahr laufen, in der Schule nicht ihr volles Potenzial zu entfalten. Im Fachdiskurs werden diese häufig als ›Risikogruppen‹ bezeichnet. Auch die Inklusionspädagogik nimmt für sich in Anspruch, »Konzept zur Überwindung von Diskrimination aller Risikogruppen in der Schule« mit dem Ziele der gesellschaftlichen Partizipation aller zu sein.71 Die radikale Inklusionsposition will entsprechend das ausdifferenzierte/aufgefächerte Schulsystem umstellen bzw. abschaffen, da es Benachteiligungen verstärken kann.72 Obwohl es auch viele Versuche gibt, größere Chancengleichheit durch nicht-inklusive Maßnahmen zu realisieren (zum Beispiel durch bedarfsorientierten Förderunterricht), sind die Diskurse um ›Inklusion‹ und um das Thema ›Gerechtigkeit‹ (in pädagogischen Kontexten speziell: ›Bildungsgerechtigkeit‹) definitiv miteinander verbunden. In den Worten Kersten Reichs: Insbesondere Erziehung und Bildung sind die Felder, in denen eine solche Gerechtigkeit als Erhöhung der Chancen aller gesellschaftlich geplant, umgesetzt und kontrolliert werden kann […]. Dies ist auch auf der politischen Ebene deutlich geworden, denn sowohl in den Vereinten Nationen als auch in der OECD sind immer wieder Initiativen ergriffen worden, die Menschenrechte der demokratischen Gesellschaften in der Gegenwart durch die Forderung einer inklusiven Erziehung und Bildung zu untermauern, weil die Einsicht besteht, dass allein auf der Grundlage eine inklusiven Erziehungs- und Bildungssystems die Diversität in einer demokratischen Entwicklung vorbildlich ermöglicht werden kann.73

Hier zeigt sich noch einmal deutlich, wie die Inklusionspädagogik – ein Hauch von Utopie schwingt hier mit – in der Veränderung aller gesellschaftlichen Strukturen kumulieren soll und Inklusion so »als universalisierte Norm kon-

71 Vgl. Werning, 2012, 85. 72 Vgl. Grümme, 2017, S. 217. 73 2012, S. 31.

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Begriffliche und konzeptuelle Grundlegung

struiert und in Menschenrechtsdiskursen fundiert« wird.74 Bildungsgerechtigkeit in der Dialektik von Befähigungs-, Chancen- und Verteilungsgerechtigkeit birgt aus inklusionstheoretischer Perspektive allerdings auch Zündstoff, da Wechselwirkungen zwischen den Kategorien Behinderung/Beeinträchtigung, Geschlecht/Gender, Migrationshintergrund und sozio-ökonomischer Herkunft vorliegen.75 Die inklusionstheoretisch angestrebte Förderung aller Lernenden, ihrer jeweiligen Individualität entsprechend, scheint dieses Problem auf den ersten Blick zu lösen, verschließt aber möglicherweise die Augen vor der Mächtigkeit dieser Faktoren. Grümme erklärt: »Benachteiligung durch Behinderung oder Ungleichheit durch Armut in isolierter oder additiver Betrachtung zu sehen, unterläuft die Komplexität der Phänomene.«76 Die Diagnostik der individuellen Lernvoraussetzungen, die für die individualisierte Förderung notwendig ist, lässt sich in der Regel höchstens in Bezug auf isolierte Lernermerkmale vornehmen. Auch Bildungsgerechtigkeit wird nicht einfach dadurch implementiert, dass Kinder mit geringem und Kinder mit hohem kulturellen Kapital zusammen unterrichtet werden. Gleichzeitig, so betont auch Grümme, könne sich gerade der Religionsunterricht nicht der Chance von ›Bildungsgerechtigkeit‹ verschließen, sei er ja in ganz besonderer Weiser einer Option für die Benachteiligten verpflichtet.77 Heterogenität und Pädagogik der Vielfalt Durch Reichs Erwähnung des Faktors ›Diversität‹78 im Kontext von Inklusion und Bildungsgerechtigkeit deutet sich ein Zusammenhang zu einer weiteren zentralen pädagogischen Idee an: Der ›Pädagogik der Vielfalt‹. Sie zielt auf »egalitäre Differenz«.79 Genau wie die Inklusionspädagogik soll jegliche Ausgrenzung von Menschen aufgrund bestimmter Merkmale ausgeschlossen werden.80 Das Konzept, das auf die Pädagogin Annedore Prengel zurückgeht81, ist gerade für die Religionspädagogik vielfach rezipiert und bearbeitet worden.82 Arzt et al. sprechen geradezu von einer »religionspädagogischen Neuorientierung« durch Prengels Impulse.83 Möglicherweise rührt die Affinität daher, dass von Prengel aufgeführte Elemente einer Pädagogik der Vielfalt, wie das der Nächstenliebe im 74 75 76 77 78 79 80 81 82 83

Grümme, 2017, 206f. Dederich, 2016; Grümme, 2017, S. 210. 2017, S. 210. Vgl. ebd., S. 208. Vgl. 2012, S. 31. Prengel, 2014, S. 54. Vgl. Lindner; Tautz, 2019, S. 10. Prengel, 1993. Vgl. bspw. Evangelische Kirche in Deutschland, 2014 (c). 2011, S. 10.

Konstruktiver Umgang mit Heterogenität

35

weitesten Sinne, der bewussten Trauerarbeit und der Arbeit mit Ritualen84 für die Religionspädagogik besonders anschlussfähig sind. Grümme erklärt, es ginge dabei vor allem um eine diversity-fähige Religionspädagogik, die jeden Einzelnen würdigt, die jeden Einzelnen in seinem Anderssein anerkennt, fördert und begleitet, die gerade aus dieser Heterogenität ein Lernen in Verschiedenheit kultiviert und damit am Ende sogar Schule bereichern und das System verändern kann85.

Eine Pädagogik der Vielfalt strebe einen zentralen Paradigmenwechsel an: Von der Fürsorge (die sich dem Vorwurf stellen muss, nicht auf Augenhöhe geleistet zu werden) zur gleichen Teilhabe aller.86 Prengels ursprüngliches Augenmerkt galt besonders interkulturellen, feministischen und Behinderten-integrativen Zusammenhängen. Ersetzt man ›feministisch‹ durch ›gender-sensibel‹ und ›integrativ‹ durch ›inklusiv‹ merkt man schnell, dass diese Themen immer noch heiße Eisen sind. Inzwischen ist mit Pädagogik der Vielfalt allerdings eher »ein konzeptioneller Rahmen« gemeint, um »inhaltlich verwandte, aber auch unverbunden nebeneinander bestehende Diskussionszusammenhänge und Forschungstraditionen zusammenzuführen und Vielfalt positiv zu würdigen.«87 Auch werden Dimensionen wie Gender, Sexualität oder (Inter-)Religiosität heute mit einbezogen. Dabei geht es immer auch um das Anliegen, die Verschiedenheit nicht einfach wahrzunehmen, sondern auch Gerechtigkeit etablieren zu wollen.88 Arzt et al. erklären deshalb, dass die Faktoren »Differenz« und »Gerechtigkeit« die entscheidende Grundlage für die Pädagogik der Vielfalt sind. Diese Dimension der Heterogenität, ebenso wie andere, die sich auf die Chancengerechtigkeit auswirken, sind durch gemeinsame Problemlagen miteinander verknüpft«.89 Dazu gehört auch die Dichotomie von Inklusion und Exklusion in gesellschaftlichen und pädagogischen Zusammenhängen: In allen Dimensionen von Differenz sind Herrschafts- bzw. Macht-Effekte wirksam. Sie dienen dazu, bestimmte Gruppen in gesellschaftliche, kulturelle und/oder politische Partizipation einzubeziehen, andere aber auszuschließen. Ausgehend von Sozialwissenschaft und Sozialphilosophie werden die Herrschaftsstrukturen sozialer Beziehungen in der Gesellschaft und dem Paradigma Inklusion vs. Exklusion diskutiert90.

Hier merkt man deutlich, wie auch Theorieansätze Bourdieus Fuß gefasst haben. Alle Ansätze, die sich unter dem begrifflichen Dach der Pädagogik der Vielfalt 84 85 86 87 88 89 90

Vgl. Prengel, 2006, S. 185. 2015, S. 41. Vgl. Grümme, 2017, S. 206. Vgl. Arzt; Jakobs; Knauth; Pithan, 2011, 10f. Vgl. ebd., 11, 13. 2011, S. 11. Ebd.

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Begriffliche und konzeptuelle Grundlegung

vereinen lassen, wie die Inklusion oder Bestrebungen zur größeren Bildungsgerechtigkeit, haben also das gleiche Anliegen: Jede Einzelne zu würdigen und zu fördern. In dieser Arbeit soll unter anderem beleuchtet werden, wie die Comicdidaktik als Instrument in der gerechtigkeitsorientierten Pädagogik der Vielfalt eingesetzt werden kann.

1.2.1 Schulische Risikogruppen und ihre Förderung durch Comics Dass es Kinder und Jugendliche gibt, die im schulischen Kompetenzgewinn tendenziell benachteiligt werden, ist bekannt. Eine Systematisierung dieser ist kein einfaches Unterfangen, denn man könnte die Heranwachsenden in ganz verschieden Obergruppen sammeln oder aufspalten – und solche Gruppierungen sind nicht unproblematisch. Dazu kommt, dass Bildungsforscherinnen teilweise divergierende Meinungen zu Benachteiligungsstrukturen haben und auch additive oder intersektionale Diskriminierungen berücksichtigt werden könnten und sollten. Da dies hier nicht umfänglich geleistet werden kann, beschränke ich mich darauf, auf Schüler zu verweisen, deren statistische Benachteiligung besonders gut empirisch nachgewiesen ist und denen comicdidaktische Zugänge aufgrund von strukturellen Charakteristika des Mediums (etwa wie in I 2 beschrieben) entgegenkommen könnten. Die Komplexität von Benachteiligungsstrukturen soll dadurch aber nicht geleugnet werden. Konzepte wie die Inklusionspädagogik streben zwar an, alle Lernenden gleichermaßen in den Unterricht einzubinden, haben sich jedoch vor allem den sogenannten schulbezogenen ›Risikogruppen‹ verschrieben, die nicht länger ausgeschlossen werden, sondern an der institutionell vermittelten Bildung ohne Einschränkung teilhaben sollen.91 Als ›Risikoschüler‹ gelten alle »bildungsbenachteiligten Kinder«92, die aufgrund bestimmter Eigenschaften und ›Lernermerkmale‹ und aus verschiedenen Gründen statistisch gesehen stärker angesichts schulischer Anforderungssituationen herausgefordert. Werden Schüler im Unterrichtsgeschehen benachteiligt, dann lernen sie tendenziell weniger als ihre Mitlernenden. Für Betroffene kann es dann langfristig schwieriger sein, den ›Anschluss‹ im Unterricht nicht zu verlieren, es kommt zu geringerem Lernzuwachs, schlechteren Noten, niedrigeren Schulabschlüssen und in der Folge oft zu Schwierigkeiten auf dem Arbeitsmarkt oder an der Universität; kurz: zu tendenziell geringeren gesellschaftlichen Teilhabemöglichkeiten aufgrund von geringerem kulturellen und ökonomischen Kapital. Ganz wichtig ist es in diesem Zusammenhang darauf hinzuweisen, dass gewisse Schülergruppen nicht auto91 Vgl. Werning, 2012, 85. 92 Schröder, 2012, S. 465.

Konstruktiver Umgang mit Heterogenität

37

matisch ›Risikogruppen‹ sind, sondern vielmehr immer wieder und zum Teil systematisch im Prozess der kulturellen Passung oder durch andere Benachteiligungen dazu gemacht werden! Anders ausgedrückt: Es ist in weitreichender Hinsicht das Bildungssystem, das Risikogruppen erst produziert, weil deren Kompetenzgrad im fachlichen Vorwissen, bildungssprachlichen Kapazitäten oder der Lesekompetenz aufgrund von geringerem kulturellen Kapital in der Herkunftsfamilie bildungsbürgerlichen Ansprüchen (oft ohne tiefgehende Prüfung!) nicht genügt. Derartige ›Mängel‹ (das Wort offenbart, dass jeder Habitus, der vom bildungsbürgerlichen Milieu abweicht, tendenziell als minderwertiger wahrgenommen wird) werden in der Schule missbilligend registriert, jedoch nicht ausreichend ausgeglichen. Hier soll ein kurzer Überblick über sogenannte ›bildungsbezogene Risikogruppen‹ gegeben werden, die eventuell besonders von comicdidaktischen Mitteln profitieren könnten, um der Benachteiligung etwas entgegenzusetzen. Vorher sei darauf hingewiesen, dass es sich hier um Theorien handelt, jedes Individuum aber letztlich anders ist, jeder Mensch andere Interessen und Lernstilpräferenzen hat. Letzten Endes kommt es darum auch in der Comicdidaktik auf adaptives Unterrichten und individualisierende Maßnahmen an. Schüler mit geringerer Lesekompetenz und geringerem bildungssprachlichen Wissen Zur Risikogruppe gehören Lernende, die Schwierigkeiten beim sinnentnehmenden Lesen haben. Der Grund kann sowohl in mangelnder Lese- als auch mangelnder Sprachförderung liegen; beides hat hier fast denselben Effekt. Dazu kommt, dass sich bestimmte Habitusformen oder Milieus durch divergierende Soziolekte auszeichnen, die von Lehrkräften schnell als unzureichend verworfen werden, wenn sie nicht mit dem bildungssprachlichen Habitus konform gehen. Auch gesellschaftliche Pluralisierungsprozesse können zu Schwierigkeiten in der Bildungssprache führen, sodass sich viele Schülerinnen mit Migrationshintergrund auch noch in der zweiten Generation gezwungen sehen, anzugeben, keine »perfekten Deutschkenntnisse« zu besitzen (vgl. II 3.2.4). In bildungssprachlicher Hinsicht gilt dies auch für viele Schüler mit deutschen Eltern. Alle Kinder bedürfen im Schulsystem der Förderung ihrer sprachlichen Kompetenzen. Aufgrund von sozialen Reproduktionsprozessen, die dem Schulsystem inhärent sind, werden mehrsprachige Kinder, zum Beispiel mit deutsch-türkischen Eltern, statistisch gesehen aber besonders stark ausgebremst.93 Die textentlastende Rezeptionsfreundlichkeit von Comics könnte in heterogenen Klassen gewinnbringend und inklusiv eingesetzt werden. Es soll in Abschnitt II 3.2.4 und 3.2.5 das Potenzial von Comics geprüft werden, auch inhaltlich komplexe Themen zu verarbeiten und zu vermitteln. Unter anderem 93 Vgl. Vardar; Kuhl, 2009.

38

Begriffliche und konzeptuelle Grundlegung

gestützt durch auflockernde ikonische Mittel könnte die einfach anmutende Comiclektüre den Neueinstieg in jedes Fach bedeuten, das Betroffene mit bildungssprachlichen Schwierigkeiten schon aufgegeben haben. Schülerinnen mit geringem fachspezifischen Vorwissen Eng damit verbunden ist das Feld der Lernenden, die aufgrund von (im Vergleich zu privilegierteren Mitlernenden) geringerem fachlichen Vorwissen oder geringereren inhaltlichen Kompetenzen im Nachteil sind; sei es weil der von der Schule geforderte Lesekompetenzgrad ihre persönlichen Ressourcen übersteigt und die Fachtexte für sie zu schwer gestaltet sind, oder auch, weil in ihrem Zuhause andere Themen diskutiert, vertieft und aufgegriffen werden als solche, die für den Unterricht relevant sind. (Dieser Zusammenhang sollte nicht unterschätzt werden.) In diesem Falle dreht es sich um inkorporiertes kulturelles Kapital, das Schülerinnen aus bildungsorientierten Familien Wissensvorsprünge verleihen kann, was sich dann auf die ungleiche Kompetenzverteilung in der Klasse auswirkt.94 Dabei kann es gleichermaßen um Fachwissen, wie auch um Allgemeinwissen gehen. In jedem Falle kommt hier dem bedarforientierten Unterricht eine besondere Rolle zu. Helmke erklärt: »Schüler mit defizitärem Vorkenntnisniveau, Wissenslücken und geringerer Sprachkompetenz sprechen besser auf einen Unterricht an, der ihre noch nicht voll entwickelte eigene kognitive Struktur durch entsprechende Unterrichtsangebote ersetzt bzw. unterstützt«.95 Hier soll das Potenzial von Comics in ihrer Rolle als ein solches ›Unterrichtsangebot‹ untersucht werden. Es gilt zu prüfen, inwiefern sie sich für den Aufbau von Wissen eignen – auch bei geringem bereichsspezifischen Vorwissen (vgl. II 3.2.3 und 3.3). Jungen in Schule und Religionsunterricht Die Gefahr für Kinder und Jugendliche, in eine ›Risikogruppe‹ zu rutschen, steigt statistisch gesehen, wenn sie männlich sind. Ein Grund dafür (obgleich sicher nicht der einzige) ist, dass vielen Jungen eine stärkere Leseförderung zukommen müsste, denn in dieser Kompetenzsparte liegt der Leistungsunterschied zu den Mädchen laut PISA noch über dem OECD-Durchschnitt96 (vgl. dazu auch 3.2.5). Geistes- und gesellschaftswissenschaftliche Fächer wie der Religionsunterricht sind dann aufgrund ihrer häufigen Textarbeit, wie schon beschrieben, besonders betroffen. In II 3.2.5 soll erörtert werden, inwiefern comicdidaktische Mittel durch »interessegeleitete Lesekultur«97 Einfluss auf eine positive (Lese-)Kom94 95 96 97

Vgl. dazu auch Helmke, 2009, S. 252. Ebd., S. 253; vgl. auch Weinert; Helmke, 1987. Vgl. OECD, 2013, 214f. Hüttis-Graff, 2011, S. 65.

Konstruktiver Umgang mit Heterogenität

39

petenzentwicklung von Jungen nehmen könnten. Tatsächlich stellen Jungen aber auch aus anderen Gründen spezifisch im Fach Religion eine tendenziell benachteiligte Gruppe dar. Woher diese Benachteiligung rührt und inwiefern comicdidaktische Ansätze einen Gegenimpuls setzen könnten, soll in III 4.3.2 näher untersucht werden. Schülerinnen mit konkreten geistigen und körperlichen Beeinträchtigungen, auch in Teilbereichen Die Gruppe der Schüler mit körperlichen oder kognitiven Beeinträchtigungen, mit Teilleistungs- oder Verhaltensstörungen eint bei aller Verschiedenheit eine simple statistische Tatsache: Diese Kinder und Jugendlichen brauchen besonders förderliche Bedingungen, um in der Schule Erfolg zu haben.98 Ob und inwiefern comicdidaktische Mittel für diese Fälle eine Hilfe darstellen, soll unter anderem in III 4.2.4 näher untersucht werden. Da Überlegungen in Bezug auf Menschen mit Beeinträchtigungen gerade in der Religionspädagogik eine lange Tradition haben, erscheint es nur sinnvoll, dieses Thema im dezidiert religionspädagogischen Abschnitt zu verhandeln. Nachdem nun einige begriffliche Felder bearbeitet worden sind, soll nun ein Blick auf das Medium geworfen werden, was im Mittelpunkt dieser Untersuchung steht: Auf den Comic.

98 Vgl. Hasselhorn; Gold, 2013, S. 460; Ahrbeck; Bleidick; Schuck, 1997; Brault, 2012, S. 23.

2

Comics – Eine kurze Einführung in das Medium

Der Comic als Gegenstand ist ein komplexes Feld, mit dem sich unter anderem die Kunstwissenschaften, Literaturwissenschaften und auch die Medienwissenschaften auseinandersetzen. Eine kurze Einführung in die zentralen Charakteristika für Religionspädagogen zu gewährleisten ist nicht einfach, soll hier aber dennoch versucht werden, auch um Missverständnissen rund um Gestaltungsmittel und Terminologien vorzubeugen. Der Fokus liegt vor allem auf denjenigen Aspekten, die für religionspädagogische Erwägungen und den weiteren Gedankengang der Arbeit relevant sind. Zentral werden die comictheoretischen Zugänge von Scott McCloud99 und Will Eisner100 sein. Da sich die Comicforschung seit ihren Veröffentlichungen aber auch weiterentwickelt hat, finden zeitgenössische Entwicklungen des Comics und der Comicforschung ebenso Beachtung.

2.1

Definitionsversuch(e)

Auf die Frage nach der Definition und Herkunft des Comics gibt es keine eindeutige und vor allem keine endgültige Antwort.101 Was ein Comic ist, was ihn ausmacht und inwiefern er sich zu anderen Rezeptionsphänomenen verhält, ist nicht unumstritten. »Comics sind keine wohldefinierten Gegenstände« resümieren Packard, Rauscher et al. nach jahrelanger Erfahrung in der Comicforschung – und erst die konkrete Frage an ein einzelnes Werk oder Genre, etwa wie sich die Kategorie ›Gender‹ im Comic (de)konstruiere, könne eine Comicanalyse und -untersuchung fruchtbar werden lassen.102 Freilich gibt es unter Comics auch erhebliche Unterschiede in Ästhetik und Formsprache. 99 100 101 102

1994. 2008 (a). Vgl. Sina, 2020 [In Vorbereitung]. Was nicht ausschließt, dass Bestimmungs- und Definitionsversuche heuristisch interessant sind (Packard; Rauscher; Sina; Thon; Wilde; Wildfeuer, 2019, S. 3).

42

Comics – Eine kurze Einführung in das Medium

Sina erklärt deshalb, unter dem Schlagwort ›moderner Comic‹ würden eine Spannbreite unterschiedlicher, genre- und gattungsübergreifender Formen der Sequenziellen Kunst subsumiert.103 Dennoch bestehen gewisse formale Ähnlichkeiten, die etwa mediale und semiotische Bestimmungen des Erzählens in Bildern betreffen, zwischen vielen Comicwerken.104 Zentrale Zugänge sollen hier kurz dargestellt werden: Zentral ist in vielerlei Hinsicht immer noch die Beschreibung des Comictheoretikers und Zeichners Will Eisner, der als einer der ersten den Comic in Abgrenzung zu anderen Medien definierte und ihm 1985 den Beinamen »sequential art« (›Sequenzielle Kunst‹) als distinkte künstlerische und literarische Form verlieh.105 Dieser Ansatz ist von Scott McCloud weiterentwickelt worden, der mit dem Begriff ›Comic‹ »zu räumlichen Sequenzen angeordnete, bildliche oder andere Zeichen, die Informationen vermitteln und/oder eine ästhetische Wirkung beim Betrachter erzeugen sollen« beschreibt.106 Der Gebrauch von Text im Comic ist nach dieser spezifischen Definition eher fakultativ. Als ›Sequenzielle Kunst‹ wären dann auch einige Werke der Kirchenkunst, wie Kreuzwege oder einige Altarbilder, zu betrachten. Eisner, dessen Darlegungen vor allem das Erzählen mit (Comic-)Bildern betreffen (in diesem Kontext wurden auch die Begriffe »graphic storytellung« und »visual narrative« geprägt107), beschreibt jedoch auch die »interdependency of words (text) and image (art)« im Comic (vgl. I 2.3).108 Die Begriffe ›Comic‹ und ›Sequenzielle Kunst‹ sind zwar nicht völlig beliebig austauschbar und inhaltsneutral, werden jedoch nicht selten synonym verwendet. Man könnte im Sinne von Eisners Beschreibung erklären, dass alle Comics zur Sequenziellen Kunst zählen, letztere jedoch auch Formen umfasst, die dem modernen Comic mit seinen etablierten semiotischen Verweisen und VisuoSymbolen nur in Teilen ähneln. Begriffe wie ›Graphische Literatur‹ oder ›Graphic Novels‹ verweisen auf Subgattungen oder nuancieren gewisse Eigenheiten des Mediums, beschreiben aber – um sich hier nicht zu lange mit Definitorischem aufzuhalten – im Wesentlichen das Gleiche. Mit Eisner und McCloud wird der Comic auch in dieser Arbeit als distinkte Kunstform und Medium verstanden, nicht als ›Format‹, ›Gattung‹ oder gar ›Prinzip‹.109 103 104 105 106 107 108 109

Vgl. Sina, 2020 [In Vorbereitung]. Vgl. dazu auch Packard; Rauscher; Sina; Thon; Wilde; Wildfeuer, 2019, S. 3. 2008 (a). 2001 (b), S. 17. Eisner, 2008 (b). Eisner, 2008 (a), S. 129. Vgl. dazu Wilde, 2014 (b). Mit dem Begriff ›Medium‹ kann man (nicht nur) unter Medienwissenschaftlern einen erheblichen Disput entfachen, ebenso in Bezug auf die genaue Unterscheidung zwischen ›Medium‹ und ›Form‹. Weil diese Diskussion hier aber nicht hilfreich wäre, sei sie den Expertinnen überlassen und nur darauf verwiesen, dass Medien an

Definitionsversuch(e)

43

Im umgangssprachlichen Gebrauch tauchen immer wieder viele Missverständnisse rund um das Medium auf, wenn gelegentlich auch Einzelbild-Karikaturen oder Zeichentrickfilme als ›Comic‹ bezeichnet werden (auch etwa von der EKD110). Obwohl zweifellos Verwandtschaftsbeziehungen zwischen diesen Medien bestehen, ist dies unsachgemäß und in dieser Arbeit werden Einzelbilder-Karikaturen dezidiert nicht als Comics betrachtet. Oft liegt bei Religionspädagoginnen auch immer noch eine mentale Engführung vor, die Comics nur mit komischen Inhalten oder einem knalligen Zeichenstil gleichsetzt. Obwohl sich der Begriff ›Comic‹ historisch bedingt tatsächlich auf Englisch für ›lustig‹ oder ›komisch‹ bezieht (die ersten modernen Comics sollten vor allem unterhalten) und oft falsche Assoziationen weckt, ist damit keine inhaltliche Zuweisung mehr gegeben. Das Medium hat sich längst von rigiden Genreeinteilungen emanzipiert. Am besten fährt man damit, »nicht die Botschaft…mit dem Boten zu verwechseln«.111 Der Comic kann mit jedem beliebigen Genre, Inhalt oder Stil gefüllt werden und es besteht auch kein kategorialer Formunterschied zwischen Comics und Graphic Novels, wie oft suggeriert wird.112 Da der Gegenstand so komplex ist, bietet sich hier also höchstens eine Arbeitsdefinition dessen an, wodurch sich ein ›Comic‹ auszeichnet. Die Werke, die ich für diese Untersuchung heranziehe, zeichnen sich durch folgende Charakteristika aus: Ich arbeite mit Comics, die aus mindestens zwei bildlichen oder anderen Zeichen bestehen, die zu räumlichen Sequenzen und/oder in ikonographischer Solidarität angeordnet sind, und zusammen Informationen vermitteln und/oder eine ästhetische Wirkung erzeugen sollen. Desweiteren arbeite ich überwiegend mit Werken, in denen zumindest in Anteilen sowohl Text als auch Bild Teil des Komplexes sind und dergestalt in Korrelation stehen, dass die spezifische Information/ästhetische Wirkung des Mediums nicht ohne das Zusammenspiel beider Elemente vermittelt/erzeugt werden könnte.

dieser Stelle als Vermittler von Bedeutungszusammenhängen und Überträger von Zeichensystemen verstanden werden 110 Vgl. 2008. 111 McCloud, 2001 (b), S. 14. 112 Zur näheren Erläuterung des Genrekonzeptes und seiner Grenzen sei auf Packard; Rauscher; Sina; Thon; Wilde; Wildfeuer, 2019, 202f. verwiesen.

44

2.2

Comics – Eine kurze Einführung in das Medium

Charakteristikum I: Der Rinnstein

Für die Vorstellung von Comics als Sequenzielle Kunst kann die Bedeutung eines spezifischen strukturgebenden Merkmals kaum genug hervorgehoben werden: Die Rede ist vom ›Rinnstein‹ (Englisch ›gutter‹). Im pädagogischen Feld wird dieses Strukturelement besonders im Kontext von kognitiver Aktivierung (II 3.3) oder Imaginationsförderung (II 3.2.2) eine Rolle spielen. Die Rinnstein-Theorie geht auf Eisner und McCloud zurück, ist von zeitgenössischen Comicwissenschaftlerinnen aber nicht unerheblich weiterentwickelt worden. Die Dimension der Zeit, die für alles Handeln Voraussetzung ist, wird im Comic (nicht nur, aber zu nicht unerheblichen Teilen) räumlich abgebildet. Um die einzelnen Handlungen einer Erzählung/Darstellung einzufassen, werden sie in sequenziellen, bildlichen Segmenten dargestellt, sogenannten ›Panels‹. Diesen fällt die Aufgaben zu, in einem ununterbrochenen Handlungsstrom eingefrorene Momente der Zeit darzustellen.113 Dabei geht es nicht notwendigerweise allein um Sequenzen: Groensteen etwa spricht von einer »ikonographischen Solidarität« (»solidarité iconique«), durch die die einzelnen Bilder auf der ganzen Comicseite in enger Beziehung zueinander stehen und zusammenwirken.114 In jedem Falle sind nicht nur diese charakteristischen Panels ein zentrales Strukturelement des Comics. Auch die Lücke, der Spalt und Bruch zwischen diesen, ›Rinnstein‹ genannt, nimmt eine zentrale Rolle in der Comictheorie ein. Groensteen beschreibt dieses strukturelle Element als »that-which-is-notrepresented-but-which-the-reader-cannot-help-but-to-infer«.115 Denn: Dieser Spalt muss von den Lesenden mental geschlossen werden, indem zwei (oder mehr) unabhängige Bilder zu einer einzigen Handlung verbunden werden – beziehungsweise die Solidarität zwischen den Bildern konstruiert/gedeutet werden muss. Dieses Verfahren nennt McCloud »closure« (im Deutschen »Induktion«)116, es kann aber auch »Inferenz«/»inference« genannt werden.117 Von der Fähigkeit, das große Ganze zu erkennen, obwohl man nur Teile davon wahrnimmt, macht der Mensch alltäglich Gebrauch, aber für McCloud ist die Fähigkeit zur Induktion bei der Comicrezeption in jeder Sekunde eine Grundvoraussetzung.118 Er beschreibt die Sequenzielle Kunst darum als »ein Medium, bei dem der Zuschauer willentlich und bewusst mitwirkt und die Induktion der Vermittler des Wandels, der Zeit und der Bewegung ist.«119 Der 113 114 115 116 117 118 119

Vgl. Eisner, 2008 (a), S. 38. Groensteen, 1999, S. 21. Groensteen, 2007, S. 112. 2001 (b), S. 71. Vgl. Wildfeuer; Bateman, 2014, 3; Saraceni, 2001, S. 175. Vgl. McCloud, 2001 (b), 71, 77. 2001 (b), S. 71.

Charakteristikum I: Der Rinnstein

45

Vorgang benötigt dabei auch immer ein nicht unbedeutendes Maß an Imaginationsfähigkeit: Hier, in der Grauzone des Rinnsteins, greift sich die menschliche Phantasie zwei separate Bilder und verwandelt sie zu einem einzigen Gedanken. […] Comic-Panels zerlegen Zeit und Raum zu einem abgehackten, stakkatohaften Rhythmus getrennter Augenblicke. Aber die Induktion ermöglicht es uns, diese Augenblicke zu verbinden und gedanklich eine in sich zusammenhängende, geschlossene Wirklichkeit zu konstruieren. […] Wie verschieden zwei Bilder auch voneinander sein mögen, in dem Spalt…zwischen den Panels ist eine Alchimie am Werk, die uns dabei helfen kann, auch noch in den abwegigsten Übergängen eine Absicht oder etwas Gemeinsames zu sehen. […] Zwei oder mehr Bilder, die wir zu einer Sequenz zusammenfügen, erhalten dadurch eine gemeinsame, übergreifende Identität, die den Leser zwingt, sie als Einheit zu betrachten120. (Vgl. das Metacomic-Original in Abb. 1, das durch die bildliche Ebene noch zusätzliche Bedeutungen transportiert.)

Die sinnentnehmende Comicrezeption ist also stark von konstruktivistischen Prozessen und mentalen Konstruktionen des Lesenden abhängig. Sie sind selbst für die »inferentielle und dynamische Bedeutungskonstruktion« zwischen den Bildern verantwortlich, denn um Kohärenz zwischen den vielen Panels einer Seite oder einer Geschichte herzustellen, muss jedes neue Panel an die bestehende Diskursstruktur angefügt und sinnstiftend mit dem bisherigen Kontext verbunden werden.121 Freilich bewegen sich Comics hinsichtlich der Anforderungen, die sie an die Lesenden stellen, auf einer breiten Skala, da Panelübergänge ein recht unterschiedliches Maß an Induktion erfordern können. Grünewald erklärt: Dass es hier zu unterschiedlichen Anforderungen an die Deutungs- und Kombinationsfantasie des aktiven Betrachters kommt, ist offensichtlich und hängt von der Art der Bildfolge ab. Die weite Bildfolge, bei der im Grunde jedes Bild, vergleichbar einem Theaterakt, eine relativ autonome Szene präsentiert (Beispiel: Die Bildgeschichten von William Hogarth), fordert größere deutende Anstrengung, die Leerstellen zwischen den Bildern zu füllen und eine narrative (kausal akzeptierte) prozessuale, zeitliche Verbindung herzustellen, als die enge Bildfolge, die einen Bewegungsprozess resp. eine Handlung in kleinen dicht aufeinanderfolgenden Phasenbildern präsentiert. Hier wird die Leerstelle fast automatisch gefüllt, der Blick gleitet rasch von Bild zu Bild, die Zeitabfolge »fließt«.122

120 2001 (b), 74f., 81. 121 Vgl. Wildfeuer; Bateman, 2014, 11f. 122 Grünewald, 2013 (b).

46

Abb. 1

Comics – Eine kurze Einführung in das Medium

Charakteristikum I: Der Rinnstein

47

Künstler und Lesende arbeiten in vielerlei Hinsicht eng zusammen, um eine Geschichte zu erzählen: Die Induktion im Comic erzeugt eine lediglich von der Literatur übertroffene Vertrautheit, einen stillschweigenden, geheimen Kontrakt zwischen Autor und Leser. Wie der Autor diesen Kontrakt erfüllt, ist eine Sache sowohl der Kunst als auch der Technik123.

In manchen Comics machen sich die Künstlerinnen diese komplexen Rezeptionsvorgänge aber auch zu Nutze, um damit zu spielen oder ihre Leser für kurze Momente bewusst in die Irre zu führen.124 Für den Induktionsprozess kann auch eine Herausforderung sein, was Sousanis als »spatial interplay of sequential and simultaneous« bezeichnet, da Comics/Comicpanels einerseits, ähnlich wie Texte, meist intuitiv sequenziell und der Reihe nach rezipiert werden, während es gleichzeitig in einem Comic oder bei einer Comicseite aber auch die Gesamtkomposition wahrzunehmen gilt – und diese bildliche Ebene tendiert immer dazu, alle Informationen gleichzeitig preiszugeben, was eine gewisse »electric tension« zur Folge hat.125 Dazu kommt, dass nicht alle Sequenzen unbedingt zeitgebundene Prozesse abbilden. So können Panels auch unterschiedliche Gesichtspunkte einer Szene nebeneinander (oder auch übereinander/überlappend) abbilden, um etwa die Stimmung eines Moments zu transportieren oder gleichzeitig stattfindende Handlungen darzustellen.126 Zuweilen müssen die Lesenden zudem nicht nur erhebliche Zeit-, sondern Raumdifferenzen deduktiv deuten, wenn die Panels von einer Szene der Geschichte zur nächsten springen.127 Oft ist dabei der textuelle Anteil von Comics behilflich, um die Annahmen der Rezipienten in die richtige Richtung zu lenken. Gleichzeitig ist häufig der Fall, dass auch innerhalb eines einzelnen Panels, welches idealtypisch doch einen ›eingefroren Moment‹ darstellt, ein zeitlicher Ablauf hinzugedacht muss, zum Beispiel wenn innerhalb eines Bildes eine lange Rede gehalten oder ein Dialog dargestellt wird – und das ganz ohne Rinnstein. Hier spielt also unter anderem der textuelle Anteil von Comics hinein, der ebenfalls von maßgeblicher Bedeutung für die Comictheorie ist.

123 124 125 126 127

McCloud, 2001 (b), S. 77. Vgl. bspw. Auster; Karasik; Mazzucchelli, 2004, S. 2. Sousanis, 2015, 58, 62f. Vgl. McCloud, 2001 (b), S. 80. Vgl. ebd., S. 79.

48

Comics – Eine kurze Einführung in das Medium

2.3

Charakteristikum II: Das Ineinandergreifen von Wort und Bild

Ohne die sequenzielle Natur des Mediums grundsätzlich zu negieren, legen andere Comicforschende in ihrer Beschreibung dessen, was ein Comic im eigentlichen Sinne sei, einen größeren Wert auf den Aspekt der Text-Bild-Konstruktion.128 Und tatsächlich findet das Symbolsystem der Schrift (in Captions, Sprechblasen, Soundwörtern u.v.m.) Eingang in die große Mehrheit zeitgenössischer Werke.129 So beschreibt Bongco die Rolle des Einzelpanels in der Sequenz des Ganzen, hebt es aber auch insofern hervor, als sich gerade hier immer wieder Schrift und Bild treffen, um in eine wirkungsvolle Interaktion miteinander zu treten: It is a graphic technique specific to comics which effectively synthesizes two distinct mediums to optimize expression. […] The panel, in fact, graphically and diegetically unifies image and text in the comics: it forms a graphic unit which represents one moment, one instant of an action in the narrative. Then, one frame interacts with other frames to create a sequence which constitutes the syntagmatic discourse of the story. The panel is the smallest unit of ›comics grammar‹ in which the complex interaction of text and pictures operates130.

Im Einzelpanel stehen das unmittelbar wahrgenommene Bild und der bewusst zu rezipierende Text freilich in einem subtilen Spannungsverhältnis. Während das Gehirn nicht mehr als etwa 1,8 Sekunden benötigt, um ein konventionelles Comicpanel aufzunehmen und widerzugeben, erfasst es in der gleichen Zeitspanne im Schnitt nur sieben Worte.131 Auch Packard et al. erklären, die semiotische Beschreibung des Bild-Schrift-Verhältnisses im Medium laufe auf die »Beschreibung einer auf der Comicseite vollzogenen dynamischen Transformation, die sich aus einem spannungsreichen Spiel von Widersprüchen ergibt« hinaus.132 Und diese Kombination müsse jedes Mal aufs Neue verhandelt werden. Obwohl der Comic also ein eigenständiges Medium ist (inklusive eigener Semiotik und kulturgeschichtlicher Genese), nennt er Elemente sein Eigen, die – als Bild und Text – auch Teil anderer Medien wie dem Film und der Literatur sind.133 Nach Ansicht mancher Forschenden agieren Comic-Künstler deshalb in einem intermedialen Feld, in dem der Comic als ›Hybridmedium‹ letztlich jedoch viel mehr ist als die Summe seiner Teile. Tatsächlich kann das Zusammenspiel von Text und Bild im Vergleich zu monomodalen Medien neue Verständnismöglichkeiten und Dimensionen eröffnen. Sousanis wählt als Vergleich 128 129 130 131 132 133

Vgl. Abel; Klein, 2016 (b), S. 78. Vgl. Packard; Rauscher; Sina; Thon; Wilde; Wildfeuer, 2019, S. 33. 2001, S. 15, Herv. i. Org. Vgl. Kauffmann, 1988, 36. Packard; Rauscher; Sina; Thon; Wilde; Wildfeuer, 2019, S. 34. Vgl. Ahrens, 2012, S. 18.

Charakteristikum II: Das Ineinandergreifen von Wort und Bild

49

die zwei Augen eines Menschen, die nur im Zusammenwirken dreidimensionales Sehen ermöglichen: Consider […]/ distinct vantage points / separate paths / joined in dialogue / thus, not merely side-by-side / they intersect, / combine, interact, engage, / and inform one another. / As the coming together of two eyes produces stereoscopic vision / outlooks held in mutual orbits, / coupled, / their interplay / and overlap / facilitate the emergence of new perspectives. […] This requires a perceptual shift – / a way of thinking / in which a rigid enclosed mind-set / is reconceived as an interconnected inclusive network. / Existing boundaries transcended, / borders become links. / Distinct viewpoints still remain, / now no longer isolated / viewed as integral to the whole / each informing the other in iterative fashion. / In this new integrated landscape lies the potential for a more comprehensive understanding134. (Für das Zitat im Metacomic-Original vgl. Abbildung 2).

Entsprechend ist für viele Autorinnen das Zusammenspiel von Text und Bild im Panel die zentrale Basis für Comics.135 Einige verorten deshalb auch die historischen Anfänge des ›modernen Comics‹ erst bei der Erfindung der Sprechblase, die Schrift direkt ins Bild einfügte, anstatt unter dem Panel zu verlaufen (wie etwa bei Wilhelm Busch).136 Zeitgenössische Comics ohne Text, wie zum Beispiel Tans Ein neues Land137, würden dann als pantomimische Comics eine Sonderklasse bilden. Es ist denkbar, dass in den letzten Jahren vor allem auf den produktiv-hybriden und weniger auf den sequenziellen Charakter des Mediums verwiesen wurde, weil der Comic sich in neue Richtungen entwickelt hat. In modernen (Sach-)Comics sind die Lesenden stärker damit beschäftigt, mental eine Kohärenz von Wort und Bild herzustellen, als die Einheit zwischen zwei aufeinanderfolgenden Bildern induktiv zu deuten. Denn Comics für Jugendliche und Erwachsene arbeiten oft nur noch teilweise mit logisch aufeinanderfolgenden bzw. narrativ-chronologischen Bilderreihen und setzen immer stärker auf die Spannung und das Zusammenspiel von Wort und Bild (vgl. beispielsweise

134 2015, S. 37. Sowohl Sousanis als auch McCloud haben ihre Theorien in Form eines (Meta-) Comics vorgelegt, sodass sich ihre Ausführungen oft auf mehrere Panels verteilen. Im Falle von Sousanis ist es sinnvoll, diese Panelgrenzen und -sprünge auch im Fließtext anzuzeigen (hier durch Schrägstiche markiert), da die Reihenfolge seiner Satzteile manchmal interpretationsbedürftig ist und auch Satzzeichen entsprechend frei verwendet werden. Bei McCloud ist dies aufgrund seiner konventionelleren Panel-Anordnung nicht unbedingt nötig, weshalb zugunsten besserer Lesbarkeit darauf verzichtet wird. Beide Autoren verzichten durch den Lettering-Stil ihrer Texte zudem auf eine Trennung von Groß- und Kleinbuchstaben. Da diese im fortlaufenden Text aber das Lesen ungleich erleichtern, sind sie in der Zitation bewusst wieder eingeführt worden. 135 Vgl. bspw. Bongco, 2001; Sousanis, 2015. 136 Vgl. Dittmar, 2011, S. 47. 137 Tan, 2012.

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Comics – Eine kurze Einführung in das Medium

Sousanis Unflattening138 oder auch viele moderne Webcomics). Das war zu McClouds Zeiten noch kein so bedeutsames Phänomen – und ist jetzt für die comictheoretische Arbeit zukunftsweisend. Möglicherweise sind die Definitionsversuche aber auch für unterschiedliche Comicgattungen und -genres unterschiedlich produktiv, verzichten erzählende Werke, wie ›Graphic Novels‹, doch häufig in weiten Passagen auf jeden Text und bauen umso mehr auf die Induktionsfähigkeit ihrer Leserschaft, während Infocomis zu komplexen Themen stärker auf den textuellen Anteil angewiesen sind (vgl. II 3.2.3). Für diese Arbeit sind allerdings beide Ansätze (in verschiedenen Kontexten) wichtig. Umso erfreulicher ist es, dass sie sich nicht gegenseitig ausschließen.

2.4

Charakteristikum III: Die Sprache des Comics

Künstler und Leser müssen im Medium, dem Träger einer Botschaft, zu einer Sprache gelangen, die Beliebigkeit ausschließt. Zu diesem Zweck haben sich eine Reihe von visuellen Symbolen, Zeichen und Kommunikationsmitteln etabliert, die man mit Ole Frahm als eine Art »Sprache des Comics« bezeichnen könnte.139 McCloud erklärt: »Der moderne Comic ist eine junge Sprache, aber er hat bereits ein eindrucksvolles Repertoire an leicht verständlichen Symbolen entwickelt, und dieses visuelle Vokabular ist unbegrenzt ausbaufähig.«140 Vollständig erläutert werden kann das komplexe Feld der semiotischen Ressourcen hier also nicht. Dennoch kann man auf einige Aspekte hinweisen, um ein besseres Bild vom Medium und seinen Möglichkeiten vermitteln. Dabei muss man stets bedenken, dass Faktoren wie Perspektive, Strichführung und Farbgebung ihre Botschaft dabei nicht nur in additiver Weise, sondern in einem komplexen Zusammenspiel vermitteln. Wildfeuer und Bateman verweisen in diesem Rahmen auf »kleinere semiotische Eigenheiten, wie das Spiel mit Linien und Farben, sowie größere, wie das Seitenlayout. All diese Ressourcen erzeugen gemeinsam Bedeutung und sind als eine zusammenwirkende, multimodale Einheit von den 138 2015. 139 Vgl. Frahm, 2010. Für manche Forscher und Künstlerinnen verfügt der Comic sogar nicht über eine bestimmte Sprache, sondern stellt eine Sprache an sich dar – oder zumindest eine ganz spezifische, eigenständige Kommunikationsform, vgl. etwa Cohn, 2012. Die Panels in ihrer Anordnung gleichen in dieser Sichtweise einem Gerüst, das eine Art Grammatik dieser Sprache bildet. In den Worten Eisners: »The rendering of the elements within the frame, the arrangement of the images therein and their relation to and association with the other images in the sequence are the basic ›grammar‹ from which the narrative is constructed.« (Eisner, 2008 (a), S. 40). Die visuellen, semiotischen Verweise im Panel stellen dann eine Art Vokabular dar. Diese (teilweise metaphorische) Auffassungen von ›Vokabular‹ und ›Grammatik‹ ziehen sich in dieser Arbeit durch viele Zitate von anderen Comicforschenden. 140 McCloud, 2001 (b), S. 139.

Charakteristikum III: Die Sprache des Comics

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Rezipient_innen zu konstruieren.«141 Man könne deshalb auch von »Intersemiose« sprechen.142 Grundsätzlich transportieren Comicschaffende ihre Botschaft sowohl mithilfe symbolischer Zeichenklassen – wie dem Text – als auch durch ikonische Zeichen, die durch Ähnlichkeit einen Bezug zu einem Gegenstand herstellen – wie dem Bild. Der Aspekt der ›Ähnlichkeit‹ ist wichtig, da Comics nicht die Wirklichkeit abbilden können und auch nur sehr selten etwa mit Photographien arbeiten.143 Viele zeichnen sich dagegen durch einen cartoonhaften Zeichenstil aus, mit dem eigene Funktionen verbunden sind (vgl. auch III 3.1.2). Packard et al. erklären die cartoonisierende Darstellungsweise und deren Bedeutung: Im hier verwendeten Sinne meint es […] eine breite stilistische Tradition reduzierter, in Einzelheiten übertriebener und verformter Zeichnungen von Körpern. Solche Cartoons erscheinen zwar nicht in allen Comics – und sie erscheinen auch in anderen Medien […]. Für die Ästhetik und Geschichte von Comics sind sie jedoch von so grundlegender Bedeutung, dass in den allermeisten Comicbildern eine semiotische Analyse bei den Cartoons einen effektiven Ausgangspunkt finden wird.144

Der Cartoon ist also oftmals Teil der Zeichen-Sprache des Mediums. Auf der Oberflächenebene erfassen die meisten Menschen Deutungszuweise dieses Darstellungsmittels intuitiv, wenn sie etwa die Mimik von Figuren spontan richtig deuten. Auch andere künstlerischen Mittel entfalten ihre Wirksamkeit teilweise, ohne dass sich die Lesenden darüber voll im Klaren sein müssen. So können Comicschaffende durch den gezielten Einsatz von Farben, Panelformen, Panelanordnungen, Perspektiven etc. bestimmte Effekte bei ihren Leserinnen erzeugen, die durch die Macht des optischen Eindrucks bis an physiologische Wirkungen heranreichen.145 Diesem künstlerischen Vorgehen mit expressiven Mitteln sind keine Grenzen gesetzt. Gleichzeitig gibt es in Comics aber auch ein Repertoire von Zeichen, die in ihrer Bedeutung relativ festgelegt sind bzw. im Zusammenspiel mit anderen Zeichen – also multimodal – eine spezifische Bedeutung konstruieren. Die lingua imaginis von Comics ist deshalb nicht universell. Die Rezeption, das Lesen von Comics, muss erlernt werden wie die Deutung von Diagrammen oder Notenblättern und umfasst unter anderem eine bestimmte Deutungs- und Lesefähigkeit. Eisner erklärt:

141 Wildfeuer; Bateman, 2014, 4. 142 2014, 6. 143 Ausnahmen bestätigen bekanntlich die Regel, vgl. etwa Muth; Lang, 2009 . Freilich nähern sich auch Photographien im gewissen Sinne der Wirklichkeit nur an. 144 Packard; Rauscher; Sina; Thon; Wilde; Wildfeuer, 2019, 20f. 145 Vgl. auch McCloud, 2001 (b), S. 140.

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Comics – Eine kurze Einführung in das Medium

Comics comunicate in a ›language‹ that relies on a visual experience common to both creator and audience. Modern readers can be expected to have an easy understanding of the image-word mix and the traditional deciphering of text. Comics can be ›read‹ in a wider sense than that term in commonly applied. […] The reading of a graphic novel is an act of both aesthetic perception and intellectual pursuit.146

Comic-Künstlern stehen dabei nur visuelle Kodierungsverfahren zur Verfügung, sodass sie verschiedene semiotische Ressourcen nutzen, um sich Ausdruck zu verschaffen.147 Manche Mittel werden von Künstlerinnen sehr individuell verwendet, andere sind intersubjektiv – zumindest für diejenigen, die diese Sprache erlernt haben. Denn Zeichenmodalitäten sind immer »das Ergebnis eines Prozesses der Bedeutungszuschreibung innerhalb einer bestimmten Nutzer_innengemeinschaft«.148 Wie andere ›Sprachformen‹ ist der Comic historisch gewachsen und entwickelt sich stetig weiter.149 Mit ihrer Hilfe wird vielfach erreicht, nicht nur das Sichtbare darzustellen, sondern auch das Unsichtbare sichtbar zu machen. So können Comics ihrer Natur nach keine akustischen Mittel nutzen, obwohl diese in der alltäglichen, zwischenmenschlichen Kommunikation von grundlegender Bedeutung sind. Stattdessen stehen der Comic-Künstlerin Sprechblasen zur Verfügung, jeweils versehen mit einem räumlichen und zeitlichen Index, um anzuzeigen, welche Figur wann und in welchem Moment etwas zu sagen hat.150 Comicfans können sogenannte Folienzeichen, die sich nicht auf die räumlichen Verhältnisse der diegetischen Welt beziehen, aber Platz im Panel einnehmen, sofort richtig zuordnen.151 Sprechblasen und der ihnen zugehörige Text zeugen nach McCloud »vom beharrlichen Streben, das Wesen des Schalls auf Papier zu bannen.«152 Die gesamte ›Audio-Visualität‹ von Comics ist ein Feld, das sich durch erhebliche »ästhetische und semiotische Komplexität« auszeichnet.153 Die akustische Dimension findet zum Beispiel auch in der Ausformung des textuellen Anteils in den Comics Eingang, wenn Gestaltungsmöglichkeiten der Typographie Teile der Prosodie des Gesagten zum Ausdruck bringen sollen.154 Die Gestaltung des Textes in der Sprechblase (umso mehr sofern handgelettert155) 146 2008 (a), 1f. 147 In Webcomics werden diese Grenzen heute auch bewusst transzendiert, etwa durch musikalische Unterlegung der Rezeption (vgl. bspw. Neufeld, 2009). Das macht die Bedeutung der Comicsprache jedoch nicht hinfällig. 148 Packard; Rauscher; Sina; Thon; Wilde; Wildfeuer, 2019, S. 53, Herv. d. Autorin. 149 Vgl. Eisner, 2008 (a), S. 1. 150 Vgl. Bachmann, 2014, S. 13. 151 Vgl. Packard; Rauscher; Sina; Thon; Wilde; Wildfeuer, 2019, S. 32. 152 McCloud, 2001 (b), S. 142. 153 Bachmann, 2014, S. 9. 154 Vgl. ebd., S. 8; Wilde, 2014 (a), S. 111. 155 Beim ›Handlettering‹ werden die Texte im Comic (vor allem in den Sprechblasen) von der Zeichnerin oder einem Lettering-Profi, der sich auf diese mühselige Arbeit spezialisiert hat,

Charakteristikum III: Die Sprache des Comics

53

steht als Erweiterung der Bildsprache also im Dienste der Geschichte.156 Je nach Stil kann das Lettering die Stimmung eines Bildes beeinflussen, bestimmte akustische Effekte kodieren und so die Erzählung auch nuancieren.157 Guy Delisle bannt beispielsweise in Aufzeichnungen aus Jerusalem158 (Abb. 2) eine kindlich-monologische Redeweise in eine Sprechblase, die als ›wasserfallartig‹ und eher unzusammenhängend/wenig konturiert interpretiert werden könnte. Andere Comics nutzen auch die Form und Gestaltung der Sprechblase, um Tonlagen, Lautstärke und sogar Gefühle zum Ausdruck zu bringen – zum Beispiel steht eine Blumeneinfassung für eine besonders liebliche oder säuselnde Stimme.

Abb. 2

Neben den Sprechblasen, die in knappen Charakterisierungen des Comics meistens an prominenter Stelle figurieren, gehören auch die sogenannten ›Soundwörter‹ zum audio-visuellen Repertoire des Mediums.159 Meistens sind es

156 157 158 159

mit der Hand gestaltet anstatt maschinell eingefügt. Das ermöglicht eine größere Individualität des Werks und hat zusätzlich expressives Potenzial – wird aber oft aus Kostengründen unterlassen. Vgl. Eisner, 2008 (a), S. 2. Vgl. ebd., S. 4. Delisle, 2012. Vgl. Bachmann, 2014, S. 11. Zu weiteren Möglichkeiten, wie Klangphänomene im Comic dargestellt werden können, welche Rolle sie spielen (zum Beispiel können sie sowohl äs-

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Comics – Eine kurze Einführung in das Medium

Onomatopöien, die von vielen Menschen, die wenig Kontakt mit der Sequenziellen Kunst haben, nach Bachman »zu Recht als für das Zeichensystem Comic typische Zeichen« angesehen werden.160 Fast jede kennt das lautmalerische ›Bumm‹, ›Bäääm‹, ›Zack‹ im Comic, es ist seit Beginn des 20. Jahrhunderts tief im Medium verankert.161 Im japanischen Comic (Manga) existiert sogar ein eigenes Soundwort für absolute Stille (›Shin‹).162 Dittmar erklärt: In den allermeisten Fällen drückt […] Onomatopoetik den Klang eines Geräusches innerhalb von Bildergeschichten aus. Die Art der Darstellung in Typenauswahl und Schreibweise charakterisiert den Klang dabei noch weit genauer als die eigentliche Buchstaben- und Wortbedeutung.163

Die Grenzen zwischen Schrift und Bild verschwimmen also. Auf diese Weise können synästhetische Effekte bei der Leserschaft erzeugt werden, mehrere Sinne also mit einem einzelnen (hier: visuellen) Reiz angesprochen werden.164 Don Rosas Onkel Dagobert – Sein Leben, seine Milliarden165 zeigt etwa ein Beispiel für visuell transformierte Lautstärke und Kraft (Abb. 3). Die Soundwörter stehen in hier in Sprechblasen, die auf den jeweiligen Urheber des Lautes hinweisen, sie sind expressiv gestaltet, um die akustische Dimension möglichst genau zu repräsentieren. Der geübten Leserin sollte völlig klar sein, wer von den beiden Gestalten hier ›lauter‹ brüllt und welche Emotionen damit einhergehen. In Batman – The Dark Knight Returns166 unterstreichen lange, hohe Panels den tiefen Sturz eines Jungen, zudem verbindet sich seine Schmerzbekundung mit den Geräuschen der mit Fledermäusen gefüllten Höhle (Abb. 4). Die Fledermäuse werden nicht bildlich dargestellt, ihre Geräusche sind jedoch auch in der Dunkelheit der Höhle wahrnehmbar. Beide Klänge, Schmerzensausruf und Flügelflattern, sind gleichzeitig präsent, was auch auf der visuellen Ebene verdeutlicht wird. In der nordamerikanischen Comictradition, wie in diesem Beispiel, werden diese Effekte oft besonders intensiv genutzt, sodass der eigentlich flüchtige Klang eines Geräusches im Comic eine ausdrucksstarke Plastizität annehmen kann. Besonders der deutsche Comic hat sich daneben auch das Mittel von Inflektiven wie das onomatopoetische ›Surr‹ und ›Keuch‹ zu Nutzen

160 161 162 163 164 165 166

thetische als strukturelle Funktionen einnehmen) und wie sie sich kategorisieren lassen sei verwiesen auf Wilde, 2014 (a) und Salgueiro, 2008, 585ff. 2014, S. 8. Vgl. Wilde, 2014 (a), S. 108; Bachmann, 2014, S. 11. Vgl. Phillips, 2000, S. 65. 2011, 113f. Vgl. McCloud, 2001 (b), S. 131. Don Rosa, 2008. Miller; Janson; Varley, 2002.

Charakteristikum III: Die Sprache des Comics

55

gemacht, wobei Inflektive zusätzlich auch lautlose psychische Vorgänge betonen können (etwa ›grübel‹).167

Abb. 3

Neben Klangerscheinungen können auch abstrakte Phänomene im Comic deutlich als solche visuell markiert sein, ohne verbal beschrieben werden zu müssen. Unterschiedliche Panelformen, ihre Anordnung und Gestaltung können bei den Lesenden unterschiedliches Zeitempfinden auslösen.168 Und die Gestaltung des Frames, der Panelumrandungen oder das Fehlen derselben ist Teil dieser nonverbalen Sprache, mit der zum Beispiel Traum- und Erinnerungssequenzen als ontologisch distinkte Subwelten klar markiert werden.169 Auch bekannte Alltagszeichen wie $ oder !!! haben im Medium eine von der ursprünglichen Bedeutung abweichende Funktion und sind der Versuch, Unsichtbares in der Handlung (wie Raffgier oder Schockiertheit) zu kodieren. Eisner erklärt, sie

167 Der Gebrauch von Inflektiven ist ein vornehmlich dem (deutschen) Comic zugehöriges Stilmittel. Diese Verkürzung der Verben auf ihren Stamm (›grübel‹, ›grunz‹ etc.) soll onomatopoetische oder lautlose kognitive/seelische/psychische Vorgänge wiedergeben. Da diese Form der Sprachverwendung maßgeblich auf die Übersetzerin Erika Fuchs zurückgeführt werden kann, hat sich auch der Begriff ›Erikativ‹ für den Inflektiv etabliert (vgl. Anderlik; Kaiser, 2009, S. 252). Fuchs hat nicht nur einen regelrechten ›Medialekt‹ geprägt, sondern damit auch der deutschen Alltagssprache neue Ausdrucksmöglichkeiten beschert. 168 Vgl. Eisner, 2008 (a), S. 26. 169 Vgl. ebd., S. 44; Packard; Rauscher; Sina; Thon; Wilde; Wildfeuer, 2019, S. 81.

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Comics – Eine kurze Einführung in das Medium

Abb. 4

ließen sich darum eher der Gedankenwelt als der Sprache zuordnen.170 Stephan Köhn spricht hier von »Visuo-Symbolen«, auch die Bezeichnung ›Icons‹ findet sich hin und wieder.171 Es handelt sich um eine Art visueller Metaphern für Gedanken und Empfindungen. Diese reiche Symbolwelt des Comics, in unterschiedlichsten Stilformen aufgegriffen, ist inzwischen fester Bestandteil des 170 Vgl. Eisner, 2008 (a), S. 12. 171 Köhn, 2005, S. 85ff., hier zwar in Bezug auf Mangas (vgl. I 2.5.2), der Begriff ließe sich jedoch auch auf westliche Comics übertragen.

Charakteristikum III: Die Sprache des Comics

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Vokabulars des Mediums, weil sie in dessen Geschichte oft genug rezipiert und wiederholtworden ist.172 Dennoch müssen stets intersemiotische und intermodale Relationen beachtet werden: Ohne Kontext kann ein und dieselbe Linie im Comic sowohl auf Rauch als auch auf Gestank, eine Bewegung oder Schwindelgefühle hinweisen – oder auch auf nichts von all dem.173 Die Bedeutung erschließt sich Geübten vor allem aufgrund von Inferenzen und Erfahrungswissen.174 Dass Menschen mit dieser Fähigkeit nicht geboren sind, zeigt sich im Kontakt mit neuen Comic-›Dialekten‹: So hat der Manga eine ganz eigene lingua imaginis ausgebildet, die sich dem ungeübten (westlichen) Leser nicht unmittelbar erschließt, wenn zum Beispiel Nasenbluten für spontane Lust und Begierde steht.175 Dazu gibt es in der japanischen Comictradition für praktisch jede Gefühlsregung der Figuren einen expressionistischen Effekt der Hintergrundgestaltung, auf den viele Zeichnerinnen zurückgreifen.176 Auch westliche Comics experimentieren damit, Gefühlen und Stimmungen zeichnerisch Ausdruck zu verleihen, der über die Mimik der Figuren hinausgeht, um eine (unbewusste) emotionale Wirkung auf die Rezipientinnen zu erzielen. Barbara Yelin überträgt etwa in Gift177 (Abb. 5) den Verdruss ihrer Protagonistin gleich einer Verdunkelung des Gemüts über deren Kopf graphisch aufs Papier und bedient sich dabei eines beliebten Zeichens, dem allein für den Comic und verwandten Medien eine Bedeutung zukommt.178 Delisle testet in Shenzhen179 (Abb. 6) dagegen ein relativ individuelles Verfahren, um (meiner Interpretation nach) Kälte graphisch Ausdruck zu verleihen. Schließlich versteht es das vermeintlich starre Medium, innerhalb von Panels (also ohne die Notwendigkeit des Rinnsteins) Bewegungen effizient darzustellen und für die Lesenden nachvollziehbar zu machen. Dafür greifen viele ComicKünstlerinnen zum zeichnerischen Mittel der Bewegungslinien oder ›Speed Lines‹. Dieses Phänomen hängt eng mit der Fähigkeit des Mediums zusammen, mit seiner Sprache die ungreifbare Dimension der Zeit im statischen Bild einzufangen. Grünewald erklärt: »Zeit ist als Zeit […] nicht darstellbar – es sei denn als erlebte Zeit, indexalisch oder symbolisch präsentiert. Zeit ist spürbar – in der Bewegung, in einem Geschehen. Zeit ist erlebbar als Prozess, als Bewegung, als Veränderung, als Vergehen.«180 Bewegungslinien gehören darum zu den Mitteln, 172 173 174 175 176 177 178 179 180

Vgl. McCloud, 2001 (b), S. 137. Vgl. dazu Packard; Rauscher; Sina; Thon; Wilde; Wildfeuer, 2019, S. 60. Vgl. ebd. Vgl. McCloud, 2001 (b), S. 139. Vgl. ebd., S. 141. Yelin; Meter, 2010. Vgl. dazu auch Eisner, 2008 (a), S. 17. Delisle, 2010. 2012, S. 24.

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Comics – Eine kurze Einführung in das Medium

Abb. 5

Abb. 6

das Fließen der Zeit durch einen »visuelle[n] Impuls« in einem Medium darzustellen, das in Wirklichkeit stillsteht, indem sie die Bahnen sich bewegender Objekte im Raum darstellen und auch einen Hinweis auf deren Geschwindigkeit liefern.181 Carl Barks liefert in Die Weihnachtsgans182 (Abb. 7) ein gutes Beispiel für diese Technik, in dem zusätzlich schwindende Sinne durch den unfokussierten Blick der Figur dargestellt werden. Auch Don Rosa stellt in Expedi-

181 Vgl. McCloud, 2001 (b), 118f.; Grünewald, 2012, 25, 28. 182 Barks, 2010 (a).

Charakteristikum III: Die Sprache des Comics

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tion nach Shambala183 (Abb. 8) eine Sequenz dar, in der Bewegungslinien, Soundwörter und nicht zuletzt die Mimik der Figuren nähere Erläuterungen des Geschehens überflüssig machen. Bewegungslinien werden von unterschiedlichen Zeichnern und Traditionen unterschiedlich auffällig und dramatisierend eingesetzt; zudem gibt es zum gleichen Zweck auch noch andere Ausdrucksmittel, die zum Beispiel schon von Wilhelm Busch genutzt wurden.184 Wieder hat der Manga dabei auch seine eigenen Wege gefunden, um Bewegungsabläufe darzustellen. Ähnlich wie beim Rinnstein ist die Kooperation zwischen Schaffenden und Lesenden mit ihrem Imaginationsvermögen hier unerlässlich. Grünewald erklärt: »Die Erzählung wird in dem Augenblick existent, wo ein Betrachter das implizite zeitverweisende Element des narrativen Bildes erfasst und diesen Impuls nutzt, um im Kopf einen Verlauf, einen zeitlichen Prozess zu konstruieren.«185 Mit etwas Übung wird das Unterfangen zunehmend leichter und kommt sicherlich der Natur des Menschen entgegen, wenn man mit Huber geht, für den »die Erzeugung des Imaginären […] ein konstitutiver Bestandteil des ganz normalen, alltäglichen Lebensflusses« ist.186

Abb. 7

Dies führt schon zum nächsten Gegenstand der Untersuchung: Während Comics mithilfe ihrer medienstrukturellen Charakteristika im Grunde jeden nur denkbaren Inhalt verarbeiten können, so lassen sich doch einige thematische Tendenzen für das Medium beobachten. Auf diese soll nun ein Blick geworfen werden. 183 184 185 186

Don Rosa, 2011. Vgl. McCloud, 2001 (b), S. 120; Grünewald, 2012, 28f. Grünewald, 2012, S. 25. Huber, 2008, S. 58.

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Comics – Eine kurze Einführung in das Medium

Abb. 8

2.5

Die inhaltliche Ebene: Prägnante Erscheinungen und Phänomene

Erforscht man den didaktischen und (schul-)pädagogischen Wert von Comics, ist es hilfreich, einen Blick auf die Art der Geschichten und Inhalte zu werfen, die Comicschaffende in ihrem Medium erzählen und darstellen. Auch in verschiedenen Comicgattungen zeichnen sich gewisse Zusammenhänge und Trends ab. Sie haben ihre Zielgruppen und Entwicklungslinien. Für die Comicdidaktik ist es

Die inhaltliche Ebene: Prägnante Erscheinungen und Phänomene

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sinnvoll, solches wahrzunehmen, etwa um Comics und Comicgattungen zielgerichteter zu nutzen. Zur Beschreibung von Comics wählt McCloud die Metapher eines leeren Kruges, der mit jedem beliebigen Inhalt gefüllt werden kann: »Die Kunst…oder das Medium…das man Comic nennt, ist wie ein Gefäss [sic], in das eine beliebig große Anzahl von Ideen und Symbolen hineinpasst.«187 (Metacomic-Original in Abb. 9) So ließen sich gleichermaßen Liebesgeschichten, Polizeiberichte oder Anleitungen zum Bau einer Atombombe in Comicform gießen. Und tatsächlich findet man auch fast alles im Comic, der damit auch bestehende literarische Traditionen fortführt.188 Bestimmte inhaltliche Phänomene haben sich seit dem Aufkommen des modernen Comics jedoch gehäuft und auch heute noch lassen sich Tendenzen bestimmen. Für die Gründe könnte man verschiedenste Theorien heranziehen, die hier natürlich nur angerissen werden können. Fest steht, dass Form und Inhalt immer in einem untrennbaren Zusammenhang miteinander stehen, sodass möglicherweise bestimmte Inhalte bestimmte Formen bedingen, genauso wie bestimmte Inhalte in unterschiedlichen Formen besser oder schlechter zu vermitteln sind.189 Einige inhaltliche Charakteristika der gegenwärtigen westlichen Erscheinungsform sollen hier also schlaglichtartig beleuchtet werden, damit in späteren Kapiteln im Kontext religionspädagogischer Bedeutung darauf zurückgegriffen werden kann. Dabei fällt auch ein Blick auf spezifische Gattungen des Mediums Comic, die man als en vogue beschreiben könnte und zu denen bestimmte Thematiken oft eine besondere Affinität aufweisen.190 Denn genau wie sich zum Beispiel das Medium der Schrift in unterschiedlichen Textgattungen sammeln kann, zum Beispiel im Gedicht, der Gebrauchsanweisung oder der Einkaufsliste, so gibt es auch im Comic Erscheinungsformen, die man m. E. im weitesten Sinne als Gattung beschreiben könnte.191 Obwohl man über derartige Klassifikationskategorien (unter anderem nach formalen, inhaltlichen und intentionalen Aspekten192) streiten kann, so haben sie im Dienste der Comicdidaktik doch ihren Nutzen und gelten hier nicht als »erstarrte, konventionelle und normsetzende Formen«, sondern als Hilfs-

187 2001 (b), S. 14 Für eine kurze Darstellung genretheoretischer Diskurslinien sei verwiesen auf Packard; Rauscher; Sina; Thon; Wilde; Wildfeuer, 2019, 114ff. 188 Vgl. Packard; Rauscher; Sina; Thon; Wilde; Wildfeuer, 2019, S. 113. 189 Vgl. Reuter, 2008, S. 119. 190 Vgl. auch Wilpert, 2001, S. 291. 191 Die allgemeine (literaturwissenschaftliche) Gattungstheorie ist ein weites Feld und meine Zuordnungen werden nicht überall auf Beifall stoßen. Es sei daran erinnert, dass mit dem Begriff der Gattungen »nicht erstarrte, konventionelle und normsetzende Formen, sondern hilfsweise Ordnungsschemata zur Klassifikation der vorliegenden Werke« bereitgestellt werden sollen (ebd., 291f.). 192 Vgl. ebd., S. 290.

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Comics – Eine kurze Einführung in das Medium

mittel für Ordnungsschemata zur Klassifikation einiger Werke.193 Genau wie in anderen Medien zeichnen sich diese Comicgattungen oft nicht nur durch spezifische formale Merkmale aus, sondern man kann zumindest teilweise erfahrungsbasiert auch bestimmte inhaltliche Erwartungen, wie hinsichtlich des Genres, an sie stellen (wobei diese freilich nicht immer erfüllt werden).

Abb. 9

2.5.1 Thematische Trends Comics und Kultur – eine allgemeine Annährung Es gilt sowohl für Beispiele antiker Sequenzieller Kunst194 als auch für Comics in massenhafter Reproduzierbarkeit: Comicgeschichten haben von Anfang an häufig explizit oder implizit auf gegenwärtige gesellschaftliche Fragen reagiert und die Kultur widergespiegelt, in der sie entstanden sind. Dieser Umstand lässt sich zwar für viele Medien benennen, zum Beispiel den Film, dennoch muss er aus zweierlei Gründen für Comics hervorgehoben werden: Erstens, da der Comic in dieser Hinsicht immer noch unterschätzt wird, obwohl viele Comicgeschichten eine versteckte Tiefe aufweisen. So reflektierte der 193 Ebd., 291f. 194 Vgl. McCloud, 2001 (b), S. 17ff.

Die inhaltliche Ebene: Prägnante Erscheinungen und Phänomene

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US-amerikanische Künstler George Herriman in seiner zeitgenössisch weitverbreiteten Funny-Serie Krazy Kat subtil die Umbrüche seiner Zeit, thematisierte Zuwanderung und technologischen Fortschritt.195 Comics sind deshalb auch historische Dokumente. Zudem haben sich Comicgeschichten in großen Teilen des 20. Jahrhunderts außerhalb von hochkulturellen Ansprüchen entwickelt. Stattdessen wurde, in Luthers Worten, ›den Leuten aufs Maul geschaut‹. Zur Comicrezeption braucht man in der Regel keine umfassende Ausbildung oder höhere Schulbildung, wie es in manchen Teilen der Literatur der Fall zu sein scheint. Nicht eine gesellschaftliche/intellektuelle Elite bestimmt die Inhalte des Populärmediums, sondern eher der Geschmack der breiten Gesellschaft. Deshalb sagen Comics als »unscheinbare Oberflächenäußerungen« ihrer Zeit besonders viel über die Kultur aus, der sie entstammen.196 Sie reflektieren nicht notwendigerweise, aber sie verarbeiten Zustände und Prozesse und gewähren »ihrer Unbewusstheit wegen einen unmittelbaren Zugang zu dem Grundgehalt des Bestehenden.«197 Obwohl dies nicht notwendigerweise auf alle Comics zutrifft, so haben Hoffmann und Rauch nicht unrecht, wenn sie erkennen: »Comics sind Bildergeschichten, die die Verhältnisse, unter denen wir leben, huldigend, parodierend oder satirisch beschreiben. Wer über Comics spricht, muß auch über die Gesellschaft, die sie produziert, nachdenken.«198 Zweitens, da Comicgeschichten häufig kritisiert werden, es gebe in ihnen (zu) viel Gewalt, (zu) viel nackte Haut, (zu) oft Geschlechterstereotype und/oder Sexismus.199 Das sind Kritikpunkte, die nicht weggewischt werden können oder dürfen. Dennoch sollten diese Beobachtungen nicht verallgemeinert werden. Zudem haben derartige Phänomene ihren Ursprung mitnichten im Comic. Stattdessen gilt: Comic-Künstler spiegeln wider, was sie in ihrem Umfeld (auch als Bedürfnis) wahrnehmen. Diese Strukturen aufzudecken und für Reflexion und Kritik zur Disposition zu stellen, kann ein wichtiges pädagogisches Anliegen sein. So schreibt Dittmar, es sei mit Sicherheit kein Zufall, dass Abenteuercomics mit muskulösen, zum Teil übermenschlichen Helden wie Tarzan (1929), Superman (1934), oder Prinz Eisenherz (1937) zu einer Zeit entstanden seien, in der in vielen Staaten eben solche inszenierten ›starken Männer‹ auftauchten, um für ›Ordnung‹ und ›Führung‹ einzutreten.200 Comics eignen sich aus pädagogischer Perspektive deshalb vielfach dazu, den Anstoß zu historischen, sozial und gesellschaftspolitisch relevanten Fragen zu geben – eine angemessene Anschlusskommunikation ist deshalb aber auch teilweise dringend nötig. 195 196 197 198 199 200

Vgl. Crocker, 1996, 2, 4. Kracauer, 1963, S. 50. Ebd. Hoffmann; Rauch, 1975, S. 2, zit. nach Dittmar 2011, S. 7. Vgl. z. B. Sina, 2016, S. 81; Robbins, 1996; Pilloy, 1994. Vgl. Dittmar, 2011, S. 34.

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Hang zu subversiven Inhalten (vgl. auch III 3.2) In diesen das gesellschaftliche Klima verarbeitenden Aspekten zeigt sich der Comic oft von einer Seite, in der er als Massenmedium die Masse einer Gesellschaft widerspiegelt. Mainstream-Comics (in den USA Superheldencomics, in Deutschland etwa Disney-Produktionen) ähneln sich deshalb in vielerlei Hinsicht. Sie arbeiten auf graphischer und narratologischer Ebene auch nicht selten mit Klischees. In anderer Hinsicht ist der Comic aber auch ein Medium der Minderheiten, vor allem, was anspruchsvolle Erzählungen betrifft und besonders im Vergleich zur Literatur, zum Fernsehen und erst recht zur digitalen Lebenswelt. Die größten Publikationsformate im Westen werden vor allem von Kindern gelesen, die ebenfalls in vielerlei Hinsicht gesellschaftlich an den Rand gedrängt werden. Ahrens erwägt: »Als ›wildes Außen‹ der Kultur genösse ein marginalisiertes und verfemtes Medium wie der Comic dann das durchaus zweifelhafte Privileg […] eine Nische der Freiheit gegenüber der im hegemonialisierten Kontext normalisierten Kultur zu definieren.«201 In Comicgeschichten ist für Kinder alles möglich – auch wenn es der Welt der Erwachsenen widerspricht. Zweifelsohne haben auch dem Comic vermeintlich ›Entwachsene‹ nicht selten ihre heimliche Freude daran. Durch die lang andauernde Verdrängung des Mediums Comic durch die Mainstream-Medien sahen sich Comic-Künstlerinnen tatsächlich auch schon früh in der Freiheit, etablierte gesellschaftliche Normen offen kritisch und/oder ironisch zu hinterfragen.202 Deshalb hat das Medium einen Hang zu subversiven Inhalten entwickelt. Sina und Schmitt sehen den Grund dafür in seiner (hyper-)medialen Beschaffenheit: Durch seine hybride Natur sei der Comic in gewisser Hinsicht ein revolutionäres Medium und durch seine Vernachlässigung von Seiten der Hochkultur in der besonderen Lage, Wertund Normvorstellungen zu untergraben und alternative Weltsichten zu eröffnen, die jenseits des gesellschaftlichen Status Quo lägen.203 Schon in ihren Entstehungszeiten setzten Comics durch ihre Bilder einen rebellischen Kontrapunkt in den textlastigen Tageszeitungen. Packard et al. erklären: »Sie entwickelten eine subversive Geste, die das Potenzial einer aufkommenden neuen visuellen Kultur, die als Bilderflut wahrgenommen werden sollte, gegenüber der dominanten Schrift immer wieder durchspielte.«204 Doch diese Tendenz gilt nicht nur für den westlichen, sondern auch zum Beispiel für den japanischen Comic (›Manga‹, siehe unten). So erklären Darlington und Cooper zum Beispiel in Bezug auf das unübersehbare Auftreten von Gender-Fluidität oder Homoerotik in Mangas: 201 202 203 204

Vgl. Ahrens, 2012, S. 12. Vgl. Innes, 1999, 140f., zit. nach Sina 2016, 81. Vgl. Schmitt, 1992, 153ff. Packard; Rauscher; Sina; Thon; Wilde; Wildfeuer, 2019, S. 33.

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Considering the original purpose of manga, to be ›inexpensive entertainment for children, dreams that made it easier to live in the devastated postwar society in Japan‹, gender-fluid manga make it possible to live in contemporary Japanese (and global) society, where social constraints requiring us to repress and suppress so much can be equally emotionally devastating205.

In einem kulturellen und normativen Klima, in dem sexuelle und Gender-Diversität tendenziell verurteilt und sozial sanktioniert wird, setzt sich die japanische Populärkultur viel weniger Grenzen und »the creators of the manga […] link a more fluid gender and sexuality with the search for truth, the breakdown of illusion, and the achievement of true intimacy and love«.206 Jennifer Worth stellt die These auf, dass sich besonders weibliche Comic-Künstlerinnen (und auch Leserinnen) durch Mut zur Verschiedenartigkeit, zum Beispiel jenseits des Heteronormativen, auszeichnen. Der Comic sei nämlich vordergründig ein ›männliches‹ Medium, »among both artists and readers women are a minority. Among those that do exist, these female comic voices are frequently ›outsider‹ voices (for example lesbians and the disabled) that use comics as a public venue otherwise unavailable to them.«207 Als sich in den Fünfzigerjahren amerikanische Comicverlage einer jahrelang anhaltenden Selbstzensur unterwarfen (vgl. die C.M.A.A.), war das nur eine Folge der vormaligen Unangepasstheit zeitgenössischer Comicgeschichten, die den Zorn der bürgerlichen Welt auf sich gezogen hatte. So war es der Psychologe Frederic Wertham, der in seiner kritischen Abhandlung ›Seduction of the Innocent‹208 erstmals und ungewollt die Tür zu queeren Lesarten der BatmanComics geöffnet hatte.209 Und schon in den Sechzigerjahren wurde dieser ›Comic Code‹ wieder durch die Underground Comix unterwandert, deren Sprengkraft bis heute in westlichen Comics nachwirkt. Tatsächlich waren die Inhalte der Underground Comix nicht nur für den Comic, sondern für die ganze Kultur revolutionär, wie etwa an der schonungslos ehrliche Darstellung dessen, was Chute »the darker side of […] tortured male sexuality« nennt210, deutlich wird. Doch gibt es auch frühere Beispiele von Comics, die bürgerliche Grenzen überschritten, wie die ›Tijuana Bibles‹ der Zwanzigerjahre.211 Auch die ersten vielfach reproduzierten Funnies der amerikanischen Tageszeitungen nahmen sich das ihre heraus, parodierten, zeigten sich als Satire, verzerrten und zogen ins Lächerliche. Und sogar Goethe tadelte schon den frühen Cartoonisten und Comic205 206 207 208 209 210 211

2010, S. 159; Toku, 2001. 2010, S. 171. 2007, S. 153. Wertham, 1954. Vgl. Sina, 2016, 77, 79. 2010 (b), S. 31. Vgl. Sina, 2016, 80f.

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Künstler Rudolphe Töpffer, er könne sicherlich Dinge vollbringen, die über alle Begriffe wären, aber nur »wenn er künftig einen weniger frivolen Gegenstand wählte und sich noch ein bisschen mehr zusammennähme«212. Doch bis heute zeigen sich Comicschaffende wenig von solchen Ansprüchen beeindruckt und der Comic gilt sogar als besonders experimentierfreudiges Medium.213 Im gewissen Sinne haben sich diese Tendenzen sogar auf die Leserschaft übertragen: Wer heute als Erwachsener Comics liest – besonders in Kreisen, in denen die Populärkultur eher geringgeschätzt wird – dürfte durchaus als unangepasst beschrieben werden. Das Phantastische (vgl. auch II 3.3, II 3.2.2) Gero von Wilpert beschreibt den Gegenstand der ›Phantastischen Literatur‹ als Sammelbegriff für alle Literatur außerhalb relig.-myth. Kontexts, die die realist. Ebene überschreitet zugunsten des Irrealen, Surrealen, Wunderbaren, Übernatürlichen, Zauberhaften, Unheimlichen, Bizarren, Grotesken, Okkulten, Traumhaften, Unbewußten, Halluzinatorischen, Visionären, Gespenstisch-Geisterhaften oder deren versch. Kombinationen.214

Spätestens seit Beginn des 20. Jahrhunderts ist im Medium ein Hang zu phantastischen Inhalten zu konstatieren.215 Doch auch heute noch sind Vorstellungen, die die Realität transzendieren, im Comic nicht passé. Dabei müssen sie nicht einmal explizit als ›phantastische Wirklichkeitsentwürfe‹ markiert sein: So ist bemerkenswert, mit welcher Selbstverständlichkeit sprechende Enten, Mäuse, Katzen oder Hunde in Comics zur Kenntnis genommen werden – besonders in Werken, die sich an Erwachsene richten!216 Im Film oder in der Literatur ist dies außerhalb des dezidierten Fantasy-Genres (und seiner Subgenres wie dem Magischen Realismus) fast unvorstellbar. Das ist nicht nur reine Gewohnheit, vielmehr könnte der (sprechende) Hund im Medium selbst begraben liegen: Ein Comic besteht vordergründig aus Linien, Strichen und farbigen Flächen vor einem Hintergrund. Durch viele Elemente, wie dem Rinnstein, Icons und synästhetischen Verweisen, muss er jedoch gedanklich vervollständigt werden, damit ihm Sinn entnommen werden kann. Hier ist der Leser mit seiner individuellen Induktionsbereitschaft und Kreativität gefordert. Man könnte die These aufstellen: Dadurch, dass sich seine Rezeption größtenteils im Imaginationsbereich vollziehen muss, ist es für das Medium nur noch ein kleiner Schritt, den Bezug zum Phantastischen herzustellen. Ein Grund dafür ist, dass Comic212 213 214 215 216

Johann Wolfgang von Goethe, zit. nach McCloud, 2001 (b), S. 25. Vgl. Sina, 2016, S. 81. 2001, S. 607. Vgl. bspw. McCay, 1905–1913, 1905–1913. Vgl. bspw. Reiche, 2013 mit einer sarkastischen Hauskatze.

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Künstlerinnen immer noch selten mit fotorealistischen Bildern, mit Fotos oder Filmaufnahmen arbeiten.217 Sie benutzen in aller Regel Graphiken (unabhängig davon, mit welchen Instrumenten entstanden). Diesen stehen alle Darstellungsmöglichkeiten offen, ohne dass sich Ausgaben für komplizierte Spezialeffekte ergeben. Gleichzeitig können sie aber im Gegensatz zum Foto nie mit dem absolut Realen übereinstimmen, sondern nähern sich dem Wirklichen nur an, haben nur verweisende Funktion – und erschaffen so im Grunde ihr eigenes Bild von der Welt.218 Ein integraler Bestandteil der Semiotik des Comics ist damit »the creation of the hyperreal«.219 Mit einem Bein steht das Medium immer in der Gedankenwelt. Vanderbeke zieht darum Parallelen zum Magischen Realismus: »the matter-of-fact introduction of the supernatural in magical realism may lend itself to the adaptation into a medium which by its very nature constantly works in the field of the ›not quite real‹.«220 Die Darstellung des Phantastischen löse im Medium Comic kaum Irritationen oder Zweifel aus; zum Beispiel werde die Verwandlung in Kafkas gleichnamigen Roman221 in der graphischen Adaption222 viel leichter von der Leserschaft hingenommen als im Realfilm, da sie schlicht natürlicher erscheine.223 Es ist denkbar, dass es kreative Rezeptionsprozesse sind, die den Denkrahmen derartig öffnen. Vanderbeke erklärt frei nach Lessing: »[N]o fixed image can match the potential of horror lurking in our imagination.«224 Phantasmen und Phantastisches findet man dabei nicht nur in westlichen Comics, sondern beispielsweise auch in der japanischen Comictradition (siehe unten), wo die Anschlussfähigkeit zur Welt der Lesenden jedoch stets gewahrt bleibt: [F]antastic manga stories often require a high degree of attention and seriousness from the reader, because of a complex narrative together with syncretistic associations of themes, figures, and objects coming from many different cultures. On the other hand, behind the fantastic facades, very realistic conflicts often appear. Manga fantasy frequently supplies the thrill within absolutely familiar and everyday conflict plots – a strategy which indeed increases the reader’s interest225.

217 Fotostories haben sich aufgrund ihrer Erfolge bei Kindern und Jugendlichen einen festen Platz in vielen Zeitschriften gesichert. Jedoch sind es gerade diese Comics, die auf fantastische Inhalte verzichten. 218 Vgl. auch Round, 2010 (a), S. 189; Jackson, 1981, S. 19; Verano, S. 326. 219 Round, 2010 (b), S. 189. 220 Vanderbeke, 2010, S. 112. 221 Kafka, 1915. 222 Corbeyran; Horne, 2010. 223 Vgl. Vanderbeke, 2010, S. 112. 224 2010, S. 116. 225 Bouissou; Pellitteri; Dolle-Weinkauff, 2010, S. 261.

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Alle Arten von übernatürlichen, fantastischen oder unwirklichen Elementen können Relevanz für Menschen jeden Alters erlangen. Superheldengenre und Comicverfilmungen (vgl. auch I 2.6, III 2.1.1 und 4.2.3) Es könnte auf ihre wachsende Bedeutung auf dem westlichen Buchmarkt zurückzuführen sein, dass immer mehr Comics auch verfilmt werden, wie zum Beispiel die französischen Produktionen Valerian and the City of a Thousend Planets226 oder La vie d’Adèle227 (nach Marohs Blau ist eine warme Farbe228). Sina klassifiziert dabei sogar eigene »Comicfilme«, in denen das Spezifische des medialen Originals in vielerlei Hinsicht transportiert wird.229 Immer häufiger stehen Comics zudem in einem größeren Medienverbund, durch den transmedial erzählt wird. In diesem Bereich hat auch das Superheldengenre zunehmend das Interesse der Kinogängerinnen gewonnen. Während zwischen 2006 und 2011 immerhin zwölf Filme basierend auf Marvel-Figuren die Kinoleinwand erobert haben, ist die Anzahl zwischen 2012 und 2017 schon auf 20 gestiegen. Überwiegend handelt es sich dabei um Comics und Filme aus dem Superheldengenre. Superheldinnen und Superhelden des 21. Jahrhunderts unterscheiden sich jedoch deutlich von denen, die erstmals in den Dreißigerjahren des 20. Jahrhunderts aufgetreten sind – selbst, wenn Figurennamen identisch bleiben. Die Postmoderne und die mal schleichende, mal sprunghafte Entwicklung des Genres haben Raum für Figuren geschaffen, die auch Schwäche und Zweifel zeigen, oder ironische, selbstreferenzielle Bezüge liefern.230 Die Entwicklung des Genres ist sicher längst noch nicht zum Abschluss gekommen und gegenwärtig zeichnet sich das Genre besonders durch stilistische Pluralität aus.231 Auch die gegenwärtigen transmedialen Adaptions- und Austauschprozesse werden das ihre leisten. Während gerade Autorencomics rebellische Fragen und Themen verarbeiten, so hat gerade das Superheldengenre als braver Spiegel vermeintlicher amerikanischer Werte häufig Anlass für Kritik gegeben, unter anderem da Superheldenfiguren i. d. R. die bestehende Ordnung der Gesellschaft und Welt verteidigen, ohne sie zu hinterfragen. Ditschke und Anhut erklären in Bezug auf den »›narrativen Kern‹ des Genres […], dass diese grundlegenden Strukturen Superheldenerzählungen als Gegenstand gesellschaftskritischer Zugänge zum Medium Comic prädestinieren«232. Andere Genretheoretikerinnen verweisen hingegen 226 227 228 229 230 231 232

Besson, 2017. Kechiche, 2013. Maroh, 2013. Sina, 2016, 22ff. Vgl. dazu Ditschke; Anhut, 2009. Vgl. Packard; Rauscher; Sina; Thon; Wilde; Wildfeuer, 2019, S. 136. 2009, 132f.

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darauf, dass sich ein fester Kern von Superheldencomics nur schwerlich ausmachen ließe und verallgemeinernde Kritik deshalb fehl am Platz sei.233 Das Thema ist also komplex.

2.5.2 Comicgattungen und ihre Affinitäten Graphic Novels (vgl. unter anderem III 3.2 und IV) Seit dem Ende der Siebzigerjahre sind im westlichen Comic zusehends längere, in sich (relativ) abgeschlossene Erzählungen zu finden, die oft ›ernster‹ Natur sind, sich meistens an Erwachsene richten und in hochwertiger Bindung veröffentlicht werden.234 Für diese Comics hat sich der Begriff ›Graphic Novel‹ etabliert, der 233 Vgl. Packard; Rauscher; Sina; Thon; Wilde; Wildfeuer, 2019, S. 139. 234 Es darf nicht unerwähnt bleiben, wie umstritten der Begriff ›Graphic Novel‹ ist. Tatsächlich muss den Konnotationen, die inzwischen damit verbunden sind, auch in dieser Arbeit kritische Aufmerksamkeit zukommen, während gleichzeitig seine Berechtigung anzuerkennen ist. Folgendes sollte man bedenken: Verlage setzen inzwischen viel daran, ihre Comics mit dem Etikett ›Graphic Novel‹ auf den Markt zu bringen. Auch solche Werke, die zunächst in einer sich fortsetzenden, aufeinander aufbauenden Serie erschienen sind, wie zum Beispiel Barfuß durch Hiroshima oder auch Onkel Dagobert – Sein Leben, seine Milliarden, die beim Erscheinen also noch nicht in sich abgeschlossen waren, gehen, sobald sie gesammelt in einem Band erscheinen, als ›Graphic Novel‹ über den Ladentisch. Dieses ›branding‹ ist deshalb zu kritisieren, da es bei aller Begriffsunschärfe eine unnötige Kategorisierung von Sequenzieller Kunst vornimmt und den wertneutralen Ausdruck ›Comic‹ herabwürdigt, in dem ein Teil davon gezielt aufgewertet, ein anderer aber damit fast automatisch abgewertet wird. Denn: ›Graphic Novels‹ erfahren Einlass in die ›Hochkultur‹ des Bildungsbürgertums, werden von Kritikerinnen in die Nähe der Literatur gestellt und als ›Kunst‹ gewürdigt. ›Comics‹, die zum Beispiel aufgrund ihres seriellen Erscheinens nicht in dieses Format passen, wird hingegen abgesprochen, ernsthafte und anspruchsvolle Themen zu verarbeiten oder künstlerisch wertvoll zu sein. Sie sind Teil der ›Populärkultur‹, nicht Kunst, sondern tendenziell ›Schund‹ (vgl. Hausmanninger, 2013, S. 25) – obwohl zum Beispiel auch geschätzte Titel wie Asterix darunter fallen würden. Damit gehen im Grunde soziale, milieubezogene Distinktionsbestrebungen einher, die unter anderem von Hausmanninger aus sozialwissenschaftlicher Perspektive beschrieben worden sind (2013). Menschen mit hohem kulturellen Kapital sprechen sich Deutungsmacht über die Medienwelt zu. Der Sprung von sozialen Abgrenzungsprozessen hin zur bourdieuschen ›Symbolischen Gewalt‹, die mit Ausgrenzungsautomatismen zusammenhängt, ist dabei ein Leichtes (vgl. auch Ahrens, 2012). Unter dieser Perspektive sollte diese Arbeit also eigentlich darauf verzichten den ›Mythos‹ vom Graphic Novel weiter zu schüren. Natürlich stehen hinter dem Begriff mittlerweile auch kommerzielle Interessen, da Comics unter diesem ›Label‹ höhere Gewinne erzielen – unabhängig davon, ob der Inhalt zwischen den Hochglanzdeckeln vielleicht völlig belanglos ist. Dennoch gibt es auch Argumente dafür, von ›Graphic Novels‹ zu sprechen. Erstens hat diese Bezeichnung im gegenwärtigen Diskurs auch oder gerade unter Laien eine unumstrittene Bedeutung erlangt, weshalb sie einfach nicht ignoriert werden kann. Zweitens muss man dem Begriff ›Graphic Novel‹ bei aller Kritik lassen, dass er in gewisser Hinsicht seine ›Funktion‹, nämlich die Aufwertung und Neubeachtung des Mediums, erfüllt hat. Davon profitieren auch Comicforscher, obwohl unter

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vom Künstler Will Eisner geprägt wurde, seitdem aber auch als Marketingbegriff Bedeutung gewonnen hat.235 Graphic Novels, die man durchaus als eine Art Comicgattung beschreiben könnte, ist es gelungen, die Aufmerksamkeit kulturell sehr interessierter Kreise zu erlangen, so dass Neuerscheinungen mittlerweile regelmäßig in den Feuilletons etablierter Tageszeitungen (wie der ›Süddeutschen Zeitung‹ oder der ›Frankfurter Allgemeine Zeitung‹) besprochen werden, sofern sie ›anspruchsvolle‹ Themen behandeln oder auch künstlerischen Anspruch und Raffinesse vorweisen können.236 Und tatsächlich kann sich der größere Umfang von Comics komplexitätssteigernd auswirken.237 So ist es zu einem thematischen Trend der Ernsthaftigkeit auf dem Comicmarkt gekommen: dokumentarische Formen und Genres innerhalb der Gattung, wie Comicreportagen, aber auch Literaturadaptionen, Comicbiographien und ›Graphic Memoirs‹ gewinnen an Zuspruch. Obwohl Graphic Novels – so wie Comics an sich – prinzipiell jede Thematik offensteht, scheinen sich gerade »die vielfältigen Formen des lebensgeschichtlichen Erzählens« im Medium zu etablieren.238 Schon zu Beginn der 2000er kristallisierten sich Autobiographien als eines der wichtigsten Genres im Comic heraus.239 Scott McCloud hat Comics sehr früh als eine Form persönlichen, geradezu intimen Ausdrucks beschrieben, in der einzelne Autoren noch die Chance hätten, gehört zu werden.240 Jennifer Worth unterstreicht diese Theorie, wenn sie sich auf die ›Graphic Novel‹-Autorin Satrapi bezieht: »Although the graphic novel

235 236 237 238 239 240

ihnen der Begriff oft besonders verpönt ist. Und drittens trägt der Begriff ›Graphic Novel‹ »dem Bedürfnis Rechnung, für eine erst im späteren Verlauf des 20. Jahrhunderts entstandene narrative Gattung einen differenzierenden Namen zu finden, der als Gattungsbegriff klar erkennbar ist.« (Schmitz-Emans, 2015, S. 3) Immerhin hat es sich ja auch längst etabliert, zum Beispiel auch von der Gattung der ›Comicstrips‹ zu sprechen. Aus dieser wertneutralen Perspektive ist die Klassifizierung von Comics als ›Graphic Novel‹ mitunter hilfreich, vermeidet man so doch, immer wieder nur unspezifisch von ›Comic‹ allgemein oder von ›umfangreichen, in sich (relativ) geschlossenen Comicerzählungen im Buchformat‹ zu sprechen, wann immer man auf diese Gattung Bezug nimmt. Wichtig ist nur klarzustellen, dass ein Graphic Novel eben nicht automatisch komplexer oder gar ›hochwertiger‹ ist als beispielsweise ein seriell erscheinender Comic und dass zwischen den Begriffen ›Graphic Novel‹ und ›Comic‹ kein echter medialer Unterschied besteht. Zudem ist bei aller Gattungsdifferenzierung am Ende doch zu bedenken, dass die Graphic Novel im Grunde eine Erbin des literarischen Romans ist und sich deshalb ebenso schwer in strenge Gattungsgrenzen verweisen lässt (vgl. Schmitz-Emans, 2015, S. 9). Genau darin liegt vielleicht aber auch ihr Potenzial. Da Eisner den Begriff erstmals geprägt hat, wird ihm oft die Urheberschaft dieser Gattung zugesprochen. Jedoch finden sich auch ältere Comics, die den Kriterien der Gattung entsprechen würden, wie beispielsweise von Lynd Ward oder Masereel. Vgl. Vanderbeke, 2010, S. 106. Vgl. Schmitz-Emans, 2015, S. 4. Heuer, 2013, S. 325. Vgl. Hatfield, 2005, S. 112; Oppolzer, 2013, S. 243. Vgl. 1994, S. 197.

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is a mass-produced popular cultural form, McCloud’s assertion seems to ring especially true for an artist like Satrapi, who tells her personal story in her own voice and renders it in her own hand.«241 Auch Vanderbeke verweist auf die Stärke des Mediums, um persönliche Erfahrungen darzustellen: At this point, the potential of the comic book may come into play, as it is, like literature, in no position to compete with photography or film in the representation of external reality, but particularly well suited to present individual subjective experience that includes distortions and internal deviations.242

Tatsächlich sind Graphic Novels überdurchschnittlich häufig Autorencomics, das heißt, Texte, Storyline und Zeichnungen entstammen weitgehend einer einzelnen Feder. Baetens und Frey erklären: »[T]he graphic novel seems to have an elective affinity with stories of the self, the self in crisis because of history or trauma, maybe because […] the self is harder to remove when a work is drawn as well as narrated.«243 Dieses besondere Potenzial des Mediums, innere Empfindungen und persönliche Erfahrungen zu kommunizieren, könnte auch der Grund für das wachsende Genre der ›Graphic Illness Narratives‹ im Comic sein wie in Chaz’ Können wir nicht über was Anderes reden?, das gleichzeitig auch eine ›Graphic Memoir‹ ist.244 In Graphic Memoirs inszenieren sich Autoren auch als Protagonisten ihrer Werke. Es ist ein Phänomen, in dem sich immer mehr weibliche Künstlerinnen Ausdruck verschaffen, was vielleicht mit der thematischen Freiheit zusammenhängt und nach Eder mit den »Möglichkeiten, die ein in Abkehr von männlich konnotierten Superheldencomics an Kontur gewinnendes Medium bietet, das offen für Sprechpositionen und Artikulationsformen abseits des Genre-Erzählens ist.«245 Auch zeichnerischer Innovativität sind keine Grenzen gesetzt: Comics können durch die Verwendung verschiedener Zeichensysteme mehrdimensional erzählen und verfügen in diesem Bereich über größere Möglichkeiten als beispielsweise ein Fließtext.246 Auf diese Weise können leicht mehrere Zeitebenen übereinandergelegt und aufeinander bezogen werden, womit Comicschaffende wie Cruse, Satrapi, Kleist, Spiegelman oder Kominsky-Crumb in denen von ihnen vorgelegten Graphic Memoirs (oder biographisch angehauchten Comics) arbeiten. Ferner lässt sich beobachten, dass immer mehr Künstlerinnen den Comic nutzen, um Geschichten zu erzählen, die gleichermaßen persönlich wie gesellschaftspolitisch relevant sind.247 So verbindet

241 242 243 244 245 246 247

2007, S. 145. 2010, S. 112. 2015, S. 177. Chast, 2015. 2016, S. 162. Vgl. Dittmar, 2011, S. 27. Vgl. Sina, 2016, 82f.

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beispielsweise Cruses Klassiker Stuck Rubber Baby248 eine intime Coming-Outund Coming-of-Age-Geschichte, die der Biographie des Künstlers nahesteht, mit der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung. Der Autor beschreibt dabei auch viel Schmerzhaftes, was zu einem anderen inhaltlichen Hang von Graphic Novels führt: der Beschäftigung mit persönlichen und geschichtlichen Traumata. Dony und van Linthout erklären sich das folgendermaßen: the medium is perhaps the most appropriate form for capturing the essence of traumatic experiences. Though trauma, by definition, imposes a barrier between the unimaginable and the expressible, comics can overcome and emphasize the ’unrepresentability’ of the traumatic events via its fractured sequential format249.

Die Zerbrochenheit, Zerstückelung der Handlung, die die Sequentielle Kunst unweigerlich vornehmen muss, gleiche in ihrer Fragmenthaftigkeit nicht nur der menschlichen Erinnerung, die an sich immer fragmentarisch bleiben muss, sondern insbesondere auch der traumatischen Erinnerung, in der die Grundfesten von Raum und Zeit erschüttert erscheinen.250 So beschreiben Zeitzeugen in der Verarbeitung des 11. Septembers den Eindruck, die Zeit sei an diesem Tag oder von dem Tage an zerbrochen: »time was broken«.251 Spiegelman, selbst New Yorker, hat den Terroranschlag in seiner Graphic Novel In the Shadow of No Towers252 verarbeitet. Comics werden damit immer mehr zu einer Stütze des kulturellen Gedächtnisses, indem sie auch geschichtliche Wunden verarbeiten.253 Auffallend häufig ist auch die Shoah im Comic Thema, vor deren historischem Hintergrund die individuelle Erzählung einer Lebensgeschichte das Grauen besonders greifbar und persönlich macht. Die gesellschaftliche Verarbeitung des Themas ist noch lange nicht abgeschlossen und es bedarf deshalb unter anderem der Bearbeitung in Erinnerungsmedien. Manche Autoren sehen auch einen Bezug zwischen Medium und Inhalt. So verweist Susan R. Suleiman auf den Rinnstein, den sie schlicht als »gap«, also Lücke, Spalt, Kluft bezeichnet, der Riss zwischen zwei Bildern, der durch Erklärungsversuche der Leserinnen gefüllt werden muss. Und genau dieser Bruch, die Leere, der Abgrund, die Zerrissenheit und Katastrophe sei auch ein wesentliches Element der Shoah. So könnten Medium und Katastrophe durch eine gewisse strukturelle Parallelität zueinander gefunden haben.254 Dies wäre ein Beispiel für die sich prägende Verbindung von Medium und Thema/Inhalt. Tatsächlich spiegelt sich im fragmentarischen

248 249 250 251 252 253 254

1995. 2010, 186f. Vgl. ebd., S. 181. Vgl. ebd. Spiegelman, 2004. Vgl. Dony; Van Linthout, 2010, S. 187. Vgl. Suleiman, Susan R. zit. nach Malcolm, 2008, S. 145.

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Charakter des Mediums, das auf jeder Seite mit zahlreichen Lücken und Momentaufnahmen ausgestattet ist, auch die Gebrochenheit von Lebensgeschichten und die Unvollständigkeit von Erinnerungen, die nun so häufig Thema im Comic sind. Die Themen Trauma, Erinnerung und Geschichte im Comic gehören entsprechend auch zu den wichtigsten in der derzeitigen Comicforschung.255 Derartige längere ›Graphic Novels‹ erscheinen auch für Kinder und Jugendliche, wie die Comicgeschichte Pssst!256 für Preteens, der kindgerechte Graphic Illness Narrativ Ghosts257 oder der autobiographische Comic Schattenspringer258, der auch schon junge Leserinnen ansprechen sollte. Sie sind jedoch in der Minderheit. Comics für Kinder, oft auch Manga, erscheinen immer noch zu einem großen Teil in Heft- oder Albenform und drehen sich eher um wiederkehrende Helden (vgl. auch I 2.6). Comics als Informationsmedium (vgl. dazu auch II 3.2.3) Fernab von den sogenannten ›Graphic Novels‹, fantastischen Geschichten und der Welt der Superkräfte gewinnt ein weiteres Comicgenre an Bedeutung: Der Comic als Informationsmedium.259 In Zeiten zunehmender Globalisierung wächst zum Beispiel die Relevanz von Instruktionsliteratur, die in der Lage ist, Sachverhalte und Anleitungen sprachübergreifend zu vermitteln. Das Ineinandergreifen von Wort und Bild kann zwar präzisierend wirken, aber auch pantomimische Comics können Verständlichkeit gewährleisten, so dass sie zum Beispiel weltweit von Möbelhäusern eingesetzt werden, um zu beschreiben, wie ihre Produkte zusammengebaut werden sollen. Doch beschränkt es sich nicht allein darauf. Comicschaffende zeigen, dass sogar relativ trockene Themen wie Wirtschaftszusammenhänge im Comic nicht nur verständlich zu erklären sind, sondern sich in dieser Form auch gut verkaufen.260 Ähnlich den Graphic Novels liegen Sachcomics in zunehmend längerer und in sich abgeschlossener Form vor. Man darf also davon ausgehen, dass in Zukunft immer mehr fachlich-erklärende Comics zur Verfügung stehen könnten, was auch der Didaktik zugutekäme. Schon jetzt gibt es aktuelle Comics, die dezidiert pädagogisch wirken sollen, beispielsweise für das Fach Mathematik261 oder für Aufklärungsarbeit262. Trotz255 Vgl. bspw. Gundermann, 2018; Dolle-Weinkauff, 2018; Pizzino, 2017; Frahm, 2006. Weiterführende Überlegungen zu inhaltlichen Trends in Graphic Novels finden sich beispielsweise bei Baetens; Frey, 2015 und (mit Aspekten, über die sich wunderbar streiten ließe) bei McGrath, 2004. 256 Herzog; Clante, 2016. 257 Telgemaier, 2016. 258 Schreiter, 2014. 259 Vgl. Deutsche Gesellschaft für Comicforschung, 2017. 260 Vgl. Goodwin; Burr, 2014. 261 Höfner; Süßbier, 2012. 262 Schradi, 2014.

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dem werden Comics immer noch vorwiegend mit Erzählungen (inklusive kurzen Gag-Stories) in Verbindung gebracht und tatsächlich handelt es sich bei sehr vielen Comics um Narrationen. Gerade das informationsmediale Potenzial ist für Gegenwart und Zukunft jedoch nicht zu unterschätzen (vgl. auch II 3.2.3). Comicstrips (vgl. dazu auch II 3.1.1 und 3.1.3) Ein Comicstrip ist eine sehr kurze, mehr oder weniger in sich abgeschlossene Narration in Comicform, die etwa zwei bis zehn Panels umfasst. Diese sind i. d. R. einer inhaltlich-chronologischen Folge angeordnet sind.263 Damit handelt es sich um eine Art Gattung, die jedoch meistens (nicht immer!) gleichbedeutend ist mit einem Genre: Denn fast immer läuft die Erzählung auf eine humoristische Pointe hinaus, sodass die meisten Comicstrips der Gruppe der ›Funnies‹ zugeordnet werden können.264 Oft beziehen sich die Schaffenden auf eine Welt mit wiederkehrenden Charakteren, wie zum Beispiel in der Reihe um Die Peanuts von Charles M. Schulz.265 Sie sind leicht erfassbar gestaltet, weisen also meistens einen stark reduzierten, cartoonhaften Zeichenstil und auch hin und wieder stereotype Darstellungen auf. Nicht alle Funnies, muss man ergänzen, sind allerdings Comicstrips: Es handelt sich dabei um ein Genre, das auch in längeren Comics – wie beim an späterer Stelle behandelten Onkel Dagobert – Sein Leben, seine Milliarden (vgl. IV 2) – auftreten kann. Der Comicstrip ist keine neue Erscheinung und in der Forschung sicher weniger en vogue als die thematisch anspruchsvolle Graphic Novel. Dennoch ist die Gattung zweifellos ein Evergreen und Beispiele von Comicstrips finden sich in allen möglichen Alltagszusammenhängen, sodass sie das Bild vom Medium in der allgemeinen Öffentlichkeit immer noch mitprägen. Zeitgenössische Werke spiegeln gesellschaftliche Zusammenhänge, etwa wie in Dilbert266 in Bezug auf die moderne Berufswelt, oft ironisch wider. Auch für pädagogische Zusammenhänge ist der Comicstrip von Bedeutung, findet er sich doch zum Beispiel immer wieder in Lehrmedien. Deshalb soll er an dieser Stelle genannt werden. Obwohl einige der bekanntesten Comicstripautoren unserer Zeit mit Serien um Die Peanuts, Garfield, Hägar der Schreckliche, Mafalda, Calvin und Hobbes und anderen ihre Arbeit längst niedergelegt haben, widmen sich auch heute noch Künstlerinnen erfolgreich dieser Gattung bzw. diesem Genre, zum Beispiel Katharina Greve mit Das Hochhaus267 oder Scott Adams mit Dilbert (s. o.). Seine ursprüngliche Beheimatung hat der Comicstrip seit Beginn des 20. Jahrhunderts in amerikanischen Tageszeitungen (ein Konzept, was sich 263 264 265 266 267

Vgl. Grünewald, 2000, S. 3. Vgl. Platthaus, 2016, S. 192. Schulz, 1959–1984. Adams, 1993–. Greve, 2015–2017.

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nie im gleichen Maße in Deutschland durchgesetzt hat). Dort kamen sie zum ersten Male auf, dort ist der Comic in seiner modernen Form erstmals als Massenmedium erschienen. Obwohl sich das Medium seitdem in verschiedenste Richtungen weiterentwickelt hat, gleichen Comicstrips heute noch in vielem ihren 100 Jahre alten Vorgängern. Immer noch zum Beispiel richten sie sich weniger an Kinder als vielmehr an Erwachsene – die die Kaufkraft besitzen und damit Zielpersonen der Zeitungscomicstrips waren. Viele Comicstrips ließen sich heute jedoch auch der All-Ages-Sparte zuordnen. Trotz ihres Unterhaltungswertes, ihrer Kürze und ihres eingängigen Stils gelingt es Funnies und Comicstrips immer wieder, den Finger auf wunde Punkte im menschlichen Zusammenleben zu legen und deshalb subtil auch ernstere Themen anzureißen. In vielerlei Hinsicht nehmen sie sich fast aller inhaltlichen Trends an, die für das Medium insgesamt von Bedeutung sind: So sind sie das Idealbild von Comics, die die Kultur um sich herum widerspiegeln. Genau wie Herriman die Herausforderungen seiner Epoche in Krazy Kat verarbeitete (s. o.), so verarbeitet zum Beispiel auch Greve in Das Hochhaus Themen wie den sozialen Rückzug durch digitale Medien, technischen Fortschritt, den Klimawandel oder den Zuzug von Geflüchteten. Ironische Einschläge in Comicstrips schaffen zudem oftmals Anklänge von Gesellschafskritik, was ihnen auch subversive Untertöne verleiht. Jenseits vom Zeitgeist verweisen Serien wie Die Peanuts und Calvin und Hobbes teilweise auf existenzielle und philosophische Zusammenhänge. Das gilt zum Beispiel auch für die zeitgenössische Reihe is lieb?268 des Künstlers Eylou, dessen Werke sich immer wieder um die Themen Depression und Resignation drehen, was zeigt, dass nicht alle Comicstrips dem Genre der Funnies zugeordnet werden können. Auch Patrick McDonnell nutzt in den Shelter Stories Comicstrips weniger für humoristische Kunst als vielmehr dafür, für Hunde und Katzen aus dem Tierheim zu werben.269 Phantastisches hat auch im Comicstrip seinen festen Platz, nicht nur seit frühster Zeit mit Little Nemo in Slumberland270, sondern auch noch heute ganz besonders in Form von sprechenden Tieren, die in Funnies ihren festen Platz haben, beispielsweise bei Dilbert oder auch McDonnells Mutts271. Die Gattung (und auch das Genre) weist also ein enormes Potenzial auf, das sie zum Beispiel schon früh zur (humoristische) Selbstreferenzialität und zum Durchbrechen der Vierten Wand genutzt hat – ein künstlerischer Kniff, der etwa im Superheldengenre erst nach Jahrzehnten Premiere feierte.

268 Eylou, 2015–. 269 Vgl. bpsw. https://thebark.com/content/mutts-comics-shelter-stories-series-feb-4 (Stand: 28. 05. 2020). 270 McCay, 1905–1913. 271 Vgl. auch Platthaus, 2016, S. 189.

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Man könnte sagen, dass der Comicstrip als Gattung in seiner Wirkkraft besonders stark auf konstruktivistische Prozesse bei den Lesenden vertrauen muss: Der teilweise extrem reduzierte Strich und Kontext der Strips verlangen den Rezipientinnen viel Vorstellungsvermögen ab. Durch die Kürze der Narration können die Themen außerdem immer nur sehr kurz angerissen werden, sodass es den Lesenden freisteht, sich weiterführende Gedanken zum Thema zu machen, also gewissermaßen die ›Leerstelle‹, die sich durch das verhältnismäßig abrupte Ende der Miniatur-Erzählung ergibt, inhaltlich zu füllen und weiterzuspinnen. Webcomics Als ›Webcomics‹ kann man jene Comics bezeichnen, die im engen Zusammenhang mit den heutigen digitalen Möglichkeiten stehen: »In other words, webcomics are texts that are born digital, distributed through the Web itself, and read online.«272 Manche dieser Comics erzielen eine enorme Breitenwirkung und kaum eine andere Comicform hat im letzten Jahrzehnt eine derart große Steigerung in Produktion und Rezeption erfahren.273 Diese Veröffentlichungsstrategie ist für die Schaffenden (und auch für die Leserschaft) mit geringen Kosten verbunden.274 Deshalb findet man hier viele unabhängige Künstlerinnen, die an keinen Verlag gebunden sind und sich deshalb teilweise sehr experimentellen Formaten widmen können275: Mit dem Schlagwort der »infinite canvas« könnte man auf die enormen Möglichkeiten hinweisen, die dadurch entstehen, dass digitale Comics nicht mehr den materiellen Grenzen der konventionellen Printform unterliegen.276 Webcomics sind kein eigenes Genre, sie stehen oft abseits von möglichen Gattungsordnungen der Printcomics, ihnen stehen wirklich alle Möglichkeiten offen: »[They] can take many forms, encompass many genres and subjects, and, like any other kind of text (graphic or otherwise), be of varying quality. […] [W]ebcomics reproduce, comment on, remix, and/or adapt previous comics forms such as the comic strip and the long-form narrative«.277 Ein Großteil der Webcomicschaffenden übernimmt traditionelle Ausprägungen des Mediums, andere kombinieren diese aber mit zusätzlichen Möglichkeiten der digitalen Repräsentationsform, gestalten durch hypertextuelle oder hypermediale Verfahren interaktive und/oder medienreflexive Werke und Serien.278 Das geschieht ganz konkret zum Beispiel in Form von kommen272 Jacobs, 2014. Auch soziale Netzwerke, wie Twitter oder Instagram, sind übrigens von großer Bedeutung für die Webcomicdistribution. 273 Vgl. Wilde, 2017, 68; vgl. Banhold; Freis, 2012, S. 159. 274 Jacobs, 2014. 275 Vgl. Banhold; Freis, 2012, S. 164. 276 2000, S. 200; vgl. Banhold; Freis, 2012, S. 160. 277 Jacobs, 2014. 278 Vgl. Reichert, 2011, 121f.

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tierenden Textboxen, die durch die Bewegung des Cursors aufgerufen werden, die Möglichkeit, ein einzelnes Panel zu expandieren oder die Verknüpfung des Comics mit Hyperlinks, die zu zusätzlichen Informationen, Blogs oder sogar Audiotracks leiten.279 »[T]he medium allows the potential for a greater degree of dialogue through the interactivity that can be included within the texts themselves. Moreover, the platform itself can be used in many different ways than those that are possible in print form. [sic]«280 Das schließt jedoch nicht aus, dass manche Comics (nachträglich) auch als Druckzeugnis erscheinen, zum Beispiel Neufelds Non-Fiction-Comic A.D.: New Orleans After the Deluge281. Dies ist ein Hinweis darauf, dass analoge Comics möglicherweise eine andere Leserschaft anziehen, die durch den neuen Distributionsweg (zusätzlich) gewonnen wird. Webcomics können aber durch spezifische, individuelle, charakteristische und kreative Darstellungsformen zum Überdenken der Frage anregen, was einen Comic eigentlich ausmacht, wo das Medium beginnt und wo es endet282, zum Beispiel in Matthew Inmans preisgekürter Webcomic-Serie The Oatmeal283. Wilde erklärt, Webcomics könnten besonders häufig dem Genre der Graphic Memoirs, dem Sachcomic und dem, was er ›Comic-Essays‹ nennt, zugeordnet werden.284 Meines Erachtens sollte man noch die Gattung der Comic Strips und das Funny-Genre ergänzen. Nach Eisners Begriffen könnte man viele Werke zudem der Subgattung der »attitudinal instruction comics« zuschreiben, in denen die Autorinnen Einstellungen teilen und vermitteln wollen.285 Deshalb erwägen viele Forscher inzwischen auch die pädagogischen und didaktischen Implikationen und Möglichkeiten, die spezifisch mit Webcomics einhergehen. Darauf werde ich leider nur begrenzt eingehen können.286 Einige Webcomics werden jedoch auch als Beispiele herangezogen. Der Manga (vgl. auch I 2.6, II 3.1.2) ›Manga‹ ist das japanische Wort für ›Comic‹, wo das Medium sehr viel breiter rezipiert wird als in Europa oder den USA. Im Westen wird der Begriff genutzt, um sowohl Comics aus Japan als auch solche, die unabhängig von Produktionsort oder Herkunft der Schaffenden stilistisch der »japanischen Zeichentradition« zugeordnet werden können, zu bezeichnen.287 Gemäß dieser begrifflichen Stil279 280 281 282 283 284 285 286 287

Vgl. Jacobs, 2014. Ebd. Neufeld, 2009. Vgl. Wilde, 2017, 68. Inmans, 2009–. Vgl. 2017, 72. 2008 (a), 153ff.; Wilde, 2017, 72. Vgl. bspw. Jacobs, 2014. Brunner, 2010, S. 12.

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form-Klassifizierung kann es sich theoretisch bei jedem Comic um einen Manga handeln, »unabhängig davon, von wem er gestaltet oder wo er publiziert wurde, sofern die Geschichte narrativ-visuelle Prinzipien im Mangastil verwendet«.288 Dieser Zuordnung haftet freilich immer eine gewisse Subjektivität an, da die Stilistik im Manga sehr breit gefächert ist und sich auch Überschneidungen zu anderen Comictraditionen finden.289 Weniger sind damit die einzelnen Bilder und ihre Inhalte, als eher »das Arrangement des Layouts und der Umgang mit Soundwörtern und Bewegungslinien […] als zentrales Angebotscharakteristikum der Manga-Ausdrucksmittel« gemeint, wie es Packard et al. beschreiben.290 Aufgrund ihrer Verschiedenartigkeit sind Mangas keine ›Gattung‹ an sich. Erst recht aber bilden sie kein einheitliches Genre. Bouissou et al. haben sich daher etwa dazu entschlossen, von einem »reading format« zu sprechen.291 Der Manga an sich ist mittlerweile ein »transkulturelles Phänomen«292. Die (tatsächliche) Nationalität und Ethnizität von Fans und Schaffenden scheint hier eine geringere Bedeutung zu spielen als in anderen Comicszenen.293 Im großen Stil sind Mangas erstmals in den 1990er Jahren nach Europa gelangt. Seitdem steigt ihre Bedeutung auf dem weltweiten Comicmarkt exponentiell an.294 Zielgruppe außerhalb Japans sind dabei in der Regel junge Menschen zwischen 8 und 25 Jahren.295 Auch in Deutschland machen Manga nach Schätzungen DolleWeinkauffs inzwischen 70 % der verkauften Comics aus, was unter anderem auf thematische Aspekte sowie den Mangel an Eigenproduktionen zurückzuführen ist, die in Ländern mit längerer Comictradition (wie zum Beispiel Frankreich) größere Bedeutung haben.296 Eine interessante Tatsache ist ferner, dass in Deutschland die weibliche Leserschaft überwiegt, während in anderen Ländern die Verteilung zwischen Jungen und Mädchen, Männern und Frauen, relativ gleich ausfällt.297 In erster Linie ist ein Manga genau wie westliche graphische Literatur einfach nur ein Comic und die grundsätzlichen Charakteristika des Mediums finden hier ungetrübt Anwendung. In vielen (wenngleich nicht allen) Mangas gibt es aber Unterschiede zu westlichen Comics, was die Ästhetik, Symbolsprache oder Erzählweise betrifft. Das ›Umsteigen‹ von westlichen Comics auf Mangas kann deshalb zunächst mühsam sein, da Rezeptionsgewohnheiten durchbrochen 288 289 290 291 292 293 294 295 296 297

Kahl, 2012, S. 12. Vgl. Brunner, 2010, S. 12. Packard; Rauscher; Sina; Thon; Wilde; Wildfeuer, 2019, S. 199. 2010, S. 260. Hepp, 2006, S. 8. Vgl.Packard; Rauscher; Sina; Thon; Wilde; Wildfeuer, 2019, S. 193. Vgl. Prough, 2010, 101f. Vgl. Kloos; Eggert, 2006, S. 41. Vgl. Bouissou; Pellitteri; Dolle-Weinkauff, 2010, 254f. Vgl. ebd.

Die inhaltliche Ebene: Prägnante Erscheinungen und Phänomene

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werden und neue Kompetenzen erarbeitet werden müssen. So werden Mangas nach japanischem Vorbild in umgekehrter Leserichtung, also von rechts nach links rezipiert. Sie sind zudem auf eine schnellere Rezeptionszeit ausgelegt und die stärkere Übereinstimmung von Realzeit und Erzählzeit kann das Gefühl erzeugen, selbst unmittelbar dabei zu sein.298 Das gilt besonders für SlapstickMomente oder Action-bezogene Erzählungen. Schodt weist darauf hin, dass die Rezeption einer Mangaseite im Schnitt nur 3,75 Sekunden umfasst, sodass jedes Panel in Sekundenbruchteilen erfasst wird.299 Dafür halten die Schaffenden den Text in den Sprechblasen eher kurz, verzichten auf Zwischentexte und behandeln Soundwords stärker als Teil des Bildes.300 Auch der Zeichencode muss dafür einfach und deutlich gehalten werden, vor allem wenn es um die Darstellung von Beziehungen und Emotionen geht.301 Diese wirken deshalb für Leser, die eher an westliche Comictraditionen gewöhnt sind, auf den ersten Blick mitunter stark überzeichnet. Da sich die symbolische Bildsprache von Mangacomics aufgrund kultureller Unterschiede und eigener Traditionslinien weitgehend unabhängig vom westlichen Comic entwickelt hat, gibt es hier teilweise große Unterschiede in den bildlichen Hinweisen.302 So wird beispielsweise sexuelle Erregung oder Begierde gelegentlich durch Nasenbluten ausgedrückt, was sich in europäischen Comics nie etabliert hat.303 In der japanischen Zeichentradition legen einige Autoren auch verstärkt Wert auf das Stilphänomen ›kawaii‹, was mit ›außerordentlich niedlich‹ oder ›süß‹ übersetzt werden kann. Seit den 1980er Jahren wird mit ›kawaii‹ eine kindliche, romantisierende Stilistik assoziiert, welche auch in der Figurengestaltung von Mangas häufig ihren Ausdruck findet.304 Diese freundlichen Figuren mit ausgeprägtem und übersteigertem Kindchenschema stehen in einer soziologisch interessanten Spannung zu anderen Aspekten der japanischen Kultur. Denn in Mangas leben die Charaktere häufig eine Freiheit und Abenteuerlustigkeit aus, die realen (nicht nur) japanischen Kindern und Erwachsenen oft verwehrt bleiben muss. Thematisch findet man im Manga möglicherweise eine noch größere Vielfalt als im westlichen Comic, wobei auch nicht alle Formate unbedingt exportiert werden. Im Manga werden nicht nur alle bekannten Genres für alle möglichen Altersstufen verarbeitet (Romantik, Horror, Kriminal etc.), sondern innerhalb des Mangas gibt es auch Genres, die sich in westlichen Comics in dieser Art nicht 298 299 300 301 302 303 304

Vgl. Knigge, 1996, S. 241; Brunner, 2010, S. 9. Vgl. 2007, S. 26. Vgl. Brunner, 2010, S. 9. Vgl. ebd. Vgl. ebd. Vgl. McCloud, 2001 (b), S. 139. Vgl. bspw. Brunner, 2010, S. 116.

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Comics – Eine kurze Einführung in das Medium

wiederfinden, zum Beispiel das besonders bei heranwachsenden Jungen beliebte Sport-Genre.305 Da Mangas in Japan von so großen Teilen der Gesellschaft rezipiert werden, ist auch Raum für sehr spezielle Themen wie etwa das der Kindererziehung im Ikuji-Manga.306 Auch erotische Comics haben ihren festen Platz, wie im Yaoi-Genre, das Geschichten um homosexuelle Beziehungen zwischen Männern spinnt, die fast immer von Frauen für Frauen konzipiert sind. Die Bilder können dabei sehr explizit sein, da dieses Format zumindest in Japan mit einer Altersbeschränkung versehen ist. Mangas zeichnen sich nicht nur in der formalen Gestaltung durch Eigenarten aus, sondern entstammen mit ihren Motiven, Themen und Geschichten der japanischen Kultur (oder orientieren sich daran!), was die Leserschaft dazu zwingt, einen Blick über den westlichen ›Tellerrand‹ zu wagen. Obwohl in dieser Arbeit überwiegend auf westliche Comicbeispiele verwiesen wird, ist ein Verständnis für Besonderheiten der Mangacomics unumgänglich, weil sie für Kinder und Jugendliche unserer Zeit schlicht und ergreifend eine unbestreitbare Relevanz besitzen. Wer sich der Comicdidaktik nähern will, sollte darum auch diesem Phänomen möglichst vorurteilsfrei begegnen.

2.6

Comics in der Lebenswelt von Kindern und Jugendlichen

Die Lebenswelt Heranwachsender ist heute zunehmend eine Medienwelt.307 Obwohl man dabei zunächst nur an digitale Medien sowie Film und Fernsehen denken könnte, sind auch Printmedien wie Comics noch längst nicht aus den Kinderzimmern vertrieben worden. Wie hoch die Relevanz von Comics in der alltäglichen Lebenswelt Heranwachsender genau ist, ist allerdings nicht letztgültig zu bestimmen. Denn obwohl fast alle Kinder im deutschen Sprachraum mit Comics in Kontakt kommen dürften, da das Medium ein fester Bestandteil des westlichen Kulturraumes gerade für Kinder ist, mangelt es an quantitativ-empirischen Untersuchungen. Fest steht, dass Kinder häufig andere Comics lesen als ihre Eltern es vielleicht noch getan haben. Zudem muss man unterscheiden zwischen Form und Inhalten, zwischen Kindern und Jugendlichen und auch zwischen Jungen und Mädchen. Da sie für (religions)pädagogische Zusammenhänge aber von so großer Bedeutung ist, soll die Nähe des Mediums zur schülerischen Lebenswelt in diesem Abschnitt näher erforscht werden. Die Datenbasis zum Comicrezeptionsverhalten in Deutschland ist relativ schwach. Besonders von wissenschaftlicher Seite ist dem Thema bis jetzt nur 305 Vgl. ebd., 42f. 306 Vgl. Thompson, 2011, S. 49. 307 Vgl. Pirner, 2012, S. 160.

Comics in der Lebenswelt von Kindern und Jugendlichen

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wenig Aufmerksamkeit zuteilgeworden. Eine Erhebung aus dem Jahre 1998 bescheinigte der graphischen Literatur, sie erreiche in Regelmäßigkeit immerhin 42,5 % aller Acht- bis Fünfzehnjährigen in Deutschland.308 Allerdings hat sich die Medienlandschaft mittlerweile dermaßen verändert, dass diese Zahl kaum noch eine valide Basis bieten dürfte. Ostertag befragte 14 Jahre später die achten Klassen zweier Nürnberger Realschulen und konnte aus den Ergebnissen den Schluss ziehen, Printmedien hätten auch heute ihre Bedeutung noch nicht verloren.309 Denn die Hälfte der Befragten vertiefte sich mindestens einmal im Monat in einen Comic, ca. 20 % sogar mehrmals wöchentlich.310 Diese Erhebung ist aufgrund ihrer (vergleichsweisen) Aktualität und Befunde wertvoll. Jedoch ist das Sample der Studie zu klein, um repräsentativ zu sein, sodass sie nur einen Anhaltspunkt bietet oder ein aussagekräftiges Fallbeispiel darstellen kann. Insgesamt konzentrieren sich Studien zur Medienwelt Jugendlicher, wie die jährlich erscheinende JIM-Studie vor allem auf die Nutzung von Fernsehen, digitalen Medien oder Büchern, ohne Comics als eigene Kategorie gesondert zu erfassen.311 Die Frage nach der Rezeption von Magazinen lässt keine klaren Schlüsse zu, denn nicht alle Zeitschriften für Heranwachsende enthalten Comics und vor allem werden nicht alle Comics in Zeitschriften veröffentlicht.312 Höchstwahrscheinlich sind der ständige Fortschritt der digitalen Medien mit ihren Chancen, aber auch Gefahren, sowie die wachsende Besorgnis, dass Kinder heute immer weniger Bücher lesen könnten, die Hauptgründe, warum diesen Medien größere Aufmerksamkeit zuteilwird als den somit marginalisierten Comics. Natürlich sind digitale Medien längst zu den Leitmedien unserer Zeit geworden, zumindest wenn man einen Blick in die Lebenswelt von Jugendlichen wirft, die besonders von »Bildschirmmedien« aller Art geprägt ist.313 Nach Ansicht einiger Medienwissenschaftlerinnen ist die traditionelle Trennung zwischen Medien und Menschen am jetzigen Punkt schon nicht mehr haltbar, da wir nicht mehr nur mit, sondern richtiggehend in Medien leben: »There is no external to the media in our lives.«314 Die digitale Welt ist so sehr Bestandteil unseres Alltags geworden, dass wir sie kaum noch als solche wahrnehmen. Aber auch die Beschäftigung mit 308 309 310 311

Vgl. Hansen, 1998, S. 17. Vgl. 2012, 153f. Vgl. ebd., S. 157. Vgl. Feierabend; Rathgeb; Reutter, 2018, S. 18. Die Veröffentlicher der nicht unbedeutenden JIM-Studie verwenden den Begriff ›Comic‹ in ihrem Bericht für 2018 zudem nicht einmal sachgemäß, indem sie sich der fachlich inkorrekten (Marketing-)Bezeichnung ›Comic-Roman‹ für die Kinderbuchreihe ›Gregs Tagebuch‹ anschließen und Zeichentrickserien und Comics über einen Kamm scheren, obwohl es sich um unterschiedlich zu rezipierende Medien handelt (vgl. 2018, 69, 46). 312 Vgl. Feierabend; Rathgeb; Reutter, 2018, S. 13. 313 Vgl. Macgilchrist, 2012, 182, 184. 314 Deuze; Blank; Speers, 2012, unpag.

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Comics – Eine kurze Einführung in das Medium

digitalen Welten beziehungsweise mit dem Leben in digitalen Welten schließt nicht aus, dass auch Comics noch eine Rolle zukommt. So kann man auf etliche erfolgreiche Webcomics verweisen, die Dale zufolge bei jungen Erwachsenen sogar eine größere Rolle spielen könnten als Print-Magazine (vgl. I 2.5.2).315 Einige Indizien für die Lage in Schulräumen und Kinderzimmern gibt es aber doch. Diese lassen sich vor allem aus Studien zur Manga-Rezeption sowie Verkaufszahlen und Marketingstrategien der Comicverlage ableiten, die erfreulicherweise auch Daten über inhaltliche und Gender-gebundene Präferenzen liefern. Man kann davon ausgehen, dass Kinder mit etwa acht Jahren beginnen, sich für Comics zu interessieren.316 In diesem Alter können sie langsam die verbale Ebene von Comics mit Text-Anteil erfassen und in einen Zusammenhang zum Bild setzen. Ein nicht unerheblicher Anteil der Comicleserschaft in Deutschland besteht aus Kindern (auch Mangafans bestehen zu 39 % aus Grundschülern), weil Comics in Deutschland immer noch primär mit kindlichem Lesevergnügen assoziiert werden.317 Deshalb gibt es für diese Altersklasse viele Publikationen und möglicherweise auch die größte Toleranz; denn das Rezeptionsverhalten der Kinder wird immer auch von den Erwartungshaltungen der Erwachsenen geprägt. In Deutschland besteht traditionell eine relativ schwach ausgeprägte Comickultur, während in Ländern wie Frankreich stets breitere Altersklassen anvisiert wurden und werden.318 Die meisten Comics, die in Deutschland publiziert, verbreitet und gelesen werden, sind tatsächlich auch nicht-deutscher Provenienz und stammen aus Italien (wie im Falle des LTBs, siehe unten), Frankreich, Belgien, Japan oder den USA. Zu diesen Comics gehört zum Beispiel das Superheldengenre, das entgegen vielen Annahmen in Deutschland besonders unter Kindern nach wie vor noch verhältnismäßig wenig verbreitet ist, durch die anhaltende Amerikanisierung der europäischen Populärkultur und zahlreiche Verfilmungen aber trotzdem an Popularität gewinnt.319 Es ist davon auszugehen, dass Superheldenfiguren mit ihren oft multimedial erzählten Geschichten deshalb in den nächsten Jahren weiter an Relevanz gewinnen werden. Im Frühjahr 2016 hat sogar Disney mit mehreren in Deutschland veröffentlichten Comics direkt auf die populären Helden des US-amerikanischen Verlages Marvel bzw. den Marvel-Filmstudios angespielt.320 Heranwachsende scheineninsgesamt sehr offen für zielgerichtet

315 316 317 318 319 320

Vgl. 2014. Vgl. Wiesner, 2014, S. 105. Vgl. Bouissou; Pellitteri; Dolle-Weinkauff, 2010, 257f. Vgl. ebd., S. 258. Vgl. Wiedemann, 2011, S. 11. Vgl. Walt Disney/Egmont Ehapa, 2016.

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und crossmedial Vermarktetes zu sein.321 Mit Recht erfahren transmediale Erzählprozesse und multimediale Vermarktungsstrategien der Comickultur und -industrie immer mehr Aufmerksamkeit in der Forschung, werden sie doch zunehmend Normalität in der derzeitigen Medienwelt. Auch moderne Manga, die implizit schon im Kinderfernsehprogramm beworben werden, sind darum vielen Kindern zunehmend willkommen.322 Zum Teil gibt es sehr aufwändige, multimediale Erzählwelten, in deren Rahmen auch Comics angeboten werden. Ein Beispiel wäre die ›LEGO Ninjago‹-Spielwelt, die mit einer Fernsehzeichentrickserie, Computerspielen, verschiedenem Merchandise und eben auch einem Comicheft vermarktet wird.323 Wenn sie selbst frei wählen können, greifen Kinder (und Jugendliche) außerdem zu auflagenstarken Magazinen (wie den Simpsons) am schnelllebigen Konsumort des Kiosks bzw. des Supermarktes.324 Neben dem Comicbestand aus Schulbibliotheken, Wartezimmern und dem Freundeskreis gehören auch diese Zeitschriftenregale zu den Dreh- und Angelpunkten der jugendlichen Comic-Biographie. Heranwachsende finden trotz der zunehmenden Digitalisierung um sie herum ihren Lesestoff offensichtlich immer noch am liebsten auf Papier.325 Dafür investieren viele Kinder auch ihr Taschengeld in Comics und Magazine.326 Hoch erfolgreich ist beispielsweise das wöchentlich erscheinende ›Micky Maus-Magazin‹, das nach einer Verbraucheranalyse im Jahr 2012 angab, in Deutschland mindestens 700 000 Kinder zwischen sechs und 13 Jahren in Regelmäßigkeit zu erreichen.327 Andere Magazine mit einem klaren Comicschwerpunkt aus dem marktführenden Egmont-EhapaVerlag, nämlich ›Das Lustige Taschenbuch‹ (LTB) und das ›Donald Duck Sonderheft‹ (DDSH), erreichten 2013 monatlich zusammengenommen 1.170.000 Deutsche, an erster Stelle Kinder und Jugendliche.328 Dabei geht beispielsweise das LTB auch auf die sich verändernden Lebenswelten des Publikums ein, zum Beispiel mit einer Ausgabe, deren Cover optisch die Social Media-Plattform ›Facebook‹ imitiert und die mehrere Geschichten enthält, die sich um soziale Netzwerke und Ähnliches drehen (LTB Nr. 488). Die erfolgreiche Printpublikation und die Möglichkeit, das LTB auch als e-Comic zu lesen, leisten das ihre. Die Zahlen bestätigen, dass das Medium ›Comic‹ deshalb noch nicht obsolet ist und geben auch einen Hinweis auf jugendliche Vorlieben und Lesegewohnheiten. 321 322 323 324 325

Vgl. Wiesner, 2014, S. 61. Vgl. ebd., S. 105. Vgl. LEGO Ninjago. Vgl. Wiesner, 2014, S. 105. Vgl. Gruner + Jahr; Blue Ocean Entertainment AG; Egmont Ehapa Media GmbH; Panini Verlags GmbH; SPIEGEL-Verlag; ZEIT-Verlag, 2018. 326 Vgl. ebd., S. 68. 327 Vgl. Berner, 2012, S. 26. 328 Vgl. Egmont Media Solutions, 2013, unpag.

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Beispielsweise darf man damit davon ausgehen, dass Kindern der verhältnismäßig schlichte, wenngleich dynamische und farbenfrohe Disney-Stil gefällt. Disney-Comics sind für viele Heranwachsende prägend. Sie sind nicht nur Teil der Lebenswelt Heranwachsender, sondern reagieren wiederum auch darauf, was ihren Erfolg weiter schürt. In Familien mit einem gewissen kulturellen und ökonomischen Kapital spielen sicher auch Comics eine Rolle, die für die Eltern (in ihrer Jugend) Bedeutung hatten und haben: Bekommt der Nachwuchs hier eine Empfehlung, dann werden ihm oft alte französische und/oder belgische Werke ans Herz gelegt (z. B. Die Schlümpfe, Asterix etc.).329 Die Verbreitung dieser Klassiker nimmt aber mit großer Wahrscheinlichkeit ab. So schreibt Armin Hofmann, der wie einige andere Autoren die schrittweise Ablösung des Comics durch digitale Medien und das Fernsehen konstatiert: »Wer schon mal versucht hat, seine Manga-lesenden Kids an die Originale von Hergé heranzuführen, wird verstehen was ich meine. Die Abenteuer vom Reporter Tim und seinem pfiffigen Hündchen sind in erster Linie Nostalgieobjekte für Liebhaber geworden.«330 Für diese These spricht zumindest, dass Kinderklassiker (wie Lurchi oder Yakari) oft sehr hochwertig gedruckt und gebunden werden: Zielgruppe sind damit vor allem erwachsene Comicsammler mit nostalgischen Anwandlungen – und finanzieller Kaufkraft.331 Ausnahme sind möglicherweise Lucky Luke und Asterix, deren Hefte auch am Kiosk noch erfolgreich sind und in deren Reihen auch regelmäßige Neuerscheinungen auf sich aufmerksam machen. Allerdings sind auch diese verhältnismäßig teuer und deshalb nicht für alle Kinder und Jugendliche zugänglich oder attraktiv. Im Comicmarkt gerät der traditionelle All-ages-Comic (Comics, die sich nicht an eine bestimmte Altersgruppe richten und häufig einen doppelten Adressaten anvisieren, wie die Peanuts oder die Werke von Carl Barks) also zunehmend aus der Mode.332 In dem, was Schülerinnen in ihrer Freizeit gerne lesen, hat sich in den letzten Jahrzehnten damit etwas verschoben, was vielen Lehrenden möglicherweise nicht bewusst ist. Was in deutschen Kinderzimmern von wem genau gelesen wird, aus welchen Gründen und mit welcher Anregung, könnte durchaus auch in Korrelation mit dem Milieu oder dem sozioökonomischen Hintergrund der Schüler stehen: Möglicherweise werden in Familien mit geringerem kulturellen oder ökonomischen Kapital andere Comics gelesen als in Familien privilegierterer Kapitalverhältnisse – Bekanntheitsgrad und Bewertung der Asterix-Comics im jeweiligen Haushalt könnte tatsächlich ein Indikator sein, gelten diese doch schon seit 329 330 331 332

Vgl. Wiesner, 2014, S. 105. 2012, S. 22. Vgl. Schikowski, 2012, S. 61. Vgl. Wiesner, 2014, 60f.

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vielen Jahrzehnten als »Comics des Bürgertums«.333 Aber einzig für den Manga, aufstrebender Stern am europäischen Comic-Himmel, sind tragfähige soziologische Studien getätigt worden: Lesende dieser Sparte stammen überwiegend aus der Mittelschicht und aus stabilen Familienstrukturen; in puncto Schulabschluss weisen sie in der Regel einen hohen oder zumindest mittleren Bildungsgrad sowie ein stabiles ökonomisches Kapital auf.334 Dieser Befund ist wichtig und soll hier dem sich immer noch haltenden Vorurteil entgegengesetzt werden, »that has stigmatized Japanese comics and TV series as cheap entertainmend for low-class, undereducated youngsters looking for escape from a depressing daily life.«335 Es ist dennoch insgesamt davon auszugehen, dass wie in so vielen verschiedenen Habitusbereichen Unterschiede bestehen. Ein bekannter Kanon kann darum schlicht nicht vorausgesetzt werden, zumal in heterogenen Klassenzusammensetzungen, wie sie an der Gesamtschule herrschen. Gänzlich unerforscht ist zudem der Zusammenhang von Comicleseverhalten und kulturellem (Migrations-)Hintergrund. Auch der Faktor ›Gender‹ spielt bei den Lesepräferenzen eine Rolle: Hansen zeigte 1998, dass die Zahl der männlichen Comicleser fast doppelt so groß war wie die der weiblichen.336 Ostertag hat diese Tendenz 2012 bestätigt: 67,2 % der männlichen, aber nur 26,5 % der weiblichen von ihm befragten Teenager griffen mehrmals im Monat zum Comic.337 Obwohl man aus diesen Daten keine voreiligen Schlüsse ziehen sollte, ist der Mangel an weiblichen Comicleserinnen in der Comicforschung durchaus auch ein Thema. Pessimistische Schätzungen konstatieren, es gäbe nach Vollendung des 10. Lebensjahres sogar nur noch etwa 10– 15 % weibliche Leserinnen westlicher Comics in Deutschland.338 Woher rührt diese Distanz zur europäischen und amerikanischen Comickultur? Das Ergebnis könnte unter anderem dem geringeren Comic-Leseanreiz für Mädchen oberhalb einer bestimmten Altersstufe geschuldet sein. Denn nicht nur die meisten Konsumenten, sondern auch Produzenten von (westlichen) Comics sind männlich.339 So erlangt beispielsweise das Superheldengenre/-thema wachsende Bedeutung. Dafür interessieren sich im Kindesalter allerdings vornehmend Jungen (81,8 % im Gegensatz zu 26,5 % der Mädchen).340 Am Kiosk werden durchaus Mädchenmagazine mit Comics angeboten, zum Beispiel aus der 333 334 335 336 337 338 339 340

Gundermann, 2009, S. 116. Vgl. Bouissou; Pellitteri; Dolle-Weinkauff, 2010, S. 258. Ebd. Vgl. 1998, S. 20. Vgl. Ostertag, 2012, S. 158. Vgl. Antoine Maurel nach Frenz, 2014, S. 91. Vgl. auch Packard; Rauscher; Sina; Thon; Wilde; Wildfeuer, 2019, S. 156. Vgl. Gruner + Jahr; Blue Ocean Entertainment AG; Egmont Ehapa Media GmbH; Panini Verlags GmbH; SPIEGEL-Verlag; ZEIT-Verlag, 2018, S. 66.

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Pferdesparte: Das Magazin ›Wendy‹ erreicht (Stand 2013) vierzehntägig immerhin ganze 344 000 Leserinnen341 und auch andere Zeitschriften, die immerhin einen gewissen Comicanteil haben (wie ›Bibi & Tina‹ oder ›Disney Minnie‹) verzeichnen Erfolge. Der Verlag Ehapa, der hier stellvertretend stehen soll, publiziert im Jahr 2017 nicht weniger als 14 Magazine mit Comicanteilen, die nach eigenen Angaben speziell Mädchen als Zielgruppe haben. Das Problem: Je älter Mädchen werden, desto weniger Auswahl steht ihnen im Zeitschriftenregal zu Verfügung. Ehapa veröffentlicht sechs Magazine für Jungen im Pre-Teen-Alter, aber nur noch drei für Mädchen.342 Zudem erreichen diese Mädchenmagazine nicht die gleiche Auflagenstärke wie die Jungen-fokussierten Publikationen. Meduna klagt deshalb zu Recht an, das Potenzial weiblicher Leserschaft (vor allem jenseits der Grundschule) sei von Verlagen lange schlicht nicht erkannt worden.343 Tatsächlich verbergen sich auch hinter Comics, die vielen auf den ersten Blick Gender-unspezifisch erscheinen, wie Disneys Micky Maus- und Donald DuckGeschichten in den oben genannten Publikationen, überwiegend männliche Leser. LTB und DDSH können nur ca. 31 % weibliche Leserschaft vorweisen, das Micky Maus-Magazin kommt sogar nur auf 28,6 %.344 Eine kurze Korpus-gestützte Analyse aller LTB-Cover der letzten zweieinhalb Jahre (30 Ausgaben) ergab für mich, dass sich auf nur drei dieser Cover weibliche Figuren fanden. Ein Grund, warum Mädchen sich von Pre-Teen-Angeboten wie dem LTB abwenden, könnte das Fehlen positiver weiblicher Figuren in der diegetischen Welt sein. In einem Alter, in dem adoleszente Mädchen beginnen, Genderrollen zu reflektieren und verstärkt nach Vorbildern und Identifikationsfiguren zu suchen, ist es für sie nicht leicht, in der westlichen Comicwelt kraftvolle und inspirierende Heldinnen zu finden. Die Schwelle vom Kind zum Teenager scheint im Hinblick auf die Freude am Comiclesen gerade für Mädchen eine kritische Zeit zu sein. Diese Entwicklung hält sich dann auch im späteren Leben. Natürlich gibt es ein paar Ausnahmen, wie die W.I.T.C.H.-Serie, doch diese sind auf dem Markt unterrepräsentiert. So ist beispielsweise der Lebensraum der bekannten DisneyFiguren bis heute eine eindeutige Männerwelt, in der die wenigen weiblichen Figuren oft ambivalent oder in stereotyper Form auftreten. Die einzige rein positiv besetzte Frauenfigur ist die ältere, nachgiebige und großherzige Oma Duck. Die einzige Frau mit Unternehmergeist ist die Antagonistin Gundel Gaukeley. Gitta Gans ist einfallsreich und versucht sich immer wieder als Geschäftsfrau, wird jedoch eindeutig vor allem durch ihre Beziehung zu einem 341 342 343 344

Vgl. Egmont Media Solutions, 2013, unpag. Vgl. Egmont Media Solutions, 2017. Vgl. 2012, S. 40. Vgl. Egmont Media Solutions, 2013, unpag.

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Mann charakterisiert: Ihre vergebliche Liebe zu Dagobert. Auch wenn einige Künstler sicher in den besten Absichten handeln, konstruieren Minnie- und Daisy- Geschichten häufig eine unnatürliche Weiblichkeit. Während männliche Figuren wie Dagobert und die Neffen eher asexualisiert dargestellt werden, ist Minnies und Daisys Welt immer noch stark bestimmt von ›Damenkränzchen‹, Wohltätigkeitsveranstaltungen, Shopping-Ausflügen, femininer Inneneinrichtung und passivem Datingverhalten. Die Darstellung ihrer ›Weiblichkeit‹ wird überzeichnet und wirkt deshalb auffällig bis fremdartig. Das Weibliche erscheint als das ›Andere‹, das Nicht-Normale, das extra betont werden muss. Auch die aktuelle Sonderedition des Lustigen Taschenbuchs scheitert m. E. daran, dass die »entenstarken Frauen« auf den Covern in auffällig sexualisierten Posen und mit lasziven Blicken dargestellt werden.345 Auch und besonders bei den frankobelgischen Klassikern kann man weitgehend vergeblich auf weibliche Rezipientinnen zugeschnittene Werke suchen. Lucky Luke und Asterix arbeiten mit klaren weiblichen Stereotypen.346 Bedenkt man dies, ist es klar, dass viele Mädchen dem Medium (unbewusst) kritischer gegenüberstehen und sich nach geeigneterem Lesestoff umsehen. Viele greifen vielleicht deshalb auch eher zu traditioneller Literatur und der Anteil regelmäßig bücherlesender Mädchen übersteigt den der bücherlesenden Jungen deutlich, da der Büchermarkt wesentlich stärker an ihnen interessiert zu sein scheint.347 Im Gegensatz zu vielen westlichen Comics gibt es jedoch in den MangaComics eine Vielzahl weiblicher Identifikationsfiguren. Dies könnte einer der Gründe sein, warum sie seit dem Ende der Neunzigerjahre besonders in der Mädchenwelt zunehmend an Bedeutung gewonnen haben.348 Die Einführung von Mangacomics hat den deutschen Comicmarkt insgesamt gestärkt, wobei sich das Wachstum nachweislich auch auf Kosten westlicher Comics eingestellt hat.349 Manga-Lesende nutzen zudem besonders geschickt digitale Medien, um sich zu vernetzen, auszutauschen oder neuen Lesestoff anzuschaffen, was die Hoffnung nährt, dass Printmedien – oder zumindest Comics an sich – nicht von der Attraktivität der Netzwelt verdrängt werden müssen.350 Dennoch haben Manga keinen guten Ruf, was gerade die Mädchen, die sich der Sparte verschrieben 345 Vgl. Egmont Ehapa Media GmbH. 346 In Lucky Luke gibt es im Wesentlichen nur vier verschiedene Frauenfiguren: Das hübsche junge Showgirl, die beleibtere, ältere Showdame, die beschränkte, auf Moral pochende, schlicht aussehende Ehefrau sowie weibliche Verbrecherpersönlichkeiten wie Calamity Jane oder Ma Dalton ( jene vielleicht in der interessantesten Figurendarstellung). Die Typen sind also, schlicht ausgedrückt: Nutte, Puffmutter, steife Ehefrau und Gangsterbraut. All diese Typen sollten für heranwachsende Mädchen nicht erstrebenswert sein. 347 Vgl. Feierabend; Rathgeb; Reutter, 2018, S. 69. 348 Vgl. Meduna, 2012, S. 40. 349 Vgl. Bouissou; Pellitteri; Dolle-Weinkauff, 2010, S. 259. 350 Vgl. ebd., S. 260.

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haben, subtil in den Schatten drängt. Dass beispielsweise viele Autoren eigens betonen, Manga seien schon lange nicht mehr das schwarze Schaf in der Familie der graphischen Literatur351, legt nahe, dass viele Erwachsene dies durchaus noch so wahrnehmen. So ist in den Graphic-Novel-Canones der Süddeutschen oder der Frankfurter Allgemeinen Zeitung der Manga eindeutig unterrepräsentiert. Lesend (und sogar zeichnend) haben sich heranwachsende Mädchen aber auf diese Weise den Comic zurückerobert. Deshalb gibt es in Deutschland in diesem Segment überwiegend weibliche Leserinnen.352 Die Leserschaft bleibt dem Segment oft bis ins Erwachsenenalter treu, weil Mangas ein breiteres Themenspektrum anbieten als die bekannten westlichen All-ages-Comics.353 Dazu sind die Bände relativ erschwinglich. Im Manga-Regal der Comicbuchläden, Kioske und Buchläden ist das Angebot groß und es gibt eine breite Auswahl für Mädchen im Teen- und Pre-Teen-Alter, wie beispielsweise Takeuchis bekannter Klassiker Pretty Guardian Sailor Moon354. Tatsächlich kreist beim Manga der ganze Markt, sowohl im Herkunftsland als auch im Export, um das Geschlecht der Zielgruppe: »gender is the principle publishing classification for manga.«355 Und Sho¯jo-Mangas (Mangas für Mädchen) »are the only kind of comics (mostly) made by women for women.«356 Zentrales Thema dieses ›Übergenres‹, wie unterschiedlich das individuelle Setting auch sein mag, ist die Welt der Emotionen und Beziehungen, vor allem die der Liebe und Freundschaft.357 Das Konzept geht auf, dafür spricht der Erfolg. Bouisseou et al. ziehen ihre eigenen Schlüsse: This shows clearly that the success of manga in Europe derives partly from the inability of European and American comics – mostly created by men and imbued with a ›sophisticated and artistic‹ mentality appealing to an intellectual leadership rather than a popular one, especially in France from the 1970s to the ’90s […] – to address the concerns and please the peculiar sensitivity of the young female audience.358

Aber Mädchen greifen durchaus auch zu Manga, die nicht speziell für sogenannte ›weibliche Interessen‹ konstruiert sind und zum Beispiel dem Action/AdventureGenre angehören.359 Auch die sich oft stark von europäischen Comics unterscheidende Ästhetik und das Taschenbuch-Format vieler Manga könnten dem Wunsch Heranwachsender in der Adoleszenz entsprechen, sich von der Kinder(comic)welt abzugrenzen und würden die große Beliebtheit mit erklären. 351 352 353 354 355 356 357 358 359

Vgl. bspw. Hoffmann, 2012, S. 126. Vgl. Brunner, 2010, S. 7. Vgl. Hoffmann, 2012, S. 126. Takeuchi; Caspary, 1998–. Prough, 2010, 93. Bouissou; Pellitteri; Dolle-Weinkauff, 2010, S. 262. Vgl. Prough, 2010, 93f. 2010, S. 262. Vgl. Drummond-Mathews, 2010, S. 62.

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Nicht nur im Herkunftsland gibt es zahlreiche Sparten und Werke für Erwachsene, die auch hier die Leserschaft von der Jugend ins Erwachsenenalter begleiten, mit langlebigen Serien, vielschichtigen Charakteren und unterschiedlichen Genres. Der Begriff ›Manga‹ orientiert sich dabei zunehmend nur an gewissen Stilmerkmalen der Ästhetik. Da diese spezielle Comicgattung mittlerweile prinzipiell jedem Kulturkreis entspringen kann (Manga aus deutschsprachiger Feder werden gelegentlich mit dem Begriff ›Germanga‹ tituliert), kann sich die Genre- und Themenvielfalt nur noch stärker erweitern. Im Gegensatz zu den Mangaleserinnen gehen viele andere deutsche Kinder mit dem Aufbruch ins Erwachsenenalter, das auch nach ernsten Inhalten strebt, dem westlichen Comic immer mehr verloren. Die positiven Assoziationen (gerade bei Jungen) aus der Kindheit verbleiben zwar höchstwahrscheinlich, jedoch nimmt der Comickonsum tendenziell ab. Möglicherweise, weil multimediale Angebote und die digitale Lebenswelt an Reiz gewinnen, aber wahrscheinlich auch deshalb, weil anspruchsvolle und für Jugendliche und junge Erwachsene interessante Werke ab einem gewissen Punkt nicht mehr einfach verfügbar sind: Nicht in jedem Buchhandel werden Graphic Novels beworben oder gar nicht erst verkauft. Gut sortierte Comicläden werden oft nur von Kennern betreten und sind in ihrer Quantität insgesamt überschaubar. Dass viele Blockbuster auf Comicvorlagen beruhen (wie V wie Vendetta, Die Liga der Außergewöhnlichen Gentlemen, Waltz with Bashir), ist ebenfalls vielen unbekannt. Mitunter fühlen sich einige Schüler dem ›Kindermedium‹ also vermeintlich entwachsen. Der scheinbar widersprüchliche Befund, dass diese Form relativ anspruchsvoller Comics in den letzten Jahren immer mehr Beachtung findet, schließt dennoch viele Schülergruppen vielfach aus: Denn Graphic Novels werden zum Beispiel in Tageszeitungen besprochen, durch die seit 2011 laufende Süddeutsche Zeitung-Graphic-Novel-Edition sind sogar neue Comic-Enthusiasten erschlossen worden – jedoch liegt das Zielpublikum auch hier in der Erwachsenen- und nicht in der Jugendwelt. Dazu muss noch ökonomisches Kapital kommen, denn durch den aufwendigen Druck sind Graphic Novels in der Regel teurer als Bücher ohne Bilder. Comics mit ernsteren Themen bleiben deshalb vielen unentdecktes Land und erschließen sich auch nicht immer ohne ein gewisses Vorwissen. So kommentiert der Medientheoretiker Grünewald: »ComicLesen muss gelernt sein – anspruchsvolle Comics fordern auch ein anspruchsvolles, vorurteilsfreies und kompetentes Publikum. Dazu gehört – wie in der Belletristik – Ausdauer und Idealismus.«360 Selbst wenn ein neugieriger Schüler also doch einmal zufällig an eine Graphic Novel gerät, kann das Ergebnis zweifelsohne frustrierend sein, was für eine sensibel angeleitete Behandlung des Mediums in der Schule spricht. 360 2000, S. 2.

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Abschließend könnten noch ein paar Sätze zu den Einstellungen von Heranwachsenden gegenüber dem Medium fallen gelassen werden. Allerdings wäre auch hierfür empirische, qualitative Forschung vonnöten, die aber bis auf Ansätze in der Untersuchung von Mangas von Bouissou et al. so gut wie gar nicht gegeben ist.361 Kinder und Jugendliche, die regelmäßig Comics aufschlagen, haben natürlich eine tendenziell positive oder zumindest neutrale Wahrnehmung des Mediums. Da viele Heranwachsende Comics lesen oder gelesen haben, darf man so grundsätzlich vielleicht von einer tendenziell positiven Einstellung ausgehen. McCloud spricht in diesem Zusammenhang auch von einer »Aura der Coolness«, die Comics möglicherweise umgibt und die sie von nicht-graphischer Literatur deutlich abhebt, weil das Medium vielen noch verhältnismäßig unkonventionell erscheint, teilweise mit Actioninhalten gefüllt ist (vgl. das Superheldengenre) oder gerade von den Eltern, von denen man sich mit zunehmendem Alter distanzieren will, tendenziell abgelehnt wird362. Genau darin liegt aber wiederum ein Problem, da manche Schülerinnen auch das abschätzige Urteil ihrer Erziehungspersonen übernehmen. Und die Elterngeneration dürfte nicht in Gänze vom neuen Comictrend in der Literatur erfasst worden sein. Weit verbreitetes Unwissen oder Vorurteile gegenüber Comics sind im deutschen Raum immer noch zum Teil auf die nachhaltige ›Schmutz und Schund‹-Politik der Weimarer Republik zurückzuführen, die Comics als minderwertige Lektüre einschätzte, und diese Einstellung beschränkt sich bei Weitem nicht auf die Großelterngeneration.363So hat der Pädagoge Peter Struck, dessen Monographie ›Die 15 Gebote des Lernens‹ immerhin tausendfach verkauft wurde, ein unglücklich einseitiges Bild von Comics, wenn er in jeder Hinsicht abwertend und urteilend konstatiert, Kinder seien »es gewohnt, das Wort nur in Kombination mit dem actionreichen und schnell wechselnden farbigen Bild eines amerikanischen Spielfilmes oder Comic-Strips wahrzunehmen, weil sie schon zu früh, zu oft und zu lange vor dem Bildschirm hockten.«364 Er vermischt wie viele andere Comics und actionreiche Fernsehsendungen pauschalisierend, wenn er sie für die »mangelnden« Zuhör- und Lesekompetenzen Heranwachsender verantwortlich macht.365 Die Abwertung des Mediums hat also häufig ein eingeschränktes und einseitiges Bild des Mediums zur Ursache. Dann werden mit Comics entweder Superheldenfiguren verbunden, die vielen inhaltlich flach, ›zu amerikanisch‹ oder gar primitiv erscheinen. Oder aber, wenn graphische Literatur nur mit kindgerechten Comics, der Gattung der Comicstrips und/oder dem Genre der Funnies assoziiert wird, es stellt sich das Vorurteil ein, Comics hätten 361 362 363 364 365

2010. 2001 (a), S. 16. Vgl. Wiesner, 2014, S. 105. Struck, 2011, S. 78. Vgl. ebd., 78, 80f.

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grundsätzlich keinen Tiefgang (was auch in Bezug auf diese speziellen Genres ungerechtfertigt ist, wie beispielsweise die theologische Doppelbödigkeit der Peanuts illustriert, vgl. auch III 2.1). Nicht nur Erwachsene, sondern eben auch einige Kinder übernehmen und vertreten diese Einschätzungen. So oder so finden diese Urteile deshalb früher oder später Eingang in ihre Lebenswelt. Die Ursache dieser Vorurteile kann unter anderem mangelndes Wissen sein, was bedeutet, dass sie durch sensible Comicdidaktik schnell überwunden werden können. Wenn sich Kinder geringschätzig über das Medium äußern, dann beruht dies häufig auf der unreflektierten Übernahme veralteter gesellschaftlicher Werturteile, die nicht-graphischer Literatur per se einen höheren Qualitätsgrad zuschreiben. Das kann besonders in Familien mit hohem kulturellen Kapital der Fall sein. Manche Eltern halten Kinder deshalb auch heute noch nach Kräften von der vermeintlich minderwertigen Beschäftigungsform fern (obwohl dies mit Sicherheit nie vollständig funktionieren kann). Natürlich können Heranwachsende auch abseits von Elternurteilen zu einer ablehnenden Einschätzung des Mediums gelangen, zum Beispiel indem sie Comics als Lektüre nur für Kinder klassifizieren (was in Deutschland ja auch einen gewissen Anhalt an der Realität hat), meinen, Comics seien nur etwas für Jungen (eine Einstellung, zu der viele Teenager-Mädchen auch unbewusst kommen könnten) oder die Meinung vertreten, Comics seien sexistisch oder voller Gewalt (was durchaus vorkommen kann). Vorurteile gegenüber dem Medium können in jeder Klasse auftreten und fordern einen bewussten Umgang damit. Am besten erheben Lehrende, die eine Comiceinheit vorbereiten, mit dem (Comic-)Vorwissens auch einen Überblick über diesbezügliche Einstellungen in ihrer Lerngruppe, um diesen zielgerichtet zu begegnen und einseitige Vorurteile bewusst zu adressieren. Da dieses Kapitel von besonderer Komplexität ist, weil so viele Facetten des Themas beleuchtet werden mussten, sollen die wichtigsten Erkenntnisse in Bezug auf die Kernfrage ›Wer liest was und wie oft/wie viel?‹ dieses Kapitels in einigen Thesen zusammengefasst werden. Folgender Befund ergibt sich: 1) Die wissenschaftliche Datenbasis für das Rezeptionsverhalten der Deutschen gegenüber Comics ist relativ dürftig und es bedarf dringend empirischer Forschungen. Aus den Indizien und Anhaltspunkten, die dennoch vorliegen, lassen sich jedoch einige Schlüsse ziehen. 2) Comics spielen in der Lebenswelt von heutigen Kindern und Jugendlichen immer noch eine Rolle. Man kann davon ausgehen, dass das Medium der überwiegenden Mehrheit der Kinder und Jugendlichen bekannt ist und die Lesenden deshalb im Allgemeinen ausreichende Rezeptionskompetenzen besitzen sollten, um zumindest simple Comics mithilfe von Induktionsvermögen, Bildlesefähigkeit etc. zu rezipieren (vgl. auch II 3.2.1). Comics sind in Deutschland immer noch vor allem ein Medium für Kinder. Mit wachsendem Alter nimmt der Comickonsum für die meisten ab, möglicherweise mangels

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leichter Verfügbarkeit neuer interessanter Lesestoffe. Dennoch scheinen Comics auch von Jugendlichen oft noch regelmäßig gelesen zu werden. Heranwachsende lesen immer noch am liebsten auf Papier und scheuen sich nicht, für guten Comiclesestoff selbst in die Tasche zu greifen. Digitale Medien stehen deshalb nicht in einem unmittelbaren Konkurrenzverhältnis zu Comics; sie werden vielmehr von Comicfans genutzt, um sich zu vernetzen oder Comic-Einkäufe zu tätigen. Zusätzlich verarbeiten viele Comics inhaltlich die digitale Lebenswelt Heranwachsender, zum Beispiel die besonders erfolgreichen Disney-Publikationen LTB, DDSH und Micky-Maus-Magazin, die in Regelmäßigkeit mindestens 1 870 000 Menschen erreichen, dabei zu etwa Zweidritteln männliche Rezipienten. 3) Auch sonst lesen eindeutig mehr Jungen als Mädchen Comics. Nur im Bereich der Manga-Comics, eine (auch auf Kosten westlicher Comics) wachsende Sparte, überwiegt der weibliche Anteil der Fans, vermutlich, weil Mangas die Rezeptionsbedürfnisse heranwachsender Mädchen besser befriedigen als die Angebote des europäischen Comic- und Zeitschriftenmarktes. Das gilt besonders für Mädchen auf der Schwelle vom Kinder- zum Jugendalter. Möglicherweise haben jugendliche Mädchen deshalb auch eine negativere Einstellung gegenüber Comics als Jungen. 4) Besonders ansprechbar zeigen sich Kinder und Jugendliche für crossmedial vermarktete Formate, die unkompliziert, wie am Kiosk, verfügbar sind und deren Figuren zum Beispiel auch im Fernsehen eine Rolle spielen. Neben den bereits genannten Mangas nimmt deshalb auch das Superheldengenre an Bedeutung zu. Klassische frankobelgische Comics, wie sie von der Elterngeneration häufig noch gelesen werden und wurden, sind in manchen Familien sicher immer noch von Bedeutung, jedoch tendenziell immer weniger. Auch sogenannte ›Graphic Novels‹ haben in der Lebenswelt von Kindern und Jugendlichen keinen besonders großen Stellenwert, weil ihre Rezeption Verfügbarkeit, Wissen und ökonomisches Kapital voraussetzt, das vielen nicht zur Verfügung steht. Während die Frage nach dem Verbreitungsgrad von Comics in deutschen Kinderzimmern nur vorsichtig beantwortet werden kann, gibt es andere Themen in der Comicforschung, die zurzeit größeres Interesse auf sich ziehen und deshalb besser erforscht sind. Sie sollen als nächstes knapp dargestellt werden.

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Gegenwärtige Fragestellungen und Methoden in der Comicforschung

Die Comicforschung bzw. die ›Comics Studies‹ sind insgesamt ein junges und (noch) relativ kleines Feld, das jedoch rasant im Wachsen begriffen ist. Dadurch ist sie wesentlich schnelllebiger als zum Beispiel die Religionspädagogik. Teilweise werden grundlegende Zusammenhänge im Medium behandelt, während sich gleichzeitig ganz neue Fragestellungen ergeben, je mehr sich das Medium weiterentwickelt und seine Grenzen expandiert. Wenn hier also auf derzeit wichtige Fragen und Methoden der Comicforschung verwiesen wird, muss dies vor allem kursorisch und ohne Anspruch auf Vollständigkeit geschehen. Comicforschung wird heute oft interdisziplinär betrieben, beispielsweise im Rahmen der Cultural Studies. Es werden sowohl die strukturellen Charakteristika des Mediums selbst als auch inhaltliche Themen und ihr spezifisches Zusammenspiel verhandelt. Methodisch sind die Forschungszugänge also vielfältig, reichen von narratologischen und semiotischen bis hin zu politischen, medien- und kulturtheoretischen Ansätzen auf unterschiedlichen Zugangsebenen.366 Noch immer ist die Comicwissenschaft im deutschsprachigen Raum keine Disziplin mit eigenem Studiengang. Abel und Klein erklären, die Comicforschung sei eher »eine transdisziplinäre Angelegenheit und der Prozess ihrer Etablierung auch noch keineswegs abgeschlossen.«367 Comicforschende kommen entsprechend aus ganz verschiedenen Bereichen: zum Beispiel aus der Kunsthistorik (wie Dietrich Grünewald), Literaturwissenschaft (wie Bernd DolleWeinkauff), Medienwissenschaft (wie Véronique Sina und Stephan Packard) oder auch Pädagogik und Didaktik (wie Christine Gundermann). Daraus ergibt sich ein dynamisches Forschungsfeld, in dem das Medium aus vielen unterschiedlichen Perspektiven – besonders produktiv auch transdisziplinär – untersucht wird. Jede Disziplin bringt auch ein spezifisches begriffliches Instrumentarium zur eigenständigen Comicanalyse mit.368 366 Vgl. auch Thon; Wilde, 2016; Ahrens, 2012, S. 13. 367 Abel; Klein, 2016 (a), V. 368 Vgl. Packard; Rauscher; Sina; Thon; Wilde; Wildfeuer, 2019, S. 1.

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Gegenwärtige Fragestellungen und Methoden in der Comicforschung

Trotz der langen Geschichte des Mediums gerieten erst in den 1980er und 1990er Jahren, vor allem dank Eisner und McCloud, Theorien über den Comic an die breite Öffentlichkeit.369 Beide Autoren, selbst ihres Zeichens Comic-Künstler, stellten in einer Form Überlegungen über das Wesen und die Funktionsweise des Mediums an, die für Comicschaffende und Laien gleichermaßen nachvollziehbar waren. Ihre Theorien sind mittlerweile vielfach weiterentwickelt und auch problematisiert worden, dennoch ist es möglicherweise bezeichnend, dass diese systematischen Denkversuche, die zu den ersten ihrer Art gehörten, nicht einem akademischen Diskurs entsprangen, sondern von Künstlern und Künstlerinnen entwickelt wurden: Auch Fankulturen haben eine historische Bedeutung in der Comicforschung, denn Diskurse waren und sind ein fester Bestandteil ihrer Fan-Foren.370 Ein bekanntes Beispiel ist der 1977 gegründete Fanclub der D.O.N.A.L.D. (umgangssprachlich werden diese Fans als ›Donaldisten‹ bezeichnet), der ein nicht anspruchsloses Heft für die Fans des Zeichners Carl Barks publiziert. In den 1970er und 1980er Jahren entstanden Zeitschriften, in denen sich Fan-Diskurse, journalistische Beiträge und akademische Betrachtungen trafen, sodass sie »historisch gesehen ein besonders vitaler Ort der Produktion von Wissen über Comics« gewesen sind.371 Fan-Conventions oder Internetforen, in denen sich in gewisser Hinsicht auch ›Experten‹ zum Austausch sammeln, sind nach wie vor beliebt. Seit etwa 15 Jahren stehen Comics aber zunehmend stärker im Fokus wissenschaftlicher Untersuchungen.372 Was einen Comic ausmacht (wie in I 2.1 dargestellt), wie sich die historische Entwicklung gestaltet (die Rede von ›Gründervätern‹ wird zunehmend in Frage gestellt), wie sich das Medium zur Literatur verhält (für die meisten Forschenden ist es wesentlich mehr als eine ›Untergattung‹ dieser), welche Auswirkungen die medieninhärente Hybridität hat (verbergen sich hier narrative Chancen oder Grenzen?) oder wie Dimensionen von Zeit, Akustik oder Selbstreflexivität Eingang in Comics finden (sehr komplex und von Werk zu Werk bzw. Genre zu Genre unterschiedlich), sind nur einige Fragen aus dem gegenwärtigen Diskurs.373 Häufiger jedoch werden diese Dimensionen explizit mit inhaltlichen Gesichtspunkten von Comics verknüpft, zum Beispiel in Bezug auf die formal-ästhetische Gestaltung von Superheldencomics, die sich in inhaltlichen Mustern wiederfindet. Auch das hat Tradition: Comicorientierte Denkansätze liegen spätestens seit Umberto Eco auch in Form scharfer Kulturkritik vor, haben aber lange nicht in einen systematischen For369 370 371 372 373

Vgl. Etter; Stein, 2016, S. 117. Vgl. ebd., S. 119. Ebd. Vgl. Packard; Rauscher; Sina; Thon; Wilde; Wildfeuer, 2019, S. 1. Vgl. bspw. Grünewald, 2012; Wildfeuer; Bateman, 2014; Wilde, 2014 (b); Ahrens, 2012; Heindl; Sina, 2018.

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schungsdiskurs geführt.374 Dies hat sich inzwischen geändert, jedoch auch heute noch spielen kulturkritische Ansätze mit unterschiedlicher Akzentsetzung in der internationalen Comicforschung eine Rolle.375 Denn etwa ab dem Jahr 2000 finden sich im Rahmen der Cultural Studies intensivierte (kritische) Auseinandersetzungen mit Themen wie ›Gender‹ und ›Race‹ im Comic, zum Beispiel in Bezug auf rassistische Stereotype heutiger und historischer Comics, Genderdarstellungen in einzelnen Genres oder Werken oder den Gebrauch von Comics zu Propagandazwecken.376 Forschung zum Beispiel aus den Reihen der Gender, Disability und Queer Studies treibt die Auseinandersetzung mit dem Medium weiter voran und haben aufgezeigt, dass der Comic nicht nur von Minderheiten gelesen wird, sondern auch häufig Minderheiten-Repräsentationen enthält.377 Der Forschungstrend ist möglicherweise eine direkte Folge aus den sich ausbildenden Charakteristika/aktuellen Trends von ›Graphic Novels‹, die immer mehr von weiblichen Künstlerinnen geschaffen werden und zunehmend Themen aus dem LGBTQ+-Spektrum, Genderrollen oder intersektionale Strukturen (kritisch) verarbeiten (vgl. auch I 2.5).378 Auch die Didaktik und Unterrichtsforschung beteiligt sich intensiv am Comicforschungsdiskurs, setzt aber andere Schwerpunkte, indem beispielsweise untersucht wird, wie Comics/Comicschaffende Wissen vermitteln und welches Potenzial dem auch für den Fachunterricht zugrunde liegt (vgl. auch II 1).379 Hier profitieren die Forschenden ebenfalls davon, dass sich Comics mittlerweile von inhaltlichen Festlegungen befreit haben, was sie für die Didaktik sehr viele Fächer anschlussfähig macht.380 Lange wurden Comics vor allem aus einem bestimmten Kulturkreis oder einer bestimmten Comictradition, vor allem der europäischen und nordamerikanischen, in den Blick genommen, während andere Comickulturen, wie die afrikanische, bisher nur wenig internationale Wahrnehmung erfahren haben.381 Hier ist jedoch laut Etter und Stein ein Umbruch zu bemerken: »Insbesondere ist in jüngster Zeit der Comic als Ort der Grenzüberschreitung im transnationalen und transkulturellen Sinn in das Blickfeld der Comicforschung geraten.«382 Das Forschungsfeld der Manga-Comics, die auf dem deutschen Buch- und Comicmarkt so wichtig geworden sind, ist dafür ein gutes Beispiel. Sie werden aus verschiedensten Blickwinkeln erforscht, zum Beispiel hinsichtlich Fankulturen 374 375 376 377 378 379 380 381 382

Vgl. Etter; Stein, 2016, S. 117. Vgl. etwa die hochaktuelle Publikation Sina; Heindl, 2020. Vgl. bspw. Ricker, 2017; Carlson, 2018; Nelson, 2017; Sina; Heindl, 2020. Vgl. bspw. Hutton, 2018; Abate, 2018; Cocca, 2014; Sina, 2016. Vgl. Eder, 2016, S. 161. Vgl. bspw. Carter; Al-Tabaa, 2014. Vgl. auch Eder, 2016, S. 161. Vgl. Etter; Stein, 2016, S. 118. Vgl. bspw. Benice, 2018; Schillinger, 2018; Etter; Stein, 2016, S. 118.

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oder spezifisch der europäischen Leserschaft.383 (Einige Ergebnisse werden in I 2.6 dargestellt.) Ferner beginnt die Comicforschung nicht nur transkulturell zu agieren. Auch transmediale Zugänge haben sich etabliert: »Denn Ästhetik, Formen und Inhalte von Comics springen beinahe seit ihren Anfängen immer wieder in andere Medien (Film, Radio, Fernsehen, Videospiele) über und lassen sich gleichzeitig von diesen Medien inspirieren.«384 Zusammenhänge zwischen Film und Comic werden auch in dieser Arbeit in den Abschnitten I 2.5 und III 2.1.1 thematisiert. Die Analyse dieser transmedialen Prozesse ist zu einem dynamischen Forschungsgebiet gewachsen, in dem zum Beispiel auch die Verarbeitung von Fotos oder Gemälden im Comic untersucht wird, wie die Zusammenhänge zwischen Comic und Comicverfilmung und Literaturadaptionen.385 Neben Fragen der Transmedialität untersuchen Comicforschende auch die Distribution und Publikation von Comics in der Industrie, ebenso Merchandising-Strategien zum Beispiel von Medienverbundkomplexen.386 (Dabei gibt es auch kritische Anfragen und Untersuchungen zur nicht nur historischen Nutzung des Mediums zu Propagandazwecken.387) Einige derartige Forschungsergebnisse Ergebnisse finden sich in Abschnitt I 2.6. Lose verbunden damit ist der von einigen Autorinnen beobachtete ›material turn‹, der nicht nur in vielen Geisteswissenschaften »zunehmend das Ding(hafte) in den Blick«388 nimmt, sondern auch in der Comicforschung dazu geführt hat, die Ebene der Materialität näher zu untersuchen, zum Beispiel in Bezug auf die Frage »how material and technological parameters shape the experience of reading comics«389. Ansätze dazu finden sich auch hier, in Abschnitt II 3.3.1. Schließlich kann man auf die Entwicklung von Forschungszweigen verweisen, die sich mittlerweile ganz spezifischen in Comics behandelten Themen und Phänomenen widmen.390 Diese Ausdifferenzierung der Forschungsgebiete etabliert sich immer mehr und teilweise folgt der kritische Diskurs direkt den kreativen (oder Industrie-bezogenen) Entwicklungen der Comicszene.391 Wohl mit die stärkste Aufmerksamkeit in der Comicforschung erfährt seit Jahren das 383 Vgl. Brunner, 2009; Berndt, 2015; Berndt, 1995; Bouissou; Pellitteri; Dolle-Weinkauff, 2010; Wilde, 2016. 384 Vgl. Etter; Stein, 2016, S. 118. 385 Vgl. ebd.; Pedri, 2017; Burke, 2015; Sina, 2016; Giesa; Meinrenken, 2013; Engelns, 2013; Sina, 2014. 386 Vgl. bspw. Exner, 2018; Engelns, 2012; Brandl; Moore, 2018. 387 Vgl. bspw. Engelns, 2010. 388 Casper; Cochanski; Esquivel; Esquivel; Howaldt; Ingold; Lungershausen; Schwertfeger; Wohlers, 2016, S. 1; vgl. auch Thon; Wilde, 2016. 389 Kashtan, 2013, S. 92. 390 Vgl. Etter; Stein, 2016, S. 118. 391 Vgl. auch Bennett; Batiz, 2014.

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Genre der Superheldencomics – ein Evergreen mit Aktualität, vielleicht sogar steigender Relevanz. Entsprechend dominant ist der Forschungszweig. Auch hier wird vor allem aus der Perspektive der Cultural Studies geforscht, so dass zum Beispiel politische oder gesellschaftliche Aspekte interdisziplinär im Fokus stehen.392 Hier bringt sich unter anderem auch die Praktische Theologie seit Jahrzehnten ein (vgl. dazu Ergebnisse in I 2.5, III 1 und III 2.1.1).393 Da Webcomics eine immer größere Bedeutung in der Comicwelt einnehmen, wächst auch die Auseinandersetzung mit dieser Erscheinung. Im Mittelpunkt stehen Machart, Möglichkeiten und Realisierungen oder auch Fragen der Distribution.394 Auch hier spielt Transmedialität eine Rolle (vgl. I 2.5). Seit den 1990er Jahren wächst die Forschung an autobiographischen Comics, zum Beispiel in Bezug auf die Darstellung von Körperlichkeit, Trauma und Erinnerung.395 Auch die Verarbeitung von Geschichte in Comics und Graphic Memoirs erfährt viel Aufmerksamkeit, handelt es sich dabei doch um ein eminent wichtiges Thema gegenwärtiger Comickultur (vgl. die Diskussion von Forschungsergebnissen in III 3.2 und IV 1).396 Die Forschung reagiert damit auch auf die anhaltende Entwicklung des Mediums und die Offenheit der Künstler für neue Themen: Relativ neu ist zum Beispiel der Erfolg von Comics aus dem Genre der ›Graphic Medicine‹, Comics über (psychische) Krankheitserfahrungen.397 Diese sind auch aus der Perspektive der Medizin wie der Psychiatrie oder auch der Psychologie interessant, weil sie Krankheiten neuartig darstellen.398 Durch all dies wird die Interdisziplinarität, durch die sich Comicforschung so häufig auszeichnet, in immer neue Richtungen ausgebaut. Diese Forschungsansätze sind oft von theoretischer Natur. Man kann aber auch auf Beispiele empirischer Comicforschung verweisen. Gerade diese sind für die empirisch-orientierte Erziehungswissenschaft nicht uninteressant und Ergebnisse zu Experimenten, die die Lernleistung durch Comics betreffen, werden hier noch verschiedenen Stellen Erwähnung finden.399 Abschließend sei auf ein letztes Merkmal deutschsprachiger und internationaler Comicforschung hingewiesen: Der textuelle Kanon wird vorwiegend von männlichen Autoren dominiert – und dass nicht, weil es keine weiblichen Forschenden gäbe. Misener erklärt: »[M]ysogyny in comics studies often takes the

392 393 394 395 396 397 398 399

Bspw. Sadri, 2018; McClancy, 2018; Cocca, 2016; Sina, 2016; Engelns, 2010. Vgl. bspw. Ahrens; Brinkmann; Riemer, 2015; Kubik, 2011. Vgl. bspw. Wilde, 2017; Banhold; Freis, 2012; Jacobs, 2014. Vgl. bspw. Velentzas, 2017; Baetens; Frey, 2015; Acheson, 2017; Klug, 2018. Vgl. bspw. Dolle-Weinkauff, 2018; Harris, 2017; Pizzino, 2017. Vgl. Etter; Stein, 2016, S. 118. Vgl. Oppolzer, 2013, S. 244; Farley, 2018; Acheson, 2017; Velentzas, 2017. Bspw. Wenning; Krdzic; Sandmann, 2018.

98

Gegenwärtige Fragestellungen und Methoden in der Comicforschung

form of blind spots, rather than outright, intentional hostility«400. Dies zeigt sich aber unter anderem an der offensichtlich mangelnden Bereitschaft von Comicforschern, weibliche Kolleginnen trotz deren Einschlägigkeit in ihren Publikationen zu zitieren.401 Auch in Sammelbänden tauchen immer wieder überproportional viele männliche Comicforscher mit Beiträgen auf. Die männliche Dominanz in den Diskurs- und Verhandlungsräumen des Mediums ist so groß, dass sie zwangsweise auch Einfluss auf comicdidaktische Erwägungen nehmen wird (vgl. I 2.6, II 3.1.2, III 4.2.1 u. a.). Es wird sich zeigen, dass die vorliegende Arbeit in vielerlei Hinsicht gut in den aktuellen Forschungsdiskurs eingeordnet werden kann: Comicdidaktische Analysen nehmen einen nicht unbedeutenden Raum in der Comicforschung ein und Interdisziplinarität ist hier gleich mehrfach gegeben – zum Beispiel im Verbund mit der Praktischen Theologie und der Lernpsychologie. Im ersten Falle profitieren die kulturhermeneutischen Überlegungen aus der Praktischen Theologie von der allgemeinen Öffnung der Cultural Studies für Populärkultur, im zweiten Falle werden mit der Pädagogischen Psychologie und Comicforschung tatsächlich Fächer verbunden, die zwar durchaus aufeinander Bezug nehmen, deren Verbindung aber auch noch ausbaufähig wäre. Insgesamt wird der Arbeit zu Religion in Comics (abgesehen vom Superheldenforschungszweig!) in der Comicforschung zurzeit keine besonders große Beachtung geschenkt wird. Auch diese Perspektive könnte mit der vorliegenden Arbeit gestärkt werden. Obwohl die Arbeit wie so regelmäßig in der Comicforschung theoretisch ausgelegt ist, beziehe ich mich wann immer möglich auf empirische Befunde. Es gilt, alle verfügbaren Ressourcen zu nutzen: Wissenschaft profitiert von Austausch und Kooperation.

400 Misener, 2019, unpag. 401 Vgl. Packard; Rauscher; Sina; Thon; Wilde; Wildfeuer, 2019, S. 7.

II Comics und Unterricht – Möglichkeiten eines Mediums zur Förderung der Unterrichtsqualität

1

Comics als Thema der gegenwärtigen Didaktik und Schulpädagogik

Beleuchtet man die Entwicklung seit dem Jahre 2000, so wächst die Beachtung Sequenzieller Kunst in der Unterrichtspädagogik und Didaktik verschiedenster Fächer auch im deutschen Sprachraum. Während empirische bildungsbezogene Comicforschung nur eine geringe Rolle spielt, werden in den Veröffentlichungen Chancen von Comics überwiegend theoretisch geltend gemacht. Teilweise könnten die dort gewonnenen Erkenntnisse anschlussfähig auch für die comicdidaktische Religionspädagogik sein, weshalb sich ein näherer Blick auf die Forschung benachbarter Fächer anbietet. Als einer der ersten legte Dietrich Grünewald eine umfassende Untersuchung für das Potenzial der Comicdidaktik vor und sah Chancen vor allem in den Bereichen der Motivation, anschaulichen Informationsvermittlung, didaktischen Ergänzung, Vertiefung und auch im Einsatz für die Lernkontrolle – Felder, die auch in dieser Arbeit eine Rolle spielen.402 In den vorsichtigen Anfängen der fachdidaktischen Comicbetrachtungen (etwa zwischen 1980 und 2000) finden sich abseits davon in der Literatur, auch in der Religionspädagogik und Religionsdidaktik, vor allem vereinzelte Aufsätze zum Thema, nicht selten apologetischer Natur. Die Autorinnen schienen sich oft gezwungen zu sehen, zunächst einmal über grundlegende Charakteristika des Mediums aufzuklären, um Vorurteilen zu begegnen.403 Heute erscheint dies etwas weniger notwendig, was mit der gestiegenen Anerkennung oder zumindest Akzeptanz des Mediums in pädagogischen Kreisen zusammenhängt, so dass zunehmend auch spezifischere Comicthemen beleuchtet werden können.404 Ein deutliches Zeichen dafür, dass das Medium endgültig in der Schule angekommen ist, ist die internationale Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Comicforschung, die sich im Jahre 2016 gänzlich diesem Thema verschrieben hat und wo von verschiedener Seite medienwissenschaftliche, theoretische und praktische Grundlagen der unter402 Vgl. Grünewald, 1982, S. 61. 403 Vgl. bspw. Grünewald, 1985; Schilling; Beeli, 1985; Nübel, 1980. 404 Vgl. bspw. Hallet, 2012; Behrendt; Schüwer, 2008.

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Comics als Thema der gegenwärtigen Didaktik und Schulpädagogik

richtlichen Arbeit mit Comics beleuchtet wurden.405 Man kann auch auf eine wachsende Zahl von Monographien und Anthologien verweisen, von denen Comicforschende und interessierte Lehrkräfte gleichermaßen profitieren. Die größte Beachtung findet das Medium in der Didaktik der allgemeinbildenden Schulen, obwohl vereinzelt auch vergleichbare Ansätze für die Berufsschule vorliegen.406 Auch in der Hochschuldidaktik ist das Interesse an Comics eindeutig gestiegen.407 Al Tabaa erklärt: »The emergence of formal comic studies in literary and visual arts-related fields has resulted in an upsurge of comics being taught in the post-secondary classroom.«408 Hier steht allerdings meist das Medium selbst im Mittelpunkt, während Didaktiker für allgemeinbildende Schulen Comics eher einsetzen, um fachspezifische Kompetenzen bei den Schülerinnen zu fördern. Entsprechend erfolgt auch die Forschung zu Comics meistens aus fachgebundener Perspektive. Die Fremdsprachendidaktik nutzt vielleicht schon am längsten das didaktische Potenzial von Comics für ihre Zwecke. Forschende und Lehrende stehen dem Einsatz von popkulturellen Erzeugnissen und verwandten Medien wie der Karikatur oder dem Film unter anderem deshalb so offen gegenüber, weil sich daraus laut Forschung authentische und deshalb motivierende Sprachbeispiele und -anlässe für den Unterricht gewinnen lassen. Besonders ansprechbar dafür ist der Englischunterricht. Möglicherweise wird hier aufgrund seiner Relevanz in Curriculum und Stundentafel besonders viel geforscht und veröffentlicht, möglicherweise zeigt sich aber auch besonders die Anglistik/Amerikanistik der Populärkultur gegenüber besonders nahbar. Aber auch zum Beispiel aus dem Fach Französisch, das auf eine reiche franko-belgische Comictradition mit beliebten Figuren wie ›Titeuf‹ zurückgreifen kann, liegen viele Beiträge und praktische Vorschläge vor.409 Sprachliche/linguistische Aspekte stehen in der comicbasierten Fremdsprachenpädagogik dabei genauso im Mittelpunkt wie das Anliegen der Kulturvermittlung, gehen aber oftmals Hand in Hand.410 Als Gattung scheint besonders der Comicstrip gerne angenommen zu werden, da er recht unkompliziert Eingang in den Unterricht finden kann.411 Das Fach Geschichte profitiert hingegen eher vom gegenwärtigen Trend zu ernsten Narrationen, wie sie in sogenannten Graphic Novels erscheinen, obwohl zweifelsohne auch Asterix-Comics im Geschichtsunterricht (und im Fach La-

405 406 407 408 409 410 411

Vgl. Deutsche Gesellschaft für Comicforschung. Vgl. Göhler, 2017; Göhler; Narciss; Niethammer, 2013. Vgl. bspw. Krusemark, 2017; Jacobs, 2014. Al-Tabaa, 2014. Vgl. bspw. Ludwig; Pointner, 2013 (a); Cary, 2004. Vgl. bspw. Blume, 2009; Behrendt; Schüwer, 2008; Elsner; Ludwig, 2014. Vgl. bspw. Blume, 2009.

Comics als Thema der gegenwärtigen Didaktik und Schulpädagogik

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tein!) ihre Tradition haben.412 Die Geschichtsdidaktik ist schon länger prominent im Diskurs der Comicforschung vor.413 Die Forschung betrachtet Comics als Träger und Vermittler historischen Bewusstseins.414 Geschichtslehrer greifen dabei zum Beispiel auf die Shoa-Thematik in Postmemory-Comics wie Spiegelmans Maus zurück. Zumindest in der theoretischen Forschung postuliert man, Lernende würden dabei auch dazu angeregt, Darstellungen und Darstellungsmittel kritisch zu durchdenken.415 Für den Literaturunterricht (sei es nun im Deutsch- oder Fremdsprachenunterricht) gibt es inzwischen ebenfalls Vorschläge, aus dem Fundus komplexer und vielschichtiger Narrationen in Comicform zu schöpfen.416 Bis jetzt sind allerdings erst wenige comicanalytische Ansätze für den Literaturunterricht der Oberstufe, also der Sekundarstufe II, im deutschen Raum beschrieben worden. Eine Entwicklung in diese Richtung wäre außerordentlich vielversprechend, würde sie doch andeuten, dass immer mehr Autorinnen und Fachdidaktiker etablierte Literatur und Sequenzielle Kunst als gleichwertig oder zumindest als gleich wertvoll anerkennen oder dass Kompetenzen wie der ›Visual Literacy‹ mehr Raum in der Schule eingeräumt werden (vgl. dazu II 3.2.6). In den naturwissenschaftlichen Fächern stehen natürlich weniger literarische Aspekte der Kunst im Mittelpunkt, sondern die wissensvermittelnden oder aktivierenden/motivierenden Inhalte – auch wenn sie zum Beispiel zunächst kognitive Konflikte auslösen.417 Sieve und Prechtl beschreiben die Chancen zum Beispiel folgendermaßen: Kaum eine Chemiestunde vergeht, in der man nicht durch Symbole Vorgänge auf der Teilchenebene oder der noch abstrakteren Formelebene veranschaulichen muss. Hier und auch bei der Beschreibung von komplexen Verläufen können Comics bei der nachhaltigen Konstruktion von nachhaltigem Wissen helfen418.

Schließlich kann man noch auf einige Vorschläge verweisen, Comics und Bildergeschichten für die Förderung der Zweitsprache Deutsch einzusetzen, sei es in der fachinternen Förderung oder in ausgelagerten Sprachlernklassen.419 Die Gründe für den Einsatz von Comics in diesem Bereich ähneln denen für die Fremdsprachdidaktik und sollen in II 3.2.4 etwas näher erläutert werden.

412 413 414 415 416 417

Vgl. Gundermann, 2009, 116, 121. Vgl. bspw. Pandel, 1994; Pandel, 1999; Gundermann, 2007; Gundermann, 2018. Vgl. dazu bspw. Gundermann, 2007. Vgl. bspw. Ritzenhofen, 2011; Gärtner, 2009. Vgl. bspw. Hallet, 2012; Giesa, 2016; Preußer, 2013. Vgl. bspw. Sieve; Prechtl, 2013 (b); Bocka, 2017; Pöhls, 2013; Oechslin; Keller, 2013; Prechtl, 2013 (a); Wenning; Krdzic; Sandmann, 2018. 418 2013 (a), S. 4. 419 Vgl. bspw. Pöhls, 2013; Wieler, Petra, 2007; Hanenberg, 2008; Trippo, 2018.

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Comics als Thema der gegenwärtigen Didaktik und Schulpädagogik

Überwiegend liegen Vorschläge vor, die die Rezeption von Comics betreffen. Aber auch das Potenzial der Eigenproduktion (digital oder analog) wird beleuchtet.420 Wer sich auf die Suche begibt, findet comicdidaktische Ansätze mittlerweile für (fast) alle Fächer, es profitieren jedoch ganz besonders der Fremdsprachenunterricht, die Fächer Geschichte und Deutsch sowie seit Kurzem auch die Naturwissenschaften von der Öffnung zum Medium. Obwohl man auch auf einige Überlegungen für die Primarstufe verweisen kann, liegen deshalb besonders viele Vorschläge für die Sekundarstufe I vor.421 Den meisten Fachdidaktikforschenden, die sich mit Comics beschäftigen, geht es vor allem darum, Comics in der Theorie als unterrichtstaugliches Medium zu untersuchen, verfügbares Wissen zusammenzutragen und Chancen geltend zu machen, auch durch konkrete Vorschläge für Unterrichtsentwürfe.422 Dies geschieht selten im Verbund mit repräsentativen empirischen Ergebnissen, die die Realität dieser Chancen zweifelsfrei belegen würden. Hintergrund könnte sein, dass nicht viele Comicforschende einen direkten, unkomplizierten Zugang zur Schülerinnen als Probanden haben. Selbst wenn doch, sind Forschende auf die Unterstützung von Kolleginnen an den Schulen angewiesen, um Lerngruppen ausreichender Größe zu schaffen. Dazu kommt, dass Experimente in Schulen häufig nicht unkompliziert sind, spielen doch viele Faktoren, etwa das Vorwissen oder der Umfang häuslichen kulturellen Kapitals, eine große Rolle bei Lernprozessen. Und schließlich ist derartige Forschung immer mit dem Risiko eines ›negativen‹ Ergebnisses verbunden. Kritische oder stärker abwägende Beiträge zum Medium, nur vereinzelt vorhanden423, sind schwer zu finden: Zurzeit überwiegt in Bezug auf die Comicdidaktik noch der Optimismus, der ohne klar widersprechende Forschungsbefunde und in Zeiten der gesellschaftlichen Hinwendung zum Visuellen (vgl. II 3.2.6) auch noch länger anhalten wird. Dennoch sind Impulse theoretischer Natur sicher nötig, um empirische Forschungen heranzutreiben und haben darum ihre Berechtigung. Wo aber auf empirischsystematische Studien zur Lernwirksamkeit von Comics verwiesen werden kann, wird dies in dieser Arbeit immer wieder aufgegriffen werden.424 Abseits von fachgebundenen Aspekten hat der Comic bis jetzt nur wenig Beachtung in pädagogischen Studien gefunden: Besonders im Zusammenhang mit der Kognitionsforschung und lernpsychologischen Aspekten wurde, sieht man von den Ergebnissen Cohns und Bridgemans zu Augenbewegungen, die in I 2.4, II 3.1.2, II 3.2.1 und II 3.3 referiert werden, einmal ab, bis jetzt nur an der 420 421 422 423 424

Vgl. bspw. Elsner; Ludwig, 2014; Engel, 2011; Prechtl, 2013 (a); Al-Tabaa, 2014. Vgl. bspw. Bocka, 2017; Pöhls, 2013; Becker, 2012. Vgl. bspw. Ritzenhofen, 2011; Sieve; Prechtl, 2013 (b). Vgl. Oechslin; Keller, 2013; Gärtner, 2009; Sieve; Prechtl, 2013 (a). Vgl. bspw. Wenning; Krdzic; Sandmann, 2018; Chou; Hsu; Chen, 2015; Bertschi-Kaufmann, 2000; Oechslin; Keller, 2013.

Comics als Thema der gegenwärtigen Didaktik und Schulpädagogik

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Oberfläche gekratzt.425 Einzige Ausnahme ist die Motivationswirkung von Comics.426 Besonders in Bezug auf die Stärkung der Lesemotivation, wozu eine geradezu unübersichtliche Menge an bekräftigenden Ergebnissen internationaler empirischer Forschung und theoretischer Beiträge vorliegt.427 (Sie alle kommen zu einem positiven Ergebnis, vgl. II 3.1 und II 3.2.5) Andere fachübergreifende, schulpädagogische Themen, zum Beispiel das der Inklusion, werden im Zusammenhang mit dem Medium bis jetzt nur sehr vereinzelt behandelt und auch die allgemeine Unterrichtsqualitätsforschung, wie sie in dieser Arbeit wiederholt im Mittelpunkt steht, wird noch kaum mit der Comicforschung verbunden. Die Tatsache, dass andere Fächer sich dem Unterrichtsmedium schon länger geöffnet haben, kann für den Religionsunterricht und dessen Erforschung nur vorteilhaft sein. Gerade apologetische Aufsätze, die Missverständnissen dem Medium gegenüber ausräumen möchten, können auch anderen Fachrichtungen entnommen werden, um Religionslehrkräfte weiterzubilden. So bieten Sieve und Prechtl für Chemielehrende einen leicht verständlichen und ausgewogenen Basistext zum Medium, der auch für Religionslehrkräfte die wichtigsten medientheoretischen Aspekte in Kurzform darstellen kann.428 Der Zugang zu manchen comicdidaktischen Themenfeldern und Methoden, die für das Fach Religion Anwendung finden könnten, ließe sich auch über den Umweg anderer Fächer leicht erschließen.429 Denn Comics werden in anderen Fächern zwar teilweise aus spezifischen, fachdidaktischen Gründen eingesetzt werden (zum Beispiel als authentisches Sprachbeispiel), aber gelegentlich auch aus Gründen, die für den Religionsunterricht nicht minder relevant sind, zum Beispiel in Hinblick auf den Motivationseffekt.430 An dieser Stelle treffen sich sogar die scheinbar unterschiedlichsten Fächer. Auch den Forschungslücken sollte sich die Religionsdidaktik allerdings nicht verschließen, spricht doch nichts dagegen, dass andere Fächer von den Erkenntnissen religionspädagogischer Forschung profitieren sollten. Von vielen Kompetenzen, die im Religionsunterricht gezielt erworben werden können, profitieren auch andere Fächer sehr, zum Beispiel von der sensiblen Wahrnehmungs- oder Dialogkompetenz. Manche Themen, die auch für andere Fächer ein Arbeitsfeld darstellen, verdichten sich im Fach Religion im besonderen Maße, zum Beispiel in Bezug auf die Pluralisierung unserer Gesellschaft und die sich daraus ergebende gesteigerte Heterogenität. Von einem ko-

425 426 427 428 429 430

Vgl. Cohn, 2013; Bridgeman, 2010. Vgl. bspw. Göhler, 2016; Norton, 2003; Steveker, 2002; Bruhn, 2000. Vgl. bspw. Kerneza; Kosir, 2016; Edwards, 2009; Sullivan, 2004; Bertschi-Kaufmann, 2000. 2013 (a). Vgl. bspw. Lütge, 2011; Hallet, 2008. Vgl. bspw. Prechtl, 2013 (a); Deane; Rumlich, 2013.

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Comics als Thema der gegenwärtigen Didaktik und Schulpädagogik

operativen, interdisziplinären Vorgehen, das sich gezielt auch neuen Fragen öffnet, würde die Forschung mit Sicherheit profitieren.

2

Was können Comics in der Didaktik leisten? – Eine Annäherung

Versuche, das Geheimnis effektiven Unterrichts zu erfassen, gehen weit zurück (vgl. etwa Leuchtenbergers ›Vademecum für junge Lehrer‹431). Aber erst der ›PISA-Schock‹, der große Auswirkungen auf die deutsche Bildungspolitik der Folgejahre hatte, hat eine empirische Wende im deutschen Wissenschaftsraum hervorgerufen. So wurde der Blick etwa auch für Ergebnisse weltweiter Studien geöffnet. Empirische Untersuchungen und Metaanalysen geben inzwischen Aufschluss darüber, was sich (zumindest in der Theorie) positiv auf Lehr-LernProzesse in der Schule auswirkt, obwohl das Unterrichtsgeschehen in seiner Gesamtheit immer noch zu komplex ist, um vollständig erfasst zu werden. Trotzdem haben Unterrichtsforscher wie Hattie, Meyer, Brophy oder Helmke daraus Kriterien für einen effektiven Unterricht (sprich: einen Unterschied, der messbare Wirkung in Lernbereichen aufweist) abgeleitet. Diese Kriterien oder Wirkungsdimensionen können allesamt auf eine empirische Grundlage verweisen. Um diese Faktoren in der Praxis tatsächlich zu verwirklichen, werden freilich nicht nur pädagogische Expertise und Feingefühl bei Lehrenden benötigt, sondern auch ein breites didaktisches Wissen. So muss ein Material oder Thema in der Regel erst entsprechend aufbereitet werden, damit bei den Schülern intrinsische Motivation für die Bearbeitung initiiert werden kann. Eine Didaktik, die den Einsatz von Comics nicht scheut, bringt Vorteile in vielen lernförderlichen Dimensionen mit sich. Die theoretisch und mithilfe vorhandener Studien zu überprüfende Grundthese lautet: Comics besitzen bei geschicktem Einsatz das Potenzial, die allgemeine Unterrichtsqualität und damit Lernprozesse zu verbessern. Dabei steht das grundsätzliche Konzept der Comicdidaktik zunächst einmal unabhängig von Comicgattungen oder davon, ob die eingesetzten Werke ganz oder in Auszügen eingesetzt werden, ob im motivierenden Unterrichtseinstieg oder für die Vertiefung und Wiederholung etc. Denn solange nicht die Werkinterpretation das eigentliche Thema ist, wie es zum Beispiel im Deutsch-

431 1909.

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Was können Comics in der Didaktik leisten? – Eine Annäherung

unterricht der Fall sein kann, dient die allgemeine Comicdidaktik als ein Instrument zum Erzielen bestimmter Effekte, die nicht fachgebunden sind. Im Folgenden sollen vier verschiedene Dimensionen des Unterrichts erörtert werden, auf die die Comicdidaktik (positiv) Einfluss nehmen könnte. Dabei geht es teilweise um Comicinhalte, teilweise um die Wirkweise gattungsspezifischer Charakteristika. Konkret handelt es sich um den Bereich der Motivation (verbunden mit den benachbarten Dimensionen der Schülerorientierung und dem positiven Unterrichtsklima, II 3.1), der Kompetenzorientierung bzw. Schlüsselkompetenzförderung (II 3.2), die kognitive Aktivierung und schließlich der konstruktive Umgang mit Heterogenität (II 4), unter anderem durch die Qualitätsdimension ›Angebotsvielfalt‹. Dem letzten Bereich wird ein Sonderraum eingeräumt, weil er letztendlich mehrere Unterrichtsqualitätsfaktoren vereint und so von besonderer Relevanz ist. Alle diese Dimensionen haben sich in Studien über Unterrichtsqualität hervorgetan, was ihre Relevanz unterstreicht und die Beschäftigung damit überaus wertvoll macht.432 Tatsächlich sind sämtliche Felder auch miteinander verknüpft, denn im Unterricht verlaufen Prozesse selten isoliert. Die Komplexität der Zusammenhänge mag meine nachstehende Graphik verdeutlichen, die sich vor allem auf Helmke stützt.433 Comics als Chancengeber für die Heterogenität im Unterricht (II 4.1–4.3; III 4.1–4.2) Wie aus der obigen Graphik ersichtlich wird, kann sich aktives Eingehen auf die schülerische Heterogenität auf alle anderen erläuterten Dimensionen von Unterrichtsqualität auswirken – im besten Falle positiv. Das Potenzial von comicdidaktischen Zugängen für den konstruktiven Umgang mit Heterogenität im Unterricht ist deshalb eine zentrale Grundfrage meiner Arbeit, die auch im dezidiert religionspädagogischen Teil hervorgehoben wird. Nachfolgend soll der Fokus der Heterogenitätsadressierung durch Comicdidaktik auch in den anderen Dimensionen guten Unterrichtes immer wieder aufgegriffen und verwoben werden. Besonders ›bildungsbezogene Risikogruppen‹ bzw. benachteiligte Teile der Schülerschaft und ob oder inwiefern die Arbeit mit Comics diese stärker adressieren kann, wird mehrmals verhandelt. Im allgemeinpädagogischen Abschnitt II 4 stehen konstruktive Strategien, die durch die Comicdidaktik verstärkt ermöglicht werden, im Mittelpunkt. In III 4 wird das Thema erneut aufgegriffen werden, diesmal allerdings mit einem Fokus auf konkrete Schülergruppen im Religionsunterricht.

432 Vgl. etwa Helmke, 2009. 433 Vgl. ebd. Die Komplexität der Zusammenhänge wird auch dadurch nicht verringert, dass diese Qualitätsmerkmale in der Unterrichtsrealität manchmal miteinander konkurrieren und die Lehrkraft situationsbezogen eigene Prioritäten setzen muss (vgl. auch Helmke, 2009, S. 170).

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Was können Comics in der Didaktik leisten? – Eine Annäherung

Schülerorien!erung

Kogni!ve Ak!vierung

Mo!va!on

Umgang mit Heterogenität, Angebotsvielfalt

Unterrichts -klima

(Schlüssel-) Kompetenzerwerb

= nimmt Einfluss auf

Motivieren und das Lernklima verbessern (II 3.1.1–3.1.3) Eine hohe Motivation scheint die grundsätzliche Lernbereitschaft zu fördern und so nachhaltigere Lernergebnisse hervorzubringen.434 Die meisten Lehrenden betrachten deshalb die Motivierung ihrer Schülerschaft geradezu als entscheidend – vielleicht sogar besonders deshalb, weil sich dieses Unterfangen oft als so schwierig erweist.435 Darum soll erkundet werden, inwiefern sich comicdidaktische Ansätze dazu nutzen lassen könnten, um die intrinsische Motivation von Lernenden zu erhöhen und zu halten. Dabei muss auch die Rolle des Interesses in Lernprozessen mit einbezogen werden. In die Dimension von De-/Motivation fällt auch das soziale Unterrichtsklima. Erörtert werden sollen psychische und emotionale Effekte, die die Arbeit mit Comics im Unterricht möglicherweise mit sich bringen kann, sowie deren hypothetische Einflussnahme auf das Unterrichtklima in der Klasse. Auch der Schülerorientierung soll größere Aufmerksamkeit zuteilwerden, da sie nicht nur hoch motivierend wirken kann, sondern außerdem Einfluss auf jeden anderen hier genannten Aspekt guter Unterrichtsqualität nimmt. Schülerorientierung kommt didaktisch zustande, wenn Lehrpersonen individualisierte Lernwege eröffnen oder sich zum Beispiel bei der Auswahl von Medien für 434 Vgl. bspw. Göhler, 2016; Renninger; Hidi, 2016; Schunk; Meece; Pintrich, 2014. 435 Vgl. Hasselhorn; Gold, 2013, S. 441.

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Was können Comics in der Didaktik leisten? – Eine Annäherung

den Unterricht eng an der Lebenswelt und den Präferenzen der Lerngruppe orientieren. An dieser Stelle soll – unter Miteinbeziehung lebensweltlicher Faktoren heutiger Heranwachsender – beleuchtet werden, inwiefern sich die comicdidaktische Arbeit zu diesem Zwecke eignet. Schlüsselkompetenzen stärken (II 3.2. – 3.2.6) Die Orientierung an sogenannten ›Kompetenzen‹ steht heute in den meisten Unterrichtskonzepten im Mittelpunkt. Gerade die Förderung von zentralen Schlüsselkompetenzen hat sich als Aufgabe für jedes Fach herauskristallisiert. Hier sollen fachübergreifende Kompetenzbereiche beleuchtet werden, die durch die didaktische Arbeit mit Comics besonders gut erschlossen werden können. Dabei geht es um (Schlüssel-)Kompetenzen, in denen gerade benachteiligte Schülerinnen gefördert werden müssen sowie (Schlüssel-)Kompetenzen, die für alle Schüler fachunabhängig wichtig sind. Zudem soll dem Zusammenspiel comicdidaktischer und kreativer Methoden besondere Aufmerksamkeit zuteilwerden, da sich dadurch ein ganz eigenes Kompetenzpotential eröffnet. Kognitiv aktivieren (II 3.3–3.3.1) Mit kognitiver Aktivierung ist die intensive geistige Anteilnahme und Aufmerksamkeit der Lernenden gemeint, die in eine vernetzte und tiefere Informationsverarbeitung im Unterricht führt. Das ist nicht nur bei aktiv-konstruktivem Lernen436 der Fall, sondern auch für Arten rezipierenden Lernens notwendig, wie zum Beispiel der gezielten Aneignung deklarativen Wissens. Untersucht werden soll, inwiefern das Lesen von Comics kognitiv aktiviert und inwiefern der konstruktive Rezeptionsprozess zum Memorieren von Informationen im Comic beitragen könnte. Dafür können Erkenntnisse der Instruktionspsychologie und Theorien über kognitive Prozesse in der Comicrezeption herangezogen werden. Nun sollen die einzelnen Punkte nun tiefgehender und konkret beleuchtet werden. Dabei beginne ich mit dem Thema ›Motivierung‹ und damit zusammenhängenden Faktoren, da dieses Thema für viele Lehrende im Alltag so außerordentlich wichtig erscheint.

436 Dieses zielt unter anderem auf Kompetenzen wie eigenständiges Problemlösen, exploratives und kreatives Arbeiten und die Förderung kooperativer Fähigkeiten ab.

3

Konkretisierung: Comics als Chancengeber in Unterrichtsprozessen

3.1

Motivieren und das Lernklima verbessern

Es besteht ein unverkennbarer Zusammenhang zwischen dem Anliegen, die Schülerschaft zu motivieren, ihr Interesse für einen Gegenstand zu wecken, in einem lernproduktiven Klima zu agieren, schülerorientiert zu unterrichten und die Lebenswelt der Heranwachsenden miteinzubeziehen. Dies alles sind zudem hehre Ziele und es mag auf den ersten Blick nicht nachvollziehbar erscheinen, dass das comicgestützte Lernen hier tatsächlich Wirkkraft entfalten kann. Wenn man die Faktoren jedoch voneinander trennt, grundsätzliche Wirkmechanismen klärt und anschließend spezifische Eigenarten von Comics damit in Beziehung setzt, könnte sich jedoch das besondere Potenzial von Comics offenbaren – beginnend mit dem Anliegen, Interesse und Motivation zu initiieren. Dem übergeordneten Thema der Motivation und Motivierung können auch die Bereiche ›lernförderliches Klima‹ und ›Schülerorientierung‹ assoziiert werden, die ebenfalls mithilfe von comicgestütztem Lehren beeinflusst werden können. Allen diesen Dimensionen ist gemein, dass sie zu den Qualitätsmerkmalen guten Unterrichts zählen und sich in erster Linie auf die Förderung der grundsätzlichen Lernbereitschaft richten, wodurch sie indirekt auf den Lernerfolg einwirken können.437

3.1.1 Motivieren und Interesse wecken Die vielleicht größte Bereicherung, die vom comicgestützten Unterrichten ausgeht, ist die Steigerung der Schülermotivation. Sie resultiert aus verschiedenen Faktoren und scheint auch von Praktikern vor allem anderen wahrgenommen zu werden.438 Dafür brauchen Lehrende auch nicht zwangsläufig eine besonders 437 Vgl. Helmke, 2009, S. 169. 438 Vgl. z. B. Bakis, 2014.

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Konkretisierung: Comics als Chancengeber in Unterrichtsprozessen

hohe Comicexpertise, was Motivationseffekte, hergestellt durch graphische Literatur, leicht zugänglich macht. Lehrende schließen oft optimistisch von einer gesteigerten Motivation auf bessere Lernleistungen – ein Zusammenhang, für den auch Einiges spricht. Motivierte und lernbereite Schulkinder motivieren wiederum rückwirkend die Lehrperson, die sich dann möglicherweise mehr einsetzt oder davon ausgeht, dass sich die Lernleistungen nun steigern müssten, was zum produktiven Pygmalion-/Rosenthal-Effekt führt.439 Im Sinne des sozialkognitiven Lernens bringen motivierte Lehrpersonen tendenziell auch stärker motivierte Schülerinnen hervor, sofern diese ihre Lehrenden als Vorbild einstufen – ein positiver Kreislauf. Damit sind Motivation und die Frage ihrer Initiierung in alltäglichen, schulischen Zusammenhängen für die meisten Lehrkräfte von persönlicher Bedeutung, und in der Pädagogischen Psychologie und Schulpädagogik wird das Phänomen entsprechend intensiv erforscht. Aus der Empirie ist bekannt: Es ist die Motivation, die beeinflusst, was, wann und wie wir lernen, etwa ob oberflächlich oder konzentriert.440 Helmke behandelt sie deshalb als entscheidenden Faktor im effektiven Unterricht und auch Zierer fasst zusammen: »Es besteht kein Zweifel daran, dass Motivation für Lernen bedeutsam ist.«441 Obwohl das Konzept der Motivation und Motivierung im schulischen Bereich sehr viel komplexer ist, als man zunächst annehmen könnte und auch Autoritäten der Motivationsforschung, wie Schunk, Meece et al., noch viele empirische Forschungsdesiderate aufzählen442, kann Einiges als gesichert gelten: Hattie verzeichnet für den Faktor Motivation in Lernprozessen eine Effektstärke von 0,48, womit ihm nachweislich ein großer Einfluss auf schulische Lernprozesse zufällt.443 Motivierte Schüler zeigen tendenziell eine größere Arbeitsbereitschaft und mehr Interesse am Unterricht, sie sind frustrationstoleranter, selbstbewusster und weisen deshalb insgesamt bessere Leistungen in der Schule auf.444 Schulleistungen und Motivation Einzelner verhalten sich dabei reziprok und

439 Der Pygmalion- oder Rosenthal-Effekt ist mehrfach belegt worden und bezieht sich im Schulkontext auf das Phänomen, dass die Erwartungen der Lehrperson bezüglich der Lernleistungen ihrer Schüler nicht nur deren Beurteilung, sondern auch die Lernleistungen selbst beeinflusst – auch ohne, dass diese von der jeweiligen Erwartungshaltung Kenntnisse besitzen. Eine Lehrerin, die also annimmt, die Lernleistungen müssten sich durch den Einsatz von Comicdidaktik verbessern, sorgt automatisch dafür, dass genau dies eintritt. Der Zusammenhang erklärt sich unter anderem durch das positive emotionale Klima, das eine optimistisch eingestellte Lehrperson so in der Klasse schafft oder wiederum durch den Hawthorne-Effekt. 440 Vgl. Schunk; Meece; Pintrich, 2014, S. 3. 441 Zierer, 2015, S. 51. 442 Vgl. Schunk; Meece; Pintrich, 2014, S. 3. 443 Vgl. Helmke, 2009, 214ff.; vgl. Zierer, 2015, S. 51. 444 Vgl. Schunk; Meece; Pintrich, 2014, S. 5.

Motivieren und das Lernklima verbessern

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können sich so auch gegenseitig verstärken.445 Motivierte Schüler in einer Klasse tragen ferner zu einem produktiven und positiven Klassenklima bei.446 Das ist wiederum von Bedeutung, weil das Klassenklima selbst Einfluss auf die Lernleistungen der Schülerinnen hat. Traditionell unterscheidet man bekanntlich zwischen intrinsischen und extrinsischen Motivationsformen. Obwohl letztere im pädagogischen Diskurs etwas geringschätziger betrachtet wird, so ist sie sicherlich nicht wertlos: So kann beispielsweise die soziale Lernmotivation, die zu den extrinsischen Motivationsformen gehört, in ihrem Streben nach sozialer Anerkennung kooperative Lernformen begünstigen, von denen wiederum alle profitieren.447 Man kann davon ausgehen, dass auch verschiedene Motivationsformen zusammenwirken können. Intrinsische Lernmotivationsformen verändern den Blickwinkel der Lernenden auf den Wissenserwerb selbst und lassen auch schwierige Lernprozesse weniger mühselig oder zumindest lohnender erscheinen. Auch wenn Aktivitäten im produktiven Flow-Zustand enden, liegt dem in der Regel intrinsische Motivation zugrunde.448 Man kann zwei Grundformen nennen: die tätigkeitszentrierte Lernmotivation, die vorliegt, wenn Menschen aus der reinen Freude am Lernen lernen, wenn es ihnen beispielsweise grundsätzlich Befriedigung schafft, Neues zu entdecken und zu erforschen. Sowie die gegenstandszentrierte Lernmotivation, die aus Neugier oder Interesse am Gegenstand selbst resultiert.449 Da Interesse zum Lernen oder Erarbeiten eines Themas motiviert, besteht damit zuweilen ein unbestreitbarer Zusammenhang zwischen beiden Faktoren, der vor allem in der Motivationsinitiierung Relevanz entfalten kann. Interesse, so Zeltner und Brunner, »bezieht sich auf die erlebte Bedeutung, die Erscheinungen der Umwelt und der eigenen Person für einen bestimmten Menschen haben und auf die in Verbindung damit stehende erhöhte Handlungsbereitschaft.«450 Schunk, Meece et al. formulieren etwas einfacher, Interesse »refers to the liking and willful engagement in an activity«.451

445 Vgl. Pintrich, 2003, S. 667ff.; zit. nach Schunk; Meece; Pintrich, 2014, S. 6. Der potenzielle Teufelskreis und die Abwärtsspirale sind evident, sollen aber zu einem späteren Zeitpunkt (hinsichtlich Risikogruppen) näher beleuchtet werden. 446 Vgl. Zimmermann, 2000, S. 13ff.; zit. nach Schunk; Meece; Pintrich, 2014, S. 6. 447 Vgl. Helmke, 2009, S. 216; vgl. Zierer, 2015, S. 62ff. 448 Vgl. Schunk; Meece; Pintrich, 2014, S. 256 Csikszentmihalyi und Nakamura beschreiben den Zustand ›Flow‹ als »characterized by complete absorption in what one does.« (2002, S. 89). Zeit und Raum können im Flow-Zustand mitunter fast vergessen werden, er wirkt weder unter-, noch überfordernd, sehr angenehm und sogar mitunter schmerzlindernd. 449 Vgl. Helmke, 2009, S. 216. 450 Brunner; Zeltner, 1980, 106f. 451 2014, S. 212.

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Besonders beim Lernen mit bildhaft dargebotenem Material (wozu auch Comics gehören) scheint Interesse begünstigend zu wirken452 – möglicherweise, weil das Auge in diesem Falle länger auf Bildern und Graphiken verweilt, was wichtig ist, um auch Details wahrzunehmen. Interesse spielt aber eine fundamentale Rolle in jeglichen Lernprozessen, in der Motivierung und dem Engagement, mit dem sich Schüler einer Aufgabe widmen, denn Interesse lässt Anstrengungen leicht wirken und erhöht das Erfolgspotenzial.453 Dabei müssen zwei Grundformen unterschieden werden: Aus der strukturorientierten/thematischen Perspektive besitzt fast jeder Mensch »a stable disposition toward a specific topic or domain«, relativ stabile Interessensgebiete, für die sich Individuen im Allgemeinen und zumindest in einem gewissen Zeitraum konstant interessieren.454 Hinsichtlich spezifischer Interessen bestehen starke interindividuelle und intraindividuelle Unterschiede und sie erstrecken sich nicht nur auf den schulischen, sondern auch auf den freizeitlichen Lebensbereich: Der Eine interessiert sich beispielsweise für Manga, weniger aber für andere Comics, während die Andere nicht genug von Thomas Mann bekommt und Comics gar keine Beachtung schenkt. Prozessorientiertes oder situationales Interesse bezieht sich dagegen auf den geistigen/psychischen Zustand, vorübergehend an einer bestimmten Aufgabe oder einer bestimmten Aktivität interessiert zu sein.455 Aus der Leseforschung kommt die Erkenntnis, dass beispielsweise ein Lesetext durch völlig unterschiedliche Faktoren situationales Interesse hervorrufen kann: Durch den Reiz des Neuen, Überraschungen, Komplexität, Vieldeutigkeit oder bestimmte Themen, die durch das Ansprechen individueller Interessensgebiete gegenstandsbezogenes Interesse aktualisieren.456 Dabei unterscheidet sich situationales Interesse von Neugier, da es auch aus einem bestimmten Thema oder Zusammenhang heraus entstehen kann (zum Beispiel dem spontanen Interesse, ein ethisches Problem aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten) und nicht allein durch den Reiz des Neuen.457 Beide Arten von Interesse können außerordentlich positive Effekte für den Lernerfolg verzeichnen, denn im Zustand des Interessiert-Seins befindet sich das kognitive System auf optimalem Funktionsniveau und vor allem die Aufmerksamkeitssteuerung und das Arbeitsgedächtnis profitieren davon458: »Both situational and individual interest are generally related positively to measures of memory, attention, comprehension, 452 453 454 455 456 457 458

Vgl. Käser; Vogelsberg, 2007. Vgl. Renninger; Hidi, 2016, 1, 4. Vgl. Urdan; Turner, 2005. Vgl. Krapp; Hidi; Renninger, 1992; zit. nach Schunk; Meece; Pintrich, 2014, S. 214. Vgl. Schunk; Meece; Pintrich, 2014, 214f. Vgl. ebd., S. 215. Vgl. Hasselhorn; Gold, 2013, S. 106.

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deeper cognitive engagement, thinking, and achievement«.459 Entsprechend sinnvoll ist es, bei den Lernenden Interesse zu wecken – und während der ganzen Unterrichtseinheit zu halten oder immer wieder neu zu entfachen. Auf diese Weise kann prozessorientiertes Interesse, das zu Beginn einer Einheit beispielsweise durch den Reiz des Neuen leichter geweckt werden kann, dauerhaft sogar in einem konstanten, strukturorientierten Interesse an einem Gegenstand münden.460 Schiefele gibt zu bedenken: »Interest should be thought of not only as an independent factor in the process of learning, but also as a desired outcome.«461 Obwohl es nicht immer einfach ist, ist das Entfachen von Interesse deshalb eine gängige Motivationsmethode. Das fachliche und überfachliche Interesse der Schüler kann laut einiger Studien etwa gefördert werden, wenn sie im handlungsorientierten Unterricht die Möglichkeit bekommen, möglichst selbsttätig zu arbeiten.462 Bei Erfolg verbinden sich die Erträge durch Motivierung mit den Effekten gesteigerten Interesses, was entsprechende Lernerfolgsresultate mit sich bringen und zu einer höheren affektiven Bindung zum Lerngegenstand führen kann.463 Wenn nun aber festgehalten werden kann, dass motivierte und/oder interessierte Lernende im Gegensatz zu desinteressierten oder demotivierten Schülern ein gesteigertes Lernpotenzial besitzen, stellt sich unweigerlich die Frage: Wie fabriziert man dieses Wundermittel, wie schafft man Motivation? Und: wie hält man sie konstant lebendig? Neben anderen Möglichkeiten bieten sich auch Comics als Werkzeug an. Ein einfacher, wenn auch nicht immer problemloser Weg zur Motivierung Lernender basiert auf unserer Neigung zum sozialkognitiven Lernen: Menschen können vom Verhalten und von den Einstellungen anderer lernen und sie unter gewissen Umständen übernehmen, vor allem, wenn die Vorbilder als solche beliebt sind, respektiert werden und authentisch agieren: »When teachers present a topic with enthusiasm, suggesting that it is interesting, important, or worthwhile, students are likely to adopt the same attitude. Effective teachers convey their enthusiasm with sincere statements of the value they place on a topic or activity.«464 Gleiches lässt sich für Lernmittel im Unterricht annehmen, die so besser an- und aufgenommen werden und damit eine höhere Effektivität entfalten können. Hier versteckt sich eine effektive Ressource für alle Lehrenden, die in ihrer Freizeit selbst Comicenthusiasten sind: Kinder und Jugendliche werden das Material wertvoller finden, wenn die Lehrperson es selbst mit Ernsthaftigkeit 459 460 461 462 463 464

Schunk; Meece; Pintrich, 2014, S. 218. Ebd., S. 215. 1991, S. 318, Herv. d. A. Vgl. Hartinger, 1997; zit. nach Meyer, 2010, S. 69. Vgl. Sieve; Prechtl, 2013 (a), S. 2. Gettinger; Kohler, 2006, S. 87.

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und Respekt behandelt. Und nicht zuletzt: Lehrende, die Spaß am Unterricht haben, weil sie ihre persönliche Leidenschaft als Ressource nutzen, Neues probieren und Abwechslung schätzen, können unter Umständen besser unterrichten, weil sie gelassener, optimistischer und insgesamt positiver eingestellt sind. Hier liegt also auch ein Zugang auch zu einem lernfreundlicheren Unterrichtsklima. Natürlich kann auch das Gegenteil der Fall sein: Ein in Hinblick auf sein Material skeptischer Lehrer, der nicht konstruktiv mit seiner Skepsis umgeht, wird nur schwer jemanden motivieren können. Amerikanische Unterrichtspraktiker wie Bakis oder Cary vertreten die Ansicht, dass man gar nicht viel mit Comics machen muss, um schon positive Reaktionen bei Lernenden hervorzurufen: Die motivierende Kraft von Comics scheint für sie geradezu ein Selbstläufer zu sein. Cary sieht einen Grund dafür darin, dass Comics in der Schule immer noch ein rares Gut sind.465 Er fährt fort: But seeing that enthusiasm and attention maintained through several comics activities spread over a number of days or weeks tells me that it’s largely the material itself that accounts for the positive, let’s-go-to-it! attitude in students. […] When teachers use comics, the material automatically gets the seal of approval.466

Schülerinnen fänden Comics schon an sich interessant und hätten automatisch einen emotionalen Bezug dazu.467 So ließe sich Motivation auch über längere Zeiträume halten. Sicher ist dies nicht flächendeckend der Fall, der Bezug zum Comic von verschiedenen Faktoren abhängig – und die Freude daran kann durch schlechten Unterricht auch ausgetrieben werden. Man muss auch bedenken, dass die amerikanische Comickultur von der deutschen divergiert, was zum Beispiel auch Einfluss auf die schülerische Erwartungshaltung hat. Dennoch sind diese empirischen Hinweise vielversprechend und stützen die Hinweise auf hohe Motivationseffekte durch comicgestützte Pädagogik. Die Arbeit mit Comics zielt also primär auf die intrinsische Motivation, und tatsächlich lassen sich Comics kaum zum Wecken extrinsischer Motivation nutzen – es sei denn man zielt beispielsweise auf die materielle Lernmotivation, indem man Comichefte als Anerkennung besonders guter Leistungen vergibt.468 Obwohl Optionen dieser Art nicht grundsätzlich abgetan werden sollten, so handelt es sich dabei jedoch kaum um comicdidaktisches Arbeiten. Die Autoren Pintrich und Schunk schlagen in ihrem Standardwerk zur Motivationspsycho-

465 466 467 468

Vgl. 2004, S. 19. Anderson; Wilson; Fielding, 1988, 19, 21. Cary, 2004, S. 21. Damit könnte man allerdings die Wertschätzung für das Medium in der Klasse erhöhen, da Comicgeschichten und -hefte als etwas Erstrebenswertes auftreten. Dadurch könnten sich spätere Einsätze der Comicdidaktik noch effektiver erweisen. Es zeigt sich erneut: Extrinsische Motivationsformen besitzen ihren ganz eigenen Wert.

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logie hingegen vier Förderstrategien zur intrinsischen Motivation vor, die sich alle auch durch Comics umsetzen lassen.469 Hier seien sie aufgezählt: Erstens: »Challenge students’ skills with activities of intermediate difficulty. Ensure that students do not become bored with easy tasks or reluctant to work on tasks perceived as overly difficult.« Da ein genereller mittlerer Schwierigkeitsgrad aufgrund der gängigen Heterogenität in einer Klasse hin und wieder nur begrenzt sinnvoll ist, könnte man ergänzen, Lernende im Idealfall binnendifferenzierend mit dem richtigen Anspruchsgrad herauszufordern. Da der Comic eine Ausdrucksform ist, die vielschichtige und vielfältige Zugänge zum Thema erlaubt, kann die Annäherung an sie mit den unterschiedlichsten Komplexitätsgraden erfolgen, die sich auch in individualisierenden Unterrichtsarrangements nutzen lassen könnten, um eine optimale Aufgabenpassung zu erzielen (vgl. II 4). Zudem ruft der Anblick von Comics und Comicstrips, die teilweise einen relativ geringen Textanteil haben, bei Schülerinnen und Schülern seltener das Gefühl von Überforderung hervor als beispielsweise lange kontinuierliche Texte. Überforderung beziehungsweise Gefühle der Aussichtslosigkeit angesichts des Materials können in Motivationskontexten nur als schwer destruktiv beschrieben werden. Comics eigenen sich auch dazu, um sie ergänzend zum Stoff den Schülern zu reichen, die einen niedrigschwelligen Zugang zum Gegenstand brauchen, um wieder die optimale Passung zwischen Über- und Unterforderung zu finden; zum Beispiel als Alternative zu Lehrtexten, die oft einen hohen bildungssprachlichen Kompetenzgrad fordern. Cary schreibt: Abundant visual clues increase the amount of comprehensible input and consequently boost reading comprehension […]. Increased comprehension, in turn, keeps the affective filter low by eliminating or considerably reducing the anxiety and frustration many students feel when confronting ›inconsiderate‹ text, text that is miles above their current independent reading level.470

Zweitens: »Curiosity: Present ideas slightly discrepant from learner’s existing knowledge and beliefs. Incorporate surprise and incongruity into classroom activities.« Beginnt man ein ernstes Unterrichtsthema mit Funnies für die Klasse, wird das die Gruppe überraschen und möglicherweise auch erfreuen. Es macht neugierig, weckt Interesse sowie tendenziell positive Assoziationen und motiviert zu einer

469 Vgl. im Folgenden 1996, 279f. 470 2004, S. 32.

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weiterführenden Beschäftigung unter anderem durch den Reiz des Neuen, der durch die Gewährleistung von Abwechslung im Unterrichtsgeschehen nicht unterschätzt werden sollte. Er kann den Weg für prozessorientiertes Interesse bahnen. Auch innerhalb einer Unterrichtseinheit kann das ein großer Ansporn sein. Ein Beispiel: In einer Religionsunterrichtseinheit zum Thema ›Tod und Trauer‹ bietet es sich an, Psalm 90 mit seinem Memento Mori-Motiv (Ps 90, 12) zu behandeln. Dieser regt an, das eigene Leben angesichts seiner Endlichkeit hin und wieder auch vom Ende her zu betrachten, um festzustellen, was und im Leben wirklich wichtig ist. Ein Comicstrip der Reihe Calvin und Hobbes (vgl. Abb. 10) gibt einen Eindruck von dieser Einstellung und verbindet sich gleichzeitig mit Humor und Leichtigkeit – und überrascht in dieser Einheit, die auch emotionale Herausforderungen bereithalten kann.471 Ein anderes Beispiel ist die Möglichkeit, die Shoah im Geschichtsunterricht ergänzend mit einem Comic zu behandeln. Dieses Vorgehen kann zuerst einmal unstimmig erscheinen, sodass »incongruity« und Ambivalenz erlebt werden, da die Schüler nicht die ersten wären, die sich darum sorgen würden, die Darstellung von Konzentrationslagern in Comicform sei möglicherweise unangemessen. Umso bedeutungsvoller kann die Arbeit beispielsweise mit dem vom Pulitzer-Preis geehrten Werk MAUS472 sein und umso interessierter könnten die Schülerinnen daran sein, wie sich das Thema so darstellen lässt. Andere Beispiele ließen sich für beliebig viele Fächer fortführen. Der Kerngedanke: Comics im Unterricht können durch ihre dort seltene Präsenz produktive Ambivalenz und strukturorientiertes Interesse auslösen, besonders in ernsten Kontexten, in denen sie viele spontan gar nicht vermuten. Auch sonst können Spannungen und Ambivalenz sich als wichtiger Motivationsfaktor erweisen; hier könnte vielleicht auch von einem Moment der Perturbation die Rede sein, einer »problemorientierte[n] Lernspannung«.473 Der Versuch, beispielsweise durch Literaturadaptionen in Comicform eine wachsende Lesemotivation aufzubauen (vgl. II 3.2.5), kann tatsächlich misslingen, wenn Original und Adaption zu eng beieinander liegen, wenn die Werke keine produktive Spannung aufweisen, wenn die Bilder gegenüber dem (teilweise übernommenen Original-)Text rein redundant sind, nur illustrieren und Denken

471 Man könnte hier also fast wortwörtlich von ›comic relief‹ sprechen. 472 Spiegelman, 1980. 473 Grümme, 2012, S. 130. Grümme erläutert in seinem Beispiel zur alteritätstheoretischen Religionsdidaktik das Potenzial, das im Bruch von Erwartungen liegt: »Jesus beispielsweise mit Gebetsriemen zu präsentieren, ihn als frommen Juden vorzustellen, der gerade aus seinem Glauben heraus die Gebote und die Feiertage hält, ein solcher jüdischer Jesus würde durch eine kontrastive Gegenüberstellung zu ihrem eigenen Vorverständnis bei den Schülerinnen und Schülern eine problemorientierte Lernspannung hervorrufen, aus der heraus sie sich mit diesem Jesus näher beschäftigen und sich mit ihrem eigenen Zugang zu ihm auseinandersetzen.« (2012, S. 130)

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und Phantasie nicht genug herausfordern.474 Die Bedeutung letzteren Faktors sollte auch in anderer Hinsicht hervorgehoben werden.

Abb. 10

Drittens: »Fantasy: engage students in make-believe activities, games, and simulations. Ensure that the motivational embellishments are task relevant and not too distracting.« Kleine Anregungen der Kreativität und Phantasie können Abwechslung in den Rationalitäts-orientierten Schulalltag bringen, entspannen, (auch gelangweilte) Kinder neu aktivieren und insgesamt die Motivation steigern, sich (wieder) mit dem Unterricht auseinanderzusetzen. Man könnte argumentieren, dass der Comicrezeptionsprozess per se ein kreativer Vorgang ist, da ein gewisses Maß an Imagination Voraussetzungen ist – während die eigentliche Lektüre oft mühelos und spielerisch erscheint (vgl. I 2.2 und II 3.3). Zweifelsohne regen sehr viele Comics aber auch inhaltlich die Phantasie an und fördern die Imaginationsfähigkeit: Durch sprechende Katzen, Schlitten-fahrende Tiger, Schreibmaschinetippende Hunde und neurotische oder cholerische Anatiden.475 Das Phantastische ist, wie in I 2.5.1 ausgeführt, ein gern gesehener Gast in der Comicwelt; viele Schaffende sehen hier die Möglichkeit, eine spannende Narration mit bildlicher, ausschmückender Ästhetik zu verbinden. Die Fantastik hat in Comics eine entsprechend lange Tradition und Comics, die die Phantasie anregen, sollten von Lehrenden nicht nur nicht verworfen, sondern auch bewusst eingesetzt werden. Ein letzter Vorschlag der Autoren Pintrich, Schunk et al. verweist im Grunde auf ein ganzes Feld, das die Motivation im Klassenzimmer dramatisch verbessern kann:

474 Vgl. Vanderbeke, 2010, S. 109. 475 Vgl. Die Katze des Rabbiners, Calvin und Hobbes, Die Peanuts, Onkel Dagobert und Donald Duck.

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Viertens: »Control: Allow students choices in activities and a voice in formulating rules and procedures. Foster attributions to causes over which they have some control.« Hier geht es im gewissen Sinne um Schülerorientierung, was ein dermaßen wichtiges Feld darstellt, dass ihm der ganze nächste Abschnitt gewidmet werden soll.

3.1.2 Schülerorientiert unterrichten ›Schülerorientierung‹ kann bedeuten, den Lernenden im Alltag mehr Mitbestimmungsrecht für ihre Lernprozesse einzuräumen. Das Gefühl, selbst entschieden zu haben, beispielsweise in Hinblick auf eine Deutschlektürewahl, schafft in den Lernenden möglicherweise ein Bewusstsein für die Verantwortung, einem Leseprojekt mit Ausdauer zu begegnen, da sie sich selbst für diesen Roman entschieden haben. Ferner gewährleistet die Lehrkraft durch Wahlmöglichkeiten, am Ende eine Lektüre zu bearbeiten, an der immerhin ansatzweise Interesse besteht. Ferner kann mit dem konstruktivistischen Ansatz dieser Arbeit die Bedeutung des selbstverantwortlichen, mitgestaltenden Lernens unterstrichen werden. Und schließlich motiviert es Kinder und Jugendliche, von ihren Lehrerinnen in ihren Wünschen und Interessen wahrgenommen zu werden, was auch zu einer Verbesserung des Lehrer-Schüler-Verhältnisses und damit zu einem positiven Lernklima führen kann. Mitbestimmungsrecht beinhaltet aber zwangsweise, den Lernenden reell unterschiedliche Wahlmöglichkeiten zur Verfügung zu stellen. Hier können Comics ins Spiel kommen und die Auswahl bereichern. Denn der Erarbeitungsweg eines Themas kann nur dann wirklich frei gewählt werden, wenn auch genügend Lernwege zur Auswahl stehen. Stellt man beispielsweise nur verschiedene Romane zur Erarbeitung von Gegenständen wie etwa Drogenmissbrauch (im Biologieunterricht) oder der DDR (Geschichte) zur Auswahl, wird Selbstbestimmung im Grunde nur vorgetäuscht, da es keine Wahlmöglichkeit für Mitglieder der Lerngruppe gibt, die keine Vorliebe für große Textmengen haben, gibt. Ein konstruktivistisch-angelegter Unterricht muss Individualisierung ermöglichen, zum Beispiel als adaptiver Unterricht nach Leutners sogenanntem Präferenzmodell, dessen Zweck darin liegt, besondere Begabungen oder Präferenzen aufzufinden und dann auch zu nutzen.476 Da viele fachliche, inhaltsbezogenen Kompetenzen im Sinne der gegenwärtigen Output-Orientierung unserer Bildungspläne gleichermaßen durch gute Comics wie durch andere Medien gewonnen werden können, ist es deshalb nur sinnvoll, 476 Leutner, 1992; vgl. Mendl, 2012, S. 108.

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Schülern auch diese Option anzubieten. Auch in Bereichen des eigenverantwortlichen Arbeitens kann eine entsprechende Materialbereitstellung sinnvoll sein. Hier kann Autonomie besonders gefördert werden und das motiviert Individuen.477 Die Idee der Schülerorientierung ist tatsächlich nicht neu. Der Grundsatz ›Look at the Child‹ (ehemals: ›Look at the Boy‹) wird zum Beispiel schon seit 1907 in der Pfadfinderpädagogik praktiziert und wirbt dafür, den Entwicklungsstand und die Lebenswirklichkeit der Kinder und Jugendlichen zu berücksichtigen und als Ausgangspunkt für die Arbeit zu nutzen. Auch in ausnahmslos allen gegenwärtigen Ansätzen der Religionspädagogik wird immer wieder dafür plädiert, zum Beispiel in der konstruktiv-kritischen Religionsdidaktik478 oder auch im sogenannten Korrelationsprinzip, in dem gilt, »dass sich theologische Inhalte immer auf die heutige Lebenswelt der Schülerinnen und Schüler beziehen müssen, sonst ist kein Lernerfolg möglich.«479 Auch ohne dass die Lehrkraft Wahlmöglichkeiten präsentiert, kann die Lebenswirklichkeit der Kinder also berücksichtigt und so mehr Interesse und Motivation im Unterricht initiiert werden. Hartmut von Hentig verweist auf das Potenzial, das aufrichtiges Interesse hervorbringt und die Disziplin, die motivierte Menschen in Hinblick auf ihr Ziel zeigen können: Schüler sind überall da diszipliniert, wo sie beteiligt sind. Man muss ihnen doch nur mal beim Skateboarden zugucken, da machen sie hundertmal dieselbe Übung, bis sie diese verdammte Drehung hinkriegen. Die Wahrheit ist: Wir verlieren die jungen Leute, weil wir uns nicht auf ihre Sache einlassen, ihnen Dinge aufdrängen, die in ihrem Leben jetzt keine Rolle spielen. […] Mein Rat: Versucht nicht immer die Schüler in den Lehrplan, die Leistung, die Bildung zu pressen, macht vielmehr das ihrem Alter Entsprechende und Verständliche richtig, und es wird ein besseres Ergebnis herauskommen als aus allem, was uns PISA eingegeben hat.480

Die Maßstäbe und Werturteile einer Erwachsenenwelt sollten tatsächlich hin und wieder kritisch überprüft werden, denn beispielsweise das Problem mangelnder Lesebereitschaft bereitet vielen Eltern und Pädagogen Sorgen, wenn sie die Tatsache übersehen, dass große Anteile Heranwachsender dafür gerne auf Comics zurückgreifen – die immerhin auch gelesen werden müssen.481 (vgl. auch II 3.2.5) Comics liegen vielen Kindern nachweislich näher als Romane oder andere Textgattungen, was genauso respektiert werden sollte wie die spezifischen Kompetenzen, die sich aus der regelmäßigen Rezeption ergeben

477 478 479 480 481

Vgl. Zierer, 2015, S. 51. Vgl. Lämmermann, 2012, S. 29. Heil, 2012, S. 55. Hentig, 2007, S. 160. Vgl. Ostertag, 2012, S. 157.

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(vgl. auch II 3.2.1).482 Die comicorientierte Lehrerin Maureen Bakis fasst zusammen: »Students feel respected for getting to read books they like, in school.«483 Mit einem breiten und detaillierten Wissen um Comicserien, ihre Charaktere, Running Gags oder Konflikte können viele Comicfans ihre Lehrerinnen mitunter überraschen: Kinder und Jugendliche rezipieren teilweise schon jahrelang dieselben Comics und sind auf diesem Gebiet mitunter Experten.484 Auch in der Schulpädagogik und der Fachdidaktik wird die Lebenswelt Heranwachsender als Ressource immer relevanter: Einen zentralen Stellenwert nehmen in der neueren Diskussion über Unterrichtsqualität – nicht nur im Kontext der Motivierung, sondern vor allem bei soziokonstruktivistisch geleiteten Lehr-Lern-Konzepten wie dem Lehrlingslernen oder den Verstehensankern – Konzepte wie Authentizität, Verknüpfungen mit dem Alltag und der Lebenswelt ein.485

Entsprechend wird die Integration der Alltagslebenswelt in den Unterricht inzwischen von vielen Bildungsplänen gefordert, obgleich dies inhaltlich nicht immer einfach ist. Eine frische Lösung für das Problem könnten comicdidaktische Ansätze darstellen: »The comics medium and themes found in graphic novels are more connected [than other forms of literature, Anm. d. A.] to student’s experiences and are more personally relevant to their lives. They don’t often get bored reading and give up.«486 Künstlerisch eigenständige Comicwerke, die nicht direkt für die Schule konzipiert wurden, motivieren dabei auch durch ihre Authentizität: Sie sind nicht wie die Arbeitstexte in den Schulmaterialien. Schulbücher und -texte stehen im Kontext der Schule, während authentische Materialien auf die reale Welt ›da draußen‹ mit all ihren Anforderungen verweisen. Sie vermitteln dadurch den Eindruck größerer Lebensrelevanz und stärkerer Zukunftsbedeutung. Unter Rückgriff der Forschungsergebnisse zu Comickonsum und Einstellungen Heranwachsender zu Comics muss man dabei beachten, dass nicht jeder Comic, nicht jede Gattung und jedes Genre den gleichen Lebensweltbezug aufweist und auch nicht alle Schülerinnen die gleiche Meinung dazu oder stabiles Interesse daran haben. Um sich an den Heranwachsenden und ihrer Lebenswelt zu orientieren, muss man prüfen, wo diese eigentlich stehen. Der Anteil von Jugendlichen, die nie mit Comics in Kontakt gekommen sind, dürfte – wie gesagt – in Deutschland sehr klein sein. Comics für Kinder werden nicht nur in jedem Supermarkt verkauft, sondern wandern auch als Leihgaben 482 483 484 485 486

Vgl. Bakis, 2014, S. 143. 2014, S. 3. Vgl. Cary, 2004, S. 21. Helmke, 2009, S. 217. Bakis, 2014, S. 3.

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zwischen Geschwistern und Freundinnen weitgehend ohne Fremdsteuerung hin und her. Comics für Kinder liegen beim Zahnarzt und Friseur aus, sie werden für Werbezwecke verteilt und sind in vielen öffentlichen und Schulbibliotheken zu finden. Sequenzielle Kunst ist in ihrer popkulturellen Form ein fester Teil unserer Kultur und Gesellschaft und es ist fast unmöglich, Kinder beständig von deren Lektüre abzuhalten. Jedoch ist das nicht überall so: Menschen mit einem Hintergrund von Zuwanderung und Flucht haben möglicherweise während ihrer Kindheit in den Heimatländern keinen Kontakt mit bunten Comicheften und -geschichten gehabt. Zum Beispiel, weil sie in den Augen Vieler für westliches Erbe stehen, das kulturell nicht überall willkommen ist oder schlicht, weil keine Comics verfügbar waren. Obwohl gerade für diese Kinder und Jugendlichen in den Sprachlernklassen Comics eine große Hilfe sein könnten, so obliegt es doch der Lehrkraft, Rezeptionskompetenzen zu überprüfen, zu thematisieren, und ggf. das Medium mit seinen Inhalten sensibel einzuführen – oder unter Umständen auch auf Comics zu verzichten. Auch das ist Schülerorientierung. Der weit größte Teil an Heranwachsenden wird in der Kindheit jedoch Erfahrungen mit Comics gemacht haben. Man kann davon ausgehen, dass das Medium Comic ab dem Grundschulalter allen Kindern bekannt ist und deshalb auch in späteren Jahren grundsätzliche Rezeptionskompetenzen, wie sie etwa für Disneycomics benötigt werden, vorliegen. Diese Rezeptionskompetenzen (vgl. I 2.2–2.4 und II 3.2.1) sind für gewöhnlich ungesteuert erworben worden und basieren auf Erfahrung und Erinnerungsvermögen (vgl. auch II 3.2.1).487 Diese Tatsache ist für Motivationszusammenhänge nicht irrelevant, da Lernende, wie schon erwähnt, in der Regel mehr involviert in Gegenständen sind, die sie entweder als wichtig oder nützlich erachten oder die sie interessieren, während es umgekehrt herausfordernd sein kann, Interesse an einem Thema oder an einem Material zu wecken, über das sie nur geringfügige Kenntnisse besitzen.488 Wenn in der Kindheit Erfahrungen mit Sequenzieller Kunst gemacht wurden, lässt sich motivationspsychologisch also sehr gut darauf aufbauen. Auch die lebenslange Faszination der Menschen für Erzählungen ist dabei nicht zu unterschätzen (vgl. III 3.2).489 Viele Kinder (und Erwachsene) greifen oft mit einer höheren intrinsischen Motivation zu narrativen Medien als zu informierenden Sachtexten. Comics dafür gibt es reichlich. Wertende (Vor-)Urteile seitens der Lehrkraft sind hier im Allgemeinen höchst unangebracht, da beispielsweise die beliebten frankobelgischen oder Carl Barks-Comics, die Lehrkräfte in ihrer Jugend selbst gelesen haben mögen, nicht automatisch höherwertig sind als die der von Kindern und Jugendlichen im 21. Jahrhundert prä487 Vgl. Bongco, 2001, S. 16. 488 Vgl. dazu Renninger, 1990; Schunk; Meece; Pintrich, 2014, S. 216. 489 Vgl. Naurath, 2005, S. 291.

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ferierten.490 Den Schülern entgegenzukommen heißt auch, ihre Werturteile ernstzunehmen und hin und wieder zu übernehmen: McCloud verweist auf die schon beschriebene »Aura der Coolness«, die Comics zumindest im amerikanischen Kontext umgibt.491 Man kann annehmen, dass sich diese Einstellung sehr oft auch hierzulande findet, besonders in Abgrenzung zur Schule, die sich definitiv nicht mit einer vergleichbaren ›Aura‹ umgibt. Comics sind anders. Sie haben in den meisten mentalen Repräsentationen nichts mit der Schule zu tun. Hier gibt es teilweise Action, Einiges zu lachen, Fantastisches, Keilereien, (kodierte) Schimpfwörter und viele bunte Bilder, kurz: all das, was sonst in der Schule nichts zu suchen hat und deshalb in diesem sonst so leistungszentrierten Komplex sehr reizvoll erscheint – und darum motiviert. Comics haben den Hang zu etwas leicht Subversivem.492 Und auch anregende Sachcomics oder ernste Inhalte im Comic erscheinen unkonventioneller. Diese assoziationstheoretischen Zusammenhänge sorgen einerseits dafür, dass man als Lehrkraft eventuell unrealistischen Erwartungshaltungen begegnen muss. Lernende müssen, in den Worten Al-Tabaas, zudem herausgefordert werden, »to suspend their preconceived notions of what a comic is and what it can do.«493 Erst dann kann man sich auch anspruchsvolleren Werken im Unterricht widmen. Nicht alle Comics sind eine ›leichte Lektüre‹, manche sind sehr ernst und fordern uns durch ihre Machart oder ihre Themen heraus. Andererseits lässt sich auf die positiven (Vor-) Urteile der Lerngruppe auch aufbauen: »Graphic Novel struck me as something new, fun, and exciting. This class was a breath of fresh air…«, zitiert Maureen Bakis, die einen ganzen Englischkurs der Interpretation von anspruchsvollen Comics gewidmet hat, dazu ihre Schülerin.494 Sollte sich das Medium in Zukunft stärker in der Schule etablieren, wird sich die Einstellung vieler Heranwachsender dazu deshalb mit Sicherheit verändern. Ein wahllos verabreichter Comic wird nicht (beziehungsweise: noch weniger) ausreichen, um das Interesse der Lerngruppe zu wecken und ihr das Gefühl zu vermitteln, das Medium sei speziell für sie ausgewählt worden. Je mehr sich Schülerinnen an Comics in der Schule gewöhnen, desto wichtiger ist deshalb für die Schülerorientierung die Relevanz von Faktoren wie die zielgruppenadäquate Gestaltung, die allgemeine Qualität und die inhaltliche oder graphische Innovativität des Comics, um ihr Interesse zu wecken und zu halten. Bis dahin ist es aber noch ein weiter Weg. Bakis konnte darum ungewöhnlich hohe Motivationseffekte verzeichnen und das Medium wurde von ihrer Gruppe außergewöhnlich gut angenommen, darunter auch von

490 491 492 493 494

Vgl. auch Hoffmann, 2012, S. 126. 2001 (a), S. 16. Vgl. dazu auch Cary, 2004, S. 32. Al-Tabaa, 2014, unpag. Bakis, 2014, S. 144.

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vielen, die herkömmlicher Literatur eher abweisend gegenüberstanden495: »When I picked my classes for this year I kept my hatred for reading in mind. I have always loved art and I thought that combining art and English, with graphic novels would be the perfect course for me«, so eine ihrer Schülerinnen. Die allgemeine Folge war auch eine beachtlich gestiegene Motivation im Bereich des Lesens.496 Zum Teil ist dies sicher gesteigertem Selbstvertrauen angesichts erster Leseerfolge in der Schule zuzuschreiben.497 Auch Jugendliche, die andere (Print-)Medien präferieren und keine Comics (mehr) lesen, haben nicht automatisch eine schlechte Meinung von ihnen. Die positive Einstellung ist oft noch vorhanden, da die Beschäftigung mit Comics bewusst oder unbewusst mit Gefühlen wie Ungezwungenheit oder Spaß assoziiert wird. Hier kann man Lernenden entgegenkommen und gleichzeitig diese positiven Assoziationen nutzen, um zu motivieren und die entstehende Freude mit dem Unterrichtsgegenstand zu verknüpfen. In dieser Gruppe von Jugendlichen, die in ihrer Kindheit Comics gelesen haben und ihnen immer noch positiv gegenüberstehen, kommen auch Mittelund Oberstufenschüler vor, die nach wie vor im privaten Rahmen zu Comics greifen. Häufig findet die Comicrezeption eher vorreflexiv statt, wodurch sich aber ein eigenes didaktisches Feld auftut: Im Unterricht können nicht nur positive Assoziationen, sondern auch Ressourcen von Rezeptionskompetenz didaktisch genutzt werden, indem beispielsweise die viellesenden ›Comicexperten‹ anderen tiefere Rezeptionskompetenzen vermitteln. Mangafans sind zum Beispiel damit vertraut, dass Comics japanischer Herkunft von rechts nach links gelesen werden müssen. Manchmal ist die Reihenfolge der Panels für unerfahrene Leserinnen nicht ganz klar, was für Verwirrung hinsichtlich der Handlungsabfolge sorgen kann. Vor Einsetzen comicdidaktischer Mittel sollte man überprüfen, welche Comics, welche Gattungen und Genres in der Klasse gerne gelesen werden und darauf entsprechend reagieren. Sensibilität ist noch einem anderen Falle angesagt: Andere Unterrichtspraktiker weisen […] darauf hin, dass es auch das gegenteilige Phänomen gibt: dass sich Schülerinnen und Schüler gegen einen sich als anbiedernd empfundenen Unterricht wehren und die Grenze zu dem, was sie außerhalb von Schule und Unterricht interessiert, gewahrt wissen wollen (z. B. ihre Musikvorlieben nicht im Unterricht auch noch analysiert und zerredet werden)498.

Mit einer expliziten und impliziten Anerkennung der Schülerinteressen und -ressourcen liegt man im Interesse der Schülerorientierung jedoch selten ver495 496 497 498

Vgl. ebd., S. 145. Vgl. ebd., S. 144. Vgl. ebd., 2,3. Helmke, 2009, S. 218.

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Konkretisierung: Comics als Chancengeber in Unterrichtsprozessen

kehrt. Die Comicexpertise der Lernenden kann zuweilen sogar die Kompetenz der Lehrerinnen übersteigen. Möglicherweise steht auch eine Comicserie hoch im Kurs, die dem geneigten Kollegen noch unbekannt ist. Ein Blick darein lohnt sich immer. Der traditionelle Wissensvorsprung des Erwachsenseins gegenüber Kindern ist im Bereich der Comickompetenz nicht selbstverständlich. Das kann Lehrpersonen in ihrer Rolle herausfordern.499 Der Einbezug von Manga-Comics, die zu allen Themen und in allen Sparten erscheinen, sollte aufgrund ihrer steigenden Popularität zu didaktischen Zwecken beispielsweise nicht ausgeschlossen werden.500 Leider herrschen besonders in diesem Bereich bei vielen Lehrerinnen große Wissenslücken.501 Manga-Fans und Lehrkräfte kommen eher selten zusammen, um sich auszutauschen. Einige Heranwachsende stehen Comics durchaus auch ablehnend gegenüber: Aus voller Überzeugung, unbewusst oder auch zum Schein. Manche Schülerinnen hassen das Lesen so sehr, dass auch der beste Comic das nicht kompensieren kann. Dieser Teil der Lerngruppe sollte nicht übergangen werden. Für die Lehrkraft ist vor allem Bewusstsein gefragt, da negative Assoziationen oder Gefühle gegenüber Medium, Stilmitteln oder Figuren sich zum Beispiel auch auf die Glaubwürdigkeit des im Comic vermittelten Wissens selbst übertragen können.502 Unter anderem kann zweierlei die Ursache sein: Das Gefühl, Comics seien ausschließlich ›Kinderkram‹ oder aber eine Ablehnung der populären Inhalte, weil man sich selbst darin nicht (mehr) finden konnte. Letzteres ist möglicherweise häufig bei Mädchen der Fall. Wenn sich an der Oberfläche Werturteile gebildet haben, die jene Stimmen aus der Erwachsenenwelt, die Comics als wertlose oder infantile Lektüre beschreiben, übernehmen, so lässt sich dies unter Umständen damit erklären, dass zu geringe Kenntnisse von anspruchsvollen Comics vorhanden sind. Hier kann Schülerorientierung ebenfalls ansetzen, wenn beispielsweise dieser Kritik an Comics Raum gewährt wird. Eine explizite Thematisierung gegenwärtiger Comicwelten, oder schlicht der richtige Comic, zur richtigen Zeit, mit Authentizität präsentiert, können auch zum eigenständigen Überdenken entsprechender Bewertungen führen, wodurch auch die Comic-ablehnende Schülerschaft mit ihren lebensweltlichen Vorbehalten wahr- und ernstgenommen wird. Und das hat auf Kinder fast immer einen Effekt. Motivation, sich näher in den Unterricht einzubringen, kann eine positive Folge sein. Wenn Schülerinnen mit wachsendem Alter den Kontakt zur Sequenziellen Kunst verlieren, dann lautet die Lösung, will man der Comicdidaktik eine Chance verschaffen, neue Comics für sie zu finden, die altersgerecht sind 499 500 501 502

Vgl. dazu Grethlein, 2005, S. 284. Vgl. dazu Wiesner, 2014, S. 105. Vgl. Hoffmann, 2012, S. 126. Vgl. Oechslin; Keller, 2013, S. 18.

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und gegebenenfalls auch herausfordern. Die immer populärer werdende Gattung von in sich abgeschlossenen und anspruchsvollen Comics, die sich überwiegend an Erwachsene richtet, ermöglicht neue Zugänge für ein Lesepublikum mit gewissem Reifegrad. Wenn sich nicht gerade die Schulbibliothek dem Medium geöffnet hat, gibt es wenig Berührungsflächen Heranwachsender damit, sofern sie nicht selbst aktiv danach suchen. Hier liegt aber ein weiterer relevanter Punkt: Selbst wenn das Interesse geweckt ist, kann die Lektüre einiger Graphic Novels einen demotivierenden Effekt haben, wenn der Anspruchsgrad die Rezeptionskompetenz übersteigt. Geübte Comicleserinnen etwa sind in der Lage, auch komplexe Panelanordnungen mit Panels in unterschiedlichen Formen (kontextunabhängig) intuitiv in der richtigen Reihenfolge zu lesen, während Menschen, die so gut wie gar keine Erfahrungen mit Comics haben auch dann in die typische Z-Leserichtung zurückfallen, wenn diese nur Verwirrung stiftet.503 Auch Werken wie beispielsweise Ein neues Land504 oder From Hell505 ist ohne inhaltliche Vorentlastung oder Konzentration schwer zu folgen. (Ein neues Land verlangt als Pantomime-Comic ohne Worte sehr genaues und bewusstes Deuten der Bilder, während From Hell narrativ sehr komplex konstruiert ist.) Dies wiederum spricht aber für die (angeleitete) Behandlung des Mediums in der Schule. Wenn in der Lerngruppe noch nicht genug Wissen vorliegt, bietet die Einführung in neue Gattungen und Genres die Möglichkeit zur Horizonterweiterung, Erschließung neuer Lesewelten und so der literarischen Bildung. Eine Vorerfassung der Rezeptionsgewohnheiten in der Klasse ist sinnvoll, da diese wahrscheinlich wie so Vieles auch mit Milieu und kulturellem Familienkapital korrelieren, ohne dass der Forschung schon empirische Beiträge dazu vorliegen. Da im Allgemeinen weniger Mädchen als Jungen – spätestens mit Eintritt in die Adoleszenz – zu Comics greifen, lohnt es sich auch hier, die lebensweltlichen Gründe zu erfassen, um auch auf junge Frauen und Mädchen ausreichend einzugehen. Im Bereich der Comicdidaktik ist zugunsten von Gendersensibilität Aufmerksamkeit gefragt, weil im Comicrezeptionsverhalten in dieser Hinsicht Hinweise auf deutliche Unterschiede zu verzeichnen sind. Ca. 35 % der von Ostertag befragten Mädchen der achten Klassen gaben an, literarische Texte zu präferieren, was einen hoch signifikanten Unterschied zu den Lesegewohnheiten ihrer männlichen Klassenkammeraden darstellt. Mehrmals im Monat greifen etwa 40 % weniger Mädchen als Jungen zum Comic.506 Es ist bereits erläutert worden, dass dies möglicherweise geringeren Leseanreizen für Mädchen geschuldet ist, die sich deshalb anderen Medien zuwenden (vgl. dazu I 2.6). Ei503 504 505 506

Vgl. Cohn; Campbell, 2015, S. 194. Tan, 2012. Moore; Campbell, 2013. Vgl. Ostertag, 2012, S. 158.

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nerseits sollten Lehrkräfte diese Hindernisse nicht überschätzen, denn immerhin mehr als ein Viertel von den von Ostertag exemplarisch befragten Schülerinnen scheut sich auch in der achten Klasse nicht vor dem Griff zum Comic – und das mehrmals im Monat.507 Andererseits darf eine sensible Lehrkraft keinesfalls in dieselbe Falle ›tappen‹ wie die gängigen Verlage und Mädchen mit ihren thematischen Interessen und ästhetischen Vorlieben vernachlässigen. Das ist aber kein Ding der Unmöglichkeit, da die Comicwelt auch von weiblichen Autorinnen, Künstlerinnen und Figuren besiedelt wird. Ferner, wie bereits aufgezeigt, bringen gerade Mädchen den Manga-Markt voran, wahrscheinlich, weil sich in dieser Sparte auch mehr für Mädchen im Pre-Teen-Alter zugeschnittene Formate finden. Mangafans bleiben dem Segment oft bis Erwachsenenalter treu, da die Industrie zielgruppenbewusst arbeitet und dem Publikum auch jenseits der Adoleszenz entsprechende Angebote macht. Hier zeichnet sich die Zukunftsbedeutung aller didaktischen Erwägungen ab, da guter Unterricht Impulse für lebenslanges Lernen und Lesen geben sollte. Abgesehen davon, dass auch Jungen aus verschiedenen Gründen immer häufiger zum Manga greifen, kann der Einbezug weiblich sozialisierter Schülerinnen durch die Wahl von Manga erfolgen, aber auch durch sensibles Prüfen der in anderen Comics involvierten Figuren und deren strukturelle und inhaltliche Repräsentation des Weiblichen. Auch schlichte Maßnahmen, wie das Material einem ›Bechdel-Test‹ zu unterziehen, können hilfreich sein.508 Frisches Material, immer neue Gattungen und Genres in der comicgestützten Arbeit können nachhaltig zu einer Horizonterweiterung aller Beteiligten beitragen. Tatsächlich könnte man erwägen, ob der Grad der Schülerorientierung überhaupt bei verschiedenen Gattungen unterschiedlich hoch ist. So ist es gut denkbar, dass Funnies, lustige Comicstrips, bei Altersgemäßheit und angemessenem Einsatzgebiet von allen Schülern in der Klasse positiv aufgenommen werden. Gleiches könnte man bei Sachcomics vermuten. Diese könnten höchstens einen demotivierten Effekt haben, wenn die Schülerorientierung aus dem Blick gerät: Wenn bei binnendifferenzierenden Arrangements Comics ständig und systematisch als Alternative für Teile der Klasse, die als ›schwächer‹ gelten, 507 Ebd. 508 Der ›Bechdel-Test‹ geht auf die Comic-Künstlerin Alison Bechdel zurück. Er dient dem Zweck zu überprüfen, ob weibliche Figuren in einem Film (oder eben in einem Comic) beispielsweise nur als ›Quoten-Frauen‹ eingesetzt werden, bewertet also den Status der Frauenfiguren und ob sie wirklich gleichberechtigt zu den Männern die Handlung einer Erzählung vorantreiben und unterzieht das Material einer Prüfung hinsichtlich Genderrollenstereotype. Folgendes sind die Kriterien, um einen Bechdel-Test zu bestehen: 1) Es muss mindestens zwei Frauen in der Erzählung geben. 2) Sie müssen beide einen Namen tragen. 3) Sie müssen sich miteinander unterhalten, ohne dass es in dem Gespräch (nur) um Männer geht. Eine bemerkenswert hohe Zahl von Mainstream-Filmen besteht diesen Test nicht!

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verabreicht werden, könnte ihnen mit der Zeit ein wachsendes Stigma anhaften. Comics seien nur etwas ›für die Dummen‹, mögen einige ständig mit Comics konfrontierte Kinder verinnerlichen, wenn sie ohnehin ein niedriges Selbstbewusstsein haben. Derlei Effekte sollten nicht nur zur Vermeidung der Demotivation vermieden werden, sondern weil sie noch auf ganz anderen Ebenen pädagogische-destruktiv wären. Sensibilität ist das Stichwort: immer wieder prüfen, wie Schülerinnen agieren und reagieren. Man kann zusammenfassen: Comics spielen mal eine größere, mal eine kleinere Rolle im Leben heutiger Heranwachsender. Dennoch sind sie präsent, aus unserer Kultur nicht wegzudenken und noch immer nicht von digitalen Medien aus der Lebenswelt der Jugendlichen vertrieben. Auch können mit der richtigen Auswahl von Werken hochwahrscheinlich mentale Repräsentationen der Medienform aktiviert werden, die positiv sind und so motivierende Effekte nach sich ziehen können. Der Einsatz von Comics ist dennoch nicht automatisch schülerorientiert, da man zielgruppenbewusst Rezeptionskompetenzen und Gattungspräferenzen beachten sollte, um die Lernenden nach dem ISO-Prinzip dort abzuholen, wo sie eben stehen. Sind diese Voraussetzungen jedoch überprüft und ist das präsentierte (oder auch zu verfassende) Werk altersgemäß, zumindest verhältnismäßig gut an Rezeptionskompetenzen und -präferenzen orientiert und tendenziell genderneutral, dann könnten comicdidaktische Mittel Werkzeug einer sehr klaren Schülerorientierung sein. Motivationseffekten, wie sie beispielsweise Bakis verzeichnet, steht damit nichts im Wege.

3.1.3 Eine lernförderliche Atmosphäre schaffen Wenn eine Lernumgebung das Lernen der Schülerinnen und Schüler erleichtert oder auf andere Weise positiv beeinflusst, dann kann ihr ein ›lernförderliches Klima‹ attestiert werden.509 Dabei geht es nicht primär um räumliche Faktoren, sondern um die Atmosphäre im Unterricht, das soziale Klima und dessen psychische und emotionale Auswirkungen, die Einfluss auf die Lernbereitschaft haben. Deshalb hängt der Aspekt stark mit der Schülermotivierung zusammen, da im Grunde nur in einer positiven Lernatmosphäre Freude am Lernen aufkommen und die intrinsische Lernmotivation geweckt werden kann. Obwohl ein lernförderliches Klima durch eine Vielzahl von Faktoren geprägt wird und deshalb nicht einfach durch die Arbeit mit Comics generiert werden kann, so kann diese doch innerhalb gewisser Grenzen verstärkend wirken: Comics in der Schule können durch inhärente Schülerorientierung die Freude an der Lernumgebung (wieder-)beleben, mehr Humor im Unterricht etablieren und – sofern sie konkret 509 Vgl. Helmke, 2009, S. 226.

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für einen konstruktiven Umgang mit Heterogenität eingesetzt werden – ein Klima der Wertschätzung und Kooperation begünstigen. Bevor diese drei Punkte erläutert werden, sollen jedoch die Facetten eines ›lernförderlichen Klimas‹ eine kurze Darstellung erfahren. Obwohl das Prinzip auf den ersten Blick vage wirkt, taucht das ›lernförderliche Klima‹ als Qualitätsbereich in allen wichtigen Klassifikationen der Unterrichtsqualität auf.510 Über die Bedeutung dieses Faktors für schulische Lernprozesse besteht darum kaum Zweifel. Die Terminologien mögen variieren und unterschiedliche Schwerpunkte in der Definition gesetzt werden, Einigkeit besteht jedoch darin, dass das Unterrichtsklima in einer Klasse sehr stark durch die Lehrenden und deren Haltung ihren Schützlingen gegenüber geprägt wird, damit eine vertrauensvolle und positive Atmosphäre entsteht. Für Brophy läuft alles auf die Unterstützung hinaus, die der einzelne Lehrer zu geben bereit ist: To create a climate for moulding their students into a cohesive und supporting learning community, teachers need to display personal attributes that will make them effective as models and socializers: a cheerful disposition, friendliness, emotional maturity, sincerity, and caring about students as individuals as well as learners. The teacher displays concern and affection for students, is attentive to their needs and emotions, and socializes them to display these same characteristics in their interactions with one another.511

Helmke nennt dafür konkret unter anderem den konstruktiven Umgang mit Fehlern im Unterricht, eine Atmosphäre der Gelassenheit, den Abbau hemmender Leistungsangst sowie ein angemessenes Unterrichtstempo und scheinbar kleine Gesten, wie ausreichende Wartezeiten nach einer Frage, um zum Beispiel auch schüchterne Teile der Lerngruppe zu ermutigen, sich zu melden.512 Für ihn ist die Wertschätzung gegenüber den Kindern und Jugendlichen der Ausgangspunkt, also Lernende als Menschen unabhängig von ihren Leistungen zu schätzen und ihnen Respekt entgegenzubringen.513 Viele der in diesem Kontext genannten Faktoren müssen comicdidaktischen Überlegungen vorausgehen und haben Anteil an deren Gelingensbedingungen, denn durch die Arbeit mit Comic selbst können sie nicht aus dem Nichts geschaffen oder kompensiert werden. Dennoch gibt es im Bereich der lernfreundlichen Atmosphäre einige Aspekte, in denen die Comicdidaktik unterstützend und verstärkend wirken kann. Erstens: Die Arbeit mit Comics im Unterricht kann die Schülerorientierung derart stärken, dass sich das Klima einer Lernumgebung leicht ändert, weil sich 510 511 512 513

Vgl. z. B. ebd., 226ff.; Meyer, 2010, S. 17; Brophy, 2000, S. 8. 2000, S. 8. Vgl. 2009, S. 228ff. Vgl. 2009, S. 230.

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die Lernenden mit ihren Präferenzen, Interessen und Begabungen wertgeschätzt und respektiert fühlen. Das wiesen zum Beispiel Carroll und Dorrell mit einer Bibliotheksstudie nach, die zeigt, wie sich das pädagogische Klima eines Lernraumes durch den Einsatz von schülernahen Comics verbessern kann: Nachdem sie einen Schritt auf die Interessen der Junior High-Schüler gemacht hatten, indem sie ein Regal mit Comics in die unterfrequentierte Schülerbibliothek stellten, verbesserte sich das Image der Bibliothek schon binnen weniger Tage: »Comic books signaled students that there was something in the library for them; that the library was open and comfortable. This overall perception of comic books as an indication of an open climate may have contributed greatly to the increase in both library traffic and circulation.«514 Weil die Bibliothek freundlicher wahrgenommen wurde, wurde sie häufiger besucht und auch das Ausmaß von Disziplinproblemen in den Räumlichkeiten sank drastisch.515 Die Atmosphäre hatte sich verwandelt. Dieser Effekt könnte sich möglicherweise in abgeschwächter Form auch im Unterricht einstellen, wenn er sich stärker an den Interessen der Lerngruppe auszurichten beginnt. Zweitens: Die Arbeit mit Comics kann effektiv zu einer gelösten und entspannten Lernatmosphäre beitragen, wenn dieses gezielt eingesetzt werden, um Spaß zu generieren und für die Etablierung von (mehr) Humor im Unterricht zu sorgen. Auch wenn nicht alle Comics komisch sind, hat sich seit Beginn ihrer Zeit als Massenmedium das Genre der ›Funnies‹ bis heute gehalten und fest etabliert. Häufig sind Comicstrip-Figuren wie Garfield, Hägar, Charlie Brown etc. und deren grundsätzliche Konflikte weithin bekannt, wobei dies zum Verständnis der Pointen oftmals nicht nötig ist. Viele Menschen haben ihren eigenen Lieblingscomicstrip und große Sympathien für die darin lebenden Figuren, was zu gegenstandsorientiertem Interesse an ihnen führt. Dabei sind die kurzen Comics nicht notwendigerweise inhaltlich flach. Es spricht nichts dagegen, Funnies comicdidaktisch in den Unterricht mit einzubinden, zum Beispiel auf dem Smartboard groß für alle und zur kollektiven Lektüre projiziert: Sowohl als Einleitung zu sich aus dem Einzelstrip entnehmbaren Gegenständen als auch schlicht zur Auflockerung der Atmosphäre, wenn dadurch nicht der rote Faden der Stunde beeinträchtigt wird. Spaß und Humor steigern nicht nur die Unterrichtsmotivation, sondern verbessern auch das Unterrichtsklima, weshalb dieser Faktor hier noch einmal deutlich hervorgehoben werden soll. Helmke erklärt: Zahllose Untersuchungen der Schulforschung haben belegt, dass es für die Lernfreude, das Lerninteresse und die Lernmotivation günstig ist, wenn die Atmosphäre entspannt

514 Vgl. Dorrell; Carroll, 1981, S. 19. 515 Vgl. ebd., 18f.

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ist, wenn öfter auch mal gelacht wird, wenn Lehrer sich selbst nicht immer uneingeschränkt ernst nehmen und als humorvoll wahrgenommen werden.516

Auch die Unterrichtsforscherinnen Gettinger und Kohler weisen auf die positiven Effekte von Humor hin: »The best junior high school teachers solicited and accepted student ideas, joked and smiled frequently«517. Damit fassen sie den angloamerikanischen Forschungsstand zum Thema bündig zusammen. Es sollte angedacht werden, explizit Funnies auszuwählen, deren Figuren von Schülerseite geschätzt werden, um Interesse an den Vorlieben der Schülerinnen zu zeigen oder sie auch selbst Comicstrips mitbringen zu lassen. Dies vermittelt Respekt und Wertschätzung. Natürlich muss erwähnt werden, dass diese spezielle Verknüpfung der Räume von Schule und Freizeit pädagogische Vorteile (zum Beispiel den didaktischen Lebensweltbezug!), aber auch Risiken mit sich bringt, denn nicht allen Jugendlichen ist zum Beispiel diese Vermischung der Lebensbereiche willkommen. Aus einem assoziationstheoretischen/konnektionistischem Blickwinkel lässt sich aber annehmen, dass die Beschäftigung mit dem Medium, das sonst eher außerschulisch und ohne Leistungsansprüche rezipiert wird, lösend und motivierend wirken kann – sofern diese Wirkung nicht zunichte gemacht wird, indem zum Beispiel der Arbeit mit Comics durch intransparente Bewertung oder Ähnliches langfristig die Freude geraubt wird. Sollte sich das Medium aber in Zukunft stärker in der Schule etablieren, könnte sich in diesem Punkte natürlich etwas verschieben! Im besten Falle aber wird außerschulische Leichtigkeit518 in den Unterricht geholt, es wird gelacht, wodurch sich der Pegel neuroendokriner Hormone wie Cortisol reduziert, die mit Stressreaktionen in Zusammenhang stehen, wie sie im Laufe eines Schultages durch Notenbesprechungen, Klassenarbeiten oder auch soziale Differenzen mit der Peergroup vielfach aufkommen können.519 Lachen hat deshalb nachweislich einen stressreduzierenden Effekt, der Entspannungsmethoden wie Meditation und Progressiver Muskelentspannung nahekommt.520 Auf diese Weise können Comics, die zum Lachen anregen, nicht nur allgemeinen (Schul-)Stress reduzieren, sondern möglicherweise auch ein wenig zum Abbau von hemmender und dysfunktionaler Leistungsangst beitragen.521 516 2009, S. 225. 517 2006, S. 87. 518 Es sei angemerkt, dass freilich nicht alle Schüler ein ›leichtes Leben‹ außerhalb der Schule haben. Von vielen Kindern und Jugendlichen werden zu Hause Kompetenzen gefordert, die die schulisch geforderten im Anspruchsgrad weit übersteigen – zum Beispiel wegen Differenzen, Pflichten oder Verantwortungsbürden in der Familie. Auch dabei geht es jedoch selten um Comics. 519 Vgl. Berk; Tan; Fry, William F., Napier, Barbara J., Lee, Jerry W.; Hubbard; Lewis; Eby, 1989, S. 390. 520 Vgl. Rißland, 2002, S. 41. 521 Vgl. dazu Helmke, 2009, S. 232ff.

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Ferner könnte durch das Bereitstellen von Funnies die Sympathie für die Lehrperson gesteigert werden. Rißland fasst zusammen: »Humor und Lachen sind wichtige Quellen der Freude und des Vergnügens und wir mögen Leute, die uns Vergnügen bereiten.«522 Und eine gute Beziehung zwischen Lehrenden und Lernenden ist, wie schon beschrieben, die beste Basis für das positive Unterrichtsklima. Aus der Unternehmensforschung, die in diesem Fall auf LehrerSchüler-Beziehungen übertragen werden könnte, ist bekannt, dass humorvolle Vorgesetzte nicht nur besonders geschätzt, sondern auch hinsichtlich anderer Merkmale positiver beurteilt werden und insgesamt die Arbeitszufriedenheit steigern.523 Humor wirkt in Arbeitskontexten teambildend und stärkt den Zusammenhalt.524 Soziale Distanzen werden verringert, denn das Lachen in der Gruppe vermittelt den Eindruck, etwas miteinander zu teilen, so dass die Gruppenkohäsion gefördert wird.525 Und schließlich besitzt (angebrachter) Humor das Potenzial, Spannungen und Frustrationen abzubauen, Langeweile zu verringern und den Transfer von Informationen zu erleichtert – essentielle Dimensionen der Unterrichtsqualität526. Spaß – sofern dabei der Unterrichtsgegenstand nicht völlig aus den Augen gerät – veranlasst Schüler zudem dazu, sich offener und tendenziell intensiver mit dem Lernstoff zu beschäftigen.527 Cary erklärt: »Another big reason students may have lower affective filters while doing comics activities is because of the inherent entertainment value for comics – the ›fun factor‹.«528 Zum Beispiel könnten die kurzen Comics als Ritual zu Beginn jeder eigenen Stunde eingesetzt werden, um den Grundstein für eine gelöste Atmosphäre zu legen und einen Moment der Aufmerksamkeit sowie freudige Antizipationen auf den Unterrichtsbeginn zu generieren. Eine positive affektive Bindung zum Lerngegenstand verbessert zudem die Aufnahme und das Behalten von Informationen.529 Drittens: Comics im Unterricht können dem lernförderlichen Klima zuträglich sein, wenn sie explizit für individualisierende oder binnendifferenzierende Unterrichtsprozesse eingebunden werden. Dies wird im Abschnitt II 4 näher erläutert werden. Hier sei nur erwähnt, dass sich lernförderliches Klima auch dadurch auszeichnet, dass in der Klasse weniger eine Atmosphäre der Konkur-

522 2002, S. 42. 523 Vgl. Decker, 1987, S. 225. Dies gilt besonders für die Wahrnehmung jüngerer Angestellter, was die Übertragung auf Schülerinnen und Schüler weiter erleichtert (vgl. Decker, 1987, S. 228). 524 Vgl. Duncan, 1982, 138, 140. 525 Vgl. Rißland, 2002, S. 43; Duncan, 1982, 138, 140. 526 Vgl. Duncan, 1982, 139f. 527 Vgl. Cary, 2004, S. 19. 528 2004, S. 13. 529 Vgl. Sieve; Prechtl, 2013 (a), S. 2.

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renz als der Kooperation herrscht.530 Comicgestütztes Unterrichten kann im Anliegen der (Religions-)Pädagogik der Vielfalt – richtig angewandt – die Atmosphäre in der Gruppe verbessern, indem sie instrumentarisch auch herausgeforderten Individuen Raum zum Wachsen und zur Steigerung des Selbstvertrauens gibt, weil die Schere zwischen leistungsstarken Schülern und jenen, die noch über einen geringeren Kompetenzgrad verfügen, nicht ins Unendliche wachsen lässt und auch Lernenden, die das Fach aufgrund zu vieler Misserfolge bereits aufgegeben haben, immer wieder neue Chancen und Zugänge bietet. Meyer spricht in diesem Zusammenhang von »Gerechtigkeit und Fürsorge« als Merkmal des positiven Unterrichtsklimas.531 Durch die vielfältigen Möglichkeiten mit Comics zu unterrichten könnte sich auch der Horizont zu vielfältig(er)er Leistungsbewertung öffnen, die Schülerinnen anhand motivierender, individueller Leistungsstandards beurteilt. Für Brophy ist diese Vielfältigkeit der Benotung ein Kriterium guten Unterrichts.532 Und auch das Unterrichtsklima könnte davon profitieren. Es lässt sich zusammenfassen, dass die gezielte Arbeit mit Comics das Unterrichtsklima tendenziell verbessern kann – vor allem durch positive Effekte, die aus Humor, Gelassenheit und Lachen resultieren: Humorvolle Comicstrips im Unterricht können das Stresslevel in der Klasse reduzieren, die Gruppenzusammengehörigkeit steigern und die Lehrer-Schüler-Beziehung verbessern. Spaß kann die individuelle Lernleistung, die Aufmerksamkeit und Verarbeitungstiefe steigern. Zudem ist der Einsatz von Comics eine hervorragende Gelegenheit und Möglichkeit, um die Interessen und Vorlieben der Gruppe wertschätzend zu berücksichtigen, und so das Lernklima durch nachdrückliche Schülerorientierung zu verbessern. Und schließlich können comicdidaktische Mittel positive Auswirkungen auf die Unterrichtsatmosphäre haben, wenn sie als Instrument für den proaktiven Umgang mit Heterogenität dienen, also dazu, diejenigen zu fördern, denen sonst vielleicht Benachteiligung widerführe. Denn dadurch entsteht ein Klima der Kooperation und Verantwortung in der Gruppe, die den Abbau von Leistungsangst begünstigt.

530 Vgl. dazu Zumhasch, 2006. 531 2010, S. 17. 532 2000, S. 161.

Schlüsselkompetenzen stärken

3.2

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Schlüsselkompetenzen stärken

Im Folgenden geht es um Kompetenzen, die für den Religionsunterricht, aber ebenso für andere Fächer, sprich: bereichsübergreifend wichtig sind. Ein kompetenzorientiertes Unterrichten kann auch positiv Einfluss auf die Unterrichtsqualität nehmen.533 Schlüsselqualifikationen sind schon lange ein nicht unwichtiges bildungspolitisches und vor allem berufspädagogisches Anliegen.534 Leider handelt es sich dabei um alles andere als ein »trennscharf definiertes pädagogisches Konzept«.535 Unter anderem deshalb, weil sich jeder etwas anderes konkret darunter vorzustellen scheint: Didi et al. haben Anfang der Neunzigerjahre bei einer Sichtung deutschsprachiger berufspädagogischer Literatur nicht weniger als 654 »wünschenswerte« Schlüsselqualifikationen gefunden.536 Die Situation ist heute ähnlich. Möglicherweise ist deshalb der Begriff der »bereichsübergreifend nützlichen« oder auch »cross-curricularen« Kompetenzen treffender, denn dies signalisiert eine gewisse Offenheit für die genaue Ausprägung.537 Mit Hasselhorn und Gold verstehe ich unter bereichsübergreifenden Schlüsselkompetenzen »alle prinzipiell erlern- und vermittelbaren individuellen Erkenntnis-, Handlungs-, und Leistungskompetenzen, die in sehr unterschiedlichen Situationen und Inhaltsbereichen beim Erwerb von Spezialkenntnissen, bei der Verarbeitung relevanter Information sowie bei der Lösung schwieriger Aufgaben und neuer Probleme mit Gewinn genutzt werden können.«538 Dabei geht es auch um metakognitive Fähigkeiten, wie das erfolgreiche Beurteilen und Steuern individueller Lernprozesse.539 Unter bereichsübergreifenden Kompetenzen kann man sich auch ein »Bündel dekontextuierter, entspezialisierter und funktional-autonomer Eignungen« vorstellen.540 Ihre Vermittlung bleibt »ein unverzichtbares Ziel erfolgreichen Lernens.«541 Möglicherweise sind bereichsübergreifende Kompetenzen für Schüler also zunächst wichtiger als fachspezifische. Gerade bei den schulischen Risikogruppen lassen sich in vielen Bereichen aber geringere Kompetenzgrade feststellen als in privilegierteren Gruppen. Bestes Beispiel ist die Lesekompetenz, die nachweisbar mit dem sozio-ökonomischem Hintergrund der Subjekte korreliert. Ist 533 534 535 536 537 538 539 540 541

Vgl. Helmke, 2009, 240ff. Vgl. Hasselhorn; Gold, 2013, S. 141; vgl. bspw. Mertens, 1974. Hasselhorn; Gold, 2013, S. 141. Vgl. 1993. Hasselhorn; Gold, 2013, S. 141. 2013, S. 143. Vgl. ebd., 141, 145. Ebd., S. 141. Ebd., S. 146.

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Konkretisierung: Comics als Chancengeber in Unterrichtsprozessen

diese aber zu wenig gefördert worden, hat dies Auswirkungen auf den Erfolg in (fast) allen Schulfächern und damit auf den gesamten Bildungsweg. Diese Erkenntnis sollte auch Einfluss auf die Ausrichtung des Religionsunterrichtes nehmen. Denn: solche Kompetenzen können natürlich nicht im luftleeren Raum entwickelt werden. Auch aus kognitionspsychologischer Sicht ist schon früh betont worden, dass der Aufbau bereichsübergreifender Kompetenzen mit inhaltlicher Wissensvermittlung verknüpft werden darf und muss.542 Aus dem Religionsunterricht können also Impulse für viele Fächer kommen. Heute zum Beispiel sind interkulturelle Kompetenzen relevanter denn je und auch religiöse Bildung ist wichtig, um »am kulturellen Gesamtleben der Gesellschaft mündig und urteilsfähig teilhaben zu können.«543 Dies ist sicherlich Auftrag des Religionsunterrichts, allerdings nicht allein: Kein Bildungsbereich ist von der Aufgabe, derartige Schlüsselkompetenzen zu fördern, auszunehmen.544 In den folgenden Kapiteln soll dargestellt werden, wie bestimmte bereichsübergreifende Kompetenzen anhand von Comics im Religionsunterricht und in anderen Fächern erworben werden könnten. Die Förderung cross-curricularer Kompetenzen kann dabei dazu beitragen, benachteiligte Gruppen in der Schule im Besonderen weiterzubringen.

3.2.1 Comicrezeptionskompetenz anerkennen Eine Kompetenz, die sich strukturell aus der Lektüre von Comics ergibt, ist es, Comics lesen zu können. Anders ausgedrückt: Wer Comics liest, lernt Comics zu lesen. Das erscheint zunächst banal, was es jedoch keinesfalls ist. Schülerinnen, die routiniert Comics zu lesen vermögen, verfügen über ein ganzes Bündel an dafür notwendigen Fähigkeiten, die sie sich selbst angeeignet haben und die häufig übersehen werden. Dazu setzt sich dieser Kompetenzbereich aus Fertigkeiten zusammen, die auch in anderen Lernkontexten hilfreich sein könnten. Für Lehrende werden comicbasierte Ansätze durch vorhandene Comiclesekompetenzen auf Schülerseite vereinfacht und darum effektiver. Kompetente Comicleserinnen verdienen deshalb die Aufmerksamkeit und pädagogische Wertschätzung ihrer Lehrenden. Dennoch müssen auch sie meistens in der Analyse comicspezifischer Formsprache angeleitet werden, weil die Kenntnisse häufig eher unbewusster Natur sind und meist nur ungenügend verbalisiert werden können. Und auch ungeübte Comicleser können durch ihren frischen Blick auf das Medium Beobachtungen anstellen, die ›Expertinnen‹ mitunter gar nicht 542 Vgl. ebd., S. 145. 543 Dressler, 2012, S. 68. 544 Vgl. Hämel; Schreijäck, 2012, S. 147.

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mehr wahrnehmen – eine heterogene Lerngruppe kann deshalb sehr bereichernd für Diskussionen sein. Schließlich kann noch auf einen kleinen, negativen Nebeneffekt der Comicrezeptionskompetenz verwiesen werden, der für Lehrer interessant sein könnte: Comicaffine Schüler scheinen ungeübt darin zu sein, ihre Augen lange genug auf Bildern verweilen zu lassen, um sich Details effektiv einzuprägen. Warum überhaupt eine Comicrezeptionskompetenz aufbauen? Sie erscheint auf den ersten Blick allzu bereichsspezifisch und kann kaum, wie zum Beispiel die allgemeine Lesekompetenz, zu den oft erörterten Schlüsselkompetenzen für die Bildung gezählt werden.545 Und doch geht mit der Comicrezeptionskompetenz eine Fähigkeit und Fertigkeit einher, die wertvoll sein kann, unter anderem da sie die absolute Gelingensgrundlage für die Arbeit mit Comics und damit den Schlüssel für fachliche, inhaltliche, prozessbezogene und bereichsübergreifende Kompetenzen darstellt, die durch comicgestütztes Unterrichten erworben werden können. Auch von der Verbindung zu weiteren Kompetenzbereichen einmal abgesehen ist eine ausgeprägte Comicrezeptionskompetenz ein Fähigkeitsbereich, der Achtung verdient. Dass Comics zu lesen dem Geübten mühelos erscheint, während sich im Hintergrund sehr viel im Arbeitsgedächtnis abspielen kann und muss, wird in II 3.3 noch dargestellt werden. Aber an dieser Stelle soll die dahinterstehende Leistung in Bertschi-Kaufmanns Worten, die sich auf comickompetente Grundschulkinder bezieht, bereits zusammengefasst werden: Scheinbar mühelos finden sie [comiclesende Kinder] sich zurecht im Zeichengemisch von Schrift und Bild: in den sequenziellen grafischen Darstellungen, bei denen es meist auf wenige leicht veränderte Details ankommt und in den auf Denk- und Sprechblasen aufgeteilten Textteilen, welche die Figuren zusätzlich mit den jeweils typischen sprachlichen Merkmalen kennzeichnen. Comics verwenden ein Symbolnetz besonderer Art. Das Geschehen, die Spannung und der Witz, die sich in ihnen vermitteln, sind nur erkennbar für jene Leserinnen und Leser, die sich in diesem Zeichengefüge auskennen, sich darum auch emotional heimisch fühlen. […] Das Verstehen und Genießen der Bild-Text-Arrangements baut auf ganz spezifischen Lesegewohnheiten auf: auf der geübten bildlichen Wahrnehmung vor allem und auf einem schnellen Erfassen der vorgegebenen Leserichtung. Nicht immer führen die Blasen von links nach rechts und von oben nach unten, die Abfolge der Textteile muss jedes mal (sic) überprüft und zum Teil neu entdeckt werden. Eine flüchtige, unkonzentrierte Lesehaltung ist für Comiclektüren also gerade nicht geeignet, im Gegenteil: Die eng aneinander gefügten Bildfolgen leiten genau entlang der Ereigniskette, die sukzessive aufgerollt wird. Von Situation zu Situation geführt, kommen die Leserinnen und Leser in der Geschichte laufend voran, sie orientieren sich dabei an jedem Bildausschnitt wieder neu und sind

545 Vgl. dazu Hasselhorn; Gold, 2013, S. 143.

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denn auch in der Lage, selbst jene Handlungsteile, die im Comic ausgelassen wurden, selber mitzudenken, das heißt, die Abfolge geschichtenlogisch mitzukonstruieren.546

Mit der Comicrezeptionskompetenz geht also induktives Denkvermögen einher, dazu Text- und Bildlesekompetenz, multikodales Entschlüsseln und das Ineinander-in-Beziehung-Setzen von Wort und Bild, grundlegende literarische Kompetenzen wie Empathievermögen für Figuren und Figurenkonstellationen, die Fähigkeit, kleine Details wahrzunehmen, »Symbolnetze«547 zu deuten sowie nicht zuletzt die Fähigkeit, sich für die Dauer des Leseprozesses zu konzentrieren. Man könnte die Liste mit Sicherheit noch weiter ausbauen. Damit liegt im Grunde mehr als eine einzelne Kompetenz und vielmehr ein »skill-set« vor, das analog zur ›reading literacy‹ auch anerkennend als ›comics literacy‹ bezeichnet werden könnte.548 Die ›comics literacy‹ verdient auch deshalb Aufmerksamkeit, weil Comicleserinnen ihre Lektürekompetenz in der Regel ganz selbstständig, also ohne externe Anleitung aufbauen.549 Man kann hier deutlich von einem Kompetenzerwerb sprechen, der von den Heranwachsenden und Comiclesenovizen überwiegend selbst gesteuert und vorangetrieben wird – was man von vielen anderen bildungsbezogenen Kompetenzen nicht sagen könnte. Einerseits scheint das Lesen von Comics für viele ein intuitiver Prozess zu sein.550 Andererseits sind damit Fähigkeiten verbunden, die sich auch graduell unterschieden und ausgebaut werden können. Häufig haben Angehörige der Comic-»Lesegemeinde«551 zudem großes inhaltliches Wissen über einzelne Serien, Genres oder Gattungen. Für viele Fans wohnt dem ein gewisses kulturelles Prestige inne, da komplexe Storyworlds so auch »transtextuell« gelesen und verstanden werden können.552 Aus einer didaktischen und pädagogischen Perspektive sollte Comicleseexperten Respekt für ihren Kompetenzbereich mit denen sich daraus ergebenen Wissensund Fertigkeitsaspekten nicht verweigert werden. Diese ›Experten‹ stellen zudem eine wichtige Ressource für den comicgestützten Unterricht überhaupt dar, da sie oft besonders dazu in der Lage sind, a) Comics für den Unterricht vorzuschlagen, die Lehrkräften noch unbekannt sind. b) Anschaffungsideen für die Schülerbibliothek zu tätigen. 546 547 548 549 550

2000, 334f. Ebd., S. 335. Vgl. Al-Tabaa, 2014; Green, 2014. Vgl. auch Bongco, 2001, S. 16. Vgl. dazu beispielsweise die Biographie des Comiczeichners Volker Reiche, der darstellt, wie die kindliche Rezeption seines ersten Comics (eine Donald-Geschichte von Carl Barks) absolut intuitiv und ohne jede Anleitung erfolgen konnte. 551 Bertschi-Kaufmann, 2000, S. 334. 552 Vgl. Ecke, 2016, S. 243.

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c) im Unterricht Vergleiche zu anderen Werken zu ziehen und Brücken zu schlagen. d) ungeübte Leserinnen bei der Lektüre zu unterstützen. e) zügig zu lesen und gleichzeitig viel auf einmal wahrzunehmen und zu verarbeiten. f) Begeisterung zu zeigen, die ansteckend wirkt. Auch wenn die ›comics literacy‹ in einer Lerngruppe sehr unterschiedlich ausgeprägt vertreten ist, muss dies kein Hindernis für die Comicdidaktik sein. Troutman erklärt: [P]rior expertise in the topic is not prerequisite to making original observations. Granted, students with a depth of prior knowledge about a particular artist or series can draw on that to perform analysis at a satisfying level of detail. But some of the greatest insights come from students who have no knowledge or background in a certain work or even in comics in general, who will notice things ›experts‹ may take for granted553.

Für geübte Comicleser müssen jedoch auch zwei einschränkende Aspekte genannt werden, die Konsequenzen für das comicdidaktische Arbeiten haben könnten: Erstens schneiden Kinder, die in ihrer Freizeit viel Comiclesen, schlecht in Tests ab, in denen sie Details aus komplexem visuellen Lern- und Fotomaterial rekonstruieren müssen.554 (Überraschenderweise ist das Gegenteil für Kinder der Fall, die stattdessen zum Beispiel Videospiele als Freizeitaktivität bevorzugen.555) Für Comicleserinnen besteht in der Regel keine Notwendigkeit, sich kleine Details in den Bildern genau zu merken, da der Künstler normalerweise mithilfe von zeichnerischen Mitteln in der Regel Sorge dafür trägt, dass alles, was wichtig ist oder später wichtig wird, auch klar und deutlich hervorgehoben wird (RöhrSendlmeier et al. sprechen hier von einer »kognitiv entlastende[n] Funktion«, damit die Lesenden nicht überfordert werden).556 In Kindercomics findet sich zudem meistens ein cartoonhafter Zeichenstil, der eine einfache, schnelle, voranschreitende Lektüre ermöglicht. Deshalb ergibt sich durch das Lesen von Comics kein Übungseffekt beim Memorieren von Details von komplexen Bildern. Sollte dies in anderen Kontexten gefordert sein, könnten Comiclesende ironischerweise durch ihr Kompetenzvermögen benachteiligt sein. Zweitens sind comiclesende Schülerinnen nicht automatisch dazu befähigt, sich auch auf theoretischer Ebene mit dem Medium auseinanderzusetzen. Wer

553 554 555 556

2013, S. 129. Vgl. Röhr-Sendlmeier; Kubat; Käser, 2012, S. 121. Vgl. ebd., S. 138. Vgl. ebd., S. 139.

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Comics analysieren will, muss ihre Formsprache beherrschen – und Hobbyleser tun dies häufig nur unbewusst557. Klein und Abel erklären das Problem: Weil wir unser Wissen im Hinblick auf die Lektüre und das Verständnis von Comics im Regelfall ohne theoretische Flankierung erwerben und ganz intuitiv benutzen, wissen wir zwar häufig, was eine konkrete Linie, was ein bestimmtes bildliches oder sprachliches Zeichen bedeuten [sic], wir wissen aber normalerweise nicht, wie man sie genau benennt oder aus welchem Arsenal möglicher alternativer Zeichen gerade dieses konkrete ausgewählt wurde. Häufig fehlen uns also die analytischen Kategorien, um bestimmte Phänomene und Aspekte des Comics in den Blick zu bekommen, ganz zu schweigen von den Fachbezeichnungen dafür558.

Man bedenke, dass zum Beispiel auch die meisten Menschen radfahren können – allerdings nicht dazu in der Lage wären, zu erklären, wie genau sie dies physikalisch meistern. Es ist davon auszugehen, dass die Fähigkeit zum Comiclesen im prozeduralen Gedächtnis gespeichert und nicht mit deklarativem Wissen gleichzusetzen ist. Gerade in höheren Klassenstufen, in denen nicht nur Comicinhalte, sondern auch die Sprache und das Vokabular des Mediums eine Rolle spielen sollen (zum Beispiel im Literaturunterricht), müssen also Kompetenzen, die den schulischen Ansprüchen noch nicht entsprechen, erworben oder ausgebaut werden.559 Um Funktionen und Wirkungen zu erkunden, sind »analytische Identifikation und präzise Beschreibung« notwendig.560 Verstärkend kommt dazu, dass auch Schüler, die über eine grundsätzliche Rezeptionskompetenz verfügen, unterschiedlich geübt in der Lektüre komplexer Comics sind. Experimente der Comicforschung zeigen auch, dass die korrekte Einordnung und Deutung von semiotischen und ikonischen Solidaritäten im Comic erlernt werden muss, sodass etwa viele Mangaleser die Lektüre westlicher Comics als mühsam empfinden können, weil sie andere Rezeptionsgewohnheiten haben (und umgekehrt).561 Viele Fragen über die Comicrezeptionskompetenz von Kindern sind derzeit aber noch offen. Gibt es Korrelationen zwischen der Comickompetenz und anderen Kompetenzbereichen, sodass die Fähigkeit, Symbolnetze zu erfassen vielleicht auch anderen Lebensbereichen zum Vorteil gereicht? Wie entsteht Comicrezeptionskompetenz? Werden dafür dezidiert andere Hirnareale benötigt als in der Rezeption von Texten und reinen Bilderwelten? Und was würde dies für Lernprozesse bedeuten?

557 558 559 560 561

Vgl. Abel; Klein, 2016 (b), S. 77. 2016 (b), S. 77. Vgl. McCloud, 2001 (b), S. 137. Abel; Klein, 2016 (b), S. 78. Vgl. dazu näher Cohn, 2013.

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Ein Verfahren, um Comiclesekompetenzen zu fördern und zu vertiefen, ist auf jeden Fall die aktive Gestaltung von Comics in kreativen Prozessen. Dies geschieht im handlungsorientierten Unterricht, der im Verbund mit der Comicdidaktik ein ganzes Bündel an Kompetenzen vorantreiben kann. Diesen Lernmöglichkeiten soll im nächsten Kapitel Raum gegeben werden.

3.2.2 Kreativ lernen und arbeiten Einen Comic ganz allein zu entwerfen, Bilder zu zeichnen und sich Texte dazu zu überlegen, macht nicht nur Spaß, sondern kann in der Schule auch den Aufbau von Kompetenzen unterstützen und so Lernprozesse effektiv vorantreiben. Religionspädagogisch können durch solche kreativen Arbeitsprozesse besonders die Wahrnehmungs- Darstellungs- und Gestaltungskompetenz gefördert werden, aber auch andere Fähigkeiten werden ausgebaut, beispielsweise die der Imagination, Empathie oder Perspektivübernahme – Schlüsselkompetenzen, die für viele Fächer und vor allem für größere Lebenszusammenhänge relevant sind. Aktivierende und produktive Lernformen können zudem den konstruktivistischen und aktivierenden Ansatz im Unterricht stärken und das Selbstbewusstsein der Schüler ausbauen.562 Comics bieten dafür ideale Möglichkeiten. Das Medium ist offen für außerordentliche viele Arten der ästhetisch-künstlerischen Auseinandersetzung, unter anderem aufgrund der inhärenten Hybridität aus Wort und Bild. Man kann in diesem Rahmen auch von ›handlungs- und produktionsorientierten Methoden‹ sprechen, wobei es m. E. Interpretationssache ist, ob das Erstellen eines eigenen Comics nun eine handlungs- oder produktionsorientierte Aufgabe darstellt. Im Folgenden soll ein Einblick in die grundsätzliche Idee dieser kreativen Lernformen und dann in den Nutzen von Comics als Ausgangsbasis gewährt werden. Danach wird das sich daraus ergebende theoretische Kompetenzpotenzial beschrieben. Da künstlerisch-kreative, handlungs- und produktionsorientierte Aufgaben die Methodenvielfalt im Unterricht drastisch erhöhen und kreative Räume schaffen, könnte dieses Thema auch im Kapitel II 4.1 (›Angebotsvielfalt vergrößern‹) oder II 4.2 (›Vielfalt adressieren‹) diskutiert werden. Da die Methoden aber nicht primär dem Zweck von Abwechslung im Unterrichtsgeschehen dienen, sondern auch zum Aufbau konkreter Kompetenzen eingesetzt werden, ist es gerechtfertigt, sie hier im Kapitel zum Kompetenzpotenzial der Comicdidaktik zu behandeln.

562 Vgl. Mendl, 2012, S. 109.

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Kreative und handlungs- oder produktionsorientierte Methoden – Was versteht man darunter? In der Regel wird in kreativ-produktiven Aufgabenstellungen zwischen zwei Ausprägungen unterschieden: Produktionsorientierte Methoden zielen darauf ab, ausgehend von einer literarischen Quelle einen neuen Text zu verfassen. Werden im Unterricht beispielsweise Jesu Gleichnisse behandelt, könnte basierend auf dem biblischen Text der innere Monolog eines Zuhörers verfasst werden. Handlungsorientierte Methoden sind hingegen offener gehalten: Wieder ausgehend von einem literarischen Werk muss das Ergebnis hier kein Text, sondern kann auch ein Hörspiel, ein Standbild, eine Zeichnung oder ein Comic sein. Im weiteren Sinne gehört zum Beispiel die Methode des Bibliodramas in das Spektrum der handlungsorientierten Religionspädagogik. Der kreativ-produktive Unterricht mit Comics ist insofern freier, als dass er nicht unbedingt auf einen (literarischen, biblischen oder mythologischen Ausgangstext) aufbauen muss (vgl. dazu auch II 4.3). Dennoch besitzt die Produktion von Comics, die auf einer anderen literarischen oder künstlerischen Quelle basieren (dazu gehören auch andere Comics), viele spezifische Vorteile für Lernprozesse. Beide Felder sollen hier deshalb Erwähnung finden. Der methodische Ansatz handlungs- und produktionsorientierter Aufgaben entstammt ursprünglich der Literaturdidaktik. Dennoch ist es lohnenswert, sie mithilfe der Comicdidaktik nicht nur dort, sondern auch in anderen Fächern hin und wieder einzusetzen, um konstruktivistische Prozesse einzuleiten. All diesen kreativ-produktiven Methoden ist gemein, »daß sie sich als ein (in der Regel) fruchtbares, Phantasie weckendes ›Spiel‹ mit literarischen Inhalten, Formen und Mitteln beschreiben lassen.«563 Sie sollen zu einer produktiven Hermeneutik einladen. Derartige Methoden und Zugänge zu einem Text entstammen relativ breit angelegten Bildungszielen. Theoretischer Ausgangspunkt ist dabei grundsätzlich die Idee der Rezeptionsästhetik, die die produktive Eigentätigkeit eines jeden Rezipierenden betont: Lesen an sich ist ein unablässiger Prozess der Sinnproduktion, der von den Lesenden vollzogen werden muss.564 Gerade literarisches Lesen sowie die Rezeption biblischer Texte verlangen dabei eine ständige aktive und produktive Realisation des Textes565: »Sinnverstehen ist nicht einfach Sinnübernahme, denn Sinn ist nicht etwas, das im Text enthalten ist, das sozusagen an den Wörtern und Sätzen und Textteilen haftet«.566 Sinn wird auch in Texten und Quellen für den Religionsunterricht gewissermaßen nur angeboten, muss unabhängig von der Textgattung selbst erarbeitet oder geschaffen 563 564 565 566

Köppert, 1997, S. 61. Vgl. Gross, 1994, S. 15. Vgl. Waldmann, 2013, S. 19. Vgl. ebd., S. 14.

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werden. Das erfordert ein hohes Maß an gedanklicher Flexibilität, Aktivität und Kreativität von Menschen, da besonders die diegetische Welt in der Literatur und Mythologie stets nur eine verhältnismäßig skizzenhafte sein kann, die ambige, polyfunktionale und andere Stellen der Unbestimmtheit aufweist, die Lesende »imaginativ als bestimmte, eindeutige: als konkrete Wirklichkeiten realisieren« müssen.567 Autoren wie Waldmann argumentieren, Literatur sei im Rezeptionsprozess besonders anspruchsvoll und fordere mehr Imaginationsvermögen als ein Film oder die Bühneninszenierung eines Dramas, da dort Räume, Figurenerscheinungen etc. nur passiv wahrgenommen werden müssten.568 In der Literatur muss tatsächlich ein besonders hohes Maß an Unbestimmtheit bewältigt werden: »Die fantasiegetragene Konkretisation des Textes ist wie jedes Lesen […] Sinnaktualisierung, sie bringt an den Text die eigene Sinnerwartung und das eigene aktualisierte Sinnsystem des Lesenden heran und realisiert mit dem konkretisierten Text immer auch das eigene Sinnsystem des Lesers.«569 Schülerinnen können und müssen also ihr »eigenes Sinnsystem«570 in den Text einbringen. Dies wiederum ist ein fruchtbarer und wichtiger Nährboden für das Gelingen von handlungs- und produktionsorientierten Aufgaben. Soviel zur Theorie. In der Praxis steht die Schule jedoch vor der Situation, dass viele Kinder und Jugendliche in ihrer Freizeit immer weniger lesen und deshalb auch in der Rezeption und im Spiel mit literarischen Texten weniger geübt sind. Dieses Problem leitet über zu den Möglichkeiten, die das handlungs- und produktionsorientierte Methodenspektrum in der Arbeit mit Comics mit sich bringt. Das Potenzial von Comics im handlungs-/produktionsorientierten Unterricht Der Verbund aus comicdidaktischen und kreativ-produktiven Aufgabenstellungen ist sehr fruchtbar und generiert Kompetenzentwicklungen, die vielen Fächern zum Vorteil gereichen können. Das gilt besonders in den (frühen) Jahren der Sekundarstufe I, später aber auch, um gezielt comicanalytische Prozesse einzuleiten. Deshalb sollte auch diesem speziellen didaktischen Ansatz in der allgemeinen Comicdidaktik Aufmerksamkeit zukommen. Die Rezeption von Comics ist ein nicht minder konstruktivistischer Prozess als die aktive und produktive Realisation anderer literarischer Textformern, wird neben dem klassischen Textverstehen schließlich auch noch eine »visual competence« von den Lesenden gefordert, die in der Einheit des Panels zum Beispiel 567 568 569 570

Ebd., 16f. Vgl. 2013, S. 17. Ebd., S. 18. Ebd., S. 15.

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Text und Bild aufeinander beziehen müssen.571 Auch wenn im Comicleseprozess also von der Literaturrezeption abweichende kognitive Prozesse gefordert werden, gilt in jedem Falle, dass der Sinn des Mediums von den Lesenden selbst konstruiert werden muss. Auch in Comics gibt es zudem immer ein gewisses Maß an Unbestimmtheit: Erst in der kreativen Gedankenwelt der Rezipienten wird die Illusion von Zeit, Bewegung und Akustik geschaffen. Comics sind genau wie andere Texte auf Prozesse der Rezeptionsästhetik angewiesen, aber die SinnAktualisierung muss sich in verschiedenen Dimensionen vollziehen. Das sind gute Voraussetzungen für handlungs- und produktionsorientierte ›Spiele‹ mit dem Medium. Durch die Notwendigkeit eines sinnentnehmenden/sinnschaffenden Lesens heben sich Comics von vielen anderen zeitgenössischen Medien auch ab. Waldmann konstatiert beispielsweise, es herrsche ein Zeitalter der »Konsumenten-Kultur«, dessen Leitmedien wachsende »habituelle Passivität« schaffen, denn exzessiver Konsum von Film und Fernsehen berge die Gefahr, Heranwachsende rezeptiv, passiv und konsumtiv im negativen Sinne zu formen572. In der Tat spricht vieles dafür, dass sich unsere Gesellschaft von einer Lese- zu einer Bildkultur hin wandelt (vgl. dazu auch II 3.2.6), die von audiovisuellen und visuellen Medien geprägt ist, deren quantitative Zunahme auch qualitativ unser Konsumverhalten verändert.573 (Denn die meisten Videos im Alltag Heranwachsender wurden nicht von ihnen selbst erstellt, sondern rezipiert.) Die wachsende Bedeutung des Text-Bild-Mediums Comic ist letztendlich ein weiteres Indiz für diese Entwicklung. In der produktiven Auseinandersetzung mit Literatur, so die Hoffnung, sollen nun dem entgegen gelagerte Erfahrungen der eigenen Kreativität, Imaginationsfähigkeit und Produktivität initiiert werden, die auch der Entwicklung eines zunehmend passiven Konsum- und Rezeptionsverhaltens entgegenwirken.574 Sind Kinder aber von klein auf an das Primat visueller Reize gewöhnt, dann fällt ihnen die Rezeption literarischer Darstellungsformen, die die Produktion individueller bildlicher Vorstellungen einfordern, häufig

571 Bongco, 2001, S. 16. 572 2013, S. 40. Waldmann verweist an dieser Stelle auch auf Videospiele, die bei ›Usern‹ passive Einstellungen befördern würden. Video- und Computerspielen widerfährt damit das gleiche Schicksal wie Sequenziellen Kunstformen, nämlich dass sie gemeinhin und ohne tiefergehende Reflexion von besorgten Pädagoginnen als schädlich oder primitiv abgetan werden. Obwohl sicher Einiges an Videospielen kritisiert werden könnte, so sind sie doch eines nicht: passiv. Es ist geradezu das Wesen von Videospielen aller Art, aktive Spieler zu fordern. Anders funktionieren sie nicht. Für eine nähere Betrachtung des Medienpotenzials speziell für den Religionsunterricht sei verwiesen auf Kluge, 2019 sowie Steffen, 2017. 573 Vgl. Waldmann, 2013, S. 40. 574 Vgl. ebd., 41f.

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schwer.575 Comics holen eben diese Heranwachsenden dort ab, wo sie stehen, indem sie ihrem Wunsch nach bildlichen Reizen entgegenkommen. Sie fördern weitgehend ungesteuert die Entwicklung spezifischer Kompetenzbereiche, wie dem schnellen Erfassen von Bildern, auch in einer zusammenhängenden Sequenzialität. In einer Kultur, in der das Bild wachsende Bedeutung erlangt, kann dies nicht unwichtig sein. Aber man geht in der Arbeit mit Comics einen deutlichen Schritt über audiovisuelle Medien hinaus: Im Gegensatz zu vielen anderen dominanten Medien können sie nicht passiv konsumiert werden. Comics muss man lesen. Diesen aktiven Rezeptionscharakter kann man durch handlungs- und produktionsorientierte Aufgaben noch weiter fördern, da diese den Leseprozess bewusster machen und Aufmerksamkeit sowie Konzentration schulen. Weil Comics (mit einiger Übung) auch sehr schnell rezipiert werden können – bei Manga-Comics ist das sogar noch verstärkt der Fall576 – und dabei Details oder Gestaltungsmittel gelegentlich übergangen werden, können handlungs- und produktionsorientierte Aufgaben auch dabei helfen, den Comicleseprozess zu lenken und gewissermaßen zu verlangsamen bzw. bewusster zu gestalten. Gleichzeitig sollen Comics im handlungsorientierten Unterricht nicht nur dazu dienen, vermeintliche literarische ›Kompetenz-Defizite‹ auszugleichen; vielmehr sollte bewusst auf die bereits vorhandenen Fähigkeiten der Lernenden aufgebaut werden. Dies sind heute auch multimodale Fertigkeiten. Wierszewski erklärt: »In a digitally-mediated world, students read and construct visual and multimodal texts frequently outside of school, ranging from presently popular six-second Vine clips to multimodal Tumblr micro-blog posts containing photos, videos, and text.«577 Visuelle Zeichen und Kommunikationssysteme in den Unterricht zu holen, knüpft damit direkt an die Lebenswelt der Jugendlichen an. Cynthia Selfe, eine Vorreiterin für das Konzept der ›Visual Literacy‹ (vgl. II 3.2.6 und III 3.3) meint, Lehrende sollten nutzen, was Heranwachsende an »enthusiasm about reading/viewing/interacting with and composing/designing/authoring such imaginative texts« von Haus aus mitbringen.578 Möglicherweise weisen die Lernenden hier sogar größere Kompetenzen als ihre Lehrkräfte auf. Indem man solch verschiedenen Formen von ›literacy‹ Respekt gegenüberbringt, könnte man »the violence attendant to labeling individuals as illiterate when they perfectly capable of communicating, making meaning, and exchanging information within various systems and contexts« möglicherweise vermeiden.579 Comics besitzen hinsichtlich des Potenzials der Imaginationsanregung, Identitätsent575 Vgl. dazu auch ebd., S. 40. Nicht auszuschließen ist, dass ebendiese Kinder dafür über andere spezifische Kompetenzbereiche in Bezug auf audiovisuelle Medien verfügen. 576 Vgl. Knigge, 2016, S. 18. 577 Wierszewski, 2014. 578 2004 (a), S. 44. 579 Ebd., S. 57.

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wicklung etc. das gleiche Wirkspektrum wie andere Literaturformen, ohne aber diejenigen Kinder und Jugendlichen auszuschließen, die weniger leseaffin sind. Das ist auch deshalb wichtig, da die produktive, soziale Phantasie aller zur Gestaltung unserer Gesellschaft notwendig ist (siehe unten). Comics könnten auch die Kinder besser in den Unterricht einbinden, deren Imaginationsfähigkeit noch ausbaufähig ist, da sie in der visuellen Konkretisierung des Gelesenen von den Comicschaffenden Bilder als Hilfsmittel zur Verfügung gestellt bekommen. Waldmann argumentiert ferner, Menschen könnten sich nur dann effektiv mit ihren Erfahrungen, Wünschen etc. in literarische Texte einbringen, nur dann konkretisieren und sinnaktualisieren, wenn sie genügend Erfahrungen damit machen.580 Man kann annehmen, dass das Einbringen eigener Sinnsysteme in Narrationen dann am besten funktioniert, wenn die Lesenden schon Übung darin haben. Kindern und Jugendlichen, die in ihrer Freizeit bis dato wenig Literatur rezipiert haben, kann dies entsprechend schwerfallen. Auch Heranwachsende, in deren Lebenswirklichkeit Literatur eine geringe Rolle spielt, müssten aber die eine oder andere Erfahrung mit Comics gemacht haben – und diese sind, wie schon aufgezeigt, meistens noch positiv besetzt. Es liegt daher nahe, (graphisch-)literarische Spiele mit einem Medium zu erproben, in das sich die Lernenden im Laufe ihres Lebens vielleicht schon einmal selbst mit ihren Alltagssorgen, Schwierigkeiten und Wünschen eingebracht haben. Die Erträge sollten die gleichen sein wie bei der Arbeit mit anderen Literaturformen, zu denen immer noch übergeleitet werden kann. Es ist sogar denkbar, dass sich die lesemotivierenden Effekte des Methodenspektrums multiplizieren, da Comics an sich ebenfalls der Leseförderung dienen. Ein weiterer Grund dafür, dass sich Comics besonders gut für handlungsorientierte Methoden eignen, ist, dass sie oft kürzer sind oder weniger Text enthalten als andere literarische Quellen. Darum lassen sie sich auch als Gesamtwerk vertiefter betrachten, da das wiederholte Lesen weniger wertvolle Zeit in Anspruch nimmt. Die produktive Arbeit mit literarischen Texten muss sich im Unterricht sonst häufig mit verkürzten Textpassagen oder -fragmenten zufriedengeben, um Details daraus überhaupt die nötige Aufmerksamkeit schenken zu können. Weil die Voraussetzung für handlungs- und produktionsorientierte Aufgaben das bewusste, intensive und verlangsamte Lesen ist, das für das jeweilige Arbeitsmaterial initiiert werden muss, eignen sich Comics dafür sehr gut.581 Die handlungs- und produktionsorientierte Arbeit im Verbund mit Comics kann zudem einige andere Kompetenzen aktivieren als im Verbund mit rein textbasierter Literatur. Denn ein Comic mit Text und Bild ermöglicht zwei un580 Vgl. 2013, S. 40. 581 Vgl. ebd., S. 31.

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terschiedliche Aufgabentypen: Einerseits solche, die sich auf Text oder Erzählung stützen und sich ähnlich gestalten wie mit der ›klassischen‹ Literatur als Basis. Andererseits können aber auch Bild, Sound Words, der Rinnstein und andere comicspezifische Ausdrucksmittel den Ausgangspunkt für Aufgaben stellen. Ein Beispiel: Statt eines Textes, der als Grundlage für ein bildliches Produkt (zum Beispiel eine Collage) dient, kann hier das Bild zum Ausgangspunkt für einen Text werden. So eröffnet sich ein noch vielfältigeres Aufgabenspektrum, das sich auch für Individualisierungsmaßnahmen anbietet. Entsprechend eignen sich handlungs- und produktionsorientierte Methoden hervorragend, um die graphische Seite des Mediums zu erschließen, besonders, wenn die Kinder noch zu jung für rein analytische Herangehensweisen sind oder nur wenig Übung in der Bilddeutung haben. Diese nähere und produktive Beschäftigung mit visuellen Mitteln und anderen formalen Aspekten des Comics verschafft Heranwachsenden die Möglichkeit, Ausdrucksformen zu erproben und zu erschließen, die über das geschriebene Wort hinausgehen.582 Die eigene Gestaltung von Comics zu einem Thema oder zu einem Text im Unterricht bietet Lehrenden auch die Möglichkeit zu prüfen, inwieweit die Schüler die multimodale Ausdrucksweise des Mediums verstanden und verinnerlicht haben, nachdem zum Beispiel eine bestimmte Graphic Novel in der Klassengemeinschaft besprochen wurde. Dabei können sich natürlich auch Konsolidierungseffekte einstellen. Wierszewski macht die Eigenproduktion sogar für analytische Hochschul-Comicseminare stark: In other words, students engage in a form of experiential learning by doing something with what they have observed about successful comics or graphic novels in the reading and discussion process. They must be mindful of the elements of comics and graphic novels they have analyzed and evaluated in course discussion, including the kinds of visual conventions (color, panel size and position, lines, etc.), literary conventions (point of view, character development, plot, etc.), and subject matter […]. They have to put classroom lessons into practice, creating texts both to exhibit and advance their own learning583.

Sousanis erklärt, dass wir uns zeichnend auch hervorragend Wissen aneignen können: »We draw not to transcribe ideas from our heads but to generate them in search of greater understanding.«584 Auch Al-Tabaa bestätigt, dass in der Eigenproduktion ein vertieftes Verständnis des Mediums entstehen kann, wobei nebenbei auch die »critical thinking skills« der Lernenden in Bezug auf Comicwerke gestärkt würden.585 Tatsächlich sollten Schülerinnen in einer Einheit de582 583 584 585

Vgl. auch Bakis, 2014, S. 143. Wierszewski, 2014, unpag. 2015, S. 79. Al-Tabaa, 2014, unpag.

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zidiert zum Thema ›Comics‹ nicht nur träges Wissen über Comics erwerben, sondern auch lernen, dieses auf verschiedenen Ebenen anzuwenden, Comics zu analysieren (in den Worten von Haines: »as they take in visual cues, process them, and explain what information they provide«), diese zu bewerten und schließlich auch Comics selbst zu schaffen (was zweifelsohne den höchsten Schwierigkeitsgrad aufweist), um auf verschiedenen Ebenen kognitiv herausgefordert zu werden.586 Green erklärt zurecht, analytische und kreative Zugänge müssten im Optimalfall Hand in Hand gehen, damit sich eine umfassende und bewusste ›comics literacy‹ ausprägen kann.587 Aus dieser Perspektive kann man kreative Methoden auch in der Oberstufe befürworten. Und schließlich steht und fällt das Kompetenzpotenzial einer handlungs- oder produktionsorientierten Aufgabe mit der Motivation der Lernenden, sich voll in die gestellte Aufgabe einzubringen. Möglicherweise sind Comics hierfür besonders wertvoll: Bakis verweist zum Beispiel auf ihre Erfahrung, dass Comics Schreibanlässe bieten, deren Resultate effektiv interessanter, authentischer und leidenschaftlicher seien als bei gängiger Literatur als Grundlage.588 Das spricht für eine hohe dahinterliegende Motivation der Lernenden, man muss aber auch bedenken, dass Bakis’ Kurs nur von comicfreundlich eingestellten Schülerinnen und Schülern besucht wurde. Ein wichtiger Hinweis ist in Bezug auf die Produktion von Comics jedoch noch dringend nötig: Sie sollte immer dem Thema angemessen bleiben. Talentierte Künstler verstehen es, packende Themen wie die Passions- und Ostergeschichte in Comicform zu gießen, sodass daraus ein Mehrwert und größeres Verständnis bei den Lesenden entsteht. Der durchschnittliche Fünftklässler besitzt aber nicht dieselbe Gabe. Gibt man den Schülerinnen diese Aufgabe, sind sie danach sicher besser in der Lage, die einzelnen Schritte der neutestamentlichen Handlung widerzugeben. Aber verstanden haben sie die existenziell-wichtige Tragweite dieser Inhalte, denen viel Respekt gegenüber gebracht werden sollte, noch lange nicht. Und dies ist das wichtigere Anliegen. Möglicherweise könnte sich bei den Lernenden das Gefühl einstellen, die Passionsgeschichte sei von nicht größerer Bedeutung als beispielsweise eine IKEA-Anleitung zum Möbelaufbau, wenn sich beides gleich nüchtern darstellen lässt. In nuce: Comics bieten eine gute Ausgangsbasis für kreative Arbeitsformen. In Zeiten, in denen Heranwachsende immer seltener zu Literatur greifen, spricht Vieles dafür, sich dem Methodenspektrum mithilfe eines anderen Mediums zu nähern, das möglicherweise weniger Hürden aufweist, damit entsprechende Aufgaben zum Beispiel auch von weniger leseaffinen Schülerinnen bearbeitet 586 Vgl. dazu Haines (a). 587 Green, 2014, unpag. 588 2014, S. 3.

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werden können und sie literarische Spiele an einem Medium erproben, zu dem sie mitunter einen besseren Erfahrungsbezug haben. Comics kommen zudem der Vorliebe vieler Heranwachsender für Medien mit bildlichem Anteil entgegen, ohne eine passive Konsumentenkultur zu stärken, sodass sie auch der Leseförderung dienen. Sie können zudem die Rolle eines Hilfsmittels beim Aufbau gering ausgeprägter Imaginationsfähigkeit einnehmen. Andere Gründe, die für Comics im Kontext des Methodenspektrums sprechen, liegen im Hybridcharakter des Mediums begründet: Mit ihrer Hilfe lassen sich zusätzliche und andere Kompetenzen fördern als mit klassischer Literatur, da sich Aufgaben sowohl aus der graphischen als auch aus der textuellen und schließlich sogar aus der Perspektive des Zusammenspiels beider Ebenen her stellen lassen. Alle medienspezifischen Mittel können und sollen genutzt werden und können gleichermaßen Ausgangsbasis und Endprodukt sein, sodass auch graphische Ausdrucksformen studiert, erlernt und erprobt werden. Wichtig ist aber, fundamental-existenziellen Inhalten auch in der kreativen Auseinandersetzung damit die nötige Achtung entgegenzubringen. Ziele kreativ-produktiver und handlungsorientierter Methoden Unterschiedliche Stimmen aus der Didaktik setzen, ohne sich zu widersprechen, für die Ziele des handlungs- und produktionsorientierten Ansatzes teilweise leicht abweichende Schwerpunkte, die sich aber in Vielem überschneiden.589 Wichtig ist zu betonen, dass sich die Zielsetzungen überwiegend im theoretischen Raum bewegen und den empirischen Ergebnissen auf diesem Gebiet bis jetzt eher eine Nebenrolle zukommt. Auch die Erforschung der Comicproduktion hat noch nicht das Interesse vieler Forschender auf den Plan gerufen. Einige Ergebnisse gelten dennoch nahezu als gesichert: So hat Maliszewski aufgezeigt, dass sowohl das Lesen als auch das Erstellen von Comics Jungen und Mädchen gleich aktiviert.590 Dies ist aus einer Genderperspektive überaus interessant. Das Forschungsergebnis entfaltet zusätzliche Relevanz, weil Comics auch für die Schreibförderung eingesetzt werden können, in denen oftmals gerade die Jungen übersehen zu werden scheinen. Comics zu entwerfen, inklusive der dazugehörigen Texte, trägt aber nachweislich dazu bei, bessere Schreiber hervorzubringen.591 Denn die Kinder können hier ihrer freien Kreativität folgen können und

589 Die Ansätze von Spinner, Haas und Waldmann sollen deshalb, auch weil sie in gewisser Hinsicht als repräsentativ gelten können, für das Erste genügen. Für kritische Vorurteile und Anfragen, die gelegentlich, wenn auch selten, gerade von Praktikern in Bezug auf das Methodenspektrum gestellt werden, sei auf Köppert verwiesen, die sich näher damit auseinandergesetzt hat (vgl. 1997, 63ff.). 590 Vgl. Maliszewski, 2013, 233, 237. 591 Vgl. Bitz, 2004, 582, 584.

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dennoch wichtige Schritte wie das Planen, Entwerfen, Umstrukturieren und Redigieren von Texten erproben. In der Theorie gibt es jedoch noch viel mehr Kompetenzziele, die damit angestrebt werden könnten. Davon seien einige hier dargestellt: Weil Heranwachsende in ihrer Freizeit heute immer weniger Romane und Geschichten lesen, sind die literarischen Erfahrungen, die sie in der Schule machen, deshalb umso wichtiger. Zuallererst sollen handlungs- und produktionsorientierte Aufgaben laut Waldmann deshalb dazu dienen, durch den spielerischen Umgang mit Texten ihre Rezeption intensiv, bewusst und nachhaltig zu gestalten und so nachhaltig die grundsätzliche Lesemotivation zu steigern (vgl. dazu auch Abschnitt II 3.2.5).592 Die persönliche Beschäftigung des Einzelnen mit Geschichten und Erzählungen kann sich übrigens auch auf den Religionsunterricht positiv auswirken (vgl. III 3.2). Mit den richtigen Arbeitsaufträgen zuvor, während und im Anschluss regen handlungs- und produktionsorientierte Aufgaben außerdem zum Austausch, zur Diskussion, zum Erörtern und Interpretieren der kreativen Ergebnisse an, so dass sie nicht nur die Ausdrucksfähigkeit stärken, sondern auch sozial aktivieren und sozio-konstruktivistische Lernprozesse begünstigen können. Handlungs- und produktionsorientierte Aufgaben können auch zu analytischeren Formen der Textarbeit überleiten und ebenso an sich ein Schlüssel zum Textverstehen sein. Sie sind kein spielerischer Selbstzweck, sondern dienen der eigenen produktiven Erfahrung, Erkundung und Erhellung, also dem individuellen produktiven Verstehen der literarischen Formen und Merkmale, der Funktionen, Leistungen und Wirkungen und insbesondere der (inneren) Intertextualität literarischer Texte593.

So könnten Jugendliche beispielsweise dazu aufgefordert werden, einen persönlichen Klagepsalm nach dem Vorbild biblischer Vorlagen (wie Ps 3–7, 13, 70, 109 etc.) zu verfassen, wofür zunächst eine gründliche Auseinandersetzung mit dem Primärtext nötig ist. Produktive Aufgabentypen sind gerade in der Sekundarstufe I didaktisch sinnvoll, vor allem in den Phasen des Lesens und Aufnehmens von narrativen Texten und in der konkretisierenden, subjektiven Aneignung.594 Sie können dann auch – sowohl in einer zeitlichen Makro- als auch Mikroperspektive – zu analytischen Aufgabenformen führen und so den Weg zu immer abstrakteren und analytischen Denkweisen bahnen – ein klares Kompetenzziel vieler Fächer. Dabei argumentiert Waldmann, obwohl dies nicht ganz unumstritten ist, handlungs- und produktionsorientierte Aufgaben stellten erst einmal geringere Anforderungen an kognitive Fähigkeiten als direkt analytische 592 Vgl. Waldmann, 2013, 38, 59; Müller-Michaels; Rupp, 1995. 593 Waldmann, 2013, S. 35. 594 Vgl. ebd., S. 41.

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Vorgehensweisen in der Werkinterpretation.595 Damit sei auch die Gefahr des Scheiterns für die Lerngruppe tendenziell geringer. So gesehen könnten handlungs- und produktionsorientierte Aufgaben also auch die intrinsische Motivation vieler Schülerinnen und Schüler steigern, die mit anderen Aufgaben demotivierende Erfahrungen gemacht haben. Auch in der Comicanalyse können handlungs- und produktionsorientierte Methoden sehr produktiv sein. Die Comicpädagogin Haines rät zum Beispiel dazu, Comicszenen szenisch nachstellen zu lassen, um die produktiven und eigenschöpferischen Prozesse in der Induktion sichtbar zu machen: While reading comics, students are unconsciously engaging their Creation skill to make the story flow in their mind’s eye. […] In this way, each student becomes a co-creator of the story, as each student will imagine that transition as a slightly different scene. Acting out comic pages is a great way to actively engage this skill.596

Das Medium weist tatsächlich eine naturgegebene Nähe zum Theater auf, haben die Panels doch oft Ähnlichkeit mit einer ›Guckkastenbühne‹, auf der die gerade wichtigen Figuren auftreten, sprechen und wieder abtreten. Das kann im Unterricht durchaus genutzt werden, um Inhalte etwa transmedial zu verarbeiten. Andere Stimmen aus der Didaktik wollen mit handlungs- und produktionsorientierten Aufgaben aber nicht analytische, sondern dezidiert kreative Denkprozesse und die Phantasie fördern. ›Kreativität‹ und ›Phantasie‹ sind ein Begriffspaar, das eng miteinander zusammenhängt; sie stehen auch für Kompetenzbereiche und werden von vielen Autoren als Schlüsselkompetenzen angesehen.597 Beide Bereiche können unterschiedlich gefördert werden, zum Beispiel durch phantasieanregende Literatur, auch aber durch handlungs- und produktionsorientierte Aufgaben, weil diese eigenschöpferische Aktivitäten erfordern. Derartige Anliegen gehen zum Beispiel mit der konstruktiv-konstruktivistischen Religionsdidaktik konform, da dieser Ansatz Impulse des gemäßigten Konstruktivismus aufnimmt und das konstruktive sowie kreative Potenzial der Lernenden aktivieren will.598 Spinner erklärt, die Methodik helfe, die innere Vorstellungskraft zu entfalten und die Wahrnehmung zu sensibilisieren.599 So solle der »Kopflastigkeit und Entsinnlichung« im kognitiven, analytischen Unterricht entgegengewirkt werden.600 Es sei auch möglich, über Emotion und Imagination ganzheitliche Lernprozesse im Umgang mit Literatur zu initi-

595 596 597 598 599 600

Vgl. 2013, S. 41. Haines (a), unpag. Vgl. Hasselhorn; Gold, 2013, S. 142. Vgl. Lämmermann, 2012, S. 29. Vgl. Haas; Menzel; Spinner, 1994, S. 25. Zit. nach Waldmann, 2013, S. 55.

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ieren, wie die Perspektivübernahme als »kognitive Grundfähigkeit«.601 Auch Sousanis sieht in der Phantasie eine Schlüsselrolle für den Aufbau von Empathiefähigkeit: »Reaching across the gap to experience another’s way of knowing takes a leap of imagination.«602 Zusätzlich kann wahrscheinlich die individuelle Identitätsausformung gefördert werden, wenn die Schülerinnen ihre Subjektivität als Individuen in literarische Rezeptionsprozesse einfließen lassen, gesteuert und angeregt durch das entsprechende, kreative Methodenspektrum.603 Der Einfallsreichtum und die Gestaltungskraft, die handlungs- und produktionsorientierte Aufgaben freisetzen können, sollten keinesfalls in ihrer Macht und Wirksamkeit für Lernzusammenhänge unterschätzt werden. Das individuelle kreative Potenzial einer Klasse freizusetzen, kann positive Effekte in den Bereichen Motivation, Aufmerksamkeit, Neugier und Konzentration sowie (ganz kompetenzorientiert) im Ausdrucksvermögen mit sich bringen und dadurch potenziell die Lernleistung steigern, weshalb sich sogar Fächer, mit denen man Kreativität nicht automatisch assoziiert, wie das Fach Informatik, sich um entsprechende Aufgaben bemühen.604 Freie Ausdrucksformen, wie sie mit handlungsorientierten Aufgabenformen initiiert werden, beispielsweise das szenische Spiel, die graphische Umsetzung oder akustische Ausgestaltungen einer Textstelle, eröffnen neue Ausdrucksmöglichkeiten (vgl. dazu auch II 3.2.4). Bakis zitiert dazu eine Schülerin, die sich in ihrem Kurs mit dem Kommunikationsmittel des Comics befasst hat und eindrücklich erklärt: It is important that we learn all different mediums of expression or else we may never be heard. […] There is something more real about static images, something that holds your attention and screams, listen! See my hardship and my joy – make sense of it, and know that you are not alone (sic).605

Hier klingt eine geradezu existenzielle Sichtweise auf das Thema an. Man kann in diesem Zusammenhang auch von »multimodal literacy« sprechen, wenn Lernende dazu befähigt werden, nicht allein das alphabetische Zeichensystem zur Kommunikation zu nutzen, das in der gegenwärtigen Medienwelt nur noch eines unter vielen Modalitätsformen darstellt.606 Handlungs- und produktionsorientierte Aufgaben erweitern also den Horizont von Wahrnehmung und Ausdruck,

601 602 603 604

Vgl. Spinner, 1995 (a), 7, 132f. 2015, S. 89. Vgl. Haas; Menzel; Spinner, 1994, S. 25; Spinner, 1995 (b), S. 128. Vgl. Romeike, 2011, S. 356 Tatsächlich scheint Informatik in der Didaktik zunehmend als kreatives Fach gehandelt zu werden, zum Beispiel augrund von Programmierungsvorgängen als Form individuellen Ausdrucks. 605 2014, S. 147. 606 Vgl. Wierszewski, 2014.

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wie es auch vom Religionsunterricht gefordert wird.607 Dazu kommt die Beschäftigung mit literarischen Sinnsystemen: Jeder entwickelt innerhalb des geschichtlich-gesellschaftlichen Sinnrahmens sein eigenes Sinnsystem, muss es entwickeln als die eigentliche Ausprägung seiner geistigen Individualität. […] Diese Fähigkeit, sich zu vorgegebenen Sinnsystemen aktiv zu verhalten, sich produktiv Modifikationen und Alternativen vorzustellen und zu entwerfen ist eine Fähigkeit der Fantasie bzw., wenn sie sich zu den gesellschaftlichen Bedingungen des Einzelnen verhält, die Fähigkeit sozialer Fantasie. Sie ist eine wichtige Bedingung des Lesens.608

Phantasie ist für sehr viele Zusammenhänge von Bedeutung, auch für Lernprozesse in verschiedenen fachlichen Domänen. Vorstellungsvermögen ist im Religionsunterricht in fast jeder Hinsicht hilfreich, zum Beispiel wenn Jenseitsvorstellungen thematisiert, mythologische/biblische Narrationen nachvollzogen oder historische Kontexte mitbedacht werden müssen.609 Phantasie kann nicht nur die eigene Identität verändern, sie beinhaltet in ihrer von Waldmann bereits erwähnten sozialen Dimension auch potenzielle gesellschaftliche Sprengkraft, denn sie geht Hand in Hand mit der Fähigkeit, reale Hoffnungsinhalte zu entwerfen, Wünsche für die Zukunft zu visualisieren und sich individuell ebenso wie gesellschaftlich Mögliches vorzustellen und zu antizipieren:610 Fantasie, so verstanden, hat einen hohen individuellen und gesellschaftlichen Eigenwert; und ein Unterricht, der ihr Raum zur Entfaltung gibt, hat allein darin schon eine wichtige individuelle, aber auch gesellschaftliche Funktion, denn diese Fantasie ist immer auch soziale Fantasie611.

Der Religionsunterricht kann daraus schöpfen, wenn (sozial-)ethische Fragen oder Themen wie das Reich Gottes behandelt werden612, oder auch wenn nach Lämmermann »›Ideologiekritik‹ oder – in biblisch-theologischer Tradition – prophetische (Sozial-)Kritik« geübt werden soll.613 Der Autor und Humanist Terry Pratchett (1948–2015) hat versucht, die theoretische Idee der sozialen Phantasie literarisch zu erklären: Um unsere Welt produktiv zu gestalten, brauche der Menschen schon im Kindesalter kleine Phantasieübungen, selbst wenn dafür »kleine Lügen« wie der Glauben an Phantasiegestalten wie den Weihnachtsmann oder den Osterhasen gebraucht werden:

607 608 609 610 611 612 613

Vgl. Niedersächsisches Kulturministerium, 2009, 15f. Waldmann, 2013, S. 15. Vgl. zum Beispiel Niedersächsisches Kulturministerium, 2009, 17–20, 13, 33f. Vgl. dazu Block, 1959, insbesondere S. 86–258. Waldmann, 2013, S. 18. Vgl. Niedersächsisches Kulturministerium, 2009, 24, 26–28. 2012, S. 33.

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»Humans need fantasy to be human. To be the place where the falling angel meets the rising ape. […] As practice. You have to start out learning to believe the little lies.« »So we can believe the big ones?« »Yes. Justice. Mercy. Duty. That sort of thing. […] Take the universe and grind it down to the finest powder and sieve it through the finest sieve and then show me one atom of justice, one molecule of mercy. […] You need to believe in things that aren’t true. How else can they become?«614

Freies, schöpferisches Denken kann auch motivierende Effekte für den Unterricht haben: Einige Studien belegen, dass das fachliche und überfachliche Interesse in Lerngruppen gefördert wird, wenn sie mithilfe von handlungsorientierten Aufgaben die Möglichkeit bekommen, selbsttätig künstlerisch aktiv zu werden.615 Mit Pintrich und Schunk ist schon darauf verwiesen worden, dass Aktivitäten, die die Phantasie anregen, in der Schule sehr effektiv für die Förderung intrinsischer Motivation sind.616 Aufgabenformen für freie und künstlerische Ausdrucksmöglichkeiten (wie Spiel- oder Kunstformen) neigen außerdem eher dazu, den Zustand des ›Flows‹ in den Lernenden zu erzeugen, der intrinsischen Motivationsformen entspringt und nicht nur produktiv, sondern auch sehr angenehm ist, was die Wahrscheinlichkeit dafür erhöht, dass Schüler sich auch in der Zukunft gerne auf handlungsorientierte Aufgaben einlassen.617 Deshalb streben auch manche Ansätze des Religionsunterrichtes ganz bewusst sogenannte »kreative Methoden der Selbstarbeit« an.618 Auch die wenigen empirischen Studien kehren immer wieder zum selben Punkt zurück: »Comics are fun and engaging to make.«619 Den Lernenden sollte aber viel Freiraum gewährt werden, um ihre eigenen Ideen zu entwickeln und umzusetzen. Prechtl weist aus der Perspektive der naturwissenschaftlichen Comicdidaktik noch auf einen weiteren zu erwägenden Aspekt hin: »Noch viel wichtiger ist, dass Jugendliche beim Zeichnen von Bildersequenzen zu einem Thema eine innige Beziehung aufbauen.«620 Das sollte auch für religiöse Bildungsprozesse unbedingt genutzt werden können! Sich einem Inhalt mit den Auswahlmöglichkeiten, die eine Palette Buntstifte und ein leeres Blanco-Papier schaffen, zu nähern, schafft einen anderen Reiz, ein anderes Verhältnis dazu als Auseinandersetzungen mithilfe von Füller und täglich genutztem Schulheft. So mancher Lerner hat sich beim Zeichnen schon im Flow-Zustand verloren oder nach Perfektion 614 Pratchett, 1997, 422f. Im Original aufgrund literarischer Gestaltungsmittel überwiegend in Kapitälchen gesetzt, auf die hier zugunsten der Lesbarkeit verzichtet wurde. 615 Vgl. Hartinger, 1997; zit. nach Meyer, 2010, S. 69. 616 Vgl. 1996, 279f. 617 Vgl. dazu Schunk; Meece; Pintrich, 2014, 256f. 618 Vgl. Lämmermann, 2012, S. 39. 619 Maliszewski, 2013, S. 236; vgl. auch Bitz, 2004; Bitz, 2010. 620 2013 (b), S. 11.

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gestrebt, weil sein Kunstwerk Einblicke in persönliche Empfindungen und Ansichten gewähren sollte.621 Es gilt: »when individuals design or create things that are meaningful to them, some of the most powerful learning occurs.«622 Wichtig ist an dieser Stelle, den Ergebnissen und Kunstwerken anschließend Aufmerksamkeit und Respekt entgegenzubringen – als Lerngruppe und als Lehrperson. Dies ist immer relevant, um das Lernklima positiv zu beeinflussen. In der Theorie sollen handlungs- und produktionsorientierte Methoden also eine ganze Reihe von positiven Effekten erzeugen und gezielte Kompetenzen generieren: Sie sollen die Textrezeption bewusster gestalten, vertiefen und so nachhaltig die Lesemotivation stärken. Das Methodenspektrum kann ein tieferes Textverstehen ermöglichen und auch zu analytischen Arbeitsformen überleiten. Richtig eingesetzt aktivieren kreative Methoden sozial, regen aber auch die individuelle Phantasie sowie Kreativität an und verbessern die Fähigkeit zur Perspektivübernahme. Dadurch wird auch der sogenannten ›sozialen Phantasie‹ ein guter Boden bereitet, vor allem wenn gleichzeitig das Ausdrucksspektrum der Lerngruppe gefördert wird. Zudem kann man davon ausgehen, dass Schülerinnen eine besondere Beziehung zu Unterrichtsgegenständen aufbauen, denen sie sich schöpferisch und individuell nähern können. Empirisch belegte Effekte für kreative Arbeitsformen im Unterricht unterstreichen, dass sich die intrinsische Unterrichtsmotivation durch selbstständiges, erfinderisches und phantasieanregendes Arbeiten in der Lerngruppe nachweislich steigern lässt, unter anderem da dadurch das angenehme Gefühl eines ›Schaffensrausches‹ (›Flow‹) bei jungen Künstlerinnen und Künstlern entstehen kann. Diese Faktoren können sich indirekt und eindeutig positiv auf den Kompetenzgewinn im Unterricht auswirken. Zusätzlich kann die Comicproduktion nachweislich auch der Schreibförderung dienen und spricht Mädchen wie Jungen gleichermaßen an. 3.2.2.1 Exkurs: Comics erstellen – digital oder in Handarbeit? Viele Autorinnen preisen für die Comicproduktion heute besonders digitale Möglichkeiten an, da diese das Unterfangen mit einiger Übung vereinfachen und Schülern die Sorge um angeblichen zeichnerischen Begabungsmangel nehmen können. Ihre digitale Lebenswelt dergestalt in den Unterricht zu integrieren ist freilich ein gelungener Schritt in Richtung Schülerorientierung und auch mithilfe von Software, die beim Generieren der Kunstwerke unterstützt, sind kreative Prozesse im Spiel, sodass Zettel und Papier nicht unbedingt vonnöten sind. Von der Schülerschaft scheinen diese Möglichkeiten ebenfalls positiv bewertet zu

621 Vgl. Bitz, 2010, S. 23. 622 Maliszewski, 2013, S. 237.

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werden.623 Deshalb sollte der Einsatz von Technik nicht grundsätzlich verworfen werden. Dennoch möchte ich gewisse Einwände dagegen erheben, die unbedingt erwogen werden sollten: Kinder und Jugendliche verbringen ohnehin immer mehr Zeit in digitalen Welten – nicht nur nach dem Unterricht, sondern auch in der Schule. Obwohl ihre Medienkompetenz deshalb zweifelsohne gestärkt werden muss, liegt auch ein Wert darin, sie hin und wieder von Bildschirmen und Bilderwelten wegzulenken und stattdessen mit Stift und Papier ihren haptischen Sinn zu aktivieren. Ein leeres Blatt, das voller Möglichkeiten ist, ›auszuhalten‹, ist nicht für alle Schülerinnen einfach. Eigenständiges Zeichnen erfordert Mut, fördert dafür aber auch die Hand-Augen-Koordination, das Konzentrationsvermögen, die Detailplanung und Vieles mehr. Man kann davon ausgehen, dass andere Hirnbereiche aktiviert werden als bei der Generierung von digitalen Comics mithilfe von digitalen Programmen, die im Grunde nicht mehr als »schlichte technische Steuerungsmöglichkeiten« sind.624 Ein Comic, der mithilfe von kinderfreundlichen Comicwebsites erstellt worden ist, wird zudem nie die gleiche Ausdruckskraft haben, wie ein Comic, der den persönlichen Strich des Zeichners trägt. Kommerzielle Comics verlieren sogar schon durch maschinell erstellte und nicht handgeletterte Texte in den Sprechblasen an Expressivität – wie viel mehr geht der Charakter der Werke verloren, wenn alle Comics den gleichen Zeichenstil teilen? Hinter digitalen Vorlagen kann man sich mit seinen Gefühlen und Erfahrungen exzellent verstecken. Zudem sollte ohnehin nie Ziel sein, zeichnerisch ›perfekte‹ Comics zu produzieren. Vielmehr sollten drei andere Bestrebungen im Vordergrund stehen: Erstens sollte eine fundierte Einheit zum Thema ›Comics‹ den Kindern und Jugendlichen klarmachen, dass auch das simpelste Strichmännchen ausreicht, um eine Geschichte zu erzählen, ja dass sogar der simple und vereinfachte Zeichenstil von Comics den Charme des Mediums an sich oft erst ausmacht. Zweitens kann handlungsorientierter Unterricht sozial aktivieren und auch kooperative Settings schaffen, in die sich jede mit ihren Begabungen einbringen kann (vgl. dazu auch II 4.3). Sprich: Wenn man wirklich nicht mit der zeichnerischen Ebene für seinen Comic zurechtkommt, kann man sich natürlich durch technische Möglichkeiten behelfen. Im Sinne sozio-konstruktivistischen Lernens wäre es aber noch besser, einen Freund oder eine Freundin um Hilfe zu bitten, der man dann umgekehrt vielleicht in anderer Hinsicht helfen kann. Drittens sollte handlungsorientierter Unterricht und gerade Unterricht mit Comics zum Empowerment von Heranwachsenden beitragen und in ihnen das Selbstvertrauen stärken, auch auf eigene Fähigkeiten zu setzen und sich nicht der 623 Vgl. ebd., 237f. 624 Macgilchrist, 2012, S. 195.

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Norm einer vermeintlichen ›Perfektion‹ unterzuordnen. So hat das Selbstbewusstsein Raum, um zu wachsen. Dies ist wohl ein eher vernachlässigter Aspekt der Theorie rund um handlungsorienterten Unterricht, der meines Erachtens aber Aufmerksamkeit verdient. Man sollte also erwägen, mit der Klasse nicht gleich zum Tablet zu greifen, sondern bei großen Sorgen in der Lerngruppe eher zeichentechnisches Wissen ausbauen, zum Beispiel indem die Mädchen und Jungen lernen, mithilfe welcher Werkzeuge und mithilfe welcher Kniffe sie eine Comicseite besonders übersichtlich und leserfreundlich gestalten können, sofern dies ihnen wichtig ist.

3.2.3 Wissen und Vorwissen aufbauen Dinge zu können, ist gut. Dinge zu wissen, ist manchmal aber genauso wichtig. Diese Erkenntnis konnte auch die Wende zum kompetenzorientierten Unterricht nicht gänzlich unterwandern. Für den Religionsunterricht und alle anderen Fächer sind deshalb auch sogenannte ›inhaltsbezogene Kompetenzbereiche‹ in den Unterrichtszielen nicht wegzudenken (vgl. III 3.1). Comics sollten deshalb auch zum Vermitteln konkreten Wissens genutzt werden. Während in diesem Abschnitt noch der allgemeindidaktische Wert von Comics für den inhaltlichen Wissenszuwachs untersucht werden soll, finden sich konkrete thematische Anklänge in Comics zu Themen des Religionsunterrichts in III 3.1.1. Dieses Kapitel handelt also von Wissenskompetenzen, die sich aus der inhaltlichen Seite der Comiclektüre ergeben können. Zunächst soll dafür ein Überblick über Infocomics und Comicgattungen, die diesen nahestehen, geleistet werden. Anschließend wird untersucht, worin die besondere Eignung des Comics als Instruktionsmedium besteht. Gleichzeitig geht es wieder um Comiccharakteristika, die inhaltliche Kompetenzen besonders bei bildungsbezogenen Risikogruppen stärken können. Infocomics und nahe Verwandte Comics, die in erster Linie Wissen vermitteln sollen, werden unter verschiedenen Namen verhandelt und hier als Sach- oder Infocomics bezeichnet (im Englisch auch: ›Educational Comics‹, im Französischen ›Bandes dessinées pédagogiques‹). Hier steht der Unterhaltungswert nicht im Vordergrund, obwohl er in der Regel auch eine Rolle spielt, was eine Stärke des Genres ausmacht625. Was genau 625 Vgl. Hangartner, 2016, S. 291 Der Begriff ›Serious Comics‹, der derzeit unter anderem vom Leibniz-Forschungsverbund genutzt wird, um Comics zu beschreiben, die »die Sprache der Comics für Wissenschaftskommunikation, wissenschaftliche Information und Lernen« benutzen, ist deshalb irreführend und zu kritisieren (vgl. Leibniz-Forschungsverbund Science 2.0, 2018 ). Auch Infocomics können Spaß bereiten.

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sich alles hinter dieser Bezeichnung verbirgt, wird im Forschungsdiskurs noch verhandelt626: Manche Autorinnen zählen zum Beispiel auch Bibelcomics, Literaturadaptionen und Comic(auto)biographien zu den Sachcomics. Zudem scheinen verschiedene Spielarten des Infocomics vorzuliegen, zum Beispiel ›Wissenschaftscomics‹ mit besonders hohem Anspruch und Komplexitätsgrad wie Sousanis’ Unflattening, eine Dissertation in Comicform aus dem Jahr 2015. Weitere Subgenres könnten dokumentarische Comicreportagen und Metacomics (also Comics über Comics) sein.627 Comics, die mit pädagogischer oder informierender Absicht verfasst wurden, nehmen also verschiedene Formen an und die Übergänge sind sicher oft fließend. Dazu kommt, dass man natürlich nicht nur aus expliziten Sachcomics etwas lernen kann: Manchmal ist die didaktische Absicht offensichtlich, manchmal weniger; mal nehmen Leserinnen neues Weltwissen eher beiläufig auf, mal steht der Wissenszuwachs für die Schaffenden, aber zum Beispiel nicht für die Lesenden im Vordergrund. Bei all dem haben erklärende/informierende Comics, das sei angemerkt, nicht automatisch weniger Text als thematisch vergleichbare fließende Sachtexte. Dazu müssen die Lesen die Aufgabe bewältigen, parallel simultane und sequenzielle Rezeptionsweisen zu integrieren, redundante Informationen zu selektieren, Symbole zu deuten und (narrative oder intramediale) Leerstellen zu füllen.628 Die Textmasse aber, für viele Lernende ein entscheidendes Problem bei der Informationsaufnahme, scheint auf den ersten Blick oft geringer, unter anderem durch das motivierende Bildmaterial aufgelockert. Im Moment gibt es zudem viele Comics, die historisches und gesellschaftliches Wissen eingewoben in Narrationen oder Lebensgeschichten vermitteln. Das geschieht durch den Trend der Szene zu Graphic Memoirs, zu gesellschaftspolitisch relevanten Themen und die Auseinandersetzung mit geschichtlichen Ereignissen, die Traumata in einer Kultur oder Gesellschaft evoziert haben (vgl. dazu I 2.5). Auch zum Beispiel die Bundeszentrale für politische Bildung hat inzwischen das Wissensvermittlungspotenzial von Comics erkannt und deshalb unter anderem Yelins Irmina, ein Comic mit biographischer Storyline, der um die Zeit des Zweiten Weltkrieges spielt, in eigener Edition veröffentlicht.629 In derartigen Werken stellt die Interaktion visueller, narrativer und inhaltlicher Botschaften ganz spezielle Rezeptionsanforderungen an die Leserschaft, die zusätzlich zwischen den historischen Tatsachen und der dargestellten individuellen Lebensgeschichte differenzieren müssen.630 Man könnte ferner noch die Gruppe dezidierter, für die Schule konzipierter ›Lehrcomics‹ nennen, die Eingang in Schulmaterialsammlungen ge626 627 628 629 630

Dazu Hangartner, 2016, 291f. Vgl. ebd., 297f., 300; Wenning; Krdzic; Sandmann, 2018, S. 191. Vgl. Sieve; Prechtl, 2013 (a), S. 5. Yelin, 2015. Vgl. Sieve; Prechtl, 2013 (a), S. 5.

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funden haben und teilweise auch in Lehrbüchern abgedruckt sind. Ein Beispiel dafür wäre zum Beispiel der Comic Die Suche631, der explizit für die Beschäftigung mit der Shoa im Schulunterricht erstellt und veröffentlicht wurde. Comics dieser Art gibt es sowohl für Erwachsene als auch für Kinder und Jugendliche. Der Übersichtlichkeit halber könnte man folgende grobe Kategorisierung von Comicwerken aufstellen, um ihre pädagogische Absicht oder Eignung zu erfassen, wobei Comics, die in dieser Arbeit auch an anderer Stelle genannt werden, hier als Beispiele dienen: 1) Comics, die sich durch dezidiert »didaktische Wirkungsabsichten«632 auszeichnen, die vor allem über Zusammenhänge, Sachverhalte und Abläufe informieren oder erzieherische bzw. moralische Werte vermitteln sollen, während der Unterhaltungswert mehr oder weniger in den Hintergrund tritt: – Comics als Instruktionsliteratur (zum Beispiel um den korrekten Ablauf eines muslimischen Gebets darzustellen). Diese sind meistens sehr knappgehalten und eng verknüpft mit der Gattung der Infocomics. – Infocomics sind Comicwerke, die Sachverhalte, Zusammenhänge und Abläufe erklären oder darstellen (bspw. Economix). Die Bezeichnung ›Sachcomic‹ lässt anklingen, dass der Comic relativ sachlich verfasst ist beziehungsweise ein konkreter Gegenstand/eine konkrete Sache im Zentrum des Comics steht. Die Informationen werden jedoch sehr oft durch narrative Strukturen vermittelt. Dieses Comicgenre gewinnt zunehmend an Bedeutung und ist oft eng verknüpft mit dem Genre der Comicbiographie.633 – Comicbiographien sollen einen Überblick über Lebensläufe geben (bspw. Luther, Bonhoeffer). – Comicreportagen, Comicberichte und ähnliche Genres, die dokumentarisch Einblick in eine bestimmte Lage oder Situation geben wollen (bspw. Aufzeichnungen aus Jerusalem) sind sehr eng verknüpft oder gleichbedeutend mit der folgenden Kategorie. 2) Comics, für die der Unterhaltungswert eine größere Rolle spielt, in denen pädagogische Absichten jedoch noch erkennbar sind: – Dazu gehören etwa narrative Comics, in denen der Autor keine eigene Geschichte entwirft, sondern (explizit oder implizit) Wissen über andere Erzählungen und Texte vermittelt, die in der Regel vormals in anderen Medien erschienen sind und deren Inhalte sich das Publikum auf diesem Wege aneignen kann (bspw. diverse Bibelcomics). Dabei gibt es oft bewusste Abwandlungen, zum Beispiel zugunsten von Kindgerechtheit, iro631 Heuvel; van der Rol; Schippers, 2010. 632 Prechtl, 2013 (b), S. 8. 633 Vgl. Deutsche Gesellschaft für Comicforschung, 2017.

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nischer Selbstreflexivität und vieles mehr. Sehr populär sind zum Beispiel die spielerischen Literaturadaptionen von Comics, die im Lustigen Taschenbuch erscheinen. Dahinter kann eine mehr oder mindere didaktische Absicht stecken, oft entstehen diese Comics auch aus einem künstlerischen Interesse heraus. – Comic(auto)biographien sollen oft eine emotionale Wirkung erzeugen, jedoch auch wichtige gesellschaftspolitische oder soziale Zusammenhänge darstellen oder anreißen und sensibilisieren (bspw. Persepolis634). 3) Comics, die mit keinem dezidierten pädagogischen Ziel geschrieben wurden und in denen der Unterhaltungswert an erster Stelle steht – ohne auszuschließen, dass daraus inzidentell doch noch Einiges gelernt werden kann: – Dazu zählen Comics, die eigene erzählerische Absichten verfolgen, dabei aber aus einem gewissen kulturellen Wissenskanon schöpfen, der für manche Leser neu ist, so dass sie durch den Comic ihren Horizont erweitern (bspw. Expedition nach Shambala, Onkel Dagobert – Sein Leben seine Milliarden). Umgekehrt können manchmal wichtige erzählerische Elemente nicht verstanden werden, wenn einem das kulturelle Hintergrundwissen fehlt (bspw. Sandman – Zeit des Nebels). – Ferner Comics, die eigene erzählerische Absichten verfolgen, ohne die Tür zu anderen (kulturellen) Wissenswelten öffnen zu wollen. Dazu zählen zum Beispiel viele Superheldengeschichten, die allerdings durch die wiederholte Lektüre zum Beispiel auch implizit Wissen über diegetische Welten und Genrekonventionen vermitteln.635 Wichtig ist, dass sich mein Kategorisierungsversuch nicht primär an äußerlichen Genre- oder Gattungszuschreibungen aufhält und dass es für den Wissenszuwachs zum Beispiel auch nicht entscheidend ist, ob ein Infocomic narrativ gehalten ist oder nicht. Probleme dieser Kategorisierungsversuches sind aber ebenso evident wie pädagogisch vielversprechend: Kann man nicht aus jedem Comic lernen? Selbst aus denen, die sich nur selbst vermitteln wollen? Muss der 634 So erklärt Satrapi im Vorwort von Persepolis: Seit der Revolution »wird diese traditionsreiche Zivilisation fast ausschließlich mit Fundamentalismus und Terrorismus in Verbindung gebracht. Als Iranerin, die mehr als ihr halbes Leben im Iran verbracht hat, weiss [sic] ich, dass dieses Bild falsch ist. Darum war es so wichtig für mich, Persepolis zu schreiben. Ich glaube, dass man eine ganze Nation nicht aufgrund der Fehler einer extremistischen Minderheit verurteilen darf. Ich will auch nicht, dass jene Iranerinnen und Iraner vergessen werden, die für die Freiheit gekämpft haben und im Gefängnis gestorben sind, die ihr Leben im Krieg gegen den Irak verloren und unter den verschiedenen repressiven Systemen gelitten haben, oder gezwungen waren zu fliehen. Man kann vergeben, aber man soll niemals vergessen.« (2011, S. 3) 635 Prechtl führt zudem ins Feld, dass in den 1950er- und 60er-Jahren viele naturwissenschaftliche Aspekte im Superheldengenre verhandelt wurden (vgl. 2013 (b), S. 8).

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ganze Comic als Ganzes mit informierender Intention verfasst worden sein, um als Infocomic zu gelten, oder reichen auch einzelne, eingeflossene Informationen in der Geschichte? Und wiederum: Lernen nicht die einen aus einem Comic, während die anderen es nicht tun? Dies spielt nicht nur beim Konzept des ›doppelten Adressaten‹ einen Rolle, wenn eine Serie wie Morris’ Lucky Luke als spannende Westerngeschichte, jedoch auch als »intelligente Satire auf die Western-Ideologie« gelesen werden kann.636 Ob aus einem Comic gelernt wird oder nicht, hängt möglicherweise viel mehr vom Leser als vom Werk und Autor ab. Elemente wie sprachliches oder literarisches Wissen können von Comicautorinnen zudem vermittelt werden, ohne dass diese dies jemals bewusst angestrebt hätten. Viele Werke regen außerdem subtil zum Nachdenken über gesellschaftliche und zwischenmenschliche Zusammenhänge an, weshalb sie hoch pädagogisch erscheinen können, ohne einen konkreten Sachverhalt zu vermitteln. Dazu zählen zum Beispiel zahlreiche kluge Einzelcomicstrips, wie in Calvin and Hobbes. Außerdem kann ein einziger Comic aus vielen verschiedenen Elementen bestehen kann: Delisles Aufzeichnungen aus Jerusalem ist beispielsweise ein Mix aus informierender Comicreportage, biographischen Erzählsträngen und humoristischen Passagen, die wohl vor allem unterhalten sollen.637 In diesem Kontext spielt auch das implizite, also unbeabsichtigte oder spielerische sowie das inzidentelle Lernen, zu dem erst seit etwa 15 Jahren näher geforscht wird, eine Rolle638: Dabei handelt es sich um beiläufig oder zufällig aufgenommenes Wissen, »learning that takes place in the absent of intent to learn or instructions to that effect«.639 Man kann annehmen, dass (nicht nur) Kinder permanent neues Wissen aufnehmen, Zusammenhänge verstehen oder ihren Horizont erweitern, wenn sie mit gut gemachten Medien in Kontakt kommen, die ihnen die Möglichkeit dafür bieten. Man könnte so weit gehen zu sagen: Inzidentelles und implizites Lernen kann stattfinden, sobald sich ein Rezipient in einen neuen Comic vertieft. Das Potenzial ist enorm: Nicht nur im schulischen Kontext können inzidentelle Lerngelegenheiten ergänzend zur expliziten Vermittlung und Aneignung von Wissen eingesetzt werden. Inzidentelle Lernsituationen können dazu beitragen, auf unprätentiöse Weise Vorkenntnisse zu schaffen, indem etwa Lernangebote in der frühen Kindheit geschaffen werden, die zur Förderung beitragen, ohne dass Forderungen erlebt werden640.

Es gibt Hinweise darauf, dass besonders sprachliches Wissen gut durch Comics erworben werden kann, weil es in eine Geschichte eingewoben ist und die An636 637 638 639 640

Grünewald, 2000, S. 11. Vgl. Delisle, 2012. Vgl. Röhr-Sendlmeier, 2012, S. 3. Reber; Rhianon; Reber, 2009, S. 424; vgl. Röhr-Sendlmeier, 2012, S. 3. Röhr-Sendlmeier, 2012, S. 6.

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eignung zusätzlich durch Bilder gestützt wird.641 Freilich kann bei gezielten comicdidaktischen Ansätzen keine Rede mehr von »zufälligem« Lernen sein – inzidentell dazugelernt werden kann aber trotzdem jederzeit! Größere ›Sachlichkeit‹ bedeutet mitnichten, dass die Lesenden tatsächlich mehr oder besser aus einem Comic lernen können. Im Gegenteil ist der Unterhaltungswert oft mitentscheidend für das Lehrpotenzial eines Instruktionsmediums, wirkt er sich doch positiv auf Interesse, Motivation, Lernklima und kognitive Aktivierung aus (vgl. II 3.1). Nicht alle verfügbaren Sachcomics eignen sich auch für Schüler. Ein Problem vieler Infocomics besteht zum Beispiel darin, dass nicht alle von fachlich und didaktisch versierten Autoren stammen, so dass hin und wieder zu Recht über Vereinfachungen geklagt wird.642 Sogar kleine und große Fehler können sich auf diese Weise in Comics einschleichen, zum Beispiel in Bezug auf die Fachsprache oder die Vermischung von Alltagsvorstellungen und wissenschaftlichen Konzepten.643 Andersherum kann zwar fachliche Korrektheit vorliegen, aber durch die Machart des Comics wird der Informationstransfer eklatant beeinträchtigt, zum Beispiel wenn visuelle, narrative und fachliche Aspekte nicht zusammenwirken, sondern sich gegenseitig behindern.644 Auch eine (zielgruppenspezifisch!) ›unpassende‹ oder ungeeignete Gestaltung des Comics kann sich dysfunktional auf die zu vermittelnden Inhalte auswirken.645 So haben Oechslin und Keller aufgedeckt, dass der Erfolg des Infocomics Abenteuer im Reich der Synthetic Biology (die deutsche Übersetzung eines Sachcomics der amerikanischen ›MIT Synthetic Biology Working Group‹) unter anderem durch die fehlenden Identifikationsfiguren, die unpassenden Genre-Anspielungen und mangelnde Kohärenz zwischen inhaltlicher und zeichnerischer Ebene vereitelt wurde: »Inwiefern für die Lesenden die Comic-Sprache und die zu vermittelnden Informationen eine Einheit bilden, ist entscheidend für das Gelingen der Wissensvermittlung.«646 Auch die affektive Ebene ist in Lernkontexten nicht zu unterschätzen: »Die negativen Assoziationen oder Gefühle gegenüber den Stilmitteln und Figuren übertragen sich […] auf die Glaubwürdigkeit des vermittelnden Wissens selbst.«647 Die besten Resultate werden wahrscheinlich erzielt, wenn fähige Comic-Künstlerinnen und Fachexperten eng zusammenarbeiten oder sogar in Personalunion auftreten, wie es zum Beispiel bei Goodwin und Burrs Economix oder McClouds Comics richtig lesen der Fall ist. Ob aus einem Comic gelernt werden kann, hängt jedoch vor auch von den Leserinnen selbst 641 642 643 644 645 646 647

Vgl. Ramachandra; Hewitt; Brackenbury, 2011. Vgl. Sieve; Prechtl, 2013 (a), S. 5. Vgl. Prechtl, 2013 (b), S. 9. Vgl. Oechslin; Keller, 2013, S. 13. Vgl. ebd. 2013, S. 18. Ebd.

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(also zum Beispiel ihrem Vorwissen) und der didaktischen/pädagogischen Aufbereitung des Mediums ab. Aus Comics lernen Comics bieten einige Nach-, aber auch mehrere Vorteile gegenüber anderen (Lern-)Medien, die in didaktischer Absicht eingesetzt werden können. So kommt es bei der Rezeption von Comics zu kognitiven Prozessen, die die Verstehensund Memorierungsleistung der Rezipientinnen begünstigen. In II 3.3 soll näher auf diese Prozesse eingegangen werden, es sei jedoch schon hier auf die ›doppelte Kodierung‹ verwiesen, die das Hybridmedium oft vorlegt und die mit produktiven Lerneffekten aufwarten kann. Cary erklärt: »Besides making oral and written text more concrete, and hence more understandable, visuals can increase the number of concepts learned and the length of time those concepts are remembered.«648 Schließlich sei der Sehsinn, so Cary, die vielleicht wichtigste Quelle der Informationserfassung für den Menschen649, obwohl es nachgewiesenermaßen auch hier unterschiedliche Lernpräferenzen gibt.650 Hier dürfen also individuelle Lernstile zum Tragen kommen: Manche Menschen lernen möglicherweise so gut mit Comics, weil ihnen in schulischen/akademischen Lernprozessen das Lesen hilft, weil sie davon profitieren, wenn das Wissen durch Formen, Farben, sprich: visuell dargestellt wird oder weil sich ihnen dadurch die Möglichkeit ergibt, sich die neuen Inhalte in der von ihnen präferierten Einzelarbeit anzueignen.651 Dennoch gibt es stichprobenartige Studien, die nahelegen, dass alle Schüler – ganz unabhängig von individuellen ›learning styles‹652 – von der Arbeit mit Comics profitieren. So haben Wenning et al. die Lernwirksamkeit von Comics im Biologieunterricht im Vergleich zum Lernen mit einem Lehrtext untersucht.653 Durchgeführt wurde die Interventionsstudie anhand zweier Realschulklassen in NRW im Pre-Post-Follow-Up-Design, so dass nicht nur die Lerneffekte, sondern auch die Behaltensleistung der Klassen nach fünf Wochen überprüft wurde. Im Vergleich der beiden Treatmentgruppen zeigte sich, dass die Comicgruppe durchgehend signifikant bessere Lernergebnisse vorzuweisen hatte.654 Häufig könnte es der cartoonhafte Zeichenstil von Comics sein, der sich als vorteilhaft erweist, sorgt die zeichnerische Reduktion doch dafür, dass das Dargestellte schnell und unkompliziert erfasst werden kann – häufig mit nur 648 649 650 651 652 653 654

2004, S. 23. Vgl. 2004, S. 23. Vgl. dazu Dunn; Dunn, 1993; Dunn; Dunn, 1999. Vgl. dazu Nelson, 1998. Dunn; Dunn, 1993. Vgl. Wenning; Krdzic; Sandmann, 2018. Vgl. ebd., S. 193.

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einem Blick. Die meisten Sachcomicschaffenden greifen deshalb auf genau diesen Stil zurück, während unübersichtliche, komplizierte und sehr detaillierte Bilder, wie sie in manchen Comics natürlich auch vorkommen, eher erzählenden Werken für Erwachsene vorbehalten sind, um dort eine spezifische Ausdruckskraft zu entfalten. Für die comicgestützte Arbeit sollten vor allem nicht dezidiert didaktisch-orientierte Werke vor dem Einsatz also immer auch unter der Fragestellung geprüft werden, ob eher der Inhalt, das künstlerisch-Expressive oder die Narration im Vordergrund stehen soll und ob der jeweilige Comic in dieser Hinsicht geeignet ist. Meistens jedoch zeichnen sich dezidierte Sachcomics eben durch einen schlichten und kognitiv entlastenden Stil aus. Das ist im Schulkontext besonders wichtig, um nicht die Kinder zu benachteiligen, die bisher noch keine oder wenig Erfahrungen mit dem Wissenserwerb durch Bilder gemacht haben, denn beim Lernen mit Comics ist nachgewiesenermaßen vorteilhaft, wenn Lernende Übung in der Verarbeitung graphisch angebotener Informationen haben, zum Beispiel auch deren Bilderbücher oder Videospiele.655 Wie einfach oder komplex der Zeichenstil genau gehalten werden muss, um optimale inhaltliche Lern- und Erinnerungsleistungen zu gewährleisten, ist aber im Einzelnen noch nicht erforscht. In der Theorie führen unterschiedliche Zeichenstile aber auch zu unterschiedlichen Effekten: Naturalistische Zeichnungen werden unter anderem von Schaffenden eingesetzt, die verdeutlichen wollen, dass ihre Geschichte großen Anhalt an der Realität hat, um sie ›echter‹ erscheinen zu lassen. Gewaltdarstellungen werden so zum Beispiel unbeschönigt dargestellt, das Gezeigte wird von den Lesern als realer, möglicherweise auch unmittelbarer empfunden – so zumindest die Theorie. Natürlich können Comics mit vereinfachten Zeichnungen weder Fotos noch Videos ersetzen, wo absolute Naturgetreue gewünscht wird. So vermag es ein cartoonhaftes Comicbild wohl, den zweiten Tempel Jerusalems so darzustellen, dass das Wesentliche auf einen Blick – oder zumindest in kurzer Zeit – erfasst werden kann. Eine videobasierte, fotorealistische Rekonstruktion oder auch ein plastisches Modell könnte aber größere Faszination in der Lerngruppen hervorrufen und den Blick auf Details ermöglichen. Die Form des Lernmediums sollte sich also immer auch nach dem Inhalt und Lernziel richten. Zusätzlich muss in den Worten Prechtls die Relevanz des »zielgruppeninadäquaten Wahl des Designs« in einem Comic hervorgehoben werden.656 Denn unangenehme Gefühle oder Assoziationen gegenüber Stilmitteln oder Figuren in einem Comic können sich negativ auf die Bereitschaft auswirken, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen, zum Beispiel wenn der Zeichenstil des Werkes von einer Lerngruppe in der Oberstufe als allzu verspielt wahrgenommen wird oder die Figuren im hohen Maße unsympathisch er655 Vgl. Röhr-Sendlmeier; Kubat; Käser, 2012, S. 121. 656 2013 (b), S. 9.

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scheinen und keine ausreichende Identifikationsfläche bieten.657 Natürlich spielen dabei auch individuelle Empfindungen eine Rolle. Sachinformationen und Bildbotschaften müssen zudem für Comiclesende einen ausreichenden Kongruenzgrad aufweisen658: Ein ernstes Thema muss mit halbwegs ernsthaften Bildbotschaften transportiert werden, wenn Irritationen vermieden werden sollen – wobei auch Comicmeisterwerke hier teilweise einen Balanceakt wagen und Irritationen und kognitive Konflikte auch pädagogisches Potenzial bergen. Ähnliches gilt für die graphische, narrative und textuelle Ebene: So kann beispielsweise eine Diskrepanz zwischen Genremerkmalen eines Abenteuercomics und gleichzeitigem, (zu) anspruchsvollen Fachwortschatz vorliegen.659 Dabei werden Erwartungshaltungen gebrochen und die Leser könnten enttäuscht zurückgelassen werden. Comics können ferner im Zuge einer adaptiven Anpassung der Lehrmethode gebraucht werden, um auch solche Schüler einzubinden und zu aktivieren, die mit ihrem individuellen, ausbaufähigem Vorwissensstand vernachlässigt wurden oder Lernhürden zu überwinden haben, die mit Förderbedarf in der bildungssprachlichen und Lesekompetenz zusammenhängen (vgl. auch II 3.2.4 und 3.2.5). Tatsächlich gibt es Fälle und Situationen in der Schule, in denen manchen Schülerinnen der Blick auf den Inhalt durch die Form und Machart des Instruktionsmediums verstellt wird. Das ist zum Beispiel bei komplexen Fachtexten der Fall, wenn der Grad der Lese- und/oder bildungssprachlichen Kompetenz dafür noch nicht ausreicht. Ein langer, erklärender Text ohne hilfreiche Graphiken und Bilder kann (nicht nur) von Schülerinnen, die mit wenigen sprachlichen Ressourcen auskommen müssen, den Eindruck einer »Bleiwüste« erwecken.660 Günther et al. erklären die zentrale Problematik: Ziel von Fachtexten ist es, Informationen möglichst exakt, aber komprimiert zu vermitteln. Das Verstehen von Fachtexten ist ein komplexer Prozess, der verschiedene Ebenen umfasst. So muss der Leser z. B. die Bedeutung von Wörtern kennen […] und komplexe Sätze entschlüsseln. […] Im Gegensatz zur mündlichen Kommunikation kann man den Verfasser nicht fragen, wie er etwas gemeint hat. Als Leser muss man mit einem reduzierten Kontext zurechtkommen.661

Auch Textaufgaben seien häufig derart knapp dargestellt, dass es auf jedes einzelne Wort ankomme.662 Wie die meisten Fächer zeigt sich mittlerweile auch der Religionsunterricht deshalb immer sprachsensibler.663 Denn die Lösung liegt in 657 658 659 660 661 662 663

Vgl. Oechslin; Keller, 2013, S. 18. Vgl. ebd., S. 15. Dazu bspw. ebd. Macgilchrist, 2012, S. 188. 2013, S. 10. Vgl. ebd. Vgl. bspw. Altmeyer, 2019.

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der sachgemäßen Lese- und (fachinternen) Sprachförderung der Lernenden, um sie langfristig in der Bewältigung solcher Aufgaben zu fördern. Bis dahin könnten aber auch die Lernmedien in einer heterogenen Gruppe adaptiv gehandhabt werden, so dass auch barrierefreie(re) Optionen zur Verfügung stehen. Comics bieten nämlich deutlich mehr Kontext als sprachlich reduzierte (Fach-)Texte. Cary erklärt: »Abundant visual clues increase the amount of comprehensible input and consequently boost reading comprehension«.664 Auch die Komplexität von Abläufen, Handlungen und (Inter-)Aktionen wird durch die schrittweise Darbietung in Bildsequenzen zweifelsohne reduziert.665 Ein praktisches Beispiel zur Verdeutlichung: In einem binnendifferenzierenden Arrangement könnte Kindern mit größeren sprachlichen Ressourcen beispielsweise direkt das Gleichnis vom Sämann (Mk 4, 3–8) in Textform angeboten werden, während Kinder mit geringeren sprachlichen Ressourcen einen erzählenden, aber inhaltlich gleichen Comic erhalten. Dieser gleicht (fremd-)sprachliche Hürden aus, indem er visualisiert, was Worte wie ›säen‹, oder ›aufpicken‹ bedeuten und was damit gemeint ist, wenn eine ›Saat aufgeht‹. Wenn die Form nicht mehr das zentrale Problem darstellt, können die Schüler den Inhalt besser wahrnehmen und sich auch konstruktiver sowie angstfreier darüber austauschen. Das Ergebnis ist ein potenziell produktiverer, inklusiverer und effektiverer Unterricht. Bilder können dazu gerade in erzählenden Kontexten viel Atmosphäre transportieren – ein Aspekt, der im Wort für Wort-Lesen von Lesenovizen und denen, die mit weniger Lesekompetenzressourcen auskommen müssen, oft zwangsläufig vernachlässigt wird, enorm den Genuss schmälert und auch aus der Interpretation ausschließen kann. Dies ist nicht nur für die narrative Religionspädagogik ein Problem, sondern auch für den inklusiven Literaturunterricht. Comics können auch der Vorentlastung von sprachlich anspruchsvolleren Texten dienen, ohne diese komplett zu ersetzen. Ein Comic könnte zum Beispiel dem kontextreduzierten Gleichnis im obigen Beispiel also durchaus auch vorweggeschaltet werden, anstatt den Text ganz zu ersetzen. Denkbar wäre es auch, dafür die sprachlichen Anteile des Comics zunächst zu schwärzen. Aus der Leseforschung ist bekannt, dass das Leseverstehen deutlich gesteigert werden kann, wenn dem eine Bildung von Hypothesen der Aussagen des Textes vorangeht.666 Dies kann beispielsweise mithilfe von Titel, Zwischentitel oder illustrierenden Bildern geschehen. Gerade letztere sind in Comics reichlich vorhanden, so dass Schüler, die mit Textinhalten Schwierigkeiten haben, einen Eindruck vom Thema durch das Überfliegen der Comicbilder erhalten könnten, die sich auf den ersten

664 2004, S. 13. 665 Vgl. Prechtl, 2013 (b), 8f. 666 Ein Top-Down-Prozess, vgl. Hüttis-Graff, 2011, S. 65.

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Blick offenbaren: »Texts are linear, but while the comic is, of course, also read in a deliberate sequence, one can hardly fail to see all the panels on a page at once.«667 Es ist auch denkbar, Lernenden, für die Deutsch die Zweitsprache ist, durch Comics im Ausbau ihrer Erst-/Familiensprache zu unterstützen. Dies geht mit einer Didaktik der Mehrsprachigkeit konform, die alle verfügbaren, sprachlichen Ressourcen nutzen will, anstatt bei multilingualen Kindern nur Defizite zu sehen.668 Denkbar ist zum Beispiel für deutsch-türkische Kinder ein türkischer Comic zu einer deutschen Textvorlage, der anspruchsvolle Zusammenhänge auch in ihrer Erstsprache präsentiert. Natürlich lassen sich ähnliche Prozesse nicht nur für die Rezeption, sondern auch für die Produktion fruchtbar machen: Abläufe, Sachverhalte oder Geschichten lassen sich von Kindern auch in Comicform darstellen, wenn die sprachlichen Hürden für präzise Ausdrucksweisen noch zu hoch sind. Cary verweist auf seine Studie zu comicähnlichen Storyboards, die handlungs- und produktionsorientierte Ansätze miteinander verbinden: For students with low English literacy, traditional paper-and-pencil assessment has an obvious drawback; students are unable to show the teacher that they understand a concept using English writing. This inability to demonstrate competence can lead to substantial student frustration and possible loss of self-esteem. In this study669, regardless of how much English students hat to work with, all were able to use storyboarding to show (literally!) their understanding of the stories. Once familiar with the technique, the students could also use it to storyboard news events, biographies, solutions to a school or social problem, a week’s worth of weather conditions, or the steps taken in an experiment on magnetism670.

So wäre es zum Beispiel denkbar, Vorwissen über die Wunder Jesu zu erfassen, indem die Lerngruppe Comics dazu zeichnet, um sprachliche Hürden zu reduzieren. So kann ein Bild vom bereichsspezifischen Vorwissen, nach Helmke »das mit Abstand wichtigste Lernermerkmal«, erlangt werden.671 Dabei sollte auch unter Umständen (!) in Betracht gezogen werden, digitale Technologien hinzuzuziehen, zum Beispiel mithilfe von Comic Creator-Webseiten672. Denn: fehlende zeichnerische Übung, beziehungsweise fehlendes Selbstbewusstsein in Bezug auf ästhetische Darstellungsweisen können ebenfalls eine Hürde für Schülerinnen darstellen. Computerbasierte ›storytelling tools‹, sofern sie intuitiv verständlich

667 668 669 670 671 672

Vanderbeke, 2010, S. 108. Vgl. Röhner, 2013, S. 8. Vgl. Cary, 1998, Anm. d. A. Cary, 2004, 34f. Helmke, 2009, S. 248. Zum Beispiel auf https://www.storyboardthat.com, https://www.canva.com und https:// www.pixton.com/de/ [Stand: 22. 02. 2019].

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sind, reduzieren diese Barriere und erlauben so teilweise einen unbeschränkteren Einblick in den Vorwissensstand (vgl. dazu kritisch auch II 3.2.2.1). Geringes thematisches Vorwissen, so bedeutend für darauf aufbauende Lernprozesse, kann verheerende Folgen haben und ist im Unterrichtsgeschehen nicht immer leicht auszugleichen. Oft sind Schülerinnen zum Scheitern verurteilt, wenn der von der Schule geforderte Vorwissensstand ihre eigenen Ressourcen übersteigt. Tatsächlich haben Wenning et al. deshalb diesen schulisch Benachteiligten in ihrer Studie besondere Aufmerksamkeit geschenkt: Kinder mit großem Vorwissen legten die oben beschriebene Lern-Charakteristik an den Tag, das heißt die Comicgruppe lernte mit einer großen Effektstärke signifikant besser als die Textgruppe. Bei Lernern mit geringem Vorwissen war die Wirkung sogar noch prägender: bei ihnen zeigte sich eine sehr hohe Effektstärke und sie lernten hochsignifikant besser.673 Tatsächlich schnitten die Probanden der Comicgruppe im Nachtest durchschnittlich besser ab, als diejenigen mit großem Vorwissen, die lediglich den Lehrtext zu Verfügung hatten.674 Mit Comics scheinen Lernprozesse also so effektiv zu sein, dass sie geringes thematisches Vorwissen zuweilen völlig ausgleichen! Anders ausgedrückt: Lehrtexte führen im Vergleich zum Comic zu solch geringen Lernleistungen, dass diese nur mit großem Vorwissen ausgeglichen werden können. Comics als Instruktionsmedien gleichen also Benachteiligungen und Unterschiede in der Schülerschaft aus. Wenning et al. haben zudem ermittelt, dass diese Ergebnisse nicht bloß auf ein höheres Interesse am Thema durch das neue Lernmedium oder das Selbstkonzept zurückzuführen sind, wie Kritiker vermuten könnten.675 Woher diese positiven Lerneffekte genau rühren könnten, soll im Kapitel II 3.3 unter Rückgriff auf die Instruktionspsychologie näher untersucht werden. Ich fasse zusammen: Aus Comics kann man inhaltlich lernen. Manche Comics sind explizit darauf ausgelegt, andere vermitteln neues Wissen eher beiläufig. Auch Sachcomics weisen dabei meistens narrative Strukturen auf. Für den Wissenserwerb birgt das Medium in jedem Falle diverse Vorteile. Der Zeichenstil kann dabei Einfluss darauf nehmen, was und wie gelernt wird. Durch ihre strukturellen Charakteristika kann der Kompetenz- und Wissenserwerb durch Comics gerade für Kinder, für die andere Textsorten zu viele Barrieren enthalten, besonders effektiv sein. Studien legen zudem nahe, dass durch den Einsatz von Comics geringes bereichsspezifisches Vorwissen auch in heterogenen Lerngruppen ausgeglichen werden kann. Die Eigenproduktion von Comics kann Lernenden ebenfalls helfen, ihr Wissen zu strukturieren und zu präsentieren.

673 Vgl. Wenning; Krdzic; Sandmann, 2018, S. 193. 674 Vgl. ebd., 193f. 675 Vgl. ebd., S. 194.

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Da jetzt schon mehrmals auf die Relevanz von sprachlicher Kompetenz im Kontext der Wissenskonstruktion verwiesen wurde, soll dieser Bereich im Zusammenhang mit den Wirkmöglichkeiten der Comicdidaktik als nächstes untersucht werden.

3.2.4 (Bildungs-)Sprache fördern Ein ausgebautes Sprach- und Ausdrucksvermögen ist für den Bildungserfolg von Kindern und Jugendliche unerlässlich, da Inhalte in der Schule fast immer auch verbal bzw. textuell vermittelt werden. Ähnlich der Lesekompetenz stellt diese Dimension deshalb eine Schlüsselkompetenz dar (wobei beide Felder eng miteinander verbunden sind). Dennoch weisen nicht wenige Lernende einen sprachlichen Kompetenzgrad beziehungsweise sprachlichen Habitus auf, der von bildungsbürgerlichen Erwartungen abweicht und sie im Prozess der kulturellen Passung benachteiligt. Ihr Erfolg wird damit in vielen Fächern (auch in Religion) grundlegend gefährdet. Im Folgenden soll aufgezeigt werden, wie es dazu kommt und inwiefern Comics durch ihre sprachlichen Anteile zur Schlüsselkompetenzförderung eingesetzt werden könnten, um Benachteiligungen auszugleichen. Dabei sollte man zwischen allgemeinsprachlichen, fremdsprachlichen und bildungssprachlichen Kompetenzen unterscheiden. Bekanntermaßen wird das individuelle Bildungsglück deutscher Schülerinnen maßgeblich durch ihre soziale Herkunft beeinflusst – und das wiederum rührt unter anderem aus Unterschieden in sprachlichen Registern und Kompetenzbereichen.676 Auch Kinder mit nicht-deutschen Eltern(teilen) erfahren aus ähnlichen Gründen eine Benachteiligung. In der Literatur ist in diesem Zusammenhang klassischerweise von ›(deutsch)sprachlich schwachen‹ Schülern, Schülerinnen mit ›mangelhaften Deutschkenntnissen‹ und Lernern mit ›Defiziten‹ in sprachlichen Kompetenzbereichen die Rede.677 Ganz unabhängig davon, ob sie mehrsprachig oder einsprachig aufgewachsen sind, kann man Schüler, die über bestimmte Register der deutschen Sprache nicht verfügen, als bildungsbezogene Risikogruppe betrachten. Denn Deutsch ist weithin die nationale Schulund Unterrichtssprache, auf deren vielschichtige Beherrschung, zum Beispiel in Form eines ausgeprägten Wortschatzes, es nach wie vor ankommt. Auch kulturelles Kapital, das zur kulturellen Passung im Bildungssystem führt, gilt trotz der mehrsprachigen, heterogenen Realität deutscher Schulen nur in Form von ausgeprägten Deutschkenntnissen. Ausdrucksvermögen wird häufig auch als Zeichen von Intelligenz (fehl-)interpretiert, sodass sprachliche Kompetenz zum 676 Vgl. Rösch, 2013, S. 18. 677 Vgl. bspw. ebd.

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Schlüssel für den Erfolg in Schule, Ausbildung und Arbeitsmarkt wird. In Anbetracht der Tatsache, dass das institutionelle Feld nicht übermäßig bereit scheint, den Raum für heterogene, sprachliche Habitusformen zu öffnen, bleibt nur ein Ausweg, um benachteiligte Gruppen zu stärken: Eine ausgeweitete (deutsch-)sprachliche Qualifizierung der Schüler muss ihnen die Möglichkeit geben, ihren Habitus besser an das bildungsinstitutionelle Feld anzupassen und so ihre Lebens- und Bildungschancen deutlich zu erhöhen. Wie aber kann und muss diese Förderung aussehen? Im (schul-)pädagogischen Diskurs ist seit den Neunzigerjahren ein positiver Paradigmenwechsel erkennbar, der die Ausbildung der bildungssprachlichen Sprachvarietät immer weniger als ›Bringschuld‹ der Kinder und Jugendlichen, sondern vielmehr als Aufgabe der Bildungseinrichtungen betrachtet – auch wenn viele Lehrkräfte in der Praxis sicher immer noch anders denken.678 Der Trend geht dabei aufgrund diverser Problematiken weg von additiven, unterrichtsexternen Sprachförderungsmaßnahmen hin zur fachinternen Sprachförderung.679 Das nordrheinwestfälische Landesinstitut für Schule und Weiterbildung verlangt beispielsweise für alle Fächer besonders die Förderung des schriftlichen Sprachgebrauchs, die die gedankliche Präzision und logische Genauigkeit der Lernenden verbessern soll, etwa durch die Anwendung von Konnektoren oder einer klareren Struktur. Schriftsprachlichkeit wirke positiv auf das strukturierte Denken sowie die Sprachentwicklung insgesamt ein, zwinge dazu, Sachverhalte und Gedanken zu entwickeln und für andere verständlich auszuarbeiten680. Es leuchtet ein, dass diese Kompetenzen auch für das Fach Religion von entscheidender Bedeutung sein können. Schülerinnen sprachlich zu fördern verringert aber nicht nur tendenziell die soziale Ungerechtigkeit. Stattdessen profitiert auch das fachliche Lernen und die schulische Kompetenzbildung durch die Sprachbildung der Kinder. Schließlich werden Lernmedien mit zunehmender Klassenstufe auch sprachlich immer an678 Vgl. ebd., S. 34. 679 Vgl. bspw. Weber, 2009, 219, 221. 680 Vgl. Landesinstitut für Schule und Weiterbildung, Curriculum NRW, 2002, S. 20. Wer diese ›anderen‹ sind, wird an dieser Stelle nicht weiter ausgeführt. Stillschweigend scheint der bildungsbürgerliche Ausdruckshabitus (mal wieder) als Maß aller Dinge gesetzt zu werden. Dabei ist Verständlichkeit stets subjektiv geprägt und stark zielgruppenabhängig! So wurde und wird die kommunikative Bibelübersetzung/Bibelübertragung der Volxbibel (2012) aufgrund ihrer Näher zur Jugendsprache stark kritisiert. Dennoch profitieren kirchenferne und konfessionslose Teenager erheblich davon, da religiöse Fachbegriffe vermieden und Gleichnisse kreativ in die Gegenwartssprache übertragen werden. Als anderes Beispiel könnte man auf Lehrer verweisen, die an der Schule durch eingeschränkte Soziolekte behindert werden könnten: Wenn sie ihre Erklärungen komplexer Zusammenhänge nicht in zielgruppengerechter Sprache formulieren können und stattdessen allein über ein bildungsbürgerliches Sprachregister verfügen, das ihrer Lerngruppe möglicherweise fremd ist, sind die Auswirkungen für den Unterricht fatal!

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spruchsvoller. Sprachkompetenz lässt sich unter anderem durch regelmäßiges Lesen aufbauen (vgl. auch II 3.2.5), denn Vertrautheit mit Texten führt auch zum souveräneren Umgang mit zunehmend komplexeren syntaktischen Konstruktionen und erweitert zudem den Wortschatz. Durch Lesen kann sich das Ausdruckspotenzial Heranwachsender also vergrößern, sowohl passiv als auch in der aktiven Übertragung. Leider kann die regelmäßige Lektüre gerade bei ausbaufähigen sprachlichen Kompetenzen sehr mühevoll erscheinen. Bücher bieten durch ihren rein textuellen Anteil streng genommen mehr Impulse als Comics (bezogen auf die Anzahl der Wörter pro Seite), allerdings werden sie gerade deshalb von Schülern mit geringem sprachlichen Wissen nicht immer geschätzt. Es sollen deshalb hier die Impulsmöglichkeiten speziell durch Comics beleuchtet werden. Dabei muss man aber auch bedenken, dass Deutsch nicht gleich Deutsch ist: Neben sprachlichen Varietäten (wie Dialekten oder Soziolekten) gibt es auch Varianten im Kompetenzgrad, wie ihn zum Beispiel der Gemeinsame Europäische Referenzrahmen (GER) für (Fremd-)Sprachen in sechs Stufen beschreibt.681 Diese verschiedenen Stufen spiegeln den jeweiligen Grad der Ausdrucksfähigkeit in einer Sprache wider und lassen sich theoretisch auch auf Muttersprachlerinnen anwenden.682 Im Folgenden soll das Möglichkeitsspektrum von Comics deshalb aus drei Blickwinkeln betrachtet werden: Erstens ihr Förderpotenzial für Lerner von Deutsch als Fremdsprache (in allen GER-Stufen), was vor allem neu zugewanderte Schülergruppen betrifft. Zweitens das Förderpotenzial für Schülerinnen, für die Deutsch Zweitsprache ist oder die in ihren Familien nur eingeschränkt bildungssprachlich gefördert werden/deren Familien nur eingeschränkt über kulturelles Kapital verfügen. Und schließlich das Förderpotenzial von Comics in Bezug auf bildungssprachliche Kompetenzen, die im GER-Bereich des C2 angesiedelt sind und die mit zunehmender Klassenstufe immer stärler gefordert werden.683 Für den Fremdsprachenunterricht sind Ideen zur Comicdidaktik bereits vielfach vorgelegt worden, denn die Vorteile des Lernmediums für den Fremd-

681 Vgl. Goethe-Institut u. a., 2000. 682 Es handelt sich hierbei auch um die Ausdrucksfähigkeit, wie sie dem Habitus derjenigen mit hohem kulturellen Kapital entspricht. Andere Soziolekte (und zum Beispiel auch das jugendsprachliche Register) werden in diesem Bezugsrahmen ausgeblendet. 683 Es ist ein weit verbreiteter Mythos, dass das Level C2 die Sprachkompetenz von Muttersprachlern widerspiegelt. Vielmehr bezieht sich diese Kompetenzstufe auf die Fähigkeit, auch komplizierte Fachtexte zu verstehen bzw. auf einem hohen bildungssprachlichen Niveau zu sprechen oder zu schreiben. Nicht für alle Berufe und Lebenssituationen ist dieses Sprachregister von Relevanz. Durch die Klassifizierung dieses Sprachregisters als C2, als ›höchste Stufe‹, werden aber diejenigen Menschen, die über diese Kompetenzen und damit über erhebliches kulturelles Kapital verfügen, als Idealtypus dargestellt, während andere sprachliche Register in Abgrenzung dazu als defizitär charakterisiert werden.

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spracherwerb sind zahlreich.684 Die bildliche Ebene der Comics bietet ein gewisses Scaffolding auch für weniger gut verständliche Textpassagen.685 Dazu kommt oft eine authentische Sprache, zu der auch umgangssprachliche Wendungen oder typische Phrasen der mündlichen Kommunikation und auch Schwierigkeitsfelder wie Ellipsen, (Abtönungs-)Partikeln, Dialekt und jugendsprachliche Lexeme gehören.686 Gerade in kurzen Comicstrips findet sich vielfach konzeptionelle Mündlichkeit, die medial schriftlich aber sehr viel besser zu verstehen ist, so dass systematisch sprachliches Wissen aufgebaut werden kann.687 Diese comicsprachlichen Charakteristika gelten für viele Comics in allen möglichen Sprachen. Auch deutschsprachige Comics können darum zum Beispiel auch neu eingewanderten Kindern und Jugendlichen helfen, ihre Kompetenz in Deutsch als Fremdsprache aufzubauen, besonders, wenn sie die Comics und deren Charaktere zum Beispiel schon aus muttersprachlichen Quellen kennen, was die Erfassung des Inhalts immer erleichtert (die Wahrscheinlichkeit dafür ist auch kulturell gebunden, zum Beispiel lesen offenbar 70 % der mexikanischen Bevölkerung regelmäßig Comics; in kann man einen Anteil von 90 % messen688). Für Kinder in Sprachlernklassen sind fremdsprachliche Kenntnisse im Deutschen in jedem Falle die zentrale und unbedingt zu erlernende Schlüsselkompetenz, bei deren Erwerb Comics als Lernmedien sinnvoll eingesetzt werden können. Wenn man von Fremdsprachschülern einmal absieht, so eignen sich Comics auch zur Förderung von Heranwachsenden, für die Deutsch die erste oder Zweitsprache ist.689 Kinder, die in Deutschland aufwachsen, haben in der Regel keine Schwierigkeiten im Gebrauch von mündlichen Phrasen und in der Alltagskommunikation. Der Wortschatz zum Beispiel kann häufig trotzdem noch 684 Vgl. Ludwig; Pointner, 2013 (b); Brinitzer; Tom, 2015; Koch, 2017; Cary, 2004. 685 Das Scaffolding-Konzept nach Semjonowitsch/Wygotski soll unterstützend auf Lernprozesse wirken und wird vor allem in der Fremd- und Zweitsprachendidaktik verwendet. Die Lernenden werden mit dem Scaffolding-Konzept in bewältigbare, aber fachlich authentische Sprachsituationen gebracht, deren Anforderungen knapp über dem individuellen Sprachvermögen liegen. Zur Bewältigung dieser Differenz im Kompetenzniveau dient dann ein temporäres Unterstützungssystem, der Name des Konzepts ist darum dem Englischen für ›Baugerüst‹ entlehnt. Ziel sind so wenig Sprachhilfen wie möglich, aber so viele wie eben nötig. 686 Vgl. Cary, 2004, 3, 33. 687 Vgl. ebd., S. 33. 688 Vgl. ebd., S. 61. 689 Die »Zweitsprache« bezeichnet als Fachterminus das Sprachvermögen, das nicht als Erst-, Mutter- oder Familiensprache auf das Kind einwirkt, sondern meist erst ab dem Kindergartenalter in dem Land gelernt wird, in dem man aufwächst. Die Zweitsprache unterscheidet sich von der Fremdsprache dabei dadurch, dass unter anderem relativ ungesteuert gelernt wird: Es gibt also keinen institutionalisierten Unterricht, das intuitive Erlernen erfolgt zum Beispiel in der Vorschule durch die Kommunikation mit anderen (deutschsprachigen) Kindern.

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ausgebaut werden. Comics können in diesem Bereich häufig bis in die Mittelstufe hinein hilfreich sein. Deutschsprachige Comics weisen dabei gewöhnlich eine größere Nähe zur korrekten Standardsprache auf als beispielsweise amerikanische, weshalb sie das Ausdrucksvermögen, die Sprachkompetenz, den passiven und aktiven Wortschatz genauso fördern können wie andere literarische Texte, die sprachlich richtig und vielschichtig gehalten sind. Vom sprachlichen Gesichtspunkt her müssen Comics den Vergleich zu althergebrachter Kinder- und Jugendliteratur im Prinzip nicht scheuen: So hat die Asterix- und IsnogudÜbersetzerin Gudrun Penndorf in den Augen nicht weniger Comicfans »für die deutsche Sprache mindestens eben so viel getan wie Heinrich Böll und Günter Grass zusammen.«690 Auch die populären Disneycomics legen in ihren Comicgeschichten Wert auf einen gleichermaßen kreativen wie korrekten Sprachstandard. Die Übersetzerin Erika Fuchs ist hier immer noch Vorbild, als Sprachschöpferin hochgelobt sogar von der Literaturnobelpreisträgerin Elfriede Jelinek.691 Eine empirische Untersuchung der Sprache etwa im LTB steht zwar noch aus, jedoch kann man sich durch persönliche Lektüre vom Sprachlevel einiger Geschichten dort leicht überzeugen. Natürlich eignen sich nicht alle Comics gleich gut. Manga haben aufgrund ihrer Charakteristika beispielsweise einen vergleichsweise geringen (nicht zwingend simplen!) textuellen Anteil, denn sie arbeiten mit einer anderen Erzählweise als westliche Comics.692 Wenn die Lese- und Sprachförderung durch Comics gelingt, kann sich dies auch positiv auf die Kommunikationstiefe im Religionsunterricht und in anderen Fächern auswirken. Auf die sprachlichen Anforderungen der späten Sekundarstufe II oder der Oberstufe können Comics allerdings nur eingeschränkt vorbereiten. Das hat folgende Gründe: 690 2011, S. 221. 691 Vgl. Hölter, 2021. Fuchs’ prägender, geradezu anspruchsvoller Stil wird auch noch zehn Jahre nach ihrem Tod von deutschen Akademikern, Sprachliebhabern und Comicfans geschätzt. So erscheinen im Feuilletonteil vieler gehobener Zeitungen immer noch unausgewiesene Fuchs-Zitate als Bildunterschriften und Titel. Sogar Phraseologismen sind von ihr geprägt, z. B. »Irgendetwas rät mir, unverzüglich den Rückzug anzutreten« oder »Dem Ingeniör ist nichts zu schwör.« Bevor die häufig von Fuchs eingesetzten Inflektive (auf den Wortstamm verkürzte Verben), wie »stöhn«, »schluck« oder »grübel« auf den Kommunikationsduktus neuer Medien überwanderten, wurden sie vor allem mit der typischen ›Comic-Sprache‹ assoziiert. Sie sollen onomatopoetische und lautlose psychische Vorgänge wiedergeben. Da diese Form der Sprachverwendung maßgeblich auf Erika Fuchs zurückgeführt werden kann, etabliert sich zunehmend der Begriff ›Erikativ‹ für den Inflektiv (vgl. Anderlik; Kaiser, 2009, S. 252). Fuchs hat also nicht nur einen regelrechten ›Medialekt‹ geprägt, sondern auch Einfluss auf die deutsche Alltagssprache gehabt. Hochbrisant jedoch: Zurzeit wird sprachlich massiv in ihr Werk eingegriffen, um absolute politische Korrektheit zu erzielen. Ein ehrenhaftes Anliegen, das jedoch teilweise irritierende Blüten treibt. (vgl. Hölter, 2021.) 692 Vgl. dazu auch Cary, 2004, S. 66.

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Was unser Bildungssystem fordert, lässt sich am besten mit ›Bildungssprache‹ bezeichnen – ein Begriff, über dessen Definition kein definitiver Konsens herrscht, unter dem aber einige bestimmte Merkmale vereint sind.693 Es ist die Sprachvarietät, die klassischerweise mit einem hohen kulturellen Kapital einhergeht und deshalb vor allem in einem spezifischen Milieu beherrscht (nicht notwendigerweise ständig verwendet!) wird. ›Bildungssprachliche Kompetenz‹ lässt sich im Rahmen des GER am ehesten mit der Stufe C2 beschreiben: Lernende auf diesem Kompetenzgrad können sich »spontan, sehr flüssig und genau ausdrücken und auch bei komplexeren Sachverhalten feinere Bedeutungsnuancen deutlich machen.«694 Um Fachtexte zu verstehen und Erörterungen zu schreiben, reichen die alltagssprachlichen/umgangssprachlichen Kommunikationsfähigkeiten, von Jim Cummins als »Basic Interpersonal Communicative Skills« beschrieben, nicht aus. Stattdessen muss man über »Cognitive Academic Language Proficiency« verfügen, zurechtkommen mit der ›gehobeneren‹ Bildungssprache, mit kognitiv anspruchsvolleren Sinnzusammenhängen, komplexerer Syntax, Fachlexik und reduziertem Kontext.695 Sowohl die gesprochene als auch die Schriftsprache ist in der Schule oft kompliziert und bedient sich etwa komplexeren Attributionen in der Nominalphase, mehrgliedrigerer Sätze mit Konnektoren, Komposita sowie schultypischer Handlungsformen wie ›Erläutern‹ und ›Argumentieren‹.696 Diverse Studien haben unter anderem bei türkischstämmigen Kindern in diesen Bereichen aber enorme Verstehensschwierigkeiten im sprachlichen Bereich nachgewiesen, die sich durch die gesamte Schulzeit zogen, also von den Lehrenden nie ausreichend ausgeglichen wurden.697 Das aber führt zu Schwierigkeiten dabei, komplexe Sachverhalte, wenn sie sprachlich zu anspruchsvoll dargestellt sind, zu erfassen und angemessen auszudrücken – und das unabhängig vom Intelligenzgrad. Das ist in vielen Fächern ein enormes Problem, mit zunehmender Klassenstufe auch im Religionsunterricht, spätestens, wenn in der Oberstufe zum Beispiel sprachlich herausfordernde Quellen von Feuerbach oder Freud behandelt werden. Comics eignen sich für derartige Ausgleichsversuche jedoch nur eingeschränkt, da sie durch oftmalige Zielgruppenoffenheit eher selten im bildungssprachlichen und erst recht nicht im fachsprachlichen Register verfasst sind. Sie finden ihren Nutzen in diesem Zusammenhang vor allem als Schreibanlass, mit dem sich Schulkinder in der analytischen Schriftsprache üben können. Die Eigenproduktion von Comics zwingt zwar auch, sich für die Leserinnen verständlich auszudrücken, kommt jedoch ebenfalls ohne den Gebrauch von 693 694 695 696 697

Vgl. Ahrenholz, 2013, S. 87. Goethe-Institut u. a., 2000, S. 35. Vgl. Rösch, 2013, 19f. Vgl. Hövelbrinks, 2013, S. 77. Vgl. dazu ebd., S. 78.

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komplexer Syntax etc. aus. Einzig beim Aufbau eines fachsprachlichen Registers könnte das Medium durch konkrete, fachlich passende Infocomics eventuell assistieren. Es gibt im englischsprachigen Raum laut Haines Hinweise darauf, dass sogenannte ›seltene Wörter‹, die Menschen beherrschen müssen, um flüssige Leser zu werden, die aber in der gesprochenen Alltagssprache kaum verwendet werden, in Comics genauso häufig vorkommen wie in Prosatexten für die gleiche Alterszielgruppe.698 In der Schule und auch in der nachschulischen Bildung haben vor allem fachsprachliche Kompetenzen eine große Relevanz. Günther et al. erklären: Fachliche Kommunikation ist ohne Fachwortschatz unmöglich und Fachwörter tragen die Hauptinformationen der fachlichen Kommunikation in den unterschiedlichen Berufsfeldern. […] Die Beherrschung des spezifischen Wortschatzes eines Faches ist notwendig, um Fachtexte, Arbeitsanweisungen, Definitionen und Prüfungsaufgaben zu verstehen und Fachwissen z. B. in mündlichen oder schriftlichen Prüfungen zu äußern. […] Nur so können Lernende eine umfassende Kommunikations- und Handlungskompetenz im Beruf erlagen.699

Themenspezifische Wortfelder sollten im Zuge jeder Einheit explizit behandelt werden, auch um den Jugendlichen eine größere Auswahl an sprachlichen Mitteln an die Hand zu geben. Das niedersächsische Kerncurriculum verweist sogar explizit auf verbindlich zu vermittelnde ›Grundbegriffe‹ für jedes Leitthema im Fach Religion.700 Im Themenbereich ›Jesus in Zeit und Umwelt‹ (5./6. Schuljahr) handelt es sich dabei beispielsweise um Lexeme (und Konzepte) wie ›Gleichnis‹, ›Synagoge‹, ›Sadduzäer‹, ›Pharisäer‹ und ›Messias‹.701 Gerade der Religionsunterricht mit seinen Verbindungen zum Altgriechischen und Hebräischen lädt ohnehin zuweilen zum Sprechen über Sprache ein. Comicbasierte Zugänge können unterstützend wirken, wenn geeignete Werke zu einem Thema eingesetzt werden: Denn Fachlexik kann tendenziell besser gelernt und erinnert werden, wenn sie in eine Geschichte eingebunden ist.702 Hier stellen möglicherweise Bibelcomics eine gute Option dar (vgl. auch III 1 und III 2.1). Die Fähigkeit, Fachwörter zu verwenden, gleicht noch nicht allein ausbaufähige bildungssprachliche Ressourcen aus. Gerade in späteren Schuljahren sollte sich die bildungssprachliche Förderung deshalb weg von der sprachlichen Oberflächenebene (Morphosyntax, Lexik etc.) hin zur diskursfunktionalen Ebene bewegen.703 Während der Erwerb von Lesestrategien für fast alle Fächer durch die ständige Konfrontation mit Textbüchern und Arbeitsblättern essenziell ist, müssen sich 698 699 700 701 702 703

Vgl. Haines (b), unpag. 2013, S. 16. Vgl. Niedersächsisches Kulturministerium, 2009, S. 17ff. Vgl. ebd., S. 23. Vgl. Ramachandra; Hewitt; Brackenbury, 2011. Vgl. Vollmer; Thürmann, 2013, S. 41.

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die Lernenden auch mit fachspezifischen Text- und Darstellungsformen vertraut machen: Im Religionsunterricht gehören dazu zum Beispiel biblische Texte und ihre Gattungen, wie Psalmen, Briefe oder Gleichnisse. Comics können inhaltlich Hilfestellungen leisten und vorentlasten, sie gehören jedoch nicht zu den klassischen fachspezifischen Textsorten und können diese auch nicht ersetzen. Ebenso können sie nicht dazu dienen, klassische bildungssprachliche Fertigkeiten aufzubauen, da sie häufig gerade auf komplexere Wortbildungsformen, Attributionen in der Nominalphase oder mehrgliedrige Sätze verzichten. Aufgrund dieser sprachlichen Niedrigschwelligkeit eignen sie sich nur indirekt dazu, bildungssprachliche Kompetenzen zu fördern: Comics animieren und motivieren zum Lesen, sodass sie nachweislich auch die Eingangspforte zu weiterführender Literatur seien können, also in die Welt des Lesens überhaupt einladen – und so sprachlich fördern (vgl. auch II 3.2.5). Dieser Zusammenhang soll im nächsten Kapitel geschildert werden. Abschließend muss aus konstruktivistischer Perspektive in Bezug auf die Sprachförderung durch Comics noch hervorgehoben werden: Inhaltliche Lernerfolge stellen sich dann ein, wenn sie aktiv (mit)konstruiert werden (vgl. dazu II 3.3). Auch Comics müssen deshalb mit der nötigen Aufmerksamkeit wahrgenommen, studiert und reflexiv mit-vollzogen werden. Das Gelernte (wie eine neue Redewendung oder ein Zitat) sollte dann im besten Falle auch angewandt werden. Benedict Carey erklärt in Bezug auf allgemeine Lernstoffe, was auch für das sprachliche Lernen gilt: »Nur weil Sie etwas markiert oder abgeschrieben haben […], bedeutet dies noch nicht, dass sich Ihr Gehirn den Stoff in vertiefter Weise angeeignet hat.«704 Genauso können sprachliche Phänomene in einer passiven Flüssigkeitsillusion münden. »Wenn man markierte Notizen zuerst lernt und dann versucht, sie – ohne nachzusehen – erneut niederzuschreiben, wird der Stoff viel stärker im Gedächtnis verankert«.705 Es geht also um konstruktiv-konstruktivistische Eigenversuche, die sehr viel bessere Lerneffekte erzeugen als bloßes Nachlesen. Sprachunterricht muss darum bemüht sein, immer wieder Situationen und Anlässe zu schaffen, in denen die Individuen als möglichst autonom kommunizierende, ganze Personen handeln können und in denen sie ihre eigenen Intentionen (sprachlich) verwirklichen.706 Deswegen sollten interessante Comics bewusst als Schreibimpuls wahrgenommen werden oder in eine kognitiv-aktivierende Anschlusskommunikation münden. Der Austausch über das Gelesene mit anderen aus der Klasse ist unter einem soziokonstruktivistischen Blickwinkel dazu besonders wirksam.

704 2015, S. 325. 705 Ebd. 706 Vgl. Huneke; Steinig, 2013, S. 166.

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Es lässt sich zusammenfassen: Comics können bis zu einem bestimmten Sprachlevel durch ihren textuellen Anteil zur Sprachförderung genutzt werden. Das gilt besonders für jene Comics, die das Ausdrucksspektrum Heranwachsender vergrößern können. Von derartiger Förderung profitieren Lernende mit Deutsch als Erst-, Zweit- und vor allem als Fremdsprache. Auch können Comics den Anstoß zur aktiven Sprachnutzung geben, zum Beispiel als Schreibimpuls oder in der sozialen Anschlusskommunikation. Hilfestellung bei fachbezogenen oder bildungssprachlichen Anforderungen, wie sie sprachbezogene Risikogruppen vor allem mit steigenden Klassenstufen benötigen, können Comics allerdings nur eingeschränkt bieten. Hier eignen sie sich maximal in Bezug auf den Wortschatz/Fachlexik oder als Instrument zur allgemeinen Leseförderung.

3.2.5 Lesekompetenz entfalten Die Lesekompetenz gehört zu den entscheidenden Schlüsselkompetenzen im Leben. Die Textlastigkeit vieler Schulfächer macht die Fähigkeit, Texte global entschlüsseln zu können, geradezu zur Voraussetzung dafür, in Schulleben und Ausbildungszeit zu bestehen. Gerade die Schülerschaft aus schulischen Risikogruppen ist aber in Bezug auf die Lesekompetenz oft im Nachteil und müsste deshalb besonders gefördert werden. Die Lesekompetenz voranzutreiben ist darum Aufgabe aller Fächer, auch zum Beispiel des Religionsunterrichtes. Im Folgenden soll die Möglichkeit erkundet werden, diese Aufgabe der Fachbereiche durch comicdidaktische Herangehensweisen zu begegnen. Es ist zu erwägen, ob der Einsatz von Comics den Erwerb von umfassender Lesekompetenz fördern kann: Erstens aufgrund der strukturellen Charakteristika des Mediums, die besonders den Aufbau von ›literacy‹ und ›fluency‹ begünstigen. Zweitens aber auch durch Inhalte, die vielen Kindern und Jugendlichen in ihren Interessengebieten entgegenkommen und deshalb ihren Teil dazu beitragen, stabile Lesegewohnheiten in Heranwachsenden zu etablieren. Im Rahmen dieses Kapitels soll auch die Bedeutung der Lesekompetenz speziell für den Religionsunterricht beleuchtet werden, da der enge zeitliche Rahmen des Faches das Anliegen der Leseförderung gefährdet. Lesekompetenz Die Lesekompetenz ist eine der zentralen, fachübergreifenden Schlüsselkompetenzen, die es im Laufe der Schulzeit unbedingt zu erwerben gilt.707 Lesekompetenz umfasst verschiedene Aspekte und Domänen, unter anderem: – Die elementare Lesefertigkeit und -flüssigkeit, 707 Vgl. Hasselhorn; Gold, 2013, S. 143.

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– analytisch-kognitives Leseverstehen, – die Informationsentnahme aus neuen Texten, um gezielt daran anschließende Aufgaben lösen zu können, – die Ausbildung einer kritischen Reflexionsfähigkeit in Bezug auf Medien und Texte, – und die gezielten Nutzung des Lesens zum Zwecke der Persönlichkeitsbildung, also zum Beispiel zur Unterhaltung, aber auch zum Wissenserwerb oder zur ästhetisch-kulturellen Bildung.708 Es wäre darum ein Fehler, die didaktische Leseförderung streng in zwei Teilbereiche trennen zu wollen: Einerseits die Förderung basaler Lesekompetenz im Sinne der Dekodierung und Informationsentnahme, andererseits das Anliegen, einen positiven Einfluss auf das Lese-Selbstkonzept von Schülern zu nehmen, die fürderhin mit Freude und Regelmäßigkeit zur Literatur greifen sollen (im Sinne der »Leseanimation«709). Denn globale Lesekompetenz, wie sie durch die Lesedidaktik beschrieben worden ist, differenziert nicht zwischen diesen Anliegen. Ziel ist es immer, Texte kompetent und textartengerecht erschließen zu können, um gleichzeitig Schülerpersönlichkeiten zu schaffen, die von sich aus zu Texten greifen, um sich weiterzubilden. Leseförderung ist deshalb nicht das Anliegen eines einzelnen Faches, sondern ein grundsätzlicher Bildungswert. Der Erwerb von Lesekompetenz mag in jungen (Schul-)Jahren als bereichsspezifische Expertise des Faches Deutsch wahrgenommen werden. Jedoch: »Erreicht die Lesekompetenz ein hohes Niveau, dann wird sie zu einer bereichsübergreifenden Schlüsselkompetenz, die es dem Lernenden ermöglicht, sich selbstständig Informationen in allen möglichen Bereichen anzueignen.«710 Deshalb spielt die Lesekompetenz auch in konstruktivistischen Lern- und Unterrichtskonzepten eine besondere Rolle, da sie zum eigenständigen Lernen befähigt. Manche Forscherinnen sehen sogar einen Zusammenhang »zwischen der Lesekompetenz und allen anderen für die kognitive Entwicklung wichtigen Kompetenzen, d. h. es hängt von der Entfaltung der Lesekompetenz ab, ob und inwieweit sich alle anderen wichtigen Kompetenzen auch entwickeln.«711 Leseförderung Lesekompetenz erwirbt man nicht über Nacht. Sie muss über viele Jahre hinweg aufgebaut werden und der Weg dahin führt über die Leseförderung. Zusammengefasst soll sie »die Motivation zum Lesen stärken, an bestimmten Pro708 709 710 711

Vgl. Lischeid, 2011, S. 114; Gäfgen-Track, 2002, S. 121. Köhnen, 2011, S. 151. Hasselhorn; Gold, 2013, S. 142. Grundmann, 2002, S. 118.

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blempunkten Hilfestellungen anbieten und ein stabiles Leseverhalten einüben.«712 Diesen drei Aspekten soll hier nun jeweils näher Aufmerksamkeit geschenkt werden, um die Möglichkeiten comicdidaktischer Arbeit näher zu beleuchten. Das Bestreben der Leseförderung, »an bestimmten Problempunkten Hilfestellungen an[zu]bieten«, kann sich auf sehr viele unterschiedliche Felder beziehen.713 Dazu gehören auch Schwierigkeiten in der Lesegenese, genaugenommen beim Erwerb elementarer Lesefertigkeit (›literacy‹) und erweiterter Leseflüssigkeit (›fluency‹).714 Die Förderung dieser Kompetenzen ist eine klassische Herausforderung für viele Lehrende und das nicht nur in Ausnahmefällen wie im Falle von klinischen Lese-Rechtschreibstörungen, welche durch stumpfes Üben ohnehin nicht kompensiert werden könnten. Schulleistungsuntersuchungen wie PISA haben zwar nachgewiesen, dass sich die allgemeine Lesekompetenz bei deutschen Schülern seit dem Jahr 2000 verbessert hat715, dass aber immer noch ca. 16 % der hier getesteten Jugendlichen im Bereich des Lesens kein Grundkompetenzniveau erreichen, welches es ihnen erlauben würde, in Gegenwart und Zukunft mit Sicherheit »effektiv und produktiv am Leben teilzuhaben.«716 Das deutet darauf hin, dass die elementare ›literacy‹ und ›fluency‹ von Unterstützung profitieren würde. Am ausgeprägtesten ist diese Hürde für Kinder mit Migrationshintergrund und/oder geringem kulturellen Familienkapital, so dass der Fokus der vorliegenden Arbeit auf Bildungsgerechtigkeit nicht umhinkommt, auf diese Problematik hinzuweisen.717 Leider fehlt vielen Lehrenden die diagnostische Kompetenz dazu, ihre Schützlinge exakt zu beurteilen (oder auch: es fehlt an der Zeit), sodass nicht wenige Leser, für die schulische Texte zu anspruchsvoll gehalten sind, von vielen Lehrkräften unerkannt bleiben.718 Deutschlehrkräfte sind dabei nicht zwingend besser geschult als Lehrende anderer Fächer. Möglicherweise fehlt vielen auch das Werkzeug oder Wissen für gezielte Hilfestellungen. Eine relativ einfache Möglichkeit, die basale Lesefertigkeit zu verbessern, hat die Viellesetheorie als Grundlage, die unter Leseforschern und -forscherinnen mehrheitlich vertreten wird. Sie besagt: Die Leseleistung von Menschen kann allein durch die Quantität ihres Lesens verbessert werden.719 Sprich: Menschen, die viel lesen, werden in der Regel zu flüssigen Lesern. Anderson et al. haben diesen Zusammenhang auch empirisch bestätigt: 712 713 714 715 716 717 718 719

Köhnen, 2011, S. 151. Ebd. Vgl. dazu Lischeid, 2011, S. 114. Vgl. OECD, 2016, S. 1. Ebd., S. 3. Vgl. Hüttis-Graff, 2011, S. 68; Helmke, 2009, 253f. Vgl. Helmke, 2009, S. 128. Vgl. Köhnen, 2011, S. 153.

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»The case can be made that reading books is a cause, not merely a reflection, of reading proficiency«.720 Dabei machte auch die regelmäßige Lektüre von Comics ihre Studienteilnehmer (155 amerikanische Kinder in der fünften Klasse) zu Viellesern, denn ob es sich beim Lesestoff um E-Mails, Gebrauchsanweisungen, klassische Literatur oder Comics handelt, ist für den Erwerb von ›literacy‹ und ›fluency‹ tatsächlich zweitrangig.721 Doch wie bringt man Schülerinnen, die sich nur stockend durch Texte quälen (!), freiwillig dazu, auch nach der Schule noch lesen zu üben, um die tägliche Lesezeit zu erhöhen? Ob Heranwachsende habituelle Vielleser sind, wird zwar maßgeblich durch ihre frühe (Lese-)Sozialisation geprägt, also durch Faktoren wie die Einstellung der Eltern gegenüber Literatur und Büchern oder deren sozioökonomischer Status.722 Aber tatsächlich haben auch Lehrkräfte, wie deutlich nachgewiesen werden konnte, einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf diesen Teil der schülerischen Freizeitgestaltung.723 Der Nutzen der Freizeitlektüre sollte auch inhaltlich nicht unterschätzt werden, da außerschulische Lernprozesse nach Schätzungen der empirischen Bildungsforschung bis zu 70–80 % allen Lernens bei Kindern und Jugendlichen ausmachen.724 In der (freizeitlichen) Leseförderung erfolgreiche Lehrkräfte zeichnen sich unter anderem dadurch aus, dass sie den Kindern und Jugendlichen unkomplizierten Zugang zu Lektüreangeboten verschaffen, die für sie einerseits interessant und andererseits auf ihrem jeweiligen Kompetenzlevel angesiedelt sind, also weder über-, noch unterfordern.725 Comics werden dabei tendenziell von Lesern mit hoher und niedrigerer Lesekompetenz gleich gern gelesen, bringen also beide Arten von Kindern zusammen, ohne dass in dieser Hinsicht binnendifferenzierende Maßnahmen getroffen werden müssten.726 Dazu können sie durch ihre Multikodalität niedrige Lesekompetenz etwas ausgleichen, ohne dabei das Lesetraining völlig zu vernachlässigen, weil der textuelle Anteil für den vollen Comicgenuss eben auch bewältigt werden will. Worthy, Moorman und Turner resümieren deshalb in ihrer Studie, dass auch Kindercomics die Entwicklung von ›fluency‹ und ›literacy‹ nachweislich unterstützen können: [T[here is evidence that light materials727 promote fluent reading and vocabulary development, lead to better attitudes toward reading, help develop the linguistic com720 721 722 723 724 725 726 727

1988, S. 302, vgl. auch 292, 297, 299. Vgl. ebd., S. 292. Vgl. Köhnen, 2011, S. 150. Vgl. Anderson; Wilson; Fielding, 1988, S. 296. Vgl. Pirner, 2012, S. 167. Vgl. Anderson; Wilson; Fielding, 1988, S. 296. Vgl. Bertschi-Kaufmann, 2000, S. 165. In diesem Kontext bezieht sich ›leichte Lektüre‹ nicht auf den inhaltlichen Anspruchsgrad, sondern auf die relativ einfach gehaltene (nicht-bildungssprachliche) Sprache, auf ein eher niedriges Textvolumen und unter Umständen eine ansprechende Gestaltung, zum Beispiel durch Illustrationen. Was eine ›leichte‹ Lektüre ausmacht, ist also eine individuelle Wertung,

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petence necessary for reading more difficult materials, and typically give students the confidence and drive to read more sophisticated materials728.

Das Ergebnis ist ein (Lese-)Erfolgserlebnis, das das Selbstvertrauen der Lernenden fördern und sie dazu motivieren kann, in Kontakt mit Textmedien zu bleiben und negative Leseeinstellungen abzubauen.729 Das Ergebnis wäre eine potenzielle Aufwärtsspirale in der Lesekompetenz. Bakis zitiert eine ermutigte Schülerin ihres Comickurses, die angibt, nicht gerne zu lesen – jedoch eher aus Kompetenzgründen resigniert zu haben scheint: »I am not very fond of reading, so I enjoyed this class because I was able to read an entire book and not become bored with the text. […] No longer did reading consist of solely words, rows of letters that blurred into rows of black lines on white paper.«730 Hier haben die strukturellen Anteile von Comics dazu beigetragen, die Lesemotivation zu erhöhen. Auch Haines erklärt, dass Romane und Fließtexte bei geringer Lesekompetenz die Erfolgszuversichtlichkeit und damit die (Lese-)Motivation extrem schmälern können: To a reluctant reader […] a prose text can be incredibly daunting; it is a wall of words, overwhelming to start, impossible to finish. The key to getting these learners to read is to engage their imagination and interest. Comics are a perfect vehicle. They divide up the text into manageable chunks, which are supported by images. These images help readers increase their vocabulary through the connection between words and images.731

Comics scheinen dabei auch zu helfen, tatsächlich lesen zu wollen. Dies fällt in die Kategorie der Lesemotivation und des Leseverhaltens, das die Leseförderung ebenso zu berücksichtigen hat. Wenn es darum geht, »die Motivation zum Lesen [zu] stärken […] und ein stabiles Leseverhalten ein[zu]üben«, könnten Comics sich ebenfalls vorteilhaft einsetzen lassen.732 Cary beschreibt in der Einleitung seines Werkes zu Comics als Instrument der Sprachförderung einen Ausschnitt seiner eigenen Lesebiographie, die durch Comicwerke einen dramatischen Wandel erfuhr. Als Schüler lernte er lesen – allerdings vorerst ohne große Freude am Ergebnis: Reading became a deadly bore and, by extension, school too, since reading was such a large part of what went on in school. I could read, but I hated reading, and by the fourth grade I’d become the classic nonreading reader. […] Superman flew into my life 1956 and changed everything. […] I was immediately hooked. Comics had the art, color,

728 729 730 731 732

die sich auf die Vorraussetzungen des Leser stützt. Man könnte vielleicht auch sagen: Leichte Lektüre ist eine Lektüre, die keine hohen Ansprüche an die Lesenden stellt. 1999, S. 24. Dazu auch Bakis, 2014, S. 3. Zit. nach ebd., S. 146, Herv. d. A. Haines (b), unpag. Köhnen, 2011, S. 151.

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movement, and raw energy missing from my school reading. Best of all, I liked the stories and cared about the characters. […] I’d become a reader – someone who read, rather than simply someone who could read – through comics, not through school.733

Einen der Gründe sieht er in den »wild and refreshingly improbable stories«, die Comics für ihn boten, sowie in der rebellischen Seite der Lektüre an sich: »Comic book reading was one of the great school taboos«.734 Später griff er auch zu anderen Formen der Unterhaltungsliteratur, bis er schließlich Sprach- und Literaturwissenschaftler wurde.735 Lesebiographien dieser Art, in denen Comicgeschichten Menschen zu einem stabilen Leseverhalten verholfen haben, sind keine Seltenheit und werden in ihrer Realität auch durch einige empirische Belege unterstützt (siehe unten). Es ist von Vorteil, dass Comics immer noch mit ungezwungenem Lesen verbunden und in der Regel nicht dazu genutzt werden, um zum Beispiel Lautlesefortschritte zu überprüfen, was zu schlechten Assoziationen dem Medium gegenüber führen könnte. Evident ist, dass die Gewöhnung an Comics im Schulalltag den Lesegenuss etwas schmälern könnte, zumindest sobald die Lektüre mit Leistungsansprüchen verknüpft wird. Derzeit aber noch greift laut einer aktuellen Kinder-Medien-Studie, die Kinder immerhin bis 13 Jahre befragte, etwa die Hälfte mehrmals die Woche außerhalb der Schule zu Comics und Zeitschriften (häufig mit Comics im Innenteil) und investiert sogar ihr Taschengeld in derartigen Lesestoff.736 Dies bietet einen guten Ausgangspunkt für eine schülerorientierte Leseförderung: Die meisten Lehrer möchten ihre Schüler und Schülerinnen intrinsisch zum Lesen motivieren und dafür bietet sich eine »interessegeleitete Lesekultur« in der Klasse an.737 Eine wichtige Ressource ist damit das strukturorientierte Interesse, das in seiner Wirkkraft in II 3.1.1 bereits dargestellt wurde: »From the interest perspective, students’ preferences must be addressed in order to capture their attention and engagement and, thus, to foster conditions for learning.«738 So war ja auch etwa für Cary sein Interesse an den spannenden Comicgeschichten ausschlaggebend, um am Ball zu bleiben. Innerhalb des sozialen Kontextes der Klasse kann sich »interessegeleitete Lesekultur«, was die Wahl des Lektürestoffes betrifft, sowohl auf bestimmte Medien, Textsorten, Genres als auch auf auch Themen beziehen. Dabei könnte sich der inhaltliche Hang von Comics zu phantastischen Stoffen (vgl. I 2.5.1) als besonders vorteilhaft erweisen, denn Geschichten, die nicht in der alltäglichen Welt spielen, die von Cary als »wild and refreshingly improbable« 733 734 735 736

2004, 1f. Ebd., S. 2. Vgl. ebd., S. 3. Vgl. Gruner + Jahr; Blue Ocean Entertainment AG; Egmont Ehapa Media GmbH; Panini Verlags GmbH; SPIEGEL-Verlag; ZEIT-Verlag, 2018, 57, 68. 737 Hüttis-Graff, 2011, S. 65. 738 Worthy; Moorman; Turner, 1999, S. 24.

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beschriebenen Narrationen, können besonders starkes (Lese-)Interesse generieren. Bertschi-Kaufmann zieht am Ende ihrer umfangreichen Studie zum Aufbau von Lesekompetenz einige didaktische Konsequenzen, wobei sich für sie eindeutig ergeben hat, zu welchem Stoff Schüler am liebsten greifen: Für den Aufbau von Leseinteressen und Lesegewohnheiten brauchen Kinder phantastische Lesestoffe. […] Mit dem phantastischen Kinderbuch gelangen Kinder an sonst unerreichbare Orte, und sie erhalten Nährstoff für ihre eigene Phantasie. Dabei setzten sie sich – auf besondere Weise – auch mit Wirklichkeiten auseinander, mit jenen ihrer inneren Zustände, ihrer Wünsche und Vorstellungen. Vor allem aber werden sie zum Lesen und zum Weiterlesen verlockt.739

Diese Erzählstoffe werden von einem sehr großen Teil Heranwachsender also nicht nur bevorzugt, sondern sie spornen auch zum Weiterlesen an.740 Aus einem konstruktivistischen Blickwinkel sind phantastische Geschichten möglicherweise auch nicht unvorteilhaft, regen sie doch die Imagination an, zwingen im besonderen Maße dazu, sich aktiv in fremde Welten einzufinden und sich dabei auch Dinge, die nicht von dieser Welt sind, bildlich vorzustellen. Leseförderung gleichzeitig interessenorientiert sowie inklusiv zu gestalten, ist dabei nicht immer einfach. Viele Faktoren müssen berücksichtigt werden und es lohnt sich vielleicht, auf einige (auch comicbezogene) Aspekte hinzuweisen. So gibt es Hinweise darauf, dass mehrsprachige Schüler größeres Interesse an psychologisch komplexen und authentischen Texten haben als Schülerinnen ohne Zweitsprache.741 Aus der Genderperspektive unterscheiden sich Lektürepräferenzen zum Beispiel von Mädchen und Jungen in der Grundschule gemeinhin noch nicht so stark wie oft angenommen (beide Geschlechter fühlen sich zum Beispiel zu Abenteuergeschichten hingezogen), zudem weniger in Bezug auf Genres als hinsichtlich der Interessen für einzelne Themen, Autoren, Werke oder auch Figuren.742 Später scheinen die Interessen in Sachen Genre aber weiter auseinanderzugehen, für Comics gibt es dazu jedoch höchstens Marktstudien (vgl. dazu I 2.6).743 In Sachen Medien gibt es jedoch gesicherte Unterschiede: So zeigen Jungen schon in der Grundschule eine größere Affinität gegenüber digitalen Texten und gegenüber Comics.744 Mädchen greifen dagegen im selben Alter hingegen öfter zu Zeitschriften. Verbindendes Element ist wohl das Bildliche, das in allen Formaten eine Rolle spielt. Auch im Jugendalter bleibt die Präferenz vieler Jungen gegenüber dem Comic höchstwahrscheinlich bestehen.745 739 740 741 742 743 744 745

2000, 364f. Vgl. ebd., 364f., 151, 153. Hüttis-Graff, 2011, S. 68. Vgl. ebd., 68f. Vgl. dazu Garbe, 2008. Bertschi-Kaufmann, 2000, 148, 362f. Vgl. dazu Ostertag, 2012.

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Eine empirische Analyse derartiger Zusammenhänge, die soziale Kategorien wie Gender und Herkunftseffekte auch in ihrem Wechselspiel berücksichtigt, liegt aber noch nicht. Denn natürlich lesen nicht alle Heranwachsende gerne Comics, auch unter den Jungen nicht flächendeckend. In der Worten Bertschi-Kaufmanns: »Wie bei den Erwachsenen hat der Comic auch unter den Kindern eine ganz besondere Lesegemeinde«.746 Diese deshalb zu vernachlässigen, wäre jedoch töricht. Zusammengefasst kann man sagen: Eine weitgehend inklusive Leseförderung sollte 1. die nötige Sensibilität für Präferenzen in sozialen Gruppen gewinnen, 2. von individuellen Präferenzen in der Lerngruppe ausgehen, diese wertschätzen und individualisierende Unterrichtsarrangements in Betracht ziehen747, 3. ein möglichst große Vielzahl von Medien und Werken, besonders die präferierten, auch tatsächlich zu Verfügung stellen. Gerade dieser Punkt ist nicht selbstverständlich. Möglicherweise stehen gerade für Jungen die falschen Leseangebote zur Verfügung. Denn männliche Schüler weisen statistisch gesehen schlechtere Leseleistungen auf und lesen auch weniger in ihrer Freizeit als ihre weiblichen Mitschülerinnen.748 Sie scheinen in ihren Interessen weniger wahrgenommen und gefördert zu werden, was für die Leseentwicklung eindeutige Folgen haben kann. Im Jahr 1999 untersuchten Worthy et al. zwölf amerikanische Klassenräume und drei Schulbibliotheken mit einem Ergebnis, das Cary folgendermaßen zusammenfasst: »Perhaps the most interesting – and troubling – aspect of the findings is the disconnect between what students liked to read and what schools provided.«749 Comics fanden sich trotz großer Beliebtheit in keiner der Örtlichkeiten, auch an ›leichter Lektüre‹ wie an Magazinen oder dezidiert beliebter Literatur aus dem ›Gruselgenre‹ mangelte es.750 Es ist durchaus denkbar, dass diese Tendenz auch heute noch an vielen Orten bestätigt wird, wie exemplarisch am niedersächsischen ›JULIUS-Club‹ gezeigt werden kann: Es handelt sich dabei um ein Leseförderprojekt für Schüler zwischen 11 und 14 Jahren, die jeden Sommer eine lange Liste mit aktueller Kinder- und Jugendliteratur aus der Bibliothek ausgehändigt und einen kleinen Preis bekommen, wenn sie mindestens zwei der dort angegebenen Bücher über die Sommerferien gelesen haben. Von dieser Liste sind

746 747 748 749 750

2000, S. 334. Vgl. auch ebd., S. 361. Vgl. Lischeid, 2011, S. 115. 2004, S. 30. Vgl. Worthy; Moorman; Turner, 1999, S. 23.

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im Jahr 2017 nur 4 % (in sich abgeschlossene) Comicwerke aufgenommen worden.751 Das ergab eine korpusgestützte Analyse von meiner Seite. Es sei noch einmal auf das Experiment von Dorrell und Carroll verwiesen, die eindrucksvoll bewiesen haben, welchen Unterschied aber das simple Bereitstellen von für Schülerinnen ›interessanter‹ und reizvoller Literatur ergeben kann (vgl. auch II 3.1). Sie observierten für insgesamt 121 Tage eine unterbenutzte Schülerbibliothek einer Mittelschule in Missouri.752 Unter der Schülerschaft hatte dieser Hort des Lesens vorher nachweislich kein gutes Image gehabt; die Heranwachsenden fühlten sich in der Bibliothek nicht willkommen und nahmen an, dass die Bücherregale ihnen nicht viel zu bieten hätten. Die Forscher wollten nun eine interessengeleitete Veränderung einbringen: »It was thought that if the students’ interest in leisure-time activities could be used to create an interest in their school library, an important and valuable ally would be available for education.«753 Nach etwa der Hälfte der Beobachtungszeit fügten sie deshalb der Bibliothek ohne Ankündigungen ein weiteres Regal hinzu, gefüllt mit altersgemäßen, beliebten Comicheften, vorwiegend aus dem Superheldengenre. Diese simple Maßnahme führte in den darauffolgenden Wochen zu einem anhaltenden (!) Anstieg von 82 % mehr Bibliotheksbesuchern, wobei nicht nur die Comics, sondern auch 30 % zusätzliche Bücher im klassischen Sinne ausgeliehen wurden.754 Comics können also nicht nur zu einem Katalysator des Bibliotheksbesuches, sondern zu einem Sprungbrett in die Welt der Literatur überhaupt werden. Auch in einigen weiteren Punkten kann der unterrichtliche Einsatz von Comics den lesedidaktischen Kompetenzorientierungen dienlich sein: So sollen Lernende explizites Wissen sowohl über Text- also auch über andere Medienangebote erlangen.755 Dieses Anliegen kann durch bereichernde Kenntnisse um (vielfältige und anspruchsvolle) graphische Literaturformen beziehungsweise Comics vorangetrieben werden, vor allem da diese in der kritischen Lektüre auch für die individuelle Persönlichkeitsbildung genutzt werden können, zum Beispiel indem Schüler sich durch die wachsende Fülle von Sachcomics weiterbilden und so ihren Horizont erweitern.756 Medienbildung ist am besten gleichzeitig fachintegrativ und fachübergreifend zu verwirklichen, berührt also auch den Religionsunterricht, für den die kritische Medienbildung auch aus religionspäda751 Genauer: Till Lenecke: Auf Kaperfahrt mit Störtebecker; Mike Loos (Hg.): Geschichten aus dem Grand Hotel; Annette Herzog: Pssst!; Jack Chabert: Poptropica Bd. I – Die geheimnisvolle Landkarte. 752 Vgl. Dorrell; Carroll, 1981, S. 17. 753 Ebd. 754 Vgl. ebd., S. 18. 755 Vgl. Lischeid, 2011, S. 114. 756 Vgl. ebd.

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gogischen Gründen notwendig ist.757 Comics laden außerdem im Zusammenspiel mit handlungs- und produktionsorientierten Methoden auch zum produktivgestalterischen Umgang mit Texten ein – eine wesentliche Unterkompetenz der Lesekompetenz insgesamt (vgl. auch II 3.2.2).758 Comicverfilmungen oder Literaturvorlagen können das Spektrum durch die Auseinandersetzung mit Intertextualitätsstrukturen ergänzen. Lischeid erklärt außerdem, dass Leseförderung »die Unterstützung subjektiver Involviertheit in einen Text, etwa durch Vorstellungsbildung bzw. Imaginationsfähigkeit« zur Aufgabe hat.759 Die nicht unerhebliche schöpferische Eigentätigkeit der Rezipierenden ist bereits genannt worden, ebenso die potentielle Affinität des Comics gegenüber dem Phantastischen, das die Imagination im besonderen Maße stimuliert (vgl. I 2.2 und 2.5.1). Und schließlich umfasst eine gereifte Lesekompetenz auch die »Ausbildung einer kritischen Reflexionsfähigkeit gegenüber Inhalten und Formen von Texten und Medien wie auch gegenüber dem eigenen (methodischen, inhaltlichen, habituellen) Umgang mit ihnen«.760 Dies ist ein Hinweis darauf, dass Bildungswissenschaftler immer mehr auf eine allgemeine Medienkompetenz drängen, die die klassische Lesekompetenz ergänzen soll und eher in Richtung kritischer ›Medienbewusstheit‹ geht.761 Meistens werden dabei allerdings nur digitale Medien in den Blick genommen, was eine deutliche Verengung des Medienbegriffs darstellt. Anhänger der ›Verdrängungshypothese‹ beziehen sich dabei auf Daten, die den Rückgang von Lesezeit bei Schulkindern in deren wachsende Beschäftigung mit digitalen Medien begründet sehen.762 Comics als Alternative sowohl zur Literatur als auch zu digitalen Medien bergen jedoch möglicherweise ungeahntes Potenzial. In jedem Falle kommunizieren die zeitgenössischen Leitmedien lange schon nicht mehr allein auf der verbalen Ebene. Spätestens seit den 1990er Jahren beschäftigen sich Kulturwissenschaftlerinnen verstärkt mit der ›ikonischen Wende‹ in unserer Gesellschaft. Die wachsende Bedeutung des Bilder in der Leitkultur verlangt in der Tat von Heranwachsenden nicht nur ›textual literacy‹, sondern auch eine gewisse ›visual literacy‹, um zeitgenössische Medienlandschaften kompetent zu bewältigen. Dieser Aspekt soll deshalb zu einem späteren Zeitpunkt noch näher erörtert werden (vgl. II 3.2.6).

757 758 759 760 761 762

Vgl. Pirner, 2012, S. 169. Vgl. Lischeid, 2011, S. 114. 2011, S. 114. Ebd. Vgl. dazu ebd., 114f. Vgl. dazu Köhnen, 2011, S. 154; Hüttis-Graff, 2011, S. 69.

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Lesekompetenz und Religionsunterricht Auch im Religionsunterricht gilt es für die Lernenden, immer wieder informative Sachtexte inhaltlich zu erfassen oder mit Primärtexten angemessen umzugehen. Das Fach ist deshalb mit wachsenden Schuljahren zunehmend auf die Lesekompetenz der Schüler angewiesen. Auch wenn zum Beispiel das niedersächsische Kerncurriculum vernachlässigt, dies eigens zu erwähnen, so sollte auch der Religionsunterricht über die Lesekompetenz als Schlüsselkompetenz nicht hinwegsehen. Das gilt umso mehr, als dass sich eine gehobene Lesekompetenz positiv auf den inhaltlichen Kompetenzerwerb im Fach auswirkt und die Förderung besonders in sozio-ökonomischen Brennpunkten die Bildungsgerechtigkeit erhöhen kann. Angesichts heutiger Elementarisierungsansätze und Stundenreduktion könnte dies viele Religionslehrerkräfte auf den ersten Blick überfordern und da es kaum Material oder Literatur zum Thema fachbezogener Leseförderung im Religionsunterricht gibt, wird diese mit Sicherheit oft vernachlässigt. Dabei sind im Religionsunterricht dringend gattungsspezifische Textkompetenzen zu erwerben. Obwohl comicdidaktische Ansätze gerade in diesen Anforderungsbereichen sicher nicht ausreichen, so läuft die Leseförderung in der comicdidaktischen Religionspädagogik in vielerlei Hinsicht doch fast automatisch mit. Das wäre von großem Vorteil, weil so kein zusätzlicher Ausbildungsund Arbeitsaufwand für Lehrende (und Lernende) entsteht! Wenn ansprechende Comics entweder regelmäßig oder phasenweise intensiv in den Unterricht eingebunden, analysiert oder diskutiert werden, wirkt sich das lesefördernd auf verschiedenen Ebenen aus: 1. Die Schülerinnen üben beiläufig das Lesen (in Hinsicht auf ›literacy‹ und ›fluency‹), mehr als zum Beispiel bei einer Filmrezeption. 2. Die Lerngruppe erwirbt (auch gattungsspezifische) Textkompetenzen, wenn Comics im Religionsunterricht diskutiert, ihnen Informationen entnommen und sie ansatzweise analysiert werden. 3. Die Schüler können durch die richtigen Comics in ihren Interessensgebieten angesprochen und angeregt werden, mehr darüber zu lesen. Gerade der letzte Aspekt wird bei den meisten althergebrachten Medien und Textgattungen im Religionsunterricht eher vernachlässigt. Es wäre sicher wertvoll, wenn Fachlehrerinnen im Zuge einer Unterrichtseinheit auch thematisch anschlussfähige Comics vorstellen könnten und diese in den Schulbibliotheken dann auch leicht zugänglich wären. Vor allem aber in einer Hinsicht können Religionsunterricht und Leseförderung sich verbrüdern, nämlich beim Aufbau einer Kompetenz im Umgang mit Geschichten. Gäfgen-Track erklärt:

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Der Religionsunterricht hat als ein zentrales Ziel die Einübung in verstehendes Lesen: Ein Lesen, das die Welt lesbar macht und ein Lesen, das zum Leben und Handeln in der so gelesenen Welt befähigt und dabei die Frage nach dem dreieinigen Gott und seinem Handeln in dieser Welt ins Spiel bringt763.

Die Beschäftigung mit Texten, Erzählungen und erzählender Literatur ist deshalb nicht allein Aufgabe des Literaturunterrichtes. Sie hat auch einen Platz in der narrativen Religionspädagogik, unter anderem da Erzählungen der »Erweiterung der Lebenserfahrung und des Lebensverständnisses des Kindes« dienen (vgl. auch III 3.2).764 Bereits im Verlauf der Grundschule kommen Kinder allein schon durch den Religionsunterricht mit zahlreichen (oft biblischen) Narrationen in Kontakt, lernen zum Beispiel dem Bogen einer Geschichte zu folgen oder Figuren wiederzuerkennen. Je mehr Erzählungen Kinder und Jugendliche rezipieren und reflektieren, desto mehr baut sich auch ihre Wahrnehmungs- und Deutungsfähigkeit aus. Deswegen kann auch die Rezeption säkularer Erzählungen positive Entwicklungen anstoßen. Außerhalb des Bereiches religiöser Narrationen werden komplexe Geschichten vor allem in der Literatur verhandelt. Der Religionsunterricht darf sich deshalb positiv gegenüber der Lesedidaktik verhalten, deren Kompetenzorientierung zu einem guten Teil »die Aneignung eines positiven, involvierenden und stabilen Habitus gegenüber dem Lesen [ist], der auf die Entwicklung von Lese-Motivation, -Engagement und -Volition auch gegenüber längeren und schwierigeren Texten und Medien bestehen bleibt«765. Denn Erfahrungen (auch) mit säkularen Geschichten können die Rezeption, Deutung, Aneignung und Diskussion religiöser Erzählungen vereinfachen. Comics können also beim Aufbau (im weitesten Sinne) literarischer Kompetenzen unterstützend wirken und diese sind zum Beispiel auch für den Religionsunterricht nicht uninteressant, wenn biblische Perikopen analysiert oder ethische Fallgeschichten erörtert werden. Bertschi-Kaufmann resümiert in ihrer Studie zur Leserförderung: »Comics erweisen sich als eigentliche Einstiegslektüren, mit ihnen lernen sich Kinder in Geschichten zurechtzufinden und ihnen gelingt gerade dank der Erfahrung mit dieser einst verpönten Gattung die Bewältigung von immer schwierigeren Erzählverläufen.«766 Das läge daran, dass sich auch Kinder, deren Lesekompetenzgrad unterhalb schulischer Anforderungen befindet, anhand von Comics mit narrativen Verlaufsmustern vertraut machen könnten, so dass sie als Leserinnen sicherer und neugieriger würden.767 Da auch Erzählungen im Religionsunterricht mit zunehmenden Schuljahren immer 763 764 765 766 767

2002, S. 121. Fowler, 2000, S. 152. Lischeid, 2011, S. 114. 2000, S. 336. Vgl. 2000, S. 341.

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komplexer werden und beispielsweise biblische Perikopen auch noch stark kontextreduziert sind, ist ein gewisses literarisches Wissen für die Religionspädagogik erstrebenswert. Eine intensive Comiclektüre könne nach BertschiKaufmann nachgewiesenermaßen dabei helfen, die Lesemotivation zu stärken sowie ein »erzählerisches Erfahrungsrepertoire« aufzubauen, das eine gute Grundlage böte, sich auch an neue, unbekannte Erzählgefüge zu wagen.768 Weil Comics bei einer guten Comiclesekompetenz mitunter auch zügiger gelesen werden können als herkömmliche Literatur, sind Schüler so in der Lage, in kürzerer Zeit mehr Erzählungen zu begegnen als bei Kontakt mit Romanen. So vergrößert sich potentiell die Bandbreite der Erfahrungen und das allgemeine Lektürerepertoire.769 Auch das wiederholte, vertiefende Lesen ist dann weniger zeitaufwändig. Bertschi-Kaufmann weist zudem darauf hin, dass die Ergebnisse durch Comicleseförderung dann am fruchtbarsten sein können, wenn die Lehrenden nach der Comiclektüre das Gespräch mit den Kindern suchen, um über die gelesene Geschichte zu sprechen und den Heranwachsenden in der Anschlusskommunikation Aufmerksamkeit und Respekt zu schenken.770 Auch und gerade phantastische Stoffe – in Comics sowie in herkömmlicher Literatur – kommen Religionspädagogen entgegen, denn die Affinität Heranwachsender für andere Welten ist ein Hinweis darauf, dass sie Erzählungen brauchen, die die alltägliche Welt transzendieren. Da einige Religionslehrkräfte eine intuitive Offenheit zur Arbeit mit Bibelcomics zeigen (vgl. dazu III 1) oder ihre Klasse zum Erstellen von Comics zu einer Geschichte anleiten, sei auch noch einmal auf das Potenzial von medialen Transformationen hingewiesen, wie sie nicht nur im Literatur-, sondern auch im Religionsunterricht thematisiert werden können, zum Beispiel in Hinblick auf biblische Perikopen in comicästhetischer Ausgestaltung. Vanderbeke erklärt, genau der Unterschied zwischen Original und Adaption erlaube eine neue Begegnung mit Literatur, die von der Spannung und dem Zusammenspiel beider Kunstwerke lebe; der Comic müsse zum Beispiel im Vergleich zum Film mit seiner bildlichen Ästhetik auch weniger der Handlung folgen, und könne stattdessen sprunghafte, assoziative, subjektive und eigenwillige Verweise tätigen.771 In pucto Leseförderung könnte also geraten sein: »trust in the new medium and its ability not only to illustrate but also to create meaningful information.«772 Es lässt sich zusammenfassen: Die Relevanz von Lesekompetenz als Schlüsselkompetenz kann kaum genug hervorgehoben werden. Comics dürfen dabei gezielt als Instrument zur Leseförderung auf vielen verschiedenen Ebenen ge768 769 770 771 772

Vgl. 2000, S. 343. Vgl. Bakis, 2014, 2f. Vgl. Bertschi-Kaufmann, 2000, 342f. Vgl. Vanderbeke, 2010, 109, 117. Ebd., S. 109.

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nutzt werden – sei es als Stimuli für die persönliche Involviertheit, für die allgemeine Lesemotivation oder schlicht zum Aufbau der ›fluency‹ in der Lesegenese. Sie lassen sich neben anderen bevorzugten Textgattungen besonders im Rahmen einer ›interessengeleiteten Lesekultur‹ einsetzen und können Mädchen und Jungen neben phantastischer Literatur und anderen Textgattungen und -genres auch als Freizeitlektüre zu Verfügung gestellt werden. Unter speziell inklusiven Aspekten kann sich eine comicbasierte Leseförderung als vorteilhaft erweisen, da sie potenziell besonders bildungsbezogene Risikogruppen sowie Schülerinnen mit gering ausgeprägter Lesemotivation anzusprechen vermag. Dabei darf man zu Recht darauf vertrauen, dass eine intensive Comiclektüre langfristig auch die Bereitschaft fördert, andere, zum Beispiel textlastigere literarische Angebote zu nutzen. Dem Religionsunterricht obliegt nicht nur die Aufgabe, Schülerinnen lesekompetenter zu machen, sondern er profitiert auch unmittelbar von dem Ergebnis. Nicht nur weil im Fach anspruchsvolle und kontextreduzierte Texte rezipiert werden müssen, sondern auch da der Religionsunterricht durch »erzählerisches Erfahrungsrepertoire«773 auf Schülerseite profitiert. Diese Sicherheit im Umgang mit Texten und Narrationen kann durch Comics initiiert und gefördert werden. Setzt man Comics im Rahmen der Religionsdidaktik zum Bespiel wegen geeigneter Inhalte ein, so könnte es sein, dass sich dadurch ein positiver Doppeleffekt ergibt, man sozusagen ›zwei Fliegen mit einer Klappe schlägt‹, da fast automatisch auch die Lesekompetenz und -motivation stimuliert wird. Auf diese Weise stellt sich das Fach der Aufgabe ›Lesekompetenz‹ ohne erheblichen Mehraufwand.

3.2.6 An die Zukunft denken: Visual Literacy Das Bild gewinnt gegenüber dem geschriebenen Wort in unserem Kulturkreis eine immer größere Relevanz. Für Heranwachsende ist es deshalb zunehmend wichtig, mit Bildern in ihrer Umwelt kompetent und kritisch umgehen zu können. Daraus hat sich das Bildungsanliegen einer ›Visual Literacy‹ ergeben, die langsam die Stellung einer Schlüsselkompetenz im pädagogischen Diskurs einzunehmen beginnt. Überlegungen dazu tragen sowohl gegenwärtigen medialen Strukturen als auch den speziellen Verarbeitungsprozessen visueller Medien Rechnung. Im Folgenden sollen einige einführende Gedanken zum ›iconic turn‹ der Mediengesellschaft angestellt und wichtige Spezifika der kognitiven Verarbeitung von Bildern erklärt werden, denn daraus ergeben sich auch Anforderungen an die Schlüsselkompetenz. Das Hauptaugenmerk des Kapitels liegt 773 Bertschi-Kaufmann, 2000, S. 343.

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schließlich auf den Kompetenzen, die unter dem Dachbegriff ›Visual Literacy‹ miteinander vereint werden und inwiefern diese speziell mithilfe von comicdidaktischen Zugängen förderbar sind. Kein Fach sollte sich der Ausprägung von Visual Literacy verschließen, weil es sich dabei um ein skill set handelt, dass besondere Zukunftsbedeutung in unserem kulturellen Raum hat. Spätestens im 21. Jahrhundert sind wir in Europa endgültig in der Mediengesellschaft angekommen. In unserer Alltagswelt wächst dabei die Relevanz von Bildern und Bilderwelten, vor allem Fotos und Videos nehmen zu und sie spielen in den verschiedensten Zusammenhängen (in der Freizeit, Bildung, Arbeitswelt, Kommunikation etc.) eine immer größere Rolle. Dafür gibt es viele Indizien und Anhaltspunkte, gerade in der Welt von Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen, von denen im Folgenden einige Ansatzpunkte als Beispiel herangezogen werden. Für junge Menschen nimmt die Kommunikation durch Instant-MessagingDienste für Smartphones eine wichtige Stellung ein. Einer der beliebtesten Anbieter ist das Unternehmen ›WhatsApp‹, das zu Beginn des Jahres 2020 nicht weniger als 2 Milliarden monatliche Nutzer verzeichnen konnte – Tendenz weiter steigend.774 Hier werden dem Nutzer neben der Möglichkeit, Nachrichtentexte zu verfassen, für Kommunikationszwecke 1436 Emoticons, Symbole und bildliche Zeichen zu Verfügung gestellt – und natürlich auch genutzt (Stand: März 2017). Regelmäßige Updates bereichern das Angebot weiter. Smartphone-Applikationen, die unabhängig von Diensten wie WhatsApp eine noch größere Fülle von Graphiken zu Verfügung stellen, haben sich dabei ebenfalls als äußerst lukrativ erwiesen.775 Gerade ›Emoticons‹, die Gefühle aufs Einfachste auszudrücken vermögen, ohne dass man sie (umständlich) verbalisieren muss, spielen eine große Rolle. Zusätzlich werden über diesen Messenger nach eigenen Angaben täglich über 400 Millionen Fotos versandt.776 Auch andere Instant-MessengerDienste sind erfolgreich geworden, indem sie Kommunikation durch Bilder ermöglichen: ›Snapchat‹ und ›TikTok‹ beispielsweise leben durch den Austausch von kurzlebigen Bildern und Videos, die durch Filter in der App auch bearbeitet, verfremdet und verschönert werden können. Sie dienen oftmals der Selbstinszenierung, sodass auch die fotographische Eigenproduktion von Bildern zur wichtigen Kompetenz geworden ist. Ähnliches lässt sich über den Onlinedienst ›Instagram‹ sagen, ein soziales Netzwerk, in dem die User vor allem eigene Fotos und Videos teilen. Instagram verzeichnet bereits über eine Milliarde Nutzer und spielt damit etwa für jeden vierten Internet-User weltweit eine Rolle spielt.777 Das 774 775 776 777

Vgl. Clement, 2020. Vgl. Eisenbrand, 2015. Vgl. Eichfelder, 2016. Vgl. Instagram, 2018; Rabe, 2018.

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Bild ist damit aus der täglichen informellen Kommunikation nicht mehr wegzudenken, verstärkt und ersetzt das geschriebene Wort teilweise gänzlich. Dabei, das sei betont, spielt das Bild nicht allein in populärwissenschaftlichen Zusammenhängen eine wachsende Rolle. Die Entwicklung reicht so weit, dass sogar das renommierte Oxford Learner’s Dictionary inzwischen ein bildliches Symbol aufgenommen: Ein Herz, das mit ›to love‹/›lieben‹ übersetzt wird, wie zum Beispiel im in informell-schriftlichen Kontexten gängigen ›I ❤ You‹.778 Damit hat das Lexikon auf die wachsende Bedeutung des Symbols (nicht nur) im englischsprachigen Raum reagiert. Während Messenger-Dienste Domänen sind, in denen der Nutzer Bilder produktiv nutzen und aktiv als Ausdruck einsetzen kann, werden Bilder auch gerne (mehr oder weniger) passiv rezipiert. So gab das Videoportal YouTube Ende 2016 an, mit seinen Videos fast ein Drittel aller Internetuser zu erreichen, weil es weltweit mehr als eine Milliarde Nutzer verzeichnet. Die Reichweite und Popularität allein dieses Videoanbieters spricht Bände.779 Auch nicht-lineares ›Fernsehen‹ verzeichnet ein rasantes Nutzerwachstum. Im Jahr 2016 haben schätzungsweise 34 Millionen Deutsche regelmäßig auf kostenpflichtige Videoon-Demand-Dienste wie Netflix oder Amazon Prime zurückgegriffen.780 Netflix, in Deutschland als zweitgrößter Anbieter vertreten, konnte zu Beginn von 2018 weltweit fast 117 Millionen Nutzer verzeichnen – Tendenz steigend; in jedem Quartal kommen Millionen von Nutzern dazu.781 Die Corona-Krise hat dabei nur verstärkend gewirkt. Netflix ist inzwischen global in fast allen Ländern präsent. Dabei ist der Video-on-Demand-Markt vor allem für junge Menschen unter 30 Jahren attraktiv, die Netflix-Inhalte durchschnittlich für 90 (!) Minuten täglich konsumieren.782 Die Portale spezialisieren sich dabei zunehmend auf das Anbieten von Serien, die eine längere Laufzeit haben als für sich stehende Filme. Der wachsende Anteil von Comics auf dem Buchmarkt kann möglicherweise ebenfalls als Zeichen des Siegeszuges des Bildes in unserer Kultur aufgefasst werden. Zugegebenermaßen kann es allerdings auch schwerfallen, eine Brücke zwischen der medial-digitalen Gegenwart Heranwachsender und dem Comic zu schlagen, der so häufig ausschließlich in (veraltet erscheinender) Printversion erscheint.783 Die Tatsache, dass der Comic sich in den letzten Jahren und Jahrzehnten aber durch neue Formate und Genres immer wieder neu erfunden hat und trotz Digitalisierung nicht zu stoppen ist, zeigt aber: das Medium liegt inhaltlich und durch seine visuelle Medialität durchaus am Puls einer Zeit, in der 778 779 780 781 782 783

Vgl. Oxford Advanced Learner’s Dictionary. Vgl. YouTube, 2016. Vgl. Media Redaktion, 06.07.16. Vgl. Huber, 2018; mma/dpa, 2016. Vgl. mma/dpa, 2016. Vgl. Ahrens, 2012, S. 16.

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Worte und Bilder immer öfter zusammen präsentiert werden. Ahrens erläutert sogar eine Art ›Ursprungsmythos‹, nach dem der Comic schon in seinen Anfängen (zu Beginn des 20. Jahrhunderts) die heutige »Verbildlichung der Welt« und die Bedeutung bildlicher Kommunikation verstanden und vorwegnehmend erprobt habe, was ihm einen gewissen avantgardistischen Anstrich verleihe.784 Tatsächlich ist diese Überlegung keineswegs abwegig, hilft sie doch zu erklären, warum Comics (parallel zum ›iconic turn‹) erst im 20. Jahrhundert ihren Siegeszug angetreten haben und heute in neuer Blüte stehen. Pictoral vermittelte Informationen spielen in unserer Mediengesellschaft also unbestritten eine immer zentralere Rolle: »Bilder informieren, motivieren und unterhalten uns, sie verschönern unsere Umgebung. Sie sind überall und überall wirksam, daran zweifelt niemand mehr.«785 Besonders für Jugendliche sind Bilder (genauer: Fotos und Videos) in der digitalen Alltagswelt allgegenwärtig.786 Weil sie also in fast allen Lebensbereichen (auch in bildungsbezogenen!) eine Rolle spielen, ist es entsprechend wichtig, Schüler dafür zu sensibilisieren, wie Bilder funktionieren und genutzt werden können.787 Denn dieses Wissen erwerben sie nicht automatisch. Höpel erklärt: Die Fähigkeit, Bilder zu verstehen, nimmt einerseits zu, insofern als Bilder offenbar schneller erfasst und auf einer ersten Ebene auch verstanden werden. Tatsächlich aber nimmt diese Fähigkeit andererseits insofern ab, als das Bildverstehen auf einer oberflächlichen Ebene stehen bleibt, Bilder nach dem schnellen Erfassen liegen gelassen und nicht weiter hinterfragt werden, so dass ihrer persuasiven Wirkung Tür und Tor geöffnet werden. Der ungeheuren medialen Präsenz der Bilder, der Schnelligkeit ihres Erscheinens, Verbreitens und Verschwindens steht somit ein zunehmender Bildanalphabetismus gegenüber.788

Obwohl die Bezeichnung ›Analphabetismus‹ wohl zu sehr dramatisiert, da die Bildkompetenzen Heranwachsender durch den alltäglichen Mediengebrauch in vielerlei Hinsicht oft sehr gut sind (zum Beispiel in Bezug auf die Schnelligkeit, mit der etwa ›Memes‹ erfasst werden), steht fest: Die ›Bildlesekompetenz‹ ist im Medienzeitalter zu einer Schlüsselkompetenz geworden, die entsprechend auch in der Schule gefördert werden sollte789. Und die Pädagogik reagiert auch auf diese Entwicklung: Ein Großteil an den zur Verfügung stehenden Beiträgen zur Bild-Didaktik ist in den letzten 15 Jahren veröffentlicht worden, wie eine Recherche in den gängigen Verbunds- und Universitätsbibliothekskatalogen ergibt. Besonders seit 2013 kann man einen rasanten Anstieg konstatieren. 784 785 786 787 788 789

Vgl. 2012, S. 16; auch Flusser, 1998. Billmayer, 2008, S. 72. Vgl. Höpel, 2008, S. 64. Vgl. Billmayer, 2008, S. 72. 2008, 64f. Vgl. Billmayer, 2008, 72, 80.

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Tatsächlich ist auch die Comiclesekompetenz, über die manche Heranwachsende sogar mehr verfügen als ihre Lehrer, eine Art Bildlesekompetenz. Gundermann sieht als didaktisches Ziel des Geschichtsunterrichtes zum Beispiel auch eine piktorale Lesefähigkeit, die der Comiclesefähigkeit sehr nahekommt, ist damit doch die Synthese von Bild, Text und Symbol gemeint, die zusätzlich Induktions- und Imaginationsfähigkeit benötige: »Im Rahmen einer medialen Methodenkompetenz ist es eine Aufgabe des Geschichtsunterrichts, Angebote zu schaffen, die eine Ausprägung dieser spezifischen Lesefähigkeit ermöglichen.«790 In vielerlei Hinsicht liegt dem Menschen das Bild auch näher als das Medium der Schrift. Zumindest die Rezeption erfolgt völlig anders. Sousanis erklärt, gegenständliche Bilder, wie die meisten Fotos, weisen unmittelbar auf etwas hin, während Texte nur beschreiben, beziehungsweise im wesentlich abstrakteren, symbolischen Sinne durch das Alphabet auf etwas hinweisen: »While image is, text is always about.«791 Das heißt aber nicht, dass Bilder nicht letztlich auch Zeichenstrukturen wären, die auf etwas hinweisen.792 Umso mehr gilt dies für cartoonhafte Zeichnungen. Aber: Das Lesen von Schrift muss mühsam erlernt werden, die Fähigkeit, einfache Bilder zu verstehen, erwirbt man beim Aufwachsen in der alltäglichen, ungesteuerten Interaktion mit der Umwelt. Entsprechend werden gegenständliche Bilder sehr viel schneller aufgenommen und erfasst als Texte.793 Nicht nur das: Bilder behaupten sich in der neuronalen Verarbeitung beharrlich gegen Sprache und Text. Wenn bildliche und textuelle Informationen zusammen präsentiert werden, aber nicht übereinstimmen oder sich widersprechen, bleiben häufiger die Bilder in Erinnerung.794 In Sachen Erinnerung muss allerdings zwischen zwei Dimensionen unterschieden werden: Für die Rezeption von Comicbildern ist vor allem das sogenannte Kurzzeitbildgedächtnis von Bedeutung. Es umfasst nur wenige Sekunden oder Minuten und ist dort hilfreich, wo wir Bilder vergleichen, etwas (ab)zeichnen oder eben von Panel zu Panel springen.795 Das Langzeitbildgedächtnis spielt hingegen beim passiven Wiedererkennen eine Rolle, weniger für das aktive Reproduzieren von Bildern.796 Im Comicrezeptionsprozess wird dies im Grunde nur dann wichtig, wenn die Leserinnen erkennen müssen, dass die Zeichnungen eines Comics auf sehr bekannte Bilder im kulturellen Gedächtnis anspielen – seien es populäre Marilyn Monroe-Fotographien oder die Werke Leonardo da Vincis – und dadurch zusätzliche symbolische Bedeutung evozieren. Natürlich gibt es keinen 790 791 792 793 794 795 796

2007, S. 72. Sousanis, 2015, S. 58. Vgl. auch Anderson; Maddox, 2013, S. 19. Vgl. Kauffmann, 1988, 36. Vgl. Domsich, 1991, S. 53ff. Vgl. dazu Höpel, 2008, S. 65. Vgl. ebd.

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festen Kanon von Bildern oder auch nur Kriterien, mit deren Hilfe man die Relevanz oder Verbreitung eines Bildes im kulturellen Gedächtnis bestimmen kann. Taucht ein Kunstwerk jedoch (auch verfremdet) bedeutungstragend in der Populärkultur auf, kann man davon ausgehen, dass auch viele Menschen diese Anspielung erkennen werden, das Original-Kunstwerk als Bild also einen gewissen Status im kollektiven Gedächtnis erworben haben muss. Wie Comics mit bekannten Bildern spielen, ist für die Forschung deshalb durchaus interessant. Die meisten Menschen haben aber nur eine relativ geringe Anzahl von Bildern mit hoher Detaildichte verinnerlicht, denn bei der Aneignung dieser wenigen, wichtigen Bilder spielen konstruktivistische Prozesse und damit persönliche, auch autobiographische Zusammenhänge eine Rolle, die umfangreiche neuronale Prozesse anstoßen und deshalb nicht alltäglich sind: »Bilderinnerungen bestehen im Gehirn als Muster neuronaler Verbindungen oder Synapsen, die im Gehirn verteilt sind und Verbindungen eingehen müssen, wenn Erinnerung stattfinden soll.«797 Bilder, abseits von künstlerischen Interessen, werden heute aber oft so konstruiert/bereitgestellt, dass sie möglichst wenig Ressourcen in Form von Zeit und Konzentration beanspruchen.798 Das macht die Rezeption angenehm und mühelos, dadurch werden sie aber auch tendenziell schnell wieder vergessen, denn vor einem konstruktivistischen Hintergrund ist eben davon auszugehen, dass vor allem jene Bilder erinnert werden, mit denen man sich länger beschäftigt und die subjektive Bedeutung erlangen. Comicbilder sind wie so viele Bilder unserer Lebenswelt darauf angelegt, mühelos rezipiert und entsprechend auch schnell wieder vergessen zu werden. Eher erinnern Leserinnen die ›Message‹ des Comics, die Erzählung selbst und dann nur einen Bruchteil der Panels in einem Comic (manche stechen ja durchaus heraus!). Comics können aber, wenn sie auf andere Bilder oder Kunstwerke anspielen, genutzt werden, um diese im Unterricht zu thematisieren. Durch die Verknüpfung mit einer Narration und einer ganzen Unterrichtssequenz sind die Chancen hoch, dass diese Bilder dann langfristig erinnert werden. Auch Bildsequenzen, in denen der Künstler bewusst auf Text verzichtet, können hoch aktive konstruktivistische Prozesse auslösen und so vielleicht länger erinnert werden, denn die Narration wird dadurch intensiver, erfordert mehr Konzentration auf die Details. Möchte man in der Schule Bilder ins Langzeitgedächtnis der Schüler einsinken lassen, hat man in der Regel ja nur begrenzt die Möglichkeit, bedeutsame autobiographischepisodische Umstände, in denen sie das erste Mal mit dem Bild konfrontiert werden, künstlich zu erschaffen.799 Es kann aber zum Beispiel schon helfen, die Aufmerksamkeit der Lernenden auf bedeutungsträchtige Details der Darstel797 Ebd. 798 Vgl. Billmayer, 2008, S. 73. 799 Vgl. dazu Höpel, 2008, S. 65.

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lungen zu lenken, diese in einen größeren Zusammenhang zu stellen oder das populärkulturelle Spiel damit zu thematisieren.800 Der Comic ist dafür nicht unprädestiniert, arbeitet er auf der Bildebene doch oft mit symbolisch aufgeladenen, thematischen Bezügen und Motivtraditionen.801 Bildern kann also, je nach Kontext, unterschiedliche Aufmerksamkeit und Wahrnehmungstiefe entgegengebracht werden, die darüber entscheiden können, wie das Bild oder die Sequenz mit ihrer ›Botschaft‹ aufgefasst wird: Die Wahrnehmung von Bildern basiert zunächst auf präattentiven, nicht bewusst kontrollierbaren, parallel verlaufenden Prozessen und automatisierten visuellen Routinen, die unabhängig von Vorwissen sind. Das Verstehen von Bildern erfordert dagegen semantische Verarbeitungsprozesse und ist von Vorwissen und Zielsetzung des Individuums beeinflusst802.

An dieser Stelle tritt die Kompetenz der ›Visual Literacy‹ auf den Plan. Hier geht es um ein Kompetenzfeld, das auch Namen wie ›Bildkompetenz‹803, ›visuelle Kompetenz‹804 oder ›pictorale‹ und ›visuelle Literalität‹805 trägt. Einen guten Eindruck davon, was damit einhergeht, vermittelt Cynthia L. Selfe. Sie versteht unter ›Visual Literacy the ability to read, understand, value, and learn from visual materials (still photographs, videos, films, animations, still images, pictures, drawings, graphics) – especially as these are combined to create a text – as well as the ability to create, combine, and use visual elements (e. g., colors, forms, lines, images) and messages for the purpose of communicating806‹.

Die Dringlichkeit, die dieses Schlüsselkompetenzfeld zunehmend erhält, ist unter anderem dem ›iconic turn‹ unserer Gesellschaft geschuldet. Deshalb muss betont werden: »visual literacy (or literacies), like all literacies, are both historically and culturally situated, constructed, and valued.«807 Selfes Definition macht deutlich, dass eine umfassende Visual Literacy sich nicht nur auf Fotos oder Ölgemälde bezieht, sondern auf ein viel breiteres Spektrum bildlicher Darstellungsebenen. Auch sollen Schülerinnen nicht nur dazu befähigt werden, Bilder auf einer tieferen Ebene zu verstehen, sondern auch dazu, sie aktiv für ihre Kommunikationsbedürfnisse zu nutzen. Dabei muss es auch verstärkt um Text-Bild-Kombinationen gehen, da diese heute die Regel sind: Selten steht ein Bild allein und 800 801 802 803 804 805 806 807

Vgl. ebd. Vgl. Packard; Rauscher; Sina; Thon; Wilde; Wildfeuer, 2019, S. 119. Röhr-Sendlmeier; Kubat; Käser, 2012, S. 120. Gärtner, 2014 (a); Neuß, 2008. Hallet, 2008. Stiller, 2008. 2004 (b), S. 69. Ebd.

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erscheint fast nie ohne Kontext.808 Die Rezeption und Deutung erfolgt – ähnlich wie im Comic – auf multimodaler Ebene. Aus den einführenden Beispielen, die gerade für die Jugendkultur von Bedeutung sind, wird in sozialen Netzwerken wie Instagram, Messenger-Diensten wie WhatsApp oder eben auch in populären Comics das Bild mit dem Medium der Schrift kombiniert; in Videos spielt die sprachliche, aber oft auch schriftliche Ebene ebenso eine Rolle. Andere Autoren haben den Begriff ›Visual Literacy‹ aufgegriffen und versucht, den Kompetenzbereich noch weiter auszudifferenzieren: Gillian Rose versteht darunter zum Beispiel die Fähigkeit sowohl tiefere Bedeutungsebenen als auch kompositionelle Strukturen von Bildern, deren kulturelle Entstehungstexte sowie Referenzen und Wirkungen auf angemessene und differenzierte Weise begrifflich zu fassen, zu beschreiben und zu reflektieren.809 Hier wird also eher die Notwendigkeit betont, kritische Konsumenten zu schaffen. Das gelingt freilich am besten, indem man auch die Bilderwelten der Populärkultur, die im Leben heutiger Jugendlicher eine so große Rolle spielen, in den Unterricht holt.810 Dabei können zum Beispiel bildliche Genderstereotype oder manipulative Wirkungen und Versprechungen der Werbeindustrie zum Thema gemacht werden. Weil Text und Bild gerade in diesem Bereich heute so oft Hand in Hand gehen, gilt die Ausbildung einer kritischen Reflexionsfähigkeit in Bezug auf Texte und Medien mittlerweile sogar als Anliegen der Lesekompetenz im weiteren Sinne.811 Comics können in einem gewissen Rahmen dazu beitragen, eine Schlüsselkompetenz wie die Visual Literacy aufzubauen, zu stärken und zu fördern. So spielen zwar besonders Fotos und Videos eine wichtige Rolle im Leben heutiger Jugendlicher, das Medium hat aber eine unbestreitbare Nähe dazu, die der Comic unter anderem durch die Sequenzialität seiner Bildsprache (was für den Film die Zeit ist, ist für den Comic der Raum), seine Wahl perspektivischer Einstellungen in den Panels und überhaupt in der formalen Anlage seiner Bilder zum Ausdruck bringt.812 Bakis zitiert einen Schüler, der am Ende ihres Highschool-Comickurses resümierte: »I am more observant and I have become aware of the value and significance of what can be perceived visually.«813 Das ermutigt. Wie jedoch kann man vorgehen und welche Möglichkeiten bieten sich durch comicgestützte Zugänge, um dieses Ziel zu erreichen? Grundsätzlich kann und sollte ›Visual Literacy‹ nicht allein mit Comics aufgebaut werden, da auch andere Facetten der Medien- und Bilderwelt Heranwachsender zur Sprache kommen müssen und das spezifische mediale Gefüge 808 809 810 811 812 813

Vgl. ebd. Vgl. 2001, 15ff. Vgl. Cary, 2004, S. 41; Morrison; Bryan; Chilcoat, 2002. Vgl. Lischeid, 2011, S. 114. Vgl. Ahrens, 2012, S. 14. 2014, S. 144.

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von Comics nicht für alle Aspekte des Kompetenzbereiches das ideale Anschauungsobjekt darstellt. Einige Überlegungen zur Eignung und Wirksamkeit der Comicdidaktik sollen hier aber konkret mit den einzelnen Kompetenzen verknüpft werden, die eine geschulte Bildlesekompetenz umfasst. Mittlerweile gibt es dafür verschiedene Ansätze. Hier soll vor allem auf den Ansatz von Franz Billmayer verwiesen werden, da durch die Elaboriertheit und Konkretheit seines Ansatzes die Anschlussfähigkeit zur Comicdidaktik außerordentlich gut dargestellt werden kann.814 Claudia Gärtners Konzept von ›Dimensionen‹ der Bildkompetenz wird ergänzend wirken.815 Billmayer stellt neun Kompetenzen in den Fokus, die nicht durch den täglichen Umgang mit der Medienwelt automatisch erworben werden, sondern in den meisten Fällen wohl in einem pädagogischen Rahmen gezielt aufgebaut und gestärkt werden müssen.816 Um diese möglichst anschaulich mit den comicdidaktischen Möglichkeiten zu verknüpfen, sollen hier immer wieder Beispiele aus dem Comicfeld herangezogen werden, besonders aus Matt Maddens 99 Ways to Tell a Story817. In diesem Werk gestaltet der Autor eine simple Comicnarration, ursprünglich acht Panels auf einer Seite, immer wieder neu: aus unterschiedlichen Perspektiven, in unterschiedlichen Zeichenstilen, mit unterschiedlichen Anspielungen etc. Diese kurzen Episoden lassen sich für den Kompetenzerwerb hervorragend nutzen, da sie exzellent verdeutlichen, wie schon kleine Stiländerungen in der Bildsprache die Wirkung eines Comics dramatisch verändern können. Andere Comics ergänzen mit weiteren Beispielen, vor allem Satrapis Persepolis und Don Rosas Onkel Dagobert – Sein Leben, seine Milliarden, da ihnen in dieser Arbeit ein besonderer Fokus zukommt. Manche Fähigkeiten, über die Menschen mit ausgeprägter ›Visual Literacy‹ verfügen, lassen sich mit Comics etwas besser fördern als andere. Hier werden sie bewusst in tendenziell absteigender comicdidaktischer Eignung vorgestellt. Bilder als Zeichen mit eigenen Regeln und Gesetzen verstehen lernen und ihre bewusste Gestaltung anerkennen: Das ist die Grundlage für alle anderen Bildkompetenzen818 Lernende sollen Bilder »als komplex gestaltete Phänomene wahrnehmen, untersuchen und gestalten« – das heißt, etwa Presse- oder Werbefotos nicht als Schnappschuss zu verkennen, sondern die bewusste Gestaltung aller Elemente zu erschließen und Bilder »als komplexe Form-Inhalt-Gefüge wahr[zu]nehmen, [zu] untersuchen, [zu] deuten, [zu] gestalten«, also die Form und Bildmittel in 814 815 816 817 818

Vgl. Billmayer, 2008. 2014 (a). Vgl. 2008, S. 76. Madden, 2005. Im Folgenden, soweit nicht anders angegeben, vgl. Billmayer, 2008, S. 76ff.

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Bezug zu ihrer Funktion setzen.819 Gärtner spricht hier von einer »bildstrukturalen« und »bildinhaltlichen Dimension«.820 In einem comicdidaktischen Visual Literacy-Training können die Kinder und Jugendlichen die ›Sprache‹ des Comics in Grundzügen erlernen, zum Beispiel indem sie erkennen, dass die Form und Anordnung der Panels auf einer Seite, deren Perspektive oder Farbgebung keine Zufallsprodukte sind, sondern mit einer dezidierten Wirkungsabsicht geschaffen wurden. Ob man sich dessen bewusst ist, oder nicht: manche Comicseiten werden mit solch künstlerischer Raffinesse produziert, dass unsere Wahrnehmung und unser Empfinden deutlich kontrolliert und gesteuert werden. Matt Madden macht es in 99 Ways to Tell a Story vor, indem er die (im inhaltlichen Kern) gleiche Episode zuerst in acht extrem flachen, horizontalen Panels und dann in acht steilen vertikalen Panels darstellt.821 (Abb. 11) Beide Darstellungsweisen können bei längerer Betrachtung belastend wirken, als sei man als Lesende selbst in zu engen Räumlichkeiten, ähnlich den engen Panelrahmungen, eingesperrt. Die horizontalen Panels jedoch vermitteln dabei ein eher erdrückendes Gefühl und die Illusion von Langsamkeit, während die vertikalen Panels tendenziell klaustrophobische Eindrücke transportieren. Ein paar simple Formentscheidungen machen also den Unterschied. Derartige Erkenntnisse lassen sich auch auf andere Bilderwelten übertragen. Dabei kann durch Comics deutlich gemacht werden, dass auch das Comicbilder-Lesen gelernt sein will: Viele Leser nehmen sich nicht genug Zeit dafür, marginalisieren die visuelle Ebene im Vergleich zum textuellen Anteil.822 Comickompetente Fans sind davon nicht ausgeschlossen. Auch ein Übergewicht der bildlichen Ebene macht die Narration nicht automatisch anspruchsloser, weil man ihre Gestaltung dann umso genauer wahrnehmen und analysieren muss, da schon winzige Details bedeutungstragend sein können.823 Madden macht dies vor, indem er die fast identische Sequenz durch extrem geringe Mikroeingriffe in der Mimik des Protagonisten inhaltlich umdreht: zuerst wird ein glückliches Paar gezeigt, dann ein unglückliches – allein erkennbar an den Mundwinkeln und Augen des männlichen Charakters.824 Details können jedoch auch eine wichtige symbolische Bedeutung evozieren. So berichtet Alison Bechdel in Fun Home825 wie sie bzw. ihre Figur Alison als kleines Mädchen beim Essen in einem Diner plötzlich eine Paketzustellerin bemerkt, die durch ihr Äußeres und ihr Auftreten deutlich Gendergrenzen transzendiert; wie sie deren Schönheit bewundert und eine tiefe Verbundenheit zu ihr fühlt. Diese 819 820 821 822 823 824 825

Vgl. Gärtner, 2014 (a), S. 54. 2014 (a), S. 54. Vgl. 2005, 157ff. Vgl. Cary, 2004, S. 58. Vgl. ebd., S. 59. Vgl. Madden, 2005, 137, 139. Bechdel, 2006.

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Zustellerin trägt ihre Schlüssel an einem Schlüsselring, einem Karabiner an ihrer Gürtelschlaufe – ein Detail, das sehr viele Leser übersehen werden. (Abb. 12) Menschen mit einer sehr geschulten Visual Literacy aber können hierin einen (buchstäblichen) Schlüsselmoment für Alisons langen Weg zum Coming-Out sehen. Christina Cauterucci erklärt:

Abb. 11

The beltside key ring is one of the most enduring sartorial symbols of lesbian culture, one of the few stereotypes of our kind that’s both inoffensive and true. […] [K]ey clips are still reliable identity flagging implements. Bechdel calls her key ring ›an identifier, a way to make myself visible to other lesbians—and not even in a sexual way, just as a way of connecting and finding community.‹826

In der Musical-Version des Comics wird diesem Moment deshalb ein ganzer Song gewidmet, der sehr positiv aufgenommen wurde827: »›Ring of Keys‹ has held such profound resonance for lesbians and queers of all genders: Moments of identification and affinity are essential for communities facing discrimination, assimilation, and erasure.«828 Ein bedeutsames Comicpanel für die LGBTQ+ -Gemeinde. Die Comicseite stellt im Übrigen auch das wunderbare Ineinandergreifen von Text und Bild im Comic par excellence dar: Während Alisons plötzliche, komplexe und sehnsüchtige Gefühle, die ihre aufgerissenen Augen 826 Cauterucci, 2016, unpag. 827 Bechdels Fun Home ist einer der ersten Comics, der es auf die Musicalbühne geschafft hat. 828 Cauterucci, 2016, unpag.

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Abb. 12

allein nur erahnen lassen, von der Autorin verbalisiert werden, wird die Erscheinung der Paketzustellerin bildlich und ohne weitere textuellen Ausführungen den Interpretationen der Leser überlassen. Stereotype erkennen und ihren Gebrauch reflektieren In vielen Bildern der Werbung, in sozialen Netzwerken, Zeitschriften, sprich: überall dort, wo Bilder besonders schnell und wahrnehmungseffizient erfasst werden sollen, werden Stereotype eingesetzt. Sie erlauben eine leichte und barrierefreie Kommunikation, weil wir mit ihren Merkmalen, mit ihrer Kodierung vertraut sind. Stereotype in Bilderwelten haben also oft eher strukturelle Gründe, als dass sich dahinter bösartige oder manipulative Machenschaften verbergen.829 Aber: Medien schaffen, prägen und organisieren unsere Wirklichkeit und damit auch gesellschaftliche Zusammenhänge. »Junge Menschen insbesondere formen ihre Identitäten und ihr Leben stets in sozialen Netzwerken und durch diese, die SMSs, die Spiele, Webseiten und Texte, denen sie begegnen und die sie konsumieren sowie produzieren.«830 Weil Bilder unmittelbarer aufgenommen, schneller verinnerlicht und tendenziell länger erinnert werden als Worte, spielen sie dabei eine große Rolle; Klischees werden im Bewusstsein (nicht nur) junger

829 Vgl. Billmayer, 2008, S. 73. 830 Macgilchrist, 2012, S. 183.

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Menschen zum Teil der Realität.831 Deshalb müssen diese Stereotype immer wieder sichtbar gemacht werden, da Lernende sonst unbewusst und langfristig von falschen Voraussetzungen aufgrund vereinfachter mentaler Repräsentationen ausgehen.832 Comicbilder sind vielfach das Paradebeispiel für Bilder, die schnell und unkompliziert aufgenommen werden sollen, um einen reibungslosen Rezeptionsprozess zu ermöglichen. Gerade Funnies (unabhängig von der Länge), Kindercomics und Comics mit sehr cartoonhaften Zeichnungen sind deshalb voll von Vereinfachungen und Stereotypen: Wissenschaftler tragen Rauschebart und Laborkittel, Lehrerinnen dicke Brillen und kaum ein Franzose tritt ohne Baguette oder Baskenmütze auf – und das sind nur Beispiele auf der bildlichen Ebene!833 Diese Vereinfachungen können für Autorinnen sehr nützlich sein, wenn ihnen beispielsweise nur drei bis viel Panels zu Verfügung stehen, um im Comicstrip zu einer Pointe zu gelangen. Durch die vereinfachte Darstellung beispielsweise des Wissenschaftlers ist auch kein Text mehr nötig, der seinen Berufsstand elaborieren müsste. Das ist bei eingeschränkten Seiten- und Panelvorgaben sehr hilfreich. Dennoch muss dafür sensibilisiert werden, dass diese eine künstliche Welt, eine Idee und keine Wirklichkeit abbilden – vor allem, weil cartoonhafte Comics, sprich: solche mit vereinfachenden Zeichnungen, ein so regulärer Bestandteil der Lebenswelt Heranwachsender sind. Im handlungsorientierten Unterricht können mentale Repräsentationen von Konzepten wie dem Superheldentum (stereotyp gekennzeichnet durch Kostüm, Pose, körperliche Stärke etc.) erschlossen, als solche ›gewürdigt‹ und dann kritisch reflektiert werden. Besonders in Bezug auf Genderrollen sind Comics eine überaus reiche Quelle der Klischees. Es bietet sich darum auch an, die Lerngruppe selbstständig auf die Suche nach Stereotypen in Comics (und anderen Bilderwelten) zu schicken, sei es nun im Lustigen Taschenbuch, Asterix oder dem aktuell angesagten Manga (gerade hier sind Genderrollen-Diskurse hoch produktiv!). Auch in den hier analysierten Graphic Novels sind Stereotype zu finden und zu diskutieren, vor allem bei Don Rosa, zum Beispiel die höchst problematischen Darstellungen im Kapitel ›Der Geschäftsmann ohne Gewissen‹ (Abb. 13) oder auch die sehr einfache Darstellung katholischer Nonnen bei Satrapi.834

831 Vgl. Billmayer, 2008, 74f. 832 Vgl. ebd., S. 76. 833 Solche Stereotype finden sich gleichermaßen in Kinder- und Erwachsenencomics. Da sich Graphic Novels wegen ihres Umfangs mehr Zeit mit ihrer Erzählung lassen können, finden sich an dieser Stelle Stereotype jedoch etwas seltener. Gefeit ist diese Gattung davor trotzdem in keiner Weise. 834 Vgl. etwa Don Rosa, 2008, S. 221; Satrapi, 2011, 183f.

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Abb. 13

Lernen, Bilder als Werkzeuge der Kommunikation im Sinne einer visuellen Rhetorik wahrzunehmen und auch selbst zu nutzen Schülerinnen müssen lernen, mit Grundbegriffen der visuellen Rhetorik umzugehen: Welche Bilder wirken auf wen vertrauenswürdig? Wie weckt man durch Bilder Aufmerksamkeit? Welche Bilder beruhigen, machen betroffen oder überzeugen? Wie lässt sich diese Wirkung abschwächen oder verstärken? Im Comic nimmt zum Beispiel der Zeichenstil zwangsläufig Einfluss auf die Wahrnehmung des Inhalts. Madden erklärt: »Suddenly it’s clear that what appear to be merely ›stylistic‹ choices are in fact an essential part of the story.«835 Ein gutes Beispiel für das allgemeine Emotionalitätspotenzial von (Comic-) Bildern findet sich in Craig Thompsons bekannter Graphic Memoir Blankets836 (Abb. 14). Der Autor findet eindrückliche Wege, um seelische Nöte und die Gewalt, der seine jungen Helden ausgesetzt sind, auszudrücken: So wird eine simple Episode, in der er und sein Bruder, die sich ein Bett teilen, eine Kappelei beginnen, zum Horrortrip, als der Jüngere zur Strafe in die kleinste Kammer des Hauses gesperrt wird: Der mächtige Vater wird übergroß und ohne klar erkennbare Augen dargestellt, wodurch er zur Schreckensfigur mutiert; das Grauen 835 2005, S. 1. 836 Thompson, 2005.

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Abb. 14

des Kleinen offenbart sich im Close-up auf dessen Gesicht mit den weit aufgerissenen Augen; die Schrecken, die mit der Kammer verbunden sind, werden bildlich als Monster dargestellt; die Einsamkeit und Vereinzelung des Jungen zeigt sich schließlich in dem vereinzelten Panel, in dem er am Ende – genau wie in der kleinen Kammer – gefangen ist.837 Auch eine dramatisch dargestellte, ausführliche Schulmobbing-Szene erhält eine umso intensivere Wirkung durch die ruhigen und langsamen Bildsequenzen, die den Helden bei der Rückkehr zu Hause zeigen – und die trügerisch und höhnisch zu bestätigen scheinen, in der 837 Vgl. ebd., S. 13ff.

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Schule sei »nichts los« gewesen: »Es war einfach langweilig.«838 Bedrückend in der Schulszene auch die Sequenzen ohne Text, in der der kleine Craig seine Schulsachen einsammelt und den Heimweg antritt: Das Fehlen jeder Worte in den Bildern legt nahe, dass er niemanden hat, mit dem er Worte austauschen könnte.839 Im Analyseprozess der Verbindung zwischen Form und Inhalt in Comics wie Blankets wird das kritische Denken der Lernenden gefördert und es werden Kompetenzen aufgebaut, die sich auch auf die Analyse anderer Medien übertragen lassen.840 In Bezug auf Comics lohnt es sich außerdem gemeinsam mit den Schülern zu überlegen, was ihr spezifischer Wert in der Kommunikation ist, für welche Inhalte und für welche Zwecke sie sich besonders eignen und in welchem Kontext sie (wie) wirken. Dafür können auch einzelne Comicpanels nützlich sein. So kann ein echtes Foto von Marjane Satrapi mit einer ihrer Avatar-/Ich-Darstellungen in Persepolis bezüglich Emotionalität, Glaubwürdigkeit etc. verglichen werden.841 Madden erklärt, dass auch der Zeichenstil nicht nur mit dem Inhalt einer Story in enger Verbindung steht, sondern auch unmittelbar Erwartungen bei den Leserinnen hervorrufen kann.842 Dadurch wird der Inhalt zuweilen völlig unterschiedlich aufgefasst, zum Beispiel kann er als mehr oder weniger realistisch oder seriös wahrgenommen werden. Ferner sollte man Lernende im Optimalfall dazu befähigen, in Grundzügen ihre eigenen Comics zu erstellen, um ihnen ein Spektrum an Ausdrucksmöglichkeiten in dieser Welt zu ermöglichen, das über die Medien von Schrift und Sprache hinausgeht. Anhand solcher Gestaltungsprozesse (digital oder analog) können zudem unkompliziert Experimente in visueller Rhetorik vorgenommen werden (zum Beispiel durch Farben und das Panelformat). Die Geschichte/den historischen Kontext von Bildern, die im kulturellen Gedächtnis wichtig sind, wahrnehmen und einordnen Gärtner bezeichnet dies als »bildgeschichtliche Dimension«, in der Lernende Bilder als durch historisch-kulturelle Kontexte determinierte Konstrukte wahrnehmen, untersuchen und deuten sollen, indem sie das jeweilige Motiv mit älteren Darstellungen vergleichen und Schlüsse daraus ziehen.843 Obwohl die Bedeutung einzelner Bilder heute hinter ihrer großen Zahl verschwindet, gibt es immer noch bestimmte Einzelwerke, die für Kulturen und kulturelle Gedächt-

838 839 840 841 842 843

Vgl. ebd., S. 20ff. Vgl. ebd., S. 34ff. Vgl. Bakis, 2014, S. 3. Bspw. Satrapi, 2011, 289, 273. Vgl. bspw. Madden, 2005, 44, 57, 82. Vgl. Gärtner, 2014 (a), S. 54.

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Abb. 15

nisse von Bedeutung sind.844 Diese muss man kennen, um bildliche Anspielungen wahrzunehmen und so zu verstehen, wie Bilderwelten interagieren.845 Obwohl diese Dimension starke kunsthistorische Aspekte hat, kann ihre Erarbeitung mitnichten allein eine Domäne der Kunstpädagogik bleiben – denn sie ist für andere Fächer manchmal ebenso relevant. Auch Comics verarbeiten oft historische Bilder, zum Beispiel aus dem religiösen Kontext, deren Hintergrund man kennen muss, um deren volle Bedeutung zu verstehen. In Persepolis ist dies zum Beispiel eine abgewandelte Darstellung von Michelangelos ›La Pietà‹846 (Abb. 15), in Sein Leben, seine Milliarden das Bild der Freiheitsstatue mit ihrer Symbolik.847 In der Verarbeitung solcher Bilder kann dabei auch das Langzeitbildgedächtnis der Lernenden gestärkt werden. 844 845 846 847

Vgl. Billmayer, 2008, S. 73. Vgl. ebd., S. 78. Vgl. Satrapi, 2011, S. 287. Vgl. Don Rosa, 2008, S. 91.

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Bilder selbst produzieren können Diese Dimension wird wegen dessen unbestreitbarer Relevanz häufig auf das Medium der Fotographie und dessen Ver-/Bearbeitung, zum Beispiel durch digitale Möglichkeiten, beschränkt. Trotzdem sollte auch die Produktion von Comics nicht ausgeschlossen werden. Die Fähigkeit, mithilfe der erworbenen Anwendungs-, Analyse- und Urteilskompetenzen etwas Eigenes zu schaffen, gilt vielen Pädagoginnen immerhin als die Spitze und höchste Stufe kritischen Denkens.848 Und tatsächlich kommen dabei alle wichtigen Kompetenzbereiche gleichzeitig zum Tragen: Hier können Lernende je nach Neigung mit digitalen oder analogen Werkzeugen ausprobieren, wie sie die Sprache eines Bildes beziehungsweise des Comics nicht nur verstehen, sondern auch für sich nutzen können; wie sie mithilfe von Bildern eine Geschichte erzählen und wie sie diese Bilder gezielt anlegen und gestalten müssen, um bestimmte Effekte auf den Betrachter/Leser zu erzielen; wie sie geschickt Bild und Text/Typographie, miteinander verknüpfen, um Informationen adressatengerecht zu vermitteln; in welchen Kontext sie ihr Bildprodukt zu welchem Zweck stellen müssen und was das mit ihrem Produkt macht; welche kulturellen Faktoren sich auf ihre Gestaltungsentscheidungen auswirken; welche Bilder aus dem kulturellen Gedächtnisschatz ihnen als Anlehnung zu Verfügung stehen und wie sie Gefahr laufen, auf Stereotype hereinzufallen (oder diese zum Beispiel parodierend zu nutzen). Freilich hat man es hier mit recht voraussetzungsreichen Prozessen zu tun. Bilder in Zusammenhängen wahrnehmen und deuten Es ist wichtig, den Blick dafür zu schärfen, in welchen Zusammenhängen Bilder verwendet werden und inwiefern das Einfluss auf ihre Botschaft nehmen kann. Dies geht unter anderem in die Richtung von Gärtners »transkultureller Dimension«, in der interkulturelle Differenzen und transkulturelle Zusammenhänge in der Bildrezeption untersucht und gedeutet werden sollen.849 Für Billmayer geht es hier neben kulturellen auch um persönliche Assoziationen, sodass subjektive und intersubjektive Bedeutungen voneinander unterschieden und diskutiert werden sollten, ebenso offensichtliche und subtiler verborgene Absichten, oder auch ironische, spielerische und sehr ernste, die sich je nach Kontext ergeben. Dabei kann auch die Bedeutung von Hintergrundwissen und religiösen Assoziationen offenbart werden: So ist es westlichen Lesern leicht verständlich, warum Dagobert in Sein Leben, seine Milliarden im Nahtoderlebnis seine Vorfahren ausgerechnet auf Wol-

848 Cauterucci, 2016, unpag. 849 Gärtner, 2014 (a), S. 54.

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ken antrifft (so jedenfalls meine Deutung der Zeichnungen, vgl. Abb. 16).850 Die kulturellen und religiösen Implikationen dieser Jenseitsbilder sollten jedoch bewusst einmal offengelegt werden, da zum Beispiel Menschen aus differentreligiös geprägten Räumen (wie Japan) diese Sequenz nicht mit so viel Selbstverständlichkeit annehmen würden. Dazu ist es jugendlichen Leserinnen mit Sicherheit nicht unbedingt einsichtig, warum diese Vorfahren ihre Zeit im Himmel ausgerechnet mit Golfspielen verbringen. Hier zeigt sich, welchen AhaEffekt eine einzelne Zusatzinformation mitunter haben kann (Schottland ist die Heimat des Golfspielens), wie aber auch persönliche Assoziationen einen Effekt auf die Deutung haben können (zum Beispiel »Golf ist etwas für Leute, die zu viel Zeit haben!«). Oechslin und Keller haben dazu festgestellt, dass Panelfolgen von comicaffinen Probanden mitunter grundlegend anders bewertet werden als von ihren unerfahreneren Gesprächspartner: »Die Interpretation von bestimmten Bildern vermag also, je nach Einstellung des Rezipienten dem Thema oder dem Medium gegenüber ganz unterschiedlich auszufallen.«851

Abb. 16

In Persepolis findet sich übrigens ein einprägsames Beispiel für die kontextuellen Zusammenhänge, die ein Bild auch (lebens-)gefährlich machen können: Marjane erklärt, wie ihre Mutter zu Zeiten der Revolution viele Demonstrationen besucht und eine deutsche Journalistin dabei ein Foto von ihr schießt. Dieses Bild erscheint in den Zeitungen ganz Europas, was die kleine Marjane sehr stolz macht. Weil es aber auch Eingang in eine iranische Illustrierte findet, muss ihre Mutter fortan in Angst vor den Revolutionären und Extremisten leben, färbt sich

850 Vgl. Don Rosa, 2008, 102ff. 851 2013, S. 17.

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die Haare und verlässt das Haus nur noch mit Sonnenbrille.852 Ein einfaches Foto kann im politischen Klima dieser Zeit gefährlich werden, weil es im ›falschen‹ Kontext erscheint. Bilder im Kontext anderer Medien wahrnehmen Diese Dimension ist für Gärtner die »crossmediale«, wenn Bilder mit abweichenden Medien sowohl rezeptiv als auch gestalterisch in Wechselbeziehung gesetzt werden.853 Comics sind hierfür insofern ideal, als das Zusammenwirken sowie Mischen von Bildern und Texten (gesprochen oder geschrieben) gesamtgesellschaftlich soweit zunimmt, dass man geradezu von einem Umbruch in den Massenmedien sprechen könnte.854 Worte waren immer wichtig, nun wächst aber auch die Relevanz von deren visueller Gestaltung, da Typographie und andere Faktoren die Wirkung des Textes (und der dazugehörigen Bilder) deutlich beeinflussen.855 Spätestens hier sollte man auch an die gesellschaftlich wachsende Bedeutung von Comics denken, die mit diesen Mitteln schon lange arbeiten. Die Bildwirkung ist von anderen Informationskanälen abhängig, zum Beispiel vom Arrangement ihrer Sequenz: Deshalb sollten Bilder immer unter multimodalen und multikodalen Bedingungen untersucht werden.856 Comics sind ideal dafür, den kontextuellen Zusammenhang von multikodalen Medien sichtbar zu machen, weil hier Bilder und Text eng zusammenarbeiten, um die vollständige Botschaft zu transportieren. Es kann sich didaktisch lohnen, die textliche und bildliche Ebene in einem Comic getrennt voneinander zu betrachten, also zum Beispiel in einer Comicseite alle textuellen Anteile in Captions und/oder Sprechblasen weg zu retuschieren und die Lernenden zu fragen, welche Wirkungen die Bilder auf sie haben oder Überlegungen dazu anstellen zu lassen, was wohl der textuelle Anteil dazu beizutragen hatte. Wenn dann der Text aufgedeckt wird, kann das Überraschungen und konstruktive Verunsicherung zur Folge haben. Umgekehrt kann das Verfahren natürlich ebenso sinnvoll sein und mithilfe von handlungsorientierten, kreativen Ansätzen erschlossen werden. Auch Madden zeigt deutlich, wie sehr die Wirkung und die Aussage einer Comicnarration durch das Ausklammern von Bildern, einem Übergewicht an Text oder schlicht und einfach einen anderen Sprechblaseninhalt verändert werden kann.857

852 853 854 855 856 857

Vgl. Satrapi, 2011, S. 9. Vgl. Gärtner, 2014 (a), S. 54. Vgl. Dittmar, 2011, S. 9. Vgl. ebd. Man denke an die Hand-Lettering-Exzesse in der zeitgenössischen Ästhetik. Vgl. Höpel, 2008, S. 70. Vgl. 2005, 15, 175, 190.

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Abb. 17

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Sehr deutlich wird dies auch in einer Sequenz in The Arab of the Future858, in der der Autor Riad Sattouf mit zwei sich kaum inhaltlich berührenden Ebenen arbeitet: Er zeigt die scheinbar belanglose Szene einer Familie im Flugzeug, in der sich der kleine Protagonist sehr von den Eltern vernachlässigt fühlt und schildert gleichzeitig in Captions darüber (ähnlich einer voice-over-Narration im Film) in knappen Worten die derzeitige historisch-politische Situation in Syrien.859 (Abb. 17) Beide Ebenen scheinen in keiner Weise zusammenzuhängen. Ließe man entweder den Text in den Captions weg oder zeigte man keine Bilder zu den Schilderungen, so würde nicht nur die Stimmung der Sequenz völlig verändert werden. Die Sequenz bliebe möglicherweise sogar wesentlich kürzer im Gedächtnis haften, da das Arbeitsgedächtnis weniger ›Arbeit‹ bei der Dekodierung, beziehungsweise dem Zusammendenken beider Ebenen hätte. Aus einer konstruktivistischen Perspektive ist dieser Abschnitt des Comics darum ein kleines Meisterwerk (vgl. auch II 3.3). Bilder im Dienste der Unterhaltungsindustrie als solche wahrnehmen und kritisch betrachten können In den Medien sollen Bilder oft dazu beitragen, Geschichten zu erzählen und auch in vermeintlich ›sachlichen‹ Nachrichten eine emotionale Verbindung zum Rezipienten herzustellen. Denn Geschichten machen Zusammenhänge verständlich, emotionalisieren und fesseln. Jugendliche sollten wissen, wie Bilder dramatisieren oder beruhigen, welche psychologischen und sozialen Gesichtspunkte Werbung und Unterhaltung zugrunde liegen, wie Fakt zumindest ansatzweise von Fiktion unterschieden werden könnte. Madden drückt in einem seiner Comics spielerisch und kreativ aus, dass Bilder und Fotos immer nur einen Ausschnitt von der Welt/Wirklichkeit/Situation zeigen können – und dass der Kontext möglicherweise viel größer ist (Abb. 18).860 Dieser Comic kann hervorragend als aktivierender ›Teaser‹ und Einstieg ins Thema genutzt werden. In handlungsorientierten Ansätzen können Schüler dazu angeleitet werden, Geschichten durch Bilder in Comicform zu erzählen und mit dramaturgischen Mitteln zu arbeiten und zu experimentieren. Welche Wirkung haben grelle Farben oder überdimensionale Soundwörter? Inwiefern verändert sich eine Geschichte, wenn sie in Schwarzweiß erzählt wird? Dies geht in die Richtung des Kompetenzbereiches, Bilderwelten selbst erzeugen und gestalten zu können.

858 Sattouf, 2016. 859 Vgl. ebd., 65f. 860 Vgl. 2005, S. 73.

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Abb. 18

Bilder zur Organisation des Wissens verwenden Bilder und bildliche Darstellungsebenen können Wissen strukturieren und veranschaulichen, sie sollten aktiv und passiv genutzt werden können und insgesamt zur Förderung des lebenslangen Lernens beitragen. Dabei müssen Schülerinnen aber auch verstehen, dass Bilder und Infographiken, die so wunderbar objektiv wirken, nicht notwendigerweise die Realität wiedergeben oder zumindest immer nur einen Teil der Wirklichkeit erfassen. Infobilder können bewusst vereinfachen und manipulative oder dramaturgische Effekte nutzen, um eine bestimmte Wirkung zu erzielen.861 Im comicdidaktischen Kontext können Schülerinnen dazu befähigt werden, Comics autodidaktisch für sich zu nutzen und sich neues Wissen anzueignen, auch indem sie lernen, wo sie entsprechende Comics finden und diese auch kritisch zu rezipieren (zum Beispiel sind auch Comicbiographien subjektiv!). In der Königsdisziplin eignen Schüler sich zusätzlich an, wie mithilfe selbstgestalteter Comics effektiv Informationen vermittelt werden können. Dies sollte im Unterricht mit Anleitung geübt werden, dann spricht aber nichts dagegen, zum Abschluss einer Unterrichtseinheit in Tests und Klassenarbeiten auch comicbezogene Aspekte Eingang finden zu lassen, zum Beispiel indem die Lernenden dazu aufgefordert werden, bestimmte Sachverhalte nicht schriftlich, sondern anschaulich in Comicform zu erläutern. Es lässt sich zusammenfassen: Comics eignen sich in vielerlei Hinsicht, um das Visual-Literacy-Kompetenzfeld konkret zu stärken und auszubilden. Ganz besonders wertvoll sind sie, um Schülerinnen für die bewusste Gestaltung von Bildern und deren Wirkung (auch im Sinne einer ›visuellen Rhetorik‹) sowie für Stereotype in Bilderwelten zu sensibilisieren. Wenn Comics mit entsprechenden Themen verwendet werden, können sie auch gut zu Diskursen von Bildern im 861 Vgl. Billmayer, 2008, S. 74.

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historischen Kontext und im kollektiven Bewusstsein/Gedächtnis überleiten. Sie regen zudem durchaus dazu an, sich einmal selbst in der Produktion von Bilderwelten zu versuchen und so Erlerntes anzuwenden und zu festigen. Zuweilen können Comics unter Anleitung dafür sensibilisieren, dass Bilder immer in kulturellen Kontexten entstehen oder erscheinen und zusätzlich das Spiel von Bildern im Kontext von Text verdeutlichen. Minimal können Comics auch zur Organisation von Wissen verwendet werden und einen kleinen Teil von Bildern im Dienste der Unterhaltungsindustrie repräsentieren, die kritisch behandelt werden sollten. Die Arbeit mit Comics kann aber nur eingeschränkt die crossmediale Wirkweise von Bildern offenlegen, sie steht nur für eine Möglichkeit von vielen, um Wissen bildlich zu organisieren und offenbart die Wirkweise von Bildern im Dienste der Unterhaltungsindustrie nur hinsichtlich eines bestimmten Mediums. Für diese Zwecke können comicdidaktische Ansätze Schüler in ihrer Visual Literacy zwar stärken, es müssen aber auch andere Medien hinzugezogen werden, damit sie den Transfer des Erlernten auf andere Bilderwelten üben und ihr Wissen damit konsolidiert wird. Definitiv kann aber dazu geraten werden, im Rahmen von Unterrichtssequenzen zu populären Comics wie Blankets, Fun Home oder Persepolis verstärkt Impulse zu setzen, um die Visual Literacy der Lernenden en passant mit zu schulen. Je nach Werk und Fach können dabei unterschiedliche Aspekte und Fähigkeiten im Fokus stehen. Denn auch durch eine punktuelle Förderung, sofern sie beharrlich und in möglichst vielen Fächern erfolgt, kann die Visual Literacy der Lernenden mithilfe von Comics gestärkt und aufgebaut werden.

3.3

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Spricht man vom Anliegen einer Aktivierung der Schülerinnen, kann dies in der Regel auf dreierlei Weise erfolgen: körperlich, sozial, kognitiv oder emotional.862 Vor allem die sozialen und körperlichen Wirkungsdimensionen lassen sich im Kontext der Comicdidaktik zumindest teilweise auf die ausgeprägte Anschlussfähigkeit des Mediums zu verschiedenen Methoden und Lernarrangements zurückführen, die, richtig eingesetzt, Lernprozesse effektiver gestalten können. Das soll an anderer Stelle näher erläutert werden (vgl. II 3.2.2, 4.1 und 4.3). Aufgrund seiner zunehmenden Relevanz in pädagogisch-didaktischen Kontexten wird hier nun auf den Bereich der kognitiven Aktivierung näher eingegangen: Es handelt 862 Vgl. dazu Helmke, 2009, S. 205. Zusätzlich sehen einige Autoren darin eine Aktivierung der Lernenden in Hinblick auf die Fähigkeit, ihre Lernprozesse selbst zu reflektieren und zu gestalten. Dieses erwiesenermaßen sinnvolle Prinzip lässt sich auf die Arbeit mit Comics wie für alle anderen Lernbereiche übernehmen, kann aber nicht durch sie initiiert werden, weshalb eine derart definierte »Schülerorientierung« an dieser Stelle nicht thematisiert wird.

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sich dabei um ein Geschehen auf der Tiefenebene des Unterrichts, das einen derart hohen Einfluss auf Lernprozesse nehmen kann, dass der Faktor in fast allen Metaforschungen zur Unterrichtsqualität behandelt wird. Auch in der Religionspädagogik spielt er eine wachsende Rolle.863 Hier soll erforscht werden, wie sich Comics positiv auf diese Dimension im Unterricht auswirken können – möglicherweise sogar ohne Mehraufwand für die Lehrkraft. Kognitive Aktivierung – Was ist das eigentlich? Der angestrebte Faktor der kognitiven Aktivierung bezieht sich auf die Förderung der Informationsverarbeitung von Lernenden.864 Er kommt in den meisten Klassifikationen guten Unterrichts vor und Hasselhorn/Gold betrachten ihn gar als wichtigstes Qualitätsmerkmal.865 Obwohl das Prinzip teilweise schon in der Vergangenheit diskutiert wurde, hat gerade die jüngere empirische Unterrichtsforschung kognitiven Aktivierungsprozessen zu größerer Beachtung verholfen.866 Das hat auch Einfluss auf die Religionspädagogik. So plädiert etwa Pirner dafür, kognitive Aktivierung in religionspädagogischer Forschung, Theorie und Praxis stärker zu berücksichtigen, da es sich hier um einen Qualitätsfaktor gerade für den Religionsunterricht handeln könnte.867 Die kognitionspsychologischen Prozesse, die mit kognitiver Aktivierung einhergehen, gehören dabei zu den Tiefenstrukturen des Unterrichts, die von ungeschulten Beobachtern nicht ohne Weiteres wahrgenommen werden können, weil sie nicht unbedingt zu äußerlich sichtbaren verhaltensbezogenen Aktivitäten führen.868 Dennoch optimiert eine aktive Kognition die Aufnahme bzw. Verarbeitung von neuen Informationen, verbessert das Behalten und ermöglicht den leichter gelingenden Transfer von Wissensstrukturen auf andere Lernsituationen und Aufgaben. Entsprechende Wissensaneignungsprozesse erfordern oft anspruchsvollere Lernstrategien als die bloße Verarbeitung von Informationen an der ›Oberfläche‹.869 Denn Anliegen ist es, aktive Denk- und Problemlöseprozesse zu initiieren und eine intensive geistige Auseinandersetzung mit dem Lernstoff in Gang zu setzen, die dadurch eine größere Verarbeitungstiefe mit sich bringt. Es wird das Einordnen des Lernstoffes in größere Zusammenhänge gefördert und so werden optimal vernetzte und transferfähige Wissensstrukturen aufzubauen. Man könnte sagen, dass Menschen dann kognitiv aktiv sind, wenn sie mitdenken, etwas durchdenken, kritisch hinterfragen und Verknüpfungen 863 864 865 866 867 868 869

Vgl. bspw. Lenhard, 2015, S. 14. Vgl. Helmke, 2009, S. 169. Vgl. 2013, S. 247. Vgl. Heymann, 2015, S. 6. Vgl. Pirner, 2013, S. 228. Vgl. Heymann, 2015, S. 7; Hasselhorn; Gold, 2013, S. 247. Vgl. Klauer; Leutner, 2007.

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zwischen alten und neuen Informationen herstellen. Diese Lernprozesse sind nicht unbedingt zeitaufwändiger oder zeiteffizienter als oberflächliche Informationsverarbeitungen, sie sind jedoch effektiver. Und nur so haben Lernende die besten Chancen, sich Lernstoff dauerhaft anzueignen und auch für ihre Lebenswelt zu nutzen. Die Idee der kognitiven Aktivierung fußt auf der konstruktivistischen Grundidee, der sich die (Lern-)Psychologie vor allem seit dem letzten Drittel 20. Jahrhunderts geöffnet hat. Sie besagt, Lernprozesse seien aktive Prozesse der Lernenden.870 Es habe wenig Aussicht auf Erfolg, Jugendlichen in einem Lehrervortrag einige Fakten vorzubeten, ohne dass diese für sie bedeutsam wären, und davon auszugehen, dass dieses Wissen nun als gesichert gilt. Die Lernenden selbst seien »Konstrukteure ihres Wissenserwerbs« und deren aktiver Beitrag sei besonders bedeutsam, wenn nicht sogar entscheidend für ihre Lernprozesse.871 Gelegentlich wird die ›Konstruktion‹, die individuelle Lernprozesse betont, auch als Gegenpol zur ›Instruktion‹ genannt: Konstruktionsprozesse im Unterricht sollen maximiert werden, Instruktionen hingegen minimiert.872 Jedoch benötigt schulisches Lernen immer beides, denn kognitive Aktivierung, die der Konstruktion vorausgehen muss, muss oft erst initiiert werden, zum Beispiel durch Interesse-weckende Aufgaben, die in der konstruktivistischen Didaktik von großer Bedeutung sind.873 Nach Kunter/Trautwein knüpfen kognitiv aktivierende Arbeitsaufträge zum Beispiel an eigene Erfahrungen der Heranwachsenden an, es stehen mehrere richtige Lösungen zur Disposition und diese sind nicht einfach durch abrufbares Wissen oder die Anwendung von Routineschemata auffindbar.874 Unterrichtsgespräche sollten von den Lehrenden mit Fragen/ Arbeitsaufträgen, die für die Schüler anregend und herausfordernd sind, angestoßen werden, Widersprüche und Konflikte dürften aufgezeigt, unterschiedliche Meinungen geäußert, begründet und gegenübergestellt werden.875 Helmke erklärt: Lernen erfordert zum einen immer Motivation, Interesse und Eigenaktivität seitens des Lernenden, und der Unterricht hat die Aufgabe, diese Konstruktionen anzuregen und zu ermöglichen. Lernen erfordert aber auch Orientierung, Anleitung und Hilfe. Ziel

870 871 872 873

Vgl. ebd., 8f. Helmke, 2009, S. 48. Vgl. dazu ebd., S. 47. Mendl merkt an, dass es dezidiert die Aufgabenstellungen sind, an denen man erkennt, ob beispielsweise Materialien oder Schulbücher nach konstruktivistischen Gesichtspunkten gestaltet sind (vgl. 2012, S. 106). Ohne instruktivistische Phasen kommt man also auch in der konstruktivistischen Didaktik nicht aus. 874 Vgl. 2013, S. 87. 875 Vgl. 2013, S. 89.

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muss es folglich sein, eine Balance zwischen expliziter Instruktion durch den Lehrenden und konstruktiver Aktivität des Lernenden zu finden.876

Der Autor deutet damit auch an, dass sich kognitive Aktivierung im Grunde nicht ausschließlich auf kognitive Prozesse bezieht. So wird der Faktor der Motivation, der die kognitive Verarbeitungstiefe erheblich beeinflusst, primär durch emotionale Prozesse bestimmt. Auch die situative Gestimmtheit oder affektive Voreinstellungen gegenüber dem Lerngegenstand können einen Einfluss auf die individuelle Aktivierungsbereitschaft haben.877 Die Gruppe der deaktivierenden, negativen Emotionen wird von Langeweile und dem Gefühl der Aussichtslosigkeit angeführt – und diese haben auch Einfluss auf das kognitive Vermögen.878 Mumm verweist deshalb neben der kognitiven noch auf andere Formen der Aktivierung, die sich seines Erachtens nicht eindeutig voneinander trennen ließen, wie die mentale, moralische und kreative Aktivierung (vgl. auch II 3.2.2).879 Unterrichtlicher Erfolg könne sich kaum auf eine einzige Form der Aktivierung zurückführen lassen.880 Auch für das Fach Religion gilt entsprechend: »Ganzheitlicher Religionsunterricht meint neben personalen und sozialen Aspekten sodann auch, dass mit Herz, Hand und Verstand gelernt werden soll. Einseitigkeiten, seien sie kognitiver, emotionaler, ästhetischer, sinnlicher oder pragmatischer Art, wären fehl am Platz.«881 Tatsächlich lassen sich einige Punkte, auf die im Kapitel ›Motivieren und das Lernklima verbessern‹ (II 3.1) hingewiesen wurde, zumindest mit dem Umfeld der kognitiven Aktivierung verbinden, beispielsweise der »kognitive Konflikt«882, wie ihn Piaget oder Bruner beschrieben haben, der kognitiv-konstruktivistische Prozesse sowie Neugier und Überraschung hervorrufen und so zur Motivierung beitragen kann.883 Mentale Prozesse sind komplex und stets miteinander verknüpft. Gesteigertes Interesse wiederum kann die Grundlage zu Entwicklungsgängen bilden, die tiefere Verarbeitung des Lernstoffes ermöglichen: Lernende setzen sich zum Beispiel mit großer Wahrscheinlichkeit intensiver mit einem Gegenstand auseinander, wenn ihnen das Material, mit dem er eingeführt wird, gefällt – sie also emotional angesprochen werden. Hier könnte die Arbeit mit Comics bereits ansetzen. Simpson argumentiert, »that the particular communicative multimodality within comics, as well as the necessity, nature, and extent of reader engagement, offer readers uniquely constituted opportunities for 876 877 878 879 880 881 882 883

2009, S. 69. Vgl. Mendl, 2012, S. 107. Vgl. Heymann, 2015, S. 9; Hasselhorn; Gold, 2013, S. 127. Vgl. 2015, 22f. Vgl. 2015, S. 22. Lämmermann, 2012, S. 39. Vgl. dazu Hasselhorn; Gold, 2013, 240f. Dazu Pintrich; Schunk, 1996, 279f.

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emotional engagement and responses.«884 Comics könnten starke Emotionen auslösen, nicht nur durch ›aufregende‹ Einzelgeschichten, sondern durch die spezielle Kommunikations- und Erzählweise des Mediums. Im Kontext der streng kognitiven Aktivierung ist es sinnvoll, für ein erweitertes Begriffsverständnis zu plädieren: In der Regel verbindet man damit Formen von aktiv-konstruierendem, ergebnisoffenem Lernen, also Konzepte des entdeckenden und problemlösenden Unterrichts. Mühlhausen erklärt, kognitive Aktivierung sei aber als »intensive geistige Anteilnahme« für jeden Unterricht wünschenswert – auch für ergebnisdeterminiertes, rezipierendes Lernen.885 Darunter fallen zum Beispiel der Erwerb deklarativen Wissens oder spezieller Kenntnisse. Denn Vokabeln langfristig zu memorieren, einem Lehrervortrag zu folgen oder sich bei einem Diktat zu konzentrieren, sind Prozesse, die im Unterrichtsalltag eine nicht von der Hand zu weisende alltägliche Rolle spielen.886 Auch im Religionsunterricht sollte die Dimension religiösen Lernens, die religionskundliches und theologisches Wissen umfasst, nicht vernachlässigt werden.887 Diese Lernstoffe müssen letztendlich von den Lernenden in zum Teil langwierigen Prozessen konstruktivistisch implementiert werden und die Qualität der Informationsverarbeitung hängt deshalb auch hier vom Grad der kognitiven Aktivierung ab.888 Dies sei angeführt, weil comicbasiertes Unterrichten möglicherweise gerade in diesen Bereichen aktivierend wirken kann. Dafür aber zunächst ein Blick auf das grundsätzliche Aktivierungspotenzial der Produktion und Rezeption von Comics. Warum die gleichzeitige Verarbeitung von Text und Bild so vorteilhaft für Lernprozesse ist Auf den ersten Blick sieht man beim Comic möglicherweise nur wenig Aktivierungspotenzial: Linien, Flächen und Farben auf Papier scheinen im Vergleich zu modernen, digitalen Schulbüchern mit interaktiven Möglichkeiten eher deaktivierend zu sein (vgl. auch II 3.3.1).889 Doch der Schein trügt. Multimedial-interaktive Schulbücher halten nicht unbedingt, was sie versprechen und können die Rezipienten in Trägheit und Passivität führen.890 Dagegen setzt das Comiclesen möglicherweise tiefgreifend aktivierende, konstruktivistische Prozesse in Gang. Forschungsergebnisse zur spezifischen kognitiven Verarbeitung von Comics sind 884 885 886 887 888 889 890

Simpson, 2018. Vgl. Mühlhausen, 2015, 42, 44. Vgl. ebd., S. 42. Vgl. Englert, 2012, S. 256. Vgl. dazu Mühlhausen, 2015, 42, 44. Vgl. Macgilchrist, 2017, 230f. Vgl. Macgilchrist, 2012, S. 196.

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derzeit noch sehr rar. Erkenntnisse aus der Instruktionspsychologie können jedoch teilweise auf das Medium übertragen werden. Auch die Comictheorie ist hilfreich, denn sie betont die Konstruktionsprozesse beim Rezipieren und beschreibt den Comic als »kognitives, virtuelles Konstrukt […], das von den Rezipient_innen auf Grundlage der verfügbaren Informationen durch Inferenzen gefüllt werden muss.«891 Hier stützt man sich unter anderem auf Erfahrungswissen. Der Comic zeichnet sich einerseits durch Monomodalität aus, weil er nur mit der Sinnesmodalität der Augen erschlossen werden kann. Andererseits ist er aber multikodal gestaltet, weil verbale und piktorale Symbolsysteme zusammen dekodiert werden müssen.892 Beide Symbolsysteme sind in Lehr-Lern-Situationen weit verbreitet, das spezifische Ineinandergreifen dieser ist jedoch dem Comic vorbehalten. Da Text und Bilder nahezu gleichzeitig gelesen, erfasst, aufeinander bezogen und gedeutet werden müssen, fordert graphische Literatur die Leserinnen zur Aktivierung mehrerer Fertigkeiten gleichzeitig heraus. Bongco erklärt: Both pictures and texts are the fundamental basis of almost all comics, and to seek to understand one without the other is to misinterpret the substance of this hybrid genre. […] The reader cannot construct the story of a comic without perceiving and interpreting the interaction between the comic’s graphic and linguistic elements. […] It is a graphic technique specific to comics which effectively synthesizes two distinct mediums to optimize expression.893

Dazu ein erklärendes Beispiel: Guy Delisles Aufzeichnungen aus Jerusalem enthält eine kurze Episode (im Umfang einer Seite mit sieben Panels), in der er sich selbst darstellt, wie er in seinem Raum, den er vom Pastor der Deutschen Evangelischen Kirche zu Verfügung gestellt bekommen hat, am Schreibtisch sitzt und arbeitet.894 Die bildliche Ebene zeigt genau das und wenig Variation in den Panels. Seit einiger Zeit übe nachmittags nun immer ein Organist im Kirchenschiff nebenan, so berichtet eine Erzählerstimme in Captions. Die Lutheraner seien berühmt für das hohe Niveau ihrer Kirchenmusik. Johann Sebastian Bach sei einer von ihnen gewesen. Darauf seien sie sicher sehr stolz. Diese Anmerkungen, voll der Achtung und des Respekts, werden jedoch ironisch dadurch gebrochen, dass Delisles Avatar im Bild schließlich wortlos seine Kopfhörer aus der Tasche holt und seine eigene Musik aufdreht. Um die Episode zu verstehen und zu deuten, müssen Text und Bild nicht nur zusammengedacht, sondern auch deren fehlende Kongruenz muss verstanden und gedeutet werden. 891 892 893 894

Wildfeuer; Bateman, 2014, 5. Vgl. dazu Hasselhorn; Gold, 2013, 410f. 2001, 14f. Delisle, 2012, S. 202.

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Die Verarbeitung dieser unterschiedlichen Medien, einzeln und verknüpfend, hat für die Kognition spezifische Folgen: einen Comic zu lesen, kann durchaus fordern und zu kognitiver Überbeanspruchung führen, sodass Details nicht mehr wahrgenommen werden und der Leser schnell ermüdet. Im besten Falle kommt es kognitiv jedoch zu einer dualen Kodierung der Comic-/Lerninhalte. Dafür zunächst zu den grundsätzlichen Verarbeitungsprozessen: Mayer hat die weitgehend anerkannte ›Cognitive Theory of Multimedia Learning‹ (CTML) vorgelegt, die eng mit seinem SOI-Modell verbunden ist.895 Für den Wissenserwerb müssen Informationen – in welchem Medium auch immer präsentiert – kognitive Prozesse der Selektion, Organisation und Integration (=SOI) von Informationen durchlaufen, was eine teilweise intensive konstruktivistische Eigentätigkeit der Lernenden erfordert.896 In oberster Instanz ist dabei das Arbeitsgedächtnis gefordert, um die Informationen auf der ersten Ebene zu verarbeiten.897 Dieses verfügt nur über begrenzte Kapazitäten, was, wie hier schon vorweggenommen werden soll, Einfluss auf Verarbeitungsprozesse hat.898 Laut der CTML finden die Verarbeitungsprozesse von bildhaft-räumlichem und verbal kodiertem Material über zwei getrennte Kanäle statt899. Die beiden separaten Selektionsprozesse resultieren in zwei unterschiedlichen Oberflächenrepräsentationen, was nach erneut separaten Ordnungs- und Organisationsprozessen einmal zu mentalen Modellen für die Wort- und einmal für die Bildebene führt. Die Prozesse der Selektion, Organisation und Integration verlaufen damit zwar zunächst getrennt, bei grundsätzlich gleichen Grundinformationen aber auch doppelt (zum Beispiel wird Delisles Information, er arbeite in einem Raum neben dem Kirchenschiff sowohl verbal vermittelt als auch piktoral illustriert). In Mayers/Morenos Worten: In multimedia learning, active processing requires five cognitive processes: selecting words, selecting images, organizing words, organizing images, and integrating. Consisting with the active-processing assumption, these processes place demands on the cognitive capacity of the information-processes system.900

Comiclesende sind also im hohen Maße kognitiv gefordert – und wenn sie die Herausforderung ›Comiclesen‹ erfolgreich bewältigen wollen, müssen sie dafür sehr aufmerksam sein. Mayer verweist auf die aktive, bedeutungserzeugende Informationsverarbeitung, die bei (multi-)medialen Repräsentationen abläuft und schlägt die Brücke zur kognitiv-konstruktivistischen Tradition: Nur das 895 896 897 898 899 900

Vgl. dazu etwa die Darstellung bei Hasselhorn; Gold, 2013, 327, 416. Vgl. Mayer; Moreno, 2003, S. 45. Vgl. Sweller; Merrienboer; Paas, 1998, S. 259. Vgl. Mayer; Moreno, 2003, S. 44. Vgl. 2003, S. 44. 2003, S. 45.

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aktive, generative Lernen könne den Wissensaufbau begünstigen, eine mehr oder minder ›passive‹ Informationsaufnahme lasse kein anwendungsfähiges Wissen entstehen. In der Auseinandersetzung mit verbal-piktoralen-Hybridmedien kann genau dies erreicht werden. Mayer/Moreno erklären: »Learning requires substantial cognitive processing in the verbal and visual channels.«901 Das scheinen optimale Voraussetzungen für die Erfassung von Informationen im Comic zu sein, wo ähnliche Prozesse gefordert sind. Dazu kommt ein spezifisches Phänomen des multimedialen Lernens, der die Informationsaufnahme verbessert und sich auch in der Comicrezeption einstellen könnte, nämlich der Multimediaeffekt.902 Dieser entsteht folgendermaßen: In der kognitiven Integrationsphase kommt es zu doppelten, referentiellen Verknüpfungen zwischen den mentalen Modellen, wenn die aufzunehmenden Informationen gleichzeitig sowohl verbal als auch piktoral repräsentiert sind.903 Sobald Informationen in Text und Bild gleichzeitig präsentiert werden, können die Inhalte deshalb umso besser behalten werden. Ein Beispiel aus einem Sachcomic, um zu verdeutlichen, wie diese bildlich-sprachliche Verdoppelung aussehen kann: Dan E. Burr und Michael Goodwin haben in Economix eine Geschichte der Wirtschaftstheorie mit ihren Auswirkungen bis in die Gegenwart vorgelegt.904 Im zweiten Kapitel skizzieren sie dabei auch Marx’ Thesen aus seinem Hauptwerk ›Das Kapital‹ von 1867. Goodwin erklärt zentrale Zusammenhänge, Burr illustriert diese und transzendiert sie. So heißt es, Marx habe fast jeden Ökonomen gelesen, »…und war wenig beeindruckt.« Sieben weitere Sprechblasen zitieren Marx in seiner großen Frustration gegenüber anderen Ökonomen wortwörtlich, zum Beispiel mit »Geschwätz!«, »Geistloser Synkretismus!« und »Wichtigtuerei«. Dieser Aspekt der Vorgeschichte des Kapitals wird szenisch durch einen cartoonhaften Marx im Panel verdeutlicht, der äußerst zornig auf einem Stapel Büchern herumspringt.905 Wort und Bild vermitteln die gleiche Botschaft: Karl Marx erbost sich über die Theorien seiner Vorgänger und Zeitgenossen. Wenig später erklärt ein marxscher Avatar vermittels Sprechblase: »Die logischen Folgen: Da die Maschinen verbessert werden, brauchen die Fabriken weniger Arbeiter.« Im Panel ist zu sehen, wie jemand durch einen großen Fuß aus einer Tür gekickt wird – die textuelle Ebene macht klar, dass hier ein Arbeitnehmer schändlich entlassen wird.906 Auf der nächsten Seite wird die marxsche Lehre mehrheitlich mittels Captions vermittelt, bis es zu folgendem Panel kommt (Abb. 19): »Eine andere Erkenntnis ist diese: Die Kapitalisten, als 901 902 903 904 905 906

Ebd., S. 44. Dazu auch Wenning; Krdzic; Sandmann, 2018, S. 192. Vgl. Hasselhorn; Gold, 2013, 417f. Goodwin; Burr, 2014. Vgl. ebd., S. 61. Vgl. 2014, S. 61.

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Gesamtheit betrachtet, können keinen Profit machen, wenn sie niemanden beschäftigen.« Gezeigt wird ein deprimiert dreinschauender Fabrikant (markiert durch seinen Zylinder), der im Hintergrund zwar zahlreiche und produktive Roboter am Fließband stehen hat, jedoch schwermütig aus dem Fenster auf Scharen verhärmter Bettler blicken muss. Text und Bild erklären gleichermaßen: Von einem solchen Zustand würde niemand profitieren. Beim Lesen entsteht als kognitive Repräsentation des Textes ein verbal basiertes mentales Modell des Inhalts; eine zusätzliche Abbildung führt für den Leser zu einem zusätzlichen mentalen Modell auf piktoraler Basis.907 Dabei entstehen über referentielle kognitive Prozesse wechselseitige Repräsentationen (vgl. auch Pavios Doppelkodierungsmodell, 1986): Die Verarbeitung der Abbildung bringt sprachliche Repräsentationen hervor und die der Sprache – soweit das möglich ist – wiederum bildbasierte Vorstellungen. Pavio nennt diesen Effekt »duale Kodierung« (vgl. auch II 3.2.3). Er entspricht einer dualen, doppelten, wechselseitigen Verknüpfung, die optimale Voraussetzungen für den Prozess der Synapsenbildung darstellt.908 Voraussetzung ist nur, dass Text und Bild gleichzeitig dargeboten werden, also nicht mit minuten- oder gar stundenlanger Verzögerung; dabei handelt es sich um den Kontiguitätseffekt.909 Diese Voraussetzung ist bei Comics erfüllt. Hasselhorn/Gold erklären, warum dies auch für die Schule wichtig sein kann:

Abb. 19

Besonders für Lernende mit ungünstigen Lernvoraussetzungen ist die instruktionale Beachtung des Kontiguitätsprinzips von großer Bedeutung. Wichtig ist auch, dass Textund Bildinformationen explizit aufeinander bezogen sind oder referentiell aufeinander bezogen werden können (Kohärenzeffekt) und nicht unverbunden nebeneinander stehen bleiben.910

907 908 909 910

Vgl. Hasselhorn; Gold, 2013, S. 418. Vgl. auch Mendl, 2012, S. 108. Vgl. Hasselhorn; Gold, 2013, S. 418. 2013, S. 418.

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Sonst käme es nämlich zu dysfunktionalen und möglicherweise unnötigen Zusatzbelastungen. Sweller verweist im Rahmen der ›Cognitive Load Theory‹ auf die Tatsache, dass unser Langzeitgedächtnis zwar fast unendlich erscheint, unser Arbeitsgedächtnis jedoch deutlichen Begrenzungen ausgesetzt ist.911 Deshalb kann es zur Belastung und Überlastung der unmittelbaren kognitiven Ressourcen kommen, zum Beispiel wenn allzu disparate Informationen zu verarbeiten sind, wenn es also an Kohärenz oder Kontingenz mangelt, weil (Teil-)Informationen über eine (zu) lange Zeit im Arbeitsgedächtnis präsent gehalten werden müssen.912 Auf derartige Kriterien sollte auch bei der Comicwahl für den Unterricht geachtet werden, denn Text-Bild-Kohärenz liegt nicht im Falle aller Comics vor. McCloud bezeichnet diese Phänomene als unverbundene »Parallele« von Text und Bild, im Gegensatz zu gängigeren, korrelativen Text-Bild-Verknüpfungen.913 Meistens erschließt sich die Verbindung von Text und Bild dann in zu einem späteren Zeitpunkt im Comic. Bis dahin werden Lesende im höchsten Maße konstruktivistisch herausgefordert, um eigene Sinnbeziehungen herzustellen. So ist in II 3.2.5 auf Sattoufs The Arab of the Future hingewiesen worden (vgl. die Abbildung 17), da der Comic an mindestens einem Punkt mit zwei sich kaum inhaltlich berührenden Ebenen arbeitet, wenn der Autor einerseits die Szene einer Familie im Flugzeug zeigt und andererseits in Captions über den Bildern politisch-historische Vorgänge beschreibt.914 Beide Inhalte im gleichen Augenblick miteinander zu verbinden, erst recht wenn man weder mit dem restlichen Kontext des Comics im Speziellen noch mit der syrischen Geschichte im Allgemeinen vertraut ist, ist kognitiv anspruchsvoll, da es zwischen der textuellen und visuellen Ebene keinerlei Entsprechungen zu geben scheint. Für den Erwerb des im Comic implementierten Wissens eignen sich solche anspruchsvollen Konzepte deshalb weniger oder sie müssen Hand in Hand mit Hilfestellungen kommen, etwa einer verzögerten Rezeption. Tatsächlich sind sie auch eher rar und in der Regel Werken für Erwachsene bzw. anspruchsvolle Leserinnen vorbehalten.915 Anspruchsvolle Kindercomics zeichnen sich hingegen eher dadurch aus, dass sich zum Beispiel verschiedene Handlungsstränge an unterschiedlichen Schauplätzen entwickeln.916 Dennoch korrespondieren Text und Bild in Comics dergestalt, dass es theoretisch auch immer zu Spannungen und Widersprüchen kommen kann. Das ist etwas, was den Comic vom klassischen, 911 912 913 914 915

Vgl. 1998, S. 252ff. Vgl. ebd., 290f.; vgl. Mayer; Moreno, 2003, S. 49. Vgl. McCloud, 2001 (b), S. 166. Vgl. Sattouf, 2016, 65f. Ein Beispiel ist die Technik des teilweise ›unzuverlässigen Erzählers‹, wie Moore/Gebbie sie in Lost Girls II anwenden, wo die textuelle Erzählerstimme und die illustrierenden Bilder sich immer wieder deutlich widersprechen. 916 Vgl. Bertschi-Kaufmann, 2000, S. 336.

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illustrierten Kinderbuch unterscheidet: »In graphic narratives […] images never simply illustrate text, but often situate meaning in the space between the differing denotative content of word and image.«917 Dadurch wird der Rezeptionsprozess abschnittsweise verlangsamt.918 Wenn die im Comic vermittelten Informationen im Vordergrund stehen sollen, bietet sich meistens jedoch ein korrelatives TextBild-Verhältnis für die Autoren an. Eine weitere Problematisierung steht nicht aus: Dem für das Lernen so positiven Multimediaeffekt muss eine Einschränkung gegenübergestellt und erwogen werden. Mehrere Studien konnten zeigen, dass der Lernerfolg durch die Kombination von Text und Bild größer ist, wenn Informationen nicht nur multikodal, sondern auch multimodal vermittelt werden; wenn also der verbale Anteil nicht visuell (durch Schrift), sondern auditiv (gesprochen) dargeboten wird – wie im Film.919 Das aber liegt nicht in der Rezeptionsnatur von Comics. Dieser sogenannte ›Modalitätseffekt‹ wird von Rummer et al. zum Beispiel mit kognitiven Prozessen der Teilverarbeitung und der Annahme erklärt, es sei nicht möglich, seine Augen auf Text und Bild gleichzeitig zu richten. Die Wahrnehmung kenne ihre Grenzen, es läge deshalb das destruktive »Split-Attention«-Phänomen vor.920 Stimmt diese Annahme, dann würde durch die notwendige sequenzielle Rezeption die Voraussetzung des Kontiguitätseffektes für den so vorteilhaften Multimediaeffekt wegfallen. Die verbalen und piktoralen Anteile von Comics würden verlangsamt und mit zeitlichem Abstand wahrgenommen werden, was einem Lernprozess mit dualer Kodierung, wie beschrieben, entgegenlaufe. Jedoch ist gegen das Argument der sequenziellen Wahrnehmung von Text und Bild einzuwenden, dass die Kontiguität in jedem Comicpanel durchaus gewährleistet ist. Anders ausgedrückt: gleichzeitiger als im Comic können Text und Bild multimodal kaum präsentiert werden! Comicleserinnen können nachweislich kaum richtig wahrnehmen, in welcher Reihenfolge sie in Sekundenbruchteilen die Elemente einer Comicseite betrachten – im Nachhinein können sie nur selten die genaue Blickführung rekonstruieren.921 Bongco erklärt, wie eng Text und Bild im Comic zusammenrücken: The panel, in fact, graphically and diegetically unifies image and text in the comics: it forms a graphic unit which represents one moment, one instant of an action in the narrative. Then, one frame interacts with other frames to create a sequence which

917 918 919 920

Chute, 2010 (b), S. 50. Vgl. dazu auch Bakis, 2014, S. 146. Zusammenfassend vgl. Ginns, 2005, S. 314ff. Vgl. Rummer; Schweppe; Scheiter; Gerjets, 2008, S. 99ff.; zum Phänomen vgl. auch Sweller; Merrienboer; Paas, 1998, S. 277. 921 Vgl. dazu Cohn, 2013; zit. nach Packard; Rauscher; Sina; Thon; Wilde; Wildfeuer, 2019, S. 28.

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constitutes the syntagmatic discourse of the story. The panel is the smallest unit of ›comics grammar‹ in which the complex interaction of text and pictures operates.922

Dazu kommt: So plausibel die Split-Attention-Annahme erscheint, so setzt sie ein bestimmtes Lese- und Wahrnehmungsverhalten voraus, das auf Comiclesende nicht unbedingt zutreffen muss. Ein Vergleich zur Kommunikation in der Gebärdensprache bietet sich zur Erklärung an: Hier schaut die Empfängerin dem Sender selbstverständlich in das Gesicht und nicht (unhöflicherweise) nur auf die Hände. Die Hand- und Armbewegungen werden somit nicht im zentralen, sondern nur im peripheren Blickfeld verarbeitet, was mit etwas Zeit auch erlernt werden kann. Ähnliche Erfahrungen können Geübte bei der Comicrezeption machen, wenn die Verknüpfung von Text und Bild korrelativ ist: Sie lesen möglicherweise primär den Text in den Sprechblasen und nehmen die Bilder nicht nachgeordnet, sondern eher gleichzeitig im peripheren Blickfeld auf. Vielleicht springen Auge und Aufmerksamkeit auch mehrfach zwischen Text und Bild hin und her. Sousanis betrachtet das Vorgehen so: »Refraction between modes generates a kind of multiplicative resonance – a dynamic cycle of readlook, look-read…«923 Eine solche Kompetenz kann wie jede andere erworben werden. Dazu könnte der cartoonhafte Charakter vieler Comics ihre Rezeption zusätzlich vereinfachen. Denn Dittmar merkt an, dass die zeichnerische Reduktion von Comicfiguren es den Betrachtenden erlaubt, das Dargestellte schneller und mit einer nur geringen Menge an Fixierung zu erfassen; dass nur die wesentlichen und bedeutungstragenden Merkmale der Figur oder des Objekts dargestellt sind, damit diese mühelos (Panel für Panel) wiedererkannt werden können.924 Das ist ein weiteres Indiz gegen die Split-Attention-Theorie. Man könnte nun mit der Forschung von Mayer und Sims925 noch zu bedenken geben, dass Menschen mit gering ausgeprägtem räumlichen Vorstellungsvermögen erwiesenermaßen etwas größere Schwierigkeiten damit haben, referentielle Verbindungen zwischen den verbalen und piktoralen Repräsentationen zu schaffen – zumindest, wenn es sich um auditive und optische Verweise handelt. Damit wäre eine entsprechende Kompetenz immerhin ein Stück weit noch von anderen Faktoren beeinflussbar. Es steht noch zur Disposition, ob sich diese Beobachtung auch auf Comics übertragen ließe, da Mayer/Sims in ihren Versuchen eben nicht mit narrativen Comics, sondern mit Kurzfilmen zur Fahrradreparatur gearbeitet haben. Eine Übertragung der Ergebnisse auf andere Medienrezeptionsprozesse bleibt deshalb fraglich.

922 923 924 925

2001, S. 15, Herv. i. Org. 2015, S. 64. Vgl. 2011, S. 71. 1994.

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Dekodierungsprozesse in der Comicrezeption Die Rezeption von Comics verlangt aber nicht nur die Organisation von TextBild-Verknüpfungen, sondern auch noch andere komplexe, kognitive Prozesse, die sich auf die Symbolnetze des Mediums beziehen. Wichtig ist die Gedankenwelt der Leser, da Comics immer einen nicht zu vernachlässigenden Anker in der individuellen Vorstellungswelt brauchen, um ihre Botschaft zu vermitteln. Ein Grund dafür ist, dass der Comic in aller Regel Zeichnungen zu Verfügung stellt. Diese können nie mit dem Realen übereinstimmen, sondern nähern sich dem Wirklichen nur an. Den Bezug zu realen Gegenständen müssen die Rezipierenden herstellen. Im aktuellen Manga-Diskurs wird generell vertreten, »dass es sich nicht um ›eigentliche‹ Bilder handele (die das Aussehen von Dingen, Personen oder Objekten wiedergeben), sondern um formelhafte Symbole und Abstraktionen, die eher bestimmte – häufig vage – Anweisungen an die Imagination und die inferenzielle Konstruktion von Storyworlds liefern«.926 Man könnte sagen, dass für den westlichen Comic Ähnliches gilt. Denn nicht selten tragen Comiczeichnungen auch expressionistische Züge, denn Zeichnungen verweisen auch immer auf subjektive Repräsentationen der Künstler.927 Ein integraler Bestandteil der Semiotik des Comics ist damit »the creation of the hyperreal.«928 Die Nähe zur Gedankenwelt zeigt sich auch in dem häufig verwendeten cartoonhaften Stil des Mediums, dessen gedankliche Vervollständigung sich in der Imagination der Leserin vollziehen muss. Natürlich gibt es auch Comics mit naturalistischeren Zeichnungen, die etwa der Schönheit oder Härte der Realität Ausdruck verleihen sollen. Aber für McCloud spiegeln fotorealistische Zeichnungen das Äußere der Welt wider, während cartoonhafte auf das Wesentliche reduziert sind und so das Innere widerspiegeln, auf Gegenstände eher hinweisen als sie abzubilden und damit ein Stück in der Gedankenwelt verbleiben.929 Künstlerinnen, die sich vereinfachten Zeichnungen bedienen, geht es deshalb oft weniger um die äußerliche Hülle der Dinge als um die Welt innerer Erfahrungen, die innerliche Konstruktion von Realität.930 Hierin ist dann der Leser herausgefordert. 926 927 928 929 930

Packard; Rauscher; Sina; Thon; Wilde; Wildfeuer, 2019, S. 198. Vgl. Jackson, 1981, S. 19; Round, 2010 (a), S. 189; Verano, S. 326. Round, 2010 (b), S. 189. Vgl. McCloud, 2001 (a), S. 49. Vgl. dazu auch Vanderbeke, 2010, 111f. Vanderbeke zieht zu diesem Aspekt eine Linie zur erkenntnistheoretischen Schule modernerer Philosophie, in der die grundsätzliche Vorstellung eines unmittelbaren Zugangs zur äußerlichen Realität infrage gestellt, und stattdessen das fühlende und wahrnehmende Subjekt, die innerliche Konstruktion und Wahrhaftigkeit von Realität hervorgehoben wird (vgl. 2010, S. 111). Das ist sicher eine ungewöhnliche, jedoch gerade deshalb sehr interessante Verbindung. Zur potentiell wahrnehmungserweiternden Wirkung von Comics lässt er Proust sprechen: »The reality that must be expressed resides, I now realized, not in the appearance of the subject but in the

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Obwohl der Comic ausschließlich mit optischen Verweisen arbeitet931, ist er tatsächlich, wie schon aufgezeigt, nicht auf die Repräsentation des Visuellen beschränkt. Wildfeuer und Bateman sprechen von einer »multimodalen Linguistik«, die für die Bedeutungskonstruktion auf verschiedene semiotische Ressourcen zurückgreift.932 Comicschaffende sind versiert in der Darstellung des Unsichtbaren, was Emotionen, aber auch akustische Phänomene u. a. betrifft (vgl. auch I 2.4). Diese symbolischen Darstellungen folgen meistens einem allgemeinen Code, den Comiclesende mit der Zeit zu entschlüsseln lernen (vgl. auch II 3.2.1). So deutet die Größe, der Strich oder die Farbe eines Sound Words an, welche Lautstärke oder Intensität das jeweils angedeutete Geräusch auszeichnet. Comicsymbole sind nicht beliebig und für die multimodale Bedeutungskonstruktion eines Panels oder einer Seite sind nicht nur die Bilder allgemein, sondern auch Schattierungen, Farben und Linien funktional aufgeladen.933 Die Leserinnen müssen hier rezeptionsästhetisch mitkonstruieren. Gleiches gilt zum Beispiel auch für die Darstellung von zeitlichen Abläufen und Bewegungen. Da auf dem Papier keine Zeit existiert, muss der Leser die Zeit, in der Handlungen und Bewegungen ablaufen, selbst ›erschaffen‹, durch Induktion im Rinnstein, Inferenzen oder die kognitive Verarbeitung von semiotischen Hinweisen wie Bewegungslinien. Es gibt zahlreiche Mittel, mit denen Künstler die Vorstellung vom zeitlichen Ablauf lenken können, also andeuten, ob mehr oder weniger Zeit im Laufe einer Seite oder Sequenz verstreicht. Die Konstruktion muss jedoch von den Lesenden selbst vollzogen werden. Grünewald erklärt: [E]s handelt sich immer um statische, gewissermaßen ›zeitfrei‹ existierende Bilder. Zeit wird nur illusionär spürbar, als Impuls. Zeit wird vom Rezipienten (dem ›lesenden‹ Betrachter) empfunden, wird vom Rezipienten als lebendiger Prozess in aktiv-kombinierender und erweiternder, interpretierender Vorstellungsarbeit erst konstituiert.934

Die »Vorstellungsarbeit«, das Imaginationsvermögen steht nach Ansicht einiger Forschender sogar »am Ursprung des kognitiven Lebens überhaupt«.935 Wenn

931 932 933 934 935

degree of penetration of that intuition to a depth where that appearance matters little, as symbolized by the sound of the spoon upon the plate, the stiffness of the table-napkin […]. Some […] wanted the novel to be a sort of cinematographic procession. This conception was absurd. Nothing removes us further from the reality we perceive within ourselves than such a cinematographic vision.« [zit. nach Vanderbeke, darum in Englischer Sprache.] Auch hier klingt der ›Wahrheitsgehalt‹ an, den gerade cartoonhafte/vereinfachte/skizzenhafte Zeichnungen enthalten. Die haptische Dimension, die sich zum Beispiel auf die Papierqualität bezieht, soll hier nicht behandelt werden. 2014, 4. Vgl. Packard; Rauscher; Sina; Thon; Wilde; Wildfeuer, 2019, S. 169. 2012, S. 50, Herv. d. Verf. Huber, 2008, S. 59.

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Mediencharakteristika wie der Rinnstein also die produktive Phantasie fordern, so aktivieren sie gleichzeitig im erheblichen Maße kognitiv. Induktion und Rinnstein: Bildersequenzen deuten Neben der Deutung von comicinhärenten Symbolen ist konstant das Einzelbild in einen Gesamtzusammenhang einzuordnen. Der Leseprozess ist komplex: »A panel must have its own coherence and balance, but it is always only a part of a whole design which exhibits a pattern of unfolding events in space and time.«936 Um die Kohärenz der Bilder nachzuvollziehen bzw. gedanklich herzustellen, bedarf es stetiger Aufmerksamkeit. Denn alle Elemente eines jeden einzelnen Bildes weisen potenziell auf etwas hin, aber erst im Nachhinein kann der Leser klar sagen, was für die Geschichte wirklich relevant ist: Das Indiz erhält erst in der Wiederholung, ab dem zweiten Male, eine Bedeutung und kann als solches identifiziert werden. Es ist erst nachträglich, bei der Wiederaufnahme ersichtlich, was im vorangegangenen Panel für die Sequenz Relevanz besaß.937 Eine interessante Theorie der Diskursrelationen mit besonderem Augenmerk auf den Rinnstein legen Wildfeuer und Bateman unter Bezugnahme auf Asher und Lascarides vor.938 Die erschlossenen Inferenzen behielten keine Unwiderrufbarkeit und könnten so eigentlich nie als abgeschlossen gelten: Stattdessen vollziehen die Rezipient_innen mit jeder neuen Information weitere Wissensverarbeitungsprozesse, welche die jeweiligen Argumente in Frage stellen, (sic) bzw. ihre Gültigkeit überprüfen. Diese Prozesse, die auch ›Diskursupdate‹ genannt werden, operieren mithilfe von lexikalischem und semantischem Wissen sowie kognitiven Zuständen ihrer Rezipient_innen, die in ihrer Kombination spezifische Hinweise auf die zu inferierende Diskursrelation liefern939.

Entsprechend wird von den Leserinnen konstante Aufmerksamkeit gefordert, denn bei sinkender Konzentration läuft man Gefahr den Faden der Erzählung zu verlieren. Kognitive Flexibilität und Aktivität sind gefragt, dazu ein ganzes Bündel weiterer kognitiver Operationen.940 Die konstruktive Eigentätigkeit der Leserinnen wird natürlich speziell gefordert, wenn es um den Rinnstein (›gutter‹) geht (vgl. I 2.2). Leider fehlt es noch an empirisch geprüften Informationen über diesen Prozess. In der theoretischen Forschung jedoch besteht Konsens darüber, dass der ›Inhalt‹ zwischen den Panels kognitiv konstruiert werden muss und dass »diese Leerstelle Informationen vermittelt bzw. hervorruft, die für den Prozess der Bedeutungskonstruktion und 936 937 938 939 940

Bongco, 2001, S. 16. Vgl. dazu Dittmar, 2011, S. 46. Vgl. dazu Asher; Lascarides, 2003. 2014, 9. Vgl. ebd., 20.

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die Interpretation des gesamten Comics eine wichtige Rolle spielen.«941 Vanderbeke erklärt die mediale Eigenart so: »because of its sequential nature, the comics medium will necessarily employ its own ›poetics of absence‹, leaving a considerable part of the action in the gutter […]«.942 Dieser ›abwesende‹ Teil der Handlung muss von den Rezipienten individuell ausgestaltet werden, mit mehr oder weniger Interpretationsspielraum. Während im Prozess der Inferenz auch Intersubjektivität gewahrt bleiben muss, lässt sich die Rezeption nicht ohne individuelle konstruktivistische Prozesse vollziehen. Konstruktive Prozesse in der Eigenproduktion von Comics Auch die Eigenproduktion von Comics kann im hohen Maße und für unterschiedliche Zwecke ein aktivierendes Potenzial entfalten. Comics zu schaffen, kann helfen, neues Wissen zu verarbeiten, vor allem aber kann die Gestaltung von Comics zu einem Thema zur aktiven Konsolidierung oder tiefgreifenden Wissensimplementierung dienen. Es müssen alle Prozesse, die für die Dekodierung vonnöten sind, nun aktiv gestaltet werden: Im Sinne einer Kodierung. Hier wirken comicgestützte Ansätze und handlungsorientierter Unterricht, dessen Aktivierungspotenzial in II 3.2.2 näher behandelt wird, zusammen. Wenn die Kunstwerke auch von anderen verstanden werden sollen, bedarf es dabei einer nicht geringen intellektuellen Leistung. Nicht nur verlangt diese Kunstform, gleichzeitig auf der bildlichen wie auf der textlichen Ebene zu denken, sondern Comics zu erstellen erfordert, sofern wenn es sich um Geschichten handelt, ein ausreichendes Maß an literarischer Bildung und literarischen Kompetenzen, da unter anderem die zentrale narrative Struktur herausgearbeitet und geordnet werden muss. Das gilt auch, wenn im gestaltenden Unterricht der Transfer von einem Medium ins andere bewältigt werden muss. Doch auch außerhalb des Literaturunterrichts können Schüler angehalten werden, aktiv und kreativ zu denken, um Inhalte, Informationen, Sachverhalte und Abläufe in Comicform zu präsentieren. Dabei werden mehrere Hirnareale gleichzeitig aktiviert, unter anderem diejenigen, die für die Verarbeitung piktoraler und verbaler Inhalte verantwortlich sind. Derartige Aufgaben sind auch nicht durch die Anwendung von Routineschemata lösbar. Es muss kritisch und hierarchisierend gedacht werden. Die Inhalte müssen individuell angeeignet und intensiv durchdrungen, konstruiert werden, um sie in eigenen Worten/durch eigene Darstellungen auszudrücken. Denkbar wäre deshalb zum Beispiel, den Lernenden einen Sachtext zu einem Unterrichtsthema zu Verfügung zu stellen und sie dann anzuleiten, die dort enthaltenen Informationen nun in ein anderes Medium umzusetzen, was heißt, dass sie diese wirklich durchdrungen und durchdacht haben müssen. So 941 Vgl. ebd., 3. 942 2010, S. 116.

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können Comics für den Aufbau begrifflichen Wissens genutzt werden, weil in der Rezeption die nach Hans Aebli zentralen Mechanismen aktiviert werden, die dem Verstehensprozess zugrunde liegen können: das Strukturieren und Re-Strukturieren, das Objektivieren und evtl. auch das Dekomponieren.943 Was schon für das bekannte Schulmedium des Textes gilt, trifft umso mehr auf die Transformation in Comicform zu, da nun Text und Bild zusammenwirken und beide Ebenen etwas zur Erklärung beitragen sollen, anstatt dass den Bildern nur eine illustrierende Rolle zugeordnet werden soll. Optimal wäre es allerdings, Text und Bild wirklich ineinandergreifend zusammenwirken zu lassen, wie es für Comics in der Regel der Fall ist, anstatt den Bildern nur eine illustrierende Rolle zuzuweisen, denn schlichte bildliche Wiederholungen des Textes besitzen einen geringeren Komplexitätsgrad. Gleichzeitig sind aber gerade die Bilder in diesem Lernkontext das wohl wichtigste Darstellungsmittel. Cary verweist exemplarisch für den Geschichtsunterricht auf die Möglichkeiten, die sich speziell mit dem Arbeitsmedium des Comics ergeben: »Comic book making, with its emphasis on visual representation as a cognitive tool for examining the past and personally interpreting and connecting it to the present, offers an alternative to the typical verbal-linear format.«944 Auf diese Weise lässt sich auch der Grad des Verständnisses prüfen, mit dem Schülerinnen einen Stoff durchdrungen haben und auch Flüssigkeitsillusionen auf Schülerseite wird vorgebeugt. Deshalb kann die Transformation von Abläufen in Comicform auch zum Zwecke des »intelligenten« Übens und Wiederholens sowie zur Lernerfolgssicherung genutzt werden. Denn diese Prozesse gehören zu den vielleicht unterschätzten, wenngleich wesentlichen Merkmalen effektiver Unterrichtsqualität.945 Das gilt besonders dann, wenn das Lernen komplexer wird und zum Beispiel den regelmäßigen Transfer des Gelernten erfordert.946 Starke Inhalte von Comics aktivieren auf den verschiedensten Ebenen Abgesehen von ihrer nun erläuterten Form können Comics natürlich auch rein inhaltlich eine aktivierende Wirkung entfalten. Das gilt für Infocomics, möglicherweise aber im gesteigerten Maße für narrative Comicwerke – wobei gute Sachcomics oft genauso ein erzählendes Moment aufweisen. Speziell für den Literaturunterricht ist dabei in kognitiver Hinsicht vorteilhaft, dass sich im Internet weniger ausführliche Analysen, Kommentare und Interpretationen für Comicwerke finden als es bei Klassikern der Literatur der Fall ist, sodass Schüler nicht einfach eine Expertenmeinung aufspüren und als die ihre ausgeben können 943 944 945 946

Vgl. 1980; 1981, zit. nach Hasselhorn/Gold 2013, S. 64f. 2004, S. 40. Vgl. Helmke, 2009, S. 201. Vgl. Brophy, 2000, S. 21.

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– ein Problem mancher Lehrkräfte in der Praxis. Für die Arbeit mit Comics ist dahingegen in der Regel noch eigenes, aktives Denken erforderlich. Jedoch muss es sich nicht nur um kognitive Impulse handeln, die von Comicgeschichten ausgehen, wie es durch Mumm bereits zur Sprache gekommen ist.947 Authentische Comicgeschichten können wie im Film oder in der Literatur emotional involvieren, indem sie durch humorvolle Handlungen aufheitern, wütend machen, Mitgefühl wecken oder auch Raum für Traurigkeit lassen. Sie können ethische und moralische Fragen verhandeln und so auch auf dieser Ebene die Meinungsbildung vorantreiben und zum Hinterfragen herausfordern. Interessante Charaktere können Empathie und Identifikationsgefühl wecken, sodass man sich plötzlich selbst in der Handlung ›wiederfindet‹ und ein besseres Verständnis für die Welt um sich erlangt. Auch die Imaginationsfähigkeit wird aktiviert, nicht nur wenn es darum geht, sich in einer phantastischen Geschichte zurechtzufinden. Durch spannende oder interessante Themendarstellungen und Narrationen wird (neues) Interesse an einem Thema oder zumindest am Ausgang der Geschichte geweckt und zum Weiterlesen oder zur weiteren Beschäftigung mit dem Gegenstand motiviert (vgl. auch II 3.1.1 und III 3.2). Schlussfolgerung Es gilt nun, aus den vorgelegten Comicrezeptionstheorien verstärkt Schlüsse für das Aktivierungspotenzial von Comics im Unterricht zu ziehen, um Potenziale und Spannungsfelder zu beleuchten. Auch wenn die Komplexität und Offenheit eines individuellen Comics stark schwanken kann, gilt: Comics können nicht passiv rezipiert werden, sondern fordern die Leserinnen aktiv heraus. Die Comicrezeption ist damit ein Sinnbild für vernetztes Denken, da Induktionsvermögen, Imagination, Kreativität, Dekodierungs- und symbolisches Denkvermögen gleichzeitig am Werk sein müssen. Die Induktion, die im Rinnstein stetig wiederholt werden muss, kann nicht durch abrufbares Wissen erfolgen, sondern muss jedes Mal eigenständig hergestellt werden. Auch innerhalb des Panels müssen mitunter Leerstellen gefüllt werden und oft sind es nur wenige Striche, die andeuten, wo sich die Figuren gerade befinden oder was sie dabei fühlen. Die bildliche Ebene arbeitet fast ausschließlich mit Verweisen auf die reale Welt. Es kann auch mehrere richtige Lösungen geben, besonders bei relativ offenen Panelübergängen. Die Eigenproduktion von Comics verlangt die gleichen Prozesse und Fertigkeiten, jedoch noch eine gesteigerte und intensivierte Beschäftigung mit Inhalten und Repräsentationsstrukturen. Sind Spannungen zwischen Text- und Bildebene angedeutet, um deren Auflösung/Bearbeitung die Lesenden bemüht sind, kommt dies kognitiven Kon947 Vgl. 2015, 22f.

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flikten nahe, die im allgemeinen Unterrichtsgeschehen zu intensiven Auseinandersetzungen führen sollen und im Sinne des sozio-konstruktivistischen Lernens Diskursivität fördern können. Ferner ist Bekanntes neu zu verknüpfen bzw. auf neue Situationen anzuwenden, was hier im Mikroformat geschieht, wenn die Bilder mental zu einer Sequenz verbunden werden müssen. Es stehen selten alle Informationen zur Lösung zu Verfügung und sie müssen von den Comiclesenden selbst erarbeitet werden. Es mag inhaltlich an Erfahrungen angeknüpft werden, aber auch im Rezeptionsprozess wird auf Erfahrungen und Erinnerungen an frühere Comicrezeptionen aufgebaut, da sich die benötigte ›visual competence‹ in der Regel genau so, ungesteuert bei Comicnovizen, (weiter-)entwickelt und ausbaut.948 Dies alles sind Merkmale, die auch für gelingende, konstruktiv-aktivierende Aufgaben genannt werden können. Der Zusammenhang spricht für sich selbst. Und schließlich können Comics ihre Lesenden auch auf der inhaltlichen Ebene ansprechen und in vielerlei Hinsicht, etwa emotional, aktivierend wirken, Interesse wecken und motivieren. Allerdings lässt sich das comicinhärente Aktivierungspotenzial auf struktureller Ebene auch möglicherweise gerade an dieser Stelle problematisieren: Die comicspezifische Medienkompetenz der Schüler könnte je nach Ausbildungsgrad unterschiedliche Effekte mit sich bringen. Für Comicnovizen, die wenig Übung in der Entschlüsselung des Mediums haben, kann, worauf schon hingewiesen wurde, der Prozess unter Umständen (zu) herausfordernd sein, weil ihr Arbeitsgedächtnis überlastet wird. Die gesamte Rezeptionskompetenz muss erworben und aufgebaut werden und obwohl es für konstruktive Lernprozesse förderlich ist, mit realen/authentischen, komplexen und nicht vereinfachten Medien zu arbeiten949, so können doch manche Comics durch narrative oder künstlerische Besonderheiten zu komplex für einige sein. Das kann ausweichendes Vermeidungsverhalten hervorrufen950 oder schlicht die Problematik, dass die Form durch ihre Komplexität den Blick auf den Inhalt verstellt. Auch Grünewald weist darauf hin, dass die Art und Offenheit der Bildfolge für sehr unterschiedliche Anforderungen an die Deutungs- und Kombinationsphantasie verantwortlich ist: Ist die Bildfolge außerordentlich »weit« gehalten, kann es sehr anspruchsvoll sein, eine »narrative (kausal akzeptierte) prozessuale, zeitliche Verbindung herzustellen«, während eine Bildfolge, die eine Handlung in dicht aufeinanderfolgenden Phasenbildern präsentiert, den Vorteil hat, dass die Kognition diese Leerstelle »fast automatisch« füllt.951 Dieses »fast« ist zu unterstreichen, da das Medium in jeder Form aktiv gelesen werden muss. Gerade bei 948 949 950 951

Vgl. Bongco, 2001, S. 16. Vgl. Hasselhorn; Gold, 2013, 242f. Vgl. ebd., S. 424. 2013 (a), unpag.

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Infocomics sollte das Arbeitsgedächtnis jedoch möglichst wenig durch die Präsentationsform eingenommen sein. Wird ein Lernmedium als ›zu leicht‹ eingestuft, kann freilich Mangel an konstruktiver Eigentätigkeit die Folge sein.952 Dieses Schüler-Urteil wird sich in der Praxis jedoch selten auf die Panelübergänge und eher auf den Zeichenstil und ähnliche Faktoren beziehen. Wie so oft in der Schule muss der Mittelweg zwischen Unter- und Überforderung gefunden bzw. individualisierend gedacht werden, damit Comics nicht nur aktivieren, sondern auch nicht überbeanspruchen. Es lohnt sich der Vergleich zwischen dem komplizierten und gleichzeitig mühelos erscheinenden Fahrradfahren und der ähnlich paradoxen Tätigkeit der Comicrezeption, wie er zu Beginn der Arbeit bereits gezogen wurde. Die Tatsache, dass Comics meistens individuell, also einzeln gelesen werden, kann von Vorteil sein, da gering ausgeprägte Kompetenzen kompensiert werden können, wenn Einzelnen für die Lektüre gegebenenfalls mehr Zeit zur Verfügung gestellt wird, was einer adaptiven Handhabung der Unterrichtszeit gleichkommt (auch in Bezug auf Texte legen Lernende schließlich ein unterschiedliches Lesetempo an den Tag). Training und langsames Einteilen (›segmenting‹) wird auch von Mayer und Moreno als eine Strategie empfohlen, um der Gefahr des ›cognitive overload‹ zu begegnen.953 Jedoch sollten auch kooperative Rezeptionsformen nicht völlig ausgeschlossen werden, zum Beispiel durch eine Partnerarbeit von Geübten und Ungeübten, die sich zusammen dem Comic annähern und sich über Deutungskonstruktionen verständigen (vgl. Konzepte des Peer Assisted Learning im Sinne des sozio-konstruktivistischen Theorieansatzes). Wenn grundsätzliche Prinzipien der Comicrezeption geklärt sind (zum Beispiel die Leserichtung, die Bedeutung der ›Sound Words‹ und Ähnliches), so braucht es jedoch in erster Linie nur Zeit und passendes Material, um Übung in der Rezeption zu entwickeln. Ein ScaffoldingAnsatz kann bei divergierenden Kompetenzniveaus notfalls ebenso erwogen werden. Grundsätzlich muss man in Bezug auf Aktivierungsversuche jeglicher Art ergänzend hinzufügen, dass sie zwar vielversprechend sein können, jedoch keine Erfolgsgarantie besitzen. Selbst wenn die Qualität des unterrichtlichen Lernangebots sehr hoch ist, so liegt es doch bei den Individuen mit ihren emotionalen, kognitiven, motivationalen und volitionalen Voraussetzungen, dieses auch zu nutzen. Im Idealfall lässt sich jedoch davon ausgehen, dass die Comicrezeption tendenziell kognitiv aktiviert, weil Rezipienten mental aktiviert bleiben, gedanklich flexibel sein und mitdenken müssen. Sowohl auf der piktoralen als auch auf der verbalen Ebene müssen sie Informationen selektieren, organisieren und in den 952 Vgl. Hasselhorn; Gold, 2013, S. 424. 953 Vgl. 2003, S. 47.

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Wissensbestand integrieren. Ein Forschungsdesiderat, das sich daraus ableiten ließe, wäre folglich, empirisch zu überprüfen, ob die Schüler etwa auch nach der Rezeption eines Comics noch aufmerksamer, auffassungsfähiger und gedanklich flexibler im Unterricht sind, weil das Medium genau diesen Zustand hergestellt hat. Doch ist es wahrscheinlicher, dass das aktivierende Element nur für die Dauer des Rezeptionsprozesses wirkt. Auch in diesem Falle könnte sich das als vorteilhaft für Lernprozesse erweisen. Empirische Belege und Erfahrungsschatz lehren, dass das Gehirn am besten lernt, wenn es aktiv gefordert ist, im Lernprozess selbst also nicht abschalten oder ›tagträumen‹ kann. (Die grundsätzliche Bedeutung von Rekreationspausen soll dabei natürlich nicht in Abrede gestellt werden.) Genau dieser Zustand scheint bei der Comicproduktion und –rezeption erreicht zu werden. Die Notwendigkeit, einen Comic sowohl mit seiner simultanen Wirkung (durch Bilder) als auch seiner sequenziellen Arbeitsweise (durch Worte und Bildfolgen) wahrzunehmen und zu lesen, müsste zudem beide Gehirnhälften gleichzeitig aktivieren: Sowohl die linke, die Informationen einzeln, gesondert und isoliert wahrnehmen kann, als auch die rechte, die das große Ganze im Blick behält.954 Folgt man dieser Annahme, so ist es vorteilhaft, wenn der zu vermittelnde Lehrstoff im Comic selbst behandelt wird, damit die durch den Rezeptionsprozess entstandene kognitive Aktivierung sich auf die Verarbeitung des inhaltlichen Lernstoffes überträgt – Medium und Inhalt sind kaum voneinander trennbar. Eine derartige comicgestützte Arbeit stünde damit der ›darbietenden‹ Stoffvermittlung nahe, was sie in die Familie der direkten Instruktion führen würde. Dort stattfindende Lernformen stehen weniger in einer konstruktivistischen als in einer kognitiv-rationalistischen Tradition, haben sich empirisch nachweislich aber als wirksam erwiesen.955 Naheliegenderweise gelingt jedoch auch das nur, wenn die Lernenden sich ums Mitdenken bemühen. Hinweise auf den Wahrheitsanhalt dieser Theorien, die Rezeptionsprozesse und Strategien kognitiver Aktivierung miteinander in Beziehung setzen, liefert auch die empirische Forschung. Exemplarisch sei hier auf drei Studien aus dem deutschen Raum verwiesen, die, aus unterschiedlichen Fachrichtungen kommend, auf den Wert von Comics als Lehrmedien hinweisen. Als einer der ersten legte Olaf Hansen 1997 im Zuge einer Untersuchung zur Mediennutzung von Kindern Ergebnisse vor, die darauf hinweisen, dass im Comic rezipiertes Wissen offensichtlich besonders gut verarbeitet wird. Er präsentierte im Zuge einer Untersuchung zur Mediennutzung von Kindern einer Probandinnengruppe den gleichen Inhalt in zwei unterschiedlichen Medien: Comic und Trickfilm.956 Danach prüfte er ihre Erinnerungsleistung dazu. Es 954 Vgl. Sousanis, 2015, S. 65; Mcgilchrist, 2010. 955 Vgl. Hasselhorn; Gold, 2013, S. 266. 956 Hansen, 1998, zit. nach Grünewald, 48.

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stellte sich heraus, dass der Erinnerungswert an die dargebotenen Geschichten im Comicheft im Vergleich zum Zeichentrickfilm in erstaunlichem Maße überwiegt: Nur 5 % der Teilnehmenden legten nach der Trickfilmrezeption eine ›sehr gute‹ Erinnerungsleistung an den Tag – während es in der comicrezipierenden Vergleichsgruppe 33 % waren. Im Vergleich zum Fernsehformat erzielen ComicMagazine dabei in nur 39 % der aufgewendeten Zeit ganze 80 % der kurzfristigen Erinnerung, gar 115 % der langfristigen und 135 % der Inhaltsqualität. Diese Ergebnisse sind aus comicdidaktischer Perspektive hochinteressant. Hansen schließt daraus, es sei eine Welt von einzeln betrachteten und erinnerten Bildern, die das Gedächtnis optimal forme. Aus der Comicforschung kann man jedoch anmerken, dass dies nicht das einzige spezifische Charakteristikum des Mediums ist. Es könnte auch an den in dieser Arbeit geschilderten intensiven, konstruktiven Dekodierungsprozessen bei der Rezeption liegen. Auch durch den Film als Vergleichsmedium ergeben sich hilfreiche Hinweise, vertritt dieser doch den Modalitätseffekt (bildliche Informationen, die mit auditiven, verbalen kohärent gehen und so gesteigerte Lernleistungen hervorbringen sollen) par excellence. Offensichtlich wiegt dieser Modalitätseffekt nicht so schwer, dass er Comics als Lehrmedien in ihrem Leistungspotenzial in den Schatten stellen würde. Das Gegenteil ist der Fall: Informationen in Comicform werden sogar noch besser behalten als im Zeichentrickfilm. Lern- und Instruktionspsychologie haben hier noch Arbeit zu leisten. Denn obwohl Hansens Studie länger zurückliegt, behalten ihre Ergebnisse m. E. doch ihre volle Gültigkeit, da sich weder am Medium selbst noch für den zugehörigen Rezeptions- oder kognitiven Memorierungsprozess viel geändert hat. Dem Einwand, die allgemeine Rezeptionskompetenz könnte sich im Zeitalter zunehmender Digitalisierung immerhin abgebaut haben, was zu Problemen führen könnte, ist dazu durch eine aktuellere Studien zu entkräften (siehe unten). Eine Studie aus dem Jahre 2019 zeigt, dass der Erfolg von Comics als Instruktionsmedium auch nicht in speziell kindlichen/jugendlichen Sehgewohnheiten begründet liegt. Stattdessen scheinen auch Menschen positiv darauf zu reagieren, die nicht unbedingt zur Zielgruppe des deutschen Comicmarktes zählen. Die Charité-Universitätsmedizin Berlin machte auf sich aufmerksam, weil sie in einer randomisierten Studie einen Comic zur Aufklärung von Patientinnen eingesetzt hat, die sich auf einen Herzkathetereingriff vorbereiten mussten. Auch hier spielte der Comic also die Rolle eines Instruktionsmediums. Patienten, die neben dem üblichen Aufklärungsgespräch auch den bunten Infocomic ausgehändigt bekommen hatten (hier war der Comic also ein Zusatz), waren hinterher nachweislich besser über Risiken und Verhaltensanweisungen informiert, hatten ein tieferes Verständnis der Prozedur gewonnen und zeigten

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sich deutlich weniger besorgt.957 Dies allein auf die duale Kodierung der Inhalte zurückzuführen, die verschiedene ›Lerntypen‹ anspräche, wie die Urheberinnen der Studie es tun, greift wahrscheinlich zu kurz: Es liegt nahe, dass sequenzielle Bilder das Verständnis eines Vorgangs fast immer besser verdeutlichen als reiner Text – unabhängig von Lernstilpräferenzen. Zu vielschichtig ist das Aktivierungspotenzial des Mediums, das zu besserer Erinnerungsleistung und zu tieferem Verständnis beiträgt. Zudem kamen in dem Comic auch Repräsentationen von Arzt-Patienten-Gespräche vor. Der Charakter im Comic zeigt sich ruhig und gelassen und bietet (nicht nur durch den cartoonhaften Zeichenstil) Identifikationspotenzial. Und schließlich sei auf Wenning/Krdzic/Sandmann verwiesen, die 2018 die Lernwirksamkeit von Sachcomics im Biologieunterricht untersucht haben. Die Ergebnisse ihrer leider nur stichprobenartigen Interventionsstudie im Pre-PostFollow-Up-Design sind sehr vielversprechend: Im Vergleich zur Kontrollgruppe, die sich einem Unterrichtsthema mithilfe von Lehrtexten widmete, zeigte die Interventionsgruppe, die das Thema durch Comics erarbeitet hat, signifikant bessere Lern- und Behaltensleistungen.958 Es konnte ein großer bis mittlerer Effekt festgehalten werden.959 Die Autorinnen haben dabei glücklicherweise ausgeschlossen, dass die Ergebnisse auf Faktoren wie ein gesteigertes (situatives) Interesse oder ein verändertes Selbstkonzept zurückzuführen sein könnten.960 Demnach könnten kognitive Rezeptionsprozesse verantwortlich für das Ergebnis sein. Diese Forschungsergebnisse von Wenning et al. wurden in ähnlicher Weise zum Beispiel von Aleixo und Sumner bestätigt, die in ihrer Studie ebenfalls eine erheblich bessere Erinnerungsleistung von (biopsychologischen) Lerninhalten nachweisen konnten, sobald der Comic den Fließtext als Instruktionsmedium ersetzte.961 Wenning/Krdzic/Sandmann stießen jedoch auch auf ein Ergebnis, das im Kontext einer inklusiven Pädagogik von besonderer Relevanz ist: Die Schülerinnen mit geringem Vorwissen in beiden Gruppen des Experiments wurden eigens erfasst wurden. Diejenigen, die nur ein geringes fachspezifisches Vorwissen aufwiesen und mit Comics lernten, machten hochsignifikant mehr Fortschritte als diejenigen, die mit Lehrtexten arbeiteten.962 Lernende mit geringem thematischen Vorwissen profitieren also möglicherweise stärker von den in diesem Kapitel aufgeführten Effekten (zum Beispiel doppelte Kodierung, Multimediaeffekt), während andere das Fehlen dieser Vorteile durch solides Vorwissen ausgleichen können und müssen. 957 958 959 960 961 962

Vgl. Brand; Gao; Hamann; Crayen; Brand; Squier; Stangl; Kendel; Stangl, 2019. Vgl. Wenning; Krdzic; Sandmann, 2018, S. 193. Vgl. ebd. Vgl. ebd., S. 194. 2017. Vgl. Wenning; Krdzic; Sandmann, 2018, 193f.

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Obwohl es also bis jetzt eher wenig Studien zum Comic als Instruktionsmedium gibt, so weisen sie jedoch daraufhin, dass Comics altersübergreifend positive Lerneffekte erzielen können, besonders im Vergleich zum Film und Fließtext, und dass gerade Lernende mit geringem fachspezifischen Vorwissen durch das Medium barrierefreien Zugang zu neuem Wissen erhalten. Was den empirischen Forschungen teilweise fehlt, ist möglicherweise ein Verständnis für die Gründe dieser Ergebnisse. Diese wären jedoch sehr hilfreich, um Comics in der Didaktik zielgerichteter einsetzen zu können. In Bezug auf Lernmedien droht der Comic nämlich mittelfristig durch andere, digitale Medien verdrängt zu werden, denen heute viel Aufmerksamkeit zukommt. Warum diese gerade in Bezug auf die kognitive Aktivierung jedoch nicht unbedingt halten, was sie versprechen, soll im Folgenden kurz erläutert werden.

3.3.1 Comics und E-Medien hinsichtlich des Aktivierungspotenzials kritisch nutzen Durch die Sequenzielle Kunst wird ein kognitiver Aktivierungsgrad erreicht, an den audiovisuelle Medien nicht zwangsläufig heranreichen. Auch in Anbetracht der Tatsache, dass sich gegenwärtige schulpädagogische und didaktische Diskurse zurzeit verstärkt um digitale Medien in Bildungsprozessen drehen, ist es sicher angebracht, die Beschäftigung mit dem eher konservativ erscheinende Medium ›Comic‹ kurz vor diesem Hintergrund zu betrachten und zu erwägen. Obwohl digitale Medien den Comic als Instruktionsmedium an sich auch nicht ausschließen, sollte zudem erörtert werden, ob nicht auch Vorteile in der Printversion liegen. Hier begegnen sich theoretische Forschung und Praxis. Medienbildung ist in der heutigen Zeit eine (vielleicht sogar: die entscheidende) Schlüsselkompetenz. Die mediale Lebenswelt Heranwachsender spiegelt sich zunehmend auch in Schulbüchern wider, die in digitaler Form vorliegen: manchmal schlicht als PDF für Lern-Tablets, manchmal auch interaktiv gestaltet.963 Digitale Schulbücher üben einen nicht unberechtigten Reiz auf Lernende und Lehrende aus. Wenn hochwertige (!) Materialien eingesetzt werden, können Motivation und Lernleistung gesteigert werden.964 Manche E-Medien versprechen sogar, den Lehrkräften tendenziell mühsame individualisierende Lernarrangements abzunehmen.965 Im Vergleich mit dem digitalen Schulbuch sollte man den Comic als Bildungsmedium aber nicht abschreiben: Erstens, weil auch er in digitaler Form 963 Für eine nähere Klassifikation dieser E-Schulbücher vgl. Macgilchrist, 2017. 964 Vgl. ebd., S. 228; Dobler, 2015. 965 Vgl. Macgilchrist, 2012, S. 191.

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präsentiert werden kann und zweitens, weil digitale Medien in Leseprozessen nicht unbedingt der Weisheit letzter Schluss sind: Comics können zum Beispiel in Form eines einfachen PDF-Digitalisats bereitgestellt werden. Daraus ergeben sich viele Vorteile: So tragen gerade Comics mit vielen Seiten, die in Buchform erscheinen, zum Gewicht allzu schwerer Schultaschen bei. Digitale Bildungsmedien verringern dieses Problem.966 Zudem gehen von Comics tendenziell hohe Anschaffungskosten aus, da der Druck relativ aufwendig ist. Sogenannte ›Graphic Novels‹ sind zudem oft umfangreich und erscheinen nicht selten im festen Hardcover-Einband, was den Preis zusätzlich erhöht. Viele Familien möchte man durch diese Kosten nicht belasten und nicht alle Schulen verfügen über Comics im Klassensatz. In der digitalen Darreichungsform könnten Kosten eingespart werden. Durch etwas komplexere digitale Darstellungsformen ließen sich zudem leicht Notizen am Rand der Comiclektüre vornehmen, Texte und Bilder könnten markiert und hervorgehoben werden, eine Suchfunktion könnte das Aufspüren spezieller Passagen in besonders langen Werken erleichtern.967 Allerdings muss bei der Digitalisierung von Comics beachtet werden, dass sogar ›digital natives‹, also Menschen, aus deren Leben digitale Möglichkeiten von Beginn an nicht wegzudenken waren, teilweise lieber auf Papier lesen, in diesem Bereich also analoge Präsentationsformen vorziehen.968 Es gibt tatsächlich Hinweise darauf, dass wir uns aufgrund neuronal-kognitiver Strukturen in einem aufgeschlagenen Buch besser orientieren können als auf einem Bildschirm, dass leuchtende elektronische Screens und ständiges Scrollen unsere Aufmerksamkeit und unser Arbeitsgedächtnis belasten und dass wir uns Informationen aus Texten auf Papier besser merken können als bei digitaler Lektüre.969 Freilich würde es sich lohnen zu überprüfen, ob dies auch für Schüler in Tablet-/Notebook-Klassen gilt, die über Jahre hinweg mehrmals täglich digitale Texte rezipieren. Mitunter sind digitale Bildungsmedien aber auch sehr konservativ gehalten, sodass sich vor allem diese Nachteile einstellen, ohne dass die Hoffnung auf interaktive Möglichkeiten ausreichend befriedigt wird.970 Gleichzeitig bergen allzu ›interaktive‹ Lehrmedien ironischerweise die versteckte Gefahr, die Lernenden in eine nicht unerhebliche Passivität zu versetzen, da weniger konstruktivistische Prozesse für die Rezeption des Mediums nötig sind.971 Es sei noch einmal auf die Studien von Hansen verwiesen, der nachweisen 966 Vgl. Macgilchrist, 2017, S. 232. 967 Vgl. auch Macgilchrist, 2012, S. 187. 968 Vgl. Gruner + Jahr; Blue Ocean Entertainment AG; Egmont Ehapa Media GmbH; Panini Verlags GmbH; SPIEGEL-Verlag; ZEIT-Verlag, 2018; Macgilchrist, 2017, S. 231. 969 Vgl. Jabr, 2014; Ziefle, 2013. 970 Vgl. Macgilchrist, 2012, 188f. 971 Vgl. ebd., S. 196.

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Konkretisierung: Comics als Chancengeber in Unterrichtsprozessen

konnte, dass neue Wissensstrukturen durch Filme wesentlich schlechter aufgebaut werden als durch Comics.972 Dazu kommt eine Unruhe, die vom Medium selbst ausgeht und sich auf die Rezipierenden übertragen kann. Elizabeth Dobler erklärt in ihrer Studie dazu: [S]ome participants described an increase in cognitive engagement due to the ability to both utilize e-textbook features and engage with media, in addition to text. Others found the process of reading an e-textbook challenging because of distractions on their device, eye strain, and a feeling of being overwhelmed with choices.973

Sie kommt zu dem Schluss, dass ein Wechsel zwischen Print- und digitalen Schulbuchformen optimal ist, um unterschiedlichen Präferenzen gerecht zu werden. Auch moderne Webcomics können teilweise mit interaktiven Möglichkeiten aufwarten, die nur durch digitale Endgeräte ermöglicht werden, implementieren zum Beispiel Elemente und Figuren, die ins Panel ›einfliegen‹, oder stellen Musik bereit (vgl. I 2.5.2). Auch diese Comics können eingesetzt werden, sind aus konstruktivistischer Perspektive jedoch nicht nur positiv zu bewerten. Wenn die Schüler kognitiv aktiviert werden sollen, profitieren sie davon, Bewegungen und Symbole lieber durch ihr eigenes Imaginationsvermögen zu konstruieren. Trotzdem sind Webcomics mit ihren zahlreichen Spielarten nicht grundsätzlich auszuschließen. Nach Meinung einiger Forschenden gehen moderne Mediensubjekte vor allem darin auf, mediale Möglichkeiten kreativ und produktiv zu nutzen – gerne auch kooperativ.974 Felicitas Macgilchrist erklärt: »Ein wichtiger Teil des Medienlebens eines jungen Menschen heute ist die Produktion, Produsage [producer + user, Anm. d. A.], und die Kreativität, die es ermöglichen, Videos, Musik, MashUps usw. zu verändern, selbst zu machen und hochzuladen«.975 Digitale Möglichkeiten führen also nicht per se in die Passivität und virtuelle Schulbücher sollten sich auf diese Neigung des modernen Medien-Subjektes einstellen. Das comicgestützte Lehren kann darauf reagieren, indem kollektiv erstellte Werke, auch mit Onlineprogrammen zu gestalten, durch digitale Möglichkeiten mit der Zustimmung der Schüler verbreitet und anderen zu Verfügung gestellt werden, um einem kollektiven Zweck zu dienen: zum Beispiel auf eine Cloud oder Schulplattform, in der die Comics auch für andere Klassen genutzt werden können (vgl. dazu II 3.2.2 und III 4.2.3). Dadurch könnten sich erhebliche Motivationseffekte ergeben. In Anbetracht der Tatsache, dass es derzeit noch nicht genug Sachcomics zu fachbezogenen Themen gibt bzw. diese nicht leicht zu 972 973 974 975

Vgl. Hansen, 1998. 2015, S. 428. Vgl. bspw. Bruns, 2006. Vgl. Macgilchrist, 2012, S. 195.

Kognitiv aktivieren

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finden sind, können Schülerprodukte tatsächlich einen hohen Wert für Lehrerinnen haben. Umgekehrt wäre es wünschenswert, wenn Schulbuchverlage Lizenzen für lehrreiche Comics erwerben könnten, um diese dann leicht zugänglich für alle Schülerinnen bereitzustellen. Es lässt sich zusammenfassen: Digitale Lehrbücher können viele Vorteile haben (zum Beispiel ihr Aktivierungs- und Motivationspotenzial), bergen aber auch dezidiert Risiken. Multimedialität kann in Passivität führen. Wenn ein Lehrmedium die Schülerinnen nicht genug fordert und kaum kognitive Eigentätigkeit beim Rezipieren neuer Inhalte verlangt, liegt auch nur schwerlich kognitive Aktivierung vor, die, wie dargestellt, wichtig für effektive Lernprozesse ist. Diese Gefahr geht von Comics nicht aus, denn Sequenzielle Kunst fordert kognitiven Einsatz. In digitalisierter Form bieten Comics einige nicht von der Hand zu weisende Vorteile, vor allem eine mögliche Kostenersparnis, die Eltern und Schulen gleichermaßen zugutekäme. Sie weisen jedoch prinzipiell auch die gleichen Nachteile auf wie einige digitale Instruktionsmedien, zum Beispiel dass sich Leseprozesse digital anders – und vielleicht weniger nachhaltig – gestalten. Viele Schüler ziehen für längere Texte und Comics Printversionen vor, die weniger Unruhe vermitteln und Ablenkungspotenziale verringern. Aus der (Lehr-) Medienforschung ergibt sich jedoch auch ein sehr wichtiger Impuls: Junge Menschen nutzen digitale Medien, um sich auszudrücken, kreativ zu sein und eigene Gedanken und Schöpfungen zu teilen. Eventuell können auch die Ergebnisse handlungsorientierten Unterrichtes auf diese Weise verarbeitet werden, um die Lebenswelt der Lernenden stärker mit einzubeziehen und gleichzeitig Infocomics einer (mehr oder weniger) breiteren Öffentlichkeit zu Verfügung zu stellen. Nun soll erforscht werden, wie das Medium das Anliegen eines konstruktiven Umgang mit Heterogenität unterstützen kann. Dabei geht es um allgemeine Prinzipien, die nachweislich sinnvoll sind und teilweise ebenfalls aus Untersuchungen zur Unterrichtsqualität stammen.

4

Comics als Chancengeber für die Heterogenität im Unterricht

Sind die interindividuellen Lernvoraussetzungen in einer Lerngruppe stark ausgeprägt, kann sich das negativ auf die Lernleistung in der Klasse auswirken – und zwar genau dann, wenn es an geeigneten didaktischen Konzepten mangelt. Liegen aber gute Strategien vor, vor allem diejenigen, die innere Differenzierung vorsehen, können nachweislich Lerneffekte bei Schülerinnen jeden Leistungsgrades erzielt werden. Die Didaktik und das Lernarrangement sind also der entscheidende Faktor. Im folgenden Abschnitt soll untersucht werden, welche Möglichkeiten sich hier speziell durch die comicgestützte Pädagogik auftun: Zunächst in Hinsicht auf den Unterrichtsqualitätsfaktor ›Angebotsvielfalt‹, der sich nachweislich positiv auf den Umgang mit Heterogenität auswirken kann (II 4.1). Dann unter der Fragestellung, wie Vielfalt in Lernstilpräferenzen und Interessen adressiert werden könnte (II 4.2). Und schließlich soll erforscht werden, ob und wie sich Comics gerade für individualisierte und kooperative Lernformen eignen (II 4.3).

4.1

Angebotsvielfalt vergrößern

Wie kann ein einzelnes Medium realistisch gesehen zur mehr Angebotsvielfalt im Unterricht beitragen? Als neue Alternative zu bereits regelmäßig verwendeten Lernmedien (wie beispielsweise dem Lehrbuchtext) trägt der Comic natürlich dazu bei, die mediale Abwechslung im Unterricht zu erhöhen. Aber: Comics können in dieser Sache noch viel mehr leisten. Genauso wie die Sequenzielle Kunst aus vielen verschiedenen Perspektiven erforscht werden kann, so lassen sich auch unzählige didaktische Möglichkeiten aus ihr ableiten. Das Medium ist ungewöhnlich anschlussfähig für alle möglichen Zugänge, Methoden und Arrangements. Dadurch können Comics dazu beitragen, die Angebotsvielfalt im Unterricht auch jenseits des Lernmediums zu vergrößern. Im Folgenden soll zuerst dargelegt werden, was die Angebotsvielfalt zu einem so wichtigen Faktor für die Unterrichtsqualität macht und wie sie dazu beiträgt,

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Comics als Chancengeber für die Heterogenität im Unterricht

der naturgegebenen Heterogenität im Klassenzimmer konstruktiv zu begegnen. Sodann soll die methodische Anschlussfähigkeit erläutert werden, die sich daraus ergibt, dass der Comic ein Medium mit hybriden Zügen ist. Allein die Kodierungen von Text und Bild, sowie die Verschränkung dieser Zeichensysteme bieten zahlreiche Anschlussmöglichkeiten. Da hier freilich nicht alle Unterrichtsangebote, die sich aus Comics ergeben können, aufgelistet werden, soll exemplarisch auf dieses Potenzial verwiesen werden. Im besonderen Maße laden Comics zu fachtranszendierendem Unterricht, narrativem Lernen und zu handlungs- und produktionsorientierten Lernformen ein, bei dem der Phantasie wirklich keine Grenzen gesetzt sind. Dazu haben sie einen allgemeinen positiven Einfluss auf die Medienvielfalt im Unterricht. Diese Aspekte betreffen verschiedene Ebenen des Unterrichtsgeschehens, die alle von einer großen Angebotsvielfalt profitieren sollten. Angebotsvielfalt – Warum ist sie so wichtig? Vermittlungsmodus, Lenkungsgrad, Methoden, Medien, Sozialformen und ›Arrangements‹ (kooperativ, individuell etc.) müssen sich im Unterricht dem Lernziel, den Bildungsinhalten und den Bedürfnissen bzw. Kompetenzen der Schülerschaft anpassen.976 Verschiedene Bildungsziele oder fachliche Inhalte fordern mannigfache Zugänge, die immer wieder neu durchdacht, erfunden und angepasst werden müssen.977 Zudem sind Lerngruppen sehr unterschiedlich und benötigen deshalb oft auch unterschiedliche Zugänge zum gleichen Thema. Die Lehrkraft muss dafür über ein möglichst reiches Methodenrepertoire verfügen, weshalb es auch in der Fachliteratur nicht an Vorschlägen mangelt.978 Doch ist es nicht nur wichtig, sich um die Auswahl der ›passenden‹ Methoden, Sozialformen etc. zu bemühen, sondern auch schlicht und einfach höchstmöglich zu variieren. Brophy erklärt: »No single teaching method […] can be the method of choice for all occasions. An optimal program will feature a mixture of instructional methods and learning activities.«979 In diesem Kontext spricht man von ›Angebotsvielfalt‹. Eine reiche Angebotsvielfalt kann aus vier verschiedenen Gründen die Lerneffektivität im Unterricht verbessern: Erstens begegnet man aus einer Heterogenitätsperspektive damit der Tatsache, dass unterschiedliche Schüler unterschiedliche Präferenzen und Bedürfnisse hinsichtlich Methoden, Medien, Sozialformen etc. haben. Zweitens erfordern unterschiedliche Lern- und Kompetenzziele oft 976 977 978 979

Vgl. dazu Helmke, 2009, S. 259. Vgl. ebd., S. 169. Vgl. bspw. Wiechmann, 2000; Brenner, 2011. 2000, S. 261.

Angebotsvielfalt vergrößern

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abwechslungsreiche Methoden, um nachhaltig erreicht zu werden. Drittens wirken Angebotswechsel aktivierend und motivierend auf die Lernenden. Viertens können sie dazu beitragen, das neu gewonnene Wissen zu dekontextualisieren. Die Angebotsvielfalt – als reiches Spektrum von Methoden, Medien und Sozialformen – trägt den individuellen Lernvoraussetzungen und -präferenzen in der Klasse Rechnung.980 Unterschiedliche Lehrtechniken sprechen automatisch unterschiedliche Lernstilpräferenzen an.981 Die populärwissenschaftliche Unterscheidung zwischen visuellen oder auditiven Lerntypen hat sich in dieser Form zwar als nicht haltbar erwiesen, wohl aber erarbeiten sich Schüler neues Wissen sehr unterschiedlich, wenn sie (fernab von Lehrervorgaben oder Gruppendruck) die Möglichkeit dazu bekommen: Die einen lernen besser mit einem Partner, die anderen lieber alleine; die einen verknüpfen Zusammenhänge gerne mit Graphiken, die anderen nähern sich diesen eher narrativ an etc. Neben interindividuellen gibt es auch intraindividuelle Unterschiede; so kann ein und dieselbe Schülerin Vokabeln besser memorieren, wenn sie sie schriftlich vor sich sieht, einem Roman aber näherkommen, wenn sie ihn als Hörbuch rezipiert. Mit einer reichen Angebotsvielfalt hat die Lehrkraft schlicht die besten Chancen, möglichst viele einzelne Schülerinnen im Zuge einer Unterrichtseinheit oder Stunde anzusprechen, ohne dass am Anfang des Schuljahres komplizierte Erhebungen darüber durchgeführt werden müssen, welche Individuen wie am liebsten oder am besten lernen.982 Die Angebots-Vielfalt ist also ein sehr wichtiger Faktor für den konstruktiven Umgang mit Heterogenität, wie er der Pädagogik der Vielfalt entspricht. Für das Lernklima und die Motivation in der Klassengemeinschaft ist es natürlich nur förderlich, wenn durch eine durchdachte Angebotsvielfalt kein Schüler im Lernen zurückgelassen wird. Aber auch in anderer Hinsicht stellen sich durch regelmäßige Methoden- und Medienwechsel Motivations- und Aktivierungseffekte ein: Durch das (stetige) Moment der Abwechslung und Überraschung kann das prozessorientierte Interesse geweckt und die Lernmotivation gesteigert werden.983 Allerdings sollten (gerade neue) Methoden auch nicht überfordern oder zur Ineffizienz führen.984 Wenn diese Balance gelingt, dann 980 981 982 983 984

Vgl. Helmke, 2009, S. 169. Vgl. Brophy, 2000, S. 251. Vgl. Muijs; Reynolds, 2011, S. 196. Vgl. Pintrich; Schunk, 1996, 297f. Vielleicht ist hier ein Hinweis auf das in diesem Kontext hin und wieder abschätzig genutzte Wort ›Methodenzirkus‹ angebracht, das vor einem Zuviel an Unterrichtsmethoden warnen will. Wenn Lehrpersonen sich einem ›Methodenzirkus‹ verweigern, dann kann dies auch ein Hinweis darauf sein, dass sie sich nicht die Mühe machen wollen, einen angebotsreichen Unterricht vorzubereiten, nicht über entsprechende Kompetenzen verfügen oder nie die Gelegenheit hatten zu verstehen, warum ein regelmäßiger Methodenwechsel ihnen ihren

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Comics als Chancengeber für die Heterogenität im Unterricht

bleibt die Aufmerksamkeit – und dadurch letztlich auch die kognitive Aktivierung – der Kinder und Jugendlichen aber länger erhalten, lähmender Langeweile durch ein Übermaß bestimmter Vermittlungsformen (wie tagelange Lehrervorträge oder ständige Gruppenarbeit) wird vorgebeugt. Es liegt auch nahe, dass unterschiedliche Lernwege unterschiedliche Hirnareale fordern können (sei es für die Verarbeitung verbaler Informationen oder die Bewältigung kreativer Aufgaben), sodass sich bei einseitiger Belastung Müdigkeit einstellt. Man kennt dies beispielsweise aus dem Schwimmsport: Hobby-Sportlerinnen zeigen im Wasser größere Ausdauer, wenn sie ihre Schwimmstile variieren und nicht etwa durchgehend in der Rückenlage verbleiben. Auch in der Religionspädagogik ist das Thema der Angebotsvielfalt bearbeitet worden. Schröder verweist dafür beispielhaft auf das Themenfeld der (evangelischen) Kirchengeschichte: Einher mit der inhaltlichen Weitung des Horizontes und der Präzisierung didaktischer Zugänge ging und geht die Entfaltung eines reichhaltigen Methoden- und Medienrepertoires – von nicht zu unterschätzender Bedeutung in einem Themenbereich, der traditionell als besonders motivationsbedürftig gilt.985

Brophy fast zusammen: »A good lesson needs to be varied and interesting, and use different types of materials and explanations. Mixing verbal, visual and tactile elements can obviously aid pupil’s attention while at the same time addressing possible different learning preferences.«986 Und schließlich kann die Verschiedenheit dieser Reize auch dazu beitragen, dass das Gelernte länger behalten und erinnert wird. Dies ist ein Aspekt, der in der Schulpädagogik oft übersehen wird, in der Lernpsychologie jedoch nicht unerforscht geblieben ist: Werden Inhalte auf möglichst unterschiedliche Weise und durch verschiedene Zugänge erlernt, dekontextualisiert sich das erlernte Wissen und wird tendenziell leichter auf neue Situationen und Zusammenhänge übertragen.987 Es erscheint intuitiv einleuchtend, dass ein Lerninhalt, zum Bei-

Lehrauftrag am Ende vereinfachen würde. Schülerinnen hingegen benutzen das Wort, wenn sie zu wenig Ruhe im Unterrichtsgeschehen sehen (vgl. die Bedeutung eines guten ›Unterrichts-Flows‹), ineffektives Lernen bei unpassenden Lernformen beobachten (wenn eine einfache, direkte Instruktion durch eine Lehrererklärung alles einfacher gemacht hätte) oder auch wenn sie sich zu sehr beansprucht fühlen: Kooperatives Lernen, den ganzen Tag über, kann Lernende überfordern, die nicht ohne Pause aufmerksam sein können oder wollen und führt dann eher zu Ineffektivität. Methoden – auch neuen! – die Spaß machen und unkompliziert sind, sowie abwechslungsreichen Medien und einer klaren Lernzielorientierung verweigern sich die meisten Schülerinnen nicht. 985 2012, S. 621. 986 2000, S. 251, Herv. d. A.; dazu auch Helmke, 2009, S. 262. 987 Vgl. Carey, 2015, 79ff. Das geht soweit, dass sogar ein Wechsel von scheinbaren Details wie Sitzposition, Hintergrundmusik, Wandfarben u.v.m. in Lernsituationen helfen kann, das

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spiel Basiswissen über die Reformation, tiefer und nachhaltiger verarbeitet wird, wenn die Schülerinnen dazu einen Zeitschriftenartikel lesen, einen Videoclip sehen, sich mit einem Partner darüber austauschen und anschließend einen Aufsatz verfassen, als wenn sie im gleichen Zeitraum ausschließlich Texte zum Thema lesen. Meyer erklärt deshalb, es bestehe nicht der geringste Anlass, vor einem Zuviel an Methodenvielfalt zu warnen, während Helmke sehr wohl an ein »Optimum« glaubt, es jedoch nicht näher spezifiziert.988 Der prinzipielle Nutzen einer großen Angebotsvielfalt wird jedoch von niemandem in Zweifel gezogen. Alles in allem steigert sie im Unterricht also dessen Prozessqualität, indem sie auf emotionale sowie kognitive Faktoren wirkt und der Heterogenität im Klassenzimmer konstruktiv begegnet. Ein ›Mehr‹ an Angeboten – sei es bezogen auf Lernformen, Methoden oder Medien – ist deshalb prinzipiell ein sinnvoller Schritt.

4.1.1 Den Fachunterricht mithilfe von Comics transzendieren Angebotsvielfalt kann auf unterschiedlichen Ebenen des Unterrichtsgeschehens angesiedelt sein. Besonders gut lässt sich dies am Beispiel des (im weitesten Sinne) fachtranszendierenden und fächerkooperierenden Unterrichts darstellen. Derartige fachübergreifende Impulse in der Schule haben das Potenzial, zu vernetzendem Denken anzuregen, den Transfer erlernter Inhalte zu erleichtern, konstruktivistische Prozesse zu begünstigen, einen größeren Lebensweltbezug der Themen herzustellen sowie Interesse und Motivation zu stärken (Motivationseffekte aus einem Fach können zum Beispiel auf das andere übertragen werden). Deshalb werden derartige Lernformen häufig empfohlen – durchgeführt werden sie allerdings eher selten. Comicdidaktische Zugänge schaffen einen Gegenimpuls dazu, denn sie eignen sich besonders im Rahmen fachtranszendierender Projekte, Initiativen und Unterrichtseinheiten. Man bedenke, dass auch Comicforschung meistens interdisziplinär betrieben wird, weil das Medium sowohl inhaltlich als auch in seiner Hybridität zu so vielen Seiten hin anschlussfähig ist. Nun kann derartiges Arbeiten im Rahmen der Comicdidaktik die Mikroebene des Unterrichtsgeschehens betreffen, wenn die Lehrerin nur einen kurzen Impuls wie einen Verweis darauf gibt, welches Themenfeld durch den Comic noch berührt wird. Oder aber es eröffnet sich die die Makroebene des Unterrichtens, wenn es zu methodischen Großformen wie einer fachübergreifenden Projekterlernte Wissen späten in möglichst verschiedenen Zusammenhängen wieder erfolgreich abzurufen. 988 Vgl. Meyer, 2010, S. 80; Helmke, 2009, S. 265.

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Comics als Chancengeber für die Heterogenität im Unterricht

woche kommt.989 Gerade diesen Großformen scheint oft ein besonders hohes pädagogisches Potenzial innezuliegen. ›Graphic Novels‹ sind oft besonders gut für fächerverknüpfendes Arbeiten geeignet, da sie oft lang und komplex gehalten sind, sodass sich die Arbeit mit ihnen ohnehin über mehr als eine Doppelstunde erstrecken müsste und sowohl ihre Gestaltung als auch deren Vernetzung mit inhaltlichen Aspekten erarbeitet werden muss. Aber auch das Œuvre eines Künstlers oder die gezielte Bearbeitung bestimmter Comicgattungen (zum Beispiel Comicstrips), können zum wertvollen Gegenstand werden: Zum Beispiel können sich die Fächer Kunst und Französisch gleichermaßen dem Medium ›Comic‹ nähern, indem dafür dezidiert Werke aus der franko-belgischen Comickultur im französischen Original untersucht werden (zum Beispiel zeitgenössische Funnies um Titeuf). Auch das allgemeinere Thema ›Comicstrip‹, unabhängig von einzelnen Schaffenden, kann Schülern die Möglichkeit geben, zahlreiche Kompetenzen zu erwerben. Denkbar ist es zudem etwa im Rahmen des Literaturunterrichtes (in Deutsch oder auch Englisch) einen längeren, in sich abgeschlossenen Comic wie Craig Thompsons Blankets zu behandeln (vgl. auch II 3.2.6), indem man narratologische Ansätze anwendet und erarbeitet, wie die Graphic Novel aufgebaut ist, ohne selbstverständlich inhaltliche Aspekte der Erzählung zu vernachlässigen. Es ist eine Liebesgeschichte, aber auch eine Coming-of-Age-Narration mit Themen wie der religiösen Identität, der Herausforderung ›Berufswahl‹, die Beziehung zu Geschwistern, Scheidung der Eltern und Mobbing – Themen also, in denen sich viele jugendliche Leser wiederfinden sollten, sodass ein Identifikationspotenzial besteht. Gerade aber dieser Comic ist auch eingelassen in weltanschauliche Diskurse, ist gespickt mit Bibelversen und letztendlich auch Religionskritik, weil der Protagonist in einem sehr christlich geprägten Umfeld der amerikanischen Südstaaten aufwächst. Die Erzählung zu behandeln ohne eine (fundierte) theologische Perspektive mit einzubeziehen, ist nur schlecht zu verantworten und könnte einige Fragen bei den Lernenden offenlassen. Deshalb liegt hier das enorme Potenzial, den Literaturunterricht dem Fach ›Religion‹ zu öffnen, indem dort die Bibelstellen und existenziellen Nöte des Protagonisten besprochen und diskutiert werden. Die Initiative kann umgekehrt aber auch sehr gut vom Religionsunterricht ausgehen: Da das Fach in der Regel nur eine sehr begrenzte Stundenzahl zur Verfügung hat und sich der Unterricht deshalb wirklich auf Kernthemen und -kompetenzen der religiösen Bildung konzentrieren sollte, ist es günstig, wenn die Behandlung künstlerischer/gestalterischer/erzählerischer Aspekte unterstützend von einem zweiten Fach übernommen werden kann. Dabei darf es natürlich nicht darum gehen, in einem Fach nur die inhaltliche Seite zu behandeln und alles dezidiert Mediale ›auszulagern‹, da Inhalt und Form in 989 Meyer, 2010, 75f.

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Comics oft eng ineinandergreifen und bildliche Gestaltungsweisen in ›Graphic Novels‹ mit ihrem symbolischen Darstellungsvermögen ein dankbarer Anknüpfungspunkt für symboldidaktische Ansätze in der Religionspädagogik sind. Besonders unkompliziert geschieht dies zweifelsohne, wenn zwei Fächer ohnehin schon in Personalunion erteilt werden. Aber gerade ein kollegialer, unterrichtsund lehrbezogener Austausch und die gezielte Kooperation mit anderen Lehrkräften kann die Unterrichtsqualität nachgewiesenermaßen erhöhen.990 Fächer wie Deutsch und auch Kunst sind gute Ausgangspunkte, um sich dem Medium an sich oder auch prägnanten Einzelwerken mit ihrer Erzählweise und Gestaltung zu nähern. Gerade die Kunstpädagogik kann auch besten Gewissens zu eigenen Experimenten in der Comicgestaltung einladen und zum Beispiel helfen, expressionistische Ausdrucksformen zu erproben und besser zu verstehen. Je nach inhaltlichem Themenfeld kann dann noch ein anderes Fach hinzugezogen werden, zum Beispiel Geschichte, Philosophie oder Politik. Die Kooperation mit Fremdsprachen ermöglicht es außerdem, auch mit Comics in ihrer nicht-deutschen Originalsprache zu arbeiten, was nicht nur dann hilfreich ist, wenn keine deutsche Übersetzung vorliegt. Gerade das Fach Englisch kann ein wertvoller Wegbegleiter sein, da die Didaktik sich hier schon länger popkulturellen Materialien geöffnet hat und eine Vorreiterstellung im Kompetenzfeld der Visual Literacy innehat. Hier deutet sich an, dass manche Kollegen vielleicht über einen Wissensvorsprung verfügen, der unbedingt konstruktiv genutzt werden sollte. Gerade wenn einem der Comic als Medium noch etwas fremd ist, schafft es Sicherheit, eine Kollegin an der Seite zu haben, die schon Erfahrung mit comicdidaktischer Arbeit gemacht hat. Offenheit für neue Methoden, Lernformen und Unterrichtsgegenstände gehören nicht ohne Grund zur Expertise für professionelle Lehrkräfte.

4.1.2 Medienvielfalt nutzen Es kann verunsichernd sein, sich einem neuen Medium zu öffnen. Dennoch ist es oft wichtig, möglichst viele verschiedene Medien im Laufe einer Unterrichtseinheit zu nutzen, um das Lernangebot im Unterricht zu bereichern. Schon die Wahl verschiedener Textsorten, zum Beispiel Lehrbuchtexte zusätzlich zu Interviews und Zeitschriftenartikeln, kann motivierend und aktivierend wirken. Öffnet man sich dem Medienspektrum jedoch noch weiter und zieht auch noch Filme, Videoclips, Hörspiele, Lieder/Songs oder digitale Diskussionsforen hinzu, hat man noch größere Chancen, möglichst viele Schülerinnen in ihren Interessen zu erreichen. Die Wahl des Medium und der zugehörigen Methode sollte sich 990 Vgl. Zierer, 2015, S. 125.

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Comics als Chancengeber für die Heterogenität im Unterricht

zwar vor allem nach dem Lernziel richten, jedoch darf man nicht außer Acht lassen, dass unterschiedliche Lernende möglicherweise auch unterschiedliche Affinitäten für mediale Vermittlungswege an den Tag legen. Bedenkenswert ist, dass auch das Christentum sich nicht nur sprachlich-linguistisch tradiert hat, sondern dass im Glaubensleben von Menschen auch andere Medien eine Rolle spielen, die ganz unterschiedliche Sinne ansprechen: Visuell durch Kirchenbilder und Kirchenkunst, auditiv durch Lobpreislieder, olfaktorisch zum Beispiel durch Weihrauch und sogar gustatorisch in der Eucharistie. Auch für andere Religionen ließen sich hervorragende Beispiele finden. Unterschiedliche Menschen präferieren zudem nicht nur in der Rezeption unterschiedliche Medien, sondern sollten auch im handlungsorientierten Unterricht die Möglichkeit bekommen, möglichst bunte, verschiedenartige Beiträge beizusteuern: Seien es Kurzfilme, Acrylbilder, Aufsätze, Internetseiten, Gedichte – oder eben Comics. Comics können natürlicherweise ihren Beitrag dazu leisten, das Medienspektrum im Unterricht zu verbreitern. Ähnlich wie bei digitalen Medien werden sie im Idealfall kompetent und zielgerichtet eingesetzt, so dass zum Beispiel in der Klasse das spezifische Zusammenspiel von Text und Bild und nicht nur der Text eines Comics allein diskutiert wird, damit anspruchsvollere kognitive Prozesse bei den Lernenden angestoßen werden.991 Sie können hin und wieder jedoch durchaus auch andere Medien wie den Lehrbuchtext oder den Trickfilm als Instruktionsmedium unmittelbar ersetzen und auch dadurch die Lernleistung steigern.992 Erzählende Comics können zudem Formen narrativen Lernens initiieren. Von dieser wird in der Regel eher in den unteren Klassenstufen Gebrauch gemacht, während ältere Schüler wesentlich seltener die Gelegenheit dazu bekommen. Dabei gibt es Hinweise darauf, dass Menschen jeden Alters sich Inhalte, die in narrativer Form vermittelt werden, besonders gut einprägen können. So können bedeutsame Lernprozesse entstehen. Thielking erklärt: »Informationsbausteine werden in kontextualisierten Formen zugänglicher und behaltbarer, d. h. Erzähltes vernetzt sich besser, wird weniger leicht vergessen.«993 Es könnte sich also lohnen, auch das Gattungs- und Genreangebot von Comics im Unterricht zu variieren, so wie auch Textmedien die Angebotsvielfalt im Unterricht steigern können, wenn sie in unterschiedlichen Gattungen zur Verfügung gestellt werden. 991 Hattie konnte dem Einsatz digitaler Medien tatsächlich nur eine geringe Effektstärke für den Lernerfolg nachweisen. Die dazugehörige These lautet aber, dass viele Lehrpersonen die neuen Möglichkeiten immer noch nur als knappen Ersatz für traditionelle Medien nutzen, also das Whiteboard als Tafel, das Internet als Lexikon oder das Tablet als Arbeitsblatt, anstatt sich wirklich neuen Möglichkeiten zu öffnen. Hier ist also die Medienkompetenz der Lehrenden gefordert. 992 Vgl. Wenning; Krdzic; Sandmann, 2018; Hansen, 1998. 993 2005, S. 200.

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Immer und ausschließlich mit Comics zu arbeiten, das soll noch einmal betont werden, würde dem Anliegen von Angebotsvielfalt natürlich entgegenlaufen. Nicht alle Kinder fühlen sich durch Comics angesprochen; für manche ist diese Form der Informationsübermittlung reizlos. Und auch im Rahmen der comicgestützten Arbeit muss man methodisch variieren, neue Großformen des Unterrichts erproben und unterschiedliche Zugänge zum Werk wählen. Das ist ein Leichtes, weil Comics zwar ein eigenständiges Medium bilden, jedoch auch in einem intermedialen Feld agieren und darum von verschiedenen Seiten zu medialer und methodischer Vielfalt im Unterricht einladen.

4.1.3 An Text und Bild anschließen Comics sind aus sehr unterschiedlicher Perspektive für Forschungsfragen anschlussfähig, was bei näherer Betrachtung für das schulpädagogische Anliegen der Angebotsvielfalt nicht uninteressant ist. Auch mit wenig Erfahrung in der Comicanalyse kann man sich deshalb dem transmedialen Feld, in dem Comicautoren agieren, von verschiedenen Seiten annähern, zum Beispiel mit Zugängen aus der Literatur- und Kunstwissenschaft oder Filmtheorie. Exemplarisch für die Anschlussfähigkeit des Mediums sollen hier die Anteile aus Text und Bild stehen, aus deren Zusammenspiel das Medium lebt und denen man sich auch mit wenig Übung in der Comicanalyse produktiv annähern kann. Sie sind gleichzeitig anschlussfähig für eine Vielzahl von Methoden und didaktischen Zugängen. Comic-Künstlerinnen und Comic-Künstler haben es geschafft eine Kunstform zu entwickeln, in der Wort und Bild nicht nur zusammenarbeiten, sondern oft auch in ihrer Grenze verschwimmen. Das Medium ist »gesehenes Wort, gelesenes Bild«.994 Dennoch ist es sinnvoll, beide Anteile kurz (so gut wie möglich) getrennt voneinander zu betrachten, da sie für die mannigfaltige Anschlussfähigkeit des Mediums für Unterrichtsangebote (mit)verantwortlich sind und dabei bereits einzeln betrachtet ein großes didaktisches Potenzial haben. Beide Medien, losgelöst von dem sie verschmelzenden Comic, sind auch von der Religionspädagogik schon erforscht und beleuchtet worden, zum Beispiel aus der Perspektive der Bilddidaktik und Kunstpädagogik für den Fachunterricht. Zwar wirken die Anteile im Comic verschränkend zusammen, jedoch ermöglichen beide Komponenten auch einen eigenen Zugang zur Erschließung und Deutung des Einzelwerks, der auch binnendifferenzierend und individualisierend genutzt werden kann.

994 Satonaka Machiko, zit. nach Berndt, 1995, S. 91.

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Bilderwelten im Comic Es ist sinnvoll, in diesem Rahmen mit einem näheren Blick auf die Bilder in Comics zu beginnen, da diese einigen Theoretikerinnen als das konstitutive Element für die Sequenzielle Kunst gelten.995 Damit stehen dem Medium diverse Mittel und Wirkungsweisen der bildenden Kunst zur Verfügung, inklusive der psychologischen Kraft des Bildes. Gleichzeitig arbeiten Comicschaffende mit einer ganz eigenen piktoralen Ausdrucksweise. Man muss deshalb von Bilderwelten im Plural sprechen, weil sich im Comic unterschiedliche bildliche Zeichensysteme begegnen. Aus einer Leserperspektive ist ein Comic – oder ein Comicabschnitt – ohne Worte oft deutlich intensiver als ein Comic mit verbalem Anteil, da Text auch vom expressiven Potenzial der Bildsprache ablenkt und die bildliche Ebene entlastet.996 Eine Sequenz ohne Text verlangt nicht selten größere Dekodierungsund Deutungsanstrengungen von den Lesenden. Mitunter kann es deshalb zu einer höheren kognitiven Aktivierung führen, wenn der Text von der Lehrkraft zunächst abgedeckt oder gestrichen wird, um allein die Panels zu betrachten und zu interpretieren: Die Einzelheiten der Gestaltung müssen so detaillierter betrachtet werden und die Wahrnehmung intensiviert sich. Dieses Vorgehen ähnelt dem methodischen Repertoire der Filmdidaktik, wenn ein Film(ausschnitt) zuerst ohne Ton rezipiert wird, damit das Arbeitsgedächtnis nicht überfordert wird und Lernende sich besser auf einzelne Aspekte des Bildes konzentrieren können. Eisner erklärt, dass die Handlungen in einer rein visuellen Sprache mehr in den Vordergrund rücken und dadurch – bei entsprechender Mühe des Zeichners – auch eine potenziell größere Wirkung entfalten.997 Ein gutes Beispiel dafür findet sich in Moritz Stetters Comicbiographie Luther998, die thematisch gut im Religionsunterricht eingesetzt werden kann. Der Autor greift, um einen inneren oder metaphysischen Kampf seines Protagonisten darzustellen und gleichzeitig hervorstechen zu lassen, auf der Bildebene zu einigen Kunstgriffen. Die Lesenden sehen den jungen Reformator, wie er 995 Dittmar merkt an, dass ein Comic theoretisch auch auf Bilder verzichten könnte, solange er entsprechend gestaltet und als solcher markiert ist, um noch von anderen Textarten/Medien unterschieden werden zu können (vgl. 2011, S. 42). Künstlerische Ansätze dazu finden sich zum Beispiel in Habibi (2011 ), Markttag (2011) oder auch bei Matt Madden (2005). Es handelt sich dabei aber nur um relativ kurze Passagen und die mediale Form wird durch visuelle Gestaltungsmittel wie die Frames und das konstitutive Element des Rinnsteins durchgehend gewahrt, sodass die bildliche Ebene extrem reduziert, jedoch minimalistisch immer noch vorhanden ist. Auch übernimmt die textuelle Ebene in diesen Fällen Eigenschaften des bildlichen, zum Beispiel durch besonders prägnante Soundwords vor dem schwarzen Panelhintergrund, die in diesem Falle besonders stark wahrgenommen werden und durch die Erzählung führen. 996 Vgl. Eisner, 2008 (a), S. 20. 997 Vgl. 2008 (a), S. 10. 998 Stetter, 2013.

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Abb. 20

gelöst und freudig den Beichtstuhl verlässt, nur um sofort wieder von dämonischen Mächten angefallen und geradezu niedergerungen zu werden (Abb. 20).999 Diese Handlung vollzieht sich in einer Sequenz von nur drei Bildern, was den Eindruck eines schnellen Ablaufes erweckt. Die dargestellten Entitäten gleichen bösartigen Fabelwesen und scheinen in ihrer Gestaltung an die mittelalterliche Ikonographie angelehnt zu sein. Die Rolle von Dämonen und sogar Satan selbst zieht sich auch durch die restliche Comicbiographie. Die Lesenden müssen allerdings selbst zu dieser Deutung gelangen; es gibt genügend Spielraum, um die teilweise schattenhaften Gestalten sowohl als Personifizierungen von Schuldgefühl und Scham als auch als tatsächliche Höllenboten zu interpretieren. Die Sequenz kommt völlig ohne Text oder Sound Words aus und bringt Luthers Ringen deshalb besonders eindrücklich zum Ausdruck. Eine solche Sequenz 999 Goodwin; Burr, 2014.

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schreit natürlich geradezu danach, in den Kontext von Luthers Psyche oder den historischen Kontext, auf den hier angespielt wird, gestellt zu werden, damit Lernende die volle Bedeutung der Sequenz erfassen können. Das Leid des Protagonisten und die Heimtücke der hier auftretenden Kräfte, die sich von hinten anschleichen und ihn niederzuringen drohen, werden durch die Bilder jedoch auch ohne Hintergrundwissen eindrücklich transportiert. Für Schülerinnen besteht nun die Herausforderung darin, sich ihrer affektiven Wahrnehmungen bewusst zu werden, diese zu verbalisieren, eine Interpretation der Sequenz zu wagen und ihre bildlichen Zeichensysteme zu deuten (aus religionspädagogischer Sicht: Wahrnehmungs-, Deutungs- und Darstellungskompetenz). Eine didaktische Aufgabe besteht also in der Rückübersetzung der visuellen Sprache in die verbale.1000 Stetter erzielt seinen Effekt durch ausdrucksstarke, bösartig wirkende und archaisch erscheinende Dämonenfiguren in der Überzahl, aber auch durch andere Mittel, die die Konzentration der Lesenden voll auf den hier dargestellten Schrecken ziehen. So ist der Übergangsmodus ›von Augenblick zu Augenblick‹ der drei Bilder mit einer Darstellung in Zeitlupe zu vergleichen.1001 Dies erinnert vage an ein Gefühl, das mit Traumata einhergeht, nämlich dass hier ein Moment in der Zeit eingefroren wird (und darum kaum überwunden werden kann).1002 Dadurch ergibt sich auch der Eindruck, dass der dargestellte Vorgang absolut nicht zu stoppen wäre. Zudem verharrt das Auge dadurch länger auf der Darstellung, als wenn diese in nur zwei Panels abgerissen wird, sodass auch dem Arbeitsspeicher im Gehirn mehr Zeit für die Verarbeitung eingeräumt und der Leseprozess (und damit das Zeitgefühl!) verlangsamt wird. Gleiches wird durch den Verzicht auf sprachliche Anteile gewährleistet: Die Betrachterin muss die Bilder länger begutachten, um den Vorgang voll zu verstehen. Kein Text ist da, der erklären würde »Kaum hat Luther den Beichtstuhl verlassen, wird er schon wieder von neuen Schuldgefühlen und Ängsten gepackt«, denn damit würde die intensive Betrachtung des Geschehens in dieser Form nicht mehr nötig sein – und die kognitiven Aktivierungseffekte können zurückgehen. Zudem beeinflusst das traumatische Erleben des Helden über die Bildsprache die affektive Wahrnehmungsebene deutlich intensiver; das Unaussprechliche wird bewusst nicht in Worte gefasst, da diese möglicherweise nicht ausreichen würden.1003 Die Folge ist eine gesteigerte emotionale Aktivierung. Durch Stetters Entscheidung, dieser knappen Bildsequenz eine ganze Seite einzuräumen, kann man sich ihrer kaum entziehen; auch durch den Verzicht auf Hintergrundzeichnungen und Frames erscheint das Geschehen unmittelbarer. 1000 1001 1002 1003

Vgl. dazu Lange, 1993, S. 248. Vgl. dazu McCloud, 2001 (b), S. 84. Vgl. Kupcynska, 2013, S. 224. Vgl. dazu auch Oppolzer, 2013, S. 243ff.

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Die Figuren, so erscheint es, werden durch keine Panels im Zaun gehalten und könnten deshalb jederzeit von der Seite auf den Leser überspringen. Der leere Hintergrund illustriert möglicherweise Luthers Gefühl der Vereinzelung und Hilflosigkeit. Die Lesenden werden stärker in das Geschehen hineingezogen, es gibt keinen Ablenkungsraum für das Auge. Weil die dämonischen Figuren wie aus dem Nichts erscheinen, wirken sie umso gefährlicher und unberechenbarer. Dadurch, dass es auf der Bildfläche (fast) keine Verweise auf den historischen Hintergrund der Szene gibt, steigt zudem das Identifikationspotenzial, da eine deutliche bildliche Markierung der historischen Distanz auch eine Distanz zwischen Lesern und Figuren herstellen kann. Möglicherweise ist das Fehlen von räumlichen Darstellungen auch eine Anspielung darauf, dass hier ein Vorgang dargestellt wird, der ein Stück weit jenseits von Raum und Zeit abläuft; dass hier Gestalten auftreten, die entweder aus einer anderen Dimension kommen oder ein seelischer Vorgang gezeigt wird, der unabhängig von einer konkreten Situation immer wieder verläuft. Moritz Stetter verdeutlicht hier eindrucksvoll den Aphorismus Paul Klees, Kunst gäbe nicht das Sichtbare wieder, sondern mache sichtbar.1004 Die Form der dargestellten Szene spiegelt deren Inhalt wider und verstärkt darum die Aussage. Andere Comicschaffende erzielen mit ihren Werken ebenfalls starke Effekte über die bildliche Ebene, es gibt viele visuelle Mittel, um die emotionale Wirkung eines Einzelpanels, einer Sequenz, einer Seite oder eines Gesamtwerkes zu beeinflussen. Viele Schaffende, die sich am ursprünglich europäischen Stil der ›ligne claire‹1005 orientieren, Begründer und damit exzellentes Beispiel ist Hergé (Tim und Struppi), verzichten aber auch auf allzu expressive Zeichnungen im Medium, weshalb viele Menschen mit entsprechenden Lesegewohnheiten damit nicht vertraut sind. Hier finden sich aber andere Effekte, zum Beispiel regen die hier relativ schlicht, beziehungsweise cartoonhaft gehaltenen Figuren besonders zur Identifikation an und die flächigen, klaren Formen und Farben transportieren dazu eine ungewöhnlich große Ruhe.1006 Besonders expressive Zeichnungen, die unmittelbare Emotionen hervorrufen sollen, finden sich beispielsweise bei Künstlerinnen der Independent-Szene(n) und häufig unter Manga-Zeichnerinnen, also Künstlerinnen der ›japanischen Ästhetik‹ im weitesten Sinne – wenn auch nicht nur dort. Diese Strömungen versuchen sich zum Beispiel darin, unsichtbare Faktoren der Geschichte, wie Emotionen der Figuren, durch die 1004 Zit. nach McCloud, 2001 (b), S. 131. 1005 Die Ligne claire bezeichnet eine Stilrichtung im Comic, in der der Zeichner unter anderem von Schraffuren und Schattierungen nur zurückhaltend Gebrauch macht und vielfach auf klare Konturen und flächige Kolorierungen ohne Farbverläufe setzt. Auch Figuren werden dabei vereinfacht dargestellt, was die Übersichtlichkeit in den Panels noch verstärken kann (vgl. auch ebd., S. 44). 1006 Vgl. ebd.

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Hintergrundgestaltung in den Panels auszudrücken.1007 Auch dies ist ein Kniff der »Sprache« des Mediums.1008 Obwohl dem Comic jede Möglichkeit offensteht, nicht-sichtbare und abstrakte Dimensionen der (Erzähl-)Welt mit präzisierenden Worten zu fassen, so wird dafür dennoch immer wieder die bildliche Ebene verwendet. Visuelle und narrative Elemente verschmelzen miteinander.1009 McCloud vergleicht die Gestaltungsmittel mancher Comics dabei mit den Stilmitteln des Impressionismus oder Expressionismus.1010 Tatsächlich scheinen manche Muster oder Farben eine geradezu physiologische Wirkung auf die Betrachtenden auszuüben, der seine Empfindungen dann auf die dargestellten Figuren projiziert.1011 Der Prozess ähnelt dem Konzept der Übertragung aus der Psychoanalyse und macht den Umweg über Sprache, die streng genommen ebenfalls nur abstrakt auf etwas hinweisen kann, vielfach unnötig. Dies mag einer der vielen Gründe sein, warum gerade im Manga durchschnittlich weniger Worte pro Seite zu finden sind als in Werken europäischer Prägung.1012 Die Manga-Fans einer Klasse könnten mit derartigen Stilmitteln bereits vertraut sein, wenn auch eventuell erst vorreflexiv. An dieser bildlichen Ebene des Medium kann sich ein Diskurs über Darstellungsweisen entfalten, der in einer höheren Stufe der Deutungskompetenz münden und zu eigenständigen oder ausgebauten Bildbetrachtungen und größerer Visual Literacy befähigen kann (vgl. auch II 3.2.6). Comicbilder können den Unterricht darum in seiner Kompetenzorientierung bereichern. Durch ihre bildliche Ebene sind Comics damit unmittelbar anschlussfähig für den Kunstunterricht, durch viele bildliche Anlehnungen und nicht zuletzt die comicsprachliche Symbolwelt aber beispielsweise auch für den Religionsunterricht. Viele Religionspädagogen haben zudem schon erste Erfahrungen durch bilddidaktische Ansätze gemacht oder sich im Rahmen der Symboldidaktik bereits mit Zeichen, die über sich selbst hinausweisen, auseinandergesetzt. In einem Unterricht, in dem mit steigender Klassenstufe allzu oft nur bildungssprachliche Kompetenzen und verbal-linguistisches Vermögen verlangt wird, ist es sinnvoll, das Aufgaben- und Arbeitsspektrum, sprich: das Unterrichtsangebot zu verbreitern und stattdessen hin und wieder auch Bilderwelten mit einzubeziehen – zumal diese in der Gegenwart ohnehin eine immer wichtigere Rolle in der Alltagswelt spielen. Möglicherweise ist die Lehrkraft überrascht, was Kinder, die sich sonst wenig im Unterricht hervortun, plötzlich dazu beizusteuern haben, zum Beispiel durch zeichnerisches Können. Je mehr Schüler man aktiviert, desto 1007 1008 1009 1010 1011 1012

Vgl. ebd., S. 140. Frahm, 2010. Vgl. Brunner, 2010, S. 113. Vgl. 2001 (b), S. 130. Vgl. ebd., S. 140. Vgl. Brunner, 2010, S. 64.

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mehr fördert man sie auch und nimmt tendenziell positiven Einfluss auf die emotional-attitudinale Situation einiger Individuen. Die Arbeit mit Comicbildern ist anschlussfähig für diverse Lernstile und Lernpräferenzen und spricht zum Beispiel jene Schülerinnen an, die gut mit Bildern, Farben, Visualisierungen und Zeichnungen arbeiten (vgl. auch II 4.2). Textwelten im Comic Insgesamt werden ästhetische Wirkung, emotionale Effektkraft und narrative Gestaltung im Comic aber eben nicht nur durch Bilder, sondern auch durch Texte und das dazugehörige Zusammenspiel erzielt. Packard et al. erklären, was auch für das Medium in der Schule gilt: »Insbesondere sollte die Comicanalyse nicht in die Falle tappen, die Sprache in Comics aufgrund der Wichtigkeit ihrer Bilder für zweitrangig […] zu halten.«1013 Obwohl viele Autorinnen mit eingeschränkten Seitenvorgaben und begrenzten Sprechblasen zurechtkommen müssen, sind dem sprachlichen Anteil dennoch keine Grenzen gesetzt und viele Comics bestechen durch ihre Texte. Auch Poesie kommt zum Beispiel in Comics vor und das Medium steht der Literatur in der Bandbreite der Gestaltungsmittel kaum nach. Einige Verfasser setzen in ihren Werken sogar auf einen Wechsel von Comic und Prosa, zum Beispiel Alan Moore und Dave Gibbons in ihrer Graphic Novel Watchmen1014. Auch Ari Folman und David Polonsky, die Das Tagebuch der Anne Frank1015 als ›Graphic Diary‹ umgesetzt haben, greifen zu diesem Mittel, um nicht durch Bilder von ausdrucksstarken Worten abzulenken: Im Verlauf des Tagebuchs werden Annes schriftstellerische Talente immer beeindruckender, und als sie sich gegen 1944 unsterblich in Peter verliebt, entfalten ihre Texte nicht mehr nur eine einfühlsame Qualität, sondern zeugen überdies von einer für ihr Alter außergewöhnlicher Lebensklugheit (sic) Es erschien uns unvertretbar, zugunsten von Illustrationen auf sie zu verzichten, daher beschlossen wir, ganze Textseiten unverändert abzudrucken.1016

Wenn in vielen Comics auf Schlichtheit in Sprache (und Bild) gesetzt wird, hat dies eigene Gründe, die nach McCloud den Comic tatsächlich erst zu dem (oft) leicht rezipierenden Erfolgsmedium machten, das es heute ist.1017. Lange und ausführliche Beschreibungen werden im Medium zudem häufig durch präzisierende Bilder ersetzt. Andersherum benötigt aber auch das Bild häufig den Text, um eine genauere Botschaft an den Leser zu formulieren.1018 Sprache kann

1013 1014 1015 1016 1017 1018

Packard; Rauscher; Sina; Thon; Wilde; Wildfeuer, 2019, S. 9. Moore; Gibbons, 1986/1987. Frank; Folman; Polonsky, 2014. Ari Folman in ebd., unpag. Vgl. dazu 2001 (b), 56ff. Vgl. Eisner, 2008 (a), S. 9.

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scheinbar neutralen Bildern eine völlig neue Bedeutung verleihen oder Denkinhalte präzisieren.1019 Das ist besonders bei thematisch komplexen Info- und Wissenschaftscomics von hoher Relevanz. Und wie schon erklärt, wird die Deutung des Dargestellten den Lesenden durch Texte häufig erleichtert. Comics wären deshalb ohne Textanteile wohl nicht zu der gleichen populärkulturellen Bedeutung gekommen, die sie heute haben. Auch komplexe Erzählungen oder die Darstellung präziser kognitiver Vorgänge oder Theorien, wie in Mathieus Gott Höchstselbst1020 oder in Bechdels Are You my Mother?1021, gewinnen durch den Einsatz von Sprache. Bechdel verwendet gekonnt die bildliche Ebene, um zum Beispiel emotionale Bezüge oder Zusammenhänge deutlich zu machen und die Aufmerksamkeit der Leserinnen auf wesentliche Details zu lenken1022; die textuelle Ebene jedoch, oft als Fließtext in Panels gesetzt, in der sie unter anderem theoretische, wissenschaftliche Texte der Psychoanalyse zitiert und verarbeitet, verschafft der Erzählung eine ungewöhnliche Tiefe und Komplexität, was den Comic sicher auch für ein ›intellektuelles Publikum‹, das sich nicht an Textlastigkeit stört, attraktiv gemacht hat (vgl. das Panel in Abb. 21, das nur noch entfernt an das Medium ›Comic‹ erinnert). Ohne fundamentales kulturelles Kapital und bereichsspezifisches Vorwissen ist dieser spezielle Comic nicht immer leicht verständlich. Insgesamt ist es Bechdels klarer, reduzierter, nicht übermäßig expressiver Zeichenstil, der vielen Menschen dennoch die Gelegenheit gibt, das Werk zu rezipieren, ohne sich dabei kognitiv überfordert zu fühlen. Man bedenke: Einem schwierigen Text zu folgen und dabei gleichzeitig noch Bilder wahrnehmen und verarbeiten zu müssen, belastet das Arbeitsgedächtnis erheblich (vgl. II 3.3). Leicht zu erfassende Zeichnungen entlasten. Bechdels Bilder müssen auch nicht übermäßig naturalistisch sein, um Glaubwürdigkeit zu erzeugen, denn Authentizität und Realismus wird über die textuelle Ebene mit vermittelt; ebenso wenig müssen sie (überzeichnete) Emotionen darstellen, da das Innenleben der Heldin bereits durch Worte umfassend ausgedrückt wird. Die textuelle Ebene von Comics ist besonders anschlussfähig für den Literaturunterricht und kann, wenn überhaupt gewünscht, auch zu Werken ›klassischer‹ Literatur überleiten. Ihr ist es zu verdanken, dass die Comicdidaktik auch der Förderung von Lese- und Sprachkompetenzen dienlich sein kann – Felder, die in der Schule eine große Rolle spielen. Sie spricht ferner besonders die Schülerinnen an, die Freude am geschriebenen Wort und an der Gedankenwelt haben. Lernende mit hoher literarischer Kompetenz oder Offenheit für die Welt der Bücher werden besonders gerne auf Arbeitsaufträge reagieren, die sich auf 1019 1020 1021 1022

Vgl. McCloud, 2001 (b), S. 143. Mathieu, 2010. Bechdel, 2012. Vgl. bspw. 2012, 138, 141.

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Abb. 21

die Texte in einem Comic beziehen, zum Beispiel die Dialoge. Dafür müssen diese nicht einmal hoch komplex sein: Wie immer haben sich Materialien und Aufgaben nach dem Stand der Lernenden zu richten. Auch die Arbeit mit Onomatopoetika und Inflektiven in Comics bietet sich an und kann produktiv zu Themenfeldern der Lyrik überleiten. Produktionsorientierte Aufgaben, für die die Lerngruppe auf Basis eines Comics eigene Texte produziert oder auch den Comic selbst ›umschreibt‹, laden zum kreativen Spiel mit Sprache ein. Auch wenn kooperativ ein neuer Comic in der Gruppe entstehen soll, ist es legitim, die Rolle des ›Texters‹ Schülerinnen zu überlassen, die Freude daran haben, sich sprachlich – und möglichst genau – auszudrücken. Gleichzeitig können diese bewusst herausgefordert werden, wenn sie sich stattdessen an der zeichnerischen Ebene eines Comics versuchen müssen. Für zeichnerische Prozesse ist ebenfalls präzises Denken notwendig, Phasen der Planung, Überarbeitung etc. ähneln der Textproduktion, jeder Strich wird im besten Falle mit Sinn und Zweck angesetzt. Gleichzeitig sind dafür ganz andere Kompetenzbereiche notwendig, die entsprechend erwrben werden und aufblühen können. Handlungs- und produktionsorientierte Methoden in der comicgestützten Pädagogik Einige der hier genannten Beispiele fallen in das Feld der handlungsorientierten Methoden/Lernformen und kreativen Aufgaben, für die Comics in der Schule besonders anschlussfähig sind. Das zugehörige Kapitel dieser Arbeit (II 3.2.2), das vor allem das sich daraus ergebende Kompetenzpotenzial untersucht, könnte nicht zuletzt deshalb leicht anders nuanciert auch unter der Überschrift der ›Angebotsvielfalt‹ seinen Platz finden. Meyer, der für Abwechslung auf verschiedenen Unterrichtsebenen plädiert, dürfte derartige Methoden als »Formen des methodischen Handelns im Unterrichtsgeschehen« auf der Mesoebene ein-

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Comics als Chancengeber für die Heterogenität im Unterricht

ordnen.1023 Im Comic sind die (häufig) narrative Natur und das präzisierende Zusammenspiel von Text und Bild die Faktoren, die das Medium besonders anschlussfähig für derartige Lernformen machen. Dazu kommt die Nähe zur Kunstform des Theaters und des Films, was Comics in besonderer Weise für szenisches Lernen und intermediale Auseinandersetzungen öffnet. Der Ursprung handlungsorientierter Methoden liegt in der Kunsterziehungsbewegung.1024 Sie sollen dazu anregen, sich spielerisch in einen emotionalen und kreativen Bezug zum Text zu setzen, um Schülerinnen unterschiedlicher Neigung anzusprechen und einen Gegenimpuls zu anderen Unterrichtsformen zu setzen. Es sollen vor allem solche Schüler angesprochen werden, »die dem üblichen, rational geplanten und im Wesentlichen kognitiv zu vollziehenden Unterricht nicht affin sind.«1025 Sprich: Es geht auch um die Angebotsvielfalt. Die Theorie handlungsorientierter Methoden setzt auf eine starke Schülerorientierung zum Einzelnen hin, auf Möglichkeiten für konkrete Individuen mit spezifischen Begabungen und Bedürfnissen.1026 Dieses Bestreben verbindet handlungsorientierte Methoden mit dem Anliegen pädagogischer Individualisierungsarrangements, auf die an späterer Stelle eingegangen werden soll (vgl. II 4.3). Es lässt sich zusammenfassen: Comics eröffnen produktive Räume für Formen fachübergreifenden Arbeitens. Da Comics zum Beispiel aus literarischer und künstlerischer Perspektive anschlussfähig sind, bietet sich besonders der Deutsch- oder Kunstunterricht als Kooperationspartner an, durch die Thematik (oder Originalsprache) der ausgewählten Werke öffnen sich jedoch auch viele Türen für andere Fächer. Im Unterricht gezielt mit Comics zu arbeiten, erhöht tendenziell die Medienvielfalt und bewahrt davor, für eine breitere Medienauswahl allein auf die Möglichkeiten digitaler Welten zurückzugreifen. Gerade wenn Comics häufiger eingesetzt werden sollen, sei dazu geraten, in Auswahl der Künstler, Gattungen und Genres zu variieren und außerdem Formen narrativen Lernens wegen ihrer Produktivität in Betracht zu ziehen. Ebenso sollte nicht allein die bildliche oder die textuelle Ebene von Comics thematisiert werden – beide Zeichensysteme können aber jeweils unterschiedliche Tore für didaktische Arbeitsformen eröffnen und haben ihre ganz eigene Ausdruckskraft, die es mit den Lernenden zu erforschen gilt.

1023 1024 1025 1026

Vgl. 2010, S. 76. Vgl. Haas, 1997, S. 33; Waldmann, 2013, S. 53. Waldmann, 2013, S. 53. Vgl. ebd.

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Und schließlich sind Comics unendlich anschlussfähig für diverse Formen des kreativen Arbeitens im Rahmen handlungs- oder produktionsorientierter Methoden. Im Folgenden soll nun auf Schülergruppen verwiesen werden, die in besonderer Weise von einer gesteigerten Angebotsvielfalt durch comicdidaktische Zugänge profitieren. Es sind jene, die im (Religions-)Unterricht nicht ihr volles Kompetenzpotenzial entfalten können, weil sie ungewöhnlich große motivational-attitudinale Barrieren zu überwinden haben oder aber Gaben/Intelligenzbereiche und Neigungen zu bestimmten Lernstilen aufweisen, denen im Fachunterricht in der Regel keine Aufmerksamkeit geschenkt wird.

4.2

Vielfalt adressieren

Mithilfe von Comics können teilweise ganz neue Anregungen ins Unterrichtsgeschehen geholt werden: Plötzlich steht vielleicht nicht nur ein neues Medium im Mittelpunkt, es muss von den Schülerinnen auch anders kognitiv verarbeitet werden als andere Unterrichtsmedien, es erfordert ungewöhnliche methodische Anschlüsse und gibt zum Beispiel durch die bildliche Ebene Anlass zu neuen Zugängen. Solche frischen Angebotsimpulse im Unterricht bieten einen neuen Anknüpfungspunkt zum Beispiel für diejenigen Schüler, die durch viele Misserfolge in der Schule demotiviert sind und dringend neue Impulse brauchen. Zusätzlich bieten sich neue Chancen für diejenigen Lernenden, deren individuellen Neigungen und Lernstilpräferenzen im Fachunterricht sonst wenig Rechnung getragen wird und die durch bestimmte Impulse der Comicdidaktik aktiviert werden könnten. Diese beiden Gruppen sollen hier deshalb erwähnt werden, weil sie in der Aufzählung von statistischen ›Risikogruppen‹ in der Regel übersehen werden, im Schulalltag aber durchaus benachteiligt sein können, wenn sie im Unterricht zu wenig angesprochen werden. Um die Relevanz deutlich zu machen, die die Förderung auch dieser Kinder betrifft, wird zuallererst ein religionspädagogischer Vergleich herangezogen. Es ist denkbar, dass Prengels Ansatz einer ›Pädagogik der Vielfalt‹ gerade in der Religionspädagogik so offen rezipiert und aufgenommen wurde, weil hier eine bestimmte paulinische Metapher anklingt, die erklären soll, wie wichtig Vielfalt in der Gemeinde ist.1027 Ebenso wie der körperliche Leib viele Glieder hat, die zwar unterschiedlich sind, aber zusammenwirken müssen, so gibt es auch in der Gemeinde viele

1027 Poel, unpag.

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verschiedene Menschen mit unterschiedlichen Gaben – sie alle tragen jedoch dieselbe Würde.1028 Denn wie der Leib einer ist und hat doch viele Glieder, alle Glieder des Leibes aber, obwohl sie viele sind, doch ein Leib sind: so auch Christus. Denn wir sind durch einen Geist alle zu einem Leib getauft, wir seien Juden oder Griechen, Sklaven oder Freie, und sind alle mit einem Geist getränkt. Denn auch der Leib ist nicht ein Glied, sondern viele. Wenn nun der Fuß spräche: Ich bin keine Hand, darum gehöre ich nicht zum Leib!, gehört er deshalb etwa nicht zum Leib? Und wenn das Ohr spräche: Ich bin kein Auge, darum gehöre ich nicht zum Leib!, gehört es deshalb etwa nicht zum Leib? Wenn der ganze Leib Auge wäre, wo bliebe das Gehör? Wenn er ganz Gehör wäre, wo bliebe der Geruch? Nun aber hat Gott die Glieder eingesetzt, ein jedes von ihnen im Leib, so wie er gewollt hat. Wenn aber alle Glieder ein Glied wären, wo bliebe der Leib? Nun aber sind es viele Glieder, aber der Leib ist einer. Das Auge kann nicht sagen zu der Hand: Ich brauche dich nicht; oder wiederum das Haupt zu den Füßen: Ich brauche euch nicht. Vielmehr sind die Glieder des Leibes, die uns schwächer erscheinen, die nötigsten; und die uns weniger ehrbar erscheinen, die umkleiden wir mit besonderer Ehre; und die wenig ansehnlich sind, haben bei uns besonderes Ansehen; denn was an uns ansehnlich ist, bedarf dessen nicht. Aber Gott hat den Leib zusammengefügt und dem geringeren Glied höhere Ehre gegeben, auf dass im Leib keine Spaltung sei, sondern die Glieder einträchtig füreinander sorgen. Und wenn ein Glied leidet, so leiden alle Glieder mit, und wenn ein Glied geehrt wird, so freuen sich alle Glieder mit. (1 Kor 12, 12–26)

Im Kontext von Heterogenitätsanerkennung durch Angebotsvielfalt ist dieser Abschnitt aus dem ersten Korintherbrief sehr hilfreich, um einige Zusammenhänge zu verdeutlichen. Dabei geht es zwar eigentlich um die Gemeinde/den Leib Christi (1 Kor 12, 27), jedoch könnte man das Bild problemlos auf eine Klassengemeinschaft übertragen, in der so viele Kinder und Jugendliche sitzen, die dennoch ein Ganzes bilden: Jedes Kind bringt unterschiedliches Wissen, unterschiedliche Gaben und Interessen mit, aber keines ist wichtiger als das andere und keine Gabe sollte herabgewürdigt werden. Im Grunde können sich auch die Lehrkräfte nicht aus diesem Zusammenhang lösen; sie sind Teil dieser Gemeinschaft und im besten Falle der ›Kopf‹ des Unternehmens. Deshalb kommt es ihnen zu, auch für das Wohl der Mit-Glieder Sorge zu tragen, die in einer weniger privilegierten Position sind. In erster Linie geht es dabei um die Anerkennung, dass Mit-Glieder einer Klasse einfach sehr unterschiedlich sind. Dabei sollte klar sein, dass man Menschen nicht auf die wenigen in der Schule oder gar im Fach geforderten Kompetenzen reduzieren kann: Ein Kind, das der Lehrkraft in der einen Stunde nur wegen seines geringen thematischen Vorwissens auffällt, erweist sich 45 Minuten später in der Pause vielleicht als grandioses Talent im Fußballspielen. Der Junge mit Schwierigkeiten im Textverstehen hat gleichzeitig erstaunliche soziale und 1028 Vgl. ebd.

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pädagogische Kompetenzen aufgebaut, wenn es darum geht, souverän auf die kleinen Geschwister aufzupassen – ein Umstand, von dem seine Lehrkräfte vielleicht niemals etwas erfahren. Das Mädchen, dem es nicht gelingt, sich nach den Kriterien der sogenannten ›Bildungssprache‹ flüssig auszudrücken, besitzt möglicherweise finanzielle Kompetenzen, an die ihre Mitschülerinnen nicht im Entferntesten heranreichen, weil sie gelernt hat, mit sehr beschränkten monetären Ressourcen ihren Alltag zu meistern. Im Rahmen solcher Überlegungen ist es sinnvoll, Howard Gardners Theorie der ›Multiplen Intelligenzen‹ hinzuzuziehen.

4.2.1 Begabungen aufdecken Gardner hat sich in seiner ›Theory of Multiple Intelligences‹ globalen Intelligenzverständnissen entgegengestellt und erklärt, dass es verschiedene Bereiche gibt, in denen Menschen unterschiedlich intelligent handeln und Informationen verarbeiten können: »each human being is capable of seven relatively independent forms of information processing«, wobei sich die Neigungen des Individuums oft schon im Kleinkindalter bemerkbar machen.1029 Später hat der Autor dann noch eine achte Intelligenzform erschlossen. Man kann gegen dieses Intelligenzverständnis durchaus berechtigte Vorbehalte haben: Erstens darf man die Vorstellung, manche Kinder seien einfach begabter als andere, nicht zum Grund nehmen, doch der ›Begabungsideologie‹ zu folgen, die rechtfertigt, viele Kinder von kultureller Teilhabe auszuschließen, weil (bereichsspezifischer) Intelligenzmangel vorgeschoben wird.1030 Zweitens hat die Psychologie aus verschiedenen Gründen eine ablehnende Auffassung gegenüber diesem Intelligenzverständnis gewonnen und sieht zu wenig empirischen Anhalt dafür. Aber: In der Schulpädagogik jedoch wird das Modell weiterhin rezipiert, da viele aufmerksame Lehrkräfte derartige Verschiedenartigkeit in ihrem Klassenzimmer ständig vor Augen haben.1031 Zudem kann man Gardners Konzept zum Anlass nehmen, um produktiv schulische Prioritäten und Vermittlungswege in Frage zu stellen. 1029 Gardner; Hatch, 1989, 4, 8. 1030 Bourdieus Konzept von der ›Begabungsideologie‹ fasst die gängige Meinung zusammen, dass nicht etwa der Habitus oder das familiäre kulturelle Kapital für schulische Erfolge verantwortlich sind, sondern die individuelle Begabung und Intelligenz. Er fordert Verantwortliche im Schulsystem deshalb heraus: »Die Begabungsideologie, Grundvoraussetzung des Schul- und Gesellschaftssystems, bietet nicht nur der [Bildungs-]Elite die Möglichkeit, sich in ihrem Dasein gerechtfertigt zu sehen, sie trägt auch dazu bei, den Angehörigen der benachteiligten Klassen das Schicksal, das ihnen die Gesellschaft beschieden hat, als unentrinnbar erscheinen zu lassen.« (2001, S. 46.) 1031 Vgl. Haines (b), unpag.

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Anhänger von Gardners Theorie identifizieren mindestens acht Intelligenzbereiche, die bei jedem Menschen in unterschiedlicher Kombination ausgeprägt sein können: Die sprachlich-linguistische, logisch-mathematische, musikalischrhythmische, bildlich-räumliche, körperlich-kinästhetische, naturalistische, interpersonale/soziale und die intrapersonelle Intelligenz. (Letztere dreht sich um die Fähigkeit, sich selbst einzuschätzen und Konsequenzen daraus zu ziehen. Menschen mit ausgeprägter intrapersoneller Intelligenz kennen sich selbst sehr gut und besitzen ein gesteigertes Potenzial zur Selbstreflexion, was auch in Lernkontexten hilfreich sein kann.) Diesen verschiedenen Bereichen wird im gegenwärtigen Schulsystem nicht ein und dieselbe Anerkennung entgegengebracht. Analog zur Leibes-Metapher könnte man sagen, dass einigen Gliedern mit ihren Gaben besonders viel Aufmerksamkeit zukommt, während andere Glieder Gaben aufweisen, die im schulischen Kontext deutlich geringer geschätzt werden. Konkret: Für den schulischen Erfolg gelten vor allem zwei Bereiche, in denen die Lernenden erfolgreich sein müssen, nämlich die sprachlich-linguistische (in Fächern wie Deutsch, Englisch, Spanisch, Latein und überall dort, wo Kompetenzen durch Texte und Sprache vermittelt werden1032) und die logischmathematische Intelligenz (in Fächern wie Mathematik und Physik). Gerade diese sprachlich-linguistische Fähigkeit beziehungsweise das bildungssprachliche Register wird stark in der Herkunftsfamilie geprägt, ist also abhängig vom kulturellen Kapital sowie Habitus der Erziehenden und deren Umfeld, um sich voll entfalten zu können. Sprachkompetenz ist vielmehr erworben als angeboren. Dies gilt teilweise auch für andere ›Intelligenzbereiche‹, die stark ausgeprägt sein/ erscheinen können, weil eine frühe Förderung stattgefunden hat. In jedem Falle werden diese Neigungen im Bildungssystem nicht als gleichwertig anerkannt. Andere Fähigkeiten und Intelligenzbereiche als die mathematische und sprachliche, wie die musikalisch-rhythmische, gelten nur in ›Nebenfächern‹ und determinieren deshalb keinen Bildungserfolg.1033 Das hat vor allem kulturelle Gründe.1034 Denn in einer Jäger-Sammler-Gesellschaft zählen verständlicherweise ganz andere Intelligenzbereiche. Auch die Ermittlung des (kulturell gebundenen) Intelligenzquotienten, der oft so objektiv erscheint, stützt sich fast nur auf diese Sparten. Die Folge ist ein recht enger Intelligenzbegriff: Most definitions of intelligence focus on the capacities that are important for success in school. Problem solving is recognized as a crucial component, but the ability to fashion

1032 Da gleich zwei (Haupt-)Fächer mit erhöhter Stundenzahl im sprachlich-linguistischen Anforderungsbereich liegen, ist eine geringe Begabung in speziell diesem Bereich möglicherweise besonders risikobehaftet. 1033 Vgl. Gardner; Hatch, 1989, S. 5. 1034 Vgl. Gardner, 1999, 33f.

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a product – to write a symphony, execute a painting, stage a play, build up and manage an organization, carry out an experiment – is not included.1035

Das lässt an derartigen Verfahren zweifeln. Auch Denig erklärt: »Intelligence is more that a score on a typical standardized pencil-and-paper test used to predict success in school. Such traditional intelligence texts do not measure the ability of a chess player, an athlete, or a master violinist.«1036 Für die Religionspädagogik ist nicht uninteressant, dass Gardner in einer späteren Veröffentlichung erwogen hat, seiner Theorie die Kategorie der »spirituellen« und »existenziellen/moralischen« Intelligenz hinzuzufügen, wobei nur die letztere, die etwas enger gefasst ist, seiner eigenen Definition für ›Intelligenzbereiche‹ gerecht werden konnte.1037 Diese könnte im Religionsunterricht durchaus zu einem wichtigen Faktor werden – ihr widerfährt am Ende aber das gleiche Schicksal wie der musikalischen oder körperlich-kinästhetischen Intelligenz: Schulisch lässt sie sich vor allem in einem Nebenfach in Kapital umwandeln.

4.2.2 Lernstilen entgegenkommen Selbst wenn man Gardners Theorie der bereichsspezifischen Intelligenz (oder: Begabung) ablehnt, so ist doch nicht von der Hand zu weisen, dass Heranwachsende unterschiedliche Interessen und Präferenzen dafür haben, wie sie sich mit welchem Gegenstand auseinandersetzen wollen. Diese sind auch für die Identitätskonstruktion von nicht unwesentlicher Bedeutung. Freilich legt man oft auch hohe Kompetenzen in einem Bereich an den Tag, der Freude bereitet, während gleichzeitig besonders Tätigkeiten oder Gegenstände Freude bereiten, die leicht fallen oder mit denen man sich auskennt. Religionslehrer und andere Lehrpersonen, die sich vor allem in späteren Klassenstufen immer mehr auf das sprachliche Vermögen ihrer Schüler stützen, zum Beispiel aufgrund der umfangreichen Fachtexte und Primärquellen, schriftlichen Tests und Klausuren, könnten davon profitieren, den Blick auf Fähigkeiten außerhalb des linguistischen Spektrums zu lenken und den Raum methodisch zu öffnen, so dass sich auch Schülerinnen mit anderen Neigungen oder schlicht: Interessen einbringen können. Hierin versteckt sich ein fundamentaler Einstellungswandel dahingehend, Verschiedenheit als Chance und nicht als zusätzliche Belastung zu sehen, 1035 Gardner; Hatch, 1989, S. 5. 1036 Denig, 2004, S. 98. Denig verweist hier mit dem Geigen- und Schachspielen leider nur auf Professionen beziehungsweise Freizeitaktivitäten, die in der Regel vor allem Heranwachsenden mit hohen kulturellen oder ökonomischen Ressourcen zu Verfügung stehen. Prinzipiell hat er aber recht. 1037 Vgl. Gardner, 1999, S. 64.

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indem man viele verschiedene Gaben und Fähigkeiten zur Bereicherung in den Unterricht holt.1038 Im Rahmen des comicgestützten Unterrichts kann man zum Beispiel lernen, die ›comics literacy‹, die Individuen mitbringen, als ›skill set‹ und Kompetenz zu schätzen (vgl. II 3.2.1). Die Comicrezeption ist mit anspruchsvollen kognitiven Prozessen verbunden und gerade, wenn Menschen auch komplexe und ›schwierige‹ Comics lesen und verstehen können, kann in zahlreichen Fächern darauf aufgebaut werden. Auch eine künstlerische Begabung, die sich darin äußern kann, Inhalte in Comicform multimodal darzustellen, kann im Zuge comicorientierten Arbeitens natürlich zum Vorteil gereichen. Indem man an Interessen und Begabungen anknüpft, denen die Schülerinnen auch oder vor allem in ihrer Freizeit nachgehen, holt man auch gewisse außerschulische Bestände in der Unterricht, was eine vernetzende und aktivierende Wirkung haben kann.1039 Menschen mit Erfolgen in unterschiedlichen Intelligenzbereichen können unterschiedliche Lernstile haben, die diesen entsprechen. Dieser Umstand lässt sich durch die comicdidaktische Ansätze aufgreifen. Ein ›Lernstil‹ nach der Theorie von Dunn und Dunn beschreibt die Art und Weise, wie Lernende sich auf neuen und/oder anspruchsvollen Lernstoff am besten konzentrieren können, wie sie ihn optimal verarbeiten und verinnerlichen.1040 Dunn erklärt: »Everybody has a learning style, and everybody has learning style strengths. Different people just have different strengths.«1041 Diese Lernstil-Präferenzen werden von vielen unterschiedlichen Determinanten geprägt, wobei diese bei richtiger Passung die Effektivität von individuellen Lernprozessen erhöhen können. Die individuelle optimale Lernweise entdeckt zu haben, ist ein wertvolles Kapital, das Auswirkungen bis in die Hochschulbildung hinein haben kann. Manche Menschen müssen am Schreibtisch lernen, andere lernen besser auf der Couch; manche präferieren dabei eine vorgegebene Struktur, andere müssen ihren eigenen Weg suchen; manche Kinder lernen am besten in der Peer-Gruppe, andere zu zweit mit einem Erwachsenen, wieder andere allein. Zahlreiche Studien haben belegt, dass Heranwachsende bessere Lerneffekte erzielen, wenn man ihnen hilft, sich ihrer Präferenzen und Stärken bewusst zu werden und ihnen die Möglichkeit gibt, auch genauso zu arbeiten.1042 Da dies in unserem Bildungssystem aber nicht vorgesehen ist, ist es sinnvoll, individualisierende Lernwege zu ermöglichen – oder aber die Methoden-, Medien- und allgemeine Angebotsvielfalt zu erhöhen, damit nicht immer nur die gleichen Lernwege zu Verfügung gestellt werden und stattdessen jede und jeder einmal besonders angesprochen wird. Das Modell der 1038 1039 1040 1041 1042

Vgl. Helmke, 2009, S. 253. Vgl. dazu ebd., S. 255. Vgl. Denig, 2004, S. 101. 1990, S. 15. Vgl. Denig, 2004, S. 106.

Vielfalt adressieren

265

20 Faktoren für Lernstile nach Dunn und Dunn stellt dafür Ideen und Impulse bereit. Wichtig ist, dass es einen Zusammenhang zwischen Gardners Intelligenzmodell und Dunn und Dunns Lerntypen-Theorie geben könnte.1043 Comicgestütztes Unterrichten kommt Lernenden entgegen die sich neues Wissen am besten durch Lesen beziehungsweise das geschriebene Wort aneignen. Schließlich zeichnen sich die meisten Comics durch einen textuellen Anteil aus. Dies sind dann Schüler, die verbal-linguistisch im Vorteil sind und ohnehin in der Schule gewisse Erfolge liefern sollten. Comics verlangsamen also den Lernerfolg dieser Gruppe nicht. Der Einsazu von Comics dient möglicherweise aber auch räumlich-/bildlich-intelligenten Schülerinnen, deren Stärke im Religionsunterricht sonst weniger berücksichtigt wird, denn diese lernen womöglich am besten mit Bildern und Farben, mit Visualisierungen und Zeichnungen oder Text-BildKombinationen, wie sie in Comics die Regel sind. Für diese Heranwachsenden sind Werke, die sehr viel Text und/oder eine eher reduzierte bildliche Ebene enthalten (etwa Bechdels Are You my Mother?), wahrscheinlich weniger ansprechend als solche, die die volle Ausdruckskraft des Bildes und der Farbe nutzen. In dieser Gruppe finden sich wahrscheinlich auch die meisten Individuen, die (natürlich nie sämtliche) Lernstoffe am besten auf der visuellen Ebene wahr- und aufnehmen, sodass Comics für sie optimale Lernmedien darstellen. Menschen, die sich Neues hin und wieder gerne auditiv erschließen, werden auf den ersten Blick weniger angesprochen, nehmen möglicherweise aber die »Audio-Visualität« von Comics besonders intensiv wahr und könnten dadurch Diskussionen um den Comic bereichern.1044 Kreative-handlungsorientierte Ansätze der Comicdidaktik können aber auch diejenigen ansprechen, die die meisten Lernerfolge zeigen, wenn es ihnen gelingt, den Lernstoff auf einer taktilen Ebene, mit den Händen zu erfassen, also zum Beispiel mit Papier und Stift zu arbeiten, zu skizzieren, zu schreiben – oder ihn in Comicform fließen zu lassen.1045 Gerade in Bezug auf letzteres sei auf das Kapitel zu kreativ-produktiven Lernwegen verwiesen, deren aktivierendes Potenzial dort ausführlich beschrieben ist und die auch zur Konsolidierung von Lerninhalten eingesetzt werden können (vgl. II 3.2.2). Schließlich kommt die Rezeption von Comics Lernern mit intrapersonaler Intelligenz entgegen, also denen, die sich gut auf sich selbst konzentrieren, am besten alleine und in ihrem eigenen Tempo arbeiten und Überlegungen anstellen, denn diese können bei der Comicrezeption ihrem eigenen Tempo folgen.1046 Interpersonell begabte Menschen, die möglicherweise 1043 1044 1045 1046

Vgl. im Folgenden dazu Nelson, 1998; Denig, 2004, S. 107. Bachmann, 2014, S. 9. Vgl. dazu Denig, 2004, S. 102. Vgl. dazu ebd., S. 107.

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Comics als Chancengeber für die Heterogenität im Unterricht

eine besondere Affinität zu sozio-konstruktivistischen Lernprozessen haben, profitieren von kooperativen Lernformen mit Austausch und Diskussionen. Sie scheinen auf den ersten Blick vom comicgestützten Unterricht nicht sehr zu profitieren – wenn diese sich nicht gleichzeitig so gut dafür eignen würde, soziale Anschlusskommunikation zu initiieren (vgl II 4.3).

4.2.3 Selbstvertrauen stärken Anhand von Paulus’ ›Leibes-Metapher‹ lässt sich ein weiteres pädagogisches Problem nachzeichnen: Es gibt Glieder, die Schaden genommen haben, sodass sie sich nicht mehr als Teil des Ganzen wahrnehmen können. Die Verse 15–20 zeigen, dass Menschen sich der Gemeinde kaum zugehörig fühlen können, wenn ihr Selbstwertgefühl sehr niedrig ist und sie ihre eigenen Gaben zu geringschätzen.1047 Dieses Phänomen ist auch in Bildungskontexten nicht unbekannt. Für viele Schüler geht es dabei um motivational-attitudinale Einstellungen. Ein erhöhtes Risiko, in der Schule zu versagen, haben nämlich die Heranwachsenden, die schon so viele problematische Erfahrungen im Komplex Schule oder einem bestimmten Fach gemacht haben, dass ihr Selbstbild Lernerfolge erschwert, deren Selbstvertrauen niedrig, deren Einstellung zum Lernen und der Schule annährend konstant negativ ist, die keine Frustrationstoleranz mehr haben und bei den ersten Schwierigkeiten aufgeben (müssen). Es ist auch die Gruppe von Schülerinnen, deren Neigungen, Begabungen und Interessen in der Schule keinen Platz finden. Das eine führt zum anderen und so entstandene schulische Schwierigkeiten verstärken die Mutlosigkeit nur noch weiter. Da Emotionen einen großen Einfluss auf Lernprozesse nehmen und Erfolgszuversichtlichkeit die Lerneffektivität deutlich erhöht, könnte man hier womöglich von einer ›kognitiv-emotionalen Benachteiligung‹ sprechen. Die Gründe rühren nicht selten aus pädagogischen Fehlern von Lehrern, Eltern und der restlichen Umwelt. Gelegentlich sind Schülerinnen mit Schwierigkeiten in schulischen Feldern auch Mobbing durch ihre Peers ausgesetzt, was die Problematik verstärkt. Diese Gruppe von Schülern wird immer wieder übersehen und dadurch zu einer Risikogruppe, die im Dunkeln und jenseits von statistischen Befunden steht, da diese die individuelle Psyche der Lernenden nicht erfassen und sie Teil aller möglichen Milieuund Herkunftsgruppen sind. Nicht alle Heranwachsenden, die mit derartigen Hürden zu kämpfen oder auch schon längst die Waffen gestreckt haben, werden von den Lehrerinnen als solche erkannt. Erschwert wird die Sache dadurch, dass Jugendliche auch dazu tendieren, Gründe für ihre Misserfolge zu tarnen und 1047 Vgl. Preuß; Berger, 2003, S. 315; Poel.

Vielfalt adressieren

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Hilfsangebote ablehnen. Manchmal scheint man auf Granit zu stoßen. Auch können tief verankerte Verhaltens- und Denkweisen auch mithilfe von bemühten Lehrern nicht immer und keinesfalls über Nacht abgelegt werden. In Bezug auf manche Lerner müssen vielleicht auch Ansprüche heruntergefahren werden. Trotzdem lohnt es sich, Gegenimpulse zu setzen – nicht nur durch eine positive Beeinflussung des Unterrichtsklimas, sondern auch durch didaktische und methodische Entscheidungen. Es kann tatsächlich auch etwas Linderung schaffen, den Unterricht für neue Zugänge zu öffnen, sprich: die Vielfalt der Unterrichtsangebote bewusst zu erhöhen. Der Einsatz von Medien wie Comics schafft neue Chancen und Zugänge, sofern man sich dazu den didaktischen Möglichkeiten, die genuin (nur) hieraus erwachsen, ebenso öffnet. Eine überraschungsoffene Grundhaltung ist daher Voraussetzung bei den Lehrenden. Dadurch können Schüler angesprochen werden, die sich bisher nicht motiviert gefühlt haben, sich aktiv in den Unterricht einzubringen, zum Beispiel weil sie mit den üblichen Aufgabentypen schlechte Erfahrungen gemacht haben, von den regulären Instruktionsmedien schwer gelangweilt sind oder sich bis dato dachten: ›In diesem Fach wird immer dasselbe gemacht – und das ist gerade etwas, was ich nicht kann.‹ An dieser Stelle bietet sich eine Metapher aus der Wirtschaftstheorie an: So wie auf dem freien Markt häufig erst das Angebot eine Nachfrage dafür generiert, so kann zuweilen erst das passende Unterrichtsangebot das Interesse der Schülerinnen (im Sinne einer ›Nachfrage‹) wecken. Gleichzeitig nimmt in der freien Marktwirtschaft die Nachfrage deutlich Einfluss auf das Angebot, sprich: interessierte Schüler inspirieren auch ihre Lehrenden dazu, einen immer ›besseren‹ und angebotsreichen Unterricht anzubieten. Lehrende und Lernende können durch vielfältige Unterrichtsangebote also in einen konstruktiven Zirkel eintreten, in dem sich die Parteien gegenseitig Aufmerksamkeit schenken und so bestärken. Freilich garantiert all dies nicht, dass nun niemand mehr in der Lerngruppe zurückgelassen wird. Aber es ist unbestritten ein Anfang, der durch Comics in der Schule gemacht werden kann. Es wurde nun dargestellt, welche Relevanz Vielfalt im Klassenzimmer hat und wie comicdidaktische Ansätze genutzt werden können, um diese stärker zu adressieren. Dabei sollte besonders auf die Heranwachsenden ein Blick geworfen werden, deren Gaben und Interessen im Fachunterricht tendenziell zu geringgeschätzt werden. Paulus’ Leibes-Metapher, die nicht nur im theologischen Kontext, sondern auch als Angelpunkt inklusiver Bestrebungen und aus der Perspektive der Pädagogik der Vielfalt hohen Wert hat, drängt auch unabhängig von ihrem Entstehungskontext zu mehr Zusammenhalt in (Lern-)Gruppen, zur Kooperation in Vielfalt und zur Entfaltung all jener Neigungen, die Individuen mit an den Tisch bringen. Darum soll als nächstes dargestellt werden, welches Potenzial comicdidaktisches Arbeiten in individualisierenden und kooperativen Arrangements entfalten kann.

268

4.3

Comics als Chancengeber für die Heterogenität im Unterricht

Kooperativ lernen und individuell wachsen

Zwei produktive Strategien im Umgang mit der Vielfalt unter den Lernenden sind individualisierende Lern- und kooperative Unterrichtsformen. Durch das große Möglichkeitsspektrum, das die Arbeit mit Comics eröffnet, ist sie für solche Formen des Arbeitens sehr anschlussfähig. Im Folgenden soll deshalb zum einen exemplarisch gezeigt werden, wie Comics für individualisierende Lehrstile und Formen adaptiven Unterrichts genutzt werden können. Zum anderen wird anhand eines konkreten Beispiels aufgezeigt, wie Comics sozial aktivieren und wie mithilfe des Mediums effektives kooperatives Lernen gestaltet werden kann. Individualisierte Lernformen stehen in der Schulpädagogik hoch im Kurs. Macgilchrist erklärt: »Es ist die fast unumstrittene best practice im heutigen Schulalltag, die darauf zielt eigenständige, selbstbestimmte und sich selbstregulierende und -managende Schüler/innen-Subjekte zu fördern bzw. zu formen.«1048 Zusätzlich dienen individualisierende Unterrichtsprozesse dem Zweck, Leistungsunterschiede in der Klasse nicht zu ignorieren oder Lernende dazu zu zwingen, sich stumm den Anforderungen des Unterrichts zu fügen, sondern stattdessen unterschiedliche Lernvoraussetzungen als solche wahrzunehmen und adaptive Unterrichtsformen zu entwickeln, die auf die Voraussetzungen in der Klasse ausgerichtet sind.1049 So kann man aktiv auf Heterogenität reagieren, indem man den Unterricht bzw. die Lehrstrategie an die lernrelevanten Unterschiede zwischen den Schülerinnen anpasst, um ihre Lernfortschritte zu verbessern und auch den benachteiligten Schülern zu eröffnen, wieder zu einer subjektiven Überzeugung persönlicher Selbstwirksamkeit zu gelangen. Hier klingt an, dass man eben auch diejenigen Heranwachsenden wahrnehmen sollte, die kognitiv-emotional benachteiligt sind, weil sie zu einer geringen (und deshalb nicht unrealistischen) Erfolgszuversichtlichkeit geführt wurden, vgl. II 4.2). Ein Stück weiter geht nur noch die ›proaktive Reaktionsform‹, die auf die Vielfalt im Klassenzimmer eingeht, indem die Lernenden als Individuen ganz gezielt durch individualisierende Lehrstile gefördert werden. Nach Leutner kann eine derartige Unterrichtsadaption drei verschiedenen Zwecken dienen, die allesamt auch mit comicdidaktischen Ansätzen angestrebt werden können: Im Fördermodell wird zusätzlicher Unterricht genutzt, um auszugleichen, was Fachlehrer als ›Kompetenzdefizite‹ oder ›Schwächen‹ bezeichnen. Dadurch erhalten Schülerinnen mehr quantitative Lernzeit (wodurch der Faktor ›Lernzeit‹ adaptiv gehalten wird) und oft auch zusätzliche FörderMaterialien: Zum Beispiel wäre es möglich, mit Lernenden, deren Lesekompetenz nicht dem Bildungshabitus entspricht, jede Woche einen Abstecher in die 1048 2012, S. 191. 1049 Vgl. Weinert, 1997, 51f.

Kooperativ lernen und individuell wachsen

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Bibliothek der Schule zu machen, wo die Kinder und Jugendlichen Zeit mit Lesestoff verbringen können, der sie außerhalb des Unterrichtes anspricht. In Kapitel II 3.2.5 sollte bereits klargeworden sein, dass dazu unbedingt auch Comics bereitstehen sollten. Auf diese Weise verbreitert sich das Angebot an Arbeits- und Übungsmaterialien für die Lernenden. Trotz des tendenziell abschätzigen Namens ›Fördermodell‹ und der nicht unbegründeten Anschuldigung, dies sei nur ein erneuter Versuch, Schüler dem Unterricht anzupassen und nicht umgekehrt, kann das ›Fördermodell‹ im Anliegen, kulturelles Kapital gezielt zu vermehren, durchaus hilfreich sein. Im Rahmen des Beispiels könnte man im Grunde auch formulieren: Hier wird im Fördermodell nicht Lernenden mit ›mangelnder‹ Lesekompetenz, sondern vor allem der mangelhaften Leseförderung der vorausgehenden Schuljahre nachgeholfen, indem man versäumte Motivationsprozesse nachträglich anstößt (freilich leider auf Zeitkosten der Schüler, liegt Förderunterricht doch häufig am Nachmittag). Ähnliche Ziele wie Förderunterricht hat das ›Kompensationsmodell‹: Auch hier geht es um sogenannte ›defizitäre‹ Lern- und Leistungsvoraussetzungen des Individuums, die positiv beeinflusst werden sollen. Dabei wird jedoch keine zusätzliche Lernzeit beansprucht, denn der individualisierende Aspekt findet im regulären Unterricht statt. Schwierigkeiten werden zum Beispiel durch ›Tippkarten‹ ausgeglichen. Zudem sollen auch emotionale Einstellungen eine Rolle spielen, zum Beispiel eine niedrige Lernmotivation oder auch ein geringes Selbstvertrauen von Kindern und Jugendlichen. Der Fachunterricht wird angepasst, um ihnen einen Schritt entgegenzukommen. Es entspräche dem Kompensationsmodell, Schülern binnendifferenzierend/individualisierend neben einem Lehrbuchtext auch einen inhaltlich gleichen Comic zur Verfügung zu stellen, wie etwa im Kapitel ›Wissen und Vorwissen aufbauen‹ (II 3.2.3) am Beispiel eines Gleichnisses im Religionsunterricht erläutert wurde. Dadurch erhalten Lernende Angebote, um die mangelnde bildungssprachliche Förderung/ fachbezogene Sprachförderung der vorangehenden Jahre etwas auszugleichen und sich dadurch mehr auf die Inhalte des Fachunterrichtes konzentrieren zu können. Comics können aber auch im ›Präferenzmodell‹ eingesetzt werden, in dem keine zu kompensierenden ›Schwächen‹ gesucht, sondern stattdessen Stärken und Vorlieben der Lernenden genutzt werden – auch wenn dies in der Unterrichtspraxis nicht immer möglich ist. Wie schon im Kapitel II 3.1.2 ausgeführt kann es hohe Motivationseffekte haben, wenn sich Lernende im Rahmen individualisierender Unterrichtsarrangements zum Beispiel selbst die für sie passenden Medien auswählen, um sich einem Gegenstand anzunähern. Dafür sollte aber tatsächlich auch eine breite Angebotsauswahl bereitstehen und auch die Leistungsbewertung muss möglicherweise vielfältig ausfallen – ebenfalls ein

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Kriterium guten Unterrichts.1050 Auch dies ist im Rahmen der Comicdidaktik gut möglich. Nun müssen Comics im Rahmen von individualisierenden Unterrichtsstilen aber nicht in die Isolation führen: Obwohl das Medium in der Regel nicht im Kollektiv, sondern individuell rezipiert wird, ist der Unterricht mit Comics oft besonders gut im Rahmen sozialer Lernformen zu gestalten: Hin und wieder stößt man noch auf die Kritik, die auf stereotypen Vorstellungen basiert, Comicfans seien tendenziell introvertierte ›Eigenbrötler‹, die die Beschäftigung mit fiktiven Figuren und Welten der Interaktion mit anderen Menschen vorziehen (Stichwort und Unwort: Eskapismus). Obwohl man Ähnliches womöglich auch gegen Liebhaber klassischer Literatur vorbringen könnte, so hat doch zumindest die empirische Erforschung der Manga-Fankultur das Gegenteil hervorgebracht. Bouissou et al. kommen zu folgendem Schluss: »The social dimension of the fandom as a community seemed of great importance for a significant majority of the fans. […] The results clearly show that manga […] is in fact a means of socialization and active interaction with others.«1051 Freundinnen von diesem »reading format«1052 scheinen nicht nur im Freundes- und Familienkreis gerne über ihre Lektüre zu sprechen, sondern auch vielfach den intensiven Austausch im Web zu nutzen oder sich auf kleineren und großen Conventions zu treffen (vgl. auch I 2.6). Diese Comics neigen also dazu, ihre Leserschaft sozial zu aktivieren. Ebendieser Effekt könnte möglicherweise hinsichtlich seines Potenzials für die Didaktik genutzt werden. Soziale Lernformen könnten vor allem in der Reflexion von Comics sinnvoll sein, nachdem diese rezipiert wurden. Denn nicht ohne Grund gibt es viele Foren, in denen Comicwerke und -serien in ihrer Gestaltung ausführlich diskutiert werden. Da die Lesenden im Rezeptionsprozess sehr viele Ebenen gleichzeitig wahrnehmen müssen (besonders bei anspruchsvollen Werken für Jugendliche und Erwachsene), kann es vorkommen, dass jede Diskussionsteilnehmerin einen anderen Aspekt besonders gut wahrgenommen hat und wiederum davon profitiert, wenn andere gesehen haben, was ihnen möglicherweise entgangen ist. Diese Form der sozialen Aktivierung kann auch durch den bildlichen Anteil im Comic entstehen, da (manche) Bilder eine ganze Bandbreite an Interpretationsmöglichkeiten zulassen und so zur Diskussion und zum Meinungsaustausch, zum gegenseitigen Zuhören und zur Perspektivübernahme anregen.1053 Das stärkt auch soziale Kompetenzbereiche. Im besten Falle spiegelt der Austausch über Comics die mediale Vielschichtigkeit und Komplexität der 1050 1051 1052 1053

Vgl. Meyer, 2010, S. 161. 2010, S. 260. Ebd. Vgl. Bakis, 2014, S. 3.

Kooperativ lernen und individuell wachsen

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Kunstform selbst wider. Erneut sei Sousanis zitiert, der sich für mediale Mehrperspektivität ausspricht, die jedoch auch auf soziale Lernformen übertragen werden kann: Consider instead,/ distinct vantage points / separate paths / joined in dialogue / thus, not merely side-by-side / they intersect, / combine, interact, engage, / and inform one another. / As the coming together of two eyes produces stereoscopic vision / outlooks held in mutual orbits, / coupled, / their interplay / and overlap / facilitate the emergence of new perspectives.1054 (Metacomic-Original in Abb. 22)

Beim erfolgreichen kooperativen Wissensaufbau greifen sozio-konstruktivistische Lerntheorien, die betonen, wie wichtig Prozesse des sozialen Austausches für die Konstruktion von neuem Wissens sind. Lernprozesse durch geteilte kognitive Konstruktionen werden durch kooperative Settings ermöglicht. Wichtig sind dabei: der aktive Austausch in der Gruppe, eine ausreichende Selbstregulation der Teilnehmenden und authentische Probleme/Aufgaben/Gegenstände für die Lernenden. Komplexe Comics, die ohne vereinfachende Darstellungen für die Schule auskommen und authentisches Interesse wecken, können konstruktivistische Lernprozesse deshalb tendenziell befördern.1055 Wichtig ist dabei, auch im Rahmen der comicdidaktischer Ansätze schlichte Gruppenarbeit nicht mit effektivem, koooperativen Lernen zu verwechseln, das echte kognitive wie soziale Aktivierung im Rahmen konstruktivistischen Lernens ermöglicht und durch bestimmte konstitutive Merkmale geprägt ist.1056 Diese lassen sich sehr gut anhand eines Beispiels für die gezielte Arbeit mit Comics verdeutlichen, das gleichzeitig vor Augen führt, wie individualisierende LehrLern-Arrangements und kooperative Lernformen für die soziale Aktivierung zusammenwirken können. Ein sinnvoller Arbeitsauftrag für eine Lerngruppe wäre es, diese Sachcomics zu bestimmten (Unterrichts-)Themen erstellen zu lassen, zum Beispiel zu Fragen des Islams oder Christentums. Freilich ist dieses Unterfangen schwieriger als es zunächst aussieht, sodass die Lernenden Grundwissen über Techniken und Konventionen der Kunstform besitzen oder erwerben müssen. Dies kann zum Beispiel im Rahmen eines Projektes durchgeführt werden, in dem der Religionsunterricht mit dem Deutsch- oder Kunstunterricht kooperiert. Die Religionslehrkraft kann etwa die Verantwortung für die inhaltliche Seite übernehmen. Man merke: Hier sollten nicht nur die Heranwachsenden kooperieren, sondern vorgeschaltet schon die Lehrenden. Für eine authentische Problemorientierung können die fertigen Produkte zum Beispiel für nachfolgende Klassen als Instruktionsmedien dienen oder (ähnlich wie Kunstprojekte) in Schaukästen und Rahmen der Schule zu Verfügung gestellt 1054 2015, S. 37. 1055 Vgl. dazu Hasselhorn; Gold, 2013, 242f. 1056 Vgl. dazu im Folgenden Johnson; Johnson, 2011.

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Abb. 22

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Kooperativ lernen und individuell wachsen

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werden. Gerade für Jungen scheint dieser echte Anwendungsbezug ihrer Bemühungen ein sehr wichtiger Faktor zu sein!1057 Auch eine ausreichende Freiheit in der Themenwahl sowie in der Gestaltung der Comics ist Voraussetzung für die intrinsische Motivation der Schülerinnen. Nun werden professionelle/kommerzielle Comics (inklusive ›Graphic Novels‹) nicht selten in einer Team-Kooperation erstellt, in der die dafür notwendigen Rollen von verschiedenen Individuen übernommen werden: Ein Autor, der die grundsätzliche Erzählung entwirft, eine Spezialistin, die Hintergrundrecherchen zum Thema anstellt, natürlich die Zeichnerin, ein Kolorist für die Farben in den Panels, eine Texterin für die Dialoge, ein Spezialist fürs Handlettering in den Sprechblasen, etc.1058 Comicdidaktische Zugänge können im handlungs- beziehungsweise produktionsorientierten Aufgabenspektrum hier unmittelbar anknüpfen, indem Schüler diese Aufgaben unter sich aufteilen, je nach Neigung (ganz im Sinne des Präferenzmodells), und anschließend kooperativ, aber mit ihrem individuellen Beitrag an einem gemeinsamen Produkt arbeiten. So geht man im Sinne einer Pädagogik der Vielfalt vor, »die jeden Einzelnen würdigt, die jeden Einzelnen in seinem Anderssein anerkennt, fördert und begleitet«, indem Menschen ihre Interessen und Gaben nicht nur ausbauen und ergründen, sondern auch zusammentragen und gemeinsam für gestalterische Prozesse einsetzen.1059 Dabei werden in der Schülergruppe auch unterschiedliche Intelligenzbereiche gefordert – obschon nicht alle im gleichen Maße. Verbal-linguistische Lerner können natürlich Gedanken und sprachlichen Austausch in Textform bringen: »There is no limit to what words can do in a comic«, wie Haines erklärt.1060 Jugendliche mit einer ausgeprägten bildlich-räumlichen Intelligenz, die gut durch visuelle Medien und durch die Eigenproduktion von Graphiken, Bildern und Ähnlichem lernen können, sollten besonders gut in der Lage sein, Comiccharaktere bewusst vor Hintergründe zu setzen und Comicpanels sinnvoll und leserfreundlich anzuordnen.1061 Körperlich-kinästhetisch interessierte Menschen haben oftmals ein besonders gutes Bild und Vorstellungsvermögen von dynamischen Bewegungsabläufen und könnten deshalb besonders gut Einfluss auf die Gestaltung von Zeit und Bewegung in einem Comic nehmen; ebenso könnten Körperhaltungen der Comicfiguren (auch in Zusammenarbeit mit bildlich-räumlich starken Schülerinnen) besonders gut studiert, beschrieben und getroffen werden. Schüler mit Interesse im musikalisch-rhythmischen Feld können die Comicproduktion zum Beispiel mit ihrem oft großen Erfahrungsschatz und ihrer Expertise im musikalischen Feld berei1057 1058 1059 1060 1061

Vgl. dazu Merisuo-Storm, 2006. Vgl. bspw. Gaiman, 2012. Grümme, 2015, S. 41. Haines (b), unpag. Vgl. dazu Denig, 2004, S. 107.

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chern, indem sie zum Beispiel Songs in die Comichandlung einfließen lassen. In Comics wie V wie Vendetta1062 oder Stuck Rubber Baby1063 spielen konkrete Rock- und Popsongs eine unbestreitbare Rolle und werden so am Erfolg der Werke ihren Anteil gehabt haben. Logisch-mathematisch und naturalistisch begabte Lernende werden durch das Erstellen von Comics zugegebenermaßen wahrscheinlich weniger in ihren Neigungen angesprochen. Jennifer Haines zeigt sich trotzdem optimistisch: »Comics have a long history of formalism, which has always involved the mathematical arrangement of panels. Devising a plot involves the use of logic and strategy.«1064 Tatsächlich produzieren Comicnovizinnen und Comicnovizen häufig logische Fehler in ihren Comicgeschichten, zum Beispiel bei Panelübergängen, die die Rezeption später erschweren können. Es spricht vieles für Comicgeschichten, die immer im Bereich des logisch Nachvollziehbaren bleiben.1065 Wenn ein Gruppenmitglied die Aufgabe übernimmt, dies verstärkt zu prüfen, ist damit viel gewonnen! Naturwissenschaftlich interessierte Schülerinnen sollten nach Haines’ Auffassung die Aufgabe bekommen, die physische Umwelt der Comicfiguren im Detail zu beeinflussen und zu gestalten, Hintergründe zu generieren und möglicherweise auch Fotos einfließen zu lassen.1066 (Tatsächlich sind nicht selten weit weniger zeichnerisch reduziert als die handelnden Figuren.) Auch sie können m. E. besonders begabt für den ›FaktenCheck‹ und die Kontrolle der Lesbarkeit in Sachcomics, möglicherweise aber auch ganz andere Impulse einbringen – denn Lernende lassen sich natürlich nicht auf bestimmte Intelligenzmerkmale reduzieren, sondern bringen auch immer ihre Erfahrungen, Geistesblitze und Ideen ein, die keinem Limit unterworfen sind. Es hilft natürlich, wenn die Gruppenmitglieder alle eine gewisse intrapersonelle Intelligenz mitbringen, die es ihnen ermöglicht, ihren Gaben und Interessen besonders Ausdruck zu verleihen und sich auch in die Figuren von narrativen Comics (deren Motivation, Emotionen etc.) gut einzufühlen, um (für Narrationen) plastische und authentische Charaktere zu erschaffen. Schülerinnen mit ausgeprägter interpersonaler Intelligenz beziehungsweise mit guten Sozialkompetenzen sind von unschätzbarem Wert für jede Gruppe, wenn es darum geht, alle Gaben und Beitrage zusammenzutragen und effektives kooperatives Arbeiten zu ermöglichen. Dieses sollte im Optimalfall immer durch bestimmte Merkmale geprägt sein: Ein solcher Lernauftrag in der Projektwoche kann nur durch koordinierte Zusammenarbeit gelingen, jede und jeder ist mitverantwortlich für den Erfolg der Aufgabe, sodass es zu einer positiven Interdependenz kommt. Am besten wird 1062 1063 1064 1065 1066

Moore; Lloyd, 2012. Cruse, 1995. Haines (b), unpag. Künstlerisch-experimentelle Werke hier bewusst ausgenommen. Vgl. Haines (b), unpag.

Kooperativ lernen und individuell wachsen

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zu Beginn dezidiert vereinbart, wer für welchen Teil die Hauptverantwortung übernimmt. Am Ende braucht ein Schülercomic Bilder, Texte und (meistens) eine Handlung; auf nichts davon ließe sich verzichten. Wichtig ist es dabei, soweit möglich, engagierte Schüler vor dem Trittbrettfahrer-Effekt zu schützen, um Motivationsverlusten und dem Schereneffekt vorzubeugen, der ein ungünstiges Lernklima schafft. Dafür gilt es den Aspekt der individuellen Verantwortlichkeit zu betonen, in dem jeder eigene Beitrag als solcher erkennbar bleibt. Es kann sinnvoll sein, die Prozesse im Comicentstehungsprozess zu dokumentieren, die ersten Entwürfe beispielsweise gesondert zu sammeln und für die Bewertung des Gruppenprojektes mit einzureichen, um das Engagement auf dem langen Weg zum Ziel nicht unberücksichtigt zu lassen. Wichtig ist zudem, dass Schülerinnen, die etwa vorweg die Handlung entworfen haben, in späteren Phasen, zum Beispiel während des tendenziell langen Zeichenprozesses, nicht in einen Leerlauf geraten. Die Vorteile des kooperativen Lernens im Vergleich zu individuellen Lernformen entfalten zudem vor allem dann ihren Wert, wenn die Aufgabenstellung zur förderlichen Interaktion in der Gruppe anregt. Im Sinne der Aufgabenstellung entsteht diese soziale Aktivierung durch wechselseitiges Präsentieren, Erklären, Erproben und Diskutieren des individuellen Arbeitsteils, der am Ende in Verbindung mit dem Rest stehen muss. So wird ein Comic zum Beispiel erst zum Comic und verharrt nicht auf der Stufe eines Textes mit Illustrationen, wenn Texte und Bilder direkt miteinander agieren und das eine ohne das andere nicht mehr auskommt, um die vollständige Botschaft zu kommunizieren. Keine Ebene muss wichtiger sein als die andere.1067 Diese ›Kooperation‹ kommt im fertigen Produkt aber nur zu Stande, wenn die Kommunikation zwischen den Verantwortlichen im Prozess gelingt. Brüning und Saum erklären: Soziale Kompetenzen sind zugleich Bedingung und ein Ziel kooperativen Lernens. Sie sind die Voraussetzung für gelingende Kommunikation, wechselseitiges Vertrauen, Verantwortungsübernahme jedes Einzelnen, Entscheidungsfindung, bei der alle einbezogen werden, und selbstständige Konfliktlösung.1068

Erst durch entsprechende »sozial-kommunikative« Basiskompetenzen entsteht die koordinierte Zusammenarbeit und solche kooperativen Arbeitstechniken werden durch das Lernen im sozialen Kontext gefordert und gefördert.1069 Soziale und kommunikative Kompetenzen sind beispielsweise wichtig, um die eigenen Ideen und Entwürfe darzustellen und offen für Rückfragen zu sein. Früher oder später kann es aber auch in der Comicproduktion zu Konflikten kommen: Möglicherweise werden in der Gruppe verschiedene Auffassungen über die Angemessenheit der Figurendarstellung vertreten (Zu niedlich? Sexistisch? …) oder 1067 Vgl. auch Bongco, 2001, S. 14. 1068 2006, S. 133. 1069 Helmke, 2009, S. 216.

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Comics als Chancengeber für die Heterogenität im Unterricht

es kommt zu persönlichen Auseinandersetzungen, weil die Sachexpertin alle anderen Bereiche zu dominieren droht. Künstlerische Differenzen sind ein gutes Trainingsfeld für soziale Kompetenzen. In diesem Rahmen lässt sich deshalb auch nicht auf reflexive und metakognitive Prozesse in der Gruppe verzichten, die konstitutiv für kooperatives Lernen sind, um den (Erfolgs-)Prozess der gemeinsamen Arbeit zu bewerten und gegebenenfalls zu steuern. Wenn diese Merkmale gegeben sind, dann weisen kooperative Lernformen, zu denen die didaktische Arbeit mit Comics anregt, im Vergleich zu kompetitiven, individuellen oder lehrerzentrierten Settings eine überdurchschnittlich hohe Lerneffektstärke auf.1070 Das soziale Lernen ist für die allgemeine Unterrichtsqualität also nicht unerheblich. Für religionspädagogische Lernkontexte entfaltet sie jedoch eine besonders wichtige Rolle. Kooperative Lernformen können nämlich auch in dialogisches oder diskursethisches Lernen führen, in dem die Subjekte in den Worten Mendls lernen, »die unterschiedlichen Konstruktionen von Wirklichkeit im Dialog begründet zu diskutieren und die Folgen von Weltkonstruktionen zu erfassen.«1071 Die Sozialisationstheorie geht zudem davon aus, dass Individuen zuallererst in der Interaktion mit der Umwelt zur persönlichen sowie sozialen Identität gelangen; und auch in religiösen Lernprozessen spielen Begegnungen und Beziehungen oft eine entscheidende Rolle.1072 Derartige sozialkommunikative Prozesse unterscheiden sich leicht von herkömmlichen Formen des kooperativen Lernens, weil weniger Leistungsorientierung gegeben ist, die Betonung weniger auf dem (End-)Produkt als auf dem Prozess des Austausches liegt und ein Gefühl für die Beziehung zu sich selbst, zu anderen und zu Gott entstehen soll. Boschki erklärt: Sensibilisieren für Beziehungen heißt, einen Raum für Begegnungen schaffen, einen Raum für Wahrnehmung, Bewusstwerdung, Reflexion, kritische Auseinandersetzung, Veränderung (im Sinne einer erneuernden ›Metanoia‹) und zur Ermöglichung von Handeln. Diese Sensibilisierung ist der eigentliche Prozess religiöser Bildung: Die und der Lernende bilden sich selbst, indem sie Bildungsimpulse – eigentlich: ›Beziehungsund Begegnungsimpulse‹ – aufnehmen, sich zueigen [sic] machen oder kritisch bewerten, sich dagegen verweigern, in jedem Fall aber: sich damit auseinandersetzen.1073

Sicherlich können Comicgeschichten produktive Impulse geben und sich anschlussfähig für derartige Sonderformen des kooperativen, oder: dialogisch-beziehungsorientierten Lernens zeigen. Der Lehrperson obliegt es wie immer, den richtigen Rahmen zu setzen.

1070 1071 1072 1073

Vgl. Zierer, 2015, 63f.; Struck, 2011, S. 81. Mendl, 2012, S. 109. Vgl. Boschki, 2012, 173f. 2012, S. 174.

Kooperativ lernen und individuell wachsen

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Anliegen des Abschnitts II 4 war es zu zeigen, dass Comics durch ihre mediale Machart anschlussfähig für Lehrformen sind, die inklusiven, oder zumindest: Vielfalt würdigenden Bestrebungen entsprechen. Der Rahmen muss selbstverständlich durch eine positive Grundeinstellung, angemessene Lehrprofessionalität und -kompetenz gesetzt werden und auch andere Medien sind natürlich für derartige Anliegen geeignet. Ebenso gibt es zweifelsohne noch viele weitere Möglichkeiten, Comics zur individuellen oder sozialen Aktivierung zu nutzen. Im folgenden Abschnitt bewegt sich der Blick von allgemeiner Unterrichtsqualität nun hin zu Comics speziell im Religionsunterricht. Dabei steht zuerst die Forschungslage im Fokus der Untersuchung.

III Comics und Religionsunterricht – Möglichkeiten eines Mediums zur Förderung religiöser Lehr-Lern-Prozesse

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Comics als Thema der Praktischen Theologie und Religionspädagogik

Im Zuge des wachsenden Interesses an populärkulturellen Phänomenen hat sich die Praktische Theologie in den letzten Jahren auch der Erforschung des Comics stetig geöffnet. Dennoch ist die Bedeutung des Mediums im Kontext der Praktischen Theologie und Religionspädagogik noch immer eher gering. Die einzige Ausnahme bilden Superhelden- und Bibelcomics, deren Diskussion eine intensive und lange Tradition hat. Wichtige Forschungslinien und -lücken sollen an dieser Stelle kurz nachgezeichnet werden, um den Ansatz der vorliegenden Arbeit darin zu verorten. Die Praktische Theologie Religion ist schon lange in verschiedenen Formen auch in Comics eingeflossen. Theologisch wurde dies in Deutschland ab den 1970ern wahrgenommen – wenngleich auch zunächst nicht ohne völligen religionspädagogischen und medientheoretischen »Dilettantismus«, wie Brinkmann es ausdrückt.1074 Zu einer Etablierung der theologischen Comicforschung kam es deshalb erst, als sie etwa 30 Jahre später auf ein breiteres theoretisches Fundament gestellt wurde.1075 Weil die Populärkultur ein so fundamentaler Bestandteil der kulturellen Alltagspraxis ist, hat sich inzwischen ein ganzer Zweig der Praktischen Theologie ihrer Ergründung verschrieben.1076 Kubik erklärt, dies ginge mit einer Gesamtentwicklung der Kulturwissenschaften einher: Die (theologische) Erforschung von Religion in Comics und in der Populärkultur überhaupt folgt dem diskursanalytisch inspirierten Umschwung der cultural studies, welche Alltags- und Subkulturen sowie ›unautorisierte‹ kulturelle Artikulationsformen als untersuchenswerte Objektivationen in den Blick rückte.1077

1074 Vgl. Brinkmann, 2016; Wermke, 1976 (a). 1075 Vgl. Brinkmann, 2016. 1076 Vgl. bspw. Gutmann, 1998; Fechtner; Fermor; Pohl-Patalong; Schroeter-Wittke, 2005; Kunstmann; Reuter, 2009. 1077 2011, S. 225.

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Hintergrund ist im gewissen Sinne also der ›cultural turn‹, der im 20. Jahrhundert auch die Theologie erfasst hat. Der Comic spielt dabei insgesamt immer noch eine eher marginale Rolle, besonders im Vergleich zum Film oder zur Popmusik, in denen ebenfalls gerne existenzielle und transzendente Bezüge geltend gemacht werden.1078 Dennoch wächst die Beachtung des Mediums seit einigen Jahren, was auf verschiedene Ursachen zurückgeführt werden kann: Etwa auf ihre wachsende Rolle auf dem Buchmarkt, auf den Trend zu ernsteren Themen in Comicnarrationen für Erwachsene (vgl. auch I 2.5.2), auf ihre wachsende Akzeptanz in Milieus mit hohem kulturellen Kapital (sprich: ›hochkulturellen‹ Kontexten) oder auf ein neues Interesse an bzw. eine wachsende Toleranz für die bildlichen Anteile von Comics. Hintergrund ist möglicherweise auch der ›pictoral turn‹ oder auch der »postmoderne Hang zur Ästhetisierung«, der große Teile unserer Kultur erfasst hat und Bildern und Ästhetisierungszusammenhängen wachsende Bedeutung zukommen lässt – auch in der Religionspädagogik.1079 In den letzten Jahren haben sich im deutsch- und englischsprachigen Raum deshalb mehrere Publikationen mit der Verbindung von Comics und Religion aus der christlichen Perspektive auseinandergesetzt.1080 Auch der ›Arbeitskreis Populäre Kultur und Theologie‹ (AKPop, heute bekannt unter ›Pop.religion‹) hat 2011 Comics als Thema der Jahrestagung gewählt und damit einen unschätzbar wichtigen Impuls für das Gebiet gesetzt.1081 Von dieser Öffnung der Praktischen Theologie hin zu Comics kann auch die vorliegende Arbeit profitieren und zudem auf die Aufsätze aus dem AKPoP-Tagungsband aufbauen.1082 Eine besondere Stellung hat in der Praktischen Theologie die Beschäftigung mit dem Superheldengenre. Deswegen werden die wichtigsten Diskurslinien auch in der vorliegenden Arbeit näher thematisiert werden (III 2.1.1). Man kann diesem Forschungszweig eine besonders intensive und recht weit zurückreichende Tradition zusprechen, die sich in den letzten Jahren sogar noch verstärkt hat.1083 Die wachsende Popularität von Superheldenfilmen hat dieser Entwicklung zusätzlich Vorschub geleistet. Genre, Einzelhelden und Erzähllinien werden inzwischen in medienübergreifender Hinsicht, also nicht mehr nur allein auf den Comic bezogen, diskutiert. Es ist darum denkbar, dass vor allem im deutschsprachigen Raum, in dem Superheldenfilme breiter rezipiert werden als Superheldencomics, der Diskurs der Filme auf längere Sicht über den Diskurs der Comics triumphieren wird. Besonders häufig werden die Heldenfiguren (vor allem Superman) im Kontext der Soteriologie diskutiert. Theologinnen und 1078 1079 1080 1081 1082 1083

Vgl. Wiedemann, 2011, S. 9. Lachmann, 2012, S. 25. Vgl. bspw. Mills, 2014; Lewis, 2014; Ahrens; Brinkmann; Riemer, 2015; Luibl, 2010. Kirsner; Seydel; Schroeter-Wittke, 2011. Vgl. besonders Reuter; Wiedemann; Luibl; Kubik; Völkner. Vgl. bspw. Wermke, 1976 (a); Kirsner; Seydel; Schroeter-Wittke, 2011; Oropeza, 2008.

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Kulturwissenschaftler üben zuweilen auch Kritik an den diegetischen Comicwelten (vgl. näher III 2.1.1). So schwang vor allem in der Vergangenheit (vielfältig begründet) der Vorwurf der Minderwertigkeit des Mediums und des Genres häufig mit. Inzwischen ist die Sicht darauf deutlich ausgewogener. Selten jedoch arbeiten Theologen mit (anderen) Comicforschenden zusammen, was mitunter zu Erkenntnisdefiziten führt. Das Genre hat seit seinen Anfängen in den 1930er Jahren mehrere unterschiedliche Entwicklungen durchlaufen, auch die Heldinnen haben sich weiterentwickelt und gerade durch die Kinofilme der letzten Jahre haben sicher viele neue Elemente das Genre geprägt. Darauf hat die Praktische Theologie bis jetzt nur wenig reagiert. Auch in anderen comicbezogenen Bereichen weist die Praktische Theologie derzeit noch ein paar Forschungsdefizite auf. So wäre sicherlich die Analyse und Diskussion weiterer markanter Einzelcomicwerke fruchtbar, wie die Zugangsweise des AKPop/pop.religion bereits bewiesen hat.1084 Auch comicübergreifende Themen könnten sich anbieten, wie zum Beispiel das Kirchen- bzw. Religionsbild in Underground Comics, das im Laufe der Sechziger- und Siebzigerjahre zweifelsohne Einfluss auf die Entwicklung vieler junger Menschen gehabt hat. Auch die Gruppe der Manga-Comics ist trotz ihrer zunehmenden Relevanz für viele Menschen bis jetzt nur wenig in den Fokus der theologischen Forschung gestellt worden.1085 Möglicherweise rührt dies daher, dass die Fans oft noch recht jung sind oder dass sich die Serien teilweise über viele Jahre und hunderte Seiten erstrecken, so dass eine einzelne Graphic Novel in gewisser Hinsicht einfacher zu analysieren ist. Mit hoher Wahrscheinlichkeit weisen Wissenschaftstreibende der Geisteswissenschaften auch einfach einen Habitus auf, der eher mit klassischen frankobelgischen Werken wie Asterix, nicht aber unbedingt mit Manga-Comics ›kompatibel‹ ist. Auch das Image der Manga, das unter anderem aufgrund von teilweise inhärenten Sexismen nicht nur positiv ist, könnte einen Einfluss gehabt haben. Forschungsergebnisse in diesen Bereichen könnten vor allem mit der Religionspädagogik verarbeitet und dann für Anwendungsgebiete wie die Schule fruchtbar gemacht werden. Jedoch kommt es in Sachen Comicforschung nicht oft genug zur Kooperation zwischen der kulturhermeneutisch-ausgerichteten Praktischen Theologie und der Religionspädagogik. Obwohl man natürlich auf Ausnahmen verweise kann, hat die Religionspädagogik lange Zeit ganz eigene Linien verfolgt.1086

1084 Vgl. bspw. Völkner; Gehren; Brinkmann; Schäfer-Bossert, 2011; Gutmann, 1998. 1085 Mit Ausnahmen wie Schäfer-Bossert, 2011. 1086 Oskamp, 2017 (a); Stier, 2000-; Reuter, 2011; Hillebold, 2009.

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Religionspädagogik und Religionsdidaktik Bis auf wenige Ausnahmen werden Comics heute seltener in der dezidiert schulbezogenen Religionsdidaktik, als vielmehr in der allgemeinen Religionspädagogik diskutiert.1087 Empirische Forschung zumindest aus dem deutschsprachigen Raum ist im Grunde nicht auffindbar. Es gibt jedoch unter Religionspädaginnen seit Jahrzehnten ein immer wieder aufkommendes Thema: Was der Praktischen Theologie das Superheldengenre ist, das ist der Religionspädagogik der Bibelcomic.1088 Die Religionspädagogik hat insbesondere Comicadaptionen von biblischen Geschichten schon vor Jahren aufgegriffen, wobei religionspädagogische Experten oft an der Produktion dieser Comics selbst unmittelbar beteiligt waren. Häufiger als die Schule wurde dabei möglicherweise die Gemeinde- oder Kirchenarbeit anvisiert. Die Ursprünge des ›Genres‹ reichen bis ins 19. Jahrhundert zurück und sogar das amerikanische Comic-Label DC, heute vor allem mit Superheldencomics verbunden, hat sich in den frühen Vierzigerjahren an Picture Stories from the Bible versucht. Comicschaffende bzw. Herausgebende visierten bis vor einigen Jahren vor allem Kinder als Adressatengruppe an und zeigten dabei tendenziell missionarisches Interesse.1089 Bis heute gelten Bibelcomics noch oft als didaktisch-funktionales Hilfsmittel, sollten sie doch nur zur ›richtigen‹ Bibellektüre hinführen. Damit wurde und wird ihnen in mancherlei Hinsicht natürlich ein eigener Wert abgesprochen.1090 Das Verhältnis der Religionspädagogik zum Bibelcomic war und ist entsprechend gespannt. Als Beispiel diene hier die Autorin Irmgard Weth, die Bibelcomics mit einem Tenor kritisiert, der geradezu von Hass erfüllt zu sein scheint: »Das teure Wort Gottes wird als Billigware verschleudert, vermarktet und konsumiert.«1091 Comic-Adaptionen würden mit ihrem Zeichenstil verharmlosen, vereinfachen und verniedlichen und aus diesem Grunde könne sich keine Glaubwürdigkeit einstellen.1092 (Dies ist wohl kaum als ›Forschung‹ zu betrachten, hat aber möglicherweise Einfluss auf diese genommen.) Obwohl biblischen Inhalten in religionspädagogischen Kontexten vielleicht wirklich eine gewisse Würde (nicht zu verwechseln mit Humorlosigkeit) zukommen sollte und Kritik zugelassen werden kann, ist diese Pauschalisierung nicht sachgemäß und ein klassisches Beispiel für die Gleichsetzung von (Zeichen-)Stil und inhaltlichem Gehalt in Comics. Auch noch zu Beginn des 21. Jahrhunderts wurde häufig tadelnd auf den fehlenden künstlerischen Wert von Bibelcomics hingewiesen. Markus von Hagen wendet als Comicforscher dazu ein: »Dies ist auch kein Wunder, weil es sich 1087 1088 1089 1090 1091 1092

Bspw. Stier, 2000; Hillebold, 2009. Vgl. bspw. Schmitz, 2008; Nübel, 1981. Vgl. Hagen, 1998, 41f. Vgl. ebd., S. 42. 1993, S. 20. Vgl. ebd., 21f.

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durchweg um Auftragsarbeiten handelt, deren Initiatoren vom Medium selbst und seinen künstlerischen Möglichkeiten keine Ahnung haben.«1093 Dazu kommt m. E., dass verschiedene Passagen für die aufmerksame Leserin natürlich von einer jeweils unterschiedlichen Stimmung gefärbt sind, die sich auch im Stil des Comics niederschlagen sollte: Wenn etwa Jesus die Händler aus dem Tempel treibt (Mk 11, Mt 21, Lk 15, Joh 2), müsste ein Comic seiner Wut und der Dramatik der Szene Ausdruck verleihen, ohne sie der Lächerlichkeit preiszugeben – möglicherweise durch kräftige Farben, eine energetische Panelanordnung und expressive Soundwörter, um die Aufregung unter den Händlern und Zuschauerinnen zu verdeutlichen. So erklärt Reuter, der das religionspädagogische Potenzial der Populärkultur eigentlich klar erkannt hat, dass Form und Inhalt eben doch immer in einem untrennbaren Zusammenhang stünden und manche Inhalte nicht zu jeder Form passen: »Gerade die Implantation christlicher Inhalte in Formen der Populärkultur, die offensichtlich nur aus taktischen Gründen benutzt werden, hat oftmals etwas Epigonenhaftes und Unglaubwürdiges an sich.«1094 Es ist denkbar, dass das Ansehen von Comics (auch) in der Religionspädagogik durch den Erfolg des amerikanischen Shoa-Comics Maus, der 1992 mit dem Pulitzerpreis auch internationale Aufmerksamkeit gewann, positiv beeinflusst wurde.1095 Auch Bibelcomics könnten von diesem neuen Blickwinkel profitiert haben, denn in der Literatur sind ab diesen Jahren einige befürwortende Stimmen zu finden. So verzeichnet Middel im Kontext der Konfirmandenarbeit hohe Motivationsseffekte durch Comics, die auch zu weiterführenden Gesprächen und zur bereitwilligen Rezeption des Primärtextes führen, sodass er seine Erfahrungen als »durchweg positiv« beschreiben kann.1096 Dies ist zwar kein Beispiel für systematische Forschung, aber immerhin für ein empirisches Fallbeispiel. Auch Adam wirbt zum Beispiel auf Basis theoretischer Überlegungen Anfang der Neunzigerjahre für die Verwendung von Bibelcomics in verschiedener Einsatzform: zum Beispiel als methodische Abwechslung, als Veranschaulichung von historisch-zeitgeschichtlichen Details, als Interpretationshilfe

1093 Hagen, 1998. 1094 Reuter, 2008, S. 119. Im deutschsprachigen Raum sind die ausdrucksstarken, farbenfrohen und detailreichen Comics von Rüdiger Pfeffer (1992/1993; 1995) sicherlich ein erster großer Erfolg gewesen – auch wenn sie ebenfalls von der Deutschen Bibelgesellschaft in Auftrag gegeben wurden. Irmgard Weth macht übrigens auch dieses kindgerechte und humorvolle Werk zur Zielscheibe ihrer Kritik, triebe es doch den wachsenden Wahrheitsverlust, Wirklichkeitsverlust und Autoritätsverlust biblischer Botschaft voran (Weth, S. 22). Aus persönlicher, biographischer Erfahrung darf ich versichern, dass dieser Comic trotzdem auf einige Kinder einen sehr guten Einfluss gehabt haben wird. 1095 Vgl. dazu auch Hagen, 1998, S. 41. 1096 Vgl. Middel, zit. nach Adam, 1993 (a), S. 280.

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der Bibel und als Diskussionsanstoß.1097 Auch den Anstoß, den Comics potenziell zu kreativen Lern- und Arbeitsmethoden geben können, erwähnt der Religionspädagoge eigens (dazu II 3.2.2).1098 Immer noch werden in diesem Zusammenhang die religionspädagogischen (und möglicherweise missionarischen) Absichten, mit denen Bibelcomics so oft verbunden sind, deutlich. Systematische, empirische Erhebungen bleiben allerdings Forschungsdesiderat. Man kann nun mit Recht spekulieren, dass die Beschäftigung der Religionspädagogik mit Comics aller Art im Laufe der nächsten Jahre zunehmen könnte. Dafür gibt es bestimmte Hinweise und mögliche Gründe, die vor allem für die schulbezogene Religionsdidaktik wichtig werden könnten: 1) Die Affinität von Comicschaffenden zu ernsten Themen und zu in sich abgeschlossenen Werken hat zugenommen. Daraus ergeben sich für die Religionspädagogik zunehmend (interdisziplinäre) Anknüpfungspunkte (vgl. III 3.2). 2) In den letzten Jahren sind verschiedene Bibeladaptionen als Autorencomics1099 erschienen, die nicht nur Kinder als Zielgruppe anvisieren.1100 Hier böte sich eine Zusammenarbeit zwischen Theologie, Comicforschung und Medienwissenschaften an. 3) Es wird zunehmend ersichtlich, dass es vor allem bei nicht-religiös erzogenen Kindern und Jugendlichen zur religiösen Selbstsozialisation mithilfe der Medienwelten kommt. Diese Medienweltorientierung schlägt sich in didaktischen Konzepten nieder und könnte auch Comics näher einbeziehen.1101 4) Schon seit einigen Jahrzehnten ist in der Religionsdidaktik ein Perspektivenwechsel hin auf die ästhetische Bildung festzustellen. So legt sich eine Öffnung für die Comic-Kunst möglicherweise nahe. Lachmann erklärt: Nach dem Erfordernis interreligiöser Didaktik und Bildung bahnt sich gegen Ende des 20. Jahrhunderts mit der ästhetischen Perspektivierung eine Entwicklung in der Religionspädagogik an, die so markant und signifikant ist, dass man nachgerade von einer Ablösung der ethischen Phase durch eine ästhetische Phase der Religionsdidaktik sprechen könnte.1102

Vorbote war eine ›Religionspädagogik des (An-)Sehens‹, eine Symbol- und Bilddidaktik, in der theoretisch auch der Comic als Medium seinen Platz haben

1097 Vgl. 1993 (a), S. 281. 1098 Vgl. 1993 (a), S. 281. 1099 Das heißt in diesem Kontext: Ein Künstler vereint in Personalunion den Autor, Zeichner und Texter seines Comics. 1100 Vgl. bspw. SIKU, 2007. 1101 Vgl. bspw. Pirner, 2012. 1102 2012, S. 24.

Comics als Thema der Praktischen Theologie und Religionspädagogik

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könnte.1103 Der Wandel zum Ästhetisch-Kulturellen, der auch die kirchliche Kultur nicht unberührt gelassen hat, fruchtete zudem in der intensiveren Beschäftigung der Praktischen Theologie mit der Unterhaltungsindustrie und Populärkultur.1104 Lachmann erklärt: »Hier im Horizont ästhetischer Bildung [ist] die populäre Kultur zu einem ernst zu nehmenden Aufgabengebiet geworden, dem sich im neuen Jahrhundert eine bewusst ›Medienweltorientierte Religionsdidaktik‹, sicher verstärkt auch interkulturell, anzunehmen hätte.«1105 Man könnte sagen, dass die Comicdidaktik auf dieser Welle mitgetragen wird, ohne jedoch die kognitive Dimension, »die als Bildung des Verstandes, des Urteilsvermögens und der Kritikfähigkeit ein unabdingbares Element jeden Unterrichts an der Schule sein muss«, zu vernachlässigen.1106 Comicdidaktische Ansätze können zum Beispiel im Sinne des bewussten ›Sehen-Lernens‹ für die Symboldidaktik oder zur Förderung der ›Visual Literacy‹ (auch im religionsbezogenen Sinne!) verwendet werden, jedoch durch Inhalte auch Anstöße zu ethisch-politischen Fragen geben (vgl. III 3.1 und III 3.3). Der besondere Wert dieser Arbeit liegt darin, vorhandene religionspädagogische Untersuchungen enger mit der Comicforschung (sowie der Lernpsychologie) zu verknüpfen als es bisher geschehen ist. Die Arbeit baut in Teilen auf der Öffnung der Praktischen Theologie für das Medium des Comics auf, führt sie jedoch mithilfe der Comicwissenschaften etwas weiter. Erkenntnisse aus den ›Comic Studies‹ werden dabei mit dezidiert religionsdidaktischen Analysen verknüpft, wobei auch zeitgenössische Themen der Religionspädagogik, wie die Medienweltorientierung, Öffnung für Bilderwelten und vor allem der Heterogenitätsdiskurs eine große Rolle spielen.

1103 1104 1105 1106

Vgl. ebd. Vgl. ebd., 25f. Ebd., S. 26. Vgl. dazu ebd.

2

Was können Comics für die Religionspädagogik leisten? – Eine Annäherung

Um sich der Sequenziellen Kunst in der Religionspädagogik anzunähern, ist es sinnvoll, zunächst grundsätzlich nach religiösen Elementen und Strukturen im Comic und dem davon ausgehenden Potenzial zu forschen. Denn: Jede Religionsstunde sollte einen klaren theologischen Bezug aufweisen, was wesentlich leichter ist, wenn dieser bereits im zentralen Lernmedium angelegt ist. Deswegen können erst auf Basis dieser Untersuchung sinnvolle Denkanstöße für die Religionsdidaktik geleistet werden.

2.1

Theologisch-kulturhermeneutische Zugänge

Wann immer Comics im Unterricht eingesetzt werden, dann meistens aufgrund ihrer Inhalte. Weil sie Teil einer Massenmedienkultur sind, die sich unter anderem durch Religionsähnlichkeit und Religionshaltigkeit auszeichnet (s. u.), bieten sie sich auch für theologische Fragestellungen an.1107 Für den Religionsunterricht sind Comics relevant, die sich inhaltlich mit Sinnfragen, Gott, Religion(en) und substanziell oder funktionalen Anklängen an das Religiöse beschäftigen. Deswegen lohnt es sich, sich auf die Suche nach Elementen der Transzendenz, Spiritualität, Religiosität und inneren Sinnfindung im Comic zu begeben. Unabhängig von didaktischen Überlegungen sollen in diesem Kapitel deshalb Beziehungen zwischen Comics und dem Gegenstand des Religiösen erforscht werden, bevor die Ergebnisse später religionspädagogisch zu diskutieren und einzuordnen sind. Die Untersuchungsfrage lautet: Wo und wie findet man in Comics Spuren von Religion? Und wie lassen sich diese klassifizieren? Hier nähert sich die (Praktische) Theologie der Kulturwissenschaft an.1108 1107 Vgl. Pirner, 2012, S. 165. 1108 Einige zentrale Überlegungen zu diesem Thema, auf die ich mehrmals verweisen werde, hat schon Andreas Kubik 2011 basierend auf Annäherungsversuchen des ›Arbeitskreises populäre Kultur und Theologie‹ (AKPop, mittlerweile: pop.religion) zum Thema ›Religion und Comics‹ aufgestellt.

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Was können Comics für die Religionspädagogik leisten? – Eine Annäherung

Comic-Künstler verarbeiten in Comicgeschichten ihre kulturelle Umwelt. Das gilt auch für phantastische Geschichten, die in vielerlei Hinsicht gesellschaftliche Verhältnisse widerspiegeln (vgl. dazu I 2.51). Nun gilt aber auch: »Die Beziehung zwischen Religion und Kultur ist nicht auflösbar.«1109 Das eine spiegelt sich im anderen. Entsprechend verarbeiten zumindest einige Comics auch spirituelle Elemente der Welt – mal mehr, mal weniger offen oder versteckt. Allerdings können Comics und Comicgeschichten auf sehr unterschiedlichen Ebenen theologisch gedeutet werden. Folgende Unterkategorien lassen sich bilden, geordnet nach dem abnehmenden Grad der Evidenz: (1) Explizit mediale Transformationen von religiösen Stoffen und Bibelcomics, (2) symbolhafte Verweise auf religiöse Motive auf der Oberflächenebene, (3) Einblicke in nicht-christliche Weltanschauungen, (4) der christliche Glauben im narrativen Diskurs einer Geschichte, (5) religiöse und lebensweltliche Deutungen innerhalb eines (versteckten) weltanschaulichen Rahmens, (6) Positionen zu ethischen oder dogmatischen Streitfragen sowie (7) Biographien (von Menschen innerhalb einer Glaubensgruppe) und (8) funktional-religiöse Tiefenstrukturen. Auch das Superheldengenre soll näher beleuchtet werden, wegen seiner Relevanz jedoch in einem eigenen Kapitel. Ein Anspruch auf Vollständigkeit dieser Taxonomie soll dabei nicht erhoben werden. Zusätzlich könnte man noch den Bereich der informierenden Sachcomics nennen, zu dem auch Biographien historischer Figuren oder Bibelcomics zählen könnten – ja im Grunde alle Comics, denen ein pädagogisches oder didaktisches Anliegen zugrunde liegt. Weil also eine (gewisse) Unschärfe in dem Begriff liegt (vgl. dazu II 3.2.3), wird diese Kategorie hier vorerst ausgespart und der Fokus liegt auf narrativen Comics. Einen ersten Überblick über die genannten Kategorien in Bezug auf den Evidenzgrad in den Werken, den gewöhnlichen weltanschaulichen Rahmen, (implizite) Wertungen in den Bezugnahmen und die populärkulturell typische Neigung zur Umdeutung religiöser Symbole kann die Tabelle in Abb. 23 bieten. Sie bezieht sich vor allem auf Comics aus Europa und Nordamerika. Es sei darauf hingewiesen, dass es sich hierbei um Tendenzen handelt, die nicht vollständig verallgemeinert werden können. Im Folgenden möchte ich die Typisierungen von Religion in Comics näher ausführen und anhand von Beispielen beleuchten, beginnend mit Bibelcomics, da hier der Evidenzgrad zweifelsohne am deutlichsten ist. Bibelcomics und explizit mediale Transformationen biblischer Geschichten Hierzu zählen Comics, die sich der Umformung biblischer Erzählungen von einem Medium ins andere verschrieben haben, sogenannte Bibel-Adaptionen in Comicform (vgl. auch III 1). Diese haben auch im deutschsprachigen Raum eine 1109 Kunstmann, 2004, S. 305.

Divergiert Divergiert, muss nicht mit sichtbarer Religion verbunden sein

Biographien Religiöse Tiefenstruktur

Beides Hat man die tieferen Ebenen durchschaut, zeigen sie sich als zentrales Thema

Vor allem christlich-jüdische Themen, aber auch andere Jüdisch und christlich

Meistens positiv Nicht sinnvoll beantwortbar

Negativ

Explizit Beides Implizit

Positiv und negativ

Positiv und negativ

Positiv

Neutral

Implizite Wertung von Religion/religiösen Inhalten? (Tendenz) I.d.R. positiv

Explizit

Explizit

Christlich, verschieden konfessionell

Mehr oder weniger wichtiges Thema, immer wieder aufgegriffen

Verweis auf christliches oder jüdisches Erbe Explizit

Mit Vorwissen explizit erkenntlich

Vor allem christlich

Zentrales Thema, mitunter Divergiert aber auch Anspielungen

Grad der Deutlichkeit in der Bezugnahme auf Religion? Explizit

Weltanschaulicher Rahmen?

Auseinandersetzung Beides mit genuin reliösen Themen Ethische und dogma- Meist zentrales Thema tische Streitfragen

Einblicke in (nichtchristliche) Weltanschauungen Der christliche Glauben als Thema eines narrativen Diskurses

Mediale Transforma- Zentrales Thema tionen und Bibelcomics Religiöse Motive auf Anspielungen der Oberflächenebene

Zentrales Thema oder im Modus einzelner Anspielungen?

Nein Ja

Eher nein

Ja

Nein

Nein

Ja

Neigung zu Umdeutungen von religiösen Symbolen? Nein

Theologisch-kulturhermeneutische Zugänge

291

Abb. 23

Spezialfall: Superheldengenre

(Fortsetzung)

Beides

Zentrales Thema oder im Modus einzelner Anspielungen? Affinität zu jüdischchristlichem Denken, zunehmend auch zum Islam

Weltanschaulicher Rahmen?

Grad der Deutlichkeit in der Bezugnahme auf Religion? Überwiegend implizit

Implizite Wertung von Religion/religiösen Inhalten? (Tendenz) Oft positiv

Neigung zu Umdeutungen von religiösen Symbolen? Ja

292 Was können Comics für die Religionspädagogik leisten? – Eine Annäherung

Theologisch-kulturhermeneutische Zugänge

293

gewisse Tradition. Pfeffers Jesus der Galiläer1110 sowie David und Saul1111 konnten schon in den Neunzigerjahren mit Erfolg aufwarten und werden bis heute verlegt. Obwohl Bibelcomics nie unumstritten waren, darf man ihnen doch einen festen Platz im Instrumentarium der Religionspädagogik zusprechen. Während sie früher in der Regel sehr simpel und anschaulich gehalten waren, ist heutzutage ein Spektrum zwischen mehr oder weniger ›konventionellen‹ Comics auszumachen. Robert Crumb zum Beispiel behält in Genesis1112 den biblischen Text (in traditioneller King-James-Übersetzung) fast eins zu eins bei und arbeitet textlastig, nur illustrierend, und dazu auch das auf höchst konventionelle Weise – Gott wird zum Beispiel als alter Mann mit weißem Rauschebart dargestellt: Scharfe Schwarzweißkontraste, der Verzicht auf eine vereinfachte oder zumindest kommunikative Übersetzung (sowie nicht zuletzt die provokante Natur von Robert Crumbs restlichem Œuvre) legen Erwachsene als Zielgruppe nahe. Andere Künstlerinnen nehmen sich größere Freiheiten heraus und/oder arbeiten mit atmosphärischer Ausdruckskraft: Dialoge werden dazu abgewandelt oder gekürzt, Text und Bild verfolgen eher eine additive oder korrelative Bindung: Sie verstärken sich also gegenseitig oder vermitteln zusammen eine Idee, die jedes Ausdrucksmittel allein nicht artikulieren könnte.1113 Der Einsatz von Farben und Perspektiven erfolgt mit Symbol- und Ausdruckskraft. Ein aktuelles Beispiel ist Helden der Bibel, in der bekannte biblische Erzählungen, narrativ angelehnt an das Superheldengenre, zeichnerisch interpretiert, mit starker Bildsprache und kräftigen Farben dargestellt werden.1114 (Ein verdeutlichendes Beispiel in Abb. 24) Der Autor richtet sich weniger an kleine Kinder als an Pre-Teens und Jugendliche, da auch vor düsteren Perikopen und Bildern nicht Halt gemacht wird. Im Allgemeinen sind Bibelcomics eher wenig avantgardistisch, soll doch in erster Linie eine Geschichte klar und eindeutig vermittelt werden. Das gilt besonders, wenn Kinder die zentrale Zielgruppe darstellen. Im Gegensatz zu Kinderbibeln mit Illustrationen, aus denen oft auch vorgelesen wird, sind Bibelcomics eher für die Individuallektüre der Leserinnen gedacht. Auch deshalb sollen Missverständnisse in der Rezeption vermieden werden. Trotzdem wollen Künstler mit ihren Zeichnungen auch emotionale Effekte induzieren. Losgelöst von biblischen Geschichten haben sich viele christliche Symbole mittlerweile auch verselbstständigt und werden nun in der Populärkultur narrativ-funktional und oft zweckentfremdet eingesetzt.

1110 1111 1112 1113 1114

Pfeffer, 1992/1993. Pfeffer, 1995. Crumb, 2012. Vgl. McCloud, 2001 (b), 162f. SIKU; Thomas; Anderson, 2016.

294

Abb. 24

Was können Comics für die Religionspädagogik leisten? – Eine Annäherung

Theologisch-kulturhermeneutische Zugänge

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Religiöse Motive und symbolische Verweise auf der Oberflächenebene, narrativ-funktional eingesetzt Die theologische Kulturhermeneutik kennt laut Kubik mehrere Zugänge und Anliegen, die sich in der Forschung unterschiedlich realisieren. Es besteht zum Beispiel die Möglichkeit, in einem Comic nur »explizit religiöse Motive« oder offene Anspielungen auf die religiöse Symbolwelt aufzuspüren.1115 Kulturelltradierte Verweise, denen zwar ursprünglich etwas Religiöses anhaftete, die aber mittlerweile weitläufig säkularisiert sind, wie Kirchtürme in einer Skyline oder Feste wie Weihnachten, lasse ich hier bewusst außen vor, da ihre religiöse Symbolkraft im Schwinden begriffen ist. Allerdings ist diese Unterscheidung nicht immer leicht vorzunehmen. Ein gutes Beispiel ist Hiranos Horrorgenreverbundene Manga-Serie Hellsing1116, in der sich viele explizit kirchliche Verweise und christliche Symbole finden, da hier sowohl eine protestantische Untergrundorganisation als auch der Vatikan verdeckt Jagd auf Vampire machen.1117 Die Reihe zeigt deutlich, wie christliche Motive in Populärkultur und Comic oftmals umgedeutet, verfremdet und in neue Kontexte gestellt werden. Traditionellen christlichen und religiösen Symbolen kommt in der postmodernen Gesellschaft noch eine Bedeutung zu, auch wenn sich mit ihrer Hilfe ein »populärkulturelle[s] Spiel« vollzieht.1118 Sie besitzen immer noch einen verweisenden Gehalt, auch schon in Comics für Kinder. So scheint die junge Marjane in Persepolis einen Moment der Selbsterkenntnis zu haben, als sie nach ihrer Aufforderung zu boshaften Spielen Teufelshörner in ihrem Spiegelbild erblickt.1119 Gleichzeitig wird der mystische oder verweisende Charakter christlicher Symbole teilweise weiterentwickelt, wenn wie in Hellsing dem Kruzifix nicht nur das Böse bannende Kräfte zugeschrieben werden, sondern es dazu noch Untote im Zaum halten kann – ein beliebtes Motiv im Horrorgenre. Alles in allem sind religiöse Motive und Anspielungen in graphischer Literatur zahlreich und leicht zu finden. Es sei erstaunlich, erklärt Kubik, wie sehr »die ComicKultur als ganze […] auf ihre Weise Mitarbeit am symbolischen Gedächtnis der biblisch-christentumsgeschichtlichen Kultur« leistet.1120 Natürlich finden sich in Comics auch Verweise auf Symbole anderer Weltanschauungen, wie auf den Hinduismus in Moores League of Extraordinary Gentlemen1121 oder wenn 1115 1116 1117 1118

2011, S. 224. Hirano, 1997–2008. Vgl. dazu auch die Untersuchung von Schäfer-Bossert, 2011. Gutmann, 1998, 27f. Hier zeigt sich übrigens auch sehr gut der zunehmend transmediale (der Comic erschien auch als Zeichentrickserie/Anime) und vor allem transkulturelle Charakter des Phänomens ›Manga‹. Denn die Reihe stammt aus Japan, spielt aber mit traditionellen Motiven der westlichen Kultur. 1119 Vgl. Satrapi, 2011, S. 57. 1120 2011, S. 224. 1121 2000, unpag.

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Was können Comics für die Religionspädagogik leisten? – Eine Annäherung

Don Rosas Dagobert in Expedition nach Shambala1122 auf den hinduistischen Ganesha verweist (Ganesha ist eine Form des Göttlichen im Hinduismus und dafür bekannt, Menschen mit Erfolg in ihren Unternehmungen zu segnen) und Teile der hinduistischen Mythologie verarbeitet werden. Einzelverweise auf Religionen außerhalb der jüdisch-christlichen Tradition sind in westlichen Comics jedoch wesentlich seltener zu finden – wenn überhaupt, dann ist der ganze Comic in einem weltanschaulichen Diskurs verankert (s. u.). Aus religionspädagogischer Perspektive ist die oberflächliche Behandlung solcher Motive nicht besonders nachhaltig. Rosenow erklärt: »Von einer religiösen Symbolkunde, bei der Symbole ohne Erleben gelehrt würden, ist deshalb dringend abzuraten.«1123 Gleichzeitig sei aus der Neurobiologie bekannt, dass Symbolisations- und Verstehensprozesse, wenn sie auch nur einmal, dafür aber tiefgehend stattgefunden haben, das Subjekt lebenslang für entsprechende Wahrnehmungen und Symbolisierungen sensibilisieren.1124 Etwas mehr in die Breite geht Charles M. Schulz mit den christlichen Verweisen in seinen Comics. Die Symbole und Anspielungen werden jedoch ebenfalls immer narrativ-funktional in den Dienst der Geschichte gestellt. So zeigen sich die Charaktere in den Peanuts-Comics1125 recht bibelfest, obwohl sie fast immer außerhalb kirchlicher Kontexte anzutreffen sind.1126 Es handelt sich um eine Gruppe Kinder und ihren Hund, die in der Gattung des kurzen Comicstrips zwischen Baseball-Frustration, Geschwister-Ärger und Liebeskummer ihren Alltag zu bewältigen versuchen. Dabei zitieren sie nicht nur hin und wieder Bibelverse, sondern instrumentalisieren sie auch geschickt zu ihrem persönlichen Nutzen.1127 Manche Comicstrips werden wahrscheinlich vor allem von Erwachsenen in ihrer Ironie voll erfasst. Ohne dezidiert didaktische oder moralisierende Absicht hat Schulz Religion also spielerisch in sein Werk integriert und religiöse Fragen aufgegriffen: Gehren schätzt, dass sich in etwa 10 % des populären Gesamtwerks (insgesamt ca. 18 000 Strips!) religiöse Themen verstecken – und seien es nur etwa die Vorbereitungen auf ein Krippenspiel.1128 In manchen Comics werden bildliche Symbole jedoch nicht nur oberflächlich in den Dienst der Erzählung gestellt, sondern es wird intensiver auf religiöse Traditionen Bezug genommen, indem diese interpretiert, ausgestaltet oder auch

1122 1123 1124 1125 1126

Vgl. 2011, S. 45. 2019, S. 216. Vgl. ebd. Schulz, 1959–1984. Vgl. Gehren, 2011, S. 78. Vgl. bspw. https://www.pinterest.de/christianfunnyp/ (Stand 28. 05. 2020). 1127 Vgl. ebd., S. 80. 1128 Vgl. ebd., S. 75ff.

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neu interpretiert werden. Hier finden ausgedehntere religiöse Deutungen innerhalb eines weltanschaulichen Rahmens statt. Religiöse und lebensweltliche Deutungen innerhalb eines weltanschaulichen Rahmens und im Dienste einer Erzählung Im Gegensatz zu den kurzen, funktionalen Verweisen, die manchmal nur in einem Panel auftauchen, erfolgt hier eher die Auseinandersetzung mit einem prinzipiell religiösen Stoff, der größere Bögen in der Narration einnimmt und zentrale Themen von Comicwerken betrifft. Manfred Pirner erklärt: So erfreuen sich beispielsweise Engel und andere mythische Gestalten in populären Medien größter Beliebtheit, während die Theologie im Gefolge des Entmythologisierungskonzepts von Rudolf Bultmann lange Zeit meinte, die mythischen Vorstellungen der Bibel seien heutigen Menschen nicht mehr zumutbar. Und während heute manchen Theologen die Vorstellung vom stellvertretenden Opfertod Jesu als nicht mehr zeitgemäß erscheint, finden Motive des stellvertretenden Opfers bis hin zum Tod in populären Filmerzählungen großen Anklang1129.

Der Unterschied liegt wohl in der individuellen Annahme bzw. Glaubwürdigkeit dieser Symbole oder ›Mythen‹. In Anbetracht der Tatsache, dass religiöse Sozialisation heute aber vor allem Mediensozialisation ist, darf der medialen Auseinandersetzunge mit genuin religiösen Themen – auch wenn sie sich außerhalb der Tradition bewegen – durchaus wissenschaftliche Aufmerksamkeit zukommen.1130 Ein Paradebespiel ist die große Frage nach einem Leben nach dem Tod. Dieses Thema beschäftigt nachweislich auch viele Schülerinnen und Schüler. Die meisten Heranwachsenden, die den Religionsunterricht besuchen, glauben an eine Art Jenseits, jedoch unterschiedlich nuanciert.1131 Zunehmend werden hier individuelle Vorstellungen entworfen, die jedoch meistens Anhalt im Weltbild einer bestimmten Glaubensrichtung haben. Im christlich-weltanschaulichen Rahmen wird der Gegenstand zum Beispiel in Chaboutés Comic Fegefeuer1132 behandelt, in dem die Ideen von Fegefeuer, Himmel und Hölle verarbeitet werden, wenn der Protagonist sich nach seinem Tod metaphysischen Anfragen stellen muss. Ausblicke auf das Jenseits aus verschiedenen Perspektiven stellen ein beliebtes Motiv in der Comicwelt dar und die Vorstellungen finden sogar Einzug in Comics, deren Autoren höchstwahrscheinlich gar keine dezidierten religiösen Bezüge herstellen wollten. Disneycomics ist beispielsweise der Anspruch inhärent, weltanschaulich neutral zu erzählen, sodass auf religiöse An1129 1130 1131 1132

2012, S. 165. Vgl. ebd. Vgl. Fuchs, 2019, S. 111. Chabouté, 2010.

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klänge weitgehend verzichtet wird. Dennoch präsentiert beispielsweise Don Rosa in seinem Gesamtwerk mindestens zwei (sich unterscheidende) Jenseitsvorstellungen (Die Jagd nach der Goldmühle1133 und Sein Leben, seine Milliarden1134). Der Verdacht auf gesellschaftlich-kulturelle Strömungen, die sich mythenartigen Erzählungen wieder öffnen, erhärtet sich dadurch erheblich. Anklänge an Jenseitsvorstellungen, die sich kaum in einer spezifischen Weltanschauung verankern lassen, finden sich auch andernorts in ›Graphic Novels‹, etwa in Wazem/Tiraboscos Das Ende der Welt1135. Außerdem wird in manchen Comicgenres besonders aus der dunklen Seite der christlichen Mythologie geschöpft, wie etwa in Neil Gaimans Sandman-Band Zeit des Nebels1136, in dem der Autor eine Bandbreite an kulturellen, mythologischen und christlichen Rückbezügen entfaltet und die Figuren von Luzifer, von Kain sowie die Vorstellung einer Hölle näher beleuchtet. Ähnlich wie auf das Jenseits nehmen Comics auch Bezug auf Gott, zum Beispiel in Persepolis1137, Preacher1138, Genesis1139, Gott höchstselbst1140 sowie auch in einigen Simpsons-Comics. Gott wird in allen fünf Beispielen konventionell bis klischeehaft dargestellt: Weiß, alt, männlich, mit vollem/langen Haar und Rauschebart. Abweichungen sind nur nuanciert gegeben: In Preacher erscheint Gott muskelbepackt und nicht notwendigerweise alt, in Persepolis weist Gott eine Ähnlichkeit mit Karl Marx auf (vgl. Abb. 25; auffällig ist, wie Marjane und Gott zeichnerisch ineinander übergehen), in Gott höchstselbst verzichtet Mathieu durch künstlerische Kniffe auf die Darstellung des Gesichtes und in der Serie/im Comic Die Simpsons hat Gott im Gegensatz zu den anderen Figuren vier statt fünf Finger an jeder Hand. Im gewissen Sinne hat damit auch die Darstellung Gottes den cartoonhaften Charakter vieler Comics übernommen (das gilt sogar für Preacher, wenn auch mit naturalistischerem Zeichenstil). Gott ist äußerlich auf wenige zentrale Merkmale reduziert, mit denen er ( ja, in Comics ist er überwiegend männlich) maximalen Wiedererkennungswert hat, sodass die Rezeption des Comics trotz ›göttlichem Erscheinen‹ gleichmäßig und ungestört abläuft. Auch außerhalb christlicher Verarbeitungslinien findet Religion aber durchaus Einzug in Comics – häufig auch deutlicher.

1133 1134 1135 1136 1137 1138 1139 1140

Don Rosa, 1999. Don Rosa, 1991–1994. Wazem; Tirabosco, 2009. Gaiman, 2012. Satrapi, 2004. Ennis; Dillon, 2007. Crumb, 2012. Mathieu, 2010.

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Abb. 25

Dezidierte Einblicke in nicht-christliche Weltanschauungen Die westliche Medienkultur insgesamt vermittelt in ihren Inhalten häufig Vorstellungen der großen Weltreligionen (freilich nicht immer theologisch richtig) und bietet auch immer wieder ein Forum für persönliche Selbstdarstellungen.1141 Auch aus anderen Religionen heraus werden explizit weltanschauliche Diskurse im Comic geführt, deren Autorinnen teilweise die Intention zu haben scheinen, gerade ›Außenstehenden‹ etwas vermitteln zu wollen. Dies ist ein enormer Schatz für die Religionspädagogik, ist das Interesse am Glauben nicht-christlicher Menschen und an anderen Kulturen bei Heranwachsenden doch nachweislich sehr hoch.1142 Obwohl gerade in diesem Bereich aufgrund medial-transkultureller Tendenzen eine schier unübersichtliche Menge an Werken besteht, soll an dieser Stelle auf einige Beispiele von Comics verwiesen werden, die sich gut in religionspädagogische Kontexte einbinden lassen. Aus muslimischer Perspektive ließen sich sowohl Comicreihen als auch in sich abgeschlossene Werke und Comicstrips aufzählen – für alle drei Gattungen hier hochwertige Beispiele: In der Superheldenreihe The 991143 sollen Kinder etwa für universelle und islamische Werte geworben werden, da hier Heldenfiguren auftreten, deren Namen an die 99 Namen Allahs angelehnt sind. In Comicstrips aus Europa werden häufig (individuelle) Fragen kultureller und muslimischer Identität verhandelt, etwa in den kurzen, episodischen Webcomics der deutsch-

1141 Vgl. Pirner, 2012, S. 159. 1142 Vgl. Schweitzer; Wissner; Bohner; Nowack; Gronover; Boschki, 2018, S. 157ff. 1143 2007.

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türkischen Künstlerin tuffix (Soufeina Hamed). Thompsons Habibi1144 ist hingegen eine äußerst umfangreiche Graphic Novel für Erwachsende, in der muslimische Legenden und Teile der islamischen Mystik anhand einer fiktiven Biographie mit Situationen tiefer Sinnkrisen verbunden werden.1145 Auch Satrapi verbindet in der Graphic Novel Persepolis die Suche nach Gott mit politischen und autobiographischen Fragen (vgl. IV 1). Dass die Lebensgeschichte von Menschen der entscheidende ›Ort der Religion‹1146 ist, zeigt auch das mehrbändige Werk Buddha1147, in dem der renommierte Künstler Tezuka umfangreich die Lebensgeschichte Buddhas mit dessen Lehre verknüpft darstellt und so auch westlichen Leserinnen Zugänge zum Buddhismus und dessen Stifterfigur eröffnet. Dem nicht unähnlich ist der Comic Shiva – Legenden des Unsterblichen1148, der einen Einblick in die Mythologie rund um die gleichnamige hinduistische Gotteserscheinung gibt. Darüber hinaus bildet die Reihe ein gutes Beispiel indischer Comic-Kunst, die trotz anwachsender transkultureller Strukturen in Deutschland bis jetzt nur wenig verbreitet ist. Einen oberflächlichen Überblick über hinduistische Gottheiten mit den ihnen zugeordneten Symbolen und Mythen gibt Don Rosa kindgerecht in Expedition nach Shambala (hier freilich aus einer Außenperspektive, der Autor ist kein Hindu). Das Werk soll vor allem neugierig machen. Besonders aber aus jüdischer Perspektive ist der Reichtum von graphischer Literatur, in die kulturelle und religiöse Identität mit eingeflossen ist, enorm. So bringt der französische Künstler Joan Sfar mit dem mehrbändigen Werk Die Katze des Rabbiners1149 seiner Leserschaft die jüdische Glaubenswelt ein Stück näher und bietet eine leichtfüßige Einführung in den talmudischen Diskurs: Eine sprechende Katze diskutiert mit ihrem Besitzer, einem Rabbi, über jüdische Identität, Gott und Schriftauslegung. Auch aus dem US-Raum, in dem die Comicindustrie in ihrer Pionierzeit in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts überwiegend auf jüdischen Schultern ruhte, gibt es explizit religiöse ComicKunst.1150 Ein besonders bekannter Künstler ist zum Beispiel Will Eisner, der in seinem Œuvre mehrmals dezidiert Themen des Antisemitismus aufgreift. Behringer fasst weiterführend zusammen: »Jüdische Geschichte findet in Eisners Lebenswerk autobiographisch oder biographisch motiviert statt.«1151 So verar1144 1145 1146 1147 1148 1149 1150 1151

Thompson, 2011. Habibi ist jedoch nur in Auszügen für die Schule geeignet. Vgl. Meyer-Blanck; Weyel, 2008, S. 158. Tezuka, 2012. Padhy, 2013. Sfar, 2001. Vgl. Behringer, 2009, S. 33. 2009, S. 32.

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beitet er in dem Comic Ein Vertrag mit Gott1152 den Verlust seiner einzigen, jung verstorbenen Tochter in Form einer modernen Hiob-Erzählung aus einem dezidiert jüdisch-historischen Blickwinkel, der sich auch in einigen formal-ästhetischen Gestaltungsmitteln niederschlägt (vgl. Abb. 26). Man kann die Erzählung als moderne Anknüpfung an den theologischen Diskurs um die Spuren des Tun-Ergehen-Zusammenhangs im Tanach verstehen.

Abb. 26

Auch in der größeren Bezugnahme auf Elemente des christlichen Glaubens finden sich in der Comicwelt einige Beispiele:

1152 Eisner, 2010.

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Was können Comics für die Religionspädagogik leisten? – Eine Annäherung

Der christliche Glaube als Thema eines narrativen Diskurses Sieht man einmal von missionarisch-evangelikalen Produktionen ab, ist der christliche Glaube nicht gerade ›Trend-Thema‹ in Werken der Sequenziellen Kunst und spielt oft höchstens am Rande eine Rolle. Es gibt jedoch auch Ausnahmen: In der Schnittstelle von extrem erfolgreichen Comics sowie jenen, in denen der Glaube eine große Rolle spielt, nimmt Craig Thompsons Blankets wohl eine zentrale Stelle ein. Dieses mehrfach ausgezeichnete, autobiographische Werk zeichnet sich durch große Tiefe und künstlerische Ausdruckskraft aus. Es dreht sich um das Coming of Age und die ersten große Liebe des jungen Craig, der in einem Klima fundamentalistischen Christentums aufwächst. Sein Weltbild hat sich allerdings stark verändert, als er schließlich erwachsen ist. Er erklärt seinem Bruder: Ich glaube immer noch an Gott; sogar an die Lehren von Jesus, aber der Rest des Christentums…die Bibel, die Kirchen, die Glaubensdogmen…das alles schafft nur Grenzen zwischen Menschen und Kulturen. Es verneint, wie schön es ist, ein Mensch zu sein und ignoriert all diese Lücken, die von jedem einzelnen ausgefüllt werden müssen.1153

Die Gründe für Craigs Entfremdung von seiner christlichen Identität sind komplex und könnten auch für den Religionsunterricht fruchtbar gemacht werden (vgl. III 3.1.2). Ein weiteres sehr bekanntes Werk, in der die explizit christliche Weltanschauung eine Rolle spielt, ist der Klassiker Stuck Rubber Baby von Howard Cruse1154. Die Graphic Novel dreht sich um Homosexualität, Rassismus und die Bürgerrechtsbewegung im Alabama der Sechzigerjahre. Der Glaube findet eher im Hintergrund Eingang in das Werk und während einerseits homophobe Tendenzen einiger Christen kritisch thematisiert werden, wird andererseits durch die Figur des Reverends Harland Pepper, der Martin Luther King nachempfunden ist, der Glaube auch von seiner lebensbejahenden Seite gezeigt. Dass sowohl in Blankets als auch in Stuck Rubber Baby der christliche Glaube thematisiert wird, verdankt sich ähnlichen Faktoren: Beide sind sehr umfangreich, beide sind in einem kulturellen Kontext entstanden, in dem der Glaube im öffentlichen Leben eine größere Rolle spielt, beide erzählen sehr persönlich, glaubwürdig und ernst und beide berichten von einer Lebensgeschichte (vgl. III 3.2). Lebensgeschichten und Comicbiographien sind häufig besonders offen für religiöse Bezüge und Tiefenstrukturen.

1153 Thompson, 2005, S. 533. 1154 Cruse, 1995.

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Biographien In der exemplarischen Auswahl von Werken in diesem Kapitel, die Religion explizit oder implizit in den öffentlichen Comic-Diskursraum stellen, finden sich sehr häufig Werke aus dem Genre der Biographie oder zumindest (wie bei Eisner) mit starken biographischen Bezügen. Denn Sinnfragen und Religion lassen sich besonders authentisch anhand der Darstellung eines Lebensweges darstellen und verarbeiten. Lebenslauf und religiöse Entwicklung sind unweigerlich miteinander verflochten: »Die Lebensgeschichte ist der ›Ort der Religion‹, in dem Religion und Glaube auf lebensgeschichtlich aufbrechende Fragen bezogen sind.«1155 Schmerz, Verlust, Tod, Glück und Dankbarkeit sind Teil jedes Lebenswegs und rufen zuweilen unweigerlich die Frage nach dem ›Warum‹ auf den Plan. Besonders deutlich markiert ist dies in Biographien zum Beispiel von Religionsstiftern oder Reformatoren wie Buddha oder Luther1156, jedoch wird auch in autobiographischen/autobiographisch inspirierten Werken wie Persepolis und Ein Vertrag mit Gott sowie fiktionalen Lebenserzählungen wie Onkel Dagobert – Sein Leben, seine Milliarden die menschliche Suche nach Sinn portraitiert. Näheres dazu soll in III 3.2 zu biographischen und narrativen Comics gesagt werden. Zwischen dem Genre der Biographie und dem Auffinden religiöser Tiefenstrukturen findet sich dabei zuweilen eine klare Verbindung. Religiöse Tiefenstruktur Als Anliegen der theologischen Kulturhermeneutik kann mitunter auch der Aufweis einer nicht offensichtlichen religiösen Tiefenstruktur oder impliziter Religiosität gelten.1157 Laut Kubik ist dabei das »eigentliche hermeneutische Instrument […] ein weiter Religionsbegriff zumeist funktionaler Provenienz.«1158 Häufig korreliert eine religiöse Tiefenstruktur mit der Suche nach Sinn, Erfolg und Glück im Leben. So hat Andrea Völkner in Don Rosas umfangreicher Biographie Onkel Dagobert – Sein Leben, seine Milliarden »sowohl religiöse Fragestellungen im hermeneutisch-diskursiven Sinn als auch substantiell-funktionale religiöse Anklänge« nachgewiesen.1159 Da sich Dagoberts Leben (im Gegensatz zur restlichen Duck-Sippe) konkret historisch verorten lässt, schildert Don Rosa seine Wurzeln und seine Ziele, sein Woher und Wohin.1160 Das Streben nach Ruhm und Reichtum des reichsten Mannes der Welt aus ärmlichen Verhältnissen, sein hohes Ethos und seine Verbissenheit werden hier genauso the-

1155 1156 1157 1158 1159 1160

Meyer-Blanck; Weyel, 2008, S. 158. Stetter, 2013. Vgl. Kubik, 2011, S. 229. 2011, S. 224. 2011, S. 55; vgl. auch die Ausführungen in Pohl, 2013. Vgl. Völkner, 2011, 56f.

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matisiert wie der selbstverschuldete Verlust seiner Familie aufgrund von Egoismus und falschen Prioritäten. Völkner erklärt: Die mit biografischer Geschichte verbundenen Fragen nach dem Warum und Wozu lassen Dagobert als die religiös ansprechbarste Figur aller Ducks erscheinen; ansprechbar im Sinne eines hermeneutisch-diskursiven Religionsbegriffs im Transzendieren des Einen auf das Ganze hin1161.

Inmitten von Verweisen auf christliche und nicht-christliche Symbole, in mitten von ethischen Fragen, einer Jenseitsbegegnung, dem Kampf mit der Vorsehung und dem Schicksal, schutzengelhaften Ahnen, animistischen Traditionen und mystischen Sphären ringt der Protagonist Dagobert um seine Identität und spekuliert über Sinn und Ziel eines wert-vollen Lebens. Es ist kein Wunder, dass er im Zuge dessen auch in metaphysische Angelegenheiten verwickelt wird. Immer wieder kommt es dabei auch zu mehr oder weniger subtilen Umdeutungen religiöser/christlicher Symbole. Bezüglich der religiösen Tiefenstruktur von Geschichten, lassen sich Parallelen zur Bibel aufzeigen: Auch hier erzählen die Autoren etwa die Geschichte(n) Israels, wobei nicht die Schilderung historischer Tatsachen die vorderste Aufgabe ist, sondern das Herauskristallisieren von Identität: die Heilsgeschichte Gottes mit den Menschen.1162 Das Aufspüren von Strukturanalogien dieser Art zwischen narrativen oder personalen Strukturen im Comic auf der einen Seite und biblischen/christlichen Geschichten oder Symbolen auf der anderen zeugt von einer religiösen Tiefenstruktur auch in vermeintlich säkularen Erzählungen. Diese aufzuspüren kann Ziel der Praktischen Theologie sein.1163 Diese Form der Religionshaltigkeit in der Populärkultur ist bis jetzt noch nicht völlig theologisch durchdrungen worden. Das gilt für Comics umso mehr, obwohl das Medium zurzeit doch sowohl mit vielen Biographien als auch mit Superheldenerzählungen aufwarten kann, in denen sich ebenso religiöse Tiefenstrukturen finden lassen (vgl. III 2.1.1). Zuletzt zu einer Gruppe von Comics, die eher überschaubar ist. Comics mit zentralen Stellungnahmen zu ethischen oder dogmatischen Fragen Die Anzahl von Comics, die bedenkenswerte Positionen zu dogmatischen und ethischen Streitfragen einnehmen und sich dabei explizit im Rahmen einer spezifischen Ethik oder Dogmatik bewegen, ist m. E. verhältnismäßig gering.1164 Es scheint, als würde das Medium keine Affinität für derartige Themen besitzen, obwohl viele Comic-Künstlerinnen doch zum Beispiel ohne Umschweife die 1161 1162 1163 1164

2011, S. 57. Vgl. Liss, 2005, S. 192. Vgl. Kubik, 2011, S. 224. Vgl. ebd.

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Position von Außenseitern beziehen und gesellschaftspolitisch oder historisch relevante Themen verarbeiten. Hier wird Ethik also eher implizit oder am Rande verhandelt, etwa wenn in Stuck Rubber Baby darüber diskutiert wird, ob man sich im passiven Widerstand gewaltvoll gegen Polizeihunde wehren dürfe. Nennenswert ist Mathieus Gott höchstselbst, in dem der Autor in ontologischer Hinsicht philosophiert und theologisiert. In der Erzählung materialisiert sich Gott auf der Erde und wird augenblicklich angeklagt, angezweifelt und geprüft. In Eisners Ein Vertrag mit Gott steht ergreifend das Ringen mit der Theodizee und das Wesen Gottes im Mittelpunkt. Während hier eher der abwesende Gott ›gezeichnet‹ wird, wird er in Ennis’/Dillons’ Preacher angeklagt und als selbstsüchtige Figur gezeichnet, die mit Gewalt die Liebe der Menschen erpressen will.1165 Bei diesen religiösen Bezügen in Comics darf auch ein ganzes Genre nicht vernachlässigt werden, welches von tiefenstrukturellen, impliziten Verweisen auf christliche Hoffnungen und Vorstellungen durchdrungen ist. Da dieses eine besondere Relevanz hat, kommt ihm im Folgenden ein eigenes Kapitel zu.

2.1.1 Strukturanalogien zwischen dem Superheldengenre und jüdisch-christlicher Erlösungshoffnung Das Superheldengenre ist das einzige Abenteuergenre, das seinen Ursprung unmittelbar im (westlichen) Comic hat, sodass viele Menschen derartige Geschichten intuitiv mit der Comickultur verbinden.1166 Deshalb tut auch die Comicdidaktik gut daran, sich zu diesem für Comics so zentralen Thema zu verhalten. Das gilt umso mehr durch den Aufschwung, den das Superheldengenre durch zahlreiche Blockbuster und Serienerfolge erfahren hat (vgl. auch I 2.5). Zudem hat das Interesse der Praktischen Theologie an derartigen Geschichten geradezu Tradition.1167 Einige wichtige kulturhermeneutische und theologische Diskurslinien sollen deshalb kurz nachgezeichnet werden. Erzählungen dieses Genres drehen sich um einen spezifischen Typus von Protagonistinnen und Protagonisten mit mehreren bestimmten Merkmalen, den sogenannten ›Superheldinnen‹ bzw. ›Superhelden‹. Diese werden hier zunächst charakterisiert, bevor theologische Bezüge und Analogien zwischen den Figuren und Jesus Christus (vor allem im Kontext der Soteriologie) dargestellt werden. Ein kurzer Abschnitt, der einen Überblick darüber gibt, wie Theologen diese Zusammen-

1165 Vgl. Seydel, 2011, S. 135. 1166 Vgl. Wiedemann, 2011, S. 11. 1167 Vgl. etwa Oropeza, 2008; Kirsner; Seydel; Schroeter-Wittke, 2011; Wermke, 1976 (a).

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hänge bewerten, leitet dann über zu der Frage, ob Superheldengeschichten heute tatsächlich religiös rezipiert werden. Was sind Superheldinnen und Superhelden? Das Superheldengenre ist wie jedes Genre bestimmten Konventionen verpflichtet. Zielgruppe der ersten Superheldencomics waren vor allem heranwachsende Jungen, die die ersten Geschichten dieser Art in Heften für alle möglichen Abenteuer-/Actioncomics präsentiert bekamen, bis sich schließlich mehr und mehr ein eigenes Genre mit eigenen Heften und Reihen etablierte. Heute visieren Verlage und Schaffende teilweise auch Erwachsene an. Die überwiegend konventionelle Erzählweise, in der die Handlung im Vordergrund steht, ist jedoch geblieben und ein guter Teil der Gesamtpanel-Anzahl wird immer noch für actiongeladene Kampf- oder Rettungshandlungen genutzt. Vor allem aber drehen sich die Erzählungen immer um einen bestimmten Typus: Figuren, die besondere Fähigkeiten und Kräfte unterschiedlicher Art besitzen, welche die normaler Menschen bei weitem übersteigen. Superheldenfiguren verfügen über einige Grundeigenschaften, auch wenn diese je nach dramaturgischen und medialen Kontexten innerhalb eines gewissen, vorgegebenen Spielraums immer wieder neu konfiguriert werden können.1168 Sie sichern selbstlos, mutig und tapfer in Notsituationen die existenziellen Bedürfnisse anderer.1169 Manche treten dafür als ›Einzelkämpfer‹ auf, wie etwa in den Serien Batman, Captain America, Thor, Wonder Woman, Ironman und Daredevil, andere als Super-Teams wie die Fantastic Four oder die X-Men. Diese Gruppen können sich auch für begrenzte Zeiträume bilden. Die Figuren kämpfen teilweise in kurzen Episoden, dann wieder innerhalb großer Bögen gegen Unglücke oder Kriminelle, die ihre Mitmenschen bedrohen. Mitunter treten antagonistische Figuren mit Superkräften auf. In der Regel führen die Figuren ein Doppelleben, um ihre Superidentität geheim zu halten, so dass auch zwischenmenschliche Konflikte und Zweifel thematisiert werden. Durch diese Doppelidentität und das zweitegeteilte Leben (einerseits Heldin, andererseits ›nur‹ bürgerliche Journalistin) sind die gleichzeitig Teil der ›normalen‹ Welt – und teilweise nicht. Sie wandeln zwischen zwei Repräsentationsräumen. Die Superheldenidentität wird meistens durch einen spezifischen ›Codenamen‹ sowie ein ikonisches Kostüm repräsentiert.1170 Der Ursprung ihrer Kräfte ist unterschiedlich: So sorgen bei den X-Men angeborene, genetische Mutationen für ihre besonderen Fähigkeiten, Batman und Ironman helfen sich allein mit technischen Mitteln und Thor ist gar göttlichen Ursprungs. Häufig sorgt auch ein Unfall oder ein Kontakt zum 1168 Vgl. Packard; Rauscher; Sina; Thon; Wilde; Wildfeuer, 2019, S. 132. 1169 Vgl. Ditschke; Anhut, 2009, S. 135. 1170 Vgl. Coogan, 2018, S. 85. Ausnahmen wären beispielsweise Luke Cage und Jessica Jones.

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Beispiel mit radioaktivem Material für die Wendung im Leben der Figuren. Superheldenfiguren fühlen sich innerlich zum heldenhaften Handeln verpflichtet, was oft in einem traumatischen Erlebnis begründet ist.1171 So jagt etwa Batman deswegen Verbrecher, weil er er als Kind Zeuge werden musste, wie seine Eltern bei einem Raubmord ums Leben kamen (vgl. dazu auch III 4.3.2). Tatsächlich sind nicht wenige Superheldenfiguren von Trauma-Erfahrungen betroffen.1172 Der Großteil der Figuren stammt aus den USA, wo diese Abenteuercomics eine besondere Tradition haben. Die höchsten Comicverkaufszahlen gehen dort i. d. R. auf das Konto des Superheldengenres1173, obwohl sie insgesamt zugunsten des Mediums Film im Sinken begriffen sind.1174 Die Genrekonventionen bleiben aber auch in der medialen Transformation erhalten. Aus dem europäischen Kontext stammen deutlich weniger Archetypen dieser Liga, jedoch gibt es sie: So erfreut sich die Disney-Figur des Phantomias, die ihre Karriere als Batman-Parodie begann, gerade im Ursprungsland Italien höchster Beliebtheit. Theologische Bezüge des Genres Religion spielt in Superheldencomics in der Regel keine explizite große Rolle (Phänomene wie ›Bibleman‹ sind eine Ausnahme). Die alten/traditionellen amerikanischen Superfiguren sind jedoch allesamt so patriotisch gezeichnet, dass ihnen wohl zumindest ein zivilreligiöser Deismus unterstellt werden kann (»God save America!«). Christlich-jüdische Werte sind auch implizit mitgezeichnet. In Zeiten der Globalisierung ist das Genre aber nicht mehr nur auf den amerikanischen oder europäischen Raum beschränkt und die Verlage oder Künstlerinnen positionieren ihre Figuren hin und wieder auch ganz offen im Raum einer Religion – auch manchmal mit pädagogischen Absichten. Ein kuwaitisches Format namens The 99 verknüpft mythologisch erscheinende, übermenschliche Heldinnen und Helden mit dem Islam. Die Serie, in der die Figuren verschiedene Namen Allahs verkörpern, erfreut sich dabei zunehmender Beliebtheit.1175 Die Hoffnung auf Erlösung und eine bessere Welt kommt hier explizit mit dem Schöpfergott des Islams verbunden zum Ausdruck. Ein explizit jüdischer Superheld ist beispielsweise Michael Netzers Uri-On, der patriotisch auf der Seite Israels kämpft. Als pars pro toto für viele Superhelden steht die fest etablierte und überaus populäre Figur des ›Superman‹ mit seiner gleichnamigen Serie (erstmals 1938

1171 1172 1173 1174 1175

Vgl. auch Ditschke; Anhut, 2009, S. 137. Vgl. dazu bspw. Oppolzer, 2013, S. 256. Vgl. Endres; Pannor, 2008, S. 137. Vgl. Ditschke; Anhut, 2009, S. 131. Vgl. Luibl, 2011, S. 44.

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erschienen). Superman ist mit seinen Fähigkeiten praktisch omnipotent.1176 Die Schöpfer, Joe Schuster und Jerry Siegel, beide jüdisch erzogen, haben später erklärt, von ihrem Glauben bzw. der jüdisch-christlichen Erlösungshoffnung inspiriert worden zu sein.1177 Tatsächlich sind sehr viele amerikanische Superheldenfiguren der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts von jüdischen Künstlern ersonnen worden – eine Tatsache, mit der eigene Forschungslinien verbunden sind.1178 Superheldinnen geraten immer wieder in Situationen, in denen die (gesellschaftliche) Ordnung in der Welt gestört wird. Nur sie vermögen diese wieder herzustellen.1179 Die Heldinnen kämpfen also mitnichten immer für eine bessere Welt als solches. Ditschke und Anhut merken an, dass es »moralische, politische, ökonomische und gesellschaftliche Konstrukte [sind], die erhalten und durch die Handlungen der Superhelden bestätigt werden.«1180 Sie bringen die Welt meistens (recht unreflektiert) zurück in ihre Ausgangslage. Trotzdem ist archaische Muster ›Ordnung gegen Unordnung‹ (bzw. Gut gegen Böse) Thema der meisten Handlungsstränge, und auch explizit religiöse Dimensionen wie das Motiv der Selbstaufopferung sind ein Klassiker im Genre.1181 In den überirdisch erscheinenden Figuren, die ständig die Welt vor neuem Verderben zu retten scheinen, zeigt sich auch ein Messias-Motiv. So riet Stan Lee (Erfinder zahlreicher Heldenfiguren) einem Kollegen bei der Gestaltung von Silver Surfer: »Je näher Du an Jesus Christus herankommst, desto besser«.1182 Dabei geht es nicht nur um eine pädagogische Vorbildfunktion der Helden. Luibl erklärt in Bezug auf Superman, den sogenannten ›Mann aus Stahl‹: Superman hat einen himmlischen Ursprung [nämlich den fernen Planeten Krypton, Anm. d. A.] […] und kommt dann zur Erde. Man kann dabei an Jesus Christus denken: der kommt vom Gottvater zu Adoptiveltern auf der Erde, lebt seine Doppelexistenz oder seine doppelt codierte Identität als Mensch hier und Übermensch, Gott, Superman, dort. Das Grundprinzip des Gottessohnmythos – Kenose als Akt der Liebe, um von Grund auf Gerechtigkeit herzustellen – findet sich auch bei Superman. Selbst die bildlichen Inszenierungen sind vergleichbar.1183

1176 Vgl. auch Eco, 1994, S. 216. 1177 Vgl. Luibl, 2011, S. 36. 1178 Vgl. Malcolm, 2008, S. 145. Die Reihe um die X-Men ist dabei möglicherweise die, welche jüdische Identität und Geschichte am bittersten widerspiegelt, geht es doch um gesellschaftliche Ausgrenzung und Hass auf die vermeintlich so andersartige Gruppe der Mutanten. In den Achtzigerjahren stellte die Comicserie zudem die Figur des Magneto vor, der als Shoa-Überlebender eine berührende Geschichte hat. 1179 Vgl. Ditschke; Anhut, 2009, S. 141. 1180 Ebd., S. 156. 1181 Vgl. Luibl, 2011, 42, 36. 1182 Stan Lee, zit. nach Wermke, 1976 (b), S. 8. 1183 2011, S. 36.

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Ikonische Anspielungen auf Christus sind tatsächlich sehr häufig, sowohl im Comic als auch im Film (vgl. zum Beispiel besonders Batman v. Superman – Dawn of Justice, 2016). Das jüdisch-christliche Dispositiv des Messias wird in der Superman-Geschichte also umgesetzt und im gewissen Sinne aktualisiert – auch wenn sich die Entstehungsgeschichte des Heldenstoffes natürlich nicht gänzlich darauf beschränkt und zum Beispiel auch von den quasi-religiösen Götter- und Heldensagen der Antike angehaucht ist.1184 In diesen Mythen treten in der Regel ebenso Helden auf, die im Wandler und Mittler zwischen Repräsentationsräumen und Welten sind, wie die der Götter und die der Menschen.1185 Diese welterlösende Erhebung der Helden könnte erklären, warum Superman, Spiderman und andere Superheldenfiguren geradezu irritierend oft in amerikanischen Umfragen als persönliches Vorbild gleich einer religiösen Leitfigur genannt werden.1186 Wer einmal die scheinbare Oberflächlichkeit des Genres durchdrungen hat, bewundert also nicht selten die Außergewöhnlichkeit und Selbstlosigkeit der Heldinnen und Helden. Der Vergleich zwischen Christus und Superheld bekommt dadurch eine zusätzlich interessante Komponente und wird bestärkt, wenn man bedenkt, dass auch Kinder auf der fowler’schen Stufe des mythologischen Artifizialismus bzw. auf der kognitiven Entwicklungsstufe des präoperationalen Denkens ein christologisches Konzept haben, das Jesus als eine Art allmächtigen »Hyperzauberer« darstellt.1187 Büttner und Rupp bestätigen, dass das Bild des christlichen Religionsstifters in einer bestimmten religiösen Entwicklungsphase im Grunde mit den mächtigen Figuren aus der Comic- und Fernsehwelt konkurriert.1188 Die Vorstellung von einer Art Superman-Christus, der die Welt jederzeit wieder in Ordnung bringt und dauerhaftes Leid und Unglück unmöglich macht, ist also in uns angelegt, auch wenn das Konzept später natürlich meist von einer stärker differenzierenden Christologie abgelöst wird. Für die Religionspädagogik ist dies dennoch ein nicht unwichtiger Befund. Theologische Urteile Die theologische Deutung (und Wertung!) des Superheldenstoffes, die angesichts dieser Befunde nicht ausbleiben konnte, divergiert. Laut dem Regisseur einer der Superman-Filmadaptionen (2006), Bryan Singer, verdichtet sich im modernen (Super-) Heldenmythos die westliche Religion, denn der Glaube an das Gute zelebriere »gewissermaßen das Beste, was die christliche und jüdische Religion anzubieten 1184 1185 1186 1187 1188

Ebd., 36f. Ditschke; Anhut, 2009, 158f. Vgl. Luibl, 2011, S. 42. Büttner; Rupp, 1999, S. 44. Vgl. 1999, S. 33.

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Was können Comics für die Religionspädagogik leisten? – Eine Annäherung

haben.«1189 Für viele Forschende hingegen wird Religion hier schlicht ausgedünnt und verliert an lebensspendender Bedeutung.1190 So erklärt Luibl, dass Religiöses, wenn es im Comic Einzug hält, seine lebensverändernde Kraft verlöre und nur noch zu einem Teil der Unterhaltungswelt werde.1191 Religiöse Motive würden transportiert und verblieben so (zum Beispiele durch Anteile der Ikonographie) im kollektiven Bewusstsein, allerdings jenseits des Deutungsmonopols der Religion.1192 Hier klingt die religionsbezogene Oberflächenebene in Comics an (vgl. III 2.1), die zwar Symbole aufgreift und so im kulturellen Gedächtnis bewahrt, ihre Bedeutung jedoch auch oft abwandelt und in den Dienst einer einzelnen populärkulturellen Erzählung stellt. Die Heldennarrative könnten sich vom christlichen Standpunkt her also als wenig oder nur kurzzeitig tragfähig erweisen. Rosenow erklärt in Bezug auf Erlösungs- und apokalyptische Motive in den Medien, diese fungierten als Fluchtmechanismen, ohne für die eigene Lebensdeutung Relevanz zu besitzen.1193 Luibl erklärt: Nach dem Tode Gottes als Ende der universalen religiösen Deutungsansprüche tritt das Erbe ein säkularer Heldenmythos an. […] Mit den Comicheften kann man religiöse Sehnsüchte anschaulich machen – mit dem Ende der Geschichte legt man das Heft und die Ansprüche wieder ab. Mit Superman ist die Religion im Zuge der Säkularisierung im Medium der Unterhaltung angekommen.1194

Umberto Eco hat diesen Sachverhalt schon früh reflektiert und den Schluss gezogen, die Industrie von Comics dieser Art sei ein offenkundiges Beispiel von Mythisierung im Zeitalter der Massenmedien.1195 Das populär-mythologische Repertoire werde dabei zugleich von Industrie und Rezipientenschaft genutzt, gesteuert und geprägt.1196 Diese Mythen hätten ihre verbindliche Bedeutung und Sakralität verloren, seien jedoch auf die aktuellen gesellschaftlichen Herausforderungen und individuellen Bedürfnisse des postmodernen Menschen zugeschnitten.1197 Mythenstoffe wie im Superheldengenre sind zwar nicht in der ›sichtbaren‹ Religion angesiedelt, erinnern uns aber unter anderem an sie, da der alte Bildschatz in der Inszenierung der Heldenfiguren aufgegriffen wird, so dass ihm neue, zusätzliche Bedeutung verliehen wird.1198

1189 1190 1191 1192 1193 1194 1195 1196 1197 1198

Bryan Springer, zit. nach Luibl, 2011, S. 35. Vgl. ebd., S. 37. Vgl. ebd., S. 52. Vgl. ebd., S. 50. Vgl. 2019, S. 213. 2011, S. 37. Vgl. 1994, S. 191. Vgl. ebd., 190f. Vgl. Eco nach Luibl, 2010. Vgl. ebd.

Theologisch-kulturhermeneutische Zugänge

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Der Mythos von Superman inszeniert aber auch eine eigene Botschaft, die Menschen in einer Massengesellschaft anspricht, die von zunehmender Individualisierung geprägt ist, wo also jeder Normalbürger nach seinem Platz und Wert in der Welt frage.1199 Zentrale Identifikationsfigur ist dann wohl auch Supermans bürgerliche Identität Clark Kent – ein ›Mann von der Straße‹.1200 Luibl ergänzt zusätzlich die These, Superheldenmythen seien ein Ausdruck der gesellschaftlichen Verarbeitung von Machtlosigkeit, wenn Superhelden in Comics zum Beispiel auch vor den Trümmern des World Trade Centers gezeigt werden.1201 Auf die Anfrage, wo er gewesen sei und warum er den Anschlag nicht verhindert habe, fehlen Spiderman die Worte. Ihm wird klar: »How do you say we didn’t know. We couldn’t know. We couldn’t imagine.« Die Künstlerinnen adressieren so Ängste und Sehnsüchte der Menschen. Meistens bleibt das einfache Schema ›Gut gegen Böse‹, das übrigens häufiger in komplizierteren Erzählungen endet, als man denken mag, auf seine schlichte Form reduziert.1202 Das ›Böse‹ wird mit bestimmten Menschen gleichgesetzt, sodass es bekämpft wird, indem die entsprechenden Gegner besiegt werden.1203 Aus theologischer Perspektive kann man diese Personifizierung und Simplifizierung des Bösen durchaus kritisch markieren, ist dem doch der vielmehr strukturelle Charakter der Sünde, gegen die niemand gefeit ist, entgegenzuhalten.1204 Selbst das Farbschema in den Anfängen des Superheldencomics verblieb lange in einer knallbunten Primärfarbenwelt mit wenigen Zwischennuancen, was vielleicht auch ein symbolisches Indiz für inhaltliche Zusammenhänge darstellt.1205 Scott McCloud sieht hierin eine Bestätigung der Vereinfachung und gleichzeitig eine archaische Ebene in diesem Genre: »Viele sehen im Superhelden-Comic eine moderne Form der Heldensage. Wenn das stimmt, hat es vielleicht auch mit der Symbolkraft der Farbe zu tun. Symbole sind der Stoff, aus dem die Helden sind.«1206 Entsprechend leuchten auch die Kostüme der Superhelden. Julia Wermke betrachtet Superhelden- und Abenteuer-Comics als moderne Mythen, geht aber mit Eco konform, indem sie feststellt, dass diese Heldennarrative längst nicht mythisch rezipiert werden müssen.1207 Dennoch ist denkbar, dass sie für viele eine säkulare Lebenshilfe darstellen. Es erscheint einleuchtend, dass angesichts der komplexen Lebenswirklichkeit, in der Gut und 1199 Vgl. Eco, 1994, S. 194; Luibl, 2010. 1200 Vgl. Eco, 1994, S. 198. 1201 Vgl. Luibl, 2011, S. 42. Dabei handelt es sich in der Regel um Marvel-Figuren, die oft stärkere Bezüge zur realen Welt aufweisen als DC-Figuren. 1202 Vgl. die Zusammenschau der Todesthematik in Superheldencomics bei Brinkmann, 2011. 1203 Vgl. Pirner, 2012, S. 166. 1204 Vgl. ebd. 1205 Vgl. McCloud, 2001 (b), S. 196. 1206 Ebd. 1207 Vgl. Wermke, 1976 (a), S. 9.

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Was können Comics für die Religionspädagogik leisten? – Eine Annäherung

Böse tagtäglich verschwimmen, Erzählungen, in denen am Ende immer das Gute triumphiert, eine ermutigende, stärkende, befreiende, erlösende und vielleicht sogar kathartische Wirkung haben. Auch nach Aufklärung und Säkularisierung in unserem Kulturkreises streben Menschen schließlich immer noch nach diesem klassischen Narrativ und nach Erzählungen mit offensichtlichem mythologischem Charakter. Wermke reflektiert darum zu Recht, dass die Entmythologisierung unserer Theologie möglicherweise eben nur zur Abschaffung (explizit) christlicher Mythen geführt habe: Die anhaltende Bedeutung des Superheldengenres und anderer Comicgeschichten (aber auch die Popularität von Phänomenen wie Esoterik oder Parapsychologie) rege an zu überlegen, ob der Mensch möglicherweise Mythen zur Erklärung seines Lebens brauche und sie sich deshalb heute selbst und abseits der institutionalisierten Religion suche.1208 Demnach wäre mythisches Denken eine anthropologische Grundkonstante, die sich nur immer wieder neu erfindet.1209 Die christlichen Erklärungsmythen verlören zunehmend ihre Bedeutung, Theologie werde immer »elitärer«, sodass von der Gesellschaft ein Ersatz gefordert werde, »die Ablösung eines Systems durch ein anderes, hinsichtlich Struktur und Funktion vergleichbares.«1210 Auch Kubik vertritt die These, dass die Medien des Alltags heute der alltäglichen Selbstdeutung dienen, besonders Narrationen einer gewissen kulturellen Dauerhaftigkeit. Mit leichter Ironie erklärt er: »Dazu sollen angeblich früher einmal biblische Geschichten gehört haben. Diese Funktion haben andere übernommen, unter anderem die Comics; die Bibel scheint sie vollständig verloren zu haben.«1211 Hier deutet sich ein wichtiger Auftrag gegenwärtiger Religionspädagogik an (vgl. III 2.2). Auch Kunstmann stimmt zu, dass die Popkultur Funktionen übernommen hat, die bisher die Religion innegehabt habe.1212 Jedoch relativiert er die Theorie auch: Die wirkliche subjektive Aneignung dieses Angebots ließe sich nicht ganz klären und hänge auch davon ab, wie nahe Individuen dies an sich heranließen.1213 Es bestünde zwar eine Strukturähnlichkeit zur Religion, und es sei davon auszugehen, dass fast alles, sei es noch so ›profan‹, für einen Menschen eine religiöse Qualität entfalten könne – die Rezipientinnen der Popkultur sollten aber deshalb noch nicht automatisch und eventuell gegen ihren Willen als ›religiös‹ bezeichnet werden.1214 Zudem bestehen schon auf der narrativen Ebene fundamentale Unterschiede zwischen Jesus Christus und den heldenhaften Figuren der Populärkultur: Während Wonder Woman (zweifels1208 1209 1210 1211 1212 1213 1214

Vgl. Wermke, 1976 (b), 9f. Vgl. ebd., S. 9. Ebd., 10f. 2011, S. 231. 2004, S. 258. Vgl. ebd. Vgl. ebd., 258f.

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ohne die Figur, in der am deutlichsten eine Verarbeitung antiker Mythen stattgefunden hat) und Professor Xavier von den X–Men dafür kämpfen, nach dem Eindringen der Katastrophe wieder zur alten Ordnung zurück zu finden, stellt der Jesus der Evangelien die Ordnung dieser Welt, den gesellschaftlichen IstZustand und Machtstrukturen radikal infrage (Mt 10,31; Mt 19,14; Joh 8,11). Werden Superheldengeschichten auch im Alltag religiös gedeutet? Grundsätzlich wird in der Beschreibung von Superheldengeschichten als ›moderne Mythen‹ sicher oft übersehen, dass der Vergleich auf einer spezifischen Ebene mehr als hinkt: im Gegensatz zu existenziell-religiösen Erzählungen erheben Superheldenerzählungen nicht den Anspruch auf Historizität. Jedes Kind versteht, dass es sich hier um reine Fiktion handelt. Das ist bei biblischen Erzählungen anders; die Meinungen zu deren Historizität gehen historisch und global betrachtet weit auseinander. Genauso wie biblische Geschichte gedeutet wird, können auch Superheldencomics fernab von der Suche nach historischer Wahrheit interpretiert werden: indem die dahinterstehende existenzielle Wahrheit extrahiert wird, in diesem Fall eine Botschaft von Heldentum, Mut und selbstloser Aufopferung. Das sind Zusammenhänge, die Menschen emotional (und kognitiv) bewegen können – möglicherweise (!) sogar mit der gleichen Dringlichkeit wie in biblischen Erzählungen. Dennoch tendieren Forscher, die einen zu direkten Vergleich ziehen, dazu, religiöse Erzählungen (ungewollt?) zu diskreditieren, indem sie eine gewisse Austauschbarkeit suggerieren. Immerhin ist die Ebenbürtigkeit religiöser Bezüge und populärkultureller Welten, wie gezeigt wurde, umstritten. Möglicherweise, ja sogar höchstwahrscheinlich, liegt aber keine akute Konkurrenz zwischen dem Verhältnis von Religion und populärkultureller Lebensdeutung bzw. Mythen in Comicform vor, wenn Menschen beide Deutungsmöglichkeiten zu Verfügung haben. Dazu könnte man ergänzen, dass kein Comicfan und keine Freundin der Populärkultur deren Botschaften ungefiltert übernimmt. So sollte es durchaus möglich sein, eine Affinität für das Superheldengenre zu haben und dennoch Teil einer institutionalisierten Religion zu sein oder durch den Opfernarrativ des Genres im Glauben an das Opfer Christi bestätigt zu werden. Dazu konstatiert Kubik, dass die Kirche für die »kleinen Transzendenzen«, wie Aufmunterung bei alltäglichen Niederlagen, nicht mehr benötigt zu werden scheint – für die »großen Transzendenzen« behalte das Christentum aber seine Bedeutung1215. Sein Beleg, nämlich »die ungebrochene Bedeutung von kirchlichen Kasualien«1216 ist allerdings nur ein schwaches Argument, sind hier die Entwicklungen doch sehr wohl rückläufig. Kinder und Jugendliche, die sonst keine religiöse Erziehung erfahren, wenden sich verstärkt 1215 Vgl. 2011, 231f. 1216 Ebd., S. 232.

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Was können Comics für die Religionspädagogik leisten? – Eine Annäherung

Comic- und Medienwelten zu, um Sinnstrukturen aufzubauen1217. Im Falle kirchenferner/konfessionsloser Jugendlicher können Superheldennarrative mit ihrer Ethik also zweifelsohne zu einer Ersatzweltanschauung werden. Von ›Konkurrenz‹ zum Evangelium zu sprechen, wäre in diesem Falle allerdings unsinnig, da viele Heranwachsende der Kirche überhaupt nicht mehr die Bedeutung zusprechen, die sie haben müsste, um reell mit den Medienwelten konkurrieren zu können (vgl. III 4.2.1). Es lässt sich zusammenfassen, dass neben zahlreichen Einzelwerken auch ein ganzes Comicgenre, und zwar gerade jenes, das im öffentlichen Bewusstsein mitunter paradigmatisch für das gesamte Medium steht, eine religiöse Tiefenstruktur aufweist, in der Strukturparallelen zur jüdisch-christlichen Messiashoffnung zu finden sind. Das Superheldengenre hat zwar einen augenscheinlich säkularen Charakter, ist in diesem Gewand jedoch durchaus ansprechbar für religiöse Hoffnungen und Fragen – Themen, die Leserinnen frei nach Tillich eben »unbedingt angehen«. Es scheint, als würde der postmoderne, säkulare Mensch auch speziell in diesem Genre populärer Kultur nach Lebenshilfe(n) suchen – auch wenn die Meinungen darüber, ob dies gelingen kann, auseinandergehen. Wie diese Erkenntnisse genutzt werden können, soll nun erörtert werden.

2.2

Diskussion und religionspädagogischer Nutzen

Nach dieser Betrachtung von Comics aus theologisch-kulturhermeneutischer Perspektive stellt sich die Frage, ob und wie die Ergebnisse didaktisch nutzbar gemacht werden können. Trotz wachsender Toleranz sehen sich die ›Cultural Studies‹ – und damit auch Zweige der Praktischen Theologie – gelegentlich immer noch mit gewissen Anfechtungen konfrontiert, weil sie Kultur als Alltagspraxis untersuchen und Bereiche kulturellen Lebens außerhalb der ›Hochkultur‹ erforschen. Dabei ist schon diese Unterscheidung mit Schwierigkeiten verbunden: Wenn überhaupt, dann unterliegt Populärkultur speziellen Produktions-, Distributions- und Rezeptionsbedingungen; man kann ihre Erzeugnisse also nicht primär über ästhetische oder inhaltlich-formale Aspekte, sondern vor allem funktional-pragmatisch definieren1218. Dabei ist schon erwähnt worden, dass auch Comics als »unscheinbare Oberflächenäußerungen«1219 einer Gesellschaft in ihrer Bedeutung nicht unterschätzt werden sollten.

1217 Vgl. Pirner, 2012. 1218 Vgl. Schlachter, 2014, S. 3. 1219 Kracauer, 1963, S. 50.

Diskussion und religionspädagogischer Nutzen

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Comics agieren heute tatsächlich zwischen zwei Polen, für die Ahrens treffend die Dichotomie-Metapher von ›Opernbesuch‹ und ›Jahrmarktsvergnügen‹ wählt1220: Einerseits sind mit dem sogenannten ›Graphic Novel‹-Format Leserkreise erschlossen worden, die sich vormals eher ›legitimen‹ Zweigen der (elitären Hoch-)Kultur, wie der Oper, verschrieben haben: In Comics wie Bechdels Fun Home oder Are You my Mother? finden sich zum Beispiel besonders komplex konstruierte Narrationen, die immer wieder auch Bezug auf klassische literarische Werke nehmen und für deren Verständnis (und deren Genuss) man Vorwissen benötigt. Andererseits ist das Medium populärkulturellen Zusammenhängen, die ihm ursprünglich zum Erfolg geholfen haben, absolut treu geblieben: Ähnlich einem Jahrmarkt bieten viele Einzelwerke und Serien ein relativ niedrigschwelliges Vergnügen für jeden und jede an – ohne dass ihre Vielschichtigkeit damit notwendigerweise verringert würde. Möglicherweise zeigt sich heute also gerade am Comic, dass die Trennung »zwischen der populären und der elitären Kultur formal nicht mehr zu ziehen ist; höchstens in Residuen noch habituell und natürlich ökonomisch, aber auch hier kratzt bereits vieles am Lack.«1221 Ein Comic wie Watchmen1222 wird heute als ›Graphic Novel‹ gehandelt, richtet sich eindeutig an Erwachsene, ist hochkomplex konstruiert und wurde vom amerikanischen Magazin ›Time‹ zu den 100 besten englischsprachigen Romanen (!) des letzten Jahrhunderts gewählt1223. Veröffentlicht aber wurde er im DC-Verlag und schließt (wenn auch nicht unkritisch) thematisch unmittelbar an das populärkulturelle Superheldengenre an, so dass der Comic auch von diesen Fans unmittelbar wahr- und aufgenommen wurde. Nicht alle Comics sind also nur durch ihre Form und Historie prinzipiell Teil der Populärkultur, sie haben aber vielfach noch ihren unbestreitbaren ›Sitz im Leben‹ im populärkulturellen Spektrum, welches wiederum eine herausragende Stellung im Alltag sehr vieler Menschen besitzt1224. Hier soll deshalb eine Lanze für die religionspädagogische Beschäftigung mit Comics gebrochen werden, gerade mit solchen, die milieuübergreifend und relativ barrierefrei rezipiert werden können. Der westlichen Medienkultur kommt heute in vielerlei Hinsicht eine religionsähnliche Funktion zu1225. Pirner erklärt: In Medienerzählungen werden Fragen nach dem Sinn des Lebens, nach dem Woher und Wohin, nach Schicksal und Selbstbestimmung, nach Gerechtigkeit und Sühne, nach Schuld und Vergebung, nach Leid und Tod sowie einem Leben danach aufgenommen und bearbeitet. Medien strukturieren den Alltag, fördern Gemeinschaft, geben ethische 1220 1221 1222 1223 1224 1225

Vgl. 2012, S. 13. Ebd. Moore; Gibbons, 1986/1987. Kelly, 2010. Vgl. Kunstmann, 2004, S. 256. Vgl. Pirner, 2012, S. 159.

316

Was können Comics für die Religionspädagogik leisten? – Eine Annäherung

Orientierung und ermöglichen Erfahrungen, die den Alltag und die vorfindliche Welt transzendieren.1226

Gewissermaßen gilt dies in besonderer Weise für Jugendliche und für Erzeugnisse der Jugendkultur. Dabei findet die Mediensozialisation Heranwachsender immer wieder auch ohne pädagogischen Einfluss statt, ist ab dem Jugendalter überwiegend »Selbstsozialisation«: »Junge Menschen wählen selbst aus, mit welchen Medien sie sich beschäftigen und sie entwickeln – in Gleichaltrigengruppen oder Jugendszenen – recht eigenständig ihre Umgangsweisen mit diesen Medien und deren Inhalten.«1227 Da in Comicgeschichten auch der christliche Symbolkosmos umfangreich verarbeitet wird, ist es sinnvoll, gerade die theologische Perspektive im kulturwissenschaftlichen Diskurs um Comics zu stärken1228. Wie andere populärkulturelle Erzeugnisse müssen Comics nicht nur wegen der »besondere[n] Kraft des ›Trivialen‹« erforscht werden, sondern auch, um zu vermeiden, dass die Theologie die Lebenswirklichkeit vieler Menschen nur milieubeschränkt erforscht, wenn sie ihre Deutungen auf sogenannte ›gehobene‹, anspruchsvolle Kultur beschränkt, die nur von einer ›intellektuellen‹ Minderheit rezipiert wird1229. Ein Vorwurf, der der praktisch-theologischen Erforschung von populärkulturellen Erscheinungen dieser Art mitunter gemacht wird, ist ferner, dass die religiöse Deutung solcher Werke oft träges Wissen bleibt oder die Auswahl des Untersuchungsgegenstandes mitunter in die Beliebigkeit abzudriften scheint.1230 In der Folge mag mancher den Ergebnissen dieses Forschungszweigs mit einem saloppen ›Ja und?‹ oder zumindest mit Gleichgültigkeit begegnen. Kurz gesagt: Man könne hier und dort eine religiöse Tiefenstruktur durchaus nachweisen – man könne es aber auch genauso gut bleiben lassen. Und tatsächlich zeigt sich womöglich erst in Praxiszusammenhängen der theologische Sinn kulturhermeneutischen Wissens1231. Dann aber offenbaren sich viele Möglichkeiten des Weiterdenkens. Das Argument der Wertlosigkeit derartiger Forschung wird dadurch entkräftet, dass sich praktisch-theologische Fragestellungen dieser Art unter anderem für die Religionspädagogik als »Vermittlungstheologie« bewähren können und unter den Zielsetzungen des Faches dann zweifelsohne einen hohen Nutzen haben1232. Es gilt aus religionspädagogischer Perspektive also, den Punkt in einem Comic zu suchen, der Anknüpfung für das religiöse Lernen ermöglicht und damit der 1226 1227 1228 1229 1230 1231 1232

2012, S. 159. Ebd. Vgl. Kubik, 2011, S. 230; Fechtner; Fermor; Pohl-Patalong; Schroeter-Wittke, 2005, S. 7. Fechtner; Fermor; Pohl-Patalong; Schroeter-Wittke, 2005, S. 7. Vgl. Kubik, 2011, S. 226. Vgl. ebd., S. 230. Vgl. auch Reuter, 2011, S. 235.

Diskussion und religionspädagogischer Nutzen

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religiösen Bildung oder der Reflexion, Vermittlung, Wahrnehmung oder Kommunikation des Evangeliums dient1233. Schließlich kann nach Ingo Reuter alles, was den Menschen auf die Spur des (Lebens-)Sinns bringt, Gegenstand der Religionspädagogik sein1234. Im Falle der evangelischen Religionspädagogik soll dabei vor allem an das Evangelium herangeführt werden1235. Je expliziter ein Comic seine religiöse Thematik offenbart, desto einfacher mag es sein, eine Verbindung zu den etablierten Religionen zu schlagen. Jedoch sind die in Comics verhandelten Themen dermaßen vielfältig, dass auch Werke, die thematisch weiter vom Kern des Christentums entfernt sind, zu eigenen Fragen einladen. Gerade für kirchenferne oder konfessionslose Jugendliche (vgl. die ausführliche Behandlung des Themas in III 4.2.1) kann der Zugang zu religiösen und ethischen Fragen durch außerbiblische Geschichten vereinfacht werden. Populärkulturelle Erzeugnisse benötigen meist weder ein großes Hintergrundwissen noch umfassendes lexikalisches Wissen, um verstanden zu werden, wohingegen sich der gesamtgesellschaftliche Bedeutungsverlust des Christentums auch auf dessen Vermittlungsquellen bezieht1236. Reuter formuliert treffend die religionspädagogische Herausforderung der Gegenwart und zeigt gleichzeitig, womit wir Bruchstücke religiöser ›Wahrheit‹ vermitteln könnten: Insofern ist der postmodernen These vom Ende der großen Erzählungen auch religionspädagogisch rechtzugeben: Wir können nicht mehr die eine Geschichte erzählen, die die wahre wäre. Die wahre Geschichte zerspringt unter der Hand in tausend Geschichten mit ihren Wahrheiten. Und jeder sieht nur einen Teil des Ganzen und diesen wie durch einen Spiegel.1237

1233 1234 1235 1236

Vgl. ebd., S. 238. Vgl. 2011, S. 236. Vgl. Schröder, 2012, S. 10. Die Einschätzung, dass populärkulturelle Erzeugnisse überhaupt kein Hintergrund- oder lexikalisches Wissen benötigten, um verstanden zu werden, würde zu weit gehen. Häufig gibt es Querverweise zu anderen popkulturellen Werken. So zitiert V wie Vendetta (1990) den Song ›Sympathy for the Devil‹ von den Rolling Stones (ein Verweis auf die christliche Symbolwelt!) und lässt ihn so zum handlungstragenden Element werden, während die Maske aus dem Comic später wiederum von der Anonymous-Bewegung adaptiert wurde, die so einen symbolischen Verweis auf die Geschichte tätigte. Diese Zusammenhänge können erst durch Hintergrundwissen als solche wahrgenommen werden. Auch Romanund Filmreihen können in den Rezipientinnen nach und nach ein umfangreiches Wissen aufbauen, ohne welches sie nicht verstanden werden könnten. Das gilt besonders für weltenschöpferische, phantastische Werke. So sind der zweite oder dritte Teil der Tribute von Panem-Trilogie wenig verständlich, wenn zentrale Zeichen und Symbole wie der Spotttölpel oder die charakteristische Handgeste der Rebellen nicht erkannt werden. Auch Enzyklopädien zu Weltenschöpfungen (wie Star Trek – Die offizielle Enzyklopädie: Das Star Trek-Universum von A-Z, Okuda/Okuda/Mirek, 1995) geben einen Hinweis darauf, wie groß das Wissen von Fans populärkultureller Filme, Bücher und Serien sein kann. 1237 2011, S. 237.

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Was können Comics für die Religionspädagogik leisten? – Eine Annäherung

Freilich: oft erfüllen Comics auch schlichte Unterhaltungsbedürfnisse. Deshalb gibt es Einwände gegen die Vereinnahmung der Popkultur von Seiten der Religionspädagogik: Das Eigenrecht dieses kulturellen Zweigs müsse gewahrt werden und eine religionspädagogische Verzweckung ohne tiefes Verständnis des Werkes und theologischer Zusammenhänge könne in leeren Konstruktionen und Analogien münden1238. Gerade in existenziellen Lebenskrisen, wie zum Beispiel in großer Trauer, mag sich die Einzelne ohnehin eher von Systemen getragen fühlen, die sie deutlich transzendieren. Religionspädagogisch ist darum sehr viel erreicht, wenn Kinder und Jugendliche die Tragfähigkeit solcher Antworten und Konstrukte, wie sie in Comics zu finden sind, für sich prüfen. Ein solcher Ansatz ähnelt dem Anliegen einer konstruktiv-kritischen Religionsdidaktik, die Lernende dazu bringen will, ihre alltägliche Lebenswelt immer wieder kritisch zu durchleuchten, »indem sie Schüler/innen zur De- und Rekonstruktion von theologischen, sozialen, historischen und ethischen Sachverhalten ermutigt.«1239 Inwiefern kann Superman mich trösten, wenn es mir wirklich schlecht geht? Worauf darf ich hoffen? Was kann mich durchs Leben tragen? Die Unterscheidung zwischen lebensförderlicher und nicht-lebensförderlicher Religion ist nach Schröder eine »Schlüsselqualifikation religiöser Bildung«1240 und Reuter formuliert: »Religionspädagogisch gilt es, die Tagträume der Comics, in die man sich verlieren mag, zu erden.«1241 Angesichts von Superheldencomics könne man zum Beispiel religionspädagogisch Ambivalenzen sichtbar machen, um vor einem »gnostischen Dualismus aus Gut und Böse« zu warnen1242. Zudem sollten Weltdarstellungen in Comicgeschichten und besonders dem Superheldengenre nicht immer für bare Münze genommen werden, da sie sonst zu hohe Macht über die Wirklichkeit erlangen: »Die Mythen des Alltags bringen falsche Kausalitäten hervor und verschleiern gesellschaftliche Machtstrukturen.«1243 Dadurch können sich unangemessene Machtverhältnisse verfestigen. Selbst der beste Comic kann nur einen Ausschnitt der Wirklichkeit erfassen – die Mehrdeutigkeit der Welt muss anders aufzeigt werden. Das gilt aber natürlich auch für andere (nicht nur) populärkulturelle Erzeugnisse und disqualifiziert nicht den Comic als solches für religionspädagogische Zusammenhänge. Jedoch sind Comics nicht nur Ersatz oder Konkurrenz für institutionalisierte Formen von Religion1244. Die Medien- und Comicwelt »vermittelt […], wie sich in den empirischen Befunden bestätigt, auch solche Sinnorientierungen, existen1238 1239 1240 1241 1242 1243 1244

Vgl. Kunstmann, 2004, S. 259. Lämmermann, 2012, S. 29. 2012, S. 563. 2011, S. 243. Ebd., S. 242. Vgl. Packard; Rauscher; Sina; Thon; Wilde; Wildfeuer, 2019, S. 117. Vgl. Pirner, 2012, S. 165.

Diskussion und religionspädagogischer Nutzen

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ziellen Fragestellungen, ethischen Normen und kulturelle Symbole, die Brücken zu Religion und Christentum erkennen lassen.«1245 Und das Interesse an religiösen und existenziellen Fragen an sich scheint bei Kindern und Jugendlichen zeitlos und ungebrochen1246. Comics können in der christlichen Religionspädagogik auch genutzt werden, um zum Beispiel zum Christentum hinzuführen und es besser zu verstehen. Ziel ist dann eine Art Hermeneutik der Populärkultur, die sich dem Aufspüren von Strukturanalogien zwischen Botschaften christlicher und populärkultureller Provenienz widmet1247. Hier können Schülerinnen mit wenig Vorwissen über die christliche Tradition punkten, denn, so drückt es Reuter aus, viele populärkulturelle Botschaften sind auch den Menschen präsent, die nicht zu den treuen Gottesdienstbesuchern oder Lesern der Barthschen Dogmatik zählen. Damit aber ist man bei dem, was Menschen wirklich glauben. Ohne eine Kenntnis der Theologen davon, die offen ist auch für Belehrung durch den medial vermittelten Volksmund (bei aller Ideologiekritik), wird Theologie zum Glasperlenspiel dogmatischer Inselbewohner.1248

Am besten sei es zweifelsohne, wenn die Phänomene der von Heranwachsenden konsumierten/rezipierten Popkultur und die christliche Tradition in eine produktive ›organische‹ Verbindung gebracht werden – auch, um diese Tradition zu wahren und lebendig zu halten1249. Ein Beispiel: Anhand des Superman-Narrativs – dem ›Sohn des (himmlischen) Kyptrons‹ – ließe sich die christliche ›Opfermythologie‹ anschaulich erklären. Aus einem theologisch-soteriologischen Blickwinkel ließe sich auf den traumatischen, gewaltvollen Einbruch in das Leben vieler Superheldenfiguren (bspw. Spiderman, Batman) verweisen, der es im Zuge ihrer ›Origin Story‹ erst für sie nötig zu machen scheint, persönlich in den Lauf der Welt einzugreifen. Dem ähnlich kann man von einem traumatischen Bruch, der ins Mensch-Gottes-Verhältnis eingetreten ist und durch die Sünde permanent erhalten bleibt, sprechen. Auch dieser macht es erst nötig, dass Jesus Christus zur Rettung der Menschen auf den Plan tritt. Aber auch explizite Gottesbilder aus Comics können in den Unterricht mit einbezogen werden: Im Vergleich zum negativen Gottesbild von Preacher kann das christlich-jüdische Bild eines liebenden, mitfühlenden Gottes umso schärfer konturiert hervorgehoben werden. Zu vermeiden ist jedoch eine ›Kontrastfolien-Didaktik‹, die Comics nur als Quelle für Negativbeispiele nutzt, der dann die neutestamentliche Alternative kontrastierend gegenübergestellt wird1250. Im Kapitel zum Kompe1245 1246 1247 1248 1249 1250

Ebd., Herv. i. Org. Vgl. Reuter, 2008, S. 188. Vgl. ebd., S. 119. 2008, S. 120. Vgl. ebd., S. 187. Vgl. Pirner, 2012, S. 170.

320

Was können Comics für die Religionspädagogik leisten? – Eine Annäherung

tenzerwerb im Religionsunterricht (III 3.1) sollen einige solcher Möglichkeiten näher erläutert werden. Es lässt sich das Zwischenfazit ziehen: In Comics können auf verschiedenen Ebenen explizite Religionsdarstellungen neben impliziten religiösen Tiefenschichten stehen. Damit kann dem Medium grundsätzlich zugesprochen werden, dass es Inhalte besitzt, die – richtig genutzt – für die religiöse Bildung fruchtbar gemacht werden könnten. Nun soll näher auf die Vorteile dieses Mediums hinsichtlich didaktischer Theoriezugänge eingegangen werden.

3

Konkretisierung: Comics als Chancengeber in religiösen Lehr-Lern-Prozessen

In Abschnitt II 3 wurde ausführlich dargestellt, dass Comics das Potenzial besitzen, das Lernklima in der Klasse, die Motivation, den Grad der Schülerorientierung und der kognitiven Aktivierung zu verbessern. Auch ihr Potenzial für die Adressierung von Heterogenität in der Lerngruppe wurde beleuchtet. Alle diese Punkte sind für den Religionsunterricht von Relevanz, denn Faktoren von Unterrichtsqualität betreffen jedes Fach – egal ob es sich um Geschichte, Musik oder Ev. Religion handelt. Und doch hat jedes Fach auch spezielle Herausforderungen zu bewältigen und spezifische Kompetenzziele anzustreben. Einige dieser Aspekte für den Religionsunterricht lassen sich vermutlich positiv durch comicdidaktische Ansätze beeinflussen. Diese sollen hier dargestellt werden.

3.1

Religiöse Bildung fördern

Religionsunterricht hat Zweck und Ziel. Er soll in den wichtigen Lebens- und Weltfragen Orientierung geben, die Identität stärken und den Schülern zur Pluralismusfähigkeit verhelfen, damit sie die heterogenen Strukturen in der postmodernen pluralistischen Gesellschaft kompetent, konstruktiv und tolerant bewältigen.1251 Derartige Anforderungen schlagen sich gegenwärtig in den vom

1251 Auffassungen darüber, was die wesentlichen Ziele des Religionsunterrichtes sind, gibt es viele, abhängig vom jeweiligen religionspädagogischen Ansatz. Unter anderem möchte ich mich dem Ansatz Bernhard Dresslers (2012 ) anschließen, der die Notwendigkeit des Religionsunterrichtes in der postmodernen Gesellschaft vielschichtig und auch fernab von Instrumentalisierungsansätzen begründen kann. Für ihn gehört Religion u. a. deshalb an die Schule, weil sie »ein unverzichtbarer Modus der Welterschließung ist« (2012, S. 73). Dazu kommt: »Der Staat kann erwarten, dass sein Bildungssystem die Fähigkeit zur kompetenten (Herv. d. A.) Ingebrauchnahme der Grundrechte der Verfassung vermittelt, also auch des Rechts auf aktive Religionsfreiheit (Art. 4 GG), das die ungestörte Religionsausübung garantiert. […] Es gibt das Recht auf Religionsfreiheit nicht aus einem Zweck- oder Nutzenkalkül, sondern weil es Religion als eine unverzichtbare Dimension des

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Kultusministerium formulierten Kompetenzzielen nieder. Der Erwerb dieser Kompetenzen auf Schülerseite soll im Mittelpunkt des Unterrichts stehen. Die Wurzeln der kompetenzorientierten Religionsdidaktik reichen bis in die in den Sechzigerjahren aufkommende ›Curriculumtheorie‹ des Faches zurück, deren Kern mit einer (moderaten) Lernzielorientierung hinsichtlich Schülerqualifikationen immer noch Bestand hat.1252 Genau wie diese später aber aufgrund ihrer »gesellschaftliche[n] Funktionalisierung und Instrumentalisierung der Inhalte«1253 kritisiert wurde, ist auch die Orientierung an Kompetenzen im Religionsunterricht heute nicht völlig unumstritten. So argumentieren beispielsweise Kahlert und Heimlich, derartige Zielausrichtungen seien zu kurz gedacht: »Es zählen nicht allein und nicht vor allem standardisiert beschriebene Kompetenzen, das Wissen, die Fähigkeiten und Einstellungen, die jemand hat, sondern auch die Qualität der Beziehungen, die jemand zu seiner Umwelt, ihren Menschen und ihrer Kultur einnimmt.«1254 Bildung solle nicht nur individuumszentriert gedacht werden. Damit betonen die Autoren die soziale Dimension von Bildungsprozessen. Zusätzlich könnte man im Rahmen der Kompetenzorientierungskritik anmerken, dass in einigen reformpädagogischen Strömungen eine Dynamik zu konstatieren ist, die vielmehr das lernende Subjekt als die von außen vorgegebenen Lernziele in den Fokus rückt – obwohl sich dies nicht ausschließt.1255 Lenhard fasst entsprechend zusammen: »Kompetenzorientierter Religionsunterricht ist nicht alles. Guter Unterricht zeichnet sich durch eine Reihe von Aspekten und Effekten aus, die nicht operationalisierbar und im Sinne zielgerichteten Lernens unverzichtbar sind. Insofern ist kompetenzorientierter Religionsunterricht die notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung guten Unterrichts.«1256 Schröder ergänzt, die Figur der Kompetenz dürfe höchstens ein Instrument unter mehreren zur Steuerung des Unterrichts sein, um nicht die Aufgabe von Bildung, vor allem religiöser Bildung, dramatisch zu verkürzen.1257 Dennoch müssen sich Kompetenzorientierung und das Streben nach »wertorientierte[r] Herzensbildung« nicht ausschließen.1258 Aus dem einfachen Grund, dass Kompetenzen aus unterrichtstheoretischen Überlegungen nicht mehr wegzudenken sind, sollen sie hier auch thematisiert werden. Es ist denkbar, dass die Orientierung an Kompetenzen im Religionsunterricht auch deshalb an

1252 1253 1254 1255 1256 1257 1258

Weltverstehens und des Handelns in der Welt gibt. Sie gehört zur conditio humana auch in modernen Gesellschaften« (2012, S. 70). Vgl. Lachmann, 2012, 19f. Ebd., S. 20. 2012, S. 157, vgl. dazu auch Boschki 2012, 180. Vgl. Mendl, 2012, S. 106. 2015, S. 15. Vgl. Schröder, 2014, 181, 184. Vgl. Naurath, 2017, S. 28.

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Bedeutung gewonnen hat, weil diese den Anspruch haben, zu einem gewissen Grade messbar zu sein – und das Messen, Prüfen und Kontrollieren spielt in der Schul- und Religionspädagogik seit der ›empirischen Wende‹ eine unbestreitbare Rolle, die sich auch auf die Forschung in der Didaktik verschiedener Fächer ausgeweitet hat (obwohl die Religionsdidaktik selbst ihren Ansätzen und Konzepten eher selten eine empirische Erfolgsprüfung angedeihen lässt1259). Inhaltlich-thematische religionsbezogene Zugänge durch den Comic wurden unabhängig von schulischen Erfordernissen in dieser Arbeit bereits angerissen (vgl. III 2.1–2.3). Nun soll dargestellt werden, welche Kompetenzen durch Themen von Comics und Comicgeschichten im Konkreten besonders gut erworben werden könnten. Als Beispiel dient mir hierfür das Niedersächsische Kerncurriculum für das Fach Evangelische Religion an Gymnasien in der Sekundarstufe I. Ähnliche Kompetenzformulierungen, gerade in Hinsicht auf prozessbezogene Kompetenzen, finden sich aber bundesweit und an allen Schulformen, teilweise auch für den Katholischen Religionsunterricht. Das niedersächsische Kultusministerium hat bereits in den Neunzigerjahren festgehalten, wie wichtig gerade die religiöse Bildung »für die eigene Verwurzelung und Identität der Kinder und Jugendlichen, für religiöse Urteilsfähigkeit, für Sinnfindung und Orientierung in der Welt sowie für Verständigungsfähigkeit und Toleranz« ist.1260 Religiöse Bildung bestehe dabei aus zweierlei: Wissens- und Könnensbereichen. Für den damit verbundenen Kompetenzbegriff gilt, dass Kompetenzen nicht gelehrt werden können. Es sind die Subjekte, die sich Kompetenzen erarbeiten und erwerben müssen (hier klingt leise ein konstruktivistischer Lernbegriff an). Die Lehrkraft ist damit vor allem Vermittlerin, die aber maßgeblich dazu beitragen kann, das kulturelle Kapital ihrer Schützlinge zu erhöhen. Im Folgenden werden inhaltsbezogene und prozessbezogene Kompetenzen dargestellt (so gut sie sich eben trennen lassen) und sowohl allgemein mit dem Medium als auch mit exemplarischen Comicwerken in Beziehung gesetzt, um zu überprüfen, ob der gezielte Einsatz von Comics angesichts bildungsplanbezogener Anforderungen gerechtfertigt und wertvoll sein kann. Dabei erweisen sich besonders die theologisch-kulturhermeneutischen Überlegungen zu Religion in Comics (III 2.1) als sinnvoll und werden hier wieder aufgegriffen.

1259 Vgl. Schweitzer, 2012, S. 243. 1260 Niedersächsisches Kulturministerium, 2009, S. 7.

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3.1.1 Wissen vergrößern Im Kerncurriculum werden zahlreiche fachliche, inhaltsbezogene Kompetenzen genannt.1261 Hier geht es um Faktenwissen und Erklärungs- und Bedeutungszusammenhänge. Die inhaltsbezogenen Kompetenzen tragen jedoch auch zum langfristigen Aufbau prozessbezogener Kompetenzen bei (s. u.), beide Bereiche lassen sich darum nicht völlig voneinander trennen. In Niedersachsen und anderen Bundesländern sollen den Kindern und Jugendlichen in der Sekundarstufe I die Themenbereiche ›Mensch‹, ›Gott‹, ›Jesus Christus‹, ›Ethik‹, ›Kirche und Kirchen‹ sowie ›(Welt-)Religionen‹ nahegebracht werden.1262 In unterschiedlichen Schuljahren sind dabei unterschiedliche Betrachtungen des Gegenstandes, sogenannte ›Leitthemen‹ bindend. Im Bereich der Religionen sollen zum Beispiel je nach Jahrgangsstufe das Judentum (Klasse 5/6), der Islam (7/8) oder der Buddhismus (9/10) thematisiert werden. Inhaltsbezogene Kompetenzen beziehen sich also immer auf spezifische Aspekte eines Leitthemas, mittels dessen prozessbezogene Kompetenzen erarbeitet werden – diese erschließen sich nicht im luftleeren Raum. Beispielsweise sollen Lernende in der Beobachtungsstufe dazu befähigt werden, »Situationen der Angst und der Trauer und übliche Formen des Umgangs mit ihnen« zu beschreiben, was den Kompetenzbereich ›Mensch‹ unter Aspekten von Angst und Geborgenheit, Trauer und Trost mit der prozessbezogenen Wahrnehmungs- und Darstellungskompetenz verknüpft.1263 In III 2.1 konnte die thematische Vielfalt des Mediums in Bezug auf religiöse Zusammenhänge bereits dargestellt werden. Die gegenwärtigen, inhaltlichen Schwerpunkte des Mediums, die in I 1.2.5 beschrieben wurden, bieten ebenfalls Einblick in das didaktische Potenzial. Hier aufgeführt sind Vorschläge für Comicliteratur, die sich an den inhaltsbezogenen Kompetenzbereichen und Leitthemen des Niedersächsischen Kerncurriculums orientieren (Sek. I). Sie zeigen exemplarische (!) Möglichkeiten und sollen vor allem die thematische Vielfalt von graphischer Literatur für die Didaktik verdeutlichen. Die einzusetzenden Comics eignen sich oft als Ganzwerke, deren Potenzial religionspädagogisch weiter erforscht werden könnte. Bei säkularen Werken, die durchaus auch Anknüpfungs- und Identifikationsmöglichkeiten bieten, sind die thematischen Schwerpunkt-Möglichkeiten mit angegeben. Teilweise ist dann eine Behandlung in Auszügen oder ein Ausschnitt als Impuls sinnvoll. Zu Bibelcomics (in zahlreichen Ausführungen vorhanden) kann in jedem Bereich als Hilfestellung zur Erschließung biblischer Basistexte geraten werden, vor allem in unteren Schulstufen. Explizit erklärende Sachcomics sind ebenfalls nicht aufgeführt, obwohl es 1261 Vgl. 2009, S. 35. 1262 Vgl. 2009, S. 35. 1263 2009, S. 17.

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zweifelsohne zahlreiche Einsatzmöglichkeiten gäbe. Der niedersächsische Bildungsplan steht stellvertretend auch für Schulformen und Anforderungen anderer Bundesländer. Die Comicvorschläge orientieren sich zudem nicht nur an curricularen, sondern auch altersgemäßen Voraussetzungen. Festzustellen ist, dass das Superheldengenre am besten im spezifischen Kontext der Erlösungstheologie Anwendung findet. Infocomics gibt es zurzeit noch zu wenig für Themen des Religionsunterrichtes, Ausnahme ist der Themenkomplex des Islam, für den viele (englischsprachige) Comicwerke gefunden werden können. Überwiegend wird auf Werke verwiesen, die sich auch mit ›ernsteren‹ Themen beschäftigen und in sich abgeschlossen sind (›Graphic Novels‹). Sie haben den Vorteil, profunde Themen zu verarbeiten, also oft nicht nur unterhalten zu wollen, sowie gleichzeitig nicht innerhalb einer Reihe zu stehen, in die sich Schülerinnen erst einmal einarbeiten/einlesen müssten, um zum Beispiel die Figurenkonstellation zu durchschauen. Ein großer Teil der Werke weist zudem biographische Bezüge auf. Zwölf der angeführten Werke verarbeiten zudem als Erinnerungsmedien Teile von Kultur und Geschichte, was auch zu fachkooperierenden Unterrichtskonzepten einlädt. Es lässt sich feststellen, dass sich besonders viele Einsatzmöglichkeiten in den Themenbereichen ›Gott‹, ›(Welt-)Religionen‹ und ›Ethik‹ bieten. Gerade Letzteres mag überraschen, konnte ich in den theologisch-kulturhermeneutischen Untersuchungen (III 2.1) doch auf relativ wenige Werke verweisen, die Position zu ethischen Streitfragen liefern. Grund für die jetzt doch häufige Nennung sind Comicbiographien, von denen insgesamt neun im exemplarischen Kanon vertreten sind, was ihnen eine besonders wichtige Rolle zukommen lässt. Es sind Comics über Dietrich Bonhoeffer, Martin Luther King und Mahatma Gandhi sowie die autobiographischen/autobiographisch angehauchten Comicwerke von Eisner, Satrapi, Cruse und Thompson, anhand deren Lebensweg ethische und gesellschaftliche Konflikte aufgeworfen und diskutiert werden können (vgl. auch III 3.3.3).1264 Hier deutet sich aber auch die Problematik an, dass trotz Bemühungen ein deutliches Übergewicht männlicher Protagonisten und Zeichner in den Vorschlägen zu konstatieren ist, was mitunter für Frustration bei weiblichen Schülerinnen und Lehrkräften sorgen könnte. (Und im Übrigen auch bei Lernenden mit nichtbinärer Geschlechtsidentität.) Insbesondere auch deshalb, weil sich die überwiegende Zahl der genannten Werke – besonders, wenn man vom Einsatz von Bibelcomics für biblische Basistexte absieht – optimal ab Klasse 7/8 eignet: Das entspricht einem Alter, in dem zwar grundsätzlich Comics gerne rezipiert werden, Heranwachsende aber auch Genderrollen neu reflektieren und Mädchen deshalb auch von Frauen-Biographien profitieren könnten. Man kann auch kritisch anmerken, dass im exemplarischen Kanon überwiegend Werke westli1264 Vgl. auch Sina, 2016, S. 81.

Jesus Chris- Jesus in seiner Zeit und Umwelt Wirken und Botschaft Jesu tus Matas/Picanyol: Die Comic-Bibel für Kinder.b) Siku: Die Manga-Bibel. … …

Gott

Rechtfertigung – Befreiung zum Leben Stetter: Luther. Thompson: Blankets. …

Schuljahrgänge 7/8

Schuljahrgänge 9/10

Der erlösende Charakter von Kreuz und Auferstehung Jesu Christi Siku: Jesus. Die ganze Geschichte.c) …

Zuspruch und Anspruch Gottes als gemeinsame Grundlage christlich orientierter Lebensgestaltung Don Rosa: Onkel Dagobert. Sein Leben, seine Milliarden. [Im Fokus: Sinnfragen, Träume und Wünsche, Vergebung und Lebensführung; memento mori] … Gott als Schöpfer und Begleiter Die Botschaft vom gnädigen Glaube – Erkenntnis – Zweifel SIKU/Thomas/Anderson: Helden der Bibel. und gerechten Gott Eisner: Ein Vertrag mit Gott. Das Buch der Bücher als packende Comic-Story Stetter: Luther. Mathieu: Gott höchstselbst. Sfar: Desmodus der Vampir Schulz: Ausgewählte Peanut-Episoden. [Im … geht zur Schule [im Fokus: Fokus etwa: Enttäuschung und Klagelieder der Michaels Schwur, vgl. II 3.1] Figur Charlie Brown] … …

Kompetenz- Schuljahrgänge 5/6 bereich Mensch Der Mensch zwischen Angst und Geborgenheit, Tod und Trauer Sfar: Desmodus der Vampir und die Hundeschutzgesellschaft.a) [Im Fokus: Angst, Schutzbedürftigkeit, Zusammenarbeit, Bitten um Hilfe, Verantwortung, Trauer] …

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Kirche und Kirchen

Gemeinsam glauben in verschiedenen Kirchen Delisle: Aufzeichnungen aus Jerusalem. [Auszüge] …

Kompetenz- Schuljahrgänge 5/6 bereich Ethik Ich und die anderen Shaun Tan: Ein neues Land. [Im Fokus: Erfahrungen von Fremdheit, Freundschaft, Migration, Hilfsbereitschaft] Delisle: Shenzen und Pjöngjang.d) [In Auszügen unter dem Gesichtspunkt von (kulturellen) Fremdheitserfahrungen.] …

(Fortsetzung)

Sterben und Tod als Anfragen an das Leben Eisner: Ein Vertrag mit Gott. Jenseitsvorstellungen in Comics wie Onkel Dagobert – Sein Leben, seine Milliarden, Die Jagd nach der Golmühle (Don Rosa), Fegefeuer (Chabouté) oder Sandman – Zeit des Nebels (Neil Gaiman) …

Miteinander leben – sich an Gerechtigkeit und Frieden orientieren Ebine: Gandhi. A Manga Biography.e) Albers/Saurer: Martin Luther King.f) Stetters: Bonhoeffer. Satrapi: Persepolis. Delisle: Aufzeichnungen aus Jerusalem. [Im Fokus: Trialog und Nahostkonflikt] Cruse: Stuck Rubber Baby [Im Fokus: Civil Rights Movement, passiver Widerstand] … Unsere Kirchen haben eine gemeinsame Geschichte Stetter: Luther. Gestalten des Protestantismus.g) (Johannes Calvin, Albert Schweitzer u.v.m.) …

Kirchliche Mitverantwortung in Staat und Gesellschaft Stetter: Bonhoeffer. Cruse: Stuck Rubber Baby [Auszüge]. …

Schuljahrgänge 9/10

Schuljahrgänge 7/8

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Schuljahrgänge 7/8

Den Islam kennenlernen Satrapi: Persepolis. [Im Fokus: Gottesbilder, Extremismus] Tuffix’ Webcomics. Thompson: Habibi [Auszüge]. … a) Sfar, Joann: Desmodus der Vampir und die Hundeschutzgesellschaft, Berlin 2007. b) Picanyol, 2012. c) SIKU: Jesus, Die ganze Geschichte, Köln 2011. d) Delisle, 2015. e) Ebine, 2012. f) Albers; Saurer, 2018 g) Evangelisches Medienhaus, 2009. h) Glidden, 2018 i) Saiwai, 2010.

Kompetenz- Schuljahrgänge 5/6 bereich Religionen Das Judentum entdecken Sfar: Die Katze des Rabbiners. Glidden: Israel verstehen.h) [ jeweils Auszüge] …

(Fortsetzung)

Der Weg des Buddhismus Tezuka: Buddha. Saiwai: The 14th Dalai Lama. A Manga Biography.i) Don Rosa: Expedition nach Shambala [als ergänzende Einführung in die Mythologie des Hinduismus] …

Schuljahrgänge 9/10

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cher Ästhetik aufgeführt sind, sodass die wachsende Affinität von Jugendlichen gegenüber Manga nicht genügend berücksichtigt werden. An dieser Stelle wäre der Input von dezidierten Manga-Experten nötig, die im Bereich der Religionspädagogik aber ganz besonders rar zu sein scheinen. Dann kommt als Einschränkung des didaktischen Potenzials noch hinzu, dass die besten Comicvorschläge keinen Effekt haben können, wenn es der Lehrkraft an fachwissenschaftlichem und comicdidaktischem Wissen zum kompetenten Einsatz im Unterricht mangelt. Die Universitäten und Gestalter des Vorbereitungsdienstes für Lehrerinnen setzen jedoch noch andere Prioritäten in ihrer Ausbildung. Im Rahmen der kerncurricularen Anforderungen wird auch deutlich, dass sich (noch) nicht alle Inhalte und Kompetenzbereiche des Religionsunterrichts durch die Arbeit mit Comics transportieren lassen. Die Anzahl geeigneter Werke ist zurzeit noch überschaubar bzw. lädt noch zu eingehenderen Untersuchungen ein. Ein runder Tisch mit Comicexpertinnen und Religionspädagogen wäre schön, um die Auswahl stetig zu ergänzen; auch ein Einbezug der Verlage und Best Practice-Beiträge könnten wertvoll sein. Andererseits wäre ein flächendeckender Medieneinsatz auch nicht wünschenswert: So müssen Schüler durchaus lernen, zum Beispiel religiöse Primärquellen auch ohne ergänzende Illustrationen zu verstehen und zu deuten. Im Scaffolding-Verfahren sollten also beispielsweise Bibelcomics nur temporär eingesetzt werden (II 3.2.4).

3.1.2 Religionsbezogene Kompetenzen erwerben Neben inhaltlichem Wissen besteht (religiöse) Bildung auch aus prozessbezogenen Kompetenzen, die Lernende im Verlauf ihrer schulischen Ausbildung erwerben sollen. Denn: »Zentrales Ziel des schulischen Unterrichts ist nicht die Akkumulation von Stoff, geschweige denn von bloßem Faktenwissen, sondern es geht um intelligentes Wissen.«1265 Weinert beschreibt dieses als lebendig, anschlussfähig und flexibel nutzbar.1266 Derartige Kenntnisse und Fähigkeiten lassen sich in Prozesse einbringen. Prozessbezogene Kompetenzen können sich in allen Fächern entfalten, sind in ihren Ausprägungen aber mitunter domänenspezifisch. Im Kerncurriculum heißt es dazu: »Kompetenzen umfassen Kenntnisse, Fähigkeiten [auch kognitive, Anm. d. A.] und Fertigkeiten, aber auch Bereitschaften, Haltungen und Einstellungen, über die Schülerinnen und Schüler verfügen müssen, um Anforderungssituationen gewachsen zu sein.«1267 Fachspezifische Probleme und Anforderungssituationen sollen unter Zuhilfenahme 1265 Helmke, 2009, S. 41. 1266 Vgl. 2000, 5f. 1267 2009, S. 5.

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von dazu befähigenden Dispositionen erfolgreich gelöst werden können.1268 Diesen begegnen die Schüler nur dann kompetent, wenn sie etwa aktiv auf vorhandenes Wissen zurückgreifen, Zusammenhänge erkennen und Lösungsmöglichkeiten erproben.1269 Weiter heißt es im Kerncurriculum: Die prozessbezogenen Kompetenzbereiche beziehen sich auf Verfahren, die von Schülerinnen und Schülern verstanden und beherrscht werden sollen, um Wissen anwenden zu können. Sie umfassen diejenigen Kenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten, die einerseits die Grundlage, andererseits das Ziel für die Erarbeitung und Bearbeitung der inhaltsbezogenen Kompetenzbereiche sind.1270

Der Fokus wird damit laut Obst/Rothgangel »auf zentrale, langfristig aufgebaute Lernergebnisse« gelegt.1271 Kompetenzorientierter Unterricht geht bekanntermaßen einher mit einer pädagogischen Wende weg von der Input-, hin zu einer ›Outputorientierung‹.1272 Es zielt auf die (bestenfalls messbaren) Ergebnisse eines Lernprozesses; auf ein Produkt. Der Gegenstand, anhand dessen bestimmte Kompetenzen erworben werden, kann damit von der Lehrkraft mit etwas Spielraum selbst gewählt werden, was ihr einen größeren didaktischen Freiraum verschafft, auf die Interessen und Bedürfnisse der Schülerinnen einzugehen.1273 Damit sind nicht nur althergebrachte Medien, sondern auch Comics im Lernprozess mehr als zulässig, wenn sie der Schülerorientierung und dem Kompetenzerwerb dienen. Der Weg für das Medium in den Religionsunterricht steht damit offen. Dazu kommt, dass eine hohe Unterrichtsproduktqualität maßgeblich von der Unterrichtsprozessqualität bestimmt wird, die durch comicdidaktische Zugänge, wie dargestellt, prinzipiell gesteigert werden können (vgl. II). In der Religionspädagogik und -didaktik werden derzeit fünf mehr oder weniger isolierbare prozessbezogene Kompetenzbereiche unterschieden.1274 Sie schlagen sich in den Rahmenplänen/Fachanforderungen/Kerncurricula der Länder nieder und lehnen sich eng an die erarbeiteten Kompetenzmodelle der EPA-Kommission (›Einheitliche Prüfungsanforderungen in der Abiturprüfung Evangelische Religionslehre‹) von 2006 und der EKD von 2010 an.1275 Obwohl hier von ›Kompetenzen‹ die Rede ist, sind die Gedanken dahinter nicht neu. Die Fähigkeit etwa, christliche Quellen zu deuten und religiösen Denkstrukturen Ausdruck verleihen zu können, ist seit Jahrhunderten ein Ziel pädagogischer 1268 1269 1270 1271 1272 1273 1274 1275

Vgl. Obst; Rothgangel, 2012, S. 187. Vgl. Niedersächsisches Kulturministerium, 2009, S. 5. 2009, S. 6. 2012, S. 185. Vgl. ebd. Vgl. dazu auch Schröder, 2012, S. 562. Vgl. dazu Lenhard, 2015, S. 13. Vgl. Obst; Rothgangel, 2012, S. 191.

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Bestrebungen. Im Folgenden soll ein Bogen von den theologisch-kulturhermeneutischen Überlegungen zu Comics hin zu den zeitgenössischen Kompetenzanforderungen und -zielen gespannt werden. Zu diesen gehört die Wahrnehmungs- und Darstellungskompetenz. Sie umfasst die Fähigkeit, religiös bedeutsame Phänomene wahrzunehmen und zu beschreiben.1276 Kunstmann erklärt, Anlässe für religiöse Bildung seien besonders gut im ästhetischen Bereich zu finden, da dieser religiöse Erfahrungen und Gehalte in Bildern, Symbolen und anderem am ehesten zugänglich mache.1277 Man kann deshalb zu Recht Comics zusprechen, das Potenzial zu besitzen, die Wahrnehmungskompetenz zu stärken und zu schulen. Wie bereits dargestellt, finden sich religiöse Phänomene in Comics sowohl auf der bildlichen Oberflächenebene als auch in der religiösen Tiefenstruktur vieler Werke, insbesondere in Comicbiographien. Diese Tiefenstruktur kann man didaktisch fruchtbar machen, damit die Schüler lernen, religiöse Spuren und Dimensionen in der persönlichen Lebenswelt zu entdecken und zu teilen. Jedoch muss es hier nicht nur um möglicherweise oberflächliche Beobachtungen gehen. Stattdessen kann der Blick für das Transzendente in lebensweltlichen Zusammenhängen auf Tiefenebenen geöffnet werden. Durch das Aufspüren substanziell-funktionaler Anklänge in der Populärkultur wird eventuell der Blick für die Sinnsuche im eigenen Leben geschärft, die nicht zu Unrecht als Grunddimension des Menschen gilt. Für die Arbeit an diesen Beispielen aus dem Kompetenzbereich eignet sich besonders etwa Don Rosas Onkel Dagobert-Biographie (vgl. dazu IV 2). Die Suche nach Sinn (und Identität) auf dem Lebensweg ist Hauptthema dieses umfangreichen Werks, das nebenbei einen überaus menschlichen Protagonisten einführt, mit dem sich die meisten Schüler gut identifizieren können sollten – auch im Scheitern und im Irren.1278 Entsprechende Strukturen finden sich sowohl in christlichen als auch in ›säkularen‹ Comicnarrationen, wobei Comics nichtchristlicher, religiöser Weltanschauungen mit einbezogen werden könnten. Insofern als biographische Comics mit ihren Figuren eine Stellvertreterposition für den eigenen Lebensweg einnehmen können, lassen sich anhand ihrer außerdem »Situationen beschreiben, in denen existenzielle Fragen des Lebens auftreten« (vgl. III 3.2). Durch die Einbindung der handelnden Figuren von Religion zur Lebensbewältigung lässt sich weiterführend die Tragfähigkeit weltanschaulicher Konstrukte diskutieren – zum Beispiel anhand der immer relevanter werdenden Superheldencomics, aber auch anhand von Comics mit religiösen und lebensweltlichen Deutungen von religiösen Vorstellungen und Konzepten. Wichtig 1276 Vgl. im Folgenden auch die Erwähnungen in Niedersächsisches Kulturministerium, 2009, 15f. 1277 Vgl. 2004, S. 339. 1278 Vgl. auch Pohl, 2013.

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wäre dabei, in der Unterrichtsplanung keine langen Zeitperioden durch die Beschäftigung mit Comicwerken zu veranschlagen, die nur eine sehr marginale religiöse Deutung zulassen, um elementare theologische Kernthemen nicht zu kurz kommen zu lassen, was angesichts der Zeitbeschränkung und des Elementarisierungsprinzips des Faches zu beachten ist.1279 Im Zuge der Förderung von ›Deutungskompetenz – religiös bedeutsame Sprache und Zeugnisse verstehen und deuten‹ geht es einerseits um das Verständnis und die Auslegung religiöser Quellen. Gleichzeitig soll den Jugendlichen unter anderem eine Hilfestellung in der Orientierung in den Medienwelten geboten werden. Das ist wichtig, da die heutige Mediensozialisation auch die religiösen und weltanschaulichen Vorstellungen der Heranwachsenden sowie ihre Haltung gegenüber dem Glauben, der Kirche und Religion insgesamt maßgeblich beeinflusst.1280 In der medienorientierten Religionsdidaktik sollen Medienbildung und religiöse Bildung deshalb Hand in Hand gehen.1281 Ziel ist es, eine »kritische Auseinandersetzung mit den religiösen Dimensionen der Medienkultur« zu fördern.1282 Pirner erklärt: »Medienbildung ist keine Aufgabe, die von außen als Zusatzaufgabe an den RU herangetragen wird, sondern sie betrifft den Kernbereich religiöser Bildung; sie ist auch aus genuin religionspädagogischen Gründen wichtig.«1283 Unter anderem ist sie deshalb von Relevanz, weil sich Kinder und Jugendliche in der medienreligiösen Selbstsozialisation nicht immer bewusst sind, dass »hinter der Medienkultur immer auch massive kommerzielle, politische sowie weltanschaulich-religiöse Interessen und Machtbestrebungen und damit gezielte Beeinflussungsversuche stehen«.1284 Comics, die je nach Herkunft kulturell und/oder weltanschaulich geprägt sind (zum Beispiel amerikanische Superheldennarrationen oder Manga aus Japan), werden dabei wahrscheinlich besonders häufig »eigen-sinnig«1285 gedeutet, da Schülerinnen viel Zeit alleine damit verbringen: Comics werden individuell rezipiert (im Gegensatz zu Filmen, bei denen es häufig zu einer kollektiven Rezeption kommt), die Comicauswahl wird in der Regel weniger von den Eltern gesteuert (im Gegensatz zu den Büchern im Haushalt) und Comics sind mit ihren Inhalten besonders selten Thema in der Schule. Doch gerade ernste Comics, die explizit Bezug auf weltanschauliche Zusammenhänge nehmen, sollten kritisch rezipiert werden. So wertvoll etwa die Lektüre von Thompsons Blankets ist, so sehr sollten Schülerinnen nicht mit dem Eindruck zurückgelassen werden, alle Christen seien etwa 1279 1280 1281 1282 1283 1284 1285

Vgl. Schröder, 2012, S. 563; Lachmann, 2012, S. 20. Vgl. Pirner, 2012, S. 162. Vgl. auch Nord; Zipernovszky, 2017. Pirner, 2012, S. 160. 2012, S. 169. Ebd., S. 161. Ebd.

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homophob, nur weil einige Figuren im Comic entsprechende Denkmuster an den Tag legen. Stattdessen müssen für die Deutung der Zusammenhänge kulturelle oder historische Faktoren mit einbezogen werden. ›Kompetenzen zur Deutung‹ im weitesten Sinne sind auch für die erfolgreiche Comicrezeption selbst notwendig, um formal-ästhetische Darstellungsformen des Mediums zu erfassen und semiotischen bzw. multimodalen Strukturen der Comicsprache Sinn zu entnehmen. Man könnte deshalb von einer gewissen Verwandtschaft zwischen dieser Kompetenzanforderung und der Fähigkeit zum Auslegen religiöser Zeugnisse sprechen. Ganz besonders, weil religiöse Zeugnisse nicht zwingend in Textformen eingebettet sind, sondern auch durch die bildliche Welt der Kunst ausgedrückt werden können. Möglicherweise kann die Anleitung zur Comicinterpretation also auch die Kompetenz zur Auslegung von religiöser Bildsprache stärken – denkbar wäre es (vgl. auch III 3.3). Da Comics fast immer einen sprachlichen Anteil aufweisen, lässt sich daran auch die Deutung religiös bedeutsamer Sprache üben. Durch die Arbeit an christlichen oder religiösen Motiven in populärkultureller Auseinandersetzung – wie beispielsweise in Hiranos Hellsing – lernen die Jugendlichen in jedem Falle auch bildliche religiöse Motive und Ausdrucksformen in der Kultur zu identifizieren und zu deuten. Wie in III 2.1 dargestellt, finden sich in sehr vielen populärkulturellen Comics explizit religiöse Motive und Verweise, sowohl auf der beiläufigen Oberflächenebene als auch in größeren Transformationen christlicher Zeichensysteme, zum Beispiel in Bezug auf eschatologische Vorstellungen (wie Vorstellungen vom ›Himmel‹) oder das göttliche Pantheon (wie der Glaube an Schutzengel). Auch sind Symbole nicht nur rein bildliche Zeichen, sondern sie können narrativ und performativ nachvollzogen werden. So verweist das Gelöbnis des kleinen Jungen Michael in Desmodus der Vampir geht zur Schule1286 auf etwas Größeres hin, wenn der Junge ablehnt, seinen Schwur mit dem Kreuzzeichen »glaubwürdiger« zu machen, weil er Jude sei und das Kreuz ihm nicht viel bedeutete – ihm eben nicht ›heilig‹ ist (Abb. 27). Diese eher beiläufige Episode aus einem Kindercomic ist schon erstaunlich tiefgehend. Religiöse Zeichensysteme, wie in diesem Beispiel, wahrnehmen und deuten zu können ist nach wie vor unschätzbar wichtig, da Jugendliche vielfach Zeichensysteme aus der christlichen Tradition verwenden, um die Semantik ihrer Spiritualität auszudrücken oder zu negieren.1287 Ähnlich wie in populärkulturellen Strukturen wird die Bedeutung jedoch meistens transformiert. Gerade säkularisierte und kirchenferne/konfessionslose Jugendliche nutzen Elemente einer (Symbol-)Sprache der Medien, um zu einer eigenen religiösen Ausdrucksweise zu gelangen, mit deren Hilfe sie sich über existenzielle, transzendente und reli1286 Sfar, 2006. 1287 Vgl. Heil, 2012, S. 57.

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giöse Fragen verständigen können.1288 Medien aus der Lebenswelt der Lernenden, zum Beispiel Comics mit ihrem reichen Symbolkosmos, können deshalb Raum für kommunikative Anknüpfungen schaffen, um »das zeichenhaft Neue wahrzunehmen, aufzudecken und Lernprozesse anzuschließen.«1289 Allerdings sollten Comics und generell populäre Medien wie bereits dargestellt – besonders wenn sie von den Schülern geschätzt werden! – in ihrer Wirklichkeitsdeutung auch gewürdigt werden und nicht allein zur ›Sprungbrett-Didaktik‹ dienen, in der das Medium nur zum flüchtigen Einstieg in das fachliche Thema dient.1290 Im Sinne der Korrelationsdidaktik kann die Wechselbeziehung zwischen heutiger Religiosität und christlicher Tradition reflektiert und bearbeitet werden.1291 Zum Beispiel durch den Ansatz der abduktiven Korrelation(sdidaktik), »die Erklärung der neuen Religiosität mittels der christlichen Tradition. Zeichen und Bedeutungen der neuen Religiosität werden aufgedeckt, dabei werden transformierte Zeichen und Bedeutungen aus der christlichen Tradition nach ihrer tatsächlichen Verwendung mäeutisch ans Licht gebracht. […] Es geht nicht nur um ein Wiederauffinden des Alten im Neuen, sondern um eine Transformation zu neuen Bedeutungen.«1292

Auch Brüche und Widersprüche bekommen dabei ihren Platz. Insgesamt können sich Elemente aus der Comickultur gut als Ausgangspunkt zum Theologisieren mit Kindern und Jugendlichen eignen. Ebenso könnte die comicgestützte Bibelarbeit und Auslegung den Jugendlichen dabei helfen, Perikopen, Symbole und Metainhalte besser zu durchdringen: Wer ungeübt mit der Ausdrucksweise der Schrift ist, kann qua Umsetzung im Comicmodus durch bildliche Mittel unterstützt werden. So wird in Bibelcomics nur das (aus Sicht des Autors) Wesentliche einer Perikope bildlich hervorgehoben und die Lektüre biblischer Texte entsprechend entlastet. Damit würde der Weg geebnet werden, auch über das evangelische Verständnis des christlichen Glaubens Auskunft geben zu können. Dazu könnten etwa Gottesbilder in Comics vergleichend herangezogen werden. Im Bereich der ›Urteilskompetenz – in religiösen und ethischen Fragen begründet urteilen‹ können Schülerinnen anhand von negativen Gottesbildern wie in Preacher oder in der Auseinandersetzung mit säkularen Messiasmotiven wie in Superman bis hin zu den extremistischen Religionsformen in Persepolis oder Blankets »lebensförderliche und lebensfeindliche Formen von Religion(en)« unterscheiden und diskutieren lernen. Schröder betont, diese Kompetenz sei »in einer religiös unübersichtlicher werdenden Landschaft eine Schlüs1288 1289 1290 1291 1292

Vgl. Pirner, 2012, S. 168. Heil, 2012, S. 59. Vgl. Pirner, 2012, S. 170. Vgl. Heil, 2012, S. 57. Ebd., 58f.

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Abb. 27

selqualifikation religiöser Bildung.«1293 Die gegenwärtige Populärkultur neigt nicht selten dazu, den (christlichen) Glauben vor allem als regressiv und intolerant zu charakterisieren. Comics bilden keine Ausnahme. Zu einem ausgewogenem und differenziertem Bild zu gelangen, sollte Teil einer ausgeprägten Urteilskompetenz sein. Ferner können Comics aus der Mitte anderer Weltreligionen dazu anregen, sich mit anderen religiösen Überzeugungen auseinanderzusetzen. Durch einen wenig naturalistischen Zeichenstil können sich die Lesenden einer gewissen Identifikation mit den Figuren auch nicht entziehen (so 1293 Schröder, 2012, S. 563.

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zumindest die Theorie), was in derartigen Zusammenhängen positiv wirken und das subjektive Gefühl von ›Fremdheit‹ reduzieren kann. Daran anknüpfend lässt sich der Bereich der ›Dialogkompetenz – am religiösen und ethischen Dialog argumentierend teilnehmen‹ nennen. Dialogkompetenz soll im Rahmen von interreligiösem Lernen entwickelt werden, »angesichts der Migrations- und Globalisierungsphänomene wohl eines der brisantesten und bildungstheoretisch zentralsten Aspekte des Religionsunterrichtes«.1294 Dazu ist es nötig, dass Schüler sich neuen religiösen Kontexten und der Perspektive anderer Menschen annähern oder öffnen und dann einen Bezug zum eigenen Standpunkt herstellen. Diese »kognitive Grundfähigkeit«, sich in andere Menschen hineinversetzen zu können, kann beispielsweise durch die Verbindung von Comicdidaktik und handlungs- und produktionsorientierten Lernformen gefördert werden (vgl. II 3.2.2).1295 Lebensnahe, zeitgemäße Werke popkultureller Natur können zusätzlich in der Domäne der Identifikationsmöglichkeiten für Kinder und Jugendliche durch Authentizität punkten. Die in Persepolis dargestellte, authentische adoleszente Lebenskrise ermutigt beispielsweise zum Sprechen oder Nachdenken über die eigene Identitätssuche und persönliche Rollenkonflikte. Zusätzlich kann durch Comics dieser Art die interreligiöse Empathie gestärkt werden, also die »Fähigkeit, Menschen in anderen Religionsgemeinschaften in angemessener Weise wahrzunehmen, und sich mit ihren Lebens- und Glaubensbiografien in einer produktiv-wertschätzenden Weise auseinanderzusetzten.«1296 Interreligiöses Lernen ist seit etwa drei Jahrzehnten ein wichtiger Fokus in der Religionspädagogik, wo Schule als Ganzes und Religionsunterricht im Speziellen als Lernorte gelten »an denen Begegnung und Dialog mit fremden und anderen Religionen zu lernen und zu leisten sind«.1297 Wenn aber eine Face-to-Face-Begegnung mit Menschen weltanschaulicher Vielfalt aus verschiedenen Gründen nicht möglich ist, so kann es hilfreich sein, Kunstwerke von muslimischen oder jüdischen Künstlerinnen sprechen zu lassen. Denn: »Religionsunterricht soll nicht nur über andere Religionen informieren, sondern die Religionen selbst zur Sprache kommen lassen – mindestens in Gestalt authentischer medialer Zeugnisse (Texte, Bilder, Gegenstände)«.1298 Hier kommt die cartoonspezifische Semiotik vieler Comics zum Tragen, die in diesem Kontext zumindest Erwähnung finden sollte: Zu den meisten Comicfiguren lassen sich leicht psychologische Bezüge aufbauen, weil vereinfachte oder überzeichnete Figurendarstellungen durch die Reduziertheit der körperlichen Merkmale ein größeres Identifikationsangebot bieten als fotorealistische Dar1294 1295 1296 1297 1298

Grümme, 2012, S. 129. Vgl. Spinner, 1995 (a), 7, 132f. Sajak, 2013, S. 75. Lachmann, 2012, S. 24. Schröder, 2012, S. 651, Herv. i. Org.

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stellungen.1299 Die Theorie dahinter besagt, dass Menschen ihre Vorstellung und den visuellen Eindruck des Gegenübers und die Vorstellung von sich selbst in der Regel auf bestimmte Aspekte reduzieren; etwa Augen und Mund, aber weniger etwa die genaue Form des Kinns.1300 Die Cartoons bewahren diese Aspekte in der Figurendarstellung und stellen sie besonders heraus, während sie andere vernachlässigen. Neben dem Identifikationspotenzial könnte dieser häufige Comicstil eine »besondere kommunikative Disposition« in Menschen aufrufen, wie Packard et al. es beschreiben: »Der Cartoon sieht nicht nur aus wie ein Mensch, sondern man erwidert seinen imaginierten Blick.«1301 Packard hat dies auch unter dem Schlagwort der »intersubjektiven Körperimagination« näher ausgeführt.1302 Wenn sich nun aus Blickgefügen zwischen Cartoonfiguren und Rezipierenden intersubjektive Beziehungen ergeben1303, wirkt die Comicsemiotik vielleicht auch im Sinne einer Dialogkompetenz, die empathische Einstellungen fordert. Zumindest wäre dies doch eine Theorie, der nachzugehen sich lohnen könnte. Die Dialogkompetenz ist auch deshalb wichtig, weil mit ihrer Hilfe Rassismus und Antisemitismus vorgebeugt bzw. begegnet werden kann, etwa anhand von Eisners Das Komplott – Die wahre Geschichte der Protokolle der Weisen von Zion.1304 Grümme erklärt für das Beispiel des Judentum: »Es kommt im Religionsunterricht darauf an, ein exotisches, folkloristisches Verständnis des Judentums, wie es in manchen Religionsbüchern der Fall ist, zu vermeiden und es in seiner höchst differenzierten Erscheinungsform wahrnehmen zu lernen.«1305 Außerchristliche Traditionen sind immer so zu behandeln, dass Angehörige dieser Weltanschauungen keinen Anstoß daran nehmen könnten, was durch die Einbindung authentischer Zeugnisse besser gewährleistet werden kann. Nur so kann der Umgang mit dem religiös und kulturell Neuen respektvoll eingeübt werden.1306 Das persönliche Zeugnis eines Künstlers bietet zumindest einen tragfähigen Ausgangspunkt für interreligiöses Lernen. Hier kann der Hang von ›Graphic Novels‹, persönliche Fragen mit gesellschaftlich relevanten Themen zu verbinden, voll ausgeschöpft werden. Nach der Klassifizierung Leimgrubers, der zwischen interreligiösem Lernen in einem weiteren und einem engeren Sinne unterscheidet, dienen Comicgeschichten dabei den »Wahrnehmungen, die eine Religion und deren Angehörige betreffen«.1307 Damit fallen sie in den Bereich des 1299 1300 1301 1302 1303 1304 1305 1306 1307

Vgl. McCloud, 2001 (b), 29ff. Vgl. ebd., S. 35. Packard; Rauscher; Sina; Thon; Wilde; Wildfeuer, 2019, S. 22. Vgl. Packard, 2006, S. 121ff. Vgl. dazu Packard; Rauscher; Sina; Thon; Wilde; Wildfeuer, 2019, S. 45. Eisner, 2005. 2012, S. 131. Grethlein, 2005, S. 307. 2007, S. 20, vgl. dazu auch Sajak 2012, 227.

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interreligiösen Lernens im weiteren Sinne, da sie nicht deren Königsdisziplin, »das Gespräch in direkten Begegnungen«, ersetzten können.1308 Sie können aber thematische Impulse dafür geben oder vorbereiten und alternativ eine mediale Begegnung ermöglichen. Schließlich können im Zuge der ›Gestaltungskompetenz – religiös bedeutsame Ausdrucks- und Gestaltungsformen verwenden‹ eigene Ausdrucksformen erprobt und die Angemessenheit von religiösen Darstellungen in Comics reflektiert werden. Durch handlungsorientierte, kreative Verfahren können Kinder und Jugendliche anhand von Comics lernen, Formen religiöser und biblischer Sprache sowie individueller und kirchlicher Praxis von Religion gestalterisch Ausdruck zu verleihen (vgl. auch II 3.2.2). Comics können helfen, eigene Vorstellungen zu teilen (etwa: Wie Gott in meiner Vorstellung die Erde geschaffen hat) oder Geschichten über sich zu erzählen. Da es auch lyrische Comics gibt, spricht zudem nichts gegen die Gestaltung von multi-linearen.1309 Psalm- oder Klagelied-Comics, die jeden Vers eigens illustrieren und ihm zusätzlichen Ausdruck verleihen. Hier können Stimmungen wahrgenommen und mithilfe ästhetischer Mittel sprachlich barrierefrei ausgedrückt werden. Gewöhnlich wird in der Schule das Medium der Schrift als Ausdrucksmedium gefordert. Weil aber nicht alle Schüler ihrem Innenleben durch das Schreiben Ausdruck verleihen können oder wollen, und die Wirklichkeit ohnehin nicht umfänglich durch Worte erfasst werden kann, ist es notwendig auch andere Ausdrucksformen zu erschließen. Verwiesen sei noch einmal auf die eindringlichen Worte einer Schülerin: »It is important that we learn all different mediums of expression or else we may never be heard.«1310 Gestaltungskompetenz führt zu Partizipationskompetenz.1311 Mit dem Medium des Comics zu experimentieren, kann Schülerinnen neue Wege eröffnen, die in der Schule bis jetzt (zu) selten vorkommen. Im Gegensatz zum einfachen Bild bietet der Comic den Vorteil, auch der Dimension der Zeit Raum zu verleihen, sodass Entwicklungen und zeitliche Abläufe/Handlungen optimal dargestellt werden können. Bereichsübergreifend kann man feststellen, dass in fast allen Kompetenzbereichen von den Schülerinnen gefordert wird, Bezüge zum eigenen Standpunkt oder zur eigenen Lebenswelt herzustellen, eigene Einstellungen zu reflektieren und ihnen gegenüber anderen Ausdruck verleihen zu können. So wird beispielsweise im Bereich der Urteilskompetenz gefordert, »[r]eligiöse und ethische Argumente auf mögliche Entscheidungssituationen im eigenen Leben [zu] beziehen und einen eigenen Standpunkt [zu] begründen«.1312 Dafür ist ein gewisses 1308 1309 1310 1311 1312

Ebd., S. 21. Vgl. dazu Bennett; Batiz, 2014. Zit. nach Bakis, 2014, S. 147. Vgl. Pirner, 2012, S. 168. Niedersächsisches Kulturministerium, 2009, S. 16.

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Vorstellungsvermögen unumgänglich, allein schon, weil einige exemplarische, ethische Streitfragen, wie die der Sterbehilfe, vor allem eine didaktische Zukunftsbedeutung haben. Insofern als Comics die Phantasie anregen, sind sie grundsätzlich ein geeignetes Übungsinstrument. Auch im Zusammenspiel von Comics und kreativen Arbeitsmethoden sind kognitive Prozesse gefordert, die die Kreativität und Imagination anregen. Der Religionsunterricht kann am Ende von einer geförderten und ausgeprägten Imaginationsfähigkeit nur profitieren, da diese in Lebensbewältigungsprozessen ebenso wie im Aufbau von religiösen Bezügen eine Rolle spielt.1313 Dem steht auch das Anliegen der Identitätsentwicklung nahe.1314 Diese kann ebenfalls durch die Arbeit mit Comics gefördert werden, wenn sie ihre Subjektivität als Individuen in literarische Rezeptionsprozesse einfließen ließen, gesteuert und angeregt durch das entsprechende, kreative Methodenspektrum.1315 Auch in der Beschäftigung mit (Comic-)Biographien liegt Potenzial, insofern die eigene Lebensgeschichte vor dem Hintergrund einer anderen gut zur Geltung kommen kann. Abseits von konkreten Kompetenzzielen muss noch ein weiterer Aspekt religionspädagogischer Schularbeit verhandelt werden: Seit der »religionspädagogischen Wende« der Sechziger-/Siebzigerjahren ist die Orientierung an der Lebenswelt der Schüler in der Fachdidaktik nicht wegzudenken.1316 Die Forderung nach dem Lebensweltbezug des Faches ist in der vorliegenden Arbeit schon vielfach angeklungen. Die Begriffe ›Alltagswelt‹ und ›Lebenswelt‹ sind laut Boschki dabei nicht deckungsgleich: »Lebenswelt ist der Deutungs- und Bedeutungsrahmen, der Sinnhorizont, den sich die Subjekte selber konstruieren.«1317 Menschen, die von außen gesehen in der gleichen Alltagswelt leben, könnten in ganz verschiedenen Lebenswelten existieren, wenn sie der erlebten Welt einen je anderen Sinn bzw. eine andere Bedeutung zuschreiben.1318 Comics sind in der Regel sowohl Teil der Alltagswelt als auch der Lebenswelt Heranwachsender, weil die Inhalte für Kinder und Jugendliche zentrale Bedeutungen einnehmen können, etwa weil darin vorbildhaft erprobt wird, wie man sich in zwischenmenschlichen Konflikten verhalten kann. Comics können aber auch als Medium – unabhängig von ihren Inhalten – eine nicht unwesentliche Rolle im Leben Heranwachsender spielen, zum Beispiel weil sie jeden Abend im Bett gelesen werden und so helfen, den Tag zu strukturieren. Hier steht dann der Rezeptionsprozess im Vordergrund. Auch in den Bildungsplänen und Kerncurricula der Länder wird vorgeschrieben, die Unterrichtsgestaltung des Faches 1313 1314 1315 1316 1317 1318

Vgl. Kunstmann, 2004, S. 230. Vgl. Niedersächsisches Kulturministerium, 2009, 7, 10, 28. Vgl. Haas; Menzel; Spinner, 1994, S. 25; Spinner, 1995 (b), S. 128. Vgl. Lachmann, 2012, S. 17. 2012, S. 178. Vgl. ebd.

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Religion solle sich stets an lebensweltlichen Erfahrungen und Problemen der Lernenden orientieren.1319 Damit wird die Schülerorientierung großgeschrieben. Nach Pirner »ist Lebenswelt heute, insbesondere für Kinder und Jugendliche, zu einem guten Teil Medienwelt.«1320 Zum Einbinden in den Unterricht eignet sich auch der Comic als popkulturelles Phänomen. Jedoch sollte das Einzelwerk, besonders, wenn es länger im Zentrum des Unterrichts stehen soll, im Rahmen einer Lerngruppenanalyse mit Bedacht gewählt werden. Schülervorlieben können genauso in die Überlegungen mit einfließen wie der vorherrschende Rezeptionskompetenzgrad. Beides könnte mit der sozialen Herkunft und Migrationsgeschichten in Verbindung stehen. Nicht alle Comics sind beliebt und nicht alle verarbeiten auch zeitgemäße und schülernahe Themen. Und nicht alle Schüler sind kompetente Comicleser. Eine Lernstandserhebung wäre sinnvoll, zumindest sollte genug Rezeptionszeit für neue Comics zu Verfügung stehen. Selbst der klare Stil von Persepolis kann Gewöhnung erfordern, wenn die Alltagswelt etwa von Disneycomics geprägt ist, denn Satrapis Werk zeigt oft zwei Erzählebenen: Die Handlung und dazu eine Art Voice over-Erzählerin in Captions darüber. Einen Sonderfall stellen möglicherweise auch Kinder dar, die aus anderen Kulturkreisen frisch in die Lerngruppe gestoßen sind. Hier rückt ein Aspekt ins Blickfeld, der im Feld der Comicdidaktik auch zu Einschränkungen führen kann. Die meisten Kinder kommen im Laufe ihrer Lesesozialisation mit Comics in Berührung (vgl. I 2.6) und hat man sich als Kind der Comiclektüre gewidmet, bleibt die erworbene Kompetenz (ähnlich dem Radfahren) dank des prozeduralen Gedächtnisses grundsätzlich erhalten. Wenn das aber nicht der Fall ist, müssen sich Lernende die Fähigkeit, das Vokabular von Comics zu dekodieren, nachträglich erarbeiten – zumal die Bildsprache von westlichen und fernöstlichen Comics durchaus divergiert. An dieser Stelle muss teils deklaratives Wissen erarbeitet werden. Dies mag zwar ein Einwurf sein, der theoretisch bleibt. Dennoch ist er nicht von der Hand zu weisen, da der Religionsunterricht ohnehin zeitlich sehr eingeschränkt ist. Falls sich zeigt, dass das Rezeptionsvermögen also wesentlich geringer ist als angenommen, muss angemerkt werden, dass durch Aufarbeitung der Kompetenzmängel sowie übermäßige Genauigkeit in der Comic-Interpretation Zeit für den Comic transzendierende, theologische Inhalte und die persönliche Ebene zugunsten einer Medienanalyse verloren gehen. Auch wird der anfangs oftmals unbefangene Lesegenuss zerstört, wenn die Analyse einzelner Panels oder Seiten sich ins Endlose erstreckt, das Gesamtwerk überinterpretiert, auseinandergenommen und ›zerredet‹ wird. Die Lust am Comickonsum könnte derart nachhaltig gebremst werden, dass die (Comic-)Leseförderung scheitert. 1319 Vgl. etwa 2011, S. 16;, 4f. 1320 2012, S. 160.

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Fazit: In didaktischer Freiheit und aufgrund der aktuellen, bildungspolitischen Outputorientierung des Unterrichts steht es den Religionslehrern frei, auch Comics zum Erreichen der Kompetenzziele zu verwenden. Mit der gezielten Hilfe von Comics lassen sich zahlreiche inhaltsbezogene Kompetenzbereiche erarbeiten: An Ganzwerken oder aus Ausschnitten von thematisch passenden Comics. Dabei bieten sich vor allem sogenannte ›Graphic Novels‹ und Comicbiographien an. Es sollte in jedem Falle beachtet werden, auch in der Comicanalyse oder im Lesetraining zeitliche Abwägungen zu treffen, um die Kernthemen des Religionsunterrichtes nicht aus den Augen zu verlieren. Gleichzeitig bietet das Medium aufgrund seiner Inhalte und Charakteristika auch Chancen, unter kompetenter Anleitung (!) bestimmte prozessbezogene Kompetenzbereiche, nämlich die Wahrnehmungs-, Deutungs-, Urteils-, Dialog- und Gestaltungskompetenz zu stärken. Im letzten Fall sollten dabei vor allem kreative, handlungsorientierte Ansätze der Comicdidaktik im Mittelpunkt stehen. Im Großen und Ganzen kann sich der Einsatz von Comics unter bildungsplanbezogenen Gesichtspunkten und für den Wissens- und Kompetenzerwerb als nützlich erweisen.

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Aus narrativen und biographischen Comics schöpfen

Viele Comics, die sich inhaltlich besonders gut für den Religionsunterricht eignen, zeichnen sich durch ihre erzählende Form aus. Packard et al. vertreten sogar die Ansicht, dass sich Comics vielleicht sogar mehr als viele andere Medien als narrative Formen verstehen lassen, da sie sich fast immer als Darstellungen von in Raum und Zeit verorteten und von Figuren bevölkerten Welten verstehen lassen.1321 Dieser Neigung zur Textgattung der Erzählung im weitesten Sinne soll hier Rechnung getragen werden, da solche Formate didaktisch und speziell religionspädagogisch genutzt werden können, um Kinder und Jugendliche – je nach Stand ihrer kognitiven Fähigkeiten – bei der Identitätsbildung und der Entwicklung ihrer Spiritualität zu unterstützen. Dabei haben besonders biographische Comics ihr ganz eigenes Potenzial.

1321 Vgl. Packard; Rauscher; Sina; Thon; Wilde; Wildfeuer, 2019, 73, 75. Es sei natürlich noch einmal darauf verwiesen, dass nicht alle Comics narrativ gestaltet sind. Neben den bereits erwähnten Sach- und auch Wissenschaftscomics gibt es zum Beispiel auch experimentelle Werke, die aus abstrakten Sequenzen bestehen (vgl. dazu Baetens; Frey, 2015, S. 184), oder auch Lyrik in Comicform. Häufig sind diese Werke der ›comics poetry‹ »more conceptual, metaphorical and abstract than mainstream action comics, […] often multi-linear, nonnarrative and non-figurative« (Bennett; Batiz, 2014).

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Comic-Erzählungen in entwicklungspsychologischen Zusammenhängen Der Drang, Geschichten teilen zu wollen, kennzeichnet den Menschen in allen Kulturen, von Kindesbeinen an, über alle Jahrhunderte hinweg. Die Auseinandersetzung mit Erzählungen gilt deshalb vielen als »anthropologische Grundkonstante«.1322 Das Erzählen erfüllt viele explizite und implizite Funktionen, darunter die der Unterhaltung oder der Bildung, aber auch der Lebensbewältigung und der Unterstützung beim Ausbilden der eigenen Identität. Auch das Christentum als Geschichtsreligion wird in der Regel narrativ vermittelt.1323 Deshalb wurde in der christlichen Erziehung zu allen Zeiten die Technik des Erzählens genutzt, um dem Auftrag der ›Kommunikation des Evangeliums‹ nachzukommen.1324 Es handelt sich also um ein bewährtes Verfahren, das auch heute noch produktiv in der Religionspädagogik eingesetzt wird. Dabei profitieren Menschen in ihrer religiösen Bildung aber nicht nur von der Verarbeitung religiöser Geschichten, sondern auch von säkularen und/oder explizit als fiktiv markierten Erzählungen. Im angelsächsischen Raum erfährt das ›Storytelling‹ zur Vermittlung von Botschaften im christlich-evangelikalen/missionarischen Bereich seit einigen Jahren besonders viel Aufmerksamkeit.1325 Auch in anderen Kontexten wird dem Geschichtenerzählen neue Beachtung geschenkt, zum Beispiel in der Hochschuldidaktik.1326 Thielking erklärt: »Informationsbausteine werden in kontextualisierten Formen zugänglicher und behaltbarer, d. h. Erzähltes vernetzt sich besser, wird weniger leicht vergessen.«1327 Dazu gewinnen Informationen, die in narrativen Lernprozessen vermittelt werden, oftmals an Anschaulichkeit, sie werden in der narrativen Modellierung emotional besetzt und so zugleich bewertet, was zu intensiverer Vernetzung führt, aber freilich auch nicht immer gewünscht wird.1328 Dabei spielen naheliegenderweise kognitivkonstruktivistische Prozesse eine Rolle, während im Austausch über den narrativen Stoff auch sozio-konstruktivistisches Lernen einsetzen kann. Die narrative Religionspädagogik knüpft an die menschliche Freude an gut erzählten Geschichten an. Im Religionsunterricht können biblische Erzählungen zum Beispiel den problemorientierten Unterricht durch die beliebten Dilemma-Geschichten bereichern, die dem Erschließen spezieller ethischer Diskussionsfelder dienen.1329 Grundsätzlich ist das Erzählen durch fast jede mediale Form vor-

1322 1323 1324 1325 1326 1327 1328 1329

Naurath, 2005, S. 291. Vgl. ebd. Vgl. Adam, 1993 (b), S. 137. Vgl. bspw. Walsh, 2014; Dillon, 2012; Seymour, 2007; Terry, 2008. Vgl. Georg-August-Universität Göttingen, 2018. 2005, S. 200. Vgl. Fingerhut, 2000, 34. Vgl. Adam, 1993 (b), S. 159.

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stellbar, auch wenn die Geschichte durch die Wahl des Mediums sicherlich nicht unbeeinflusst bleibt. Comics lassen sich in den Unterricht einbinden, um genau in diesem Feld fruchtbar gemacht zu werden. Denn wie schon dargestellt, ist der Comic rezeptionsästhetisch betrachtet keinesfalls »meditativ«, sondern vielmehr narrativ, da er zwar mit Bildlichkeit arbeitet, das einzelne Bild aber nicht im Vordergrund steht.1330 Comic-Künstlerinnen vermögen es, das Eindrückliche des Bildes mit der Kraft einer fortschreitenden Geschichte zu verbinden.1331 Gerade davon kann die Religionspädagogik profitieren.In Reuters Worten: Damit ist der Comic tendenziell pädagogischer als das Bild. Denn der Comic lenkt den Blick in die Richtung des Verlaufs der Erzählung und ordnet die Kraft des Bildes der Geschichte unter. […] Der Comic teilt also mit den erzählenden Kirchenfenstern des Mittelalters das Interesse, der Leser möge etwas kennen-lernen, er möge eine Ablauf von Ereignissen verstehen. Dem liegt eine aufklärerische Grundtendenz im weitesten Sinne zugrunde. Wenn das Bild tendenziell katholisch ist aufgrund seines ex opere visum operatum, so bricht der Comic protestantisch das Bildprinzip, indem er das Bild durch Einordnung und Text erklärt. Das Bild kehrt in die Geschichte ein.1332

Die Bilder stehen im komplexen Dienste der Narration und diese kann wiederum bedeutungsstiftend für die Rezipierenden sein: Comics bringen zum Ausdruck: Welt, Fantasie (Fiction), Feeling und Sinn. Damit sind sie Gegenstand der Religionspädagogik, wie alles andere, was den Menschen auf die Spur des Sinns bringt. […] Comics erzählen und rücken damit in den Focus einer narrativen Religionspädagogik, die sich bemüht, die Sinnpotentiale des im Medium des Comic Entfalteten zu verstehen.1333

Comicgeschichten können prinzipiell »entscheidende Orientierungen für die Vorstellungen von Glück, Lebenssinn, Individualität und gestalteter Sozialität« bereitstellen.1334 Sie besitzen das grundsätzliche Potenzial aller Erzählungen. Im Dienst der narrativen Religionspädagogik muss sich auch der comicgestützte Unterricht natürlich nach dem kognitiven Stand der Subjekte richten, da auch narrative Lernprozesse nur im Kontext des jeweiligen Entwicklungsstandes von Kindern und Jugendlichen erfolgen können.1335 Dazu können Comics je nach Alter der Lesenden einen anderen Nutzen entfalten. In Anlehnung an Jean Piaget 1330 Vgl. auch Reuter, 2011, S. 240. Vgl. zum Gegenstand der (christlichen) Bildmeditation etwa Rosenberg, 1975. 1331 Vgl. Reuter, 2011, S. 239. Zu weiteren spezifischen Eigenarten des Erzählens im Comic, zum Beispiel zum Aspekt des Räumlichens (»definitely more important in the graphic novel than in narrative in general«), vergleiche auch Baetens; Frey, 2015, 162–187, 167. 1332 2011, S. 240. 1333 Ebd., 236, 238. 1334 Meyer-Blanck; Weyel, 2008, S. 178. 1335 Vgl. auch Mendl, 2012, S. 106.

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und James W. Fowler muss dieses kurz skizziert werden, wobei ausnahmsweise auch die kognitive Entwicklung von Kindern vor der Sekundarstufe I angerissen werden soll, da das pädagogische Potenzial, das Comics in frühen Entwicklungsstufen besitzen, in den späteren Entwicklungsstufen widergespiegelt und ausgebaut wird. Die menschliche Faszination für Geschichten beginnt im Kleinkindalter.1336 Bevor sie überhaupt einen ersten Fuß in den Religionsunterricht gesetzt haben, machen die Jüngsten deshalb Erfahrungen mit Narrationen, die als ›HorizontErweiter‹ eine ausgeprägte Wirkung haben können – erst einmal unabhängig vom Medium ihrer Vermittlung. Schon für Vorschulkinder liefern Erzählungen nach Fowler einen wichtigen Identitätsanhalt, genaugenommen »symbolische Repräsentationen, die Modelle für ihre Konstruktionen des eigenen Selbst und der Anderen in Beziehung zur letzten Umwelt sowohl ausdrücken als auch zur Verfügung stellen«.1337 Geschichten für Kleinkinder werden meist mithilfe von Bilderbüchern, Hörspielen, Film und Fernsehen oder auch schlicht mündlich erzählt. Es gibt jedoch auch Pantomime-Comics ohne Text, wie die französische Reihe Kleiner Strubbel für Kinder ab drei Jahren.1338 Anhand dieses Beispiels lässt sich gut zeigen, wie schon die Jüngsten durch Comics pädagogisch gefördert werden könnten. Kleiner Strubbel ist so gestaltet, dass Kinder (vielleicht nach einer ersten Anleitung bezüglich der Leserichtung) die Comics weitgehend ohne fremde Hilfe rezipieren können, was den Grund für eine Comicrezeptionskompetenz legt und ihre Bindung zu Comics und Büchern stärkt. Das dient langfristig zum Beispiel der Leseförderung und -motivation. Dazu kommt, dass diese Comics nicht nur allein gelesen werden können, sondern auch gezielt dazu anregen: Comics eigenen sich auch später nur eingeschränkt zur gemeinschaftlichen Rezeption, da die Verarbeitungsprozesse der Rezeption zu komplex sind. Während ein Bilderbuch dazu einlädt, die Illustration zu studieren, während man dem Text lauschen kann, liegt im Comic in der Regel ein korrelatives Verhältnis beider Medien vor. Kinder werden deshalb durch Comics darin gefördert, sich zeitweise allein beschäftigen zu können.1339 So kann die Aufmerksamkeits- und Konzentrationsspanne ausgebaut werden, die später für jede Art von Text- und Medienrezeption erforderlich ist. Introvertierten Menschen kommen diese Ruhephasen oft besonders entgegen. Dazu kommt, dass die 1336 1337 1338 1339

Vgl. Fowler, 2000, S. 152. 2000, S. 152. Bailly; Fraipont, 2006–. Ich vertrete die These, dass ein gemeinsamer Comicleseprozess – wenn gewisse Grundkompetenzen vorhanden sind – sogar eher anstrengend für Kinder sein kann, die in der Verarbeitung von Text-Bild-Korrelationen erheblich gestört werden, wenn sie gerade die Handlung nachvollziehen wollen und dann durch ein Elternteil, das den Text vorliest, an ungeeigneter Stelle unterbrochen werden.

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Phantasie angeregt wird: Einerseits durch Geschichten mit phantastischen Inhalten (vgl. beispielsweise Der Yeti hat den Blues1340, Die nimmersatte Meerjungfrau1341, Der haarige Planet1342), die so häufig im Medium ihren Platz finden. Andererseits werden durch Comics, wie schon ausführlich dargelegt wurde, gewisse Anforderungen an das Imaginations- und Induktionsvermögen gestellt. Deshalb können Comicgeschichten, am besten mit einem nachfolgenden Austausch darüber (wie es auch beim Vorlesen der Fall ist), im Stadium der präoperationalen Intelligenz Kindern dabei helfen, ihr Sprech- und Vorstellungsvermögen auszubilden. Das Imaginationsvermögen aber ist Grundlage für das religiöse Lernen und für den Aufbau von religiösen Bezügen.1343 Es lässt sich deshalb erwägen, ob Comics nicht schon vor der Schulzeit in den Dienst der Religionspädagogik gestellt werden könnten. In der Grundschulzeit beginnen Kinder verstärkt ihre eigenen Geschichten zu erzählen, um Erfahrungen zu verarbeiten.1344 Grundschulpädagoginnen nutzen diese Neigung oft für Schreibanlässe oder die Aufforderungen, Bilder zu Erfahrungen zu gestalten. Im Kindesalter scheint es dabei noch nicht befremdlich, Text und Bilder phantasievoll miteinander zu kombinieren. Doch auch die Vorliebe für Geschichten anderer, die Kindern »Einblick in fremde Perspektiven und Möglichkeiten zum Ausleben ihrer phantasievollen Vorstellungen anderer Lebenswelten geben«, bleibt erhalten.1345 Erzählungen dienen so der »Erweiterung der Lebenserfahrung und des Lebensverständnisses des Kindes.«1346 Unter anderem bildet sich die Fähigkeit, Perspektiven anderer einzunehmen, maßgeblich mithilfe von Geschichten. Auch die Imaginationsfähigkeit wird weiter ausgebaut und öffnet sich langsam sogar für das Potenzial sozialer Phantasie (vgl. auch II 3.2.2). Kinder, die regelmäßig Comics lesen, sind es ferner bereits gewohnt, bestimmte visuelle Zeichen, wie expressive Soundwords, in ihrem verweisenden Charakter wahrzunehmen oder sie zumindest richtig einzuordnen, was eine Vorstufe zur Symbolbildung sein könnte, auf die im Religionsunterricht ganz konkret aufgebaut werden kann. Trotzdem verfügen Kinder dieser Altersstufe in der Regel noch nicht über alle kognitiven Fähigkeiten, die notwendig sind, um jede Comicgeschichte in ihrer Tiefe zu deuten und nachzuvollziehen, da Grundschulkinder erst über ein eingeschränktes Symbolverständnis verfügen.1347 Das zeigt sich konkret im Religionsunterricht, wenn junge Schüler sich oft noch 1340 1341 1342 1343 1344 1345 1346 1347

2015. 2013. 2016. Vgl. Kunstmann, 2004, S. 230. Vgl. Fowler, 2000, S. 152. Naurath, 2005, S. 291. Fowler, 2000, S. 152, Herv. d. A. Vgl. ebd., S. 166.

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im Bereich des mythisch-wörtlichen Glaubens befinden.1348 In dieser Entwicklungsstufe im Aufbau von Spiritualität werden sprachliche Bilder oder Symbole häufig (nicht immer!) wortwörtlich genommen.1349 Das wirkt sich auch auf die Bilddeutungskompetenz/Visual Literacy aus, die auf der Fähigkeit beruht, visuelle Mittel symbolisch-verweisend zu deuten, etwa einen tiefschwarz gehaltenen Panelhintergrund. Dennoch können Comics auch genutzt werden, um effektiv Wissen aus dem christlichen Symbol- und Wertekanon zu vermitteln, wie etwa biblische Geschichten. Ziel kann damit die allgemeine und religiöse Bildung sein oder auch den Lernenden zu helfen, die Entwicklung hin zur synthetischkonventionellen Glaubensstufe zu vollziehen.1350 Dies würde bedeuten, erstmals eine mehr oder minder ›gesicherte‹ Religiosität aufzubauen, was in Zeiten zunehmender Kirchenunverbundenheit immer seltener geschieht.1351 Die Entwicklung einer gefestigten eigenen Glaubensidentität vollzieht sich jedoch immer in der Auseinandersetzung mit religiösen Inhalten, und sei es auch in Abgrenzung zu diesen, was die Behandlung religiöser Tradition im Unterricht unverzichtbar macht. In der frühen Sekundarstufe I sollte sich durch entsprechende Lernimpulse und die allgemeine kognitive Entwicklung der Lernenden die Befähigung zum formal-operationalen Denken etablieren, was mit einer erweiterten Reflexionsfähigkeit einhergeht.1352 Die Jugendlichen lernen meta-analytisch und abstrakt zu denken, was durch die Arbeit an Erzählungen gefördert werden kann. Heranwachsende werden so dazu befähigt, Geschichten mit der nötigen Distanz zu betrachten, um ihre Struktur zu durchdenken und ihre Bedeutung mithilfe ab-

1348 2000, S. 152. 1349 Bei entsprechender Förderung, zum Beispiel durch den Besuch von Kindergottesdiensten und durch tiefgehende Gespräche im Alltag, können Kinder aber auch schon früher verstehen, dass der ›Himmel‹, in den die tote Großmutter nun gekommen ist, sich nicht einfach oben über ihnen befindet und dass die alte Dame sich nicht wirklich auf einer Wolke aufhält. Auch Fricke verweist darauf, dass schon Grundschulkinder biblische Texte nicht nur wortwörtlich, sondern auch symbolisch zu begreifen vermögen (2012, S. 210). Umgekehrt kann der Mangel einer solchen kognitiv-spirituellen Förderung aber auch dafür sorgen, dass noch Jugendliche wie selbstverständlich von Engeln auf Wolken sprechen, wenn sie eschatologische Konzepte in Worte zu fassen versuchen. Die Entwicklung von Spiritualität verläuft als kognitiver Teilbereich domänenspezifisch und ist durch die wachsende Enttraditionalisierung unserer Gesellschaft nicht unbeeinflusst geblieben. Dazu kommt, dass die von Fowler vorgeschlagenen ›Stufen des Glaubens‹ mit großer Wahrscheinlichkeit heute immer weniger durchlaufen werden, was mit der wachsenden religiösen Indifferenz der Gesellschaft zu tun hat (vgl. Evangelische Kirche in Deutschland, 2014 (a), S. 65). Grundsätzliche Verbindungen zwischen Fowlers und Piagets Stufenmodell zu ziehen, ist jedoch immer noch sinnvoll. 1350 Vgl. Fowler, 2000, S. 168. 1351 Vgl. ebd.; vgl. Evangelische Kirche in Deutschland, 2014 (a), S. 65. 1352 Vgl. Fowler, 2000, S. 168.

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strakterer und allgemeinerer Fragestellungen zu erschließen.1353 In dieser Lebensphase beginnt die adoleszente Entwicklung der Schülerinnen, die mit verstärkter Suche nach dem eigenen Selbst einhergeht. Geschichten regen zum imaginierten Ausleben anderer Lebensentwürfe und Weltbilder an. Die Identität wird durch Abgrenzung, durch Anzweifeln, durch Ausprobieren, durch Erfolg und Scheitern neu erschlossen und definiert. Der Religionsunterricht unterstützt Kinder und Jugendliche dabei, wenn er anregt, ethische, religiöse und inhaltliche Zusammenhänge zu reflektieren, Parallelen zum eigenen Leben herzustellen und individuell Stellung zu beziehen. Dazu bietet Literatur dem Heranwachsenden eine Art »Simulationsraum«, in dem er »die Grenzen seiner praktischen Erfahrungen und Routinen überschreitet, ohne ein wirkliches Risiko dabei einzugehen.«1354 Im Unterricht lässt sich daran anknüpfen und die neu gewonnene Abstraktions-, Transfer- und Reflexionsfähigkeit der Lerngruppe fördern. Mehrmals schlägt auch das Niedersächsische Kerncurriculum den Einsatz von Erzählungen für den Kompetenzerwerb in der Sekundarstufe I vor, wobei es sich überwiegend um biblische Geschichten handeln soll, die ebenfalls vielfach in Comicform vorliegen.1355 Die narrative Comicreligionspädagogik im Kontext didaktischer Modelle Geschichten können den Fachunterricht für ganz verschiedene Themen öffnen, die dadurch auf besondere Weise von den Lernenden verarbeitet werden: »Narratives Lernen ist ereignishaftes Lernen, d. h. die erzählten Sachverhalte werden als Ereignisse, die man erleben kann, modelliert.«1356 Geschichten können dabei auch entdeckende Unterrichtsformen unterstützen und zwar durch die Methode des Verstehensankers (›Anchored Instruction‹). Das Konzept ist bisher vor allem in den Naturwissenschaften und dem Fach Mathematik verbreitet, jedoch lässt es sich leicht verändert auch auf den problemorientierten Religionsunterricht übertragen: In Form von Filmen werden der Lerngruppe dabei spannende (Abenteuer-)Geschichten angeboten, in denen das konzeptuelle, zu erlernende Wissen eingebettet ist.1357 Die mediale Form ist jedoch nicht entscheidend: Es geht vielmehr um die szenische Verankerung der Lerninhalte, was Interesse wecken, Identifikationsprozesse bei den Lernenden auslösen und auf diese Weise in das problemorientierte und auch soziale Lernen führen soll, wenn das dargestellte Problem in der Klassengemeinschaft bearbeitet wird.1358 Abstrakte Unterrichtsthemen können durch die Verankerung in einer narrativen 1353 1354 1355 1356 1357 1358

Vgl. ebd., S. 153. Wellershoff, 1969, S. 22. Vgl. Niedersächsisches Kulturministerium, 2009, 17–19, 24, 33, 40, 44, 48. Fingerhut, 2002, S. 29. Vgl. Hasselhorn; Gold, 2013, S. 302. Vgl. ebd.

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Struktur (man spricht hier vom ›narrativen Anker‹1359) leichter zugänglich gemacht und auf ein konkretes Beispiel bezogen werden, zum Beispiel als ›Dilemma-Geschichte‹. Ein Beispiel aus der Comicwelt: Das ethische Konzept des Utilitarismus könnte auch in der Mittelstufe durch den Comic Erdbeben1360 konkretisiert werden, in dem der Held Phantomias gegen kriminelle Wissenschaftler antritt, die bereitwillig den Tod vieler Menschen in Kauf nehmen wollen, um das Überleben der Menschheit insgesamt zu sichern. Begeht Phantomias einen Fehler, wenn er sich dem in den Weg stellt? Diese Frage bietet einen Anlass für authentische Diskussionen. Zudem kann speziell durch den Helden Phantomias, der hier in einem Comic auftritt, dessen Ästhetik sich vor allem an Jugendliche und Erwachsene richtet, der jedoch vielen aus kindgerechten Disneycomics bekannt sein dürfte, ein vertrauter Kontext geschaffen werden. Zwar scheint das Szenario nicht unbedingt authentisch, in dem Sinne, dass es alltäglich wäre – die fehlende Lebensnähe des Problems kann also durchaus kritisiert werden. Jedoch wird durch das populäre Genre der Superheldengeschichte ein Lebensweltbezug hergestellt, da Phantomias den Helden ›Batman‹ oder ›Ironman‹ ähnelt und zahlreiche Spannungselemente bereitstehen. Biographische Comics: Ein echter Schatz für die Religionspädagogik Fernab dieses problemorientierten Ethikunterrichtes sind jedoch vor allem Biographien und Autobiographien ein Schatz für den Religionsunterricht, da sie besonders gut in Bezug zur eigenen Lebensgeschichte gesetzt werden können. (Auto-)Biographische Comics erzählen Geschichten, die notgedrungen entstehen, wenn aus scheinbar unverbundenen Ereignissen im Laufe der Zeit ein kohärentes Ganzes geformt werden soll.1361 Geschichten aber nehmen Einfluss auf die eigene Lebensgeschichte. Daher kann die religionspädagogische Arbeit mit ›Graphic Memoirs‹ auch zu biographischem Lernen im weiteren Sinne führen, welches in die Selbstreflexivität führen soll, um unter anderem »die eigene Glaubensgeschichte reflektierend zu konstruieren.«1362 Selbstreflexion und vor allem die Identitätskonstruktion haben heute eine besondere Dringlichkeit angenommen, die sich in der Adoleszenz noch verstärkt: »Besonders in Zeiten der Pluralisierung kultureller Orientierungen, Umbruchserfahrungen und biographischen Krisen steigert sich das individuelle Bedürfnis nach lebensgeschichtlicher Kohärenz.«1363 Solche Kohärenz lässt sich exemplarisch in Comicbiographien finden. Sowohl das Erzählen der eigenen Geschichte als auch die Verarbeitung fremder Lebensgeschichte(n) können Jugendlichen bei der Selbst- und 1359 1360 1361 1362 1363

Ebd. Walt Disney, 2000. Vgl. dazu Ricoeur, 1988. Mendl, 2012, S. 109. Heuer, 2013, S. 326.

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Weltdeutung helfen: »Denn die täglich erfahrene Komplexität menschlichen Lebens in unseren gebrochenen Zeiten der Gegenwart lässt sich nur mit Hilfe von narrativen Konstruktionen strukturieren und ordnen«1364. In den Worten Sousanis: [S]tories sustain us and offer spaces of freedom. / They let us reach across time and space to share in another’s viewpoint, / touch another’s thoughts, / and make them part of our own stories. / To be clear, by stories, I don’t mean only wondrous tales, but that most human of activities, the framing of experience to give it meaning.1365

Erzählt der Mensch eine Geschichte von sich selbst, ordnet und deutet er Lebenszusammenhänge zu etwas Stimmigem. Das trägt zu seiner narrativen Identität bei, die viel über ihn selbst aussagt. Diese narrative Identität ist der Versuch des Menschen, sich seiner Identität zu vergewissern bzw. diese zu erforschen, indem sie Geschichten über sich erzählen.1366 Identitätsbildung geschieht immer (zumindest in Teilen) durch ›Selbstnarration‹. Die eigene Wirklichkeit wird auf diese Weise erzählerisch und sozial aus der Biographie konstruiert und erfährt deshalb zwangsläufig eine Deutung. Die narrative Identität kann und will das Leben nicht genau faktisch wiedergeben, sie ist nach Kumlehm »immer als Form der hermeneutischen Auslegung und Bedeutungsstiftung zu verstehen.«1367 Die narrative Identität nährt sich aber nicht nur durch den Bericht eigener Erfahrungen, sondern lebensgeschichtlich begleitend auch durch fremde, persönlichkeitsbildende Erzählungen.1368 Auch anhand einer fremden, erzählerisch konstruierten Biographie kann gelernt werden, wie ein Sinn in den eigenen Lebensspuren gefunden und geschaffen werden kann. Und in einer ernsthaften Auseinandersetzung mit dem Erzählten kann sich auch das Selbstverständnis der Hörenden und Lesenden wandeln, zum Beispiel in einer Identifikation mit dem Erzählten (bezüglich ethischer Maßstäbe, Figuren, Konflikte etc.), aber auch in Abgrenzung dazu.1369 Auch ein fiktionaler Weltentwurf ist niemals ethisch neutral und enthält zumindest implizit immer auch eine Bewertung der Welt, in der wir leben, sodass die Rezipienten diesen Bewertungsrahmen und -vorschlag gedanklich ausprobieren oder ›kosten‹ und damit eine neue Sicht auf ihre Welt werfen können.1370 So positioniert sich die eigene

1364 Ebd. 1365 2015, S. 95. 1366 Köppe und Kindt merken zu Recht an, dass Identität allerdings nie ausschließlich narrativ konstruiert wird (2014, S. 63). Schlüssig äußert sich dazu auch Paul Ricoeur durch sein Konzept der idem- und ipse-Identität (1996 (b), S. 150ff.). 1367 2012, S. 139. 1368 Vgl. Naurath, 2005, S. 291; vgl. dazu auch Ricoeur, 1988, S. 104ff. 1369 Vgl. Naurath, 2005, S. 291; Kumlehm, 2012, 141f. 1370 Vgl. Kumlehm, 2012, S. 142.

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Identität unablässig neu.1371 Teilweise empfehlen Religionspädagoginnen deshalb ganz konkret die Auseinandersetzung mit Biographien, seien sie inspirierend oder eher herausfordernd. So erklärt Siemann zur Sprachfähigkeit in Bezug auf Sinnfragen, die die Religionspädagogik anbahnen soll, geeignete Modelle und Impulse seien durch die Behandlung beispielhafter Persönlichkeiten und autobiographischer Berichte als Sinnzeugnisse aufzugreifen.1372 Die Verbindungen zwischen Erzählungen, Biographie und Identität sind religionspädagogisch auch deshalb so naheliegend, weil man im Gefolge Schleiermachers die Lebensgeschichte als entscheidenden Zugang zur religiösen Entwicklung ansehen kann.1373 An dieser Stelle finden Didaktik und Medium wieder zueinander. Die Religionspädagogik, die nach schülerfreundlichen Biographien sucht, sollte sich dem Comic, der einen Hang zu biographischen Inhalten entwickelt hat, öffnen (vgl. I 2.5). Wie oben gezeigt gibt es (nicht nur) in Form der ›Graphic Memoirs‹eine Fülle von biographischen/autobiographischen Comics, die gleichzeitig persönliche und gesellschaftspolitisch relevante Themen verarbeiten.1374 Sie besitzen ein derart kostbares Potenzial und stehen den Anliegen des Religionsunterrichtes so nahe, dass in den konkreten Comicanalysen dieser Arbeit zwei Comics in den Mittelpunkt gerückt werden sollen, die trotz ihrer Unterschiedlichkeit beide lebensgeschichtlich erzählen (vgl. IV). Comicschaffende können im Erzählen darstellen, wie Sinn in den eigenen Lebensspuren gefunden werden kann: In […] autodiegetischen Erzählungen wird die Erzählung des eigenen Lebens oder die Erzählung bedeutsamer Lebensabschnitte als individuelle Spurensuche inszeniert, bei der versucht wird, Selbstbilder durch Rückgriff auf die eigene (Vor-)Vergangenheit und durch die Archivierung und Modellierung von Erinnerungen zu bestätigen und authentisch – also für den Leser und sich selbst – als plausible Geschichten nachvollziehbar, [sic] zu konstruieren1375.

Dabei sind Comics möglicherweise besonders dazu in der Lage, den Zusammenhang zwischen gestern und heute, zwischen Erinnerung und Interpretation des Erlebten zu verdeutlichen: [S]ie sind gerade durch die Verbindung von Schrift und Bild Laboratorien für selbstreflexive Formen historischen Erzählens und nicht zuletzt Versuche, die Komplexität des Lebensvollzugs ästhetisch zu modellieren und anschlussfähig erzählen zu können. Denn die Erzählungen als solche erzählen nur in den seltensten Fällen durch die Ein-

1371 1372 1373 1374 1375

Vgl. ebd., S. 137. Vgl. 2008, 1340. Vgl. Meyer-Blanck; Weyel, 2008, S. 158. Vgl. Sina, 2016, S. 83. Heuer, 2013, S. 326.

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haltung einer strengen Chronologie, sondern eher durch die Verschränkung der Zeitebenen, durch Vor- und Rückschauen und durch selbst-reflexive Einschübe. Damit sind Comics mitunter auch Meta-Reflexionen über das lebensgeschichtliche Erzählen1376.

Die Affinität des Mediums zur Verarbeitung alternativer Lebenswege, die sich häufig außerhalb des öffentlichen Diskurses befinden oder zur Zeit der Veröffentlichung befunden haben (vgl. I 2 5), bietet ein ganz eigenes Potenzial1377. Es wären hier beispielsweise bekannte Erzählungen wie Fun Home1378, Stuck Rubber Baby1379, Dykes to Watch out for1380, Blau ist eine warme Farbe1381, Persepolis1382, Schattenspringer1383 und Schattenspringer1384 zu nennen. Die genannten Comics sind überwiegend (zumindest in Teilen) Comingof-Age-Erzählungen (Fun Home, Persepolis, Schattenspringer, Schattenspringer2, Stuck Rubber Baby, Blau ist eine warme Farbe) und Coming-Out-Narrationen aus der LGBTQ+-Szene (Fun Home, Stuck Rubber Baby, Blau ist eine warme Farbe). Auch die Serie Dykes to Watch out for verarbeitet homosexuelle Identitäten in einem Freundeskreis. Stuck Rubber Baby ist spielt in der Zeit der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung. Persepolis handelt von dem Kampf einer Familie im islamischen Regime Irans. Schattenspringer erzählt die Geschichte(n) einer jungen Frau aus dem autistischen Spektrum. Alle diese genannten Comics sind autobiographisch inspiriert oder explizit als Autobiographien gekennzeichnet. Es ist gut möglich, dass die Auseinandersetzung mit diesen Erzählungen die Lernenden in ihrer Bildung dazu ermutigt, Konventionen in Frage zu stellen, ihre Lebenswelt aus einem neuen Blickwinkel zu betrachten, Empathie und individuelle Positionen zu entwickeln. Solche Prozesse können sich ab der Adoleszenz auch in der Entwicklung zu einem individuellen Gottesverhältnis vollziehen, was einem individuierend-reflektierenden Glauben entspräche. Dabei geht es um eine gewisse spirituelle Eigenständigkeit und Mündigkeit. Durch die Lektüre von (auch fiktionalen und semi-fiktionalen) Biographien und erzählten Konflikten können Krisen und Lebenshilfen stellvertretend wahrgenommen werden. Es ist deshalb zu überlegen, ob sich die Religionspädagogik nicht auch Trauma-Narrativen im Comic öffnen sollte. Diese haben dort ein festes Zuhause gefunden, möglicherweise weil die erzählerischen Möglich1376 1377 1378 1379 1380 1381 1382 1383 1384

Vgl. ebd., S. 327. Vgl. dazu Chute, 2010 (a), 2f. Bechdel, 2006. Cruse, 1995. Bechdel, 1986. Maroh, 2013. Satrapi, 2004. Schreiter, 2014. Schreiter, 2015.

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keiten des Medium oft besser für den schwierigen Umgang mit traumatischen Erlebnissen und fragmentarischen Erinnerungen geeignet sind als jene in reinen Prosatexten, denn: »Das Unaussprechliche muss nicht in Worte gefasst werden.«1385 Das traumatische Erleben des Erzählers wird zum Beispiel auf emotionaler Ebene über die Bildsprache zugänglich gemacht.1386 Schaffende arbeiten dabei auch mithilfe von Symbolsprache und comicspezifischen Ausdrucksmitteln wie der Panelgestaltung, in denen zum Beispiel »eine Folge von Detailaufnahmen das traumatypische Einfrieren der Zeit illustriert.«1387 Dies betrifft auch die ›Graphic Illness Narratives‹, in denen auch die Theodizee-Frage eine Rolle spielen könnte. Obwohl es wegen seiner Komplexität schwerlich als ein Werk für Jugendliche oder gar Kinder angesehen werden kann, so ist doch Alison Bechdels Are you my Mother?1388 ein hervorragend Beispiel dafür. Die Autorin beschreibt darin lange Psychotherapiesitzungen, in der sie bzw. ihre Figur ›Alison‹ von deren Therapeutin auch gebeten wird, zu erklären, ob sie an Gott glaube, genauer: »Let me rephrase that. Can you describe your cosmology to me?«1389 Obwohl Bechdel im Comic nicht vor intimen und persönlichen Schilderungen zurückschreckt und in der Lage ist, komplexeste Themen der Psychoanalyse zu erläutern, verzichtet sie an dieser Stelle doch auf den Versuch, das Unfassbare in Worte zu fassen.1390 Stattdessen schließen sich im Folgenden drei Sprechblasen um drei Bilder – eine Folge, die aufgrund der Textlastigkeit des restlichen Materials heraussticht und der besonderen Interpretation bedarf.1391 (Abb. 28) Hier müssen Bildlesekompetenzen an den Tag gelegt werden, die derzeit auch in anderen Zusammenhängen von zunehmender Bedeutung sind. Das nächste Kapitel ist darum ihnen gewidmet. Es lässt sich zusammenfassen: Comics eignen sich für die narrative Religionspädagogik, weil sie oft Geschichten erzählen, die eine große narrative Kraft entfalten können. Im Religionsunterricht können sie Zusammenhänge und Ideen transportieren, die zur Reflexion und Auslotung einladen. Narrationen verschiedenster Art haben schon im Kleinkindalter einen positiven Effekt auf das Individuum, weil sie dessen Lebenserfahrung und -verständnis erweitern, und die Identitäts- sowie Imaginationsausbildung stärken. Im Laufe der Sekundarstufe I wächst mit dem formal-operativen Denken die Reflexionsfähigkeit der Heranwachsenden, so dass Erzählungen auf einer tieferen kognitiven Ebene gedeutet und die Symbolhaftigkeit visueller Kodierungen erschlossen werden 1385 1386 1387 1388 1389 1390 1391

Oppolzer, 2013, 243f. Vgl. ebd., S. 245. Kupcynska, 2013, S. 224. Bechdel, 2012. 2012, S. 102. Vgl. bspw. 2012, 22, 113f., 54, 232f. Vgl. ebd., S. 103.

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Abb. 28

können. Dadurch wird das Instrumentarium entsprechend bereichert. Geschichten im Medium des Comics können anschlussfähig für verschiedene religionsdidaktische Konzepte sein. Dabei ist die Neigung des Mediums zum Erzählen von Lebensgeschichte(n) bedeutsam. Oft handelt es sich dabei um Lebenswelten jenseits des ›Mainstream‹. Auch Verweise auf Traumata oder Umbrüche können im Comic eine große Kraft entfalten. Biographische Comicerzählungen lenken den Blick auf lebensgeschichtlich wichtige Punkte, können Lebenshilfe(n) anbieten und Einfluss auf die Selbst-Konstruktion der Lesenden nehmen. Unabhängig von Gattung oder Genre können Comics jedoch dabei behilflich sein, eine ›Visual Literacy‹ bei Schülern aufzubauen – nicht nur allgemein (wie in II 3.2.6 dargestellt), sondern auch spezifisch im Rahmen religiöser Bildungsprozesse. Dies soll als nächstes beleuchtet werden.

3.3

Visual Literacy religionsbezogen aufbauen

Auch wenn die wichtigsten Aspekte von Visual Literacy als fachübergreifendes Bildungsanliegen im Zusammenhang mit der Comicdidaktik bereits diskutiert wurden (vgl. II 3.26), gehen mit Bildlesekompetenzen im Religionsunterricht

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ganz eigene Spezifika einher. Aus religionspädagogischer Perspektive ist das Anliegen einer Visual Literacy daher nur zu begrüßen – und kann durch den Einsatz von Comics gefördert werden. In diesem Kapitel sollen kurz die historische und zeitgenössische Rolle dieses Kompetenzfeldes in religiösen Zusammenhängen sowie die Hürden, die Religionslehrkräfte heute oft überwinden müssen, skizziert werden. Darauf folgt eine Darstellung der Relevanz und der Ziele einer ausgebildeten Bildlesefähigkeit für die Religionsdidaktik. Bilder in der Kirche und Religionspädagogik Über alle Zeiten und Kulturen hinweg haben Menschen den Drang verspürt, Bilder zu schaffen. Und weil Bildern nicht selten eine große Bedeutung und Wirksamkeit zukommt, hat es wohl schon immer Debatten um das Bild in theologischen Kontexten gegeben: Wie man mit ihnen umgehen soll, was sie abbilden dürfen und welche Formen der Darstellung welchem Bild angemessen sind.1392 Auch heute noch sind Diskussionen dieser Art sehr lebendig, wenn das Gewaltpotenzial durch die Bilderwelten von Videospielen, die Selbstdarstellung in sozialen Netzwerken, die vielfach mit Bildern arbeiten, oder Karikaturen mit religiösen Anspielungen diskutiert werden. Es ist im Grunde erstaunlich, dass Bilder in unserer Mediengesellschaft heute wieder auf dem Vormarsch sind, ist die Bedeutung des Bildes in Mitteleuropa kulturgeschichtlich doch schon vor Jahrhunderten, nämlich um die Zeit der Reformation, langsam zurückgedrängt worden, ohne dass für lange Zeit eine durchsetzungsfähige Gegenbewegung für Bilder gegeben hätte. Auch der Buchdruck und später die Aufklärung hatten daran Anteil, dass stattdessen die Schrift gesamtgesellschaftlich an Bedeutung gewinnen konnte, als immer mehr Menschen Lesen und Schreiben lernten. Vor dieser Entwicklung war m. E. jedoch eine ganz andere Kompetenz verbreitet: eine Vorform moderner Visual Literacy. Bilder haben in der Kirchenkunst und Religionspädagogik eine lange Tradition und sie haben sich niemals ganz verdrängen lassen. Nicht wenige bedeutsame Werke präsentieren sich dabei in einem sequenziellen Gefüge, sogar erste kreative Vorläufer von Sprechblasen sind vielleicht in den Spruchbändern der mittelalterlichen Tafelmalerei zu finden, die besonders häufig, aber nicht ausschließlich, die Verkündigungsszene an Maria begleiten. Als ein Beispiel von sehr vielen mag der Harvestehuder Altar des Bertram von Minden gelten (um 1410), dessen linke Außentafel den Erzengel Gabriel und Maria im Moment der Verkündigung zeigt. In seiner Linken hält er eine entrollte Schriftrolle, die auf Höhe seines Kopfes beginnt und mit dem Ave-Maria die Worte trägt, die er nach Lk 1,28 an Maria richtet. Diese wendet sich ihm auf dem rechten Außenpaneel zu. Das 1392 Vgl. bspw. Reuter, 2008, S. 19.

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Spruchband, das sich von ihrem Mund ausgehend entrollt, entgegnet: Ecce ancilla domini fiat mihi (»Siehe, ich bin des Herren Magd – mir geschehe [so, wie du es verkündigt hast].«).1393 Die Rolle der Kirchenkunst als entfernte Vorfahrin der modernen Comics stellt einen interessanten Forschungsgegenstand dar. Bilder und Kirchenkunst hatten immer symbolischen Wert oder sollten auf Narrationen hinweisen bze. Geschichten erzählen. Im Mittelalter und in der Antike war, im Gegensatz zu heute, freilich niemand von einer Bilderflut in der Alltagswelt bedroht. Es gab weniger Bilder im täglichen Leben, dafür wurden diese aber wahrscheinlich umso stärker verinnerlicht. Dazu waren sie teilweise komplexer, luden zum Betrachten und Verweilen ein. Heute sind Bilder oft sekundenschnell zu rezipieren. Der beliebte Messenger-Dienst ›Snapchat‹ hat dies sogar zum Programm gemacht: Medien und Bilder, die darüber versendet werden, sind nur einige Sekunden lang sichtbar und löschen sich dann sofort wieder. Im Mittelalter hatten Bilder länger Bestand, eine längerfristige und oft tiefergehende Bedeutung. Bilder und Bildfolgen waren in dem, was man vielleicht auch schon damals Religionspädagogik, in jedem Falle aber Verkündigung nennen konnte, ein klassisches Mittel für die Lehre des Evangeliums. Kunst hatte nicht ausschließlich eine ästhetisch-schmückende Funktion im Kirchenraum: Anhand der Bilder wurden beispielsweise biblische Geschichten oder auch Hagiographien dargestellt. Später fungierten sie für die Gemeindemitglieder wahrscheinlich als Gedächtnisstütze für die daran erlernten Inhalte. Dazu kam vielleicht eine emotionale Wirkung, eine warnende oder tröstende Funktion. Diesen Kunstwerken war und ist gemein, dass sie sehr bewusst mit ihren bedeutungstragenden Elementen gestaltet sind – Schnappschüsse und Skizzen hatten hier nichts verloren. Deshalb musste man um die Bedeutung bestimmter Indizien und Details wissen, um diese zu verstehen und zum Beispiel der richtigen biblischen Perikope zuzuordnen – ein Code, der über weite Zeitspannen aufgebaut und tradiert wurde. So erschließt sich das markante Ensemble von Tieren auf der Schöpfungsdarstellung des Altarretabels der Hamburger St. Petri-Kirche (Meister Bertram von Minden, 1379–1383) der kundigen Betrachterin als Vorabbildung des göttlichen Heilsplans: Nicht nur finden sich schon hier Ochs und Esel, die wenige Tafeln weiter die Weihnachtsszene begleiten und traditionell an Jesaja 1,3 erinnern, sondern auch das vom Raubtier geschlagene Lamm, die blutrote Stirn des Distelfinks, der krähende Hahn, der Pfau als Symbol der Unsterblichkeit, der Hirsch als Feind der satanischen Schlange

1393 Vgl. für eine nähere Beschreibung Hausschild, 1999 (a), S. 130. Eine Abbildung ist etwa hier zu finden: https://www.google.com/search?q=Harvestehuder+Altar+Meister+Bertram&c lient=firefox-b-d&source=lnms&tbm=isch&sa=X&ved=2ahUKEwj1_MzontfpAhUPLew KHWtZBQwQ_AUoAnoECAsQBA&biw=1280&bih=625#imgrc=wXWbRz1GRMsivM (Stand 28. 05. 2020).

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und andere.1394 Sie alle zeugen in ihrem Zusammenspiel von einem komplexen theologischen und symbolischen Bildprogramm.1395 Kirchenfenster, Gemälde oder Statuen, wie man sie heute hauptsächlich noch in alten Kathedralen findet, konnten als Kirchenkunst wahrscheinlich von vielen Menschen ›gelesen‹ und verstanden werden. Dafür sprechen zum Beispiel die volkssprachlichen Erklärungen, die die Bildtafeln des Altars von St. Jacobi in Göttingen schmücken, um die weniger bekannten Geschichten erläuternd zu begleiten: denn offensichtlich war dies für weiterverbreitete und tradierte Narrationen und Darstellungen im Gegensatz dazu nicht notwendig. Fähigkeiten zum kritischen Reflektieren und Diskutieren von Bildern, zum Beispiel in Hinsicht auf Stereotype, wie sie heute benötigt werden, waren damals wahrscheinlich weniger vorhanden – allerdings sind viele Kompetenzen, die heute mit dem Begriff ›Visual Literacy‹ überschrieben werden, damals auch wesentlich weniger nötig gewesen (vgl. II 3.2.6). Obwohl bestimmte Kunstwerke aus dem kirchlichen Kontext für unsere Kultur bis heute eine unbestreitbar große Rolle spielen1396, sind diese (mittlerweile kunsthistorischen) Bildlesefähigkeiten im kulturellen Wissensbestand sehr zurückgegangen. Im Gegensatz zur vorreformatorischen Zeit ist dafür umfangreiches kulturelles Kapital in Form von Wissen und Bildung vonnöten, das meist nur bestimmten Milieus vorbehalten ist. Viele können heute immer weniger mit der Kunst in Kirchenräumen anfangen, da ihnen beispielsweise die Attribute, die auf die Identität der dargestellten Figuren schließen lassen, in der Regel nicht mehr bekannt sind (vermehrt betrifft dies zweifelsohne jüngere und kirchenferne Menschen). Es mangelt ihnen also an einigen Kompetenzen, über die frühere Generationen noch verfügt haben. Denn heute sind es ganz andere Bilder, die von Bedeutung sind: Fotos in sozialen Netzwerken, Bilder auf Instagram, WhatsApp, Netflix oder YouTube, im Video und Film, in Serien, den Nachrichten, Zeitungen, Magazinen, in der Werbung etc. An die Stelle alter Bildlesekompetenzen ist heute eine Medienkompetenz getreten, ohne die kulturelle Teilhabe nicht mehr möglich ist. Auch die ›comics literacy‹ fällt darunter; eine Fähigkeit, über die vorausgehende Generationen nicht immer verfügt haben. Die bildlichen Darstellungen der Postmoderne sind meistens viel einfacher gehalten. Deshalb bedürfen sie ebenfalls einer gewissen, nur eben anders gearteten Bildlesekompetenz, damit sie kritisch hinterfragt, überprüft und auch verworfen werden können. Zudem fordert der ›iconic turn‹ unserer Gesellschaft immer mehr, dass jeder selbst Bilder produzieren und für die eigenen Zwecke zielgerecht nutzen kann (mit Smartphones einfacher denn je!). Heute ist also eine andersgeartete Bilder-Bil1394 Vgl. etwa https://www.kunstkopie.de/a/meister-bertram/altar-von-st-petri-hambur.html (Stand 28. 05. 2020). 1395 Vgl. Hausschild, 1999 (b), S. 115ff. 1396 Vgl. bspw. Satrapi, 2011, S. 287.

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dung notwendig, um Heranwachsenden Kompetenzen für die Bewältigung der Mediengesellschaft zu ermöglichen. Der zielgerichtete Einsatz von Comics zur Steigerung der Visual Literacy kann dabei hilfreich sein. Und auch die Religionspädagogik kann sich diesem Feld nicht mehr verschließen.1397 Herausforderungen für Religionslehrkräfte Dennoch ist dieses Anliegen für viele Religionslehrende mit Schwierigkeiten verbunden. Obwohl einzelne Autorinnen auf die Bedeutung von Visual Literacy hinweisen (Oskamp für die Primarstufe sogar in Verbindung mit Comics1398), beginnen die Probleme immer noch häufig bei der inneren Einstellung der Lehrkräfte: Viele Lehrerinnen sehen in Instruktionsmedien nach Selfe »visual texts as the less-important and less-intellectual sidekicks of alphabetic texts.«1399 Denn seit Platon – nimmt man hoch etablierte Kunstwerke einmal aus – ist die europäische Kultur von der Vorstellung der Überlegenheit des Wortes gegenüber dem Bild geprägt.1400 (Im islamischen Raum liegt dabei in der Regel der gleiche Fall vor.) Auch Comics galten vor allem deshalb so lange als minderwertig, weil sie Texten und Bildern eine gleiche (oder zumindest ähnliche) Stellung zukommen lassen. Religionslehrer sind oft zurückhaltend, sich modernen Bildern im Unterricht zu stellen, weil sie schlicht viel mehr Erfahrungen mit Texten in ihrem Bildungsleben gesammelt haben.1401 Das alphabetische und textuelle System ist Menschen mit hohem kulturellen Kapital meist sehr vertraut, sie wissen genau, wie sie sich zahlreichen verschiedenen Gattungen zu nähern haben und die Macht der Sprache auch für sich selbst nutzen können. Die längste Zeit über haben Menschen für ihr akademisches und gesellschaftliches Fortkommen ihr Vertrauen und ihre Hoffnung nur in Textkompetenzen setzen müssen. Jetzt umzudenken, stellt nicht nur einen Austritt aus der ›Comfort Zone‹ dar, sondern auch ein Quäntchen intellektuelles Risiko – denn der Wissensvorsprung der Lehrenden gegenüber den Lernenden ist hier ungleich geringer.1402 Entsprechend verlockend ist die Vorstellung, das Kompetenzfeld der Bildlesefähigkeit oder Visual Literacy einfach den Kunstpädagogen zu überlassen, die sich naturgemäß im Unterricht mit Bildern auseinandersetzen. Und tatsächlich plädieren diese nicht nur schon lange für eine Förderung der allgemeinen Bildlesefähigkeit, sie sind in diesem Anliegen heute ein wichtiges Zugpferd.1403 1397 Für eine ausführlichere Darstellung der Geschichte von Bildern in der Religionspädagogik sei auch verwiesen auf Oskamp, 2017 (b), 30ff. 1398 Vgl. 2017 (b), S. 223. 1399 Selfe, 2004 (b), S. 70. 1400 Vgl. Höpel, 2008, S. 64. 1401 Vgl. Selfe, 2004 (b), S. 71. 1402 Vgl. ebd. 1403 Vgl. Billmayer, 2008, S. 72; Gärtner, 2014 (a), S. 54.

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Allerdings geht ein umfassendes Verständnis von Visual Literacy über die Anliegen der Kunstpädagogik hinaus, sodass sie zu einer fächerübergreifenden Schlüsselkompetenz wird.1404 Entscheidende Aspekte der gesellschaftlich relevanten Bilderwelt werden zudem von kunstpädagogischen Ansätzen übersehen, wenn nur Werke der bildenden Kunst zur Kompetenzförderung herangezogen werden.1405 Die Kunstpädagogik ist nämlich vor allem darauf ausgerichtet, ›schwierige‹ Bilder zu verstehen – ein Ziel, das freilich seine Berechtigung hat.1406 Aber man muss mit Billmayer bedenken: »Der Kunstpädagogik ist es in den letzten hundert Jahren nicht gelungen, die Kunst von ihrer Bindung an eine bestimmte soziale Schicht zu befreien.«1407 Das heißt, für viele Schülerinnen besteht überhaupt kein Lebensweltbezug in den Bestrebungen der Kunstpädagogik. Marc Chagall zählt wenig in der Welt von TikTok und Snapchat. Auch heute noch schwingt hier tatsächlich zuweilen ein alter Subtext mit, der die Bilderwelt in gute (sprich: komplexe, relevante, historische) und schlechte Bilder ( jene nämlich, die massenmedial erstellt wurden und unterhalten sollen) einteilt.1408 Comics gelten auch heute noch als eher minderwertige Bilderwelt. Mit einem Vorgehen im Sinne einer medienweltorienterten Religionsdidaktik sowie insgesamt mit einem Unterricht, der starke lebensweltliche Bezüge aufweisen will, sind solche Denkweisen aber nur schwer zu vereinen.1409 Denn gerade populärkulturelle Bilderwelten laden gegenwärtig besonders zur Erschließung ein.1410 Heute sind wir vor allem von einer Flut leicht verständlicher/eingängiger Bilder umgeben, denen man sich ebenfalls früher oder später stellen sollte. Trotz allem kann das Fach Kunst ein bereichernder Kooperationspartner der Comicdidaktik für fächerübergreifende Ansätze und Projekte werden. Ein Thema wie ›Messiasbilder in Comic und Kunstgeschichte‹ könnte zum Beispiel zur Stärkung des Langzeitbildgedächnisses, beziehungsweise des kulturellen Gedächtnisses beitragen, den Horizont der Lernenden erheblich erweitern, neue Unterrichtsräume erschließen und gleichzeitig ihr kritisches Denkvermögen in Bezug auf die Bilderwelt der Gegenwart schärfen.

1404 1405 1406 1407 1408 1409 1410

Vgl. Höpel, 2008, 60f. Vgl. Billmayer, 2008, S. 73. Vgl. ebd., S. 75. 2008, S. 74. Vgl. ebd., 74f. Vgl. Pirner, 2012. Vgl. auch Reuter, 2008, 184ff.

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Konkret: Warum Visual Literacy im Fach Religion? Heranwachsende müssen heute zu einem reflektierten Umgang mit Bildern finden, da diese heutzutage fast alle Lebensbereiche durchdringen und Gesellschaft, Kommunikation Welt- und Selbstverständnis maßgeblich prägen.1411 Auch in der religiösen Sozialisation und im religiösen Lernen spielen Bilderwelten eine immer wichtigere Rolle, die der Religionsunterricht ernstnehmen muss: Bildkompetenzen sind konstitutiver Teil der Allgemeinbildung und Schlüsselkompetenzen, ohne die ein kritisch-reflektierter Weltzugang heutzutage nicht mehr möglich ist. Wenn auch dem Kunstunterricht eine Schlüsselrolle im Erwerb dieser Kompetenzen zugewiesen wird, so kann gerade der Religionsunterricht mit seiner reichen Bildungsgeschichte dazu beitragen, diese Fähigkeiten zu schulen.1412

Denn auch heute noch werden weltanschauliche Debatten subtil durch Bilderwelten geführt und geschleust. Zum Problem wird dies, wenn Medien in den Köpfen Heranwachsender eine unreflektierte Wirklichkeit prägen. Hier dazu zwei verdeutlichende Beispiele: Im Kontext des Superheldengenres gibt es, wie schon dargestellt, generell viele theologische Anklänge auf narrativer, aber auch ikonischer Ebene. Es lohnt sich, dies mithilfe eines relativ bekannten Bildes, das ohne Verfasserangabe seit Jahren im World Wide Web kursiert, einmal aufzugreifen: Es handelt sich um die Darstellung von Jesus Christus im Kreise faszinierter Comicsuperhelden wie Spiderman, Hulk und Wonder Woman. Mithilfe einer Sprechblase führt Jesus hier aus: »…and that’s how I saved the world!«1413 Hier liegt ein Bild vor, dass Jesus aus dem Darstellungskontext kirchlicher Kunst heraushebt und stattdessen in einen populärkulturellen Rahmen setzt, bei dem man über einige Wissensbestände verfügen muss, um die Aussage des Bildes zu verstehen. Dann allerdings ergibt sich eine interessante theologische Botschaft. Jesus als ›Retter der Menschheit‹ wird hier im freundlichen Kreise von Retter- und Heldenfiguren der (profanen) Populärkultur gezeigt, was ihn auch für junge Menschen ansprechbar erscheinen lässt: Jesus wird hier subtil in den Kontext von Jugendcodes eingeschleust, die Superheldinnen und deren Comics als ›cool‹ ansehen – eine Assoziation, die möglicherweise abfärben soll. Gleichzeitig bildet er das (narrative) Zentrum der Darstellung, alle hören ihm gebannt zu, was ihn aus diesem Kreise auch wieder heraushebt. Jesus, dessen Botschaft für viele Menschen existenzielle Wirklichkeit ist, ist zudem nicht einfach auf der Stufe der fiktiven Figuren anzusiedeln. Da diese Superheldinnen und Superhelden aber auch wiederum für 1411 Vgl. Gärtner, 2014 (a), S. 52. 1412 Vgl. ebd., S. 54. 1413 Zu finden etwa unter https://pixels.com/featured/and-thats-how-i-saved-the-world-jesu s-qiu-shao.html (Stand 24.08.21).

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Konkretisierung: Comics als Chancengeber in religiösen Lehr-Lern-Prozessen

viele Zeitgenossen Relevanz besitzen, werden hier zwei Weltbilder spielerisch in Einklang gebracht – oder bewusst in ein dynamisches Spannungsverhältnis gesetzt. Sowohl Jesus als auch die fiktiven Figuren mit ›Superkräften‹ retten (in Comics: regelmäßig) die Welt – allerdings auf grundlegend verschiedene Art und Weise, mit unterschiedlichen Mitteln, mit unterschiedlichen Zielen und mit unterschiedlichem Wahrheitsgrad. Dieses Spiel mit zwei Ebenen macht den Witz des Bildes aus, den aber nur versteht, wer sowohl eine Vorstellung von der Heilsgeschichte als auch von den bildlichen wie narrativen Konventionen des Superheldengenres hat. Auch hier sollten die Schülerinnen letztendlich dazu befähigt werden, zu einem reflektierten Urteil über die Angemessenheit der Darstellung Jesu in einem solchen humoristischen (?), populärkulturellen Kontext zu gelangen. Es gibt natürlich auch Beispiele aus dem anderen weltanschaulichen Lager: So liegen von Janosch als einem der prominentesten Autoren von Bilderbüchern1414 Deutschlands extrem kirchenkritische Zeichnungen vor: Ob seine hierfür geschaffenen Figuren nun von einem Kirchengebäude erdrückt werden oder bei der Taufe ein Kreuz ins Herz geschlagen bekommen – durch Metaphern des Körperlichen wird die Kirche als lebensfeindliche Macht gezeichnet.1415 Einem beliebten und etablierten Autor wie Janosch aber vertrauen die meisten Heranwachsenden intuitiv, was dessen Bilder dringlicher und überzeugender macht. Es ist deshalb wichtig, Kinder für Faktoren von Kontext, Wirksamkeit, Urheberschaft und Instrumentalisierung zu sensibilisieren, damit sie sich kompetent gegen die Aussage eines Bildes positionieren oder diese bewusst bejahen können. Es liegt nahe, dass religiöse Verweise in Comics, um der Visual Literacy förderlich zu sein, in irgendeiner Art auf der bildlichen und nicht nur narrativen Ebene vorliegen sollten. Wie in Abschnitt III 2.1 näher dargestellt wurde, finden sich in populärkulturellen Comicwerken heute auch recht häufig explizite christlich oder anders-religiös bedeutsame Symbole, Figuren und Motive.1416 Häufig sind diese Verweise sehr leicht aufzuspüren, liegen sie doch auf der Oberflächenebene. Für die Erzählung haben sie allerdings immer einen ganz individuellen Wert: Teilweise stehen sie nur im Hintergrund und der Leser muss die Bedeutung der Symbole nicht kennen, um der Geschichte folgen zu können, teilweise verleihen sie der Erzählung aber auch zusätzliche Tiefe oder drängen zu einer bestimmten Interpretation des Dargestellten, die einer Leserin entgeht, wenn sie dafür (noch) nicht genug religiöse Bildung erworben hat. Dazu kommt, dass gerade christliche Motive in Comics in ihrer Bedeutung weiterentwickelt 1414 Hier beziehe ich mich ausnahmsweise nicht auf Comics, sondern auf Bilderbücher. Zwischen beiden Medien besteht aber eine enge Verwandtschaft. 1415 Vgl. bspw. http://www.scharf-links.de/45.0.html?&tx_ttnews%5Btt_news%5D=27392&cH ash=687b4aa75d (Stand 27. 05. 2020). 1416 Vgl. dazu auch Kubik, 2011, S. 224.

Visual Literacy religionsbezogen aufbauen

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oder verfremdet dargestellt werden.1417 Das kann zu Missverständnissen führen, die Jugendliche auf unbegründeter (!) Basis gegen den Glauben einnehmen können. Diese Beispiele machen vielleicht schon deutlich, warum auch religionsunterrichtliche Bildungspläne inzwischen Kompetenzen fordern, die sich dem Feld der Visual Literacy zumindest annähern – allerdings selten unter diesem Namen. So streift das niedersächsische Kerncurriculum die Bildlesekompetenz in dem Verweis auf prozessbezogene Kompetenzen, die in lebenspraktischen Situationen zum Tragen kommen können, die religiös relevant sind oder werden könnten1418: Im Zuge der ›Wahrnehmungskompetenz‹ sollen Schülerinnen lernen, religiös bedeutsame Phänomene, Spuren, Dimensionen und Elemente in ihrer Lebenswelt zu entdecken, und ferner, diese im Rahmen einer ›Deutungskompetenz‹ auch zu identifizieren und zu deuten.1419 Dazu dürfen Beispiele aus Werbung, Malerei, Film, Videoclips und Kunst herangezogen werden, um entsprechende mediale Kompetenzen zu fördern1420. Man könnte die Reihe sicherlich durch Comics ergänzen. Auch kirchenpädagogische Erkundungen und die Beschäftigung mit Kirchenkunst werden dadurch nicht ausgeschlossen.1421 Dezidiert ist das Feld der Bildlesekompetenzen, abseits von kunstpädagogischen Ansätzen, bis jetzt allerdings kaum für den Religionsunterricht diskutiert worden. Entsprechend finden wichtige Aspekte der Visual Literacy, wie das Bestreben, aus den Lernenden kritische Bilder-Konsumenten zu machen1422, auch keinen Eingang in Unterrichtszielsetzungen. Gerade neuere Konzepte um Visual Literacy verweisen auch auf die Relevanz von (inter-)kulturellen Zusammenhängen in der Bildwahrnehmung1423, was religionspädagogischen Anliegen zwar grundsätzlich entgegenkommt, dort jedoch nicht mit Bildlesefähigkeiten in Verbindung gebracht wird. Dabei sind religiöse und kulturelle Kontexte in der Deutung vieler Bilder von besonderer Bedeutung, denke man doch nur an die deutlichen Proteste gegen westliche Mohammed-Karikaturen und die daraus resultierenden Katastrophen! Hier zeigt sich, dass Diskussionen um Bilderwelten heute nicht minder relevant sind als zum Beispiel zu Zeiten der Bilderstürme. Tatsächlich gibt es vielleicht auch deshalb noch keine dezidierte Aufstellung wichtiger konkreter Aspekte von Visual Literacy für die Fachdidaktik Religion, weil viele Autoren spüren, dass das Fach mit seinen Aufträgen ohnehin schon etwas zu überladen ist, wenn man seine (allzu) geringe Stundenzahl bedenkt. 1417 1418 1419 1420 1421 1422 1423

Vgl. Gutmann, 1998, 27f. Vgl. Niedersächsisches Kulturministerium, 2009, 13f. Vgl. ebd., 15f. Vgl. ebd., 8, 21, 25, 31. Vgl. ebd., S. 30. Vgl. Selfe, 2004 (b), S. 71. Vgl. Hallet, 2008; Gärtner, 2014 (a); Billmayer, 2008.

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Konkretisierung: Comics als Chancengeber in religiösen Lehr-Lern-Prozessen

Hilfreich wäre es für Religionslehrkräfte in dieser Hinsicht sicherlich, aus Comics, die sie auch aus anderen Gründen im Unterricht behandeln, einige wenige Bilder und Bildsequenzen, an denen bestimmte Visual Literacy-Kompetenzfelder möglicherweise besonders gut erschlossen werden können, auszuwählen und in den Mittelpunkt einer Stunde zu stellen. Hier kann man sich kleine Ziele setzen, in den Lernenden dafür aber umso bedeutsamere Prozesse anregen. Beispielhatft soll dies in den Analysekapiteln für Persepolis und Sein Leben, seine Milliarden demonstriert werden (vgl. IV 1 und 2). Es lässt sich zusammenfassen: Die Visual Literacy ihrer Mitglieder hat für die Kirche eine lange Geschichte, an die heute wieder didaktisch und/oder im Verbund mit der Kunstpädagogik angeknüpft werden kann. Wichtig ist zu beachten, dass sich nicht nur die Kompetenzen der Betrachterinnen über die Jahrhunderte verändert haben, sondern postmoderne Bilderwelten auch ganz andere Ansprüche stellen. Visual Literacy im religionspädagogischen Sinne bedeutet heute vor allem, religiöse Spuren und Anspielungen in visuellen Erzeugnissen der Kunst, Alltagswelt und Populärkultur zu deuten, zu identifizieren und auch kritisch zu reflektieren, da weltanschauliche Diskurse auch heute noch mithilfe von funktionalisierten Bildern betrieben werden und religiöse Sozialisation nicht selten maßgeblich über die Medienwelt verläuft. Welche spezifisch-fachbezogenen Kompetenzen sich für Visual Literacy in religiösen Kontexten ergeben, das ist bis jetzt noch wenig diskutiert worden. Es liegt aber nahe, diese mit den zum Beispiel von Billmayer oder Gärtner genannten Aspekten zu verknüpfen (vgl. II 3.2.6). Kompetenzfelder, die in Bildungsplänen genannt werden, reichen bis jetzt nicht aus, um diese Schlüsselqualifikation vollständig zu erfassen. Im Hinblick auf die comicdidaktische Religionspädagogik im Dienste der Bildlesekompetenzen kann die Empfehlung gegeben werden, vor allem in Comics, die man ohnehin schon im Unterricht behandelt, auf einige prägnante Aspekte hinzuweisen, beziehungsweise für diese zu sensibilisieren – nicht im ›Vorübergehen‹, jedoch mit wenig Zusatzaufwand.

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Comics als Chancengeber für die Heterogenität im Fach

Während in Abschnitt II eine fachübergreifende Untersuchung dahingehend geleistet wurde, inwiefern die comicgestützte Pädagogik dazu beitragen kann, Vielfalt in der Lerngruppe zu adressieren, wird hier speziell der Religionsunterricht untersucht. Die Grundlage dafür bieten bestimmte Schülergruppen, die durch gewisse Charakteristika Religionslehrkräfte nachweislich herausfordern können, Unsicherheiten produzieren und/oder weniger vom Religionsunterricht zu profitieren scheinen als ihre Mitschülerinnen. Um diese Gruppen zu bestimmen, ist es zunächst erforderlich, Heterogenität im Religionsunterricht allgemein zu reflektieren: Worin bestehen überhaupt fachspezifische Aufgaben in diesem Kontext? Warum und für wen trägt der Religionsunterricht möglicherweise eine besondere Verantwortung? Welche Strategien legt die Religionspädagogik für die proaktive Adressierung von Vielfalt gegenwärtig vor? Und schließlich: Worin besteht das Aktivierungspotenzial einer dezidierten comicdidaktischen Religionspädagogik? In diesem Kontext soll darauf aufbauend erforscht werden, warum gerade kirchenferne Schüler von der Arbeit mit Comics profitieren könnten, was im multireligiösen Klassenzimmer bei der Arbeit mit Comics (nicht) beachtet werden muss und welche Chancen sich für die spezifische Adressierung von Jungen realisieren lassen. Eine Diskussion des comicdidaktischen Potenzials für Lernende mit körperlichen und geistig-seelischen Beeinträchtigungen rundet die Untersuchung ab, um auch der religionspädagogischen Tradition gerecht zu werden.

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4.1

Comics als Chancengeber für die Heterogenität im Fach

Heterogenität reflektieren

4.1.1 Theologisch denken Die christliche Religionspädagogik ist dem christlichen Wertesystem verbunden, von dem leicht ein Bogen zum wertschätzenden Umgang mit Vielfalt, wenn nicht sogar zur inklusiven Pädagogik geschlagen werden kann. Auch ältere Ansätze der Sonder- und Behindertenpädagogik beziehen sich auf dieselben theologischen Grundlagen. Im heutigen Diskurs um Inklusion in Schule und Religionsunterricht kommt den theologischen Grundlagen jedoch wieder besondere Bedeutung zu. Besonders klar und aussagekräftig ist hier die sogenannte ›Orientierungshilfe‹ der EKD zu diesem Thema. Zwischen Zielen der Inklusiven Pädagogik und den traditionellen, theologischen Grundsätzen und Prinzipien der Religionspädagogik finden sich grundsätzlich viele Parallelen. Pirner fasst das christliche Bildungsziel gut zusammen, wenn er erklärt, es strebe Persönlichkeiten an, die nicht nur auf die Entfaltung ihrer eigenen Wünsche hoffen, sondern ihre Begabungen auch für andere einzusetzen wissen und ebenfalls bereit sind, angesichts ihrer allzu menschlichen Grenzen Hilfe anzunehmen.1424 Wichtigster theologischer Bezugspunkt im Heterogenitätsdiskurs der Religionspädagogik ist die christliche Schöpfungsethik. Genauer: Die Gottebenbildlichkeit des Menschen – aller Menschen – nach Gen 1, 26f., die dessen unantastbare Würde biblisches Gewicht verleiht.1425 Es handelt sich um eine gleichermaßen unverfügbare wie unverlierbare Gabe Gottes, die nicht abhängig ist von spezifischen Eigenschaften, Beeinträchtigungen, Lebensbedingungen oder menschlichen Maßstäben.1426 Aufgrund seiner Gottebenbildlichkeit ist der Mensch auf Beziehungen und Gemeinschaft hin geschaffen und angewiesen; in anderen Worten: Mensch sein heißt In-Beziehung-Sein und (gleichberechtigte) Teilhabe an menschlichen Gemeinschaften.1427 Auch (und nicht nur) von Inklusionsanhängern wird die gute Qualität von Beziehungen zur Umwelt und zu Mitmenschen als Bildungsziel hervorgehoben. So ist nach Kahlert/Heimlich »gebildet, wer (s)einen guten Weg findet zwischen dem allzeit präsenten Streben nach Entfaltung der eigenen Person und der Berücksichtigung der Interessen aller, die am sozialen Geschehen teilhaben.«1428 Auch Lindner und Tautz beschreiben Inklusion als ein kontinuierliches »Beziehungsgeschehen«.1429 Der 1424 1425 1426 1427 1428 1429

Vgl. Pirner, 2010, S. 8, zit. nach Schröder 2013, S. 389. Vgl. Evangelische Kirche in Deutschland, 2014 (b), S. 39. Vgl. ebd.; Härle, 1995, 426f. Vgl. Evangelische Kirche in Deutschland, 2014 (b), S. 40. 2012, S. 157. 2019, S. 12.

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Grundstein dafür wird in vielfacher Hinsicht in der Schule gelegt: »Qualifizierte Lerner/innen werden leichter mündige Bürger/innen, die ihre Partizipationschancen nutzen und verteidigen. Dies ist für die Sicherung und Entwicklung demokratischer Verhältnisse selbst ausschlaggebend.«1430 Gelernt werden soll in gelebter Gemeinschaft. Dieses Denken schlägt sich auch jenseits der Religionspädagogik im Diskurs um sozio-konstruktivistisches Lernen nieder, der nahelegt, dass Menschen andere Menschen brauchen, um nachhaltig zu lernen. Gemeinsam mit der Prämisse unbedingter Anerkennung des Einzelnen treffen sich Religionspädagogik und inklusiv denkender Heterogenitätsdiskurs in der Annahme, dass eine Schule für alle Kinder, in der Heterogenität und Vielfalt geschätzt und als Ausgangspunkt sowohl für individuelle Förderung als auch für gemeinschaftliche Lernprozesse genommen werden, in der Tat eine Fülle an erzieherischen Lerngelegenheiten bietet. Ein Klima der Anerkennung und der Betonung individueller Stärken statt der Betonung von Defiziten erhöht das Wohlbefinden und fördert ganz offensichtlich kognitive und soziale Entwicklungen. Es stärkt die Wahrnehmung von Selbstwirksamkeit, aber auch Empathie und die Fähigkeit zur Übernahme der Verantwortung für sich selbst und die Gemeinschaft1431.

Die Mit-Einbeziehung aller in Kirche, Gesellschaft und Schule lässt sich auch neutestamentlich durch 1. Kor 12 begründen, sind doch alle Gemeindemitglieder in ihrer Unterschiedlichkeit dennoch zu einem Leib getauft worden (vgl. auch II 4.2).1432 Die christliche Gemeinschaft werde so, laut Schweiker, »als eine organische Einheit betrachtet, die keine Aussonderung, Abspaltung oder Stigmatisierung verträgt. Wird ein Glied verletzt, wirkt es sich auf den ganzen Körper aus.«1433 Evangelische Theologie geht zusätzlich davon aus, dass auch Hilfsbedürftigkeit und Unvollkommenheit zum Menschsein gehören – jeder ist auf Unterstützung angewiesen und deshalb sollten wir uns darum bemühen, sie untereinander zu teilen.1434 Dazu kommt aber – und hier unterscheidet sich der traditionelle religionspädagogische Heterogenitätsdiskurs beispielsweise von weitläufigen Annahmen in den Disability Studies – eine Anerkennung der Tatsache, dass man Unterschiede nicht völlig indifferent beschreiben kann. Manche Menschen bräuchten unter den derzeitigen Voraussetzungen für die gesellschaftliche Teilhabe schlicht und einfach etwas mehr Unterstützung als andere. Für die christliche Theologie spielt also auch noch im Inklusionsdiskurs der Fürsorge-Gedanke eine Rolle.1435 1430 1431 1432 1433 1434 1435

2012, S. 16. Horstkemper; Tillmann, 2016, S. 141. Vgl. Zonne-Gaetjens, 2013, S. 271. 2009, S. 12, zit. nach Zonne-Gaetjens, S. 271. Vgl. Evangelische Kirche in Deutschland, 2014 (b), S. 44. Vgl. Lindner; Tautz, 2019, S. 10.

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Comics als Chancengeber für die Heterogenität im Fach

Eine Religionspädagogik, die Bildungsgerechtigkeit anstrebt, entscheidet sich also teilweise für eine Denkweise, die Ambivalenzen und ein Dilemma im Inklusionsdiskurs an sich offenlegt.1436 Nämlich, »dass im Willen, Menschen anzuerkennen, zu fördern und zur Partizipation zu verhelfen, deren Identifizierung über bestimmte Merkmalszuschreibungen und deren Benennung bereits Differenzen festschreibt«.1437 Sturm beschreibt dies weiterführend als ›Reifizierungsproblem‹, das auftritt, wenn für das Anliegen der Bildungsgerechtigkeit etwa Risikogruppen identifiziert werden: Derartige Gruppen müssten einerseits umschrieben werden, um Diskriminierungspraktiken identifizieren zu können; andererseits würde diese Gruppe durch ihre Beschreibung überhaupt erst als solche konstruiert und – in einer eindimensionalen Perspektive – betrachtet.1438 Gleichzeitig sind diese Zuschreibungen unvermeidbar, wenn man bedenkt, dass Religionsunterricht »ja in ganz besonderer Weise einer Option für die Benachteiligten verpflichtet« ist und entsprechend die Augen vor dieser Realität nicht verschließen kann1439. Ein abstraktes und theoretisches Konzept der Chancengleichheit reicht der EKD entsprechend nicht aus, vielmehr müsse Gerechtigkeit, als Bildungs- und Befähigungsgerechtigkeit definiert, durch konkrete, individuelle Unterstützung realisiert werden.1440 Das ist freilich nicht immer der Fall: Zonne-Gaetjens erklärt zum Beispiel, dass sich die Theorie von der Kommunikation des Evangeliums im Medium von Lernprozessen zu oft noch ausschließlich auf ›normalbegabte‹, gesunde und Kinder mit hohem kulturellen Kapital bezieht – wenn auch oft implizit.1441 Die pädagogischen Konsequenzen, die sich aus der christlichen Theologie ziehen lassen, ermöglichen es also, immer wieder einen Bogen zum Thema ›Bildungsgerechtigkeit‹ zu schlagen: Keinen ausschließen, keine zurücklassen, um (Bildungs-)Gerechtigkeit und die Ansprache aller ringen. Der Religionsunterricht, Theologie und Pädagogik gleichermaßen verpflichtet, steht in einer besonderen Verantwortung, diese Grundsätze umzusetzen und nach neuen Wegen für christliche Bildungsziele und größere Gerechtigkeit/Chancengleichheit zu suchen. Gleichzeitig muss die Religionspädagogik dafür das unbehagliche Spannungsfeld des Reifizierungsproblems in Kauf nehmen. Dieser Kontext sollte auch für die vorliegende Arbeit mitgedacht werden.

1436 1437 1438 1439 1440

Vgl. dazu auch Grümme, 2017, S. 207. Ebd. Vgl. Sturm, 2016 (a), S. 37. Grümme, 2017, S. 208. Vgl. Evangelische Kirche in Deutschland, 2014 (c), S. 18. Vergleiche dazu auch den ›Capability‹-Ansatz von Martha Nussbaum und Amartya Sen. 1441 Vgl. Zonne-Gaetjens, 2013, S. 274.

Heterogenität reflektieren

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4.1.2 Herausforderung und Verantwortung annehmen Die gegenwärtige Situation des Religionsunterrichtes lässt ihn in einem täglichen Feld agieren, das von Möglichkeiten, Verantwortung, aber in den Augen vieler Lehrkräfte auch von Herausforderung geprägt ist. Einigkeit besteht darin, dass zeitgenössische Religionspädagogik nicht nur pluralitätsfähig machen soll, sondern auch selbst pluralitätsfähig sein muss. Lehrkräfte sehen sich hier einer speziellen Situation gegenüber, da im Religionsunterricht die Heterogenitätsdimension der Multireligiosität eine besonders große Bedeutung hat, die in anderen Fächern weit weniger im Mittelpunkt steht.1442 Dazu kommt, dass der Religionsunterricht aufgrund theologischer Grundlagen die besondere Verantwortung trägt, positive Impulse zu geben, die auf die Schulkultur und Gesellschaft als Ganzes wirken. Das Begriffsfeld rund um Heterogenität, Differenz, Diversität, Pluralität und (zuweilen) Pluralismusfähigkeit hat im Moment nicht nur in den Bildungswissenschaften, sondern auch in der Religionspädagogik Hochkonjunktur.1443 Darüber, welche Faktoren über die Heterogenität in einer Lerngruppe bestimmen, besteht allerdings nicht immer Einigkeit. Dabei ist es zunächst durchaus sinnvoll hier auch die Pädagogik als Partnerwissenschaft heranzuziehen. Trautmann und Wischer unterscheiden zum Beispiel die individuelle kognitive Leistungsfähigkeit (Intelligenz, fachliche Leistung), die soziale Herkunft (Sozialschicht, Familienstruktur, Migrationshintergrund und religiöser Hintergrund), sowie Gender und Alter.1444 Helmke verweist auch immer wieder auf das individuelle Vorwissen, das zu unterschiedlicher Kompetenzverteilung in der Klasse führt und über das Erreichen der Lernziele entscheiden kann.1445 (vgl. auch II 3.2.3) Diese Einschätzungen werden auch für das Fach Religion grundsätzlich nachvollzogen. Auch Grümme versteht unter dem Heterogenitätsbegriff »Fragen sozial, kulturell oder auch kognitiv heterogener Lerngruppen oder Fragen der Migration, von Gender und Inklusion.«1446 Gleichzeitig verweist er auf eine gewisse Problematik: Bleibt es nicht mehr oder weniger zufällig, welche Dimension von Pluralität man hinzuzieht und unter den Begriff ›Heterogenität‹ subsumiert? Sind diese beliebig zu ergänzen? Stehen sie eher additiv zueinander? Oder gibt es eine innere Ordnung, eine 1442 Damit sei selbstverständlich nicht gesagt, dass andere Schulfächer nicht ebenfalls spezifischen Situationen begegnen müssen. Im Deutschunterricht spielen zum Beispiel Unterschiede in den bildungssprachlichen Kompetenzen eine große Rolle und in Mathematik immer noch die Kategorie ›Gender‹. 1443 Zur näheren Einordnung der Begriffe vgl. beispielsweise Grümme, 2017. 1444 Vgl. Trautmann; Wischer, 2011, S. 40. 1445 Vgl. Helmke, 2009, S. 252. 1446 Grümme, 2017, S. 15.

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Systematik, einen Rahmen, der diese Dimensionen ordnet? Es scheint weitgehend unbestimmt, wie sich die normative Bezugnahme darauf vollzieht.1447

Eine solche Ordnung, der man sich sowohl im Rahmen theoretischer als auch empirischer Forschung nähern könnte, kann und soll hier nicht geleistet werden. Dennoch lassen sich für den Religionsunterricht im Heterogenitätsdiskurs spezifische Möglichkeiten und eine besondere Verantwortung herausarbeiten. So unterscheidet auch Grümme aus der Perspektive der Religionspädagogik zwischen kulturellen, sozialen und politischen Verschiedenheiten – verweist aber zusätzlich auch auf religiöse.1448 In der schulpädagogischen Diskussion um Heterogenität gehört der Faktor der religiösen und weltanschaulichen Pluralität in Lerngruppen allgemein eher zu einer vernachlässigten Dimension.1449 Für die Religionspädagogik ist die Multireligiosität an deutschen Schulen aber ein immens wichtiges Thema, nicht nur weil derartige Vielfalt im Fach zuweilen explizit dialogisch herausgestellt wird.1450 Die multireligiöse Pluralität im Klassenzimmer verbindet sich aufgrund von Migrationseffekten teilweise mit Kulturunterschieden, dazu kommt das Nebeneinander von religiösen und nicht-religiösen Heranwachsenden mit teilweise divergierenden Wertvorstellungen. Bedenkt man die zunehmende Enttraditionalisierungs- und Synkretismustendenz in Jugendlichen auch nicht-christlicher Religionen, so könnte man kaum von einer noch größeren Heterogenität sprechen. Schröder verweist in diesem Zusammenhang auch auf die grundlegende Professionalität von Religionslehrkräften, die sich in diesem Zusammenhang bewähren muss: Der didaktisch und methodisch sensible Umgang mit dieser Heterogenität im Kollektiv der Lerngruppe […] wird zur unabdingbaren Kompetenz von Lehrenden. Was bislang v. a. im Ethos von Religionslehrern an Grund- und Gesamtschulen präsent war, wird nun für jeden Lehrenden an der inklusiven Schule zum Handwerkszeug1451.

Die fachspezifische, genuine Heterogenitätsaufgabe bzw. -möglichkeit des Religionsunterrichts liegt also darin, auf Kinder unterschiedlicher Glaubensrichtungen oder ohne Glauben einzugehen – und auch der konfessionelle Religionsunterricht ist von den Individualisierungstendenzen unserer Zeit betroffen, da inzwischen kaum zwei Schülerinnen die gleiche Weltanschauung an den Tag legen dürften. Darum gilt es, im multireligiösen Kontext produktiv zu agieren und zu unterrichten. Gleichzeitig verbindet sich mit dieser Schwierigkeit eine Chance, um die besondere Verantwortung des Faches wahrzunehmen, Schülerinnen auch außerhalb des Faches pluralitätsfähig zu machen – denn durch 1447 1448 1449 1450 1451

Ebd. 2017, S. 19. Vgl. Evangelische Kirche in Deutschland, 2014 (c), S. 19. Vgl. ebd., S. 15. 2013, S. 385.

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weltanschauliche Vielfalt in einer Lerngruppe lassen sich dialogische Prozesse einüben. Die EKD verbindet mit dieser Situation einen Auftrag: »die Wertschätzung von Gemeinsamkeiten und Unterschieden sowie die Ermöglichung von Begegnungen, wie sie im kooperativen Religionsunterricht realisiert werden«.1452 Der konfessionelle Religionsunterricht wird angesichts dieser multireligiösen Entwicklungen und seiner Differenzierung nach äußerlichen Gesichtspunkten immer wieder infrage gestellt, tritt speziell der Ausbau interreligiöser Kompetenz der Schüler im Religionsunterricht ja auch zunehmend in den Vordergrund.1453 Das Konzept eines dialogischen Religionsunterrichts soll die Kinder gesprächsfähig machen »für das Zusammenleben in einer kulturell und religiös pluralen Gesellschaft«, auch in Kooperation mit anderen Weltanschauungen.1454 Das ist die große Verantwortung eines Faches, dem im besonderen Maße die Aufgabe zukommt, Wurzeln von Toleranz, Respekt und Anerkennung des Nächsten in der eigenen religiösen (oder nicht-religiösen) Tradition zu identifizieren und so als Orientierungsressource verfügbar zu machen – nicht nur im Christentum, sondern auch für den Islam oder auf ähnlichen Wegen für konfessionslose Schüler.1455 Denn aus theologischer Perspektive leben Menschen nicht nur in Beziehung zueinander, sondern auch in Beziehung zu Gott. Dies ist ebenfalls Recht und Grundkonstitution des Menschseins – unabhängig davon, ob Gott im Einzelfall abgelehnt oder negiert wird. Um das Recht auf positive Religionsfreiheit kompetent ausüben zu können, braucht es einen gewissen Grad an religiöser Bildung.1456 Auch auf diese haben Schüler ein Recht, für das der Religionsunterricht heute mehr denn je mit verantwortlich ist. Unter anderem müssen Lehrkräfte dabei Wissen über, ja sogar: eine Vertrautheit mit Religionen/ Weltanschauungen anderer in den Kindern und Jugendlichen fördern, da nur so religions- und weltanschauungsbezogene Pluralitätsfähigkeit und der der damit zusammenhängende reflektierte Umgang mit Andersartigkeit und die Fähigkeit zur Perspektivübernahme wirklich möglich werden.1457 Dann ist es dem Religionsunterricht möglich, einen wichtigen Beitrag zum Gewinn interkultureller Kompetenzen zu leisten. Auf diese Weise kann der Religionsunterricht auch den Anstoß für eine Schulkultur geben, »die das Gewinnen einer religiösen Orientierung in der Vielfalt als zentrale pädagogische Aufgabe ernst nimmt und die sich ebenso der Suche nach Gemeinsamkeiten verpflichtet weiß wie dem toleranten Umgang mit religiöser und weltanschaulicher Differenz.«1458 Die EKD 1452 1453 1454 1455 1456 1457 1458

Evangelische Kirche in Deutschland, 2014 (c), 37f. Ebd., 26f.; vgl. auch Schröder; Wermke, 2013, S. 429. Lehmann; Schmidt-Kortenbusch; Behrendt; Linke, 2013, S. 133. Vgl. Evangelische Kirche in Deutschland, 2014 (c), S. 67. Vgl. Dressler, 2012, S. 70. Vgl. Evangelische Kirche in Deutschland, 2014 (c), 67f. Ebd., S. 125.

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nimmt nicht nur diese Verantwortung wahr, sondern will Religionslehrer sogar dazu ermutigen, sich für die schulische Gemeinschaft einzusetzen und das Schulleben durch spezielle Angebote mitzuprägen.1459 In Anbetracht des bundesweiten Ausbaus von Ganztagsschulangeboten müssten auch spezifisch christlich-religionspädagogische Angebote der Kinder- und Jugendarbeit, die ihren Platz früher in der Freizeit und Gemeinde fanden, zunehmend ihren Platz in der Schule finden.1460 Hier und auch im Religionsunterricht selbst kann Wertschätzung für Unterschiedlichkeit entwickelt und können unterschiedliche Menschenbilder thematisiert werden, die einen Einfluss auf die Gesellschaft nehmen können, zum Beispiel in Bezug auf Menschen mit und ohne Beeinträchtigungen, auf Zusammenarbeit und Gerechtigkeit.1461 Das christliche Menschenbild der Religionspädagogik sollte in ihren Werten, Zielen und Methoden immer wieder zum Ausdruck kommen. Dies führt zu einer weiteren Verantwortung des Faches. Es lohnt sich an dieser Stelle, auf ein gewisses Problem im Heterogenitätsdiskurs der Religionspädagogik hinzuweisen: Die Feststellung, dass Heterogenität im Klassenzimmer der Normalfall ist, wird allzu selten mit der Erkenntnis verbunden, dass die daraus resultierenden, individuellen Bildungschancen ebenso heterogen sein können. So ist die Kategorie der sozialen Herkunft in Bildungskontexten mitnichten ›neutral‹, wenn man bedenkt, wie sehr sie den Bildungsweg und die daraus resultierenden Chancen Heranwachsender prägt. Zudem ist es für das Anliegen der Bildungsgerechtigkeit wichtig, nicht nur allgemeine Risikogruppen zu identifizieren, sondern auch zu erforschen, ob es möglicherweise fächerspezifische Gruppen gibt, die dort mit Benachteiligungen zu kämpfen haben. So spielt der weltanschauliche Hintergrund der Kinder im Religionsunterricht eine völlig andere Rolle als zum Beispiel im Fach Mathematik. Es liegt nahe, dass sich hieraus Konsequenzen ergeben und auch diese Kategorie nicht unbedingt ›wertneutral‹ ist. Welche Schüler aufgrund spezifischer Merkmal in der Gefahr stehen, in der religiösen Bildung benachteiligt zu sein, weil sie zu wenig wahrgenommen werden, ist jenseits der Genderthematik (vgl. III 4.3.1) aber noch wenig erforscht. Möglicherweise ist es schon hilfreich, eine Sensibilität für Kategorien von Differenz und Heterogenität im Fach zu entwickeln, um im Unterrichtsgeschehen besonders achtsam im Anliegen zu sein, niemanden zurückzulassen. Dies darf natürlich nicht in ›Schubladendenken‹ resultieren, was allein schon dadurch erschwert wird, dass Menschen nie nur einer ›Kategorie‹ zugeordnet werden können und manche Faktoren für den Bildungserfolg tatsächlich wichtiger sind als andere (hier deutet sich also möglicherweise doch eine 1459 Vgl. 2014 (c), S. 125. 1460 Vgl. ebd., S. 27. 1461 Vgl. auch ebd., S. 37.

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Systematik an). Sich näher mit den Merkmalen, den spezifischen Herausforderungen und Ressourcen bestimmter kultureller, sozialer, religiöser, kognitiver und Gender-Gruppen zu beschäftigen, kann aber hilfreich sein. Es lässt sich zusammenfassen: Der Religionsunterricht steht vor besonderen Aufgaben und Möglichkeiten, weil ihn die multireligiöse Dimension von Heterogenität an unseren Schulen unmittelbar betrifft und er deshalb besonders darauf reagieren kann und darf. Aufgabe ist die bewusste Einbeziehung von Lernenden zunehmend verschiedenartiger Weltanschauungen mit dem Ziel, Toleranz und Pluralismusfähigkeit zu fördern sowie gleichzeitig Wege aufzuzeigen, wie Menschen eine Gottesbeziehung gestalten können. Dafür ist es notwendig, alle Lernenden gleichermaßen anzusprechen. Gleichzeitig hat der Religionsunterricht eine besondere Verantwortung, da er sich der christlichen Theologie verbunden weiß und deshalb im besonderen Maße dazu aufgefordert ist, Gerechtigkeit im Unterricht zu etablieren, Bildungschancen für alle zu realisieren und nicht nach äußeren Maßstäben (wie dem Grad der ›Literacy‹) zu unterscheiden. Im Religionsunterricht sollten alle Schülerinnen gleich wichtig sein und alle sollten ihrer Fähigkeiten entsprechend gefördert und gefordert werden. Für diese Anliegen haben sich verschiedene Ansätze und Ermöglichungsstrategien in der Religionspädagogik entwickelt, die im Folgenden kurz beleuchtet werden sollen, um dadurch einen Bogen zur comicdidaktischen Religionspädagogik zu schlagen.

4.1.3 Die comicdidaktische Religionspädagogik als Ermöglichungsstrategie einordnen Wie im Kontext religiöser Bildungsprozesse optimal mit Heterogenität umgegangen werden kann, wird nach wie vor diskutiert und es liegen mittlerweile viele Konzepte und Vorschläge vor. Das ist nicht verwunderlich, gehört der Umgang mit Heterogenität bzw. Diversität doch heute zum professionellen Selbstverständnis aller Fachdidaktiken. Mittlerweile sind viele Konzepte und Vorschläge auch der Theorie entwachsen und werden in der Praxis erprobt. Freilich können nicht alle hier referiert werden. Dennoch soll dargestellt werden, wo Ähnlichkeitsbeziehungen zwischen dem Nutzen einer comicgestützten Arbeit sowie Konzepten und Zielen/Zielgruppen anderer Unterrichtstheorien und religionspädagogischer Ansätzebestehen könnten. Insgesamt ist die Tendenz zu beobachten, dass die Religionspädagogik sich wie fast alle Fächer weg von einer Sonder-, und stattdessen hin zu einer Allge-

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Comics als Chancengeber für die Heterogenität im Fach

meinen Pädagogik (der Vielfalt) bewegt.1462 (Auch an kritischen und fragenden Beiträgen mangelt es dabei natürlich nicht, zum Beispiel in der Inklusionskritik Bernhard Grümmes.1463) In der Religionspädagogik dreht es sich unter dem speziellen Stichwort der ›Inklusion‹ aber immer noch vielfach um die inklusive Arbeit mit behinderten und beeinträchtigten Menschen.1464 Überlegungen der Kirche in Bezug auf Menschen mit körperlichen oder geistigen Beeinträchtigungen haben eine lange Tradition, die sicherlich bis heute nachwirkt. Auch jetzt noch tragen Theologinnen zu den Dis/ability Studies bei, wenn zum Beispiel Slawik das inklusive Potenzial des Godly-Play diskutiert oder Glück Konzepte für die kritische Rezeption neutestamentlicher Wundergeschichten vorlegt.1465 Hieran könnte die comicgestützte Arbeit anknüpfen, indem in der Lerngruppe Comicgeschichten und -biographien gelesen werden, die helfen, die Perspektive beeinträchtigter Menschen zu übernehmen (etwa Schreiters Schattenspringer) (vgl. auch III 4.2.4). Hier können Comicdidaktik und narrative Religionspädagogik, die inklusives Potenzial besitzt, zusammenwirken (vgl. III 3.2). Ein Fokus, der in den letzten Jahrzehnten immer dringlicher geworden ist, ist zudem der der interreligiösen und interkulturellen Religionspädagogik. Obwohl annähernd die gesamte Schulpädagogik Interesse am interkulturellen Diskurs hat, so kommt dem Religionsunterricht doch eine ganz besondere Bedeutung dabei zu, weil Interkulturalität und Interreligiosität oft Hand in Hand gehen.1466 In der Regel geht es dabei um den Perspektivwechsel und die Horizonterweiterung des Einzelnen, aber auch um grundsätzliche Konzepte wie die Kooperation des Evangelischen mit dem Islamischen Religionsunterricht.1467 Hier kann die Comicdidaktik tatsächlich einen Beitrag dazu leisten, Pluralismusfähigkeit zu fördern. Darauf wurde schon mehrfach verwiesen. Grund dafür sind beispielsweise Sachcomics, die dem für interreligiöse Kompetenz wichtigen Aufbau religionskundlichen Wissens dienen können; außerdem authentische Comicbiographien, die zum Perspektivwechsel einladen; ferner Comics aus unterschiedlichen Kulturen, die interkulturelle Kompetenzen und die »Differenzsensibilität«1468 stärken können u.v.m. (vgl. II 3.2.2, III 2.1, III 3.2). Einzelwerke können sich auch für konfessionell-kooperativen Unterricht (wie Comic-Hagiographien oder auch Stetters Luther) oder die Kooperationen mit dem Fach Ethik/Philosophie eignen (zum Beispiel Don Rosas Sein Leben, seine Milliarden). 1462 1463 1464 1465 1466 1467 1468

Vgl. Müller-Friese; Schweiker, 2013, S. 133. Vgl. 2017. Vgl. bspw. Pithan; Wuckelt; Beuers, 2013. Vgl. 2019; Slawik, 2019. Vgl. bspw. Baumert; Röhll, 2019. Vgl. dazu bspw, Zimmermann, 2019. Vgl. ebd., S. 38.

Heterogenität reflektieren

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Zudem thematisieren Comics vielfach Strukturen der Ausgrenzung und Unterschiedlichkeit. Dabei kann es ganz konkret um Rassismus gehen, aber auch zum Beispiel um Homophobie (Cruses Stuck Rubber Baby verbindet beide Themen sogar miteinander). In Comics finden sich außerdem sehr viele Darstellungen ungewöhnlicher Lebensentwürfe oder Lebensgeschichten (zum Beispiel Das Tagebuch der Anne Frank oder Coming of Age-Geschichten aus dem LGBTQ+-Bereich). Das kommt neuen religionspädagogischen Ansätzen entgegen, die eine immer größere Sensibilität für Diversität an den Tag legen und die sich auf die Frage nach Gender-Identität und Sexualität erstreckt, selbst wenn diese Beiträge bisher noch überschaubar sind.1469 Im Zuge dieser neuen Diversitätsorientierung und um möglichst vielen verschiedene Menschen mit unterschiedlichen Angeboten entgegenzukommen, werden in der Religionspädagogik allgemeine Unterrichtsarrangements der Individualisierung, Binnendifferenzierung und Kooperation für den inklusiven oder pluralitätsfähigen Religionsunterrichts diskutiert.1470 Auch in der comicgestützten Arbeit können beispielsweise Aufgabenstellungen unterschiedlichen Komplexitätsgrades gestellt oder individuell-präferierte Medien(vorschläge) mit dem gleichen Lernziel/der gleichen Hauptintention erforscht werden. Comicdidaktische Ansätze können das Unterrichtsangebot deutlich bereichern, um Vielfalt zu adressieren (vgl. II 4.2). Die comicgestützte Arbeit ist besonders anschlussfähig dafür, verschiedene Zugänge zum Einzelwerk zu eröffnen und kommt auf diese Weise entsprechenden Unterrichtsformen entgegen (vgl. dazu II 4). Ein zentrales Problem bleibt aber oft das Spannungsfeld zwischen Zieldifferenz und Teilhabe: Wie kann man die inklusive Lerngruppe an einem gemeinsam Gegenstand und Stundenthema teilhaben lassen, ohne dass Parallelunterricht stattfindet?1471 Gesprächsintensiver Austausch ist nur einer von vielen Antwortversuchen. Insgesamt ist die Comicdidaktik vielleicht ein Instrument, das sich am profiliertesten in den Bereichen herausstellt, die eher am Rand der Diskussion stehen: im Bereich der inklusiven Risikogruppenförderung. Einerseits allgemein (vgl. II 4), andererseits aber auch fachspezifisch bezogen etwa auf männliche Schüler, die nachweislich weniger vom Religionsunterricht zu profitieren scheinen (III 4.2.3). Im Folgenden sollen einige Gruppen vorgestellt werden, die eine besondere Rolle im Religionsunterricht durch die dem Fach inhärenten Thematiken spielen und die möglicherweise (!) dadurch auch Benachteiligungen in Kauf nehmen müssen. Für jede Gruppe wird dann das spezifische Potenzial der Comicdidaktik

1469 Vgl. bspw. Spiegel, 2019; Wischer, 2015. 1470 Vgl. ebd. 1471 Vgl. Espelage, 2020, S. 102.

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zur stärkeren Integration der Gruppe und damit der Inklusion des Einzelnen beleuchtet.

4.2

Vielfalt im Religionsunterricht adressieren

4.2.1 Konfessionslose und Kirchendistanzierte erreichen In Deutschland zeichnet sich immer stärker eine »Trikonfessionalität« ab: Erstens und zweitens die Angehörigen römisch-katholischen und evangelischen Glaubens (zusammen ca. 33, 5 %), demgegenüber drittens die Gruppe Konfessionsloser (bundesweit etwa 29 %)1472. In den neuen Bundesländern ist die Lage noch deutlich dramatischer: Nach Rosenow sind hier sogar 50–75 % aller Menschen konfessionslos1473. Dazu kommt, dass auch diejenigen, die formal noch den Kirchen angehören, von der allgemeinen Umformungskrise der Religionsgemeinschaften bekanntlich stark betroffen sind, sodass Kirchendistanz und religiöse Indifferenz zunehmen. Obwohl es hierzu mittlerweile wertvolle didaktische Direktiven aus der Religionspädagogik gibt, so sind viele Lehrkräfte in der Praxis dennoch davon herausgefordert. Hier soll darum erforscht werden, inwiefern sich comicdidaktische Ansätze zur Ansprache und Inklusion von eben diesen kirchendistanzierten Jugendlichen eignen, die vielleicht die maßgeblichste religionspädagogische Herausforderung unserer Zeit darstellen.1474 Hier erweisen sich unter anderem die Überlegungen zum religionspädagogischen Nutzen theologisch-kulturhermeneutischer Forschungen und dem religiösen Bildungspotenzial von Comics als hilfreich (III 2.2 und 3.1). In diesem Abschnitt wird vermehrt von ›Jugendlichen‹ und weniger von ›Kindern‹ die Rede sein. Konfessionslose Schüler kommen zwar in jeder Altersstufe vor, eigenständige kirchenkritische Einstellungen bilden sich jedoch eher ab der Adoleszenz. Dazu kommt, dass die eigene Spiritualität/Religiosität auch nicht-kirchlicher Schülerinnen in dieser Entwicklungsphase schon weiter ausgereift ist und in der Regel von ihnen reflektiert und in Worte gefasst werden kann. Ebenso erschließen sich Jugendliche vermehrt eigene Medienwelten. Die Jugend ist ohnehin geprägt von Distanzierungsversuchen zu elterlichen Werten, weshalb Grundschülerinnen meistens noch ein etwas höheres Interesse am Religionsunterricht an den Tag zu legen scheinen.1475 Schröder verweist sogar darauf, dass schon mittelalterliche und frühneuzeitliche Zeugnisse religiöser Un1472 1473 1474 1475

Vgl. Schröder, 2012, S. 288. Vgl. 2019, S. 212. Vgl. Schröder, 2012, S. 288. Vgl. Bucher, 2000, 50f.

Vielfalt im Religionsunterricht adressieren

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terweisung zeigen, dass die Adoleszenz noch nie durch ein sprühendes Interesse für diesen Gegenstand geprägt war.1476 Nicht zuletzt spielt hier die nach Fowler individuierend-reflektierende Stufe auch eine Rolle, in der Jugendliche auf Distanz zu früher vermittelten Glaubensinhalten gehen können. Die Umstrukturierung der Schülerzusammensetzung im Religionsunterricht korreliert auf jeden Fall mit einem gesamtgesellschaftlichen Entwicklungsprozess1477: Der Anteil christlich-getaufter Schüler an deutschen Schulen schwindet parallel zur Mitgliederzahl der beiden großen Kirchen. Gänzlich neu ist diese Entwicklung nicht, sie spitzt sich aber zu.1478 Im stärkeren Maße betrifft Konfessionslosigkeit die neuen Bundesländer, ein Umschwung der Tendenz ist aber bundesweit nicht abzusehen, wie die letzte Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung der Evangelischen Kirche Deutschlands belegt.1479 Die nachwachsende Generation wird immer seltener religiös geprägt und zeigt sich zunehmend kirchenunverbunden.1480 Die Gemeinde ist kein wichtiger Bezugspunkt der Sozialisation mehr. Die EKD bündelt ihre Untersuchungsergebnisse folgendermaßen: »Zusammengenommen scheint es der soziale Bedeutungsverlust von Religion zu sein, welcher sich von Generation zu Generation immer häufiger (auch bei den Kirchenmitgliedern) im Form religiöser Indifferenz in den Köpfen festsetzt.«1481 Es ist damit nicht nur eine Abkehr von der institutionalisierten Religion zu konstatieren, sondern auch der Verlust persönlicher religiöser Wurzeln: In der Gruppe der 14–21jährigen gaben in der Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung nur noch 16 % an, häufig oder gelegentlich über Gott zu sprechen, 74 % der Jugendlichen beten nie oder nur extrem selten – und diese Zahlen sind allein unter jungen Menschen erhoben worden, die sich formal durchaus noch zur Kirche bekennen!1482 Während die Angehörigkeit zum Islam nachweislich noch am stärksten mit Traditionswerten einhergeht und die Mitgliedschaft bei einer freikirchlichen Gemeinschaft stark mit Selbst-Transzendenzwerten korreliert, beschreiben sich nur noch ca. 16 % der Jugendlichen in der ev. Landeskirchen als explizit christlich, während 70 % indifferent oder gar nicht religiös zu sein scheinen.1483 Zunehmend integrieren Jugendliche und junge Erwachsene auch synkretistische Tendenzen in ihr Weltbild und distanzieren sich von verbindlichen Ausgestaltungen der Religion.1484 Man kann annehmen, dass sich diese 1476 1477 1478 1479 1480 1481 1482 1483 1484

Vgl. 2019, S. 113. Vgl. Lehmann; Schmidt-Kortenbusch; Behrendt; Linke, 2013, S. 19. Vgl. Schröder, 2019, S. 124. Vgl. 2014 (a), S. 5. Vgl. ebd., 58f., 67. 2014 (a), S. 65. Vgl. ebd., S. 66. Vgl. Gennerich, 2017, 51f,; Riegel; Hallwaß, 2017, 82f., 90. Vgl. Schröder, 2012, S. 291.

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Entwicklung von Generation zu Generation fortsetzen und verstärken wird.1485 Natürlich gibt es auch schon innerhalb dieser Generation gewisse Unterschiede: So stimmen Heranwachsende mit eher geringem kulturellem Kapital, was auch eine christliche Grundbildung miteinschließen kann, im besonderen Maße nur zurückhaltend explizit religiösen Bekenntnissen zu.1486 Dies kann bedenklich stimmen. Natürlich bilden konfessionslose oder kirchenunverbundene Jugendliche keine homogene Gruppe: Die einen wurden nicht christlich erzogen und zeigen sich trotzdem interessiert an neuem Wissen, zum Beispiel wenn die ausgebliebene religiöse Erziehung gerade eine Chance zur vorurteilsunbelasteten, reflexiven Auseinandersetzung mit der christlichen Tradition bietet, wie Hämel/Schreijäck spekulieren.1487 Weitere Jugendliche sind trotz formal-christlicher Erziehung der Kirche gegenüber distanziert oder gar kritisch eingestellt, wieder andere interessieren sich nicht dafür und verhalten sich gleichgültig, also religiös »indifferent«, wie es die EKD formuliert.1488 Dazu ist die individuelle Haltung auch noch oft von Schwankungen betroffen, die durchaus vom Religionsunterricht ausgelöst werden können, sodass man nicht nur von unscharfen Grenzen sprechen könnte, sondern die Möglichkeit von Gruppierungen vielleicht insgesamt verwerfen sollte.1489 Wissensbestände über Christentum und Kirche werden zunehmend individueller. Man kann aber davon ausgehen, dass Bildung hinsichtlich kirchlich-tradierten, genuin-christlichen Wissens angesichts zunehmender Kirchenentfremdung insgesamt immer weniger vorauszusetzen ist. Dies macht den Auftrag des Religionsunterrichts, was religiöse Bildungsformen betrifft, umso dringlicher, da einige Orientierungsbedürfnisse dadurch gewachsen sind.1490 Nach Dressler solle das Fach dazu befähigen, Wege zwischen »Fundamentalismus und Indifferenz« aufzuzeigen, um »[k]ompetent das Grundrecht auf Religionsfreiheit wahrnehmen zu können.«1491 In gewisser Hinsicht sieht sich das Fach herausgefordert, in der Bildung eine Rolle zu spielen, die früher eher von der Kirche und der Familie ausgeübt wurde. Dabei sind für 1485 1486 1487 1488 1489 1490

Vgl. Evangelische Kirche in Deutschland, 2014 (a), 58f. Vgl. Lütze, 2011. Vgl. 2012, S. 152. Vgl. dazu auch Ziegler, 2006, S. 209ff. Vgl. Schröder, 2019, S. 113; Schweitzer; Wissner; Bohner; Nowack; Gronover; Boschki, 2018. Vgl. Evangelische Kirche in Deutschland, 2014 (c), S. 35. Interessanterweise scheint die EKD auszuschließen, dass der Religionsunterricht als Sozialisationsagent diese Entwicklung beeinflussen könnte. Zumindest befragte sie ihre jugendlichen Mitglieder nur nach dem Einfluss, den Freunde, Großeltern, Kirchenbedienstete u. a. auf ihre Einstellung zu Kirche, Glauben etc. gehabt haben, während über den Einfluss des Religionsunterrichtes keinerlei Daten erhoben wurden. (vgl. 2014 (a), S. 71) Dabei wären diese möglicherweise besonders interessant gewesen, um die gegenwärtige Religionspädagogik und -didaktik weiterzubringen. 1491 2012, 68f., Herv. d. A.

Vielfalt im Religionsunterricht adressieren

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heutige Jugendliche weniger die Erwartungen der Kirchen, sondern vielmehr eigene Fragen und Konflikte interessant.1492 Comics bieten durch ihre einerseits populärkulturelle Natur und andererseits zunehmend ernsthafte Themen eine ideale Möglichkeit dafür, gezielt kirchenunverbundene, auch kirchendistanzierte und -kritische Jugendliche in den Religionsunterricht mit einzubinden, damit sie sich theologischen und ethischen Reflexionen öffnen und religiöse Bildung erwerben können. Auch konfessionslose und kirchenunverbundene Menschen sind keineswegs leere Gefäße, die die Welt mit einer Leerstelle im Bereich der Lebensdeutung durchlaufen und die man in Religionsunterricht und Kirche einfach mit der guten Botschaft des Evangeliums ›auffüllen‹ könnte. Das religiöse oder spirituelle Fragen nach dem Sinn und Ziel des Lebens ist eine »Grunddimension des Menschseins«.1493 Auch außerhalb der institutionalisierten Religionen formen sich individualisierte Spiritualitätsbilder und es gibt Hinweise darauf, dass Religiosität heute besonders von (populärkulturellen) Medienerfahrungen, die sich Jugendliche meistens selbst suchen, geprägt ist.1494 Wo die religiöse Erziehung ausbleibt, stellen sich eigene Überlegungen und Antwortversuche ein, die als solche (in ihrer konstruktivistischen Natur) auch gewürdigt werden sollten.1495 Hämel/Schreijäck postulieren dazu: »Subjektorientierung heißt […], dass die eher flexiblen denn stabilen Identitätsgewebe und die Selbst-Konstruktionen […] der heutigen Schüler(innen) nicht verworfen werden.«1496 Der »kontextuelle[n], perspektivische[n] Form von Religiosität« solle die Würde zugestanden werden, die sie verdiene.1497 Man könnte in der Religionsdidaktik auch von einer ›Ressourcenorientierung‹ sprechen, wenn individuelle Spiritualität nicht als Hindernis, sondern als Ausgangspunkt für die religiöse Bildung angesehen wird. Der wohl angesehenste Zugang, um an die religiöse Selbstdeutung auch kirchenferner Jugendlicher anzuknüpfen, lautet: Anknüpfen an ihre Lebenswelt – ohne jedoch mittelfristig elementar-theologische Themen auszublenden. Die Alltagsdimension kann Ausgangs- und Zielpunkt einer Einheit sein, in der das religiös-Bedeutsame und Tragfähige doch im Mittelpunkt steht. Besonders gut eignen sich für diesen Zweck die Medienwelten, die im Alltag moderner Menschen und in der Gesellschaft insgesamt eine wachsende Rolle spielen. Schröder erklärt: Von den Medien aus

1492 1493 1494 1495 1496 1497

Vgl. Evangelische Kirche in Deutschland, 2014 (c), S. 36. Niedersächsisches Kulturministerium, 2009, S. 19. Vgl. Pirner, 2012, 159, 161. Vgl. ebd., S. 167. 2012, S. 152. Ebd.

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Comics als Chancengeber für die Heterogenität im Fach

drängt sich ihre Reflexion, Nutzung und Bearbeitung im Rahmen religionspädagogisch reflektierter Lernarrangements und -prozesse auf. Mit der religionspädagogischen Ingebrauchnahme und Thematisierung von Medien kommt somit der Kontext bzw. die Lebenswelt der Lehrenden und Lernenden in religiösen Lernprozessen zur Geltung. Didaktische Reflexion von ›Medien‹ ist also nicht ins Belieben gestellt, sondern sie erweist sich im Zeichen der Subjekt- und Lebensweltorientierung als unumgänglich.1498

Dieses Vorgehen entspricht einer medienorientierten Religionsdidaktik. Tatsächlich beziehen gerade die Heranwachsenden, die in ihrem familiären Umfeld keine genuin religiöse Erziehung mehr erfahren, weltanschauliche Orientierung zu einem großen Teil aus den zeitgenössischen Medien.1499 Es ist deshalb nur sinnvoll, diese auch explizit in den Religionsunterricht zu holen. Konkret bedeutet das, einen Schritt auf die Jugendlichen zuzugehen und sie in ihrer persönlichen und eigenverantwortlichen Deutungsweise lebensrelevanter Fragen und Werte wahr- und ernst zu nehmen, um sie bei Sinnfragen und religiöse Suchbewegungen zu begleiten.1500 Dabei lohnt es sich, die aktuelle Populärkultur in den Blick zu nehmen, denn: Die Popkultur wendet sich […] an ein Massenpublikum und ist entsprechend an momentanen Bedürfnissen orientiert, hat niedrige Zugangsschwellen (ansprechende Ästhetik, klare Rollen- und Identifikationsmuster, einfache Gehalte) und ist […] stark verbreitet. Die Popkultur ist ein guter Spiegel des gegenwärtigen Lebensgefühls.1501

Dabei sind Kinder und Jugendliche häufig Expertinnen dieser Kultursparte und dürfen als diese durchaus respektiert werden. Auch Erzeugnisse der Jugendkultur spiegeln wider, was viele Schüler beschäftigt und ihre Inhalte stellen oft und unabhängig vom Genre »entscheidende Orientierungen für die Vorstellungen von Glück, Lebenssinn, Individualität und gestalteter Sozialität« bereit.1502 Die weltanschauliche/religiöse Identität entfaltet sich dabei besonders für kirchenferne Jugendliche in der Auseinandersetzung mit den Massenmedien.1503 So vollzieht sich die alltägliche Selbst- und Weltdeutung still und unbemerkt abseits von der Kirche, oft angeregt und widergespiegelt in säkularen Narrativen, wie aus der Kinder- und Jugendliteratur, aber auch Videospielen, Serien und Musik.1504 Das Medium des Comics ist für die Religionsdidaktik aus verschie1498 1499 1500 1501 1502 1503 1504

Schröder, 2012, S. 684, Herv. i. Org. Vgl. Pirner, 2012, S. 159. Vgl. dazu Siemann, 2008, 1339. Kunstmann, 2004, S. 256. Meyer-Blanck; Weyel, 2008, S. 178. Vgl. Pirner, 2012, S. 162. Die neue und immense Bedeutung der Serien und serienähnlicher Sitcoms, die die des Einzelfilmes für Menschen in einer eher jugendlichen Lebenswelt in den letzten Jahren immer weiter übersteigt, ist ein noch verhältnismäßig unerforschtes Gebiet – das gilt sowohl für die Medien- und Kommunikationswissenschaft als auch für die Theologie.

Vielfalt im Religionsunterricht adressieren

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denen Gründen besonders vorteilhaft. Neben anderen (vorwiegend digitalen) Formaten sind Comics zwar eher ein Minderheitenmedium, jedoch nicht nur unter dem Marketingbegriff ›Graphic Novel‹ eines mit wieder wachsender Bedeutung. So verbreiten sich etwa Mangas im deutschsprachigen Raum immer stärker. Shojo-Manga, die ein weibliches Publikum adressieren, drehen sich dabei inhaltlich viel um Gefühle und Beziehungen, Freundschaften, Familie und Liebe.1505 Dies sind universelle Themen, die nicht nur für Heranwachsende von zentraler, zeitübergreifender Virulenz sind und Ergebnisse empirischer Untersuchungen versichern, dass Familie und verbindliche Freundschaften auch heute noch ganz oben auf der Werteskala der meisten Menschen stehen.1506 Dabei stellen Shojo-Mangas durch expressiv-sprühende Bilder und einen verhältnismäßig geringen Textanteil meist eine eher niedrigschwellige Lektüre dar. Die Freude an Comicgeschichten gleich welchen Genres gilt es zu nutzen, da diese genauso wie andere populäre Medien zur Sinnproduktion herangezogen werden können und die Bereitschaft kirchenferner Jugendlicher dafür tendenziell mehr gegeben sein sollte als in der Rezeption von religiösen Primärquellen wie der Bibel, die zunehmen als ›unwichtig‹ betrachtet werden oder von negativen affektiven Voreinstellungen ihr gegenüber geprägt sein können (letzteres besonders bei kirchendistanzierten und sehr kritischen Jugendlichen). Dazu kommt, dass viele zeitgenössische Geschichten näher an der Lebenswirklichkeit von Jugendlichen sind und die reflexive Bezugnahme unter diesen Umständen unkomplizierter erscheint. Auf den ersten Blick scheint etwa der Inhalt in Geschichten phantastischer Natur – egal ob nun mit fliegenden Superhelden oder sprechenden Katzen – wenig mit dem Alltagsleben Jugendlicher gemeinzuhaben, die weder fliegen noch mit Tieren sprechen können sollten. Die Nähe zur Lebenswelt ergibt sich vielmehr aus dem alltäglichen Umgang mit dem Medium selbst, ästhetischen Gestaltungsmitteln, realistischer Sprache u.v.m. Vor allem aber sind Kinder und Jugendliche mit phantastischen Motive in Comics vertraut und ein fliegender Superheld mag deshalb mitunter weniger Skepsis auslösen als ein Gott, der sich in einem Dornenbusch manifestiert (vgl. Ex 3). Dabei geht es weniger um bewusst-rationale Entscheidungen, sondern vielmehr um spontane, auch von Emotionalität geprägte Einstellungen. Praktische Theologen sehen in Comics deshalb geradezu lebens- und religionsstiftende Bedeutung: Brinkmann erwägt, »daß der Comic als Medium des 20. Jahrhunderts als Orientierungshilfe in der Welt dient […] und die Funktion eines über trostlose Realität hinwegDabei sind über Jahre konstante Seriengiganten wie Sherlock, Breaking Bad oder How I met your Mother von immer größerer Bedeutung für die alltägliche Lebenswelt der Menschen. Serien wie Jane the Virgin, Homeland oder Orange is the New Black verhandeln dabei auch religiöse Themen. 1505 Vgl. Prough, 2010, 93f. 1506 Vgl. Siemann, 2008, 1339.

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helfenden Trostes übernimmt«.1507 Sie seien Lebens- und Selbsthilfereflexionen, mit deren Hilfe sich der Mensch mitunter besser begreifen könne.1508 Auch August Stahl betont das Sinnpotenzial vieler Comicgeschichten: »Warum sollte sich nicht auch die ›theologische‹ Wissenschaft um eine vorbehaltlose Ergründung dessen bemühen, was ›modernen Menschen‹ in der ›medialen Kultur‹ Trost und Hilfe im Leben und im Sterben ist?«1509 In Abschnitt III 2.1 wurden Comicbeispiele beleuchtet, die auf unterschiedlichen Ebenen theologisch gedeutet werden könnten. Sowohl die Konstatierung schlichter Motive als auch die einer religiösen Tiefenstruktur und die Reflexion ontologischer und ethischer Fragen: All dies kann religionspädagogisch genutzt werden. Die graphische Literatur als populärkulturelles Medium soll dann dabei helfen, auch in einer »Atmosphäre der Kirchendistanz« religiöse Facetten von Wirklichkeit wahrzunehmen und sichtbar zu machen.1510 Auch Comics mit nicht explizit-biblischem oder christlichem Inhalt können dafür geeignet sein und der Unterricht kann durch Lektüre-Vorschläge von Schülerseite bereichert werden. Denn da Religion ein Erfahrungsphänomen ist, muss im Unterricht auch der persönliche Erfahrungsbezug gewährleistet und ausgebaut werden.1511 Das Medium ist zumindest im Vergleich zur vorurteilsbelasteten Kirche (in der subjektiven Wahrnehmung vieler Jugendlicher) für viele noch von der bereits angesprochenen »Aura der Coolness«1512 umgeben, wirkt nahbar und unkompliziert. Christliche Werte oder religiöse Themen, in einem zeitgemäßen Comic aufgespürt und thematisiert, lösen also möglicherweise weniger Skepsis aus als in einem konventionelleren Medium oder einem Werk aus dem ›hochkulturellen Kanon‹. Folge könnte damit eine größere Offenheit und Lernbereitschaft der Lernenden zu den sich anschließenden Fragen sein, die dadurch in größerer Tiefe behandelt werden können. Verschiedene Themenbereiche können so in die religiöse und sinnproduktive Reflexion geführt werden. Das gleiche gilt für ethische Fragen, zu denen Comics Anreiz geben. So kann das Massenmedium auch der Religionspädagogik in seiner Förderung der spirituellen Bildung nützlich sein, ohne dass allein auf institutionalisiertes religiöses oder kulturelles Wissen zurückgegriffen werden muss, mit dem die heutige Generation eben oft nicht mehr vertraut ist. In Worten Schweitzers: »Die Sachen sollen sich für die lernenden Personen erschließen, und die lernenden Personen sollen für die Sache erschlossen werden.«1513 1507 1508 1509 1510 1511 1512 1513

Brinkmann, 1999, S. 125. Vgl. 1999, S. 130. 1976, 21. Schröder, 2012, 562f. Vgl. Kunstmann, 2004, S. 173. McCloud, 2001 (a), S. 16. 2012, S. 235.

Vielfalt im Religionsunterricht adressieren

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Comics können auch ein Instrument für die religionspädagogische Korrelationsdidaktik sein, die Parallelen zwischen Schülererfahrungen und biblischchristlicher Offenbarung herzustellen versucht. Natürlich kann die Reflexion lebensrelevanter Fragen oder Werte auch außerhalb der (nach Luckmann) »sichtbaren Religion« als ein Wert an sich gelten. Schließlich dient religiöses Lernen nach Kunstmann nicht nur der Sicherung einer Tradition, sondern der »jetzt gelebten religiösen Selbst-Explikation.«1514 Allerdings müssen nach evangelischen Bildungsplänen auch explizit christliche Gehalte für die Schüler verständlich und erfahrbar gemacht werden.1515 Häufig gerät die Korrelationsdidaktik hier an seine Grenzen, wenn es von der Schülerseite her keine nennenswerten lebensweltlichen Kenntnisse oder Bezüge zum Thema (sei es das Judentum oder ›Reich Gottes‹) gibt, wie aus einer ›alteritätstheoretischen Religionsdidaktik‹ heraus angemerkt wurde.1516 Grümme erklärt: »Das Problem der Dialogik liegt […] darin, dass die Individualität der jeweiligen Erfahrungen der Menschen wie die Fremdheit, die der Bibel und der jüdisch-christlichen Tradition in der Lebenswelt der Menschen heute zukommt, nicht hinreichend gewürdigt wird.«1517 Dann wird versucht, das zu korrelieren, was nicht (mehr) korreliert werden kann. Während das Evangelium heute oft eine Erfahrung der Fremdheit schafft, ist hingegen die grundsätzliche Hoffnung auf Erlösung, wie sie beispielweise im Superheldengenre immer wieder ausgemalt wird, den meisten Lernenden geläufiger. Denkbar wäre es deshalb, einen Umweg über den Comic zu wagen. Boschki spricht davon, nicht zwanghaft nach direkten Korrelationsmöglichkeiten zu suchen, sondern im Sinne einer dialogisch-beziehungsorientierten Religionsdidaktik Dinge ›ins Gespräch [zu] bringen‹, ›in die Auseinandersetzung [zu] stellen‹, […] die vorhandenen Beziehungsstrukturen auf der Seite der Lernenden und des Lerngegenstandes aufdecken, bewusst machen, wahrnehmen, dafür sensibilisieren. […] Insbesondere sind wir geprägt von der Medienwelt, die uns umgibt und die tief in unser persönliches Leben hinein reicht. Täglich sind wir in Mediennetzen eingebunden, die unser Leben zeitweise bestimmen. Selbst bei diesem Verhältnis zur uns umgebenden Wirklichkeit kann man von ›Beziehung‹ sprechen, auch wenn es sich nicht um eine zwischenmenschliche Beziehung handelt. Wir setzen uns und stehen in Beziehung zur Welt, in der wir leben.1518

Die lebendige Beziehung der Schüler zu Medien- und Comicwelten wird aktualisiert und genutzt, indem zuerst eine Korrelation zwischen religiösen Fragestellungen in der Lebenswelt und in der Welt der Comicgeschichte hergestellt 1514 1515 1516 1517 1518

Kunstmann, 2004, S. 177. Vgl. ebd., S. 230. Vgl. Grümme, 2012, S. 121. 2012, S. 119, Herv. d. A. 2012, 175f., Herv. d. A.

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werden. Dann könnten die Lernenden einen Schritt weitergeführt werden, um Zusammenhänge zwischen religiösen Zeichen im Comic und explizit religiösen Sinnsystemen herzustellen. Dies entspricht einer »Suche nach Korrelation zwischen bereits vorhandenen Schülererfahrungen und der Sache christlicher Religion«1519, bzw. nach Reuter: »Tradition und Lebenswelt befragen sich gegenseitig.«1520 Der Comic aber dient als Vermittler (nicht nur Sprungbrett!) dazwischen. Vorteil davon ist auch, dass das im Unterricht erworbene Wissen gleich in mehrere Richtungen anschlussfähig ist, was entweder in Gestalt eines horizontalen Transfers belegt werden kann, indem beispielsweise moralische Fragen in einem Comic auf das eigene Handeln bezogen werden. Oder aber die Erkenntnis/ das neu erworbene Wissen stellt im vertikalen Transfer die Basis für anspruchsvollere und darauf aufbauende Lernziele dar, wie in der Überleitung zu institutionalisierten Religionsformen.1521 Dabei ist es nicht nur sinnvoll, sondern oft auch leicht, einen Bezug zu dezidiert christlichen Inhalten herzustellen. Reuter erklärt: Erstaunlich ist allemal, daß sich die lebensrelevanten Antworten, die sich auf Identitätsvergewisserung und Daseinsorientierung, auf Wertefindung und Lebensentwürfe beziehen, aber vor dem Hintergrund so unterschiedlicher Foren und Medien wie ›Comics‹ und ›Religion‹ bzw. ›Comic-Story‹ und ›Predigt‹ (o. ä.) erschlossen werden können, anteilig zur Deckung gebracht werden können1522.

So kann die Annäherung an christliche Inhalte auch umgekehrt erfolgen, indem etwa erst die christliche Soteriologie thematisiert und dann danach diese »explizite Religion« in säkulare Sprache und Orientierung wie im Superheldengenre ›übersetzt‹ wird.1523 Aufmerksamkeit verdient auch der schon erwähnte reiche Motivkosmos in vielen Comics, der an die jüdisch-christliche Symbolwelt anknüpft. In Ihrer Tiefe erschließen sich diese Anspielungen erst, wenn nach Grethlein »den biblischen und religiösen Spuren gefolgt wird.«1524 Jugendliche, denen es an Wissen um den Deutungsgehalt dieser Zeichen und Verweise mangelt, können die Lektüre solcher Werke nur eingeschränkt genießen. Eine Analyse bildet damit nicht nur, sondern kann auch neugierig auf weitere traditionelle und symbolische Bestände machen. Auf diese Weise kann die Lehrkraft offene Fragen nach christlichen Motiven aus der lebensweltlichen Lektüre ihrer Schülerschaft aufgreifen und sie so in einen theologischen Diskurs führen, beispielsweise hinsichtlich der Macht 1519 1520 1521 1522 1523 1524

Schröder, 2012, S. 562. 2011, S. 236. Vgl. Gagné; Driscoll, 1989 nach Helmke 2009, S. 16. 2011, S. 220, sic. Vgl. dazu Schröder, 2019, S. 125. 2005, S. 298.

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des Kreuzes im Manga Hellsing1525, das ›Böse‹ zu bannen. Hieran kann auch die Symboldidaktik anknüpfen. Die Beschäftigung mit religiösen Symbolen und Sinnsystemen dient dabei nicht nur der formalen Bildung. Religionsunterricht hat die große Aufgabe, von Tradition und Lebenswelt einen Bogen zu gegenwärtigen oder zukünftigen/antizipierten Krisen zu spannen. Siemann erklärt, Religionsunterricht müsse auf die die Sinnfrage einschließenden Fragen der Kinder und Jugendlichen nach dem Leid und dem Bösen in der Welt, nach Tod und Sterben, nach Rel[igion], nach Gott eingehen, um ihnen gegenwartsbezogen sowie antizipatorisch Kompetenzen für Grenzerfahrungen zu vermitteln.1526

Denn in existenziellen Krisen habe die Seelsorge, der der Religionsunterricht tendenziell verbunden ist1527, einer Vergewisserung zu antworten, »die die Erfahrung der Verzweiflung überbietet.«1528 Wenn Versuche der Lebens- oder Leidensdeutung anhand der popkulturellen Medienwelten versagen, kann es für Jugendliche auch im späteren Leben hilfreich sein, im Besitz von Wissen anderer ihnen im Religionsunterricht vermittelter Sinnsysteme zu sein und beispielsweise einen Bezug zur lebensstiftenden Bedeutung von Taufe und Evangelium zu haben. Hier zeigt sich die theologische Verantwortung, in der Religionsunterricht stets erteilt werden sollte.1529 Die Thematisierung von Lebensdeutungen in Medienwelten kann auch zur individuellen Orientierung befähigen, hilfreiche und tragende Weltanschauungen von leeren oder destruktiven durch die Entwicklung eines kritischen Urteilsvermögens voneinander zu differenzieren (vgl. auch III 3.1).1530 Das Medium sollte eben auch nicht den Blick auf das zentrale Anliegen der Religionspädagogik verstellen: »Mediale Kommunikation des Evangeliums ist daraufhin zu prüfen, ob sie Kommunikation des Evangeliums hindert oder fördert.«1531 Unter Umständen kann die Arbeit mit Comics ebenso dabei helfen, sich auch der kirchlichen Tradition selbst anzunähern. Eine Auseinandersetzung mit dieser muss ergebnisoffen und tendenziell kritisch eingeleitet werden, um gerade männliche Schüler mitzuaktivieren, die besonders häufig kirchendistanziert auftreten (vgl. III 4.2.3). Hier zeigt sich eine Facette des gendersensiblen Religionsunterrichtes. Obenauer erklärt:

1525 1526 1527 1528 1529 1530 1531

1997–2008. 2008, 1340, Herv. d. A. Vgl. Schröder, 2012, 659f. Siemann, 2008, 1340. Vgl. Schröder, 2012, S. 562. Vgl. dazu ebd., S. 563. Ebd., S. 684, Herv. i. Org.

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Wo solch eine kritische Auseinandersetzung mit der Tradition im Religionsunterricht geführt wird, kann dies das Kirchenbild und das Verhältnis zur Kirche von Jungen und jungen Männern nachhaltig positiv prägen, ebenso wie umgekehrt jeder Versuch von Indoktrination das Verhältnis zur Kirche nachhaltig beschädigt.1532

Martin Engelbrecht, der daran mitgewirkt hat, dies empirisch zu belegen, bezeichnet diese Form der Auseinandersetzung ohne implizite inhaltliche Zielvorgabe sogar als »entscheidende Grundvoraussetzung für eine weitere Begegnung mit Kirche überhaupt.«1533 Zurückgeführt auf das Modell von Winter/ Neubauer könnte der Grund darin liegen, dass viele Jungen (und Mädchen) gerne Kritik an Gegenständen üben und ihre eigene Meinung teilen möchten (vgl. III 4.2.3).1534 Comicbiographien wie von Dietrich Bonhoeffer oder Martin Luther bieten die Möglichkeit, sich anhand ihrer mit kirchengeschichtlichen Aspekten auseinanderzusetzen, wobei Stetters Luther zum Beispiel auch auf das blutige Kapitel der Bauernkriege und die (Mit-)Schuld der Kirche eingeht. Aber auch in vielen anderen Comics, zum Beispiel Alice/Dorisons Das dritte Testament1535, das sich unter anderem um den Gegenstand der Inquisition dreht, werden Motive der kirchlichen Tradition wertend aufgegriffen und können in die Diskussion führen. Die Popkultur nähert sich kirchlichen Inhalten oft kritisch und Comics, gerade mit ihrem Hang zu subversiven Inhalten, stellen da keine Ausnahme dar (vgl. dazu I 2.5). Paradoxerweise stellt der im Unterricht geschaffene Freiraum zur Kritik an der kirchlichen Tradition aber gerade für Jungen den Nährboden dar, um sich (zumindest hypothetisch) mit evangelischen Inhalten auch etwas anzufreunden und offen für neue kirchliche Begegnungen zu sein. Es lässt sich zusammenfassen: Ein Gesamttrend in der postmodernen Gesellschaft lautet in Bezug auf Religion ›Ent-Traditionalisierung‹, was mit einem Monopolverlust der Kirchen, zunehmendem Verlust des Glaubens an einen persönlichen Gott und Rückgang des christlichen Grundwissens einhergeht.1536 Comics können dabei helfen, Kindern und Jugendlichen, die Kirche, Christentum oder Religion distanziert, kritisch, indifferent oder mit geringen Wissensbeständen gegenüberstehen, in ihren grundsätzlichen Anfragen an das Leben in den Religionsunterricht mit einzubeziehen. Da dies auf eine wachsende Zahl der Lernenden zutrifft, entfaltet die Suche nach neuen Aktivierungswegen für diese Gruppe eine zunehmende Dringlichkeit. Medienorientierter Religionsunterricht bietet eine Chance dafür und die Auswahl des populärkulturellen Mediums 1532 1533 1534 1535 1536

2014, S. 49. 2007, S. 159. Vgl. Obenauer, 2014, S. 29. 2002–2003. Vgl. Kunstmann, 2004, 254f.

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›Comic‹ orientiert sich an der Lebenswelt Jugendlicher. Religiöse Motive, Sinnund Tiefenstrukturen, die im Comic reichlich verhandelt sind, werden so von der außerschulischen Wirklichkeit ins Fach geholt und thematisiert, der Lebensbezug des Faches unmittelbar hergestellt. Im Transfer kann wiederum zu etablierten Sinnsystemen übergeleitet werden. Zusätzlich bieten viele Comics Impulse zu einer kritischen Auseinandersetzung mit der kirchlichen Tradition, was gerade kirchendistanzierte Jungen anspricht. Auf diese Weise kann die Comicdidaktik bei der Ansprache kirchendistanzierter und konfessionsloser Kinder in der medienorientierten Religionsdidaktik eingesetzt werden.

4.2.2 Muslimische Schüler berücksichtigen Der Islam spielt eine besondere Rolle an deutschen Schulen und auch im Religionsunterricht. Die islamische Religionspädagogik stellt einen immer wichtigeren Dialogpartner sowohl für die evangelische als auch für die römisch-katholische Religionspädagogik dar, da die Gruppe muslimischer Schüler inzwischen die größte unter den nicht-christlichen Denominationen darstellt.1537 Das gilt nicht nur in Stadtstaaten, sondern auch für Flächenländer wie SchleswigHolstein, wo der Anteil an muslimischen Bürgern etwa 5 % betrifft, was tatsächlich auch dem deutschen Durchschnitt entspricht.1538 Das bedeutet, dass in jeder Klasse durchschnittlich ein bis zwei muslimische Schülerinnen sitzen (wobei regionale und schulformbezogene Unterschiede bestehen). Muslime spielen nicht nur in der Schule, sondern (auch) in der postmigrantischen Gesellschaft insgesamt eine wachsende Rolle. Seit 2002 werden deshalb nach und nach muslimische Religionslehrerinnen in Deutschland ausgebildet und in den meisten Bundesländern haben sich Formen (wenn auch teilweise sehr unterschiedlich) von Islamischem Religionsunterricht etabliert, als Regelfach etwa auch in Niedersachsen. Islamischer Religionsunterricht bildet sich also zum Parallelfach zum evangelischen aus oder wird – wie in Hamburg – für alle und in Zukunft auch von ›allen‹ (oder zumindest mehreren) Religionen erteilt. Dieses Vorgehen gründet sich nicht nur auf friedenspädagogischen Überlegungen, sondern basiert bekanntermaßen auf dem Grundrecht auf religiöse Bildung, die nach dem vielzitierten Art. 7 Abs. 3 des Grundgesetzes allen muslimischen Kindern und Jugendlichen durch einen islamischen Religionsunterricht eröffnet

1537 Vgl. Schröder, 2012, 288, 364. Die jüdische Religionspädagogik stellt einen ebenso wichtigen Dialogpartner dar, jedoch hat jüdischer Religionsunterricht i. d. R. die kleinere Schülerzahl und jüdische Schülerinnen werden meistens in den konfessionellen Unterricht inkludiert oder zumindest integriert (vgl. Schröder, 2012, S. 367). 1538 Vgl. Pohl-Patalong, 2017, S. 219.

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werden muss1539. Derzeit aber gibt es noch keinen flächendeckenden Islamischen Religionsunterricht in allen Bundesländern, Schulen oder gar Stufen, so dass viele Kinder, für deren Identität der Islam eine Rolle spielt, in den Schülerreihen des Evangelischen Religionsunterrichtes sitzen – besonders dann, wenn es an Alternativfächern wie dem Ethikunterricht mangelt. Aber auch in Zukunft wird es hoffentlich noch muslimische Schülerinnen und Schüler im evangelischen Religionsunterricht geben – und umgekehrt! – und sei es etwa im Rahmen interreligiöser Projekte. Deshalb sollte sich die Frage stellen, inwiefern die religionspädagogische Comicdidaktik, die bis zu diesem Punkt vor allem aus evangelischer Perspektive betrachtet wurde, im multireligiösen, vor allem: im christlich-islamischen Unterricht wertvoll sein kann. Einige Gesichtspunkte in der Arbeit mit Comics sollten durchaus bedacht werden. Es lohnt sich, aus comicdidaktischer und religionspädagogischer Sicht Überlegungen anzustellen, beispielsweise um den Verdacht gegen das ›Bilderverbot‹ des Islams zu Zusammenhang mit Comics in der Schule zu durchdenken und um die Comicdidaktik erneut in den besonderen Fokus von Diversität in der Schule zu rücken. Auf Basis meines Erkenntnisstandes möchte ich auf einige nennenswerte Aspekte hinweisen. In Ermangelung empirischer Untersuchungen zum Thema – Forschungen zum Islam in Deutschland befassen sich laut Spielhaus immer weniger mit Religion und konzentrieren sich stattdessen auf Fragen der Migration1540 – können unter anderem die Erfahrungen des kanadisch-französischen Zeichners Guy Delisle verarbeitet werden, der im überwiegend muslimischen Palästina/Westjordanland an einigen Universitäten Workshops zur Comicgestaltung gehalten und seine Erlebnisse damit dokumentiert hat. Während er im Rahmen seiner Erzählungen fast keine expliziten Zusammenhänge zwischen Religion, Kultur und Comicaffinität herstellt, werde ich versuchen, auf einige sensible Aspekte hinzuweisen und seine Erfahrungen so exemplarisch zu deuten. Aufgrund der engen Verknüpfung der Faktoren ›Religion‹ und ›Kultur‹ lohnt es sich zudem, auch auf Muslime und andere Schüler hinzuweisen, die einen Migrationshintergrund haben. Wichtig ist dabei zu betonen, dass nicht alle Muslime einen nicht-deutschen Hintergrund haben und nicht alle Migranten auch Muslime sind. Die Gruppen sind mitnichten kongruent und Kinder mit Migrationshintergrund oder Migrationserfahrung sollten keinesfalls »muslimisiert« werden.1541 Dennoch sollen hier einige wichtige Bezugspunkte aufgezeigt werden – sogar auf die Gefahr hin, diese Verallgemeinerung zu stützen – da die

1539 Vgl. auch Naurath, 2017, S. 31. 1540 Vgl. Spielhaus, 2018, S. 136. 1541 Vgl. Karakasoglu, 2009, S. 186; Spielhaus, 2018, S. 131.

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Herkunftskultur von Musliminnen und anderen Schülern in Bezug auf das Potenzial der Comicdidaktik berücksichtigt werden muss. Muslimische Schüler in der Comicdidaktik berücksichtigen Die islamische Religionspädagogik bemüht sich in der Vertretung ihrer Schriftreligion um eine klare Vermittlung muslimischer Werte und muslimischer Theologie: »Der Islam versteht sich als gelehrte Religion; das Studieren des Koran und der Hadithe, die Haltung des Verstehen-Wollens gegenüber dem Wort der Offenbarung gehört konstitutiv zum Leitbild des gläubigen Muslim«.1542 Und so gibt es auch muslimische Comic-Künstlerinnen, wie die iranisch-französische Autorin Marjane Satrapi oder die deutsch-türkische Künstlerin tuffix (Soufeina Hamed), die durch ihre Comics Wissen vermitteln, ihr Bild vom Islam teilen und Vorurteilen begegnen wollen. Viele erfolgreiche muslimische Comics stellen (teilweise auch mit Humor) Werte des Islam oder Lehren des Korans bzw. der Hadithen in den Mittelpunkt und verfolgen damit eine gewisse didaktische Absicht, zum Beispiel die Salam Comics oder die Superhanallah-Reihe.1543 Muslimische Werte und muslimischer Glauben werden teilweise also auch in der Populärkultur verarbeitet und weitergeben – hin und wieder vielleicht auch als Antwort auf rassistische Tendenzen und Vereinfachungen, vor denen auch der Comic alles andere als gefeit ist.1544 Dennoch sind muslimische Comicschaffende gegenüber areligiösen, christlichen, und vor allem jüdischen Zeichnern, die eine besonders große Comictradition geschaffen haben, in Europa noch in der Minderheit.1545 Ein Grund dafür, warum sich die meisten muslimischen Autoren nicht gerade primär dem Comic als Ausdrucksmedium verschrieben haben, könnte in der islamisch-kulturellen Affinität dem Wort und weniger dem Bild gegenüber liegen. Auch das teilweise bedeutsame ›Bilderverbot‹ mag eine kleine Rolle spielen, so dass Comics in manchen Ländern eventuell im Vergleich zu anderen literarischen und Kunstformen weniger geschätzt werden (wenngleich der Zusammenhang, wie sich zeigen wird, nicht gerade evident ist). Obwohl der Koran keine ausdrücklich bilderfeindliche Doktrin enthält, legen sowohl sunnitische als auch schiitische Rechtsgelehrte Worte der Hadithen und bilderkritische Überliefe-

1542 Schröder, 2012, S. 387. 1543 Vgl. dazu auch Vakil; Vakil. Leider sind die Ergebnisse nicht immer nur positiv. So wurde 2017 von der türkischen Religionsbehörde DIYANET ein Comic veröffentlicht, der den Märtyrertod verherrlichend darstellt, ohne sich von Selbstmordattentäterinnen zu distanzieren, die ebenfalls angeben, als Märtyrer zu sterben. Das hatte in Deutschland sogar politische Folgen (vgl. Käsehage, 2017). 1544 Vgl. dazu auch Spielhaus, 2018, S. 133. 1545 Vgl. dazu bspw. Pohl, 2014 (a).

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rungen als tendenziell bilderfeindliche Verhaltensregeln aus.1546 Dabei gibt es freilich Unterschiede in den Regelungen. Allgemeine Folge ist aber die gängige Bilderlosigkeit von Moscheen, Koranausgaben und missionarischem Material, während die Ausdruckskraft der Schrift voll ausgeschöpft wird.1547 Am eindeutigsten und konsensfähigsten ist zweifelsohne die Weisung, Gott selbst nicht bildlich darzustellen – ein Gebot, das sich schon im Dekalog findet und deshalb alle drei abrahamitischen Religionen geprägt hat. In mehreren muslimischen Strömungen erstreckt sich diese Weisung auch auf den Propheten Mohammed oder zumindest auf dessen Gesicht, obwohl auch dies nicht direkt vom Koran angeordnet wird. Vermieden werden soll eine bildliche Verherrlichung, die zur Anbetung einer äußeren Fassade einladen könnte. Auch im Christentum geht es ja nicht um das Verbot bildlicher Darstellungen generell, sondern vielmehr um ihre Identifikation mit der letztgültigen Wirklichkeit.1548 Während manche Comic-Künstler sich dafür auf den Gebrauch von sprachlichen Bildern, Gedichten und Symbolen beschränken, um die »göttliche Wirklichkeit«1549 darzustellen, arbeiten andere durchaus mit bildlichen Personifizierungen Gottes und verzwecken ihn im gewissen Sinne für ihre Geschichte (vgl. III 2.1). Dies könnte (und sollte?) von Schülerinnen abrahamitischen Glaubens kritisch betrachten werden. In einigen wenigen, muslimischen Kontexten wird tatsächlich auch die Darstellung von Menschen und Tieren und all dem, das eine »theoretische Lebensfähigkeit« besitzt, abgelehnt – entgegen weit verbreiteter Annahmen unabhängig davon, ob die Darstellungen einen Schatten werfen.1550 Guy Delisle beschreibt beispielsweise, wie eine muslimische Kunststudentin in einem seiner Comicworkshops an der Al-Quds-Universität (Ost-Jerusalem) erklärt, ihre Religion verbiete es ihr, etwas Lebendiges bildlich darzustellen.1551 Auf die handlungs-/ produktionsorientierte Arbeit mit Comics könnte dies natürlich Auswirkungen haben. Dennoch ist das Verhältnis der islamischen Kultur zum Bild komplex und teilweise auch ambivalent: So sind menschliche Darstellungen auf Wandbildern oder Teppichen teilweise ebenso gestattet wie Abbildungen auf anderen Gegenständen profanen Gebrauchs, die nicht zur Anbetung anregen.1552 Dazu gehören wohl auch Comics. Zudem müssen Kulturen, die vom Islam (mit-)geprägt sind, natürlich differenziert betrachtet werden: So wirkt in der Kunst von Syrien, dem Irak und dem Iran eine alte, bilderfreundliche Tradition nach.1553 Denn bei 1546 1547 1548 1549 1550 1551 1552 1553

Vgl. Kreiser, 1992, S. 58. Vgl. ebd. Vgl. 2012, S. 163. Ebd. Vgl. Kreiser, 1992, S. 58. Vgl. Delisle, 2012, S. 278. Vgl. Tworuschka; Tworuschka, 2002, 39f. Vgl. ebd., S. 40.

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all den Tatsachen rund um das Bilderverbot muss bedacht werden, dass es den Islam ebenso wenig gibt wie das Christentum. Komplex wird die Lage unter anderem dadurch, dass viele Musliminnen in Deutschland einen Migrationshintergrund haben und die Herkunftskultur im Glauben eine nicht unerhebliche Rolle spielt, sodass sich etwa türkisch- oder bosnisch-sprachige Muslime entsprechend meist in separaten Moscheegemeinschaften organisieren.1554 Ebenso muss bedacht werden, dass der Islam (nicht nur im Westen!) ähnlich wie das Christentum und andere Religionen von einer Umformungskrise nicht unberührt geblieben ist: Vielmehr befinden sich die Gehalte und Ausdrucksformen der geschichtsträchtigen Schrift-Religionen selbst in einer tiefgreifenden Krise, insofern ihre Traditionen von einer kleiner werdenden Zahl an Zeitgenossen (selektiv) gepflegt, die formale Mitgliedschaft ihnen nicht selten aufgekündigt, vor allem aber ihre Inhalte und deren religionsgemeinschaftliche Explikation von den Mitgliedern selbst in Frage gestellt, individuell modifiziert oder abgelehnt werden.1555

Wie einzelne formal muslimisch sozialisierte Schüler denken, ist deshalb relativ schlecht vorhersehbar, weil auch sie von religionsbezogenen Individualisierungsprozessen betroffen sind – ebenso wie formal evangelisch getaufte Schülerinnen angeben können, keinen persönlichen Bezug zu Jesus zu haben und stattdessen an das Karma zu glauben. Nicht nur konfessionell unterschiedliche Ausbildungen, sondern eben auch synkretistische Tendenzen sind auch hier vorhanden und die Muslime in einer Klasse stellen in keiner Hinsicht eine heterogene Gruppe dar.1556 Auch Delisle bemerkt zu seiner Überraschung, dass die gleiche Präsentation, die in Nablus vielfach Befremdung ausgelöst hat, in einem kleineren Rahmen an der Al-Quds-Universität freundlich aufgenommen wird, obwohl die Gruppe offensichtlich ebenso muslimische Teilnehmerinnen enthält. Der Autor erzählt über die sechs Studentinnen: »Fünf von ihnen sind verschleiert, eine sogar vollständig (inklusive Handschuhe).«1557 Obwohl der Schleier – möglicherweise auch von ihm – allzu oft missverstanden wird, ergänzt Delisle: »Ich frage mich, ob die Reaktion dieselbe gewesen wäre mit Jungs im Publikum…« – und legt damit durchaus kulturelle Sensibilität an den Tag.1558 Wieder zeigt sich wie relevant es ist, Unterschiede von Lerngruppe zu Lerngruppe wahrzunehmen. In Bezug auf Bilder ist aber noch ein ganz anderer Hinweis angebracht: Manche Menschen stehen sexuell aufgeladenen Darstellungen in Comics ab1554 1555 1556 1557 1558

Vgl. Schröder, 2017, S. 308. Schröder, 2012, 2f. Vgl. dazu ebd., S. 382. Vgl. Delisle, 2012, S. 255. Vgl. ebd.

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lehnend gegenüber – und das sind nicht nur muslimische! Hier liegt ein Punkt, in dem sich Religion und Kultur besonders treffen. Guy Delisle drückt es bei einem Vortrag über seine Comics, die teilweise am Strand spielen und entsprechend bekleidete Menschen darstellen, folgendermaßen aus: »Während ich mich durch die Bilder klicke, wird mir plötzlich bewusst, dass die Geschichte für mein Publikum vielleicht nicht angebracht ist.«1559 Was in Paris niemanden gekümmert hatte, führte für ihn an der Universität von Nablus dazu, dass gut ein Drittel der Anwesenden unter Protesten den Raum verlässt.1560 Obwohl diese Erfahrung sicher nicht zu verallgemeinern ist, so weist sie doch auf die Relevanz der Lerngruppenanalyse hin. Es müssen in jedem Fall nicht nur religiöse Gründe sein, die Menschen zur Ablehnung zum Beispiel stark sexualisierter Frauenbilder bewegen.1561 Auch Schüler mit Migrations- und Fluchterfahrung, die nicht muslimisch sind, können aufgrund kultureller Erziehung/Sozialisation so denken – und nicht zuletzt auch Heranwachsende ohne jeden Migrationshintergrund. Denn etwa das Streben nach Emanzipation und Gleichheit der Geschlechter spielt nicht nur in allen Milieus eine Rolle, sondern zeigt sich auch unabhängig von der Religion jugendlicher Schülerinnen1562. Comics, in denen Frauenfiguren (und Männerfiguren) zu Objekten gemacht werden, sollten in der Schule ohnehin höchstens partiell eingesetzt werden, um Kritik daran zu üben. Schülerinnen mit Migrationserfahrung und -hintergrund im Unterricht mit Comics berücksichtigen Was sich trotz des vielfältigen Erscheinungsbildes des Islams immerhin mit einiger Sicherheit feststellen lässt, ist dass er in Deutschland kulturell nicht unwesentlich von der Türkei geprägt ist. Etwa 2,5 von den 4 Millionen Muslimen in Deutschland haben einen türkischen Familienhintergrund, teilweise schon in der dritten Generation.1563 Die Türkei selbst ist (nach eigenen Angaben) dabei zu etwa 20 % von Aleviten und zu 79 % von Sunniten bevölkert.1564 In Kreisen letzterer hat das Bilderverbot zwar Tradition, das verhältnismäßig säkulare Land hat aber durchaus eine feste Comicleserschaft. So wurden dort schon vor Jahr1559 2012, S. 212. 1560 Vgl. 2012, 212f. 1561 Und wenn doch, so sei darauf verwiesen, dass Kinder jeder Glaubensrichtung moralische Vorstellungen verinnerlicht haben. 1562 Vgl. Vieregge, 2009, S. 217. 1563 Vgl. Schröder, 2012, S. 178. Nicht zu vernachlässigen sind auch muslimische, geflüchtete Menschen in Deutschland mit ihren Herkunftsländern. Auch sie kommen zahlenmäßig jedoch nicht an die Tradition türkischer Kultur in Deutschland heran. 2009 hat die Deutsche Islam-Konferenz angegeben, jeder fünfte Muslimin Deutschland mit Migrationshintergrund sei als Flüchtling oder Asylsuchender ins Land gekommen (vgl. Vardar; Kuhl, 2009). Diese Zahl wird in den letzten Jahren zugenommen haben. 1564 Vgl. Schloßmacher, 2014.

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zehnten die fortlaufend erzählenden Nick Knatterton-Comicstrips des deutschen Künstlers Manfred Schmidt in der Zeitung veröffentlicht und fanden regen Anklang.1565 Eine ausgeprägte Comictradition wie etwa in Frankreich, Belgien oder Japan liegt wiederum auch nicht vor. Möglicherweise werden in Familien mit türkischem (oder mit anderem) Migrationshintergrund auch andere Comics rezipiert und präferiert als in anderen Familien. In jedem Falle sind muslimische und nicht-muslimische Schüler, genauso wie Schülerinnen mit und ohne Migrationshintergrund, von ähnlichen Medienwelten in Deutschland umgeben, die wenig Rücksicht auf Bilderverbote nehmen, sodass die Toleranz in der Regel sehr hoch ist. Mit Pirner kann man hinzufügen: »Sozialisation ist heute zu einem beträchtlichen Teil Mediensozialisation.«1566 Selbst bei Ablehnung von Unterrichtsgegenständen und -medien bleiben muslimische Schüler nur sehr selten dem Unterricht aus religiösen Gründen fern und der Religionsunterricht ist davon fast nie betroffen.1567 Stattdessen wählen viele muslimische Familien stattdessen den Ethik-/Philosophieunterricht. Wenn man von Herkunftskulturen und Religion spricht, ist für die Comicdidaktik ein weiterer Punkt bedenkenswert. Er sollte jedoch nicht pauschal verallgemeinert werden: Islamzugehörigkeit korreliert, wie dargestellt, teilweise mit einem Migrationshintergrund. Immerhin 50 % der Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland sind nach eigenen Angaben Muslime. Die kulturelle (Familien-)Geschichte hat zusammen mit der sozialen Herkunft aber wiederum Einfluss auf den Schulerfolg in Deutschland.1568 Ein Migrationshintergrund im Verbund mit mangelnder schulischer Förderung von Deutsch als Zweit- und Bildungssprache drängt Kinder und Jugendliche an deutschen Schulen häufig in die bildungsbezogene Risikogruppe. Historische Gegebenheiten und die Gründe, aus denen die Menschen und Familien migriert sind, spielen laut Vadar/Kuhl dabei oft ebenfalls eine Rolle1569. Tatsächlich ist das Herkunftsland oft ausschlaggebend. Die Schnittmenge der Menschen, die türkischstämmig und muslimisch sind, ist dabei nach Angaben des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge diejenige, die im Laufe der letzten Jahrzehnte am meisten in den Bildungsrückstand gedrängt wurde.1570 Nur Zugewanderte aus dem Nahen Osten und afrikanischen Ländern schneiden mit einem Anteil von 17 bzw. 15 % an

1565 1566 1567 1568

Vgl. Schmidt, 2012, unpag. 2012, S. 161. Vgl. Vardar; Kuhl, 2009. Vgl. dazu Helmke, 2009, S. 253. Es sei darauf hingewiesen, dass die soziale Herkunft, also unter anderem ihr kulturelles Kapital, von Schülern für ihren Bildungserfolg insgesamt sehr viel entscheidender ist als das Herkunftsland der Eltern (vgl. Helmke, 2009, S. 253). 1569 Vgl. Vardar; Kuhl, 2009. 1570 Vgl. ebd.

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Personen ohne Schulabschluss ähnlich risikoreich ab1571, was auch Auswirkungen auf die nachfolgenden Generationen in der Familie hat. Jungen sind von diesen Diskriminierungsstrukturen zudem oft stärker betroffen als Mädchen.1572 Diese Zusammenhänge lassen sich zwar nicht für jedes Kind verallgemeinern, sollten aber bei einer Abwägung auf Erfolg der comicdidaktischen Zugänge nicht völlig ausgespart werden. Denn betroffen können Lese- und bildungssprachliche Kompetenzen sein – Stellen, an denen der gezielte Einsatz von Comics theoretisch produktiv ansetzen könnte. Jedoch: in der postmigrantischen Gesellschaft können Wissensbestände, Wertschätzung und Rezeptionskompetenzen in Bezug auf Comics nicht überall als gleich vorausgesetzt werden. Das ist bedenkenswert, denn für den Ausgleich von bildungssprachlichen und Lesekompetenzen durch comicgestütztes Unterrichten braucht es auch entsprechende Rezeptionskompetenzen. Im Feld der Comicdidaktik müssen Kinder mit Migrationserfahrung (und ggf. auch -hintergrund) besonders in das Blickfeld gerückt werden, weil ihr Herkunftsland möglicherweise Folgen für die Rezeptionskompetenz und die Wertung von Comics hat – und damit theoretisch für den Erfolg des Ansatzes. Comics gehören in vielen Ländern und Milieus nicht im gleichen Maße zur Alltagswelt wie in Deutschland. Zum Comicrezeptionsverhalten in spezifisch muslimisch geprägten Kulturen oder Ländern wie Bosnien oder Peru gibt es aber keine öffentliche Datengrundlage. Es ist allerdings davon auszugehen, dass der Comic an sich auch aufgrund von partieller Ablehnung amerikanisch-westlicher Einflussnahme lange nicht überall gerne gesehen wurde und die bunten Hefte entsprechend nicht überall einfach verfügbar sind – zum Teil auch aus ökonomischen Gründen. In Bezug auf ›Graphic Novels‹ ist dies sicherlich noch stärker der Fall. Delisle gibt einen kleinen Einblick in kulturelle Zusammenhänge, wenn er beschreibt, wie die Gruppe an seinem Vortrag interessierter muslimischer Studentinnen an der AlQuds-Universität über so gut wie kein Wissen über Comics verfügt, während Studentinnen in Tel Aviv am nächsten Tag zahllose Comiczeichner aufzählen.1573 Inzwischen haben sich freilich auch in muslimischen Ländern zum Beispiel eigene (muslimische) Superheldinnen etabliert, wie die bereits erwähnten The 99 (von Naif Al-Mutawa, Kuwait) oder die Heldin ›Qahera‹ (Ägypten). Labels wie DC haben darauf reagiert und einige mit dem Islam assoziierte Figuren vorgestellt, etwa Bilal Asselah (verbunden mit Batman, New Earth) oder Kahina (assoziiert mit dem Prime Earth-Universum).1574 Trotzdem läge es im Bereich des Möglichen, dass Lernende aus vom Islam geprägten Ländern graphischer Lite1571 1572 1573 1574

Vgl. ebd. Vgl. ebd. Vgl. Delisle, 2012, 255, 257f. Vgl. zu muslimischen populärkulturellen und Superheldencomics auch Arjana, 2018; Lewis; Lund, 2017.

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ratur auch in der zweiten oder dritten Generation hier in Deutschland mit einem kritischen Urteil gegenüberstehen, ihr Familienhabitus deren Wertschätzung schlicht nicht vorsieht oder es Variationen in der Rezeptionskompetenz gibt. Und die Herkunftsfamilie ist immer noch der zentrale Ort der frühen (Comic-) Lesesozialisation, auch wenn Comics für Kinder überall leicht verfügbar sind. Da aber der Erwerb von Comicrezeptionskompetenz fast immer ungesteuert verläuft und nicht im Lehrplan der Schule verankert ist, kann eben bei keinem Kind ein Kompetenzstand vorausgesetzt werden. Zudem können comicbezogene Wissensbestände unterschiedlich geartet sein, was auch mit dem ökonomischen Kapital von Familien im Allgemeinen zusammenhängt. Man bedenke: Ein Lustiges Taschenbuch und ein neues Asterixheft haben einen ähnlichen Preis, das LTB hat jedoch den fünffachen Seitenumfang, was es bei begrenzten Ressourcen deutlich attraktiver machen sollte. Diese Überlegungen wirken zunächst vielleicht sehr theoretisch. Für die Praxis ließen sich einfache ›Kunstregeln‹ formulieren, ohne deren Beachtung das theoretische Konzept scheitern wird. So sollten Religionslehrerinnen, die enthusiastisch eine Unterrichtsreihe mit Comics/einem Comic starten wollen, vielleicht vorher – ganz unkompliziert – das Mädchen mit Fluchterfahrung, das erst seit sechs Monaten in Deutschland ist, ansprechen, ihr den Comic zeigen und sie fragen: »Hast du schon mal Comics gelesen?« Falls ja: »Was magst du für Comics – und welche nicht?« Falls nein: »Nimm dir diesen Comic doch einfach mit und versuche zu Hause und in Ruhe ein bisschen darin zu lesen. Dann sprechen wir darüber, wie das für dich war und wie du zurechtgekommen bist.« Eventuell auch: »Ich habe einige Comics mitgebracht, die für Anfänger besonders gut zu lesen sind.« Solange die Comic- und Migrationsforschung noch nicht miteinander kooperieren, schützt Sensibilität vor Frustration auf beiden Seiten und sorgt dafür, dass kein Kind ausgeschlossen und diskriminiert wird. Was also spräche dagegen? Chancen für die (comicdidaktische) Religionspädagogik Abschließend sei noch kurz auf die besonderen Chancen verweisen, die ein Religionsunterricht, der Menschen unterschiedlichen Glaubens (mit oder ohne den Einsazu von Sequenzieller Kunst) inkludiert, prinzipiell eröffnet. Natürlich ist hier die Chance für überkonfessionelles und interreligiöses Lernen offensichtlich, zum Beispiel wenn muslimische oder russisch-orthodoxe Kinder Teil der Lerngruppe sind1575. Auch wenn die gesamtgesellschaftliche religiöse Ent-Tra1575 Vgl. Sajak, 2012. Zur Erinnerung: »Interreligiöses Lernen zielt auf Kompetenzen, mit Hilfe derer Schülerinnen und Schüler die bewusste Wahrnehmung fremder Religionen einüben und sich mit der Andersartigkeit dieser produktiv auseinandersetzen lernen, sodass sie zu einem besseren Verständnis dieser gelangen können.« (Sajak, 2012, S. 228)

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ditionalisierung Einfluss auf viele Heranwachsende genpmmen hat, so sind deren Glauben und Einstellungen nicht minder wertvoll und interessant für andere. Wenn Religionspädagogen wie Rudolf Englert konstatieren, Jugendliche brächten heute kaum mehr eigene Erfahrungen im Umgang mit gelebter Religion in die Schule mit1576, dann beziehen sie sich allzu oft nur auf Kinder und Jugendliche mit deutschem, säkularem Elternhaus, ohne die multireligiöse Wirklichkeit an deutschen Schulen zu würdigen. Wenn muslimische Schüler eine religiöse Erziehung genossen haben, sind sie kirchenfernen Jugendlichen möglicherweise in den Symbolisierungskompetenzen, ja am Interesse an (anderen) weltanschaulichen Diskursen weit voraus. Sie können dann oft besser über ihre Religion berichten als formal evangelische Schülerinnen. Dazu kommt, dass gerade muslimische Mädchen die lebensbestimmende Bedeutung von Religion und Spiritualität erfahren.1577 Sie sind es auch, die sich am ehesten privat und im Freundeskreis über Religion austauschen, was ein gewisses Interesse (wenn nicht gar Freude) am Thema nahelegt.1578 Mit dem Gegenüber einer muslimischen Schülerschaft sieht sich die Religionsdidaktik deshalb womöglich weniger durch das heutige ›Relevanzproblem‹ (»Inwieweit ist Religion für heutige Kinder und Jugendliche überhaupt von Interesse?«1579) herausgefordert. Christlich-geprägte Gottesbilder in westlichen Comics können dann mit muslimischen verglichen und diskutiert werden. Von den Strukturanalogien von Superheldengeschichten und jüdisch-christlicher Erlösungshoffnung kann ein Bogen zu muslimischen und jüdischen Superheldinnen gespannt werden, um Gemeinsamkeiten der Religionen und universelle Werte in den Fokus des Unterrichts zu stellen. Die Vielfalt der ethnischen, regionalen und nationalen Herkunft beispielweise der muslimischen Bevölkerung kann den Diskurs weiter bereichern1580: Durch Schülerinnen mit und ohne Migrationshintergrund eröffnen sich Möglichkeiten für interkulturelles Lernen im Religionsunterricht. Natürlich sollten Lernende nie auf ihre Herkunft oder die ihrer Eltern reduziert werden, denn zuoft dient Migration als Label, mit dem mehr oder weniger subtil Ausgrenzungen geschaffen und legitimiert werden1581. Das Sprechen über kulturelle Unterschiede wird für den Religionsunterricht jedoch insgesamt immer wichtiger und authentische Stimmen sind nicht zu ersetzen. Hier können auch Schülerinnen partizipieren, die zum Beispiel aus tendenziell muslimischen Ländern kommen, sich dem Islam jedoch nicht zugehörig fühlen.

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Vgl. 2012, S. 250. Vgl. Knauth, 2011, S. 81. Vgl. ebd. Englert, 2012, S. 253. Vgl. Spielhaus, 2018, S. 139. Vgl. dazu auch ebd.

Vielfalt im Religionsunterricht adressieren

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Sollte man also unter Berücksichtigung der oben genannten Aspekte eine Empfehlung in Bezug auf comicbasierte Zugänge im multireligiösen Religionsunterricht aussprechen, so fällt diese im Großen und Ganzen positiv aus. Einige Punkte, die nebenbei bemerkt auch in anderen Religionen einen Rolle spielen, sollten Lehrende jedoch respektvoll beachten: Muslime, denen ihr Glaube sehr wichtig ist, lehnen in aller Regel eine bildliche Darstellung Gottes ab, weshalb Comics im Religionsunterricht einer entsprechenden Prüfung unterzogen und nur nach Abwägung eingesetzt werden sollten. Ähnliches gilt für Darstellungen Mohammeds. Extremere Auslegungen des Bilderverbots sind in Deutschland unwahrscheinlich, da Schüler tagtäglich bildlichen Darstellungen von Menschen und Tieren in Unterrichtsmedien oder auch sonst im Alltag ausgesetzt sind und gerade ein türkischer Hintergrund, der bei einem nicht geringen Teil deutscher Muslime vorkommt, derartige theologische Auslegungen nicht befördert. Dennoch sollte die Toleranz der Lerngruppe zum Beispiel in Bezug auf sexuelle Darstellungen vorher geprüft werden. Das Medium hat sich wie immer nach der Lerngruppe zu richten. Gerade, wenn der Islam selbst im Unterricht thematisiert wird, bietet es sich an, Comics muslimischer Künstlerinnen einzusetzen, um der Lerngruppe den Islam authentisch und theologisch korrekt näherzubringen – ein Anliegen, das schließlich auch viele muslimische Künstler teilen. Dies gilt auch in Bezug auf andere Glaubensrichtungen. Popkulturelle Erzeugnisse mit muslimischen Inhalten nehmen glücklicherweise tendenziell zu und sie können beispielsweise über das World Wide Web ausfindig gemacht werden. Ob es in Bezug auf die Comicrezeptionskompetenz in Deutschland Unterschiede zwischen Kindern mit deutschem oder deutsch-türkischem Hintergrund, oder auch Kindern mit christlichem/säkularem oder muslimischem Weltbild gibt, und inwiefern intersektionale oder additive Zusammenhänge vorliegen, ist unklar. Es ist jedoch möglich, dass Kindern mit Migrationshintergrund aus sozialen, ökonomischen und vielleicht sogar religiösen Gründen weniger und vor allem andere Comics von ihren Eltern zur Verfügung gestellt werden als Kindern mit deutschem Elternhaus. Die persönliche Comicbiographie von Lehrkräften und Forschenden sollte nicht einfach verallgemeinert werden. Da es aber hin und wieder eine Korrelation zwischen Islamzugehörigkeit und Migrationshintergrund gibt, die zuweilen in Risikogruppenzugehörigkeit mündet, sollte erwogen werden, gerade in Klassen, in denen die Kinder vielfältige Hintergründe vorweisen, mit Comics zu arbeiten, um spezifische Herkunftseffekte auszugleichen. Dazu eröffnen Muslime und Angehörige vieler Weltanschauungen im Religionsunterricht die Chance zum interreligiösen und ggf. auch interkulturellen Lernen, das anhand von Comics angeleitet oder angestoßen werden kann.

396

4.3

Comics als Chancengeber für die Heterogenität im Fach

Benachteiligte Gruppen wahrnehmen

Das Begriffsfeld rund um Heterogenität, Differenz, Diversität, Pluralität und (zuweilen) Pluralismusfähigkeit hat im Moment nicht nur in den Bildungswissenschaften, sondern auch in der Religionspädagogik Hochkonjunktur1582. Darüber, welche Faktoren über die Heterogenität in einer Lerngruppe bestimmen, besteht allerdings nicht immer Einigkeit. Es ist durchaus sinnvoll, hier auch die Pädagogik als Partnerwissenschaft heranzuziehen. Trautmann und Wischer unterscheiden zum Beispiel die individuelle kognitive Leistungsfähigkeit (Intelligenz, fachliche Leistung), die soziale Herkunft (Sozialschicht, Familienstruktur, Migrationshintergrund und religiöser Hintergrund) sowie Gender und Alter1583. Helmke verweist wiederholt auf das individuelle Vorwissen, das zu unterschiedlicher Kompetenzverteilung in der Klasse führt und über das Erreichen der Lernziele entscheiden kann1584. Grümme unterscheidet aus der Perspektive der Religionspädagogik zwischen kulturellen, sozialen, religiösen und politischen Verschiedenheiten.1585 Er versteht unter dem Heterogenitätsbegriff »Fragen sozial, kulturell oder auch kognitiv heterogener Lerngruppen oder Fragen der Migration, von Gender und Inklusion.«1586 Gleichzeitig verweist er auf eine gewisse Problematik: Bleibt es nicht mehr oder weniger zufällig, welche Dimension von Pluralität man hinzuzieht und unter den Begriff ›Heterogenität‹ subsumiert? Sind diese beliebig zu ergänzen? Stehen sie eher additiv zueinander? Oder gibt es eine innere Ordnung, eine Systematik, einen Rahmen, der diese Dimensionen ordnet? Es scheint weitgehend unbestimmt, wie sich die normative Bezugnahme darauf vollzieht.1587

Eine solche Ordnung, der man sich sowohl im Rahmen theoretischer als auch empirischer Forschung nähern könnte, kann und soll hier nicht geleistet werden. Vielmehr lohnt es sich vielleicht, auf ein gewisses Problem im Heterogenitätsdiskurs der Religionspädagogik hinzuweisen: Die Feststellung, dass Heterogenität im Klassenzimmer der Normalfall ist, wird allzu selten mit der Erkenntnis verbunden, dass die daraus resultierenden, individuellen Bildungschancen ebenso heterogen sein können. So ist die Kategorie der sozialen Herkunft mitnichten ›neutral‹, wenn man bedenkt, wie sehr sie den Bildungsweg und die daraus resultierenden Chancen Heranwachsender prägt. Zudem ist es für das Anliegen der Bildungsgerechtigkeit wichtig, nicht nur allgemeine Risikogruppen 1582 1583 1584 1585 1586 1587

Zur näheren Einordnung der Begriffe vgl. beispielsweise Grümme, 2017. Vgl. Trautmann; Wischer, 2011, S. 40. Vgl. Helmke, 2009, S. 252. 2017, S. 19. Ebd., S. 15. Ebd.

Benachteiligte Gruppen wahrnehmen

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zu identifizieren, sondern auch zu erforschen, ob es möglicherweise fächerspezifische Gruppen gibt, die dort mit Benachteiligungen zu kämpfen haben. So spielt der weltanschauliche Hintergrund der Kinder im Religionsunterricht eine völlig andere Rolle als zum Beispiel im Fach Mathematik. Es liegt nahe, dass sich hieraus Konsequenzen ergeben und auch diese Kategorie nicht unbedingt ›wertneutral‹ ist. Welche Schüler aufgrund spezifischer Merkmal in der Gefahr stehen, in der religiösen Bildung benachteiligt zu sein, weil sie zu wenig wahrgenommen werden, ist aber noch wenig erforscht. Möglicherweise ist es schon hilfreich, eine Sensibilität für Kategorien von Differenz und Heterogenität im Fach zu entwickeln, um im Unterrichtsgeschehen besonders achtsam im Anliegen zu sein, niemanden zurückzulassen. Dies darf natürlich nicht in ›Schubladendenken‹ resultieren, was allein schon dadurch erschwert wird, dass Menschen nie nur einer ›Kategorie‹ zugeordnet werden können und manche Faktoren für den Bildungserfolg tatsächlich wichtiger sind als andere (hier deutet sich also möglicherweise doch eine Systematik an). Sich näher mit den Merkmalen, den spezifischen Herausforderungen und Ressourcen bestimmter kultureller, sozialer, religiöser, kognitiver und Gender-Gruppen zu beschäftigen, kann aber hilfreich sein. Im Folgenden sollen einige Gruppen vorgestellt werden, die eine besondere Rolle im Religionsunterricht durch die dem Fach inhärenten Thematiken spielen und die möglicherweise (!) dadurch auch Benachteiligungen in Kauf nehmen müssen. Für jede Gruppe wird dann das spezifische Potenzial der Comicdidaktik zur stärkeren Integration der Gruppe und damit der Inklusion des Einzelnen beleuchtet, beginnend mit der wohl größten Gruppe: Jungen.

4.3.1 Jungen stärker aktivieren Es gibt Hinweise darauf, dass Jungen im Religionsunterricht nicht gleichermaßen angesprochen oder motiviert werden wie Mädchen – eine Tendenz, die auch schon für Schulleistungen insgesamt beschrieben worden ist und die sich deshalb im Fach doppelt niederschlägt. Obwohl es sich um keine dramatische Kluft handelt, so ist sie im Sinne eines Religionsunterrichtes, der im Geiste der Religionspädagogik der Vielfalt erteilt wird, nicht zu begrüßen. Die Gründe liegen eventuell in der Einstellung vieler Jungen zum Fach, jedoch verweist der Befund auch darauf, dass möglicherweise eine gewisse methodische Einseitigkeit im Religionsunterricht vorherrscht, die auch für heranwachsende Mädchen nicht vorteilhaft sein kann. Im Folgenden werden Möglichkeiten erforscht, wie im Religionsunterricht comicdidaktisch so gearbeitet werden kann, dass gerade auf

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männliche Interessen stärker Rücksicht genommen wird. Dafür wird unter anderem ein Modell Neubauers und Winters herangezogen.1588 Eine Problemlage? Seit einigen Jahren wird die Gruppe der Jungen tendenziell zu den schulischen Risikogruppen gezählt, da männliche Schüler statistisch gesehen etwas geringere Schulleistungen an den Tag legen als ihre weiblichen Mitschülerinnen.1589 Die Gründe dafür werden vielfach diskutiert und liegen möglicherweise unter anderem in einem zu den Mädchen divergierenden Grad der durchschnittlichen Lesekompetenz.1590 Diese ohnehin schon nicht unproblematische Lage verstärkt sich im Fach Religion. »Reli für Jungs ist schwierig«, zitiert der Autor Andreas Obenauer einen erfahrenen Religionslehrer und fasst damit die Tendenz zusammen, dass Religionslehrkräfte es oft als herausfordernd empfinden, Jungen in ihrem Unterricht aktiv und gezielt anzusprechen1591. Freilich sollte der Unterschied zwischen Jungen und Mädchen in Hinblick auf Schulleistungen und Unterrichtsfächer nicht überdramatisiert werden. Knauth erklärt: »Die Rede von den armen Jungen, die nun gegenüber den Mädchen benachteiligt sind, produziert ein drastisch vereinfachendes Bild von Jungen. Sie setzt die Kategorie ›Junge‹ bzw. ›Mädchen‹ als essenziell und konstruiert entlang dieser Kategorie die Unterschiede.«1592 Die Unterschiede zwischen Individuen sind sehr viel größer als die bloßen Gender-Unterschiede. Man bedenke: »Auch für die religionspädagogische Thematisierung der Perspektive von Jungen gilt […], dass sie das Interesse an Gleichberechtigung der Geschlechter mit dem Interesse an Anerkennung der individuellen Verschiedenheit verbindet.«1593 Zudem müssen auch additive und/oder intersektional wirkende Risikofaktoren mitgedacht werden. So kann die Kategorie ›Gender‹ niemals für sich alleine stehen, sondern befindet sich in einem steten Dialog mit anderen sozialen Strukturkategorien.1594 Die Bildungschancen zwischen Jungen und Mädchen mit verhältnismäßig hohem kulturellen Kapital unterscheidet sich beispielsweise weit weniger als die zwischen Jungen mit hohem oder niedrigem kulturellen Kapital.1595 Dazu kommt, dass auch Mädchen zuweilen strukturell benachteiligt werden. So überwiegt in

1588 1589 1590 1591 1592 1593 1594 1595

2001. Vgl. Struck, 2011, 9, 109; Obenauer, 2014, S. 16. Vgl. Lischeid, 2011, S. 115. 2014, S. 9. 2011, S. 75. Ebd., S. 73. Vgl. auch Packard; Rauscher; Sina; Thon; Wilde; Wildfeuer, 2019, S. 157. Vgl. Obenauer, 2014, S. 20.

Benachteiligte Gruppen wahrnehmen

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der Regel der männliche Redeanteil im Unterricht und Mädchen werden deutlich häufiger durch die Lehrperson oder ihre Mitschüler unterbrochen.1596 Jedoch: Gerade für den Religionsunterricht gibt es einige qualitative Studienergebnisse, die es nötig machen, die Gendergerechtigkeit im Fach zu hinterfragen. Obwohl keine repräsentativen empirischen Erkenntnisse darüber vorliegen, wie Jungen den Religionsunterricht als Fach ganz genau wahrnehmen und beschreiben, so gibt es doch zahlreiche Hinweise darauf, dass sie dem Fach nicht nur distanzierter gegenüberstehen als Mädchen, sondern auch mit spezifischen Hindernissen im Bereich des religiösen Lernens herausgefordert sind. Das ist im Sinne einer Pädagogik der Vielfalt, in deren größeren Zusammenhang sich die Genderdebatte einbetten lässt, problematisch.1597 Natürlich stellen die männlichen Schüler keine homogene Gruppe dar. Sie sind auch keine, wie Obenauer polemisch formuliert, »tendenziell unterentwickelten und bemitleidenswerten Menschen«.1598 Der Zweck einer defizitorientierten Jungenpädagogik muss deshalb zumindest in Zweifel gezogen werden.1599 Gendersensibilität im Religionsunterricht kann aber bedeuten, »gesellschaftliche Differenzen sensibel wahrzunehmen und Freiräume zur Verschiedenheit bei prinzipieller Chancengleichheit zu ermöglichen.«1600 Religionspädagogik soll wertschätzend und ressourcenorientiert arbeiten; bewährte Konzepte nicht über Bord geworfen, sondern der Unterricht um Elemente ergänzt werden, die Jungen stärker entgegenkommen, damit beiden Geschlechtern ein geeigneter Zugang zum Unterrichtsthema ermöglicht wird.1601 Mögliche Ursachen Der Grund für die (teilweise subtile) Benachteiligung von Jungen im Religionsunterricht könnte in zwei verschiedenen Richtungen liegen: Einerseits in inneren, emotionalen und kognitiven Hindernissen, die Jungen zu überwinden haben, andererseits in methodischen oder inhaltlichen Hindernissen, die im Religionsunterricht selbst liegen. Man kann aber davon ausgehen, dass hier Tendenzen vorliegen, die sich gegenseitig verstärken und miteinander zusammenhängen. Nach allem, was wir wissen, scheint die Einstellung vieler Jungen zum Religionsunterricht für die dortigen Lernprozesse nicht förderlich zu sein. Emotionale Haltungen können großen Einfluss auf den Lernerfolg haben, zum Beispiel in Form von intrinsischer Motivation. Viele Jungen scheinen größere innere Hindernisse überwinden zu müssen, wenn es um die klassischen Themenfelder 1596 1597 1598 1599 1600 1601

Vgl. Struck, 2011, S. 111. Vgl. Arzt; Jakobs; Knauth; Pithan, 2011, S. 10. 2014, S. 16. Vgl. ebd. Ebd., S. 20. Vgl. auch ebd., 16, 106.

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des Faches geht. Es gibt Hinweise darauf, dass Mädchen kulturellem Kapital in Form von Wissen über religiöse Gegenstände mehr Bedeutung zusprechen als ihre männlichen Mitschüler, was zum deutlichen Ansporn für Lernprozesse werden kann.1602 Dazu belegen Untersuchungen von Dan-Paul Jozsa, Thorsten Knauth und Wolfram Weiße zum Religionsunterricht und zu Religion bei Jugendlichen, dass Mädchen dem Glauben und Spiritualität oft eine höhere Alltagsrelevanz zuweisen, von sich aus häufiger über religiöse Fragen sprechen und auch eher religiöse Praktiken ausüben.1603 Knauth führt an, dass das Sprechen über religiöse Bezüge im Freundeskreis auch eher im Widerspruch zu den Codes der Jugendkultur steht (sprich: ›uncool‹ ist). Das gelte im besonderen Maße für Jungen, während Mädchen in diesem Bereich eine höhere Toleranz an den Tag legen. Deshalb werde das Fach Religion zuweilen als ›Mädchenfach‹ stigmatisiert.1604 Das kann auf Jungen leistungshemmend wirken. Auch Ziegler hat in seiner großangelegten Studie zu christologischen Vorstellungen Jugendlicher Hinweise darauf geliefert, dass Jungen und Mädchen Themen des Religionsunterrichts insgesamt gesehen sehr unterschiedlich wahrnehmen. Im signifikanten Unterschied zu ihren Klassenkameradinnen beten männliche Jugendlicher seltener, sie sind kirchenkritischer, distanzieren sich stärker von der Gestalt Jesu Christi und demonstrieren insgesamt, dass der Glaube in ihrem Leben eine geringere Rolle spielt.1605 Häufig scheinen ihre Zweifel am Transzendenten durch den scheinbaren Widerspruch zu naturwissenschaftlichen Aussagen herzurühren, dessen Überwindung zu groß erscheint.1606 Das weist möglicherweise auf mangelnde Symbolbildungs- bzw. Symbolisierungskompetenzförderung hin. Damit hätten Betroffene ein nicht unbeträchtliches kognitives Hindernis zu überwinden. Natürlich muss man bedenken, dass emotionale Hindernisse auch nicht von selbst entstehen, sondern Heranwachsende zum Beispiel von gesellschaftlichen Erwartungshaltungen geprägt werden. So legen nur wenig männliche (und auch weibliche) Vorbilder aus den Medien Interesse für Spiritualität an den Tag. Comichelden bilden in diesem Punkt übrigens keine Ausnahme. Der Grund für die tendenzielle Benachteiligung von Jungen im Fach Religion könnte allerdings auch auf einseitige didaktische Tendenzen im Fach zurückzuführen sein. Forscherinnen wie Obenauer oder Anna-Katharina Szagun machen eher die Methodik oder ästhetische Ansätze als die Inhalte selbst dafür verantwortlich, dass Jungen im Religionsunterricht weniger aktiviert werden.1607 1602 1603 1604 1605 1606 1607

Vgl. Vieregge, 2009, S. 217. Vgl. Jozsa; Knauth; Weiße, 2009. Vgl. Knauth, 2011, S. 81. Vgl. 2006, S. 350ff. Vgl. ebd., S. 368. Vgl. Obenauer, 2014, S. 51; Szagun, 2011, S. 176. Tatsächlich gibt Szagun an, keinen Unterschied zwischen Jungen und Mädchen in der Symbolisierungsfähigkeit ausmachen zu

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Obenauer weist zum Beispiel darauf hin, dass im gestaltenden Religionsunterricht der unteren Klassenstufen die Arbeit mit ästhetisch-ansprechendem und harmonischem Material in der Regel überwiegt und Aktivitäten wie das Ausmalen von Mandalas oder die Gestaltung von Kerzen die Fähigkeit zur Konzentration, Ruhe und Achtsamkeit fördern mögen – jedoch nicht alle Schüler großes Interesse für Ästhetisierungen hegen.1608 In Winters und Neubauers Modell von vielfach angegebenen Jungeninteressen werden tatsächlich auch viele Tätigkeiten genannt, die nicht unbedingt im klassischen Repertoire der Religionsdidaktik ihren Platz haben: zum Beispiel experimentieren, etwas erfinden, mit Technik umgehen, handwerklich arbeiten oder sich mit anderen messen.1609 Basteln oder Ausmalen wird nicht dazu gezählt. Lösungsvorschläge aus der comicgestützten Religionspädagogik Während man die Themenbereiche des Religionsunterrichtes nun nicht grundlegend verändern kann oder auch sollte, können didaktische oder methodische Ansätze problemlos abgewandelt werden, um die Lerngruppe, darunter gerade Jungen, neu anzusprechen. Insgesamt muss man sich bewusst machen, dass man Jungen für den Religionsunterricht möglicherweise am effektivsten motivieren könnte, wenn die Lernwege so gestaltet sind, dass sie für Jungen mit ihrem gelernten Rollenverständnis anschlussfähig sind.1610 Der Zusammenhang zwischen Interesse und Lernerfolg fällt für Jungen übrigens besonders hoch aus, sodass er unmöglich ausgeklammert werden kann.1611 Wenn man sich in diesem Bereich nur wenig stärker an den Interessen der Jungen einer Klasse orientiert, liegt es im Bereich des Möglichen, ihre Einstellung zum Fach leicht zu verändern und damit möglicherweise auch für die Inhalte weiter öffnen. Das methodisch-pädagogische Repertoire aus der Comicdidaktik bietet dafür einige Möglichkeiten. Die Einbindung von Comics in den Stundenverlauf oder in ein Thema könnte die Motivation von männlichen Jugendlichen in Bezug auf den Unterricht steigern, da sie (nicht nur) in der Sekundarstufe I nachgewiesenermaßen einen starken Bezug zum Medium haben (vgl. I 2.6). Comics kommen männlichen Interessen also medienstrukturell entgegen.1612 Knauth erläutert zudem die Notwendigkeit, Erfahrungen der Jungen in der religionspädagogi-

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können (vgl. 2011, S. 176). Dieser Befund wird allerdings nicht von anderen geteilt (vgl. bspw. Hanisch, 1996, 95f.; Tamminen, 1993, 185, 328, 244). Vgl. 2014, S. 52. 2001. Vgl. Obenauer, 2014, S. 27. Vgl. Hasselhorn; Gold, 2013, S. 106. Man bedenke allerdings, dass die Trennung zwischen Jungen- und Mädchencomics eine marktwirtschaftliche Realität ist.

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schen Arbeit mit ihnen aufzunehmen und zu verarbeiten.1613 Auch Medienbegegnungen und mediale Erfahrungen sollten dabei nicht vernachlässigt werden. Wo liegen nun die spezifischen thematischen Interessen möglichst vieler heranwachsender Jungen? Es ist naheliegend, jungengerechten Religionsunterricht so zu erteilen, dass er Jungen in ihrem sozialen, kulturellen und auch religiösen Konstruktionsprozess von Männlichkeit wahr- und ernstnimmt – ohne dass das Jungesein als festgesetzte Wesenseigenschaft verstanden wird.1614 Knauth erklärt: »Eine geschlechtergerechte Religionspädagogik sollte diese Vielfalt, Junge, aber auch Mädchen zu sein, im Blick behalten; sie sollte Jungen und Mädchen darin ermutigen und darin bestätigen, so sein zu können, wie sie sich selbst verstehen, inszenieren und entwerfen wollen.«1615 Benötigt wird also eine »Hermeneutik der Anerkennung«.1616 Eine konkrete Möglichkeit für die Jungenförderung setzt bei klassischen Stärken von Jungen an, an das, was sie oftmals gut können, was sie interessiert und motiviert, er fördert aber auch Fähigkeiten, die möglicherweise weniger gut ausgebildet sind.1617 Reinhard Winter und Gunter Neubauer haben ein besonders pragmatisches Modell erarbeitet, das solche typischen Jungen-Stärken sichtbar macht, ohne individuelle Unterschiede, Freiheiten oder Entwicklungen untergraben zu wollen.1618 Obenauer, der selbst mit dem Modell arbeitet, erklärt: »Zu beachten ist bei diesen Linien typischer Junge-Stärken und Jungen-Entwicklungsaufgaben, dass es sich hierbei um eine Wahrnehmungshilfe zur gezielten Förderung konkreter Jungen handelt, nicht um eine feste Zuschreibung von allgemein gültigen Jungen-Eigenschaften.«1619 Es ist vielmehr ein dynamischer Katalog von Stärken, in denen sich auch Menschen im Allgemeinen wiederfinden können. Anhand dieser sollen einige Möglichkeiten dargestellt werden, wie durch die Arbeit mit Comics eine stärkere Aktivierung von Jungen (und Mädchen) mit diesen Interessen und Stärken im Unterricht realisiert werden kann: im ersten Schritt methodisch, im zweiten Schritt inhaltlich. Die von Winter und Neubauer genannten Stärken und Neigungen sind im Folgenden kursiv markiert. Es gilt immer: »Jungen sollen als Jungen wahrgenommen werden, man muss sie aber auch nicht auf ihr Junge-Sein reduzieren.«1620

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2011, S. 89. Vgl. dazu ebd., S. 82. 2011, S. 83. 2011, S. 84. Vgl. Obenauer, 2014, S. 28. Vgl. v. a. Winter; Neubauer, 2001, S. 33ff. 2014, S. 30. Knauth, 2011, S. 82.

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Methodische Zugänge Von der methodischen Perspektive aus eignen sich Ansätze aus der Comicdidaktik vor allem im Duett mit handlungs- und produktionsorientierten Aufgaben, weil diese grundsätzlich dem Interesse von Jungen entgegenkommt, aktiv etwas zu tun. Dies ist generell im Sinne von Motivationspsychologen, denn: »instruction should involve more active and student-centered activities«.1621 Durch kreative Aufgaben, in denen keine klassischen Texte verfasst werden sollen, stellt man sich auch dem Vorwurf, der hinter vorgehaltener Hand hin und wieder geäußert werden mag, Religion sei nur ein ›Laberfach‹, in dem also nur sprachlich-gedankliche Anteile und keine praktischen Tätigkeiten mit klaren Ergebnissen wertgeschätzt werden. Aufgaben, die einen körperlichen Aktivierungseffekt haben, wie Comics zu einem vorgegebenen Thema zu zeichnen, gibt Mädchen und Jungen die Möglichkeit, etwas Praktisches mit einem klaren Endprodukt anzugehen. Comics im Unterricht zu produzieren ist ein methodischer Weg, der nachgewiesenermaßen Mädchen und Jungen im gleichen Maße anspricht.1622 Allerdings sollte der Horizont in diesem Bereich möglichst weit geöffnet werden, weil nicht alle Schüler eine Affinität zum Zeichnen von (ästhetisch-ansprechenden) Bildern besitzen. In der Rostocker Langzeitstudie zu Gottesvorstellungen von Jungen und Mädchen hat Szagun herausgearbeitet, dass die Geschlechter tendenziell unterschiedliche Bilder, Materialien und Farben verwenden, um über Gott zu sprechen bzw. Gottesbilder auszudrücken.1623 Während Mädchen eher ästhetisch ansprechende, fließende und harmonische Materialien und Farben auswählen (wie Seidentücher oder bunte Federn), greifen Jungen auch nach rauer Rinde oder abgeschliffenen Glasscherben. Szagun appelliert: »Brauchen wir – um der Interessen von Jungs, aber auch um der Inhalte wegen – nicht dringlich solche Zugänge und Verarbeitungsformen, die auch Raum geben, das Dunkle, Sperrige und Brüchige von Leben und Glauben auszudrücken?«1624 Ihre Argumentation ist plausibel und in der Konsequenz für die comicdidaktische Religionspädagogik ergibt sich daraus der Anspruch, in kreativen Zugangsformen nicht immer nach Ergebnissen von Harmonie und Ästhetik zu streben, sondern auch gezielt zu Produkten zu ermutigen, die »Raum bieten […] für die symbolische Darstellung von Konflikten, von energiegeladenen Inhalten, von Unordnung, Wettkampf und Dynamik.«1625 Im Gestalten ihrer Werke sollten Schüler ein gestärktes Autonomiegefühl wahrnehmen, denn eine zu hohe Kontrolle kann Gift für das Lerninteresse darstellen.1626 Ferner wäre es 1621 1622 1623 1624 1625 1626

Schiefele, 1991, S. 318; vgl. dazu auch Weiss, 1990. Vgl. Maliszewski, 2013, S. 233. Szagun, 2011. 2011, S. 176. Obenauer, 2014, S. 52. Vgl. Bucher, 2019, S. 45.

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positiv, Lernenden die Gelegenheit zu bieten, auch einmal handwerklich oder technisch zu arbeiten.1627 Das erscheint in Hinblick auf Comics nicht immer einfach, ist aber möglich: So finden sich online verschiedene ›Comic-CreatorSeiten‹, mit deren Hilfe unkompliziert und auch bei angeblich fehlendem zeichnerischen Talent eigene Comics erstellt werden können, sodass ein technisch-digitaler Aspekt den Religionsunterricht an dieser Stelle bereichert (vgl. II 3.2.2.1).1628 Auch Mischformen aus digitalen und analogen Verfahren sollten in Erwägung gezogen werden. Analog produzierte Comics dürfen auch Collagen sein, dunkle Farben können dominieren, der Untergrund muss nicht immer klares, weißes Blancopapier sein, sondern auch schwarzer Karton, Zeitungspapier u.v.m. Wenn die Schülerinnen dabei zum Beispiel biblische Perikopen medial transformieren sollen, dann sollten auch diese entsprechend sensibel gewählt werden: Es bieten sich jene Erzählungen an (wie Ex 14, 1. Kön 16, Mk 4, 35ff.), deren Handlungen nicht nur Dialoge umfassen, sondern die in der Comicausgestaltung auch Raum für spannende Handlungen und ›Action‹ lassen. Hier können Jungen (und Mädchen) an Comics anknüpfen, die sie bereits kennen und mögen, wie Abenteuer- und Superheldencomics, die zum Teil sehr expressiv mit starken Bewegungslinien oder Soundwörtern arbeiten. Gleichzeitig muss bei all dem in gewisser Hinsicht zweigleisig gefahren werden: Künstlerisches Gestalten sollte Heranwachsenden einerseits die Möglichkeiten bieten, ihre ästhetischen Vorlieben zu verfolgen, auch wenn diese geschlechtsstereotype Merkmale aufweisen sollten. Denn, so fasst Gärtner kunstpädagogische Studien zusammen: »Mädchen zeichnen, malen und gestalten anderes und anders als Jungen.«1629 Andererseits sollten immer auch didaktische Räume geschaffen werden, in denen Heranwachsende mit gesellschaftlichen Erwartungshaltungen brechen, ihre Genderrollen variieren und individuelle Genderidentitäten entwickeln können.1630 Es lohnt sich, dafür auch in der Rezeption Comicwerke zu wählen, die leichten ›Gender Trouble‹ hervorrufen, also zum Nachdenken über Geschlechtsstereotypen und -identitäten anregen.1631 Insgesamt sollte produktivcomicdidaktischer Unterricht neue Wege erschließen und ergebnisoffen sein, denn weitere klassische Stärken und Neigungen männlich sozialisierter Jugendlicher sind zum Beispiel etwas erfinden und/oder konstruieren, etwas riskieren und experimentieren (es kann ruhig sehr expressiv sein!), handwerklich arbeiten und mit Technik umgehen (Obenauer schlägt tatsächlich Foto-Comics vor, um technische Methoden einzubinden1632), etwas allein schaffen und Dinge 1627 1628 1629 1630 1631 1632

Vgl. Obenauer, 2014, S. 52. Vgl. dazu Elsner; Ludwig, 2014; Engel, 2011. 2014 (b), S. 64. Vgl. Malaka, 2009, S. 177. Vgl. Gärtner, 2014 (b), 65f. Vgl. 2014, S. 73.

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spielerisch angehen. Schließlich kommen manche Comicaufgaben Jungen (und Mädchen) in dem Wunsch entgegen, ›cool zu sein‹, also ihre Gefühle eher für sich zu behalten, denn: »Es bieten sich […] Zugangswege an, die den Jungen Schutzräume bieten, um sich zu äußern, und die Gefühle von Peinlichkeit vermeiden. Dazu zählen Methoden, die es ermöglichen, eigene Gedanken und Empfindungen Dritten in den Mund zu legen.«1633 Sprech- und Gedankenblasen in gezeichneten Comics sind dafür (wie) geschaffen. Außerdem können derartige Aufgaben der Affinität Heranwachsender entgegenkommen, sich in Szene zu setzen, wenn alle Ergebnisse abschließend gewürdigt werden. Obwohl dies bei einigen Religionspädagogen Unbehagen hervorrufen könnte, so sei nochmals erwähnt, dass Jungen (und Mädchen) sich zuweilen gerne mit anderen messen. Es kann deshalb unter Umständen gerechtfertigt sein, unter den Ergebnissen das (unter einem bestimmten Aspekt) Beste wählen zu lassen oder auch sich an ausgeschriebenen Wettbewerben zu beteiligen. Dies kann zum pädagogischen Ziel des ›Produktstolzes‹ führen, wie es in Fächern wie Bildende Kunst oder Informatik tatsächlich angestrebt wird. Bitz verweist darauf, dass die Comicproduktion auch zu einem »Ventil für die Selbstdarstellung« von Jungen und Mädchen werden kann.1634 In dieser Hinsicht ist es sinnvoll zu erwähnen, dass Schreibprozesse für viele Jungen vor allem dann willig in Angriff genommen werden, wenn das Ergebnis ein Ziel, also eine authentische Leserschaft hat. Merisuo-Storm kommt beispielsweise zu dem Schluss: »writing without a purpose does not interest boys«.1635 Das gleiche gilt für die Produktion von Comics, was also nicht unerheblich für motivationale Bezüge ist. Die meisten Studien, die positive pädagogische Effekte in der Comicproduktion nachgewiesen haben, betonen zudem, wie wichtig es ist, dass die Schüler über Themen schreiben, die für sie von persönlicher Bedeutung sind. Bitz erklärt zum Beispiel: »[T]he comics represent their ideas, identities, fears, and dreams for the future. […] They find their voices […] by developing and defining originals stories about themselves, their schools, as the surrounding communities.«1636 Was man »authenticity and true reflection of life experiences« nennen kann, ist dabei für die männlichen Künstler besonders bedeutsam.1637 Aus dieser Perspektive sollte gerade älteren Schülerinnen und Schülern im Religionsunterricht größtmögliche Freiheit gelassen werden, wenn sie sich zum Beispiel im Rahmen von Themen wie ›Theodizee‹ oder ›Sterben und Tod‹ durch Comics persönlichen Ausdruck verschaffen können. Das handlungsorientierte und kreative Methodenrepertoire fördert übrigens auch Fähigkeiten, die eher nicht zu den traditionellen Jungenstärken 1633 1634 1635 1636 1637

Ebd., S. 46. 2010, S. 88; vgl. Prechtl, 2013 (b), S. 11. 2006, S. 124. 2010, 23, 42. Maliszewski, 2013, S. 235.

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zählen, zum Beispiel, sich auszudrücken, empathisch zu sein und sich im Zuge einer Gruppenarbeit in eine Gemeinschaft einzuordnen (vgl. II 4.3). Dazu kommt, dass Symbolisierungskompetenzen, die für den Aufbau anspruchsvollerer religiöser Bezüge notwendig sind, unter entsprechender Anleitung auch anhand von Comics in Grundzügen erworben und gefördert werden können, etwa indem über Hintergrundfarben und ihre Bedeutung für die Handlung diskutiert wird (vgl. auch III 3). Inhaltliche Zugänge Auch inhaltlich kann der Einsatz mit Comics möglicherweise den Interessen vieler Jungen (und Mädchen) entgegenkommen. Zum Beispiel kann der Affinität, Grenzen auszutesten, mit Comicgeschichten begegnet werden, die von Lebensgeschichten mit Grenzerfahrungen erzählen. Obenauer schlägt dazu die Auseinandersetzung mit Männergestalten aus der Bibel und Kirchengeschichte vor: »An die Grenze gehen und sich herausfordern lassen ist eine klassische Stärke von Jungen. Sie kann im Religionsunterricht immer dort zur Geltung kommen, wo Grenzerfahrungen thematisiert und Menschen vorgestellt werden, die Herausforderungen angehen.«1638 Diese hätten zudem Eigenschaften, die heute als typisch männlich gelten, aber auch solche, die anders angelegt sind, sodass sie zur Reflexion männlicher Ideale anregen.1639 Derartige Geschichten finden sich heute auch in hochwertiger graphischer Form, wie Stetters Comicbiographie Bonhoeffer. Sie regen dazu an, Kritik zu üben, zum Beispiel an der kirchlichen Tradition. Damit kann die religionspädagogische Comicdidaktik an die konstruktivistisch-kritische Religionsdidaktik anknüpfen, für die »Selbstkritik der eigenen Tradition« zum Kernbestand gehört.1640 Es gilt, Ansatzpunkte und Momente bei Jungen aufzuspüren, an die man religionspädagogisch positiv und konstruktiv anknüpfen kann. Andere klassische Jungeninteressen liegen darin, Kraft und Energie einzusetzen, für das Gute zu kämpfen bzw. ein Held zu sein, etwas zu riskieren und sich körperlich zu verausgaben. Diese Bereiche werden weniger in ›traditionellen‹ Bibelcomics widergespiegelt als in Abenteuer-, Action-, und Superheldengeschichten, deren Einbezug und Reflexion deshalb definitiv erwogen werden sollte. Auch Shonen-Mangas, die sich traditionell an Jungen richten, warten in

1638 2014, S. 49. 1639 Vgl. ebd., S. 33. 1640 Lämmermann, 2012, S. 30. Inwiefern im Religionsunterricht noch Kritik an der eigenen Tradition geübt werden kann, wenn der größte Schüleranteil sich gar nicht mehr irgendeiner Tradition zugehörig fühlt oder solides Wissen darüber besitzt, beantworten Autoren wie Lämmermann nicht. Zumindest der Begriff demütig-bescheidender »Selbstkritik« müsste damit aber passé sein. Das nur als allgemeine Anmerkung zum Konzept.

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der Regel mit aus einer ausgeprägt handlungsbetonten Handlung auf.1641 Das Werk Helden der Bibel von Siku, Anderson und Thomas ist einer der wenigen Comics, die eine Brücke zwischen farbenfroher, sprühender Popkultur und traditionellen Bibelcomics schlagen. Das Werk ist m. E. eine richtiggehende Innovation. Aber auch viele klassische Comichelden sind zudem der Inbegriff des ›Cool-Seins‹, wie zum Beispiel der raue Corto Maltese oder immer souveräne Lucky Luke. Erfolgreich sind Figuren, mit denen sich Jungen (und Mädchen) gerne identifizieren.1642 Es verwundert darum wenig, dass das Superheldengenre gerade bei männlichen Heranwachsenden beliebt ist1643. Zeitgenössische (Super-) Helden zeigen abrt auch geradezu programmatisch immer wieder ›Schwäche‹ und fördern die gedanklichen Leistungen, Grenzen zu akzeptieren und Schwächen einzugestehen, womit einige Jungen (und Mädchen) Schwierigkeiten haben. In der religionspädagogischen Jungenarbeit wird vielfach die Auseinandersetzung mit traditionellen Männlichkeitsbildern angestrebt, während gleichzeitig nach alternativen Formen von ›Männlichkeit‹ gesucht wird1644. Dafür sind Abenteuer- und Heldencomics sicherlich ideal – gerade deshalb, weil sich in ihnen vielfach auch Inszenierungen einer normativen Männlichkeit und Genderstereotype finden, die dringend kritisch reflektiert werden sollten. Es gibt keinen Grund, Jungen und Mädchen nicht neue Möglichkeiten der Genderidentität zu eröffnen, die starren, binären Codes widersprechen.1645 Diese drücken sich auch in der kategorialen Zuweisung von Religion als ›Mädchenfach‹ aus. Auch im Manga finden sich oft Ansätze binärer Oppositionsbildungen. Die männlichen Charaktere im Shonen-Manga durchleben zwar innere Reifungsprozesse, dafür müssen sie jedoch häufig zuerst äußere Herausforderungen bewältigen ( je nach Genrekonvention etwa im Kampf gegen Monster oder auch im Sport).1646 Einer der derzeit beliebtesten Comichelden im Westen ist ohne Zweifel die Figur Batman. Gerade seine traumatische Origin-Story wird transmedial immer wieder in Film-, Serien- oder Comicform verarbeitet (vgl. auch III 2.1.1). Der junge Bruce Wayne/Batman erlebt als Kind mit, wie seine Eltern bei einem Raubüberfall auf der Straße vor seinen Augen erschossen werden. Dieses zutiefst traumatische Ereignis führt dazu, dass er sich dem Kampf gegen das Verbrechen in der Stadt verschreibt. Batmans Geschichte vereint Momente der Verletzlichkeit und der Stärke und handelt auch davon, wie Angst und Unsi1641 Vgl. Packard; Rauscher; Sina; Thon; Wilde; Wildfeuer, 2019, S. 202. 1642 Vgl. dazu auch ebd. 1643 Vgl. Gruner + Jahr; Blue Ocean Entertainment AG; Egmont Ehapa Media GmbH; Panini Verlags GmbH; SPIEGEL-Verlag; ZEIT-Verlag, 2018, S. 66. 1644 Vgl. Knauth, 2011, S. 82. 1645 Vgl. Butler, 1991, S. 213;, zit. nach Packard; Rauscher; Sina; Thon; Wilde; Wildfeuer, 2019, S. 155. 1646 Vgl. Packard; Rauscher; Sina; Thon; Wilde; Wildfeuer, 2019, S. 202.

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cherheit beim Aufwachsen immer wieder überwunden werden müssen. Der Podcast-Host Eric Molinsky, stellt in einer Folge seiner Serie ›Imaginary Worlds‹ eine Theorie darüber auf, warum die Figur gerade für Heranwachsende eine so große Bedeutung haben kann: I realized why I became so fixated on Batman when I was in high school and college. At that time I was a really moody, self-absorbed, even self-pittying teenage-boy. And I really wanted to turn myself into a responsible, self-sufficient man. But I had no clue how to do that. And I think Bruce Wayne was an inspiration to me. I mean to be honest: He still is.1647

Batman ist mit Sicherheit Identifikationsfigur und Vorbild für viele Heranwachsende. Da er sich in der Regel in einem stark männlich dominierten Umfeld bewegt, liegt es nahe anzunehmen, dass gerade Jungen und Männer sich zu ihm hingezogen fühlen. Eine Figur, die Angst und Trauer in eine Art der Selbstperfektion überführt, »playing by his own rules«1648, kann als Vorlage für die Auseinandersetzung mit der eigenen Identität und Zukunftswünschen dienen. Batmancomics müssen dabei nicht nur für die Jungenarbeit genutzt werden, sondern können für Mädchen ebenso interessant sein. Nebenbei verhandeln sie Themen wie ›Erlösung‹, ›Sünde‹, ›Theodizee‹ und Fragen der Ethik (zum Beispiel in Hinsicht auf Batmans relativ selbstbezogenen, kindlichen Racheschwur und die daraus resultierende Gewalt). Im gewissen Sinne könnten besonders die Lernenden eine Affinität gegenüber der Figur des Batman an den Tag legen, die kirchenfern geprägt sind – und statistisch gesehen offenbaren sich besonders die Jungen als solche Zweifler. Denn im Gegensatz etwa zum Helden Superman ist der Protagonist hier in einem gewissen Rahmen noch realistisch: Es ist ein Mensch, der hier diese Heldentaten vollbringt; ein Glaube an etwas Übernatürliches – wie die Fähigkeiten Supermans – sind nicht unbedingt vonnöten. Robertson erklärt das ungleiche Paar: Batman »is not the one who soars down from the heavens, but rather the one who rises up from among all-too-human people.« Superman hingegen ist immer der Retter aus einer anderen Sphäre: »The bold red ›S‹ on his chest might well stand for ›Savior‹ for that is how he is defined, as the one from the stars who comes to save.«1649 (vgl. Auch III 2.1.1) Robertson erklärt Batman deshalb zum »perfect counterpart to Superman«.1650 Dieser Gegensatz könnte auch didaktisch genutzt werden. Man könnte sagen, dass die Gestalt des Batman in gewisser Hinsicht ein Symbol für den Wunsch des postmodernen Menschen ist, sich selbst zu erlösen und zu verwirklich, ohne sich dafür auf Himmlisches zu verlassen. 1647 1648 1649 1650

Eric Molinsky, 2015. Robertson, 2008, S. 57. 2008, S. 61. 2008, S. 53.

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Einige Punkte müssen in der Arbeit mit Comics im Religionsunterricht in jedem Falle bedacht werden: Die comicdidaktische Religionspädagogik kann gerade Lehrenden ein Instrument sein, die sich mit der gezielten Ansprache heranwachsender Jungen sonst schwertun. Sie führt jedoch nicht automatisch zu einem genderbewussten Paradigmenwechsel des Faches im praktischen Sinne und sollte in jedem Falle nur ein Instrument unter vielen sein. In der Religionspädagogik gibt es zudem mittlerweile eine Fülle verschiedener Ansätze zur Jungenarbeit und -förderung, wie erfahrungsproduzierende Auseinandersetzungen, für die die Arbeit mit Comics eher gering anschlussfähig ist.1651 Und auch Comics sprechen nicht automatisch alle Jungen an – der Erfolg ist abhängig vom individuellen Comic, der Methodik im Unterricht und von den Präferenzen der individuellen Lernenden. Dazu kommt, dass in einem koedukativen Unterricht unbedingt Comics ausgewählt werden sollten, die auch für Mädchen ansprechend sind. Dies ist besonders wichtig, da es (zumindest im Westen) immer noch um ein tendenziell männlich-geprägtes Medium geht: Nicht nur männliche Comiczeichner, -autoren, -verkäufer und -experten überwiegen in der Tendenz, sondern auch männliche Rezipienten.1652 Es wurde bereits erklärt, dass sich die Gründe dafür vor allem in historischen, gesellschaftlichen Strukturen und marktwissenschaftlichen Einflüssen finden, die zudem noch reproduziert werden (vgl. I 2.6). Gleichzeitig drängt aber der Manga immer stärker auf den deutschen Markt, bei dem zurzeit weibliche Leserinnen die größte Kaufkraft darstellen. Auch ›Graphic Novel‹ von Frauen gewinnen an Bedeutung. Hier schlägt der Zeiger in die andere Richtung aus. Bei der Auswahl des Comics zu Unterrichtszwecken ist also Gendersensibilität gefragt, vor allem in Blick auf die Prüfung der Charaktere und der jeweiligen Weiblichkeits-/Männlichkeitsrepräsentation im Werk. Inklusive Ansätze müssen eben, so gut es geht, alle mit einbeziehen oder eben speziell individualisierend eingesetzt werden. Es ist jedoch auch denkbar, mithilfe von Comics binnendifferenzierenden/individualisierenden Unterricht zu gestalten, also zum Beispiel zwei Comics mit je einem männlichen und einer weiblichen handlungstragenden Figur einzusetzen, die frei gewählt und anhand derer Inhalte erarbeitet werden können. Auch im Plenum können beide in den Unterricht einfließen. Wichtig ist danach der Austausch über die Ergebnisse und ebenso deren Sicherung. Es lässt sich zusammenfassen: Viele Jungen empfinden eine gewisse Distanz zu Themen des Religionsunterrichtes und müssten im Sinne eines gendersensibleren Unterrichts stärker durch bestimmte didaktische Ansätze und Methoden angesprochen werden. Comicdidaktische Zugänge können besonders durch die Anpassung des Lernmediums und im Verbund mit handlungsorientierten 1651 Vgl. Knauth, 2011, S. 89. 1652 Vgl. Ostertag, 2012, S. 179.

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Methoden dazu dienen, ›typische‹ Jungenstärken und männliche Interessen gezielt anzusprechen und gleichzeitig auch andere Bereiche zu fördern. Wichtig ist es dabei, nicht immer nur ›schöne‹ und ästhetisch-einseitige Produkte anzustreben. Auch inhaltlich können Comicgeschichten an Themen anknüpfen, die besonders für Jungen von Interesse sein könnten, wie dem Gegenstand der Grenzerfahrung oder der Dichotomie von Stärke und Verletzlichkeit, wie sie in vielen Superheldencomics und Comicbiographien vorkommt. Beim Streben nach Gendergerechtigkeit sollte die Auswahl der Comics jedoch immer sensibel getroffen werden, insbesondere um Comics zu vermeiden, die vereinfachte Genderstereotype portraitieren oder Mädchen zu wenig Identifikationsfiguren anbieten. Unter diesen Umständen kann das comicdidaktische Repertoire dabei helfen, die Ansprache von männlich-sozialisierten Schülern zu verbessern und das methodische und didaktische Repertoire des Religionsunterrichtes so zu erweitern, dass auch Mädchen mit unterschiedlichen Stärken oder Interessen davon profitieren: Dies entspricht insgesamt auch dem schulpädagogischen Ansatz der Angebotsvielfalt, der zu den zentralen Qualitätskriterien guten Unterrichts zählt (II 4.1).

4.3.2 Lernende mit körperlichen und geistigen Beeinträchtigungen inkludieren Inklusionsdiskurse in Bezug auf Menschen mit Beeinträchtigungen haben in der Religionspädagogik eine lange Tradition.1653 Auch in der Pädagogik der Vielfalt nach Prengel kommt beeinträchtigten Kindern und Jugendlichen besondere Aufmerksamkeit zu.1654 Deshalb sollte die comicdidaktische Religionspädagogik unbedingt daraufhin geprüft werden, ob sie sich auch für die Inklusion von Menschen mit verschiedenen Arten von Beeinträchtigungen eignet. Selbstverständlich kann hier keine umfassende Untersuchung dessen geleistet werden und Beeinträchtigungen treten in allen möglichen Formen auf, die hier nicht alle genannt werden können. Dennoch möchte ich nicht darauf verzichten, wenigstens auf einige ausgewählte Aspekte des Themas hinzuweisen, in der Hoffnung, damit kleine Impulse für die weitere Forschung auszusenden. Neben körperlichen sollen auch geistig-seelische Beeinträchtigungen angeschnitten werden; zudem solche, die eher ›Störungsbilder‹ und ›Teilleistungsstörungen‹ umfassen, insgesamt also die funktionale Einschränkungen von Menschen aufgrund einer körperlichen, geistigen oder psychischen Schädigung.1655

1653 Vgl. bspw. Pithan; Wuckelt, 2015. 1654 Vgl. Prengel, 1993. 1655 Vgl. Köbsell, 2010, S. 19.

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Natürlich darf man im Zuge dieser Überlegungen ganz besonders nicht pauschalisieren. Es könnte dennoch hilfreich sein zu untersuchen, unter welchen Bedingungen der Comic für den inklusiven Unterricht in einer diversen Gruppe geeignet ist – und unter welchen Umständen nicht. Ohne Expertin in den Dis/ability Studies zu sein und allein in meiner Rolle als Comicexpertin, möchte ich hier deshalb auf einige wichtige Aspekte hinweisen: In Bezug auf Schüler mit körperlichen Beeinträchtigungen werden das visuelle und auditive Wahrnehmungsvermögen sowie motorische Beeinträchtigungen beleuchtet, um das Inklusionspotenzial von Comics zu beleuchten. In der Kategorie der geistig-seelischen Beeinträchtigungen untersuche ich das Potenzial für Schülerinnen mit Förderbedarf in der geistigen/emotionalen Entwicklung, Lernbeeinträchtigungen, Aufmerksamkeitsstörungen und Teilleistungsstörungen wie Legasthenie, da gerade dieser Bereich im Schulalltag überaus alltäglich ist. Lernende mit geistigen und emotional-sozialen Beeinträchtigungen Schülerinnen mit dem Förderbedarf ›Lernen‹ und/oder in der emotional-sozialen Entwicklung nehmen zunehmend am regelschulischen Betreib teil und dürfen, wenn sie Teil der Lerngruppe sind, unter inklusiven Gesichtspunkten nicht außer Acht gelassen werden. Gleiches gilt für Menschen mit Teilleistungsstörungen, die in Form von Dyskalkulie oder Legasthenie Bildungschancen erheblich beeinträchtigen können.1656 Die Eignung von comicdidaktischen Ansätzen sollten immer für den Einzelfall geprüft werden. Geeint werden kognitiv beeinträchtigte Heranwachsende und Kinder mit Teilleistungsstörungen aber durch die Tatsache, dass sie besonders von einer individualisierenden Förderung abhängig sind. Lernrückstände und Chancenungleichheit vergrößern sich für sie bei nicht-differenzierendem Unterricht nachweislich erheblich.1657 Folgendes könnte man im Rahmen der Comicdidaktik zu bedenken geben: Erklärende oder erzählende Comics könnten für Schülerinnen mit Lernschwierigkeiten möglicherweise sehr nützlich sein. Bilder sind für die meisten Menschen in Lernkontexten hilfreich. Das gilt auch für Comics. Manche Schüler legen zudem eine besondere Affinität für narratives und weniger abstrahierendes Lernen an den Tag. Es ist denkbar, dass Kindern mit großen Lernschwierigkeiten Comics aufgrund des bildlichen Anteils größere Lesefreude bereiten als andere kontinuierliche Texte im Regelschulbetrieb, vor allem Fachtexte. (Man mag aber auch anmerken, dass dies auch bei Kindern ohne Förderbedarf in diesen Be1656 Der Begriff ›Teilleistungsstörung‹ bezieht sich auf »Leistungsdefizite«, die in Diskrepanz zur grundsätzlichen Intelligenz Betroffener stehen und sich nur auf bestimmte Teilbereiche erstrecken, wie das Erlernen der Rechtschreibung oder des arithmetischen Denkens. ›Teilleistungsstörungen‹ können auch Bereiche wie die Motorik oder die Aufmerksamkeitssteuerung betreffen. 1657 Vgl. Ahrbeck; Bleidick; Schuck, 1997, S. 746.

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reichen der Fall sein kann.) In jedem Falle gilt, dass die Handlung, der Text oder künstlerische Darstellung von Comics, die didaktisch genutzt werden, kein weiteres Hindernis, zum Beispiel durch zu große Komplexität, darstellen sollten. Auch die Länge von Comics muss geprüft werden, wobei nicht nur die Seitenzahl entscheidend ist: Die Werke von Don Rosa sind etwa ungleich dichter erzählt, detaillreicher und graphisch komplexer als Werke von Carl Barks, obwohl es sich in beiden Fällen um Geschichten über die Familie Duck handelt. Gleichzeitig ergeben sich dadurch produktive Differenzierungsmöglichkeiten. Ein Austausch mit der Inklusions-/Förderlehrkaft der Klasse ist unbedingt anzuraten. Die Arbeit mit Comics kann sich für Kinder mit Förderbedarf in der geistigen Entwicklung teilweise problematisch gestalten, wenn sie – spezifisch religionspädagogisch – unter symboldidaktischen Gesichtspunkten geleistet werden soll, da manche Schüler durch eine kognitive Beeinträchtigung nur eine eingeschränkte »analoge Übertragung eines sinnhaften Erfahrens auf eine geistlichgeistige Aussage hin« vollziehen können.1658 Das kann auch im Religionsunterricht eine Rolle spielen, wenn zum Beispiel visuelle Metaphern in einem Comic herausgearbeitet werden. Denn bei Schülern mit Förderbedarf geistiger Entwicklung, so Zonne-Gaetjens, bleiben die gewonnenen Vorstellungen stark dem unmittelbar Wahrnehmbaren, der gegenständlichen und gegenwärtigen Welt verhaftet […]. Diese Kinder sehen kaum die Repräsentanz eines Zeichens, eines Bildes oder eine Gleichnisses für einen bestimmten geistigen Gehalt oder für eine Sinnaussage. Sie ›kleben‹ am Sinnlich-Gegenständlichen1659.

Die Deutung der erschlossenen Botschaft oder der Bildsprache eines Comics, die Reflexion von Repräsentationsgehalten überhaupt bedarf also teilweise besonderer Hilfestellungen. Da geeignete Comics auf unterschiedlichen Ebenen genutzt und analysiert werden können, wären binnendifferenzierende und individualisierende Arrangements gut möglich, solange sie nicht in die Vereinzelung führen. Es gilt wieder: Wie Kinder und Jugendliche mit verschiedenen geistigen/ emotionalen/sozialen Beeinträchtigungen Comics wahrnehmen und schätzen, ist nicht genau untersucht. Kinder mit Entwicklungsstörungen im autistischen Spektrum könnten zum Beispiel Schwierigkeiten beim differenzierten Verständnis der Mimik von Comicfiguren haben, denn nicht immer ist diese cartoonhaft überzeichnet, sondern teilweise subtil. Die Comicautorin Daniela Schreiter (betroffen von einer milden Form des Autismus) deutet jedoch an, als Heranwachsende Comics geliebt zu haben und immer noch zu lieben.1660 Ihr 1658 Zonne-Gaetjens, 2013, S. 273. 1659 2013, S. 273. 1660 Vgl. Schreiter, 2014, S. 139.

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schien die Ruhe, die Möglichkeit, sich alleine und ungestört zu beschäftigen, gut getan zu haben und ihren persönlichen Neigungen zu entsprechen. Das spricht in diesem Falle tendenziell für comicdidaktische Zugänge. Insgesamt kommt es beim autistischen Spektrum aber auf den Grad und die Artung der Beeinträchtigung an. Eine Risikogruppe bilden zudem Kinder mit sogenannten ›Aufmerksamkeitsdefizit-Störungen‹ verschiedener Art (wie ADHS, unter ICD-10 unterschiedlich klassifiziert). Es können daraus strukturelle und funktionelle Beeinträchtigung des Lernens erwachsen, die betroffene Kinder im System Schule erheblich benachteiligen.1661 Grundsätzlich sind Menschen mit Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörungen oft durch Schwierigkeiten in den Bereichen Konzentration und Selbstregulation herausgefordert. Im Unterricht sollten Lehrkräfte deshalb Verständnis zeigen, wenn sich die Ruhe, die benötigt wird, um einen Comic zu rezipieren oder zu erstellen, bei manchen Kindern und Jugendlichen nicht recht einstellen kann. Obwohl genaue Forschungen auch hier noch ausstehen, wäre zusätzlich Folgendes zu erwägen: Kinder mit entsprechenden Beeinträchtigungen lernen nach Meinung einiger Forscherinnen am besten in einer möglichst reizarmen Umgebung und brauchen auch Materialien mit so wenig Ablenkungspotenzial wie möglich. Es ist zu erwägen, ob bunte und expressive Comics deshalb kontraproduktiv sind, denn, wie Vanderbeke es ausdrückt, »while the comic is, of course, […] read in a deliberate sequence, one can hardly fail to see all the panels on a page at once.«1662 Dadurch entstehen zuweilen viele visuelle Reize auf einmal. Bei einigen Comics wäre es zwar theoretisch möglich, das Material entsprechend anzupassen, aber ob dies am Ende wirklich sinnvoll ist, ist unklar und könnte wohl nur von den Betroffenen selbst beurteilt werden. Zudem ist bei Comics die Anatomie der Seite nicht irrelevant, Eingriffe schaffen einen Störfaktor im Rezeptionsprozess. Für den Einsatz von Comics spräche aus lernpsychologischer Perspektive hingegen die sich erhärtende Stimulationstheorie, nach der Kinder mit Aufmerksamkeitsdefizitstörung bzw. Hyperaktivitätsstörung an einem Mangel an Stimulation leiden und sich deshalb durch ›hyperaktive‹ Verhaltensweisen selbst die nötigen Stimuli suchen. Optische, aber aufgabenneutrale Zusatzreize (wie buntes Schreibpapier) können die Unterstimulation hyperaktiver Kinder deshalb zum Teil und zumindest vorübergehend ausgleichen und zu besseren Leistungen führen1663. Möglicherweise gilt dies auch für Comics. Ein weiterer Pluspunkt, den Comics im Unterricht bieten könnten, ergibt sich aus der Tatsache, dass sie Mädchen und Jungen mit Lese-Rechtschreib-Störun1661 Vgl. Hasselhorn; Gold, 2013, S. 461. 1662 Vanderbeke, 2010, S. 108. 1663 Vgl. Hasselhorn; Gold, 2013, S. 462.

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gen (Diagnoseschlüssel F 81.0 im ICD-10), entgegenkommen könnten. Die LeseRechtschreib-Störung auch Legasthenie genannt, ist eine schwerwiegende Beeinträchtigung, wenn es darum geht, Lese- und/oder Rechtschreibfertigkeiten zu entwickeln.1664 Sowohl das Leseverständnis als auch die basale Fähigkeit, geschriebene Worte zu erkennen sowie Leistungen bei Aufgaben, die Lesekompetenz erfordern, können beeinträchtigt sein1665. Menschen mit ADHS sind statistisch gesehen besonders häufig von derartigen Teilleistungsstörungen betroffen, was zu einer doppelten Benachteiligung führen kann. Heranwachsende mit Leserechtschreibschwäche oder -störung sind besonders auf förderliche Bedingungen angewiesen, um in der Schule Erfolg zu haben.1666 Häufig verspüren sie durch lesegebundene Versagensängste einen zusätzlichen Leidensdruck. Betroffen sind dann neben den sprachlichen besonders die gesellschafts- und kulturwissenschaftlichen Fächer, wie auch der Religionsunterricht, der mit zunehmender Klassenstufe didaktisch immer öfter analytisch-textorientiert gestaltet wird, obwohl auch der Einfluss auf naturwissenschaftliche Fächer nicht zu unterschätzen ist (zum Beispiel bei Textaufgaben). Mangelnde Kompetenzförderung in der inhaltlichen und formalen Bewertung kontinuierlicher Texte (wie Erzählungen und Fachtexten) können den Bildungserwerb im Religionsunterricht und anderen Fächern enorm einschränken (vgl. II 3.2.5). Angesichts umfangreicher Textquellen, anspruchsvoller Romane oder Texten mit Fachlexik verlieren Kinder mit Sprach- und Leseschwierigkeiten schneller den Mut, besonders wenn sie – wie so häufig der Fall – nicht fachintern und kompetent gefördert werden (können). Lehrer sind nicht für die Therapie einer ausgewachsenen Legasthenie ausgebildet und auch der Einsatz von Comics kann Störungsbilder natürlich mitnichten aufheben. Man kann auch feststellen, dass manche Heranwachsende das Lesen so sehr hassen (!), dass jedes Medium mit Text verabscheut wird. Es liegt aber bei den Lehrkräften, immerhin einen Schritt auf die Benachteiligten zuzumachen und dabei mitzuwirken, in ihnen eine erfolgszuversichtliche Orientierung aufzubauen, die durch Ketten von Misserfolgen häufig verloren scheint. Bei schwereren Fällen der Lese-Rechtschreib-Störung kann Lernenden etwa angeboten werden, Comicseiten vergrößert zu drucken, um ihnen die Textrezeption zu erleichtern. Ein relativ geringer Textumfang, kürzere Sätze, bildliches Scaffolding und tendenziell positive bzw. nicht leistungsgebundene Assoziationen tun das ihre. Zudem werden Comics am besten individuell rezipiert, sodass alle Mitglieder der Lerngruppe am besten auch im eigenen Tempo lesen sollten. Schülerinnen, die wirklich außergewöhnlich großen Förderbedarf im Bereich des Lesens an den Tag legen, sodass etwa die Prognose 1664 Vgl. ebd., S. 190. 1665 Vgl. ebd., S. 191. 1666 Vgl. ebd., S. 460.

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eines Förderschulabschlusses vorliegt, haben hier allerdings mit Schwierigkeiten zu tun, die schwer auszugleichen sind. Während ein Fließtext für die Kinder (laut) ein- oder vorgelesen werden kann, ist dies bei Comics nur schwer möglich. Schüler und Förderlehrkraft brauchen hier Zeit zu zweit und müssen ein eingespieltes Team bilden Schülerinnen mit körperlichen Beeinträchtigungen Körperliche Beeinträchtigungen wirken sich auf die sozialen, ökonomischen und physischen Ressourcen eines Menschen aus1667. Deswegen sind körperbehinderte Menschen auf die buchstäbliche und übertragene Barrierefreiheit zu Bildungsangeboten angewiesen, um gleichberechtigt an der Gesellschaft teilzuhaben. Dies ist nicht selbstverständlich, da Menschen mit körperlichen Beeinträchtigungen oft wesentlich weniger verdienen als Menschen ohne; auch Arbeitslosenrate und Armutsrisiko verdoppeln sich in dieser Bevölkerungsgruppe.1668 Für Schülerinnen mit körperlichen und geistigen Beeinträchtigungen sind auch die Schulabschlüsse im Durchschnitt niedriger und nicht wenige benötigen in irgendeiner Form konkrete Hilfestellungen (»special education services«).1669 Für comicdidaktische Ansätze ist es wichtig, wie die Körperbehinderung genau geartet ist: Schüler mit starken Beeinträchtigungen im visuellen Wahrnehmungsvermögen bräuchten zweifelsohne speziell gestaltete Comics, um an der Rezeption gleichberechtigt teilzuhaben. Durch Schwellpapier lassen sich durchaus taktile Graphiken erzeugen und es gibt auch erste Versuche, Comics zu erschaffen, die für Blinde und Sehende gleichermaßen gemacht sind (wie im Zuge des Projekts ›Shapereader‹ in Luzern). Für die meisten populären Comics sind diese Möglichkeiten jedoch nicht vorhanden. Auch Farben wären nur eingeschränkt übertragbar. Lernende mit Beeinträchtigungen im visuellen Bereich werden also durch comicbasierte Arbeitsweisen, die nicht individualisierend, sondern klassendeckend eingesetzt werden, systematisch ausgeschlossen und behindert. Auditiv beeinträchtigte und gehörlose Kinder hingegen werden durch die Arbeit mit Comics theoretisch stärker inkludiert als mit einigen anderen Medien wie Film oder Musik, da die Informationen hier auf dem rein visuellen Kanal vermittelt werden. Forschungen über die Comicrezeption Gehörloser sind nicht leicht zu finden, jedoch wäre es denkbar, dass die Rezeption leicht anders als bei hörenden Menschen verläuft. Gehörlose Menschen nehmen möglicherweise Gesichtsausdrücke und Details in den Panels auch genauer, intensiver und feinfühliger wahr, da sie sich auch in der Alltagswelt besonders aufs Sehen stützen. Auf jeden Fall können stark hörgeschädigte und gehörlose Schülerinnen 1667 Vgl. Wendell, 2010, S. 346. 1668 Vgl. Brault, 2012, 10, 12. 1669 Vgl. ebd., 22f.

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im sinnentnehmenden Lesen beeinträchtigt sein, da die deutsche Sprache im Gegensatz zur deutschen Gebärdensprache nicht ihre Erstsprache ist (vgl. zu dieser Problematik II 3.2.4), was in didaktischen Kontexten immer zu beachten ist. Die Barrierefreiheit von Texten durch einfache Sprachstrukturen sollte darum auch im Comic gewährleistet sein. Kinder und Jugendliche mit eingeschränkten motorischen Fähigkeiten gehören zu einer Gruppe, die im Unterricht mit Comics außerordentlich gut inkludiert werden kann. Um einen Comic analog zu rezipieren, müssen lediglich Seiten umgeblättert werden, was auch kooperativ geschehen kann; digital gestaltet sich das Unterfangen zum Teil noch unkomplizierter. Ein Rollstuhl eignet sich dafür absolut ebenso gut wie der Schulstuhl daneben: Ein inklusiver Idealzustand. Alle können mitmachen. Eine stärkere körperliche Aktivierung tritt nur bei einigen an die Rezeption anschließenden handlungsbezogenen Aufgaben auf, die deshalb unter Umständen angepasst werden müssen. Comics können inhaltlich auch für Lerngruppen ohne Mitschüler mit körperlichen Beeinträchtigungen wertvolle religionspädagogische Impulse bereithalten: So kann ausgerechnet die Beschäftigung mit Superheldencomics einen guten Zugang zum Thema bieten, gesellschaftliche Ausschlussstrukturen ins Zentrum des Unterrichts stellen. In der Sekundarstufe II kann zusätzlich dafür sensibilisiert werden, dass Ungleichheit generierende Strukturkategorien oft untereinander verschränkt sind. Die Gruppe von Superhelden mit körperlichen Beeinträchtigungen, gelegentlich als ›Supercrip‹ bezeichnet, umfasst zum Beispiel Professor Xavier aus den X-Men-Comics, den Helden Daredevil aus der gleichnamigen Reihe sowie die Heldin Oracle (aus dem Batman-Universum). Daredevil erblindet im Zuge seiner Origin Story, Professor X und Oracle sind beide querschnittsgelähmt; Oracle widerfährt die Verletzung dabei inmitten der Comicreihe. Ein ›Supercrip‹ im Comic kann seine ›Behinderung‹ leicht ausgleichen und Dinge vollbringen, die den meisten Menschen nicht annährend möglich sind – das liegt in der Natur des Begriffs.1670 Cocca erklärt beispielsweise in Bezug auf Oracle: »[W]e never see another character assist Barbara [= Oracle, Anm. d. A.] with daily life tasks. Indeed, a number of times, she draws attention to the fact that there are no push handles on her wheelchair because she does not want or need anyone’s help.«1671 Die Superheldin trägt damit zur Sichtbarkeit von Differenz und Vielfalt in einem Genre bei, dessen Figuren in der Regel mehr als agil und durchtrainiert bis ins letzte sind; ihre Darstellung und Charakterisierung unterläuft stereotype Repräsentationen von Frauen (und Männern) mit Behin-

1670 Vgl. Cocca, 2014, Abs. 17. 1671 2014, Abs. 19.

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derungen als mitleiderregend, hilfsbedürftig, unattraktiv und schwach.1672 Aber die Darstellung verschleiert gleichzeitig gewisse Zusammenhänge. Eine Behinderung/Beeinträchtigung kann nicht ›einfach so‹ überwunden werden: »Total independence is simply not a reality for many people with (or without) disabilities«.1673 Die Realität sieht also anders aus, ist von der Hilfsbedürftigkeit aller gekennzeichnet – und darum auch ein theologisches Thema. In den hier aufgeführten Gruppen eignet sich die comicgestützte Arbeit am besten für die Inklusion gehörloser und motorisch beeinträchtigter Kinder. Auch lernbehinderte Schülerinnen sowie solche mit milderen Beeinträchtigungen aus dem autistischen Spektrum oder einer Lese-Rechtschreib-Störung können durch comicgestütztes Unterrichten möglicherweise stärker inkludiert werden. In Bezug auf Lernende mit Aufmerksamkeits- und Hyperaktivitätsstörungen wie ADHS ergibt sich ein hypothetisches Bild, das zwiegespalten ist. In keiner Weise profitieren hingegen blinde oder stark sehgeschwächte Mitglieder der Lerngruppe; sie werden in der Arbeit mit Comics aufgrund des ungeeigneten Materials ausgeschlossen. Zudem drohen Kinder mit Förderbedarf in der geistigemotionalen Entwicklung exkludiert zu sein, wenn Comics für die Arbeit unter symboldidaktischen Gesichtspunkten herangezogen werden. Hiermit sind nun einige Thesen aufgestellt und es darf der empirischen Bildungsforschung anvertraut werden, diese zu bestätigen oder zu widerlegen. Religionspädagogisch lohnt sich in jedem Falle der Einsatz von Comics, die natürliche Diversität auch im Kontext von körperlichen und seelischen Beeinträchtigungen sichtbar machen und für gesellschaftliche Ausgrenzungsprozesse sensibilisieren.

1672 Vgl. Packard; Rauscher; Sina; Thon; Wilde; Wildfeuer, 2019, S. 167. Hier auch eine Ausführung der zweifachen ›Objektifizierung‹ von Oracles Weiblichkeit und Beeinträchtigung. 1673 Cocca, 2014, S. 19.

IV Erprobung der Theorie an exemplarischen Werken Nachdem nun ein theoretischer Grund gelegt worden ist, gilt es nun einige praxisorientierte Konsequenzen zu ziehen: Exemplarische Einzelwerke, deren Inhalte als vielversprechend für Kompetenz- und Bildungsbereiche des Religionsunterrichtes gelten können, müssen nun einer genaueren Analyse ihres comicdidaktischen Potenzials standhalten. So wird der tatsächliche, didaktische Nutzen einer Religionsdidaktik, die mit Comics arbeitet, beleuchtet und Möglichkeiten sowie Grenzen der comicgestützten Arbeit werden an einem konkreten Gegenstand durchgespielt. Die Wahl ist hier auf zwei längere, in sich abgeschlossene Comicwerke gefallen, die auch der Kategorie der ›Graphic Novels‹ zugeordnet werden könnten. Gerade (Auto-)Biographien und Graphic Memoirs1674 sind durch ihr großes Potenzial für das religiöse Lernen in vielerlei Hinsicht ideal für den Einsatz im Religionsunterricht (vgl. III 3.2). Deshalb sollen hier zwei Comics dieser Art im Mittelpunkt stehen: Marjane Satrapis Persepolis und Keno Don Rosas Onkel Dagobert – Sein Leben, seine Milliarden. Beide sind in Bezug auf Gattung, Genre und Thematik (wie Migration, Lebenskrise(n) oder Identität) exemplarisch für Trends der gegenwärtigen Comickultur, weshalb sie für Neueinsteigerinnen in Ansätze der Comicdidaktik besonders interessant sein könnten.1675 Nur eine durchdachte Beleuchtung und Analyse der Lektüren kann sie aber zum nützlichen Werkzeug der Religionspädagogik werden lassen. Hier wird dafür der Grund gelegt. Konkret lassen sich die Untersuchungen für jedes Werk in drei Teile gliedern: Erstens eine Darstellung und Untersuchung formal-ästhetischer Gesichtspunkte, die für die (Unterrichts-)Arbeit mit dem Werk und dessen Interpretation relevant sind. Diese Analyse bildet die Grundlage für die anschließende Reflexion und dient auch deren Nachvollziehbarkeit. Sie ist notwendig, da die Eignung für die Schule auch von der formal-ästhetischen und narrativen Gestaltung bestimmt wird. Die Auswahl der untersuchten Aspekte orientiert sich an typischen comicanalytischen Vorgehensweisen (s. u.). 1674 Dazu Schröer, 2016. 1675 Weil die Werke schon vor längerer Zeit erschienen sind (Persepolis ist vor knapp 20 Jahren veröffentlicht worden, für Sein Leben, seine Milliarden sind es bald 30 Jahre), könnte man ihren Schöpfern damit eine gewisse visionäre Gabe zuschreiben.

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Erprobung der Theorie an exemplarischen Werken

Zweitens dann eine Beleuchtung ausgewählter inhaltlicher Gesichtspunkte, auch unter Heranziehung von praktisch-theologischer oder philosophischer Literatur. Die die inhaltlichen Aspekte werden zunächst entkoppelt von einer religionspädagogischen Sichtweise untersucht, um eine größere Offenheit zu gewährleisten. Der aufmerksame Leser wird hier schon religionspädagogische Potenziale wahrnehmen. Drittens erfolgt eine Untersuchung in Bezug auf spezifische didaktische, pädagogische und kompetenzorientierte Aspekte, die in der praktischen Arbeit mit dem Werk im Religionsunterricht von besonderer Bedeutung sind. Dies geht, wenn man so will, auch in die Richtung einer didaktischen Analyse, wie sie in jeder Unterrichtsplanung vorgenommen werden muss. Sofern nicht das Gegenteil beschrieben wird, bleiben alle in Abschnitt II und III aufgeführten theoretischen Chancen und Schwierigkeiten des Mediums bestehen (wie zum Beispiel das Potenzial der kognitiven Aktivierung). Allgemeinpädagogisch und allgemeindidaktisch herausragenden Gesichtspunkten wird aber besondere Aufmerksamkeit zukommen. Beide Werke erfahren zudem eine umfassende Analyse aus kompetenzorientierter und religionspädagogischer Perspektive. In Bezug auf die hier analysierten inhaltlichen Aspekte der Comicwerke musste eine bewusste Auswahl getroffen werden, da beide so komplex angelegt sind, dass niemals allen Motiven der nötige Raum zukommen könnte. Deshalb sind Themenfelder ausgewählt worden, die für den Religionsunterricht und dessen Kompetenzanliegen besonders interessant sind und entsprechend greifbar gemacht werden sollen. Zweifelsohne ließen sich auch andere thematische Aspekte aufgreifen, die für religionspädagogische Anliegen genutzt werden können – eine Beschränkung war aber vonnöten. Eine Überschneidung und damit ein Schwerpunkt findet sich für beide Werke in Bezug auf die Thematik von ›Identität‹ und natürlich ›Religion‹. In Bezug hierauf wird mit Sein Leben, seine Milliarden allgemeiner das Thema ›Sinn‹ und ›Sinnstiftung‹ im Leben verhandelt, während anhand von Persepolis die Gefahr von lebensfeindlichen Formen von Religion thematisiert wird. Die Interpretationen der inhaltlichen Aspekte erfolgt für Sein Leben, seine Milliarden überwiegend werkimmanent, das heißt, es wird meistens innerhalb der Binnenlogik des Comics argumentiert.1676 Für Persepolis hingegen ist dies nicht durchgängig sinnvoll, da die Graphic Novel in einem sehr viel stärkeren Maße an einen realen historischen und politischen Rahmen anknüpft, auf den immer wieder Bezug genommen werden muss, um den Inhalt einzuordnen.

1676 Ausnahmen werden vor allem Bezüge zu einigen anderen Comics des Künstlers sowie zu den Werken von Carl Barks sein, an die Don Rosas Dagobert-Biographie unmittelbar anschließt.

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Wenn in Bezug auf die konkrete Interpretation von Sein Leben, seine Milliarden Sekundärliteratur herangezogen wird, so erweisen sich vor allem die eigenen erklärenden Kommentare des Künstlers, großzügig vorhanden, als hilfreich. Sofern skizzenhafte Ansätze aus der Religionspädagogik vorliegen, so werden diese auch genutzt.1677 Da das Werk bis jetzt aber noch nicht umfassend erforscht ist, werden auch informelle, populärwissenschaftliche (Fan-)Diskurse als Quelle in Betracht gezogen, wie es sich schon zu den Anfängen der Comicforschung als wertvoll erwiesen hat.1678 Dazu kommen selbstverständlich andere praktisch-theologische (und in diesem Falle auch philosophische) Quellen. In Hinsicht auf die Analyse formal-ästhetischer Aspekte der Comics und deren Zusammenwirken mit den zentralen Thematiken ist ein klassisches comicanalytisches Vorgehen angebracht, das von religionsdidaktischen Anliegen vorerst weitgehend unberührt bleibt. In der Ausdifferenzierung einer Comicanalyse gibt es zumindest bei so komplexen Werken wie dem vorliegenden Persepolis im Grunde keine Grenzen. Sie werden hier also aus verschiedenen Gründen immer wieder bewusst gesetzt. Ziel ist es dennoch, mit der vorliegenden Comicanalyse eine gute theoretische Grundlage für die konkrete Behandlung der Werke im religionspädagogischen Kontext darzustellen, mit der auch Lehrende mit ausbaufähiger Rezeptions- und Analysekompetenz etwas anfangen könnten. Wichtige comicanalytische Aspekte werden aber auch genannt, weil sie vielfach sie in Bezug zum (religions-)pädagogischen Potenzial stehen. Neben textueller und narrativer Ebene werden also konkret visuelle und comicspezifische Symbole und Erzählmomente der Werke sichtbar gemacht, damit aus dem vollen Potenzial des Mediums geschöpft werden kann. In der Analyse und Interpretation darf man nicht vergessen, dass die Sequenzielle Kunst der Literatur im Komplexitätsgrad ihrer Ausdrucksmittel in nichts nachsteht. Allerdings bedarf es eigener Analysekompetenzen, die nur der erlangt, der die (Form-)Sprache des Mediums fließend beherrscht und »the reader is […] required to exercise both visual and verbal interpretive skills.«1679 Je tiefer man in die Interpretation eindringt, desto stärker liegt vor, was Eisner als »act of both aesthetic perception and intellectual pursuit« beschreibt.1680 In der Comicanalyse kann man sich grundsätzlich verschiedener theoretischer Ansätze bedienen, die jeweils über ein ausdifferenziertes Begriffs- und Beschreibungsinventar verfügen1681: Semiotische Ansätze untersuchen den Einsatz und die Funktion von bildlichen und sprachlichen Zeichen, während sich multimodale Analysen mit der Frage auseinandersetzten, wie die verschiedenen se1677 1678 1679 1680 1681

Vgl. Völkner, 2011. Vgl. Gans, 1972; Löffler, 2004; Pohl, 2014 (b). Eisner, 2008 (a), S. 2. 2008 (a), S. 2. Vgl. Abel; Klein, 2016 (b), S. 78.

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miotischen Elemente als Zeichenmodalitäten im Zusammenspiel Bedeutung konstruieren; narratologische Beiträge nehmen den Comic als Erzählung in den Blick; genretheoretische oder etwa intersektionale Analysen beleuchten inhaltliche Zusammenhänge. Diese Ansätze bereichern sich gegenseitig, sodass multiperspektivisch ausgerichtete Comicanalysen besondere Vorzüge haben.1682 In den folgenden Analysen wird daher ein hybrider Ansatz aus verschiedenen Theoriemodellen zum Zuge kommen. Obwohl noch keine derartige Systematik vorliegt, könnte man am ehesten vielleicht von einer theologischen oder pädagogischen Comicanalyse sprechen, die nach dem spezfischen ›Nutzen‹ und dem pädagogischen Potenzial des Comics fragt, denn die Untersuchung der Comics entspringt schließlich dem Grundanliegen dieser Arbeit. Ich orientiere mich grob an der vorgeschlagenen Vorgehensweise/Methodologie von Abel/Klein1683, womit ich zentrale Kategorien, wie zum Beispiel Seitenarchitektur, Zeichenstil, Farbgebung oder Text-Bild-Beziehungen, in ihrer Aussagekraft untersuche. Für Sein Leben, seine Milliarden geschieht dies noch etwas freier als bei Persepolis, wo ich mich enger an gewisse Analyseschritte halte. Hier liegt eine bewusste Entscheidung vor, um darzustellen, dass beide Vorgehensweisen ihre Berechtigung haben können. Für Sein Leben, seine Milliarden ist ein etwas freieres Vorgehen dieser Art auch sinnvoll, weil Don Rosa unter strikteren, im gewissen Rahmen fremdbestimmten stilistischen Auflagen gearbeitet hat als andere Graphic Novel-Autoren wie zum Beispiel Satrapi, die sich größere Freiheiten in der Gestaltung ihrer Geschichte nehmen konnte: Stileinschlag, die Aufteilung der Seiten, (optische) Gestaltung der Figuren oder die Farbgebung waren ihm durch verschiedene äußere Zwänge vorgegeben. Undenkbar wäre es gewesen, den Comic in schwarz-weiß zu veröffentlichen – selbst, wenn der Künstler dies angestrebt hätte, denn der Comic musste optisch an andere Disney-Comics anschlussfähig sein. Auch innerhalb dieser teilweise aufgezwungenen ästhetischen Vorgaben versteckt sich aber künstlerischer Ausdruck und Individualität – dessen muss man sich bewusst sein. Wo Don Rosa einen Bruch mit dem traditionellen disneyschem Zeichenstil gesetzt hat, lohnt es sich umso mehr, aufmerksam zu werden und nach dem Grund zu fragen. Dennoch war Don Rosa stärker als Satrapi dazu gezwungen, seine ›Message‹ durch den Inhalt der Geschichte zu vermitteln und nicht durch subtile, künstlerische und expressive Ausdrucksmittel in der zeichnerischen Gestaltung. Dem wird in der Analyse also Rechnung getragen. Am Ende müssen Form und Inhalt in Analyse und Interpretation jedoch immer wieder zusammenfinden – weil sie im Grunde niemals voneinander zu trennen waren.

1682 Vgl. Packard; Rauscher; Sina; Thon; Wilde; Wildfeuer, 2019, S. 109. 1683 2016 (b).

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Im Folgenden sollen nun die beiden ausgewählten Werke mit ihren Gemeinsamkeiten und Unterschieden kurz vorgestellt werden, auch um ihre Auswahl zu erklären und zu rechtfertigen. Dadurch lassen sich unter anderem zentrale Charakteristika dieser Comics markieren, die auch einen guten Startpunkt für die Interpretationen bieten. PERSEPOLIS UND ONKEL DAGOBERT – SEIN LEBEN, SEINE MILLIARDEN Eine einzelne Werkanalyse würde als Beispiel nicht ausreichen, um das Potenzial der comicdidaktischen Religionspädagogik hinreichend darzustellen. Deshalb dürfen hier immerhin zwei Comicwerke auf die Bühne treten, die auf den ersten Blick unterschiedlicher nicht sein könnten, sich in vielerlei Hinsicht aber auch ähneln und ergänzen. Wie sich herausstellen wird, macht sie das zu idealen Partnern. Sowohl Marjane Satrapis Persepolis als auch Don Rosas Onkel Dagobert – Sein Leben, seine Milliarden eignen sich durch ihre Thematik unmittelbar für den Einsatz im Religionsunterricht. Dadurch, dass ihre Veröffentlichung relativ lange zurückliegt (2000–2001 und 1991–1994), haben sie lange Zeit gehabt, sich auch nachhaltig beim kritischen Comicpublikum zu bewähren: Beide Comics sind von außergewöhnlicher Qualität, international veröffentlicht und international ausgezeichnet worden. Auch vom Genre her besteht eine gewisse Beziehung: Satrapi hat mit ihrem Hauptwerk eine Graphic Memoir vorgelegt, Don Rosa die Biographie eines fiktiven Helden. Beide Comics schrecken nicht vor emotionaler Nähe und existenziellen Themen zurück. Sie stellen folglich auch intime Details einer Lebensgeschichte dar, ganz typisch zum Beispiel in Form von Identitätskrisen.1684 Bei Satrapi geschieht dies allerdings mit gesteigerter Dringlichkeit, da sie deutlich macht, dass ihr all dies tatsächlich passiert ist und weil es sich (mit Themen wie Depressionen und Suizid) um sehr bedrängende, traumatische Erlebnisse handelt, die eher mit älteren Schülern besprochen werden sollten. Das Coming-of-Age spielt in beiden Fällen eine wichtige Rolle, womit Heranwachsende zu den Comics einen guten Zugang finden könnten. Beide Werke spielen in einem historischen Rahmen (Persepolis ist allerdings deutlich dichter an der Gegenwart situiert) und beide behandeln das Thema ›Migration‹, wie es heute so oft in Graphic Novels der Fall ist – möglicherweise, weil Migration in unserer Gegenwart eine immer größere Rolle spielt und Comics inhaltlich so oft am Puls der Zeit liegen.1685 An beiden Werken lassen sich damit zentrale Aspekte sowohl der allgemeinen als auch religionspädagogischen Comicdidaktik darstellen und sie sind durch ihre Machart besonders gut für den Einsatz in der Schule geeignet: Beide Künstler 1684 Vgl. Schröer, 2016, S. 271. 1685 Vgl. Eder, 2016, S. 163.

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arbeiten mit einem relativ schlichten, cartoonhaften Zeichenstil, der meines Erachtens besonders gut für viele comicdidaktische Zugänge geeignet ist, da er einen reibungslosen Rezeptions- und Induktionsprozess befördert. Beide Werke folgen in Zeichenstil und Erzählweise zudem einer westlichen, tendenziell europäischen Comictradition, mit der in Deutschland aufgewachsene Kinder in der Regel schon Erfahrungen gemacht haben (zum Beispiel durch Disney-Comics). Inhaltlich sind die Werke jedoch sehr komplex. Obwohl in beiden Graphic Novels, vor allem in Sein Leben, seine Milliarden, Humor eine gewisse Rolle spielt (im Sinne der emotionalen und kognitiven Aktivierung immer ein Pluspunkt für Unterrichtsmedien!), verarbeiten beide auch das existenzielle Thema ›Glaube‹, bzw. ›Religion‹ – sowohl ihre positive Kraft als auch die Gefahr von Verbohrtheit und Fanatismus. Hier beginnen jedoch auch die Unterschiede zwischen den beiden Comicwerken: Persepolis behandelt explizit die Auswüchse sichtbarer Religion. Offen werden auch die Natur Gottes, Gebet, religiöse Normen und Missbrauch von Religion thematisiert. Im Zuge des Sprechens über das Werk könnte im Religionsunterricht außerdem ein substanzieller Religionsbegriff zum Tragen kommen. In Sein Leben, seine Milliarden sind dagegen auf den ersten Blick kaum tiefgehende religiöse Bezüge sichtbar: Hier geht es eher um Prozesse unsichtbarer Religion. Zusätzlich muss man teilweise auf einen funktionalistischen Religionsbegriff zurückgreifen, um die religiöse Tiefenstruktur offenzulegen. Für Don Rosa scheint (!) das Transzendente in der Erzählung nicht im Vordergrund zu stehen. Hier liegt möglicherweise der größte Unterschied zwischen den beiden Werken. Während in Persepolis zudem die Schattenseite von Religion in Form von Fanatismus ausführlich beleuchtet wird, sind die Helden in Sein Leben, seine Milliarden, die mit dem Transzendenten bei näherer Betrachtung doch in Verbindung stehen (Jabiru, Donnerbold, am Ende auch Mutter und Vater) durchweg positive Figuren. Abgesehen von Jabiru gehören sie jedoch keiner expliziten Denomination an. Obwohl sowohl Don Rosa als auch Satrapi Lebensgeschichte(n) erzählen, gibt es auch hier einige sehr wichtige Unterschiede. Persepolis ist eine (mehr oder minder faktuale) Autobiographie, genauer: eine Frauen-Autobiographie. Teilweise geht es um Themen, die besonders heranwachsende Frauen und Mädchen nachvollziehen können. Vieles, was erzählt wird, erscheint zudem schonungslos ehrlich, wie es nur in einem Autorenmedium der Fall sein kann, wenn es zum Beispiel um Körperlichkeit, Sexualität oder auch Fehler und Träume im Leben geht.1686 Die Figur Marjane wird dabei immer wieder als Antiheldin skizziert und der Comic hat viele klassische Kennzeichen eines intimen Werks aus dem Gra1686 Vgl. dazu auch Schröer, 2016, 265, 271.

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phic Memoir-Genre, um das sich derzeit komplexe Diskurse in der Comicforschung ranken.1687 Das betrifft auch die graphische Innovativität, die sich in den (nur scheinbar schlichten!) Zeichnungen niederschlägt. Zudem ist es eine emotional ungewöhnlich dichte Erzählung. Don Rosas Sein Leben, seine Milliarden ist die fiktionale Biographie eines Mannes. Vereinzelt verhandelt sie daher Themen, die besonders für heranwachsende Jungen interessant sind. Ganz anders als bei Persepolis tritt hier ein Held auf, der trotz charakterlicher Fehler und Vergehen über weite Strecken als stark und beeindruckend beschrieben werden kann – und deshalb sowohl etwas greifbarer als auch eindimensionaler ist als die Heldin von Persepolis. Das sollte man nicht verbergen. Streckenweise dominieren unterhaltsame Abenteuergeschichten, in denen das Werk weniger Comicbiographie als vielmehr Abenteuer-Funny und deshalb auch der Realität nicht immer verpflichtet ist.1688 Unweigerlich ist das Werk damit emotional weniger dicht und offenbart weit weniger intime Details über seinen Helden und dessen Entwicklung. Die Teile, die den Leserinnen einen Einblick in das Innenleben des Protagonisten erlauben, sind deshalb von besonderer Intensität. Im Gegensatz zu Satrapi stellt Don Rosa diese Momente oft ohne Text dar, sodass die Lesenden ihrer eigenen Interpretation folgen müssen.1689 Die Heldenfiguren der Werke (der eine fiktiv, bei der anderen lässt sich im Sinne des Graphic Memoir-Diskurses darüber streiten) umgibt trotz der tiefen Einblicke in ihr Leben eine gewisse Aura der Unnahbarkeit, weil sie beide Dinge getan, gesehen und im Leben geschafft haben, die die Erfahrungswelt eines Durchschnittsmenschen wahrscheinlich deutlich übersteigen. Marjane ist nur scheinbar eine Antiheldin – im Grunde kann und darf man sie nur bewundern. Grundsätzlich ist Don Rosas Erzählung im religionspädagogischen Sinne nicht unbedingt minderwertiger, nur weil sie sich um eine fiktive Figur dreht und sie etwas weniger Details und Spezifika enthält. Persepolis enthält die Geschichte eines spezifischen Menschen/einer bestimmten Figur, während Dagoberts Geschichte offener erzählt ist und allgemeinere Themen der Charakterentwicklung verhandelt, sodass es für Dritte möglicherweise leichter ist, sich selbst darin zu verorten. Die Vorbildfunktion ist jedoch auch geringer, nicht zuletzt, weil die Heldin von Persepolis eben durch den Realitätsanteil in dieser Hinsicht kaum mit Dagobert zu vergleichen ist. Insgesamt eignen sich die beiden Comics auch für verschiedene Altersstufen: Sein Leben, seine Milliarden kann religionspädagogisch sehr gut ab der siebten Klasse eingebunden werden (dabei eher am Ende als am Anfang des 1687 Vgl. ebd., S. 265. 1688 Vgl. dazu auch Platthaus, 2016, S. 189. 1689 Vgl. Don Rosa, 2008, 170, 179, 237f.

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Schuljahres, da die Heranwachsenden in dieser Zeit oft noch zusätzliche Reife gewinnen). Ab der neunten Klasse könnten sich schon wieder Schwierigkeiten ergeben, weil sich Jugendliche oft von der ›kindischen‹ Welt der Comics distanzieren möchten. Man bedenke, dass in dieser Altersstruktur zum Beispiel auch wenig Interesse an Märchen besteht, während die Schüler der zwölften Klasse sich dem Thema schon wieder geöffnet haben und meiner Erfahrung nach ohne Scham wieder in Disneycomics blätterm. Auch Persepolis kann in Auszügen definitiv schon in der siebten Klasse eingebunden werden, wenn genügend Zeit zum Lesen gegeben und der Comic mit genügend Hintergrundinformationen eingeführt wird. Möchte man größere Erzählbögen verfolgen, so sollte man den Comic nicht vor Ende der achten Klasse behandeln – eher sogar noch später. Nach oben gibt es für dieses Werk keine Altersgrenze. Für beide Comicwerke kann man schließlich auf große Unterschiede auf der Rezeptionsebene hinweisen, die auch für Schülerinnen interessant sind. In dieser Beziehung handelt es sich um sehr gegensätzliche Werke: Marjane Satrapis Persepolis ist hierzulande für einen Comic relativ etabliert und hat sich mittlerweile schon fast einen Platz im bildungsbürgerlichen Kanon erobert. Es ist darum leicht, dem Werk für religionspädagogische Anliegen ein gewisses Vertrauen vorzustrecken. Umso reizvoller ist, dem mit Sein Leben, seine Milliarden einen zweiten Comic entgegenzusetzen, vor dem viele Religionspädagogen zunächst zurückschrecken könnten. Es handelt sich um ein Werk, das ebenfalls kommerziell erfolgreich war, mit Preisen gesegnet ist und eine große Fangemeinschaft hat – aber wahrscheinlich eine ganz andere als Persepolis. Denn Don Rosas Saga lässt sich allein dem populärkulturellen Spektrum zuordnen und strahlt damit deutlich weniger Dignität aus. Auch Forschungen dazu sind entsprechend mit weniger Prestige verbunden. Dass sich die Erzählung um einen fiktiven Helden dreht, also in gewisser Hinsicht um ›Luftschlösser‹, hilft in diesem Zusammenhang auch nicht gerade weiter. Diese Umstände haben auch Einfluss auf die Behandlung der Werke in der Comicwissenschaft. Die divergierende Wertschätzung der Werke in unterschiedlichen Kreisen Comiclesender mag unter anderem daher rühren, dass Satrapis Formsprache im Werk bedeutsamer, handlungstragender, einprägsamer und außergewöhnlicher ist als Don Rosas, für den die Geschichte selbst im Vordergrund zu stehen scheint und für den die Zeichnungen eher Mittel zum Zweck sind. Vor allem aber ist Persepolis ernsterer Natur und in einen realen historischen und politischen Rahmen eingebunden, vergleichbar mit Postmemory-Literatur wie Spiegelmans gefeierte Graphic Memoir Maus1690. Auch Entsetzliches wird vielfach thematisiert. Bei Sein Leben, seine Milliarden ist dies so nicht der Fall (Ausnahme ist möglicherweise das Kapitel XI), da der 1690 1980.

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Comic für Heranwachsende offen konstruiert ist. Von Kindercomics und damit jeglicher Assoziation der Art, Comics seien ein Medium (nur) für Kinder scheint sich zumindest der deutsche Comicdiskurs aber vielfach zu distanzieren, möglicherweise, um nach außen besondere Ernsthaftigkeit zu signalisieren. All Agesund Kindercomics liegen in der zeitgenössischen Debatte entsprechend etwas brach.1691 Zu Persepolis finden sich vielfach Forschungsbeiträge aus unterschiedlichen Disziplinen, während dies für Sein Leben, seine Milliarden noch nicht der Fall ist. Hier obsiegen informelle Fandiskurse und das religionspädagogische Potenzial ist deshalb auch weit weniger offensichtlich. Darum soll die Analyse zu Don Rosas Werk im Folgenden umfänglicher gestaltet werden, um die Chance wahrzunehmen, an dieser Stelle gewisse Forschungsdefizite aufzuarbeiten. Auf diese Weise bilden Persepolis und Sein Leben, seine Milliarden ein widersprüchliches, kontrastreiches und deshalb gleichermaßen reizvolles und wunderbares Paar für das Anliegen dieser Arbeit.

1691 Eine Ausnahme bilden natürlich zum Beispiel die Comics von Carl Barks, die unter anderem von den deutschen ›Donaldisten‹ im wissenschaftlichen Diskurs beleuchtet werden. Hier jedoch wird nicht die Ebene der Darstellung untersucht, sondern ausschließlich die Ebene des Dargestellten. Andere Duck-Zeichner wie Don Rosa werden zudem weitgehend ausgeblendet (wobei es Ausnahmen gibt, vgl. Pohl, 2014 (b)).

1

Marjane Satrapis PERSEPOLIS – Fundamentalismus und Differenz

Persepolis ist das gegenwärtige Hauptwerk der in Paris lebenden iranischen Künstlerin und Illustratorin Marjane Satrapi. Erstmals in Frankreich publiziert, konnte der Comic internationalen Erfolg verzeichnen, wurde weltweit über eine Million Mal verkauft und mehrfach übersetzt, so dass Persepolis einer der erfolgreichsten zeitgenössischen Comicwerke weltweit ist.1692 Persepolis hat nicht nur mehrere Preise erhalten (zum Beispiel den deutschen Max-und-Moritz-Preis für die »Beste deutschsprachige Comicpublikation als Import«), sondern wurde auch verfilmt und erlangte 2007 auf den 60. Filmfestspielen von Cannes den Preis der Jury sowie eine Oscar-Nominierung als bester Animationsfilm.Damit besitzt der Comic hohe Relevanz im gegenwärtigen Comicspektrum. Der Erfolg verweist zudem auf einen hohen gesellschaftlichen Wert, der dem Inhalt zugemessen wird, was didaktisch für den Einsatz in der Schule spricht. Persepolis vereint in sich gleich mehrere Themenfelder, die für Graphic Novels der Gegenwart von Bedeutung sind, zum Beispiel historisch-politische Inhalte, Themen rund um Migration, Gender und Identität1693. Die Auszeichnungen belegen zudem die hohe Qualität des Werkes: Eine vielschichtige Erzählweise und die ganze eindrucksvolle Narration bieten auch viele Anknüpfungspunkte für pädagogische Anliegen. Gleichzeitig kann es für Schülerinnen motivierend sein, sich mit einem Gegenstand zu befassen, dessen Diskurs ganz offensichtlich auch außerhalb der Schule hohe Relevanz besitzt. Unabhängig davon eignet sich das Werk durch formale Gestaltungsmittel und thematische Aspekte sehr gut für den Einsatz in der comicgestützten Religionspädagogik. Aufgrund der großen Bekanntheit und Beliebtheit von Persepolis, liegen bereits Versuche vor, das Werk für die Schule aufzubereiten.1694. Ich wähle hier jedoch einen Zugang speziell unter dem Gesichtspunkt der allgemeinen Comicdidaktik und deren Verknüpfung mit dem Religionsunterricht. 1692 Vgl. Edition Moderne. 1693 Vgl. Eder, 2016, S. 162ff. 1694 Vgl. bspw. das Material des Verlages Edition Moderne.

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Marjane Satrapis PERSEPOLIS – Fundamentalismus und Differenz

Analyse des Werkes

1.1.1 Inhalt und Genre Persepolis und lässt sich dem gegenwärtig beliebten und relevanten Genre der ›Graphic Memoirs‹ zuordnen und ist für diese Gruppe von Comics geradezu repräsentativ. Die Künstlerin erzählt ihre Familiengeschichte und beschreibt ihre Kindheit und Jugend bis zum 25. Lebensjahr, was den Comic autobiographisch, ganz spezifisch: zu einer Frauen-Autobiographie macht.1695 (vgl. auch I 2.4) Der Fokus liegt gerade im zweiten Teil des Comics auf dem Thema des Coming-ofAge, was ihn dem Genre des Bildungsromans nahestellt. Persepolis enthält Elemente des Dramas, aber auch der Tragikomödie. Obwohl Satrapi sich heute gegen die Zuordnung zum Genre der Autobiographie, mit dem Hinweis, Marjane sei letztendlich eine Kunstfigur, verwahrt, löst sich der Comic jedoch schwer von dieser Zuschreibung.1696 Satrapi wurde 1969 geboren und wuchs in Teheran als einziges Kind einer liberalen und westlich eingestellten Familie auf. Zentrale Figuren der Geschichte Marjanes sind ihre Eltern, ihre Großmutter sowie ihr Onkel Anusch – allesamt Gegner des sich 1979 etablierenden Regimes. Als Kind erlebt sie die Islamische Kulturrevolution und den Ersten Golfkrieg mit, erlebt, wie Familienmitglieder und Nachbarn sterben. Wie der Rest ihrer Familie zeigt sich Marjane schon früh dem Regime gegenüber rebellisch, offen kritisch und provozierend, orientiert sich kulturell am Westen. Im Alter von 14 Jahren wird sie schließlich von ihrer Familie nach Österreich geschickt – als Schutz vor dem Krieg und ihrer eigenen rebellischen Art dem Regime gegenüber. Dieses Ereignis beendet den ersten Teil der Erzählung, überschrieben mit dem Titel ›Eine Kindheit im Iran‹. Der zweite Teil, die ›Jugendjahre‹, knüpft genau an dieser Stelle an und beschreibt das Leben Marjanes zwischen 1984 und 1994. Sie ist gezwungen, in Wien mehrmals den Wohnort zu wechseln und führt ein unstetes Leben mit wenig sozialem Halt. Sie geht eine Zeit lang im Punk auf und fängt an, Drogen zu verkaufen und selbst zu konsumieren. Ihr Freundeskreis wechselt, ist jedoch überwiegend einer hedonistischen oder rebellischen Szene verhaftet, der sie sich lange Zeit auch zugehörig fühlt. Mit Mühe schafft sie ihr Baccalaureate (das französische Abitur). Ihr Leben prägt ein Ringen um Zugehörigkeit, ein Kampf gegen Einsamkeit und gegen kulturelle Rollenkonflikte. Als sie mit 18 Jahren durch eine unglückliche Liebesgeschichte das Leben auf der Straße antritt und 1695 Vgl. dazu Chute, 2010 (b), S. 30. 1696 Vgl. Satrapi in Mayer, 2007. Um dem Rechnung zu tragen, werde ich im Folgenden den Namen ›Marjane‹ verwenden, wenn ich mich auf die Protagonistin der Erzählung beziehe (intradiegetisch), ›Satrapi‹ hingegen bei Bezug auf die Künstlerin dahinter.

Analyse des Werkes

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beinahe einer Lungenkrankheit erliegt, tritt sie schlussendlich den Rückweg in die immer noch geliebte Heimat an. Doch hier lebt sie eine Zeit lang weiterhin zerrissen zwischen den Kulturen. Depressionen und ein Suizidversuch sind die Folge. Ständig auf der Suche nach Selbstbestimmung, Protest und Identität besucht sie die Kunsthochschule, baut sich ein neues Leben auf, heiratet, lässt sich wieder scheiden, bis sie 1994 dem Iran und seinem Regime endgültig den Rücken kehrt und nach Frankreich zieht. Persepolis zeichnet die ungewöhnliche Lebensgeschichte einer jungen Frau, deren Unangepasstheit durch die Erzählung im Minderheitenmedium des Comics besonders unterstrichen wird: »By choosing to present her story through the graphic novel, Satrapi is clearly placing herself outside the mainstream.«1697 Das Werk steht zudem beispielhaft für die Neigung zeitgenössischer Comic-Künstler, in ernsten, (auto-)biographischen Comics Geschichten zu erzählen, die gleichermaßen von persönlicher wie politischer oder gesellschaftlicher Relevanz sind.1698 Marjanes Leben und Lebenswelt sind mit dem politischen Geschehen in ihrer Heimat tief verflochten, oft auch graphisch nebeneinander gestellt.1699 Man kann annehmen, dass Satrapi den Titel ›Persepolis‹ aus verschiedenen Gründen gewählt hat. Persepolis zählt zu den untergegangenen, verlorenen Hauptstädten des antiken Perserreichs und Jennifer Worth zieht hier eine Parallele: »Likewise, Satrapi initially reveals herself to be lost, adrift between her Persian heritage, her Iranian nationality, her Western (specifically French) education and a fundamentalist regime«.1700 Der Iran, wie sie ihn kennt und liebt, scheint für Marjane verloren. Und damit verliert sie einen wichtigen Teil ihrer Persönlichkeit und ihres Erbes. Das Sich-selbst-Verlieren gipfelt für Marjane durch körperliche und seelische Selbstzerstörung mindestens zwei Mal in der Katastrophe.1701 Möglicherweise wählte die Künstlerin den Namen dieser altpersischen Residenzstadt aber auch, um auf die ehemalige Größe ihrer persischen Heimat zu verweisen: Den Status als Weltmacht der Antike, als Zentrum der Kultur. Sie will mit ihrem Werk einen Blick hinter den Schleier, der seit der islamischen Revolution über das Land geworfen ist, ermöglichen. Denn es wird diese traditionsreiche Zivilisation fast ausschliesslich mit Fundamentalismus, Fanatismus und Terrorismus in Verbindung gebracht. Als Iranerin, die mehr als ihr halbes Leben im Iran verbracht hat, weiss [sic] ich, dass dieses Bild falsch ist. Darum war es so wichtig für mich, Persepolis zu schreiben. Ich glaube, dass man eine ganze Nation nicht aufgrund der Fehler einer extremistischen Minderheit verurteilen darf. Ich

1697 1698 1699 1700 1701

Worth, 2007, S. 153. Vgl. dazu Sina, 2016, 82f. Vgl. bspw. Satrapi, 2011, 106, 121. Worth, 2007, S. 154. Vgl. Stemmann, 2013, S. 17.

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Marjane Satrapis PERSEPOLIS – Fundamentalismus und Differenz

will auch nicht, dass jene Iranerinnen und Iraner vergessen werden, die für die Freiheit gekämpft haben und im Gefängnis gestorben sind […]1702.

Worth weist auf die Verknüpfung von Lebensgeschichte mit dem Schicksal einer Nation hin: Persepolis (the first volume, at any rate) is intended to some degree as a defence of an occupied and unjustly maligned country, but Marjane is squarely at the centre of the story. That the nation’s history and Marjane’s personal history are intricately interwoven is an even clearer demonstration of the identification between women and Iranian (here more specifically Persian) culture1703.

1.1.2 Veröffentlichung und Rezeption Der Comic ist mit 371 Seiten verhältnismäßig umfangreich. Die Teile ›Eine Kindheit im Iran‹ und ›Jugendjahre‹ werden heute in der Regel zusammen in einem Band veröffentlicht. Neben eingestreuten großformatigen Splash-Panels, die eine ganze oder eine halbe Seite einnehmen1704, um bestimmte Momente der Erzählung hervorzuheben, findet sich eine Panelanordnung von durchschnittlich drei Zeilen und meist fünf bis neun Frames (= Bilder) pro Seite. Das weist darauf hin, dass Satrapi die Veröffentlichung in Buchform möglicherweise bereits im Schaffensprozess angestrebt, vorhergesehen oder erwünscht hat. Zudem behandelt der Autorencomic ernste Themen, sodass sich das Werk an Erwachsene (oder zumindest Jugendliche) richtet und im Buchhandel und nicht am Magazinständer vertrieben wird. Dieser Faktor sagt ebenso wie der Marketingbegriff ›Graphic Novel‹ etwas über die kulturelle Bewertung des Werkes aus: Persepolis wird auch in hochkulturellen und bildungsverbundenen Kreisen geschätzt und als Kunst geschätzt. Unterstrichen werden kann diese Deutung durch die Veröffentlichung des Werkes in der ›Graphic Novel-Bibliothek‹ der renommierten Süddeutschen Zeitung im Jahre 2011, was dem Comic im deutschsprachigen Raum zusätzliche Popularität eingebracht haben sollte. Auch der hochwertige Einband des Werkes und die hohe Papierqualität der matten Seiten, die eine makellose Druckqualität ermöglichen, sprechen für die Anerkennung des Werkes, dessen Erwerb deshalb auch gewisse finanzielle Mittel erfordert.

1702 Satrapi, 2011, unpag. 1703 2007, S. 155. 1704 Vgl. etwa Satrapi, 2011, 93, 200, 321.

Analyse des Werkes

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1.1.3 Stil, Ausdrucksmittel und Erzählweise Diese Anerkennung könnte auf den ersten Blick erstaunlich erscheinen, weil Satrapi in den Zeichnungen von Persepolis keinen außergewöhnlich ausdrucksstarken oder auffällig künstlerischen Stil verwendet. Stattdessen erzielt sie große Effekte mit relativ konventionellen und minimalistischen Mitteln. Zudem ermöglicht ihr Stil durch zahlreiche Charakteristika eine einfache und flüssige Rezeption auf medialer Ebene, zum Beispiel durch konventionelle Gestaltungsmittel, eine Reduktion der Abbildungsdetails in Panel und Figurengestaltung, eine hilfreiche und ineinandergreifende Fügung von Text und Bild sowie Panelübergangsmodi, klare Frames und die Erzählrichtung, die westlichen Sehgewohnheiten entspricht. Diese Aspekte, unten näher ausgeführt, könnten zum Erfolg des Werkes beigetragen haben. Die Zeichnungen sind von Hand und mit einem klaren Strich und Konturschärfe angefertigt, was dazu führt, dass sie leicht zu erfassen sind und tendenziell beruhigend wirken.1705 Die Kolorierung ist strikt im Schwarz-weiß-Kontrast gehalten, was den Bildern m. E. nicht nur Klarheit, sondern auch Dringlichkeit verleiht. Durch den Verzicht auf Farbe fallen einige Gestaltungsmittel weg, denn Farbe kann sowohl räumliche Tiefe als auch Stimmungen oder Atmosphäre erzeugen.1706 Sie kann auch zur farblichen Markierung oder Hervorhebung genutzt werden, wie beispielsweise das blaue Spektrum in Marohs Blau ist eine warme Farbe1707. Dennoch hat Satrapis Stil Vorteile für die Ausdruckskraft. McCloud schreibt: »In Schwarzweiss werden die Ideen der Kunst direkter vermittelt. Die Bedeutung transzendiert die Form.«1708 In farbigen Comics werde eher die Schönheit der Welt mit ihren Formen und Oberflächen, sprich: die äußere Gestalt hervorgehoben und Objekte stärker vergegenständlicht.1709 Farbe drückt also die »Freude an der Form« aus.1710 Satrapi strebt aber nicht danach, die Schönheit des Irans abzubilden, etwa zu touristischen Zwecken. Stattdessen wählt sie eine stilistische Form, in der die Narration im Mittelpunkt steht, die die Lesenden für die Figur der Marjane einnehmen soll. Durch die schlichte farbliche Form wird deutlich, dass die Leser nicht in erster Linie Bilder vom Land präsentiert bekommen sollen (das vermögen Fotographien ja viel eher zu leisten), sondern dass eine subjektive Geschichte erzählt wird, in der es um Erfahrungen hinter der ›Oberfläche der Dinge‹ gehen soll. Satrapi erklärt:

1705 1706 1707 1708 1709 1710

Vgl. Dittmar, 2011, S. 79. Vgl. McCloud, 2001 (a), 198f. 2013. McCloud, 2001 (b), S. 200. Vgl. ebd., 197, 200. Ebd., S. 197.

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Durch die Abstraktion der Schwarz-Weiß-Zeichnungen kann jeder einen Bezug für sich herstellen. Deutsche haben den Film gesehen und gemocht, ohne eine Vorstellung davon zu haben, was Iran ist oder Unterdrückung dort, es spricht sie auf einer menschlichen Ebene an.1711

Zahlreiche Panels in halbnaher, naher und Groß-Ansicht verstärken das Gefühl, den Figuren nahe zu sein, da sie die zwischenmenschliche Distanz von persönlichen Unterhaltungen imitieren.1712 Die Darstellungen auf Augenhöhe verstärken diesen Effekt, weil die Lesenden sich auf diese Weise stärker emotional in die Geschehnisse einbezogen fühlen.1713 Ijoma Mangold ergänzt: »Sie zeichne, sagt Marjane Satrapi, ihre Familiengeschichte nicht für iranische Leser, sondern für jene westliche Welt, die gewissermaßen vor lauter Kopftüchern die Vielfalt der realen Gesichter des Irans nicht sehe.«1714 Auch das könnte erklären, warum sie nicht bereits bekannte Bilder aus dem Iran fotorealistisch reproduziert, sondern einen Zeichenstil wählt, der sich nicht stärker von negativ besetzten Fotos beispielweise aus den Nachrichten unterscheiden könnte. Der harsche Kontrast zwischen Schwarz und Weiß spiegelt in der Form aber auch inhaltliche Aspekte wider: Die Diskrepanz zwischen persönlicher Spiritualität und verstaatlichter Instrumentalisierung der Religion, zwischen dem Leben in Europa und dem Leben im Iran, zwischen Religiosität und Säkularisierung (vgl. dazu etwa Abb. 29).1715 Dies sind prägnante Spannungsverhältnisse im Werk. Auch die streng dualistische Weltsicht, die mit dem integralistischen Religionsverständnis des Regimes einhergeht, wird hier in gewisser Weise widergespiegelt.1716 Diesen Dualismus von Gut und Böse greift Satrapi wiederum auf und verkehrt ihn ins Gegenteil: Er dreht sich um Befürworterinnen und Kritiker des menschenverachtenden Systems und zumindest im ersten Teil der Erzählung gibt es keine (metaphorischen) Grauschattierungen. Es ist eine schwarz-weiße Welt, in der die Positionierung jeder Figur glasklar ist. Im Übrigen könnte Satrapis Verzicht auf Farbe tatsächlich zum Erfolg ihres Comics auch in hochkulturellen Kreisen beigetragen haben. Erneut sei zum Verzicht auf Farbe McCloud zitiert: »Die Bedeutung transzendiert die Form. Die Kunst nähert sich der Sprache.«1717 Mit der Sprache, dem geschriebenen Wort, hatte die hochkulturelle Welt selten Schwierigkeiten. Gleichzeitig distanziert sich Satrapi durch den Verzicht von Farbe in ihrem Werk auch von (westlichen) Mainstream-Konventionen. Häufig sind tatsächlich gerade experimentelle oder neuartige Comics ohne Farbe ge1711 1712 1713 1714 1715 1716 1717

Satrapi in Mayer, 2007. Vgl. dazu Dittmar, 2011, S. 83. Vgl. ebd., S. 85. Mangold in Satrapi, 2011, Klappentext. Vgl. ebd., S. 10. Vgl. dazu Wielandt, 2008, 419. 2001 (b), S. 197.

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halten, das gilt zum Beispiel für die Underground Comix der Sechzigerjahre. Heutzutage erhöhen sich damit die Publikationschancen, weil das Verlustrisiko für die Verlage geringer ausfällt, denn Farbe ist teuer. Konventionelle Comicalben, Superheldencomics oder Kindercomics wie aus dem Hause Disney sind im Gegensatz dazu ganz in eine freundliche Farbwelt getaucht, ebenso zeitgenössische Popcomics. Im Gegensatz zu Independent- oder Autorencomics sind es aber gerade auch diese, die von der Hochkultur tendenziell als minderwertig abgetan werden.

Abb. 29

In anderer Hinsicht greift Satrapi für ihre Narration aber außergewöhnlich stark auf konventionelle Gestaltungsmittel zurück. Wenn es allein darum geht, der Geschichte zu folgen, so brauchen die Lesenden nur geringe Comicrezeptionskompetenzen, wie sie sie zum Beispiel durch Disneycomics erworben haben könnten. Die Panels sind verhältnismäßig leer gehalten, so dass der Fokus der Aufmerksamkeit nicht durch zu viele andere Gestaltungselemente abgelenkt wird.1718 Damit macht Satrapi ihr Werk theoretisch einem sehr breiten Publikum zugänglich. Formal-ästhetische Feinheiten und das subtile Spiel mit dem Schwarz-weiß-Kontrast werden dadurch natürlich nicht ausgeschlossen. In den Worten Worths: »The illustrations are black and white; her analysis is anything but.«1719 1718 Vgl. dazu Dittmar, 2011, S. 79. 1719 2007, S. 154.

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Derartige Feinheiten lassen sich etwa an einem der Splashpanels darstellen, das über eine ganze Seite reicht und in dem Reihe um Reihe vom Regime Hingerichtete gezeigt werden, um die unvorstellbar große Zahl und das unvorstellbare große damit verbundene Leid auszudrücken1720. Dadurch, dass seitenfüllende Splashpanels die Ausnahme bilden, sticht dieses Bild besonders hervor und prägt sich den Leserinnen besonders stark ein. Man kann sich vor dem großformatigen Bild kaum ›schützen‹, denn es ist unübersehbar und aufgrund seiner Größe bleibt das Auge länger darauf ruhen. Diese wie auch die andere Hälfte der Doppelseite tragen innerhalb der Frames Schwarz als Grundfarbe, wahrscheinlich, um die Dunkelheit der Bilanz zu unterstreichen, die Marjanes Vater nach acht Jahren Krieg zieht.1721 Farbsprache im Comic ist meistens klassisch symbolisch. Dunkelheit wird auch im Comic mit Schatten und verdeckter Gefahr assoziiert, denn bei Lesenden stellt sich angesichts heller Panels leichtet ein sicheres Gefühl ein.1722 Zudem ist die rechte Seite in neun genau gleich große Panels geteilt, deren Rinnsteine ein markantes schwarz-weißes ›Panel Grid‹ (= Rahmenmuster) erzeugen, mit dem sich Gitterstäbe im Gefängnis assoziieren lassen.1723 Hier kann man eine Verbindung zu der Darstellung der im Gefängnis Hingerichteten im gegenüberliegenden Splashpanel schlagen, wodurch sich beide Seiten thematisch zu einem kohärenten Ganzen verbinden. Durch das Meta-Bild transportiert sich die Stimmung der Szene: Die Einstellung der rechten Seite zeigt Nahaufnahmen von Vater und Tochter, die sich in geradezu klaustrophobisch engen Frames zwängen. Diese visuellen Mittel können ein Gefühl der Bedrängung bei den Lesenden erzeugen, was hier nur intendiert sein kann. Im Allgemeinen erfolgt die Seitengestaltung des Comics relativ konventionell, die Bilder sind ausnahmslos in geradlinige und viereckige Frames gesetzt und leiten das Auge ohne graphische Experimente in die gewohnte westliche Erzählrichtung (von links nach rechts, von oben nach unten). Auch in Farbe und Breite der Rahmen folgt Satrapi der Tradition.1724 Diese deutlichen Frames vermitteln den Lesenden auch in komplexen oder erschütternden Abschnitten subtil ein Gefühl von Sicherheit, Klarheit und Ordnung. Hickethier erklärt: »Der Rahmen erklärt das in ihm Gezeigte als etwas Zusammengehörendes. Was in der Realität als zufällig und ungeordnet erscheint, erhält durch den Rahmen eine innere Ordnung.«1725 Dittmar ergänzt: »Auf diese Weise wird sehr geordnet und ruhiger erzählt als dies bei ständig wechselnden und individuell großen Rahmen

1720 1721 1722 1723 1724 1725

Satrapi, 2011, S. 262. Vgl. ebd., 262f. Vgl. dazu Dittmar, 2011, S. 80; Eisner, 2008 (a), S. 149. Satrapi, 2011, S. 263. Vgl. dazu Dittmar, 2011, S. 64. 2001, S. 47.

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in den Sequenzen der Fall ist.«1726 Die Einstellungsgrößen changieren zwischen Ganz- und Großansicht, die Perspektive ist überwiegend frontal, was westlichen Comicsehgewohnheiten ebenso voll entspricht. Es sind fast keinerlei Panoramaoder Detailaufnahmen vorzuweisen, ebenso bleibt das Spektrum der Perspektive ungenutzt, überwiegend sind die Figuren auf Augenhöhe gestellt. Damit hebt sich das Werk in gewisser Weise vom Medium des Filmes ab, das mit Kameraperspektiven versucht, spezifische Wirkungen auf die Betrachter zu erzielen, und nähert sich dem Drama an, das weniger mit Perspektiven arbeiten kann. Tatsächlich hat sich Jennifer Worth aus einer nachvollziehbaren, theaterwissenschaftlichen Perspektive mit Persepolis beschäftigt und vergleicht das Werk mit einer ›Solo-Performance‹ im Drama.1727 Sie unterscheidet deshalb nicht zwischen Künstlerin und (Kunst-)Figur und liefert eine plausible Bedeutung für diese durchgängig gehaltenen Frames: Satrapi versuche sich in der gesamten Erzählung und in allen Entwicklungsphasen selbst zu rahmen und zu erfassen, sei es nun in einer Identität als Punk, Drogendealerin, in ihrer Rolle als Tochter oder Ehefrau.1728 Der graphische Rahmen, zusammen mit der textuellen Erzählstimme, mache deutlich, dass Satrapi das zentrale Subjekt in all diesen Manifestationen ist. Die Rahmungen hielten sie buchstäblich voll und ganz im Mittelpunkt ihrer eigenen Geschichte und blieben konstant, unabhängig davon, wie viele Rollen Marjane für sich ausprobiert bzw. einnehmen muss. Dadurch, dass Satrapi ihren graphischen Avatar optisch so präsent in ihre Erzählung setzt, dass er in der stark überwiegenden Anzahl von Frames vorkommt, und keine detailreichen Panels zeichnet, ist es für die Lesenden leicht, das Wesentliche in den Frames zu erfassen und die Kontinuität der Sequenz zu verfolgen.1729 Die Emotionen darstellende Bildsprache zeigt sich trotz des intimen Charakters der Erzählung eher zurückhaltend. Möglicherweise kann Satrapi auf große bildliche Effekte verzichten, weil ihre Geschichte schon für sich genommen starke Emotionen bei den Leserinnen auslösen kann und sie die Bildsprache nicht überfrachten, also weiterhin mit subtilen, dezenten Mitteln arbeiten wollte. Übersteigerte Mittel beispielsweise der Emotionsdarstellung könnten vom schwerwiegenden Inhalt nur ablenken. Die Handlung spricht für sich, die Deutung bewältigen die Leser selbst. Dazu kommt, dass Satrapi die Gefühle der jungen Marjane häufig eher im Text, in den zahlreichen Captions, also im Modus der Ich-Erzählerstimme ausdrückt.1730 Sie wirft dabei auch immer wieder ein Licht auf die Diskrepanz zwischen der Fassade, die Menschen in ihrem Gesicht

1726 1727 1728 1729 1730

2011, 62f. Vgl. 2007, S. 144. Vgl. ebd., S. 157. Vgl. dazu Dittmar, 2011, 46f. Vgl. etwa Satrapi, 2011, 214, 231, 251.

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zeigen, und ihrem tatsächlichen Innenleben1731. Das ist gerade in ›Jugendjahre‹, in denen Marjanes innere Not teilweise nicht größer sein könnte, ohne dass ihre Umwelt dies klar erkennt, der Fall und ist bei näherer Reflexion bedrückend. Die subtile Bildsprache lässt die zurückhaltenden Mittel anklingen, die auch der europäische ligne claire-Stil zum Teil aufweist. Es ist denkbar, dass Satrapis Stil durch ihr Leben und Schaffen in Frankreich mit beeinflusst wurde. Damit ist die Form der Geschichte besonders für die europäische Leserschaft mit entsprechenden Sehgewohnheiten sehr ansprechend. Satrapi greift hin und wieder auch auf einige in der westlichen Comicwelt etablierte Icons und Ausdrucksmittel zurück, die Gefühlszustände oder Sinneswahrnehmungen bildlich darstellen, sie sind jedoch sparsam eingesetzt und oft auf wenige Striche reduziert.1732 Paraverbale Elemente werden im Comic nur durch eine Veränderung der Sprechblasenform und die leichte Variation der Typographie vermittelt, die jedoch ihren Zweck erfüllt. Während Sound Words und Speed Lines in amerikanischen Actioncomics geradezu eine körperliche Präsenz im Bild erhalten, hält sich Satrapi damit zurück, vermutlich um weiterhin die Figuren und keine aufmerksamkeitsheischenden Bewegungen in den Mittelpunkt zu stellen. Entsprechend wenig Bewegung wird in den Panels dargestellt und die Figurenposen wirken eher statisch. Auch in dieser Hinsicht scheint Satrapi sich stilistisch an der ligne claire zu orientieren.1733 Bedenkt man, mit wieviel Wohlwollen die Kunst Hergés, dem Begründer dieses Stils, auch in intellektuellen Kreisen hierzulande (vermutlich auch aus nostalgischen Gründen) gegenübergebracht wird, überrascht es m. E. nicht, dass sich dieses Wohlwollen auch auf Persepolis übertragen hat.1734 In einer weiteren Hinsicht teilt das Werk die Ästhetik vieler franko-belgischer Comicwerke: die vereinfachte Figurendarstellung. Satrapi gestaltet ihre Charaktere durchgängig im gleichen Stil, in einer weich gehaltenen Ästhetik, die nebenbei auch durch die handgeletterte, weiche und runde Typographie (im Deutschen von Michael Hau) und die Sprechblasen, die in der Regel mit abgerundeten Ecken versehen sind, unterstrichen wird. So kommt es abermals zu einer tendenziell beruhigenden und ansprechenden Ästhetik innerhalb der klaren (klassisch-eckigen) Frames. Auf einer Skala zwischen dem extrem redu1731 Vgl. etwa ebd., 220, 231. 1732 Vgl. etwa ebd., 212f., 246. 1733 Es lohnt sich darauf hinzuweisen, dass der reduzierte und ausgewogen anmutende Stil der ligne claire nicht konstitutiv für alle frankobelgischen Comics ist – weder heute noch zu Zeiten der Stilausbildung. Zur Blütezeit der Tim und Struppi-Comics erschienen im französischen Comicmagazin ›Spirou‹ beispielsweise Comics, die mit Gaston, dem Marsupilami und vielen anderen Figuren Dynamik, Bewegung und – ja auch – Chaos in Szene gesetzt haben. 1734 Vgl. dazu Hofmann, 2012, S. 22.

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zierten Strichmännchen und der fotorealistischen Zeichnung liegen Satrapis Zeichnungen eindeutig eher auf der cartoonhaften Seite, in etwa auf einer zeichnerischen Ebene mit Comicfiguren wie Charlie Brown (Die Peanuts). Aber: Satrapis ›Graphic Avatar‹ ihrer Selbst ist genauso wie ihre anderen Figuren mit deren Charakteristika in keiner Hinsicht überzeichnet (wie etwa durch übergroße Nasen).1735 Sie heben sich dadurch vom cartoonhaften Stil des Mainstream-Comics ab, da kindgerechte Comicfiguren wie Lucky Luke stärker hervorgehobene Merkmale (wie die schwarze Haartolle) und auch ihre gleichbleibende Kleidung ikonischen Wiedererkennungswert haben. Satrapi verzichtet ebenso auf unverhältnismäßig große Augen, die auch in der Comicwelt als Spiegel der Seele gelten. Dies steht im Einklang mit der eher zurückhaltenden Bildsprache in Bezug auf die Emotionen der Figuren. Von Kindercomicfiguren (und Mangacomics) grenzt sich Persepolis also subtil ab und unterstreicht so die besondere Ernsthaftigkeit der Erzählung. Der Verzicht auf zu viele Figurendetails führt dazu, dass Charaktere auf einen Blick von den Rezipientinnen erfasst und wiedererkannt werden.1736 oder auch den Effekt, dessen Theorie von McCloud ersonnen wurde: Je unspezifischer, cartoonhafter eine Comicfigur gehalten ist, desto leichter lässt sich deren Perspektive einnehmen. Dem Leser fällt es leicht, ›in die Haut der Figuren zu schlüpfen‹ und sich mit ihnen zu identifizieren. Dadurch fällt auch die Empathie leichter, was zur Eindrücklichkeit der Erzählung beiträgt. McCloud bezeichnet diesen Effekt als »amplification through simplification«.1737 Worth verbindet mit den Figuren von Satrapis Comic auch Glaubwürdigkeit: »Their simplicity and straightforwardness underline her painfully honest authorial voice.«1738 Die aufwändig von Hand geletterten Texte im Comic verstärken den Eindruck, dass es sich hier um eine sehr intime Geschichte handelt, die Menschen persönlich ansprechen soll. Handgeschriebene Texte im Comic sind immer von stärkerer persönlicher Ausdruckskraft als maschinell erstellte Texte, die durch ihre Gleichförmigkeit und den impliziten Verweis auf gefühllose Technik eine gewisse Distanz zwischen Erzählung und Leserin schaffen können. Auch in der Erzählweise setzt Satrapi auf Persönlichkeit und verwebt die Makroperspektive, die auf die Geschichte einer Nation gerichtet ist, mit der subjektiven Perspektive Marjanes. Sie wählt für die Darlegung ihrer Biographie grob eine chronologische Vorgehensweise und berichtet dabei episodenhaft. Eine Untergliederung kommt durch Einzelkapitel zustande, zwischen denen

1735 Ausnahme bildet eine Seite, die das fünfte Kapitel der ›Jugendjahre‹ einleitet und die körperliche Metamorphose von Marjanes Pubertät humorvoll überzeichnet darstellt. 1736 Vgl. Dittmar, 2011, S. 71. 1737 McCloud, 1994, S. 30, übersetzt etwa ›Hervorhebung durch Vereinfachung‹. 1738 2007, S. 154.

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teilweise auch gewisse, nicht näher spezifizierte Zeitsprünge herrschen.1739 Zusammenfassende Berichte bilden zusammen mit einzelnen Episoden aus Marjanes Leben die Regel. Diese Episoden markieren wichtige Punkte der Geschichte. Immer wieder finden sich auch großformatigere Panels, die nicht nur optisch hervorstechen, sondern diese Momente in der Erzählung als wesentlich kennzeichnen, da große, detailreichere Frames gesteigerte Aufmerksamkeit verlangen und die Rezeption verlangsamen, also ein Moment der Verzögerung in den Leseprozess einkehren lassen. Die Verteilung der Panelübergangsmodi1740 entspricht denen vieler amerikanischen und europäischen Mainstream-Comics1741, wodurch sich der Erzählung gut folgen lässt: In den zusammenhängenden Episoden der Geschichte ist dies überwiegend ein Übergangsmodus von Handlung zu Handlung1742 oder von Szene zu Szene.1743 Der Übergangsmodus von Szene zu Szene oder auch der hin und wieder vertretende Modus von Gegenstand zu Gegenstand1744 verlangt von der Leserschaft gesteigerte Ansprüche an das deduktive Denken.1745 Dieser Effekt, der potenziell hohe Ansprüche an die Rezeption stellen kann, wird aber dadurch deutlich gemildert, dass Satrapi durch kommentierende Texte in Captions Kohärenz schafft und die Anforderungen an die Induktion reduziert, während die Kommentare den Komplexitätsgrad der Narration erhöhen. Das gleiche gilt für gelegentliche Übergänge im Modus von Gesichtspunkt zu Gesichtspunkt1746, der die von Satrapi eingestreuten Erklärungen illustriert. Kaum eine Seite kommt ohne diese meist in eckig eingefassten Captions aus. Durch die Verwendung verschiedener Zeichensysteme schöpft Satrapi so die Möglichkeit des Mediums voll aus, mehrdimensional zu erzählen.1747 Denn in den Captions findet sich die Stimme der Erzählerin, die aus der Perspektive der erwachsenen Marjane das Erzählte kommentiert oder Zusammenhänge erklärt. Im Panel, bildlich dargestellt, findet sich rückblickend das eigentliche, präsente Geschehen der Erzählung, inklusive der Vorstellungen und Träume Marjanes oder Illustrationen der spezifisch erzählten persischen Geschichte und des gegenwärtigen politischen Geschehens. Nur hin und wieder wird dieses Schema durchbrochen und Satrapis graphischer Avatar übernimmt selbst in Gestalt von Sprechblasen den Kommentar, wie erklärend an die Leserin gewandt.1748 So wird eine Beziehung zwischen Figur und Leser suggeriert, was zu 1739 1740 1741 1742 1743 1744 1745 1746 1747 1748

Vgl. etwa Satrapi, 2011, 203f. Vgl. dazu McCloud, 2001 (b), S. 78ff. Ebd., S. 83. Vgl. etwa Satrapi, 2011, 13, 134. Vgl. etwa ebd., 45, 65, 74f., 79. Vgl. etwa ebd., S. 135. Vgl. McCloud, 2001 (b), S. 79. Vgl. etwa Satrapi, 2011, S. 195. Vgl. dazu Dittmar, 2011, S. 27. Vgl. etwa Satrapi, 2011, S. 273.

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stärkerer emotionaler Involviertheit führt. Es finden sich also in vielen Panels nicht nur zwei Medien miteinander verwoben (Text und Bild), sondern auch zwei Zeitebenen. Diese werden visuell meistens eindeutig voneinander abgehoben, wenn nicht gar direkt die ›vierte Wand‹ durchbrochen wird. Der Textanteil im Comic ist durch diese vielen erläuternden und kommentierenden Erzählerstimmentexte verhältnismäßig hoch. Satrapi greift auch auf Text zurück, wo Bilder eine Gefühlswelt allein nicht so genau auszudrücken vermögen, wie es notwendig erscheint oder sie auf die bildliche Darstellung eines besonders schrecklich anmutenden Inhaltes verzichtet.1749 Daneben gibt es aber auch vereinzelte Passagen und vor allem immer wieder Momente/Panels in der Erzählung, in denen Satrapi entweder ganz auf Text verzichtet oder höchstens erläuternde Captions eingesetzt hat.1750 Diese Momente werden durch ihren raren Charakter in der Narration hervorgehoben und sind besonders eindrücklich, denn unter anderem ist der Leser in diesen Momenten gezwungen, das Bild ganz genau zu betrachten, um ihm Bedeutung zu entnehmen. Emotionen müssen bildlich dekodiert werden und erfordern Konzentration auf den Moment der Geschichte. Während sein Anteil hoch ist, so ist dem Text doch gut zu folgen. Das ist natürlich auch der gelungenen Übersetzung von Stephan Pörtner aus dem Französischen zu verdanken. Gerade die gesprochene Sprache in den Panels ist in Grammatik und Lexik entsprechend lebensnah (»Wenn einer dir ein Haar krümmt…Ich bring ihn um!« oder »Gefälschte Wahlen und sie fallen darauf rein: 99,99 %!! […] Woher kommt diese Zahl? Aus ihrem Arsch kommt sie!«1751), so dass beispielsweise auch Kraftausdrücke ihren Platz haben und die Authentizität der Erzählung stützen.1752 Dabei bleibt der Text aber immer an der ›Standardsprache‹ orientiert, allzu vulgäre Sprache, Zweideutigkeiten, Ellipsen oder Slang, wie so oft gerade in amerikanisch-sprachigen Comics zu finden, werden vermieden. Der Text ist deshalb auch für diejenigen, deren Erstsprache nicht Deutsch ist, prinzipiell nicht unzugänglich. Der Erzählerstimmentext in den Captions verzichtet in stärkerem Maße auf Umgangssprache und erweckt so einen höheren Eindruck von Objektivität. Sowohl in den Panels als auch in den Sprechblasen wird in jedem Falle auf komplizierte Bildungssprache verzichtet: Es gibt zwar einige wenige fachliche Lexeme (wie »Norouz« oder »Maghnaeh«1753), diese werden jedoch – ebenso wie die restlichen historischen und kulturellen Zusammenhänge der Erzählung – kurz erklärt. Ebenso unkompliziert ist die Syntax, Konstruktionen aus zwei Hauptsätzen oder Verknüpfungen aus einem 1749 1750 1751 1752 1753

Vgl. etwa ebd., 278, 149f. Vgl. etwa ebd., 313–316, 144, 146, 311. Ebd., 149, 66. Vgl. etwa ebd., 66, 76, 189, 238, 240. Ebd., 11, 299.

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Marjane Satrapis PERSEPOLIS – Fundamentalismus und Differenz

Hauptsatz mit ein bis zwei Nebensätzen überwiegen. Damit gibt es für das Verständnis des Comics nur geringe sprachliche Hürden. Im bereitgestellten Unterrichtsmaterial des Verlages ›Edition Moderne‹, der die deutschen Publikationsrechte besitzt, wird das Sprachniveau von Persepolis übrigens auf der Niveaustufe B1 des Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmes für Sprachen (GER) eingeordnet.1754

1.2

Inhaltliche Aspekte

Persepolis ist ein komplexes und vielschichtiges Werk, das auf vielen Ebenen gelesen werden kann und Themen aufwirft, die für Heranwachsende von Wert sind und nicht nur, aber auch, für den Religionsunterricht fruchtbar gemacht werden können. Dazu gehört unter anderem die grundsätzliche Identitätskonstruktion im Prozess des Erwachsenwerdens. Im Comic ist dabei häufig der Körper Ausdrucksmedium dieser Suchbewegung.1755 An Körpern allgemein werden in der Narration immer wieder symbolische Komplexe konstruiert. Die Autorinnen Anna Stemmann1756 sowie Jennifer Worth konzentrieren deshalb ihre inhaltliche Analyse vor allem auf die Darstellungen von Körperlichkeit im Comic, wenn Marjane beispielsweise »comes to realize, how bodies, and particularly female bodies, operate as a site of power struggles, and how government can utilize that power to achieve its own ends«.1757 Die Verhandlung von allen Formen von Körperlichkeit ist ein reiches Interpretationsfeld im Werk, da sie ein wesentliches Instrument der Erzählung sind.1758 Panels in der Long Shot-Entfernung (Halbtotale), wie sie zahlreich in Persepolis zu finden sind, unterstützen derartige Interpretationsweisen, da sie sich gut eignen, um Menschengruppen und körperbetonte Aktivitäten abzubilden.1759 Andere Themen, in unterschiedlicher Gewichtung, sind beispielsweise die Konstruktion von Erinnerung, die Relevanz der familiären Beziehung spezifisch zur Großelterngeneration, die (nicht selten fatale) Natur von Depressionen oder natürlich die Geschichte des Irans und des Nahen Ostens. Ich werde mich hier aber auf die Darstellung zweier zentraler Themenbereiche beschränken, die für die Behandlung im Fach Religion zweifelsfrei Relevanz entfalten können und eine gewisse gesellschaftliche Relevanz und Aktualität haben, was der didaktischen Gegenwarts- und Zukunftsbedeutung entsprechen 1754 1755 1756 1757 1758 1759

Vgl. 2007, S. 1. Vgl. Stemmann, 2013, S. 11. 2013. Worth, 2007, S. 150. Vgl. Stemmann, 2013, S. 8. Vgl. dazu Dittmar, 2011, S. 82.

Inhaltliche Aspekte

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soll. Einerseits sind dies kulturelle Spannungs- und Differenzverhältnisse, andererseits das Feld von Fundamentalismus und Widerstand. Beide großen Themenbereiche berühren auch Aspekte von Intersektionalität in Diskriminierungskontexten und können so auch zum Awareness-Building in Lerngruppen beitragen.1760

1.2.1 Kulturelle Differenz- und Spannungsverhältnisse Dem Thema inter- und intrakultureller Fremdheit, dem Leben ›in zwei Welten‹, wie es etwa Zugewanderte manchmal empfinden sowie kulturellen Rollen- und Identitätskonflikten kann in einer pluralismusfähigen Religionspädagogik kaum genug Aufmerksamkeit geschenkt werden. Auch die EKD erklärt unter anderem, »dass der Umgang mit migrationsbedingter kultureller, aber auch religiöser Vielfalt heute zu den Grundvoraussetzungen schulischer Arbeit gezählt werden muss.«1761 Es kann darum Anliegen des Religionsunterrichtes sein, kulturelle Differenzerfahrungen zu verarbeiten, also »[a]ngesichts der Globalisierung und der multikulturellen und multireligiösen Lebenszusammenhänge […] Verständigungsfähigkeit und Toleranz« auszubauen.1762 Manche Autoren belegen interkulturelle Kompetenzen sogar mit dem Begriff ›Schlüsselkompetenz‹, die zur Verständigung zwischen Menschen mit unterschiedlich kulturellem (und religiösem) Hintergrund befähigt.1763 Im Religionsunterricht kommt es dabei häufig zu einer Überschneidung von kulturellem, interreligiösem und religionskundlichem Lernen.1764 Zeitgemäßer Religionsunterricht– das erfordere der gesamtgesellschaftlich kulturelle Wandel – solle laut Hämel/Schreijäck immer und wie selbstverständlich auch eine interkulturelle Perspektive in das Unterrichtsgeschehen mit einbeziehen, um einen Beitrag zu interkultureller Bildung zu leisten.1765

1760 Katharina Walgenbach erklärt den Begriff folgendermaßen: »Unter Intersektionalität wird dabei verstanden, dass soziale Kategorien wie Gender, Ethnizität, Nation oder Klasse nicht isoliert voneinander konzeptualisiert werden können, sondern in ihren ›Verwobenheiten‹ oder ›Überkreuzungen‹ (intersections) analysiert werden müssen. Additive Perspektiven sollen überwunden werden, indem der Fokus auf das gleichzeitige Zusammenwirken von sozialen Ungleichheiten gelegt wird. Es geht demnach nicht allein um die Berücksichtigung mehrerer sozialer Kategorien, sondern ebenfalls um die Analyse ihrer Wechselwirkungen« (2012, S. 81). 1761 2014 (c), S. 16. 1762 Niedersächsisches Kulturministerium, 2009, S. 7. 1763 Vgl. Hämel; Schreijäck, 2012, S. 148. 1764 Vgl. ebd. 1765 Vgl. ebd., 146f.

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Marjane Satrapis PERSEPOLIS – Fundamentalismus und Differenz

Dabei muss der Religionsunterricht aber auch Sorge »für die eigene Verwurzelung und Identität der Kinder und Jugendlichen« tragen.1766 Die Beschäftigung mit dem kulturell-subjektiv ›Fremden‹ kann eine Chance sein, sich des ›Eigenen‹ bewusst zu werden.1767 Ähnliches gilt für religiöse Urteilsfähigkeit, für die Sinnfindung und Orientierung in der Welt.1768 Persepolis bietet Zugänge zur Reflexion von kulturellen Erwartungshaltungen, unter anderem in Abhängigkeit von Genderzuschreibungen. Dies spielt auch eine Rolle im Themenfeld von Herkunftsdiskriminierung, ›Othering‹ und Rassismus, welches von Satrapi durch mehrere kurze Episoden im ganzen Werk erschlossen wird. Da im Religionsunterricht wohl noch stärker als in anderen Fächern ein Fokus darauf liegt, trotz Differenzerfahrungen das respektvolle Kommunizieren und Kooperieren zu üben1769, kann dieses Thema durchaus explizit zum Gegenstand des Faches gemacht werden – gerade, wenn es im sozialen und alltäglichen Umfeld der Jugendlichen schon zu verletzenden Worten und Gesten gekommen ist. Verschiedene Kulturen und kulturelle Anforderungen Als Marjane mit zarten 14 Jahren ohne ihre Familie nach Österreich geschickt wird, sieht sie sich zunächst mit Isolation und der subjektiven Unvereinbarkeit von verschiedenen Kulturen und kulturellen Anforderungen konfrontiert.1770 Stemmann spricht hier von »Fremdheitsgefühlen resultierend aus dem Spannungsfeld der kulturellen Differenzerfahrungen«.1771 Assimilationsversuche führen wiederholt zu Schuldgefühlen, weil Marjane das Gefühl hat, durch ihr Handeln die Kultur ihres schwer von Krieg getroffenen Landes und ihrer Familie abzustreifen: »Je mehr ich mich um Integration bemühte, desto mehr hatte ich den Eindruck, mich von meiner Kultur zu entfernen, meine Eltern und meine Herkunft zu verraten.«1772 Tagsüber blendet sie ihre Herkunft zunehmend aus, spricht nicht von der Heimat oder ihren Eltern und wechselt sogar den Fernsehsender bei Erwähnung ihres Herkunftslandes, aber des Nachts träumt sie und ihre Erinnerungen holen sie ein.1773 In der Hoffnung auf soziale Akzeptanz beginnt sie mit ihrer Clique Drogen zu konsumieren, während sie gleichzeitig aber das Bild ihrer Eltern bewahren möchte, ein »Traumkind« zu sein.1774 Die Heimlichkeiten und notgedrungenen Lügen verstärken ihre Schuldgefühle. Die 1766 1767 1768 1769 1770 1771 1772 1773 1774

Niedersächsisches Kulturministerium, 2009, S. 7. Vgl. Hämel; Schreijäck, 2012, S. 148. Niedersächsisches Kulturministerium, 2009, S. 7. Vgl. ebd., 16, 29, 34. Vgl. Satrapi, 2011, 199ff. 2013, S. 6. Satrapi, 2011, S. 199. Vgl. ebd., 200, 202. Ebd., 198ff.

Inhaltliche Aspekte

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Folge ist ein Rollenkonflikt, weil die Anforderungen an Marjane als ›Iranerin‹, ›Österreicherin‹, Tochter und Mitglied ihrer Peergroup zu unterschiedlich sind. Eine gewisse Linderung tritt erst ein, als sie nach anfänglichem, buchstäblichen Leugnen ihrer Herkunft stärker für ihre Wurzeln eintritt: »Ich hatte endlich zu mir gestanden. Zum ersten Mal seit einem Jahr war ich stolz. Ich hatte verstanden, was Grossmutter [sic] meinte: ich musste zuerst wissen, wer ich war, bevor ich mich integrieren konnte.«1775 Zu wissen, ›wer man ist‹, ist jedoch auch schon in behüteten Kontexten zweifelsohne eine Herausforderung für heutige Heranwachsende. Zerrissen zwischen zwei Kulturen gelingt Marjane deshalb letztendlich kein erfülltes Leben in Österreich. »Identität konstruiert sich über Beziehungsgeflechte und die Verortung des Subjekts innerhalb dieser«1776 – und diese Beziehungsgeflechte haben für Marjane keine Beständigkeit beziehungsweise es besteht (wie zur Familie) keine Übereinstimmung zwischen räumlicher und emotionaler Nähe (vgl. dazu auch IV 2.2).1777 Stemmann spricht hier deswegen auch von einem doppelten »Spannungsfeld von Adoleszenz und Migration«.1778 In Wien hat Marjane keine (nicht einmal symbolische) Verbindung zum Iran, fühlt sich oft einsam und spricht nicht mehr in ihrer Familiensprache. In ihrer Suche nach Halt sitzt das junge Mädchen zwischen zwei Stühlen, was ihr am Ende nicht nur innerlich, sondern auch äußerlich großes Leid zufügt. Sie zieht häufig um, und obwohl sie soziale Kontakte hat, so bleibt ihr der Aufbau langfristig stabiler, verlässlicher Beziehungen in Wien verwehrt: »Ich hatte niemanden.«1779 Zu groß scheint die Hemmschwelle, an alte Beziehungen anzuknüpfen, um an entscheidenden Stellen Hilfe zu erbitten1780, und erst recht nicht, den liebevollen Eltern ihren Schmerz und ihr Scheitern in so vieler Hinsicht mitzuteilen: »Lieber brachte ich mich in Gefahr, als dass ich mich meiner Schande stellte. Die Schande, niemand geworden zu sein, meine Eltern, die alles für mich geopfert hatten, nicht stolz gemacht zu haben. Die Schande, eine armselige Nihilistin geworden zu sein.«1781 In diese Wahrnehmung spielen eventuell auch kulturelle Erwartungen bzw. Vorstellungen von Eltern-Kind-Verhältnissen hinein. Hier wird auch deutlich, dass Marjane nicht nur äußerlich keinen elterlichen (und eigenen) Erwartungen mehr entspricht, sondern auch Denkformen zu verinnerlichen beginnt, die ihre Familie ablehnen würde. Nach einem tragischen Erlebnis zu viel, verliert Marjane ihren Lebenswillen und wird für mehrere

1775 1776 1777 1778 1779 1780 1781

Ebd., S. 203. Stemmann, 2013, S. 6. Vgl. dazu auch Rosa, 2013 sowie IV 2.2. 2013, S. 7. Satrapi, 2011, S. 245. Vgl. ebd., S. 45. Ebd., S. 250.

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Monate obdachlos.1782 Niemand scheint sich in Wien um sie zu sorgen. Erst als sie fast dem österreichischen Winter erliegt und durch ein paar Tage im Krankenhaus wieder ansatzweise Stabilität und möglicherweise Aufmerksamkeit sowie (Für-)Sorge erfährt, findet sie auch die innere Gefasstheit zum Entschluss, nach Hause zurückzukehren.1783 Obwohl diese Entscheidung mit Hoffnungen verbunden gewesen sein mag, tritt zurück in Teheran zunächst keine Ruhe in den Identitätskonflikt ein. Dazu kommen Marjanes Geheimnisse, die sie aus ihrer Zeit im Ausland mit sich herumträgt und mit denen sie sich niemandem anzuvertrauen vermag.1784 Dieses Gefühl der sozial-kulturellen Zugehörigkeitslosigkeit führt zu einem sozialen Rückzug und in die Depression.1785 Antidepressiva vermögen kurzfristige Linderung zu schaffen, [a]ber sobald die Wirkung der Tabletten nachliess, brach das Elend wieder über mich herein. Mein Unglück liess [sic] sich ein einem Satz zusammenfassen: Ich war ein Nichts. Ich war eine Westlerin im Iran, eine Iranerin im Westen. Ich hatte keine Identität. Ich wusste gar nicht, wozu ich noch lebte.1786

Ohne dass dieses Phänomen die Gesamtheit der Krise erfassen könnte, zeigt Satrapi hier auch die mitunter extremen psychischen Folgen eines Re-Entry/ Reverse Culture-Schocks auf, der nicht selten, aber weitgehend unbekannt und deshalb umso schmerzhafter ist.1787 Gender-Rollenkonflikte Marjanes alte Freundinnen sind ihr nach ihrer Rückkehr keine große Hilfe. Tatsächlich tragen sie maßgeblich zu ihrem Gefühl bei, eine Fremde im eigenen Land zu sein. Es kreuzen sich kulturelle Erwartungshaltungen mit Gender-bezogenen Erwartungshaltungen, die Marjanes intrakulturelle Isolation verdoppeln. Die jungen Frauen bieten ein gutes Beispiel nicht nur für die Spannungen zwischen traditioneller und säkularer Gesellschaft, sondern auch für die Diskrepanz zwischen Vorstellung und Traumbild vom Westen im Gegensatz zur Realität: Marjanes Freundinnen verbinden mit Europa und den USA Freiheit, ›Glamour‹ und Schönheit. Um ihre (oberflächliche) Westverbundenheit zu de1782 1783 1784 1785 1786 1787

Vgl. ebd., S. 238ff. Vgl. ebd., S. 241ff. Vgl. ebd., S. 274. Vgl. ebd., 273f. Ebd., S. 278. Culture Reverse-Shocks können nachweislich zu starker Rastlosigkeit, aber auch zu Unterforderung und einem Gefühl der Entwurzelung führen, es kann zu Depressionen, Zukunftsängsten und dem Wunsch nach Isolation kommen (vgl. dazu University of California, Santa Barbara.)

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monstrieren, passen sie sich äußerlich diesen Schönheitsidealen höchstmöglich an. Da sie aber nie im Westen gelebt haben (es ist nicht leicht, ein Visum zu erhalten), können sie sich nur an populärkulturellen Quellen orientieren, die natürlich nicht immer die Realität widerspiegeln: »Sie glichen allesamt den Heldinnen amerikanischer Fernsehserien«.1788 Man kann davon ausgehen, dass dies eine Chiffre für starkes Make-Up, minutiös gestylte Haare, einen unterdurchschnittlich niedrigen BMI und möglicherweise auch Schönheitsoperationen ist (die Schönheitsoperation der Nase hat heutzutage im Iran eine für Deutsche erschreckende Alltäglichkeit erlangt). Marjane, die als einzige wirklich im Westen gelebt hat, gibt sich äußerlich mitteleuropäisch schlicht, was auf Befremdung stößt. Ihre Freundin verunsichert sie: »Was ist denn das für ein Nonnen-Look? Kaum zu glauben, dass du in Europa gelebt hast.«1789 Auch sonst interessieren sie sich vor allem für westliche Klischees, zum Beispiel für die Partyszene in Wien.1790 Die Folge ist, dass Marjane eine immer geringere Verbundenheit zu ihnen spürt. Erst viel später beginnt sie zu verstehen, »dass sich zu schminken und sich am westlichen Stil zu orientieren, ihre Form des Widerstandes war.«1791 Schließlich fordert das fundamentalistische Regime Irans die »Abkehr von Mustern kulturellen und sozialen Lebens, die aus dem modernen Europa und Nordamerika übernommen wurden.«1792 In ihrer Freiheit derart beschränkt, ist die offene Zuschaustellung westlicher Schönheitsideale für die Frauen ein subtiler Akt der Rebellion. Marjane beherrscht die kulturell erworbenen Regeln dieses Spieles der Äußerlichkeiten noch nicht. Zwischen innerem Denken und äußerlichem Erscheinungsbild in ihrem Umfeld liegt darüber hinaus eine tiefe Kluft, die die irritierte Marjane erst nach und nach begreift: »Hinter ihrer modernen Fassade waren meine Freundinnen echte Traditionalistinnen.«1793 Im Grunde sollte dies Marjane nicht ganz fremd sein, denn auch sie hatte anfangs in Österreich noch traditionelle Moralvorstellungen, die schwer mit westlichen Codes zu vereinbaren waren.1794 Langsam öffnet sie sich in Wien aber differierenden Vorstellungen und kann so zurück im Iran auf Nachfrage ihrer Freundinnen zugeben, in Wien sexuelle Erfahrungen gemacht und auch mit mehr als einem Mann geschlafen zu haben. Mit dieser relativ liberalen westlichen Einstellung gegenüber Sexualität wird sie (für sie überraschend) erneut abgelehnt, was ihren Identitätskonflikt verstärkt: »Na, was

1788 1789 1790 1791 1792 1793 1794

Vgl. Satrapi, 2011, S. 265. Ebd. Vgl. ebd. Ebd. Vgl. Wielandt, 2008, 420. Satrapi, 2011, S. 276. Vgl. Stemmann, 2013, S. 16.

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ist dann der Unterschied zwischen dir und einer Nutte?«1795 Durch derartige Anfeindungen muss Marjane erfahren, dass für ihre Freundinnen, die möglicherweise repräsentativ für viele junge Iranerinnen sind, eine krasse Kluft zwischen Fassade und Wertgefüge besteht. Die Diskrepanz von äußerlicher, körperlicher Offenheit sowie gleichzeitiger moralischer ›Verstocktheit‹ führt zu Marjanes Ausschluss aus der Ordnung ihres Freundeskreises, weil sie in entgegengesetzten Polen zu verordnen ist.1796 Ihr Gefühl von intrakultureller Fremdheit wird verstärkt. Man könnte auch sagen, dass Marjane vor allem angefeindet wird, weil sie den spezifischen kulturellen Genderrollenerwartungen im Iran ihrer Zeit nicht gerecht wird. Das ist ein Anzeichen für intersektionale Ausgrenzungsstrukturen, die besonders belastend sein können. Nach schwerer Depression und keinerlei Hilfe durch ihre Therapien wird Marjane bis in einen Suizidversuch getrieben.1797 Schließlich findet sie aber dennoch die Möglichkeit, sich dem Leben zu stellen. Ihr Identitätskonflikt wird gelindert, indem sie sich öffnet und bewusst wieder in die moderne iranische Kultur eingliedert, zum Beispiel das Angehen von staatlichen Prüfungen, dann durch neue Freundinnen, Ertüchtigung ihres Körpers und Anpassung des äußeren Erscheinungsbildes.1798 Nicht nur an dieser Stelle drückt die Künstlerin also wieder viel über körperliche Erfahrungen aus: Während sich Marjane äußerlich in eine »zeitgemäße junge Frau«1799 verwandelt, findet sie auch psychisch wieder Halt in ihrer Heimat. Äußerlich unterscheidet sie sich nun nicht mehr von anderen gleichaltrigen Iranerinnen, was ihrem intrakulturellen Fremdheitsgefühl entgegenwirkt. Innerlich behält sie aber ihre Unabhängigkeit und baut einen neuen Freundeskreis auf, der sich durch ähnliche Einstellungen auszeichnet.1800 Damit erschließt sie sich ihre alte Heimat neu und findet in der Gesellschaft einen Platz für sich, ohne ihr inneres Wachstum zu verleugnen. Ausgrenzung und Herkunftsdiskriminierung mit und ohne Genderbezug Nicht nur in der sozialen Sanktionierung ihrer sexuellen Offenheit durch die ehemaligen Freundinnen macht Marjane Ausgrenzungserfahrungen. Auch andere von Satrapi dargestellte Erlebnisse verarbeiten dieses Thema. Dabei erfolgen diese Ablehnungen fast ausnahmslos im Zusammenhang mit Genderrollen. Marjanes Freundinnen schließen die Heldin nicht nur aus, weil sie kulturell mitteleuropäische Einstellungen übernommen hat, sondern spezifisch, weil sie eine Frau mit diesen Einstellungen ist. Ein Mann mit Marjanes exakter Ein1795 1796 1797 1798 1799 1800

Satrapi, 2011, S. 276. Vgl. auch Stemmann, 2013, S. 16. Vgl. Satrapi, 2011, S. 277ff. Vgl. ebd., 280–282, 288. Ebd., S. 280. Ebd., 282, 310f.

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stellung zur Sexualität hätte zweifelsohne nicht mit diesen spezifisch sozialen Sanktionierungen zu kämpfen. Denn eine unverheiratete Frau hat in gewissen traditionellen Gesellschaften ihre Keuschheit mit allen Mitteln zu wahren. Darum wird Marjane als »Nutte« bezeichnet, eine spezifisch weibliche Diffamierung.1801 Als junges Mädchen erlebt Marjane mit, wie auch während des Golfkrieges weibliche Geflüchtete aus dem Süden Irans mit genau diesem Schimpfwort abgestraft werden.1802 Sie stoßen aus vielerlei Gründen auf Ablehnung in Teheran, hier jedoch werden sie beschuldigt, die Lebensmittelknappheit im Supermarkt verursacht zu haben (wofür sie objektiv betrachtet nicht verantwortlich gemacht werden können).1803 Marjane wird Zeugin, wie sich dort zwei Frauen abschätzig über die Geflüchteten äußern und ihre Ablehnung mit der hanebüchenen Erklärung begründen, diese Frauen wollten allein ihre Ehemänner verführen. Marjane schämt sich für ihre eigenen, irrational denkenden Mitbürgerinnen. Die weiblichen Geflüchteten werden in ihrer Rolle und Ehre spezifisch als Frau angegriffen, als ihnen verallgemeinernd Ehebruch, Prostitution und allgemeine Hinterhältigkeit unterstellt wird. Man beachte: In beiden letztgenannten Episoden sind es Frauen, die andere Frauen titulieren und verurteilen, was der Beleidigung sowohl möglicherweise Gewicht verleiht als auch ihre Infamie steigert. Ebenso findet die Abstrafe als ›Nutte‹ beide Male im Iran statt. In dieser immer noch der Tradition verbundenen Gesellschaft, in der Virginität und sexuelle Zurückhaltung von hoher sozialer Relevanz sind, kommt dem verbalen Angriff besondere Schärfe zu. Auch in Wien macht Marjane einige explizit gegen sie als Frau gerichtete rassistische Erfahrungen. Einmal belauscht Marjane unbemerkt Mädchen im Café, die sich hinter ihrem Rücken diffamierend über sie äußern.1804 Sie zielen dabei direkt auf ihre Weiblichkeit, wenn sie sagen, Marjane sei hässlich und verdiene keinen attraktiven Österreicher. Bevor sie zur Verteidigung ansetzt, reagiert Marjane mit einem Gefühl, dass sich visuell erneut in Körperlichkeit ausdrückt: Sie erscheint beim Zuhören tatsächlich zu schrumpfen, buckelig und unscheinbar zu werden (Abb. 30).1805 Gefühle werden für die Lesenden sichtbar. Ihre Freundinnen hingegen merken bei anderer Gelegenheit an, Marjane werde in der österreichischen Gesellschaft nur akzeptiert, weil sie ein Mädchen sei.1806 Marjane zweifelt dies nicht offen an. Stattdessen scheint sie den Zusammenhang von Gender und Ausgrenzung nachzuvollziehen und fragt sich, ob denn ihre 1801 1802 1803 1804 1805 1806

Vgl. ebd., S. 276. Vgl. ebd., 96f. Vgl. ebd., S. 91. Vgl. ebd., S. 202. Vgl. dazu auch Stemmann, 2013, S. 12. Vgl. Satrapi, 2011, S. 234.

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Freunde auch nur mit ihr befreundet sind, weil sie weiblichen Geschlechts ist. Sie zeigt damit die Relativität derartiger Zuweisungen auf.

Abb. 30

Satrapi zeigt so: Geschlecht und Herkunft können im Kontext der Ausgrenzung und Fremdenfeindlichkeit eine spezifische Verbindung eingehen, Beleidigungen so verstärken und noch verletzender machen. Darum läuft diese Wechselwirkung auch potenziell auf intersektionale Diskriminierung hinaus. Genderzuweisungen und Rollenbilder können auch im pluralitätsfähigen Religionsunterricht durchaus (mit theologischem Bezug) thematisiert werden.

1.2.2 Fundamentalismus und Widerstand Ein weiterer Themenbereich in Persepolis, der besonders gut im Religionsunterricht erschlossen werden kann, ist der Gegenstand von Religion, Fundamentalismus und Widerstand. Er dreht sich um Gesichtspunkte von Halt und Hoffnung, den persönlicher Glauben bietet, aber auch um Zweifel und Missbrauch von Religion. ›Sichtbare‹ und ›unsichtbare‹ Religion Obwohl nicht explizit darauf hingewiesen wird, ist in Persepolis doch der Unterschied zwischen ›sichtbarer‹ und ›unsichtbarer‹ Religion (nach Luckmann) zentral; also der Unterschied zwischen der persönlichen Gottesbeziehung und der institutionalisierten, verstaatlichten Religion im (in diesem Falle) theokratischen Iran.

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Bereits das erste Kapitel der Comicbiographie dreht sich um dieses Thema und stimmt damit den Grundton der Erzählung an.1807 Marjane wächst mit dem Glauben auf und findet als Kind Halt und Freude in ihrer Gottesbeziehung.1808 Welcher Denomination ihre Familie angehört, wird nicht explizit genannt, sie scheint jedoch dem Islam nahezustehen. Am Anfang finden sich noch wenige Spannungen zwischen ihrer Innen- und Außenwelt. Selbstbewusst hofft das Mädchen darauf, zu einer Prophetin heranzuwachsen, um Missstände und Ungerechtigkeit in ihrer Umwelt zu bekämpfen.1809 Schon hier fließt am Rande ein, dass sie sich nicht durch traditionelle Frauenrollen einschränken lassen will. Ferner wird sie auf diese Weise gleich am Anfang der Erzählung als intelligent, aufmerksam, mutig, visionär und gerechtigkeitsorientiert charakterisiert. Marjane führt lange Gespräche mit Gott, fühlt sich von ihm ermutigt und beschützt.1810 Erst als sie nach der Revolution im Jahr 1980 wie alle Mädchen und Frauen gezwungen wird, in der Öffentlichkeit den Schleier zu tragen, kommen Befremdung und Spannungen zwischen ihrem Glauben einerseits und der Modernität und Aufgeschlossenheit ihrer Familie andererseits auf.1811 Gläubigkeit und Schleierlosigkeit schlossen sich für sie vorher nicht aus, Schleier und Modernität im Gegensatz dazu schon. Marjane steht so exemplarisch für die Spaltung einer ganzen Nation: »Ich wusste nicht, was ich vom Kopftuch halten sollte.«1812 Da sich für Marjane Gottesvorstellung und Religion in enger Verbindung mit ihrer Familiengeschichte und den Umbrüchen ihrer Lebenswelt entwickeln, stellen sich mit der Revolution erste Zweifel ein. Als Neunjährige versucht sie erstmals, politische Entwicklungen zu verfolgen und in ihr Weltbild zu integrieren, sie wird außerdem ermutigt, sich mit der säkularen Ideengeschichte zu beschäftigen und verarbeitet auch so die Veränderungen ihrer Lebenswelt.1813 Die Lesenden, für die das Thema der Islamischen Revolution möglicherweise Neuland ist, werden auf diese Weise an den Gegenstand herangeführt, wobei durch die Augen der kleinen Marjane auch einfachen Sichtweisen Raum eingeräumt wird. Die Unruhe der Nation überträgt sich unmittelbar auf das Mädchen. Gott und Karl Marx fangen in ihrer Vorstellung an zu verschwimmen.1814 Sie verfängt sich im Dualismus von Denken und Handeln und sucht angesichts von Gewalt und Verwirrung gleichzeitig Schutz bei Gott: »Gerechtigkeit, was war das? Jetzt, wo die Revolution vorbei war, kehrte ich mich vom dialektischen Mate1807 1808 1809 1810 1811 1812 1813 1814

Vgl. ebd., S. 7ff. Vgl. ebd., S. 10. Ebd., 10f. Vgl. ebd., 12f. Vgl. ebd., 7, 10. Ebd., S. 10. Vgl. ebd., 14, 16f., 32. Vgl. ebd., S. 17.

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rialismus meiner Comics ab. Ich fühlte mich nur in den Armen meines Freundes [= Gott, Anm. d. A.] wirklich sicher.«1815 Doch auch dieser Zustand bleibt nicht lange bestehen und sie empfindet tiefe seelische Verlorenheit und Wut auf Gott, als ihr geliebter Onkel von den Regimeträgern hingerichtet wird.1816 Danach wird Gott als Figur nur noch ein einziges Mal und erst sehr viel später wieder im Comic auftreten.1817 was nicht nur die persönliche Glaubenskrise verdeutlicht, sondern auch einer Religionskritik nahekommt. Diese Entwicklung zeigt gut, wie Religion in der Lebensgeschichte verankert ist, wie Menschen jeden Alters durch Spiritualität ihr Leben und ihre Wirklichkeit verarbeiten, wie die religiöse Sozialisation jedoch zeitgleich von entscheidenden Erlebnissen, von Beziehungen, von Erziehung u.v.m. geprägt wird und in Bewegung bleibt (vgl. auch III 3.2).1818 Derartige Themen können schon von jugendlichen Leserinnen nachvollzogen werden und bieten Anlass, sich die eigene spirituelle Entwicklung und Anfragen an das Transzendente im Zusammenhang mit der Biographie bewusst zu machen. Trotz des Unglückes und der Krisen, die sie durchsteht, scheint sich bei Marjane als Jugendliche und junge Erwachsene eine relativ lebendige Gottesbeziehung zu etablieren. Man sieht sie jedoch nicht in institutionalisierten Religionskontexten wie einer Moschee, dem rituellen Gebet oder beim Feiern bestimmter Festtage. Stattdessen werden Anzeichen ihrer Gottesbeziehung episodenhaft und in Verbindung mit prägnanten Stellen der Lebensgeschichte eingestreut. Sie zitiert an einer Stelle den Koran, ansonsten werden viele religiöse Spezifika offen genlassen.1819 Dennoch markieren Momente des Glaubens stets bedeutungsvolle Stellen in Marjanes Leben.1820 Es wird deutlich, dass sie eine Bestimmung und einen unsichtbaren Plan für ihr Leben wahrnimmt: Zwei Mal entrinnt sie dem Tod, zwei Mal schließt sie daraus, dass sie zweifelsohne weiterleben soll und göttliches Einwirken eine Rolle gespielt haben muss.1821 Beide Male hat dies entscheidende Motivationswenden zur Folge. Während diese zurückhaltenden Bezüge zu Religion positiv belegt sind, könnte der Fundamentalismus, auf dem das theokratische Staatssystem des Irans beruht, werkimmanent nicht negativer betrachtet werden. Von der Zeitspanne abgesehen, die Marjane in Europa verbringt, ist er im Grunde ständig 1815 Ebd., S. 57. Wenn hier von Comics die Rede ist, sind damit Sach- und Infocomics gemeint, mit deren Hilfe sich das Mädchen die reiche Welt der Ideengeschichte erschließt. Man sieht hier, welche Tradition Infocomics besitzen! 1816 Vgl. ebd., S. 75. 1817 Vgl. ebd., S. 229. 1818 Vgl. dazu auch Meyer-Blanck; Weyel, 2008, S. 158. 1819 Vgl. Satrapi, 2011, S. 290. 1820 Vgl. etwa ebd., 289f., 304. 1821 Ebd., 247, 279.

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präsent, was zeigt, wie sehr die Lebenswelt der Iranerinnen davon geprägt war. Religiöser Fundamentalismus ist an sich ein Phänomen der Moderne. Er »entsteht […] als offensive Gegenbewegung zu einer modernitätsbestimmten Transformation der jeweiligen Herkunftsr[eligion], deren Wahrheit er durch Relativismus, Pluralismus, Historismus und Autoritätsvernichtung bedroht sieht.«1822 Für den islamischen Fundamentalismus ist nach Wielandt die Überzeugung charakteristisch, mit dem Islam ein absolut und zeitlos gültiges, in sich geschlossenes ›System‹ von Erklärungsmustern und Handlungsanweisungen für die polit. und soziale Wirklichkeit zu besitzen, das die persönliche Lebensführung jedes einzelnen sowie das Zusammenleben in Gesellschaft und Staat erschöpfend regelt und für sämtliche in diesen Bereichen denkbaren Probleme die bestmöglichen Lösungen bereithält.1823

Damit geht die Denkweise einher, alle Andersdenkenden seien »böswillige Widersacher«, die aufs härteste bekämpft werden müssen.1824 Im Iran ist diese fundamentalistische Vorstellung, eine religiös fundierte, staatliche Theokratie errichten zu müssen, nach dem Sturz des Schahs Wirklichkeit geworden. Unter diesem Deckmantel werden noch immer Verbrechen an der Menschheit verübt und Menschenrechte verletzt.1825 Auch Persepolis zeigt, wie beispielsweise die Schwester eines Regierungsfeindes mit den Worten »Wir vollstrecken Gottes Wille!« umgebracht wird. Religion ist nicht mehr allein eine Sache der inneren Existenz, sondern religiöse Vorschriften, wortwörtlich aus den normativen Texten des Korans und der Hadithen übernommen, bestimmen jedes Detail des öffentlichen Lebens, unabhängig von innerlichen Wertmaßstäben. Das Ergebnis ist eine Diktatur, die Religion vor allem für staatliche Interessen instrumentalisiert. So wird an den schiitischen Märtyrerkult angeknüpft, um im Golfkrieg Jungen als Minensucher anzuwerben.1826 Damit missbraucht das Regime religiöse Versprechen und knüpft übrigens verstärkt an spezifisch männliche Interessen an, wenn den Jungen im Paradies viele (Jung-)Frauen versprochen werden.1827 (Tatsächlich sind die paradiesischen Verheißungen aber allgemein an stereotyp männlichen Wünschen orientiert.1828) Gerade Jungen aus ärmlichen Verhältnissen werden vom Regime angesprochen, was dessen Berechnung offenbart: »Der Schlüssel zum Paradies ist für die Betrogenen. In der Hoffnung auf ein besseres Leben fliegen tausende von Jungen auf den Minenfeldern in die

1822 1823 1824 1825 1826 1827 1828

Küenzlen, 2008, Sp. 415. Wielandt, 2008, 419. Ebd. Vgl. dazu bspw. Amnesty International, 2017. Satrapi, 2011, S. 103ff. Vgl. ebd., S. 104. Walther, 2008, 270f.

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Marjane Satrapis PERSEPOLIS – Fundamentalismus und Differenz

Luft.«1829 Obwohl Satrapi in Persepolis vorwiegend den islamischen Fundamentalismus kritisiert, straft sie auch die katholischen Nonnen in Wien ab, da sie Marjane in ihrer Pension das Leben schwermachen und durch ihre Stellung offenbar beleidigendes Verhalten legitimiert sehen. Das Urteil lautet: »In jeder Religion gibt es die gleichen Extremisten.«1830 Erneut wird Religion von seiner repressiven Seite gezeigt. Da (öffentlich gelebte) Religiosität nach der islamischen Kulturrevolution mit Staatskonformität einhergeht und gleichzeitig vor dem Verdacht, das Regime nicht infrage zu stellen, schützt, entwickeln sich zum eigenen Schutz unter anderem Täuschungsstrategien, die auch Marjanes Familie anwendet.1831 Gleichzeitig beobachten sie bei Nachbarinnen und Bekannten Schauspielleistungen, die genutzt werden, um in einem theokratischen Staat in der sozialen und beruflichen Hierarchie aufzusteigen.1832 Dieses Verhalten, das Religiosität nur nach außen hin zur Schau stellt, während das Herz unberührt bleibt oder Religiosität dazu nutzt, sich über andere zu erheben, wird als heuchlerisch dargestellt. Immer wieder wird in der Erzählung impliziert, dass Menschen sich dieses Verhaltens bedienen, Religion also ebenso wie der Staat zu instrumentalisieren und zum Politikum machen. Man spielt nach den Regeln des Regimes, wobei alle positiv besetzten Figuren in der Erzählung eindeutig Regierungskritikerinnen sind. Zum Teil zeigt sich das implizit daran, dass Frauen ihr Haar auch vor Männern zeigen, mit denen sie in keinem Verwandtschaftsverhältnis stehen, was den gängigen Gesetzen widerspricht und die öffentlichen Normen infrage stellen soll.1833 Es gibt jedoch eine eindrucksvolle Ausnahme in der Erzählung, die von einem der staatlichen Universität verbundenen Mullah erzählt. Beim Ideologietest zur Zulassung antwortet Marjane ihm auf seine Fragen so offen, dass sie der gängigen Regierungsideologie widerspricht.1834 So erklärt sie, warum sie das Kopftuch als unnötig erachtet (es ist nicht die einzige Stelle, in der der Schleier Symbolcharakter hat, s. u.). Sie argumentiert zwar für den Leser aus innerer Frömmigkeit heraus, bringt sich aber in Gefahr, ihren Studienplatz zu verlieren, da im islamischen Iran nur die äußere Frömmigkeitszurschaustellung wirklich zählt. Der Mullah aber schätzt ihre Ehrlichkeit und ihren Glauben, der sich auch abseits von strengen Regeln, wie dem Beten auf Arabisch, vollzieht. Er setzt sich für sie ein und Marjane erhält einen der raren Studienplätze. Satrapi schreibt: »Ich hatte

1829 1830 1831 1832 1833 1834

Satrapi, 2011, S. 106. Ebd., S. 184. Vgl. ebd., S. 79. Vgl. ebd., 79, 125. Vgl. etwa ebd., 312, 321f., 264, 106, 342f. Vgl. ebd., 290f.

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Glück gehabt. Ich war auf einen wirklich religiösen Mann getroffen.«1835 Hier deutet sich enormes religionspädagogisches Potenzial an! Unterdrückung und Widerstand Von Anfang an wird die staatlich-islamistische Unterdrückung in Persepolis auch mit dem damit verbundenen Widerstand gezeichnet. Dabei zeigt Satrapi die Kulturrevolution mit ihren Folgen immer wieder spezifisch aus der Perspektive der Frauen. So nehmen ihre Eltern Marjane 1980 das erste Mal auf eine Kundgebung mit, in der gegen den Islamismus und auch die Schleierverordnung demonstriert wird. Ihre Mutter besteht darauf: »Gerade als Frau muss sie lernen, für ihre Rechte zu kämpfen!«1836 (Eine Aussage, die sich übrigens auch im Unterricht diskutieren ließe.) In Koran und Hadith werden die Geschlechterrollen tatsächlich kultisch und sozial relativ festgelegt.1837 Diese Angaben werden in der Theokratie zum Gesetz und bringen eine deutliche Bevorzugung des Mannes mit sich, da er nun beispielsweise nach einer Scheidung Anspruch auf die Kinder hat.1838 Teilweise werden die Angaben auch zugunsten des Staates ausgelegt. So empfiehlt der Koran Frauen zwar zurückhaltende Kleider und zurückhaltendes Gebahren (›Hijab‹), nicht aber explizit den Schleier, erst recht nicht zentimetergenaue Angaben über die Länge desselben.1839 Persepolis stellt dar, wie Frauen durch derartige Vorschriften aber ganz besonders drangsaliert werden. Der Verschleierungszwang steht dabei immer wieder im Mittelpunkt der Erzählung, sie setzt sogar mit genau dieser Problematik ein.1840 Durch die wiederkehrende Thematisierung wird er zum Dreh- und Angelpunkt alltäglicher weiblicher Unterdrückung. Die Genderspezifik dieser Gängelung offenbart sich vor allem durch die Doppelmoral, die Frauen so entgegengebracht wird. Während Männer sich relativ frei bewegen und mit weniger Einschränkungen kleiden können, werden Frauen durch Bekleidungsvorschriften sogar in ihrer Ausbildung eingeschränkt.1841 Bei Missachtung drohen von offizieller Seite schwere Strafen und sogar Übergriffe, da eine Frau ohne Schleier sich im neu geprägten gesellschaftlichen Bild offen sexueller Belästigung aussetzt.1842 So werden zwar alle Iranerinnen und Iraner unterdrückt, Frauen aber besonders stark und mit

1835 1836 1837 1838 1839 1840 1841 1842

Ebd., S. 290. Ebd., S. 80. Vgl. Walther, 2008, Sp. 270. Vgl. Satrapi, 2011, S. 343. Vgl. Walther, 2008, Sp. 271. Vgl. Satrapi, 2011, S. 7. Vgl. ebd., S. 302ff. Vgl. ebd., 78f.

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spezifischen Folgen und Auflagen diskriminiert.1843 Auf diese Weise repräsentiert der Schleier – mit den gesamten Körper-bezogenen Auflagen – die allgegenwärtige Macht des Regimes, die überall im Straßenbild zu sehen ist. Der Schleier ist damit auch ein Symbol der Angst. Er unterdrückt revolutionäre Gedanken, auch bei Männern, die sich um ihre Freundinnen oder Familienmitglieder sorgen müssen. Satrapi schreibt: Das Regime wusste, dass eine Person, die sich beim Verlassen des Hauses fragte: Sind meine Hosen lang genug? Sitzt mein Kopftuch richtig? Sieht man meine Schminke? Werde ich ausgepeitscht? …sich nicht mehr fragte: Wo ist meine Gedankenfreiheit? Wo ist meine Redefreiheit? Ist mein Leben lebenswert? Was geschieht in den politischen Gefängnissen? […] Die Angst lähmte uns. Übrigens war für alle Diktaturen Angst immer schon der Motor der Repression. Die Haare zu zeigen oder sich zu schminken wurde deshalb zu einem Akt der Rebellion.1844

›Weiblicher‹ Widerstand nimmt hier andere Formen an als ›männlicher‹ Widerstand, weil sich auch die genderspezifischen Unterdrückungsformen voneinander unterscheiden. Satrapi schreibt: »Die Kleidung wurde zu einer ideologischen Frage.«1845 Über diese Körperlichkeit wird viel ausgetragen: Die Macht des Regimes, die über jeden Quadratzentimeter Haut bestimmen will, aber auch der Protest dagegen (Im ähnlichen Kontext: »Mein Körper gehört mir!«1846). Satrapi beschreibt, wie sich viele Frauen gegen die Angst zur Wehr setzen, indem sie beispielsweise trotz Polizeiverbot freizügige Feiern veranstalten1847. In einer Zeit, in der die großen Demonstrationen und Kundgebungen durch Angstverbreitung und brutale Repression zum Erliegen gekommen sind, werden die Verstöße gegen die Ordnung subtiler und bis ins maximal mögliche ausgereizt. Es gibt nicht viel Spielraum, aber: Frauen machen sich wieder sichtbarer, indem sie beispielweise das Handgelenk zeigen oder sich schminken.1848 Der Körper wird erneut zum Politikum und zum Instrument der Subversion. Das heißt aber nicht, dass Frauen nicht auch ganz offen aufstehen und widersprechen, wie es Marjane bei einer Universitätsvollversammlung durchaus tut.1849 Auch fernab der Schleierfrage sind hegemoniale Unterdrückungsstrukturen gegen Frauen auffindbar. Diese verlaufen m. E. dabei nicht nur additiv. Die Suppression der Frauen hat ihre ganz eigene Dynamik, was erneut auf Intersektionalität hinausläuft. So werden weibliche Gegnerinnen der Revolution und Diktatur nicht nur erschossen, sondern, sofern unverheiratet, vorher auch ver1843 1844 1845 1846 1847 1848 1849

Vgl. ebd., S. 308. Vgl. ebd. Ebd., S. 79. Ebd., S. 309. Ebd., S. 312ff. Vgl. ebd., S. 308. Vgl. ebd., S. 303.

Religionspädagogische Reflexion

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gewaltigt und entwürdigt.1850 Das ist nicht bloß eine zusätzliche Strafe. Sie entfaltet ihren ganz eigenen Schrecken. Man darf nicht übersehen, dass auch Männer im Iran spezifische Auflagen erfüllen mussten und müssen und deshalb nicht in jeder Situation im Vorteil sind. So werden beispielsweise die Jungen an die Front geholt, es sind die Männer, die im Krieg kämpfen und ihr Leben lassen müssen und es sind Männer, denen es nach islamischem Recht verwehrt ist zu heiraten, wenn ihr Lebensunterhalt zu gering ist. Auch sie haben keine Religions- oder Meinungsfreiheit. Die Besonderheit von Persepolis ist es, eine Widerstandsgeschichte aus weiblicher Perspektive zu zeichnen.

1.3

Religionspädagogische Reflexion

1.3.1 Religiöse Bildung fördern Anhand von Persepolis lassen sich relativ wenige inhaltsorientierte Kompetenzen für das Fach Ev. Religion, in der Form, in der sie vom Niedersächsischen Kerncurriculum gefordert werden, erwerben. Das heißt nicht, dass Themen wie die moderne Geschichte des Irans nicht grundsätzlich wertvoll und ergiebig wären, sondern dass sie schlicht nicht im Kerncurriculum für die Sekundarstufe I berücksichtigt sind. Auf den ersten Blick scheint Persepolis geeignet für die Didaktik der Weltreligionen, genauer: für den Kompetenzbereich Religion unter dem Leitthema »Den Islam kennenlernen« in Klassenstufe 7/8 auf.1851 Allerdings muss die Eignung des Werkes für die Erarbeitung dieses Themenbereichs angezweifelt werden: Erstens wird in Persepolis der Islam durch dessen durch das Regime stattfindende Instrumentalisierung und die Kritik an Extremismus nicht nur nicht von seiner positiven Seite gezeigt, sondern vor allem in seiner gewalttätigen Perversion. Um diese zu erkennen und vergleichend zu kritisieren, müssen aber bereits Grundkenntnisse über den Islam und seine Botschaft(en) vorhanden sein. Es gilt, den Unterschied zwischen Islam und Islamismus zu erfassen. Zweitens ist das Werk auch gar nicht darauf ausgelegt, den Islam zu erklären. Trotz des politischhistorischen Bezuges ist Persepolis kein reiner Sachcomic. Drittens sind einige Inhalte von Persepolis nicht für Zwölfjährige geeignet und eine angeleitete Lektüre des Ganzwerkes sollte frühestens in der neunten Klasse erfolgen. Auch für die Oberstufe ist das Werk zweifelsohne lohnend. In höheren Klassenstufen, in denen grundlegendes Wissen um den Islam bereits vorhanden ist, bietet 1850 Vgl. ebd., S. 149. 1851 Vgl. Niedersächsisches Kulturministerium, 2009, S. 33.

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Persepolis auch für die Vertiefung oder Wiederholung einen Ausgangspunkt. Allein in Auszügen können schon zwölf- oder dreizehnjährige von Persepolis profitieren, zum Beispiel, wenn zur Hijab-Frage ein befürwortender Infocomic und Auszüge der Biographie kontrastierend gegenübergestellt werden, um die Bedeutung von Religionsfreiheit zu verdeutlichen. Dafür ist der Comic überaus wertvoll! Trotz nicht allzu vieler konkreter Anknüpfungspunkte zu inhaltsorientierten Kompetenzbereichen des Bildungsplans bietet sich die Schullektüre von Persepolis unter Umständen an und rechtfertigt sich auch durch den Grundsatz der didaktischen Freiheit, die den Religionsunterricht in Hinblick auf die Schülerorientierung stützt. Schröder erklärt: »Der Gebrauch von Lehrplänen, Unterrichtsmaterialien anderer Autoren und die Fortschreibung des Bewährten ist kein Ersatz für eigene didaktische Entscheidungen.«1852 Im Auftrag des Religionsunterrichtes können anhand von Persepolis unterschiedliche prozessorientierte Kompetenzbereiche erarbeitet werden. Diese haben didaktische Gegenwarts- und Zukunftsbedeutung, etwa weil sie die allgemeine Pluralismusfähigkeit der Schülerinnen stärken, also den respektvollen Umgang mit Menschen anderer Religion und Kulturen fördern können. Gerade dialogisch ausgerichtete Religionsunterrichtskonzepte wie der ›Religionsunterricht für alle‹ in der Freien und Hansestadt Hamburg sollten besonderes Interesse daran haben. Zudem regt Persepolis stark dazu an, im Vergleich zu dem Dargestellten eigene Formen der Religiosität zu reflektieren und zu prüfen. Besonders sticht hier die religionspädagogisch angestrebte ›Urteilskompetenz – in religiösen und ethischen Fragen begründet urteilen‹ hervor. Satrapi zeigt eindrücklich, wie das islamische Regime nach der Kulturrevolution und im Golfkrieg Religion für eigene Zwecke instrumentalisiert. Das kann auch schon von jungen Schülerinnen als »lebensfeindliche« Form von Religion wahrgenommen werden1853. Deshalb sollte der Unterricht hier auch Raum geben, Zweifel und Kritik an Religion auszudrücken und ihre Berechtigung auf den Prüfstand zu stellen. Im starken Kontrast dazu stehen die lebensförderlichen und ermutigenden Erscheinungsformen von Religion, wie sie im Comic Marjane und ihre Mutter praktizieren und über die es sich auszutauschen lohnt.1854 Überhaupt sollte die stete und grundsätzliche Einbindung von Religion und religiösen Zeichen in kulturelle Kontexte thematisiert werden, wenn über Instrumentalisierung von Religion gesprochen wird. Ebenfalls gefördert werden kann anhand Persepolis die ›Wahrnehmungsund Darstellungskompetenz‹, da es im Comic so vielfach um religiöse Erschei1852 2012, S. 562. 1853 Vgl. etwa Satrapi, 2011, S. 103. 1854 Vgl. ebd., 10f., 229.

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nungsformen und Spiritualität geht. Dazu gehören Elemente in der Erzählung wie Marjanes Überzeugung, sie habe eine Bestimmung zu erfüllen oder auch ihr kindlicher Wunsch, Prophetin zu werden.1855 Vielfach finden sich Möglichkeiten, religiös bedeutsame Phänomene in Lebenswelt und Kultur zu erforschen und auch religiöse Spuren und Dimensionen im eigenen Leben/in der eigenen Biographie zu entdecken und mit anderen zu teilen, zum Beispiel mit direkt anschließenden Impulsen wie ›Glaube auch ich, dass mein Leben von einem Schicksal mitbestimmt ist?‹ oder sogar ›Was würde ich in der Welt schaffen wollen, wenn ich Prophet/Prophetin sein könnte?‹ Zusätzlich bietet es sich an, durch die biographische Religionspädagogik hier Bezug auf eigene (auch zurückliegende) Gottesbilder zu nehmen und diese begründet zu reflektieren oder in Beziehung mit denen anderer zu setzen. Schließlich wird der Einsatz von Persepolis auch dem religionsdidaktischen Anspruch gerecht, Materialien einzusetzen, die immer wieder aus unterschiedlichen kulturellen und/oder religiösen Kontexten stammen.1856 Hämel/Schreijäck heben dabei sogar besonders Biographien aus anderskulturellen Kontexten hervor.1857 Sie sollen ermöglichen, »sich der Perspektive von Menschen in anderen Lebenssituationen und anderen religiösen Kontexten an[zu]nähern und einen Bezug zum eigenen Standpunkt her[zu]stellen«. Diese Kompetenz befindet sich wie die Fähigkeit zum respektvollen Umgang mit religiös und kulturell (subjektiv) Fremdem im Umfeld der ›Dialogkompetenz‹. Dialogkompetenz bezieht sich also nicht nur auf den interreligiösen Dialog, sondern auch auf den Austausch mit Menschen aus anderen Kulturen. Dafür ist Wissen über den kulturellen Hintergrund der Menschen hilfreich. Nass schreibt: »Marjane Satrapi hasst die Klischees über ihre Heimat. Der Westen sehe nur den Tschador und wisse nichts von der stolzen iranischen Kultur. Ein Dialog könne so nicht zustande kommen.«1858 Entsprechend möchte Satrapi durch ihren Comic explizit für diesen öffnen. Die Lektüre führt vor Augen, warum Menschen aus ihrem Land fliehen müssen. Am Werk kann folglich, richtig angeleitet, eine Kompetenz erarbeitet werden, die im Transfer auch für andere Kontexte wertvoll ist. Durch die Fähigkeit zur Perspektivübernahme wird die Empathie gestärkt und für kulturelle Unterschiede und Integrationsschwierigkeiten sensibilisiert. Persepolis kann den optimalen Anschluss bieten, den Aspekt der interkulturellen Kompetenz als einer der Leitprinzipien des Religionsunterrichtes zu stärken.1859 Der Comic ist für diese Thematik geradezu prädestiniert, da die innere Zerrissenheit Marjanes zwischen zwei Kulturen zu den zentralen Topoi des zweiten Teils ge1855 1856 1857 1858 1859

Vgl. ebd., 247, 10f. Vgl. Hämel; Schreijäck, 2012, S. 148. Vgl. 2012, 154f. Nass, 2014, unpag. Vgl. dazu Hämel; Schreijäck, 2012, S. 146.

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hört. Genauso wie Marjane zunehmende Ambiguitätstoleranz entwickelt, können auch die Schüler dieses Kompetenzfeld erwerben oder ausbauen.1860 Der kulturelle Kontext von Gender, wie Satrapi ihn darstellt, kann Anstoß zum diskursethischen Austausch über tägliche Lebenssituationen geben: »Denn weder das ›Eigene‹ noch das ›Andere‹ ist als jeweilige kulturelle und religiöse Tradition fraglos zu akzeptieren, sondern bedarf der Fähigkeit und des Mutes zur kritischen Reflexion.«1861 Hier kann die Ambiguitätstoleranz verhandelt werden, fordert Persepolis doch gerade dazu auf, zum Beispiel gegen Unrecht die Stimme zu erheben und nicht nur trotz fehlendem Verständnis pauschalisierend und gleichgültig gegenüber dem Neuen und ›Anderen‹ zu sein. Dabei dürfte es den Lernenden leichtfallen, sich in Marjane einzufühlen: Möglicherweise ist sie die ideale Heldin im Einsatz für Schüler, denen es schwerfällt, Dialogkompetenz und Pluralismusfähigkeit zu erwerben. Einerseits durch die formal-ästhetische Gestaltung des cartoonhaften Zeichenstils, der die Perspektivübernahme erleichtert, die handgeletterten Texte, die Authentizität und Persönlichkeit vermitteln u.v.m. (s. o.). Andererseits durch inhaltliche Aspekte: Marjane ist eine sympathische Protagonistin, mutig und (meist) entschlossen, zeigt aber auch viel Verletzlichkeit und wirkt durch die Darstellung von Fehlern und Charakterschwächen umso authentischer und glaubwürdiger. Zudem ist sie in großen Abschnitten im gleichen Alter wie die Schülerschaft der Mittel- und Oberstufe, hat ähnliche Interessen bezüglich Musik und Fashionstyle1862 und kämpft trotz ihres besonderen Lebensweges mit klassischen Adoleszenzherausforderungen, wie den körperlichen Veränderungen, der Versuchung durch Drogen oder der ersten Liebe.1863 Es ist auch nicht zu unterschätzen, dass Persepolis eine auf wahren Ereignissen beruhende Quelle ist, in der die Künstlerin selbst, also aus erster Hand, aus ihrem Leben berichtet. Die beschriebenen Ereignisse kommen der Wirklichkeit sehr nahe, so dass die Annährung an sie ungehinderter sein könnte als im Vergleich zu einem fiktionalen Text. Gleichzeitig Vortepräsentiert sich Satrapis Autobiographie als Narration – fließend und unkompliziert erzählt. Die Beschäftigung mit Erzählungen, in denen sich Leserinnen in die Helden einfühlen und ihre eigenen Sinnsysteme einbringen können, haben viele Vorteile, die die narrative Religionspädagogik für sich erkannt hat (vgl. auch III 3.2). Durch die Auseinandersetzung mit Persepolis können also sowohl Krisen als auch Lebenshilfen stellvertretend wahrgenommen werden. Dadurch und durch eine Protagonistin auf Augenhöhe

1860 1861 1862 1863

Vgl. dazu ebd., S. 154. Ebd., S. 149. Vgl. etwa Satrapi, 2011, 106, 130f., 136f., 142. Vgl. ebd., 195, 198, 121, 220.

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sollte es Heranwachsenden leichtfallen, Bezüge zu eigenen Standpunkten und Erfahrungen herzustellen. Unter Berücksichtigung dieser prozessbezogenen Kompetenzaspekte könnten in einer Unterrichtseinheit in der Auseinandersetzung mit Persepolis ganz unterschiedliche Lernziele aufgestellt werden, je nach Schwerpunkt, Lehrziel, Fach, Alter etc. Die Lernenden könnten sich etwa darin üben… Für die Beschäftigung konkret auch mit der medialen Form – … einige Stil- und Erzählmittel von Persepolis zu nennen und ihre Wirkung zu beschreiben. – …die Erzählweise zu erklären und reflektieren.

Für den Religionsunterricht – …religiös bedeutsame Phänomene zu beschreiben und einen Bezug zur eigenen Lebenswelt/dem eigenen Standpunkt herzustellen. – …anhand von Persepolis exemplarisch aufzuzeigen, welchen Einfluss der Glauben auf das eigene Leben haben kann und wie der Glauben durch individuelle Erfahrungen geformt wird. – …Unterschiede zwischen innerer Religion und äußeren, institutionalisierten Religionsformen aufzuzeigen – im Iran und als Transfer auch für Deutschland. – …den Islam als Religion vom fundamentalistischen Islamismus zu unterscheiden. – …begründet Hypothesen für die Ursachen aufzustellen, die im Iran zu einer zunehmenden inneren Abkehr vom Islam führen. – …Aspekte zu benennen, die im Zusammenhang von Islam und Hijab/Schleier relevant sind. – …anhand von Persepolis Beispiele für lebensfeindliche und lebensfreundliche Formen von Religion zu nennen und zu erläutern. – …Beispiele für unterschiedliche Arten politischen Widerstands zu beschreiben.

Für den Bereich der kulturellen Divergenz, auch im Religionsunterricht möglich – …Unterschiede zwischen ihrem Iran-Bild vor und nach der Lektüre zu beschreiben und zu erklären. – …die Ursachen zu erörtern, die in Marjane nach ihrer Rückkehr in den Iran das Gefühl innerer Fremdheit schüren. – …Zusammenhänge zwischen Ausgrenzungsverhalten/Rassismus und Genderbezug aufzuzeigen und dazu Stellung zu nehmen.

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– …die Problematik von Rollenkonflikten in kulturellen Spannungsverhältnissen zu erklären und auch Bezüge zu Genderrollen(konflikten) herzustellen. – …Beispiele für Diskriminierung mit intersektionaler Dynamik in Persepolis aufzuzeigen und einen Transfer zu eigenen Erfahrungen herzustellen. Intersektionales Denken sollte für Schnittmengeneffekte in Diskriminierungen aufmerksam machen!1864 – …zu deuten und zu erklären, warum Marjane sich am Ende des Comics dazu entschließt, den Iran zu verlassen.

Für Gesellschaftswissenschaften wie Geschichte oder Gemeinschaftskunde, auch im fächerkooperierenden Unterricht – …zu umreißen, wie es im Iran 1978/79 zum islamistischen Regime kommen konnte. – …Strategien zu nennen und zu erklären, die das islamistische Regime im Iran zur Unterdrückung nutzt. – …einzelne Parallelen und Unterschiede zwischen dem von Satrapi beschriebenen Iran der 1980er/1990er und dem Iran von heute zu nennen und so eine Entwicklung aufzuzeigen (beispielsweise in Hinblick auf den gelockerten Verschleierungszwang).

1.3.2 Vielfalt adressieren Unterschiedliche Lerngruppen können unterschiedlich auf Comics reagieren. Der Einsatz von Persepolis eignet sich besonders gut in einem Kontext von Migration und Mehrsprachigkeit, wobei ein möglicher Interessenüberschuss von weiblichen Schülerinnen denkbar wäre. Das Werk hat auch das Potenzial, besonders kirchenferne Jugendliche anzusprechen und verdient ganz besondere Sensibilität, wenn muslimische Schüler Teil des Kurses sind. Obwohl Persepolis einen verhältnismäßig hohen textuellen Anteil hat, ergeben sich – wie schon kurz dargestellt wurde – nur geringe sprachliche Barrieren, da es sich nicht um ausgeprägte Bildungssprache handelt. Der Comic ist vor allem inhaltlich vielschichtig und von ungewöhnlicher Tiefe. Trotzdem kann in Erwägung gezogen werden, Mitgliedern der Lerngruppe anzubieten, den Comic in gekürzter Form zu bearbeiten, um durch zu hohe Textmengen keine Überforderung oder Frustration auszulösen. Eine Reduktion zugunsten eines umso intensiveren Gesprächsaustausces wäre ohnehin zu begrüßen. Grundsätzlich fördert der Comic durch sein gutes sprachliches Niveau ohne Slang und 1864 Vgl. Packard; Rauscher; Sina; Thon; Wilde; Wildfeuer, 2019, S. 152.

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mit grammatisch korrekten Konstruktionen aber das Ausdrucksvermögen der Lerngruppe. Da Schimpfwörter, Vulgarismen und Kraftausdrücke ein notwendiges sprachliches Ausdrucksmittel für spezifische Situationen darstellen und in Persepolis mit dazu dienen, die Figuren authentisch und auf Augenhöhe mit den Lesern zu präsentieren, sollten diese nicht vom Einsatz des Werkes im Unterricht abschrecken1865. Man kann auch anmerken, dass Persepolis Themen verhandelt, die gerade für mehrsprachige Zugewanderte von besonderer Relevanz sein können. Die (soziale) Herkunft ihrer Familie ist für Kinder im deutschen Schulsystem von großer Bedeutung für den Bildungserfolg. Heranwachsende aus Familien, die einen Migrationshintergrund haben, sind deshalb nicht nur Teil der ›bildungsbezogenen Risikogruppen‹. Teilweise sind sie wie Marjane von kulturellen Spannungsverhältnissen betroffen und können in Identitäts- und Rollenkonflikte geraten, die in ihren Spezifika auch vom Geschlecht abhängig sind. So gibt es intra- und interkulturell abweichende Erwartungshaltungen gegenüber Jungen und Männern. In der einen Kultur, die möglicherweise in ihrer Herkunftsfamilie tradiert ist, wird von ihnen vielleicht übermäßig sicheres Auftreten und Dominanz verlangt, während Kontexte deutscher Kultur sie zu Teamfähigkeit und Zurückhaltung erziehen wollen. Auch Mädchen können sich dem nicht immer entziehen: Einerseits wollen sie vielleicht dem Anspruch ihrer Eltern entsprechen, sich beispielsweise zurückhaltend zu kleiden. Andererseits werden in Deutschland Mädchen leicht ausgegrenzt, wenn sie nicht mit der Mode gehen und ihre äußere Schönheit betonen. Auch in deutschen Familien kommt diese Spannung vor. Persepolis greift und Rollenkonflikte auf und könnte deshalb einigen Schülerinnen mit ihren Interessen besonders entgegenkommen. Gleichzeitig muss man beachten, dass Mädchen der Comicbiographie gegenüber möglicherweise offener als Jungen gegenüberstehen, gerade weil es so oft um weibliche Körper und Rollenkonflikte geht. Persepolis eignet sich außerordentlich gut für die stärkere Einbeziehung von kirchenunverbundenen Jugendlichen in den Religionsunterricht, da sie hier auch in ihren Anfragen und ihrer möglichen Skepsis gegenüber dem Religiösen ›abgeholt‹ und ernstgenommen werden. Sie sollen hier aber keinesfalls stehenbleiben, denn Satrapi stellt in ihrem Comic auch authentische und ermutigende Glaubenszeugnisse bereit. Das Werk bietet durch die westliche Orientierung der Heldin immer wieder Anknüpfungs- und Identifikationsmöglichkeiten. An prägnanten Stellen der Biographie finden sich Verweise auf Marjanes Glauben und auch den Glauben ihrer Mutter. Abgesehen von Marjanes kindlichem Wunsch, Prophetin zu werden, werden diese jedoch nie ganz ausgemalt oder erklärt, sondern vor allem angedeutet, was den Lesenden viel Raum für weiter1865 Es sei auch darauf verwiesen, dass Kraftausdrücken auch in ›hochkultureller‹ Kultur durch Goethe, Schiller und Büchner Denkmäler gesetzt sind.

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führende Überlegungen lässt. Beispiele sind frühe Marjanes Unterhaltungen mit Gott,1866 ihre spätere Distanz zu und Wut auf ihn1867, sein Auftritt im Traum und das Gebet der Mutter, das zuverlässig erhört wird1868, nach dem zweimaligen Überleben Marjanes der Hinweis auf ihre ›Bestimmung‹1869, der Verweis auf die Möglichkeit von Wundern1870, und Marjanes Erklärung, sie halte sich zwar nicht an Vorgaben des Islams, bete aber durchaus.1871 Dies sollte religionsdidaktisch unbedingt genutzt werden und zum Theologisieren und Diskutieren anregen! Zum Beispiel: Manchen Menschen gelingt ihr Suizidversuch. Haben diese dann keine Bestimmung? Darf man für Prüfungen beten? Machen die Lernenden das? Was passiert, wenn man in der Klausur scheitert? Diese religiösen Zeugnisse stammen quasi aus erster Hand (der Künstlerin) und wirken entsprechend interessant. Das erleichtert die Auseinandersetzung mit ihnen, sie lassen sich schwerlich als ›Frömmelei‹ abtun. Dazu besteht eine gewisse (Ein-)Dringlichkeit des Kontextes, in den diese Zeugnisse eingebettet sind, weil Marjanes explizite und implizite Aussagen über Gott und ihren Glauben unmittelbar Einfluss auf ihr Leben haben. Auf diese Weise können auch religiös-indifferente Schüler zum Nachdenken angeregt werden, weil sie hier dem authentischen Zeugnis begegnen, dass der Glauben Einfluss auf unsere Wirklichkeit hat. Der ernste Ton der Erzählung verknüpft sich immer wieder mit klassischen Themen des Coming-ofAge (Prüfungen, Enttäuschungen u.v.m.), sodass das In-Beziehung-Setzen dieser religiösen Anklänge mit der eigenen Lebenswelt der Schülerinnen leicht gelingen sollte. In einer derartigen Auseinandersetzung kann die comicgestützte Arbeit mit Persepolis auch einen Beitrag zur Identitätsentwicklung leisten. Nachdem sie religiösen Fragestellungen im Comic begegnet sind, könnten die Lernenden auch weitergeführt werden, um sich dann mit den gleichen Themen im Rahmen institutionalisierter Religion bzw. des christlichen Sinnsystems auseinanderzusetzen, beispielsweise in Hinblick auf den klagenden Hiob und die Theodizee. Das fördert nicht nur die Abstraktions- und Transferfähigkeit, sondern ist besonders deshalb gut möglich, da Satrapi ihre persönlichen Zeugnisse nie definitiv in einer ganz spezifischen Religion verankert. Themen wie das Beten und Hoffen auf Wunder sind (religions-)universell. Diese Offenheit erleichtert es wiederum den Lesenden, sich selbst direkt in diese Situationen und Anfragen zu versetzten und dort wiederzufinden. Gleichzeitig bietet Persepolis kirchendistanzierten Jugendlichen auch einen Rahmen für Zweifel und Anfragen an die Religion. Denn tatsächlich hat das 1866 1867 1868 1869 1870 1871

Vgl. Satrapi, 2011, 12f., 17f., 29, 57, 74f. Vgl. ebd., 20, 74f. Vgl. ebd., S. 229. Vgl. ebd., 247, 279. Vgl. ebd., S. 279. Vgl. ebd., S. 290.

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islamische, repressive Regime sogar zu immer größerer Religionsdistanz im eigenen Land geführt. Der deutsch-iranische Autor Navid Kermani formuliert drastisch, was auch im Unterricht diskutiert werden sollte: Empirische Umfragen belegen, dass sehr viel weniger Menschen im Iran die religiösen Gebote einhalten als in der Türkei. Wo eine Religion als Staat auftritt, wird sie natürlicherweise mit allen Unzulänglichkeiten und gegebenenfalls Verbrechen des Staates identifiziert, von Korruption bis Folter. […] Was wir erleben, ist der völlige Niedergang einer religiösen Kultur.1872

Satrapi wirft ein zentrales Thema auf, das gerade angesichts der zunehmenden Kirchendistanz in unserer Gesellschaft bearbeitet werden sollte: Der Unterschied zwischen institutionalisierten Religionsformen, die in Deutschland zunehmend an Bedeutung verlieren und die immer noch bestehende Möglichkeit für starken individuellen Glauben. Persepolis bietet zusätzlich Raum für Religionskritik, Kritik am Missbrauch von Religion und Anschlussmöglichkeiten für das Thema ›Extremismus‹. Gerade heute, in einer Zeit, in der schon Schüler dem islamischen Extremismus verfallen können, ist Prävention wichtig. Gleichzeitig könnten es muslimische Schüler der Lerngruppe positiv aufnehmen, wenn der Comic dezidiert dazu genutzt wird, um den Unterschied zwischen Islam und Islamismus zu verdeutlichen. Diese Unterscheidung kann wohl nicht oft genug getroffen werden und wird zusätzlich unterstrichen, wenn positive Beispiele muslimischer Glaubenspraxis explizit thematisiert werden. Insgesamt gibt es mehrere Themen in Persepolis, die von der Lehrkraft besondere Aufmerksamkeit gerade im Kontext von Heterogenität verlangen. Das Thema des Schleiers, in Persepolis durchweg negativ belegt, bedarf, besonders sofern Mädchen (und Jungen) in der Klasse Hijab-freundlich eingestellt sind und beispielsweise selbst ein Kopftuch tragen, eines gewissen Ausgleichs oder einer Problematisierung. Eine Erklärung der Gründe für diese Tradition, weitgehend in muslimischen Ländern praktiziert, kann hilfreich sein. Es muss beachtet werden, dass die Verhüllung seit den Achtzigerjahren auch muslimischen Feministinnen zunehmend als identitätsstiftend gilt1873. Notwendig ist es in jedem Falle, das Spannungsfeld zwischen Zwang und individueller Entscheidung zu erschließen. Für einige Schüler könnte zudem die bildliche Darstellung Gottes in Persepolis Anlass für Irritationen geben.1874 Diese gilt es aufzufangen und zu nutzen, durch Problematisierung und Diskussion, Suche nach Gründen und auf den Verweis auf literarische Freiheit (vgl. auch III 4.2.2.). Ähnliches gilt für die dargestellten Moralvorstellungen, besonders in Bezug auf sexuelle Freiheit. Durch 1872 In Haberl, 2015. 1873 Vgl. Walther, 2008, Sp. 272. 1874 Satrapi, 2011, 12f., 17f., 20.

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ihre popkulturelle Natur und Nähe zur Lebenswelt der Leser finden sich in vielen Comicwerken für Jugendliche und Erwachsene Darstellungen oder Anspielungen sexueller Natur1875. Dadurch regen sie aber auch an, derartige Themen kritisch zu diskutieren oder Anschlüsse an die Erfahrungswelt der Schülerinnen zu suchen. Das Thema ›Sexualität‹ wird im Comic zwar verhältnismäßig diskret verhandelt, jedoch ist Marjane Befürworterin westlich-orientierter Moralvorstellungen1876, die unter gewissen Umständen auch auf Widerstand treffen können und dürfen. Ferner ist noch einmal darauf hinzuweisen, dass eine reflektierte Lektüre von Persepolis grundlegende Kenntnisse über den Islam voraussetzt. Die Darstellung des islamischen Fundamentalismus, der im Iran das repressive Regime stützt oder begründet, soll nicht Islamfeindlichkeit Vorschub leisten oder weiter rechtfertigen! Das Gegenteil ist der Fall: Der Comic zeigt, dass eben nicht alle Muslime etwa fundamentalistisch sind und dass der Islam auch eine lebensfreundliche Quelle der Hoffnung ist. Diese Differenzierung kann eines der primären Lernziele in der schulischen Lektüre von Persepolis sein. Es gilt der Grundsatz: An welchen Stellen Sensibilität gefragt ist, müssen Lehrkräfte von Fall zu Fall und in Bezug auf ihre individuelle Klasse selbst entscheiden und immer mit einer gewissen überraschungsoffenen Grundhaltung unterrichten.

1.3.3 Für andere Fächer öffnen Persepolis hat das spezifische Potenzial zur Leseförderung, wie sie besonders im Deutschunterricht eine Rolle spielt. Die Lektüre kann die Lesemotivation durchaus soweit steigern, dass die Lernenden danach auch zu anderen Büchern und Comics greifen möchten – was dauerhaft in höherer Lesekompetenz mündet, von der auch der Religionsunterricht profitiert. Persepolis bietet so einen außerordentlich guten Ausgangspunkt, da im Anschluss unmittelbar Comics mit ähnlicher Thematik angeboten werden können: Älteren Schülern, die sich für die persönliche Seite der Menschen im Iran interessieren und mehr darüber lesen möchten, kann Satrapis Sticheleien1877 empfohlen werden. Die Thematik darin kann nicht explizit an den Religionsunterricht anschließen, aber der Comic, mit 136 Seiten deutlich kürzer, ähnelt Persepolis durch die intime Natur der dargestellten Inhalte, durch den leichten Lesefluss und die Dominanz weiblicher Figuren. Den Teilen der Schülerschaft, die durch Persepolis eher neugierig auf Comicreportagen und -reiseberichte geworden sind, bietet sich ein breites Feld 1875 Vgl. Cary, 2004, S. 45. 1876 Vgl. etwa Satrapi, 2011, 218f., 276, 309ff. 1877 2005.

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dieser Werke auf dem gegenwärtigen Comicmarkt an. Von hoher Qualität ist beispielsweise Guy Delisles Pjöngjang1878, in dem der Künstler sein Jahr in der Hauptstadt Nordkoreas beschreibt, sowie sein restliches Reise-Œuvre. Auch Delisle erzählt seine Geschichte leicht verständlich, mit persönlichen Eindrücken und mit Hang zur Komik. Das Genre der Graphic Memoirs, dem Persepolis angehört, wächst ebenfalls von Jahr zu Jahr und bietet viele hochwertige Anschlussmöglichkeiten. Die Verfügbarkeit dieser Werke in der Schulbibliothek könnte auch nicht-leseaffine Schülerinnen tatsächlich in diese Richtung ›locken‹.1879 Persepolis bietet auch viele Anschlussmöglichkeiten an klassische Literatur: Jennifer Worth stellt beispielsweise fest, dass zwischen 2000 und 2007 allein in den USA acht (!) relevante Autobiographien und autobiographische Erzählungen von iranisch-amerikanischen Frauen veröffentlicht wurden.1880 Natürlich steht das ganze Feld (auch anderer) literarischer Autobiographien zu Verfügung. Hier liegt ein hervorragender Anknüpfungspunkt zum Literaturunterricht vor. Im Deutschunterricht könnte der Comic auch zur Filmanalyse überleiten, indem der gleichnamige Animationsfilm aus dem Jahre 2007 behandelt und beispielsweise mit dem Comic verglichen wird – eine überaus fruchtbare Aufgabe, die prägnante Ergebnisse zutage fördern sollte. Neben dem Deutschunterricht kann auch ein kooperierender Unterricht mit dem Fach Französisch gelingen, da Persepolis ursprünglich auf Französisch erschienen ist und in Auszügen von Lernenden ab circa der GER-Stufe B1 auch übersetzt werden kann (mit dem nötigen Scaffolding-Material auch früher). Die Einbeziehung authentischer Quellen kann die Motivation im Fremdsprachenunterricht deutlich steigern. Auch ein Anschluss an gesellschaftswissenschaftliche Fächer wie den Geschichtsunterricht ist denkbar. Die Geschichte des Irans ist zwar in deutschen Bildungsplänen für das Fach nicht vorgesehen, doch kann ein Exkurs lohnend sein, um zu diskutieren, wie es in einem relativ fortschrittlichen Land überhaupt zu einer Diktatur kommen konnte. Es bietet sich auch der Vergleich mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten in der Weimarer Republik an. Derartig anspruchsvolle Reflexionen können auch in den Politikunterricht mit einfließen und sind dadurch zu rechtfertigen, dass der Religionsunterricht auch darin gefordert ist, grundsätzlich zentrale Kompetenzen auch aus dem politischen und historischen Bereich zu fördern.1881 Als didaktische Zukunftsbedeutung des Gegenstands lässt sich benennen, dass der Rückfall in eine Diktatur in Deutschland grundsätzlich denkbar sein sollte, was durch kritische und ent1878 1879 1880 1881

2015. Vgl. dazu Dorrell; Carroll, 1981. Vgl. 2007, S. 143. Niedersächsisches Kulturministerium, 2009, S. 8.

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sprechend aufgeklärte Bürger aber gebremst wird. Hier klingt die Bedeutung der sozialen Imagination an, die durch die Lektüre von Narrationen und dem Ausbau der eigenen, kreativen Vorstellungsfähigkeit gefördert werden kann. Daran kann angeschlossen werden, dass Persepolis noch besser als viele andere Comics für das handlungsorientierte Methodenspektrum und das sich daraus ergebende Kompetenzpotenzial geeignet ist. Denn der schlichte Stil ist leicht zu imitieren und zum Beispiel ein von der Lehrperson gekürztes Kapitel kann ermutigend einfach in kreativer Eigenproduktion fortgesetzt werden. Auch das Spiel mit Dunkelheit und Licht, von Schwarz und Weiß, kann in ästhetisch künstlerischer Auseinandersetzung mit dem Werk erschlossen werden. In Kooperation mit dem Kunstunterricht können derartige Ansätze vertieft werden, indem die Schüler beispielsweise einzelnen Panels, Seiten oder Kapiteln Farbe hinzufügen, vergleichen und die Wirkung diskutieren. Auch für den Religionsunterricht wäre dies eine ideale Möglichkeit ästhetische, mediale, kommunikative und soziale Kompetenzen zu fördern.1882

1.3.4 Unterricht verbessern Unter Gesichtspunkten der Motivierung kann man davon ausgehen, dass das Behandeln von Persepolis – richtig eingesetzt! – hohe Motivationseffekte in der Lerngruppe erzielen kann, weil eine ungewöhnlich spannende Geschichte erzählt wird. Möglicherweise wirkt die schwarz-weiße Gestaltung kurzzeitig abschreckend, was aber durch die Erklärung abgefangen werden kann, Comics für Erwachsene würden sich optisch eben hin und wieder von Kindercomics unterscheiden. Damit werden auch unmittelbar Vorurteile durchbrochen, Comics seien nur etwas für Kinder. Persepolis ist von der Form her leicht zu lesen, wenn man sich an den Stil gewöhnt hat. Auch Schülerinnen mit eher geringen oder ›eingerosteten‹ Comicrezeptionskompetenzen werden deshalb nicht der Überforderung ausgesetzt. Das ist ein Nährboden für die Motivation. Auch wird das Werk durch eine weibliche Heldin getragen, was Mädchen, deren denkbare Benachteiligung durch den Einsatz mancher Comics bereits kurz erwogen wurde (vgl. dazu I 2.5, II 3.1.2 und III 4.2.3), ansprechen und einbinden sollte. Marjane ist eine authentische, glaubwürdige und (für die meisten wohl) sympathische Protagonistin, was die Motivation für die Beschäftigung mit ihrer Geschichte steigern sollte. Sie kann so auch zum Vorbild im Rahmen sozial-kognitiven Lernens werden. Mit der Ankündigung, einen Comic, der in großen Teilen im Iran spielt, im Unterricht behandeln zu wollen, kann auch spezifisches Interesse initiiert wer1882 Vgl. ebd.

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den: Manche Schülerinnen haben möglicherweise einen familiären Bezug zu dem Land oder seiner Religion, so dass ein gewisses Vorwissen das Interesse steigern kann. Bei anderen könnte Neugier auf diesen ungewöhnlichen Zusammenhang ›Schule – Comic – Iran‹, also prozessorientiertes Interesse geweckt werden. An strukturorientierte Interessensgebiete lässt sich durch das Thema ›Reisen‹, was für viele Schüler ein positiv besetzter Begriff ist, anknüpfen: Das Kennenlernen und Eintauchen in neue Kulturen. Es ist denkbar, dass auch der Iran selbst Interesse bei den Schülern auslöst, da er zu den Ländern auf der Welt gehört, die, ähnlich wie Nordkorea oder Syrien, von einem gewissen Nebel des Geheimnisses umgeben sind und dadurch eine gewisse traurige Faszination auf westliche Menschen ausüben. Denn diese Länder werden selten bereist und repräsentieren eine andere Lebenskultur als die unsere. Damit läge eine gegenstandsorientierte Lernmotivation vor, die aufgebaut oder an die angeknüpft werden kann. Die Klasse zu fragen, was sie mit dem Iran verbinden, könnte auch eine Vielzahl von Klischees hervorbringen, die Satrapi mit Persepolis bekämpfen will.1883

1883 Vgl. Nass, 2014.

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Don Rosas ONKEL DAGOBERT: SEIN LEBEN, SEINE MILLIARDEN – Sinn und Identität

Onkel Dagobert – Sein Leben, seine Milliarden erzählt in zwölf Kapiteln die Lebensgeschichte der fiktiven Figur Dagobert Duck. Ursprünglich als Fortsetzungsgeschichte zwischen den Jahren 1991 und 1994 erschienen, ist es das wichtigste Werk des italo-amerikanischen Künstlers Keno Don Rosa (Künstlername: Don Rosa), der lange der erfolgreichste und populärste Zeichner von Comicgeschichten um die Familie Duck war.1884 Die Erzählung handelt von einem klassischen Helden, der in die Welt hinauszieht, um Ruhm und Reichtum zu erlangen. Lange Zeit kämpft er hart um seinen Traum und schafft es schließlich sogar, der reichste Mann der Welt zu werden. Auf dem Weg dorthin aber verliert er alles, was ihm einmal wichtig war. Er verbringt viele Jahre in Einsamkeit und Verbitterung, bis sich ihm im Alter die Chance eröffnet, doch noch einmal neu anzufangen. Trotz des evidenten Unterhaltungswertes (ein positiver Faktor im Unterrichtsgeschehen!) hebt sich das Werk von anderen Disneycomics stilistisch und inhaltlich in vielerlei Hinsicht stark ab: Man könnte sagen, dass ein doppelter Adressat vorliegt. Don Rosas Onkel Dagobert – Sein Leben, seine Milliarden behandelt mit erzählerischer Leichtigkeit existenzielle, philosophische und theologische Themen und ist deshalb im Einsatz für religionspädagogische Anliegen außergewöhnlich gut geeignet. Aus kulturhermeneutischer Perspektive finden sich Anklänge an religiöse Elemente unterschiedlicher Provenienz und es werden beispielsweise Fragen nach dem Jenseits, dem Prinzip von Schicksal und Prädestination oder nach dem Schutz durch die Ahnenwelt aufgeworfen. Besonders auf der Tiefenebene geht es jedoch um das Thema sich wandelnder und auch zerbrechender Identität, um die Suche nach Lebenszielen und nach einem sinnerfüllten Leben. Lesende werden zu Fragen nach dem Transzendenten 1884 ›Erfolgreich‹ bezieht sich weniger auf persönlichen kommerziellen Gewinn als schlicht auf künstlerische Anerkennung. Nachdem Disney-Schaffende ›ihre‹ Comics fertiggestellt haben, verlieren sie jedes Recht daran: Egal wie oft eine Geschichte nachgedruckt und verkauft wird, die Autoren erhalten nur einmalig eine Pauschale pro Comicseite. Da Don Rosa relativ langsam gearbeitet hat, war er in dieser Hinsicht eher benachteiligt.

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genauso angeregt, wie dazu, Sinnbezüge im eigenen Leben herzustellen und ihren Lebensplan mit dem des Protagonisten in Beziehung zu setzen. Auf diese Weist regt der Comic zum Nachdenken über den eigenen Lebensweg und dessen Auslegung an, da die Deutung der eigenen Geschichte Relevanz für die Zukunftsgestaltung hat. Das gilt auch in Bezug auf die religiöse Identität und Biographie. Als würde er von diesem Werk sprechen, konstatiert auch Brinkmann, Comics seien für den Religionsunterricht am besten dann geeignet, »wenn ganz grundsätzlich veranschaulicht werden soll, dass (und wie) existenzielle Lebensfragen, biographische Irritationen, Orientierungs- und Identitätskrisen etc. immer wieder in narrativen Inszenierungen aufgegriffen werden.«1885 Damit ist das Werk unmittelbar anschlussfähig zum Beispiel an das niedersächsische Kerncurriculum, wenn Schülerinnen der Jahrgangsstufe 9/10 »religiöses Fragen nach Sinn und Ziel des Lebens als eine Grunddimension des Menschseins« anerkennen müssen.1886 Vor allem aber lässt sich der Comic hervorragend in didaktischer Freiheit nutzen, um sowohl christliche als auch kirchendistanzierte und konfessionslose Jugendliche anzusprechen, bei denen »[d]ringender Bedarf […] bei der Orientierungshilfe zu individueller Lebensdeutung« besteht – auch (und gerade) jenseits religiöser Tradition, wie sie auch beim Helden nicht gegeben ist.1887 Obwohl der Comic Onkel Dagobert – Sein Leben, seine Milliarden durch seine Machart und die Geschichte(n) in vielerlei Hinsicht den Interessen und Vorlieben der meisten Kindern und Jugendlichen entgegenkommen sollte, eignet er sich zusätzlich in besonderer Weise zur Ansprache von Jungen und von Schülern, die aufgrund ihres sozio-ökonomischen Hintergrundes benachteiligt sind. Der Comic regt zudem zur Kooperation mit verschiedensten Unterrichtsfächern an und ermöglicht sogar transmediale Zugänge zum Thema.

2.1

Analyse des Werkes

2.1.1 Inhalt und Genre Durch die Sammlung und geschlossene Veröffentlichung der zwölf Kapitel ergibt sich eine relativ geschlossene (fiktive) Biographie. Vor allem die ersten Kapitel haben Ähnlichkeit mit einem Bildungsroman beziehungsweise einer Comingof-Age-Narration. Jedes Kapitel ist aber zugleich auch eine mehr oder weniger in sich abgeschlossene Abenteuergeschichte, teilweise mit Subgenres wie dem 1885 Brinkmann, 2016, unpag. 1886 2009, S. 19. 1887 Rosenow, 2019, S. 214.

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Westerngenre. Zusätzlich lassen sich Parallelen zum Genre der ›Funnies‹ zuordnen, da unter anderem eine ausdrücklich humorvolle Handlung und auch stilistisch eine cartoonhafte Figurendarstellung vorliegt (vgl. IV 2.1.3).1888 Damit steht das Werk in der Tradition europäischer Comics wie Hergés Tim und Struppi, die nach Platthaus ebenfalls diesen Genremix als ›Abenteuer-Funny‹ wagen.1889 Ausdrücklich liegen aber auch immer wieder ernste und stille Passagen vor, die dem Werk zur inhaltlichen Tiefe verhelfen. Man könnte den Künstler auch deshalb tendenziell in die Tradition europäischer Comiczeichnerinnen stellen, weil er dem amerikanischen Erbe des Superheldengenres oder der dort sehr beliebten Gattung der Comicstrips wenig nahesteht.1890 Tatsächlich erscheinen seine Comics auch kaum in den Vereinigten Staaten, wo eher andere Traditionslinien verfolgt werden und zum Beispiel der Funny-Abenteuer-Mix wenig etabliert ist. Die biographische Erzählung Onkel Dagobert – Sein Leben, seine Milliarden behandelt mal mehr, mal weniger stark raffend das Leben des Comichelden Dagobert Duck, beginnend mit dem Jahr 1877. Er wächst als Sohn einer schottischen Familie auf, deren Wurzeln zwar in einem ruhmreichen, mit Reichtum gesegneten Clan liegen, die heute aber in Armut lebt. Der junge Dagobert bricht nach Amerika auf, um das Schicksal seiner Familie zu wenden und es zu neuem Reichtum und Größe zu bringen. Unermüdlich reist er mal als Flusskapitän, mal als Cowboy, aber vor allem als Schatzsucher durch die ganze Welt, trifft Wegbegleiter, macht sich auch Feinde, kämpft hart für Ruhm und Reichtum und wird mit sich selbst und der Welt im Allgemeinen immer unbarmherziger. Schließlich erlangt er sein Ziel und wird sogar zum reichsten Mann der Welt, verliert aber zunehmend die Beziehung zu seinen Wurzeln und zu seiner Familie. Am Ende erscheint er verbittert. Dagobert lebt lange einsam und abgeschieden, bis ihm der Kontakt zu seinen verwaisten Neffen am Ende doch noch eine zweite Chance auf ein erfülltes Leben eröffnet. Dagobert lässt sich als zäh, hartnäckig und grundehrlich charakterisieren, als mutig, tapfer und abenteuerlustig, angeberisch und selbstbewusst, ehrgeizig, zielstrebig, intelligent und einfallsreich sowie anspruchslos und extrem sparsam (man könnte auch sagen: geizig). Vor allem in jungen Jahren zeigt er sich optimistisch, freundlich und aufgeschlossen; er zeigt seiner Familie gegenüber große Treue, wird dann aber zunehmend zum Einzelgänger, bis er sogar mit seinen beiden Schwestern bricht. Seine Zähheit wandelt sich langsam in Unbarmherzigkeit, seine Zielstrebigkeit in Raffgier, er wird mürrisch, harsch und schließlich freudlos sowie bar jeder Abenteuerlust. Erst im letzten Kapitel wird diese wieder 1888 Vgl. auch Platthaus, 2016, S. 182. 1889 Vgl. 2016, S. 189. 1890 Vgl. Don Rosa, 2008, S. 11.

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geweckt und es zeigt sich auch eine weiche Seite des alten Mannes, der plötzlich mit Dankbarkeit oder sogar Glück erfüllt auf sein reiches Leben zurückblickt. Die Biographie folgt in vielerlei Hinsicht geradezu par excellence Voglers Modell der ›Heldenreise‹.1891 Eine Darstellung der Korrelationen findet sich bei Pohl.1892 Es lohnt sich, die Biographie durch diesen Narrationsspiegel zu betrachten, da so die inhärente Tiefenstruktur am besten verdeutlicht und auf symbolische Prägnanten verwiesen werden kann. Diese Methode ermöglicht zudem, große Bögen besser hervorzuheben und die Komplexität sowie Vielschichtigkeit der Erzählung zu fassen. Besonders zentral stellen sich Kapitel I, VIII und XI der Biographie dar: Dagobert formuliert im ersten Kapitel ein Ziel für sein Leben, das in Kapitel VIII mit einem Goldfund den entscheidenden Wendepunkt erreicht. Dies ist der Höhepunkt der Geschichte, in der sich auch sein Ruhm als Abenteurer auf dem Gipfel befindet. In XI aber kehrt Dagobert sich ab von seinen alten Werten und bricht mit seiner Familie – dies ist wohl der Tiefpunkt, da er hier alles zu verlieren scheint. Thematisch besonders anschlussfähig für die Religionspädagogik sind die Kapitel I, V, VII, VIII, XI und XII, wie im Weiteren gezeigt werden soll. Da jedes Kapitel zu einem gewissen Grad auch eine in sich abgeschlossene Geschichte darstellt, die einzeln mit einer Schülergruppe gelesen werden könnte, wird der Inhalt im Folgenden kapitelweise umrissen: Kapitel I: »Der Letzte aus dem Clan der Ducks« Dagobert ist der Spross eines alten schottischen, adligen Clans. Obwohl er mit seiner Familie in äußerst ärmlichen Verhältnissen in Glasgow aufwächst, zehrt er von der alten Zeit, in der die Ducks noch über die stolze Duckenburgh im Hochmoor geherrscht haben. Als er eines Tages einen Schuhputzkasten geschenkt bekommt, um zum Familieneinkommen beizutragen, betrügt ihn gleich der erste Kunde mit einer wertlosen amerikanischen Münze. Der Junge beschließt, sich nie wieder betrügen zu lassen, sein Leben ab sofort durch Ehrlichkeit und harte Arbeit zu Größe und Reichtum zu führen, auch um dem Namen seines Clans neue Ehre zu verschaffen. In den folgenden Jahren zieht es ihn immer wieder zur verfallenen Burg, wo er auch Bekanntschaft mit einem Fremden macht, der ihm eine entscheidende Idee eingibt: Dagobert entschließt sich, dem Ruf seiner Münze zu folgen und nach Amerika zu ziehen, um sein Glück zu machen. Die Münze soll ihn nun ständig als Ansporn begleiten, seine liebevollen Eltern und die beiden jüngeren Schwestern lässt er vorerst zurück. Der Leser erfährt, dass der unbekannte Ratgeber in Wahrheit Dagoberts längst verstorbener Ahne Sir Donnerbold ist, der als Geist in den Gemäuern der Burg lebt. 1891 Vgl. Vogler, 2010. 1892 Pohl, 2013.

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Kapitel II: »Der Herr des Mississippi« In Amerika angekommen sucht Dagobert seinen Onkel Diethelm auf, der Flusskapitän auf dem Mississippi ist. Hier schließt er auch Bekanntschaft mit Vorfahren der heutigen Panzerknacker, Opa Knack nebst Sprösslingen. Gegen deren kriminelle Machenschaften gilt es die ersten Abenteuer an der Seite des Schatzsuchers Diethelm zu bestehen. Aber als Dagobert selbst Flusskapitän wird, gelingt es den Gaunern doch, ihn zu ruinieren. Er steht wieder am Anfang und beschließt, in den Westen aufzubrechen. Kapitel III: »Der Held der Badlands« Dagobert wird Cowboy in Montana, wo er erneut seine Schläue und Tapferkeit beweisen und unter anderem in den Badlands erfolgreich Viehdiebe stellen muss. Er trifft auch auf den jungen Theodore Roosevelt, der ihn nachhaltig inspiriert: »Durch den Ruhm harter Arbeit reich zu werden, im Angesicht einer gnadenlosen Natur, das nenne ich ein wahres Verdienst! […] Aber bedenken Sie, mein Freund: Große Männer sind stets einsam: Reichtum ist mehr als angehäuftes Gut und Geld! Es ist der Ruhm der Tat, der wirklich zählt!«1893 Kapitel IV: »Der Kupferkönig von Montana« Da das Ende der großen Viehtrieb-Ära anbricht, steckt sich Dagobert einen Claim ab und sucht fortan nach wertvollem Kupfer. Ungelernt müht er sich lange ohne Erfolg ab, bis er auf Kuno Klever trifft (wie sich herausstellt, der Vater von Klaas Klever, seinem späteren Rivalen), einen reichen Mann, der ihn selbstlos das Handwerk lehrt und ihm dazu verhilft, Besitzer einer sagenhaften Kupferader zu werden. Fortan wird er von seinen Freunden gemieden und muss sogar in einem heldenmütigen Kampf sein Eigentum gegen sie verteidigen. Klever erklärt traurig den Lauf der Welt: »Man respektiert Sie, aber man liebt Sie nicht mehr.« Dagobert winkt noch ab: »Ach, wer braucht schon Liebe, wenn er Geld hat!«1894 Schließlich muss er die Kupferwerke jedoch verkaufen, als er wegen eines Notfalls nach Hause gerufen wird. Kapitel V: »Der Retter der Duckenburgh« Zu Hause in Schottland gibt es Probleme: Weil die Grundsteuer ausblieb, soll die Duckenburgh versteigert werden und die Ducks müssen ihren Besitz gegen die verschlagene Erzfeind-Sippe verteidigen, die es auf das Land abgesehen hat. Es kommt zum Duell im Schwertkampf, an dessen Ende der glücklose Dagobert auf den Balkon der Burg getrieben wird und schon in den Wassergraben gestoßen werden soll, als sein Schwert ihm von Geisterhand zurück in die Hand gegeben 1893 Don Rosa, 2008, 68, 73. 1894 2008, S. 90.

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wird, damit er sich retten kann. Der Plan geht zwar auf, jedoch wird Dagobert anschließend vom Blitz getroffen und stürzt in den Burggraben, wo ihm unter Wasser die Sinne schwinden. Dagobert findet sich im Jenseits wieder, wo er seine Vorfahren trifft. Sie werfen einen Blick ins ›Buch der Ducks‹, wo Dagoberts Leben samt Zukunft festgehalten ist und stellen fest, dass Dagobert nur vom Blitz getroffen wurde und gestorben ist, weil sich Donnerbold als Geist in die Geschichte eingemischt hat. Nach einiger Diskussion, in der Donnerbold für ihn eintritt, wird Dagobert noch eine Chance gegeben und er erwacht im Burggraben. Mit seinem ersten Zehner gelingt es ihm, sich unter Wasser von der Rüstung zu befreien und die bösen Whiskervilles zu stellen. Ihr letzter Versuch, sich seiner zu entledigen, wird wieder durch eine Geistererscheinung verhindert – diesmal geschlossen durch den ganzen Ahnen-Clan. Durch sein Kupfer-Vermögen kann Dagobert den Besitz zwar retten, ist nun aber wieder mittellos. Voller Hoffnung auf künftige Größe zieht Dagobert trotzdem weiter und beschließt, inspiriert von einem Regenbogen, Goldgräber zu werden. Kapitel VI: »Der Schrecken von Transvaal« Dagobert zieht für dieses Anliegen nach Südafrika. Dort freundet er sich mit einem Fremden an, dem er zuvor das Leben gerettet hat. Als dieser ihn des Nachts bestiehlt und hilflos mitten in der Savanne zurücklässt, reagiert er zuerst tief getroffen von diesem Vertrauensbruch, dann mit rasender Wut: Niemandem will er in Zukunft mehr vertrauen. Dagobert bezwingt einen Löwen als Reittier und bringt den Hochstapler hinter Gitter. Dessen Name: Mac Moneysac. Die Suche nach Gold aber bleibt erfolglos. Kapitel VII: »Der Jäger des heiligen Opal« Dagobert versucht sein Glück als Schatzsucher nun in Australien, wo er einem alten Aborigine zu Hilfe eilt und dadurch dessen Vertrauen gewinnt. Er nimmt Dagobert mit in eine unterirdische Höhle und zeigt ihm die alten Traumpfade, uralte Wandzeichnungen, die eine seltsame Geschichte erzählen – und einen riesenhaften heiligen Opal, der ebenfalls seinen Platz dort hat. Als ein Schurke sie entdeckt und den Opal stiehlt, kann Dagobert ihm nachsetzen und ihm den Edelstein wieder abnehmen. Mit schwerem Herzen, aber mit dem Gefühl, das Richtige zu tun, bringt er den heiligen Stein zurück an seinen geweihten Platz. Der Aborigine kann nun offenbaren, es sei Dagoberts Geschichte von der Opalrettung, die in den Malereien verschlüsselt erzählt werde. Zur Belohnung dürfe er durch einen besonderen Kristall schauen, um seine weitere Zukunft zu sehen. Er erkennt Nordlichter und interpretiert diese als Zeichen, zur Goldsuche nach Alaska weiterzuziehen.

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Kapitel VIII: »Der Einsiedler am White Agony Creek« Am Klondike dringt Dagobert in ein unberührtes Tal vor, findet eine Goldader und führt fortan ein einfaches Leben als Einsiedler, hart arbeitend in einer doch erhabenen Umgebung. Wenn er seinen versteckten Claim überhaupt einmal verlässt, zeigt er sich finster und vergnügungslos, inzwischen trägt er ganz natürlich einen grimmigen Gesichtsausdruck. Er ist zäh, geschickt und furchtlos – sein Ruf eilt ihm voraus. Es kommt zum Kontakt mit einer schönen Bardame namens Nelly, doch Dagobert zeigt sich, ganz eingenommen von seiner Obsession, weitgehend kühl. Eines Tages wird er von einem gewissenlosen ClaimRäuber mit seinen Kumpanen gefangen genommen. Ihn verspottend verliest man seine neusten Briefe von daheim, sodass Dagobert erfahren muss, dass seine Mutter in der Zwischenzeit verstorben ist. In seiner Wut befreit er sich und legt sein Gefängnis in Schutt und Asche. Zurück im White Agony Tal stößt er nun auf ein Gold-Nugget in der Größe eines Straußeneis. Er hat es geschafft: Dagobert ist endgültig ein reicher Mann. Kapitel IX: »Der Milliardär im Hochmoor« Dagobert investiert in mehrere Geschäfte und kehrt als Milliardär in seine Heimat zurück. Dort zeigt sich, dass er aufgrund seines Reichtums nicht mehr akzeptiert wird – und auch nicht mehr in seine alte Umgebung hineinfindet. Seine Abenteuer haben ihn verändert. Bei den traditionellen Hochlandspielen schießt er immer übers Ziel hinaus, was einer einsetzenden Arroganz seinerseits aber keinen Abbruch tut. Dagobert beschließt, einen Neuanfang zu wagen und sich mit seinen beiden Schwestern in Amerika niederzulassen. Der alte Vater bleibt zurück und stirbt noch in derselben Nacht einen friedvollen Tod. Kapitel X: »Der Eroberer von Fort Entenhausen« Dagobert und seine Schwestern Dortel und Mathilda ziehen in ein altes Fort auf einem Hügel vor dem ländlichen Örtchen Entenhausen. Durch ein Missverständnis hält der amerikanische Präsident die Wiederbelebung des Forts für eine feindliche Belagerung, so dass er persönlich samt Marine und Armee zum Angriff übergeht. Es kommt zur Schlacht, in der besonders Dortel sich kampfesmutig zeigt und auch Dagobert sich wacker hält, sodass er schließlich auf den Präsidenten selbst trifft: Theodore Roosevelt. Beide Männer erkennen sich als ebenbürtig und schwelgen in Erinnerungen. Schließlich baut Dagobert seinen Geldspeicher und legt damit den Grundstein für eine Großstadt. Kapitel XI: »Der Geschäftsmann ohne Gewissen« Dagobert reist mit Dortel und Mathilda ruhelos um die Welt, immer auf der Suche nach noch größerem Reichtum und Schätzen. Er tritt nun ausnahmslos raffgierig, unleidlich, kränkend und selbstverliebt auf. Schlimmer noch: er fängt

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an, unehrlich und bösartig zu handeln. In Afrika sehen seine Schwestern mit an, wie er ein ganzes Dorf niederbrennt und die Bewohner um ihr Land betrügt, als er nicht sofort seinen Willen bekommt. Schockiert von seiner Gewissenlosigkeit verlassen sie ihn. Dagobert erinnert sich nun wieder an seine alten Ideale, die Mentoren auf seinem Weg und an die Liebe zu seiner Familie, doch verschiebt er die Versöhnung mit den Schwestern immer weiter nach hinten, weil ihn immer neue (wenn nun auch ehrliche) Geschäftsideen um den Globus schicken. Ganze 23 Jahre später kehrt er noch garstiger als zuvor heim ins florierende Entenhausen. Seine Familie empfängt ihn trotz allem mit offenen Armen, doch er weist sie grimmig ab. Mathilda fasst weinend zusammen: » Früher, da hatte er alles! Aber heute ist alles, was er hat, Geld und was man für Geld kaufen kann! Er ist nur ein armer reicher Mann!«1895 Kapitel XII: »Der Einsiedler der Villa Duck« 17 Jahre später hat Dagobert sein Imperium weitgehend aufgelöst und es wird angedeutet, dass ihn das Gefühl der Sinnlosigkeit ereilt hat, weil keine Erben für das Vermögen vorhanden sind. Er lebt zurückgezogen und allein in seiner Villa. Trotzdem scheint er noch der reichste Mann der Welt zu sein. Eines Tages, um das Weihnachtsfest herum, erhalten sein Neffe Donald und seine verwaisten Großneffen Tick, Trick und Track, derer sich Donald angenommen hat, eine Einladung von dem ihnen fremden und geheimnisvollen Verwandten. Donald zeigt offen, dass er Dagoberts Abenteuer und dessen sagenhaften Reichtum für Aufschneiderei hält, sodass Dagobert ihnen den vollgefüllten Geldspeicher zeigt, um den sich bis dahin nur noch Legenden rankten. Doch dort werden sie von Gaunern, den Panzerknackern, überrascht. Dagobert scheint erst seinen Kampfgeist verloren zu haben, nimmt es aber angespornt von Donalds Ungläubigkeit schließlich doch mit den Räubern auf. Dank seiner enormen Fähigkeiten gelingt es ihnen, die Panzerknacker zu stellen. Tick, Trick und Track versichern ihm nun, dass er eine neue Familie gefunden hat – und Dagobert erkennt dank ihnen, dass es noch viele Abenteuer und Herausforderungen gibt, denen er sich stellen kann.

2.1.2 Veröffentlichung und Rezeption Besondere Aufmerksamkeit in Bezug auf seine Rezeption verdient zweifelsohne der ungewöhnliche Hintergrund des Werkes. Obwohl die Rechte an der Figur des Dagobert Duck dem Walt Disney-Konzern unterliegen, hatte dieser mit der Produktion des Comics kaum etwas zu tun. Das 1895 Ebd., S. 238.

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Medienunternehmen hat in erster Linie einige grobe Richtlinien aufgestellt und vergibt Lizenzen an Verlage. Diese publizieren und produzieren dann wiederum eigenständig mit ausgewählten Autorinnen, Zeichnern und Texterinnen Comics um die Familie Duck oder Micky Maus (und anderen). Es sind genau diese Schaffenden, die über Jahrzehnte die Welt um Onkel Dagobert, seine Freunde, seine Familie, seine Geschichte aufgebaut haben und denen die Anerkennung dafür gebührt. Eine besonders wichtige Rolle spielt dabei der amerikanische Comic-Künstler Carl Barks (1901–2000), der zwischen 1942 und 1966 Disneycomics zeichnete und 1947 eine Weihnachtsgeschichte entwarf, die dem Standardrepertoire der Populärkultur eine neue Figur bescheren sollte: Dagobert Duck. In der Comicgeschichte Die Mutprobe (im Original: Christman on Bear Mountain) erinnert sich der gleichermaßen mürrische wie steinreiche Einzelgänger, den Barks an Charles Dickens’ Figur des Ebenezer Scrooge anlehnte, an einen ihm unbekannten Teil seiner Familie (genau: seinen Neffen Donald und die Großneffen Tick, Trick und Track) und beschließt, Kontakt mit diesen aufzunehmen – nicht aber, ohne vorher deren Tapferkeit und Standfestigkeit zu prüfen, um herauszufinden, ob sie seiner Aufmerksamkeit überhaupt würdig sind. Diese von Dagobert arrangierte ›Mutprobe‹ nimmt dann den überwiegenden Teil der Handlung in Anspruch und am Ende lädt Dagobert seine Neffen zum großen Festessen ein. Obwohl zuerst nur ein einmaliger Auftritt vorgesehen war, sollte dem ambivalenten Charakter ein bahnbrechender und weltweiter Erfolg zuteilwerden. Nach Barks’ Angaben als »ironisches Spiegelbild« des kapitalistischen Amerikas angelegt, sind Comics um den ›reichsten Mann der Welt‹ immer noch ungebrochen beliebt.1896 Carl Barks erfand noch viele Figuren und Aspekte aus dem Duck-Universum (wie etwa Daniel Düsentrieb oder Gustav Gans), aber einen biographischen Hintergrund gab er nur seinem ›Liebling‹ Dagobert. Dieser ließ darum immer mehr Bemerkungen darüber fallen, auf welche abenteuerliche Weise er zu seinem märchenhaften Reichtum gekommen war. Auch vor konkreten Jahreszahlen und Bezügen zu historischen Ereignissen (wie dem Goldrausch) schreckte Barks nicht zurück, wobei er – ganz der jugendlichen Leserschaft verpflichtet – hier immer auf historische und geographische Korrektheit achtete. Carl Barks wird als Erzähler und Weltenschöpfer immer noch hochgeschätzt und fast alle anderen Duck-Zeichnenden sehen sich dementsprechend in seiner Nachfolge. Allen voran aber steht: Keno Don Rosa. Don Rosa wurde 1941 als Sohn einer italienischen Einwandererfamilie in Kentucky geboren. Nach seinem Tiefbau-Studium entschied sich der Hobby-Zeichner für einen Richtungswechsel in der Karriere und tatsächlich wurde er auch ohne formale Graphiker-Ausbil1896 Vgl. Knigge, 2004, S. 19.

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dung 1986 beim Gladstone-Comicverlag eingestellt, weil er ausreichend Talent, vor allem aber ein Übermaß an Begeisterung für die Duck-Comics vorzuweisen hatte. Matthias Heine erklärt den enormen Erfolg des Zeichners, der seine Geschichten fast ausschließlich selbst schrieb und fast 30 Jahre lang damit Erfolg hatte: »Das Glaubensbekenntnis der Fans lautet: Wenn Carl Barks Gottvater war, dann ist Don Rosa der Erlöser. Erlöst hat er die Gemeinde von einer fast 20jährigen Dürreperiode nach Barks’ Karriereende 1967, in der Donald und seine Welt nur von eher wenig begabten Künstlern betreut wurden.«1897 Tatsächlich ist es weniger Don Rosas Zeichenstil oder seine Erzählweise, die ihn in den Augen von Fans als direkten Nachfolger auszeichnen, denn in dieser Hinsicht gibt es sehr eindeutige Differenzen.1898 Vielmehr sind Kreativitäts- und Qualitätsgrad der Erzählungen der Grund für die Anerkennung. Zwischen 1991 und 1994 verfasste und veröffentlichte Don Rosa sein Opus magnum Onkel Dagobert – Sein Leben seine Milliarden (im Original: Life and Times of Scrooge McDuck) indem er alle (faszinierend stimmigen) Bemerkungen Barks’ über Dagoberts Lebensgeschichte sammelte und daraus eine Chronologie entwarf. Fast kein erwähntes Ereignis wurde dafür ausgelassen.1899 Diese ausnahmsweise direkt von Disney in Auftrag gegebene Biographie aus zwölf Kapiteln behandelt Dagoberts Leben bis zum 70. Lebensjahr, spielt zwischen 1877 und 1947 und leitet direkt über zu Barks’ Die Mutprobe.1900 So trifft Dagobert im letzten Kapitel das erste Mal auf seine Neffen – und alle Abenteuer im Kreise der Familie sollen folgen. 1995 gewann Don Rosa für seine umfangreiche Saga den renommierten Will Eisner-Award für die beste Fortsetzungsgeschichte, einer der wichtigsten Comicpreise der Welt. Für seine Fans fertigte er in den Jahren darauf noch zahlreiche Zusatzkapitel an, die ebenfalls in Dagoberts Jugend spielen und zwischen den zwölf Originalkapiteln anzusiedeln sind. Diese bilden jedoch eher in sich abgeschlossene Abenteuergeschichten, ohne den roten Faden des Hauptwerkes mit aufzugreifen, so dass sie hier nicht mitberücksichtigt werden.

1897 Heine, 2013, unpag. 1898 Carl Barks selbst scheint auf den chilenischen Disney-Zeichner Vicar als den Künstler verwiesen zu haben, der seinem Stil am nächsten komme. Vicar war außerordentlich produktiv und hat allein für Disney mehr als 10 000 Comicseiten verfasst. An diese Zahl reicht Don Rosas Werk nicht im Entferntesten heran, was auf seine langsame Rechercheund Zeichenarbeit zurückzuführen ist. 1899 Vgl. Don Rosa, 2008, 6, 25. 1900 Vgl. ebd., 6f.

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2.1.3 Stil, Ausdrucksmittel und Erzählweise Onkel Dagobert – Sein Leben, seine Milliarden steht in vielerlei Hinsicht exemplarisch für Don Rosas individuellen und charakteristischen Stil. Obwohl alle Duck-Zeichnenden eigene, unterscheidbare Nuancen aufweisen, so ist Don Rosas Stil für Duck-Comics doch besonders außergewöhnlich. Wie alle anderen Duck-Künstler behandelt Don Rosa seine Charaktere – und damit auch Dagobert – nicht etwa als Ente, der er ja ähnelt, sondern als einen Menschen mit rein äußerlicher Ähnlichkeit zur Familie der Anatidarum.1901 Von Schnabel und Schwanzfedern sollte man sich deshalb in Bezug auf den Gehalt der Geschichte(n) keinesfalls täuschen lassen.1902 Don Rosas Comics lassen sich der ›All Ages‹-Zielgruppe zuordnen, wobei man teilweise auch von einem doppelten Adressaten ausgehen muss. Denn es gibt immer wieder kurze Passagen, die doppeldeutig oder ernst sind.1903 Wie es typisch für humoristische Comicstrips und Comics für Kinder (sowie übrigens auch die inhaltlich völlig entgegen gelagerten Undergroundcomics) ist, sind auch Don Rosas Figuren stilisiert und in einem cartoonhaften Stil gehalten.1904 Dadurch gestaltet sich der Lesefluss für die meisten Menschen recht mühelos. In seiner Gestaltung des Helden eifert Don Rosa damit nicht nur dem Disneystil, sondern auch seinem künstlerischen Vorbild nach, dessen typischen Stil McCloud folgendermaßen beschreibt: »Die sanften Kurven und der klare Strich von Carl Barks’ Dagobert Duck vermitteln […] ein Gefühl schrulliger, kindlicher Unschuld.«1905 Dennoch ist Don Rosas Stil etwas weniger ›gefällig‹, weniger rund und klar. Er erinnert an den typischen Strich vieler UndergroundComics (zum Beispiel von Robert Crumb), die ironischerweise absolut keine Kindercomics sind. Er bricht damit insgesamt mit dem stilistischen ligne claireEinschlag anderer Disney-Zeichner. Seine markanten Schraffuren, die den Panels zuweilen deutlich mehr Schatten und Dunkelheit, jedoch auch Tiefe verleihen, fallen deshalb zuweilen schon kindlichen Leserinnen als außergewöhnlich auf. Durch nur wenige zusätzliche Linien, die zum Beispiel seinen Zwicker dreidimensionaler erscheinen lassen, erscheint Dagobert etwas naturalistischer. Da die Figur zumindest in Sein Leben, seine Milliarden auch besonders ernst und menschlich charakterisiert wird, unterstreicht der leichte Bruch zu anderen Disneyerzählungen die Tiefe der Geschichte. Auch die Hintergrundzeichnungen 1901 Vgl. dazu auch Packard, 2006, S. 104. 1902 In gewisser Hinsicht besteht Ähnlichkeit zu Art Spiegelmans Maus (1980). Hier lässt der Künstler seine Figuren ebenfalls mit Köpfen aus der Tierwelt auftreten, ohne dass man nur einen Augenblick an deren Menschlichkeit zweifeln könnte. 1903 Vgl. bspw. Don Rosa, 2008, S. 222ff. 1904 Vgl. auch McCloud, 2001 (b), S. 64. 1905 2001 (b), S. 134.

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sind relativ realistisch gehalten (wesentlich stärker als bei Barks), sie heben sich stilistisch damit noch ein Stück von den Figuren ab und spiegeln möglicherweise Don Rosas Anliegen wider, für seine fiktive Figur einen möglichst glaubwürdigen historischen Rahmen zu erschaffen.1906 Kinder und Jugendliche können durch den disneyschen Stilbruch auf den ersten Blick irritiert werden – nicht zuletzt weil Bilder in ungewohnten Zeichenstilen auch stets etwas schwieriger zu dechiffrieren sind – während gleichzeitig gerade bei älteren Leserinnen dadurch die Neugier geweckt werden könnte. Don Rosas Werke zeichnen sich in der Erzählweise und Gestaltung durch Vielschichtigkeit, Sorgfalt in der Recherche und Liebe zum Detail aus. Obwohl er auch viele kürzere, humoristische Erzählungen verfasst hat, ist Don Rosa doch am bekanntesten für seine längeren Abenteuergeschichten (in dieser Arbeit ist schon auf Expedition nach Shambala und Die Jagd nach der Goldmühle verwiesen worden). Auch diese sind aber oft gespickt mit beiläufigen NebenGags in den Panelhintergründen und vielen Referenzen an Barks’ Werk, was zum Diskurs über Intertextualität einlädt. Die Erzählungen zeichnen sich zudem durch eine große Dichte aus, denn die Panel-Anzahl pro Seite ist verhältnismäßig hoch. Don Rosas Opus ist dagegen eher klein, denn häufig spielen die Geschichten vor realen Orten und historischen Begebenheiten und Ereignissen, die vorweg entsprechend umfangreiche Nachforschungen benötigen.1907 Auch ein gewisser sprachlicher Anspruch ist gegeben. So zitiert Don Rosa in Werken wie Der letzte Schlitten nach Dawson den Dichter Robert W. Service oder lässt die mythologischen Figuren in Die Jagd nach der Goldmühle allesamt im metrischen Versmaß sprechen.1908 Die Wort-Bild-Relation ist bei all dem relativ eng und klar korrelativ, sodass es kaum zu doppelten Kodierungen von Wort und Bild kommt. Dies verstärkt weiter die Dichte der Erzählweise, die auch Intensität ausstrahlt. Ein weitere Charakteristikum von Don Rosas Stil ist die Nähe zum einem anderen Medium: Häufig lässt er sich nicht nur inhaltlich von bekannten Hollywood-Filmen inspirieren, sondern bedient sich durch Elemente wie dem Heranzoomen oder dem geschickten Wechsel von Perspektiven und Einstellungsgrößen in den Panels auch der Ausdrucksmittel der Cineastik.1909 Dadurch ergeben sich teilweise dramatische Effekte, die eine emotionale Wirkung auf die Leserinnen haben und zum Beispiel ihr Identifikationsgefühl mit den Hauptfiguren steigern können.

1906 1907 1908 1909

Vgl. bspw. Don Rosa, 2008, S. 158. Vgl. ebd., S. 92. Vgl. Don Rosa, 2014 (c), S. 411; Don Rosa, 1999, 133ff. Vgl. bspw. Don Rosa, 2008, 126, 238, 243.

Analyse des Werkes

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Die Biographie ist in Kapitel eingeteilt, die zwischen 14 und 28 Seiten umfassen. Daraus ergeben sich 212 Seiten, die die wichtigsten Abschnitte aus Dagoberts Leben zwischen 1877 und 1947 erzählen. Es handelt sich darum um eine Art Prequel für die ›regulären‹ Duck-Geschichten, in denen Dagobert bereits reichster Mann der Welt ist und die zumindest noch für Barks in den 1950er Jahren angesiedelt waren. Auch Don Rosa ist es wichtig zu betonen, dass meine Duck-Stories nicht in der ›heutigen‹ Gegenwart, sondern der der 1950erJahre spielen. Wie sonst könnte Dagobert noch am Leben sein, wenn er 1898 Goldsucher war oder 1882 Cowboy, wie von Barks berichtet? Ich halte das für eine bessere Lösung, als den Lesern irgendeinen Blödsinn aufzutischen und zu behaupten, es handele sich um ›unsterbliche Figuren, die in einer Märchenwelt leben‹. Dies würde Barks’ Charaktere und Geschichten völlig ihrer dramatischen und realistischen Qualitäten berauben1910.

Dies ist tatsächlich eine ungewöhnliche Sichtweise, die dadurch umso paradoxer wird, dass manche Hintergrundereignisse in der Biographie rein fiktiv sind (wie die Schlacht um das Fort Entenhausen in Kapitel X), während andere tatsächliche Historizität vorweisen können (wie der Klondike-Goldrausch ab 1896 in Kapitel VIII). Der Prolog und die letzte Seite des letzten Kapitels rahmen die Saga durch Bilder, die Dagobert badend im Meer aus Münzen in seinem Geldspeicher zeigen – das wohl vertrauteste Bild in Hinblick auf die beliebte Comicfigur.1911 Die ersten zehn Kapitel zeigen im ersten großformativen Splashpanel jeweils die aufgeschlagene Doppelseite eines Erinnerungs-/Fotoalbums, das Inhalte des Kapitels vorwegnimmt und in den neuen Lebensabschnitt beziehungsweise dessen Setting einführt, während eine allwissende Erzählstimme in der Regel die kleinen inhaltlichen Leerstellen zwischen den Kapiteln erklärend füllt. Dieses Album verdeutlicht, dass es hier um den Rückblick auf ein (Menschen-)Leben geht, um »Erzählungen aus der Vergangenheit«1912, und sie bieten einen Hinweis auf das Motiv der Erinnerung, das eine große Rolle in der Deutung der Saga spielen kann. Die Kapitel beziehen sich jeweils auf größere Bögen von Dagoberts Biographie oder auch auf einzelne prägende Ereignisse. Theoretisch sind sie deshalb auch jeweils einzeln, außerhalb des Gesamtkontextes zu lesen. Dies eröffnet Differenzierungsmöglichkeiten für die Schule. Als roter Faden etabliert sich früh Dagoberts Lebensziel, zu Reichtum zu kommen, sodass jedes Kapitel einen weiteren Schritt (oder auch Rückschritt) in diese Richtung darstellt. Das letzte Kapitel fällt in vielerlei Hinsicht heraus: es reicht unmittelbar an DagobertGeschichten der ›Gegenwart‹ heran, hat also kein historisches oder exotisches 1910 2008, S. 435. 1911 Eine grundsätzliche Vertrautheit mit den Grundzügen, Familienbezügen und klassischen Attributen des Charakters setze ich in dieser Arbeit voraus. 1912 Don Rosa, 2008, S. 24.

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Don Rosas ONKEL DAGOBERT: SEIN LEBEN, SEINE MILLIARDEN – Sinn und Identität

Setting mehr und führt mit den Neffen Figuren sowie Motive (wie den ›Geldspeicher‹) ein, die den Lesern in der Regel schon bekannt sind. Sein Leben, seine Milliarden bricht inhaltlich einige Vorgaben des Konzerns für seine Duck-Comics, wie die Unsterblichkeit ihrer Figuren oder religiöse Anspielungen. Don Rosa erklärt: In Onkel Dagobert – Sein Leben, seine Milliarden kam ich ganz unweigerlich in Situationen, in denen ich etwas umsetzen mußte, das völlig untypisch für Duck-Geschichten war, z. B. der Tod von Dagoberts Eltern oder die Zerstörung eines afrikanischen Dorfes. Vielleicht hat man mir dabei eine etwas längere Leine als üblich gelassen, weil klar war, daß so etwas wie in dieser Serie noch nie zuvor in irgendeinem Disney-Comic versucht worden ist1913.

Dabei ist es dem Künstler auch gelungen, einen neuen Blickwinkel auf die Figur des Dagobert zu schaffen, der in gegenwärtigen Comics zuweilen kaltschnäuzig, geizig, neurotisch und eindimensional auftritt, indem er aufzeigt, wie (und warum) sich Dagoberts Charakter entwickelt haben könnte und was die ursprüngliche Motivation für sein Streben nach Reichtum war. Auch klassische Attribute des Helden, wie sein Geiz und der Hungerlohn, den er später seinem Neffen Donald zu zahlen gedenkt, werden in ihrer Entwicklung aufgegriffen und so mitunter neu gedeutet und erklärt.

2.2

Inhaltliche Aspekte

2.2.1 Identität und Entfremdung Bedenkt man, dass die Lebensgeschichte einer der wichtigsten Bezugspunkte der Identitätswahrnehmung eines Menschen ist, ist es nachvollziehbar, dass das Thema ›Identität‹ auch in der vorliegenden Biographie eine große Rolle spielt. Allerdings führt Dagoberts Lebensweg ihn auch in eine Entfremdung von wichtigen Säulen seines Selbstverständnisses. Er entfremdet sich zunehmend von sich selbst, von seiner Familie und seinen Werten. Erst im letzten Kapitel setzt wieder eine Annäherung an diese Aspekte ein. Im Folgenden sollen diese Punkte dargestellt werden, vorher jedoch wird ein kurzer Blick auf die Konzepte von ›Identität‹ und ›Entfremdung‹ (nach dem Verständnis von Hartmut Rosa) geworfen. Die ›Identität‹ eines Menschen ist, schlicht ausgedrückt, »das Gesamt der Antworten auf die Frage: Wer bin ich? Wer sind wir?«1914 Brunner und Zeltner beschreiben sie als »Wahrnehmung der relativen Einheitlichkeit der Einstel1913 2008, S. 11. 1914 Reinhold, 1997, S. 276.

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lungen, Gefühle und des Verhaltens trotz wechselnder Umweltbedingungen und des Fortschreitens der Zeit«.1915 Selbst- und Identitätskonstruktion hat gerade in Zeiten der Postmoderne immer einen gewissen konstruktivistischen Charakter. Dies wird von verschiedenen Autoren exzellent in Worte gefasst. Keupp erklärt: »Das Selbst wird zum reflexiven Projekt: ›Wir sind nicht was wir sind, sondern was wir aus uns machen‹.«1916 Darum hat sich seit längerem die Annahme durchgesetzt, dass es keinen stabilen ›Identitätskern‹ gibt, der irgendwann fest gebildet und dann gesichert ist, sondern dass es sich bei ›Identität‹ eher um ein fluides und anpassungsfähiges ›Prozessgeschehen‹ handelt. Dabei kann sich die Identität eines Individuums in einzelne Teile aufspalten und unterschiedliche, zum Teil auch widersprüchliche Rollen und Selbstbilder enthalten. In anderen Worten: »In Bezug auf die Identität des Menschen spricht die Psychologie von einem dynamischen Selbstkonzept, das lebenslang in Entwicklung begriffen ist, im Wechselspiel mit dem sozialen Umfeld […] und in Form von Identitätskrisen.«1917 Keupp spricht auch von einem »selbstreflexive[n] Scharnier zwischen der inneren und äußeren Welt«, denn die Ereignisse eines Lebens nehmen permanent Einfluss auf das individuelle Selbsterleben.1918 Identität ist deshalb unbedingt auch ein »Akt sozialer Konstruktion. Die eigene Person oder eine andere Person wird in einem Bedeutungsnetz erfaßt.«1919 Es geht »um die Produktion einer individuellen sozialen Verortung. Die Notwendigkeit zur individuellen Identitätskonstruktion verweist auf das menschliche Grundbedürfnis nach Anerkennung und Zugehörigkeit.«1920 Außerdem soll die Identitätskonstruktion dem Menschen nicht nur eine »Selbstverortung«, sondern auch »individuelle Sinnbestimmung« ermöglichen.1921 Identität kreist nicht nur um sich selbst, sondern transzendiert das Subjekt und ermöglicht das Herstellen individueller Sinnbezüge auch religiöser Natur. Nicht zuletzt ist die Frage ›Wer bin ich?‹ auch eine der klassischen existenziellen Sinnfragen, die sich jeder Mensch stellt und auf die der Glaube eine Antwort zu geben versucht (vgl. dazu IV 2.2.2). An Dagoberts Lebensgeschichte, so wie Don Rosa sie erzählt, sind diese Zusammenhänge zum Thema ›Identität‹ deutlich darstellbar: Wie sie sich konstruiert, wie sie dem Wandel unterworfen ist, wie sich Krisen bilden können, wenn äußere und innere Welt nicht mehr zusammenpassen und wie sie immer 1915 1916 1917 1918 1919 1920 1921

Vgl. 1980, S. 100. 2000; vgl. auch Giddens, 1991, S. 74. Köck; Ott, 1997, S. 312. Keupp, 2000, unpag. 2000, Herv. i. Org. 2000, Herv. i. Org. Ebd.

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wieder neu geformt werden muss. Dieser Prozess ist im vorliegenden Comic von Schmerz begleitet, der gut nachvollziehbar ist. Hartmut Rosa erklärt, Selbstgefühl und Identität entstünden aus »Handlungen, Erfahrungen und Beziehungen, also daraus, wie wir in Raum und Zeit und in der sozialen Welt der Dinge ›verortet‹ sind (und uns selbst ›verorten‹).«1922 Dagoberts Selbst-Welt-Verhältnis tritt, wenn man Hartmut Rosa folgt, aber zunehmend in einen Entfremdungsprozess: »Entfremdung bezeichnet eine tiefgehend, strukturelle Verzerrung der Beziehungen zwischen Selbst und Welt, also der Art und Weise, in der ein Subjekt ›in die Welt‹ gestellt ist.«1923 Denn Dagobert fühlt sich immer weniger einem Ort, ganz bestimmten Menschen oder eigenen Handlungszusammenhängen zugehörig.1924 Diese Geschichte einer Entfremdung von sich selbst ist dabei im Grunde ein warnendes Beispiel für die Rezipienten. Besonders die ungeheuer wichtige soziale Dimension von Identität, die Zugehörigkeiten schafft und den dauerhaften Aufbau von Beziehungen erst ermöglicht, wird ebenso beleuchtet, wie ihr Vermögen, Sinn im Leben zu etablieren. Dagoberts Lebensziel verleiht seinem Streben eine Richtung und seinem Leben Ziel und Sinn: auch dies ist ein wichtiger Faktor im Identitätsgefüge. Um sich dem Thema in Sein Leben, seine Milliarden optimal zu nähern, ist es allerdings wichtig, noch weitere eine spezifische Identitätstheorie hinzuzuziehen: Paul Ricoeur unterscheidet zwischen zwei Anteilen, aus denen sich die eigene Identität zusammensetzt: Einerseits die idem-, andererseits die ipse-Identität.1925 Besonders die ipse-Identität befindet sich auf dem Lebensweg eines Menschen im steten Wandel. Die Identitätsbildung erfolgt hier durch ›Selbstnarration‹, der sozialen Konstruktion der (eigenen) Wirklichkeit, der Biographie. Für die idemIdentität ist es hingegen die Bezeugung, die im Mittelpunkt steht. Es ist der Teil des Selbstbildes, der offenbart, wie ein Mensch sich sieht, den er selbst bezeugen, postulieren und durch weitere Verhaltensweisen bekräftigen kann. Die idemIdentität kann zwar ebenfalls durch eine entsprechende Erzählung, Auslegung und (dadurch auch) Verarbeitung bezeugt werden, es handelt sich jedoch vor allem um die Auslegung der eigenen Biographie, das Ziehen der Konsequenzen aus dem eigenen Handeln. Damit ist die idem-Identität also auch eher bewusster Veränderung zugänglich. Dagobert lässt in Sein Leben, seine Milliarden keine Gelegenheit aus, sein Selbstverständnis in Worte zu fassen, anderen gegenüber zu verteidigen oder sich selbst damit Mut zuzusprechen. Es ist darum einfach, Dagoberts idem-Identität nachzukonstruieren. 1922 1923 1924 1925

2013, S. 124. 2013, S. 123. Vgl. ebd., S. 219. Vgl. im Folgenden dazu Ricoeur, 1996 (a), S. 150ff.

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Besonders in seiner Jugend beruft er sich immer wieder auf vier Kernfaktoren: Erstens auf seine Herkunft, meistens bezogen auf die ärmlichen schottischen Verhältnisse, in denen er aufgewachsen ist. Oft dient das Rekurrieren auf seine Kindheit auch dem Zweck, klarer zu konturieren, was er seitdem alles erreicht hat. Zweitens seine Erfahrungen als Abenteurer und die Fähigkeiten, die er dadurch gewonnen hat. Drittens seine Zähigkeit (im Englischen ›grit‹), verbunden mit Härte und Unnachgiebigkeit im Streben nach Größe. Viertens seine klaren Wertvorstellungen und seine hohen moralischen Ansprüche an sich selbst. Es sind vor allem diese vier Aspekte seiner Identität, die sein unerschütterliches Selbstvertrauen auch in schwierigen Zeiten begründen. Dagobert geht davon aus, dass man sich Ruhm und Größe selbst schaffen kann (Fortuna favet fortibus ist sein unausgesprochenes Motto, vgl. auch IV 2.2.3) und scheint trotzdem eine innere Gewissheit zu spüren, dass er auch abseits eigener Anstrengungen etwas Besonderes ist, ein Auserwählter aus der Riege der Ducks sein könnte1926. Dies ist zumindest eine Deutung, die dem Leser selbst mehrmals nahegelegt wird. Es lassen sich also zentrale Säulen seines Selbstbildes nennen, die Dagoberts Leben Sinn und Richtung verleihen und sein Selbstvertrauen begründen. Diese brechen aber zunehmend weg, paradoxerweise vor allem, nachdem er sein Ziel, nämlich Reichtum, erworben hat! Das hat Folgen für seine Identität, weil er nicht bereit scheint, sein Selbstbild anzupassen und neu zu erfinden. Dagobert entfremdet sich von sich selbst. Die Entfremdung aber hat fatale Auswirkungen auf sein ganzes Leben. Die vier Säulen seiner Identität sollen nun erläutert werden, beginnend mit der, die noch am längsten überdauert: Sein Selbstverständnis als ›Abenteurer‹. Entfremdung von sich selbst Dagobert zeichnet sich schon in seiner Kindheit durch Unerschrockenheit und Einfallsreichtum aus. So verdient er ein kleines Vermögen mit dem Verkauf von teurem Torf und bricht bereits im zarten Alter von 13 Jahren nach Amerika auf 1927. Jedes Abenteuer hält neue Lektionen bereit und Dagobert sammelt immer mehr Erfahrung.1928 Auch bittere Einsichten ergeben sich mehrmals, sodass Dagobert sein kindliches Vertrauen in die Mitmenschen zunehmend verliert. Kapitelüberschriften wie ›Der Held der Badlands‹ oder ›Der Herr des Mississippi‹ zeugen davon, was für ein unerschrockener und abgebrühter ›Teufelskerl‹ er bei all dem ist, bezwingt er doch gleichermaßen Viehdiebe wie ganze Armeen.1929 Besonders interessant sind seine Fähigkeiten, weil sie einen reizvollen Kontrast 1926 1927 1928 1929

Vgl. Don Rosa, 2008, 15, 19f., 23. Vgl. ebd., 16, 23. Vgl. ebd., S. 116. Vgl. ebd., 27, 59–73, 195–209.

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zu seiner eher kümmerlichen Statur bilden, ähnlich wie es beispielsweise beim Comichelden Lucky Luke der Fall ist. Auch ohne den späteren Reichtum wird er deshalb zunehmend zur Legende und ist sich dieser Leistung durchaus bewusst.1930 Die gemeisterten Herausforderungen stehen ihm ständig vor Augen sowohl seine idem- als auch seine ipse-Identität sind maßgeblich davon geprägt. Dazu legt Dagobert seine Erfolge, wie die Zähmung eines Löwen, so aus, dass er daraus Selbstbewusstsein für noch größere Taten bezieht: »Wer Löwen zugeritten hat und ein Didgeridoo spielen kann, braucht kein Floß!«, resümiert Dagobert, bevor er sich einen Elch anlockt, der ihm in Kapitel VIII als Transportmittel dienen soll.1931 Letztlich aber dienen alle Abenteuer an diesem Punkt (!) der Geschichte nur einem Zweck: Dagobert will reich werden. Deshalb wird diese Säule seiner Identität überraschend erschüttert, als Dagobert schließlich der reichste Mann der Welt ist.1932 Es gibt keine neuen Ziele mehr. Er kann sich ›sorglos‹ zu Ruhe setzen. Das postulierte Selbstverständnis des weltgewandten Abenteurers hat plötzlich keinen Bezug mehr zu seiner Lebenswirklichkeit: »Früher war mein Leben voller Abenteuer, aber das ist lange her! Alles, was mir bleibt, sind Langeweile und Rückenschmerzen!«1933 Es liegt allerdings nahe, dass neben dem Rückenleiden vor allem seelische Probleme bestehen, denn wenn ein Selbstbild plötzlich keinen erkennbaren Anhalt in der Wirklichkeit mehr hat, kann dies zumindest in der realen Welt zu schweren psychischen Krisen führen: Auch wenn Menschen heute angesichts der pluralen Gesellschaft dazu berufen sind, ihre Identität immer wieder aufs Neue, fast patchworkartig zu konstruieren, »erweist sich ein gewisses Maß an Kohärenz eines Individuums für die Herstellung einer lebbaren Verknüpfung des Inneren (Psyche) mit dem Äußeren (Sozialität) als unverzichtbar. Wo das nicht gelingt, kommt es zu mehr oder weniger nachhaltigen Störungen der Persönlichkeitsstruktur.«1934 Dagobert verlässt im letzten Kapitel seine Villa nicht mehr – und die Annahme, sein Wirtschaftsimperium biete keine Herausforderungen mehr, erscheint nur noch als dürftiges Argument dafür.1935 Die großen Erlebnisse liegen in der Vergangenheit, die Zeiten des Abenteurers sind vorbei, sodass Tick, Trick und Track nachsinnen – und provozieren: »Armer Onkel Dagobert! All seine Abenteuer und Kämpfe waren für die Katz! Er hat sein Leben sinnlos verplempert!«1936 Die Neffen deuten damit Dagoberts vergangenen Lebensweg auf eine Weise, die Dagobert zum Überdenken 1930 1931 1932 1933 1934 1935 1936

Vgl. ebd., S. 148. Ebd., S. 152. Vgl. ebd., S. 238. Ebd., S. 258. Mette, 2008, S. 25. Vgl. Don Rosa, 2008, S. 245. Ebd., S. 258.

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seines aktuellen Lebensstiles führt: Sein Erfolg in Gestalt des angehäuften Reichtums hat nur Wert, wenn er diesen auch behalten kann! Da er seinen menschlichen Beziehungen den Rücken gekehrt hat, hat er vorerst aber niemanden, um seine Erinnerungen, die ihn bis in seine Träume verfolgen,1937 zu teilen oder damit zu prahlen und die Welt vergisst den einstigen Helden zunehmend – Donald zum Beispiel schenkt den alten Geschichten keinerlei Glauben mehr.1938 Dagobert hortet also nur noch symbolische Erinnerungsstücke, die ihm keine Befriedigung mehr zu geben scheinen, weil sie ihn nur immer wieder daran erinnern, welches Leben er aufgegeben hat. Als Tick fragt, was denn in einer alten (Trophäen-)Kiste sei, antwortet er deprimiert: »Nichts Wichtiges! Nur Erinnerungen an ein anderes Leben…«1939 Zwischen seiner gegenwärtigen Identität, seinem Leben und seiner Vergangenheit ist eine Kluft und Entfremdung getreten. Entfremdung von Familie und sozialer Nähe Dagoberts Herkunft verbindet zwei Spannungsfelder: Einerseits die kleine, verarmte Kernfamilie, in der er aufwächst und andererseits der große und ruhmvolle Clan, dem seine Familie historisch entspringt. Beide Familienbezüge ähneln einander darin, dass sie Dagobert darin ermutigen, etwas aus seinem Leben zu machen. Beide jedoch lässt Dagobert im Laufe seines Lebens zurück – erneut mit fatalen Folgen für seine emotionale Entwicklung. Der alte schottische Clan der Ducks verkörpert Stolz, Ritterlichkeit, Zähigkeit, Größe und Reichtum sowie übertriebene Sparsamkeit.1940 Dagobert ist der letzte männliche Nachkomme des Clans und kann sich hier sozial verordnen, sieht seine Existenz und sein Leben in einem größeren Kontext, dessen Wurzeln weit in die Vergangenheit reichen.1941 Zu Dagoberts Lebzeiten lebt die Familie jedoch in prekären ökonomischen Verhältnissen. Mit nostalgischen und elegischen Augen blickt der Junge deshalb im ersten Kapitel auf die verfallene Stamm-Burg und fragt sich, ob er jemals reich genug sein könnte, um ihr und dem Namen seiner Familie neuen Glanz zu geben.1942 Er zieht letztendlich auch in die Welt, um genau dies zu erreichen.1943 Nach Amerika begleiten ihn nur sein erster selbstverdienter Zehner (ein Symbol der Strebsamkeit aus seinen Zeiten als Schuhputzer) und wenige Erbstücke.1944 Sie stehen auch für seine teilweise glanzvolle 1937 1938 1939 1940 1941 1942 1943 1944

Vgl. ebd., S. 247. Vgl. bspw. ebd., 246, 252f. Ebd., S. 252. Vgl. ebd., S. 10ff. Vgl. ebd., S. 19. Vgl. ebd., S. 17. Vgl. ebd., S. 22. Vgl. ebd., S. 23.

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Familiengeschichte und werden ihm auf seinen Reisen noch nützlich sein.1945 Es muss angemerkt werden, dass Dagoberts Vorfahren, seine Mutter ausgenommen, ausschließlich als männlich ausgewiesen werden. Es scheint keine Frauen gegeben zu haben, auch im Jenseits spielen sie keine Rolle. Dagoberts Feinde und Mentoren sind ebenfalls durchgehend Männer. Auf die spekulativen Gründe dafür kann hier leider nicht eingegangen werden. Entenhausen ist vor allem eine Männerwelt. Immerhin zeigen seine Vorfahren aber ein tendenziell mütterliches Moment, das es zu unterstreichen gilt: Sie spielen nicht nur in Dagoberts bloßer Imagination oder Erinnerung eine Rolle, sondern ohne dass er es jemals ganz erfasst, leiten, schützen und wachen sie in Schottland aktiv über ihn.1946 Während der kleine Dagobert dem freundlichen Herren Donnerbold bei ihrer ersten leibhaftigen Begegnung ganz sorglos vertraut, wird den Lesenden schnell klar, dass es sich dabei nur um den freundlichen Geist des besorgten Vorfahren handeln kann. Er nimmt die Rolle eines wachenden Schutzengels und Mentors ein, der im Jenseits für ihn einsteht, ihn wiederholt vor einem feindlichen Clan schützt und ihm mit 13 Jahren den Weg nach Amerika weist, wo Dagobert schließlich auch zu Reichtum kommt.1947 Damit wacht er über Leben und Vision des Jungen und führt schließlich auch seinen Vater in die Ewigkeit (siehe IV 2.2.2, Abb. 31).1948 Allerdings ist Donnerbolds Handlungsfeld, sieht man von seinem Bezug zur transzendenten Dimension ab, lokal auf die Duckenburgh beschränkt. Und als Dagobert diese in Kapitel IX endgültig verlässt, um nach Amerika zu ziehen, lässt er auch die Verbindung zu seinen wohlwollenden Vorfahren endgültig zurück – räumlich wie emotional. Wenn soziale und physische Nähe nicht übereinstimmen, soziale Relevanz also zunehmend von räumlicher Nähe entkoppelt wird, stört dies das Selbst-Welt-Verhältnis aber dergestalt, dass es zu Entfremdungsprozessen kommt.1949 Durch die räumliche Veränderung verliert er seine wichtigste Anbindung ans Transzendente und damit vielleicht auch an das Moment der Weisheit. Er baut nun seine eigenen ›Burgen‹, bezieht ein Fort und dann den Geldspeicher. Dies ist nicht nur als Akt der Mündigkeit oder Emanzipation zu sehen. Denn während die Duckenburgh durch ihr Innenleben an all die Vorfahren erinnert, durch ihren Verfall zunehmende Offenheit bietet und eng mit der um sie liegenden Natur verbunden ist, so ist der (unbestritten hässliche!) Geldspeicher dafür gebaut, Mitmenschen möglichst fernzuhalten.1950 Zudem verändert ihn der Umzug in das (vor allem durch Zufall bestimmte) junge Entenhausen auch deshalb nicht zum Guten, weil das Land und die Stadt um ihn 1945 1946 1947 1948 1949 1950

Vgl. ebd., 61, 81. Vgl. bspw. ebd., S. 108. Vgl. ebd., 18, 101, 20. Vgl. ebd., S. 189. Vgl. Rosa, 2013, S. 123. Vgl. Don Rosa, 2008, 11, 18f., 23, 269.

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herum ihm keine ›Geschichten‹ mehr erzählen oder Erinnerungen wachrufen, sodass das Selbst-Welt-Verhältnis weiter gestört wird.1951 Dagobert ist die neue Welt fremd.1952

Abb. 31

Neben der Familiengeschichte und den weiteren familiären Bezügen ist Dagoberts Kindheit und Jugend von seiner Familie, sprich: seinen Eltern, seinem Onkel und seinen beiden Schwestern, geprägt – und damit sowohl von Armut als auch von Liebe und Zuneigung, derer er sich auch sein ganzes Leben lang immer wieder erinnert.1953 Die Splashpanels der ersten fünf Kapitel enthalten deshalb allesamt graphische oder textuelle Verweise auf seine Familie, obwohl sie in der Handlung oft keine Rolle spielen.1954 Dass diese Bezüge in den letzten Kapiteln nicht mehr auftauchen, ist kein Zufall. Dagobert steht ohne Scham zu den einfachen Bedingungen seiner Kindheit, die auch seine erstaunliche Arbeitsmoral mitbegründen und so zur Quelle des Stolzes heranwachsen.1955 Lange zeigt sich noch die weiche, zugewandte Seite des jungen Mannes, die eng verknüpft ist mit dem starken Familienzusammenhalt: er weint beim Abschied vom Vater, wacht beim Grab seiner Mutter, will seine Schwestern Dortel und Mathilda teilhaben lassen an seinem neuen Leben in Amerika.1956 Doch durch Faktoren wie das Verlassen seines Heimatlandes (Kapitel IX und X) oder den veränderten Lebensstil, der ihn sogar kurzzeitig seine ducksche Sparsamkeit vergessen lässt (»Warum auch nicht? Ich verdiene es, das Beste vom Besten zu tragen!«), gewinnt er zunehmend Distanz zu diesem Teil seines Lebens.1957 Die Bewohnerinnen und Bewohner seiner Heimat reagieren auf den

1951 1952 1953 1954 1955 1956 1957

Vgl. Rosa, 2013, S. 124. Vgl. ebd., S. 125. Vgl. Don Rosa, 2008, 65, 237, 261. Vgl. ebd., 10, 27, 59, 77, 95. Vgl. ebd., S. 91. Vgl. ebd., 179, 187f. Ebd., S. 179.

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zurückgekehrten Reichen aggressiv und ablehnend (»Was willst du hier, du Aufschneider?«, »Hau bloß wieder ab!«), er erwidert mit gleicher Münze und Drohungen (»Grrr! Ich kaufe jede Hütte in diesem schäbigen Kaff, und dann setze ich euch alle an die Luft!«).1958 Er lässt nicht nur die Armut, sondern eben auch seine Freundlichkeit zunehmend hinter sich. In Kapitel IV und V ist Dagobert noch bereit, die ersten Früchte seiner harten Arbeit (das Eigentumsrecht für eine Kupfermine) selbstlos für die Rettung der Familienburg aufzugeben und dafür zur Mittellosigkeit zurückzukehren.1959 Später aber verliert er sein Ziel – Größe auch im Namen seines Clans – so sehr aus den Augen, dass Reichtum und Geld für ihn zum reinen Selbstzweck werden (IV 2.2.2). Im Splashpanel des letzten Kapitels ist alles zu sehen, was in seinem Leben noch Bedeutung hat: Geld.1960 Es findet sich kein Brief mehr an die Familie zu Hause in Schottland, kein Hinweis auf die Familienerbstücke, keine Fotos seiner geliebten Schwestern.1961 Die wachsende Distanz wirft ihre Schatten voraus. Sein Vater zeigt sich noch besorgt: »Hat der Reichtum dich so sehr verändert, Bertel? Du bist sehr hart geworden!«, während seine Schwester Dortel ihn später das volle Ausmaß seiner Veränderung spüren lässt: »Du bist hartherzig, hinterhältig und egoistisch geworden! Ich schäme mich für dich!«1962 Die Spannungen kumulieren in Kapitel XI, in dem es zwei Mal innerhalb von 23 Jahren zu schweren Zerwürfnisen mit seinen Schwestern kommt. Beide Male zeigt sich Dagobert danach in seinem Herzen zutiefst reuig, was an den zugewandten Jungen aus Glasgow noch erinnert.1963 Jedoch: beide Male wird er von seiner Leidenschaft zum Geld aufgehalten und vergisst darüber die Notwendigkeit einer Versöhnung.1964 Es gibt also eine Verbindung von Reichtum und Entfremdung in Dagoberts Leben. Er endet einsam und wird von der ihn zurücklassenden Mathilda sogar beklagt, indem sie emotional, aber treffend auf die Prioritätenverschiebung hinweist: »Früher, da hatte er alles! Aber heute ist alles, was er hat, Geld und was man für Geld kaufen kann. Er ist nur ein armer reicher Mann!«1965 Der Bruch mit seinen Schwestern ist endgültig.1966 Sie verlassen den Geldspeicher schließlich, ohne sich noch einmal umzudrehen – nur der kleine Donald, Sohn von Dortel, wendet den Kopf.1967 Eine subtile graphische Prolepse.

1958 1959 1960 1961 1962 1963 1964 1965 1966 1967

Vgl. ebd., S. 178. Vgl. ebd., S. 90. Vgl. ebd., S. 234. Vgl. ebd., 95, 59, 10. Ebd., 178, 220. Vgl. ebd., 225, 237. Vgl. ebd., 227, 238. Vgl. ebd., S. 238. Vgl. ebd., S. 236. Vgl. ebd., S. 238.

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Wenn man Dagoberts eigener Deutung folgt, woher die Entfremdung zur Familie rührt, ergibt sich eine leicht abgewandelte Deutung: »Wenn euch nicht passt, was ein hartes Leben aus mir gemacht hat, könnt ihr ja gehen!«, erklärt Dagobert hitzig.1968 Für ihn besteht also weniger eine Verbindung zwischen Reichtum und Entfremdung als zwischen (bitterer) Erfahrung und Entfremdung. In der Tat sind viele Jahre seines Leben geprägt von sehr schwerer Arbeit, Misserfolg und Einsamkeit (unter anderem, da er immer wieder von Mitmenschen enttäuscht wird). Innere Abschottung wäre eine nachvollziehbare psychologische Konsequenz. Die Abkehr seiner Geschwister lässt in ihm womöglich auch den Gedanken keimen, dass er von seinen Mitmenschen abgelehnt wird und deshalb keine andere Wahl hat als allein zu sein. 17 Jahre in Einsamkeit sprechen dafür, dass sich dieses Selbstbild schnell verfestigt. Dazu kommt, dass sich am Klondike eine zarte Verbindung zwischen Dagobert und einer Bardame namens Nelly ergeben haben muss.1969 Diese Liebe, die einzige Dagoberts, wird von Don Rosa in diesem Werk nur angedeutet, ist sie doch eigentlich Territorium von Carl Barks sowie Thema einiger anderer Comics und Zusatzkapitel.1970 Sie scheitert offensichtlich, es ergibt sich keinerlei gemeinsame Zukunft und man kommt nicht umhin zu fragen: Rührt ein Teil von Dagoberts Verbitterung daher? Versteckt sich zwischen den Zeilen ein gebrochenes Herz? Oder scheitert die Liebe schon an seiner Unnahbarkeit? Insgesamt ist Dagoberts Fixierung auf monetären Gewinn aber der Hauptgrund, den die Erzählung uns für seine Entfremdung liefert. Auch anstelle der Nachkommen, die sich aus einer Liebesgeschichte hätten ergeben können, tritt die Vermehrung seines Geldes, sodass der Aborigine Jabiru Dagoberts ersten selbstverdienten Zehner sogar einfühlsam, als dessen »Erstgeborenen« bezeichnet.1971 Tatsächlich ist das Vermögen, das er dabei anhäuft, die einzige Konstante bei Dagoberts zahlreichen Umzügen, Reisen und Abenteuergeschichten. Der Weltenbummler hat keine Zeit dafür, eine intensive Beziehung zu einem Ort aufzubauen und seine Bereitschaft dazu schwindet wohl auch zunehmend.1972 Ausnahme ist nach Schottland nur noch der Klondike, zu dem eine »Intimitätsbeziehung«1973 heranwächst, die ihm wohl zeitweise ein Gefühl von Heimat vermittelt. Auch dies währt jedoch nur einige Jahre. Es ist darum nachvollziehbar, dass er eine innige Beziehung zur großen Konstante in seinem Leben aufbaut: Indem wir Dinge lange behalten und gut pflegen, werden sie »Teil unserer alltäglichen Lebenserfahrung, Identität und Geschichte.«1974 1968 1969 1970 1971 1972 1973 1974

Ebd., S. 236. Vgl. ebd., S. 186. Vgl. ebd., S. 235. Vgl. ebd., S. 141. Vgl. Rosa, 2013, S. 124. Ebd., S. 123. Ebd., S. 125.

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Dagobert kompensiert also durch seine Beziehung zum Geld seine Entfremdung von Familie und Heimat. Die Münzen werden zu »externe[n] Spuren« innerer Erfahrung.1975 Zudem wird Identität natürlicherweise über das geformt, worum wir uns sorgen oder schlicht über das, woran uns etwas liegt.1976 Aber gleichgültig, warum er sich von seinen Wurzeln des armen schottischen Jungen abkehrt und wie auch immer er dies kompensiert: Irgendwann verliert Dagobert diesen Teil seiner idem-Identität, als er seine Lebensgeschichte, also eher seiner ipse-Identität, wiederholt durchdenkt. In Kapitel IX haben sich bereits Reichtum und Erfahrungsschatz seiner angenommen und angesichts der Highland-Games, bei deren Teilnahme er scheitert, bringt er hervor: Diese alten Bräuche und Traditionen haben mir gezeigt, wie wenig ich hierhergehöre! Diese Menschen sind tief in der Vergangenheit verwurzelt, aber mein Leben ist auf die Zukunft ausgerichtet…auf neue Länder, neue Herausforderungen, auf den Fortschritt! Wenn ich hierbleibe, werde ich versumpfen […]. Dann waren all die Jahre harter Arbeit umsonst!1977

Dagobert kehrt sich also bewusst ab von seinen schottischen Wurzeln, die einst so wertvoll für ihn waren. Er priorisiert hier sein Selbstbild des Abenteurers, der neue Herausforderungen braucht. Umso fataler ist es, dass diese später wegzufallen scheinen. Sein Selbstverständnis des armen, aber ehrlichen Kerls weicht im gleichen Zuge der Überheblichkeit. Und die Duckenburgh, Symbol für seine ehrliche und redliche, ritterliche Herkunft, verlässt er endgültig, als er nach Amerika zieht, um als Ersatz für das Symbol der Familiegeschichte das Symbol seines Reichtums zu errichten: seinen Geldspeicher. Nach dem Tod des Vaters sind seine Schwestern alles, was Dagobert an Familie noch hat und diese lädt er ein, ihn in das neue Leben in Amerika zu begleiten. Es gibt endgültig nichts mehr, was ihn noch in der Vergangenheit halten könnte – und dies beeinflusst auch seine Zukunft. Die Erzählstimme fasst zusammen, wie Dagobert sich armen, hilfesuchenden Menschen nun zunehmend gegenüber verhält: »In unzähligen schweren Jahren hat sich das Herz des Kämpfers verhärtet gegen die Leiden all jener, die weniger Erfolg hatten als er… Der Junge von einst, der in den Straßen von Glasgow Schuhe putzte, hätte sich der Hilferufe angenommen… Doch diesen Jungen scheint es nicht mehr zu geben!«1978 Darum geht die Verleugnung seiner Herkunft auch mit einer Veränderung seines Charakters einher. Diese Verhärtung des Herzens gegenüber anderen – auch eine Begleiterscheinung von Geiz! – könnte sich sowohl aus Dagoberts innerer Einstellung von Härte und Unnachgiebigkeit ergeben haben, als auch, wie schon angedeutet, aus 1975 1976 1977 1978

Ebd., S. 140. Vgl. ebd., S. 143. Don Rosa, 2008, S. 186. Ebd., S. 235.

Inhaltliche Aspekte

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schlechten Erfahrungen mit seinen Mitmenschen. Schon als Zehnjähriger sieht er sich mit dem Schlechten im Menschen konfrontiert und zieht daraus Schlüsse für sich selbst: »Das Leben ist hart und voller Menschen, die dich betrügen wollen! Aber ich werde härter sein als die Härtesten und schlauer als die Schlauesten!«1979 (Abb. 32) Im Grunde zeigt sich hier ein Grundschema, das sich mehrmals wiederholt: Dagobert arbeitet hart, wird von Mitmenschen verprellt, aber zeigt sich danach nur umso entschlossener. Diese Zähigkeit/Härte, im Englischen: ›grit‹, die schon seine Vorfahren charakterisierte, nimmt in seinem Selbstverständnis einen überaus hohen Stellenwert ein.1980 So lehnt er eine Einladung zum Essen in Kapitel VIII mit den Worten ab: »Hab ich letzte Woche erst! Regelmäßiges Essen ist was für Schwächlinge!«1981 Trotzdem bleibt sein Herz zunächst weich, er hat Freunde und lacht viel.1982 Der Vertrauensbruch Mac Moneysacs in Kapitel VI trifft ihn allerdings hart – vermutlich härter als irgendein anderer, da sich im Grunde das gesamte Kapitel nur um diesen Vorfall dreht. Dagoberts Bestürzung gegenüber dem Vertrauensbruch des vermeintlichen Freundes wandelt sich in tiefen Zorn und resultiert in einer zunehmenden Ablehnung seiner Mitmenschen.1983 Es ist jedoch sicher nicht nur Moneysacs alleinige Schuld: Nicht weniger als 25 (!) explizite Fälle, in denen seine Mitmenschen ihn bestehlen, betrügen, bedrohen oder ihm Gewalt antun, sind in Dagoberts Lebensgeschichte zu finden, dazu immerhin zwei fatale in seiner Familienhistorie.1984 Die narratoriale Stimme resümiert im Splashpanel von Kapitel VIII: »Seit nunmehr 16 Jahren ist der junge Dagobert rund um die Welt auf der Suche nach Reichtum und Glück! Dabei musste er viele harte Lektionen lernen, die sein Weltbild entschieden formten!«1985 Der Zusatz ›Glück‹ hat hier eine interessante Doppeldeutigkeit: Einerseits verweist er auf Dagoberts Glücksrittertum, andererseits auch auf ›Lebensglück‹. Seine Begabung in der Suche nach Erfüllung ist seinem Händchen in Geschäftsangelegenheiten aber mitnichten ebenbürtig. Er legt sich gegenüber seinen Mitmenschen ein ›dickes Fell‹ zu, wird immer zynischer, unbarmherziger, distanzierter, kälter. Auch wenn er (bis zum verhängnisvollen Kapitel XI) niemandem aktiv schadet und anderen Menschen sogar nach dem Mac MoneysacDesaster noch zur Rettung eilt1986, lässt der Einzelgänger bald niemanden mehr an sich heran, verhält sich zum Beispiel dem Mentor Jabby äußerlich recht

1979 1980 1981 1982 1983 1984 1985 1986

Ebd., S. 15. Vgl. ebd., S. 11. Ebd., S. 153. Vgl. bspw. ebd., S. 84. Vgl. ebd., S. 121. Vgl. bspw. ebd., 11, 28, 85, 116, 151, 204, 232. Ebd., S. 147. Vgl. ebd., 130, 176.

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gleichgültig gegenüber.1987 Auch Dagoberts stetiges Reisen führt dazu, dass es ihm an Gegenübern mangelt, zu denen er eine echte, tiefgehende Beziehung eingeht.1988 Ohne Menschen und Beziehungen, die uns Stabilität geben, kann es aber laut Hartmut Rosa zu tiefer Selbstentfremdung kommen.1989

Abb. 32

Von den Menschen enttäuscht wendet er sich eine Zeitlang der Natur (und Tierwelt) zu und die Leserschaft kann deutlich sehen, welches Glück ihm dieses bereitet.1990 Jedoch ordnet Dagobert auch dieses schließlich seinen Zielen unter. In Kanada schwankt er so zwischen Verträumtheit und blinder Entschlossenheit: Ich habe nicht viele solcher Orte voller Majestät und Harmonie gesehen, die noch so völlig verschont sind von dem gierigen Zugriff des Menschen. Hier kann ein Mann in Frieden seine Tage verleben und die Früchte seiner eigenen Hände Arbeit genießen, umgeben von Stille und…und…Pah! Dummes Gewäsch! Wenn ich Gold finde, lege ich den Bach trocken, sprenge die Berge, und den Wald verfüttere ich an ein Sägewerk!1991

Im Gegensatz zum Grundsatz von Unnachgiebigkeit findet diese Entwicklung aber keinen ersichtlichen Eintritt in Dagoberts idem-Identitätsbild. Mit seiner Familie bricht damit eine wichtige Säule seines Selbstbildes weg, ohne dass Dagobert dies in irgendeiner Art ausgleichen würde. Er lässt seine Familie hinter sich, ohne neue tragende Beziehungen zu suchen – und es sei nur die Beziehung zu einem Ort oder der Natur. 1987 1988 1989 1990 1991

Vgl. ebd., S. 133. Vgl. dazu Rosa, 2013, S. 142. Vgl. 2013, S. 142. Vgl. Don Rosa, 2008, 140, 161. Ebd., S. 161.

Inhaltliche Aspekte

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Diese Themen, von existenzieller Wichtigkeit, können auch Eingang in didaktische Überlegungen finden: Im Religionsunterricht kann man über den Stellenwert von sozialen Gefügen und den richtigen Prioritäten sprechen. Die familiäre Identität, die auch von Vorfahren/Ahnen geprägt wird, ist für alle Heranwachsenden von besonderer Wichtigkeit. Dazu kommt die Kraft von Vergebung als Schlüssel für alle Beziehungen. Entfremdung von Wertvorstellungen Die Frage nach Identität hat auch immer eine ethische Komponente, da Haltungen, Wertvorstellungen und überhaupt die Lebensführung eines Menschen in diese Dimension hineinspielen.1992 In Worten Strohs: Die Aufgabe, der eigenen I[dentität] in ihrem unverfügbaren Ursprung, ihren unhintergehbaren Rahmenvorstellungen und ihrer menschlichen Verfügungsmacht entzogenen Bestimmung treu zu bleiben, ist kein spezifisch neuzeitliches Problem, sondern markiert die existenzielle Grundfrage humaner Lebensführung zu allen Zeiten1993.

Aus ethischer Perspektive ist die Identität »die Kontinuität des Selbsterlebens einer Person als ethisches Subjekt«.1994 Wie sich zeigen wird, zeichnet sich Dagoberts Selbstbild in dieser Hinsicht tatsächlich durch jahrzehntelang anhaltende Beständigkeit und Konsequenz aus: Einen nicht unerheblichen Teil seiner selbst definiert Dagobert dadurch, dass er darauf pocht, seinen Reichtum durch eigener Hände Arbeit, sprich: ›von der Pike auf‹ und vor allem redlich zu verdienen. Dies verweist auf seine persönlichen, zentralen Werte. Der Bruch mit dieser Einstellung kostet ihn viel, weil die Kontinuität seines Selbsterlebens abbricht. Dagobert offenbart schon als kleiner Junge seinen Stolz und seine Charakterstärke. Als er nach schwerer Arbeit beim Schuheputzen nur eine wertlose, ausländische Münze hingeworfen bekommt, formuliert er erstmals eine Trias, die sein Leben von nun an entscheidend prägen wird: Redlich sein, hartnäckig bleiben, Erfolge einfahren. »[I]ch werde es auf ehrliche Art bis ganz nach oben schaffen!«, erklärt er.1995 Hier zeigt sich, dass ethisch-personale Identität kein (oder: nicht nur) Resultat menschlichen Handelns ist, sondern »dessen Anlaß wie Horizont und die Bedingung zu dessen Möglichkeit.«1996 Dagoberts moralisches Selbstbild geht allen moralisch einwandfreien Handlungen im Comic voraus, es ist die Bedingung dafür, dass er auch unter Druck noch ›korrekt‹ handelt. Natürlich zieht er wiederum daraus auch Konsequenzen für seine idemIdentität. Die Zehnermünze wird schnell zum Symbol seiner Ziele und seines 1992 1993 1994 1995 1996

Vgl. auch Brunner; Zeltner, 1980, S. 100. 2008, S. 24. Ebd. Don Rosa, 2008, S. 15. Stroh, 2008, S. 24.

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Anspruches sich selbst gegenüber, in Dagoberts Worten: »mein Ansporn, meine Inspiration«.1997 Damit ist sie fortan Dagoberts Markenzeichen und unbewusst auch ein Symbol für seine Herkunft, seine erste Lektion und den ausgeprägten Wunsch, andere zu übertreffen.1998 Letzteres ist vielleicht auch als eine Art Rache gegenüber den üblen Mitmenschen anzusehen. Angesichts der Schlechtigkeit der Welt will Dagobert sich zunächst also vor allem davon abheben. Der Wert eigener Hände Arbeit wird sowohl von Dagobert als auch von allen (!) seinen Mentoren fortlaufend hervorgehoben. Bezeichnend ist zum Beispiel der Dialog seiner Vorfahren in Geistgestalt: »Warum hast du ihm nicht gesagt, wo dein [Sir Donnerbolds] Schatz versteckt ist?«/»Weil er für Ruhm und Reichtum arbeiten soll. Nur so wird unser Name wieder zu Ehren kommen!«1999 Natürlich ist dies ebenso als Prolepse zu verstehen. Dagobert erkennt, dass reich geboren zu werden oder eher zufällig einen Schatz zu finden, unbefriedigend wäre.2000 Auch der junge Theodore Roosevelt lehrt ihn, dass Reichtum nur befriedigend und ehrenvoll ist, wenn er in Abenteuern verdient wurde: »Durch den Ruhm harter Arbeit reich zu werden, im Angesicht einer gnadenlosen Natur, das nenne ich ein wahres Verdienst! […] Es ist der Ruhm der Tat, der wirklich zählt!«2001 Dagobert zeigt sich hoch motiviert und inspiriert, dem jungen Roosevelt mindestens ebenbürtig: Die Schatzsuchen, zu denen sich Dagobert später aufschwingt, müssen also auch Herausforderungen enthalten, um Glück zu offerieren.2002 Es ist offensichtlich, worauf es beim Streben nach Größe ankommt: Der Weg ist das Ziel! Der junge Dagobert unterstreicht genau dies, als sein Onkel am Mississippi auf einen Schatz stößt: »Also, ich finde, für ein Vermögen sollte man eigentlich arbeiten müssen! Ist das nicht unbefriedigend, wenn einem der Reichtum einfach so in den Schoß fällt?«2003 Hier spielt auch der ›American Dream‹ eine Rolle: Vom Tellerwäscher zum Millionär, beziehungsweise – in diesem Fall – vom Schuhputzer zum Kupferkönig und Bankbesitzer2004. Dagobert sieht seine eigene Geschichte als Sinnbild dieses Lebensweges an, verknüpft mit dem jungen, aufstrebendem Amerika.2005 Tatsächlich ist es dann laut dem Künstler auch »die härteste, schmutzigste, einsamste und unangenehmste Zeit seines Lebens«, in der Dagobert es am Klondike zu endgültigem Erfolg bringt, und zwar ausschließlich durch »eigene harte Arbeit, Beständigkeit und Erfahrung«.2006 Man darf aller1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006

Don Rosa, 2008, S. 141. Vgl. ebd., S. 148. Ebd., S. 22. Vgl. ebd., 41, 68. Ebd., 68, 73. Vgl. bspw. ebd., S. 232. Ebd., S. 41. Vgl. ebd., 77, 176. Vgl. ebd., S. 91. 2008, S. 171.

Inhaltliche Aspekte

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dings nicht außer Acht lassen, dass die Idee des ›American Dream‹ später im Grunde auch in Frage gestellt wird: Dagobert ist es in den letzten Kapiteln zwar gelungen, zum reichsten Mann der Welt zu werden – vieles andere hat er dafür jedoch verloren. Harte Arbeit und Geld allein bringen keine Erfüllung. Don Rosa lässt keinen Zweifel daran: Dagobert war als armer Kerl glücklicher. Damit wird auch seine ursprüngliche Zielvortsellung/Priorisierung im Leben radikal in Frage gestellt. Zudem gerät Dagobert, der buchstäblich (fast) sein ganzes Leben der harten Arbeit gewidmet hat, ins Strudeln, als diese harte Arbeit nicht mehr nötig erscheint – oder wegen fortschreitenden Alters nicht mehr möglich ist. Zunehmende Tatenlosigkeit und Depression treten miteinander in Beziehung. Da Dagobert viel Selbstbewusstsein aus seiner Arbeitsmoral gewonnen hat, ist es denkbar, dass sein Selbstwert angesichts der Ruhe leidet. Wenn es nicht gerade darum geht, dass der junge Mann es ganz allein nach oben schaffen möchte, dann dreht sich der Diskurs um die moralische Komponente dieser Strebsamkeit: Redlichkeit und Ehrlichkeit erscheinen immer wieder als Dagoberts höchstes Gebot – auch dann noch, wenn er zunehmend mürrisch wird. Diese Anständigkeit verlangt sein Stolz und er bezieht offensichtlich auch Selbstwert daraus. So weiß er der Versuchung, in Australien einen den Aborigines heiligen Opal zu stehlen, nur zu widerstehen, indem er sich seine Grundwerte und die Konsequenzen eines Bruches damit bewusst vor Augen führt: Hm… Der Sand versiegelt die Höhle bald wieder. Wenn ich den Opal mitnehme, merkt das in den nächsten hundert Jahren kein Mensch! Anstatt nach Gold zu suchen, bis ich alt und grau bin, könnte ich steinreich sein! Und wer braucht schon Selbstachtung, wenn er reich ist! Harharhar…Ich!2007

Unter diesen Worten verlässt er schließlich die Höhle. Mit zunehmendem Alter verliert Dagobert aber ganz langsam diesen Idealismus aus den Augen. Das hängt möglicherweise damit zusammen, dass er ab Kapitel VIII keinen Mentor mehr bei sich hat, der ihn bestätigen oder zurechtweisen würde. Es ist aber auch davon auszugehen, dass er angesichts jahrelanger, vergeblicher Schufterei, ständig betrügerische Menschen vor Augen und in wachsender Einsamkeit (drei Jahre verbringt er überwiegend allein in der Wildnis) langsam erheblich frustriert ist. Sein redlicher Weg hat ihm bis jetzt keinen bleibenden Erfolg gebracht. In der harten Zeit am Klondike entgleist er erstmals dergestalt, dass er Reichtum der Achtung vor dem Leben bzw. der Natur vorziehen will.2008 Zwar könnte man Dagobert hier noch zugutehalten, dass es dazu dann doch nicht kommt, aber schlussendlich kann auch Dagobert der 2007 Ebd., S. 141. 2008 Vgl. ebd., S. 161.

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Versuchung nicht weiter widerstehen. In Kapitel XI bricht er mit seinen Wertvorstellungen, als er in Raffgier und Rachsucht ein afrikanisches (lokal nicht näher spezifiziertes) Dorf niederreißen lässt.2009 Don Rosa kommentiert, Dagobert habe hier in wachsender Gier und Zynismus den schmalen Grat zwischen Gut und Böse einmalig überschritten.2010 Die Erzählstimme fasst zusammen: »Und so begeht Dagobert die einzige unehrenhafte Tat in seinem ganzen Leben, eine Tat…die ihn noch lange verfolgen soll und die ihn mehr kosten wird, als er ahnen kann!«2011 Wirklich sind die Kosten hoch: Seine Schwestern kehren sich schockiert von ihm ab. Auf psychologischer Ebene verliert er zudem wichtige Säulen seiner Identität, indem er sich mit Gewalt und Betrug durchsetzt. Er bricht mit seiner Selbstachtung sowie den Idealen seiner Herkunft. Er erscheint sich selbst plötzlich fremd. Nun meldet sich die Stimme seines Gewissens, von Don Rosa in Gestalt des armen aber ehrlichen Schuhputzers, als rauer, aber ehrlicher Goldgräber und schließlich in Gestalt des verstorbenen Vaters dargestellt, der ihn an die Ideale der Familie Duck erinnert und deutlich macht, dass ein Bruch damit auch ein Bruch mit seinen Wurzeln bedeutet (Abb. 33). Seine Identität, die auf vielen Säulen ruhte, bröckelt endgültig. Diese Sequenz spielt sich des Nachts ab und die Dunkelheit und Schwärze der Panelhintergründe unterstreichen die tiefe Verderbtheit der Tat und die Schwärze in Dagoberts Seele, genauso wie die belastende Schuld. Dortel resümiert nicht ohne Grund: »Ein schwarzer Tag für den Clan der Ducks!«2012 Zwar besinnt sich Dagobert rasch wieder, doch kommt er nicht dazu, seine Schuld zu bekennen und wiedergutzumachen. Lieber verschiebt er auch die Versöhnung mit seinen Schwestern zugunsten einiger Abenteuer und Geschäftsmöglichkeiten. Seine Begründung »Ich bin vielleicht ehrlich, aber dumm bin ich noch lange nicht!«2013 muss damit immerhin in Frage gestellt werden. Aber offensichtlich hält Dagobert im Sinne seiner idem-Identität noch an der Ehrlichkeit fest. Seine Überheblichkeit nimmt in den folgenden 23 Jahren jedoch zu und es kommt in dieser Zeit zu keinem Kontakt mit seinen Schwestern. So wird ihm auch keine Vergebung zugesprochen und die Idee seiner Ehrlichkeit bleibt folglich zweifelhaft: Denn seine Schuld an der Familie wurde nie beseitigt. Diese Schuld wird auch in anderer Form greifbar, als der afrikanische Schamane einen Zombie auf Dagobert hetzt, der ihn viele Jahre verfolgt und immer wieder auftaucht, wo er am wenigsten erwartet wird.2014 Diese unangenehme Gestalt erscheint als Racheengel, aber auch als Sinnbild einer Schuld (und Sünde!), vor der Dagobert um den ganzen Globus zu fliehen versucht. Er 2009 2010 2011 2012 2013 2014

Vgl. ebd., S. 222. Vgl. ebd., S. 239. Ebd., S. 222. Ebd., S. 223. Ebd., S. 227. Vgl. ebd., 226ff.

Inhaltliche Aspekte

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stellt sich dem Zombie kein einziges Mal, obwohl er die Symbolik versteht und das unheimliche Wesen mit seiner schicksalhaften Tat gleichzusetzen weiß: »Meine einzige schlimme Tat lässt mich nicht mehr los!«2015 Als er schließlich nach Hause zurückkehrt, ist der Zombie durch einen (äußerst teuren) Zauberspruch gebannt – und die Schuld offensichtlich vergessen.2016 Denn Dagobert sucht nicht mehr nach Versöhnung.

Abb. 33

2015 Ebd., S. 230. 2016 Vgl. ebd., S. 234.

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Zusammengefasst: Dagobert definiert sich bezüglich seines Wertgefüges in seiner ipse- und idem-Identität im Wesentlichen durch Folgendes: Stolz darauf, Reichtum und Größe durch eigene Arbeit und unermüdlichen, bis an seine Grenzen gehenden Einsatz selbst zu verdienen bzw. verdient zu haben – und nicht etwa durch Erbe oder reines Glück.2017 Zudem pocht er auf seine Redlichkeit, mit der er sich auch teilweise von seinen Mitmenschen abheben will. Mit dem Ablegen dieser Einstellungen gerät er ins Unglück: Als er seine Raffgier auf Kosten anderer befriedigt, bezahlt er mit dem Verlust seiner Familie und sein Selbstbild verliert an Definition. Die Schuld wird nie beglichen und verfolgt ihn; er betrügt sich darüber selbst, was allein schon genug Anlass für eine Identitätskrise wäre. Sein übersteigertes Ansehen von körperlicher Arbeit ohne Delegierungen gerät ins Strudeln, als er endgültig in der Moderne ankommt und zunehmend vom Bürostuhl aus agieren muss, körperliche Arbeit nicht mehr möglich oder nötig erscheint – und der gewonnene Reichtum nicht mit den Verlusten in anderen Bereichen seines Lebens konkurrieren kann. Einerseits werden Dagoberts Wertvorstellungen dadurch für die Lesenden bestätigt, gerät der Held doch erst ins Wanken, als er damit bricht. Andererseits stellt sich durchaus die Frage, ob nicht andere Wertvorstellungen, wie Demut und Vergebung, auf der Suche nach einem erfüllten Leben möglicherweise ebenfalls nützlich gewesen wären. Entfremdung und Annährung Dagobert bleibt nach diesen Entwicklungen mutlos zurück. Doch im letzten Kapitel baut er die Säulen seiner Identität teilweise wieder auf: Durch eine neue Familie und neue Abenteuer, die er nicht mehr erwartet hatte. Das letzte Kapitel der Biographie nimmt nicht nur in der Erzählweise eine Sonderstellung ein, sondern umfasst einen neuen, entscheidenden Wendepunkt in Dagoberts Leben, ausgelöst durch die neue Beziehung zu seinen Neffen. Dagobert erscheint zu Beginn von Kapitel XII fast wie ein Toter: Don Rosa bricht hier anfangs krass mit dem bisherigen Erzählstil. Statt des lebendig wirkenden, bunten Erinnerungsalbums ist nur noch totes Geld im eröffnenden Splashpanels zu sehen – der Held selbst bleibt vorerst unsichtbar bzw. nur noch im Schatten (seiner selbst) sichtbar.2018 Mehrere stille Panels ohne Worte, die schrittweise eine unheimlich wirkende Villa und dann den Helden vergrößern, schaffen eine intensive Atmosphäre. Dagobert hält eine Schneekugel in der Hand, 2017 Man kommt nicht umhin zu bemerken, dass Don Rosa die populäre Idee des ›Glückszehners‹, der Dagobert angeblich Glück und Reichtum gebracht hat, stark ablehnt. Für ihn ist der Zehner lediglich ein Symbol des Erfolgs. Dagobert macht dies in einem heftigen Wutanfall klar: »Der Zehner war lediglich Ansporn dafür, Kreuzer für Kreuzer meines Vermögens zu erkämpfen!« (Don Rosa, Dagobert, 250) 2018 Don Rosa, 2008, S. 234.

Inhaltliche Aspekte

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die seine alte Hütte am Klondike zeigt und damit Gefühle der Magie, Romantik und Nostalgie, jedoch auch der Ferne und Entfremdung heraufbeschwört.2019 Der Alte, in extremer, intim wirkender Nahaufnahme gezeigt, flüstert beim Anblick der Kugel den Namen der Bardame Nelly. Hier deutet sich ein unerfülltes Sehnen an. Die ganze Seite strahlt geheimnisvolle Dunkelheit, Einsamkeit und Sehnsucht aus (Abb. 34). Statt der vertrauten Erzählstimme berichtet dann eine Fernsehstimme – elektronisch und damit distanziert – über den alten, nun abgeschieden und geheimnisvoll wirkenden Mann.2020 Und statt Dagobert zeigt Don Rosa als nächstes (aber nicht vor Seite drei) Donald und die Kinder Tick, Trick und Track, die in maximaler Distanz, nämlich auf der kalten Straße, vor der Scheibe eines Fernsehladens zufällig die Fetzen einer Fernsehsendung, die sich um den Industriemagnaten dreht, aufschnappen.2021 Auf dem Bildschirm selbst erscheint Dagobert nur sehr kurz, auf alten Bildern oder wieder im Schatten, zudem wie die ganze Sendung in Schwarzweiß. Es ist ein durchweg deprimierender Einstieg und die Einsamkeit der Szene dehnt sich auch auf die Neffen aus. Möglicherweise deutet sich hier die Schwere der Nachrkriegsjahre an. Die Leserinnen erfahren, dass Dagobert abgeschieden, einsam, geheimnisumwoben und mit körperlichen Gebrechen alleine in einer alten Villa lebt; zu seiner Familie besteht kein Kontakt und besonders die Kinder sind voller Fragen über ihn.2022 Und möglicherweise ist Dagobert inzwischen auch voller Fragen und Zweifel an sich selbst. Über die Gründe, warum Dagobert nach so langer Zeit (17 Jahre sind nach dem endgültigen Familienbruch vergangen) plötzlich eine Einladung an die vier Verwandten ausspricht, kann die Leserschaft nur spekulieren. Es ist möglich, dass Dagobert selbst spürt, dass es ans Sterben gehen könnte und deshalb wünscht, seine (unbekannten) Erben zu treffen. Diese Interpretation könnte an Die Mutprobe anschließen: Höchstwahrscheinlich will Dagobert prüfen, ob sich auch hinter Donald ein ebenbürtiger ›Abenteuer‹ verbirgt, er also des Erbes auch würdig wäre.2023 Mit diesem folgenschweren Treffen beschwört Dagobert die Geister seiner verloren geglaubten Vergangenheit – und zwar in vierfacher Hinsicht: Erstens: Dagobert versucht wieder an seine Familie anzuknüpfen – mit Erfolg. Die Schwestern scheinen zwar verloren, doch als Sohn seiner Schwester Dortel kommt die Annährung zu Donald auch einer Versöhnung mit dem verlorenen

2019 2020 2021 2022 2023

Ebd., S. 243. Ebd., 244f. Vgl. ebd., 245f. Vgl. ebd., S. 243ff. Vgl. ebd., S. 248.

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Abb. 34

Don Rosas ONKEL DAGOBERT: SEIN LEBEN, SEINE MILLIARDEN – Sinn und Identität

Inhaltliche Aspekte

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Teil seiner Familie nahe.2024 Eine Versöhnung ist es insofern, als dass Donald als kleines Kind schon Zeuge des Familienbruches wurde und den Nerv hatte, seinem Onkel im Alleingang mit einem ›Tritt in den Hintern‹ zu strafen.2025 Dagobert zahlt ihm dies in Kapitel XII nun mit gleicher Münze heim und erklärt: »Vielen Dank, lieber Neffe! Nun fühle ich mich wieder…frisch!«2026 Durch die Altersstruktur wirkt Donald zudem wie ein (verlorener) Sohn, die Kinder wie Enkelkinder. Wenn Dagobert sich jemals nach eigenen Nachkommen gesehnt hat, so kommt er nun maximal nah an diesen Wunsch heran. Donalds tatsächlicher Vater spielt nämlich keine Rolle mehr und Tick, Trick und Track sind verwaist. Offen zeigen sie Dagobert, wie sehr auch sie sich nach Familienbanden sehnen und dass auch sie schon Verlusterfahrungen gemacht haben.2027 Der Leser ahnt, dass Dagobert seine Neffen braucht, auch wenn er es selbst noch nicht so sieht.2028 Und es offenbart sich hier, dass zumindest die Großneffen auch seiner bedürfen. Die narratoriale Stimme aus dem Fernseher macht das Fehlen von Erben für Dagoberts Rückzug verantwortlich: »Vor fünf Jahren löste der gealterte Finanzier unvermittelt sein Imperium auf. Es sei niemand da, der würdig wäre, das Vermögen zu erben oder zu verwalten, so die offizielle Stellungnahme…«2029 Dieser Grund wäre jetzt also passé. Die Neffen schaffen Raum für Versöhnung und lassen Dagobert in einen neuen Familienrahmen, ein neues Beziehungsgefüge eintreten, das ihm neue Anerkennung und Halt geben wird. Wenn der alte Mann verspricht, seine neugewonnene Familie auf die nun anstehenden Abenteuerreisen mitzunehmen (siehe unten), so kann dies sicherlich als Zeichen dafür gedeutet werden, dass der Held nun endlich bereit ist, sein Leben und sein Herz mit jemandem zu teilen und einen Neuanfang zu wagen.2030 Der deutsche Titel der Biographie verweist im Gegensatz zum amerikanischen Original auch nicht auf ›Scrooge McDuck‹ (Dagobert Duck), sondern auf ›Onkel Dagobert‹. Dieser Name ist im Deutschen nicht nur gebräuchlicher, sondern könnte hier auch auf Dagoberts neue Identität verweisen, die ihn in allen Geschichten jenseits des Prequels stark definieren wird: nämlich ihn in Beziehung zu seinen Neffen, zu denen ein sehr starker Bund besteht. Erst mit der Schließung dieses Bundes scheint der ›Onkel Dagobert‹ zu seiner eigenen Bestimmung zu gelangen. Dazu tritt Donald als abgeklärter, überraschend sarkastischer Kontrapunkt auf, der 2024 Vgl. ebd., S. 247. Donald hat eine Schwester, die zusammen mit ihm als Kind in Kapitel XII einen Auftritt hat. Diese muss jedoch als verstorben gelten, da Donald sich ihrer Drillinge angenommen hat. 2025 Vgl. ebd., S. 237. 2026 Ebd., S. 259. 2027 Vgl. ebd., S. 248. 2028 Vgl. ebd. 2029 Ebd., S. 245. 2030 Vgl. ebd., S. 260.

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Dagoberts Qualitäten nicht nur hervorhebt, sondern auch im gewissen Sinne als Herausforderer fungiert.2031 Diese antagonistischen Provokationen wirken auf Dagobert sehr belebend.2032 Zudem findet Dagobert nun vor allem mit den interessierten Kindern ein Gegenüber, mit dem er seine Abenteuergeschichten teilen und seine Identität als ›Glücksritter‹ endlich wieder bestätigt sehen kann. Zweitens: Es sind nicht nur die Erzählungen, die Dagobert wieder an sein altes Abenteurer-Leben anknüpfen lassen. Denn als Dagobert den Neffen die Türen zum Geldspeicher öffnet, lädt er damit auch ungebetene Gäste ein. Die Neffen bringen unbeabsichtigt in Gestalt der Panzerknacker auch aktuelle, neue Gefahren und Abenteuer in Dagoberts Leben.2033 Er muss sich bewähren, indem er seinen Geldspeicher verteidigt und realisiert, dass seine Neffen auch den Geist der Zukunft mit sich führen: »Ich habe noch jede Menge fruchtbare Jahre vor mir…und meine größten Abenteuer liegen in der Zukunft! Kinder, ihr habt mir die Augen geöffnet!«2034 Und tatsächlich spornen ihn die Jüngeren genau dazu an. Plötzlich wirkt Dagobert wieder glücklich. Er hat zu einem Teil dessen zurückgefunden, was ihn einmal definiert und glücklich gemacht hat. Sein Abenteuergeist findet, neu erweckt, wieder einen Ansatzpunkt, um sich zu bewähren. Im letzten Kapitel lassen sich also wieder Mut und Unnachgiebigkeit als idemIdentität Dagoberts hervorheben. Dagobert hat damit wieder etwas gefunden, was ihm Selbstvertrauen und Lebensmut gibt. Drittens: Dagobert erkennt, dass sein vollgefüllter Geldspeicher für gestaltgewordene Erinnerungen steht – und dass diese Erinnerungen trotz der Härte seines Lebens vielfach gut sind.2035 Und plötzlich offenbart sich sein wahrer Reichtum: Im letzten Panel sieht man einen beseelten Dagobert, der erfüllt ist von einem wertvollen Erinnerungsschatz (ohne dass die Neffen zu diesem Zeitpunkt buchstäblich aus dem Bilde wären). Dadurch, dass die Münzen um ihn herum symbolischen, verweisenden Wert einnehmen, sind sie Zeugen seines ruhmhaften, abenteuerlichen Lebens, das dadurch noch gegenwärtig ist und Dagoberts Identität als Abenteurer bestätigt (vgl. auch IV 2.2.2). Zusammenfassend lässt sich sagen: Dagobert behält lange seine Ehrlichkeit, sein weiches Herz verliert er aber für einige Jahre, indem er die Verbindung zu seinen Wurzeln und seinen Mentoren verliert und indem er, angestoßen durch bittere Erfahrungen und Reichtum, den Glauben an das Gute im Menschen aufgeben muss. Gleichzeitig verwandelt sich sein Selbstbewusstsein langsam in Überheblichkeit. Dagoberts Geschichte ist also das beste Beispiel für die Wandelbarkeit der ipse-Identität im Laufe der Lebensgeschichte. Und diese hat eben 2031 2032 2033 2034 2035

Vgl. ebd., S. 246ff. Vgl. ebd., S. 238. Vgl. ebd., S. 251. Ebd., S. 260. Vgl. ebd., S. 261.

Inhaltliche Aspekte

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auch Einfluss auf die idem-Identität. An einem Punkt zwischen Kapitel XI und XII gibt es nichts mehr, was Dagobert von sich stolz bekennen könnte. Erst ganz zum Schluss erhält er eine neue Identität: Als Dagobert den ihn definierenden, kämpferischen Abenteuergeist verloren hat, geben seine Neffen ihm genau diesen wieder – und außerdem ein neues Stück Familiengefüge. Dagoberts Identität scheint im Wandel also zu zerbrechen, wird am Ende aber neu zusammengefügt. So endet Don Rosas Biographie doch glücklich. Im nächsten Abschnitt wird nun der Sinngehalt von Dagoberts Geschichte behandelt, indem der Sinn und die religiöse Dimension seines eigenen Lebens, das den Mittelpunkt der Narration darstellt, untersucht wird.

2.2.2 Sinn und Transzendenz Religiöse Anklänge im Werk In Don Rosas Onkel Dagobert – Sein Leben, seine Milliarden begegnen diverse Bezüge zu Religion, wie sie konzeptuell in III 2.1 schon beschrieben worden sind. Dazu zählen viele christliche und allgemein religiöse Anspielungen, die möglicherweise unterstreichen, welche existenziellen Bezüge die Erzählung insgesamt zu bieten hat. In jedem Falle wird hier, wie Andreas Kubik treffend formuliert, mitgearbeitet am »symbolischen Gedächtnis der biblisch-christentumsgeschichtlichen Kultur.«2036 Darunter fallen einige christlich-tradierte Symbole wie kreuzförmige Grabsteine, Teufelshörner auf dem Haupt des in Versuchung geratenen Dagoberts, ein Kirchturm, von dem er in Kapitel II laut die Anklage gegenüber den Übeltätern verkündet und die Existenz einer Art ›Buch des Lebens‹ bzw. ›Buch der Ducks‹, in dem das Schicksal der Menschen von der Ewigkeit her festgelegt scheint (vgl. dazu bspw. Daniel 7,10).2037 An anderen Stellen wirkt die religiöse Bezugnahme etwas weniger konfessionsgebunden, dafür aber im gewissen Sinne metaphysischer. Ganz besonders Dagoberts kurzer Aufenthalt im Himmel unter golfspielenden Vorfahren, der einer Nahtoderfahrung gleichkommt, ist dabei hervorzuheben.2038 Diese Episode, in der auch die Zukunft des Helden vorausgesagt wird, verweist auf ein Jenseits außerhalb der Zeit, verweist auf eine Art ›Schicksal‹, das Dagobert zu erfüllen hat. Es geht um den Schutz der Ahnen und auch auf ihr urteilendes Gerichthalten über den versterbenden jungen Mann – kurz: um ein transzendentes Moment. Besonders sensibel wird auch mit dem Tod der Eltern umgegangen, weil diesem durch die Hoffnung auf ein Paradies und die Unsterblichkeit der Seele die 2036 2011, S. 230. 2037 Vgl. Don Rosa, 2008, 17, 222, 54, 103. 2038 Vgl. ebd., S. 102ff.

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Härte genommen wird2039: Lange nach ihrem Tod holt Dagoberts Mutter auch ihren Mann dorthin ab, und zwar an dem Morgen, als Dagobert Schottland endgültig verlässt. Der Ahne Donnerbold fungiert dabei engelähnlich als Mittler zwischen den Welten, der den Weg ins Jenseits weist. Durch Dagoberts Nahtoderfahrung ist der Leserschaft zwar schon ein Blick auf das Jenseits vergönnt worden, jetzt aber deuten sich noch mehr Facetten an. Der Vater fragt: »Da ziehen sie hin…die Letzten aus dem Clan der Ducks! Was denkst du, haben wir Bertel [ = Dagobert] alles mitgegeben, was er braucht im Leben?« Dagoberts Mutter erklärt: »Oh, er muss noch viel lernen, aber er wird es schaffen! Das weiß ich aus zuverlässiger Quelle! Aus der zuverlässigsten…um genau zu sein.« Ist damit das oben genannte ›Buch der Ducks‹ gemeint oder deutet sich durch die Existenz einer zweiten Sprechblase für Teile des letzten Satzes, die das Gesagte deutlich herausstechen lassen, etwas noch Größeres an? Spricht Dagoberts Mutter von Gott oder zumindest aus der Perspektive einer allwissenden Ewigkeit? Was genau soll Dagobert »schaffen«? Sollte es aus der Perspektive der Ewigkeit wirklich nur um monetären Gewinn gehen? Dagoberts Vater, Dietbert, erwidert jedenfalls freudig: »Dann haben wir unsere Aufgabe also erfüllt!« Wer aber hat hier wem genau welche Aufgabe gestellt? Und Donnerbold erklärt: »Komm mit! Da sind eine Menge Leute, die dich willkommen heißen wollen…und viele davon sind alte Freunde!« Hier zeigt sich die (nicht nur) im christlichen Volksglauben oft vertretene Hoffnung, nach dem Tod mit verstorbenen Lieben wieder vereint zu sein. Die Szene spielt sich am frühen Morgen ab, die Sonne scheint in die Fenster hinein, sodass eine frische Aufbruchsstimmung im Raum liegt. Die beiden Eltern wirken jünger als ihre Körper es vormals waren.2040 Dadurch, dass in einem Panel sowohl Dietberts Geist bzw. Seele als auch sein im Bett zurückgebliebener Körper gezeigt werden, der nun zurückgelassen wird, drückt sich die (in den Augen einiger Forscher hellenistische) Vorstellung aus, dass es mit dem Tod zur Trennung zwischen beidem kommt, die Seele aber überdauern kann. Die durch den im vierten Panel fehlenden Hintergrund angedeutete Raumlosigkeit (ein nicht unbekanntes Mittel des Autors, der damit wichtige Momente hervorhebt) des ins Jenseits aufbrechenden Paares legt nahe, dass die Figuren der Welt schon halb enthoben sind. Da im Comic Zeit auch durch (hier fehlenden) Raum ausgedrückt wird, deutet sich damit auch eine gewisse Zeitlosigkeit an – ein Pendent zur Ewigkeit.2041 Dass es sich bei diesem letzten (?) Gespräch der Eltern ausschließlich um den Sohn und nicht etwa Dortel oder Mathilda dreht, bestätigt leider die Kritik, die aus pädagogischer Perspektive nicht irrelevant ist, nämlich 2039 Vgl. im Folgenden ebd., S. 189. 2040 Vgl. bspw. ebd., S. 188. 2041 Für Näheres zum Ausdruck der Zeit in der Gestaltung des Raumes im Medium des Comics sei verwiesen auf McCloud, 2001 (b), 110ff.

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dass weibliche Figuren in der Erzählung kaum eine Rolle spielen. Möglicherweise ist aber auch gerade Dagobert das heimliche ›Sorgenkind‹ der Eltern, kamen doch auch sie nicht umhin, seine Lebensgestaltung und Prioritätenverschiebung zu registrieren. In Onkel Dagobert – Sein Leben, seine Milliarden gibt es zudem Anklänge an ethnische Religionselemente. Die Ahnenwelt, deren Verehrung weltweit, zum Beispiel in China, Korea und Ghana, vor allem aber in ethnischen Religionen eine Rolle spielt, ist bereits genannt worden. Zudem spielt der australische Schamane Jabiru in Kapitel VII eine besondere Rolle und macht die Leserinnen neugierig auf kulturelle und religiöse Elemente der ethnischen Aborigine-Religion(en).2042 Er begegnet dem Australier auf dessen ›Walkabout‹, wo er den traditionellen Traumpfaden folgt.2043 Fremdartig erscheinende religiöse Rituale und Mythen werden angerissen, ohne vollständig erklärt zu werden, was dem Aborigine eine geheimnisvolle Aura verleiht.2044 Sein Ausspruch »Nun ja, die Welt ist voller verborgener Geheimnisse, um die nur die alten Legenden wissen!«, fasst sein teilweise mythologisches Weltbild gut in Worte.2045 Und tatsächlich offenbart sich im Laufe des Kapitels, dass die alte Traumzeit-Legende (»entstanden am Urbeginn aller Zeitwerdung!«2046), die sie in den Malereien einer heiligen Höhle finden, Dagoberts eigenes Leben zu beschreiben scheint. Es zeigt sich, dass Religion dazu verhelfen kann, das eigene Leben zu deuten. Mithilfe seines Wissensschatzes gelingt es Jabiru, Dagobert die Richtung für die Zukunft zu weisen, ihm Mut zu machen und zu helfen, seine geliebte Zehnermünze wiederzuerlangen, die der junge Mann vormals in der Wüste verloren hatte.2047 Allerdings bleibt auch Raum für Relativität seiner Deutungen: »Jeder muss seinen Traum selbst lesen.«2048 Insgesamt ließe sich darüber streiten, ob der Aborigine in seiner Darstellung ein westliches Klischee bedient. Fakt ist aber: Er hat vor Dagobert deutliche Wissensvorsprünge und lässt diesen teilweise etwas ›dumm‹ dastehen. Später in der Geschichte ist der Verweis uneindeutiger, jedoch klar negativer: In Kapitel XI gerät der Held unter anderem auf die schiefe Bahn, weil er in einem ethnischen Kontext Götter beschimpft, zu denen er selbst keine Beziehung hat.2049 In der Folge wird Dagobert verflucht; ein ›Untoter‹/Zombie verfolgt ihn

2042 2043 2044 2045 2046 2047 2048 2049

Vgl. Don Rosa, 2008, S. 131ff. Vgl. ebd., S. 131. Vgl. ebd., S. 132. Ebd. Ebd., S. 133. Vgl. ebd., S. 141ff. Ebd., S. 143. Vgl. ebd., S. 221.

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nun um die ganze Welt2050. Dieser Einblick in eine vorgeblich traditionelle Stammeskultur im afrikanischen Raum wirkt negativ und stereotypisch, was religionspädagogisch unbedingt aufzuarbeiten wäre. Es handelt sich um eine hochproblematische Szene. Ein personaler Gott kommt zu keiner Zeit vor, was unter anderem mit dem Disney-Grundsatz einhergehen könnte, nur säkulare Geschichten zu veröffentlichen.2051 Das Netz aus Bezügen zu verschiedenen Religionen (und Kulturen) spiegelt aber auch den zunehmenden Synkretismus der Postmoderne wider, da ein Bezug zum Transzendenten für viele zeitgenössische Menschen aus Komponenten mehrerer Religionen besteht.2052 Im Falle von Sein Leben, seine Milliarden deuten die vielen religiösen Anspielungen und Verweise aber stets in die gleiche Richtung, indem sie Dagoberts Lebensweg wiederholt als ›von Anbeginn der Zeit‹ vorgezeichnete Geschichte charakterisieren, als ein Schicksal, das es zu erfüllen gilt.2053 Für den Religionsunterricht sind jedoch nicht nur diese aufgezeigten religiösen Bezüge fruchtbar zu machen, sondern vor allem die inhärente religiöse Tiefenstruktur der Erzählung. Denn zumindest im Sinne eines funktionalistischen Religionsbegriffes hat Don Rosa Dagobert einen sehr religiösen Charakter verliehen. Darauf soll hier nun näher eingegangen werden. Dagoberts Sinn und Ziel im Leben Herausragend ist bei näherer Betrachtung von Sein Leben, seine Milliarden das allgemeinere Thema von Sinnbezügen, das zwar konfessionsungebunden, dafür jedoch mit besonderer Dringlichkeit bearbeitet wird. Für sich selbst im Leben nach etwas zu suchen, was diesem Sinn verleiht, ist einer der Aspekte, die Identität und Religion miteinander verbinden. Nach James W. Fowler erscheint Glaube als »eine Orientierung der ganzen Person, die ihren Hoffnungen und Bestrebungen, Gedanken und Handlungen Sinn und Ziel gibt.«2054 Eine solche Orientierung ist bei Dagobert vorhanden. Schon früh richtet er seinen Lebensweg an der Vision von Größe und Reichtum aus, dem er nun jahrzehntelang hinterherjagt. Sein Leben erhält dadurch ein Ziel, das den Lebensweg und jede Entscheidung aufs Neue bestimmt. Alle Hoffnungen und alle 2050 Vgl. ebd., S. 226. 2051 Vgl. Don Rosa in 2010, S. 36. In der derzeitigen, deutschen Neuauflage der alten Carl BarksComics treibt dieser Grundsatz irritierende Blüten: Hier werden auch Ausrufe wie ›Oh Gott!‹ gestrichen, um absolut jede theologische Andeutung zu vermeiden. (vgl. Hölter, 2021) Das zeugt m. E. von linguistischem Unwissen. Es ist denkbar, dass Ehapa an vielen Stellen auch noch in Sein Leben, seine Milliarden nachträglich eingreifen wird. 2052 Vgl. Weyel in Meyer-Blanck; Weyel, 2008, S. 36. 2053 Vgl. Don Rosa, 2008, 103, 133, 189. 2054 2000, S. 26.

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Bestrebungen Dagoberts sind fast ausschließlich auf dieses Ziel gerichtet. Einziger Konkurrenzpunkt ist für Dagobert seine Familie in Schottland. Obwohl er die Heimat zunächst zurücklässt, können Lesende lange wenig Zweifel an seiner Treue hegen. So verkauft er in Kapitel IV noch seine Rechte an einer Kupfermine, um seiner Familie in der Heimat zur Hilfe zu eilen.2055 Damit ist er wieder arm und steht am Anfang. Dies ist jedoch ein einmaliger Umweg, der sich später so nicht mehr wiederholen wird (vgl. IV 2.2.1). Der Reichtum wirkt auf Dagobert wie ein verheißenes Paradies, für das er alle Mühen auf sich nimmt und fast alles opfert. Ruhm und Reichtum werden zum ultimativen Lebenssinn. Oder anders ausgedrückt: zu Dagoberts Gott. Sein Leben, seine Milliarden zeigt also, dass die Orientierung an einem solchen Lebenssinn für den Einzelnen nicht unbedingt an eine Beziehung zum lebendigen Gott geknüpft sein muss. Dagobert steht par excellence für den Menschen der Gegenwart, der die nach Paul Tillich zentrale (religiöse) Frage der heutigen Zeit stellt: Es ist nicht die Frage des antiken Menschen, auch des spätantiken der christlichen Zeit – die Frage nach der Erlösung. […] Es ist nicht die Frage des Mittelalters nach der höheren Natur, in der diese Natur aufgehoben und vollendet ist. Es ist nicht die Frage nach dem gnädigen Gott, die der Protestantismus stellte, sondern es ist die Frage nach dem Sinn. […] Nun ist das nicht so gemeint, als ob diese Fragen alle gegeneinander stünden. In der Frage nach dem Sinn des Seins, die der moderne Mensch stellt, sind irgendwie die anderen Fragen enthalten, wie umgekehrt in jeder der anderen Fragen die Frage nach dem Sinn irgendwie enthalten ist.2056

Häufig erfolgen individuelle Sinnkonstruktionen heute abseits von traditionellen religiösen Bezügen. Deshalb lohnt es sich, für derartige Überlegungen auch die Philosophie als Bezugswissenschaft heranzuziehen. So überlegt der Philosoph Robert Nozick, dass dem Leben unter Umständen auch eigenständig Sinn verliehen werden kann, beispielweise durch ein konkretes Ziel, und erklärt, »was einige unter einem sinnvollen Leben verstehen: ein Leben, das […] nach einem Plan und gemäß einer Liste hierarchisch geordneter Ziele angelegt ist, die dem Leben einen Zusammenhang geben und ihm die Richtung weisen«.2057 Wie sehr sich dies an Dagoberts Biographie zeigen lässt, soll hier nun dargestellt werden. Leben erhält also dadurch Sinn, dass man es mit etwas anderem – wie einem Lebensziel – verknüpft, das größer ist, als man selbst: etwas, das über den Menschen als Individuum hinausreicht: Damit nämlich ein Leben einen Sinn hat, muss es mit anderen Dingen und Werten verknüpft sein, die nicht alle in dem Leben selbst stecken dürfen. […] Nach dem Sinn 2055 Vgl. Don Rosa, 2008, S. 90. 2056 Tillich: Nichtkirchliche Religionen, 1929, 13–31, in: Tillich, 1964, 22f., Herv. i. Org. 2057 2000, S. 378.

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von etwas zu fragen heißt, wissen zu wollen, wie es mit anderen Dingen verknüpft ist. […] All die Dinge und Gründe, die einem das Gefühl eines sinnvollen Lebens verschaffen, führen über die eigenen engen Grenzen hinaus und stellen eine Verbindung mit etwas anderem her.2058

Dagobert verknüpft sein Leben mit dem schwer erreichbaren Ziel des Reichtums. Wäre der Reichtum in ihm selbst angelegt, wäre er beispielsweise bereits reich geboren, dann hätte er kein Lebensziel, das über ihn selbst hinausreicht und damit für sein eigenes Dasein sinnstiftend wäre. Gleichzeitig bindet er sich an für ihn universell erscheinende Werte wie Redlichkeit und Aufrichtigkeit: Eine Ethik, die seinem Handeln und Streben Richtigkeit bescheinigt. Nozick erklärt, dass das Knüpfen an einen Sinn immer ein sich transzendierendes und ein über sich hinausweisendes Element hat: »Sinn hat etwas mit Verknüpfungen nach außen zu tun, weil für ein begrenztes und endliches Wesen Sinn das Transzendieren von Grenzen bedeutet.«2059 Selbst wenn man stirbt, bleibt dann noch die sinnstiftende Verbindung zu etwas Größerem: »Es sollte niemals so sein, als ob wir nie existiert hätten. Ein sinnvolles Leben ist gewissermaßen von Dauer und verändert die Welt – es hinterlässt Spuren. […] Bemühungen, im Leben Sinn zu finden, zielen darauf ab, die Grenzen eines individuellen Lebens zu überschreiten«.2060 Diese Absicht kann zum Beispiel ausgezeichnet in Beziehungen zu anderen Menschen vollzogen werden, in deren Lebensspuren man seine Existenz auch nach dem Ableben fortsetzt. Sagenhafter Reichtum und ein kapitalistisches Imperium erscheinen zwar wenig persönlich, hinterlassen aber ebenso eindeutige Spuren, die über den eigenen Tod hinausgehen. Ein zusammenhangstiftendes Vermögen liegt in jedem Selbst. Und Sinn ist stets das Zusammenhang-stiftende, das Beziehungs-stiftende, das Sich-in-Beziehung-setzen mit etwas Anderem. Sinnstiftung verläuft freilich auf vielen verschiedenen, auch oberflächlichen, Rangstufen und der Sinnbezug zum Transzendenten befindet sich auf einer der höchsten Ebenen. Aber: Einem Leben Sinn zu schenken, heißt in jedem Fall, ihm Zweck und Absicht zu verleihen.2061 Und die »stärkste Art von Absicht bezüglich eines Lebens ist ein Lebensplan […]. Ein Lebensplan spezifiziert den intentionalen Fokus des Lebens eines Menschen, seine wichtigsten Ziele […], seine Vorstellung von sich selbst, seine Zwecke, die Dinge, denen er sich widmet oder in denen er aufgeht […].«2062 Auch aus theologischer Perspektive würde beispielsweise Birgit Weyel bestätigen, dass Dagoberts Leben eindeutig zumindest einen roten Faden hat, weil er sich in ein übergeordnetes Ganzes, in eine Art Lebensmotto fügt.2063 2058 2059 2060 2061 2062 2063

Ebd., S. 393. 2000, S. 399. Ebd., 384, 392, Herv. im Org. Vgl. ebd., S. 379. Ebd., S. 381, Herv. im Org. 2008, S. 159.

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Religion diene eben auch der Lebensbewältigung, weil sie dem Lebensweg in all seinen Brüchen auch Sinn verleiht und ihm die Richtung weisen kann.2064 Denn »Glauben bedeutet ein aktives Sinn-Schaffen«.2065 Und sicherlich ist Sinn auch Gegenstand des Glaubens. Dagobert setzt sich sein Ziel selbst und verleiht all seinen Schritten Sinn. Auf die Fragen: »Warum das alles? Warum mühst du dich so ab in deinem Leben?« würde Dagobert vermutlich antworten: »Weil ich mir ein Ziel gesetzt habe, das ich zu erreichen gedenke. Mein Mühen und Streben hat dadurch einen Sinn, dass ich dieses Ziel erreichen werde. Und mein Erfolg wird mich noch lange überdauern.« Hier liegt eindeutig eine Sinnkonstruktion ganz individueller Natur vor, mit der Dagobert seine Wirklichkeit in der Welt definiert. Diese Frage nach Sinn und Ziel des Lebens, wie Dagobert sie für sich zu beantworten versucht, ist aber immer im gewissen Sinne »religiös«.2066 Und sie hat ein erhebliches, identitätsstiftendes Potenzial für das Individuum. Darum kann man Religion auch deuten »als Prozeß und Resultat zeitlich nicht begrenzter Welt und Selbsterschließungsvorgänge bzw. Welt- und Selbstdeutungsvorgänge«.2067 Identitätskonstruktion wiederum hängt mit Lebens- und Kontingenzbewältigung zusammen: »Religion kommt eine grundlegende Funktion bei der Bewältigung des Lebens und der Konstruktion und Interpretation der individuellen Lebensgeschichte zu. Religion und Lebensgeschichte sind untrennbar miteinander verbunden.«2068 Trotzdem kommt man nicht umhin zu fragen: Warum ausgerechnet Reichtum als Lebensziel? Denn manchmal wirkt es fast, als würde Dagobert sich selbst nur seine Hartnäckigkeit beweisen wollen – der restlichen Welt zum Trotz. Als hätte er nur ein willkürliches Ziel gesetzt, um sich selbst seine Würdigkeit zu beweisen. Am Anfang seiner Reise will Dagobert aber auch den Namen seines Clans wieder aufrichten, eventuell, um Ungerechtigkeiten, die seiner verarmten Familie widerfahren sind, auszugleichen, vielleicht aber auch, um sich selbst als den bewunderten Rittern unter den Vorfahren in einer modernen Version ebenbürtig zu sehen. Dieser eher naiv-kindliche Wunsch würde sich dann aber erstaunlich lange halten. Es ließe sich auch vermuten, dass Dagobert seinem Sein dauerhaften Halt und Bestand in der Welt verleihen will, indem er sich einen märchenhaften Ruf zulegt, der seinen Tod sicherlich überdauern wird. Die Üppigkeit seines Reichtums hinterließe in der Welt eben Spuren, wenn auch auf einer anderen Ebene, als es zum Beispiel die Gründung einer Familie vorsieht. Als diese Option zusehends in den Hintergrund tritt, bleibt Dagobert nur noch der 2064 2065 2066 2067 2068

Vgl. ebd., S. 160. Ebd., S. 165. Ahrens; Brinkmann; Riemer, 2015, S. 224. Ebd., S. 20. Meyer-Blanck; Weyel, 2008, S. 158.

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Ausbau seines Imperiums und Reichtums. Würde er diesen Pfad vor dem Erreichen seines Zieles abbrechen, so würde er viele Jahre seines Lebens in der Retrospektive der Erfolg- und Sinnlosigkeit preisgeben. Auf jeden Fall wählt Dagobert kein altruistisches Ziel, sondern eines, das nur er selbst befriedigen kann und das auch nur ihn selbst befriedigen soll, da er in letzter Konsequenz weder nach Beziehungen, noch nach Erfüllung im Leben anderer strebt. Das steht natürlich nicht im Widerspruch mit einer religiösen Gesinnung an sich, da im Sinne von Luckmanns ›unsichtbarer Religion‹ schließlich auch »Selbstverwirklichungstendenzen in Verbindung mit hedonistischen Motiven und utilitaristischen Kalkülen« ein Phänomen sind.2069 Insofern spiegelt Dagobert auch den aktuellen Bedeutungsverlust institutionalisierter Religion(en) in der westlichen Welt wider, ebenso wie die immer noch wachsende gesellschaftliche Individualisierung und der Wunsch nach Selbstverwirklichung. Leider ergibt sich mit Dagoberts Lebensziel aber ein Problem, das es mit der Sinnstiftung eines personalen Gottesbildes weniger gegeben hätte. Das Streben zu Gott wird erst mit dem Ableben vollkommen erfüllt sein, Dagoberts goldener Götze offenbart sich ihm aber schon zu Lebzeiten in voller Pracht. Sein Sinn des Lebens erfüllt sich nämlich spätestens, als er im Kapitel XI offiziell zum reichsten Mann der Welt wird, womit ihm auch endgültig Ruhm sicher sein sollte.2070 Gleich, wie viel Geld er noch anhäuft: besser kann es nicht mehr werden. Obwohl Dagobert verständlicherweise erst einmal die Ekstase dieses Zustandes auskostet, verfällt er wenig später in eine tiefe Depression, da er realisieren muss: Sein Leben hat nun kein Ziel mehr. Das Ziel ist erreicht und damit als Antrieb für eine weitere Lebensgestaltung und als Hoffnungspunkt wirkungslos. Dagobert kommt an einen ungewöhnlichen Punkt: Er driftet plötzlich durch ein sinnloses Leben. Das Problem liegt offensichtlich darin, dass er sich nach Erreichen seines Lebensziels keinen neuen Sinn sucht, zum Beispiel indem er sich vornimmt, seinen Reichtum sinnstiftend einzusetzen, als Mittel für neue – etwa altruistischere – Ziele. Auch die hohen Ideale, an die sich Dagobert einmal gebunden fühlte, verfallen in Kapitel XI. Er hat in dieser ethischen Beziehung vor allem aus sich selbst und seinen eigenen Maßstäben geschöpft und nun bereitet es ihm Schwierigkeiten, sich auch die Vergebung dafür selbst zuzusprechen. Andere können es vielleicht auch deshalb nicht tun, weil sie an Dagobert nie so hohe Ansprüche gestellt haben, wie er selbst an sich. Umso wichtiger ist das letzte Kapitel der Biographie, das zugleich einen neuen Anfang markiert. Denn Dagobert erhält ein neues Ziel im Leben, als er sich plötzlich gezwungen sieht, erneut die Vermehrung, aber vor allem die Verteidigung seines Reichtums auf seinen Lebensplan zu schreiben. Damit wird auch sein 2069 Marhold, 2007, S. 134. 2070 Vgl. Don Rosa, 2008, S. 239.

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Geld einem neuen Zweck zugeführt, weil es den Alten immerhin vor neue Herausforderungen stellt. Und Dagobert erkennt, dass seine Jagd nach Gold einen Sinn gehabt hatte, der sich ihm erst jetzt erschließt: nämlich viele Erinnerungen an ein reiches Leben, die ihm niemand mehr nehmen kann. In dieser Hinsicht erlangt sein angehäuftes Bargeld einen symbolischen Wert. Ob Dagobert sich neue Ideale sucht, an die er sich hängen kann, bleibt zwar offen, aber zumindest wagt er den Schritt, sich endlich wieder auch an etwas Nicht-Materielles zu binden, und zwar wieder an Beziehungen, die ihm unabhängig von geschäftlichem Erfolg erhalten bleiben können. Es bleibt für ihn zu hoffen, dass er hier einen neuen sinnstiftenden Bezugspunkt gefunden hat, der ihn auch in Zukunft trägt. Auf jeden Fall bringt er es fertig, zwei seiner neuen ›Sinnstiftungen‹ ihrerseits zu verknüpfen: Indem er nämlich seine Familie mit auf Abenteuerreisen nimmt und sich dem Kampf gegen die Übel der Welt gemeinsam mit ihnen stellen will.2071 Er stellt sein Subjekt damit in gewisser Weise in eine noch intensivere Vernetzung und eröffnet es anderen, an wichtigen Komponenten seines Lebens teilzuhaben. Das wiederkehrende Thema der Vorherbestimmung Dagoberts Ziel im Leben – Ruhm und Reichtum – hat noch eine ganz besondere Komponente: Mit dem Reichtum erfüllt er sein Schicksal. Ob es ihm bewusst ist oder nicht: Dagoberts Leben ist von Prädestination bestimmt. Diese tritt in drei Faktoren zu Tage: in Prolepsen der Erzählung selbst, im Unerfassbaren und Transzendenten, und in Dagoberts Selbstdeutung. Die Biographie ist in eine auktoriale Erzählsituation gesetzt, die Erzählstimme ist folglich allwissend. Mehrmals tritt sie mit antizipatorischen Hinweisen auf, zum Beispiel in Kapitel VIII: »Dagobert hat ein Leben in Armut und Erfolglosigkeit geführt…doch das soll sich bald ändern!«2072 Auch viele Dialoge wirken proleptisch, zum Beispiel wenn Kuno Klever geradezu prophetisch auf die Einsamkeit hinweist, die mit Reichtum einhergehen kann.2073 Insgesamt greifen auch Anfang und Ende jedes Kapitels voraus, zum Beispiel in Form der Splashpanels, die jedes Kapitel einleiten und Fotos, Karten, Briefe und anderes aus dem jeweiligen Lebensabschnitt enthalten. Die graphische Ebene des Comics spart in Form von Symbolsprache nicht mit proleptischen Hinweisen auf den zukünftigen Erfolg. Als Dagobert zum Beispiel erstmals seine Heimat verlässt, gesteht er sich seine Zweifel ein, noch unfähig, die goldene Zukunft zu sehen, die im letzten Panel des Kapitels direkt vor ihm buchstäblich in den Himmel gemalt ist.2074 Auch 2071 2072 2073 2074

Vgl. ebd., S. 260. Ebd., S. 147. Vgl. ebd., S. 90. Vgl. ebd., S. 23.

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das letzte Panel von Kapitel IX zeigt die verlassene Duckenburgh vor dunklen Wolken, während der Weg nach Entenhausen (passenderweise entsprechend ausgeschildert) vom Licht der Sonne beschienen wird.2075 Dies alles leuchtet umso mehr ein, als dass die Lesenden ja auch schon zu wissen glauben, wohin die Reise geht. Sie erwarten am Ende einen vollen Geldspeicher und die Erzählweise des Comics bestätigt sie nur darin. Das schafft literarisch einen roten Faden und unterstreicht die Zielhaftigkeit von Dagoberts Leben und Streben – vielleicht wichtigstes inhaltliches Element des Werkes. Dadurch, dass hier graphische und sprachliche Ebene zusammenarbeiten, zeigt sich wieder einmal die besondere Erzählweise, die das Medium ermöglicht. Don Rosa stellt aber nicht nur den Reichtum in den Fokus, sondern erschafft allgemein ein Schicksal der Größe, das es für den Helden zu erfüllen gilt. Dieses Schicksal, dieser Gedanke einer Prädestination, ist niemals explizit an Gott gebunden, sie erscheint universal und wird besonders in zwei Episoden hervorgehoben: Erstens in Onkel Dagoberts Erfahrung im Jenseits (Kapitel V), zweitens in der Begegnung mit dem australischen Schamanen Jabiru (Kapitel VII): Als Dagobert bei seinem Nahtoderlebnis im Himmel erwacht, tritt Erstaunliches zutage: Im ›Buch der Ducks‹ (siehe Religiöse Anklänge im Werk) ist bereits sein ganzes Leben eingeschrieben, inklusive seiner (zu diesem Zeitpunkt ja höchst fraglichen) Zukunft samt Neffen und Panzerknackern.2076 Seine Ahnen stöbern darin (natürlich nicht, ohne sich ganz Duck-typisch vorher über die »horrenden« Leihgebühren zu beklagen), tun den Geldspeicher als Druckfehler ab und halten Dagobert nur alle zukünftigen Fehlschläge und Schwierigkeiten vor.2077 Einzig Donnerbold, gleich einem Schutzengel, kämpft für Dagobert, damit dieser eine Chance auf das Weiterleben erhält: »Aber da, schaut! Die Entdeckungen, die Schätze der Ruhm! Maßloser Reichtum! Er wird der Welt größter Abenteurer werden, ist das nichts?«2078 Dagobert erinnert sich später nicht an das Gehörte, glaubt höchstens einen sonderbaren Traum gehabt zu haben.2079 Allerdings bleibt doch eine Ahnung zurück, denn als es ihn am Ende des Kapitels weiterzieht, deutet er den aufgehenden Regenbogen als Symbol für seine Zukunft: »Ich spüre mehr denn je, dass ich für Großes bestimmt bin! Ich werde nicht ewig versagen! […] Und schau nur, Papa, wenn das kein gutes Omen ist! Es gibt auch immer wieder einen neuen Regenbogen!«2080 Dagobert schließt aus der Erscheinung, sein Glück als Goldgräber zu versuchen.2081 Vater und Sohn 2075 2076 2077 2078 2079 2080 2081

Vgl. ebd., S. 189. Vgl. ebd., S. 143. Vgl. ebd., S. 105. Ebd. Vgl. ebd., 106f. Ebd., S. 109. Vgl. ebd.

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nehmen angesichts des Regenbogens, Naturschauspiel und christliches Bundeszeichen zugleich, ehrfürchtig ihre Hüte ab – und die brisante Frage lautet: wovor? Dieses Deuten von Zeichen gelingt Dagobert dann auch in Australien (Kapitel VII). Nicht oft kommt es vor, dass Dagobert für seine Ehrlichkeit unmittelbar belohnt wird, hier aber tritt der Fall ein. Der alte Aborigine zeigt ihm als Dank für seine Redlichkeit uralte Wandmalereien, die überraschenderweise auch auf Dagoberts Leben bezugnehmen.2082 Man fragt sich: Tun sie das absolut oder ist dies nur eine Interpretation der relativ offen gehaltenen Darstellungen? Die Zeichnung, die Dagobert selbst tatsächlich nicht mehr zu Gesicht bekommt, die eindeutig den Geldspeichers und die Neffen zeigt, lässt allerdings wenig Zweifel an der absoluten Vorherbestimmung von Dagobert in diesem Kapitel zu. Und erneut wird dem Helden hier ein Zeichen beschert: Das ›Kristallauge‹ des Begleiters wirft bunte Reflektionen an die Wand und Dagobert erkennt darin Nordlichter und die Vision eines neuen Anfangs: »Heißt das, ich soll nördlich der Rocky Mountains ziehen?«2083 Der Gefährte erklärt, die Schicksalsdeutung sei etwas Subjektives, etwas Persönliches: »Wer weiß? Jeder muss seinen Traum selbst lesen. Für mich waren das nur hübsche Farben. Ich dachte, du sollst Maler werden.«2084 Der Fortgang der Geschichte allerdings legt nahe, dass Dagoberts ›Vision‹ hier keineswegs dem Zufall überlassen war. Dagoberts glorreiche Zukunft steht symbolisch immer wieder in deutlichem Bezug zum Himmel und damit auch Himmlischen: Nordlichter, Regenbogen, Sonnenstrahlen, prophetische Bilder am Firmament, Ahnen auf Wolken und das Buch des (Duckschen) Lebens im ›Himmel‹. All dies deutet auf den vorherbestimmten Lebensweg Dagoberts hin, während das buchstäblich ›Himmlische‹, also etwas ihm Übergeordnetes, über sein Schicksal zu wachen scheint. Es gibt in Sein Leben, seine Milliarden dank des Disney-Konzerns keinen Gott, aber durchaus so etwas wie eine göttliche Vorsehung. Gleichzeitig ist es Dagobert selbst, der sein Lebensziel festlegt und jedes Zeichen als einen Wegweiser daraufhin deutet – optimistisch und voller Vertrauen in die Zukunft.2085 Schon in jungen Jahren scheint er eine besondere, schicksalhafte Erwählung zu fühlen und der sagenhafte Reichtum, der ihm später zuteilwird, bestätigt diese Annahme.2086 Dieses Moment der ›Auserwählung‹ stellt Dagobert in eine Reihe vieler Heldenfiguren der Mythologie und auch der Populärkultur mit mythologischen Anklängen. So treten auch zum Beispiel im Superheldengenre immer wieder Heldinnen und Helden auf, die vom Schicksal dazu gezwungen werden, eine 2082 2083 2084 2085 2086

Vgl. ebd., S. 143. Ebd. Ebd. Vgl. bspw. ebd., S. 109. Vgl. ebd., S. 15.

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Sonderstellung unter ihren Mitmenschen einzunehmen. Auch Dagobert erfüllt ein Schicksal, das ihm sowohl von ›himmlischer‹ Seite als auch von individueller, willensbedingter Seite zukommt. Anders als bei klassischen mythologischen Figuren verbleibt dieses Schicksal jedoch individuumszentriert: Dagobert ist nicht zum Retter seiner Mitmenschen auserkoren. Er erscheint lediglich auserwählt, der ruhmvolle, reichste Mann der Welt zu werden. Gans schreibt dazu: »Der wirtschaftliche Erfolg […] wird zum Selbstzweck, da er als trefflichster Beweis für die göttliche Auserwähltheit seines Trägers gilt.«2087 Damit lastet auch eine Menge Druck auf Dagobert, kann er sich selbst doch nur dann als ›Auserwählten‹, als etwas ganz Besonderes betrachten, wenn er es tatsächlich zum Milliardär bringt. Dagoberts Lebensgeschichte wirft also Fragen auf: Wer bestimmt unser Schicksal? Wer unseren Lebenssinn? Wenn wir unser Schicksal erfüllen, haben wir unser Schicksal dann selbst gewählt? Wie viel Einfluss haben wir wirklich auf unser Lebensziel? Nun soll noch Dagoberts Beziehung zu seinem ihm vorausgesagten Vermögen untersucht werden, das nicht nur Ingo Reuter schon eng an die eben besprochene Verheißungs-Thematik geknüpft sieht: »Die Erwählung spiegelt sich im Schein der Goldmünzen seines Geldspeichers, die wiederum je einen Teil der Erwählungsgeschichte erzählen.«2088 Eine materialistische Gesinnung? Man kommt nicht umhin, über die Figur des Dagobert Duck/Onkel Dagobert zu schreiben, ohne sein weitläufig genanntes größtes Attribut zu nennen: Geld. Für viele ist Dagobert Sinnbild eines kalten Kapitalismus. Alle paar Jahre taucht er aufgrund seiner (populär-)kulturellen Bedeutung sogar auf den Wirtschaftsseiten großer Zeitungen auf.2089 Sein Leben, seine Milliarden schlägt aber eine alternative Deutung seiner finanziellen Ressourcen vor: Nicht durch den Reichtum selbst erfährt Dagobert Sinn im Leben, im Streben nach Reichtum jedoch durchaus. Um dieses Thema zu beleuchten, ist es sinnvoll, auch einen kurzen Blick in Dagobert-Erzählungen von Carl Barks zu werfen, auf die Don Rosa häufig implizit Bezug nimmt und die ein relativ kohärentes Bild formen. Im harten Kampf um Gold und Reichtum wird Dagobert ein zunehmend sagenhafter Ruf zuteil, zum Beispiel als »der wildeste Bursche im Wilden Westen!«2090 Sein Vermögen, besonders der Bargeld-Anteil, entwickelt sich so zum Symbol seiner heldenhaften Erfahrungen. Jede Münze ist ein Erinnerungsstück 2087 2088 2089 2090

1972, S. 24. 2011, S. 242. Vgl. etwa Tilz, 2012; Shiller, 2006. Don Rosa, 2008, S. 148.

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für das Abenteuer und die Lektion beim Verdienen dahinter. Dazu gehört freilich der erste, symbolträchtige, verdiente Zehner, später aber auch andere Einnahmen, wie der junge Dagobert im Gespräch mit dem Onkel/Flusskapitän beweist: »Jetzt bin ich gespannt, wofür du deine erste Heuer ausgibst, Bertelchen!« »Ich glaube die Erinnerung daran, wie ich sie verdient habe, ist wertvoller als alles, was ich dafür kaufen könnte! Ich behalte den Dollar!«2091 Der Anfang des Geldspeichers ist gemacht. Hier deutet sich an, dass Dagobert nicht etwa um der Sorglosigkeit willen reich wird, sondern vor allem wegen der Erlebnisse, die dahinterstecken. Deshalb hortet Dagobert seine Münzen, deshalb nimmt er im allerletzten Panel der Erzählung ein Geldbad: Er taucht dabei in gestaltgewordene Erinnerung ein und erklärt seinen Neffen: »Jede Münze hat ihre eigene Geschichte, jede erzählt von einem erhabenen Moment des Triumphes. Seufz! Das ist der Teil meines Vermögens, den ich niemals ausgeben werde!«2092 Umgeben ist er in dieser Szene von Bildern, die die glücklichen Momente seines Lebens zeigen. Donalds Einschätzung, die Geldmenge sei »nur ein Berg von kaltem, bedeutungslosen Metall – und mehr nicht!«2093, erweist sich damit als Irrtum, der den aufmüpfigen Neffen auf eine Stufe mit anderen Dagobert-kritischen Stimmen der realen Welt stellt. In den Worten des Autors: »›My‹ Scrooge [= Dagobert, Anm. d. A.] preserved all of those coins as myriad trophies to his grit and glory. The coins were his memories of his life, not symbols of greed.«2094 Um es in der Symbolsprache Voglers auszudrücken: Dagobert scheint in seiner Heldenreise auf der Jagd nach dem Elixier des Goldes zu sein, vollkommenstes Symbol des Reichtums. Die Abenteuer liegen eher zufällig auf dem Weg. Als der Milliardär heimkehrt, muss er aber feststellen, dass das Elixier nutzlos erscheint – und der wahre Schatz die Erinnerungen an den Erwerb des falschen Elixiers sind. Doch warum wird das Elixier unbrauchbar in dem Sinne, dass der Reichtum nicht die erhoffte Erfüllung bringt? Die Gründe dafür sind komplex. Die Panzerknacker mögen von Luxus unter Palmen träumen oder Donald von der nächsten Limonade – für sie ist Geld nur ein Zahlungsmittel, das man umwandeln und tauschen muss, um Zufriedenheit zu erreichen. Aber ausgerechnet Dagobert erklärt nie, was er mit seinem Vermögen eigentlich anstellen will. Der Reichtum verharrt völlig im Selbstzweck.2095 Folglich könnte Donald der glücklichere Mensch sein, wandelt er doch jeden Pfennig allzu gerne in Genuss um, anstatt ihn sich zu verwehren (freilich ist er auch ständig in Geldnöten). Wenn man von den Erinnerungen absieht, die sich mit Dagoberts Geld verknüpfen, verharrt der Wert des Geldes in seiner Papier- oder Metallform. Während Da2091 2092 2093 2094 2095

Ebd., S. 47. Ebd., S. 251. Ebd., S. 261. Don Rosa in Dimitropoulos, 2014. Vgl. dazu auch Löffler, 2004, S. 72.

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goberts Goldgräberzeit mag die Leserschaft von Dagoberts (verschriener) Sparsamkeit noch beeindruckt sein, weil er sich so nie von seinem Ziel abbringen lässt.2096 Dieses Verhalten verhindert langfristig jedoch, dass Dagoberts unsagbarer Reichtum ihm weitere Erfüllung bringt. Denn er nutzt sein Geld nicht für eine Beziehung zu einem ihn übersteigenden Sinn! So könnte es Dagobert Glück bereiten und Sinn stiften, andere durch kluge Geschenke glücklich zu machen oder zum Beispiel die Natur nachhaltig zu schützen, die ihm besonders am Klondike viele glückliche Momente beschert hat.2097 Als Beweis mag dienen, dass Dagobert in späteren Geschichten (gleichermaßen von Barks oder Rosa), wann immer er sich überwindet, entsprechend zu handeln, am Ende tatsächlich auffällig glücklich und ausgeglichen wirkt.2098 Sein Reichtum an sich macht ihn häufig zum Nervenbündel, weil er in der ständigen Angst lebt, ihn wieder zu verlieren. In einer anderen Don Rosa-Geschichte bringt Donald es in einem Wutanfall gegenüber seinem Onkel und der Hexe Gundel Gaukeley, die es stets auf Dagoberts Reichtum abgesehen hat, auf den Punkt: »Jahraus, jahrein macht ihr euch das Leben schwer mit eurer Reichwerderei, Reichbleiberei und Nochreicherwerderei! Ihr wisst ja gar nicht, was Glück ist, weil ihr nur euren blöden Mammon im Kopf habt!«2099 Auch Carl Barks bezieht sich auf diese Weise oft auf die Macht des Geldes und karikiert maßlose Gier in zahllosen Dialogen bei Schatzsuchen und dem sich davon abhebenden Verhalten von Tick, Trick und Track, den unschuldigen Pfadfindern.2100 Je stärker sein Vermögen wächst, desto tragischer wird Dagobert in seiner Lebensgeschichte ins seelische und soziale Ungleichgewicht gestürzt. In Kapitel XI, so erklärt der Autor, legt Mathilda erstmals das Erinnerungs-Album im einleitenden Splashpanel beiseite, »da sie den Glauben an ihren großen Bruder verloren hat. Im Splashpanel von Kapitel XII ist schließlich gar kein Album mehr zu sehen, sondern nur noch das, was zu diesem Zeitpunkt alles andere in Dagoberts Leben ersetzt hat: GELD.«2101 Die Jagd nach Reichtum zerstört, wie schon dargestellt, am Ende alle Beziehungen Dagoberts. Schon früh weicht er vom Wege ab und zieht erstmals den Reichtum seinen Freunden vor: »Ach, wer braucht schon Liebe, wenn er Geld hat!«2102 Es scheint, als verselbstständige sich die Gier und nähme ihn vollständig gefangen. Dagoberts Lebensziel wird so zu einer Art Gefängnis, weil er nicht wagt, auch abseits vom Wege nach Glück zu suchen. Bezeichnend ist die Panelfolge, die Dagoberts sagenhaften Goldfund dokumentiert (Abb. 35). Als er nämlich fest2096 2097 2098 2099 2100 2101 2102

Vgl. Don Rosa, 2008, S. 163. Vgl. ebd., 160, 171. Vgl. bspw. Barks, 2010 (b), S. 120. Don Rosa, 2009, S. 98. Vgl. dazu auch Löffler, 2004, S. 109ff. 2008, S. 24. Ebd., S. 90.

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stellt, dass der vermeintliche Schlammklumpen ungewöhnlich schwer ist, flammt Hoffnung auf – und gleichzeitig hält Dagobert noch ein letztes Mal inne und prüft sein Herz und Streben: Was ist wirklich wichtig? Wie möchte er den Rest seines Lebens verbringen? Was macht ihn glücklich? War nicht der Weg das Ziel? Haben sich seine Wünsche nicht schon längst verwirklicht? Vielleicht hemmt ihn auch die Angst vFor dem, was er selbst einsieht: »Ich wäre reich, nie mehr derselbe wie zuvor!«2103 Trotz des Erkennens, dass er »am Ende des Regenbogens« angekommen wäre, wagt er schließlich den mutigen Schritt in eine unbekannte Zukunft.2104 Er wandelt sich radikal vom armen Goldgräber zum reichen, arrivierten Mann. Die Gründe für seine Entscheidung in diesem Moment aber werden nicht verbalisiert. An dieser Stelle erreicht die graphische Ebene der Erzählung ihr volles Potenzial, da Don Rosa auf diese Weise intensiv und packend darstellt, wie Dagobert von der Gier gepackt wird. Das plötzliche Glitzern in Dagoberts Augen könnte auf Lesende geradezu unheimlich wirken – als sei der nüchterne Dagobert (im Panel davor) schlichtweg ausgetauscht worden.2105 Hier liegt der Grundstein seiner Persönlichkeitsverschiebung, in der Dagobert sich selbst und seine Ideale zu verlieren scheint. Sein geradezu wahnsinnig erscheinendes Lachen, welches einsetzt, als er den Goldklumpen klar vor sich sieht, deutet in Richtung Besessenheit. Es bleibt der Leserschaft überlassen, seine näheren Gedanken zu erraten. Denn wo vorher viele Sprech- und Gedankenblasen Einblick in Dagoberts Gedankenwelt ermöglichten, tritt an ihre Stelle nun eine vierfache Panelfolge (fast) ohne Worte, was die Passage hervorstechen und die Narration hier intensiver wirken lässt.2106 Die Lesenden sind hier allein auf Dagoberts Gesichtszüge und Augen angewiesen, um zu verstehen, was dieser fühlen und denken mag. Und dergestalt haben Dagoberts Augen nie zuvor ausgesehen: geradezu diabolisch, geblendet vom Gold. Dagobert hat hier buchstäblich seinen klaren Blick verloren. Dagoberts spätere Einstellung zu seinem Besitz ist allgemein bekannt. Nicht nur Ingo Reuter tadelt dieses Verhältnis: »Wer sich in einem glänzenden Gefängnis einsperrt, wie Dagobert und in Selbstkasteiung sein Dasein fristet, darf wohl mit Fug und Recht als pathologisch bezeichnet werden.«2107 Henner Löffler meint hier sogar eine »neurotische Zwangsfixierung« zu erkennen, in der Dagoberts Geld wie ein Fetisch für ihn erscheint.2108 Wer Dagobert vorwirft, sein Glück nur vom Reichtum abhängig zu machen, der vergisst allerdings, dass Dagoberts Erhebung desselben zur Privatreligion vor allem als Spiegel unserer 2103 2104 2105 2106 2107 2108

Ebd., S. 170. Ebd. Vgl. ebd. Vgl. ebd. 2011, S. 242. 2004, 72f.

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Abb. 35

Don Rosas ONKEL DAGOBERT: SEIN LEBEN, SEINE MILLIARDEN – Sinn und Identität

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Gesellschaftsstrukturen wirken soll, die sich zunehmend dem Materialismus verschrieben haben. Carl Barks hat sich nicht davor gescheut, den jugendlichen Lesern im Rahmen seiner Möglichkeiten subtile, gesellschaftskritische Botschaften zukommen zu lassen, weshalb sich auch Don Rosa höchstwahrscheinlich nicht davor scheut. In den Worten Gutmanns: Das Geld ist in der spätkapitalistischen Gesellschaft mit zunehmender Rigidität und einer alle Lebensbereiche umfassenden Totalität die ›alles bestimmende Wirklichkeit‹ und entspricht damit dem Gottesbegriff philosophischer Tradition weit eher als das zunehmend in lebensweltliche Nischen abgedrängte Christentum der Spätmoderne2109.

Die weltumspannenden »monopolkapitalistischen Bestrebungen Dagoberts«2110, die offensichtlich einen Geizhals und Neurotiker erschaffen haben, kommen dabei einer Kapitalismuskritik recht nahe. Auch in Bezug auf existenzielle Zusammenhänge im Werk ist dies nicht irrelevant, kann die Fixierung auf monetären Gewinn doch religiöse Züge annehmen. Deutschmann erklärt: Der Kapitalismus ist Religion, weil und insofern dieses Wirtschaftssystem Macht über Lebensplanungen und Sehnsüchte, Schrecken und Faszination der Menschen hat. […] Die sprachlichen Übereinstimmungen sprechen Bände: ›Kredit und Credo, Erlös und Erlösung, Schulden und Schuld, Gläubiger und Glauben, Offenbarungseid und Offenbarung, ökonomische und heilige Messe.‹2111

Andrea Völkner weist immerhin wohlwollend nach, dass Dagoberts Streben nach Reichtum ganz nach Adam Smith auch anderen zum Guten verhilft, sobald sich Entenhausen als blühende Stadt um ihn gründet.2112 Es darf auch nicht verborgen bleiben, dass das letzte Kapitel der graphischen Biographie zwar Dagoberts schwere Depression ausleuchtet, gleichzeitig aber auch einen Paradigmenwechsel in Bezug auf Dagoberts Geld, beziehungsweise dessen Wahrnehmung offenbart: Während es im einleitenden Splashpanel der Geschichte noch kalt und unpersönlich erscheint, wird es im letzten seitenfüllenden Panel in einen graphischen und narrativen Bezug zu Dagoberts wundersamer Lebensgeschichte gestellt.2113 Wie erklärt, erhält der Reichtum neuen Sinn, als er Dagobert vor die plötzliche und willkommene Aufgabe stellt, ihn nun verteidigen zu müssen. Außerdem ist es denkbar, dass das Auftauchen von würdigen Erben das finanzielle Imperium in Dagoberts Augen wesentlich wertvoller macht, denn indem dem Vermögen eine klare Zukunft geschenkt wird, erhält es auch eine Bedeutung, die über die Gegenwart hinausreicht – und

2109 2110 2111 2112 2113

2005, S. 150, Herv. i. Org. Gans, 1972, S. 21. 1999, S. 7. Vgl. 2011, 70f. Vgl. Don Rosa, 2008, 243, 261.

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Dagobert hat plötzlich noch einen triftigen Grund mehr, seinen Reichtum zu wahren.2114 Don Rosa erzählt also eine Geschichte über den reichsten Mann der Welt, nicht ohne sein wichtigstes Tribut unkommentiert zu lassen. Er steht damit in der Tradition von Carl Barks, für den Dagobert inkorporierte und satirische Kapitalismuskritik ist. Die Botschaft wirkt zunächst abgedroschen, erhält aber durch die sensibel und authentisch gestaltete Erzählung ihre Tiefe: Reichtum ist nicht alles. Er taugt nicht aus sich selbst heraus zur Sinnstiftung im eigenen Leben. Man muss schon etwas Sinn- und Glückstiftendes damit anfangen. Dazu kommt, dass Beziehungen und die Erinnerungen, die man auf seinem Lebensweg gesammelt hat, im Grunde viel wichtiger sind. Der wahre Schatz, den Dagobert im Laufe seines Lebens ansammelt, besteht nicht aus monetärem Gewinn, sondern aus seinem Leben selbst – aus den Abenteuern, der Freude, dem Glück, das jenes bereitgehalten hat. Obwohl Dagobert sein Geld als Symbol dient, so müssen diese Erfahrungen und Erinnerungen für andere mitnichten an Materielles geknüpft sein. Und obwohl es sinn-voll sein kann, seinem Leben Ziel und Richtung zu verleihen, sollte man seine Ziele immer wieder nüchtern überprüfen (im Grunde wie Dagobert, der nach dem Goldfund noch einen Moment innehält) und auch für ›ungeplantes‹ Glück abseits des Weges offen sein, wie es Don Rosa zum Beispiel in den Anklängen einer Liebesgeschichte zwischen Dagobert und Nelly andeutet. Je mehr Dagobert sich in seiner fehlgeleiteten Abhängigkeit verfängt, desto naheliegender erscheint es, das von Vogler beschriebene ›Elixier‹, mit dem Dagobert heimkehrt, auch in den Händen derjenigen zu suchen, die gerade die Lektüre beendet haben: In Form der Botschaft, die die Biographie bereithält.

2.3

Religionspädagogische Reflexion

Don Rosa regt in Sein Leben, seine Milliarden dazu an, nach Sinnbezügen im Leben zu suchen. Deshalb kann der Comic erheblich die individuelle Sinnproduktivität begünstigen und zu expliziten Prozessen der Identitätsbildung und einer Ausgestaltung der narrativen Identität anregen. Durch diese Zusammenhänge ist der Comic sehr gut dazu geeignet, religionspädagogisch durchdacht und aufbereitet zu werden. Er spricht dadurch auch konfessionslose oder kirchendistanzierte Jugendliche an, bei denen »das Bedürfnis nach Deutung eigener existenzieller Erfahrungen, die Suche nach Orientierungshilfen, die Sehnsucht

2114 Vgl. dazu auch ebd., S. 245.

Religionspädagogische Reflexion

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nach sinnvollem Dasein« ungebrochen gegeben ist.2115 Rosenow erklärt: »Hier drängt sich der Gesprächsbedarf der Lernenden geradezu auf.«2116 Geschichten rund um die Familie Duck erfreuen sich weltweit großer Beliebtheit. Trotz ihrer manchmal waghalsigen und unwahrscheinlichen Abenteuer stellen sie dankbare Identifikationsfiguren dar2117: Negative und deshalb umso authentischere Charakterschwächen und Neigungen zu Geiz, Faulheit oder Jähzorn stehen neben Idealismus, Strebsamkeit und Einfallsreichtum. So gerüstet haben die Charaktere genau wie die Leserinnen in unserer Welt des Leistungsdrucks mit ihren Schwächen und Problemen zu kämpfen. Sie machen Dummheiten, sie scheitern, lassen uns aber auch an ihrer Freude teilhaben. Durch die meistens gut durchdachten Geschichten wirkt das ducksche Pantheon zudem selten platt. Damit sind die Figuren nach Stahl ein Idealbild für die »Personalisierung systembedingter Konflikte« – und können gleichzeitig als Fluchtpunkt aus der Realität dienen.2118 Dies gilt auch für die Figur des Dagobert Duck. Obwohl der Geizhals mit der übermäßigen Fixierung auf sein Vermögen eher abstoßend wirken sollte, versprüht er doch einen Charme, der ihn zu einer der beliebtesten Figuren der DuckFamilie gemacht hat. Möglicherweise auch, weil er eine gewisse Einzigartigkeit in der Familie ausstrahlt – und das nicht unbedingt nur, weil er der reichste Mann der Welt ist. Stattdessen fällt er dadurch auf, dass er als einziger Bewohner von Entenhausen eine persönliche Lebensgeschichte aufweisen kann, auf die er regelmäßig zurückblickt.2119 Er ist damit nicht ganz so zeitlos und ewig jung wie der Rest der Familie und hebt sich damit auch von anderen bekannten KindercomicFiguren ab.2120 Das hat Folgen für seinen Charakter. Völkner erklärt: »Die mit biographischer Geschichte verbundenen Fragen nach dem Warum und Wozu lassen Dagobert als die religiös ansprechbarste Figur aller Ducks erscheinen«.2121 Es ist also kein Zufall, dass er in seiner ›offiziellen‹ Biographie auch in metaphysische Angelegenheiten verwickelt wird und sich zum Beispiel mit der Vorherbestimmtheit seines Schicksals konfrontiert sieht. Auch Völkner identifiziert damit klar »sowohl religiöse Fragestellungen im hermeneutisch-diskursivem Sinn als auch substantiell-funktionale religiöse Anklänge in Dagoberts Ge-

2115 2116 2117 2118 2119 2120

Rosenow, 2019, S. 213. 2019, S. 213. Vgl. dazu auch Reuter, 2011, S. 241. 1976, 24. Vgl. Völkner, 2011, S. 56. Für die Frage, warum Dagobert zwar eindeutig auf eine zeitliche Jugend zurückblicken kann, in den späteren Geschichten jedoch nicht mehr zu altern scheint, sei auf die Gesellschaft der D.O.N.A.L.D. verwiesen, die sich mit Fragen wie diesen auseinandersetzt und möglicherweise eine erheiternde Theorie dazu vorweisen kann. 2121 Völkner, 2011, S. 57.

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Don Rosas ONKEL DAGOBERT: SEIN LEBEN, SEINE MILLIARDEN – Sinn und Identität

schichte«.2122 Damit nimmt Don Rosas Sein Leben, seine Milliarden eine Sonderstellung unter vielen Comics ein; erst recht verglichen mit anderen Kinder- oder All Ages-Comics. Vielgelobten Klassikern wie Lucky Luke, Asterix oder gar Comicstrips wie Garfield, die ihrerseits viele Vorzüge haben, mangelt es an dieser speziellen Handlungsebene und Tiefenstruktur. Unter anderem durch den historischen, semi-realistischen Rahmen, Dagoberts Verletzlichkeit und die Sterblichkeit der Figuren um ihn herum, grenzt sich das Werk auch besonders vom Superheldengenre ab. Im Gegensatz zu vielen anderen Abenteuergeschichten lässt sich die Essenz – abgesehen von kurzen Episoden – auch nicht schlicht als Kampf ›Gut gegen Böse‹ zusammenfassen. Obwohl ein ›Richtig und Falsch‹ im Werk meistens (nicht immer!) klar dargestellt und voneinander abgegrenzt wird, was dem pädagogischen Anspruch/der Kindgerechtheit vieler Comics für eine junge Leserschaft entspricht, sind die großen Bögen komplexer gefasst. Aus der reflektierten Rezeption ergeben sich Fragen wie ›Was ist wertvoll?‹ oder ›Wofür lohnt es sich zu leben?‹ Die Frage, in welchem Alter man den Comic einsetzen sollte, lässt sich deshalb nicht schlussendlich beantworten, da er in unterschiedlichem Alter Unterschiedliches anstoßen wird. Don Rosa erklärt: I am getting more and more long and very thoughtful messages from readers now in their late 20s or 30’s [sic] who seem to have been quite affected by the funny adventure stories I thought I was creating. But I understand how they feel. When you enjoy something when you’re 12 years old, you PROFOUNDLY enjoy it on an almost cosmic level, especially if you’re a smart, perceptive kid. And it sticks with you FOREVER. […] I guess the thing many people write to me and tell me my stories instilled in them, and it’s always my ›Life of Scrooge‹ stories that did it, is that if they believe in themselves, embrace enthusiasm and passion, never give up in the face of frustration, be honest and fair, they will achieve their fondest dreams. But furthermore, they should not let success warp their senses of the trfue values in life. That’s the story of Scrooge’s youth and it’s also the story of my life2123.

Der Comic hat offensichtlich unterschiedliche Tiefenebenen, die in unterschiedlichem Alter unterschiedlich differenziert wahrgenommen werden können. Das ermutigt auch zur Re-Lektüre des Werkes. Obwohl Sein Leben, seine Milliarden zwischen 1877 und 1947 angesiedelt ist und Dagoberts Abenteuer als Cowboy, Flusskapitän oder Goldsucher wenig mit der Lebensrealität heutiger Heranwachsender zu tun haben, finden sich junge Menschen mit ihren Problem, Wünschen und Träumen trotzdem in der Geschichte wieder. Setzt man Sein Leben, seine Milliarden im Unterricht ein, dann am besten im Fokus einer narrativen Religionspädagogik, die sich nach Reuter »bemüht,

2122 2011, S. 55. 2123 Dimitropoulos, 2014.

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Religionspädagogische Reflexion

die Sinnpotentiale des im Medium des Comic Entfalteten zu verstehen«2124. Das Werk zeigt, wie sich Menschen auf die Suche nach ihrem Lebenssinn machen können – und dass es möglicherweise gleichermaßen konstruktive wie destruktive Lebensentwürfe gibt. Don Rosa entwirft hier zudem ein Weltbild, in dem etwas über Dagoberts Lebensweg zu wachen scheint. Er zeigt exemplarisch wie eine ganze Lebensspanne in etwas Größeres eingebettet werden kann. Das Heilige steht nicht im Mittelpunkt, aber Dagobert gerät immer wieder in Auseinandersetzung damit, dass es – frei nach Shakespeare – ›mehr zwischen Himmel und Erde gibt, als seine Schulweisheit sich träumen lässt‹. Er reagiert authentisch, zeigt sich abwechselnd vertrauensvoll, respektvoll, skeptisch und zynisch.2125 Durch diese Unberechenbarkeit des Helden werden die Lesenden aufgefordert, sich ein eigenes Bild über die Omen und religiösen und metaphysischen Andeutungen zu machen und damit auch selbst Stellung zu solchen Ebenen zu beziehen. Weitere religionspädagogische Themen, für die sich der Comic deutlich anschlussfähig zeigt, sind beispielsweise Rache (bspw. Kapitel XI), Selbstbilder (VII) Schuld und Vergebung (XI), die Bedeutung von Ehrlichkeit (VI), modernes Heldentum (III), Mut (VIII, X) und vieles mehr. In Auseinandersetzung mit Kapitel V und IX wird natürlich auch das Jenseits zur Sprache kommen. Der Umgang mit Geld und die Frage ›Was ist wahrer Reichtum?‹ (Vgl. Kapitel VIII) können im fortgeschrittenen Alter ebenfalls thematisiert werden. Ist es ein Vermögen? Ist es die Familie? Sind es Abenteuer? Sind es die Erinnerungen daran? Wieder lässt der Comic Raum für eigene Stellungnahmen. Auch Themen, die unmittelbar anschlussfähig für Heranwachsende sind, zeigen sich vielfältig: Zum Beispiel in Bezug auf die soziale und ethnische Herkunft und Migration (I, X), Umzug und Entwurzelung (X), Lebensträume (I), Vertrauen (VI), Streit (XI), Scheitern (VI) sowie Tod und Trauer (VIII, IX). Eine religionspädagogische Einheit, die sich auf bestimmte Kapitel konzentriert, könnte pro (Doppel-)Stunde eines mit einer entsprechenden Fragestellung verhandeln, etwa: Kapitel I: »Der letzte aus dem Clan der Ducks« V: »Der Retter der Duckenburg«,

Leitfrage Was schenkt (m)einem Leben Sinn? Wer spendet mir Trost und Schutz?

VI: »Der Schrecken von Transvaal«

Wie kann ich mit Wut auf andere umgehen? Worauf darf ich hoffen?

VII: »Der Jäger des heiligen Opals«, evtl. auch IX: »Der Milliardär im Hochmoor« 2124 2011, S. 238. 2125 Vgl. Don Rosa, 2008, 109, 132f., 135, 142.

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Don Rosas ONKEL DAGOBERT: SEIN LEBEN, SEINE MILLIARDEN – Sinn und Identität

(Fortsetzung) Kapitel VIII: »Der Einsiedler am White Agony Creek« XI: »Der gewissenlose Geschäftsmann aus Entenhausen«/ »Der Geschäftsmann ohne Gewissen«2126 XII: »Der Einsiedler der Villa Duck«

Leitfrage Was ist mir wirklich wichtig? Wie will ich leben? Oder auch: Wie kann ich Versöhnung stiften? Was macht mich reich? Bzw.: Was will ich einmal ernten?

Im Dagoberts Sinnsuche und seinem Scheitern liegt eine Anregung, das eigene Leben, Handeln und Streben zu reflektieren. Es fragt sich, wodurch das eigene Leben überhaupt getragen wird und wo es hinführen soll. Hier zeigt sich der besondere Wert von (Comic-)Biographien im Religionsunterricht im Allgemeinen, weil sie einen ganzen Lebenslauf zeichnen, in dem sich die Lernenden auch selbst verorten können (vgl. dazu auch III 3.2). Don Rosas Sein Leben, seine Milliarden gleicht dabei in vielem einem modernen, auch tiefenpsychologischen Entwicklungsroman, denn dieser schildert die psychologisch folgerichtige Entfaltung eines Menschen aus seinen Anlagen und Erfahrungen. Durch Auseinandersetzung mit seiner gesellschaftlichen und kulturellen Umwelt reift der oft autobiographisch Züge tragende Held des Entwicklungsoder Bildungsromans zu einer harmonischen Persönlichkeit heran2127.

Allerdings ist das glückliche Ende nicht bindend – Dagobert mit seiner wachsend verbissenen und abweisenden Natur ist am Ende alles andere als eine »harmonische« Persönlichkeit. Auch in dieser ›Anstößigkeit‹ ist der Comic etwas Besonderes. Nur selten wird in einem auch für Kinder geeigneten Werk der verheerende Weg eines Charakters bis zum bitteren Ende geführt, wie es bei Don Rosa immerhin fast geschieht. Durch das Medium, das sich relativ zügig lesen lässt, lassen sich sehr viele Seiten in relativ kurzer Zeit bewältigen – und damit auch viele Jahrzehnte. So lässt sich ein Bogen über ein ganzes Leben spannen, ohne dass die Lernenden von zu viel Textmasse überfordert werden. Selbstverständlich wendet sich im letzten Kapitel vieles zum Guten (wenngleich nicht alles, denn Nelly, Dortel, Mathilda und die Zeit am Klondike scheinen endgültig verloren). Doch gerade das Kapitel XI steigt zwischen Zombies und Familienzerwürfnissen so tief in die Depression hinab, dass viele Kinder Schwierigkeiten damit haben könnten. Umso wichtiger wäre eine zur Reflexion anregende Begleitung der Lektüre. Da sowohl spezifische Probleme der Jugend (wie die Erwartungen der Eltern) als auch des Alters (wie Verlust und Einsamkeit) behan2126 Hier liegen zwei verschiedene Übersetzungen vor. 2127 Rothmann, 2006, S. 87.

Religionspädagogische Reflexion

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delt werden, kann auch das Altersspektrum der Leserschaft im Grunde nicht breit genug gefächert sein. Dies spricht auch für andere religionspädagogische Einsatzfelder. Die Suche nach dem richtigen Weg in der Geschichte kann sicherlich gerade bei jungen Menschen Einfluss auf die religiöse Entwicklung haben und einer gewissen Kontingenzbewältigung und Identitätsbildung dienen: Die meisten (Comic-)Biographien eignen sich dazu, individuelle Identitätsbildungsprozesse bei den Rezipierenden anzuregen. Auch Sein Leben, seine Milliarden kann dafür gut religionspädagogisch genutzt werden, vor allem da Identität und Identitätsverlust, sowie das Konzept der idem- und ipse-Identität, wie es schon beschrieben worden ist, eine so herausragende Rolle spielen. Die Frage nach der sozialen Identität von Kulturen (und auch Individuen) hat eine nicht unwesentliche religionswissenschaftliche Bedeutung, geht es schließlich oft um Fragen wie ›Woher kommen wir?‹, ›Wohin gehen wir?‹ und ›Wer sind wir?‹, auf die Schöpfungsmythen, Jenseitsvorstellungen und Verheißungen Antwort zu geben versuchen.2128 Auch religiöse Symbolik, Normierung, Organisation etc. weisen identitätsstiftende Aspekte auf.2129 Werner Gephart erklärt, dass der Bedeutungsverlust von Religion in der Postmoderne deshalb mitunter gravierende Effekte auf das Bewusstsein über Sinn und Identität in Kulturen und Individuen hat: Globale Identitätskrisen erhöhen heute die Nachfrage nach Identitätsstiftung und so verwundert es nicht, dass sich die in Religion reflektierte Sinnproblematik heute eher als Suche nach Identität ausdrückt.2130 Denn wenn Religion mit dieser speziellen Funktion verknüpft ist, dann hat der Religionsverlust entsprechend dramatische Folgen für den »unstillbaren Hunger« nach Identität.2131 Mit dem Schwinden von Religion wächst das Risiko, jede existenzielle Basisidentität zu verlieren, da kein Wissen um die eigene Bestimmung mehr besteht.2132 Durch diese Verknüpfung der Themenfelder, aber auch schlicht, weil die Suche nach Identität heute eben (gerade bei Jugendlichen) geradezu religiöse Züge annehmen kann, ist es sinnvoll, die Fragen nach Lebenssinn und Identität religionspädagogisch anzugehen und zu betrachten. Don Rosas Sein Leben, seine Milliarden bietet dafür einen idealen Ausgangspunkt. In der Auseinandersetzung mit der Dagobert-Biographie kann auch gezielt die narrative Identität der Schüler gefördert werden (zum Konzept vgl. III 3.2). Diese will das Leben nicht exakt und faktisch wiedergeben, sie ist nach Kumlehn »immer als Form der hermeneutischen Auslegung und Bedeutungsstiftung zu 2128 2129 2130 2131 2132

Vgl. Gephart, 2008, 20. Vgl. ebd., 21. Vgl. 2008, 21. Ebd. Vgl. ebd. Im religiösen Sinne erscheint eine ›Basisidentiät‹ möglicherweise noch am ehesten möglich zu sein, wenngleich ihre Existenz, wie schon beschrieben, umstritten ist.

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Don Rosas ONKEL DAGOBERT: SEIN LEBEN, SEINE MILLIARDEN – Sinn und Identität

verstehen.«2133 Die narrative Identität nährt sich lebensgeschichtlich begleitend durch persönlichkeitsbildende Erzählungen, aber auch im Berichten der eigenen Erfahrungen.2134 Und in einer ernsthaften Auseinandersetzung mit dem Erzählten kann sich auch das Selbstverständnis der Hörenden oder Lesenden wandeln.2135 Das kann sowohl in einer Identifikation zum Erzählten als auch in Abgrenzung zu einer dargestellten Persönlichkeit geschehen.2136 Der (fiktive) Weltentwurf der Erzählstimmen oder Figuren ist schließlich niemals ethisch neutral und enthält zumindest implizit immer eine Bewertung der Welt, in der wir leben, sodass die Lesenden diesen Bewertungsrahmen und -vorschlag gedanklich erproben, ›kosten‹ und damit eventuell eine neue Sicht auf ihre Welt gewinnen können.2137 Die eigene Identität positioniert sich so unablässig neu.2138 Don Rosas Dagobert, ein runder und mehrdimensionaler Charakter, ist dafür wie geschaffen, weil man sich als Rezipientin auch an ihm reiben kann. Die Stellungnahme zum Protagonisten der Lektüre bringt einiges über die eigene Einstellung zutage: Denn bewundert man Dagobert, weil er willensstark, ehrlich, zielstrebig, mutig, entschlossen, heldenhaft und ein echter Visionär ist, dann sehnt man sich vielleicht selbst nach mehr Kontur, Entschlossenheit oder nach einem Ziel im eigenen Leben. Sieht man seine negative Seite, in der er geizig, mürrisch und egoistisch erscheint, kann damit möglicherweise das eigene Verhalten gegenüber anderen neu reflektiert werden. Dagobert ist im Gegensatz zu vielen anderen Comichelden eine höchst ambivalente Figur – und dadurch wird er niemals langweilig. Dieser engen Beziehung zwischen Lebensgeschichte, Identität und Erzählung ist eine weitere Komponente hinzuzufügen: Die der Spiritualität und Religion, die eng mit all dem verknüpft ist. Der Bedeutungsverlust von Religion kann gravierende Konsequenzen nicht nur für ganze Gesellschaften, sondern auch für den einzelnen Menschen haben, denn auch für Individuen stehen die Fragen nach (Lebens-)Sinn, Identität und Religion in einem relativ engen Zusammenhang und Religion kann nach Gephart durchaus als »Ort personaler Identitätsbildung« verstanden werden.2139 In der Religionspädagogik aber spielen Vorstellungen über gelingendes Subjektwerden und -sein eine nicht unerhebliche Rolle.2140 Religion vermittelt sich in Geschichten und in Geschichte, dient der Lebensbewältigung und der Persönlichkeitsbildung, der Suche nach Sinn in den 2133 2134 2135 2136 2137 2138 2139 2140

2012, S. 139. Vgl. Naurath, 2005, S. 291. Vgl. Kumlehm, 2012, 141f. Vgl. Naurath, 2005, S. 291. Vgl. Kumlehm, 2012, S. 142. Vgl. ebd., S. 137. 2008, 21. Vgl. Mette, 2008, S. 25.

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Lebensspuren. Birgit Weyel betrachtet mit Schleiermacher die Lebensgeschichte insgesamt als Zugang zur religiösen Entwicklung, denn sie »ist der ›Ort der Religion‹, in dem Religion und Glaube auf lebensgeschichtlich aufbrechende Fragen bezogen sind.«2141 Am Beispiel Dagoberts ließe sich dies sehr gut durchdeklinieren: Vertraut er seiner eigenen Hoffnung?2142 Wie deutet er die Zeichen um sich herum?2143 Welchen Menschen kann er Vertrauen schenken?2144 Wie hierarchisiert er seine Ziele?2145 Wo gehört er wirklich hin – nach Schottland oder Amerika?2146 Und was bedeutet das für ihn? Womit möchte er die letzten ihm verbleibenden Jahre seines Lebens verbringen?2147 Was ist das Wertvollste in seinem Leben?2148 Worauf möchte er eines Tages zurückblicken? Worauf blickt er am Ende zurück?2149 Und man mag sich fragen: Ist Dagobert ein glücklicher Mensch? Dies alles sind nach Weyel »lebensgeschichtlich aufbrechende Fragen« existenzieller Natur, in denen der Glaube eine Rolle spielt und denen sich auch Schüler früher oder später stellen müssen.2150 Dagobert Duck/Onkel Dagobert nimmt also nicht nur eine herausragende Stellung im Pantheon der Duck-Figuren ein; Don Rosas Sein Leben, seine Milliarden ist in vielfacher Hinsicht außergewöhnlich für einen All-AgesComic, der mit der Darstellung eines ganzen Lebenslaufes zu Fragen der Endlichkeit und der Lebensführung anregt. Damit ist er auch anschlussfähig für Bestrebungen religionsdidaktischer Lehrpläne.

2.3.1 Religiöse Bildung fördern Obwohl religiöse Bildung sich unmöglich allein auf Kompetenzen erstrecken kann, soll hier dargestellt werden, dass sich auf jeden Fall Bezüge zwischen Don Rosas Sein Leben, seine Milliarden und den Anforderungen schulischer Lehrpläne herstellen lassen. Exemplarisch wird hier wieder auf das niedersächsische Kerncurriculum Bezug genommen. Don Rosas Sein Leben, seine Milliarden kann für einen Religionsunterricht genutzt werden, der »auf vielfältige Weise das Interesse [stärkt], die Wirklichkeit zu erkennen, die Welt zu verstehen und sie sich selbst und anderen zu 2141 2142 2143 2144 2145 2146 2147 2148 2149 2150

2008, S. 158. Vgl. Don Rosa, 2008, S. 15. Vgl. ebd., S. 109. Vgl. ebd., 116, 135. Vgl. ebd., 90, 227. Vgl. ebd., 186f. Vgl. ebd., S. 260. Vgl. ebd., 237f. Vgl. ebd., 258, 261. 2008, S. 158.

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erklären.«2151 In seiner besonderen Form als Comic bieten sich zudem Möglichkeiten an, ästhetische und mediale Kompetenzen zu fördern.2152 Durch die Fragen nach Ethik, die sich konsequent durch das Werk ziehen, kann die Biographie den Ethikunterricht als Dialogpartner ansprechen (s. u.).2153 Themenfelder wie die Macht des Geldes oder der Respekt vor der Natur können Impulse für »[g]lobales Lernen im Zeichen von Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung« setzen.2154 Durch die Verarbeitung vielfältiger, in sich verwobener Weltbilder (Aspekte schriftloser, ethnischer Religionen, der Glaube an die Ahnen- oder Geisterwelt, an ein Wiedersehen im Jenseits oder das Schicksal) in der Dagobert-Biographie kann sie auch zur Stärkung der konfessionellen Identität genutzt werden, indem diese Weltbilder herausgearbeitet und teilweise vom evangelischen Glauben abgegrenzt werden.2155 Auch eine Sensibilität für synkretistische Tendenzen als Phänomen unserer Zeit kann hieran exzellent geschaffen werden. In der Vielfalt der von Don Rosa herangezogenen Weltbilder spiegelt sich zu einem gewissen Punkt auch die gegenwärtige Gesellschaft in ihrer Pluralität wider.2156 Prozessbezogene Kompetenzen Da prozessbezogene Kompetenzen von der Religionslehrkraft bewusst in variierenden Kontexten – wie in lebenspraktischen Situationen, ethisch-moralischen Herausforderungen und Sinn-Fragen – zur Geltung gebracht werden sollen, kann es die Angebotsvielfalt erhöhen, derartige biographische ›Aufgaben‹ auch einmal in einem literarischen Kontext zu beleuchten.2157 Mit Don Rosas Sein Leben, seine Milliarden lässt sich am stärksten die Dimension der Wahrnehmungs- und Darstellungskompetenz fördern, ferner aber auch Teile der Urteils- und Deutungskompetenz. Eine Unterrichtseinheit mit der graphischen Biographie kann die Kompetenz der Lerngruppe fördern, »religiös bedeutsame Phänomene wahr[zu]nehmen und [zu] beschreiben«2158. Durch die vielen Verweise auf Religion auf der Oberflächenebene des Comics (vgl. IV 2.2.2), aber auch zum Beispiel durch Dagoberts Beschäftigung mit ethischen Fragen (vgl. IV 2.2.1) können Kinder und Jugendliche lernen, »[r]eligiöse Spuren und Dimensionen in der persönlichen Lebenswelt [zu] entdecken und mit[zu]teilen«.2159 Dabei wird 2151 2152 2153 2154 2155 2156 2157 2158 2159

Niedersächsisches Kulturministerium, 2009, S. 8. Vgl. ebd. Vgl. dazu ebd. Vgl. ebd., S. 9. Vgl. dazu ebd., S. 10. Vgl. dazu bspw. ebd. Vgl. dazu ebd., 13f. Ebd., S. 15. Ebd.

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auch die Deutungskompetenz gestärkt, wenn gelernt wird, religiöse Motive in der Kultur zu identifizieren und zu verstehen.2160 Don Rosas visueller Entwurf eines ›Himmels‹, aber auch zum Beispiel der kurze Einblick in die religiöse Welt der australischen Aborigines kann dazu anregen, »[g]rundlegende religiöse Ausdrucksformen wahr[zu]nehmen und [zu] beschreiben«2161, sich im Sinne der Urteilskompetenz begründet mit anderen religiösen und nicht-religiösen Überzeugungen und Weltbildern (in Bezug auf die Ahnenwelt, eine Vorsehung etc.) auseinanderzusetzen und gegebenenfalls auch zwischen lebensförderlichen und lebensfeindlichen Formen von Religionen oder zumindest Lebensentscheidungen zu unterscheiden.2162 Vor allem bietet Sein Leben, seine Milliarden einen Reichtum von Situationen, »in denen existenzielle Fragen des Lebens auftreten«, die die Schüler bewusst wahrnehmen und auch auf ihr eigenes Leben übertragen können (vgl. IV 2.2.1).2163 Das betrifft auch bestimmte Entscheidungssituationen in der eigenen Lebensführung, die religiöse Relevanz annehmen können.2164 Im Bereich der Deutungskompetenz gilt es für die Lerngruppe, christliche Werte und Normen zu verstehen und in Beziehung zum eigenen Leben zu setzen.2165 Anhand des Comics lassen sich Situationen aufzeigen, in denen Werte und deren Hierarchisierung (zum Beispiel die Wahl zwischen Familie und Streben nach Reichtum oder zwischen egoistischen Zielen und Opfern) Einfluss auf Lebensentscheidungen und Lebenswege nehmen können. Inhaltsorientierte Kompetenzen Sucht man nach Beziehungen zwischen Themenfeldern des Comics und inhaltsbezogenen Kompetenzbereichen, wie sie im Kerncurriculum beschrieben sind, so finden sich mehrere Übereinstimmungen in allen Jahrgangsstufen. Theoretisch ließe sich der Comic ab der fünften Klasse einsetzen, ohne die Kinder zu überfordern. Dann aber vertut man auch Potenzial: Mit zunehmendem Kompetenzgrad der Lerngruppe öffnen sich immer mehr Möglichkeiten zur Auseinandersetzung, sodass sich vor allem die siebte, achte oder neunte Klasse anbieten, wenn mit Eintritt in die Adoleszenz verstärkt Fragen nach der Lebensplanung und Identität auftreten. Insgesamt gibt es besonders viele inhaltliche Parallelen zum Kompetenzbereich ›Mensch‹: Kinder der fünften und sechsten Klasse sollen sich zum Beispiel mit Verlust und Trauer auseinandersetzen, was mit den Passagen im Comic, die 2160 2161 2162 2163 2164 2165

Vgl. ebd., S. 16. Ebd., S. 15. Vgl. ebd., S. 16. Ebd., S. 15. Vgl. ebd. Vgl. ebd., S. 16.

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den Tod von Dagoberts Eltern betreffen, im Grunde auch ohne weitere Anleitung einer Lehrkraft passieren kann.2166 Das spricht dafür, das Werk auch für die Schulbibliothek anzuschaffen. Hier und in Dagoberts Nahtoderfahrung kann man auch außerbiblischen Zeugnissen von Hoffnung begegnen und Spuren der christlichen Erlösungshoffnung in der Kultur entdecken. Letztendlich sind Verlust, Trauer und Depression auch Themen der letzten beiden Kapitel. Da einige Verluste von Dagobert auch die Schuld falscher Entscheidungen sind, wird auch der Ethik-Kompetenzbereich, der sich in dieser Altersstufe um ›Ich und die anderen‹ dreht, zart berührt.2167 Heranwachsende der siebten bzw. achten Klasse sollen sich im Kompetenzbereich ›Mensch‹ weiter dem Thema von Schuld und Vergebung sowie auch (modernen) Leistungsansprüchen stellen, die in der Biographie allesamt eine Rolle spielen.2168 Möglicherweise können Don Rosas Darstellungen von Schuld, denen man sich zunächst nur auf der graphischen Ebene nähren könnte (das Motiv der Nacht, des Zombies etc.), zur Notwendigkeit von Vergebung im christlichen Sinne überleiten. In dieser Altersstufe wäre auch ein Bezug zum Kompetenzbereich ›Gott‹ denkbar, wenn die Lerngruppe »den christlichen Gott von nicht christlichen Gottesbildern einerseits und modernen Götzen und menschenverachtenden Gottesvorstellungen andererseits« zu unterscheiden lernt.2169 Zu den »modernen Götzen« gehört zweifelsohne das Geld, das in unserer Gesellschaft eine (allzu) große Rolle spielt und Dagoberts Lebensweg natürlich maßgeblich prägt. Hier muss aber eine sensible Didaktik erfolgen, die keine Plattitüden produziert oder das christliche GutmenschenImage fördert. Am stärksten sprechen die Vorgaben des Kerncurriculums für den Einsatz des Comics in der Jahrgangsstufe 9/10, da hier zwei zentrale Kompetenzbereiche zumindest teilweise erarbeitet werden können: Einerseits wieder der Bereich ›Mensch‹, wenn Schüler lernen, »religiöses Fragen nach Sinn und Ziel des Lebens als eine Grunddimension des Menschseins« zu verstehen und sich auch mit Träumen, Visionen und Lebensrückblicken beschäftigen.2170 Längst ist erkannt worden, dass die »Frage nach dem Sinn des Lebens und was das Ganze überhaupt soll« längst nicht mehr nur in der Kirche oder im Rahmen institutionalisierter Religionen stattfindet und dass humane Selbst- und Weltdeutung dennoch immer eine religiöse Dimension hat.2171 Die inhärente Sinn-Thematik (vgl. IV 2.2.2) ist eine der stärksten, die sich durch die gesamte Dagobert-Biographie zieht – und letztlich durch die Lebensgeschichte aller Menschen. Auch 2166 2167 2168 2169 2170 2171

Vgl. ebd., S. 17. Vgl. ebd., S. 26. Vgl. ebd., S. 18. Ebd., S. 21. Im Folgenden vgl. ebd., S. 19. Gräb, 2016, S. 366, Herv. i. Org.

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Hoffnungen, Anfragen an Lebensentwürfe, Sinn und Identität sind wichtige Themenfelder, mit denen sich Heranwachsende in dieser Altersstufe beschäftigen müssen, nicht nur grundsätzlich aufgrund der Adoleszenz, sondern auch, da die Oberstufe und die Wahl der Leistungskurse/Profile bevorstehen – zuweilen auch schon die Berufswahl oder sogar (oft nicht beabsichtigt) die Familienplanung. Der Charakter Dagoberts spielt hier im Grunde für die Leserinnen durch, wie es ist, sich für einen festen Lebensentwurf zu entscheiden, wie man damit scheitern, aber auch neu beginnen kann. Diese Szenarien, die er zwar mit einer gewissen religiösen Hoffnung, nicht aber mit der offenen und tröstenden Begleitung eines liebenden Gottes durchlebt, können einen geeigneten Nährboden bilden, »Zuspruch und Anspruch Gottes als Grundlage christlich orientierter Lebensgestaltung« zu erfahren. Das niedersächsische Kerncurriculum schlägt unter den möglichen Inhalten für den Kompetenzerwerb tatsächlich auch Beispiele aus der Medienwelt vor, außerdem das Feld der Sinnfragen, der Funktion von Religion (sprich: die Beschäftigung mit einem funktionalistischen Religionsbegriff, wie er in Sein Leben, seine Milliarden Anwendung findet) sowie biographische Beispiele. Dagobert ist zudem Sinnbild des sündhaften Menschen, der Versöhnung und Vergebung bräuchte und bei Ausbleiben dieser an einer entscheidenden Stelle seines Lebens scheitert. Kohärent mit Deutungen aus Urgeschichte und Schöpfungsauftrag zeichnet sich hier die Bestimmung des Menschen zwischen Freiheit (beispielweise seinen egoistischen Interessen zu folgen) und Verantwortung (für seine Mitmenschen) nach: Der Mensch ist aufgefordert, sein Leben sinn-voll zu gestalten. Eine Überleitung zu dezidiert christlichen Inhalten sollte dabei keineswegs gescheut werden. Denn die »Frage nach dem was zählt, nach Sinn und Glück«, die sowohl Herzstück des Religionsunterrichts2172 als auch die zentrale Thematik des Comics darstellt, ist eine genuin-existenzielle Frage des Menschen. Damit ist sie aber nicht religionskundlich, sondern nur bekenntnisorientiert zu beantworten.2173 Das erfordert – besonders für Jugendliche – Mut. Nur dann kann Religionsunterricht für die Heranwachsenden bedeutsam werden, wenn er an ihre selbstständig artikulierten Lebenssinnfragen anknüpft.2174 Diese kommen heute – wie Dagobert sehr schön zeigt –auch abseits religiöser Tradition auf. Durch den narrativen Charakter des Religiösen, der sich der Theologie bei genauerem Hinsehen erschließt, bieten sich nach Wilhelm Gräb auch biblische Texte als weiterführende »Orientierungsinstrumente« an, in denen sich Menschen wiederfinden können und die in die Tradition einführen können.2175 2172 2173 2174 2175

Lindner; Schambeck; Simojoki; Naurath, 2017, S. 445. Vgl. Naurath, 2017, 27f. Vgl. dazu auch Gräb, 2016, S. 375. Vgl. 2016, 377f.

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Zusätzlich ist Sein Leben, seine Milliarden anschlussfähig für den Kompetenzbereich ›Ethik‹ der Klassenstufe 9/10, wenn die Lernenden den Themen ›Sterben‹ und ›Tod‹ »als Anfragen an das Leben« begegnen2176, denn hier müssen sie lernen, »den Zusammenhang zwischen menschlicher Endlichkeit und der Aufgabe, für das Leben Identität und Sinn zu finden« zu verstehen. Von Don Rosa selbst existiert eine inoffiziell in Umlauf gekommene Zeichnung von 1991, die die Familie Duck (Tick, Trick und Track erwachsen, Donald und Daisy gealtert und mit Ehering) vor Dagoberts Grabstein versammelt, nach dem er 100 Jahre alt geworden ist und den der Wahlspruch Fortuna favet fortibus ziert – in gewisser Weise eine Überschrift für Sein Leben, seine Milliarden. Donald spricht: »Hey Daisy? Whatever happened to Scrooge? Is that what you asked? His final adventure is a tale that will probably never be allowed to be told… But it was a dilly!« Don Rosa hätte sich nach eigenen Angaben nicht davor gescheut, eine Geschichte über Dagoberts Ende zu schreiben, wusste jedoch, dass diese nie veröffentlicht worden wäre. In der Zeichnung offenbart sich jedoch die Konsequenz, dass Dagoberts Zeitlichkeit auch mit Endlichkeit einhergeht. Deshalb kann ihr Einsatz in diesem Kontext auf jeden Fall erwogen werden. Don Rosas graphische Biographie behandelt mit Dringlichkeit und stellvertretend die Frage, die sich alle Sterblichen stellen sollten: Was will ich am Ende meines Lebens ernten? Und was muss ich jetzt schon dafür säen? Was will ich erreichen? Und überhaupt: Wofür lohnt es sich zu leben? Die Schüler lernen, »die Aufforderung für die Lebensdeutung und Lebensgestaltung, die sich aus der Begrenztheit des Lebens ergibt, zum Ausdruck« zu bringen. Näher bezogen auf das Thema ›Tod‹ sollen sie außerdem Erfahrungen mit »Ausdrucksformen der Hoffnung, des Trostes und des Zuspruchs im Leid« machen: Da dies ein Bereich ist, der vielfältig auch in den populärkulturellen Medien bearbeitet wird (natürlich mit unterschiedlicher Tiefe), sodass sich besonders kirchenferne Jugendliche einzelne spirituelle Aspekte daraus herausgreifen und in ihre religiöse Identität einflechten, ist das Vorgehen im Sinne einer medienorientierten Religionsdidaktik hier sehr sinnvoll.2177 Don Rosa zeigt hier zudem Trostzugänge (die Hoffnung auf ein Wiedersehen nach dem Tod oder dass die Vorfahren einen nie ganz verlassen) sowie Traueransätze auf (Wut und Verzweiflung packen Dagobert, als er vom Tod seiner Mutter erfährt; später besucht er ihr Grab), die in der (Populär-)Kultur weit verbreitet sind und deren Tragfähigkeit mit den Heranwachsenden geprüft werden sollten, wobei auch ihre eigenen Weltdeutungen thematisiert werden können.

2176 Vgl. im Folgenden Niedersächsisches Kulturministerium, 2009, S. 28. 2177 Vgl. dazu Pirner, 2012, S. 162.

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2.3.2 Vielfalt adressieren Aufgrund seiner formalen und inhaltlichen Aspekte könnte sich der Comic Sein Leben, seine Milliarden dazu eignen, bestimmte Schülergruppen in einer Klasse besonders anzusprechen und tendenziell benachteiligte Gruppen zu inkludieren. Von den in Abschnitt II und III dieser Arbeit beschriebenen Parteien sollte man dies besonders für Jungen und kirchenferne Jugendliche im Religionsunterricht sowie auch für jene, die aufgrund ihres sozio-ökonomischen Hintergrundes bildungsbenachteiligt sind, erwägen. Es spricht viel dafür, dass Don Rosas Dagobert-Biographie aufgrund ihrer Erzählweise, vor allem aber durch die Beschaffenheit des Protagonisten vor allem männlichen Lesern in ihren Interessen entgegenkommt. Aus der Affinität vieler Jungen für Superheldengeschichten2178, die eine Spielart des Abenteuergenres bilden, könnte sich schließen lassen, dass auch die gesammelten Abenteuergeschichten in Sein Leben, seine Milliarden positiv aufgenommen werden könnten. Denn obwohl die großen, beziehungsorientierten Themen des Werkes nicht zu übersehen sind, so finden sich in jedem Kapitel auch abenteuerliche und spannende Geschichten mit ›actiongeladenen‹ Sequenzen. Dagobert selbst ist ein echter Abenteurer und Held, wie man ihm sonst zum Beispiel im Westerngenre begegnet, dem sich einige Kapitel auch zuordnen ließen: mutlos, entschlossen und (in weiten Teilen seiner Biographie) unabhängig. Damit vereint er viele positiv besetzte Attribute in sich, die ihn für Mädchen und für Jungen interessant machen. Dagobert verbringt viel Zeit damit, sich mit anderen zu messen, Grenzen auszutesten, sich für das Gute einzusetzen und ein Held zu sein, etwas zu riskieren und alleine zu schaffen. Dies aber sind Interessen, die nach Winter und Neubauer2179 besonders für viele Jungen ansprechend sind. Das macht Dagobert mitnichten zu einer Identifikationsfigur notwendigerweise oder gar ausschließlich für männliche Schüler. Dass Dagobert in vielerlei Hinsicht aber dem Idealbild der männlichen Genderrolle entspricht, erhöht möglicherweise die Bereitschaft männlicher Jugendlicher, sich mit seiner Figur auseinanderzusetzen – auch, wenn es dann um Verletzlichkeit, Schwäche, das Eingestehen von Fehlern und Beziehungsbedürftigkeit geht. Die Tatsache, dass der junge Dagobert schon früh Geld verdienen muss und später eine Mitverantwortung für seine Schwestern und seine Familie übernimmt, knüpft an Genderrollenvorstellungen an, die auch heute noch für Jungen und Männer vor allem aus traditionell orientierten Familien nicht passé sind und Heranwachsenden Sorgen bereiten können. Auch für die Thematik von Leistungsdruck, von persönlichen Lebensträumen und der 2178 Vgl. Gruner + Jahr; Blue Ocean Entertainment AG; Egmont Ehapa Media GmbH; Panini Verlags GmbH; SPIEGEL-Verlag; ZEIT-Verlag, 2018, S. 66. 2179 2001.

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(zuweilen entgegen gelagerten) Erwartungshaltung der Familie erweist sich die Figur als ansprechbar. Damit kann die Biographie genutzt werden (nicht nur, aber auch), heranwachsende Jungen und Männer in ihrer Lebensplanung und in ihrem Identitätsfindungsprozess religionspädagogisch zu begleiten. Wie viele Jungen im Religionsunterricht zeigt Dagobert übrigens auch uneindeutige Gefühle gegenüber dem transzendenten Moment in seinem Leben – ohne sich diesem jemals ganz zu verschließen. Dass der Held keine langen Gespräche über Gott führt, lässt ihn im Einklang mit Codes der Jugendkultur auftreten, nach denen das Sprechen über religiöse Bezüge gerade für Jungen als ›uncool‹ und rückständig gilt.2180 Deshalb ist der Comic auch besonders für die Ansprache kirchenferner Jugendlicher geeignet, die positiv darauf reagieren, nach ihrer persönlichen Deutung (etwa des Regenbogens) gefragt zu werden. Das Werk kann also möglicherweise besonders gut in Klassen und Kursen eingesetzt werden, in denen kirchendistanzierte Schüler aus der Reserve gelockt werden müssen. Dabei spricht es aber auch gläubige Schülerinnen an. Die oft im Religionsunterricht zu beobachtende Asymmetrie religiöser Kenntnisse, eine klassische Heterogenitätsanforderung, ist für das Werk wenig relevant, da es hier um existenzielle Erlebnisse geht, die alle gleichermaßen betreffen.2181 Genau wie (nicht nur, aber vor allem) konfessionslose Kinder und Jugendliche heute oft Elemente ganz verschiedener Religionen und Denkweisen synkretistisch in ein individuelles Weltbild zu integrieren versuchen (wobei dieses mitnichten kohärent und geschlossen sein muss), so spielt auch der vorliegende Comic mit religiösen Symbolen und Andeutungen verschiedener Provenienz: Die Vorstellung einer Geisterwelt und vom Schutz der Ahnen findet ihren Platz neben einem Glauben an das Schicksal und an eine (göttliche?) Vorsehung, gleichzeitig gepaart mit der säkularen individualistisch-postmodernen Überzeugung, dass am Ende doch jeder seines eigenen Glückes Schmied ist (auch der Glaube an den ›American Dream‹ kann religiöse Züge annehmen); dazu christlich tradierte Vorstellungen von einem ›Himmel‹ und eine den Tod überdauernde, individuelle Existenz sowie schließlich eine Zeichnung des Geldes als ›Abgott‹ der Moderne. Dass im Comic kein personaler Gott vorkommt, beziehungsweise nicht direkt auf eine Religionszugehörigkeit der Hauptfigur(en) verwiesen wird und der Comic durch seinen Bezug zum Disney-Konzern überhaupt relativ säkular wirkt, ist im Zusammenhang mit kirchenkritischen Schülerinnen von großem Vorteil, weil auf diese Weise keine spontane Skepsis bei ihnen ausgelöst wird und sie sich vorbehaltsloser auf den Protagonisten einlassen können. Das wiederum erleichtert spätere Korrelationsprozesse. Obwohl Dagobert teilweise auch Vertrauen in Omen und Symbole setzt, so ist er doch eine wunderbare Identifika2180 Vgl. Knauth, 2011, S. 81. 2181 Vgl. dazu auch Rosenow, 2019, S. 219.

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tionsfigur für nichtkonfessionelle und kirchenkritische Jugendliche, weil er auch offene Ungläubigkeit zeigt. Gerade gegenüber dem Schamanen Jabiru – dessen Rituale kirchenfernen Menschen ähnlich fremdartig wie manche kirchlichen Traditionen sein sollten – offenbart sich Dagobert als (zynischer) Skeptiker, der das Vertrauen des Aborigine erst ausnutzt, um mit seiner Hilfe eine Goldader zu finden, dann jedoch eines Besseren belehrt wird.2182 Offen formuliert er zum Teil abfällig seine Zweifel: »Ein Glück, dass diese ›Albtraumwelt‹ nur Aberglaube ist!«2183 Sogar im Angesicht von unerklärbaren Vorgängen will er unbedingt unbeeindruckt bleiben und scheint sich lieber an naturwissenschaftlichen Erklärungen festzuhalten, als sich auf den Einwand des Australiers einzulassen: »Der Sand sackt in eine Felsspalte ab! Ich glaub es einfach nicht!!« »Ach ja? Dann hältst du’s also für Zufall, dass dies gerade jetzt und hier passiert?« »Was sonst? Oder etwa nicht?«2184 Auch angesichts seiner eingreifenden Vorfahren zeigt er sich nach außen hin skeptisch und distanziert, obwohl er innerlich nicht unberührt bleibt: »Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, dass es hier spukt!«2185 Der besondere Twist ist nun, dass der Wissensvorsprung der Leserschaft ebenso wie der Verlauf der Geschichte seine Zweifel stets Lügen strafen. An dieser Stelle der konstruktiven Verunsicherung kann die Religionspädagogik ansetzen: Was ist, wenn das Unglaubliche doch wahr ist? Meiner Erfahrung nach öffnen sich an dieser Stelle auch christliche Schülerinnen und Schüler gerne und erzählen von ihren Überzeugungen. Ein anderes, auf den ersten Blick säkular wirkendes Thema im Werk ist die Relevanz von Beziehungen zu anderen Menschen, ohne die ein Leben, so wird an Dagobert aufgezeigt, schnell in die Sinnlosigkeit abgleiten kann. Im Grunde ist dies ein guter Einstieg für kirchendistanzierte Lernende, beziehungsweise für einen sehr von Heterogenität geprägten Kurs, da Familie und verbindliche Freundschaften für alle Heranwachsenden gleich wichtig sind.2186 Von diesem Punkt aus kann man überleiten zu Prioritäten im Leben und in der Lebensplanung, sprich: zu den (weiteren) existenziellen Dingen. Weil Dagobert sich nicht zu allen oben beschriebenen religiösen Andeutungen des Werkes klar positioniert, obliegt es übrigens einem selbst, dies für sich zu tun und damit auch die eigenen Glaubensvorstellungen, von denen sich sicher einige im Comic angedeutet finden, in ihrer Herkunft zu verstehen, einzuordnen und auch zu überdenken. Besonders in Bezug auf destruktive Gottesvorstellungen und Religionsformen, wie sie in Zusammenhang mit der Thematik von Leistungsdruck und Kapitalismus zur Sprache kommen können, kann dies sehr fruchtbar sein. 2182 2183 2184 2185 2186

Vgl. Don Rosa, 2008, 132f., 142. Ebd., S. 135. Ebd., S. 133. Vgl. ebd., S. 108. Vgl. Siemann, 2008, 1339.

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Gleiches gilt für Vorstellungen und Andeutungen, die mit dem Christentum verbunden sind (der Glaube an die Einmaligkeit des Lebens ohne Reinkarnation, das Symbol des Regenbogens etc.), zu dem dann entsprechend feinfühlig übergeleitet werden kann, um für Spuren der Tradition im Denken und Glauben der Heranwachsenden zu sensibilisieren und damit zum Beispiel auch die Wertschätzung dafür zu steigern. Und schließlich eignet sich Sein Leben, seine Milliarden besonders gut dafür, (auch) kirchendistanzierten Jugendlichen aufzuzeigen, dass Sinnfragen einfach ein Teil des Leben sind – ob man sich nun einer Religion zugehörig fühlt oder nicht – und dass damit Religion und der Glaube an etwas zum Menschsein gehört. Schließlich kann Don Rosas Sein Leben, seine Milliarden bewusst eingesetzt werden, um die Ansprache von Schülerinnen und Schülern zu erhöhen, die in einer Klasse aufgrund ihres sozio-ökonomischen Hintergrundes potenziell benachteiligt sind. Geschichten um Onkel Dagobert und um die Familie Duck werden, davon kann man mit Blick auf die Verkaufszahlen ausgehen, milieuübergreifend rezipiert. Das heißt, dass sie, ganz im inklusiven Sinne, tendenziell auch eine milieuübergreifende Leserschaft, sprich: Lesende inklusiv ansprechen und niemanden ausschließen. Das liegt auch daran, dass die Comics zwar das Welt- und Sprachwissen ihrer Leserschaft vermehren, aber wenig davon direkt für das Verständnis voraussetzen. Anders ausgedrückt: Geschichten von Don Rosa und anderen Schaffenden, die sich in der Tradition von Carl Barks sehen, sind auch Lesern ohne umfangreiches kulturelles Kapital verständlich und in dieser Hinsicht relativ barrierefrei. Sein Leben, seine Milliarden ist da keine Ausnahme. Don Rosa rekurriert auf umfangreiches historisches Wissen, ohne dass man als Lehrkraft Vorwissen gegebenenfalls ausgleichen müsste, weil der Comic in der Regel selbsterklärend ist. Im Gegenteil gilt eher: Der Comic gleicht zum Beispiel geringes historischem Wissen, das in Bildungskontexten doch durchaus wichtig ist, nebenbei aus, indem er implizit Kenntnisse vermittelt. Zudem kann man erwägen, ob Dagobert nicht im besonderen Maße zur Identifikationsfigur für jene Kinder und Jugendliche werden kann, die wie der Held selbst einem Hintergrund mit geringem ökonomischen Kapital entstammen und von einer Verbesserung ihrer Lebensverhältnisse träumen: Schließlich muss der kleine Dagobert selbst bereits mit zehn Jahren zum Familieneinkommen beitragen, weil er in dermaßen ärmlichen Verhältnissen aufwächst. Vor ihm liegt ein Leben mit schwerer körperlicher Arbeit, er kann auf kein Erbe, auf keine zufriedenstellende Ausbildung hoffen. Schülerinnen aus vorteilhaften sozio-ökonomischen Verhältnissen können möglicherweise gar nicht richtig nachvollziehen, was das heißt – und wie wunderbar die Verheißung von sagenhaftem Reichtum erscheinen kann. Im Sinne einer Pädagogik der Vielfalt sei abschließend darauf verwiesen, dass sich das Werk auch für binnendifferenzierende Zugänge eignet. Denn obwohl der

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Comic relativ lang ist, gibt es auch einige Kapitel, die für einige Schüler gekürzt oder ganz ausgelassen werden können, um diese nicht zu überfordern, wenn nur eine bestimmte Interpretationslinie im Unterricht verfolgt werden soll. Lesefreudige Schülerinnen, die bereit sind mehr Seiten zu lesen, könnten dabei auch Zusammenfassungen für ihre Mitlernenden verfassen. Dies könnte beispielsweise in kooperative Lernformen führen. So bieten sich Möglichkeiten für eine Binnendifferenzierung an, die auch für Lerngruppen mit Mitgliedern, für die Deutsch eine Zweit- oder Fremdsprache ist, attraktiv sein könnten.

2.3.3 Für andere Fächer öffnen Im Sinne einer großen Angebotsvielfalt und Abwechslung im Unterricht kann das Werk besonders in zweierlei Richtung wirken: Zum einen kann mithilfe von Sein Leben, seine Milliarden eine Kooperation mit Fächern wie Geschichte, Deutsch, Philosophie/Ethik und Musik angestoßen werden. Zum anderen bietet ein Musikalbum des Künstlers Tuomas Holopainen, das zum Comic entstanden ist, die Chance für eine transmediale Beschäftigung mit dem Gegenstand. Fächerkooperation und Leseförderung In erster Linie öffnet der Comic zur Begegnung mit dem Fach Geschichte, denn der Comic verweist kursorisch auf interessante Themen, die historisch und gesellschaftlich interessierte Schülerinnen ansprechen und zur weiterführenden Recherche einladen, da Dagoberts fiktiver Lebensweg sehr eng verwoben mit realer Zeitgeschichte ist. In dieser Vernetzung von Legende (Dagoberts Abenteuer) und Wirklichkeit liegt wahrscheinlich ein wichtiger Grund für den Reiz der Erzählung. Oechslin und Keller warnen zwar allgemein davor, dass die Motivation der Rezipienten, sich intensiv mit einem Inhalt auseinanderzusetzen, sinken kann, wenn sie sich ständig die Frage stellen müssen, was nun Fiktion und was Realität ist2187, jedoch ist die Unterscheidung in diesem Falle oft sehr leicht zu treffen, ist einfach zu recherchieren oder – in einem angeleiteten Unterrichtskontext – unkompliziert mit der Lehrperson zu klären. Stattdessen wirkt Dagoberts Geschichte dadurch interessanter, authentischer, glaubwürdiger – und durch die große Faktizität vieler Details erscheint der Bezug zur ›realen‹ Welt möglicherweise einfacher. Don Rosa baut in seiner Erzählung kein ›Traumschloss‹: Er konstruiert eine relativ realistische Zeichnung von Raum (Architektur, Natur und Umwelt) und Zeit – und verankert darin seine phantastische Geschichte. Das Konzept reicht bis in die Details, zum Beispiel enthalten die Dialoge mit T.R. Roosevelt in Kapitel III reale Auszüge aus seinen Büchern und 2187 Vgl. Oechslin; Keller, 2013, S. 15.

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Reden, die nur gering abgewandelt wurden.2188 Tatsächlich könnte diesem Thema deshalb fast eine eigene Arbeit gewidmet werden. Don Rosa schöpft besonders aus der Historie der Vereinigten Staaten, für die viele Schüler – zweifellos angeregt durch den dortigen Reichtum populärkultureller Erzeugnisse, der immer wieder nach Europa schwappt – ein besonderes Interesse haben. Der Wahn des Gold- und Kupferrausches, Präsident Roosevelt, hoffnungsvolle Einwanderer – sie alle finden im Comic ihren Platz. Letzteres Thema ließe sich sogar im Kercurriculum des Faches Geschichte verordnen (»Migration in der Geschichte«2189). Auch Themen wie beispielsweise die Geschichte der Elektrizität oder der Imperialismus werden berührt und regen zu Exkursen an. Es ist, das ist unbestritten, ein sehr lehrreicher Comic – vor allem, da sich Don Rosa wie sein Vorbild Carl Barks fast immer sogar in nebensächlichen Details an historische Fakten hält.2190 Durch die Erwähnung realer Namen und Orte wird man zudem zu eigener Recherche angeregt (heute dank Smartphone und Tablet in Sekundenschnelle möglich), was nicht nur aus einem konstruktivistischen Blickwinkel vorteilhaft ist, sondern auch zu weiteren Lerneffekten führen kann. Es ist außerdem gut vorstellbar, Don Rosas Sein Leben, seine Milliarden in Kooperation mit dem Ethik- bzw. Philosophieunterricht oder mit dem Fach ›Werte und Normen‹ zu erschließen, der sich mit seinem Interesse an den »Grundfragen menschlicher Lebensführung« offen für ein Werk zeigen könnte, das zutiefst mit der Frage nach dem guten Leben ringt.2191 Am Ende der achten Klassenstufe sollen sich die Lernenden in Niedersachsen tatsächlich auch mit dem konstruktiven Umgang mit (Lebens-)Krisen auseinandergesetzt haben, während in der Klassenstufe 9/10 die Entwicklung und Gestaltung von Identität auf dem Plan steht.2192 Schülerinnen aus dem Fach Philosophie könnten außerdem davon profitieren, wenn ihre Mitschüler aus dem Fach Religion ihnen die einzelnen Wurzeln der von Don Rosa eingesetzten religiösen Anspielungen auseinandersetzen (etwa in Kapitel V) oder auch kooperativ recherchiert wird. Denn auch der Werte und Normen-Unterricht erkennt an, dass die Beschäftigung mit religiösen und weltanschaulichen Aspekten und mit den Fragen nach Ewigkeit, Endlichkeit und Jenseits ein Bedürfnis vieler Schüler ist, die auch Orientierung in Bezug auf Sinn- und Deutungsangebote der Alltagswelt benö-

2188 2189 2190 2191

Vgl. Don Rosa, 2008, S. 75. Niedersächsisches Kultusministerium, 2015, S. 27. Don Rosa, 2008, S. 7. Schilling, 2018, 15f., 22. Aus persönlicher Erfahrung kann ich berichten, dass sich der Comic auch für einen Mischkurs aus Religions- bzw. Philosophieschülern eignet, wie ich ihn in Folge von Umstrukturierungsprozessen während der Coronakrise unterrichten musste. 2192 Vgl. Niedersächsisches Kulturministerium, 2017, S. 11.

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tigen.2193 Das größere Thema ›Sinn‹ kann dann zum Beispiel gemeinsam mit Philosophie- und Religionsschülern, wenn auch aus unterschiedlicher Perspektive, bearbeitet werden, wobei auch persönliche, voneinander abweichende Deutungen der Wirklichkeit zur Sprache kommen sollten. Eine Kooperation mit dem Fach bietet sich auch dann an, wenn es speziell um ethische Aspekte in Dagoberts Biographie gehen soll. In Zeiten, in denen es (nicht nur) in der Welt der Wirtschaft zunehmend um die effizienteste Gewinnmaximierung geht, kann die leichte Kapitalismuskritik bzw. die Kritik an dem selbstsüchtigen Geschäftsmann, zu dem Dagobert für kurze Zeit wird, nicht uninteressant sein. Tatsächlich sind die Themen ›Kapitalismus‹ und ›Profitstreben‹ sowie Fragen nach menschlicher Verantwortung in wirtschaftlichen Zusammenhängen auch lehrplanrelevant für die Mittelstufe.2194 Don Rosas Sein Leben, seine Milliarden bietet zudem einen hervorragenden Ausgangspunkt für eine Kooperation mit dem Literaturunterricht des Faches Deutsch an. Projektartiges und kooperierendes Unterrichten liegt angesichts des beschränkten Stundenkontos des Religionsunterrichtes besonders dann nahe, wenn der Comic in seiner ganzen Länge gelesen und wahrgenommen werden soll. Hier können Deutsch- und Religionsunterricht, die sich beide ohnehin durch ihre thematische Affinität für Erzählungen und deren Sinn-Zusammenhänge auszeichnen, wunderbar zusammenfinden. Etwa anhand von Voglers Heldenreisen-Modell eignet sich Sein Leben, seine Milliarden sehr gut dafür, um narrative Strukturen und Bögen oder auch das Thema ›Intertextualität‹ näher zu behandeln und sich ›modernen‹ Erzählformen zu stellen.2195 Zudem bietet das Werk zahlreiche andere Zugänge zur Literatur- und Comicerschließung an, die für den Deutschunterricht fruchtbar gemacht werden können. Im Sinne einer Leseförderung, die dem Religionsunterricht zugutekommt, aber auch vom Deutschunterricht gezielt initiiert werden sollte, bietet das Werk reichlich Anschlussmöglichkeiten (vgl. dazu auch II 3.2.5).2196 zum Beispiel durch die zahlreichen Zusatzkapitel, die in sich abgeschlossene Erzählungen darstellen und zusätzliche Episoden aus Dagoberts Leben als Lese-Impulse bereithalten. Sie können als didaktische Reserve dienen. Dabei finden sich sowohl weitere von Spektakeln geprägte Abenteuergeschichten (zum Beispiel Der Cowboy-Käpt’n der Cutty Sark2197) als auch Geschichten, die mehr Einblick in Dagoberts einzige große Liebesgeschichte bieten (wie Die Gefangene am White Agony

2193 2194 2195 2196 2197

Vgl. ebd., S. 17. Vgl. ebd., S. 30. Vgl. Niedersächsisches Kulturministerium, 2006, S. 25. Vgl. ebd., S. 110. Don Rosa, 2014 (a).

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Creek2198) oder größeren Anschluss an die ›Gegenwart‹ haben (wie Zehnerjagd zwischen den Zeiten2199). Natürlich würden sich auch ausgewählte Geschichten von Carl Barks anbieten, zu denen Bezüge bestehen (wie Die Mutprobe2200), alle anderen Werke von Don Rosa oder auch die ausführlichen Kommentare zu seinen Comics. Diese Comics muss man nicht ausführlich im Unterricht besprechen. Es sollte völlig reichen, wenn sie in der Schulbibliothek zur Verfügung stehen. Im Bereich der ›klassischen‹ Literatur kann man Interessierten im Anschluss an die Lektüre altersgemäße Abenteuer- oder Westernkurzgeschichten genauso wie andere Biographien zu Verfügung stellen, um ihre Lesemotivation aufrechtzuerhalten und weiter auszubauen. Transmediale Beschäftigung mit dem Werk In Kooperation mit dem Musik- oder Englischunterricht, aber auch schlicht, um die Angebotsvielfalt in Bezug auf Medien, Zugängen und Methoden im Fach Religion zu erhöhen, bietet sich in Bezug auf Don Rosas Sein Leben, seine Milliarden die Chance, auch ein Musikalbum in den Unterricht einzubringen, das von der Erzählung inspiriert wurde. ›The Life and Times of Scrooge‹2201 ist das einzige Solo-Album und Spätwerk des finnischen Künstlers Tuomas Holopainen, Hauptsongwriter und Gründungsmitglied der Band Nightwish. Das Genre ließe sich wohl am ehesten dem Symphonic-Metal zuordnen, wobei Holopainen sich selbst keine Grenzen gesetzt hat, um im Stilmix auch die Musik unterschiedlicher Kontinente und Länder einzufangen. Durch den Einsatz von Symphonieorchester und Chören wird man stilistisch stark an dramatische und emotionale Filmmusik erinnert, was auch Don Rosas Affinität dem cineastischen Medium gegenüber gut entspricht. Bei Erscheinen im Jahr 2014 belegte das Album neun Wochen lang Platz eins der Charts in Finnland, wo Don Rosas Opus generell mehr Anerkennung gefunden hat als in Deutschland. Entstanden ist hier ein vielschichtiges Album mit großer emotionaler Dichte, dessen Musik viel Raum für traurige oder zumindest nachdenkliche Untertöne schafft und gerade die dramatischen Stellen der Erzählung gut einfängt. Die zehn Titel des Albums orientieren sich chronologisch an Dagoberts Lebensgeschichte und lassen sich auch unterschiedlichen Kapiteln in etwa zuordnen, wobei sie sich aber immer wieder auf einzelne Stellen konzentrieren. Als Einstieg kann etwa der erste Titel, ›Glasgow 1877‹, dienen der Emotionen und Bilder heraufbeschwören kann. Man bedenke, dass Phantasie und Motivation oft in einem Zusammenhang 2198 2199 2200 2201

Don Rosa, 2014 (d). Don Rosa, 2014 (e). Barks; Fuchs, 2010. Zu finden auf gängigen Musik-Streaming-Plattformen wie Spotify, Amazon Musik, YouTube und als CD.

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stehen. Teilweise bestehen die Tracks nur aus Instrumentalmusik, die Stimmungen wie die Elegie von Erinnerungen oder den harten Kampf ums Überleben am Klondike zum Ausdruck bringen, es aber auch verstehen, bestimmten Schlüsselstellen der Erzählung, die im Comic manchmal nur wenige Panels umfassen, musikalisch Ausdruck zu verleihen. Aus der Perspektive dieser Arbeit sind dabei die folgenden Titel besonders hervorzuheben, weil sie sich auf religionspädagogisch anschlussfähige Themen beziehen: – Duel and Cloudscapes: Bezieht sich auf Kapitel V und Dagoberts Nahtoderfahrung – Dreamtime: Bezieht sich auf Kapitel VII und fängt unter anderem mit dem Didgeridoo die teilweise mystische Stimmung des Kapitels ein – Goodbye, Papa: Bezieht sich auf Kapitel IX, den Abschied vom Vater und dessen Tod; fröhliche/hoffnungsvolle und traurige Elemente wechseln sich ab – To Be Rich: Bezieht sich auf Kapitel XII und fängt Stimmungen der Einsamkeit und Klage ein, nimmt aber auch mit musikalischen Elementen und mit der Textzeile ›Silent Night (Silent Years)‹ Bezug auf den verheißungsvollen Charakter des Weihnachtsfestes Wie in To Be Rich haben auch einige Texte des Albums, überwiegend in Englisch gehalten, interpretatorischen Charakter. So spielt The Last Sled zum Beispiel auf die Liebe zu Nelly an, die besonders in den Zusatzkapitels der Biographie ausgeführt wird, und gegen die sich Dagobert letzten Endes auch bewusst entscheidet, indem er andere Prioritäten setzt. Immer wieder sind einzelne Zeilen auch direkt dem Comic entnommen, wie Dagoberts Ausspruch, mit seinem Goldfund schließlich am Ende des Regenbogens angekommen zu sein. Der Leitspruch ›Fortuna Favet Fortibus‹ kann als eine Art Motto für Dagoberts Leben verstanden werden2202: Things we lost The things we could’t share (sic) Another rainbow’s end Another memory Fortuna favet fortibus Hold on to all that’s dear to you As the last sled to Dawson finally arrives.

Der vorletzte Song, A Lifetime of Adventure, scheint auf Dagoberts Biographie als Ganzes zurückzublicken und die Bilanz zu ziehen, dass der wahre Reichtum in seinem abenteuerlichen Leben und den Erinnerungen daran selbst liegt. Wieder endet der Titel mit Andeutungen von Weihnachtsmusik:

2202 Vgl. Don Rosa in Dimitropoulos, 2014.

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To be rich is To still remember To treasure your 1st dime To have a chance to say farewell […] Never cared what a fortune might buy To seek is to be rich […] Story of your life Time of solitude and strife Freedom of an open road Hope, and many miles to go Promises to keep Countless goldfields to reap To be rich is to seek. To relive a memory

Hier ließe sich zum Beispiel noch einmal unmittelbar an die Interpretation durch den Fokus ›Heldenreise‹/›Monomythos‹anschließen, um Überlegungen anzustellen, welches ›Elixier‹ Dagobert am Ende seiner Reise/seines Lebens mit nach Hause bringt.2203 Auch die verschiedenen Überlegungen des Liedtextes über wahren Reichtum können mit persönlichen Überlegungen verglichen werden.

2.3.4 Unterricht verbessern Don Rosa hat mit Sein Leben, seine Milliarden eine Biographie präsentiert – aber ebenso auch eine wunderbare Geschichte um einen fiktiven Charakter. Damit holt er Heranwachsende gekonnt in ihrer Faszination für Geschichten ab.2204 Spannung, Humor, ein nahbarer Protagonist, zu dem die Schüler meistens schon einen Bezug aus ihrer alltäglichen Lebenswelt haben könnten: All dies sind Faktoren, die ansprechen und die auf emotionaler Ebene unmittelbar auf ihr Motivationslevel wirken können. In allen Kapiteln finden sich Dialoge, Passagen und Episoden voller Komik. Dem Humor, der seinen festen Platz im Werk hat, sollte deshalb bewusst Raum im Klassenzimmer gestattet werden, um dessen positive Effekte für das Unterrichtsklima zu aktivieren: Schließlich kann Lachen und Heiterkeit im Unterricht zum Beispiel dysfunktionale Leistungsangst abbauen, das Lehrer-Schüler-Verhältnis verbessern, Spannungen lösen, Langeweile verringern und so den Transfer von Informationen erleichtern (vgl. dazu II3.1.3).2205

2203 Vgl. Vogler, 2010. 2204 Vgl. Naurath, 2005, S. 291. 2205 Vgl. Helmke, 2009, 225, 232–234; Duncan, 1982, 139f.

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Don Rosas Sein Leben, seine Milliarden ist zudem voller abenteuerlicher und spannungsgeladener Passagen. Das ist aus einem motivationspsychologischen Standpunkt vorteilhaft, weil der Unterhaltungswert des Comics die Aufmerksamkeit der Lesenden bindet und sie zum Weiterlesen und ›Dranbleiben‹ motiviert – sogar wenn es darum geht, Dutzende von Seiten zu bewältigen. Auf diese Weise würden sich Religionslehrerende zum Beispiel der Verantwortung stellen, Leseförderung, von der ihre Schülerschaft so essenziell profitiert, (zumindest implizit) auch in ihrem Unterricht zu betreiben. Insgesamt greift hier, worauf pädagogische Stimmen wie die Carys in der Comicdidaktik setzen, sofern sie mit authentischen Werken der Populärkultur agieren: »Another big reason students may have lower affective filters while doing comics activities is because of the inherent entertainment value for comics – the ›fun factor‹.«2206 Tatsächlich gehört Langeweile zu den größten ›Motivationskillern‹, der nicht nur in einem konstruktivistisch-ausgerichteten Unterricht unbedingt vermieden werden sollte.2207 Im Auftrag der Religionspädagogik ist es dann sinnvoll, einzelne Passagen aus dem Abenteuergeschehen herauszugreifen und gezielt näher zu beleuchten, getreu dem religionsdidaktischen Motto non multa sed multum. Nicht zu unterschätzen ist zudem die ansprechende Ästhetik des Comics: Im Lernen durch Bilder kann eine ansprechende Farbgebung, wie sie hier der Fall ist, Aufmerksamkeit, Motivation und Gedächtnisleistung erhöhen.2208 Sich an den Interessen der Lernenden zu orientieren, auch was deren Unterhaltungsbedürfnisse in Sachen Humor und Spannung oder ästhetische Präferenzen betrifft, entspricht einer Schülerorientierung im besten Sinne. Dennoch kann man nur im Einzelfall entscheiden, inwiefern der Comic an die unmittelbare Lebens- und Erfahrungswelt der Gruppe anschließt: Obwohl möglicherweise nur wenige Bekanntschaft mit dem Zeichner und vor allem seinem Hauptwerk gemacht haben – das letzte Kapitel ist 1994 erschienen und wird in der kurzlebigen Magazinwelt nur selten wieder aufgegriffen; zusätzlich hat sich der Künstler vor Kurzem in Gänze zur Ruhe gesetzt – sollten die meisten Jugendlichen in Grundzügen mit der Figurenwelt vertraut sein.2209 Erfahrungswissen, aber auch harte Verkaufszahlen zeigen, dass Comics um Dagobert und seine Neffen für Kinder und Jugendliche Bedeutung in ihrer Lebens- und Medienwelt haben 2206 2207 2208 2209

2004, S. 13. Vgl. Pintrich; Schunk, 1996, 279f. Vgl. Pettersson, 2008; Röhr-Sendlmeier; Kubat; Käser, 2012, S. 120. Wenn nicht aus Comics, dann zum Beispiel durch die 2017 (erneut) aufgelegte Serie DuckTales im Disney Channel, die Geschichten um Onkel Dagobert, Tick, Trick und Track zeigt und auf außergewöhnlich gute Einschaltquoten verweisen kann (vgl. bspw. http:// www.quotenmeter.de/n/93961/3-quotengeheimnisse-charts-und-ducktales-sorgen-fuer-b egeisterung).

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(vgl. I 2.5). Es sind beliebte Charaktere für Heranwachsende, sodass auch in der Adoleszenz noch überwiegend positive Assoziationen zu Dagobert und seinen Comics bestehen können. Letztere werden meistens mit ungezwungenem, freudigen Lesegenuss in Verbindung gebracht – Attribute, die man sich im schulischen Kontext nur wünschen kann. Sein Leben, seine Milliarden bricht in dieser Hinsicht mit keinen Erwartungen: Es ist leserfreundlich konzipiert und sollte bei ausreichenden Deutsch- und Comickenntnissen Schüler der Mittelstufe in der Lektüre nicht überfordern, was sehr wichtig für deren Motivationslevel ist.2210 Auch der Zeichenstil (obwohl Don Rosa unbestritten seine Eigenarten hat) und die Erzählweise ist vielen durch andere Disneycomics im ähnlichen Stil vertraut und wird deshalb tendenziell auch begrüßt werden. In diesem Punkt ist die Schülerorientierung am stärksten. Wichtig ist aber sicherzustellen, dass die Schülerinnen nicht gleich von der Form auf den Inhalt schließen! Wenn sie die Lektüre (und die dazugehörige Unterrichtseinheit) in ihrem Anspruchsgrad von vornherein unterschätzen, kann das verheerende Folgen für die Lerneffekte haben. Wie sich beispielsweise im kunstorientierten Religionsunterricht gezeigt hat, zeigen sich Schüler, die den Anspruch eines Gegenstandes verkennen, von Anfang an nur geringfügig kognitiv aktiviert2211, erwarten sie doch keinen großen Ertrag vom Unterricht und bemühen sich deshalb wahrscheinlich nur halbherzig.2212 Fühlen sich Schülerinnen von der Lehrkraft nicht in ihrer Reife anerkannt oder gar herabgesetzt, weil sie die ihnen ›zugemutete‹ Bildsprache als zu naiv wahrnehmen, werden sie dem Inhalt keine hohe Verarbeitungsintensität bzw. Konzentration schenken, die es ihnen ermöglichen würde, neues komplexes Wissen zu konstruieren.2213 Das Maß an Vertrautheit mit Disneycomics, das in vielen Klassen vorherrschen sollte, kann aber auch exzellent genutzt werden, um mit den Erwartungen der Lernenden zu brechen: Zum Beispiel durch Don Rosas Zeichenstil, der sich von dem seiner Kollegenschaft merklich abhebt, durch die ungewöhnliche Länge des Werkes, durch die Kommentierung aller Geschichten, durch den ungewöhnlichen Ernst einiger Passagen und vieles mehr. In den Worten der Motivationstheoretiker Pintrich und Schunk: »Incorpocate surprise and incongruity into classroom activities.«2214 Eine Motivationssteigerung kann die Folge sein. Andererseits wäre es naiv davon auszugehen, dass ein Comic nur, weil er sich um Dagobert Duck dreht, automatisch an die reelle Lebenswelt der heutigen Schülerschaft anschließt. So haben sich viele, wenn der Comic beispielsweise in der neunten Klasse eingesetzt wird, von dieser Figurenwelt schon leicht abgewandt, 2210 2211 2212 2213 2214

Vgl. Pintrich; Schunk, 1996, S. 279. Vgl. Gärtner, 2015, S. 270. Vgl. ebd., 270, 273. Vgl. Oechslin; Keller, 2013, S. 15. 1996, 279f.

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interessieren sich nun stärker für digitale Medien oder andere (komplexere) Comics. Gerade Mangareihen können heute näher an der Lebenswelt Jugendlicher liegen als entenbezogene Publikationen wie das LTB (vgl. I 2.5 und II 3.1.2). Dazu kommt ein ernstzunehmendes Problem, das auch heterogenitätstheoretische Gesichtspunkte berührt: Bedenkt man, dass die größten deutschen Publikationen um die Familie Duck hierzulande nur zwischen 28 und 31 % weibliche Leserschaft vorweisen können2215 – und Mädchen greifen ohnehin seltener zu Comics! – dann liegt Sein Leben, seine Milliarden wesentlich näher an der Lebens- und Alltagswelt der Jungen als an der Alltagswelt der Mädchen. Auch im Werk selbst sind die weiblichen Figuren äußerst dürftig gestreut: Dagoberts Mutter stirbt früh und hinterlässt kaum einen bleibenden Eindruck. Alle Vorfahren, alle Feinde, alle Mentoren, alle Freunde sind männlich. Die Schwestern bereichern als Charaktere die Erzählung zwar deutlich, jedoch spielen sie in vielen Kapiteln keine Rolle. Weil die Erzählung so eng um Dagobert kreist, wird aus Mathildes und Dortels Leben fast ausschließlich der Ausschnitt gezeigt, der für Dagoberts Lebensweg eine unmittelbare Rolle spielt. Viele Aspekte ihrer Frauenbiographien verbleiben im Dunkeln. Gleiches gilt für die Figur der Nelly, die in Sein Leben, seine Milliarden kaum Auftritte hat und als Dagoberts große Liebe deshalb umso geheimnisvoller erscheint, obwohl Don Rosa sie tatsächlich als »die bei Weitem wichtigste Figur in Dagoberts Lebensgeschichte« beschrieben hat2216. Das alles hat Einfluss auf den Grad der Schülerorientierung und damit auch auf die Motivation von heranwachsenden Mädchen! Dieser Punkt muss deshalb unbedingt abgewogen werden. Ein Hoffnungspunkt ist die relativ große Cartoonhaftigkeit der Figuren im Comic, die nach McCloud die Identifikationsmöglichkeiten insgesamt erhöhen, was auch Mädchen helfen könnte, sich mit dem männlichen Helden besser zu identifizieren. Dazu kommt der typische Disney-Stil, der im Kontext der Familie recht asexualisierte Figuren, zum Beispiel ohne ausgeprägte sekundäre Geschlechtsmerkmale, hervorbringt. Der optische Unterschied zwischen männlichen und weiblichen Figuren ist relativ gering, was zumindest auf der visuellen Ebene die Dominanz der männlichen Charaktere erst einmal leicht verschleiert. Festzuhalten gilt: Die Figur des Onkel Dagobert wird gerade am Anfang Interesse wecken. Wer noch Duck-Comics liest oder positive (Kindheits-)Assoziationen hat, könnte von sich aus strukturorientiertes Interesse aufweisen. Denn wer die Figur mag, zeigt in der Regel auch die Bereitschaft, sprich: ein gewisses Interesse, sich mit ihr auseinanderzusetzen (zur Erinnerung: Schunk, Meece et al. erklären, Interesse »refers to the liking and willful engagement in an activity«2217). 2215 Vgl. Egmont Media Solutions, 2013, unpag. 2216 2008, S. 379. 2217 2014, S. 212.

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Prozessorientiertes Interesse am Protagonisten ist zu entzünden, indem man zum Beispiel die bekannte Figur, bildlich dargestellt in Geld badend, aus einem neuen, kontrastierenden Blickwinkel darstellt, zum Beispiel als armen Schuhputzer2218. Im Laufe der Lektüre gilt es jedoch, sich auch immer wieder an den möglichen (unausgesprochenen) Anfragen der weiblichen Schülerinnen zu orientieren, um ihr Interesse zu erhalten und einer Demotivierung aufgrund fehlender weiblicher Identifikationsfiguren in der Lektüre vorzubeugen. Eventuell ist es sinnvoll, Zusatzkapitel von Don Rosa einzusetzen, die auch den weiblichen Figuren, die Dagoberts Leben so entscheidend mitgeprägt haben, schon eher den Raum einräumen, den sie möglicherweise verdienen; zum Beispiel mit Der Jaguargott von Culebra2219. In diesem Comic treiben die Schwestern recht gleichberechtigt mit Dagobert die Handlung voran. Auch Die Gefangene am White Agony Creek2220 bezieht sich bereits im Titel nicht auf Dagobert, sondern stattdessen auf Nelly.

2218 Vgl. dazu auch ebd., S. 215. 2219 Don Rosa, 2014 (b). 2220 Don Rosa, 2014 (d).

Fazit – Zwölf Thesen für Comics in Schule und Religionsunterricht

Die Erwartungen der Foschung haben sich in vielfacher Hinsicht bestätigt: Comis sind im Einsatz für die Schuldidaktik und für den Religionsunterricht ein wertvolles Instrument, mit dessen Hilfe die Unterrichtsqualität in vielen Bereichen gesteigert werden kann, um Lernprozesse effektiver und nachhaltiger zu gestalten. Zudem können sie von Nutzen sein, um gezielt fachbezogene Kompetenzen und Schlüsselkompetenzen bei Lernenden aufzubauen. Und schließlich lassen sich Comics dafür einsetzen, um in der Lerngruppe Heterogenität und Vielfalt gezielt zu adressieren und so einen inklusiveren Unterricht zu verfolgen, der Schülerinnen und Schüler mit vielfältigen Begabungen, Bedürfnissen und Interessen anspricht. Diese drei Punkte beantworten die einleitenden Fragestellungen dieser Arbeit und die zentralen Ergebnisse möchte ich im Folgenden auf zwölf Thesen zugespitzt zusammenfassen. These I: Die derzeit größten Hürden im comicgestützten Unterrichten sind die geringe Fachkompetenz vieler Lehrender sowie Schwierigkeiten, die sich aus der fehlenden Verfügbarkeit von Comic ergeben. Hier sind unter anderem die Expertinnen, Schulen und Schulbuchverlage gefordert. Für die Bereitstellung von Comics im Unterricht lassen sich zwei zentrale Probleme identifizieren, für die ich allerdings auch gute Lösungswege sehe: 1) Längere, in sich abgeschlossene, hochwertig produzierte Comics, wie sie von Künstlerinnen heute gern geschaffen werden, sind oft relativ teuer. Viele Familien möchte man durch ihre Anschaffung nicht belasten. Auch sind sie (durch Schulkopierer) teilweise nur schlecht zu vervielfältigen, davon abgesehen, dass dies nicht im Sinne des Erfinders ist. Hier müssen Schulen möglicherweise den Mut beweisen, sich einen Fundus von Comics in Klassensätzen zuzulegen – optimalerweise solche Comics, die gleich in mehreren Fächern und Klassenstufen eingesetzt werden können – und ihren Lehrkräfte

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im Bereich der comicgestützten Arbeit Perspektiven zu eröffnen. Auch Digitalisate können für Tablet-Klassen eine Lösung darstellen. 2) Zurzeit sind noch nicht genügend Sach-/Infocomics zu konkreten (religionsbezogenen) Schulthemen leicht verfügbar. Wenn doch, liegen sie häufig nicht in deutscher Sprache vor oder sind (künstlerisch oder fachlich) nicht besonders gut. Das Fehlen einer zentrale Datenbank für Infocomics im deutschsprachigen Raum erschwert die Suche. Lehrerinnen und Lehrer fühlen sich aber nur selten motiviert und dazu in der Lage, solche Medien im Alleingang zu produzieren. Schulbuchverlage könnten auf dieses Problem reagieren – allerdings unbedingt in Kooperation mit erfahrenen ComicKünstlern, die das Potenzial des Mediums tatsächlich auszuschöpfen wissen. Dies würde die Comicdidaktik entschieden weiterbringen. Durch die produktive Zusammenarbeit von Verlagen, Didaktikern und Comicforscherinnen könnten auch gute comicdidaktische Unterrichtseinheiten entstehen. Denn die geringe Fachkompetenz vieler Lehrender ist ein unbestreitbares Hindernis. Sie kann dazu führen, dass ungeeignete Comics im Unterricht eingesetzt werden oder auch die ›richtigen‹ Comics bei Schülern wegen ungelenker Didaktik in allgemeiner Demotivation münden, dass Lernprozesse eher behindert als gefördert und Schülerinnen von der Comiclektüre in ihrer Freizeit abgeschreckt werden. Diese Problematik, einschließlich klarer Bildungsdesiderate für Lehrende, bedürfte dringend eigener Forschung. These II: Comics sind ein fester Teil der Lebenswelt von Kinder und Jugendlichen. Dass sich die Ausarbeitung besserer comicdidaktischer Konzepte lohnen könnte, wird dadurch gestützt, dass Comics auch durch digitale Medien nicht aus den Kinderzimmern verbannt worden sind und oft gerade von Jungen bis ins Jugendalter gelesen werden. Diese Einsicht ist das Ergebnis einer Sichtung verschiedener Studien und Marktzahlen, um einen Überblick über die Comicrezeptionslage in Deutschland zu schaffen. Obwohl Webcomics immer wichtiger werden, hält sich auch die Printversion des Mediums beharrlich, denn sie bietet für den Lesegenuss einige Vorteile. Besonders Manga im Stile japanischer Comics haben eine wachsende Fangemeinde, aber auch inter- und multimedial vermarktete und konzipierte Comics sowie Publikationen aus dem Hause Disney sind bei Heranwachsenden beliebt. Sogenannte Graphic Novels, die weltweit auf dem Vormarsch sind, spielen auch in Deutschland eine immer größere Rolle, richten sich durch Inhalte, Gestaltung und Vermarktung jedoch noch in großer Zahl an Erwachsene, sodass sich Schülern wenig Berührungsfläche selbst mit geeigneten Werken bietet. Eine Schlüssel-

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position, um dies zu ändern, haben Lehrerinnen und Schulbibliothekarinnen inne. (Vergleiche: I 2.5/I 2.6/II 3.1.2/II 3.1.3/II 3.2.1/II 3.3.1) These III: Kompetente comicgestützte Arbeit in der Schule erhöht die allgemeine Unterrichtsprozessqualität (vgl. näher auch These IV, V, VI und XII). Die Arbeit mit Comics kann auf anerkannte Faktoren der Unterrichtsqualität positiv wirken und damit Lehr-Lern-Prozesse direkt oder indirekt verbessern. Hier wurden mehrere konkrete Wirkfelder vorgeschlagen und mittels theoretischer Forschung sowie interdisziplinärer Analyse empirischer Untersuchungen aus dem pädagogisch-didaktischem Bereich auf ihre Eignung geprüft. Dadurch haben sich sehr vielfältige Faktoren ergeben, die durch comicdidaktische Zugänge positiv beeinflusst werden können: Die Informationsaufnahme der Schülerinnen erleichtert sich durch Wirkfelder wie die gesteigerte kognitive Aktivierung, erhöhte Motivation und die Schüler- und Lebensweltorientierung, die durch das Medium initiiert werden. Comics lassen sich außerdem für das Anliegen der Kompetenz- und Schlüsselkompetenzorientierung, für den proaktiven Umgang mit Heterogenität und die Erhöhung der Angebotsvielfalt nutzen. Dabei liegt sowohl der Rezeption als auch der Produktion von Comics ein spezifisches Potenzial inne. Wichtig ist, nie die Lerngruppe aus den Augen zu verlieren, weil nicht alle Schüler Comics als Unterrichtsmedium schätzen und nicht jeder Comic die Lerngruppe im gleichen Maße ansprechen wird. Zudem entfaltet die Arbeit mit Comics erst dann ihre vollen Möglichkeiten, wenn die Lehrkraft das Potenzial des Mediums (mit allen Eigenarten) auszuschöpfen weiß und Fallstricke vermeidet. Zusätzlich ist zu beachten, dass nicht jeder Gegenstand gleich gut dafür geeeignet ist, mit Hilfe kreativer Aufgabenformen in Schülercomics verarbeitet zu werden. (Vergleiche: I 2.1–2.4/II 3.1–3.3/III 2.2/IV 1.3.4/IV 2.3.4) These IV: Comiclesen regt außergewöhnlich stark konstruktivistische Prozesse im Gehirn an. Die semiotische, multimodale Sprache des Comics ist komplex, wirkt synästhetisch und kann durch comicwissenschaftliche Zugänge immer wieder neu gedeutet werden. Obwohl es sich oft mühelos anfühlt, wird das Arbeitsgedächtnis des Gehirns bei der Comicrezeption erheblich gefordert: Mehrere Ebenen und Zeichensysteme müssen miteinander in Einklang gebracht werden, um dem Dargestellten den vollen Sinn zu entnehmen und die eigene Imaginations- und Induktionsfähigkeit ist gefordert, um etwa Lücken im bildlichen Handlungsablauf zu schließen. Comics können deshalb nicht ohne einen erheblichen kogni-

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tiven Aktivierungsgrad rezipiert werden. Dies könnte der Grund dafür sein, warum sich die Erinnerungsleistung deutlich erhöht, sobald Schüler neue Inhalte in Comicform präsentiert bekommen, denn darauf weisen mehrere Studien hin. Indem ich Erkenntnisse und Theorien aus der Lern- und Instruktionspsychologie sowie der theoretischen Comicwissenschaft herangezogen habe, konnte ich dafür Erklärungsansätze liefern und komme zu dem Schluss, dass der Comic als Instruktionsmedium deutlich stärker wertgeschätzt sowie mutiger und entschlossener eingesetzt werden sollte. (Vergleiche: I 2.2-I 2.4/II 3.3) These V: Der Einsatz von Comics kann die Motivation in Unterrichtsprozessen erhöhen. Es gibt viele, zum Teil empirische Hinweise darauf, dass Comics im Unterricht die Lernmotivation der Schüler steigern können, ohne dass es zu Mehraufwand für die Lehrkraft kommt. Comics können aber auch spezifische Werkzeuge sein, um die Motivation an bestimmten Stellen einer Lerneinheit oder Stunde zu stärken. Ich habe untersucht, in welcher Hinsicht und auf welche Weise die korrelierenden Dimensionen des lernförderlichen Klimas in der Lerngruppe, der Lernmotivation und der Schülerorientierung durch gezielte comicgestützte Zugänge verbessert werden können. Gerade wenn das Medium sonst selten zum Einsatz kommt, erhöht sich potenziell das Interesse und damit die Aufnahmebereitschaft der Lernenden. Das gilt vor allem dann, wenn Comics eingesetzt werden, die nicht direkt für die Schule konzipiert sind, sondern authentische Erzeugnisse der Populärkultur darstellen. Comics können und sollten außerdem genutzt werden, um das Moment der Schülerorientierung im Unterricht zu erhöhen: Entweder, indem Schülerinnen durch das Medium eine größere Auswahlmöglichkeit für Erarbeitungswege bereitgestellt wird oder indem man Comics nutzt, um direkt an die Interessen und Lebenswelt Heranwachsender anzuknüpfen. Auf diesen Wegen sowie durch die Leichtigkeit und den Humor, den manche Comics in den Unterricht bringen, kann die Comicdidaktik auch zu einem lernfreundlichen Klima beitragen. (Vergleiche II 3.1–3.1.3/II 3.2.2/III 4.2.1) These VI: Comics können genutzt werden, um neue Lernwege zu öffnen und die Angebotsvielfalt im Unterricht zu erhöhen. Die Einbindung von Comics erweitert nicht nur die Medienvielfalt im Unterricht. Wer sich auf das spezifische Potenzial der Comicdidaktik einlässt, bietet Kindern und Jugendlichen neue Möglichkeiten, um ganzheitlicher zu lernen: Auf narrativen Wegen, durch Bilder, Texte, Farben und Formen, mithilfe multimodaler Konstruktionen und in anspruchsvollen semiotischen Zusammenhängen. Die

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Comicdidaktik lädt zudem zu produktiven, handlungs- und produktionsorientierten Methoden ein, Comics regen die Phantasie an und bieten auch eine Brücke für Arten des fachtranszendierenden Unterrichts. Deshalb kann die pädagogische Arbeit mit Comics den Horizont für Interessen und Neigungen jenseits alltäglicher Bildungsziele öffnen, indem zum Beispiel mehr Raum für Kreativität im Religionsunterricht geschaffen wird. Comics sprechen vielfältige Begabungen und individuelle Lernstilpräferenzen an und bieten darum manchmal auch entmutigten Kindern und Jugendlichen die Chance, sich wieder in den Unterricht einzubringen. Die vielen Ausprägungen des comicgestützten Unterrichtens eignen sich zudem sowohl für individualisierende als auch für kooperative Arrangements. Dies sind Lernformen, die sich im besonderen Maße dafür eignen, Heterogenität konstruktiv-wertschätzend zu begegnen. (Vgl. II 3.2.2/II 4.1–4.3/III 3.2/III 4.2.3) These VII: Comics können den Erwerb bestimmter Schlüsselkompetenzen fördern. Comics können durch ihre mediale Machart bestimmte bereichsübergreifende Kompetenzen stärken, die Schlüsselpositionen in der Bildung einnehmen. Manche dieser Fertigkeiten ergeben sich durch die regelmäßige, auch ungesteuerte Lektüre, zum Beispiel die gesteigerte Comicrezeptions- und Lesekompetenz in all ihren Facetten sowie das Sprachvermögen, etwa bezüglich des Wortschatzes, auch im Bereich von Fremd- und Zweitsprachen. Andere Kompetenzbereiche entfalten sich vor allem dann, wenn die Lehrkraft gezielt comicdidaktisch darauf hinarbeitet, zum Beispiel die Visual Literacy (allgemein sowie für spezifisch religionspädagogische Anliegen). Dazu kommen all jene Kompetenzen, die sich durch handlungs- und produktionsorientierte Anschlussarbeit und das Kreieren eigener Werke ergeben: Comics bieten eine außergewöhnlich gute Grundlage für dieses Methodenspektrum und können so dazu beitragen, schöpferisches Denken, Kreativität, Gestaltungsfähigkeit, Imaginationsvermögen, literarische Bildung, Lesemotivation und Selbstbewusstsein zu formen. Einige dieser Aspekte sind bereits in Studien nachgewiesen worden (Fremdsprachen, Lesekompetenz u. a.), andere werden hier als Thesen von mir zur Disposition gestellt. (Vergleiche II 3.2.1–3.2.6/III 3.1)

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These VIII: Comicanalysen haben zu Recht einen Platz in der kulturhermeneutisch-orientierten Praktischen Theologie. Zeitgenössische Comicwerke, als wichtiger Teil der Populärkultur, binden theologische Anspielungen teilweise spielerisch, teilweise verfremdend und teilweise mit viel Ernst in ihre Narrationen ein: Manchmal auf der Oberflächenebene sichtbar, manchmal in Form einer Tiefenstruktur. Das Superheldengenre ist dafür sehr repräsentativ, jedoch lohnt sich auch die Bearbeitung anderer Einzelwerke. Sie erzählen Geschichten, die teilweise große Bedeutung für heutige Menschen erlangen können, denn religiöse Sozialisation ist heute oftmals ein Geschehen, das für Heranwachsende in und mit der Medienwelt stattfindet. All dies könnte als Common Sense in der Praktischen Theologie und Religionspädagogik betrachtet werden. Die Relevanz von Comics in der täglichen Medienwelt Heranwachsender wird aber m. E. immer noch unterschätzt (vgl. auch These II). Man kann dazu ermutigen, religionspädagogische Forschungen in diesem Bereich zu vertiefen, da sich aus der Populärkultur zum Beispiel Anstöße für die genderorientierte Arbeit im Religionsunterricht ergeben könnten. (Vergleiche II 3.1.2/III 2.1–2.2/III 4.2.1/III 4.2.3) These IX: Comics können für den Kompetenzerwerb im Religionsunterricht fruchtbar gemacht werden. Viele Comics, seien es ›Graphic Novels‹, Comicreihen oder kurze Sachcomics, beziehen sich auf zentrale Themen der religionsfachlichen Bildungsanforderungen. Besonders für die Themen Gott, (Welt-)Religionen und Ethik lassen sich meinen Studien nach viele exemplarische Werke finden. Narrative Comics kommen dabei der menschlichen Affinität für Geschichten entgegen, machen das Berichtete einprägsamer und helfen, neue kognitive Entwicklungsstufen zu erschließen. Comics und Elemente der Comickultur können aber auch hervorragend für den Erwerb prozessbezogener Kompetenzen genutzt werden: So wird die Wahrnehmungskompetenz geschult, wenn die religiöse Tiefenstruktur von Werken oder auch darin enthaltene religiöse Motive als solche wahrgenommen werden, die es dann mithilfe von Deutungskompetenz auch zu lesen und zu bewerten gilt. Die Eigenproduktion von Comics kann die Gestaltungskompetenz erweitern, indem die Kommunikation und der Ausdruck in einem neuen Medium eingeübt werden. Und auch die Dialogkompetenz im Rahmen interreligiösen Lernens wird gestärkt, wenn Zeugnisse von Menschen anderer Religionen und Herkunft in Comicform erschlossen werden. Mithilfe eines spezifischen Zeichenstils erleichtern viele Comics zudem die Identifikation mit ihren Figuren, was den Aufbau von Empathiefähigkeit stützen könnte. Nicht zuletzt sollte an Comics auch die Urteilskompetenz geschult werden, etwa in Bezug auf Reprä-

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sentationen des Göttlichen oder auf verzerrte, einseitige oder stereotype Darstellungen von Glauben und Religion. (Vergleiche I 2.2–2.5/III 3.1–3.3) These X: Der Trend zu biographischem Erzählen in zeitgenössischen Comics ist ein Schatz für die Religionspädagogik. In der relativ jungen Form der ›Graphic Novels‹ hat sich ein Trend für das Genre der Graphic Memoire und der Comicbiographie etabliert. Es gibt verschiedene, interessante und plausible Theorien dazu, warum ausgerechnet der Comic zunehmend als Erinnerungsmedium für individuelle und gesellschaftliche Geschichte genutzt wird, denn oftmals behandeln die Erzählungen sowohl gesellschaftspolitisch oder historisch relevante Themen als auch persönliche oder kulturelle Traumata. Comicschaffende verhandeln dabei besonders gerne alternative und nicht-alltägliche Lebenswege. Diese Zusammenhänge sind in der Religionspädagogik bis jetzt wenig beachtet worden, obwohl geballtes Potenzial dahintersteckt: Die Auseinandersetzung mit Biographien sollte Schüler nicht nur in die Selbstreflexivität und Identitätssuche führen, sondern kann auch wertvoll für die religiöse Entwicklung sein. Narratives Lernen ist zudem besonders nachhaltig, aktiviert nicht nur kognitiv, sondern auch moralisch und emotional. (Vergleiche III 3.2 und I 2.5) These IX: Comics können helfen, der Heterogenität im Religionsunterricht im Spannungsfeld von Chance und Verantwortung zu begegnen. Aufgrund seiner theologischen Grundlagen trägt der Religionsunterricht im besonderen Maße die Verantwortung, den Blick Gruppen zu richten, die Gefahr laufen, im Fach nicht genügend gefördert zu werden. Es konnte nachgewiesen werden, dass Comics durch ihre Inhalte und durch methodische Zugänge dafür genutzt werden können, um einen größeren Kontaktpunkt zu männlich sozialisierten Jugendlichen herzustellen, die dem Religionsunterricht nachweislich distanzierter gegenüberstehen: Viele Jungen weisen nicht nur eine besondere Affinität zum Medium auf, sondern werden durch zahlreiche in Comics behandelte Themen besonders in ihren Interessen (etwa in Bezug auf das Held-Sein und Grenzerfahrungen) angesprochen. Comics sollten darum auch dazu genutzt werden, populärkulturelle Männlichkeitsrepräsentationen zu reflektieren – denn viele Jungen und Mädchen üben gerne Kritik an solche Kategorien. Die Eigenproduktion von Comics mit authentischem Ziel und Zweck hilft zudem, Jungen und Mädchen stärker in aktive, praktische Tätigkeiten mit klaren Ergebnissen im Religionsunterricht einzubinden. Sie bekommen hier auch die Möglichkeit mit Technik zu arbeiten, sich selbst darzustellen und mit anderen zu messen. Wichtig

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ist dabei eine gewisse Ergebnisoffenheit, um Jungen und Mädchen die Möglichkeit zu geben, zu experimentieren und eigenständigen Gottesbildern Ausdruck zu verleihen. Neben dieser Verantwortung steht der Religionsunterricht in Sachen Heterogenität auch vor einer besonderen Aufgaben: vielfältige Weltbilder und Glaubensrichtungen anzusprechen und Pluralitätsfähigkeit zu etablieren. So spielen muslimische Lernende auch im Evangelischen Religionsunterricht teilweise eine wichtige Rolle. Auch wenn sie ähnlich wie evangelische Schüler oft von Enttraditionalisierungsprozessen betroffen sind, handelt es sich insgesamt um eine wachsende Gruppe. In dieser Arbeit wurde dargestellt, welchen Ansprüchen Comics genügen müssen, um positiv in religiös sowie kulturell heterogenen Gruppen aufgenommen zu werden und inwiefern sie Fremdheitserfahrungen aufgreifen und abmildern können. Auch konfessionslose oder kirchendistanzierte Jugendliche können möglicherweise besonders mit authentischen Comics und deren popkulturelles Moment angesprochen werden, denn Comicschaffende spiegeln solche Denk- und Einstellungstendenzen oft sehr gut wieder. Religion wird in Comics vielfach aufgegriffen, aber auch kritisch oder mit synkretistischen Anklängen verarbeitet. Eine medienweltorientierte Religionsdidaktik hilft, sich auf die Vorstellungen und Prägungen von jungen Menschen mit wenig religiöser Bindung im traditionellen Sinne einzustellen, ihre Sinnfragen zu adressieren und ernst zu nehmen, ohne gleichzeitig dort stehen bleiben zu müssen. (Vergleiche II 3.2.4/III 3.1.2/III 4.1/III 4.2.2) These XII: Die Comicdidaktik ist eine Unterstützung in dem Anliegen, sozialen Normierungs- und Ausschlussprozessen auf pädagogischer und gesellschaftlicher Ebene entgegenzuwirken. Die Bildungsgerechtigkeit zu erhöhen und im Sinne einer wertschätzenden Pädagogik der Vielfalt zu unterrichten, sind wichtige Anliegen (nicht nur) für den Religionsunterricht. Es wurde dargestellt, wie Comics dazu beitragen können, inklusiven Unterricht zu gestalten, da sie weitgehend barrierefreien Zugang zu Wissensgebieten und Informationen bieten. Davon profitieren etwa gehörlose und motorisch beeinträchtige Schülerinnen, aber auch Heranwachsende, für die Deutsch die Zweitsprache ist. Auch Kindern mit leichten Lernbehinderungen oder einigen Teilleistungsstörungen wie Legasthenie kommen Medien entgegen, die sich nicht allein auf das Medium der Schrift stützen. Wenn stark sehbeeinträchtigte Jugendliche Teil der Lerngruppe sind, ist von Comics jedoch unbedingt abzusehen und auch bei stärkeren Beeinträchtigungen in der geistig-emotionalen Entwicklung müssen die Lernziele möglicherweise flexibel gehandhabt werden.

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Einige Studien legen zudem nahe, dass Comics schicht- und milieuübergreifend etwa gleich gerne gelesen werden. Comicbasierte Vermittlungswege könnten gerade den Lernenden helfen, die über geringere (bildungs)sprachliche und Lese-Kompetenzen verfügen, da Comics durch ihre hybride Natur hilfreiche Informationen in verschiedenen Zeichensystemen liefern. Sie können deshalb auch nachweislich dazu beitragen, geringes bereichsspezifischen Vorwissen, das besonders stark über den Lernerfolg entscheidet, auszubauen und auch Schülerinnen mit geringem kulturellen Kapital zu stärken. Comicdidaktische Ansätze können, wenn sie mit dem entsprechenden Mindset eingesetzt werden, den Unterricht darin unterstützen, bei den Lernenden selbst Wertschätzung für Vielfalt aufzubauen und hegemoniale Machtverhältnisse zu reflektieren. Viele Mainstreamcomics arbeiten auf bildlicher und narrativer Ebene mit stereotypen Figurendarstellungen, die von Kindern und Jugendlichen in ihrer Freizeit en masse weitgehend selbstständig rezipiert werden. Der Comicunterricht kann hier in eine kritische Hermeneutik überführen. Andere Comics bergen – seit der Anfängen des Mediums! – ein nicht zu unterschätzendes subversives Potenzial und handeln etwa von Lebensentwürfen, die nicht der vermeintlichen ›Norm‹ entsprechen. Diese Comics sind für die Schule deutlich interessanter. In jedem Falle profitieren Comicdidaktikerinnen davon, möglichst vielfältige Comics einzusetzen. Kinder wachsen daran, nicht nur Comics zu lesen, die von einer männlichen, weißen, westlichen und heterosexuellen Stimme verfasst wurden. Kinder brauchen Comics über Jungen, über Mädchen, über alles dazwischen. Sie brauchen Comics über Gesunde und Kranke, über Menschen mit Beeinträchtigungen, Menschen mit Stärken und Schwächen, jeder möglichen Ethnizität, jeden möglichen Glaubens. Heranwachsende brauchen Comics über Verlierer und Gewinnerinnen und über Menschen, die gesellschaftliche Erwartungen durchbrochen haben. Es gibt sie – zum Glück! – zuhauf. (Vergleiche I 2.5.1–2.6/ II 3.2.3.–3.2–5/II 4.2/III 4.1/III 4.2.4)

Danksagungen

Von ganzem Herzen danke ich meinen Prüfer_innen Bernd Schröder und Felicitas Macgilchrist von der Universität Göttingen für jeden Rat, alle Unterstützung, Kritik und auch Offenheit für mein Thema. Eine Dissertation ist nicht nur eine Zeit des Schreibens, sondern auch des Wachsens und Werdens. Es ist wunderbar, dass ich meinem eigenen Weg folgen konnte und dabei so ermutigt wurde. Danke auch an Véronique Sina, die mich von Anfang an begleitet hat und von der ich sehr viel gelernt habe sowie an Karin Schöpflin als Prüferin in der Disputation. Für seinen Zuspruch und frühe Förderung meiner Comicstudien danke ich Hans-Martin Gutmann von der Universität Hamburg. Dank meinen Göttinger Freundinnen Caroline Jäsche, Isabell Hoppe, Carlotta Israel, Friederike Böhm und Aneke Dornbusch für moralische Unterstützung, Comic-Gespräche in der Mensa und beherztes Hunde-Sittung. Dank meinen Eltern und Großeltern, die mich in jeder Hinsicht – und auch bei dieser Arbeit – mit Rat und Tat unterstützen. Ich danke ihnen auch dafür, dass Sie mir als Kind verschwiegen haben, dass Comics keine »richtigen« Bücher sind und alle Isnogud-/Dagobert-/Lucky Luke-Exzesse stoisch geduldet haben. Inzwischen wissen sie wahrscheinlich mehr über Rinnsteine und Don Rosa, als sie je erfahren wollten. Ich danke meinem Mann Konrad Otto, meinem besten Freund. Wenn man sich in der Promotionszeit ein Arbeitszimmer teilen kann, weiß man, dass es wahre Liebe ist. Und ich danke Gott für seinen Segen, der an jedem Tage neu ist. Karoline Pohl im Dezember 2021

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Abbildungsverzeichnis

Abb. 1: Scott McCloud: Comics richtig lesen. Hamburg 2001, S. 74f., 81. Abb. 2: Guy Delisle: Aufzeichnungen aus Jerusalem. Berlin 2012, S. 26. Abb. 3: Don Rosa: Onkel Dagobert – Sein Leben, seine Milliarden. Köln 2008, S. 119. (Im Original bunt.) Abb. 4: Frank Miller, Klaus Janson, Lynn Varley: The Dark Knight Returns. New York 2002, S. 12. (Im Original bunt.) Abb. 5: Barbara Yelin, Peer Meter: Gift. Berlin 2010, S. 20. Abb. 6: Guy Delisle: Shenzhen. Berlin 2010, unpag. Abb. 7: Carl Barks: Die Weihnachtsgans. In: Weihnachtsgeschichten von Carl Barks, 6–15, Berlin 2010, S. 8. (Im Original bunt.) Abb. 8: Don Rosa: Expedition nach Shambala. In: Disneys Hall of Fame Bd. 16. Köln 2011, 35–61, S. 40. (Im Original bunt.) Abb. 9: Scott McCloud: Comics richtig lesen. Hamburg 2001, S. 14. Abb. 10: Calvin and Hobbes: It’s a Magical World, London 2010, S. 155. Abb. 11: Matt Madden: 99 Ways to Tell a Story. Exercises in Style, New York 2005, S. 157, 159. Abb. 12: Alison Bechdel: Fun Home. A Family Tragicomic, Boston/New York 2006, S. 124. (Im Original dreifarbig.) Abb. 13: Don Rosa: Onkel Dagobert – Sein Leben, seine Milliarden. Köln 2008, S. 221. (Im Original bunt.) Abb. 14: Craig Thompson: Blankets. Ein illustrierter Roman. Bad Tölz 2005, S. 17. Abb. 15: Marjane Satrapi: Persepolis. Eine Kindheit im Iran und Jugendjahre, München 2011, S. 287. Abb. 16: Don Rosa: Onkel Dagobert – Sein Leben, seine Milliarden. Köln 2008, S. 105. (Im Original bunt.) Abb. 17: Riad Sattouf: The Arab of the Future. A Childhood in the Middle East, London 2016, S. 66. (Im Original dreifarbig.) Abb. 18: Matt Madden: 99 Ways to Tell a Story. Exercises in Style, New York 2005, S. 73. Abb. 19: Michael Goodwin, Dan E. Burr: Economix. Wie unsere Wirtschaft funktioniert (oder auch nicht), Berlin 2014, S. 62. Abb. 20: Moritz Stetter: Luther. Gütersloh 2013, 32. Abb. 21: Alison Bechdel: Are You my Mother? Boston 2012, S. 81. (Im Original dreifarbig) Abb. 22: Nick Sousanis: Unflattening. Cambridge 2015, S. 37.

600

Abbildungsverzeichnis

Abb. 23: Alison Bechdel: Are You my Mother? Boston 2012, S. 81. (Im Original dreifarbig.) Abb. 24: SIKU, Richard Thomas, Jeff A. Anderson: Helden der Bibel. Das Buch der Bibel als spannende Comicstory, Asslar 2016, S. 30. (Im Original bunt.) Abb. 25: Marjane Satrapi: Persepolis. Eine Kindheit im Iran und Jugendjahre, München 2011, S. 57. Abb. 26: Will Eisner: Ein Vertrag mit Gott. Mietshausgeschichten, Hamburg 2010, unpag. Abb. 27: Joann Sfar: Desmodus der Vampir geht zur Schule. Berlin 2006, S. 22. (Im Original bunt.) Abb. 28: Alison Bechdel: Are You my Mother? Boston 2012, S. 103. (Im Original dreifarbig.) Abb. 29: Marjane Satrapi: Persepolis. Eine Kindheit im Iran und Jugendjahre, München 2011, S. 10. Abb. 30: Marjane Satrapi: Persepolis. Eine Kindheit im Iran und Jugendjahre, München 2011, S. 202. Abb. 31: Don Rosa: Onkel Dagobert – Sein Leben, seine Milliarden. Köln 2008, S. 189. (Im Original bunt.) Abb. 32: Don Rosa: Onkel Dagobert – Sein Leben, seine Milliarden. Köln 2008, S. 15. (Im Original bunt.) Abb. 33: Don Rosa: Onkel Dagobert – Sein Leben, seine Milliarden. Köln 2008, S. 189. (Im Original bunt.) Abb. 34: Don Rosa: Onkel Dagobert – Sein Leben, seine Milliarden. Köln 2008, S. 243. (Im Original bunt.) Abb. 35: Don Rosa: Onkel Dagobert – Sein Leben, seine Milliarden. Köln 2008, S. 170. (Im Original bunt.)

Register

ADHS 413f., 417 Adoleszenz 86, 88, 127f., 336, 347f., 351, 374f., 445, 533, 535, 548 All-ages 84, 88 Angebotsvielfalt 14, 108, 141, 241–245, 248f., 257–260, 264, 410, 532, 541, 544, 553f. Autismus 351, 412f., 417 Beeinträchtigung 31, 34, 39, 363f., 370, 372, 410–417, 558f. Benachteiligung 26, 33f., 36f., 39, 108, 110, 134, 136, 139, 168–170, 259, 261, 266, 268, 366, 370, 373, 396–400, 414, 468, 471f., 537, 540 Bibel 25, 142, 150, 153, 176, 188f., 284–286, 290, 293, 295, 297, 302, 304, 312f., 324– 326, 334, 338, 342, 346f., 355, 364, 379– 382, 404, 406f., 507, 535 – Bibelcomics 158f., 175, 189, 281, 284– 286, 290f., 293, 324f., 329, 334, 406f. Bibliothek 83, 123, 127, 131, 184f., 187, 269, 432, 467, 534, 544 Bilderverbot 386f., 389–391, 395 Bilderwelt 140, 156, 191, 197, 199, 201f., 206, 211–213, 250, 254, 287, 354, 358f., 361f. Bildungsgerechtigkeit 11, 21, 26, 30f., 33– 36, 134, 179, 187, 308, 315, 327, 366, 370f., 396, 451, 532, 558 Bildungsmedien 236f. Bildungsplan 23, 175, 187, 323–325, 329f., 347, 361, 457f., 472, 531, 533–535

Bildungssprache 37f., 117, 165, 169–171, 174–177, 180, 254, 261f., 269, 367, 391f., 441, 462 Binnendifferenzierung 32, 117, 128, 133, 166, 180, 249, 269, 373, 409, 412, 540f. Biographie 12, 24, 71–73, 83, 138, 158, 160f., 167, 285, 290f., 300, 302–304, 325, 331, 339, 341, 348–351, 353, 372f., 406, 419f., 423–425, 431f., 439, 452, 458f., 463, 471–474, 479f, 483–486, 494f., 502, 505–507, 511, 513–515, 518, 520, 523– 525, 528–532, 534–538, 543–546, 549, 557 – Comicbiographie 70, 159, 212, 250f., 302, 325, 331, 341, 348, 372, 384, 395, 406, 410, 425, 451, 463, 557 Bourdieu 21, 26–29, 35, 261 Carl Barks 58, 84, 94, 123, 138, 412, 420, 427, 479–483, 493, 510, 518, 520, 523f., 540, 542, 544 Cartoon 16, 51, 74, 139, 163f., 194, 202, 220, 224–226, 235, 253, 298, 337, 412, 424, 439, 460, 473, 481 – Comicbiographie 70, 159, 212, 250f., 302, 325, 331, 341, 348, 372, 384, 395, 406, 410, 425, 451, 463, 557 Comicreihen 299, 556 – Asterix 69, 84, 87, 102, 173, 202, 283, 526 – Batman 54, 65, 306f., 309, 319, 348, 392, 407f., 416 – Calvin und Hobbes 74f., 118f, 161

602 – Ducks 304, 412, 471, 474–476, 479, 487, 489, 500, 507f., 516, 525, 527, 536, 540, 549 – Lustiges Taschenbuch 82f., 86f., 92, 160, 173, 202, 393, 549 – Peanuts 74f., 84, 91, 119, 296, 439 – Simpsons 83, 298 – Superman 63, 181, 282, 307–311, 318f., 334, 408 – X–Men 306, 308, 313, 416 Coming-of-Age 72, 246, 351, 423, 430, 464, 472, 528 Digital 64, 75f., 80–82, 84, 87, 89, 92, 104, 129, 155f., 167, 183, 186, 192f., 205, 207, 217, 236–239, 247f., 258, 379, 404, 416, 549, 552 Diversität 33f., 65, 367, 371, 373, 386, 396, 417 Don Rosa 54, 58f., 198, 202, 206, 208, 296, 298, 300, 303, 326–328, 331, 372, 412, 419f., 422–427, 471, 473, 475, 479–485, 487–491, 493f., 496–500, 502f., 507, 509–511, 514, 516, 518–521, 523f., 526– 534, 536f., 539–550, 561 Empathie 141, 152, 230, 336, 351, 365, 439, 459, 556 Entwicklungspsychologie 342 Ethik 12, 24, 114, 153, 188, 230, 286f., 290, 304f., 314f., 317–319, 324f., 327, 334, 336, 338f., 342, 347–349, 372, 377, 380, 386, 391, 408, 458, 497, 512, 514, 530, 532, 534, 536, 541–543, 556 Fächer 11, 14, 21, 38, 95, 98, 101, 103–105, 118, 135f., 141–143, 150, 152, 157, 165, 169f., 173–175, 177, 179, 206, 213, 246f., 258, 262, 264, 323, 329, 367, 371, 405, 414, 444, 466f., 541, 551 – Chemie 103, 105 – Deutsch 12, 21f., 26, 37, 44, 54f., 73, 80, 82–84, 87, 89–92, 95, 101–104, 107f., 116, 159, 162, 167, 169–173, 177–179, 192, 208, 218, 233f., 246f., 258, 262, 271, 282, 285, 299, 367f., 375, 385–387, 390f.,

Register

394f., 409, 416, 427, 429, 434, 438, 441f., 447, 463, 465–467, 505, 510, 541, 543, 548f., 552, 558 – Französisch 68, 84, 102, 157, 246, 300, 344, 386f., 430, 438, 441, 467 – Fremdsprachen 103f., 169, 171f., 247, 467, 555 – Geschichtsunterricht 102, 118, 194, 229, 467, 541f. – Informatik 152, 405 – Kunst 13, 22, 42, 44, 47, 54, 62, 69, 72, 75, 101, 103, 123, 126, 206, 236, 239, 241, 246f., 249f., 253, 286, 289, 300, 302, 333, 355f., 358f., 361f., 388, 393, 404f., 421, 432–434, 437f. – Latein 103, 262 – Literaturunterricht 13, 15, 42, 47f., 63f., 66, 69, 71, 78, 81, 87f., 90f., 94, 101, 103, 112, 122, 125, 135, 140, 143f., 146– 149, 151, 166, 169, 176, 178, 180, 184– 190, 218, 228–230, 246, 249, 255f., 270, 285, 295, 300, 324, 347, 380, 393, 420f., 426, 467, 543f. – Mathematik 73, 262, 274, 347, 367, 370, 397 – Musik 13, 218, 238, 321, 378, 415, 460, 541, 544 – Naturwissenschaft 103, 154, 160, 400, 414, 539 – Naturwissenschaften 104, 347 – Philosophie 21, 75, 225, 247, 372, 420f., 471, 511, 523, 541–543 – Sport 80, 407 Fachübergreifend 14, 105, 110, 177, 185, 242, 245, 258, 353, 363, 555 Förderung 11, 23f., 26, 29–34, 36f., 99, 102f., 109–111, 119, 134, 136, 141, 145, 149, 151, 154, 161, 166, 169f., 172f., 175– 179, 181, 187, 197f., 212–214, 231, 256, 259, 262, 268f., 279, 287, 315, 321, 332, 346f., 357, 361, 365f., 369, 371f., 380, 391, 401f., 407, 409–411, 457f., 467f., 531f., 555, 561 Fundamentalismus 160, 302, 376, 429, 431, 443, 447, 450, 452–454, 461, 466

Register

Gattung 12, 42, 61, 70, 74–78, 90, 102, 122, 125, 127f., 138, 159, 176, 188, 202, 248, 258, 296, 299, 353, 357, 419, 473 – Comicstrip 70, 74–76, 90, 102, 117f., 128, 131f., 134, 172, 202, 246, 296, 299, 391, 473, 481, 526 – Graphic Memoir 70f., 77, 97, 158, 203, 348, 350, 419, 423, 425f., 430, 467, 557 – Graphic Novel 12, 42f., 50, 52, 69–74, 89, 92, 95, 102, 122, 124f., 127, 147, 202, 237, 246f., 255, 273, 283, 298, 300, 302, 315, 325, 337, 341, 343, 379, 392, 409, 419f., 422–424, 429, 431f., 552, 556f. – Manga 54, 56,f., 59, 64f., 67, 73, 77–80, 82–85, 87–90, 92, 95, 114, 125f., 128, 145, 173, 202, 225, 253f., 270, 283, 295, 326– 329, 332, 379, 383, 406f., 409, 552 – Sachcomics 15, 73, 124, 128, 157–159, 162, 164, 168, 175, 185, 229, 232, 235, 238f., 271, 274, 290, 324f., 372, 452, 552, 556 – Web-Comic 76f., 82, 97, 238, 299, 328, 552 Gemeinde 200, 259f., 266, 284, 370, 375, 480 Gender 34f., 41, 64f., 82, 85f., 88, 95, 168, 173, 184, 200, 367, 371, 373, 396–398, 404, 429, 443, 446, 449, 460 – Jungen 11, 14f., 28, 38f., 54, 65, 71, 78, 80, 82, 85–87, 89, 91f., 97f., 121, 127f., 149, 155, 157, 178, 183f., 190f., 199, 203f., 238, 250, 273, 298, 302, 306, 325, 333, 351, 363, 373, 375, 383–385, 392, 397–410, 413, 425, 431, 437, 446, 453, 456–458, 463, 465, 472f., 475, 489–492, 494, 498, 507, 517, 529, 537f., 549, 552, 557–559 – Mädchen 11, 14f., 38, 65, 71, 78, 80, 85– 88, 91f., 95, 97f., 126–128, 149, 155, 157, 183f., 190, 199, 261, 325, 379, 384, 392– 394, 397–400, 402–410, 413, 416, 424, 430, 445–447, 449–457, 462f., 465–468, 490, 509, 537, 549f., 557–559 Genre 41–43, 50, 62, 66, 68, 70f., 74–80, 88–91, 94f., 97, 122, 125, 127f., 131, 138, 157, 159f., 162, 182f., 190, 192, 218, 258,

603 282–284, 303, 305–309, 311, 313f., 348, 353, 378f., 416, 419, 423, 425, 430, 467, 472f., 544, 557 – Abenteuer 84, 162, 306, 311, 347, 404, 406f., 473, 475, 477f., 480, 487f., 498, 500, 502f., 506, 519, 524–527, 541, 544 – Abenteuer-Funny 425, 473 – Bibelcomic 158f., 175, 189, 281, 284– 286, 290f., 293, 324f., 329, 334, 406f. – Biographie 12, 24, 71–73, 83, 138, 158, 160f., 167, 285, 290f., 300, 302–304, 325, 331, 339, 341, 348–351, 353, 372f., 406, 419f., 423–425, 431f., 439, 452, 458f., 463, 471–474, 479f, 483–486, 494f., 502, 505–507, 511, 513–515, 518, 520, 523– 525, 528–532, 534–538, 543–546, 549, 557 – Coming-of-Age 72, 246, 351, 423, 430, 464, 472, 528 – Graphic Memoir 70f., 77, 97, 158, 203, 348, 350, 419, 423, 425f., 430, 467, 557 – Superheld 68, 75, 82, 85, 90, 92, 160, 185, 281f., 284, 290, 293, 305–315, 318, 325, 359f., 379, 381f., 407, 416, 473, 517, 526, 556 Gott 12, 25, 153, 188, 256, 260, 276, 284, 289, 293, 298, 300–305, 308, 310, 319, 324–327, 334, 338, 352, 364, 369, 375, 379, 381, 383f., 388, 394f., 403, 424, 451– 453, 459, 464f., 508, 510f., 514, 516f., 534f., 538, 556, 558, 561 Graphic Memoir 70f., 77, 97, 158, 203, 348, 350, 419, 423, 425f., 430, 467, 557 Graphic Novel 12, 42f., 50, 52, 69–74, 89, 92, 95, 102, 122, 124f., 127, 147, 202, 237, 246f., 255, 273, 283, 298, 300, 302, 315, 325, 337, 341, 343, 379, 392, 409, 419f., 422–424, 429, 431f., 552, 556f. Handlungsorientiert 24, 115, 141f., 145f., 149, 152, 154, 156, 202, 209, 211, 228, 239, 248, 257f., 265, 338, 341, 405, 409, 468 Hirnareal 48, 140, 176, 195, 228, 233, 244, 252, 553 Hochschule 102, 342

604

Register

Humor 118, 129, 131–134, 387, 424, 546f., 554 Identität 25, 45, 153, 201, 246, 276, 299f., 302, 304, 308, 311, 321, 323, 331, 342, 347, 349–352, 356, 373, 378, 386, 404, 408, 419f., 429, 431, 437, 444–446, 463, 471f., 484–489, 493f., 497, 500, 502, 505–507, 510, 529f., 532f., 535f., 542 Imagination 45, 67, 119, 141, 144, 146, 149, 151f., 181, 183, 186, 194, 225, 230, 339, 345, 468, 490, 553 Individualisierung 30, 32, 34, 37, 109, 117, 120, 133, 184, 232, 236, 241, 249, 264, 267–271, 311, 373, 377, 409, 411f., 415, 514, 555 Induktion 15, 26, 44f., 47, 49, 138, 151, 194, 226f., 230, 440 Inklusion 21, 30–37, 48, 74, 105, 149, 166, 183f., 190, 235, 250, 267, 273, 277, 364f., 367f., 372–374, 389, 396f., 409–412, 416f., 440, 516, 540, 558 Instruktionspsychologie 15, 110, 157, 162, 165, 168, 218, 234–236, 239, 248, 267, 271, 357, 554 Interkulturell 35, 207, 287, 372, 394f., 443, 463 Interreligiös 24, 286, 336–338, 372, 386, 393, 395, 443, 459, 556 Islam 159, 271, 292, 299f., 307, 324f., 328, 336, 351, 357, 361, 369, 372, 375, 385– 395, 430f., 451, 453f., 457f., 461f., 464– 466, 558 – Mohammed 361, 388, 395 Jenseits 29, 64f., 75, 86, 128, 241, 253, 266, 297f., 310, 353, 365, 370, 471f., 476, 490, 505, 507f., 516, 527, 532, 542, 555 Jesus 118, 175, 285, 293, 302, 305, 308f., 312f., 319, 324, 326, 328, 359f., 389 Judentum 118, 296, 300f., 305, 307–309, 314, 319, 324, 328, 336f., 381f., 385, 387, 394 Katholisch

202, 323, 343, 374, 385, 454

Kerncurriculum 23, 175, 187, 323–325, 329f., 347, 361, 457f., 472, 531, 533–535 Kirchenkunst 42, 248, 354–356, 361 Kognitive Aktivierung 15, 44, 108, 110, 162, 213–217, 232f., 236, 238f., 244, 250, 321, 420, 424, 548, 553 Kompetenz 14, 28, 30, 37f., 79, 102f., 105, 110, 120f., 126, 132, 135–138, 140f., 145f., 149, 155, 157, 165, 168–172, 174– 176, 178f., 187f., 191, 196, 198, 205, 224, 228, 232, 242f., 246, 254, 256, 260–264, 275–277, 322–324, 329f., 333f., 340, 354, 356f., 359, 361f., 367f., 383, 392f., 419, 457, 459, 467f., 531–533, 551, 553, 555f., 559 – Comicrezeptionskompetenz 136–138, 140, 344, 393, 395, 435, 468 – Darstellungskompetenz 252, 324, 331, 458, 532 – Deutungskompetenz 188, 254, 332, 361, 532f., 556 – Dialogkompetenz 26, 47, 105, 257, 273, 276, 293, 336f., 341, 398, 404, 459f., 498, 515, 520, 541, 546, 556 – Empathie 141, 152, 230, 336, 351, 365, 439, 459, 556 – Gestaltungskompetenz 141, 338, 341, 555f. – Imagination 45, 67, 119, 141, 144, 146, 149, 151f., 181, 183, 186, 194, 225, 230, 339, 345, 468, 490, 553 – Interkulturelle Kompetenz 136, 369, 372, 443, 459 – Interreligiöse Kompetenz 369, 372 – Kreativität 13f., 24, 66f., 77, 96, 110, 119, 141–144, 148–152, 154f., 170, 173, 209, 211, 216, 228, 230, 238f., 244, 257– 259, 265, 286, 338f., 341, 354, 403, 405, 468, 480, 553, 555 – Leseförderung 27, 37f., 90, 135, 137, 146, 149, 165, 169, 177–184, 186f., 189f., 197, 268f., 340, 344, 392, 398, 414, 466, 541, 543, 547, 555 – Perspektivübernahme 14, 16, 22f., 34, 50f., 63, 69f., 93, 97f., 102, 114, 138, 141, 148f., 152, 154f., 176, 198f., 211, 234,

605

Register

238, 241, 246, 249, 258, 267, 270, 282, 293, 296f., 299f., 311, 314, 316, 336, 345, 354, 366, 368f., 372, 386, 396, 398, 403, 405, 413, 420, 437, 439f., 443, 455, 457, 459f., 471, 482, 497, 508, 512, 543, 545, 552 – Pluralismusfähigkeit 11, 68, 250, 321, 367–369, 371f., 396, 453, 458, 460, 488, 532 – Schlüsselkompetenz 110, 135–137, 141, 151, 169, 172, 177f., 187, 189f., 193, 197, 236, 358f., 443, 551, 555 – Urteilskompetenz 207, 323, 334f., 338, 444, 458, 533, 556 – Visual Literacy 103, 145, 186, 190f., 196–200, 213, 247, 254, 287, 346, 353f., 356–362, 555 – Wahrnehmungskompetenz 331, 361, 556 Konfessionslos 11, 14, 170, 314, 317, 333, 356, 363, 369, 374–380, 383, 385, 394, 408, 462, 464f., 472, 524, 536–540, 558 Konzentration 81, 112, 127, 138, 145, 152, 195, 217, 227, 246, 250, 252, 264f., 269, 386, 401, 413, 441f., 527, 544, 548 Kooperativ 25, 30, 32, 106, 110, 113, 156, 232, 238, 241f., 244, 257, 266–268, 271, 273–276, 369, 372, 416, 541f., 555 Korrelationsdidaktik 43, 84, 140, 222–224, 293, 334, 344, 381f., 395, 474, 482 Kreativität 13f., 24, 66f., 77, 96, 110, 119, 141–144, 148–152, 154f., 170, 173, 209, 211, 216, 228, 230, 238f., 244, 257–259, 265, 286, 338f., 341, 354, 403, 405, 468, 480, 553, 555 Kulturelles Kapital 27f., 38, 169, 171, 256, 269, 356, 391, 540 Lebenswelt 11, 30, 64, 80f., 83f., 89, 91f., 110f., 121f., 126f., 129, 145, 155, 191, 193, 195, 202, 215, 236, 239, 254, 290, 297, 318, 331, 334, 338–340, 345, 351, 353, 355, 358, 361f., 377–379, 381–383, 385, 392, 415, 431, 451, 453, 459, 461, 464, 466, 523, 532, 542, 546, 548f., 552, 554 Lernpsychologie 98, 104, 244, 287, 413 Lernstil 163, 255, 259, 263–265

Leseförderung 27, 37f., 90, 135, 137, 146, 149, 165, 169, 177–184, 186f., 189f., 197, 268f., 340, 344, 392, 398, 414, 466, 541, 543, 547, 555 Lese-Rechtschreib-Störung 411, 414, 417, 558 LGBTQ+ 72, 95, 200, 351, 373 Lustiges Taschenbuch 83, 86, 92, 173, 393, 549 Manga 54, 56,f., 59, 64f., 67, 73, 77–80, 82– 85, 87–90, 92, 95, 114, 125f., 128, 145, 173, 202, 225, 253f., 270, 283, 295, 326– 329, 332, 379, 383, 406f., 409, 552 Marjane Satrapi 12, 70f., 160, 198, 202, 205f., 209, 295, 298, 300, 325, 327f., 340, 351, 356, 387, 419, 422–426, 429–441, 444–450, 452–456, 458–460, 462–466, 469 Medienstrukturell 12, 14–16, 21, 36, 44, 54, 59, 72, 93, 128, 136, 168, 177, 181, 201, 231, 311, 398, 401, 413, 486 Migration 30, 85, 327, 336, 367, 386, 390f., 394, 396, 419, 423, 429, 445, 462, 527, 542 Milieu 27f., 30, 37, 84, 127, 174, 266, 282, 356, 390, 392 Mohammed 361, 388, 395 Motivation 14, 22, 27, 101, 107–109, 111– 113, 115–117, 119–121, 123–126, 148, 151f., 154, 162, 178, 181, 188, 190, 215f., 230, 236, 243, 245, 267, 273f., 300, 321, 344, 397, 399, 401f., 467f., 484, 498, 541, 544, 547, 549, 552–554 Narrative Identität 349, 524, 529f. Narratives Lernen 347, 557 Pädagogik der Vielfalt 30f., 33–36, 134, 243, 259, 267, 273, 399, 410, 540, 558 Perspektivübernahme 14, 16, 22f., 34, 50f., 63, 69f., 93, 97f., 102, 114, 138, 141, 148f., 152, 154f., 176, 198f., 211, 234, 238, 241, 246, 249, 258, 267, 270, 282, 293, 296f., 299f., 311, 314, 316, 336, 345, 354, 366, 368f., 372, 386, 396, 398, 403, 405,

606 413, 420, 437, 439f., 443, 455, 457, 459f., 471, 482, 497, 508, 512, 543, 545, 552 Phantastisch 66f., 75, 119, 182f., 186, 189f., 230, 290, 317, 345, 379, 541 Pluralismusfähigkeit 11, 68, 250, 321, 367– 369, 371f., 396, 453, 458, 460, 488, 532 Popkultur 65f., 69, 82, 98, 102, 195, 197, 281, 285, 287, 293, 295, 304, 312–315, 318f., 331, 335, 359, 362, 378, 384, 387, 407, 479, 517, 547, 554, 556 Praktische Theologie 13, 15f., 22, 97f., 281–284, 287, 304f., 314, 556 Pre-Teens 293 Primarstufe 104, 357 Print 77, 82, 125, 238 Problemorientierung 23, 118, 271, 342, 347f. Produktion 49f., 64, 68, 76, 78, 93f., 104, 112f., 118, 141–144, 146–151, 153f., 163, 167f., 174, 179, 186, 191f., 202, 207, 213, 217, 221, 227f., 230, 238, 249, 257f., 261, 265, 268, 273, 276, 284, 302, 314, 319, 336, 342, 368, 392f., 404f., 412, 468, 478, 480, 485, 552f., 555–557 – Produktionsorientierung 141–152, 155, 167, 186, 242, 257, 259, 273, 336, 388, 403, 555 Rinnstein 13, 44f., 47, 57, 59, 66, 72, 147, 226–228, 230, 250, 436, 561 Risikogruppe 26, 33, 36–38, 108, 113, 135, 157, 169, 177, 190, 259, 266, 366, 370, 391, 396, 398, 413, 463 Scaffolding 172, 232, 329, 414, 467 Schülerorientierung 30, 108f., 111, 120f., 123–126, 128–130, 134, 155, 182, 213, 258, 321, 330, 340, 458, 547–549, 554 Sekundarstufe II 103, 148, 164, 173f., 416, 457, 460, 535 Sinnfrage 289, 303, 326, 350, 378, 383, 485, 535, 540, 558 Soziale Aktivierung 270f., 275, 277 Soziale Herkunft 28, 169, 340, 367, 370, 391, 396

Register

Sozialisation 22, 27, 31, 180, 297, 359, 362, 375, 390f., 452, 556 Symbol 29, 42, 50f., 56f., 61, 69, 79, 103, 158, 191f., 194, 196, 199f., 225–227, 230, 238, 247, 286, 290–293, 295–297, 300, 304, 310f., 317, 319, 331, 333f., 344, 346, 355f., 360, 382f., 388, 403, 408, 421, 436, 442, 445, 456, 474, 489, 494, 497f., 502, 506f., 515–519, 524, 538, 540 Synästhetik 54, 66, 553 Tablets 236, 552 Tiefenstruktur 214, 290f., 302–305, 314, 316, 331, 380, 385, 424, 474, 510, 526, 556 Trauma 71–73, 97, 158, 252, 307, 351, 353, 557 Unterrichtsklima 267, 546

108f., 116, 130f., 133f.,

Videospiele 96, 119, 139, 144, 164, 354, 378, 494 Visual Literacy 103, 145, 186, 190f., 196– 200, 213, 247, 254, 287, 346, 353f., 356– 362, 555 Vorurteil 85, 90f., 101, 149, 387, 468 Vorwissen 14, 27, 30, 37f., 89, 91, 104, 157, 163, 167f., 196, 235f., 256, 260, 269, 291, 315, 319, 367, 396, 469, 540, 559 Walt Disney 64, 82, 84, 86, 92, 307, 348, 422, 424, 435, 471, 478, 480f., 484, 510, 517, 538, 547, 549, 552 Weltreligionen 299, 335, 457 – Buddhismus 300, 303, 324, 328 – Hinduismus 295f., 300, 328 – Islam 159, 271, 292, 299f., 307, 324f., 328, 336, 351, 357, 361, 369, 372, 375, 385–395, 430f., 451, 453f., 457f., 461f., 464–466, 558 – Judentum 118, 296, 300f., 305, 307– 309, 314, 319, 324, 328, 336f., 381f., 385, 387, 394 Zeichen 42f., 50f., 54, 57, 94, 101, 140, 145, 169, 191f., 198, 254, 284, 317, 333f., 345,

Register

378, 382, 412, 421, 458, 476, 505, 517, 531f. Zeichenstil 16, 43, 49, 51, 53, 74f., 78, 84, 139, 156, 163f., 168, 173, 198, 203, 205, 225, 232, 235, 253, 256, 284f., 298, 335,

607 340, 422, 424, 433f., 438f., 447, 460f., 468, 480–482, 548f., 552, 556 Zeitschrift 67, 81–83, 86, 92, 94, 182–184, 201, 234, 315, 356